Philosophie der Musik nach Karl Marx: Ursprünge - Gegenstände - Aktualität 9783495817865, 9783495487860


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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Ursprünge
2.1 Materialistische Anthropologie
2.2 Dialektische Rationalität
2.3 Utopisches Denken
3. Ästhetik
3.1 Mimesis
3.2 Ethos
4. Historiographie
4.1 Das Werk als Dokument
4.2 Das Werk als Vorschein
5. Interpretationsschemata
5.1 Der Circulus vitiosus
5.2 Die Geschichte als Komödie
5.3 Die Gesetzmäßigkeit des Sozialen
6. Potenziale
6.1 Praxis
6.2 Realismus
6.3 Freiheit
7. Resümee
8. Verzeichnis der Literatur
9. Verzeichnis der Personen (Auswahl)
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Philosophie der Musik nach Karl Marx: Ursprünge - Gegenstände - Aktualität
 9783495817865, 9783495487860

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musik M philosophie

Andreas Domann

Philosophie der Musik nach Karl Marx Ursprünge – Gegenstände – Aktualität

VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Über das Buch: In diesem Buch wird der Versuch unternommen, einen Grundriss des materialistischen Denkens über Musik zu entwerfen, sofern sich dieses auf marxsche und marxistische Ideen beruft. Zum einen sollen dessen in der Philosophie verankerte Kernprobleme freigelegt werden, zum anderen wird nach der Stichhaltigkeit und der Tragfähigkeit marxistischer Denkfiguren in Musikästhetik und -historiographie gefragt. Anstelle einer chronologischen oder positivistischen Materialsammlung werden zentrale Problemfelder behandelt, die sich aus Quellen ableiten lassen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstanden oder rezipiert worden sind. So wie sich einerseits dabei die relative Zeitlosigkeit marxscher Ansätze herausstellt, so kann andererseits gezeigt werden, dass die Fixierung des bisherigen marxistischen Musikdenkens auf bestimmte Realismuskonzepte eine einseitige und verengende Rezeption des marxschen Denkens darstellt.

Der Autor: Andreas Domann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln.

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Andreas Domann Philosophie der Musik nach Karl Marx

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

musik M philosophie Band 8

Herausgegeben von: Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main) Lydia Goehr (Columbia, New York) Frank Hentschel (Köln) Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt)

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Dorschel (Graz) Bärbel Frischmann (Erfurt) Georg Mohr (Bremen) Albrecht Riethmüller (Berlin) Günter Zöller (München)

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Andreas Domann

Philosophie der Musik nach Karl Marx Ursprünge – Gegenstände – Aktualität

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48786-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81786-5

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Inhalt

1.

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2.

Ursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

. . . . . . . . . . . . . 2.2 Dialektische Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Utopisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

3.

Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

3.1 Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

2.1 Materialistische Anthropologie

3.2 Ethos

38 64

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

4.

Historiographie

5.

Interpretationsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.1 Das Werk als Dokument . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.2 Das Werk als Vorschein . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.1 Der Circulus vitiosus

140

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

5.2 Die Geschichte als Komödie . . . . . . . . . . . . . . .

147

5.3 Die Gesetzmäßigkeit des Sozialen . . . . . . . . . . . .

153

6.

Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

170

6.1 Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

6.2 Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

6.3 Freiheit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

7.

Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200

8.

Verzeichnis der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

9.

Verzeichnis der Personen (Auswahl)

. . . . . . . . . . . 221

7 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Für Ruth

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

1. Einleitung

Die materialistische Musikbetrachtung gehört im 19. und 20. Jahrhundert zu den Konstanten der Ästhetik und der Historiographie. Teils kann sie sich als paradigmatisch durchsetzen, teils wird sie von oftmals idealistisch gefärbten Traditionen überlagert und verharrt, wenn nicht in der Defensive, so doch in einer Minderheitsposition. Mit der vorliegenden Arbeit wird das Ziel verfolgt, die in der Philosophie verankerten Kernbestandteile der materialistischen Musikästhetik und -historiographie freizulegen, die sich auf marxsche und marxistische Ideen beziehen, und deren sachliche und methodische Tragfähigkeit zu diskutieren. In diesem einleitenden Kapitel ist nach einem kurzen Blick auf den Gegenstand und die Quellengrundlage (a) zunächst eine Verständigung über den Begriff des Marxismus notwendig, wie er dieser Arbeit zugrunde liegt (b). Schließlich sollen der hier vertretene Ansatz von der bisherigen Forschung zur marxistischen Musikwissenschaft abgegrenzt (c) und der Aufbau der Arbeit kurz skizziert werden (d). a) Es werden zentrale Problemfelder des marxistischen Musikdenkens behandelt, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entwickelt haben und sich aus ästhetischen und historiographischen Fragen ableiten. Diese räumlich-zeitliche Grenze umreißt allerdings nur einen Kernbestand der Quellen, aus dem grundlegende Problemhorizonte gewonnen werden, sodass Rückgriffe und Verweise über diese Grenze hinaus möglich sind. Weil nicht das Ziel verfolgt wird, eine Chronologie marxistischer Ansätze oder eine positivistisch verfahrende, Vollständigkeit anstrebende Materialsammlung zu liefern, wird aus der kaum übersehbaren Menge des Quellenmaterials nur eine Auswahl berücksichtigt. Doch so sehr diese Auswahl auch mit Sorgfalt getroffen wird und so leicht es erscheint, die notwendige Bedingung für die Berücksichtigung eines Beitrags anzuführen – nämlich seine Orientierung am marxschen oder marxistischen Denken – so leicht führt der Versuch in Verlegenheit, auch hinreichende Bedingungen anzugeben und umgekehrt zu legitimieren, welche Bei11 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Einleitung

träge unberücksichtigt bleiben. Diese Bedingungen lassen sich nicht von vornherein festlegen, sondern lassen sich nur über die Auseinandersetzung mit dem marxistischen Musikdenken selbst gewinnen: Ob die Diskussion eines Beitrages sinnvoll erscheint, entscheidet sich an seinem Stellenwert im Kontext der Gesamtheit des Quellenkorpus, weil erst der Sinnzusammenhang des Ganzen den Sinn seiner Bestandteile erkennen lässt. Die Auswahl, Anordnung und Interpretation der berücksichtigten Beiträge soll es ermöglichen, auf ihrer Grundlage eine Philosophie der Musik nach Karl Marx zu entwickeln, die die innere Mannigfaltigkeit kontroverser Meinungen und Positionen ebenso hervortreten lässt, wie ihre elementaren Theoreme und Denkfiguren sowie deren gemeinsamen Ausgang an marxistisch-materialistischen Problemhorizonten. 1 Nun liegt es an Umfang und Ausrichtung einer Darstellung, deren Untersuchungsgegenstand – auch nach den genannten Einschränkungen – relativ weit gefasst ist und das Bild eines in sich vielschichtigen thematischen Panoramas liefert, dass manch ein Aspekt zu wenig beachtet erscheint. Der Leser mag dann zu Recht monieren, dass das eine oder andere angesprochene Thema ein Potenzial liefert, das hier nicht genutzt wird. Doch bedeutet dieses Manko zugleich einen Gewinn: Die Konzentration auf zentrale Problemfelder lässt eine umfassendere Darstellung marxistischer Musikphilosophie zu. So sehr manches Detail zugunsten der weiteren Perspektive nicht mehr genügend vertieft werden kann, so sehr lassen sich umgekehrt nur über einen breiteren Ansatz Ideen und Konstanten herausarbeiten, die den spezielleren Einzelfragen überhaupt erst einen fundierenden Sinn verleihen. Was versucht wird, ist daher nicht der mikroskopische Blick, der all die Verzweigungen und Verästelungen eines Detailproblems in größtmöglicher Auflösung sichtbar macht, sondern den Rahmen jener Detailprobleme hervortreten zu lassen. Dieser Rahmen besteht aus Kostanten, die aus der Geschichte der materialistischen Philosophie ableitbar sind. Jede einzelne von ihnen ähnelt dem historischen Phänomen, das Fernand Braudel mit dem Begriff der Longue Durée beschreibt. Braudel bezieht diesen Begriff Um von vornherein Missverständnissen und Fehldeutungen entgegenzuwirken: Die Frage, ob ein Autor, dessen Beiträge zu Marx oder dem Marxismus hier behandelt werden, sich selbst im Sinne einer politischen Haltung als Marxist versteht oder nicht, ist für die vorliegende Untersuchung irrelevant. Auch erfordern es viele Detailprobleme, Autoren zu Rate zu ziehen, deren wissenschaftliche Arbeit sich außerhalb marxistischer Traditionen entwickelt hat.

1

12 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Einleitung

auf nicht nur ökonomische und geographische Rahmenbedingungen, die das Denken und Handeln des Einzelnen strukturieren, sondern auch auf solche des Denkens selbst. Diese werden im folgenden zweiten Kapitel dargestellt. Sie liefern die Strukturen, die »die Probleme der langen Zeitabläufe« dominieren, und stellen damit den Rahmen oder das »Ordnungsgefüge« jedes Detailproblems dar. 2 Der Titel »Philosophie der Musik nach Karl Marx« erfordert – sicherheitshalber – einen präzisierenden Hinweis. Von einer »Philosophie der Musik« zu sprechen, suggeriert einen immensen Anspruch, an dem wohl auch der Zusatz »nach Marx« nicht viel ändern dürfte. 3 Doch »Philosophie« ist hier keinesfalls in einem ebenso opaken wie emphatischen Sinn zu verstehen, mit dem sich diese Arbeit selbst ein Gütesiegel anheften will. Das Wort ›Philosophie‹ zielt auf den schlichten Sachverhalt, dass die Denkfiguren, die hier verhandelt werden, sich historisch und institutionell in einem Kontext entwickelt haben, der als ›Philosophie‹ bezeichnet wird. Die zweite Titelhälfte – »nach Karl Marx« – ist bewusst doppeldeutig. »Nach« zielt zugleich auf eine zeitliche und eine inhaltliche Ebene. Marx selbst hat sich nur sehr sparsam zu Fragen der Kunst und der Ästhetik geäußert, sodass das marxistische Denken über Kunst weitgehend aus dem Versuch resultiert, verschiedene Aspekte des marxschen Denkens interpretierend zum Ausgangspunkt der Ästhetik und Kunstgeschichtsschreibung zu machen, und daher gewissermaßen immer schon ein Phänomen »nach« Marx ist. b) Damit ist zugleich eine Verständigung darüber notwendig, was mit dem Anspruch gemeint ist, ›marxsches‹ und ›marxistisches‹ Denken zu behandeln. Dieser könnte suggerieren, dass hier nicht nur zwei klar voneinander unterschiedene, sondern auch zwei klar voneinander unterscheidbare Teilbereiche vorliegen. Ob oder inwiefern es möglich sein sollte, den Gehalt der Schriften von Marx, die ja kein Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: Marc Bloch, Fernand Braudel u. Lucien Febvre, Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. v. Claudia Honegger, Frankfurt a. M. 1977, S. 47–85, hier S. 55–57. 3 Die Urheberschaft für die Idee, »nach Marx« in den Titel der Arbeit zu setzen, kann der Verfasser indes nicht beanspruchen. Der Titel ist eine Variation über das bereits existierende Thema »nach Marx«. Siehe etwa zwei jüngere Publikationen, die ebenfalls »nach Marx« im Titel tragen: Rahel Jaeggi u. Daniel Loick (Hg.), Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, Berlin 2013; Christoph Henning, Philosophie nach Marx. 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik, Bielefeld 2005 (Edition Moderne Postmoderne). 2

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Einleitung

kohärentes und geschlossenes System liefern, in ihrer eigentlichen Intention und unter Absehung ihrer Wirkungsgeschichte rekonstruieren zu können, kann hier nicht entschieden werden. 4 Allerdings wird bei den hier zu verhandelnden Problemen der Ästhetik und der Historiographie sichtbar, dass eine eindeutig marxistische Provenienz mancher Theoreme und deren Unvereinbarkeit mit Marx’ Schriften nur einen Idealfall markiert, der die Grenze zwischen Marx und ›dem‹ Marxismus hervortreten lässt. Etliche Kernprobleme lassen diese Grenze verschwimmen. Nun mag der relativierende Hinweis sofort naheliegen, dass gegenüber der ›eigentlichen‹ Intention eines Autors dessen nachfolgende Interpretationen immer ein gewisses Eigenleben entfalten und dieses als »Überlieferungsgeschehen« 5 wieder auf das Verstehen des Autors zurückwirkt. Hier liegt, so der mögliche Einwand, zunächst ein so banaler wie unvermeidlicher hermeneutischer Sachverhalt vor, der keine weitere Problematisierung erfordert. Bei Marx ist dieser Sachverhalt zwar nicht grundsätzlich anders gelagert, doch ist er insofern komplizierter, als seine Schriften in ihrer Gesamtheit in vielerlei Hinsicht widersprüchlich und interpretationsbedürftig sind und ihre Rezeption oft stark von divergierenden politischnormativen Ansinnen geprägt und überlagert wird. 6 Je nach Erkenntnisinteresse und politischer Ausrichtung entwickeln sich im Zuge ihrer Rezeption Traditionen oder ›Schulen‹, die sich in ihrer noch so grundverschiedenen Ausrichtung gleichermaßen auf Marx berufen können und insgesamt das Bild eines recht unübersichtlichen Scharmützels liefern. 7 Nicht immer ist dann ohne Weiteres zu entscheiSiehe hierzu die methodischen Überlegungen bei Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, 2. durchges. u. um e. Nachw. erg. Aufl., Berlin 2012, S. 9–13. 5 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990 (GS 1), S. 286–290 u. S. 363–368. 6 Nach dem Urteil von Henning wirkte sich dieses Überlieferungsgeschehen gerade verhängnisvoll aus. Er weist mit Nachdruck darauf hin, dass das Vorverständnis der marxschen Texte, das sich auf dem Weg der Marxrezeption herausgebildet hat, deren Deutung bestimmt. Dagegen will er für sich beanspruchen, eine Position jenseits »traditioneller« Marxdeutungen einnehmen zu können, indem er – in der Übernahme heideggerscher Terminologie – sein methodisches Vorgehen auf der »Destruktion des Überlieferungsgeschehens« gründen will. Henning, Philosophie nach Marx, S. 23. Sein Resultat vollbrachter Destruktionsarbeit lautet, dass »die Inhalte und der Charakter der Marx’schen Theorie bei Gegnern und Befürwortern selten adäquat verstanden wurden«. Ebd., S. 565. 7 Hierzu sehr instruktiv: Leszek Kołakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall 1–3, München u. Zürich 1977–1979. 4

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Einleitung

den, ob eine Interpretation eher Marx oder eher späteren Erkenntnisinteressen geschuldet ist. Dieses Dilemma ist allerdings eines, das auch in den marxschen Schriften gründet. Ihre innere Inkonsistenz – deren Feststellung indes nicht über tragende Konstanten hinwegtäuschen soll, 8 aber viele Einzelprobleme betrifft – resultiert aus der Entwicklung seines Denkens selbst, aus der – gerade aus der Perspektive eines nicht am marxschen Denken geschulten Lesers – oftmals irreführenden Verwendung mancher Begriffe und aus der je nach Adressat unterschiedlichen Ausrichtung seiner Ausführungen. Die hier zu verhandelnden Probleme der Ästhetik und Historiographie lassen seine Schriften im hohen Maße als interpretationsbedürftig erscheinen; und so ist die unvermeidliche Auseinandersetzung mit den Interpretationen seiner Schriften immer zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Marxsches und marxistisches Denken fließen hier ineinander, und jeder noch so gut begründete Versuch, sich interpretierend dem zu nähern, was Marx selbst mit dieser oder jener Aussage ›eigentlich‹ gemeint hat, ist unvermeidlich doch immer ein Versuch auf der Grundlage einer unverfügbaren Tradition der Marxrezeption. Die Hoffnung, ein in sich kohärentes und abgeschlossenes System der Ästhetik und Kunsthistoriographie nach Marx entwerfen zu können, das von der Entwicklung des marxschen Denkens und von dessen nachfolgenden Deutungstraditionen zu abstrahieren vermag, ist zwar nachvollziehbar, doch ist es um deren Realisierungsmöglichkeit nicht gut bestellt. Angenommen, es ließe sich bewusst der Marxismus ausblenden, die unverfügbare Vorurteilsstruktur des eigenen Denkens per Beschluss ausschalten und unbefangen in den marxschen Texten nach eigener Laune herumstöbern, dann könnte das Ergebnis der Marxlektüre leicht in eine Blütenlese entgleiten, die mit der Intention marxscher Schriften nur noch schlecht vermittelbar ist. Das Ergebnis wäre dann eine Abhandlung, die »Marx« im Titel führt, diesen aber als Steinbruch und Inspirationsquelle den eigenen Zwecken unterordnet. So bleibt also nichts anderes übrig, als sich mit der Genese, den Klippen und Hürden des marxschen Den-

Die maßgebliche und sein Denken bestimmende Konstante, vor allen inhaltlichen Aussagen, ist gewiss die »Folgerichtigkeit der Arbeit an Problemzusammenhängen, nicht [die] Abgeschlossenheit von Lösungen. Gerade unter dem Gesichtspunkt ihres Zusammenhangs erweist sich die Marxsche Theorie als unabgeschlossenes und selbst im Fluß befindliches Unternehmen.« Arndt, Karl Marx, S. 11.

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Einleitung

kens auseinanderzusetzen, deren Verdrängung darauf hinaus liefe, den eigenen Geschmack zum alleinigen und autoritären Leitfaden für das Durchforsten des marxschen Denkens zu befördern. Doch erst recht gut anderthalb Jahrhunderte nach dem Erscheinen des größten Teils seiner Hauptschriften ist diese Auseinandersetzung immer auch die mit Philosophen und Historikern, die über diese Klippen und Hürden aufzuklären helfen. Damit leitet die Auseinandersetzung aber sofort in die Geschichte des Marxismus hinein. Doch was ist der Marxismus? Schon der Versuch, sich unbefangen die historische und regionale Ausprägung des Marxismus zu vergegenwärtigen, legt den Schluss nahe, dass von ›dem‹ Marxismus nur in einem sehr offenen Sinn zu reden sein dürfte. Paradigmen dieser Größenordnung können sich kaum ein irgendeiner angenommenen ursprünglichen Reinheit erhalten, sondern erfahren zwangsweise in ihrer Verbreitung kulturelle und geographische Prägungen. 9 Der Pluralismus der um die Deutungshoheit des marxschen Denkens rivalisierenden Traditionen oder ›Schulen‹ ist schon angesprochen worden. Eine allzu enge Bestimmung dessen, was ›der‹ Marxismus ist, liefe dann immer mehr oder minder auf eine ahistorische, normativdogmatische Setzung hinaus. So lässt sich nur von unterschiedlichen Marxismen reden. 10 Diese Marxismen weisen allerdings Familienähnlichkeiten auf, ohne die – zumindest nach der Auffassung der VerSiehe hierzu die umfassende Darstellung von Jan Hoff, Marx global. Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965, Berlin 2009. 10 In den Achtzigerjahren führte die Aussage, dass der Marxismus in der Mehrzahl existiere, zu heftigen Kontroversen. Sie wurde von denjenigen befehdet, die zu wissen vermeinten, was der eigentliche Marxismus ist. Die Heftigkeit, mit der die These vom pluralen Marxismus als ebenso anstößig wie unorthodox abgelehnt wurde, mag für den einen oder anderen aus heutiger Perspektive kaum mehr unmittelbar verständlich erscheinen. Der Glaube an die eigene Fähigkeit zur esoterischen Wesensschau führte indes auch zur ebenso rigorosen Ablehnung des Marxismus der Frankfurter Schule. Zu dieser Kontroverse siehe vor allem: Wolfgang Fritz Haug, Pluraler Marxismus. Beiträge zur politischen Kultur 1–2, Berlin 1985 u. 1987, Bd. 1, S. 13; Hans Heinz Holz, Thomas Metscher, Josef Schleifstein u. Robert Steigerwald (Hg.), Marxismus – Ideologie – Politik. Krise des Marxismus oder Krise des »Arguments«?, Frankfurt a. M. 1984; Wolfgang Fritz Haug, Was ist tot, was lebendig an der Problematik des ›pluralen Marxismus‹ ? [2000], in: Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern, gefolgt von Sondierungen zu Marx / Lenin / Luxemburg, Hamburg 2005 (Berliner Beiträge zur Kritischen Theorie 3), S. 35–51; Johannes Heinrich von Heiseler, Robert Steigerwald u. Josef Schleifstein (Hg.), Die »Frankfurter Schule« im Lichte des Marxismus. Zur Kritik der Philosophie und Soziologie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas, Frankfurt a. M. 1970. 9

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Einleitung

fassers – die Rede von dem ›Marxismus‹, wie er die Grundlage dieser Arbeit bildet, allzu beliebig würde: 11 Diese Familienähnlichkeiten (im Sinne Wittgensteins) liegen in der Verbindung einer materialistisch fundierten Anthropologie mit einem utopischen Denken. Die in der Gegenwart diagnostizieren Widersprüche der Gesellschaft und die entfremdete Existenz des Menschen sollen überwunden werden, um eine Gesellschaftsform zu realisieren, die es dem Menschen ermöglicht, die ihm eigenen, in der heutigen Gesellschaft ihm aber kaum mehr selbst bewussten und von Entfremdungs- und Verdinglichungsphänomenen überlagerten Bedürfnisse und Anlagen entfalten zu können. Marxistisches Denken changiert zwischen Theorie und Praxis, es richtet sich nicht allein kontemplativ auf die Wirklichkeit, sondern will diese verändern. Dieses Denken sucht damit die Wirklichkeit nicht als etwas Statisches, sondern als etwas von Menschen Gemachtes und daher von diesem auch Veränderbares zu beschreiben; es verwechselt nicht die vom Menschen gemachten Grundlagen der Wirklichkeit mit vermeintlich ewigen Gesetzen, sondern will dialektisch die konfliktgeladene Wirklichkeit im »Flusse der Bewegung« 12 verstehen und damit zugleich aufklärerisch und ideologiekritisch wirken. Der Blick auf die Welt aus einer bewusst gewählten Perspektive bestimmt die marxistische Ästhetik und damit auch die Historiographie der Musik, deren Methodik sich letztlich über bestimmte ästhetische Wertungen überhaupt erst legitimiert. Weil Marx sich zur Kunst und zur Ästhetik nur am Rande geäußert und selbst keine geschlossene Ästhetik hinterlassen hat – eine Ästhetik daher aus seinem Denken erst interpretierend herausgearbeitet werden muss –, ist neben den schon skizzierten Gründen die Trennung zwischen einem ›marxschen‹ und einem ›marxistischen‹ Denken nur bedingt möglich. Die Ästhetik von Marx ist weitgehend eine Ästhetik des Marxismus. Was – unabhängig vom Marxismus – ›Ästhetik‹ indes eigentlich beDiese »Familienähnlichkeiten« haben – ungeachtet zweifellos existierender Grenzfälle und Ausnahmen – rückblickend die Entwicklung des marxistischen Denkens geprägt und sind für die Problemstellungen dieser Arbeit relevant. Keine Aussage trifft der Verfasser über marxistische Traditionen, die außerhalb des Geltungsbereichs dieser »Familienähnlichkeiten« liegen. Zu erwähnen wäre hier insbesondere die zurzeit dominante Tradition der sogenannten »neuen Marx-Lektüre« (die so neu inzwischen nicht mehr ist). Siehe hierzu die Darstellung von Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008 (Politische Ideen 21), insb. S. 30–87; sowie des Weiteren: Hoff, Marx global, S. 82–95. 12 MEW 23, S. 27–28. 11

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Einleitung

deuten soll, steht durchaus nicht fest. Historisch zeigt sich ihr Begriff als jeweiliges Spiegelbild künstlerischer Bedürfnisse oder Ideologien verschiedener Epochen. Jedes Ansinnen, das eigentliche Wesen der Ästhetik zu eng zu fassen, ihren Aufgaben- und Geltungsbereich allzu detailliert festlegen zu wollen, stellt sich allzu leicht als Resultat eines ahistorischen und normativen Denkens heraus. So muss die Frage danach, was Ästhetik nun eigentlich sei, zwar jenseits eines basalen Begriffsverständnisses weitgehend offenbleiben. Umreißen lässt sich zunächst dagegen wenigstens skizzenhaft, welche Probleme der Ästhetik im marxistischen Denken verhandelt werden. Diese Probleme stehen in einer Tradition, in der Kunst als ein Mittel sinnlicher Erkenntnis verstanden und damit gegenüber der rationalen Erkenntnis erheblich aufgewertet wird. 13 Nach der Definition aus der orthodoxen Binnenperspektive eines ehemals verbreiteten Lehrbuchs sowjetischer Provenienz wird die Ästhetik an das Prinzip der Nachahmung gekoppelt und dahingehend bestimmt, dass sie die Wissenschaft »ästhetischer Werte« ist, »die der Mensch in seiner Umwelt vorfindet, die er in seiner praktischen Tätigkeit schafft und die in der die Realität widerspiegelnden Kunst fixiert werden. In diesem Sinne kann man die Ästhetik als die Wissenschaft von der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit durch den Menschen bezeichnen.« 14 In einem zweiten Schritt wird die Nachahmung aber nicht als neutrale gefasst, sondern als eine, die aus einer bestimmten Perspektive die Wirklichkeit wiedergibt und dabei zugleich auf die Möglichkeit der Veränderung der nachgeahmten Wirklichkeit verweist bzw. diese forcieren soll. 15 Was in diesem Lehrbuch allzu oft im Gewand formelhafter, politisch korrekter Prosa erscheint, sind letztlich Grundgedanken, von denen auch ungleich differenziertere und offenere Ansätze ausgehen: Kunst wird unmittelbar in der menschlichen Lebenspraxis verortet; und die Ästhetik hat vor allem Fragen der Kunst als Spiegel der Realität und ihren Stellenwert im Prozess gesellschaftlicher Veränderung zu behandeln. Hieraus resultiert indes allzu oft ein Verständnis von Kunst, das grundlegende Intentionen des marxschen Denkens geradezu verfehlt. 16 Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, 2 Teile, Frankfurt a. d. O. 1750/1758, Nachdruck, Hildesheim 1961, § 1. 14 Moissej Kagan, Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik [1971], übers. v. Ullrich Kuhirt, 4. Aufl., Berlin 1975, S. 13. 15 Ebd., S. 67. 16 Siehe hierzu Kapitel 6.3. 13

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Einleitung

c) Der eine oder andere Leser mag meinen, sich mit dem Marxismus zu befassen, sei keine besonders gute Idee; sein Urteil mag dann jenen Vorurteilen unterliegen, die Georg G. Iggers knapp zusammenfasst und die das – vorsichtig formuliert – durchwachsene Image des Marxismus begründen: Seine Gesellschaftsanalyse ist überholt. Sie enthält zudem die Gefahren des Dogmatismus auf der theoretischen Ebene und der Diktatur auf der praktischen Ebene. Seine Vorstellung vom Gang der Geschichte war tief in den optimistischen Anschauungen des Bürgertums des 19. Jahrhundert mit seinem festen Glauben an unendlichen Wachstum und an der Beherrschung der Welt verankert. Die Schrecken des 20. Jahrhunderts, zu denen der institutionalisierte Marxismus beigetragen hat, haben dieses Weltbild widerlegt. 17

Das von Iggers beschriebene schlechte Image ist das Ergebnis der gleichermaßen geläufigen wie unhaltbaren Annahme, dass das Scheitern der totalitären und grausamen Regime des 20. Jahrhunderts, die sich Marx als Etikett angeheftet und sich selbst als ›sozialistisch‹ oder ›kommunistisch‹ gedeutet haben, Marx widerlegt hat. Überlagert und verstärkt zugleich werden die Vorbehalte gegen Marx und den Marxismus in akademischen Diskursen dadurch, dass die ihm entlehnten Konzepte und Methoden zumindest in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften ihren Zenit mit den Sechziger- und Siebziegerjahren hinter sich gelassen zu haben scheinen. 18 Hier spielen indes auch die von Zeit zu Zeit wechselnden Moden wissenschaftlicher Diskurse mit hinein. Doch sachlich betrachtet werden marxistische Methoden und Konzepte – wie andere auch – nicht deshalb weniger wertvoll, weil sie von anderen überlagert werden, die nun die innerdisziplinären Debatten dominieren, sondern ihr Wert bemisst sich allein am Erkenntnisinteresse des einzelnen Forschers: Sie erweisen sich für eine beGeorg G. Iggers, Die Bedeutung des Marxismus für die Geschichtswissenschaft heute, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 8 H. 8/9 (1995), S. 5–16, hier S. 15– 16. 18 Den damaligen Stellenwert marxistischen Denkens geben etwa folgende (für die Methodik der Sozial- und Geschichtswissenschaften indes zeitlose) Schriften zu erkennen: Theodor W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied u. a. 1969; Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, 2., erw. Aufl., Göttingen 1986; Hans-Ulrich Wehler, Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte [1978], in: Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft, Göttingen 1980, S. 161–180. 17

19 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Einleitung

stimmte Problemstellung als tragfähig oder nicht – und zwar unabhängig von Konjunkturzyklen. So lässt sich vielleicht mutmaßen, dass die Unlust jenseits marxistischer Zirkel, sich auf marxistisches Denken einzulassen, auch an dem Odem des Antiquarischen liegt, der es umweht: Im Kuriositätenkabinett der Geschichte führt es ein Schattendasein als Relikt untergegangener Zeiten; und der Zeitgeist ist allzu beschäftigt, um ihm noch Aufmerksamkeit schenken zu können. Doch erweisen sich viele der von Marx mit angestoßenen und im Marxismus diskutierten Probleme als zählebig; nur werden sie heute oftmals – indirekt oder variiert – unter anderen Labels (Cultural Studies, Material Turn, Praxistheorien, Wissenssoziologie usf.) behandelt. Gelegentlich hat es den Anschein, als würden diese Labels und das mit ihnen verfügbare Vokabular in innerakademischen Diskursen eine bessere Marktpositionierung versprechen, als es den angestaubten Begriffen marxistischen Denkens zugetraut wird – und zwar selbst dann, wenn letztere als die sachlich passenderen erscheinen. Die soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass oftmals viele Diskussionsstränge einen genuin marxistischen Problemhorizont zugunsten eigenständiger Schwerpunktsetzungen auch längst überschritten haben. Aber die Originalität der Impulse, die von diesem Problemhorizont ausgingen und die divergierenden Richtungen sozialwissenschaftlicher Forschung mit verursacht haben, könnte die These von der verloren gegangenen Aktualität marxistischen Denkens als weniger triftig herausstellen, als es zunächst den Anschein hat. Im sechsten Kapitel sollen hierfür Indizien geliefert werden. Indes hat sich der Marxismus seinen Platz in dem ihm von vielen zugedachten Museum zumindest zu Teilen auch selbst erarbeitet und die Ursache für das Unbehagen, sich auf ihn einzulassen, selbst zuzuschreiben. Auf der einen Seite enthält Marx’ wissenschaftlicher Ansatz, so Iggers, »gleichzeitig einen kritisch-theoretischen Kern, der dem sozialwissenschaftlichen Denken des 19. und des 20. Jahrhunderts einen großen Ansporn gegeben hat«, auf der anderen Seite aber auch »einen dogmatischen, der dazu geführt hat, daß der Marxismus den Anschluß an die sozialwissenschaftlichen Diskussionen unserer Zeit zunehmend verpaßt hat.« 19 Dieser dogmatische Kern entfaltete vor allem in einem politisch gesteuerten institutionalisierten Marxismus sein nachhaltiges Unwesen. Günter Mayer blickt aus 19

Iggers, Die Bedeutung des Marxismus für die Geschichtswissenschaft heute, S. 5.

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der Perspektive des Musikwissenschaftlers in diesem Sinne kritisch auf den Wissenschaftsbetrieb in der ehemaligen DDR. Er moniert, dass etwa die »administrativ durchgesetzte Fixierung der ästhetischen Forschung auf das klassische Erbe […] zu klassizistischen Verengungen« führte und fügt hinzu, dass »die forcierte Bekämpfung der modernen bürgerlichen Philosophie, Ästhetik und Kunst […] die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Gegenständen der Ästhetik tabuiert bzw. den Blick der parteilichen Polemiker in einer von späteren Generationen nur schwer nachvollziehbaren Weise verengt [hat]. Von Wissenschaft konnte da nicht die Rede sein.« 20 Doch erweisen sich nicht sämtliche Ergebnisse des von Mayer kritisierten Wissenschaftsbetriebs als durchweg uniform und in einem so hohen Maße als fremdgesteuert, dass sie nicht originelle und kontrovers zu diskutierende Ansätze lieferten. Schließlich ist entscheidend, »ob der Marxismus,« wie Iggers formuliert, »oder besser gesagt die Denker und die geistigen Strömungen und Traditionen, die sich als Nachfolger der Gedanken von Marx und Engels verstanden haben, in der Lage gewesen sind, Marx’sche Gedanken weiterzuentwickeln, so daß sie einen ernstzunehmenden Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Diskussion des späten 20. Jahrhunderts leisten können, selbst nachdem sie ihre institutionelle Basis in den realsozialistischen Staaten verloren haben.« 21 Ein Blick auf die bisherige Forschung zum Thema ›Marxismus und Musikwissenschaft‹ zeigt, dass der Fokus des Interesses in der jüngeren Vergangenheit – im Gegensatz zu den Siebziegerjahren 22 – weitgehend auf der politisch-institutionellen Seite dieses Themas liegt. 23 Dagegen steht hier das marxistische Musikdenken im Mittel20 Günter Mayer, Ästhetik, in: Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1, Hamburg 1994, Sp. 648–673, hier Sp. 653–654. 21 Iggers, Die Bedeutung des Marxismus für die Geschichtswissenschaft heute, S. 5– 6. 22 In ihrem sachlichen Interessen am marxistischen Denken spiegelt die damalige Musikwissenschaft die oben angesprochenen Debatten der Sozialwissenschaften wider. Siehe etwa: Tibor Kneif, Musiksoziologie, Köln 1971; Vladimir Karbusicky, Widerspiegelungstheorie und Strukturalismus. Zur Entstehungsgeschichte und Kritik der marxistisch-leninistischen Ästhetik, München 1973; Albrecht Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität. Zur dialektischen Widerspiegelungstheorie in der Ästhetik, Wiesbaden 1976 (BzAfMw 15); Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977. 23 Lars Klingberg, »Politisch fest in unseren Händen«. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a.

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punkt, das nach inhaltlichen Kriterien erörtert, nicht aber auf institutionelle Zwänge oder staatspolitische Direktiven zurückgeführt werden soll: Gegenstand ist der Inhalt dessen, was im Bereich der Musikphilosophie, -ästhetik und -historiographie publiziert wurde, nicht aber die Frage, über welche politisch-institutionellen Selektionsprozesse in der ehemaligen DDR oder in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks sich Forschungsergebnisse materialisieren konnten, die mitunter die ursprüngliche Intention eines Autors nicht mehr oder nur noch entstellt zur Geltung kommen ließen. Weil dies hier ausgeblendet wird, ist die Grundlage allein das, was in publizierter Form öffentlich zugänglich ist. Historisiert werden die Inhalte der Quellen nicht im Kontext ihrer ›äußeren‹ Entstehungsbedingungen, sondern allein im Kontext der ihnen zugrunde liegenden Ideen, Denkfiguren und Problemstellungen. 24 Sinnvollerweise kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob die politisch-institutionelle Historisierung des marxistischen Denkens oder der hier gewählte Ansatz der richtige ist, denn eine Entscheidung zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹ lässt sich allein anhand der jeweils gewählten Problemstellung und ihrem zugrunde liegenden Erkenntnisinteresse treffen. Unabhängig von der Problemstellung und dem Erkenntnisinteresse lässt sich nur soviel mit Sicherheit sagen, dass die hier vorgeschlagene Kontextualisierung und Historisie1997 (Musiksoziologie 3); Maren Köster, Musik-Zeit-Geschehen. Zu den Musikverhältnissen in der SBZ/DDR 1945 bis 1952, Saarbrücken 2002; Michael Berg, Albrecht von Massow u. Nina Noeske (Hg.), Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln 2004 (KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 1); Matthias Tischer (Hg.), Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, Berlin 2005 (musicologica berolinensia 13); Nina Noeske u. Matthias Tischer (Hg.), Musikwissenschaft und Kalter Krieg. Das Beispiel DDR (KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 7), Köln u. a. 2010; Irmgard Jungmann, Kalter Krieg in der Musik. Eine Geschichte deutsch-deutscher Musikideologien, Köln u. a. 2011 (KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 9). Einen etwas anderen Zugang verfolgt dagegen die weitgehend auf fachlich-inhaltliche Aspekte eines Teilgebiets der DDRMusikwissenschaft fokussierte Monographie von Natalia Nowack, Grauzone einer Wissenschaft. Musiksoziologie in der DDR unter Berücksichtigung der UdSSR, Weimar 2006. 24 Das Anliegen, das den Anlass zu der vorliegenden Arbeit gab, ist nicht eine Untersuchung der in der DDR oder anderen Ländern des ehemaligen Ostblicks institutionell angesiedelten marxistisch orientierten Musikwissenschaft. Wenn sie quantitativ überwiegt, dann ist dies allein Konsequenz der Tatsache, dass ihre Ergebnisse eher den genannten Kriterien genügen als die Ergebnisse anderswo angesiedelter Musikforschung.

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rung marxistischen Musikdenkens nicht weniger plausibel und naheliegend erscheint als die bisher vorherrschend politische, denn die inhaltlichen Impulse all der Theoreme und Konzepte der marxistisch-materialistischen Musikbetrachtung reichen historisch weiter zurück als die politischen Repressalien, denen ihre Entwicklung ausgesetzt war. Es führte also zu einer groben Versimplifizierung, die Ursprünge der hier zu verhandelnden Gegenstände allein aus politisch-institutionellen Rahmenbedingungen ableiten zu wollen. Zu vermeiden ist aber auch bei dem hier gewählten Ansatz der methodisch-hermeneutische Fehler, von den politischen Rahmenbedingungen, deren Kenntnis die Vorurteilsstruktur des eigenen Denkens immer mitbestimmen wird, auf den Inhalt der Quellen selbst zu schließen, also die Quellen gewissermaßen zu nötigen, inhaltlich allein das zu illustrieren und zu bestätigen, was vorher schon gewusst wurde. Am Bespiel der DDR-Musikgeschichtsschreibung kritisiert Albrecht von Massow daher vollkommen zu Recht eine oft zu beobachtende implizite Theorie, die diesem Ansatz zugrunde liegt: Sie besteht in der Voraussetzung, dass man die politischen, insbesondere die kulturpolitischen Kontexte vorgängig zur Kenntnis zu nehmen und zu Beginn einer Untersuchung auch zu skizzieren habe, um von ihnen her – als Erklärungsursprung und Erklärungsweg im Folgenden quasi sich von selbst bestätigend – dann auf die zu betrachtenden Gegenstände – nämlich kompositorisches bzw. ästhetisches Handeln in der DDR – ohne größere Umstände schließen zu können; das heißt aber auch, letztere historiographisch und ästhetisch auf ihre Funktion als Bestätigung jenes Erklärungsweges zu reduzieren. 25

Wissenschaftstheoretisch unzulässig ist es daher, von den politischen Systemen und den sie stützenden Ideologien auf den Zustand einer universitär institutionalisierten wissenschaftlichen Disziplin und die Ausrichtung ihrer Forschungsergebnisse zu schließen. Denn dieses Vorgehen, das von einer a priori unterstellten Vorrangigkeit politischer Verhältnisse ausgeht, kann sich in der Praxis als self-fullfilling prophecy erweisen: Quellen und Dokumente lassen sich allzu leicht nach den passenden Belegen für das schon im Vorhinein postulierte Ergebnis durchforsten. Sie werden genötigt, sich diesem methodisch fragwürdigen Ansinnen des Historikers anzupassen, da sie nicht 25 Albrecht von Massow, Autonomie und Kontext. Ein Beitrag zur Theorie der Musikgeschichtsschreibung am Beispiel von Neuer Musik in der DDR, in: Noeske u. Tischer (Hg.), Musikwissenschaft und Kalter Krieg, S. 97–116, hier S. 97.

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gegen die unter Umständen verschwiegenen Belege, die das vorgefasste Ergebnis relativieren oder gar falsifizieren könnten, protestieren können. Es soll damit nicht suggeriert werden, dass die Politik – gerade in dem hier zu behandelnden Thema – nicht der primäre Faktor sein kann, der die ideologische Ausrichtung des wissenschaftlich-akademischen Outputs bestimmt. Doch wäre dies nicht schon im Vorhinein zu setzen, sondern über die Quellen überhaupt erst nachzuweisen, um zu verhindern, dass die eigene Forschungsarbeit nicht in eine groß angelegte petitio principii mündet, die den besprochenen Autoren keinerlei geistige Autonomie zubilligt. d) Aus der skizzierten Problemstellung ergibt sich der Aufbau der folgenden Untersuchung. In einem ersten Schritt werden die philosophischen Ausgangspunkte des marxistischen Musikdenkens skizziert (Kapitel 2), das im darauf folgenden Schritt auf seine ästhetischen (Kapitel 3) und historiographischen Kernprobleme (Kapitel 4) zurückgeführt wird. In diesen zeigen sich Konstanten im methodischen und interpretierenden Zugriff auf die Musik und ihre Geschichte, die wissenschaftstheoretisch eigens behandelt werden (Kapitel 5). Die Arbeit schließt mit dem Versuch zu zeigen, dass marxsche und marxistische Ideen in ihrer Intention nicht umstandslos als Relikt der Geschichte begriffen werden müssen, sondern je nach Erkenntnisinteresse auch gegenwärtig Potenziale beinhalten können (Kapitel 6).

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2. Ursprünge

Die dieser Arbeit zugrunde gelegten Varianten marxistischen Denkens weisen einen Kernbestand gemeinsamer Merkmale auf, der die Themen und Problemfelder des marxistischen Musikdenkens bestimmt: Eine bestimmte Auffassung vom Menschen und seiner Lebenspraxis liefert die Koordinaten für Ästhetik und Historiographie (Kapitel 2.1). Diese beiden Teilbereiche des marxistischen Musikdenkens basieren zudem auf einer besonderen Form der Rationalität: dem dialektischen Denken (Kapitel 2.2). Schließlich wird der marxistische Blick auf die Kunst immer auch von der Hoffnung oder Gewissheit einer erstrebenswerten Zukunft geleitet, sodass der historische wie ästhetische Stellenwert eines Werkes an seinem Verhältnis zum Fortschritt der Geschichte ermessen wird (Kapitel 2.3).

2.1 Materialistische Anthropologie »Entstanden ist die Ästhetik als Diskurs über den Körper.« 26 Die schlichte Form dieser Feststellung, mit der Terry Eagleton seine Ästhetik beginnen lässt, verleiht ihr den Schein der Selbstverständlichkeit. Doch trotz der ursprünglichen Fundierung der Ästhetik im Materiell-Sinnlichen, wie etwa bei Alexander Baumgarten, zeigt sich die »Entwicklung des Ästhetischen […] eher als die eines Anästhetischen« 27 – als Folge der Verwobenheit des ästhetischen Denkens seit dem 18. Jahrhundert mit der idealistischen Philosophie. Aus dem Denken von Karl Marx leitet Eagleton indes eine Ästhetik ab, die als der Versuch einer Umkehr erscheint, mit dem die bisherige Vorortung der Ästhetik in einem jenseits unmittelbarer Sinnlichkeit gelegenen Bereich überwunden werden kann: Diesmal gilt es, »beim 26 Terry Eagleton, Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, aus d. Engl. v. Klaus Laermann, Stuttgart u. Weimar 1994. S. 13. 27 Ebd., S. 204.

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Körper selbst« anzusetzen. Der »implizite Materialismus des Ästhetischen«, so Eagletons Hoffnung, »ließe sich dann möglicherweise doch noch einlösen«, indem das Ästhetische »unter der drückenden Last des Idealismus« wieder hervorgeholt wird. 28 »Wenn Marx eine sinnlich gegründete Wissenschaft fordern kann, ohne in einen banalen Empirismus zu verfallen, so hat das seinen Grund darin, daß für ihn die Sinne kein isoliertes Teilgebiet des Menschen sind, dessen ›Gesetze‹ rational zu bestimmen wären, sondern vielmehr eine Form unserer praktischen Beziehung zur Wirklichkeit.« 29 Hiermit ist der ebenso materialistisch wie gleichermaßen anthropologisch begründete Ausgangspunkt der marxistischen Ästhetik benannt: die Herleitung der Ästhetik aus der sinnlich-körperlichen Lebenspraxis des Menschen, aus seinem Verhältnis zur Natur und zu seinen Mitmenschen. Die menschliche Lebenspraxis, Körperlichkeit und Materialität erscheinen nicht als mögliche Kategorien, unter denen Kunst auch in den Blick genommen und verstanden werden kann, sondern sie liefern den fundamentalen Begründungszusammenhang für das Entstehen und die Verfasstheit jeder einzelnen künstlerischen Äußerung. 30 Die der Ästhetik und der Historiographie zugrunde liegende Auffassung vom Menschen lässt sich in drei Bereiche gliedern. Erstens: Kann sinnvollerweise von einer ›Natur‹ des Menschen gesprochen werden und, sollte dies des Fall sein, wie ist diese ›Natur‹ bzw. das Verhältnis des Menschen zu ihr zu bestimmen? (a). Zweitens: Die Frage nach einem angenommenen ursprünglichen, ungestörten Verhältnis des Mensch zu sich und seiner Umwelt und das Problem der Entfremdung (b). Drittens ist in der marxschen Anthropologie auch jener Konflikt angelegt, der sich an der Frage nach der Möglichkeit der Freiheit des Menschen vor dem Hintergrund seiner Abhängigkeit von ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen entzündet. Ebd., S. 204–205. Ebd., S. 207. 30 Die materialistische Anthropologie im Ausgang von Marx verklammert dieses Kapitel mit dem letzten (Kapitel 6.3), das ein an Marx orientiertes Kunstverständnis herausarbeiten will, das den oftmals ebenso einseitigen wie immer und immer wieder beschworenen Realismus zugunsten offenerer Ansätze hinter sich lässt. Diese sind deshalb besonders hervorzuheben, weil die Sensibilität der marxschen Anthropologie für die Pluralität menschlicher Bedürfnisse und Äußerungsformen in der Geschichte der marxistischen Ästhetik kaum rezipiert wird. Stattdessen wird allzu oft durch die Besessenheit auf bestimmte Formen abbildender und realistischer Kunst jedes Ansinnen eines offeneren Blicks auf die künstlerischen Praxen der Menschen bereits im Keim erstickt. 28 29

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Die dem Menschen zugeschriebene Autonomie und die Frage nach dem Spielraum subjektiv-willentlicher Gestaltungsmöglichkeiten berühren wesentliche Probleme der Musikästhetik und -historiographie (c). (a) Die Anwendung anthropologischer Fragestellungen auf musikalische Praktiken evoziert mitunter unwillkürlich die Assoziation einer musikwissenschaftlichen Fachtradition, die auf den ersten Blick mit marxistischen Ansätzen verträglich zu sein scheint. 31 Doch ist sie allein mit jenem Teilbereich der marxistischen Ästhetik verträglich, der in der Frontstellung gegen eine als bedrohlich empfundene Avantgarde sich gegen sogenannte »formalistische« Tendenzen richtet. Dieser nimmt zwar im Marxismus einen breiten Raum ein und mündet in dem politisch sanktionierten »sozialistischen Realismus«, doch bedeutete es zum einen eine grobe Verkürzung, ihn dem Marxismus, in dem sehr differenzierte Realismuskonzeptionen entstanden sind, als Ganzem zu unterstellen. Zum anderen lässt er sich aus Marx’ Denken selbst nicht unmittelbar ableiten. In der hier angesprochenen Fachtradition der Musikanthropologie werden mehr oder minder explizit empirische Befunde über bestimmte, als ›natürlich‹ verstandene musikalische Praktiken der Menschen in ästhetische Normen umgedeutet: Der Wert kultureller Leistungen wird am Maß ihrer Verankerung in der ›Natur‹ des Menschen bemessen. Zwar mag, unabhängig von der Frage, worin sie besteht, mit guten Gründen eine unveränderliche Natur des Menschen angenommen werden. Karl Löwith hat das Spannungsverhältnis, das aus der Annahme eines ahistorischen ›Wesens‹ oder einer ›Natur‹ des Menschen und seiner faktischen sozialen, historischen und kulturellen Pluralität resultiert, klar gesehen. Er beklagt das »moderne Vorurteil«, nach dem die Existenz des Menschen nur geschichtlich verstanden werden könne, 32 und erachtet es als eine »moderne VerSo sieht Christoph Khittl Parallelen zwischen dem Denken von Georg Knepler und Wolfgang Suppan. Christoph Khittl, »Die Musik fängt im Menschen an«. Anthropologische Musikdidaktik: theoretisch – praktisch, Bern u. a. 2007 (Interuniversitäre Schriften zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 1), S. 51. Suppan selbst beruft sich an einigen Stellten auf Knepler. Wolfgang Suppan, Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik, Mainz u. a. 1984 (Musikpädagogik. Lehre und Forschung 10), S. 27–28, S. 31, S. 158 u. S. 175. 32 Karl Löwith, Mensch und Geschichte [1960], in: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1983 (GS 2), S. 346–376, hier S. 352–353. 31

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irrung«, den »einen physischen Kosmos in die Vielheit geschichtlicher Welten und die immer gleiche Natur des Menschen in eine Mannigfaltigkeit geschichtlicher Existenzweisen« aufzulösen. Neben Giambattista Vico zählt er Hegel und Marx zu den wesentlichen »Schrittmachern auf diesem Weg zum Historismus« 33 . Er wirft Marx vor, dass er nur noch eine Wissenschaft kenne, und zwar die von der Geschichte. »Die Natur ist für ihn, ebenso wie für Hegel, nur die untergeordnete Vorbedingung menschgeschichtlicher Tätigkeit.« 34 Doch wenn Löwith darin zuzustimmen ist, dass Marx zu den Urhebern eines konsequent historischen Denkens gezählt werden muss, kann das marxsche Denken gerade nicht als Referenz für die Hypothese einer ewigen Natur des Menschen herangezogen werden, die so weit über die grundlegende physische und psychische Konstitution des Menschen hinausgeht, dass aus ihr – in einem zweiten Schritt – noch die normativen Rahmenbedingungen zu gewinnen wären, innerhalb derer die Inhalte einer der Natur des Menschen entsprechenden Ästhetik zu fixieren wären. 35 Aus diesen Gründen wird die Konzentration einer scheinbar marxnahen Musikanthropologie auf den musizierenden Menschen in dem Moment problematisch, in dem er nicht mehr allein Ausgangspunkt ihrer Forschung ist, sondern ihm normativ nicht mehr die gesamte Vielfalt sein ›Wesen‹ überschreitender Ausdruckmöglichkeiten zugestanden wird. So fordert Wolfgang Suppan, die anthropologische Musikbetrachtung habe das »Wesen des Menschen« an der Musik zu erfassen, und äußert zugleich Bedenken gegen eine »L’art pour l’art-Gesinnung«. 36 Selbst dann, wenn Löwith in seinem Insistieren auf die Bedeutung einer immer gleichen – und nicht weiter definierten – Natur des Menschen beizupflichten sein sollte, so ist entscheidend, welche Ebd., S. 360. Ebd., S. 369. 35 Eine vermittelnde, etwas näher an Marx heranrückende Position nimmt hier Georgi W. Plechanow ein. Zwar leitet auch er aus der menschlichen Natur ab, dass der Mensch »gerade diese ästhetischen Geschmacksrichtungen und Begriffe besitzt und keine anderen«, jedoch ist für ihn die Natur keine unwandelbare, sondern gesellschaftlich und historisch bedingt. Doch ganz gleich ob die menschliche Natur historischem Wandel unterliegt oder nicht, sie liefert auch in dieser Sichtweise die Norm für ›richtig‹ und ›falsch‹ in der Kunst. Georgi W. Plechanow, Kunst und Literatur, übers. v. Joseph Harhammer, Vorw. v. M. Rosental, Red. u. Komm. v. N. F. Beltschikow, Berlin 1955, S. 52. 36 Suppan, Der musizierende Mensch, S. 172 u. S. 26–27. 33 34

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Schlüsse aus dem Postulat eines »ewig Menschlichen« oder der Annahme anthropologischer Konstanten gezogen werden. Denn keinesfalls können aus ihnen ästhetische Normen abgeleitet werden. Eine Aussage über den Wert einer kulturellen Leistung kann nicht aus der empirischen Untersuchung der ›Natur‹ des Menschen gewonnen werden. Vom ›Sein‹ kann nicht aufs ›Sollen‹ geschlossen werden – eine Einsicht, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die für die Methodik der soziologisch und historisch verfahrenden Wissenschaften grundlegende Kontroverse zwischen Max Weber und den Vertretern des sogenannten Kathedersozialismus provozierte. 37 Uneingestanden oder unbewusst liegt gewissermaßen prototypisch der Fall des naturalistischen Fehlschlusses vor, wenn Suppan eine Musikanthropologie fordert, »deren naturwissenschaftliche Basis die Gebrauchswerte des Musizierens für den Menschen zu verdeutlichen und die darüber hinaus die Grundlage für eine philosophisch-anthropologisch gewichtete Ästhetik der (Ton-)Kunst anzuvisieren vermöchte«. 38 Diese Ästhetik will nichts von einem »Werk der absoluten Tonkunst um ihrer selbst willen« wissen, sondern den Wert der Werke allein an ihrem »kommunikativen Gebrauchswert« bemessen. 39 Damit werden Kulturleistungen, die sich diesem einseitig verstandenen »Gebrauchswert« zu entziehen suchen, bewusst – so die implizite Konsequenz – nicht nur in ihrem Rang herabgesetzt, sondern vor allem auch aus dem Bereich des Menschlichen herausgedrängt, weil sie angeklagt werden, nicht mehr dem ›Wesen‹ des Menschen zu entsprechen. Die Diffamierung vor allem avancierter Kunst als nicht menschlich – eine Konstante in dieser Ausprägung musikanthropologischen Denkens 40 – blendet zum einen aus, dass auch avancierte Kunst 37 Siehe hierzu die beiden grundlegenden Aufsätze von Max Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften [1918], in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988 (Uni-Taschenbücher 1492), S. 489–540; Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988 (Uni-Taschenbücher 1492), S. 146–214. 38 Wolfgang Suppan, Anthropologische Ansätze in den Musikwissenschaften – Entwurf einer Anthropologie der Musik, in: Reinhard Schneider (Hg.), Anthropologie der Musik und der Musikerziehung, Regensburg 1987 (Musik im Diskurs 4), S. 25– 54, hier S. 34. 39 Ebd., S. 39–40. 40 Marcel Dobberstein, Die Natur der Musik, Frankfurt a. M. u. a. 2005 (Systemati-

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immer Ausdruck menschlicher Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen ist, zum anderen gründet sie in einem höchst einseitigen Begriff des musikalischen Verstehens. »Verstehbar […] wird Kunst/Musik«, so Suppan, »nicht durch die Analyse ihrer Erscheinungsformen sondern im Hinblick auf die gesellschaftliche Funktion. Das Werk bezieht seine Bedeutung daraus, daß es etwas darstellt, was es selbst nicht ist.« Ist dies nicht mehr der Fall und »verliert das Werk seine Abbildhaftigkeit, so wird es zum bloßen factum brutum, zu einem Gegenstand unter Gegenständen, zum sinnlosen Besitz […], zur reinen Ware.« Suppan, der sich hierfür auf Hans Heinz Holz beruft, 41 liefert gewissermaßen ex post die pseudowissenschaftliche Rechtfertigung für all jene Strategien, mit denen die Verfechter des sozialistischen Realismus und gleichzeitigen Verächter der Avantgarde all jene Kunst mit dem Verdikt des »Formalismus« diskreditiert haben, die einem engen Verständnis von Abbildhaftigkeit und Sprachfähigkeit nicht mehr zu entsprechen schien. »Musik und Bedürfnis – ›… gegen die Unterschlagung des Zusammenhanges von Kunst und Leben im Abseits belangloser Theorien des L’art pour l’art‹« zitiert Suppan in einer Kapitelüberschrift Franz Koppe. 42 Er leistet ihm gewissermaßen Schützenhilfe für die allein »soziale Rechtfertigung« 43 der Kunst. Musik im eigentlichen Sinne ist dann nur jene, die dem Menschen »als einer primären, weil biologisch disponierten Sprechweise« entspricht und »ihm genetisch einverleibt [ist] als ein in das Irrationale/ Unterbewußte führendes Kommunikationsmedium«. Daher geht es nach Suppan »nur sekundär um ›belanglose Theorien des L’art pour l’art‹«. 44 Suppan zielt in seiner Intention, festlegen zu können, was richtige und falsche »Bedürfnisse« des Menschen sind, explizit auf den »Gebrauchswert« eines Kunstwerkes. Dieser Gebrauchswert leitet

sche Musikwissenschaft 8), S. 206–238 u. S. 244–261. Siehe auch vom demselben: Neue Musik. 100 Jahre Irrwege. Eine kritische Bilanz, Wilhelmshaven 2007 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft 154). 41 Suppan, Der musizierende Mensch, S. 176. 42 Wolfgang Suppan, Musica Humana. Die anthropologische und kulturethologische Dimension der Musikwissenschaft, Wien u. a. 1986 (Forschen – Lehren – Verantworten 8), S. 14. Kapitelüberschrift: Franz Koppe, Sprache und Bedürfnis. Zur sprachphilosophischen Grundlage der Geisteswissenschaften. Stuttgart/Bad Cannstatt 1977. Zitat darin: Franz Koppe, Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1983, S. 20. 43 Suppan, Musica Humana, S. 23. 44 Ebd., S. 23–24.

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sich aus der Eigenschaft eines Werkes ab, einem bestimmten Kommunikationsbegriff zu genügen. (Die Frage, ob nicht ein vermeintlich hermetisch in sich ruhendes Werk Anton Weberns auch etwas menschlich Bedeutsames kommunizieren könnte, stellt sich Suppan indes nicht.) In Marx’ Sinne ist der Gebrauchswert »ein bestimmtes Mensch-Natur-Verhältnis«, 45 in dem sich je verschiedene menschliche Bedürfnisse äußern. Doch gibt es für Marx – und dies ist der entscheidende Unterschied zu der skizzierten Position der Musikanthropologie – keine normative Hierarchie unterschiedlicher Gebrauchswerte. Marx schreibt keine Norm vor, mit der ›wahre‹ von ›falschen‹ Bedürfnissen unterschieden werden könnten. Denn woher, so Wolfgang Fritz Haug, »könnten solche Vorschriftsmäßigkeiten abgeleitet werden, wenn nicht aus anderen Vorschriften, aus solchen der Religion oder irgendeiner zur Ethik verdünnten Religion?« 46 Marx geht von der Lebenspraxis der Menschen aus, ohne dabei über ihre je unterschiedlichen Bedürfnisse zu richten. Der Mensch selbst – und keine wie auch immer sich legitimierende Instanz – entscheidet über den Wert eines Bedürfnisses, die »wirklichen Subjekte wählen ständig aus zwischen Möglichkeiten, bewerten die eine höher als die andere«. 47 Was über den Gebrauchswert entscheidet, sind damit allein »unsere tatsächlichen Vorzughandlungen. [Marx] unterläuft damit die Frage nach vor- oder übergeordneten Normen und Werten, dieses Lieblingsthema spätbürgerlicher Philosophen.« 48 Wertvorstellungen sind damit das Resultat von Bedürfnissen, die einer konkreten menschlichen Lebenspraxis entspringen und die, wie es Max Horkheimer ausdrückt, »keine Schau zum Grunde, sondern eher die Not zur Ursache haben«. 49 Wenn auch hier Ideale formuliert werden, so sind diese allein bedingt durch eine »nicht weiter zu legitimierende, sondern nur historisch zu erklärende Sehnsucht nach Glück und Freiheit für die Menschheit«, sie sind keine »Urbilder«, sondern von jeweiligen Verhältnissen bedingte »vergängliche

Wolfgang Fritz Haug, Vorlesungen zu Einführung ins »Kapital«, 2., korr. Aufl. der Neufassung v. 2005, 7. Aufl., o. O. 2013, S. 54. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 55. 49 Max Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie [1935], in: Kritische Theorie. Eine Dokumentation 1, hg. v. Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1968, S. 200–227, hier S. 206. 45

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Zielvorstellungen«. 50 Welche Ideale, Werte und Normen dies sind, bleibt dabei vollkommen offen. Diese im Ausgang von Suppan skizzierte anthropologisch fundierte Ästhetik ist denkbar weit von einer angemessenen Auseinandersetzung mit der faktischen Pluralität des Menschen und seinen artifiziellen Ausdrucksbedürfnissen entfernt. Dass die von ihm geschmähte »L’art pour l’art« eben auch Ausdruck genuin menschlicher Bedürfnisse ist, will ihm nicht in den Sinn kommen. Darin gleicht diese Ästhetik jenen Positionen innerhalb des Marxismus, die in ihrer Fixierung auf eine bestimmte Form des Realismus festschreiben wollen, welche die eigentlich richtigen Bedürfnisse des Menschen sind. Mit Horkheimer lässt sich – aus seiner Perspektive der Kritischen Theorie – dafür argumentieren, dass selbst dann, wenn dieses anthropologische Denken auch die Geschichtlichkeit des Menschen mit in Rechnung stellt, dennoch eine »feste begriffliche Hierarchie« voraussetzt, die dem »dialektischen Charakter des Geschehens, in das die Grundstruktur des Seins von Gruppen und Individuen jederzeit verflochten ist«, widerspricht. 51 In dem Bemühen, »neue absolute Prinzipien aufzustellen, aus denen das Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll«, sieht er die Anthropologie in der Tradition der idealistischen Philosophie, die ebenso »das Schicksal jedes Einzelnen und der ganzen Menschheit in Einklang mit einer ewigen Bestimmung zu bringen« sucht: 52 »Die moderne philosophische Anthropologie gehört zu den späten Versuchen, eine Norm zu finden, die dem Leben des Individuums in der Welt, so wie sie jetzt ist, Sinn verleihen soll.« 53 Die Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zu seiner Natur ist bei Marx nicht einheitlich; es unterliegt im Laufe seines Denkens einer deutlichen Akzentverschiebung. Doch gerade mit der Intention seiner späteren Schriften ist es unvereinbar, normativ den Wert einer menschlichen Äußerung – sei es eine künstlerische oder eine andere – an ihrer Relation zu einer unterstellten ahistorischen ›Natur‹ oder zu einem ewigen ›Wesen‹ des Menschen zu bemessen. In den frühen Pariser Manuskripten geht Marx von einer ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur aus; er bestimmt die Natur als 50 51 52 53

Ebd., S. 210. Ebd., S. 202. Ebd., S. 203. Ebd., S. 205.

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»unorganischen Körper« des Menschen, sofern sie »ein unmittelbares Lebensmittel« und »der Gegenstand und das Werkzeug seiner Lebenstätigkeit« ist. »Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.« 54 Sein Naturbegriff umfasst letztlich die Gesamtheit menschlicher Lebenspraxis, sodass die Trennung zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ dann nur noch eine nachgeordnet-begriffliche, keine die Sache selbst betreffende mehr ist. Später im Kapital beschreibt Marx das Verhältnis zwischen Mensch und Natur anhand der Arbeit, die ein Prozess ist, in dem der »Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert«. Doch erscheint der Mensch selbst auch als eine »Naturmacht«: »Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.« 55 »Natur« impliziert daher keine Norm, sondern zielt allein auf das handelnde und gestaltende Vermögen des Menschen. Der Naturbegriff zielt hier nicht mehr auf ein ahistorisches menschliches ›Wesen‹, sondern die menschliche »Natur« ist durch die Lebenspraxis selbst immerwährendem Wandel ausgesetzt. Die Veränderung der Natur durch Arbeit verändert auch den Menschen selbst. Doch dass Marx nicht von »der Natur«, sondern nur von der »in jeder Epoche historisch modifizierten Menschennatur« 56 sprechen kann und seine Kritik an Feuerbach darauf zielt, dass nicht »der« Mensch, sondern der Mensch in seinen historisch je verschiedenen Gesellschaftsverhältnissen in den Blick genommen werden soll, 57 ist – wie angedeutet – ein Resultat der Entwicklung seines eigenen Denkens; er spricht später nicht mehr – wie noch in den Pariser Manuskripten – vom Menschen im Singular 58 und versteht den Menschen

54 55 56 57 58

MEW 40, S. 516. MEW 23, S. 192. Ebd., S. 637. MEW 3, S. 42–43. Helmuth Fleischer, Karl Marx. Menschliche Natur – Geschichtliche Modifikation,

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nicht mehr als ahistorisches »Gattungswesen«. Doch bleibt – so Helmuth Fleischer – das Konzept »auch jetzt deutlich anthropologisch – genauer gesagt ›formal-anthropologisch‹ in dem Sinne, daß nicht ein Abstractum von ›gesellschaftlichen Verhältnissen‹ das thematische Zentrum bildet, sondern eben die Menschen als ›die Individuen‹.« Aus dem historisch-anthropologischen Blickwinkel »interessieren nicht so sehr die gattungs-allgemeinen Charaktere, sondern die geschichtlich-formativen Unterschiede in den Ausprägungen des Menschseins.« 59 b) In den Pariser Manuskripten beschreibt Marx mit dem Begriff der Entfremdung jenen Zustand des Menschen unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse, auf deren Überwindung sein Denken zielt. Der Mensch befindet sich nicht mehr in einem ungestörten Verhältnis zu sich und seiner Umwelt, sondern in einem entfremdeten. Das Produkt seiner Arbeit tritt dem Menschen »als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber«. Die »Verwirklichung der Arbeit«, nämlich ihre Vergegenständlichung im Produkt der Arbeit, erscheint als »Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung«. 60 »Durch die entfremdete, entäußerte Arbeit erzeugt der Arbeiter das Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Menschen zu dieser Arbeit.« 61 Doch der Arbeiter ist damit nicht nur den von ihm hergestellten Produkten entfremdet, sondern auch der Arbeit selbst, die »dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört«; 62 die entfremdete Arbeit entfremdet zudem »dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen« und führt schließlich zur »Entfremdung des Menschen von dem Menschen«. 63 Obgleich der Entfremdungsbegriff Marx’ frühem Denken entstammt, so bleibt er doch für seine späteren Arbeiten leitend. 64 Lucien Sève plädiert in: Friedhelm Decher u. Jochem Hennigfeld (Hg.), Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, Würzburg 1991, S. 153–168, hier S. 160. 59 Ebd., S. 161. Siehe auch Lucien Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, übers. v. Joachim Wilke, Berlin 1972, S. 135. 60 MEW 40, S. 511–512. 61 Ebd., S. 519–520. 62 Ebd., S. 514. 63 Ebd., S. 517–518. 64 Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, S. 134.

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daher dafür, den Marxismus, der von dem Bedürfnis der Überwindung eines von Entfremdung geprägten gesellschaftlichen Zustands motiviert wird, gar »als Theorie der geschichtlichen Widersprüche und Entfaltungsbedingungen der Individuen«, als »wissenschaftlichen Humanismus« auszuzeichnen. 65 c) Marx’ Materialismusbegriff – um nun zu dem ersten in der Kapitelüberschrift enthaltenden Begriff zu kommen – ist vom Subjekt aus gedacht und daher kaum von anthropologischen Aspekten zu trennen. Das entscheidend Neue an ihm ist seine Ableitung aus der Praxis. »Damit ist die Dürre des physikalischen Materialismus«, wie es Ernst Bloch auf den Punkt bringt, »ebenso verlassen wie die stupide Total-Reduktion auf nichts als Atombewegungen letzthin, wie lediglich mechanische – statt entwicklungsgeschichtlich-dialektische – Gesetzlichkeit der Materie.« Damit ist, so Bloch weiter, »ein Stück Reichtum der Materie […] wiedergewonnen, auf völlig neue Art; das (notwendig gewesene) Verlustprinzip, das totale Reduktionsprinzip des Mechanismus ist aus ihrem Begriff wieder ausgeschieden«. 66 Von der Praxis auszugehen versäumt zu haben, wirft Marx auch Ludwig Feuerbach vor, obgleich dessen Materialismus, wie Marx konzediert, vom Menschen ausgeht, aber eher von einem unterstellten ahistorischen Wesen des Menschen und nicht von der Lebenspraxis wirklicher Individuen. 67 In der ersten Feuerbachthese bezeichnet es Marx als den »Hauptmangel« des bisherigen Materialismus, dass »der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv«. Dies hat – so Marx – dazu geführt, dass »die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde – aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt. Feuerbach will sinnliche, von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte; aber er faßt die menschliche TätigEbd., S. 141. Die Kontroverse, ob die späten Schriften von Marx nur auf der Grundlage der frühen zu verstehen sind oder ob zwischen beiden gar ein »epistemologischer Bruch« vorliegt, gehört zu den Konstanten der Marxrezeption. Siehe hierzu bspw. Hoff, Marx Global, S. 155–159. 66 Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt a. M. 1977 (GA 7), S. 306. 67 MEW 3, S. 534. Zur Feuerbachrezeption siehe Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, Frankfurt a. M. u. a. 1977. 65

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keit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.« 68 Haug umschreibt die marxsche antiidealistische Intention mit der bildlichen Metapher, dass mit Marx die »Vis-à-vis-Struktur der metaphysischen Diskursformation« aufgegeben wird, nämlich die Vorstellung, dass »einem außerweltlichen Subjekt […] eine äußerliche Welt« gegenübersteht. »Die Wirklichkeitsauffassung muss aus der Objektform befreit werden. Nicht speculatio, reine Schau, sondern tätiges Zugehen und Einwirken auf Welt vermitteln Erkenntnisse über diese. Das transzendentale Subjekt muss in die geschichtlich-tätige Immanenz umziehen.« 69 Das »menschliche Wesen« erscheint bei Marx nicht mehr als überindividuelles und ahistorisches, sondern: »In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« 70 Essentiell tritt bei Marx zu der Ausrichtung seines Denkens an der wirklichen Lebenspraxis der Impuls, in diese Praxis verändernd einzugreifen, wie es die elfte Feuerbachthese verlangt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« 71 Mit Marx tendiert – so Haug – das »Verhältnis von Theorie und Praxis, diese Urfrage aller Philosophie, […] von nun an zum Verhältnis zwischen sozialkritischer Intelligenz und sozialer Bewegung, diesen Bildungselementen des künftigen Marxismus.« 72 Der geschichtlich gedachte Materialismus liefert nun auch die entscheidenden Impulse für eine marxistisch ausgerichtete Historiographie. Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc., aus ihr zu erklären und ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen, wo dann natürlich

MEW 3, S. 533. Haug, Einführung in marxistisches Philosophieren, S. 127. 70 MEW 3, S. 534. 71 Ebd., S. 535. Das »aber« ist eine Hinzufügung von Engels, wodurch die beiden Satzhälften in einen Gegensatz zueinander treten, der von Marx nicht intendiert ist. Haug, Einführung in marxistisches Philosophieren, S. 131. 72 Haug, Einführung in marxistisches Philosophieren, S. 79. 68 69

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auch die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkung dieser verschiednen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann. 73

Der marxschen Anthropologie ist jedoch ein Problem inhärent, das im hohen Maße das marxistische Denken bestimmt und in den folgenden Kapiteln immer wieder zur Sprache kommen wird, weil die Art seiner Lösung für die Interpretation artifizieller Leistungen des Menschen und die Interpretation der Musikgeschichte – wie der Geschichte überhaupt – grundlegend ist: Es betrifft die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Individualität und Freiheit, vor allem unter den Bedingungen der Klassengesellschaft – eines der Kernprobleme der Marxrezeption. 74 Zunächst scheint es um die Freiheit des Menschen aus der Sicht von Marx nicht besonders gut bestellt zu sein, bestimmt er doch sein Wesen »in seiner Wirklichkeit« als das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«. 75 Bleibt diese Formulierung noch recht abstrakt, so wendet sich Marx im Kapital konkret den auf Arbeitsteilung aufbauenden kapitalistischen Verhältnissen zu, die in ihrer Konsequenz auf »eine gewisse geistige und körperliche Verkrüppelung« der Arbeiter hinauslaufen. 76 Weil der »Manufakturarbeiter«, so Marx im Kapital, »produktive Tätigkeit nur noch als Zubehör zur Werkstatt des Kapitalisten« entwickeln kann, ist der seiner »natürlichen Beschaffenheit nach verunfähigt, etwas Selbständiges zu machen«. 77 Die Individuen sind so sehr von den Verhältnissen, in denen sie leben, bestimmt, dass nicht die Individuen die Geschichte produzieren, sondern umgekehrt die Geschichte die Individuen produziert; 78 und selbst dann, wenn die Menschen »Initiative beweisen und die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionieren«, vermögen sie dies »nicht kraft irgendeines schöpferischen Wesens oder irgendeiner transzendenten Freiheit, die dem Menschen innewohnt«, sondern, »weil sie eben von den Widersprüchen dieser gesellschaftlichen Verhältnisse dazu gezwungen werden«. 79 Inwiefern das Handeln der Menschen allein aus sozialen und ökonomischen Bedingungen abgeleitet werden soll, wie der »Stellenwert der

73 74 75 76 77 78 79

MEW 3, S. 37–38. Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, S. 61–176. MEW 3, S. 534. MEW 23, S. 384. Ebd., S. 382. Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, S. 121. Ebd., S. 123.

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›Ökonomie‹ in der theoretischen Erklärung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und in der praktischen Gestaltung gesellschaftsverändernder Politik« bemessen wird, 80 und ob demgegenüber überhaupt ein wie auch immer zu denkender Begriff menschlicher Freiheit zur Geltung gebracht werden kann, ist Gegenstand ebenso heftiger wie zählebiger Kontroversen, die in der Musikästhetik und -historiographie um den Begriff der »relativen Autonomie« der Kunst ausgetragen werden (Kapitel 2.3, 3.2 und 5.3).

2.2 Dialektische Rationalität Das dialektische Denken, dessen vielschichtige Tradition hier nur in Ausschnitten berührt wird, fundiert den marxistischen Umgang mit Musik in doppelter Hinsicht: Zum einen die ideologiekritisch verfahrende Historiographie der Musik (a), zum anderen die sich am Konzept der Widerspiegelung orientierende Ästhetik (b). Beide Gegenstandsbereiche des marxistischen Musikdenkens fließen zwar oftmals ineinander, gehen aber idealtypisch von unterschiedlich konnotierten Dialektikbegriffen aus. Im ersten Fall dient die Dialektik als Methode, sich die Wirklichkeit verstehend anzueignen, im zweiten Fall wird sie als integraler Bestandteil des Widerspiegelungsdenkens als ›Naturdialektik‹ begriffen. Weil die Dialektik dann aber mit a priori geltenden Gesetzen einer reflexiven Struktur der Wirklichkeit identifiziert wird, gerät sie in Widerspruch zu dem erstgenannten, für die Historiographie grundlegenden und an der menschlichen Lebenspraxis orientierten Dialektikbegriff. Zwei unterschiedliche Dialektikbegriffe führten dann nicht zu einem Dilemma, wenn sich beide aufgrund ihrer je unterschiedlichen Bedeutung und Erklärungskraft schlicht für divergierende Gegenstände und Erkenntnisinteressen fruchtbar anwenden ließen und ihre jeweilige Bedeutung zugleich logisch widerspruchsfrei behauptet werden könnte. Weil sich beide Dialektikbegriffe und die mit ihnen jeweils verbundenen Behauptungen über die Wirklichkeit aber gegenseitig ausschließen, führen sie zu einem grundlegenden Konflikt im marxistischen Denken (c), der musikphilosophische Kontroversen über die Frage auslöst, ob oder in welchem Maß das menschliche Handeln bzw. die artifiziellen LeistunWolfgang Fritz Haug, Was ist Ökonomismus. Ökonomiekritik bei Lenin und Gramsci, in: Pluraler Marxismus 1, S. 127–157, hier S. 127.

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gen eines Künstlers als determiniert angenommen werden müssen. Dieses Problem bestimmt wesentliche der in den folgenden Kapiteln zu behandelnden Facetten marxistischer Ästhetik und Historiographie. a) Die Attraktivität der Dialektik scheint für viele Historiker in ihrem Versprechen zu bestehen, einen Gegenstand der Geschichte als etwas auslegen zu können, das er nicht – oder zunächst nicht – vorgibt zu sein. So schickt Georg Knepler seiner Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts die Prämisse voraus, dass »es nur mittels der Methode des Marxismus gelingen kann, jene tief unter der glänzenden Oberfläche des bürgerlichen Musiklebens verborgenen Zusammenhänge aufzuzeigen, die den Schlüssel zu seinem Verständnis bilden.« 81 Historisch und sozial bedingte Sachverhalte und Tatsachen wie politische Ereignisse, Kunstwerke, Gesetzestexte usf. sollen nicht allein als das beschrieben und verstanden werden, was ihr ›Literalsinn‹ – um einen Begriff der Hermeneutik zu verwenden – nahelegt bzw. ihre sichtbare Außenseite zeigt, sondern auf verborgene Zwecke zurückgeführt, als Resultat gesellschaftlicher Konflikte begriffen und zugleich als Impuls zukünftiger Entwicklungen interpretiert werden. Dialektisches Denken setzt hierzu die Annahme voraus, dass ein und derselbe historische Gegenstand so betrachtet werden kann, als zeichne er sich durch ein inneres Widerspruchsverhältnis aus: In ihm sind gegensätzliche, in der menschlichen Lebenspraxis wurzelnde Tendenzen eingegangen und verborgen. So besteht die Kunst des dialektischen Denkens in der Identifizierung des Widerspruchs innerhalb einer Sache selbst – so etwa des Widerspruchs zwischen ihrem oberflächlichen Schein und ihrem eigentlichen Kern –, allerdings eines Widerspruchs, der allein das Ergebnis der Interpretation der Wirklichkeit ist. Innere Widersprüche sollen nicht allein diesen oder jenen Gegenstand der Geschichte auszeichnen, sondern der Antrieb der Geschichte als ganzer sein. Marx selbst erachtet die Dialektik als Darstellungsform menschlicher Praxis: In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs ein-

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Georg Knepler, Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 1–2, Berlin 1961, Bd. 1, S. 7.

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schließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist. 82

Was Marx hier als Dialektik beschreibt, sind keine a priori gegebenen und die Realität determinierenden Gesetze, sondern Dialektik meint hier die Form des Verstehens und der Darstellung der sich in der Realität ereignenden Prozesse; sie ist nur der »ideale Ausdruck der wirklichen Bewegung«. 83 »Dialektik« meint für Marx eine Methode, den »Stoff zu behandeln«. 84 Ein Kunstwerk in diesem materialistischen Sinne dialektisch zu interpretieren, bedeutet den Versuch, es so zu verstehen, als trete sein eigentlicher Sinn in Widerspruch zu seiner äußeren Erscheinung: Es soll der Blick auf das die Lebensrealität widerspiegelnde Spannungsverhältnis im Inneren eines historischen Gegenstandes gerichtet und als dessen eigentlicher Kern freigelegt werden. 85 Allerdings will sich – nach diesem Dialektikverständnis – dieser Kern nicht demjenigen Historiker zu erkennen geben, der seinen Blick auf monokausale Zusammenhänge richtet. Vor allem auch ein zeitlich isolierter Wirklichkeitsausschnitt lässt allein synchrone Strukturen und Zusammenhänge erkennen. Monokausale Erklärungsmuster oder gar statische Beschreibungen eines Gegenstands gehen mit der Blindheit für die sich überlagernden und durchkreuzenden historischen Prozesse einher, deren Analyse und Interpretation erst die Oberflächenphänomene durchdringen und Tiefenstrukturen hervortreten lassen: Werden historische Ereignisse, Phänomene oder Artefakte im Kontext eines sozialen Prozesses, wird »jede gewordne Form im Flusse der Bewegung« betrachtet, 86 so zeigt sich erst der eigentliche Sinn jedes Details eines Wirklichkeitsausschnitts. Erst der von einem bestimmten

MEW 23, S. 27–28. Zu der Differenz zwischen dem hegelschen und dem marxschen Dialektikverständnis siehe Arndt, Karl Marx, S. 238–255. 83 MEW 42, S. 231. 84 MEW 32, S. 868. 85 Zu dem Dialektikverständnis in diesem Sinne siehe Arndt, Karl Marx, S. 223–224 u. S. 233–234. Marx spricht indes auch von »realen Widersprüchen«, die nicht als logische – oder formallogische – Widersprüche missverstanden werden sollten. Nach Arndt besteht »die dialektische Methode« in der »Erfassung der Bewegung realer Widersprüche«, ebd. S. 237. Siehe hierzu auch Kurt Lenk, Dialektik bei Marx. Erinnerung an den Ursprung der kritischen Gesellschaftstheorie [1970], in: Von Marx zur Kritischen Theorie. Dreißig Interventionen, Münster 2009, S. 44–57, hier S. 47. 86 MEW 23, S. 27–28. 82

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Erkenntnisinteresse geleitete, auf die Geschichte zurückblickende Historiker mag dann einen Sinn in bestimmten Werken identifizieren können, der das Resultat der Interpretation eines Werkes im Kontext eines übergeordneten historischen Prozesses ist. Am Bemühen marxistischer Historiker, gerade den Werken ›bürgerlicher‹ Provenienz einen erst später sichtbaren Sinn zuzuschreiben, wird diese Form des dialektischen Denkens deutlich. 87 Kunstwerke werden in diesem Sinne als Bestandteile zeitlichhistorischer Entwicklungen begriffen, die die in die Wirklichkeit hineininterpretierten Widersprüche spiegeln. Die Diagnose der inneren Widersprüchlichkeit eines Werkes wird damit zur Diagnose einer in sich widersprüchlichen Gesellschaft: Kunstwerke erscheinen als Dokumente und Zeugnisse der Dialektik der Geschichte, in ihnen lassen sich verborgene Schichten entziffern, die demjenigen unzugänglich bleiben müssen, der die Werke als das nimmt, was sie in der Konkretheit ihrer bloßen Erscheinung, in ihrem faktischen So-Sein allein darstellen. Freilich drängt sich die Frage auf, ob und inwiefern es ein Alleinstellungsmerkmal des dialektischen Umgangs mit Kunst ist, durch deren Historisierung verdeckte Sinnschichten zu entschlüsseln, die sich mitunter auch gegen die Intention des Autors richten können oder von denen dieser noch nicht einmal etwas ahnt. Denn ein Werk um seines tieferen Verstehens Willen zu historisieren, ist auch Sache jenes Kunstverstehens, das sich aus der Tradition der Hermeneutik entwickelt hat und zu dem die Grenzen leicht verschwimmen können. Auch für die Hermeneutik gilt, dass ein Werk oftmals nur angemessen zu verstehen ist, wenn die historischen Bedingungen und Kontexte seines Entstehens beachtet werden. Hinzu kommt, dass auch das hermeneutische Verstehen und Auslegen von Kunstwerken sensibel gegenüber der Zeitlichkeit ist, die den Gehalt und die Deutung von Kunstwerken mitbestimmt. Wie im Fall des dialektischen Verstehens, bei dem die Interpretation der Vergangenheit erheblich vom Interesse der Gegenwart geleitet wird, ist auch für die Hermeneutik der Prozess des Verstehens selbst von Zeitlichkeit bestimmt: Tragende Kategorien des Verstehens wie die der »Horizontverschmelzung«, die Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode

Siehe hierzu die Beispiele in Kapitel 3.2 und 4.2 sowie die kritische Diskussion dieses Geschichtsdenkens in Kapitel 5.2.

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entfaltet, resultieren gerade aus dem zeitlichen Abstand zwischen dem Werk und seiner Auslegung. 88 Doch das Entscheidende ist eine Akzentverschiebung: Erklärt Gadamer das historisierende – wie das psychologisierende – Verstehen zu einem Sonderfall, der nur dann zu rechtfertigen ist, wenn sich das reine oder ungestörte, allein am sachlichen Wahrheitsgehalt des Gegenstands selbst orientierte Verstehen nicht einstellen will, 89 so ist das Historisieren des Gegenstands geradezu die Grundlage der Dialektik. Es fundiert maßgeblich jede seiner möglichen Interpretationen, weil nur dann die Realität und die Lebenspraxis als der Impuls identifiziert werden können, der den Gehalt des Kunstwerks mitbestimmt. Dort, wo nach Gadamer durch Historisieren das Kunstwerk aus seinem Anspruch, Wahres zu sagen, förmlich herausgedrängt werde, 90 ist dem dialektischen Verstehen zufolge überhaupt erst die ›eigentliche‹ Wahrheit zu verorten: Das Kunstwerk nimmt die in die Realität interpretierte Widersprüchlichkeit in sich auf und zeigt ein Spannungsverhältnis zwischen seiner Erscheinung und seinem Wesen, das gleichermaßen Resultat seiner Genese wie der Antrieb seines Fortwirkens ist. Dialektisches Denken erweist sich damit auch als kritisches: Werke gewissermaßen gegen ihren eigenen Willen auslegen zu können, lässt die Dialektik zu einem Mittel der Ideologiekritik werden. 91 Die materialistische Dialektik steht damit der am Ideal ungestörten Verstehens orientierten Hermeneutik gadamerscher Prägung gegenüber. Deren Maß ist allein die als höchste Autorität genommene Intention des Werkes selbst, der sich der interpretierende Historiker unterzuordnen und zu fügen hat. Er wird darauf verpflichtet, über das sogenannte Überlieferungsgeschehen hinaus nicht allzu aufmüpfige Fragen an die Geschichte zu stellen. Ideologiekritisch verfahrende, materialistisch-dialektische Ansätze markieren darin gewisserma-

»Es ist das geschichtlich erfahrene Bewußtsein, das, indem es dem Phantom einer völligen Aufklärung entsagt, eben damit für die Erfahrung der Geschichte offen ist. Seine Vollzugsweise beschrieben wir als die Verschmelzung der Horizonte des Verstehens, die zwischen Text und Interpreten vermittelt.« Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 383. 89 Ebd., S. 308. Siehe hierzu insbesondere Gadamers Auseinandersetzung mit Kant und mit dem Historismus. Ebd., S. 48–106 u. S. 177–246. 90 Ebd., S. 308. 91 MEW 23, S. 26–28. 88

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ßen den Gegenpol jener in Wahrheit und Methode niedergelegten Hermeneutik. 92 Doch was bedeutet ›Ideologie‹ ? Marx und Engels verwenden den Ideologiebegriff nicht eindeutig; und in der Geschichte des Marxismus oszilliert der Begriff zwischen verschiedenen Bedeutungsvarianten: Er kann sowohl kritisch auf »verkehrtes« oder »verdinglichtes« Bewusstsein zielen wie auch eine neutrale Bedeutungsvariante im Sinne von Weltanschauung annehmen; zudem kann das »Ideologische als Ensemble von Apparaten und Praxisformen« verstanden werden, die »das Welt- und Selbstverhältnis der Individuen organisieren«. 93 Hier und im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird ›Ideologie‹ im erstgenannten Sinne verstanden, wofür Marx’ und Engels’ Begriffsbestimmung in der Deutschen Ideologie als einschlägige Referenz gelten kann. Ideologisches Denken bedeutet, das eigene, klassengebundene »Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen«. Dies bedeutet, dass den eigenen, letztlich von der eigenen Weltsicht bestimmten Gedanken »die Form der Allgemeinheit« gegeben wird und sie »als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen« dargestellt werden. 94 Die »Ideologen« stellen daher »die Sache notwendig auf den Kopf«: Sie sehen »ihre Ideologie sowohl für die erzeugende Kraft wie für den Zweck aller gesellschaftlichen Verhältnisse [an], während sie nur ihr Ausdruck und Symptom ist«. 95 b) Weil es in der Bezeichnung einer Sache als ›dialektisch‹ oftmals nicht klar wird, ob ›Dialektik‹ allein die Methode der Darstellung eines historischen Sachverhaltes meint oder ob die dialektischen Widersprüche selbst als Bestandteile der Wirklichkeit begriffen werden und damit Ausdruck von Naturgesetzen sind, 96 musste der Anspruch des dialektischen Denkens, in einer Sache selbst einen inneren 92 Jürgen Habermas, Zu Gadamers ›Wahrheit und Methode‹, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971 (Theorie. Theorie-Diskussion), S. 45–56. 93 Jan Rehmann, Einführung in die Ideologietheorie, Hamburg 2008, S. 24. Siehe des Weiteren: Kurt Lenk, Marx in der Wissenssoziologie. Studien zur Rezeption der Marxschen Ideologiekritik, Neuwied u. Berlin 1972 (Soziologische Texte 78), S. 107– 184. 94 MEW 3, S. 47. 95 Ebd., S. 405. 96 Siehe exemplarisch für diese Position Peter Ruben, Widerspruch und Naturdialektik [1976], hg. von Ulrich Hedtke u. Camilla Warnke, Berlin 2006 (Philosophische Schriften, Online-Edition peter-ruben.de), sowie die Polemik gegen die von Ruben »revisionistisch« genannten Positionen, ebd., S. 37–41.

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Widerspruch erkennen zu können (der wiederum den Impuls für ihre Weiterentwicklung liefert), zwangsläufig zu Konflikten mit der formalen Logik führen. Deren Fürsprecher ließen sich offenbar weniger von den Ansprüchen der Dialektik in die Defensive treiben als umgekehrt sich dialektisch verfahrende Philosophen und Historiker zur Herausstellung ihrer selbstverständlichen Bejahung der Grundsätze der formalen Logik genötigt fühlten, um sich nicht dem Verdacht eines ins Esoterische entgleitenden Denkens auszusetzen. Neben Problemen, die in der Sache gründeten, war das Spannungsverhältnis auf fachlich-institutioneller Ebene zwischen Dialektik und formaler Logik nicht zuletzt auch Folge der teilweisen Zugehörigkeit der formalen Logik zu einer philosophischen Tradition, die die Zielscheibe einer Feindbildkonstruktion nicht wegen ihrer Leistungsfähigkeit, sondern wegen ihrer tatsächlichen oder unterstellten Herkunft aus der ›bürgerlichen Klasse‹ war. Ein Indiz für den Stellenwert der Logikdebatte, wie sie in der DDR in den Fünfziger- und Sechzigerjahren geführt wurde und in der sich ideologische und sachbezogene Argumente überschnitten, ist die Tatsache, dass sie ein wesentlicher Anstoß zur Gründung der Deutschen Zeitschrift für Philosophie war. 97 Dass die formale Logik in den Fokus der marxistischen Philosophie der DDR geriet, resultierte auch nicht zuletzt aus Stalins autoritär-verbindlichem Postulat, die Gesetze der formalen Logik seien klassenindifferent und daher nicht allein Teil des Überbaus der bürgerlichen Gesellschaft. 98 Zu der sich anschließenden Diskussion, in der Georg Klaus und Wolfgang Harich die führenden Rollen innehatten, resümiert Andreas Heyer, dass »es den beteiligten Wissenschaftlern doch [gelang], ein Thema im wissenschaftlichen Diskurs aus der versuchten staatlichen und ideologischen Reglementierung zu befreien. Paradoxerweise waren es […] ausgerechnet die Schriften Stalins, die dies ermöglichten.« 99 Alexander Amberger, Ernst Bloch in der DDR. Hoffnung – Utopie – Marxismus, in: DZPh 61 H. 4 (2013), S. 561–576; Norbert Kapferer, Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945–1988, Darmstadt 1990, S. 73–83; Uwe Schefler u. Mireille Staschok, Rechtfertigung und Emanzipation. Das Bild der Logik in der DDR in den 60er Jahren, in: Hans-Christoph Rauh u. Peter Ruben (Hg.), Denkversuche. DDR-Philosophie in den 60er Jahren, Berlin 2005, S. 115–132; Andreas Heyer, Die Logik-Debatte in der Frühphase der DDR-Philosophie, 1951–1958, in: DZPh 61 H. 4 (2013), S. 577–592. 98 Heyer, Die Logik-Debatte, S. 578–579. 99 Ebd., S. 589. 97

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Einer der wohl prominentesten und zugleich auch schärfsten Kritiker der Dialektik ist Karl Popper. Obgleich er zwar aus wissenschaftstheoretischen Gründen erhebliche Einwände gegen die Dialektik vorbringt, bleibt seine Einschätzung der Leistungsfähigkeit dialektischen Denkens ambivalent: Sie hängt von der Methode ab, die als dialektisch beschrieben wird, denn ihm zufolge gibt es die Dialektik in einer wenig bedenklichen und in einer strikten und zugleich auch unhaltbaren Form. Sofern mit der Dialektik lediglich die »dialektische Triade« von Thesis, Antithesis und Synthesis gemeint ist, so konzediert er deren Nutzen zur Darstellung der Entwicklung von Ideen und Theorien. 100 Vehement indes kritisiert Popper ein Verständnis der Dialektik, nach dem es Widersprüche nicht nur zwischen Thesis und Antithesis gibt, sondern nach dem auch in der Realität existierende Widersprüche postuliert werden: Zwar sind Widersprüche nach Popper dann wichtig, wenn aus ihnen ein Erkenntnisgewinn folgt. Falsch ist aber der Schluss, dass »keine Notwendigkeit zur Vermeidung dieser fruchtbaren Widersprüche besteht. Und [die Dialektiker] behaupten sogar, dass Widersprüche nicht vermieden werden können, da sie überall in der Welt auftreten« 101 – was mit dem Satz vom Widerspruch nicht zu vereinbaren ist. So erweist sich die Dialektik gleichzeitig als »eine Theorie der Logik und [als] eine allgemeine Theorie der Welt«. 102 Denn dass Widersprüche fruchtbar sind und dass sie Fortschritt hervorbringen, ist nach Popper nur dann der Fall, wenn Widersprüche nicht geduldet und in sich widersprüchliche Theorien geändert werden. 103 Akzeptiert man sie dagegen, so bedeutet dies das Ende der Wissenschaft, denn – wie Popper ausführlich darlegt – aus der Zulassung zweier kontradiktorischer Aussagen folgt, dass jede beliebige Aussage zugelassen werden muss. 104 Poppers Kritik ist stichhaltig, jedoch nur unter der Prämisse eines Dialektikkonzepts, das weder dem marxschen noch dem marxistischen Denken als Ganzem unterstellt werden kann – was er auch selbst einräumt. 105 Doch auch dann, wenn Popper hier im Grunde Karl Popper, Was ist Dialektik, in: Ernst Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Berlin u. Köln 1965 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 6), S. 262–290, hier S. 264. 101 Ebd., S. 266. 102 Ebd. 103 Ebd., S. 267. 104 Ebd. 105 Ebd., S. 286. 100

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nur einen versimplifizierten Dialektikbegriff befehdet, lässt sich fragen, ob er nicht einem Kurzschluss unterliegt: Er projiziert die Statik der formalen Logik, die die Dinge nicht in ihrer Zeitlichkeit fassen kann, auf die Dialektik. Doch geht es in dieser darum – so Hans Heinz Holz –, eine exakte Bestimmung der »Einheit von Unterschiedenen« zu liefern, »an die Stelle des logischen Gesetzes vom verbotenen Widerspruch die dialektische Formel von der Identität des Nicht-Identischen zu setzen und ebenso einsichtig zu machen, wie dies für den Identitätssatz der formalen Logik gilt«. 106 Gegen Popper bedeutete dann die Dialektik nicht das Ende der Wissenschaft, denn die ihres Kontextes entledigte Überlegung von Holz scheint darauf hinauszulaufen, dass die Dialektik allein eine Sache des Verstandes sein könnte – das Problem der von Popper angesprochen Widersprüche der Wirklichkeit würde damit gegenstandlos; die diagnostizierten Widersprüche wären allein Resultat einer Interpretation der Wirklichkeit, die diese in ihrer Zeitlichkeit zu fassen sucht. Nach dieser Auffassung wird die Dialektik dann neben der formalen Logik lediglich als eine Form von Rationalität verstanden: Sie liefert einen strukturellen Rahmen, der die Mannigfaltigkeit der Dinge der Realität zu ordnen und zu verstehen hilft. Dialektische Rationalität erschließt einen Zugang zur Wirklichkeit, die so dem Denken wie dem Handeln verfügbar wird. Karen Gloy unterscheidet in diesem Sinne verschiedene Rationalitätstypen, 107 so etwa den dihairetischen, den dialektischen oder den analogischen Rationalitätstypus. All diesen ist das »Vermögen der Strukturierung der Welt« gemein, das »gleicherweise dem Erkennen wie Handeln« zukommt. 108 Freilich ist mit der Behauptung, die Dialektik sei eine Form der Rationalität, noch nichts darüber ausgesagt, ob auch die Realität dialektischen Prinzipien gehorcht, wofür Holz – wie es im Laufe dieses Kapitels skizziert werden soll – vehement eintritt. Hier stellt sich nun das Kernproblem der marxistischen Ästhetik heraus: Ist die Dialektik nicht allein Folge einer notwendigen »Verstandesabstraktion«, sondern basieren auch die die Realität konstituierenden Naturgesetze auf den Prinzipen der Dialektik? Und, sollte

106 Hans Heinz Holz, Dialektik und Widerspiegelung, Köln 1983 (Studien zur Dialektik), S. 51. 107 Karen Gloy, Vernunft und das Andere der Vernunft, Freiburg i. Br. u. München 2001. 108 Ebd., S. 37.

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dies der Fall sein: Gibt es eine bestimmte Form des Kunstverstehens, die einsichtig machen kann, dass sich die Dialektik der Realität im Kunstwerk selbst abbildet? Voraussetzung ist, dass ein Musikwerk potenziell über rein immanente, musikalisch-strukturelle Zusammenhänge hinaus auf eine externe Realität verweisen und – sofern nur die richtigen Kunstgriffe angewandt werden – sein Gehalt auch identifiziert und begrifflich gefasst werden kann. Auf diese Möglichkeit zu insistieren, ist eine der sich am hartnäckigsten am Leben erhaltenden Konstanten der Musikästhetik und -geschichtsschreibung. Im marxistischen Musikdenken wird sie unter dem Label der Abbildoder Widerspiegelungstheorie der Musik behandelt. 109 Hier ist lediglich zum einen festzuhalten, dass die Annahme, Musik sei Spiegelbild eines bestimmten Wirklichkeitsausschnittes, für die materialistische Musikbetrachtung ungebrochene Gültigkeit besitzt – wenn sie nicht überhaupt von ihr erst in dieser Rigorosität und Allgemeinheit in die Welt gesetzt wurde –, und zum anderen der Fokus auf die Denkfiguren der materialistisch-marxistischen Philosophie zu richten, die diese Annahme theoretisch fundierenden. Um die Möglichkeit garantieren zu können, dass der Gehalt eines musikalischen Werkes Spiegelbild der Realität ist, wird innerhalb marxistischer Kunstdiskurse die Hypothese entwickelt, dass sich in der Wirklichkeit prinzipiell Widerspiegelungs- und Abbildverhältnisse zeigen. Die Schwierigkeiten beginnen allerdings mit dem Ansinnen, nun näher bestimmen zu wollen, wie weit diese Spiegel- und Abbildverhältnisse die Wirklichkeit bestimmen und wie sie theoretisch gefasst und einsichtig gemacht werden können. Denn zunächst steht nicht fest, welche Dinge es eigentlich sind, die als Subjekt und Objekt eines Spiegelverhältnisses infrage kommen, und ob Spiegelverhältnisse die ganze Wirklichkeit ontologisch begründen oder nur in Teilbereichen der Wirklichkeit beobachtet werden können. Doch unabhängig von der Reichweite der Spiegelstruktur der Wirklichkeit ist entscheidend, dass sie dialektisch gedacht wird. ›Dialektisch‹ meint – wie eingangs angedeutet – den Versuch, die Spiegelund Abbildverhältnisse prozessual oder zeitlich zu begreifen. Ein Ansatz, die Spiegelstruktur theoretisch zu fassen, diagnostiziert auf der Grundlage einer angenommenen, sämtliche Dinge de109 Siehe hierzu Kapitel 3.1. Zwischen »Abbild« und »Widerspiegelung« wird hier und im Folgenden nicht differenziert. Zu den möglichen Begriffdifferenzen siehe Lippold S. 100 und Karbusicky S. 102 dieser Arbeit.

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terminierenden Totalität mechanische, nach dem Muster naturgesetzlicher Notwendigkeit fortwirkende dialektische Spiegelverhältnisse. Diesem Ansatz liegt ein Dialektikbegriff zugrunde, der dem eingangs beschriebenen entgegengesetzt ist, denn die Dialektik beschreibt nun nicht mehr einen verstehenden Zugang zur Wirklichkeit, sondern die gesamte ontologische Struktur der Wirklichkeit soll von dialektischen Widerspiegelungsverhältnissen bestimmt sein. Holz, der dieses Theoriemodell einer »Naturdialektik« konsequent ausgearbeitet hat, geht davon aus, dass »die dialektische Verfassung der Welt selbst aus dem universellen, ontologisch begriffenen Widerspiegelungs-Verhältnis abgeleitet werden kann und daß in dem Widerspiegelungstheorem das Modell einer materialistischen Erklärung der Einheit der Welt in ihrer Mannigfaltigkeit vorliegt.« 110 Das »Wechselwirkungssystem Welt« versteht Holz als »eine unendliche Totalität von Reflexionsverhältnissen«: Diese reicht von »einfachsten mechanischen Wirkungen über chemische Reaktionen und Qualitätsveränderungen, über die Rückkopplungssysteme der lebendigen Materie bis hin schließlich zu den neuralen Formen von Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen und Denkvorgängen«. 111 Gliedern lassen sich diese Spiegelverhältnissen auf vier Ebenen: Erstens zwischen den einzelnen Erscheinungen, zweitens auf der Ebene des »Gesamtzusammenhangs« die »allgemeinen Gesetze der Bewegungsformen der Materie und die (spekulativen) Prinzipien der Verknüpfung aller Erscheinungen«, drittens in der Naturgeschichte, in der der Mensch allmählich aus der Natur heraustritt, und schließlich viertens auf der Ebene der Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie, in denen sich die »Prinzipien der Ebenen 1–3 in den Kategorien und Theorien der Wissenschaften und die Konstitution des besonderen Gegenstandes und der formalen Logik (als notwendiges Mittel zu Konstitution identischer Gegenstände) als ein Moment der gedanklichen Widerspiegelung der realen Dialektik der Natur« widerspiegeln. Hieraus schließt Holz, dass auf dieser Ebene die Dialektik der Natur »zur Dialektik der Naturwissenschaften – eben als Widerspiegelungsphänomen« wird. 112 Das holzsche Modell liefert wegen seiner Verbindung von Dialektik und Widerspiegelung eine theoretische Basis für ein marxisti110 Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart u. Weimar 2005, S. 16. 111 Ebd., S. 520. 112 Holz, Dialektik und Widerspiegelung, S. 96–97.

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sches Verständnis realistischer Kunst. Aus ihm lassen sich idealtypisch zwei Möglichkeiten ableiten, Kunst über die Spiegelmetapher materialistisch zu begründen. Erstens: Es werden zwei Instanzen angenommen, zwischen denen sich dialektische Spiegelverhältnisse ereignen. Diese beiden Instanzen sind das Kunstwerk und die von ihm unterschiedene ›äußere‹ Realität. Zweitens: Zwischen diesen beiden Instanzen wird nun eine weitere gewissermaßen zwischengeschaltet, nämlich das menschliche Bewusstsein, wodurch die Spiegelverhältnisse zwischen Werk und Realität nicht mehr direkt, sondern über das Bewusstsein vermittelt vonstatten gehen. Beide Varianten lassen sich zwar idealtypisch voneinander trennen, de facto fließen sie insofern ineinander, als zwar das Werk als Abbild der Realität begriffen wird, seine Herstellung aber ein vermittelndes Subjekts erfordert. Die entscheidende und kontrovers zu diskutierende Frage betrifft daher auch eher das Maß der subjektiven Eigenleistung, die, wenn sie zu weitgehend und nicht mehr rein materiell bedingt gedacht wird, den Widerspiegelungsprozess von idealistischen Tendenzen zu unterwandern droht. 113 Der holzsche Ansatz – wird er auf die Ästhetik übertragen – weist allerdings über die bloße Abbildhaftigkeit des Kunstwerkes hinaus. Zwar kann ein Werk – begriffen als Spiegel – ein mehr oder minder exaktes Abbild eines Wirklichkeitsausschnittes sein, so erschöpft sich das Werk nicht darin. Holz’ Argumentation geht von der Prämisse aus, dass »in einem Modell universeller Reflexionsverhältnisse« das »Bewußtseinsverhältnis zur Welt eine besondere Form der universellen Reflexivität oder der Widerspiegelung als der Struktur der materiellen Einheit der Welt« ist. Die Dialektik gilt ihm als die »logische Form« dieser universellen Reflexivität. 114 Die dialektischen Denkgesetze versteht er als Widerspiegelung der »Dialektik des Gesamtzusammenhangs der Seienden, also der ›materiellen Verhältnisse‹«; dies gelte a priori: »Der Grund dieser Apriorität liegt in der notwendigen Identität von Begriffsform und Wirklichkeitsform bei der Kategorie der Totalität.« 115 Die »Logizität des Denkens« und die »Logizität der Relationen der Sachen« gelten ihm als äquivalent. 116

113 Siehe hierzu Kapitel 3.1. Zu den Versuchen, das Verhältnis von Kunstwerk und Wirklichkeit als Spiegelverhältnis zu beschreiben, siehe Kapitel 4.1 und 5.1. 114 Holz, Weltentwurf und Reflexion, S. 533. 115 Ebd., S. 17. 116 Ebd., S. 516.

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Auf die Kunst angewendet bedeutet dies, dass ein Kunstwerk unabhängig von der Frage, welche konkrete Gestalt in ihm der gespiegelte Gegenstand der ›äußeren‹ Realität annimmt, als Erkenntnismittel angesehen werden kann, weil über seinen Entstehungsprozess die Dialektik des Denkens seines Urhebers als Spiegel der Dialektik der Realität in seinen Gehalt eingegangen ist. »Das Widerspiegelungstheorem«, so Holz, »formuliert den apriorischen Anfang einer dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie. Sie begründet diese Apriorität in einer zirkulären ontologischen Reflexionsstruktur.« 117 In seinem zusammen mit Thomas Metscher verfassten Artikel Widerspiegelung überträgt er diesen Ansatz auf die Kunst: Die unendliche Bewegtheit der materiellen Welt erscheint aber im Spiegel des Begriffs als Werden des Wissens, und das Denken, das ja die ideelle Tätigkeit der einzelnen innerweltlich seienden Denkenden ist, erscheint dann als Widerspiegelung der materiellen Welt, die dialektischen Formbestimmungen des Denkens erscheinen als Spiegelformen des materiellen Weltprozesses. Die Widerspiegelungstheorie liefert so das Modell für den dialektischen Begriff von Welt als Totalität materieller Verhältnisse und damit zugleich den Grund für den besonderen Widerspiegelungscharakter des Denkens im Verhältnis zum Sein. 118

So zielt – nach Holz und Metscher – etwa Georg Lukács’ Ästhetik zwar nicht eine »simple Abbildrelation«, die »auf empirische Genauigkeit oder Treue des Details« hinauswill. Sondern »in der geschlossenen, gestalteten Totalität des Kunstwerks [ersteht] ein Weltmodell […], das als Ganzes die ›wesentlichen, objektiven Bestimmungen‹ des von ihm gestalteten Stück Lebens im richtig proportionierten Zusammenhang widerspiegelt«. Das Wesentliche ist der Aspekt der »Totalität des Kunstwerkes«, die sich bei Lukács als »intensive Totalität« zeigt, weil sie »nicht an Extension oder Totalität des Details gebunden« ist. 119 Dieses Abbild, das das Kunstwerk so von der Realität entstehen lässt, ist nicht das Ergebnis eines beliebigen Blicks auf die Wirklichkeit, sondern das Werk nimmt einen dem Standpunkt des Künstlers entsprechenden Ausschnitt aus der Wirklichkeit in sich auf: Holz zu-

Ebd., S. 519. Hans Heinz Holz u. Thomas Metscher, Widerspiegelung, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden (Studienausgabe), Bd. 6, Stuttgart u. Weimar 2010, S. 617–669, hier S. 662. 119 Ebd., S. 664. 117 118

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folge entspricht »die logische Struktur des […] Verhältnisses von Denken und Sein exakt der logischen Struktur des Verhältnisses von Spiegel und Bespiegeltem«. 120 Weil aber das Spiegelbild durch die Lage des Spiegels definiert ist, ist die Repräsentation notwendigerweise unvollständig, sodass der Spiegel »zwar ein Bild der Sache selbst [erzeugt], aber ein Bild in der Perspektive des Spiegels«. 121 Für die Kunst gilt dann, was Holz an sämtlichen Spiegelstrukturen beobachtet: Ein Spiegelbild ist immer durch die »Gesetze der Reflexion« determiniert, es ist unvollständig oder kann verzerrt sein. 122 Ein mechanisches, kausal determiniertes Weltmodell dürfte indes dem Selbstverständnis eines Künstlers weitgehend widersprechen: Denn er fühlt sich frei in der Wahl seiner Perspektive 123 , aus der er die Wirklichkeit spiegelt. Zwar ist zu konzedieren, dass der eigene Standort und eigene Wertungen, die gesamte Vorurteilsstruktur des eigenen Denkens wenigstens teilweise unverfügbar sind. Doch ist aus guten Gründen auf die Möglichkeit subjektiver Freiheit zu insistieren. So sehr auch Marx etwa auf die Existenz von ökonomischen und sozialen Gesetzen verweist, so sehr sieht er auch die Grenzen ihres Geltungsbereichs und weist darauf hin, dass Fortschritt nur durch das freie Handeln des Menschen möglich ist, dessen Bewusstseinsinhalte über ein bloßes Spiegelbild der ökonomischen Verhältnisse hinaus gehen; er muss ideologiekritisch Denken und Handeln können, während die reine Determiniertheit des Menschen durch seine soziale und kulturelle Praxis nichts als eine rein affirmative Gesinnung zur Folge hätte. 124 Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Determination führt damit zu einem Dilemma der materialistisch-marxistischen Philosophie, die die Ableitung des menschlichen Handels aus seiner sozialen Praxis und die Erklärung der Fähigkeit des Menschen, Impulsgeber historischen Fortschritt sein zu können, gleichermaßen in den Griff bekommen muss. Je nachdem, welcher Begriff von Dialektik zugrunde gelegt wird, kann dieses Spannungsverhältnis eher zugunsten der Freiheit oder der Determination gelöst werden. Ohne allzu sehr auf das Folgende vorgreifen zu wollen, kann vielleicht ein Holz, Dialektik und Widerspiegelung, S. 67. Zur Grundfrage: ebd., S. 51. Ebd., S. 68. 122 Holz, Weltentwurf und Reflexion, S. 518. 123 »Perspektive« freilich im übertragenden, über den Bereich der Optik hinausgehenden Sinne. 124 Rehmann, Einführung in die Ideologietheorie, S. 26–27. 120 121

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Zitat von Georg Knepler das Problem illustrieren, weshalb dieses Dilemma zwischen Freiheit und Determination Fragen der Ästhetik erheblich mitbestimmt. Wie das Gesamtbild der Epoche sich im Splitter des Einzelbewußtseins spiegelt, das kann dem Forscher durch das Studium der individuellen Lebensbedingungen und -ereignisse (oft, sogar meist) klarer werden als durch sonst eine Methode. Wenn er es versteht, gedankliche und kompositorische Strukturen miteinander in Beziehung zu setzen, stößt er dann auf Phänomene, die ich in dem […] Terminus ›Entwicklung musikalischer Zeichen‹ zu fassen suchte. Das impliziert, daß Musik Zeichen bilden kann für NichtMusikalisches, für ›Heterogenes‹ […]. Und dieses andere, Heterogene, Nicht-Musikalische, auf das Musik sich bezieht, ist immer gesellschaftlicher und historischer Natur. Je reicher, je heterogener das herangezogene Beobachtungsmaterial ist, desto besser die Chance, Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten. 125

Auf den ersten Blick verträgt sich der von Knepler beschriebene Spiegelprozess zwischen Wirklichkeit, Komponist und Werk, dessen Strukturen mit denen der Wirklichkeit in Beziehung zu setzen sind, problemlos mit dem holzschen Theoriemodell. Die Probleme treten allerdings dann auf, wenn er nach den »Gesetzmäßigkeiten« fragt, nach denen das Bewusstsein die Wirklichkeit spiegelt: Die Wahl der Perspektive, sämtliche Phantasien, Wünsche, Hoffnungen, Wertungen und Antizipationen, von denen ein Kunstwerk lebt, müssten nach Holz gesetzeskonforme und unendlich komplexe Spiegelungen sein und wären nur vermeintlicher oder scheinbarer Ausdruck eines freien Subjekts. Doch weil Spiegelgesetze in dieser Verzweigtheit und Komplexität nicht zu erkennen sind (falls sie überhaupt erkennbar sein sollten), kann ihre Existenz nur postuliert, nicht aber bewiesen werden. Dass Holz sie postulieren muss, ist seinem beharrlichen Festhalten an dem Dogma eines jedes Detail der Wirklichkeit determinierenden Gesamtzusammenhangs geschuldet. Allerdings stellt Holz sich selbst die Frage nach dem Denken von Möglichem und Zukünftigem. 126 Diese Frage muss ihn beunruhigen, denn hier scheint das Bewusstsein sich noch einen Raum der Freiheit, die nicht von Spiegelgesetzen durchdrungen ist, bewahren zu können. Holz’ Lösungsansatz ist indes wenig befriedigend und allein 125 Georg Knepler, Über die Nützlichkeit marxistischer Kategorien für die Musikhistoriographie. Reflexionen anläßlich des Erscheinens von Carl Dahlhaus’ Die Musik des 19. Jahrhunderts, in: BzMw 24 H. 1 (1982), S. 31–42, hier S. 40. 126 Holz, Weltentwurf und Reflexion, S. 437.

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dem Wusch geschuldet, sein metaphysisch-spekulatives Weltmodell des »Gesamtzusammenhangs« erhalten und als in sich konsistent herausstellen zu können. Der Preis ist auch hier wieder die argumentative Schwäche, um den Erhalt dieses Modells Willen unbeweisbare Voraussetzungen annehmen zu müssen: Weil in der allein materiellen Welt – das Bewusstsein gilt ihm als Teil der Reflexionsstruktur der materiellen Welt – sämtliche Phänomene und damit auch Bewusstseinsinhalte Spiegel von etwas sein müssen, ist er gezwungen anzunehmen, dass auch die vermeintlich freie Phantasie etwas spiegelt: nämlich die Wirklichkeit im Modus der Möglichkeit. Er entwickelt eine »ontologische Theorie von Seinsgraden«, nach der die »Möglichkeit ein Modus von Realität innerhalb der materiellen Verhältnisse« sein soll und die Möglichkeit daher »auch im Denken widergespiegelt werden kann, ohne das Prinzip zu verletzen, daß Nichtseiendes nicht spiegelbar ist«. 127 Nicht zuletzt wegen der Fragen nach der Perspektive und der Freiheit, die das holzsche Spiegelmodell aufwirft, ist es für wesentliche Facetten der marxistischen Musikphilosophie höchst aufschlussreich, denn es entfaltet all jene Denkfiguren – und zeigt letztlich auch deren Unzulänglichkeiten –, die dort für den verstehenden Umgang mit Kunst grundlegend sind. Der holzsche Ansatz steht in einer von Friedrich Engels ausgehenden Tradition des Materialismus, 128 dessen dogmatische Kodifizierung wesentlich auf Lenin zurückgeht. Mit dieser Tradition teilt Holz das Interesse an der »große[n] Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie«, nämlich, so Engels, die »nach dem Verhältnis von Denken und Sein«. 129 Engels will die Gesetze der Dialektik ebenso aus der Natur herauslesen wie er die »Dialektik des Kopfs« als bloßen »Widerschein der Bewegungsformen der realen Welt, der Natur wie der Geschichte« 130 deutet. Das Bewusstsein verliert damit jeden besonderen Status, den es über die rein materiellen Dinge erheben würde; die Folge ist ein materialistischer Monismus. 131 Ebenso versteht Holz »den Unterschied von Materialität und Idealität als einen Ebd., S. 441. Siehe hierzu Leszek Kołakowski, Der Marxismus von Marx, der Marxismus von Engels [1971], in: Marxismus – Utopie und Anti-Utopie, Stuttgart u. a. 1974, S. 27– 51. 129 MEW 21, S. 274. 130 MEW 20, S. 475. 131 Kołakowksi, Hauptströmungen 1, S. 430. 127 128

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Selbstunterschied der Materialität«, was bedeutet, »die Idealität von Inhalten des Denkens als entspringend aus den materiellen Verhältnissen« erklären zu müssen. 132 Damit wird im Grunde, wie Leszek Kołakowski anmerkt, die Philosophie überflüssig. Sie umfasst bestenfalls noch mit der Dialektik einen »Komplex von Denkgesetzen«, die lediglich ein Sonderfall der Naturgesetze sind. 133 Denn Engels »bezeichnet die Prozesse selbst, die in Natur und Geschichte vor sich gehen, ebenso wie die wissenschaftliche Beschreibung dieser Prozesse gleicherweise als Dialektik«. 134 Lenin greift diesen Ansatz in Materialismus und Empiriokritizismus auf, in einer Schrift, die in der marxistischen Philosophie nachhaltig ihr Unwesen trieb. Dass sie so erfolgreich sein konnte, lag einerseits an der Ausrichtung des Buches, mit der Lenin – wie es orthodoxe Marxisten feiern konnten – »einen entscheidenden Schlag gegen die Ideologie der Bourgeoisie und vor allem gegen den Revisionismus« ausführte, »der die bürgerliche Weltanschauung in die Arbeiterbewegung trug«. 135 Gerade damit war Lenin darauf aus, »politisch und philosophisch Andersdenkende unter den Kommunisten selbst zurechtzuweisen. […] Mit ›Materialismus und Empiriokritizismus‹ konnte zur ›Wachsamkeit‹ gegenüber jeglichem politischen und philosophischen Denken gemahnt werden, das irgendwie von offiziell gebilligten Vorgaben abwich.« 136 Andererseits lieferte Lenin mit Materialismus und Empiriokritizismus einen Leitfaden, der versprach, die komplexen Prozesse des Abbildens in der Kunst recht leicht handhabbar werden zu lassen, sodass sich je nach Geschmack und Interesse noch jede Form sozialistisch-realistischer Kunst als wahres Abbild der Realität mit Lenins vermeintlicher philosophischer Autorität scheinbar legitimieren ließ. 137 Lenins maßgebliche Thesen zirkulieren um den GrundgedanHolz, Weltentwurf und Reflexion, S. 70. Kołakowksi, Hauptströmungen 1, S. 432. 134 Ebd., S. 441. 135 Alfred Kosing, Die dialektisch-materialistische Abbildtheorie in Lenins Werk »Materialismus und Empiriokritizismus«, in: DZPh 7 H. 2 (1959), S. 218–238, hier S. 218. 136 Dieter Wittich, Lenins Buch »Materialismus und Empiriokritizismus«. Seine Entstehungsgeschichte sowie progressive und repressive Nutzung, in: Volker Gerhardt u. Hans-Christoph Rauh (Hg.), Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern, Berlin 2001 (Forschungen zur DDR-Gesellschaft), S. 160–179, hier S. 173. 137 Siehe exemplarisch Erwin Pracht, Sozialistischer Realismus und Leninsche Abbildtheorie, in: DZPh 19 H. 6 (1971), S. 755–777. Die Anwendung von Lenins Wider132 133

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ken, dass mit der »materialistische[n] Beseitigung« des dualistischen Denkens der Geist als »nicht unabhängig vom Körper« existierend erkannt werden kann, dass er also »das Sekundäre, eine Funktion des Gehirns, die Widerspiegelung der Außenwelt ist«. 138 Unter der Prämisse der Widerspiegelung, einer Eigenschaft, die die »ganze Materie« 139 besitze, sollen »unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen […] Abbilder« der »außer uns« existierenden Dinge sein. »Durch die Praxis werden diese Abbilder einer Probe unterzogen, werden die richtigen von den unrichtigen geschieden«, 140 sodass der praktische Erfolg die richtige oder falsche Widerspiegelung beweise. 141 Vergleichbar gilt für Lenin wie für Holz, dass »unsere Erkenntnis als höchstes Produkt der Natur […] nur imstande [ist], [die gesetzmäßige Bewegung der Materie] widerzuspiegeln«. 142 Obgleich nach Lenin eine Widerspiegelung nur eine »annähernd genaue Kopie des Widergespiegelten« sein soll, 143 bleibt für »Wille und Bewusstsein« kein Raum subjektiver Freiheit, weil sie sich »der Naturnotwendigkeit […] unvermeidlich anpassen« müssen. 144 Kurz: »Das Bewusstsein spiegelt überhaupt das Sein wider – das ist die allgemeine These des ganzen Materialismus.« 145 Hieran lässt sich nun einerseits recht leicht zeigen, dass ein Materialismus leninscher Prägung sowohl inkonsistent als auch mit dem marxschen Denken nur noch bedingt vermittelbar ist. Denn zum einen kehrt der der Materie ausgetriebene Geist schnell wieder zurück, wenn die materiellen Dinge »außer uns« existieren sollen (wir also nicht Teil der Materie sein können), 146 zum anderen verfehlt die von Lenin festgeschriebene Form der Widerspiegelungstheorie die Intention von Marx, da dieser weder das Bewusstsein zum gesetzmäßigen Spiegel der Realität degradiert, noch davon ausgeht, das Verspiegelungstheorie auf die Ästhetik führt indes zu unlösbaren Widersprüchen, siehe hierzu S. 95 ff. dieser Arbeit. 138 Wladimir Iljitsch Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, 4. Aufl., Berlin 1957 (Bücherei des Marxismus-Leninismus 6), S. 79. 139 Ebd., S. 82. 140 Ebd., S. 99. 141 Ebd., S. 128–129. 142 Ebd., S. 158. 143 Ebd., S. 314. 144 Ebd., S. 178–179. 145 Ebd., S. 314. 146 Kołakowski, Hauptströmungen 2, S. 521.

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hältnis des Menschen zu seiner Umwelt sei durch das Aufstellen ahistorischer und pseudonaturwissenschaftlicher Formeln in den Griff zu bekommen. 147 Nun ließe sich sofort einwenden, allein die Tatsache, dass die leninschen Thesen ebenso wie das holzsche Dialektikverständnis, das der über Engels und Lenin vermittelten Tradition sehr eng verwandt ist, 148 von Marx abweicht, ist noch kein Argument. Entscheidend ist nicht, ob sich ein Argument auf Marx als Autorität berufen kann, sondern ob es stichhaltig ist. Doch lässt sich dafür argumentieren, dass das holzsche Verständnis von Dialektik und Materialismus aus sachlichen Gründen unhaltbar ist. 149 Hier liegt ein sich als materialistisch inszenierendes Denken vor, das letztlich eine uneingestandene Reproduktion jener idealistischen Metaphysik ist, gegen die es seinem Anspruch nach antritt. Dass dies der Fall ist, liegt an dessen Blindheit für den Stellenwert der menschlichen Praxis. In dem Moment, in dem das marxsche Denken von Lenin versimplifiziert und von Holz eine idealistische Schlagseite bekommt, wird die für die Frage der Möglichkeit der Erkennbarkeit und der Veränderbarkeit der Wirklichkeit tragende Kategorie der Praxis vernachlässigt. Dies ist von verschiedenen Autoren wie Karl Korsch und Jürgen Habermas gesehen und aus ebenso rationalen wie gut begründeten Erwägungen heraus moniert worden. So sieht Lenin nicht – wie es Korsch herausstellt –, dass seine Deutung der philosophischen Entwicklung von Hegel zu Marx – von der idealistischen zur materialistischen Dialektik – nur »terminologische Veränderung« ist, mit der das Absolute nicht mehr als Geist, sondern als Materie begriffen wird. 150 Lenin postuliert nach Korsch einen simplen Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus, zwischen Geist und Materie, womit er die Diskussion zwischen Materialismus und Idealismus auf eine Entwicklungsstufe zurückwirft, die mit Kant bis Hegel schon überwunden wurde. Denn spätestens mit Hegel »war das ›Absolute‹ aus dem Sein sowohl des ›Geistes‹ als Siehe hierzu Karbusicky, Widerspiegelungstheorie und Strukturalismus, S. 58–59 u. S. 62–63. 148 Holz selbst verweist auf Engels und Lenin. Holz, Weltentwurf und Reflexion, S. 497–499. 149 Dies ändert freilich nichts daran, dass sich mit seiner Hilfe Grundzüge der materialistisch-marxistischen Ästhetik theoretisch begründen und erklären lassen. 150 Karl Korsch, Marxismus und Philosophie, hg. u. eingel. v. Erich Gerlach, Frankfurt a. M. u. Wien 1966 (Politische Texte), S. 60. 147

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auch der ›Materie‹ endgültig verbannt und in die dialektische Bewegung der ›Idee‹ verlegt worden. Die Marx-Engelssche materialistische Umstülpung dieser idealistischen Dialektik Hegels bestand nur noch darin, diese Hegelsche Dialektik von ihrer letzten mystifizierenden Hülle zu befreien, in der dialektischen ›Selbstbewegung der Idee‹ die darunter verborgene wirkliche geschichtliche Bewegung zu entdecken und diese revolutionäre geschichtliche Bewegung als das einzige jetzt noch übrigbleibende ›Absolute‹ zu proklamieren.« 151 Damit verlässt Lenin – ohne dies wahrzunehmen – mit der Annahme eines absoluten Seins das dialektische Denken. »Indem Lenin und die Seinen die Dialektik einseitig in das Objekt, die Natur und die Geschichte verlegen, und die Erkenntnis als eine bloße passive Widerspiegelung und Abbildung dieses objektiven Seins in dem subjektiven Bewußtsein bezeichnen, zerstören sie tatsächlich jedes dialektische Verhältnis zwischen dem Sein und dem Bewußtsein, und in einer notwendigen Konsequenz hiervon dann auch das dialektische Verhältnis zwischen der Theorie und der Praxis.« 152 Mit vergleichbarer Intention wertet daher Habermas Lenins Erkenntnistheorie schlicht als »naiv-realistische« ab. Subjekt und Objekt stehen sich undialektisch gegenüber, »in bloßer ›Widerspiegelung‹, wie die ›Sprünge‹ der Naturdialektik«. 153 Ideologie erscheint, als »Titel der Bewußtseinsinhalte überhaupt«, jedes kritischen Potenzials entledigt, weil »die Abhängigkeit des Bewußtseins vom gesellschaftlichen Sein« nur zum »Spezialfall des allgemeinen ontologischen Gesetzes« wird, »demzufolge Höheres von Niederem, und schließlich alles vom ›materiellen Substrat‹ abhängt«. In der Konsequenz wird »der strategische Sinn der Ideologie« vergessen, ebenso »ihr Verhältnis zur Kritik auf der einen, zur revolutionären Praxis auf der anderen Seite. Wo ›Widerspiegelung‹ zum Index überhaupt von Erkenntnis geworden, kann sie nicht mehr als Teil der praktischen Entfremdung begriffen werden.« 154 Aus orthodoxer Sicht geht Habermas in seiner Kritik – in der er im Grunde nur Lenin beim Wort nimmt – entschieden zu weit. Leo Kofler moniert, dass im Gegenteil der Künstler ideologiekritisch verEbd., S. 61. Ebd., S. 62. 153 Jürgen Habermas, Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus [1957], in: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, 2. Aufl., Neuwied u. Berlin 1963 (Politica 11), S. 261–335, hier S. 271. 154 Ebd., S. 271–272. 151 152

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fahren könne. Mit Referenz auf Lukács betont er die Phantasie des Künstlers, in der er ideologiekritische Figuren imaginieren kann. 155 Der Künstler kann »Figuren frei erschaffen, die es hinsichtlich ihrer Sprache und ihres Gehabes in dem historischen Zeitabschnitt, dem sie zugehören, niemals geben konnte, die aber mit Hilfe der ihnen in den Mund gelegten Aussage gerade die Hintergründe und die Wesenheit des Geschehens enthüllen und den Leser in eine tiefere Erkenntnissphäre führen«. 156 Der Relativierung zum Trotz, das in der Spiegelmetapher zum Ausdruck gebrachte Wirklichkeits-Abbild-Verhältnis lasse Raum fürs Subjekt, das als Künstler frei in der Wahl seiner Perspektive sei und seine Figuren und ihren Blick auf die Wirklichkeit frei imaginieren könne, kann diese Freiheit nach dem von Holz konsequent ausgearbeiteten spekulativen Weltmodell nur eine scheinbare sein: Die Gesetze der Naturdialektik und der Widerspiegelung gelten hier a priori und ausnahmslos, und so unterliegt ihnen auch das Schaffen des Künstlers; ausgeschlossen ist damit sein freies ideologiekritisches Reagieren auf die Realität und eingreifendes Handeln in die gesellschaftliche Praxis. Denn die Wahl der Perspektive, in der der Künstler die Realität ausschnittshaft spiegelt, kann nach den holzschen Prämissen dann nur als passiver Reflex seiner Ideologie verstanden werden, die wiederum nichts als Spiegel seiner Lebensverhältnisse sein kann; all die unendlich sich bis ins Detail notwendig entfaltenden Gesetze der Dialektik konstituieren einen »Gesamtzusammenhang«, in den freie menschliche Praxis nicht ansatzweise integrierbar ist. Dort, wo sie identifiziert wird, muss sie ein Trugbild sein, so wie dort, wo das Bewusstsein das Sein – wie es Holz will – im Modus der Möglichkeit spiegelt. Neben dem Problem der menschlichen Freiheit und der Ideologiekritik ist mit dem von Korsch und Habermas geforderten Sinn für die Praxis ein erkenntnistheoretischer Aspekt angesprochen. Die Tatsache, dass der Mensch keine Perspektive jenseits seiner weltlichen Situiertheit einnehmen und nicht aus der Perspektive Gottes die das Weltgeschehen bestimmenden Gesetze schauen kann, gibt einen Hinweise darauf, dass sich die Welt nur vom Standpunkt der unhintergehbaren menschlichen Lebenspraxis aus erkennen lässt; der Leo Kofler, Zum Streit um eine marxistische Ästhetik [1964], in: Avantgardismus als Entfremdung. Ästhetik und Ideologiekritik, hg. u. Nachw. v. Stefan Dornuf, Frankfurt a. M.1987, S. 139–150, hier S. 144. 156 Ebd. 155

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Blick des Menschen auf die Welt ist endlich; und die Gesetze der Natur gelten für ihn nur so lange, wie sie nicht falsifiziert werden. Damit könnte sich das Ansinnen als Illusion herausstellen, aus menschlicher Perspektive die esoterischen Gesetze des »Gesamtzusammenhangs« auf dem Wege orakelnder Philosophie aus dem Dunkel metaphysischer Spekulation ins Licht des dialektischen Materialismus heben zu können. Holz würde nun zwar konzedieren, dass der Mensch nicht die Position Gottes einnehmen kann, um den »Gesamtzusammenhang« der Welt zu sehen, dafür der Mensch (bzw. Holz) aber über das Widerspiegelungstheorem einen Kunstgriff gefunden hat, um aus der weltlichen Binnenperspektive eine Metaperspektive einnehmen zu können, aus der der »Gesamtzusammenhang« sichtbar werden soll: Mit der Schau des »Gesamtzusammenhangs« erschließt sich nach Holz auch zugleich die Antwort auf die oben schon angesprochene Grundfrage »nach dem Verhältnis von Denken und Sein«; sie ist für den Materialismus um so dringlicher zu lösen, je konsequenter er durchgeführt wird. Das Bewusstsein, das die Gesetze der rein materiellen Wirklichkeit erkennt, muss selbst als materialistisch gedacht und begründet werden können, 157 darf also keine Außenperspektive jenseits des Materiellen einnehmen, von der aus diese Gesetze überhaupt erst erkennbar werden. Holz meint die Antwort auf diese Grundfrage in dem »Widerspiegelungstheorem« gefunden zu haben, weil ihm zufolge die »Vermittlung zwischen Denken und Sein […] in der Verfassung des Seins selbst, das reflektiert«, gründet. 158 Die Pointe seiner Argumentation soll darin bestehen, zugleich Annahmen »a priori« machen und den drohenden Idealismus umschiffen zu können. Wenn das Bewusstsein selbst als Teil der reflexiven Wirklichkeitsstruktur gedeutet wird, so soll eine in den Idealismus kippende Außenperspektive nicht mehr notwendig sein, aus der heraus die Gesetze a priori der »Reflexion« und des »Gesamtzusammenhangs« erst erkannt werden können. Der Wirklichkeit unterstellt Holz eine reflexive Struktur, in der ausnahmslos dieselben Gesetze herrschen, sodass die Gesetze des Denkens zugleich die der Wirklichkeit sind. 159

Holz, Weltentwurf und Reflexion, S. 70. Ebd., S. 17. 159 »Die Gesetze des Denkens sind die Gesetze des Zusammenhangs der Seienden, also der Natur. Es gibt nicht zweierlei Dialektik, sondern nur die Dialektik der Natur, die sich im Denken der Erfahrung darstellt.« Ebd., S. 562. 157 158

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Das Bewusstsein ist dann nur Teil eines innermateriellen Spiegelverhältnisses. Mit diesem Kunstgriff meint Holz das Problem, eine außermaterielle Position einnehmen zu müssen, um die die Materie durchwaltenden und a priori geltenden Gesetze erkennen zu können, als gegenstandslos erwiesen zu haben. Doch ist dies triftig? Die sich aufdrängende Frage ist, ob die holzsche Denkfigur nicht so etwas wie ein Taschenspielertrick ist. Die idealistische Außenperspektive wird als Spiegelphänomen in die Materie selbst verlagert; doch dass die Welt in einer reflexiven Struktur verfasst ist, über die ihre Gesetze erkennbar sein sollen, muss wiederum a priori gesetzt und mangels empirischer Überprüfbarkeit geglaubt werden. c) Ein praxisorientierter Dialektikbegriff verstrickt sich nicht in dieses Dilemma. Sein erkenntnistheoretischer Anspruch ist wesentlich geringer, denn er zielt weder auf eine abschließende Synthese noch auf ewige Gesetze. ›Dialektik‹ bedeutet dann allein das je verschiedene Reagieren auf menschliche Lebenspraxis, und zwar sowohl das historisch verstehende – wie zu Beginn dieses Kapitels unter a) dargestellt – als auch das eingreifende. 160 In diesem Sinne wendet sich Edward P. Thompson gegen Ansinnen, die der Dialektik eine »elaborierte logische und formale Fassung« verleihen wollen. Es ist Thompson zufolge bezeichnend, dass Marx nie eine derartige Fassung der Dialektik niederschrieb. »Wenn er den Schlüssel zum Universum gefunden hätte, dann hätte er sich gewiß ein oder zwei Tage Zeit genommen, diese Wahrheit niederzuschreiben.« Thompson schließt hieraus, dass Marx sie nicht niederschrieb, weil es schlicht nicht möglich war und dem Wesen der Dialektik widersprochen hätte. Dialektik ist »eine Praxis, und zwar eine durch Praktizieren erlernte Praxis, so daß in diesem Sinne Dialektik nie fixiert oder auswendig gelernt werden kann. Sie kann nur durch eine kritische Lehrzeit in solcher Praxis selber erlernt werden«. 161 Die Orientierung auf die Praxis bestimmt 160 In der marxistischen Orthodoxie erstarrt das marxsche Denken zu einem Lehrbuchmarxismus, in dem der Ausgang des marxschen Denkens von der Praxis verloren geht. Dies ist insbesondere von Antonio Gramsci gesehen und kritisiert worden. Siehe hierzu Wolfgang Fritz Haug, Historischer Materialismus und Philosophie der Praxis. Von Marx zu Gramsci – von Gramsci zu Marx, in: Das Argument 236 (2000), S. 387– 398. Zum Begriff ›Lehrbuchmarxismus‹ siehe Ruedi Graf, Lehrbuchmarxismus, in: Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug, Peter Jehle u. Wolfgang Küttler (Hg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8/1, Hamburg 2012, Sp. 858–885. 161 Edward P. Thompson, Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung, Einl. v. Michael Vester, übers. aus d. Engl. v. Peter Huth, Frankfurt u. New York 1980, S. 167.

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letztlich auch den unter a) beschriebenen Dialektikbegriff der Historiographie: Die menschliche Lebenspraxis, das Handeln der Individuen wird als dialektisch verstanden und beschrieben, um historische Prozesse in einer bestimmten Intention interpretieren zu können; weder wird damit etwas über die in ihnen waltenden ›Gesetze‹ gesagt, noch werden ›Realwidersprüche‹ oder eine ›Naturdialektik‹ postuliert. In der zweiten Feuerbachthese wird – in der Formulierung von Wolfgang Fritz Haug – die »wissenschaftliche Fassung des Erkenntnisproblems fundamental mit der Praxis« verknüpft. 162 Nach der achten These ist »wirkliches Begreifen nur als Moment gesellschaftlicher Praxis« möglich; 163 »Praxis« erscheint bei Marx daher nicht als »theoretisches Axiom«; Praxis ist nicht eine »bloß gedachte«, eine »Praxis-Kategorie«, sondern zielt auf »wissenschaftliche Begriffsgewinnung«. Denn der »Wirklichkeitsbezug, so die Marxsche Einsicht, stellt sich letztlich nur vermittels der Tätigkeit her, und Anschauung ist berechtigt nur als eingebundenes und untergeordnetes Moment«. 164 Für »die allgemeine historisch-materialistische Erkenntnistheorie […] ist dieser Bezug auf wirkliche Praxis oder praktische Wirklichkeit mit seinen Problemen von Standpunkt und Perspektive grundlegend«. 165 Während Marx – so Haug – »allgemeinen Thesen« nur als Resultate, »nicht aber als prinzipiell gesetzte Ausgangspunkte« begreift, 166 schlägt das holzsche Denken den entgegengesetzten Weg ein. Daher wirft Haug Holz vor, er vergesse »die Praxis der tätigen Realvermittlung«. 167 Holz, der die materiellen Verhältnisse durchweg als Reflexionsverhältnisse deutet, geht es »um die RehabilitieWolfgang Fritz Haug, Für die materialistisch-dialektische Begründung des dialektischen Materialismus, online: http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/docu ments/ BEGRUENDG1978.pdf (4. März 2015), hier S. 7. Zu dem Stellenwert der Feuerbachthesen für diesen Praxisbegriff und insbesondere zu der Bedeutung von Gramsci in der Rezeption und Weiterentwicklung dieses Praxisbegriffs siehe Wolfgang Fritz Haug, Philosophieren mit Brecht und Gramsci, 2. erw. Auf., Hamburg 2006, S. 31–45. 163 Ebd. 164 Ebd., S. 9. 165 Ebd., S. 10. 166 Ebd., S. 17. 167 Wolfgang Fritz Haug, Zweierlei Revisionismus (Debatte: Wider die Einbalsamierung von Lenins Gedanken. Teil 2 (und Schluß): Praxis ist mehr als bloß ein Kriterium), S. 17–21, online: http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/documents/09-0527–28-Haug-ad-Holz.pdf (4. März 2015), hier S. 20. 162

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rung von Spekulation und Metaphysik«, er macht – so Haugs Verdikt – die Dialektik »zum Namen dessen, wogegen Marx gekämpft hat, die spekulative ›Konstruktion‹ eines ›metaphysischen Modells‹, um es unter jenem Namen in den Marxismus zurückzuführen.« 168 Erkenntnistheoretisch führt das holzsche Denken zu dem Widerspruch, dass der Dialektik ein rein logischer und a priori geltender Status zukommt. Doch »wäre sie apriorisch in den ›Gesetzen des Denkens‹ verankert, bedürfte es keiner besonderen Dialektik, und die Logik würde genügen«. 169 Dialektik zielt in Haugs Verständnis indes gerade nicht auf ein a priori geltendes, metaphysischen Schema, dessen Regeln lehr- und lernbar wären. 170 Den »Gesamtzusammenhang« überschauen und denken zu können, erweist sich so als eine Illusion, denn »vom Standpunkt des tätigen In-der-Welt-Seins« ist »das Ganze der Welt« nicht zu erfassen. 171 So sucht Haug diese Dialektik als »Kunstgriff« zu demaskieren, die »zur Erschleichung des Unendlichen fungiert«, womit sie »die ideologische Ordnung restauriert, gegen die die marxsche Dialektik angetreten ist«. Dieser stellt er »praktische Dialektik« als »Endlichkeitskunst« gegenüber. »Ihre Notwendigkeit gründet in der unaufhebbaren Nichtidentität von Denken und Sein.« 172 In der holzschen Dialektik wird, so Haug, das »revolutionäre Moment einer offenen innergeschichtlichen Analyse […] wieder in die vermeintlich übergeschichtlichen Grundprinzipien einer Ersten Philosophie eingefangen. […] Die geschichtsmaterialistische Dialektik erstarrte zu einer unbeweglichen Prinzipien- oder Gesetzeslehre aller Bewegung«. 173 Geschichtsschreibung, die von einem praxisorientierten Dialektikbegriff ausgeht, könnte sich als besonders qualifiziert dafür erweisen, Ereignisse der Geschichte nicht als abgeschlossene, sondern als offene zu interpretieren, die in fortwährenden Wirkungszusammenhängen stehen, deren Ergebnis nicht feststeht. 168 Wolfgang Fritz Haug, In babylonischer Gefangenschaft? Dialektik bei Hans Heinz Holz, in: Das Argument 274 (2008), S 75–82, hier S. 82. 169 Wolfgang Fritz Haug, Das »Kapital« lesen. Aber wie? Materialien zur Philosophie und Epistemologie der marxistischen Kapitalismuskritik, Hamburg 2013 (Berliner Beiträge zur kritischen Theorie 16), S. 203 Fn. 170 Wolfgang Fritz Haug, Für praktische Dialektik, in: Das Argument 274 (2008), S. 21–32, hier S. 29–30. 171 Ebd., S. 30. 172 Ebd. 173 Haug, In babylonischer Gefangenschaft?, S. 75–76.

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Ein Kunstwerk wäre dann ebenso das Resultat ineinander greifender Prozesse wie ein potenziell offenes, das Impulse noch nicht realisierter Möglichkeiten mit sich führt. Doch tatsächlich zeigt sich in der marxistischen Musikgeschichtsschreibung allzu häufig der feste Glaube an ein schon sicher gewusstes Ziel der Geschichte und an einen sicher gewussten Zweck jedes Ereignisses, der der Dialektik jenes Potenzial nimmt, das Haug ihr zuspricht. 174 Nach Haug gilt es, das »Gewordene von seinem Werden her und sein Werden in Begriffen der Praxis unter (modellhaft) bestimmten Verhältnissen zu denken«. 175 Die Dialektik ist damit nicht das innere Gesetz des »Gesamtzusammenhangs«, sondern letztlich ein bestimmtes Seinsverständnis oder ein Erkenntnismittel, das in der Zeitlichkeit des Seins die Bedingungen, Widersprüche und Möglichkeiten der Realität zu fassen sucht. 176 »Wo unsere spontane Weltauffassung mit ihren alltagspraktischen flächigen Abgrenzungen und linearen Ursache-Wirkungs-Ketten an den Bewegungsformen der Welt scheitert, bedarf es der diesen Bewegungsformen sich anmessenden Denkanstrengungen.« 177 Dialektik übernimmt damit eine heuristische Funktion. »Sie schärft den Sinn für die Möglichkeit nichtlinearer Entwicklungen oder des Zusammenhangs unmittelbar zusammenhangslos sich präsentierender Erscheinungen.« 178 Wird indes die »Grenze des Heuristischen« überschritten, so »verliert die theoretische ›Dialektik‹ nicht nur ihren Nutzen für die Forschung, sondern wird hinterrücks von Entdialektisierung heimgesucht.« 179 Nach diesem Verständnis kann sinnvollerweise von Dialektik dann nur als eine Form von Rationalität gesprochen werden, nicht von der Dialektik der Wirklichkeit selbst: Wir interpretieren die Wirklichkeit als dialektisch oder reagieren auf dialektische Weise auf sie, weil wir sie im »Flusse ihrer Bewegung« begreifen und unser Handeln nach ihr ausrichten. ›Naturdialektik‹ muss dann als reine Metaphysik erscheinen. Sinnvoll lässt sich von Dialektik dann reden, wenn sie – gegen Popper – nicht nur eine Theorie der Entwicklung von Argumenten ist, sondern auch die Realität rational beschreiben kann – freilich nur so lange mit ihr nicht mehr behauptet wird, als 174 175 176 177 178 179

Siehe hierzu die Kapitel 3.2, 4.2 und 5.2. Haug, Das »Kapital« lesen, S. 264. Ebd., S. 269 u. S. 273–274. Ebd., S. 268. Haug, Für praktische Dialektik, S. 22–23. Ebd., S. 23.

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dass die Widersprüche der Wirklichkeit das Ergebnis einer Interpretation im Blick auf ihre Dynamik und Prozesshaftigkeit sind. Dialektik – als Form von Rationalität begriffen – beschreibt damit auch menschliches Handeln. Dieser Aspekt kann für die marxistische Ästhetik kaum als zu gering eingeschätzt werden: Dialektisches Handeln ist dann kein passiver und ohnmächtiger Reflex auf die unverfügbaren und unhintergehbaren Gesetze der Wirklichkeit, sondern der Versuch, die verschlungenen und widersprüchlichen Prozesse der Realität aufzugreifen und mitzubestimmen. Wenn Kunstwerke als Produkt menschlichen Handelns sich als ›Spiegel‹ der Realität zeigen und damit ebenso die »philosophische Kernfrage der marxistischen Ästhetik« 180 berühren, so können sie dies in einem viel offeneren Sinne, als es der apodiktische Impetus holzscher Gesetzesproklamationen zulassen könnte.

2.3 Utopisches Denken »Es wird sich […] zeigen,« schreibt Marx in einem Brief an Arnold Ruge, »daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit.« 181 Die Ausrichtung des Denkens auf die Zukunft und der Versuch, eine Gesellschaftsform zu verwirklichen, in der die Menschen wahrhaft und nicht bloß formal frei sind und den von ihnen produzierten Dingen nicht mehr als entfremdete gegenüberstehen, gehören mit der materialistischen Anthropologie und der dialektischen Rationalität essenziell zu dem Marxismus, wie er dieser Arbeit zugrunde gelegt wurde. Der Begriff der Utopie erfordert einen präzisierenden Hinweis, zumal Marx selbst ihm skeptisch gegenübersteht. 182 Utopisches DenWolfgang Heise, Zehn Paraphrasen zu »Wanderers Nachtlied«. Über Wahrheit im Gedicht [1974], in: Zwischen Realistik und Utopie. Aufsätze zur deutschen Literatur zwischen Lessing und Heine, Berlin 1982 (Literatur und Gesellschaft), S. 109– 176, hier S. 113. 181 MEW 1, S. 346. 182 Marxistisches Denken als ›utopisches Denken‹ zu bezeichnen, wird Marx’ abwertendem Blick auf das utopische Denken nicht ganz gerecht (Marx und Engels sprechen im Manifest der Kommunistischen Partei vom »kritisch-utopistischen Sozialismus 180

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ken changiert zwischen dem diffusen Wunsch nach einer besseren Welt, deren Realisation sich ein ohnmächtig wähnendes Subjekt nur erträumen kann, und der Prophezeiung eines sicher gewussten Ziels der Geschichte bzw. der Fiktion einer bevorstehenden irdischen Heilszeit, deren konkrete Möglichkeit zum politischen Eingreifen in die menschliche Lebenspraxis stimuliert. Im letzteren Sinne enthält auch das marxistische Denken unübersehbar utopische Elemente, deren Status zwischen politisch-normativen Zielsetzungen, die zum eingreifenden Handeln auffordern, und wissenschaftlich begründeten Annahmen über den wahrscheinlichen Fortgang der Geschichte oszilliert, womit der Wille des Einzelnen mit dem angenommenen Resultat des historischen Prozesses im besten Fall zusammenfällt. 183 In der Tatsache, dass die marxistische Philosophie nicht nur Aussagen über die gesellschaftliche Praxis trifft und diese historisch zu interpretieren sucht, sondern darüber hinaus als Theorie zugleich selbst zur Praxis hin tendiert, sieht Löwith geradezu die Ursache ihres Erfolgs. Ohne seiner kritischen Einschätzung der marxistischen Philosophie in all ihren Konsequenzen beipflichten zu müssen, so scheint er doch im Ausgangspunkt seiner Kritik eine plausible Deutung der Tatsache zu liefern, dass die marxsche »Lehre« als Theorie diese unvergleichliche historisch-praktische Wirksamkeit entfalten konnte: »Der Grund für den möglichen Übergang von der Theorie der Geschichte zur geschichtlichen Praxis liegt nicht in diesem oder jenem geschichtlichen Umstand, sondern darin, daß Marx schon selber seine Theorie als eine Etappe auf dem Wege zur Praxis verstand.« 184 »Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse«, schreibt Marx im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie, »sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, und Kommunismus«, MEW 4, S. 489–492) und folgt eher der Intention von Ernst Bloch, bei dem der Begriff auf etwas konkret Mögliches zielt, nicht auf phantastische Spekulationen und Träume von einer Gesellschaft, für deren Realisationsmöglichkeit die Gegenwart keinerlei Indizien liefert. Zum Problem der Utopie bei Marx siehe Leszek Kołakowski, Die utopische Anti-Utopie von Marx [1973], in: Marxismus – Utopie und Anti-Utopie, Stuttgart u. a. 1974, S. 9–26. 183 Kołakowski sieht in der Vermeidung der Alternative zwischen einer »normativen Utopie« und einer »deterministischen Sicht der Geschichte« geradezu das »Spezifische des marxschen Denkens«. Kołakowski, Die utopische Anti-Utopie von Marx, S. 11–12. 184 Karl Löwith, Marxismus und Geschichte [1958], in: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1983 (GS 2), S. 330–345, hier S. 340.

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[…] aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.« 185 Dieser »Vorgeschichte« der Zeit der Klassenkämpfe soll nach einer »Übergangsperiode« der »Diktatur des Proletariats« schließlich die kommunistische Gesellschaftsform nachfolgen. 186 Zwar wird dieses aus Zitaten montierte Geschichtsbild in seiner schematischen Verkürzung dem marxschen Denken nur bedingt gerecht, doch liefert es die Vorlage für die Grundlinien eines Geschichtsdenkens, das von einer Spaltung der Geschichte in zwei Phasen ausgeht. Es schreibt die Koordinaten fest, an denen sich die marxistische Musikgeschichtsschreibung ausrichtet (Kapitel 4.2, 5.2 und 5.3). Zudem muss dieses Geschichtsbild zu einer dichotomen Ästhetik führen. Denn Kunst, die eingreifend und gesellschaftsverändernd wirken soll, folgt anderen Grundsätzen als eine, die zur Zeit der realisierten Utopie Ausdruck einer nicht mehr entfremdeten Existenz des Menschen ist. So sehr innerhalb marxistischer Musikdiskurse alle Mühen darauf verwendet werden, weite Teile der Musik in Geschichte und Gegenwart als Zeugnisse gesellschaftsverändernder Praxis auszulegen, so unterbelichtet bleiben Versuche, den Blick auf die mögliche Praxis der Kunst zu werfen, die nicht mehr die Male gesellschaftlich-ökonomischer Zwangsverhältnisse und die Spuren des Versuchs zu deren Überwindung in sich trägt. Mit diesen Hinweisen sind bereits jene Aspekte benannt, die utopisches Denken in dem hier verwendeten Sinne ausmachen: Erstens wird wieder das Problem der menschlichen Freiheit virulent, nämlich mit der Frage, ob die Realisation utopischer Vorstellungen von selbstständig handelnden und aktiv in den Lauf der Geschichte eingreifenden Subjekten ausgeht oder notwendiges Resultat ökonomischer und historischer Gesetze ist (a). Zweitens ist zu bestimmen, von welchem politischen Ideal des menschlichen Zusammenlebens die marxschen Zielvorstellungen der Geschichte geleitet werden (b). Und drittens liefert die Einteilung der Geschichte in Vorgeschichte und realisierter Utopie das tragende Gerüst marxistischer Geschichtsschreibung (c). a) Das schon in den beiden voranstehenden Abschnitten zur MEW 13, S. 9. MEW 19, S. 28. Zu dem Begriff »Diktatur des Proletariats« siehe Henning, Philosophie nach Marx, S. 98–101. 185 186

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Sprache gebrachte Dilemma, wie gleichzeitig an dem Postulat menschlicher Freiheit festgehalten, der Glaube an die Geltung historischer und sozialer Gesetze aber nicht aufgegeben werden soll, kehrt hier noch einmal zurück. Es ist eines der Kernprobleme des Marxismus, das hier nur angedeutet und im Kapitel 5.3 aus wissenschaftstheoretischer Perspektive diskutiert wird. 187 Werden historische und soziale Gesetze mit jenen der Natur gleichgesetzt, so lässt sich nicht mehr widerspruchsfrei die Möglichkeit bestimmter, vom Menschen anvisierter und willentlich auch realisierter Entwicklungen postulieren. 188 Hieran hängt nicht zuletzt die Möglichkeit einer Historiographie, die mehr sein will als das Nacherzählen der historischen Selbstentfaltung kausaler Zusammenhänge. Das Wertgefüge, auf dem die marxistisch ausgerichtete Geschichtsschreibung der Musik beruht, kommt ohne ein geringes Maß menschlicher Freiheit nicht aus. Die Möglichkeit der Würdigung und der historischen Wertschätzung eines Werkes setzt geradezu voraus, dass sein Urheber nicht allein der Vollstrecker historischer Gesetze ist, sondern aktiv und selbstbestimmt in den Fluss der Geschichte eingreift, indem er in seinem Werk eine bessere Zukunft antizipiert und dadurch – wie indirekt und vermittelt auch immer – zu ihrer Verwirklichung beiträgt. Daher erweist sich die Praxis der marxistischen Geschichtsschreibung mit dem Bild einer vollkommen determinierten Geschichte als unvereinbar. An dem holzschen Modell des »Gesamtzusammenhangs« 189 lässt sich exemplarisch zeigen, dass sich die Existenz menschlicher Freiheit nicht widerspruchsfrei mit einer Auffassung von der Welt als Getriebe lückenlos waltender Gesetze vermitteln lässt. Holz sieht sich durch die faktische Freiheit des Menschen, Wünsche, Hoffnungen und Phantasien zu entwickeln, zu spitzfindigen metaphysischen Spekulationen genötigt. Denn einerseits muss die 187 Insbesondere S. 157 ff. Siehe hierzu paradigmatisch die Auseinandersetzung Edward Thompsons mit Luis Althusser, in der ein strukturalistischer Marxismus einem an menschlicher Lebenspraxis orientierten Ansatz gegenübersteht. Thompson, Das Elend der Theorie. 188 Vollends offen und unvermittelt bleibt der Widerspruch etwa bei Plechanow: »Und meine freie Handlungsweise ist zu gleicher Zeit notwendig, denn mein Wollen ist durch meine Natur und die gegebenen Umstände bedingt. Die Notwendigkeit schließt also die Freiheit nicht aus. Die Notwendigkeit – das ist eben die Freiheit, nur von einer anderen Seite, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet.« Plechanow, Kunst und Literatur, S. 26. 189 Siehe S. 48 ff. dieser Arbeit.

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Annahme, der Mensch könne aus freiem Entschluss Mögliches, das er antizipiert, wirklich werden lassen, unter der Prämisse der den »Gesamtzusammenhang« konstituierenden Gesetze als Illusion erscheinen. Andererseits dürfen nach den holzschen Spiegelgesetzen nur existierende Dinge im Bewusstsein gespiegelt werden, weshalb Phantasien als freie Produkte des Bewusstseins erscheinen müssen, weil sie nichts außer ihm Liegendes spiegeln. Das »Denkmögliche überhaupt – auch solches, das nie wirklich werden kann und wird – kommt doch vor und ist sicher kein widergespiegeltes Seiendes. Von hier aus ist der am schwersten wiegende Einwand gegen die Geltungskraft der Spiegel-Metapher […] zu erheben.« 190 Die Lösung des Problems besteht ihm zufolge in der »Annahme eines Kontinuums gradueller Seinsintensitäten«, 191 in einer »ontologischen Theorie von Seinsgraden«. 192 Seine Argumentation beruht auf dem Kunstgriff, den nur als möglich erachteten, nicht aber existierenden Dingen einen eigenen Seinsstatus zu verleihen: Das Mögliche ist für ihn »ein Modus des realen Seins«. 193 So sind auch Wünsche und Hoffnungen Spiegel von etwas, nämlich vom Sein im Modus der Möglichkeit. Hinzu soll nun aber ein Prinzip kommen, nach dem sich entscheidet, welches Mögliche wirklich wird und welches nicht. 194 Hier nun steuert die Spekulation geradewegs auf einen Selbstwiderspruch zu. Wenn ein »Prinzip« regelt, welche Möglichkeit wirklich wird, dann handelt es sich bei dieser Möglichkeit um eine Notwendigkeit. Doch weil aber auch eine Phantasie nach dem holzschen Weltmodell immer der Spiegel von etwas sein muss, – weil Nichtseiendes nicht spiegelbar ist – muss die Möglichkeit, auch wenn sie nach dem »Prinzip« nicht realisierbar ist, dennoch eine »reale« sein: Da die »Möglichkeit ein Modus von Realität innerhalb der materiellen Verhältnisse ist«, kann sie auch im Denken widergespiegelt werden. »Prognosen, Planungsziele, Antizipationen, Phantasie, Vorschein usw. – also das gesamte Arsenal von Bewußtseinsformen, die Ernst Bloch als gerichtet auf Noch-Nicht-Seiendes und Mögliches ausgebreitet hat – sind Widerspiegelungen des materiellen Substrats Möglichkeit, ohne welches es keine Veränderung in der Welt gäbe.« 195 190 191 192 193 194 195

Holz, Dialektik und Widerspiegelung, S. 76. Ebd. Ebd., S. 78. Ebd., S. 77. Ebd. Ebd., S. 78.

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Das Denken der Utopie wird damit zu einer menschlichen Selbsttäuschung; die Zukunft ist allein Sache gesetzlicher Notwendigkeit, wenn mit Holz ein »Prinzip« postuliert wird, nach dem bestimmt ist, welche Möglichkeit wirklich wird und welche nicht. Die Rede von »Möglichkeit« führt sich damit selbst ad absurdum. Es ist sinnlos, Wünschen, Hoffnungen und Antizipationen irgendeine Relevanz beizumessen, wenn nach dem allumfassenden »Prinzip« die Zukunft bereits feststeht. So scheint ein Ansatz, der dialektisch-gesetzmäßige Spiegelverhältnisse allein gelten lassen will, um aus ihnen einen »Gesamtzusammenhang« abzuleiten, die menschliche Praxis freien Denkens und Handelns nicht widerspruchfrei theoretisch integrieren zu können. Die Möglichkeit – wie Marx sie versteht – ist nicht Sache einer uneingestanden idealistischen Gesetzgebung, sondern Sache menschlichen Willens und Handelns – allerdings auf der Grundlage ökonomischer Rahmenbedingungen, die nicht mit den Gesetzen eines dialektischen Materialismus oder eines alles determinierenden »Gesamtzusammenhangs« zu vergleichen sind (Kapitel 5.3). Dieses zu weiten Teilen offene Zukunftsverständnis wird von Bloch aufgegriffen, nach dem die »Wahrheit der Teleologie nirgends […] aus fertig vorhandenen Zwecken besteht, vielmehr aus solchen, die sich im aktiven Prozeß erst bilden, immer neu darin entspringen und sich anreichern.« 196 In der »dialektischen, zum Novum offenen TendenzLatenz des materiellen Prozesses« findet sich, so Bloch »kein vorgeordneter, also gleichfalls fertig gesetzter Zweck nach der Art der alten Teleologie, gar einer von oben herab mythologisch geleiteten.« 197 Bloch sieht, wie es Alexander Amberger herausstellt, »den Geschichtsprozess als (relativ) offen an, erkannte zwar Tendenzen, lehnte aber Zwangsläufigkeiten ab« und beharrt »auf dem Subjekt als transformatorischem Akteur«. 198 b) In Grundzügen deutet Marx eine erst noch zu verwirklichende kommunistische Gesellschaftsform an: In ihr sollen die »knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit […] verschwunden« und »die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden« sein. Mit der »Entwick196 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung 1–3 [1938–1947], Frankfurt a. M. 1973, Bd. 3, S. 1626. 197 Ebd. 198 Amberger, Ernst Bloch in der DDR, S. 569.

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lung der Individuen« und dem Wachsen der Produktivkräfte werden »alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«. Zwar zeichnet er nur ein vages Bild von der Verfasstheit dieser Gesellschaftsform, wenn er lediglich davon spricht, dass in ihr »der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben [kann]: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« 199 Doch seine Intention ist eindeutig: Sie zielt auf eine Gesellschaftsform, die für den Menschen das von ihm so genannte »Reich der Freiheit« ermöglichen soll. Freiheit im eigentlichen Sinne ist nach Marx nur in der kommunistischen Gesellschaft möglich. »Für den Kapitalismus gilt«, so Harald Bluhm, »nach Marx eine Zunahme von formeller Freiheit sowie formeller Gleichheit bei gleichzeitiger Ausbreitung von Unfreiheit, Ausbeutung und sozialer Ungleichheit.« Dagegen will Marx auf eine »gleichzeitige Steigerung von Gleichheit und Freiheit« hinaus. 200 Nach Marx’ Interpretation gewähren die vom Bürgertum geschaffenen Menschenrechte nicht die Freiheit aller, sondern nur die einer privilegierten Klasse. »Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte.« Die hier herrschende Freiheit ist die zwischen Käufer und Verkäufer: »Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen.« Die Gleichheit ist der Bezug zwischen Warenbesitzer aufeinander, die »Äquivalent für Äquivalent« tauschen. Eigentum meint das bloße Verfügen eines jeden »nur über das Seine«. »Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen.« 201 Die Menschenrechte erscheinen als Ergebnis eines bürgerlichen Freiheitsstrebens, dessen Ziel, die eigene Gewinnmaximierung, juristisch gesichert werden soll. Dagegen zielt Marx’ Denken darauf, dass »die assoziierten Produzenten, [den] Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur wür-

MEW 19, S. 21. Harald Bluhm, Freiheit in Marx’ Theorien, in: Ingo Pies u. Martin Leschke (Hg.), Karl Marx’ kommunistischer Individualismus, Tübingen 2005 (Konzepte der Gesellschaftstheorie 11), S. 57–80, hier S. 60. 201 MEW 23, S. 189–190. 199 200

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digsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn«. Jenseits dieses »Reichs der Notwendigkeit« kann aber »die menschliche Kraftentwicklung [beginnen], die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.« 202 ›Freiheit‹ im marxschen Sinn bedeutet keine egozentrisch-individuelle Selbstentfaltung, sondern ist nur zwischen Individuen auf gemeinschaftlicher Grundlage zu realisieren. »Der Mensch ist,« wie es Hans-Ernst Schiller formuliert, »Gattungswesen, in einem ganz speziellen Sinn: Er ist nämlich seiner selbst nicht nur als Individuum und Mensch (Gattungswesen) bewusst, sondern auch der anderen Lebewesen und Dinge als Gattungen.« 203 Wenn für Marx Freiheit bedeutet, dass »an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen« eine »Assoziation« tritt, in der »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, 204 so koppelt er seinen Freiheitsbegriff an eine bestimmte Vorstellung von Gemeinschaft. 205 Dies mag zunächst als widersprüchlich erscheinen, weil jede Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft die persönliche Freiheit einschränkt: Ein autonom lebendes Individuum scheint zunächst ganz offensichtlich freier zu sein als eines, das sich mit anderen zu einer »Assoziation« verbindet. Dass aber die diesem Einwand zugrunde liegende Freiheitskonzeption in der Praxis gerade nicht zu der Freiheit aller Menschen führt, leitet Marx aus den Widersprüchen des »liberalen« Freiheitsbegriffs der bürgerlichen Menschenrechte ab, der in seinem Urteil de facto allein die Freiheit der »herrschenden Klasse« garantiert. 206 Dieser FreiheitsMEW 25, S. 828. Hans-Ernst Schiller, Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des modernen Individualismus, Berlin 2006 (Transfer aus den Sozial- und Kulturwissenschaften 3), S. 150. 204 MEW 4, S. 482. Im Kapital spricht Marx von einem »Verein freier Menschen […], die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«, MEW 23, S. 92. 205 Zu der Differenz der Freiheitskonzeptionen am Beispiel von Immanuel Kant und Marx siehe Schiller, Das Individuum im Widerspruch, S. 160–161. Siehe auch des Weiteren: Frederick Neuhouser, Marx (und Hegel) zur Philosophie der Freiheit, in: Jaeggi u Loick (Hg.), Nach Marx, S. 25–47. 206 MEW 1, S. 364. Zur Kritik negativer Freiheit siehe Charles Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit, in: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, übers. v. Hermann Kocyba, mit e. Nachw. v. Axel Honneth, Frankfurt a. M. 1992. 202 203

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begriff ist für Marx gewissermaßen Grund allen Übels der bürgerlichen Gesellschaft, da er – als ideologischer Überbau – die realen Ungleichheiten in der bürgerlichen Gesellschaft durch die rechtliche Gleichheit ihrer Mitglieder ebenso zu legitimieren wie zu kaschieren sucht. Weil die bürgerlich-liberale Freiheit nicht zu der tatsächlichen Freiheit eines jeden Einzelnen führt, propagiert Marx eine Form des gemeinschaftlichen Lebens, in der jeder Mensch wirklich frei sein und »seine Anlagen nach allen Seiten hin« ausbilden kann. Doch läuft Marx’ »Betonung sozialer Gleichheit als Voraussetzung von Freiheit […] gleichwohl nicht auf eine strikt egalitäre Konzeption hinaus, da Gleichheit als Bedingung der freien Selbstentwicklung untergeordnet wird und so bekommt die soziale Freiheitskonzeption eine individualistische Komponente.« 207 Seine Position ist daher Bluhm zufolge »jenseits von Individualismus und Kollektivismus«. 208 Das liberalbürgerliche Freiheitsverständnis führte dagegen nur zu einer »scheinbare[n] Gemeinschaft«, die letztlich eine »Vereinigung einer Klasse gegenüber einer andern war« und damit »für die beherrschte Klasse nicht nur eine ganz illusorische Gemeinschaft, sondern auch eine neue Fessel. In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit«. 209 Mit dem Verschwinden der Klassenunterschiede verliert auch »die öffentliche Gewalt den politischen Charakter«, nämlich die »organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern«. 210 Marx lässt es – wie schon angedeutet – allerdings weitgehend unbestimmt, wie die kommunistische Gesellschaft verfasst sein soll. So liefert er im Kapital etwa die recht vage Formulierung, dass die »Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses« als »Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle« stehen soll. 211 Doch wie diese aussehen soll, bleibt weitgehend offen. So fragt Wolfgang Fritz Haug, wie das Ensemble Bluhm, Freiheit in Marx’ Theorien, S. 60. Ebd., S. 61. 209 MEW 3, S. 74. 210 MEW 4, S. 482. Das Proletariat als Klasse hat sich dann ebenfalls selbst aufgehoben: »Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.« Ebd. 211 MEW 23, S. 94. 207 208

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menschlicher Beziehungen untereinander, »ja auch nur unserer Selbstbeziehungen, zu unserer eigenen Natur, wie die Beziehungen zur uns umgebenden Natur, wie […] diese Wirklichkeit ›tagtäglich durchsichtig, vernünftig‹ sein« soll. 212 Die Vorstellung einer »reinen rationalen Transparenz« ist im Grunde eine Illusion und eine Gefahr, weil sie bedeut, dass all die staatlichen und gesellschaftlichen »Strukturen und Institutionen, die nicht mit solcher Einfachheit rechnen, […] nicht nur überflüssig sind, sondern, schlimmer noch, unserm Glück im Wege stehen.« 213 Hierin liegt das Dilemma der marxschen Konzeption von Freiheit. Sie bleibt unterbestimmt und mit ihr kann nicht angegeben werden, wie sich das Zusammenleben »frei vergesellschafteter Menschen« gestalten soll. Dies könne, so Haug, nur das Zusammenleben von »Menschen unter Bedingungen konsensuell hergestellter Vergesellschaftung« sein. »Aber indem dies bei Marx nicht in den Institutionen einer Zivilgesellschaft vermittelt gedacht wird, sondern als Unmittelbares, durch einen unerlaubten Überschuß an unterstellter Transparenz und Vernünftigkeit zu Bewirkendes, entsteht eine Einbruchstelle. Genau dort, wo das Marxsche Denken dem Stalinismus am meisten entgegengesetzt ist, findet der Stalinismus so seine ›Auftreffstruktur‹.« 214 Doch ist mit der vage und unbestimmt bleibenden Vorstellung einer »Assoziation« sich selbst organisierender freier Menschen das Ziel der Geschichte festgesetzt. Mit diesem wird nicht nur das normative Fundament einer fortschrittsorientierten Erzählung der Geschichte gelegt, in der die ›gelungen‹ und ›großen‹ Kunstwerke das Ende der Geschichte vorausahnen lassen (Kapitel 4.2), sondern indirekt lässt sich aus ihm die Vorstellung von einer künstlerischen Praxis in einer Gesellschaft jenseits von Verdinglichung, Ausbeutung, Entfremdung und Klassenkämpfen gewinnen (Kapitel 6.3). c) Die historische Ausrichtung des marxschen Denkens liefert eine Metastruktur, die das sinnvolle Erzählen der Geschichte überhaupt erst ermöglicht und historische Fakten zu bedeutungsvollen 212 Wolfgang Fritz Haug, Muß man den Stalinismus von Marx her denken? Nach dem gescheiterten Umbau – ein scheiternder Übergang?, in: Determinanten der postkommunistischen Situation. Wahrnehmungsversuche (II), Hamburg 1993, S. 119– 140, hier S. 137. 213 Ebd., S. 138. 214 Ebd. Siehe hierzu jüngst Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015, S. 57–64.

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Prozessen verknüpfen lässt. Nicht nur erhalten die einzelnen Werke und Ereignisse einen geschichtshermeneutischen Sinn, sondern diese teleologisch ausgerichtete Metastruktur lässt auch eigentlich erst für den Historiker sichtbar werden, welche Werke und Ereignisse aus der unendlichen Fülle geschichtlicher Gegenstände als bedeutungsvolle herausragen; sie enthält das Kriterium, das Bedeutungsvolles von Belanglosem trennen lässt. Die Geschichte erscheint nicht mehr als undurchdringbares Geflecht, das sich bestenfalls mit ebenso sinn- wie endlosen, positivistisch verfahrenden Chroniken erschließen lässt, sondern als geordnetes Gefüge, in das sich die Musikgeschichte sinnvoll eingliedern lässt. Diese Metastruktur weist starke Affinitäten zum christlich-jüdischen Geschichtsdenken auf, das gleichermaßen die Geschichte als teleologisch ausgerichtet versteht; das Bild der Geschichte, das sich im Anschluss an Marx von der Geschichte zeichnen lässt, erscheint, in der Deutung von Karl Löwith, als säkularisierte Heilsgeschichte: In der »Vorgeschichte«, von der Marx spricht, ist die Ausbeutung einer beherrschten Mehrheit »nichts Geringeres als das radikal Böse«, gewissermaßen die »Erbsünde dieses Äon«, die die moralischen und geistigen Fähigkeiten des Menschen korrumpiert. Gegenüber der ausbeutenden Klasse, die »von ihrem eigenen Lebenssystem nur ein ›falsches‹ Bewußtsein haben« kann, durchschaut »das Proletariat, das von der Sünde der Ausbeutung frei ist, die kapitalistische Illusion zugleich mit seiner eigenen Wahrheit.« 215 Anstelle empirischer Nachweisbarkeit sieht Löwith bei Marx nur einen »offenkundigen Messianismus« als die »wirkliche treibende Kraft« eines aus der Geschichte herausgelesenen Kampfes zwischen »Bourgeoisie« und »Proletariat« mit der »Vorwegnahme seines dramatischen Höhepunktes«. 216 Der »letzte Antagonismus« zwischen Bourgeoisie und Proletariat entspricht in Löwiths Interpretation »dem Glauben an einen Endkampf zwischen Christus und Antichrist in der letzten Geschichtsepoche« und die »Aufgabe des Proletariats der welthistorischen Mission des auserwählten Volkes«. Er analogisiert die »universale

215 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie [1952], Stuttgart u. Weimar 2004, S. 52–53. 216 Ebd., S. 53.

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Erlösungsfunktion der unterdrückten Klasse« mit der »religiösen Dialektik von Kreuz und Auferstehung und die Verwandlung des Reiches der Notwendigkeit in ein Reich der Freiheit [mit] der Verwandlung des alten in einen neuen Äon«. Kurz: Der ganze Geschichtsprozess »spiegelt das allgemeine Schema der jüdisch-christlichen Interpretation der Geschichte als eines providentiellen Heilsgeschehens auf ein sinnvolles Endziel hin«. 217 Nach Löwith ist der historische Materialismus nichts als »Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie« und nur scheinbar eine wissenschaftliche Entdeckung. Tatsächlich ist er »vom ersten bis zum letzten Satz von einem eschatologischen Glauben erfüllt, der seinerseits die ganze Wucht und Reichweite aller Einzelfeststellungen bedingt.« Die »Vision der messianischen Berufung des Proletariats« ermangele jeder Möglichkeit wissenschaftlicher Beweisbarkeit. 218 Diese Deutung des marxschen Geschichtsbildes geht für Bloch entschieden am Kern der Sache vorbei. Ihm zufolge stellt sie einen »radikalen Vernichtungsversuch durch eine Art Plagiatanzeige« dar, die darauf hinauswill, Marx als »Kirchenräuber« zu entlarven. 219 Was Löwith betreibt, ist »Sippenforschung nach der mythologischen Großmutter; dies mindestens mit dem Nebenzweck, den Enkel als einen darzustellen, der altes Tempelgut im doppelten Sinn des Worts verwirtschaftet.« 220 Doch ist, so Bloch, »gerade ein guter Gehalt nicht geschwächt, wenn er berichtigt worden ist.« 221 Worauf Bloch im Gefolge von Marx zielt, ist eine Geschichtserzählung, an deren Ende die Versöhnung des Menschen mit sich selbst steht. Darin liegt ihr entscheidender Optimismus, der es rechtfertigt, mit Referenz auf Hayden White von der marxschen Geschichtserzählung als Komödie zu sprechen (Kapitel 5.2). In dem nach Löwith aus der Geschichte empirisch nicht ableitbaren Optimismus liegt eine der entscheidenden Normen marxistischen Geschichtsdenkens. Doch wäre die Annahme ein voreiliger Kurzschluss, von dieser Norm gingen sämtliche marxistisch orientierte Autoren gleichermaßen aus. Die heftige innermarxistische Befehdung der Frankfurter Schule und insbesondere Adornos gründet darin, dass diesen eine

217 218 219 220 221

Ebd., S. 54. Ebd. Bloch, Das Prinzip Hoffnung 3, S. 1611. Ebd., S. 1612. Ebd.

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pessimistische Grundhaltung unterstellt wird, die der ›säkularen Heilserwartung‹ widerspricht. Diese bewusste Abwertung eines als unorthodox geschmähten Marxismus wird innerhalb der Musikwissenschaft in der Gegenüberstellung von Eisler und Adorno reproduziert (Kapitel 4.2). Lebt Blochs Philosophie geradezu von dem zentralen Motiv der Hoffnung, so schimmert nur in wenigen Momenten bei Adorno der unter gegenwärtigen Bedingungen kaum für realisierbar gehaltene Traum einer versöhnten Gesellschaft hindurch. 222 Vonseiten eines sich orthodox fühlenden Marxismus wird daher die Kritische Theorie bezichtigt, sich »von dem in der revolutionären Arbeiterbewegung wirkenden Marxismus« abzusondern und einen »dekadenten Charakter« zu haben. 223 »Grundsätzliche Aufkündigung jeder kritischen, auf Sprengung der kapitalistischen Verhältnisse gerichteten sozialen Theorie und Methode«, 224 so lautet das Verdikt. Letztlich gerät Adorno unter den Verdacht, in Wahrheit ein Kollaborateur zu sein und die wahren Interessen der Arbeiterklasse zu verraten. Nicht nur liefere er »pessimistische Prognosen über die revolutionäre Perspektive der Arbeiterklasse und aller fortschrittlichen sozialen Kräfte«, sondern fröne zudem einer »falschen, liberal-kulturpessimistischen, subjektivistischen Geschichtstheorie, aus dem Ansatz einer kleinbürgerlichen Resignationsideologie – aus einer antimarxistischen, spätbürgerlichen philosophischen Position«. 225 Adornos Denken soll entlarvt und nicht nur des Pessimismus, sondern auch einer affirmativen Haltung überführt werden: »Die Dialektik und der Materialismus verwandeln sich in ihr Gegenteil: die manipulierte Dialektik soll dazu dienen, eine progressive soziale Änderung des Kapitalismus als unmöglich nachzuweisen.« 226 In der Ästhetik kann diese Adorno und die Frankfurter Schule diskreditierende Gesinnung zu der einseitigen Betonung eines Rea222 Emil Angehrn, Dialektik der Utopie. Von der Unverzichtbarkeit und Fragwürdigkeit utopischen Denkens [2001], in: Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken, Würzburg 2008, S. 151–162, hier S. 158–162. 223 András Gedö, Dialektik der Negation oder Negation der Dialektik, in: von Heiseler u. a. (Hg.), Die »Frankfurter Schule« im Lichte des Marxismus, S. 7–25, hier S. 24. 224 Walter Jopke, Grundlagen der Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie Adornos und Horkheimers, in: von Heiseler u. a. (Hg.), Die »Frankfurter Schule« im Lichte des Marxismus, S. 48–69, hier S. 49. 225 Ebd., S. 52. 226 Ebd., S. 53.

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lismus führen, mit der alles Avancierte als nihilistisch und pessimistisch geschmäht und jeder Pluralismus abgelehnt wird. Leo Kofler spricht avancierter Kunst jedes emanzipatorische Potential ab, empört sich, dass die übersteigerte Selbstbezüglichkeit der avantgardistischen Künstler »Flucht vor aller Verantwortung« bedeute. 227 Wenn Kofler dieser Kunst sein Ideal realistischer Kunst gegenüberstellt, dann rechtfertigt er – bewusst oder unbewusst – prototypisch den Alleingeltungsanspruch eines vermeintlich politisch-ethisch wertvollen Realismus, der sich auf tradierte Mittel und Konventionen stützt und auf eine möglichst große Allgemeinverständlichkeit seines Gehalts hinauswill, ebenso wie die Verdammung avantgardistischer Kunst als bloß formalistisch (Kapitel 3.2): Die »Perspektive« im Sinne von Lukács ist – so Kofler – der »Grundsatz« künstlerischer Gestaltung im Realismus. »Diese Perspektive, durch die zudem auch eine aufklärerische Wirkung auf das Publikum erzielt wird, stellt sich dar als das ästhetische Phänomen des Kampfes – sehr allgemein und abstrakt ausgedrückt – zwischen Gut und Böse, Menschlichem und Unmenschlichem.« Daraus folgert er, dass so die Literatur »zu einer ›moralischen Bühne‹ und zu einem Phänomen der ethischen Entscheidung« wird. 228 Unter den marxistischen Philosophen, die nicht nur zur Kunst im Allgemeinen, sondern vor allem auch zur Musik einen fundamentalen Beitrag geleistet haben, dürfte wohl Ernst Bloch derjenige sein, der den Begriff der Utopie am konsequentesten und nachhaltigsten entfaltet hat. Was sich in der Musik zeigt – wie in Kunst überhaupt – hat die Philosophie begrifflich zu fassen: »Aber nicht nur Kunst, sondern erst recht Philosophie hat jetzt bewußt das aktive Amt des Vor-Scheins und eben des Vor-Scheins eines objektiv-realen Vorscheins als der Prozeßwelt, realen Hoffnungswelt selber.« Bloch denkt diese »reale Hoffungswelt« materialistisch: »Und sie bleibt einzig in der Materie fundiert, als einer gewiß vielförmig bewegten und nicht stereotypen; als dem ebenso gesetzhaft bedingten Nach-Möglichkeit-Seienden wie dem substanzhaft eröffnenden In-MöglichkeitSein. Das Erblicken dieser Genesis ist das Organ der Philosophie; der

227 Leo Kofler, Haut den Lukács. Realismus und Subjektivismus. Marcuses ästhetische Gegenrevolution [1977], in: Avantgardismus als Entfremdung, S. 163–186, hier S. 180. 228 Ebd., S. 168.

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dialektisch gezielte, systematisch offene Durchblick in die tendenzgestaltige Materie ist ihre neue Form.« 229 Das »Fernziel in der gesellschaftlichen Tendenz« bezeichnet Bloch als »Humanum«. 230 Dieses stellt er der Entfremdung gegenüber. »Zwar tritt in späteren Schriften von Marx der Terminus Entfremdung, also die negative Folie zum Humanum, etwas zurück, doch nur als Terminus tritt die Entfremdung zurück und nicht als die vom Humanum gerichtete Sache.« 231 Metaphorisch erläutern die Begriffe der Heimat und des Wohnens dieses »Humanum«: »Menschlichkeit erlangt Platz in wirklich ermöglichter Demokratie; so wie diese selber den ersten humanen Wohnort darstellt.« 232 »Heimat« dient Bloch als Schlusswort von Das Prinzip Hoffnung: »Marx bezeichnet als sein letztes Anliegen ›die Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur‹ ; dieser menschliche Reichtum wie der von Natur insgesamt liegt einzig in der Tendenz-Latenz, worin die Welt sich befindet – visà-vis de tout«. Hat der Mensch sich »erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« 233

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Bloch, Das Prinzip Hoffnung 3, S. 1626. Ebd., S. 1608. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1628.

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3. Ästhetik

Das tragende Fundament des marxistischen Denkens über Kunst ist ein Realismus, der von den Ausgangspunkten, die im zweiten Kapitel vorgestellt wurden, bestimmt wird. Der Materialismus, das in einer bestimmten Werthaltung verankerte dialektische, praxis- und zukunftsorientierte Denken gehen in einen spezifisch marxistischen Realismusbegriff ein. Von einem marxistischen Realismusbegriff im Singular zu sprechen, bedeutet allerdings, auf kaum mehr als auf vage Allgemeinplätze der realistischen Ästhetik zielen zu können. Sinnvoller erscheint es, von marxistischen Realismusbegriffen im Plural auszugehen, die zwar Familienähnlichkeiten aufweisen und von den genannten gemeinsamen Ausgangspunkten ausgehen. Doch divergieren sie vor allem darin, wie weit sie die Koordinaten einer realistischen Ästhetik festschreiben wollen: Ansätze, die ein realistisches Kunstwerk nur dann als ein gelungenes erachten, wenn es einem engen Korsett von Normen genügt, stehen solchen gegenüber, für die der Realismus eine Einstellung des Künstlers gegenüber der Wirklichkeit ist, die zugleich aber offen für die Pluralität artifizieller Ausdruckformen und -bedürfnisse sind. So zeigt sich ein recht breites Spektrum von Realismusbegriffen, deren jeweilige charakteristische Färbung verrät, welcher Tradition innerhalb des marxistischen Denkens sie entstammen. Doch zunächst – vor allen Differenzierungen – lässt sich ein basales Begriffsverständnis umreißen. Im marxistischen Sinne lässt sich dieses folgendermaßen skizzieren: Der geschichtliche Stellenwert einzelner Kunstwerke bemisst sich an der Art und Weise, wie sie die Wirklichkeit zu spiegeln vermögen. ›Realismus‹ bedeutet nicht die ohnehin illusionäre und unerfüllbare Forderung, dass die Kunst die Wirklichkeit ›objektiv‹ wiederzugeben hätte, also ihr exaktes Abbild im Sinne eines reinen Duplikats sein müsse. Ein realistischer Blick auf die Wirklichkeit ist immer der Blick aus einer bestimmten Perspektive – mit der erkenntnistheoretischen Spiegelmetapher lässt sich dieser Sachverhalt beschreiben (Kapitel 2.2). Realistische Kunst ist 79 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

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nicht Sache einer bestimmten Epoche; der Realismusbegriff meint »Prinzipielleres und Allgemeineres als bestimmte Stilrichtungen, Schulen und historische Strömungen«. 234 In der Perspektive, aus der Kunst die Wirklichkeit spiegelt, soll sich zudem nicht nur eine bestimmte »Wertorientierung« niederschlagen, sondern darüber hinaus auch eine bestimmte »Handlungsausrichtung«: 235 Realistische Kunst soll nicht nur über die Konflikte und Widersprüche der Wirklichkeit aufklären und diese zugleich werten, sondern beim Rezipienten einen Bewusstseinswandel provozieren und ihn zu einem bestimmten gesellschaftlichen und politischen Handeln stimulieren. 236 Für die Musik bedeutet dies, dass »das thematische Material einer Komposition und die Verarbeitung mehr als nur ein Spiel mit Tönen« verkörpert. 237 Was in derjenigen Musik, die sich im historischen Rückblick als bedeutende herauskristallisiert, eigentlich sich ereignet, ist – wenn auch nur »in letzter Instanz« – gesellschaftlich bedingt und zugleich nicht der Spiegel eines beliebigen und zufälligen Ausschnitts der Wirklichkeit, sondern der wertende ›Kommentar‹ zu einem signifikanten Wirklichkeitsbereich. Damit wird Musik zum Ausdruck eines Weltbildes. 238 »Wollen wir aufschlüsseln,« so Georg Knepler, »was in Partituren steckt, denen aus unseren Tagen und denen der Vergangenheit, wollen wir verstehen, was uns aus der Welt musikalischer Klänge tönend entgegentritt, müssen wir uns von Theorien lösen, die Kunst und Gesellschaft als zwei autonome Gebiete behandeln möchten; in Praxis sind sie es nicht.« 239 Dies zu postulieren ist nun ungleich einfacher, als an konkreten Werken nachzuweisen, wie sich in ihnen die Konflikte und Widersprüche der Gesellschaft widerspiegeln und die Werke zugleich eine Richtung zeigen, die aus diesen Konflikten und Widersprüchen herausführen soll. Aus Marx’ Denken selbst lässt sich kein wie auch immer näher bestimmter ästhetischer Realismus direkt ableiten. Grundzüge einer 234 Erwin Pracht (Leiter des Autorenkollektivs), Ästhetik der Kunst, Berlin 1987, S. 417. 235 Ebd., S. 429–430. Siehe auch Pracht, Sozialistischer Realismus und Leninsche Abbildtheorie, S. 759–760. 236 Ebd., S. 430. 237 Gerd Schönfelder, Zur Frage des Realismus bei Mendelssohn, in: BzMw 14 H. 3 (1972), S. 169–183, hier S. 169. 238 Georg Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977, S. 191 u. S. 197–198. 239 Ebd., S. 362–363, siehe auch S. 420.

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Ästhetik können nur interpretierend aus den marxschen Schriften gewonnen werden. Das aus diesen verschiedene Realismuskonzeptionen entwickelt wurden, mag zum einen das auf Aufklärung und praktisch-politische Wirksamkeit zielende Denken von Marx nahelegen; aber die Fixierung auf ein bestimmtes Realismuskonzept – gleich welcher Art –, das zum Leitfaden für die Bewertung artifizieller Leistungen genommen wird, ist mit seinem Denken kaum vereinbar. 240 Denn welche Form von Kunst aufklärerisch und politisch Wirksam ist, mit welchen Mitteln und auf welche Weise sie das ist, steht durchaus nicht fest. Der Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen und Bedürfnisse, für die sich das marxsche Denken sensibel zeigt, 241 kann gewiss nicht mit einem künstlerischen Konzept allein begegnet werden. Zum anderen konnte sich der Realismus als ›die‹ marxistische Ästhetik vor allem auch deshalb etablieren, weil bereits existierende Realismuskonzepte als Ausgangspunkte zur Verfügung standen. Der künstlerische Realismus selbst hat eine weit über den Marxismus hinausgehende Geschichte, die hier nicht darstellbar ist. Wenigstens ein Hinweis auf seine Herkunft aus dem 19. Jahrhundert soll die spätere Verwendung seines Begriffs verständlich machen. Die Interpretation der »ästhetischen Kultur des Vormärz« von Wolfgang Heise mag Überzeichnungen enthalten, doch lassen diese vielleicht gerade die Verbindungen zu dem hier zu diskutierenden Realismusbegriff hervortreten. Für Heise steht die innere Verwandtschaft dieser Epoche mit der Gegenwart geradezu fest. 242 Weil im Vormärz die Künstler sich bewusst der »gesellschaftlichen Wirklichkeit als Objekt der Darstellung, Erkenntnis und Veränderung« zugewandt haben, diese zum Gegenstand der Kritik durch politisierte Kunst geworden ist, 243 kann er in ihr gar den Beginn der »Entwicklung der ästhetischen Theorie« verorten. Kunst ist nun nicht mehr Sache einer »zweiten Welt«, sondern Ausdruck der »Dialektik von Zustand und Perspektive, Ideal und Wirklichkeit in der ästhetischen Reflexion«. 244 Mitte des 19. Jahrhunderts wird der realistische Anspruch insbesondere greifbar bei Gustave Courbet, dessen gegen geltende Normen gewandte Bilder mit dem Anspruch auf gesellschaftspolitische Veränderungen auftreSiehe hierzu Kapitel 6.3. Siehe S. 30 ff. dieser Arbeit. 242 Wolfgang Heise, Zur ästhetischen Kultur des Vormärz [1977], in: Realistik und Utopie, S. 288–304, hier S. 298. 243 Ebd., S. 292. 244 Ebd., S. 303. 240 241

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ten. 245 Über die bloße Wiedergabe der Wirklichkeit hinaus soll Kunst Erkenntnis vermitteln und aufklärerisch wirken. 246 Realistische Kunst forciert nach Courbet letztlich eine demokratische Gesinnung: »Indem ich das Ideal sowie alles ablehne, was daraus folgt, gelange ich zur vollen Selbstbefreiung des Individuums bis hin zur Verwirklichung der Demokratie. Der Realismus ist seinem Wesen nach die demokratische Kunst.« 247 Mit Aristoteles spielt in marxistische Realismusdiskurse allerdings eine zweite Vorlage hinein, die auf den ersten Blick nicht so naheliegend zu sein scheint wie Kunst des 19. Jahrhunderts. Zu den Konstanten der Rezeption seines Denkens gehört es, es gegenüber dem platonischen aufzuwerten und als realistisch zu feiern. 248 Entsprechend einer gegenüber der Zeit Platons fortgeschritteneren Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge und ihren sozial-ökonomischen Bedingungen war es Aristoteles möglich, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit zu reflektieren und auch auf ästhetischem Gebiet fortschrittlich zu reagieren. Mit seiner Lehre von der ästhetischen mìmēsis lieferte er eine realistische Grundlage für die Abbildtheorie der Musik; seine Auslegung der kátharsis stellte die Läuterung des Menschen zum gesellschaftlichen Wesen zur Diskussion; das von ihm angeregte Verständnis für die Wirkung der Musik auf die Affekte wurde die Grundlage für eine Hauptrichtung der Musikästhetik, die maßgeblich zur Durchsetzung der Realismus in der Musik beitrug. 249

Im Grunde scheint das im marxistischen Denken entwickelte begriffliche Arsenal ausreichend zu sein, 250 um eine Musikästhetik zu entwerfen, nach der Musik einen abbildenden Bezug zur Realität hat und zu dieser zugleich Stellung nimmt, sie also nicht lediglich kopieren will. Daher wäre es nicht notwendig, sich für dieses Anliegen zusätz245 Klaus Herding, Mimesis und Innovation. Überlegungen zum Begriff des Realismus in der bildenden Kunst, in: Klaus Oehler (Hg.), Zeichen und Realität 1, Tübingen 1984 (Probleme der Semiotik 1), S. 83–113, hier S. 85–86. 246 Ebd., S. 86 u. S. 102. 247 Gustave Courbet, Realismus und Demokratie. Courbets Rede in Antwerpen [1861], zit. n.: Klaus Herding (Hg.), Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malerei, Frankfurt a. M. 1978, S. 28. 248 Juri N. Dawydow, Die Kunst als soziologisches Phänomen. Zur Charakteristik der ästhetisch-politischen Ansichten bei Platon und Aristoteles, aus d. Russ. übers. v. Hartmut Herboth, Dresden 1974, S. 197–202. 249 Siegfried Bimberg, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der Musikästhetik, Leipzig 1979, S. 318. 250 Siehe Kapitel 2.

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lich auf Aristoteles zu berufen – zumal dann nicht, wenn die Übertragung des aristotelischen Mimesis- und Ethosbegriffs in einen marxistischen Kontext zu teils erheblichen Spannungen und Umdeutungen führen muss. Es ist hier nicht zu entscheiden, ob die vielleicht naheliegende Erklärung zureffend sein könnte, Aristoteles liefere letztlich nur die entscheidende, über den Kreis marxistischer Denker hinausragende rechtfertigende und legitimierende Autorität. Festzuhalten ist zunächst nur, dass die Begriffe Mimesis und Ethos in einem bestimmten – von Aristoteles mitunter abweichenden – Verständnis von der marxistischen Ästhetik in Beschlag genommen werden. 251 Damit der Mimesisbegriff (Kapitel 3.1) verwendbar wird, muss er so verstanden werden, dass er einen unmittelbaren Bezug zur menschlichen Lebenspraxis aufweist und die Forderungen des Realismus erfüllt: Musik bildet die Wirklichkeit nicht nur ab, sondern nimmt zu ihr Stellung. Hierin besteht sein Zusammenhang mit dem Ethosbegriff (Kapitel 3.2). 252 Für das realistische Denken in dem oben angedeuteten Sinn bietet sich Aristoteles insofern an, als ihm Mimesis auch Erkenntnis bedeutet. 253 Der Erkenntnischarakter erhebt die Kunst sogar über die Geschichtsschreibung, denn die »Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar.« 254

3.1 Mimesis Für die hier zur Diskussion stehenden Beiträge erscheint Aristoteles deshalb attraktiv, weil sich sein Denken scheinbar problemlos zum einen als Referenz für die Verknüpfung von Mimesis und Ethos im marxistischen Sinne heranziehen lässt: Die sich auf seine »Ethoslehre« und seine »Lehre von der Nachahmung« berufenden »ästhetischen Lehrgebäude […] enthielten«, so Siegfried Bimberg, »immer von beiden Tendenzen und dem jeweiligen Dominieren dieser oder

251 Siehe exemplarisch Friedrich Tomberg, Mimesis der Praxis und abstrakte Kunst. Ein Versuch über die Mimesistheorie, Neuwied u. Berlin 1968. 252 Aristoteles, Nikomachische Ethik, nach d. Übers. v. Eugen Rolfes bearb. v. Günther Bien, Hamburg 1995 (Philosophische Schriften 3), 1095a. 253 Aristoteles, Poetik, übers. u. erl. v. Arbogast Schmitt, Berlin 2008 (Werke in deutscher Übersetzung 5), 1448b. 254 Ebd., 1451b.

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jener Aspekte ihr Gepräge«. 255 Zum anderen liefert Aristoteles die philosophiegeschichtliche Referenz für einen – tatsächlichen oder konstruierten – Gegensatz zum platonischen Idealismus. So stellt er für eine aus Körperlichkeit, Sinnlichkeit und menschlicher Lebenspraxis abgeleitete Ästhetik scheinbar die passenden Begriffe bereit, mit denen zugleich sich Stellung gegen »idealistische Irrtümer« beziehen lässt. 256 Das Zusammendenken von Mimesis und Ethos bei Aristoteles wird im Sinne des Grundsatzes realistischer Kunst gedeutet, die Wirklichkeit zwar wahrheitsgetreu abzubilden, zugleich aber in aufklärender und erziehender Absicht zu ihr Stellung zu nehmen. Mimesis und Ethos – das »Nachahmen« und »Charakterbildung« zu politischen Zwecken – werden als zwei notwenig aufeinander angewiesene Aspekte einer Ästhetik verstanden, von denen im folgenden Kapitel das Ethos, hier die Mimesis diskutiert werden soll. Mit seiner Fassung des Mimesisbegriffs hat Aristoteles, so Bimberg »neue, gültige Grundlagen für die Musikästhetik zur Diskussion« gestellt, die »ihren Ausgangspunkt in der objektiven Wirklichkeit hatten, als Abbildungstheorie einen tragfähigen materialistischen Ansatz enthielten und Ausgangspunkt für eine realistische Musikbetrachtung waren.« 257 Dénes Zoltai meint dagegen schlicht, Aristoteles habe mit der »Ausarbeitung des Prinzips der ästhetischen Mimesis« die »noch heute gültigen Grundlagen der Abbildungstheorie« geschaffen. 258 Wie sehr letztlich die marxistische Ästhetik in ihrer Fixierung auf Abbild und Widerspiegelung von Aristoteles als Referenz und Autorität abhängig war, zeigt die erhebliche Provokation, die Harry Goldschmidt auslöste, als er seine »Gedanken zu einer nicht-aristotelischen Musikästhetik« auf dem Zweiten Internationalen Seminar marxistischer Musikwissenschaftler vortrug. 259 Siegfried Bimberg, Kontrast als musikästhetische Kategorie, Berlin 1981, S. 52. Dénes Zoltai, Ethos und Affekt. Geschichte der philosophischen Musikästhetik von den Anfängen bis zu Hegel, übers. v. Béla Weingarten, dt. Bearb. v. Heinz Pepperle u. Katharina Ochsenreiter, Berlin 1970, S. 35–36; Alexander Farbstein, Realismustheorie und Probleme der Musikästhetik, hg. v. Eberhard Lippold, übers. v. Ernst Kuhn, Berlin 1977, S. 43; Bimberg u. a. (Hg.), Handbuch der Musikästhetik, S. 30 u. S. 315–316. 257 Bimberg, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der Musikästhetik, S. 316. 258 Zoltai, Ethos und Affekt, S. 39. 259 Harry Goldschmidt, Gedanken zu einer nicht-aristotelischen Musikästhetik, in: BzMw 7 H. 4 (1965), S. 387–395. Siehe hierzu Lars Klingenberg, Die Debatte um Eisler und die Zwölftontechnik in der DDR um 1960, in: Berg u. a. (Hg.), Zwischen Macht und Freiheit, S. 39–62, hier S. 47–48. 255 256

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»Mimesis« 260 – in seinem marxistisch-materialistisch geprägten Sinn – wird zum Zentralbegriff, mit dem Musik mit menschlicher Lebenspraxis vermittelt gedacht werden soll: Musik ahmt nach; und als Objekt der Nachahmung kommen das physische wie psychische Sein des Menschen, seine Körperlichkeit, seine soziokulturelle Situiertheit usf. ebenso infrage gesellschaftlich-politische Sachverhalte: Selbst dann, wenn der Komponist sich bei seiner Arbeit in einem gesonderten, hermetisch geschlossenen Raum rein innermusikalischer Fragen vermeint, soll seine Musik zum unbewussten – wie auch immer vermittelten – Abbild einer äußeren Realität werden. In diesem Sinne sieht Günter Mayer rückblickend »das Theorem von der realitätsfernen, autonomen, ›reinen‹, absoluten Musik« als den zentralen Kritikpunkt marxistischer Zugriffe auf die Musikgeschichte, 261 wohingegen sich diese von dem Anspruch leiten ließen, jenes »Außermusikalische« in das Verständnis des Werks hineinzuholen, von dem sich die »bürgerliche Musikwissenschaft« – wie Knepler moniert – immer sorgfältiger abgegrenzt und sich damit der Möglichkeit beraubt habe, die »eigentlichen Probleme der Musikgeschichte auch nur zu stellen«. 262 Für Aristoteles bedeutet Mimesis auch Erkenntnis, Charakterbildung und Erziehung: Nachahmen in der Dichtung bedeutet ihm zugleich – wie er es in seiner Poetik formuliert – Erkenntnis und Lernen, 263 weshalb er die Poesie philosophisch höher gewichtet als die Geschichtsschreibung, da letztere nur das Einzelne darstellen könne, erstere dagegen auf das Allgemeine ziele. 264 Dabei verwendet Aristoteles den Mimesisbegriff in einer relativen Offenheit. Nicht ahmen nur sämtliche Künste nach – je den ihnen innewohnenden Vermögen entsprechend –, auch der Gegensand der Nachahmung steht nicht von vornherein fest: »Epische und tragische Dichtung also, außerdem die Komödie, die Dithyrambendichtung und | der grö260 »Mimesis« wird als gemeinsamer Begriff für die im Folgenden zu differenzierenden Konzepte verwerndet. Zu der begrifflichen Unterscheidung zwischen »Mimesis«, »Nachahmung«, »Ausdruck« und »Intonation« siehe Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität, S. 9–31. 261 Günter Mayer, Marxistische Ansätze in der Musikforschung? Rückblicke – Stationen – Ausblicke, in: Petr Macek (Hg.), Der Sinn (oder Un-Sinn?) der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts/Musikwissenschaft an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, Brno 2001, S. 219–225, hier S. 219. 262 Knepler, Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 1, S. 7. 263 Aristoteles, Poetik, 1448b. 264 Ebd., 1451b.

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ßere Teil der Kunst des Aulos- und des Kitharaspiels sind grundsätzlich alle Nachahmungen.« 265 Jedoch unterschieden sich die Künste »in dreifacher Hinsicht: dadurch, dass sie in verschiedenen Medien nachahmen, dadurch, dass sie Verschiedenes, oder dadurch, dass sie auf verschiedene Weise, d. h. nicht im selben hDarstellungs-i Modus nachahmen.« 266 »Nachahmung« wird nicht auf Kunst reduziert, die sich gewissermaßen »malend« oder »imitierend« auf einzelne, isolierte Objekte der Realität bezieht: Auch etwa die Tragödie als ganze ahmt nach. Sie ist »Nachahmung einer bedeutenden Handlung, | die vollständig ist und eine gewisse Größe hat.« 267 Deutlicher stellt Aristoteles den Praxisbezug der Mimesis am Ende der Politik heraus – und zwar in Bezug auf die Musik, die für ihn ein Mittel zur Erziehung der Jugend darstellt. Zum einen seien in den Melodien Nachahmungen ethischer (»charakterlicher«) Vorgänge enthalten. 268 Zum anderen habe sie eben dadurch das Vermögen, dem Gemüt »eine bestimmte sittliche Beschaffenheit zu geben«; 269 allerdings nur unter der Bedingung der richtig gewählten Tonart. 270 Die nachahmende Dichtung wird so zu einer besonderen Form der Erkenntnis (theōría), die dem Handeln (práxis) und Machen (poíēsis) gegenübersteht. 271 Poetische Erkenntnis als »konkrete, gefühlsrelevante und formstiftende Erkenntnis« 272 zeichnet sich weiterhin dadurch aus, dass sie im Gegensatz zur Erkenntnis in der Rhetorik und in der Wissenschaft »weder eine ›epistemische‹ Reduktion konkreter Gegenstände auf abstrakte Begriffe vornimmt noch […] sich von den mit dem unmittelbaren Erleben verbundenen Gefühlen löst und ihnen wie ein unbeteiligter Beobachter gegenübersteht.« 273 Der recht weit gefasste aristotelische Mimesisbegriff wird nun im marxistischen Sinne umgedeutet, was mit einer teilweisen Einengung des Begriffs auf nur bestimmte Bereiche des Abbildens einhergeht. 274 Nachahmung in Aristoteles’ Sinne meint die »VerwirkEbd., 1447a. Ebd. 267 Ebd., 1449b. 268 Aristoteles, Politik, 1340a 39. 269 Ebd., 1340b 11 f. 270 Ebd., 1342a 2, u. 1342a 27 f. 271 Aristoteles, Poetik, Zitat aus der Einleitung von Arbogast Schmitt, S. 92. 272 Ebd., S. 97. 273 Ebd., S. 98. 274 Siehe die heftige Kritik von Vladimir Karbusicky, Grundriß der musikalischen Semantik, Darmstadt 1986 (Grundrisse 7), S. 178–183. 265 266

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lichung eines Möglichen«, nicht die Abbildung einer schon bestehenden Sache. 275 »Das Maß, an dem sich diese Verwirklichung orientiert, sind die Handlungspotenzen eines Menschen (und insgesamt: des Menschen). Was in diesem Sinn möglich ist, das verwirklicht die Dichtung, ob es im wirklichen Leben möglich ist oder nicht.« 276 Sein Nachahmungsbegriff weicht daher von jenem ab, der sich mit der Renaissance durchgesetzt hat. 277 So kann der Aristotelische Mimesisbegriff kaum als Grundlage marxistischer Ästhetik dienen, obgleich es Affinitäten gibt: nämlich dann, wenn Kunst im utopischen Sinne etwas Mögliches zur sinnlichen Darstellung bringen soll. Doch schon in dem Moment, in dem einem Kunstwerk Dokumentcharakter zugesprochen werden soll, treten unübersehbar Spannungen zutage. Hinzu kommt, dass das marxistische Abbilddenken zu weiten Teilen aus einem materialistischen Wirklichkeitsverständnis resultiert, für das die Herleitung musikalisch-mimetischer Phänomene aus der menschlichen Sinnlichkeit und Körperlichkeit und den sich aus diesen entwickelnden Kommunikationsprozessen grundlegend ist: Wenn Musikwerke mimetisch zur Lebenspraxis sich verhalten, so sind sie darin das späte artifizielle Resultat vorangehender unmittelbar sinnlich-körperlicher Widerspiegelungsphänomene. »Entstanden ist die Ästhetik als Diskurs über den Körper« stellt Terry Eagleton in seiner Ästhetik fest. Er verweist auf Alexander Baumgarten, der den Begriff »nicht in erster Linie auf die Kunst, sondern (wie das griechische Wort aishesis nahelegt) auf den gesamten Bereich menschlicher Wahrnehmung und Empfindung im Gegensatz zum vergeistigten Bereich begrifflichen Denkens« bezogen habe: 278 Die Unterscheidung, die der Begriff »ästhetisch« in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzt, bezieht sich nicht auf die Trennung von »Kunst« und »Leben«, sondern auf die von Materiellem und Immateriellem, von Dingen und Gedanken, von Empfindungen und Vorstellungen, von dem, was mit unserem kreatürlichen Leben zusammenhängt, und dem, was im Gegensatz dazu im Inneren unseres Geistes eine eher schattenhafte Existenz führt. 279

275 276 277 278 279

Aristoteles, Poetik, Zitat aus der Einleitung von Arbogast Schmitt, S. 118. Ebd., S. 119. Ebd., S. 118. Eagleton, Ästhetik, S. 13. Ebd.

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So wollen materialistisch verfahrende Methoden zunächst Ausdrucksmomente und Kommunikationsqualitäten von Musik aus ursprünglichen, sinnlich-körperlichen, noch nicht artifiziellen Lebensäußerungen des Menschen ableiten. Musik kann dann nicht mehr allein als Werk oder Geistesleistung eines autonomen Subjekts gelten, sondern ist immer auch Ergebnis menschlicher Körperlichkeit und Ausdrucks-, Mitteilungs- und Kommunikationsbedürfnissen. Dieser Ansatz ist nicht erst im Marxismus erfunden worden, doch scheinen andere Vorbilder naheliegender zu sein als Aristoteles: So will Johann Gottfried Herder Wirkung und Verständlichkeit der Musik mit rein körperlichen Prozessen erklären. 280 Auch er meint im Menschen kein autonomes Subjekt verorten zu können, sondern nur die Selbsttätigkeit von Kräften der Seele. Die Kräfte, die aus den Außen- und Weltbezügen des Subjekts resultieren, wirken gewissermaßen rein mechanisch, sodass kein sie steuerndes Subjekt angenommen werden kann. 281 Entsprechend will er die Wirkung der Musik auch in körperlichen Prozessen verankern. »Die unmittelbare Gefühlsverständlichkeit der Töne, ihre ›sympathetische Wahrheit‹, an der alle Lebewesen partizipieren, erklärt sich Herder […] aus dem Resonanzprinzip, der naturnotwendigen Wechselwirkung gleichschwingender Saiten.« 282 »Klang und Gang und Rhythmus«, so Herder »bedeuten nicht nur, sondern sind Schwingungen des Mediums sowohl als unsrer Empfindungen; daher ihre innigere Wahrheit, ihre tiefere Wirkung.« 283 Weil Musik einen Empfindungsverlauf nicht bloß nachahmt, sondern mit ihm identisch ist, ermöglicht und garantiert das sympathetische Mitempfinden, dass Musik verständlich sein und durch sie kommuniziert werden kann. Mit der Annahme, Musik und Affektgebärde seien im »Mechanismus einer sowohl physischen wie seelischen ›Ansteckung‹ qua Resonanz« gemeinsam fundiert, 284 deutet Herder die Musik als Ergebnis der Naturbestimmtheit des Menschen. Seine Gemütserregungen und seine Körperlichkeit wer280 Arne Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker, Stuttgart 2006 (BzAfMw 58), S. 47–59. 281 Christoph Menke, Subjektivität, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden (Studienausgabe), Bd. 5, Stuttgart u. Weimar 2010, S. 734–786, hier S. 752–755. 282 Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form, S. 47. 283 Zit. n. ebd. 284 Ebd., S. 56.

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den gewissermaßen direkt mit der Musik selbst kurzgeschlossen, ohne einen Umweg über eine mehr oder minder artifizielle Affektnachahmung nehmen zu müssen. Mit dem Verständnis des Komponierens als »Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material« 285 wird letztlich jene ästhetische Position benannt, die der hier zu diskutierenden Tradition genau gegenübersteht. Der Hanslick-Antipode Friedrich von Hausegger will den Inhalt von Musik gerade nicht als »tönend bewegte Form« 286 verstanden wissen, sondern als Ausdruck, der in ursächlicher Beziehung zu organischen wie physischen und psychischen Zuständen und Prozessen steht. 287 Er will bis »zu den ersten Anfängen« der Musik zurückgehen, um eine Verbindung zwischen gewissermaßen natürlichen Lautäußerungen und artifizieller Musik herstellen zu können. 288 Die musikalische Umsetzung dieser zunächst rein physischen Prozesse wird in der hier zu diskutierenden materialistischen Tradition als Intonation bezeichnet. Die Definitionen von Intonation weichen zwar mehr oder minder voneinander ab, 289 doch lässt sich ein begrifflicher Kern fixieren: Intonation meint ein musikalisches Modell, das einem Motiv oder einem Thema im Umfang zwar ähnlich ist, diesen als konstruierten Artefakten aber vorausgeht. Es besteht neben Melodie und Rhythmus auch aus charakteristischen Färbungen und Artikulationen – Dynamik, Timbre, Kolorit usf. –, die es unverwechselbar und zugleich intersubjektiv verständlich machen. Innerhalb eines bestimmten sozialen Rahmens hat eine Intonation wenn nicht eine identische, so doch weitgehend gleich bleibende Bedeutung. 290 Damit – über einen längeren historischen Prozess – Intonationen überhaupt einen mehr oder minder distinkten Gehalt in sich aufnehmen konnten, wird für sie ein gemeinsamer Ursprung von Musik und Sprache postuliert:

285 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, in: Vom Musikalisch-Schönen. Aufsätze. Musikkritiken, hg. v. Klaus Mehner, Leipzig 1982, S. 33–145, hier S. 77 286 Ebd., S. 74. 287 Friedrich von Hausegger, Die Musik als Ausdruck, hg. von Elisabeth Kappel u. Andreas Dorschel, Neuausgabe der 2., verm. u. verb. Aufl. 1887, Wien u. a. 2010 (Studien zur Wertungsforschung 50), S. 20. 288 Ebd., S. 18–19. 289 Siehe Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität, S. 29. 290 Siehe die referierten Definitionen ebd.

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Intonieren als ›Sinngebung klanglichen Geschehens‹ ist eine in der Anthropogenese entstandene Fähigkeit akustischer Ausdrucksbewegung […], die sich auf der Grundlage der Herausbildung des Denkens zunächst in synkretischer Gemeinsamkeit mit der Sprache entwickelt, sich dann aber allmählich von dieser absondert, ohne sich jemals total von ihr zu trennen. Während sich die Sprache zum Zeichensystem für Denkresultate und Gedankeninhalte (als ›Knotenpunkte des Sinngehalts‹) entwickelt, folgt das Intonieren dem prozessualen Verlauf, d. h. dem psychophysischen Tonus der eigentlichen Denktätigkeit, die einen ›melischen‹, dynamischen, dialektisch widersprüchlichen Charakter besitzt, mit ›muskulären Spannungen‹ und mit dem Atem verbunden ist. Die ›punktuellen‹ Begriffe der Sprache abstrahieren notwendig vom dialektischen Widerspruch, die Intonation dagegen existiert nur als dialektische Beziehung zwischen zwei oder mehreren klanglichen Elementen. 291

Geprägt wird der Intonationsbegriff zunächst durch seine Verwendung von Boris W. Assafjew. »In der Musik ist das Im-Ton-sein, d. h. das richtige Intonieren, ein Gesetz der Intonation als Äußerung des Denkens und Fühlens in der verbalen wie auch in der musikalischen Sprache.« 292 Die Intonation wird als ein zeitlicher Prozess verstanden, in dem sich Denken und Fühlen musikalisch widerspiegeln sollen. Diesen Prozess will Assafjew auf körperliche Bewegungen, 293 auf die menschliche Stimme und den menschlichen Atem zurückführen. 294 Letzteren erachtet er dabei als elementar. Seine Konstitution prägt die Form der Melodiebildung in ihrer Gestalt und Dynamik. Ob dabei der Körper sich in Ruhelage oder in Bewegung befindet, beeinflusst maßgeblich das musikalische Resultat: »Lyrisch-erzählende Lieder, Tanzlieder sowie mit diesen oder jenen Arbeitsprozessen zusammenhängende Lieder werden jeweils auf andere Art gestaltet und weisen nicht nur rhythmisch-konstruktive Unterschiede auf, sondern besit-

291 Eberhard Lippold, Einige Bemerkungen zu Geschichte und Perspektiven materialistischer Ansätze in der Musikästhetik, in: Wolfgang Martin Stroh u. Günter Mayer (Hg.), Musikwissenschaftlicher Paradigmenwechsel? Zum Stellenwert marxistischer Ansätze in der Musikforschung, Oldenburg 2000, S. 122–131, hier S. 127. 292 Boris Assafjew, Die musikalische Form als Prozeß, hg. v. Dieter Lehmann u. Eberhard Lippold, Übers. aus d. Russ. v. Ernst Kuhn, Berlin 1976, S. 231. Zu Assafjews Intonationsbegriff siehe Eberhard Lippold, Intonation und Widerspiegelung. Neue Gedanken zu einem alten Problem, in: Harry Goldschmidt u. Georg Knepler (Hg.), Musikästhetik in der Diskussion. Vorträge und Diskussionen, Leipzig 1981, S. 11–29, hier S. 17–19. 293 Assafjew, Die musikalische Form als Prozeß, S. 211–212. 294 Ebd., S. 212–213.

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zen auch einen anderen Intonationscharakter.« 295 Um das Entstehen der Musik begreifen zu können, ist Assafjew zufolge auf Klangäußerungen – Signale – innerhalb eines sozialen Kommunikationssystems zurückzugehen. Diese Klangäußerungen haben sich »im Gedächtnis als konstante Grundbeziehungen zweier oder mehrerer zu intonierender Element fixiert«. 296 Einher gehen Assafjews zunächst beschreibenden Aussagen – ob zutreffend oder nicht – mit einer Abwertung all jener Musik, die er verdächtigt, sich von dieser anthropologischen Grundlage der Musik zu entfernen: »Der Begriff Intonation als Sinngebung von Tonbeziehungen im Klanggeschehen versteht gesellschaftliche Determiniertheit und soziale Rechtfertigung als höchstes Kriterium jeder musikalischen Erscheinung.« Er liefert eine willkommene Rechtfertigung für das Vorgehen orthodoxmarxistischer Kunstwächter, jene Musik, die der Verweigerung ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung bezichtigt wird, als mindere Kunstform abzuwerten oder als formalistisch zu schmähen: »Weder eine abstrakte Architektonik noch abstrakte visuelle Formschemata, sondern das Gehör wird in der Musik zum Maß aller Dinge.« 297 Zum einen ist dies mit dem Denken von Marx kaum zu vereinbaren. Zum anderen zeigt sich hier die Nähe zu der schon referierten Position in der jüngeren Musikanthropologie, 298 in der eine nur schmale Bandbreite vergleichbarer musikalisch-artifizieller Ausdrucksmöglichkeiten wertgeschätzt werden. Assafjews psychologische und anthropologische Herleitung musikalischer Spannungs- und Entspannungsprozesse legen einen Vergleich mit Ernst Kurths Energiebegriff aus seinen Grundlagen des linearen Kontrapunkts nahe, 299 der aber gegenüber dem Ansatz Assafjews von marxistischer Seite abgewertet wird, weil nur dieser als genuin materialistischer den Anforderungen der Widerspiegelungstheorie genügen könne. 300 So läuft Goldschmidt zufolge die kurthsche Musikpsychologie auf »reine Metaphysik« hinaus; und die psychischen Energien, die Strebungen und Spannungsverläufe würden

Ebd., S. 32. Ebd., S. 210. 297 Ebd., S. 219. 298 Siehe Seite 27 ff. dieser Arbeit. 299 Ernst Kurth, Grundlagen des linearen Kontrapunktes. Bachs melodische Polyphonie, 2. Aufl., Berlin 1922. 300 Bimberg, u. a. (Hg.), Handbuch der Musikästhetik, S. 59 u. S. 427. 295 296

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letzten Endes allein »als Vorgänge einer musikalischen Innendynamik abgehandelt«. 301 Die Herleitung der Musik aus sozialen und körperlichen Prozessen beschreibt Knepler als musikalischen Realismus: »Realismus« meint nicht eine Qualität allein dieser oder jener Komposition, sondern eine prinzipielle Relation von Musik zur Wirklichkeit, da sie aus der menschlichen Lebenspraxis historisch selbst sich herleitet. 302 Doch soll Knepler zufolge Musik nicht unmittelbar aus dem Alltagsleben abzuleiten sein, so wie sie Karl Bücher aus rhythmisch organisierter Arbeit ableiten wollte. 303 Stattdessen rekurriert er auf körperliche Bedingungen der Musikentstehung, wenn er drei Verfahrensweisen benennt, »aus deren Vereinigung das neue menschliche Kommunikationssystem Musik zustande gekommen ist«. In diesem sind sowohl historisch und regional indifferente Universalien nachweisbar, als auch »Besonderheiten, Normen, Regeln einzelner Musiken«. Diese drei Verfahrensweisen seien »mimeogene, biogene und logene Verfahrensweisen; dementsprechend gibt es in Musik mimeogene, biogene und logogene Elemente«. 304 »Mimeogene akustische Verfahrensweisen« sind Nachahmung im weitesten Sinne (Stimmen, Umweltgeräusche usf.), »biogene Verfahrensweisen« Ausdruck »innerer Gestimmtheiten« (Emotionen) und »logoge« sind sprachähnliche Elemente, in denen nach Knepler die gemeinsamen Wurzeln von Sprache und Musik liegen können. 305 »Die Vermutung liegt nahe, daß die Normen und Regeln der verschiedenen Musikkulturen den Bemühungen entsprungen sind, die heterogenen Elemente zu musikalisieren und in ein ästhetisches System zusammenzuschweißen.« 306 Ähnlich wie Assafjew geht Knepler von einer ursprünglichen Gemeinsamkeit von Sprache und Musik aus – einer Vorstellung, die spätestens seit Jean-Jacques Rousseau ausgearbeitet worden ist. Knepler zufolge haben sich aus einem ursprünglichen, nicht artifiziellen akustischen Kommunikationssystem sowohl Sprache als auch Harry Goldschmidt, Zur Methodologie der musikalischen Analyse, in: BzMw 3 H. 4 (1961), S. 3–30, hier S. 5. 302 Georg Knepler, Musikalischer Realismus. Neue Überlegungen zu einem alten Problem, in: BzMw 30 H. 4 (1988), S. 231–253, hier S. 233. 303 Ebd., S. 234–235. 304 Ebd., S. 235. 305 Ebd. 306 Ebd. 301

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Musik herauskristallisiert, in einem Übergang von körperlich-spontaner Lauterzeugung zu intersubjektiv verstehbaren Lautzeichen. 307 Hier handelt es sich um »emotiv-kognitive Kommunikationssysteme«, 308 die vor der Entwicklung der Sprache entstanden sind, und um »gestische«, »mimische« und »akustische Äußerungen, die man sich als teils Sprachelemente, teils musikalische Elemente vorwegnehmend vorstellen kann.« 309 Knepler erhofft sich über diesen Ansatz dem ungelösten Problem nähern zu können, »mittels welcher Mechanismen sich innere Zustände von Lebewesen in akustische Äußerungen umsetzen und welche Wirkungen diese Äußerungen auf andere Lebewesen ausüben oder ausüben können.« 310 Historisch haben sich – so Knepler – in der Folge Begriffe und logische Denkprozesse sowie deren Codierung in akustische Zeichen herausgebildet. 311 Die denotative und die konnotative Seite – mit stärkstem Anteil der letzteren – waren unlösbar ineinander verwoben. Die diskrete Codierung von Lautmarken zum Zweck der Denotation, die analoge Codierung von Einstimmungselementen und die Herausbildung einer Syntax, in der sie alle zur prädikativen Formulierung von emotiv bewichteten Urteilen, Fragen, Aufforderungen zusammentreten konnten, erfolgte in einem. Die Syntax wurde zum Rahmen dieses vielfältigen Geschehens. 312

Vergleichbar mit Assafjew rekurriert Knepler auf Kommunikationsprozesse, die die gemeinsame anthropologische Grundlage von Musik und Sprache sein sollen. Kneplers Begriff der Einstimmung entspricht dem assafjewschen Intonationsbegriff. 313 Die Musik hat Knepler zufolge nun den syntaktischen Rahmen der emotiv-kognitiven Kommunikationssysteme zwar beibehalten, ihn aber mit anderen Inhalten erfüllt als die Sprache, um »der emotionalen Aneignung gedanklicher Prozesse besser dienen zu können, um die emotive Wirkung der Worte zu verstärken, um, zu eben diesem Zwecke, biogenen Einstimmungselementen Entfaltungsmöglichkeit zu geben.« 314

Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. 72–76. Ebd., S. 74. 309 Ebd. 310 Ebd., S. 75. 311 Ebd., S. 122. 312 Ebd., S. 123. 313 Lippold, Einige Bemerkungen zu Geschichte und Perspektiven materialistischer Ansätze in der Musikästhetik, S. 127. 314 Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. 123. 307 308

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Assafjew und Knepler formulieren damit die materialistisch-anthropologische Basis für den marxistischen Mimesisbegriff der Musik. Das Vermögen der Kunst, sich nachahmend auf die Wirklichkeit zu beziehen, macht sie potenziell zu einem Mittel der Wirklichkeitserkenntnis. Es würde allerdings dem Abbilddenken in der marxistischen Ästhetik nicht gerecht werden, das Spektrum und die Qualität mimetischer Vorgänge allein auf die von Knepler und Assafjew beschriebenen Sachverhalte zu reduzieren. Beide liefern lediglich Überlegungen zu den materialistisch-anthropologischen Ausgangspunkten, von denen letztlich musikalische Kunstwerke im Prinzip ausgehen. Der Nachweis einer ursprünglichen, auch in artifizielle Musik eingegangenen Semantik, deren Grundlage mimetische Vorgänge sind, dient vor allem der Begründung der Musik als Erkenntnismittel. Die Musik lässt sich so metaphorisch als ein Spiegel verstehen, durch den die Realität artifiziell verarbeitet und in der subjektiven Brechung durch das Bewusstsein des Komponisten dargestellt wird. Sosehr dies common sense sein mag, so unversöhnlich stehen sich Vorstellungen darüber gegenüber, wie diese subjektive Überlagerung des Spiegelprozesses verstanden werden kann. Hier stehen sich gewissermaßen ein extremer und ein gemäßigter Materialismus gegenüber. Der neuralgische Punkt liegt nun nicht darin, dass die äußere Realität in der Kunst nur aus einer bestimmten Perspektive dargestellt wird. Eine wertende, bewusst oder unbewusst eingenommene Perspektive ist wesentlicher Aspekt des Realismus. Sondern er liegt darin, dass die Wahl der Perspektive, der subjektive Blick des Künstlers auf die Realität, selbst wieder materialistisch begründet werden muss. Denn wenn die mimetische Erfassung eines Gegenstandes nur über den Umweg des künstlerischen Bewusstseins vonstatten geht, dann entsteht das für einen konsequenten Verfechter des Materialismus delikate Problem der Begründung eines von jeder geistigen Autonomie freigehaltenen Bewusstseins. Andernfalls könnte der im Werk abgebildete Gegenstand auch von Spiegelungen reiner Phantasieleistungen überlagert sein, die einer der Wirklichkeit entkoppelten Sphäre des Ideellen entspringen. Hier drohen sich die nicht mehr materialistisch ableitbaren Leistungen eines autonom verstandenen Bewusstseins – die Phantasie und Kreativität des Künstlers – hinterrücks ins Werk sich einzuschleichen und den Reflexionsprozess idealistisch zu verzerren. Eine maßgebliche Autorität für das Festhalten weiter Teile der marxistischen Ästhetik an der extremen Form des Materialismus, die jeden partiellen ›Rückfall‹ in idealisti94 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

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sches Denken zu vermeiden sucht und deren unhaltbare Konsequenzen anhand des holzschen Spiegeldenkens gezeigt worden sind, 315 dürften Lenins Thesen zur Widerspiegelung sein, obwohl Lenin selbst – worauf Vladimir Karbusicky aufmerksam macht – den Begriff der Widerspiegelung zwar erkenntnistheoretisch, nie aber auf Kunst bezogen verwendet. 316 So besteht das grundlegende Dilemma darin, den Spiegelprozess, der ein rein innermaterielles Phänomen sein soll, wegen der vermittelnden Instanz des menschlichen Bewusstseins zwangsweise aufteilen, aber gleichzeitig die Rückkehr jedes Eigenleben des Geistes abwehren zu müssen. Zwei in der Musikästhetik viel rezipierte Autoren, Georg Lukács und Zofia Lissa, können hier als ›gemäßigte‹ Materialisten gelten. Bei ihnen wird der von Lenin sanktionierte materialistische Monismus 317 gewissermaßen von innen her zu einem uneingestandenen Dualismus umgebildet. Lukács bedient sich hierzu der hegelschen Kategorie der Innerlichkeit. 318 Die menschliche Innerlichkeit, seine Gefühle, sind das eigentliche Objekt der musikalischen Widerspiegelung, die ihrerseits aber wiederum Abbildungen der äußeren Realität sind. Allerdings birgt dieser Ansatz Albrecht Riethmüller zufolge die Gefahr einer unkontrollierbaren weiteren Vervielfältigung der Widerspiegelungsvorgänge: Nimmt man beispielsweise die musikalisch-rhetorische Figur als Abbild des Textes, diesen als Abbild eines dahinterstehenden Affektes und diesen wiederum als Abbild der Realität, so ist die Abbildung bereits verdreifacht. In einer anderen Richtung ließe sich sagen, die Musik bilde Bewegungsabläufe ab, diese seien Ausdruck (Abbild) gesellschaftlicher Prozesse, welche wiederum in einer Abbildbeziehung zu den ökonomischen Verhältnissen stehen. 319

Lissa spricht von einer »sekundären« oder »mittelbaren« Widerspiegelung. 320 Musik, so Lissa, wirkt im Vergleich zu anderen Künsten »am wenigsten stofflich und am stärksten emotional«, 321 sodass die Siehe S. 51 ff. dieser Arbeit. Karbusicky, Widerspiegelungstheorie und Strukturalismus, S. 51. 317 Siehe S. 54 ff. dieser Arbeit. 318 Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität, S. 33. 319 Ebd., S. 33. 320 Zofia Lissa, Über das Spezifische der Musik, aus d. Poln. v. Bruno Schymon, Berlin 1957, S. 57. 321 Zofia Lissa, Fragen der Musikästhetik. Einige Probleme der Musikästhetik im 315 316

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Erkenntnis der »objektiven Wahrheit« einer Epoche nur in der subjektiven und emotionalen Brechung durch den Komponisten in einem Musikwerk erfahrbar ist, 322 das zudem nie eine Kopie eines Objektes, sondern dessen »schöpferische Umgestaltung« ist. 323 Daher liefert die Musik »eher ein Abbild dessen, wie sich die Wirklichkeit im Bewußtsein des Kunstschaffenden widerspiegelt, als eine Widerspiegelung der realen Wirklichkeit in gegenständlicher Gestalt selbst.« 324 Je mehr im kreativ-künstlerischen Prozess das Subjekt betont wird, desto mehr wird der leninsche Monismus unterwandert. Das Subjekt, vom dem Lenin nichts wissen will, wird nun mehr oder minder uneingestanden wieder eingeführt, wenn Alexander Farbstein aus Lenin herausliest, dass die Widerspiegelung kein passiver Abdruck der Realität sei und dem Subjekt eine »aktive Rolle« – und zwar eine, die weit über Lenins Intention hinausgeht – »im Prozess der Widerspiegelung« zukomme: 325 Er plädiert dafür, den »Gegenstand der Kunst in dem besonderen Charakter der Beziehungen zwischen Objekt und Subjekt, in der Proportionierung von Realem und Idealem, dem Objekt der Erkenntnis und dem Subjekt (dem Kunstschaffenden) [zu] erblicken«. Denn so tritt »als Gegenstand nicht mehr das Sein an sich (also außerhalb des Menschen und von ihm unabhängig), sondern bereits das Sein im menschlichen Sinne und aus der Position der menschlichen Praxis heraus in Erscheinung.« 326 Er argumentiert dafür, dass Kunst nur auf der Basis einer »Einheit von Erkenntnis und Selbsterkenntnis« geschaffen wird und damit durch einen subjektiven Faktor immer mitbedingt ist. Daher spiegelt sich – so Farbstein – in »den Werken der Kunst […] der gesamte Reichtum menschlicher Subjektivität wider«. 327 Für diese Interpretation der Rolle des Subjektes beruft er sich auf Lenin, dessen Postulate zur Widerspiegelungstheorie er gezwungen ist nicht ohne Gewaltsamkeit umzudeuten. Ihm zufolge ist diese von Lenin selbst »in glänzender Weise auf die kompliziertesten Erscheinungen des künstlerischen Lebens« anLichte der Arbeit J. W. Stalins »Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft«, Berlin 1954, S. 142. 322 Ebd., S. 151–152. 323 Lissa, Über das Spezifische der Musik, S. 96. 324 Ebd., S. 55. 325 Farbstein, Realismustheorie und Probleme der Musikästhetik, S. 46–47. 326 Ebd., S. 51. 327 Ebd., S. 53.

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gewandt worden und lässt nur den Schluss zu, dass sich im Prozess der Widerspiegelung »die aktive Rolle des Subjekts [zeigt], welches nicht einfach die Natur kopiert, sondern in den Prozeß der Widerspiegelung ein Moment des Schöpferischen, der Auswahl und der Deutung hineinträgt.« 328 Gegen Farbsteins Lenin-Exegese spricht, dass nach Lenin sich die Rolle des Subjektes darin erschöpft, richtige von falschen Widerspiegelungen zu unterscheiden. 329 Ein Kunst schaffendes Subjekt steht für Lenin dagegen nicht im Fokus des Interesses. Deshalb deutet Farbstein Lenins Subjektbegriff zu einem um, nach dem das Subjekt nicht nur mechanisch die Realität widerspiegelt, sondern selbst darüber hinaus »schöpferisch« ist. Um diese Deutung zu stützen, verwendet Farbstein Formulierungen aus Lenins Konspekt zu Hegels »Wissenschaft der Logik« gewissermaßen als ein Gefäß, das er mit jenem Subjektbegriff auffüllen kann, der für sein Kunstverständnis unabdingbar ist. 330 Zwar spricht Lenin hier davon, dass die Widerspiegelung eine nur mittelbarere ist, doch deshalb, weil die Erkenntnis prozesshaft verläuft und der Mensch unter anderem zu begrifflichen Abstraktionen gezwungen ist. Demgegenüber will Eberhard Lippold eine Position finden, mit der er die aktive Rolle des Subjekts nicht leugnen muss, dabei aber den Monismus konsequent im musikästhetischen Denken aufrechterhalten kann und nicht zur uneingestandenen Preisgabe der rigorosen leninschen Theoreme gezwungen ist – obgleich auch er sieht, dass die »zeitweilig sehr enge und vorwiegend auf die theoretische Erkenntnis zugeschnittene Interpretationen der Leninschen Widerspiegelungstheorie in der philosophischen Literatur der DDR nicht unwesentlich« dazu beigetragen haben, dass »gerade in der Musik die Widerspiegelungsproblematik bisher am wenigsten geklärt ist.« 331 Seine Kritik an Farbstein, Lissa und Lukács ist die Konsequenz aus einem erkenntnistheoretischen Widerspiegelungsbegriff, der sich vom aristotelischen Mimesisbegriff unterscheiden soll. Lippold sieht auch, dass das »Objekt der musikalischen Widerspiegelung (psychische Prozesse, emotionale Vorgänge usw.) selbst bereits Resultat von Widerspiegelungen ist«. 332 Doch will er es umgehen, deshalb Ebd., S. 56. Siehe S. 55 dieser Arbeit. 330 Farbstein, Realismustheorie und Probleme der Musikästhetik, S. 57. Wladimir Iljitsch Lenin, Philosophische Hefte, Berlin 1964 (Werke 38), S. 172 u. S. 185. 331 Lippold, in: Bimberg u. a. (Hg.), Handbuch der Musikästhetik, S. 42–43. 332 Eberhard Lippold, Res – Aetas – Usus, Zur mehrschichtigen gesellschaftlichen 328 329

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auch von ein doppelten Mimesis im Sinne von Lukács und Lissa zu reden, weil dies in Widerspruch zum monistisch-materialistischen Denken gerät. Als Lösung erklärt er psychische Vorgänge zum Teil der Materie selbst, und zwar zu »Funktionen der höchstentwickelten Materie«. 333 Hierbei kann er sich auf Lenins Postulat aus Materialismus und Empiriokritizismus stützen, nach dem die ganze Materie eine Eigenschaft besitzt, die dem Wesen nach der Empfindung verwandt ist: die Eigenschaft der Widerspiegelung. 334 Sich zudem auf Todor Pawlow 335 stützend argumentiert er, dass Widerspiegelung notwendig als Eigenschaft der gesamten Materie unterstellt werden müsse, da andernfalls Entstehung des Bewusstseins als eines Spiegelphänomens nicht mehr erklärbar ist. 336 All dies erinnert nun sehr an Hans Heinz Holz’ dialektisches Weltmodell. 337 Tatsächlich lässt sich mit ihm der Dualismus umgehen, den Lippold bei Lissa und Lukács sieht. Holz entwickelt die Vorstellung von einem Subjekt, das gewissermaßen nur ein ohnmächtiges oder bloß scheinbares sein kann. Denn er will es vermeiden, in der materialistischen Dialektik die Vermittlung von Subjekt und Objekt einem aktiven Subjekt zuzuschreiben. Im Gegenteil sollen »im Begriff der gegenständlichen Tätigkeit die materiellen Verhältnisse als das tätige Subjekt übergreifend gedacht werden«, damit die Subjektivität »als das Resultat eines Reflexionsprozesses der materiellen Natur selbst« erkannt werden kann. 338 So erscheint bei ihm das Subjekt als Teil eines Reflexionsprozesses, wodurch es zwar eine vermittelnde Instanz zwischen Realität und Kunstwerk bildet, doch bleibt diese Instanz gewissermaßen passiv und abhängig von den materiellen Spiegelstrukturen. Wenn also mit Recht von doppelter oder mittelbarer Widerspiegelung gesprochen werden kann, dann im Sinne von Holz nur insofern, als hier allein materielle Spiegelgesetze herrschen Determiniertheit des ästhetischen Gehalts von Musik, in: Ästhetische und gesellschaftliche Aspekte der DDR-Musikgeschichtsschreibung, Greifswald 1987 (Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald), S. 4–7, hier S. 5. 333 Ebd. 334 Lippold, Intonation und Widerspiegelung, S. 13. 335 Todor Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie. Grundfragen der dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie, mit e. Nachw. v. Manfred Buhr u. Panajot Gindew, übers. u. bearb. v. Erhard John, Berlin 1973. 336 Lippold, Intonation und Widerspiegelung, S. 13–14. 337 Siehe S. 48 ff. dieser Arbeit. 338 Holz, Weltentwurf und Reflexion, S. 18.

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und die mittlere Instanz des menschlichen Bewusstseins, das den künstlerischen Prozess der Aneignung und Verarbeitung der Wirklichkeit gestaltet, nicht mit einer – wie gering auch immer gedachten – geistig-autonomen Eigenleistung verwechselt werden darf: »Das ausnehmend Besondere des Bewußtseins liegt darin, daß es außer der Reflexion der anderen Seienden auch noch diese Reflexion selbst zu reflektieren vermag. Der Schein der Priorität des Geistes gegenüber der Materie ist nun der in der Reflexion der Reflexion entstehende Schein, die in der ersten Reflexion erscheinende Wirklichkeit (also den Reflex) und das heißt den Bewußtseinsinhalt schon als die Sache selbst zu nehmen.« 339 Doch zurück zu Lippold. Er tadelt Lissa, das Gebot, monistisches Denken konsequent auch auf die Musik anzuwenden, nicht beachtet zu haben, wenn sie von einer nur mittelbaren Widerspiegelung der Wirklichkeit spricht und das Emotionale vom »Stofflichen« im Widerspiegelungsprozess trennen will. 340 Er wendet dagegen ein, dass die beiden Seiten im künstlerischen Widerspiegelungsprozess nicht die stoffliche und die emotionale bzw. die materielle und die ideelle sind, sondern Objekt und Subjekt. »Dabei muss der Bereich des Objekts keineswegs immer und ausschließlich Materielles, ›Stoffliches‹ umfassen, er kann vielmehr auch ›Emotionales‹ und Ideelles einschließen.« 341 Lippold zufolge scheint das »eigentliche philosophische Missverständnis […] aber darin zu bestehen, dass hier offenbar (wie übrigens in vielen anderen Fällen auch) die gnoseologische SubjektObjekt-Relation mit dem ontologischen Kategorienpaar Materie-Bewusstsein gewissermaßen ›parallelgeschaltet‹ wird.« 342 Das leninsche Reinheitsgebot des Monismus wird durch den Kunstgriff beachtet, Wünsche, Phantasien, Emotionen usf. schlicht zum Gegenstandsbereich der materiellen Realität zu erklären, dessen Objekte die Musik widerspiegelt. Wenn er postuliert, dass sich in der Entwicklung der Musik »unmittelbar (d. h. mit unmittelbarer Ähnlichkeit zum abgebildeten Objekt) bestimmte Prozesse der menschlichen Lebenspraxis […], der menschlichen Psyche […] sowie des gesamten Tonus der Lebenstätigkeit des menschlichen Organismus in Ebd., S. 69–70. Eberhard Lippold, Zur Frage der ästhetischen Inhalt-Form-Relationen in der Musik, Leipzig 1971 (Beiträge zur musikwissenschaftlichen Forschung in der DDR 3), S. 15. 341 Ebd., S. 15–16. 342 Lippold, in: Bimberg, u. a. (Hg.), Handbuch der Musikästhetik, S. 44. 339 340

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seinen Wechselbeziehungen zur Umwelt […]« widerspiegeln, 343 er zugleich aber an der »aktiven Rolle des schöpferischen Subjekts« festhalten will, 344 so wird das Problem offensichtlich nicht gelöst: Nun kann er zwar behaupten, dass Musik ihr Objekt – das auch ein Vorgang der menschlichen Psyche sein kann – »unmittelbar« widerspiegelt, nur schließt dies die behauptete »schöpferische« Leistung des Subjekts gerade aus: Eine Widerspiegelung kann nur dann »unmittalbar« sein, wenn die Widerspiegelung des Objekts nicht über »schöpferische« Kreativität, die selbst nicht mehr unmittelbares Abbild von etwas sein kann, vermittelt wird. Über diese erkenntnistheoretischen Fragen hinaus sucht Lippold einen Neuansatz zu finden, der zu erklären vermag, inwiefern ein Objekt der Realität überhaupt in der Musik widergespiegelt werden kann. Materialistische Musikästhetik – so Lippold – ist kaum möglich, wenn sie die Frage ausklammert, »welche realen Vorgänge die musikalische Produktion und der einzelne musikalische Ablauf – auch jenseits von Text, Programm und Überschrift – widerspiegeln kann.« 345 Seine auf eine kurze Formel gebrachte Antwort lautet: »Die musikalische Bildgestalt ist ein sinnlich-konkretes, akustisch-dynamisches Wirklichkeitsabbild.« 346 In Auseinandersetzung mit Pawlow, der ihm als Gewährsmann für seine Position dient, 347 soll sich musikalischer Gehalt nicht im simplen Abbilden erschöpfen, – unmittelbare Bildhaftigkeit wie Tonmalerei kann sie mit einbeziehen – sondern Bewegungsvorgänge »objektiver und subjektiv-psychischer Art« widerspiegeln. 348 Da – so Lippold – im dialektischen Materialismus Materie immer im Zustand der Bewegung gedacht wird, muss ein Musikwerk als akustischer Prozess und »Vergegenständlichung eines ideel-emotionalen subjektiven Abbildes objektiver Bewegungsvorgänge« verstanden werden. 349 Scharfe Kritik vonseiten marxistischer Musikwissenschaftler an dem Grundsatz des prinzipiellen Widerspiegelungscharakters der Musik kommt von Harry Goldschmidt: »Von der aristotelischen Mimesis-Lehre«, so sein Urteil, ist »die marxistische Ästhetik im we343 344 345 346 347 348 349

Lippold, Zur Frage der ästhetischen Inhalt-Form-Relationen in der Musik, S. 14. Lippold, Intonation und Widerspiegelung, S. 14. Ebd., S. 11. Lippold, Zur Frage der ästhetischen Inhalt-Form-Relationen in der Musik, S. 19. Ebd., S. 32–33. Ebd., S. 27. Ebd., S. 30.

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sentlichen bis heute nicht losgekommen.« 350 In seinen schon oben erwähnten Gedanken zu einer nicht-aristotelischen Musikästhetik wendet er sich gegen die Einseitigkeit dieses Ansatzes und diskutiert den Wert des musikalischen Strukturbegriffs: Wir [können] nicht nur den größten Teil der außereuropäischen Musik, sondern auch das gesamte Fundament der europäischen Musik selbst – zum Beispiel die Gregorianik und die Polyphonie der Niederländer – ästhetisch weder richtig beurteilen noch beschreiben […], solange wir bei dieser einseitigen Betrachtungsweise verharren. Das gilt in dem gleichen Maße auch von jenen Bereichen der zeitgenössischen Musik, in denen die Symptomfunktion gegenüber dem Stiften neuer syntaktischer Zusammenhänge ihre Prävalenz verloren hat. 351

Daher plädiert Goldschmidt für die Aufnahme des Material- und Strukturbegriffs, 352 was nicht bedeuten solle, dass die Anerkennung eines nicht-aristotelischen Bereichs die Existenz eines aristotelischen ausschließt. 353 Dieser Relativierung zum Trotz wird Goldschmidt von orthodoxer Seite getadelt. Dies ist indes nicht so sehr sachlich motiviert – hier bleibt die Kritik an ihm recht nebelverhangen 354 –, sondern die Reaktion auf Goldschmidts Infragestellung der prinzipiellen Gültigkeit musikalischer Abbildhaftigkeit, weil mit ihr die Fundamente der marxisitisch-orthodoxen Ästhetik ins Wanken gebracht und zudem der erfolgreichen Abgrenzung gegen avancierte, mitunter als »formalistisch« geschmähte Kompositionstechniken unnötige Hürden in den Weg gestellt zu werden drohen. Zusammen mit Jarustowski will Goldschmidt Assafjews Intonationstheorie sowohl präzisieren als auch weiterentwickeln, und zwar unter Hinzunahme des Gestaltbegriffs. Mit diesem wollen beide begrifflich besser fassen können, wie die ursprüngliche Intonation im assafjewschen Sinne mit der »schöpferische Phantasie« des Komponisten, seinem Denken und Fühlen vermittelt ist. 355 Intonationen können – so Goldschmidt – nicht unabhängig von Gestalten existieGoldschmidt, Gedanken zu einer nicht-aristotelischen Musikästhetik, S. 391. Ebd., S. 387. 352 Ebd., S. 388. 353 Ebd., S. 392. 354 Siehe etwa Lutz Winkler, Einige Anmerkungen zu musikästhetischen Positionen der Jahre 1961–1971 in DDR-Publikationen – dargestellt an Problemen des musikalischen Widerspiegelungsprozessen, in: Ästhetische und gesellschaftliche Aspekte der DDR-Musikgeschichtsschreibung, S. 50–63, hier S. 56. 355 B. M. Jarustowski, Wie das Leben …, in: ders. (Hg.), Intonation und Gestalt in der 350 351

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ren und umgekehrt, doch meint die Gestalt gegenüber der Intonation »jene nach Entwicklung und prozeßhafter Gestaltung strebende Qualität, die wir mit der strukturellen Gefügtheit, Profilierung und Gliederung kennzeichnen.« 356 Grundsätzliche Kritik äußert auch Vladimir Karbusicky, der – ausgehend von Charles S. Pierce’ Zeichenbegriff, der Symbol, Ikon und Index umfasst – dem marxistischen Widerspiegelungsverständnis vorwirft, dass es Widerspiegelung mit Abbild gleichsetzt und damit nur die ikonische Zeichenqualität akzeptiert, was – etwa in der Ausgrenzung des »Formalismus« – einen verlustreichen Blick auf die Musikgeschichte bedeutet. 357 Der Ausdruck konnte – so Karbusicky – »noch in die Abbildrelation hineinmanipuliert« werden, nämlich »als verdoppelte Widerspiegelung: die Emotionen des Künstlers sind eine Widerspiegelung der Wirklichkeit; diese Widerspiegelung wiederum spiegelt er in seinem Werk wider«. Doch ist »die Symbolqualität als semantische Möglichkeit überhaupt ausgeklammert« worden. 358 Einen ebenfalls materialistischen, aber von den bisher diskutierten Ansätzen deutlich unterschiedenen Mimesisbegriff entwickelt Adorno. Dort, wo Adorno den Mimesisbegriff nicht auf die Kunst bezieht und er mit dem Begriff die Beziehung zwischen Subjekt und Umwelt im Zivilisationsprozess vom Mythos zur Rationalität beschreiben will, kann er hier ausgeklammert werden. 359 In der Ästhetischen Theorie dagegen erscheint der Mimesisbegriff als derjenige, mit dem Adorno den besonderen Status der Kunst über ihre Eigenschaft, Anklage gegen die begriffliche Rationalität zu sein, zu legitimieren sucht. Kunst bedeutet ihm »Zuflucht des mimetischen Verhaltens«. Damit reagiert sie »auf die schlechte Irrationalität der rationalen Welt als einer verwalteten. Denn der Zweck aller Rationalität, des Inbegriffs der naturbeherrschenden Mittel, wäre, was nicht Musik. Beiträge und Abhandlungen der Musikwissenschaftler sozialistischer Länder, Moskau 1965, S. 100–144, hier S. 102–103. 356 Harry Goldschmidt, Musikalische Gestalt und Intonation, in: Jarustowski, (Hg.), Intonation und Gestalt in der Musik, S. 145–158, hier S. 155. Siehe auch hierzu: Reiner Kluge, Definition der Begriffe Gestalt und Intonation. Als Beitrag zur Mathematisierung der Musikwissenschaft, in: BzMw 6 H. 2 (1964), S. 85–100. 357 Karbusicky, Grundriß der musikalischen Semantik, S. 110. 358 Ebd., S. 110–111. 359 Siehe hierzu: Gunter Gebauer u. Christoph Wulf, Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg, 1998, S. 389–405.

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wiederum Mittel ist, ein Nichtrationales also«. 360 Die Kunst erscheint als ein Phänomen, das sich bewusst der Rationalität der »verwalteten Welt« widersetzen kann. Nur darin, in ihrem Anderssein, kann sie Adorno zufolge darauf verweisen, dass die rationale Beherrschung der Natur selbst ein irrationales Moment in sich entfaltet, das sich im Prozess der Dialektik der Aufklärung gegen den Menschen selbst wendet: Dieser »Zweck« erweist sich als ein rational nicht mehr fassbarer, er ist als irrationaler seinen rationalen Mitteln übergeordnet. Wenn sich das mimetische Kunstwerk der Rationalität entzieht, so kann es dies, weil es sich mimetisch auf das Objekt selbst einlässt, noch bevor das identifizierende Denken es in begriffliche Abstraktionen auflöst. Der Herrschaft des begrifflich-rationalen Denkens zu entkommen, bedeutet für Adorno, der Beherrschung der Natur zu entkommen: In jener wie dieser hat das Individuelle und Besondere keinen Platz; das Individuelle und Besondere dagegen zur Geltung zu bringen, ist die herausragende, erkenntnisstiftende Funktion von Kunst. 361 Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten, bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis, und insofern ihrerseits als ›rational‹. Denn worauf das mimetische Verhalten anspricht, ist das Telos der Erkenntnis, das sie durch ihre eigenen Kategorien zugleich blockiert. 362

In Zur gesellschaftlichen Lage der Musik ist es ebenfalls der Erkenntniszusammenhang, der Adorno an den mimetischen Qualitäten der Kunst interessiert; doch bezieht er sich hier auf das musikalische Material: Der Komponist bedient sich eines Materials, das in seiner Geschichtlichkeit Abbild all jener vergangenen und gegenwärtigen Prozesse ist, die den Zustand der Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen bestimmen: Im Material hinterlassen die jeweiligen sozialen Verhältnisse ihre Spuren, 363 in denen der »Erkenntnischarakter« der Musik gründet: Sie wird in ihrem – wenn auch vermittelten – Abbildverhältnis zur Wirklichkeit zum Spiegel der Gesellschaft. Doch ist es nicht die eigentliche Leistung des Komponisten, die Rea360 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie [1970], Frankfurt a. M. 1997 (GS 7), S. 86. 361 Ebd., S. 92–93. 362 Ebd., S. 86–87. 363 Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik [1932], in: Musikalische Schriften 5, Frankfurt a. M. 1997 (GS 18), S. 729–777, hier S. 732.

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lität durch angemessene Materialbehandlung artifiziell allein so abzubilden, wie sie sich in ihrer Oberflächlichkeit darbietet. Sondern der Komponist zeigt in seiner Auseinandersetzung mit dem Material zugleich eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, zu der er sich verhält: sei es affirmativ oder kritisch, sei es, dass seine Werke regressiven, sei es, dass sie fortschrittlichen Tendenzen der Gesellschaft artifiziellen Ausdruck verleihen. Günter Mayer rezipiert Adornos Materialbegriff – wenn auch nicht unkritisch. Er bestimmt den historischen Materialstand als »Reflex und Agens des historischen Zustands der Gesellschaft«. 364 Ähnlich wie Goldschmidt will er das einseitige Abbilddenken überwinden – wodurch sich nicht zuletzt als formalistisch diskreditierte Werke in den Realismusbegriff integrieren lassen. 365 So ist das Komponieren nach Mayer »als wirklich freies Arbeiten« – womit er auf Marx anspielt 366 – »nicht denkbar ohne die schöpferische Phantasieleistung des kompositorischen Subjekts«. Dieses würde »an die objektiv vorgefundenen Materialkonstellationen« anknüpfen und »im wechselseitigen Prozeß weiterer Differenzierung des musikalischen Sinnes und seiner sinnlichen Vergegenständlichung die vorhandenen Möglichkeiten der Tonbeziehungen inhaltlich und technisch« ausschöpfen und überschreiten, womit es »also auch neue, bisher unbekannte, akustisch-klangliche Bereiche überhaupt erst hervorbringt und der geistig-sinnlichen Aneignung zuführt.« 367 Selbst Lippold, dessen Überlegungen Adornos Materialbegriff recht fern zu stehen scheinen, konzediert, dass das musikalische Material in sich schon Abbildcharakter habe, weil der Komponist Gestaltungsmittel verwendet, die »als ›sedimentierte‹ oder 364 Günter Mayer, Materialtheorie bei Eisler. Zu Hanns Eislers Konzeption einer dialektischen Theorie der Musik, in: Weltbild – Notenbild. Zur Dialektik des musikalischen Materials, Leipzig 1978, S. 93–348, hier S. 168. 365 Mayer war Teil einer Gruppe von Wissenschaftlern der »Berliner Ästhetik«, die unter der Leitung von Erwin Pracht gemeinsam die Ästhetik der Kunst verfassten. Diese Gruppe von Wissenschaftlern behandelten ein weites Spektrum von Fragestellungen auf eine entdogmatisierte Weise, sodass ihr Blick auf die Kunstgeschichte insgesamt weiter reichte und vor allem auch Werke der Avantgarde berücksichtigte. Michael Franz, Der »Auszug der Ästhetik aus der Philosophie«. Philosophische Ästhetik auf dem Weg in die Interdisziplinarität, in: Hans-Christoph Rauh u. Peter Ruben (Hg.), Denkversuche. DDR-Philosophie in den 60er Jahren, Berlin 2005, S. 281–305. 366 MEW 42, S. 512. 367 Mayer, Materialtheorie bei Eisler, S. 134–135.

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›kristallisierte‹ Intonationserfahrungen einen bestimmten Entwicklungsstand musikalischen Denkens verkörpern«. Daraus folgert er, dass der »vermeintliche Gegensatz von Material- und Abbildästhetik […] sich so als Scheinproblem« erweise. 368

3.2 Ethos Die aristotelischen Konzepte ›Mimesis‹ und ›Ethos‹ sind ihrer marxistisch geprägten Fassung die sich gegenseitig ergänzenden und voneinander abhängenden Bestandteile des Realismus, der die »Nachahmungsästhetik« mit der »gesellschaftlich-erzieherischen Funktion der Musik« verbindet. 369 Stanislav A. Markus feiert Aristoteles gegenüber der »reaktionären Haltung Platons« für einen Realismus, mit dem er »die Grundlage für die weitere Entwicklung der musikalischen Nachahmungsästhetik« geschaffen haben soll, 370 die er im engen Zusammenhang mit der gesellschaftlich-erzieherischen Funktion der Musik sieht. Denn erstens kann – so Markus – die Melodie »unterschiedliche Züge der menschlichen Persönlichkeit« wiedergeben, zweitens ist nur die Musik dazu in der Lage »ethisch (ohne Worte) auf den Menschen einzuwirken« und drittens schließlich zeigt sich die Verbindung von Mimesis und Ethos darin, dass die Musik Bewegungen hervorrufen kann, die im Menschen mit »gesellschaftlichen Verhaltensnormen« verknüpfte Energie hervorrufen. 371 So lautet – schematisch verkürzt – die hier zu diskutierende Position: Mimetisch bildet das Kunstwerk ab, was in der Realität der Fall ist; doch unter dem Aspekt des Ethos kommt ihm zugleich die Aufgabe zu, durch die Wahl des Gegenstandes und die wertende Perspektivität seiner Abbildung zur Realität Stellung zu beziehen, um auf den Rezipienten in erziehender und aufklärender Absicht einwirken zu können. Kunst soll die Realität nicht neutral spiegeln – was ohnehin sich als Illusion erweisen dürfte –, sondern sie so vermitteln, dass Lippold, Res – Aetas – Usus, S. 5–6. Stanislav A. Markus, Ein Beitrag zur Geschichte der Nachahmungsästhetik und Affektenlehre sowie der idealistischen Musikästhetik in Deutschland, Leipzig 1967 (Musikästhetik 1), S. 23. Siehe zu Mimesis und Ethos auch Zoltai, Ethos und Affekt, S. 35–46. 370 Markus, Ein Beitrag zur Geschichte der Nachahmungsästhetik und Affektenlehre, S. 22. 371 Ebd., S. 23. 368 369

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sie in einem ersten Schritt zur Erkenntnis der Missstände der Realität führt und einen Bewusstseinsprozess auslöst, der in einem zweiten entweder zu einem aufgeklärt-mündigen Subjekt oder – in indoktrinärer Absicht – zu einer intendierten politischen Gesinnung bzw. einem intendierten politischen Handeln führt. Da der Ethosbegriff (»Charakter«, aber auch »Sitte« oder »Gewohnheit«) immer auch sowohl auf Charakterbildung und Erziehung zur ethischen Tugend 372 als auch auf Praxis und Handeln zielt, 373 bietet er sich als aristotelische Vorlage für die marxistische Ästhetik ebenso an wie der Mimesisbegriff. 374 In Juri N. Dawydows Deutung interessiert sich Aristoteles für die Ästhetik hauptsächlich mit Blick auf die Erziehung der »besseren Bürger« der Polis und die Möglichkeit der »Manipulierung des gesellschaftlichen Bewußtseins aller übrigen Bewohner Athens«; 375 daher ist die Erziehung des Charakters nicht nur eine sittliche, sondern eine politische Aufgabe, 376 wofür Aristoteles gerade die Musik für besonders geeignet erachtet. Aristoteles behandelt die Musik am Ende seiner Politik. Hier erörtert er deren Stellenwert für staatspolitische Zusammenhänge, sodass das achte Buch der Politik – wie er Albrecht Riethmüller formuliert – »ohne Zögern die Musiksoziologie des Aristoteles genannt zu werden verdient.« 377 Mit der Forderung, Musik dürfe nicht allein Gegenstand ästhetischer Kontemplation sein, sondern solle beim Hörer einen Bewusstseinsprozess auslösen und dessen Charakter beeinflussen, knüpft das marxistische Musikdenken nicht nur an eine ältere Tradition an, sondern ist sie auch Teil einer ›longue durée‹, die jenseits des Marxismus weiterlebt: Auf der Grundlage der »Persona-Theorie der musikalischen Expressivität« 378 postuliert Peter Rinderle, dass es »gute Gründe für die Vermutung« gibt, dass »Musik einen Einfluß auf die private und politische Orientierung des Menschen nehmen kann«. Er Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1179b 20. Ebd., 1095a. 374 Bimberg, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der Musikästhetik, S. 316. 375 Dawydow, Die Kunst als soziologisches Phänomen, S. 196. 376 Ebd., S. 260. 377 Albrecht Riethmüller, Musik zwischen Hellenismus und Spätantike, in: ders. u. Frieder Zaminer (Hg.), Die Musik des Altertums, Laaber 1989 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 1), S. 207–325, hier S. 218. 378 Peter Rinderle, Musik, Emotionen und Ethik, Freiburg i. Br. 2011 (Musikphilosophie 3), S. 19 u. S. 33. 372 373

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will die »die ethische Bedeutung von Musik auf ihre expressiven Eigenschaften« zurückführen können, 379 womit er von der hier diskutierten Verknüpfung von Mimesis und Ethos nicht allzu weit entfernt ist: »Wenn wir […] die expressiven Eigenschaften eines Musikstücks als Gesten einer imaginären Person verstehen dürfen, die in tönend bewegten Formen ihre Emotionen zum Ausdruck bringt, dann sind eigentlich alle Voraussetzungen gegeben, um auch expressiver Musik einen Einfluß auf den Charakter ihrer Zuhörer zuzugestehen.« 380 Von dieser Grundlage ausgehend diskutiert er die Frage nach der ethischen Bedeutung der Musik »für eine liberale Demokratie« 381 , ob sich Musik »zur Kultivierung eines liberalen und demokratischen Gemeinsinns eignet.« 382 Im Folgenden wird nun exemplarisch nachgezeichnet, wie die ethischen Qualitäten bestimmter Werke, ohne die sie sich nicht als Vorschein oder Antizipation erwarteter Zeiten deuten lassen, 383 begründet werden (Beispiele a) bis g)). Dabei wird ein Weg durchschritten, bei dem zu Beginn das Ethische des Werkes im Sinne des dialektischen Denkens 384 zunächst in seinem Inneren vorortet und aus seinen rein musikalisch-strukturellen Zusammenhängen abgeleitet wird. Am Ende werden Positionen diskutiert, die es plakativ und programmatisch an seiner Außenseite sehen wollen. Überspitzt formuliert, verbindet sich mit dem ersten Fall der Anspruch der realistischen Kunst, ideologiekritisch für gesellschaftliche Zusammenhänge und Missstände zu sensibilisieren (Beispiele a) bis c)), mit letzterem wird sie dagegen ausführendes Organ politischer Propaganda (Beispiele e) bis g)). a) Die ethische Funktion eines Werkes offenbart sich im Sinne Adornos nur demjenigen, der dessen innere Verfasstheit gesellschaftlich zu dechiffrieren vermag. Obwohl im Material die jeweiligen sozialen Verhältnisse ihre Spuren hinterlassen, 385 so zeigen die Werke – zumindest die ›gelungenen‹ – in ihrem Umgang mit dem Material keine Affirmation des Bestehenden, sondern sind dessen Anklage:

379 380 381 382 383 384 385

Ebd., S. 21. Ebd., S. 153. Ebd., S. 237–280. Ebd., S. 245. Siehe Kapitel 4.2. Siehe S. 39 ff. dieser Arbeit. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, S. 732.

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Die Bedingung ihrer Wahrheit ist ihre »Antithese zur Gesellschaft«. 386 Als ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze. Desselben Ursprungs wie der gesellschaftliche Prozess und stets wieder von dessen Spuren durchsetzt, verläuft, was bloße Selbstbewegung des Materials dünkt, im gleichen Sinne wie die reale Gesellschaft, noch wo beide nichts mehr voneinander wissen und sich gegenseitig befehden. Daher ist die Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft, gerade soweit diese ins Werk eingewandert ist und nicht bloß Äußerliches, Heteronomes, als Konsument oder Opponent der Produktion gegenübersteht. 387

Die artifizielle Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und die Kritik an ihr haben für Adorno ihren eigentlich legitimen Ort nicht in der Öffentlichkeit, im politisch-expliziten und direkten Wirken der Kunst, sondern im ›autonomen‹ Bereich der Kunst selbst: Den Umgang des Komponisten mit dem Material und dessen zunächst innermusikalisches Weiterdenken deutet Adorno als politische Stellungnahme. Damit stellt sich die Autonomie der Kunst nicht als eine hermetisch von der Realität gesonderte dar, sondern als eine, in der sich das musikalische Material in Relation zum gesellschaftlichen Prozess entwickelt. Aus einem kaum zu übersehenden ethischen Anspruch, der dem Einzelnen und Besonderen sein Recht zukommen lassen will, leitet sich die Bedeutung ab, die Adorno der Musik beimisst. Dank ihrer Begriffslosigkeit vermag sie die Erkenntnis des Individuellen, des Nicht-Identischen zu ermöglichen: »Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen.« 388 Entgegen Hegels positiver Dialektik gäbe nach Adorno die negative Dialektik »das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte.« 389 So leitet sich die herausgehobene Stellung der Musik nicht nur 386 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik [1949], Frankfurt a. M. 1997 (GS 12), S. 28. 387 Ebd., S. 39. 388 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik [1966], Frankfurt a. M. 1997 (GS 6), S. 19–20. 389 Ebd., S. 18.

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aus ihrer Fähigkeit ab, auf sinnlicher Ebene das zu leisten, was auf sprachlich-begrifflicher Ebene nicht möglich ist: nämlich das Nichtidentische vor dem identifizierenden Zugriff des begrifflichen Denkens zu bewahren. Sondern sie ist dadurch auch ein Mittel des Einspruchs gegen das Bestehende, weil Adorno das identifizierende, begriffliche Denken als Ursprung einer gesellschaftlichen Praxis begreift, in der das Besondere, das sich dem Zwang zur Unterordnung unters Ganze zu entziehen sucht, keinen Platz mehr hat. Kunst erscheint als ein Mittel der begriffslosen Erkenntnis, weil sie das Besondere zur Geltung bringen und sinnlich erfahrbar machen kann. Sie verweist auf das Nicht-Identische, das sich dem Identitätszwang des Denkens entzieht, damit zugleich aber auch – als Folge des Postulats der Parallelität zwischen identifizierendem Denken und gesellschaftlichen Zwangs- und Herrschaftsverhältnissen – auf einen Raum der Herrschaftsfreiheit. b) Von diesem Ansatz inspiriert ist derjenige Günter Mayers, der den historischen Materialstand als »Reflex und Agens des historischen Zustands der Gesellschaft« deutet. 390 Im Umgang des Komponisten mit dem Material zeigt sich – so Mayer –, inwieweit er »in seiner gesellschaftlichen und vor allem in seiner spezifisch musikalischen Praxis historisch herangereifte Möglichkeiten oder Beschränkungen menschlicher Entfaltung erahnt, vorausfühlt, bewusst reflektiert.« 391 Tatsächlich ist es für ihn keinerlei Bedingung, dass dies bewusst geschieht: »Trotz fehlender radikaler Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen der zunehmenden Entfremdung brachte Schönberg diese unbeschönigt zum Ausdruck.« 392 So zeigen sich im Material »allgemeine Aspekte« der Widerspiegelung, »die mit der Analyse der Weltanschauung des Künstlers oder Rezipierenden noch nicht getroffen sind, weil im Materialstand Prozesse sich reflektieren, die den Komponisten oder Rezipienten gar nicht zu Bewusstsein kommen müssen«. 393 c) Georg Knepler fasst diese Ästhetik als musikalischen Realismus, der bei ihm in einer doppelten Gestalt erscheint: Er meint zunächst eine prinzipielle Relation von Musik zur Wirklichkeit, da sie aus der menschlichen Lebenspraxis historisch selbst sich herleitet, 390 391 392 393

Mayer, Materialtheorie bei Eisler, S. 168. Ebd., S. 173. Ebd., S. 270. Ebd., S. 277.

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sodass sie nicht als Qualität allein dieser oder jener Komposition begriffen werden kann. Darüber hinaus vertritt er aber einen zweiten Realismusbegriff, der nicht mehr Musik prinzipiell, sondern nur die Werke erfasst, die der Realität gegenüber eine bestimmte Haltung an den Tag legen. Kunst ist ihm zufolge dann realistisch, wenn sie »den Menschen, die sie produzieren und reproduzieren, sich in der Welt realistisch zu verhalten hilft.« Dies ist immer – so Knepler – schon der eigentliche Sinn von Kunst und von ästhetischem Verhalten und Verfahren gewesen. 394 Realistische Kunst ist damit eine, die auf die Zukunft gerichtet ist: Musik ist dann realistisch, wenn sie auf ihre Weise daran mitwirkt, die jeweils existierenden Schranken weiter hinauszuschieben, natürliche und vor allem gesellschaftliche Schranken, die die Menschen bei der Entfaltung ihrer Individualität hindern, am Wachsen ihrer Potenzen, Bedürfnisse ihrer produktiven und ihrer Genußfähigkeiten. 395

d) Den gewünschten ethischen Gehalt in Werke hineinzudeuten mag – oberflächlich betrachtet – dann noch recht leicht gelingen, wenn die herangezogenen Werke selbst proletarischer Provenienz sind oder von sozialistischen oder marxistischen Künstlern stammen. Doch in dem Moment, in dem Werke rezipiert werden, die einer anderen gesellschaftlichen ›Klasse‹ angehören, scheint es allein zwei gangbare Wege zu geben: Entweder sie werden aus dem Kanon realistischer Kunst ausgeschlossen oder müssen, wenn sie weiterhin akzeptiert werden sollen, von ihren ursprünglichen materiellen Entstehungsbedingungen zumindest partiell freigesprochen werden: Kunstwerke sind Produkte menschlichen Bewusstseins. Doch sollte dieses allein von sozialen und ökonomischen Bedingungen bestimmt sein, 396 so könnten Werke etwa des Bürgertums nur einen ethischen Gehalt aufweisen, der allein auf das Bürgertum selbst zielt. Nach diesem Grundsatz könnte ein Werk des bürgerlichen Kanons keine erzieherische oder aufklärerische Funktion im marxistisch oder sozialistisch gewünschten Sinne haben, weil es als Teil des bürgerlichen Überbaus nur affirmativ der bürgerlichen Schicht dienen und deren Status legitimieren könnte. Die Lösung des Problems besteht in der teilweisen Herauslösung der Kunst aus dem Basis-Überbau-Schema, wodurch Kunstwerke eine neue Qualität erhalten: Weil sie sich nicht allein als 394 395 396

Knepler, Musikalischer Realismus, S. 245. Ebd., S. 248–249. Siehe S. 160 ff. dieser Arbeit.

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Überbauphänomen verstehen lassen, können sie auch Gehalte besitzen, die nicht auf die eigene, sondern auf eine noch kommende, bessere Gesellschaft vorausweisen. »Und um die Kunst abgelehnter Gesellschaftsordnungen«, so Otto Karl Werckmeister, »in die neue, sozialistische Gesellschaft hinüberzuretten, mußte sie im theoretischen Verständnis von ihrer eigenen materiellen Basis abgeschnitten werden.« 397 Erst die Einbettung der Kunstentwicklung in ein Netz von historischen »Phasenverschiebung[en] zwischen Gesellschaftsund Kunstentwicklung« 398 , wie sie in einem Lehrbuch aus der ehemaligen DDR unterstellt werden, und erst der apriorische Ausschluss einer »Parallelität von gesellschaftlichem und musikkulturellem Prozeß« 399 lassen in die Geschichte der Musik eine »ständige dialektische Verschmelzung unterschiedlicher historischer Qualitäten« hineininterpretieren, die eine sinnvolle Historiographie aus sozialistischmarxistischer Perspektive überhaupt erst ermöglicht. Mit dem Postulat der sogenannten relativen Autonomie, das eine ganze Reihe vertrackter Teilprobleme mit sich führt, 400 ist die Möglichkeit gegeben, bürgerliche Kunst so umzudeuten, dass sie zu eigentlich »klassenfremden« aufklärerisch-erzieherischen Zwecken in die Pflicht genommen werden kann: So stellt etwa Hans Koch zufolge das Werk von Franz Mehring »den ersten großen Versuch in der Geschichte des marxistischen Denkens in Deutschland« dar, »durch die ›Umarbeitung‹ […] des literarischen Erbes gewichtige Bausteine für den Dombau der proletarischen Kultur zu liefern«. 401 Um die Geschichte auch der bürgerlichen Kunst nicht wie Lukács als die Geschichte eines Niedergangs und Verfalls erzählen zu müssen, werden innerhalb der Volksfrontbewegung Argumente entwickelt, mit denen sich der Gebrauch des »klassischen Erbes« auch im sozialistischen Kontext rechtfertigen lässt. 402 So fragt Ernst Bloch, 397 Otto Karl Werckmeister, Ideologie und Kunst bei Marx [1972–1973], in: Ideologie und Kunst bei Marx u. a. Essays, Frankfurt a. M. 1974, S. 7–35, hier S. 23. 398 Werner Felix u. a. (Hg.), Musikgeschichte. Ein Grundriß 1–2, Leipzig 1984 u. 1985, Bd. 1, S. 9. 399 Ebd. 400 Siehe S. 162 ff. dieser Arbeit. 401 Hans Koch, Franz Mehrings Beitrag zur marxistischen Literaturtheorie, Berlin 1959, hg. v. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, S. 133. 402 Burkhardt Lindner, Der Begriff der Verdinglichung und der Spielraum der Realismus-Kontroverse. Ausgehend von der frühen Differenz zwischen Lukács und Bloch, in: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.), Der Streit mit Georg Lukács, Frankfurt a. M. 1978, S. 91–123. Zum Expressionismusstreit und zu der Realismusdebatte in der Volksfront

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ob das »untergehende Bürgertum« Elemente enthält, die zum »Aufbau der neuen Welt« beitragen können. Dies sei eine »rein mittelbare Frage, eine des diabolischen Gebrauchs«. »Nicht nur im revolutionären Aufstieg oder in der tüchtigen Blüte einer Klasse,« so Ernst Bloch, »auch in ihrem Niedergang und den mannigfachen Inhalten, die gerade die Zersetzung freimacht, kann ein dialektisch brauchbares ›Erbe‹ enthalten sein.« 403 Motiviert ist dies durch einen zweiten Faktor, nämlich den Wunsch, den Kanon klassischer Werke gegen faschistischen Missbrauch zu schützen und dessen Instrumentalisierung zu nationalsozialistisch-propagandistischen Zwecken eine Instanz gegenüberzustellen, die das Eigenrecht der Werke zu bewahren sucht. 404 Die »Formel von der Verteidigung der Kultur« wurde – wie Werner Herden resümiert – »zu einem zentralen Ausgangs- und Bezugspunkt für die Entwicklung der Bündnisbeziehungen in der antifaschistischen Literatur«. 405 So fragen Hanns Eisler und Ernst Bloch, ob sich »das sozial fortgeschrittenste Bewusstsein heute bereits mit dem ästhetisch fortgeschrittensten verbinden [lässt] und umgekehrt«. 406 Sie wehren sich gegen die lukácssche Diagnose, in einer »Fäulniszeit« zu leben, da etwa »die Leistungen von Picasso und Einstein auch ein Antizipierendes [enthalten]; sie sind von der Welt beschienen, die noch nicht da ist«. 407 Die Verwendbarkeit des »klassischen Erbes« bzw. ›klassenfremder‹ Musik hängt damit von dem ideologiekritischen Geschick ab, aus ihnen den Ausdruck einer eigentlichen, richtigen Gesinnung herauslesen zu können. Weil sie Intelligenz, Klarheit und Logik an siehe vor allem Alfred Kantorowicz, Politik und Literatur im Exil. Deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus, Hamburg 1978 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 14), S. 230–256. – Zum Begriff des Erbes im Gegensatz zu »Tradition« siehe Günter Oesterle, Zur Historisierung des Erbebegriffs, in: Bernd Thum (Hg.), Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Germanistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder, München 1985, S. 411–451. 403 Ernst Bloch, Vorwort zur Ausgabe 1935, in: Erbschaft dieser Zeit [1935], Frankfurt a. M. 1973, S. 15–16. 404 Oesterle, Zur Historisierung des Erbebegriffs, S. 424. 405 Werner Herden, Wege zur Volksfront. Schriftsteller im antifaschistischen Bündnis, Berlin 1978 (Literatur und Gesellschaft), S. 57. 406 Ernst Bloch u. Hanns Eisler, Avantgarde-Kunst und Volksfront [1937], in: Hanns Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik, hg. v. Manfred Grabs, Leipzig 1976, S. 140–147, hier S. 143. 407 Ernst Bloch u. Hanns Eisler, Die Kunst zu Erben [1938], in: Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik, S. 148–154, hier S. 153.

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die Stelle von Schwulst und Sentimentalität setzt, darf nach Eisler gerade die avancierte Musik nicht übergangen werden. 408 So kann die »Methode Schönbergs außerordentlich wichtig für eine neue soziale Musik« werden, wenn die kritisch benutzt wird: »Es wird sich darum handeln, gewissermaßen Schönberg vom Kopf auf die Beine zu stellen, nämlich auf den Boden unserer sozialen Verhältnisse mit seinen Massenkämpfen um eine neue Welt.« 409 e) Exemplarisch für all jene Versuche der offiziellen Orthodoxie, Werken des bürgerlichen Kanons einen insgeheimen, auf den Sozialismus vorausweisenden Sinn zu unterstellen, können ein paar Überlegungen von Ernst Hermann Meyer angeführt werden, die er in Musik im Zeitgeschehen formuliert. Diese empfehlen sich nicht zuletzt durch ihre Plakativität. Dort, wo Meyer den breiten Pinsel ansetzt, zeichnen Autoren wie Knepler, Mayer oder Goldschmidt oftmals ungleich subtiler; doch liefert der grobe Pinselstrich jene Vergrößerungsleistung, die die Grundzüge marxistischer Strategien im Umgang mit bürgerlicher Kunst klar hervortreten und jede bei anderen Autoren aufkeimende kritische Selbstreflexion unter dem dicken Farbauftrag verschwinden lässt. Für Meyer gilt es als unhinterfragbare und unumstößliche Prämisse, dass Musik Botschaften vermittelt: 410 Die Größe eines Künstlers [hängt heute davon ab], ob er bewußt für die fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft Partei ergreift, ob er es versteht, die wesentlichen, fortschrittlichen gesellschaftlichen Realitäten seiner Zeit darzustellen, d. h. in der Musik in Klassengesellschaften nicht die Mentalität der unproduktiven Klassen, sondern die des lebensvollen, zukunfttragenden, produktiven Volkes, die er durch seine Kunst entwickeln helfen will. 411

Meyer rechtfertigt die bürgerliche Musik, indem er aus ihr das gegen feudale Schranken gerichtete Ideal klassenübergreifenden Strebens nach Fortschritt, Freiheit und Emanzipation herausliest. 412 Sie wird nicht – was mit etwas interpretatorischem Fingerspitzengefühl ebenso möglich wäre – als ein den bürgerlichen Herrschaftsanspruch ideo408 Hanns Eisler, Einiges über den Fortschritt in der Musik [1937], in: Materialien zu einer Dialektik der Musik, S. 136–139, hier S. 139. 409 Ebd. 410 Ernst Hermann Meyer, Musik im Zeitgeschehen, hg. v. d. Deutschen Akademie der Künste, Berlin 1952, S. 61. 411 Ebd., S. 62. 412 Ebd., S. 69.

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logisch stützendes Produkt einer kapitalistischen Gesellschaftsform gedeutet, sondern als ein soweit autonomes Phänomen, dass die ihr untergeschobene ethische Grundhaltung auch die der klassenlosen Gesellschaft sein kann. So bezeuge die Sonatenform den gesellschaftlichen Fortschritt. 413 Den Inhalt der Sonate versteht Meyer als »das Ringen um die immer freiere Gestaltung der bürgerlichen Gefühlsund Gedankenwelt«, die »vorwärtsdrängend und befreiend« gewesen sein soll. Dem folge auch die Form der Sonate: »Sie ermöglicht den Ausdruck eines im Grunde positiven, lebensbejahenden, kämpferischen Weltbildes.« 414 Doch sei der Künstler kein Automat, er sei ein »ehrlich forschender, lebendiger, wacher, beobachtender Mensch«. Er habe die Fähigkeit, die »ganze Realität« aufzunehmen, einschließlich ihrer »Unter- und Gegenströmungen im Leben der Klassengesellschaft, d. h. die oppositionellen, die freiheitlichen Strömungen«. 415 Entscheidend ist hierbei die Strategie, Denken und Handeln des Künstlers vom Basis-Überbau-Schema partiell zu lösen: Meyer zufolge kann der Künstler »durch das ganze ideologische Flitterwerk hindurch diese wesentliche soziale Realität erkennen oder zumindest ahnen« und habe die Möglichkeit, »durch seine Kunst und mit ihr sich für eine Betätigung im Sinne der zukunfttragenden Gesellschaftsordnung zu entscheiden.« 416 Die Klassenzugehörigkeit des Künstlers sei zwar »sehr wesentlich, aber nicht allein entscheidend«. Schließlich sei sein Bewusstsein »durch die ganze gesellschaftliche Realität bestimmt, nicht nur durch die Einwirkung einer einzelnen Klassenideologie, wie stark diese auch sein mag«. 417 f) Dennoch erscheint es letztlich unmotiviert, auf die bürgerliche Kunst zurückzugreifen, da ihre Rezeption zu den angedeuteten Schwierigkeit führt. Weil sich aus der Argumentationsstrategie, wie sie Meyer und andere verfolgen, zumindest nicht vollständig ableiten lässt, weshalb der bürgerlichen Kunst ein so hoher Rang im Sozialismus zugestanden wird, ist schließlich ein kurzer Blick auf die politischen Rahmenbedingungen zu werfen, ohne die die sogenannte ErbeEbd., S. 71. Die Sonatensatzform als Spiegel gesellschaftlicher Konflikte zu verstehen, ist geradezu ein Topos materialistischer Musikbetrachtung. Siehe etwa auch: Georg Knepler, Zur Frage der Widerspiegelung der Wirklichkeit in Beethovens Musik, in: MuG 2 H. 3 (1952), S 66–71, hier S. 68. 414 Meyer, Musik im Zeitgeschehen, S. 71. 415 Ebd., S. 126. 416 Ebd., S. 127. 417 Ebd., S. 130. 413

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rezeption und die Umdeutung der bürgerlichen Kunst unverständlich bleiben: »Beethoven ist ein Gipfelpunkt der großen Musiktradition, zu der Meister wie Schütz, Bach und Händel, Gluck, Haydn und Mozart, Weber, Mendelssohn und Schubert, Schumann, Brahms, Wagner und andere gehören«, wird zum 125. Todestag Beethovens von politisch-offizieller Seite verkündet. 418 Wodurch kann nun diese emphatische Hinwendung zum »klassischen Erbe« motiviert sein? Denn zunächst scheint doch deren Ablehnung naheliegender zu sein, worauf – nebenbei – Marx hinweist: Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus. 419

Doch entweder ließ die proletarische Revolution nicht »die Toten ihre Toten« begraben, oder dies geschah nicht mit der gebotenen Sorgfalt, sodass diese als Untote im Gewand des »klassische Erbes« durch den real existierenden Sozialismus geistern konnten. Nicht unmaßgeblich dürfte dazu Lenins Direktive zur proletarischen Aneignung bürgerlicher Kunst beigetragen haben, mit der er diese politisch sanktionierte. Dies war indes nicht einer tieferen Einsicht in die vertrackten Zusammenhänge zwischen Kunst und Ideologie geschuldet, sondern pragmatisches Resultat einer gegen Bogdanow und den »Kongress des Proletkult« gerichteten machtpolitischen Entscheidung, 420 mit der er den »Gesamtrussischen Kongreß des Proletkult« zwang, sich dem »Volkskommissariats für Bildungswesen« unterzuordnen. 421 »Nicht Erfindung einer neuen Proletkultur,« so Lenins Maxime, 418 Zum 125. Todestag Ludwig van Beethovens am 26. März 1952, in: ZK der SED (Hg.), Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 3, Berlin 1952, S. 751–758, hier S. 757. 419 MEW 8, S. 117. 420 Wladimir Iljitsch Lenin, Lieber weniger, aber besser [1923], in: Über Kunst und Literatur. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden, Berlin 1960, S. 457– 459, hier S. 457. 421 Wladimir Iljitsch Lenin, Über proletarische Kultur [1920], in: Über Kunst und Literatur, S. 374–375, hier S. 375.

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»sondern Entwicklung der besten Vorbilder, Traditionen und Ergebnisse der bestehenden Kultur vom Standpunkt der marxistischen Weltanschauung und der Lebens- und Kampfbedingungen des Proletariats in der Epoche seiner Diktatur.« 422 Die »Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters« sollten nicht abgelehnt, sondern angeeignet und verarbeitet werden. »Nur die weitere Arbeit auf dieser Grundlage und in dieser Richtung, inspiriert durch die praktische Erfahrung der Diktatur des Proletariats, dieses seines letzen Kampfes gegen jegliche Ausbeutung, kann als Aufbau einer wirklich proletarischen Kultur anerkannt werden.« 423 Diese Prämisse führte dann zu einem Geschichtsdenken, in dem sich Schostakowitsch gleichermaßen wie Beethoven, der wie kein anderer ›bürgerlicher‹ Komponist zu Propagandazwecken verwertet wurde, für die »Erziehung zum tätigen Optimismus« vereinnahmen ließen. 424 In der Frühphase der DDR lässt sich anhand politischer Entscheidungen, die bürgerliche Kunst in den Dienst gesellschaftlicher Umerziehung zu stellten, die Umsetzung dieser Forderung nachvollziehen. Der erste Schritt dieser Umerziehung zielte darauf, in die Kunst des bürgerlichen Erbes einen Humanismus hineinzuprojizieren, der proletarischen Werten entsprechen sollte. 425 Hierfür diente bis zu seiner Teilnahme am Ungarnaufstand Lukács in seiner emphatischen Betonung der klassischen und realistischen bürgerlichen Kunst als unumstrittene Autorität. 426 g) Neben der »Erbepflege« gab es, noch vor der kulturpolitischen 422 Wladimir Iljitsch Lenin, Über »Proletkult« und proletarische Kultur [1920], in: Über Kunst und Literatur, S. 372–373, hier S. 373. 423 Lenin, Über proletarische Kultur, S. 375. 424 Karl Laux, Dmitri Schostakowitsch. Chronist seines Volkes, Berlin 1966 (Beiträge zur Kulturpolitik), S. 22. Sämtliche Topoi dieser Beethovenrezeption finden sich komprimiert in: Karl Laux, Ludwig van Beethoven. Genius der Nation, hg. vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, Abteilung Agitation und Propaganda, Berlin 1955. Siehe auch Elaine Kelly, Composing the Canon in the German Democratic Republic. Narratives of Nineteenth-Century Music, New York 2014, S. 40–49. 425 Wolfram Schlenker, Das »kulturelle Erbe« in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945–1965, Stuttgart 1977, S. 66–73. Sowie aus der Perspektive offizieller DDR-Musikhistoriographie: Heinz Alfred Brockhaus u. Konrad Niemann (Ltg. d. Autorenkollektivs), Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1976, Berlin 1979 (Sammelbände zur Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik 5), S. 70. 426 Caroline Gallée, Georg Lukács. Seine Stellung und Bedeutung im literarischen Leben der SBZ/DDR 1945–1985, Tübingen 1996 (Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 4), S. 154–171.

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Wende des sogenannten Bitterfelder Weges, zugleich eine zweite kulturpolitische Richtungsentscheidung, nämlich die »Propagierung und Schaffung einer revolutionären sozialistischen Literatur und Kunst«, 427 die dann parallel zur Abwehr des »Formalismus« 428 in den sozialistischen Realismus mündete, deren Werke idiomatisch an das »klassische Erbe« anknüpften und programmatisch den sozialistischen Fortschritt zu verkünden hatten. Der sozialistische Realismus lässt sich historisch auf Wladimir Stassow zurückführen, der im Nationalismus und im Realismus die Kernelemente der russischen Kunst sah. Er propagierte einen sozialen, gegen die Autonomieästhetik gerichteten Realismus, 429 für den ihm die Musik von Borodin, Balakirew, Cui, Korsakow und Musorgski als prototypisch galt. 430 Der Imperativ der praktischen Relevanz von Musik – wie von Kunst überhaupt – wird hier auf die plakativste Weise umgesetzt. 431 So schmäht Bertold Brecht Ernst Hermann Meyers Mansfelder Oratorium, Vorzeigestück des sozialistischen Realismus, 432 als »schmalzersatz und kunsthonig«. 433 Frei von jedem kritischen Unterton formuliert dagegen Lippold, dass die Künste »aktiv zur Entwicklung und Ausprägung neuer gesellschaftlicher Beziehungen« beitragen. Sie seien Spiegel gesellschaftlicher Praxis würden diese vom »Standpunkt des sich entwickelnden ästhetischen Ideals der Arbeiterklasse« werten. »Sie wecken im Kunstgenießenden schöpferische Aktivität und fördern damit die Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis. Diese konstruktiv-mitbauende Funktion ist allen Künsten gemeinClaus Träger, Studien zur Erbetheorie und Erbeaneignung, Leipzig 1981, S. 131– 132. 428 ZK der SED, Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur [1951], in: dass. (Hg.), Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 3, Berlin 1952, S. 431–446. 429 Tischer, Matthias, Inhaltsästhetik – überzeitlich und zeitbedingt, in: Berg u. a. (Hg.), Zwischen Macht und Freiheit, S. 63–76, hier S. 71. 430 Ebd., hier S. 70. 431 Zur theoretischen Begründung des sozialistischen Realismus aus offizieller Binnenperspektive siehe Kagan, Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik; und Hans Koch (Gesamtleitung), Zur Theorie des sozialistischen Realismus, hg. v. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Lehrstuhl für Marxistisch-Leninistische Kultur- u. Kunstwissenschaften, Berlin 1974. 432 Günter Altmann, Oratorium, Kantate, kantatenartige Werke, in: Mathias Hansen (Hg.), Ernst Hermann Meyer. Das kompositorische und theoretische Werk, Leipzig 1976 (Handbücher der Sektion Musik), S. 27–46, hier S. 30 433 Bertolt Brecht, Arbeitsjournal 2 (1942–1955), hg. v. Werner Hecht, Frankfurt a. M. u. a. 1974, S. 991. 427

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Ästhetik

sam.« 434 Die sich hier zeigende Verbindung von Mimesis und Ethos gibt – gewissermaßen als Konzentrat dieser Ästhetik – ein Pamphlet gegen den »Formalismus« in der Kunst wieder, 435 das allerdings »bereits in der damaligen Zeit heftige Gegendiskussionen ausgelöst« hat und dessen versimplifizierenden und jede auch nur ansatzweise von der offiziellen Ästhetik abweichenden Kunstrichtungen diskreditierenden Aussagen vor allem in späterer Zeit heftig widersprochen wurde: 436 Die Musik muß das gesellschaftliche Leben wahrhaft widerspiegeln. Das kann sie nicht, wenn der Künstler vermeint, losgelöst vom Volke ein Eigenleben führen zu können. Sie muß mit den ihr eigenen Mitteln, in klarer verständlicher Aussage den Menschen emporheben und ihm Kraft geben im Kampfe zur Überwindung der Widerstände, die einer höheren gesellschaftlichen Entwicklung entgegenstehen. 437

434 Eberhard Lippold, Zu einigen aktuellen Problemen der marxistischen Musikästhetik, in: Jürgen Elsner u. Givi Šioevič Ordžonikidze (Hg.), Sozialistische Musikkultur. Traditionen, Probleme, Perspektiven, Berlin 1977, S. 34–57, hier S. 34. 435 Fidelio F. Finke u. a., Arbeits- und Studienmaterial zu Fragen des Formalismus und Realismus in der Musik, o. O. 1952. 436 Manfred Vetter, Zur Dialektik von Historizität und Aktualität bei der Darstellung musikgeschichtlicher Zusammenhänge, in: Ästhetische und gesellschaftliche Aspekte der DDR-Musikgeschichtsschreibung, S. 22–34, hier S. 28. 437 Finke u. a., Arbeits- und Studienmaterial, S. 21.

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4. Historiographie

Die im vorangegangenen Kapitel diskutierten Konzepte einer realistischen Ästhetik sind das Fundament der marxistisch-materialistischen Historiographie. Folge des mimetischen Denkens in der Ästhetik sind Versuche, Kunstwerke über ihren Abbildcharakter als Dokumente historischer Sachverhalte zu beschreiben: Die der Nachwelt hinterlassenen Kunstwerke illustrieren Ereignisse der Vergangenheit, zu deren Verständnis die Entschlüsselung eines Werkes beitragen kann. Das Abbilddenken, das in der materialistischen Musikästhetik ursprünglich aus unmittelbaren menschlich-kommunikativen Lebensäußerungen hergeleitet wird, wird nun gewissermaßen generalisiert. Musik wird die Fähigkeit zugesprochen, das gesamte Spektrum der menschlichen Lebensrealität abbilden zu können, das von menschlichen Emotionen bis hin zu sozialen Sachverhalten oder Konflikten reicht (Kapitel 4.1). Folge des Ethosbegriffs im ästhetischen Denken ist das Ansinnen, mit den Mitteln der Dialektik 438 aus der Perspektive der eigenen Gegenwart einen Sinn in bestimmte Werke der Vergangenheit zu projizieren, der sie als Vorschein einer erst noch hereinbrechenden Zukunft erscheinen lässt. Ohne die im vorangegangenen Kapitel skizzierten Umdeutungsstrategien, mit denen den Werken des ›bürgerlichen‹ Kanons ein herausgehobener ethischer Stellenwert zugeschrieben wird, wäre keine marxistische Musikhistoriographie möglich, die die Musikgeschichte auf ihren unterstellten finalen Sinn hinauslaufen lässt: Die in den Kanon bedeutender Kunst eingegangenen Werke beziehen Stellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit und weisen ideologiekritisch und aufklärerisch zugleich über diese hinaus (Kapitel 4.2). 439 Siehe S. 107 ff. dieser Arbeit. Zum Umgang mit dem sogenannten Kanon der Musik, also den sich als bedeutsam herauskristallisierten Werken der klassisch-romantischen Tradition, siehe die erst kürzlich erschienene Publikation von Kelly, Composing the Canon in the German Democratic Republic. Die Autorin fokussiert ihre Darstellung u. a. sehr detailliert auf die Rezeption von Beethoven und Wagner. 438 439

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Historiographie

Die Trennung zwischen einem methodischen Ansatz, mit dem das Werk als Dokument, und einem, mit dem es als Vorschein in den Blick genommen wird, suggeriert die Möglichkeit einer eindeutigen Distinktion zweier Typen historischen Verstehens. Zwar ist, womit die trennende Darstellung auch gerechtfertigt ist, meist eine Tendenz Richtung »Dokument« oder »Vorschein« in der Ausrichtung einer Werkdeutung zu erkennen. Doch de facto oszillieren oft die historiographischen Zugriffe auf ein Werk zwischen beiden Möglichkeiten. Selbst dann, wenn ein Werk einen historischen Kontext nur als Dokument zu illustrieren scheint, so sind die Auswahl dieses Werkes als Dokument und die an ihm herausgestellten Merkmale dem Erkenntnisinteresse einer späteren Epoche geschuldet, deren Wertungen und Wünsche in das Werk rückprojiziert werden. Umgekehrt wird ein als Vorschein gedeutetes Werk meist auch als Produkt und Zeugnis seiner historischen Entstehungsbedingungen begriffen. Beide Typen der Werkauslegung basieren auf zwei prinzipiellen Möglichkeiten historischen Verstehens: der Hermeneutik und der Ideologiekritik. 440 Diese lassen sich auch mit Emil Angehrn als rekonstruktives 441 und kritisches Verstehen 442 bezeichnen, wobei letzteres als »Hermeneutik des Verdachts« ideologiekritisch ist: An einem Werk zeigt sich etwas, das dem Autor selbst gar nicht bewusst ist; die Implikationen seiner Handlung bleiben dem Komponisten letztlich verborgen: Wenn sich seine Intention auf vermeintlich rein innermusikalische Probleme der Komposition richtet, so bleibt für ihn der eigentliche Sinn seines Tuns im Dunkeln, der erst im Licht der Ideologiekritik sichtbar wird; dieser Sinn erschließt sich dann über ins Werk eingegangene soziale Sachverhalte, politische Gesinnungen usf. 443 So wird sich an mehreren Bespielen ideologiekritischen Verstehens immer wieder zeigen, dass ›Realismus‹ primär eine Sache der Zuschreibung ist. Ob manch ein Werk des ›klassischen Erbes‹ als realistisch bestimmt werden kann, entscheidet sich nicht primär an der Intention seines Autors, sondern in hohem Maße an der des Rezipienten, dessen geschichtsmaterialistisch geschulter Weltblick aus

Siehe S. 40 ff. dieser Arbeit. Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, 2. Aufl., Weilerswist 2004, S. 72–91. 442 Ebd., S. 91–100. 443 Knepler, Über die Nützlichkeit marxistischer Kategorien für die Musikhistoriographie, S. 40. 440 441

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Historiographie

einem Werk bürgerlicher Provenienz Sympathien für die Klasse der Mühseligen und Beladenen herauszulesen in der Lage ist. Ideologiekritisches Denken unterliegt der Gefahr, selbst sehr stark ideologisch belastet zu sein. 444 Dies ist der Fall, wenn die eigenen Wertungen und die eigene Interpretation der Wirklichkeit in die allein geltende Wahrheit umgedeutet werden bzw. die Relativität des wertenden Blicks auf die Wirklichkeit verkannt, verdrängt oder bewusst ausgeblendet wird. Dieser Kurzschluss zwischen partikularer Weltsicht und absoluter Wahrheit bestimmt allzu oft die wissenschaftliche Praxis – ohne allerdings explizit zutage zu treten. Wie angedeutet, ist der Realismus eines musikalischen Werkes zunächst eine Sache der Zuschreibung, die innerhalb eines Diskurses über dieses Werk getroffen wird. Wird aber geleugnet, dass es sich hier immer nur um Interpretationen handelt, die prinzipiell offen für weitere oder plausiblere sein müssen, und werden sie umstandslos für die universal geltende Weltsicht ausgegeben, werden sie nicht nur selbst zur Ideologie, sondern immunisieren sich zugleich gegen Kritik und lassen damit ein Minimalkriterium von Wissenschaftlichkeit vermissen. Den Interpretationen, von denen hier die Rede sein wird, liegen wertende Weltsichten zugrunde. Dass Wissenschaft Wertungen nicht vermeiden kann, sondern diese immer schon Teil ihrer gesellschaftlich verankerten Praxis sind, ist eine Tatsache, die man zwar monieren, kaum aber umgehen kann; zu kritisieren sind Wertungen, die sich in ihrem bewussten oder unbewussten Absolutheitsanspruch jedem offenen Diskurs entziehen. 445 In dem Moment, in dem die Partikularität des eigenen Standpunkts offen und transparent in den Diskurs mit eingebracht und damit der Geltungsbereich der eigenen Aussagen relativiert wird, ist der eigene Standpunkt unschädlich oder sogar insofern von Nutzen, als er wissenschaftlich produktive Kontroversen provozieren kann. Karl Mannheim hat dies in seiner Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff klar gesehen. »Bisher hat man«, so Mannheim, »bestimmte Gehalte bekämpft, dafür aber um so hartnäckiger die eigenen verabsolutiert; jetzt gibt es zu viel gleichwertige, auch geistig gleich-mächtige Positionen, die sich gegenseitig relativieren, als daß sich ein einziger Gehalt oder eine einzige Position

444 445

Zum Ideologiebegriff, wie er hier verwendet wird, siehe S. 43 dieser Arbeit. Kocka, Sozialgeschichte, S. 41–46.

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Historiographie

dermaßen verfestigen könnte, daß sie sich absolut nehmen dürfte.« 446 Die Funktion historischer Forschung besteht darin, dass »sie diese notgedrungen und für den Augenblicksbedarf unumgänglichen Selbsthypostasierungen immer wieder rückgängig macht und in einer steten Gegenbewegung die Selbstvergottung immer wieder relativiert, um auf diesem Wege ein Offensein zur Ergänzung zu erzwingen.« 447

4.1 Das Werk als Dokument Carl Dahlhaus vertritt in seinen Grundlagen der Musikgeschichte die These, dass der Historiker, wenn er ein Werk als Dokument seiner Zeit allein über die Auslegung innermusikalischer Sachverhalte interpretieren will – also nicht über Programme, Texte usf. –, zwar gezwungen ist, die Annahme musikalischer Autonomie preiszugeben, diese aber zugleich doch wieder unterstellen muss. Die »intern musikalische Entwicklung« wird »gerade dadurch zum getreuen Bild der extern gesellschaftlichen […], daß sie sich deren unmittelbarer Einwirkung durch das Insistieren auf Formproblemen entzieht.« Musik wird »gerade durch ihre Autonomie gesellschaftlich beredt«, sodass »bei der Entzifferung dessen, was sie sagt, die Autonomie, obwohl sie überschritten wird, nicht preisgegeben werden darf«. Anscheinend liegt hier ein Widerspruch vor, wenn in Dahlhaus’ Argument der Begriff der Autonomie eine gleichbleibende Bedeutung besitzt. Doch offenbar ist dies nicht der Fall. Implizit wird in diesem Gedankengang der Autonomiebegriff von einem absoluten zu einem relativen abgeschwächt: Der Komponist erarbeitet Formprobleme und ihre Lösungen, wobei er sich als ein nicht von sozioökonomischen Bedingungen bestimmtes Subjekt wähnt, obgleich das Resultat seiner Arbeit gegen seine Intention doch zu einem – durch welche Ursachen auch immer – artifiziell geprägten Bild der äußeren Realität werden soll. Jegliche Autonomie zu leugnen, führte gewissermaßen dazu, dass sich das Kunstwerk selbst abschafft: Es wäre nichts als das getreue und ungebrochene Abbild einer äußeren Realität, ohne dessen artifizielle Gestaltung durch ein selbstständiges Subjekt. Denn würde »Musik das, was sie ausdrückt, nicht durch ihre Form ausdrücken, so wäre es 446 447

Karl Mannheim, Ideologie und Utopie [1929], 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1995, S. 76. Ebd.

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Das Werk als Dokument

überflüssig, daß sie es überhaupt ausdrückt.« 448 Deshalb betonen selbst jene Autoren, die an den von Lenin aufgestellten ›Gesetzen‹ der Widerspieglung unbedingt festhalten wollen, eine Eigenleistung des Subjekts, 449 die in marxistischen Diskursen als »relativ autonom« beschrieben wird. 450 Als prototypisch für die dokumentarische Auslegung eines Kunstwerkes in diesem Sinne kann eine Passage aus Ernst Blochs Prinzip Hoffnung angeführt werden, nach der Musik Ausdruck »der Zeit und Gesellschaft [ist], worin sie entsteht«, wobei »Ausdruck« hier nicht als »romantischer« oder »gar scheinbeliebig subjektiver« misszuverstehen ist: 451 Die gesellschaftlichen Tendenzen selber haben sich im Klangmaterial reflektiert und ausgesagt, weit über die gleichbleibenden Naturtatsachen, auch weit über das bloß romantische Expressivo hinaus. Keine Kunst ist so sehr sozial bedingt wie die angeblich selbsttätige, gar mechanisch selbstgerechte Musik; es wimmelt in ihr von historischem Materialismus und eben von historischem. 452

Bloch untermauert dieses Postulat mit Assoziationen zwischen sozialen und innermusikalischen Strukturen wie etwa der, dass dem »beginnenden Unternehmertum« die »Herrschaft der melodieführenden Oberstimme und die Beweglichkeit der übrigen ebenso [entsprechen], wie der cantus firmus in der Mitte und die gestufte Vielstimmigkeit der ständischen Gesellschaft entsprochen haben.« Komponisten erfüllen einen »jeweils genau variierten gesellschaftlichen Auftrag«, der »von der Form der Aufführung bis in den Duktus des tonalen Materials und seine Komposition, bis in den Ausdruck, die Aussage des Inhalts« reicht. So spiegeln Händels Oratorien »in ihrem festlichen Stolz das aufsteigende imperialistische England, die Adaption, das auserwählte Volk zu sein«. Die neue Sachlichkeit deutet Bloch als Spiegel von »Entfremdung, Versachlichung, Verdinglichung im späten Kapitalismus«. Kurz: »Es ist die Konsumentenschicht und ihr Auftrag, es ist die Gefühls- und Zielwelt der jeweils herrschenden Klasse, die in Musik sich jeweils expressiv macht.« 453 448 449 450 451 452 453

Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 182–183. Siehe hierzu die Beispiele in Kapitel 3.1. Siehe hierzu Kapitel 4.2 und 5.3. Bloch, Das Prinzip Hoffnung 3, S. 1249. Ebd. Ebd.

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Historiographie

Die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts von Georg Knepler geht im Kern von diesem Ansatz materialistischer Musikgeschichtsbetrachtung aus, wird dort aber mit zahllosen Analysen verschiedener Werke differenzierter ausgearbeitet. »Wie das Gesamtbild der Epoche sich im Splitter des Einzelbewußtseins spiegelt,« so Knepler gut 20 Jahre später, »das kann dem Forscher durch das Studium der individuellen Lebensbedingungen und -ereignisse (oft, sogar meist) klarer werden als durch sonst eine Methode.« Wenn er der Aufgabe gerecht wird, »gedankliche und kompositorische Strukturen miteinander in Beziehung zu setzen«, dann kann er zeigen, dass »Musik Zeichen bilden kann für Nicht-Musikalisches, für ›Heterogenes‹ […]. Und dieses andere, Heterogene, Nicht-Musikalische, auf das Musik sich bezieht, ist immer gesellschaftlicher und historischer Natur. Je reicher, je heterogener das herangezogene Beobachtungsmaterial ist, desto besser die Chance, Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten.« 454 Prinzipiell ist Versuch einer materialistisch fundierten Historiographie indes keine Erfindung des Marxismus. Knepler beruft sich bewusst auf ›bürgerliche‹ Vorbilder des 19. Jahrhunderts. 455 So ist etwa nach Franz Brendel der Inhalt der neunten Symphonie von Beethoven »mit allen Fragen der Zeit« in Verbindung zu bringen: »So weit ab jene Fragen der Tonkunst scheinbar stehen, so nahe berühren sie die Schöpfungen Beethovens. Es ist der Demokrat Beethoven, der sich überall ausspricht.« 456 Doch auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die stark von Konzepten der Stilgeschichte geprägt ist, 457 sind sozialgeschichtliche Ansätze präsent. Die folgende Auswahl einiger Beispiele soll zeigen, dass Knepler und die wie er verfahrenden Autoren bewusst oder unbewusst in einer – teils bürgerlichen, teils marxistischen – Tradition soziologisch ausgerichteter Musikgeschichtsschreibung stehen. Mit dieser teilen sie die methodische Vorentscheidung, die innere Struktur musikalischer Werke als Spiegel oder Analogie der Strukturen der Wirklichkeit auszulegen. 454 Knepler, Über die Nützlichkeit marxistischer Kategorien für die Musikhistoriographie, S. 40. 455 Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. S. 415, S. 419, S. 439–442 u. S. 575. 456 Franz Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart. Fünfundzwanzig Vorlesungen 2, Leipzig 1855, S. 50–51. 457 Burkhard Meischein, Paradigm Lost. Musikhistorischer Diskurs zwischen 1600 und 1960, Köln 2010, S. 230–231, S. 239 u. S. 246–247.

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Das Werk als Dokument

Die 1953 von Hans Mersmann angestellten Überlegungen zur Rolle der Soziologie in der Musikwissenschaft sind in ihrer Intention mit vielen Fragestellungen der marxistischen Musikwissenschaft vergleichbar. 458 Wenn das Kunstwerk soziologisch befragt werde, so sei immer von den eigenen Gesetzen der Musik auszugehen und nach »Spiegelungen« und der soziologischen Bestimmung der künstlerischen Aussage zu fragen. 459 Die Entfaltung dieser Spiegelungen, die die »Strukturgesetze des Kunstwerks« prägten, verlange nach methodischer Achtsamkeit, denn gerade in der Instrumentalmusik seien sie nicht ohne Weiteres so offensichtlich wie etwa in der textgebundenen Vokalmusik. 460 »Sollten die Erschütterungen«, fragt Mersmann, »der größten Revolution unserer neueren Geschichte nicht auch, gleich der Ausschlagnadel des Seismographen, in der feineren Sprache der Instrumentalmusik spürbar werden?« Doch seien solche Spiegelungen »nur sehr vorsichtig in Worte zu fassen; denn wir stehen bei ihnen an der Grenze des Beweisbaren.« 461 Kurt Blaukopf beruft sich in seiner 1952 erschienenen, doch schon 1938 abgeschlossenen 462 Untersuchung zur Soziologie der Tonsysteme explizit auf einen marxistischen Ansatz. 463 Seine Orientierung am historischen Materialismus nimmt Knepler durchaus anerkennend wahr. 464 Nach Blaukopf wird die Stilgeschichte nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte der Menschheit verständlich und bleiben die »Veränderungen des ästhetischen Urteils […] ohne Erklärung, wenn die sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren keine Berücksichtigung finden.« 465 In diesem Sinne ist auch der »Einfluss der Gesellschaftsstruktur auf die Gestalt des Tonsystems und dessen Handhabung durch die Menschen« zu untersuchen. 466 Eine »wertfreie« Musiksoziologie dagegen, wie sie Knepler zufolge unter bürgerlichen Forschern betrieben wird, kann dagegen 458 Hans Mersmann, Soziologie als Hilfswissenschaft der Musikgeschichte, in: AfMw 10 H. 1 (1953), S. 1–15. 459 Ebd., S. 4. 460 Ebd., S. 11. 461 Ebd. 462 Kurt Blaukopf, Musiksoziologie. Eine Einführung in die Grundbegriffe mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie der Tonsysteme, Köln 1952. 463 Ebd., S. 10–11. 464 Georg Knepler, Zur Methode der Musikgeschichtsschreibung, in: BzMw 3 H. 2 (1961), S. 3–13, hier S. 12. 465 Blaukopf, Musiksoziologie, S. 13. 466 Ebd., S. 25.

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keine Verbindung zwischen sozialen bzw. ökonomischen Sachverhalten und ideologischen Vorgängen beschreiben, wenn sie diese noch nicht einmal bemerkt. 467 Blaukopf nähert sich in Kneplers Urteil dagegen dem historischen Materialismus an. 468 Als wertvollen Beitrag lobt Knepler auch die 1936 von Leo Balet und Eberhard Rebling veröffentlichte Monographie über Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. 469 Schon ein Jahr zuvor hat Rebling eine Dissertation über die Die soziologischen Grundlagen der Stilwandlung der Musik in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts verfasst. 470 Doch während hier Musik und sozialer Kontext einander noch recht äußerlich und unvermittelt bleiben, zeigt die Gemeinschaftsarbeit mit Balet sozialgeschichtliche Interpretationen der Musik, obgleich sie eher auf der Ebene der von Knepler verurteilten Stilgeschichte verbleibt. So beschriebt sie etwa den Wandel von der am Reihungsprinzip orientierten Konzertform des Barock zum formalen Entwicklungsdenken der Sonate in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und versteht diesen Wandel als Ausdruck eines sich ändernden soziokulturellen Kontexts. Der das ganze Leben des 17. und frühen 18. Jahrhunderts beherrschende Absolutismus sei auf zwei Weisen zum unmittelbaren formalen musikalischen Ausdruck gelangt: 471 erstens durch ruhelose Bewegtheit als Chiffre für das Absolute, das sich formal nur durchs Hinstreben auf das Grenzenlose darstellen lasse, etwa als Reihungsprinzip, als Folge von Suitesätzen; zweitens durch symmetrisches Formdenken als Ausdruck von Souveränität, Macht und Statik. Jedes Moment und Detail der Form habe sich einem alles beherrschenden Ganzen zu fügen, so etwa in den dreisätzigen Formen der Ouvertüre und im Concerto grosso, deren einzelne Sätze wiederum durch die Binnengliederung mit ihrem Wechsel von Ritornell und Episode symmetrisch geplant sind. Gleiches gelte für die formale Symmetrie einiger Kirchenkantaten mit einem Chor am Beginn und am Ende

Knepler, Zur Methode der Musikgeschichtsschreibung, S. 11–12. Ebd., S. 12. 469 Leo Balet, E. Gerhard [Eberhard Rebling], Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert [1936], hg. u. eingel. v. Gert Mattenklott, Frankfurt a. M. u. a. 1981. 470 Eberhard Rebling, Die soziologischen Grundlagen der Stilwandlung der Musik in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Saalfeld 1935. 471 Balet, Gerhard, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, S. 468–471. 467 468

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und einer Arie als Mittelteil, die wiederum von zwei Rezitativen gerahmt wird. Die »bürgerliche Zeit« musste dagegen »diesen beiden Formprinzipien […] unbedingt ablehnen, erstens, weil die ihnen zugrunde liegende Unendlichkeits- bzw. Machtidee dem neuen bürgerlichen Lebensgefühl fremd war, dann aber auch, weil diese Formen für die Vertonung eines natürlichen Gefühlsablaufs, worin gerade das Wesen der neuen Musik bestand, nicht nur ungeeignet waren, sondern sich sogar dagegen widersetzten.« 472 In seiner frühen Schrift Zur gesellschaftlichen Lage der Musik von 1932 formuliert Adorno bereits wesentliche Grundgedanken, die er später immer wieder variiert und deren Intention Kneplers Anspruch einer nicht wertfreien Soziologie nicht unähnlich ist. Eine Aussage wie die, dass die Musik ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt, wenn sie »in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält«, 473 dürfte sich mit Kneplers Intention einer sozialgeschichtlich motivierten Analyse der Musik getroffen haben. Adornos Theoreme von der Korrespondenz zwischen Materialentwicklung und gesellschaftlichem Prozess oder vom Erkenntnischarakter der Kunst sind Resultate seiner materialistischen Grundhaltung. Daher sei auch die »Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft, gerade soweit diese ins Werk eingewandert ist und nicht bloß Äußerliches, Heteronomes, als Konsument oder Opponent der Produktion gegenübersteht.« 474 All jenes »was die Kunstwerke an Form und Materialien, an Geist und Stoff in sich enthalten,« ist – so Adorno – »aus der Realität in die Kunstwerke emigriert und in ihnen seiner Realität entäußert: So wird es immer auch zu deren Nachbild.« 475 Als Hermann Scherchen 1920 die Zeitschrift Melos gründet, will er vor allem Fragen nach der gesellschaftlichen Verankerung zeitgenössischer Musik angemessenen Raum verschaffen. Das Arbeitsgebiet der Zeitschrift soll nach seiner Vorstellung – neben dem »Problem der Tonalitätsdurchbrechung«, dem Wort-Ton-Verhältnis und der Berührung der Musik mit anderen Künsten – dem »soziale[n] 472 473 474 475

Ebd., S. 471. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, S. 731. Adorno, Philosophie der Neuen Musik, S. 39. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 158–159.

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Unterbau der Musik« gewidmet sein. 476 In einer marxistisch anmutenden Wortwahl spricht in den ersten Ausgaben des Blattes Udo Rukser von »Produktionsmöglichkeiten« und von »materiellen, physikalischen und psychischen Momente[n], welche das musikalische Kunstwerk ermöglichen.« 477 Die von politischen Richtungskämpfen und innerer Zerrissenheit geprägte gesellschaftliche Situation in der Weimarer Republik findet ihre kaum übersehbaren Analogien im zeitgenössischen Musikschrifttum. Die Fehden, die in der Sphäre der Musikästhetik ausgetragen werden, erscheinen als Spiegel gesellschaftspolitischer Kontroversen, deren unversöhnlich-ideologische Wortwahl und deren martialischer Duktus oftmals ungebrochen übernommen werden. Eckhard John zeigt dies anhand des damaligen Schlagworts »Musikbolschewismus«. Es erübrigt sich hier, seine Beispiele, die er in eindrucksvoller Vielfalt liefert, zu reproduzieren. Sie zeigen, wie selbstverständlich politische Gesinnungen mit kompositorischen Techniken parallelisiert werden, wenn etwa von konservativ-reaktionärer Seite verschiedene Typen der damals neuen Musik bezichtigt werden, in der »Zersetzung« der Tonalität Abbild und zugleich Impuls für die »Zersetzung« der staatlich-politischen Ordnung zu sein. 478 Einige Grundgedanken von Adorno und Knepler scheinen in den soziologisch orientierten Schriften von Paul Bekker vorgeprägt zu sein. In Das deutsche Musikleben von 1916 will er die ästhetische Form an die soziale Struktur ihrer Zeit gebunden 479 und die »Gestaltungsgesetze der Materie« nicht von »innerorganischen Gesetzen« bestimmt wissen – Bekker spricht von Materie und nicht vom musikalischen Material. Musik sei stattdessen soziologisch bedingt. Das Klangbild sei »ein in Klangmaterie umgesetztes Gesellschaftsbild, kein ästhetisches, sondern ein soziologisches Klangsymbol.« 480 Die Musik sei »durch die gestaltenden Gesetze ihrer Materie mit dem Hermann Scherchen, Geleitwort, in: Melos 1 (1920), S. 1–3. Udo Rukser, Die Situation der heutigen Musik, in: Melos 1 (1920), S. 188–189, hier S. 188. – Siehe auch vom selben Autor: Expressionismus als Ziel?, in: Melos 2 (1921), S. 26–27. 478 Eckhard John, Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938, Stuttgart u. Weimar 1994. 479 Paul Bekker, Das deutsche Musikleben [1916], 3. Aufl., Stuttgart u. Berlin 1922, S. 219. 480 Ebd., S. 8. 476 477

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Gesellschaftswesen ihrer Zeit unlösbar verflochten«. Doch werde der Komponist dadurch keineswegs »soziologisch tyrannisiert«, sondern »je mannigfaltiger und reichhaltiger die soziologischen Vorbedingungen« seien, um so »kräftigere Reibungsflächen bieten sie dem Schaffenden, um so bedeutsamer kann sich an ihnen die Persönlichkeit entfalten«. 481 Wie auch Knepler und Adorno gilt Bekker der Komponist als Kritiker seiner Gesellschaft und Kultur. So hätten sich Beethoven und Wagner »mit ihrer Kritik gegen eine alte, absterbende Gesellschaftsordnung zugunsten einer neuen« gewandt. 482 Kurz: »Kunst ist Gesellschaftskritik«. 483 Die Aufgabe des Komponisten sei durch seine »Fähigkeit zu persönlicher Anschauung und Lösung des stets sich neu darbietenden Gesellschaftsproblems« bestimmt. 484 Der ein Jahr später veröffentlichte Aufsatz Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler ist von einem mehr oder weniger teleologischen Denken geprägt – auch hierin ist Bekker nicht weit von Knepler entfernt. 485 Seine Erzählung der Musikgeschichte zwischen Beethoven und Mahler ist fortschrittsorientiert an einem Demokratieideal ausgerichtet, das im Grunde schon bei Beethoven verwirklicht worden sei – jedoch historisch zu früh und daher folgenlos. 486 Dieses Demokratieideal sei durch Musik zu verwirklichen, indem sie Unterschiede der »Bildungsklassen« aufhebe und »Allgemeinwirkung in die Breite« ermögliche. 487 Allein die gesellschaftsbildende Fähigkeit des Kunstwerkes bestimme Bedeutung und Wert des Kunstwerkes. 488 Erst Mahler habe wieder Kunstwerke im Geiste dieses Ideals und im Geiste Beethovens schaffen können. 489 Schließlich gehört in diesen Zusammenhang Max Webers 1912/ 1913 entstandene und erst – nach seinem Tod – 1921 erschienene Studie über Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, 490 die wahrscheinlich nicht – zumindest nicht in der unabgeEbd. Ebd., S. 11. 483 Ebd., S. 12. 484 Ebd., S. 13. 485 Paul Bekker, Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler [1917], in: Neue Musik, Stuttgart u. Berlin 1923 (GS 3), S. 1–40. 486 Ebd., S. 10. 487 Ebd., S. 30. 488 Ebd., S. 11. 489 Ebd., S. 39–40. 490 Max Weber, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, Tübingen 1921. 481 482

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Historiographie

schlossenen Form – zur Veröffentlichung bestimmt war. 491 Von sozialgeschichtlichem Interesse ist Webers Ansatz, weil er den Rationalisierungsprozess der Musik bis hin zur Funktionsharmonik im Zusammenhang mit der Entstehung der Notenschrift und der Entwicklung des temperierten Systems deutet. Der soziale Rahmen steht damit der Musik zwar nicht unvermittelt gegenüber, 492 doch bleibt die sozialgeschichtliche Problemstellung – der vorhandenen Anlagen zum Trotz – nur sehr schwach ausgeprägt, sodass es vielleicht verwundern mag, Webers Studie im Zusammenhang mit der Frage nach einer materialistischen Musikgeschichtsschreibung anzuführen. Doch wirkte seine Studie inspirierend. Kurt Blaukopf beruft sich explizit auf sie, 493 und Anatoli Lunatscharski widmet ihr eine ausführliche Besprechung. 494 Es scheint für Lunatscharski nur schwer zu verkraften zu sein, dass Weber – so sein Urteil – zwar eine eigentlich progressive Gesinnung habe, aber trotzdem kein Marxist sei, weshalb er mit seinen im Grunde materialistischen Überlegungen gewissermaßen auf halbem Wege habe stehenbleiben müssen. 495 Weber erwähne nur beiläufig, dass die Rationalisierung der Musik zwar zum einen nach einer inneren Gesetzmäßigkeit verläuft, aber zum anderen immer auch durch außermusikalische Einflüsse geprägt wird. 496 »In welchem Maße die Rationalisierung der Musik bestimmte soziale Bedingungen widerspiegelt«, komme bei Weber nur sehr unvollkommen zur Sprache. 497 Die Tradition dieses Musikdenkens, vermeintlich autonome musikalische Strukturen sozial zu dechiffrieren, ließe sich nun weit ins 19. Jahrhundert hinein zurückverfolgen. So gilt es ebenso hier wie für die marxistisch-materialistische Ästhetik, 498 dass im Marxismus bereits existierende Denkfiguren und Interpretationsmuster auf491 Heinz-Dieter Sommer, Max Webers musiksoziologische Studie, in: AfMw 39 H. 2 (1982), S. 79–99, hier S. 80–81. Siehe auch Kurt Blaukopf, Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musiksoziologie, 2. Aufl., Darmstadt 1996, S. 133. 492 Sommer, Max Webers musiksoziologische Studie, S. 92–93. 493 Blaukopf, Musik im Wandel der Gesellschaft, Vorwort zur zweiten Auflage. 494 Anatoli Lunatscharski, Über die soziologische Methode in der Musiktheorie und Musikgeschichte. Max Webers Musikbuch [1925], in: Die Revolution und die Kunst. Essays, Reden, Notizen, ausgew. u. aus d. Russ. übers. v. Franz Leschnitzer, Dresden 1962, S. 32–53. 495 Ebd., S. 33–34. 496 Ebd., S. 51. 497 Ebd., S. 40–41. 498 Siehe S. 124 dieser Arbeit.

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Das Werk als Vorschein

gegriffen und auf spezifische Weise umgearbeitet werden. Das Widerspiegelungs- und Abbilddenken, das zunächst die marxistisch-materialistische Ästhetik fundiert, liefert somit auch den Ausgangspunkt für ein historisches Verstehen, das ein Kunstwerk als Zeugnis oder Dokument seiner Zeit auf seine Relation zur Wirklichkeit befragt und es zugleich als Aussage über diese Wirklichkeit entziffert.

4.2 Das Werk als Vorschein In der marxistischen Kunstbetrachtung geht die dokumentarische Deutung eines Werkes nahtlos in Bemühungen über, Werke auch in Relation zu den politisch-normativen Grundlagen der eigenen Gesellschaft zu beschreiben. Dem als gelungen erachteten Kunstwerk vergangener Zeiten wird die Eigenschaft zuerkannt, seine materiellen Entstehungsbedingungen aus einer bestimmten und wertenden Perspektive zu spiegeln, in dieser Perspektive aber auch den Ausblick auf eine noch ferne Zukunft durchschimmern zu lassen: »In Händels Schaffen treten außerordentliche Züge der Antizipation hervor. Seine bedeutendsten Oratorien enthalten einen Demokratismus, der bereits über die bürgerlichen Möglichkeiten hinausweist.« 499 So erweisen sich nach Johanna Rudolph »Händels Rückgriffe auf die Tradition […] als Vorgriffe neuer historischer Bezüge, als tragfähig für eine Kunst großen perspektivischen Gehalts.« 500 Die Denkfigur, von der dieses Geschichtsverständnis getragen ist, wird von Ernst Bloch direkt benannt, wenn ihm zufolge die Klassenideologien, »worin die Großwerke der Vergangenheit stehen, […] genau auf jenen Überschuß über das standortgebundene falsche Bewusstsein [führen], der fortwirkende Kultur hießt, also Substrat des antretbaren Kulturerbes ist.« 501 Dieser Überschuss verweist auf die Zukunft: Er wird »erzeugt durch nichts anderes als durch die Wirkung der utopischen Funktion in den ideologischen Gebilden der kulturellen Seite«. 502 Vorausgesetzt ist hier ein bestimmter Begriff von Fortschritt, zu dem die einzelnen Werke der Geschichte in einer je unterschiedlichen Johanna Rudolph, Händelrenaissance 2. Händels Rolle als Aufklärer, Berlin u. Weimar 1969, S. 5. Zu dem dialektischen Denken, wie es sich hier zeigt, siehe 39 ff. dieser Arbeit. 500 Ebd., S. 238. 501 Bloch, Das Prinzip Hoffnung 1, S. 177–178. 502 Ebd., S. 178. 499

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Relation stehen und durch den überhaupt erst die gelungenen von den belanglosen oder gar reaktionären Werken geschieden werden können. Ein gelungenes Werk wird als Zeugnis für das in seiner eigenen Gegenwart vorhandene Potenzial einer besseren Zukunft verstanden; an ihm sollen sich – so es denn nur richtig entziffert wird – die Möglichkeiten einer Epoche ablesen lassen, ihre Missstände zu überwinden. Wenn die Chancen der Welt auf Fortschritt beurteilt werden sollen, so ist Georg Knepler zufolge die »Ergründung des subjektiven Faktors« entscheidend, wofür sich zwei Möglichkeiten anbieten: Die traditionelle besteht darin, »Rückschlüsse und Prognosen über das Denken und Verhalten von Menschen aus der Analyse des bisherigen Verlaufs einer gegebenen Epoche vorzunehmen.« Die andere, nach Kneplers Einschätzung viel zu wenig beachtete und angewandte Methode, »verspricht Informationen über den subjektiven Faktor, die auf keine andere Weise zu gewinnen sind; sie besteht in der Befragung der Kunstproduktion einer Epoche«. Weil die »subjektive Bereitschaft und Fähigkeit« maßgeblich ist, damit die »objektiven Möglichkeiten« einer Epoche auch zu gesellschaftlichem Fortschritt führen können, kann die Kunstproduktion einer Epoche Rückschlüsse auf die Chancen des Fortschritts zulassen. 503 In Kneplers Sinne beinhalten Kunstwerke damit zumindest potenziell die Antizipation einer besseren Zukunft. Werden die in ihnen verborgenen Botschaften nur richtig entziffert, so geben sie Auskunft über die Möglichkeit und die Richtung des Fortschritts, der in seiner Entstehungszeit angelegt ist. Adornos Fortschrittsdenken musste in diesem Zusammenhang provokativ wirken. 17 Jahre vor Geschichte als Weg zum Musikverständnis diskreditiert Knepler Adornos Ästhetik als »nihilistisch-dekadent«, die, sobald »man ihren Kern aus den gewundenen Gedankengängen« herausgeholt habe, auf »den allgemeinen Bankrott der bürgerlichen Philosophie« zurückzuführen sei. 504 Doch in Geschichte als Weg zum Musikverständnis ist Knepler deutlich milder gestimmt und sogar bereit anzuerkennen, dass Adorno einen – wenn auch mehr oder minder vagen – Begriff vom Fortschritt habe, der auf eine Veränderung der Verhältnisse ziele. 505 Allerdings habe er keine VorstelKnepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. 508. Georg Knepler, Reaktionäre Tendenzen in der Westdeutschen Musikwissenschaft, in: BzMw 2 H. 2 (1960), S. 3–21, hier S. 8. 505 Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. 469. 503 504

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lung von der Veränderung der Welt entwickelt und verkenne die hierfür notwendigen gesellschaftlichen Kräfte, obwohl er geschlossene philosophische Systeme ebenso wie staatliche Einrichtungen beschuldige, dem Einzelnen Gewalt anzutun. 506 Zum selben Schluss gelangt Günter Mayer. 507 Die materialistische Dialektik auf die Musik anzuwenden, hätten bisher nur Hanns Eisler und Adorno geleistet. 508 Doch der ähnlichen dialektischen Orientierung zum Trotz wichen Eisler und Adorno infolge »tiefgehender weltanschaulicher und politischer Differenzen« letzten Endes wesentlich voneinander ab. So übereinstimmend beide sich zum Material, zu Schönberg oder zur Kultur- und Unterhaltungsindustrie äußerten, so unversöhnlich sieht Mayer ihre Haltungen zur Funktion der Musik im Prozess der revolutionären Veränderung der spätbürgerlichen Gesellschaft. 509 Weil Adorno die Möglichkeit nicht sehe, dass der Mensch sich zum »Subjekt der Geschichte« erheben könne, und er nur vage von »Versöhnung« spreche, bleibe auch »für die Kunst und die Musik keine andere Funktion als die einer Monade, in der sich das maßlos gewordene Leid der Gesellschaft konzentriere, um irgendwann und irgendwie einmal zur Spiegelschrift seines Gegenteils zusammenzuschießen.« 510 Als »Subjekte der Geschichte«, die im marxistischen Sinne ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten, werden gleichermaßen auch ›bürgerliche‹ Komponisten verstanden. 511 So interpretiert Knepler etwa Mendelssohns Kompositionstechnik als Analogie zu seiner gesellschaftlich-politischen Einstellung. Er habe »mit Hilfe der Musik das Leben der Menschen von innen her zu bessern« gesucht, weshalb sein Schaffen »in künstlerisch äußerst wertvollen Zeugnissen von inneren Kämpfen, Anfechtungen und Zweifeln Kunde gibt.« 512 Mendelssohns Musiksprache erhält – nach Kneplers InEbd., S. 481. Kritik wie von Mayer und Knepler bei Kofler, Zum Streit um eine marxistische Ästhetik, S. 139–141. 508 Günter Mayer, Zur Dialektik des musikalischen Materials [1966], in: Zur Theorie des Ästhetischen. Musik – Medien – Kultur – Politik. Ausgewählte Schriften, hg. v. Hanns-Werner Heister, Berlin 2006 (Zwischen/Töne. Neue Folge 5), S. 15–41, hier S. 19. 509 Ebd., S. 20. 510 Ebd., S. 38. Siehe S. 75 ff. und 150 f. dieser Arbeit. 511 Zum politischen Hintergrund dieser zum Teil recht rigorosen Umdeutung der Kunst des »klassischen Erbes« siehe S. 110 ff. dieser Arbeit. 512 Knepler, Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 2, S. 762. 506 507

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terpretation – ihren entscheidenden Impuls aus der Hoffnung auf eine bessere, schon vorausgeahnte Gesellschaft der Zukunft, auf die sie ausgerichtet ist und an deren Realisation sie mit kompositorischen Mitteln Anteil nehmen will. Sie fordert, so Knepler, »ein besserndes Eingreifen in Verhältnisse, deren Unzulänglichkeit in mancherlei Hinsicht durchschaut wurde, nicht ihre ›Konservierung‹«. 513 So, wie Mendelssohn musikalisch zu bessern dachte, wünschte er sich die politischen Veränderungen: von innen heraus, von ›Sachverständigen‹, ohne Gefährdung des bestehenden Guten durchgeführt. Umgekehrt: So, wie er sich die politischen Veränderungen wünschte, so komponierte er auch: Seine Neuerungen sind in die Tradition so bruchlos eingeschmolzen, daß sie zunächst als solche nicht hervortreten. 514

Während sich in dem Beispiel von Knepler noch ein Kunstverständnis zeigt, das dem einzelnen Werk eines bürgerlichen Künstlers zwar zubilligt, eine bessere Zukunft vorauszuahnen, auf diese hinzuwirken und damit nicht bloß affirmativ der Spiegel seiner Klassenideologie zu sein, so bindet Knepler – in diesem Fall – Mendelssohns Gefühlsund Gedankenhorizont noch weitgehend an den Horizont seiner sozialen Schicht; sein Handeln als Künstler kann damit nur ein relativ autonomes sein. Dieser Ansatz wird von Ernst Bloch radikalisiert, da Kunstwerke nach seinem Verständnis einen utopischen Sinn überhaupt nur dann in sich verbergen können, wenn sie als vollkommen autonome begriffen werden. Die schon diskutierte Problematik, die zur Strategie der partiellen Reautonomisierung »bürgerlicher« Kunst führt, 515 wird für Bloch gegenstandslos, weil für ihn der utopische Gehalt »großer Kunst« diese über ihren klassengebundenen Standpunkt erhebt. Die Musik als »utopische Kunst« 516 kann ihren Sinn nur in ihrer vollkommenen Autonomie offenbaren, weder aber über die »Geschichte der musikalischen Technik« 517 noch über sozialhistorische Erklärungsansätze. 518 Historisch zu nennen ist dieser Blick auf die Musikgeschichte nur noch vom Standpunkt der realisierten Utopie aus; die Werke selbst stehen ahistorisch und beziehungslos

Ebd., S. 763. Ebd. 515 Siehe S. 110 ff. dieser Arbeit. 516 Bloch, Das Prinzip Hoffnung 3, S. 1257. 517 Ernst Bloch, Geist der Utopie, bearbeitete Neuauflage der zweiten Fassung von 1923, Frankfurt a. M. 1964 (GA 3), S. 54–55. 518 Ebd., S. 59–60. 513 514

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ihrer eigenen Gegenwart gegenüber. Das Einzige, das aus ihrem Inneren herausweist, ist auf die in ihnen schon antizipierte Zukunft gerichtet: 519 Musik darf nicht »allzu historisch auf Vergangenes« verweisen, sondern muss »von der Zukunft« her erleuchtet werden, »als Geist utopischen Grades, der sich demgemäß, wenn auch mit zahllosen Wahlverwandtschaften und freien Rezeptionen, mitten in Geschichte und Soziologie lediglich sein eigenes Haus, das Gefüge seiner eigenen Entdeckungen und inneren Seinsebenen baut.« 520 Während Knepler die Werke in einem Prozess des Fortschritts verortet, über deren Verlauf die Werke Auskunft geben können, wird die Kategorie des Fortschritts für Bloch gegenstandslos – er polemisiert gegen die »sinnlose Turbulenz des Fortschrittsmäßigen« 521 –, da ihm zufolge die Werke der Geschichte nicht sukzessive die Utopie der klassenlosen Gesellschaft in sich aufnehmen und diese mehr und mehr erahnen lassen, sondern alle gelungen Werke der Utopie gleichermaßen nah sind. Blochs Denken wird hier von einer messianischen Zeitkonzeption geleitet, die an die Stelle eines sich graduell entwickelnden Fortschritts die Denkfigur des Durchbruchs setzt. 522 Um Blochs jüdisch-messianische Metaphorik verstehen zu können, die er in sein marxistisches Denken integriert, ist der Hinweis von Gershom Scholem erhellend, dass die Erlösung nicht als Ergebnis »innerweltlicher Entwicklungen« gedacht wird, wie dies »etwa in den modernen abendländischen Umdeutungen des Messianismus seit der Aufklärung« der Fall war. »Sie ist vielmehr ein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, ein Einbruch, in dem die Geschichte selber zugrunde geht, in diesem Untergang sich freilich wandelnd, weil von einem Licht betroffen, das von ganz woanders her in sie strahlt.« 523 Bloch deutet das »große Kunstwerk« als einen »Abglanz, ein[en] Stern der Antizipation und ein[en] Trostgesang auf dem Heimweg durch Dunkelheit«. Doch ist dieser »eben nur Ferne, Scheinen, AbEbd., S. 58. Ebd., S. 57–58. 521 Ebd., S. 63. 522 Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, aus d. Franz. v. Dieter Kurz u. Heidrun Töpfer, Berlin 1997, S. 212. 523 Gershom Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum [1959], in: Judaica I, Frankfurt a. M. 1968, S. 7–74, hier S. 24–25. Siehe hierzu auch Daniel Krochmalnik, Ernst Bloch im jüdischen Messianismus, in: Bloch-Almanach 26 (2007), S. 15–37, hier S. 32–33. 519 520

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glanz, erklärter Widerspruch aller Vollendung auf Erden, außerstande, den bedürftigen Menschen selbst bereits in der verzweifelt antizipierten Glorie wohnhaft zu machen.« 524 Auch hier bleibt Blochs Sprache weitgehend undurchsichtig, wenn sein Vokabular nicht als ein metaphorisches gelesen wird, das zu weiten Teilen aus der jüdischen Mystik stammt, die er in einen spezifisch marxistischen Kontext hinein nimmt. Die »Glorie« ist das, was sich als »urgeschaffenes Licht« nach Scholem von Gott den Propheten und Mystikern darbietet. 525 Der »Heimweg durch Dunkelheit« ist der »mystische Weg zu Gott«, und zwar in der Umkehrung des Weges, »auf dem wir aus Gott hergekommen sind. […] Hierbei kommt die Kabbala dem neuplatonischen Denken am nächsten, von dem mit Recht gesagt worden ist, dass in ihm Fortschreiten und Rückkehr zusammen eine einzige Bewegung bedeuten, […] die das Leben des Universums ausmacht.« 526 Ziel des Weges ist »das große geistliche Ich, die oberen Stufen des Menschseins, die völlig angelangte Musik« als die »Kunst der späteren Reichszeit.« Sie ist das »sprach- und sieggekrönte Angekommensein« und würde den »Kontrapunkt des Nacheinander zu der Gleichzeitigkeit einer Aussage, einer verstandenen, im gleichen Griff besitzbaren Satzbedeutung, einer musikalisch überdeutlichen Prophetensprache a se, einem wirklich redenden Sinn Musik zu verdichten haben.« 527 Damit erscheinen »die Gebilde der Musik als bloße befestigte Unterwegs«, als »bloße vestigia anabaseos […], bis sie mit in dem Reigen der geschichtsphilosophischen Sternbilder, ja des ganzen Weltprozesses erscheinen.« 528 Bloch übernimmt mit der Metapher der tausendjährigen Heilszeit ein Motiv aus der Johannesapokalypse. Zwar liegen die Wurzeln einer innerweltlichen Heilsvorstellung im Judentum, 529 doch ist im Bloch, Geist der Utopie, S. 151–152. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1996, S. 120. 526 Ebd., S. 22. 527 Bloch, Geist der Utopie, S. 181. Zur Reichszeit: ebd., S. 307–342; sowie des Weiteren Böcher, Otto, Chiliasmus I, in: Theologische Realenzyklopädie. Studienausgabe Teil 1, Bd. 7, Berlin u. New York 1993, S. 723–729; Boshof, Egon, Reich/Reichsidee I, in: Theologische Realenzyklopädie. Studienausgabe Teil 3, Bd. 28, Berlin u. New York 2006, S. 442–450; Bloch, Erbschaft dieser Zeit, S. 134–140; sowie Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. 528 Bloch, Geist der Utopie, S. 153. 529 Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, S. 7–74, hier S. 7; Bloch, Erbschaft dieser Zeit, S. 141. 524 525

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christlichen Kontext dieses Motiv von Joachim de Fiore übernommen worden, das Bloch wiederum zur Ahnung des kommenden Sozialismus umdeutet. 530 Mit der Analogie zwischen jüdisch-messianischen und marxistischen Heilserwartungen knüpft Bloch an einer Vorstellung an, die zur Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts recht verbreitet war. 531 Wenn von dem konkreten Gehalt der Utopie abgesehen wird, so ist das prinzipielle Bemühen, Musikwerke in ein dynamisches, auf die Zukunft gerichtetes Geschichtsbild einzuspannen, ebenso wenig genuin marxistisch wie ihre Deutung als Dokumente der Geschichte. Im 19. Jahrhundert beschwören etwa Besprechungen der fünften Symphonie Beethovens in ihrer Emanzipationsmetaphorik bürgerlich-demokratische Werte als Telos der Geschichte. So schreibt Emil Naumann in seiner Illustrierten Musikgeschichte: »In der 5., der C mollSinfonie hat sich das, in der Eroica zum Ausdruck gelangende Ringen eines waffengerüsteten H e lde n um Sieg und Triumph zu einem Ringen der M ens ch h e it nach Freiheit und Erfüllung ihrer heiligsten Hoffnungen erweitert.« 532 Die Symphonie, die »alles Individuelle abgestreift« habe, wird von Adolf Bernhard Marx zum Ausdruck des »Schicksals der ganzen Menschheit« erklärt; in ihr zeigt sich »Beethovens Lebensgedanke: Der Kampf des Mannes gegen das Schicksal und der Sieg«. »Durch Nacht zum Licht! Durch Kampf zum Sieg!«, so die zum Topos gewordene Deutung dieser Musik. »Wie Beethoven diesen Kampf, – nicht seinen persönlichen, sondern den des Menschen überhaupt und das Allen, nicht bloß ihm gesetzte Ziel, des Lichts und seines Siegs, angeschaut und in sich durchgearbeitet, das sagt die Symphonie.« 533 Das aus seinen Werken herausgelesene offensive Drängen auf eine gesellschaftlich bessere Zukunft ist so sehr Allgemeinplatz, dass Beethoven von staatspolitischer Seite umstandslos instrumentalisiert und als »leidenschaftlicher Freiheitssucher und konsequenter revoluBloch, Erbschaft dieser Zeit, S. 135–136. »Die Paarung von sozialpolitischem Realismus und utopischen Internationalismus ist an der Schwelle zum 20. Jahrhundert Konsens im liberalen jüdischen Messianismus.« Krochmalnik, Ernst Bloch im jüdischen Messianismus, S. 26. 532 Emil Naumann, Illustrierte Musikgeschichte. Die Entwicklung der Tonkunst aus frühesten Anfängen bis auf die Gegenwart 1–2, Berlin u. Stuttgart 1885, Bd. 2, S. 776–777. 533 Adolf Bernhard Marx, Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen 1–2, Berlin 1859, Bd. 2, S. 56–57. 530 531

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tionärer Demokrat« für propagandistische Zwecke vereinnahmt werden kann. 534 Obgleich diese Lesart reproduzierend, erscheint der Blick von Harry Goldschmidt etwas differenzierter, wenn er kritisch auf die eigene Zunft blickt und eine einseitige Beethovenrezeption bemängelt, die das Spätwerk weitgehend ausblendende, obgleich es ebenso realistisch sei und keine Züge von politischer Resignation zur Zeit der Restauration zeige. 535 Gewissermaßen den Antipoden zu Beethoven will er in Brahms erkennen, weil es Brahms – in Goldschmidts Urteil – nicht gelingt, in seinen Werken auf eine im marxistischen Sinne erstrebenswerte Zukunft vorauszuweisen. Zunächst polemisiert er gegen das sich hartnäckig am Leben erhaltende Vorurteil, Brahms als Romantiker, Epigonen oder Vertreter der absoluten Musik abzustempeln. Dagegen bewegt ihn die Frage nach dem eigentlichen Gehalt seiner Musik. 536 Er will einerseits in ihm ein »ursprüngliches Musikantentum« in einer Zeit erkennen, in der schon eine »dekadente Ästhetik« vorherrschend geworden sei. Brahms ist – nach Goldschmidt – »der bedeutendste musikalische Vertreter des deutschen bürgerlichen Humanismus in der Periode des Überganges zum Imperialismus«, weil er zwar den Fortschritt seiner Zeit gesehen habe, jedoch nur den des Kapitalismus, und er keinen Blick »für die historische Rolle der Arbeiterschaft« gehabt habe. Statt wie Beethoven zu »klaren eindeutigen und positiven Schlüssen« zu gelangen, werde Brahms »vor allem nach 1889 immer ausschließlicher« von »tiefer Resignation« beherrscht. 537 Nach Goldschmidt lagen Brahms’ musikalische »Schwächen« daher nicht in seinem Konservatismus, sondern in der Unmöglichkeit, »im Stadium des Kapitalismus in seinem Übergang zum Imperialismus […] das klassische Erbe auf der Basis der bürgerlichen Kunst fortzuführen, ohne sich solchen Schwächen auszusetzen«. Diese »Schwächen« hätte er nur überwinden können, wenn er sich seiner »plebejischen Herkunft« nicht bloß »ge534 Ludwig van Beethoven starb vor 125 Jahren, in: MuG 2 H. 3 (1952), S. 65. Zu den Topoi der Beethovenrezeption siehe Andreas Eichhorn, Beethovens Neunte Symphonie. Die Geschichte ihrer Aufführung und Rezeption, Kassel u. a 1993 (Kasseler Schriften zur Musik 3); zur Beethovenrezeption in der DDR siehe Kelly, Composing the Canon in the German Democratic Republic, S. 40–49. 535 Harry Goldschmidt, Der späte Beethoven. Versuch einer Standortbestimmung, in: Heinz Alfred Brockhaus (Hg.), Bericht über den Internationalen Beethoven-Kongreß. 10.–12. Dezember 1970 in Berlin, Berlin 1971, S. 41–58. 536 Harry Goldschmidt, Das Vermächtnis von Johannes Brahms. Zu seinem 120. Geburtstag am 7. Mai, in: MuG 3 H. 5 (1953), S 162–167, hier S. 162. 537 Ebd., S. 166.

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rühmt«, sondern »die historische Rolle der Arbeiterklasse erkannt und bejaht hätte«. Dann wäre zweifellos »seine Programmatik bestimmter, eindeutiger und zukunftsgerichteter ausgefallen, seine Form konzentrierter, konsequenter, seine kraftvollen Aufschwünge zielerfüllter und seine Werkschlüsse befreiender, seine Musik mit einem Wort dialektischer geworden«. 538 Frank Schneider scheint etwas Vergleichbares wahrzunehmen, doch will er in seinen Symphonien verstärkt einen kritischen Gehalt erkennen, wenn er in ihnen den »›Abfall‹ vom herrschenden bürgerlichen Zeitgeist mit seinen flachen Optimismen, das Zeugnis tiefer erlebter, fortbestehender Konflikte hinter prosperierender Fassade und urbaner Bequemlichkeit« erkennt. Doch will er im Gegensatz zu Goldschmidt hierin schon den Vorschein einer besseren Zukunft sehen, denn hierin liege ihr »Protestgehalt«, mit dem er die »kritische Grenze dessen« erreicht habe, »was gedankenloser Musikverwertung und bürgerlichem Sentiment erträglich sein konnte.« 539

Ebd., S. 167. Frank Schneider, Welt, was frag ich nach dir? Politische Porträts großer Komponisten, Leipzig 1988, S. 208–209. 538 539

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5. Interpretationsschemata

Die in den voranstehenden Abschnitten analysierten Grundelemente des marxistischen Musikdenkens sollen nun aus wissenschaftstheoretischer Perspektive in den Blick genommen werden. Diese sind zunächst die am Mimetischen orientierte Methode der Geschichtsschreibung, Werke als Dokumente ihrer Zeit zu deuten (Kapitel 5.1), und die am Ethischen orientierte Methode, Werke als Vorschein einer besseren Gesellschaft zu interpretieren (Kapitel 5.2). Das fünfte Kapitel schließt mit der Diskussion eines der wohl delikatesten Probleme des marxistischen Geschichtsdenkens: nämlich mit der schon oft berührten Frage nach dem Stellenwert und der Bedeutung historischer, ökonomischer und sozialer Gesetze. Dass Marx von Gesetzen gesprochen hat, steht fest, keinesfalls jedoch, worauf sein Gesetzesbegriff eigentlich zielt und welchen Beitrag er zur Interpretation der Geschichte leistet (Kapitel 5.3). So werden unter der Überschrift »Interpretationsschemata« implizite Grundlagen diskutiert, die sich aus den im zweiten Kapitel skizzierten philosophischen Ausgangspunkten ableiten und auf denen die marxistische Ästhetik und Historiographie aufbauen. Diese Grundlagen sind letztlich argumentative und narrative Muster, die nicht immer transparent sind, von denen aber die Werk- und Geschichtsinterpretationen abhängen. Die Frage nach der Stichhaltigkeit dieser argumentativen und narrativen Muster bestimmt die folgenden Überlegungen.

5.1 Der Circulus vitiosus In den vorangegangenen Abschnitten galt es als unhinterfragte Prämisse, dass der Musik »Erkenntnischarakter« oder eine »Erkenntnisfunktion« 540 zukommt, weil sie mimetische Qualitäten besitzt. Vo540

Pracht, Sozialistischer Realismus und Leninsche Abbildtheorie, S. 759.

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Der Circulus vitiosus

rausgesetzt, sie besitzt diese Qualitäten tatsächlich – die barocke Affekt- und Figurenlehre schreibt sie ihr gleichermaßen zu wie Assafjews Intonationstheorie –, so mag der Schluss, sie sei deswegen auch Mittel zur Erkenntnis, zwar auf den ersten Blick evident erscheinen: Erkannt wird das, was die Musik nachahmt. Doch auf den zweiten Blick muss dieser Schluss jeden in Verlegenheit bringen, der sich auf den Versuch einlässt, das in Worte zu fassen und damit begrifflich zu fixieren, was eigentlich der von einem Musikwerk nachgeahmte oder gespiegelte Gegenstand ist. Denn nur wenn dieser zugleich als in der Musik gespiegelter und extern existierender erkennbar ist, ist das mimetische Vermögen der Musik überhaupt verifizierbar; andernfalls bliebe es bloße Behauptung. Damit steht ein mögliches Modell des Musikverstehens zur Diskussion – und zwar eines, das die Struktur der Musik als Analogie zur Struktur eines Wirklichkeitsausschnitts begreift. Dieses Modell liefert gewissermaßen einen Idealtypus, von dem die materialistische Musikhistoriographie sehr oft ausgeht. Daneben gibt es weitere Möglichkeiten, Musik – materialistisch oder nicht – zu verstehen (rein strukturelles Verstehen, Verstehen unter Einbezug von Quellen, die einen bestimmten Gehalt der Musik nahelegen; Verstehen über Programme oder Zitate; Verstehen der expressiven Qualitäten eines Werkes usf.). Wenn diese hier ausgeblendet werden können, so ist damit kein Werturteil verbunden: Was der eine Hörer an einem Musikwerk ›versteht‹, folgt aus seinen Interessen und aus seinen Bedürfnissen, die ihn dazu veranlassen, überhaupt sich mit Musik zu befassen. Bei einem anderen Hörer indes können diese Interessen und Bedürfnisse grundverschiedene sein, die damit auch seine Verstehensleistung in andere Bahnen lenken. Es gibt weder eine ›Natur‹ der Musik noch eine des Menschen, die zu einem bestimmten Verstehen nötigen. 541 Es geht hier nur um ein Verstehensmodell neben anderen. Dass es indes innerhalb eines Modells ein mehr oder weniger gelungenes Verstehen gibt, das durch Kenntnisse und Erfahrungen des Historikers oder Hörers bestimmt wird und sich auf mehr oder weniger intersubjektiv akzeptierte Grundannahmen stützen kann, ist unstrittig. Damit Musik Erkenntnis vermitteln kann, muss sie auf etwas außer ihr Liegendes verweisen können, und zwar so, dass sie entweder richtig oder falsch auf das außer ihr Liegende Bezug nimmt: Sie 541

Siehe hierzu die Argumentation S. 30 ff. dieser Arbeit.

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Interpretationsschemata

muss wahrheitsfähig sein. Dies kann sie aber nur, wenn sie ein Äquivalent für den sprachlichen Aussagesatz besitzt, also über eine propositionale Struktur verfügt, die es ihr erlaubt, einen Sachverhalt zu behaupten. Ein sprachlicher Satz ist dann wahr, wenn das mit ihm Behauptete tatsächlich der Fall ist. Aus diesem Problem führt auch der schon angeführte, kritisch gegen den marxistischen Widerspiegelungsbegriff gerichtete Vorschlag von Karbusicky nicht weiter, den Zeichenbegriff im pierceschen Sinne auf die Musik anzuwenden. 542 Denn das Kriterium der Wahrheitsfähigkeit erfüllt Musik auch dann nicht zwingenderweise, wenn sie ein hoch komplexes System verschiedener Zeichentypen sein sollte: Denn sie müsste die Existenz des Dinges, für das ein Zeichen steht, behaupten können – so wie ein Verkehrszeichen auf etwas hinweisen kann und aus der Existenz oder Nichtexistenz dessen, worauf es verweist, seinen Wahrheitswert bezieht. 543 Dieses Vermögen besitzt die Musik ganz offensichtlich nicht; ob sie auf ein Objekt der Realität zeichenhaft verweist, ist intersubjektiv ebensowenig überprüfbar wie dessen Existenz. So wie es scheint, ist es um die Wahrheitsfähigkeit der Musik nicht gut bestellt. Doch lässt sich die Frage nach dem »Erkenntnischarakter« der Musik etwas anders wenden, sodass vielleicht davon gesprochen werden kann, dass zwar nicht im Musikwerk selbst, doch aber im Vollzug seines Verstehens aufseiten des Rezipienten ein Sinn sich einstellt, der tatsächlich auf etwas verweist und damit ›richtig‹ oder ›falsch‹ sein kann. So ist zunächst zu klären, wie die Verstehensleistung aufseiten des hörenden Subjekts sich darstellt, die im Idealfall so sich gestaltet, dass sie verifizierbar oder falsifizierbar ist. Denn dann könnte der Musik – über den Umweg des Rezipienten – tatsächlich die Möglichkeit zugesprochen werden, wahre Erkenntnis zu vermitteln. Matthias Vogel unterscheidet in diesem Sinn zwischen Nachahmung und Nachvollzug, wobei das Konzept des Letzteren eine »Affinität zum Begriff der Nachahmung« aufweist, sodass »wir hoffen können, die Theorie des Nachvollzugs durch ein Verständnis des Nachahmens vertiefen zu können, wenn wir das Nachahmen nicht in einer produktions-, sondern rezeptions-ästhetischen Perspektive Siehe S. 102 dieser Arbeit. Matthias Vogel, Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns, in: Alexander Becker u. Matthias Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 2007, S. 314–368. 542 543

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betrachten«. 544 Der Nachvollzug ist im Gegensatz zur eng am Gegenstand orientierten Nachahmung »in der Wahl seiner Mittel freier«. Er dient der »Strukturierung und Erschließung des Gegenstands, und zwar entlang von Eigenschaften, die der Gegenstand durch den Nachvollzug gewinnt und nicht schon aufweisen muß.« 545 Sinn des Nachvollzugs ist es damit, den Gegenstand als eine Struktur wahrzunehmen: »Nachvollzüge sind, anders als Nachahmungen, wesentlich nicht reproduktiv, sondern produktiv, man könnte auch sagen: kreativ.« 546 Ist das Nachahmen – so Vogel – »auf vorgefundene Formen des Tuns angewiesen und auf Ähnlichkeitsrelationen verpflichtet« so ist »das Nachvollziehen offen für die spielerische Produktion von Gesichtspunkten, die sich primär an der Integration von Wahrnehmungen in Erfahrungen bewähren.« 547 Ist diese Strukturierungsleistung nicht möglich, so erscheint das Werk als ein nicht nachvollziehbares, wie es ihm zufolge in der aleatorischen Musik der Fall ist. 548 Die entscheidende Pointe bei Vogel ist, dass die Sinnkonstituierung nicht Sache der Musik selbst ist, sondern aufseiten des rezipierenden Subjektes vonstatten geht und dabei »kreativ« ist. Dabei lässt er es prinzipiell offen, welche »kreativen« Leistungen das Subjekt im hörenden Nachvollzug der Musik vollbringt. Indes scheint er von dem Primat eines mehr oder minder abstrakten Strukturverstehens auszugehen. Dies wäre hier insofern zu erweitern, als es in der marxistischen Ästhetik auf Inhalte ankommt, also auf konkretisierbare Strukturierungsleistungen, wie es das angeführte Beispiel von Ernst Hermann Meyers Deutung der Sonatenform zeigt: Er sucht sie so zu strukturieren, dass sie formal einen Prozess von Freiheitsbestrebungen darstellt. 549 Wenn mit der Strukturierungsleistung in einem ersten Schritt ein konkreter Gegenstand imaginiert und in einem zweiten auch dessen Existenz postuliert wird, dann wird der musikalische Nachvollzug wahrheitsfähig: Für die oben aufgestellte Forderung der 544 Ebd., S. 353. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei sicherheitshalber darauf verwiesen, dass das hier zu diskutierende Verstehensmodell zwar zur Beantwortung der Frage nach dem im marxistischen Denken unterstellten »Erkenntnischarakter« von Musik herangezogen wird, selbst aber nicht marxistischer Provenienz ist. Siehe Anm. 1 auf S. 12 dieser Arbeit. 545 Ebd., S. 360. 546 Ebd. 547 Ebd., S. 365. 548 Ebd., S. 363. 549 Siehe S. 113 f. dieser Arbeit.

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Interpretationsschemata

Wahrheitsfähigkeit als notwendige Bedingung für den »Erkenntnischarakter« der Musik muss sich der verstehende Nachvollzug so gestalten, dass mit ihm auf einen Gegenstand oder einer Sachverhalt verweisen wird, der tatsächlich auch existieren kann. Mit dessen Existenz oder Nichtexistenz ließe sich ein im Nachvollzug gebildeter ›richtiger‹ von einem ›falschen‹ Gehalt des Werkes unterscheiden. Doch ist dies möglich? Grundlegend ist die Annahme, dass das musikalische Material oder ein einzelnes Werk deshalb die Eigenschaft besitzt, die gesellschaftliche Realität widerspiegeln zu können, weil es zwischen dem Material bzw. dem Werk und der Realität Strukturanalogien gibt. 550 Wenn auch dieses Argumentationsmuster, mit dem der soziokulturelle Gehalt eines Musikwerkes begründet werden soll, nicht unentwegt und schematisch angewendet wird, so geht letztlich – wie vermittelt auch immer – die materialistische Kunstgeschichtsschreibung allzu oft von ihm aus. Wenn Musik ein Erkenntnismittel sein soll, sich die Realität also über die Interpretation der Musik erkennen lassen soll, so liegt dieser Annahme folgendes Argument zugrunde: Aus der Beobachtung, dass sich ein bestimmtes Werk durch die Eigenschaft A auszeichnet, wird geschlossen, dass sich auch die Realität durch die Eigenschaft A auszeichnen muss. Denn zuvor ist als Prämisse geworden, dass Musik ein Abbild der Realität ist, weil sich Musik und Realität strukturanalog verhalten. Mit dem von Vogel entwickelten Verstehensmodell wird deutlich, dass hier ein kreativer Prozess des verstehenden Nachvollzugs vorliegt, dessen Leistung im Imaginieren von Strukturanalogien liegt, die zugleich inhaltlich-konkret aufgefüllt werden. Doch das Argumentationsmodell, das aus diesem Verstehen abgeleitet wurde, ist nun in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen: Ganz offensichtlich liegt hier ein Zirkel vor. Denn auf die Frage, warum es wahr sein soll, dass sich ein Werk durch die Eigenschaft A auszeichnet, müsste aufgrund des Postulats der Strukturanalogie mit dem Verweis auf die Eigenschaft A der Realität geantwortet werden. Zum anderen: Der Versuch, das Postulat der Strukturanalogie selbst zu begründen, führt wiederum zu einem Zirkel: Denn welche Merkmale es sind, die auf eine bestimmt Weise die strukturelle Analogie zwischen Musik und Realität garantieren sollen, sagen weder die Musik noch die Realität selbst, sondern diese Merkmale müssen vorher auf kreativ-spekulative Weise sowohl in die Musik wie auch in die Realität hinein550

So etwa Mayer, Zur Dialektik den musikalischen Materials, S. 39.

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Der Circulus vitiosus

gedeutet werden. Es muss also – mit andern Worten – vor dem Beginn der Analyse und der Interpretation eines musikalischen Werkes das schon gesetzt worden sein, was eigentlich das Ergebnis der Analyse und Interpretation sein soll. So zeigt sich, dass diese Denkfigur geradewegs in den Fehler einer petitio principii mündet. Wird ein Werk als eine Struktur verstanden, zu der es eine Analogie in der Wirklichkeit gibt, und wird über die Strukturanalogie auf den Inhalt des Werkes zurückgeschlossen – womit dessen somit behaupteter Inhalt zum Abbild der Wirklichkeit wird –, dann zeigt sich hier etwas als Ergebnis, das zuvor schon – uneingestanden oder unbewusst – als Prämisse gesetzt werden musste: Da musikalische Strukturen abstrakt und musikalische Zeichen ein hohes Maß semantischer Indifferenz aufweisen, sie also nie zwingend eine bestimmte Interpretation erforderlich machen (obgleich natürlich es mehr und weniger plausible gibt), muss ein konkreter Inhalt (wie die meyerschen Freiheitsbestrebungen) von vornherein schon angenommen worden sein: Das vorgebliche Resultat eines deutenden Zugriffs, der sich auf den verstehenden Nachvollzug stützt, ist schon zuvor vorausgesetzt worden. Über eine petitio principii wird die begriffliche Interpretationsleistung mit der begriffslosen und semantisch indifferenten Musik kurzgeschlossen. Diese Argumentationsform, die ja nie explizit entfaltet wird, sondern nur über Umwege dazu genötigt werden kann, sich als Analogieargument zu offenbaren, scheint in besonders hohem Maße glaubhaft machen zu können, hier sei nichts als unbestechliche Logik und argumentative Schlüssigkeit am Werk. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall – Analogieargumente sind äußerst bestechlich: Sie zeichnen sich im Wesentlichen durch self-fulfilling prophecy aus. Die Annahme von strukturellen Analogien oder Abbildern ist leichter zu proklamieren als stichhaltig nachzuweisen. Bereits mit geringem kreativem Aufwand kann etwa das strukturelle Schema einer Fuge zugleich als Abbild von Vernunft, von Zwangsverhältnissen oder von Freiheit ausgelegt werden – je nachdem welche musikalischstrukturellen Details der Fuge semantisiert und wie kunstvoll sie zueinander in Beziehung gesetzt werden. Da das über einen Nachvollzug Verstandene weder verifizier- noch falsifizierbar ist, garantiert der Nachvollzug des Werkes durch den Hörer ebensowenig wie die Nachahmung als Qualität des Werkes Wahrheitsfähigkeit. Nach dieser Überlegung kann von einem »Erkenntnischarakter« der Musik nicht gesprochen werden. 145 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Interpretationsschemata

Die Plausibilität dieses Verstehensmodells hängt davon ab, ob die Identifizierung einer bestimmten musikalischen Struktur mit einem bestimmten Gehalt durch stichhaltige Indizien im Einzelfall gestützt werden kann. Stichhaltige Indizien liegen dann vor, wenn durch historische Quellen, biographische Kenntnisse usf. mit guten Gründen für einen bestimmten musikalischen Gehalt argumentiert werden kann. Kneplers Monographie über Mozart liefert hier Beispiele. 551 Zwar liegt dieses Modell nun nicht mehr in seiner ›reinen‹ Form vor, weil nicht mehr eine musikalische Struktur oder das musikalische Material allein die Grundlage einer Deutung liefert, sondern die Semantik eines Werkes (die Semantik seiner inneren Struktur oder seines Materials) über historische und musikexterne Referenzen abgesichert wird. Doch der Gewinn liegt in dem Aufbrechen der Zirkelstruktur: Der Gehalt, der als Ergebnis der Interpretation eines Werkes diesem zugeschrieben wird, wird nicht uneingestanden oder unbewusst zuvor schon angenommen, sondern die Beliebigkeit des Hineinlesens einer Bedeutung wird durch die Ausrichtung der Interpretation an zuvor zur Kenntnis genommener einschlägiger historischer Quellen und Referenzen substituiert. Ein unanfechtbarer Beweis, dass die innere Struktur des Werks X Spiegel vom Wirklichkeitsausschnitt Y ist, wird auf diesem Wege auch kaum geliefert werden können; doch sollte deshalb der Wert plausibler, materialgesättigter Interpretationen nicht gering geachtet werden. Denn diese Interpretationen erfüllen im Gegensatz zu dem rein assoziativen Semantisieren einer musikalischen Struktur ein Minimalkriterium für Wissenschaftlichkeit: Sie sind kritisierbar und durch plausiblere und besser begründete Interpretationen ersetzbar. Im Gegensatz zum esoterischen Wissen des Eingeweihten, in welcher ›Entwicklungsstufe des musikalischen Materials‹ sich welche ›gesellschaftlichen Antagonismen‹ widerspiegeln, stehen sie einer Diskursgemeinschaft offen. Dass sich der offensichtlichen Schwäche zum Trotz – des zirkulären Verhältnisses zwischen Prämisse und Konklusion – dieses Verstehensmodell in seiner ›reinen‹ Variante dieser Beliebtheit erfreut, kann daran liegen, dass es die Vielfalt der Dinge auf die immer gleichen Gesetze zu reduzieren und sie durch die immer gleichen Strukturen zu bändigen vermag. Das Unvertraute und das Unverstandene lassen sich auf diese Weise leicht mit dem Vertrauten und Verstande551

Georg Knepler, Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen, 2. Aufl., Leipzig 2005.

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Die Geschichte als Komödie

nen erklären. 552 Die Unüberschaubarkeit musikalischer Ausdrucksformen wird überschaubar und die Mannigfaltigkeit künstlerischer Mittel wird durch das immer gleiche Prinzip zusammengehalten. Dieses Verstehensmodell gibt vor, den vielleicht unverfügbaren Gehalt eines Musikwerkes verfügbar machen und damit dem nur schwer zu ertragenem Verdacht allzu großer semantischer Indifferenz der Musik entgegenwirken zu können. Dass sich im Falle einer plakativen Anwendung dieses Modells – wie etwa bei Meyer oder Bloch – die Wirklichkeit der Ideologie zu beugen hat, ist die Kehrseite dessen, dass mit der Identifikation des immer Gleichen alle offenen Fragen eliminiert werden.

5.2 Die Geschichte als Komödie Der Glaube vieler Marxisten an ein Ziel der Geschichte, in dem alle Missstände und Übel ihres bisherigen Verlaufs aufgehoben sind und in dem sich der Sinn der verschlungen und widersprüchlich erscheinenden Wege der Vergangenheit offenbart, lässt die Geschichte aus der Perspektive weiter Teile des marxistischen Denkens als Komödie erscheinen. Das in dieser Geschichtsauffassung verborgene literarische Modell der Komödie erlaubt es, die unüberschaubaren Ereignisse der Geschichte in einen sinnhaften Zusammenhang zu stellen, es lässt die Geschichte für den Historiker überschaubar erscheinen und erlaubt es ihm, ihre verworrenen Pfade vielleicht nicht zu begradigen, sie doch aber auf ein sicher geglaubtes gutes Ende hinauslaufen zu lassen. Marxistische Erzählungen der Geschichte variieren in ihrer inhaltlichen Ausrichtung das Konzept einer seit der Aufklärung verbreiteten Fortschrittsgeschichte, das ebenso eine innere Ordnung zwischen den Einzelereignissen der Geschichte zu stiften vermag. 553 Die in den vorangegangenen Kapiteln diskutierten und nur um der Darstellbarkeit willen getrennten Teilmomente des marxistischen Musikdenkens laufen in diesem Geschichtsmodell gewissermaßen zusammen: Ohne das ästhetische Fundament marxistischer Realismuskonzeptionen und deren Ausgang von einem »relativ auto552 Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, München 2004, S. 181. 553 Jörn Rüsen, Lebendige Geschichte, Göttingen 1989 (Grundzüge einer Historik 3, Formen und Funktionen historischen Wissens), S. 52–55.

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nomen«, in den Verlauf der Geschichte eingreifenden Subjekt und ohne den utopischen Glauben an einen finalen Sinn der Geschichte wäre eine Erzählung der Geschichte, die sie als Erzählung einer menschlichen Emanzipationsleistung zur Komödie werden lässt, nicht möglich. Während nun die Anwendung dieser Erzählstruktur in der marxistischen Musikhistoriographie diskutiert wird, werden im folgenden Kapitel 5.3 die theoretischen Kontroversen betrachtet, die von dieser Geschichtskonzeption provoziert werden und vor allem um die Frage nach dem Stellenwert historischer und sozialer Gesetze zirkulieren. Die Deutung des marxschen Geschichtsverständnisses als Komödie ist von Hayden White inspiriert, wird ihm jedoch nicht vollkommen gerecht, da er sowohl das Tragische wie auch das Komische in ihm erblickt. Nach Marx’ […] Verständnis erreicht die Menschheit den Zustand komischer Versöhnung mit sich selbst und der Natur vermittels der tragischen Auseinandersetzungen. So wie Marx in seinen ›Erklärungen‹ der Geschichte zwischen mechanistischen und organizistischen Argumentationsweisen wechselt, so in seinen ›Darstellungen‹ der Grundform der Geschichte zwischen einer tragischen und einer komischen Auffassung. 554

Marx leistet, so White in Metahistory, sowohl eine synchronische wie diachronische Analyse der Geschichte. Die synchronische Analyse zielt auf die »Grundstrukturen jener Beziehungen, die die gesamte Geschichte hindurch konstant bleiben«, die diachronische Analyse dagegen auf die »signifikante Bewegung, durch die diese Struktur überwunden und eine neue Form des Verhältnisses zwischen den Menschen durchgesetzt werden wird.« Hieraus leitet White ab, dass Marx die Geschichtsschreibung »zweifach narrativ strukturiert«, nämlich als Tragödie und als Komödie. Denn obschon das Leben der Menschen tragisch ist, weil ihre Bemühungen um dauerhafte Gemeinschaft von den Gesetzen, die die Geschichte regieren, ständig durchkreuzt werden, ist es gleichzeitig komisch, insofern die Interaktion zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft die Menschen zunehmend in die Lage versetzt, die Gesellschaft umzuwälzen und eine wahrhafte Gemeinschaft, eine kommunistische Existenzform als die wahre historische Bestimmung zu verwirklichen. 555 554 Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa [1973], aus d. Amerik. v. Peter Kohlhaas, Frankfurt a. M. 2008, S. 424. 555 Ebd., S. 372.

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Die Geschichte als Komödie

Obgleich White hier von zwei aufeinander folgenden Phasen der Geschichte spricht – der tragischen und der komischen – so legen seine Ausführungen doch den Schluss nahe, dass die komische Phase des historischen Prozesses die übergeordnete ist. Denn in der tragischen Phase reifen die Bedingungen heran, die die Geschichte als Komödie erscheinen lassen, in deren finalem Zustand der Menschen mit sich selbst versöhnt ist. 556 Die tragische Phase ist die Geschichte »aller bisherigen Gesellschaft«: »die Geschichte von Klassenkämpfen«. 557 In der bürgerlichen Gesellschaft sind »nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt« worden. 558 Den Abschluss der tragischen Phase beschriebt Marx in dem oft zitierten Passus, nach dem die »bürgerlichen Produktionsverhältnisse« die »letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« sind und mit »dieser Gesellschaftsformation […] die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« abschließt. 559 Nach dieser Vorgeschichte offenbart sich nun – im Sinne von White – die Geschichte als Komödie, indem mit dem Kommunismus ihr eigentlicher Sinn einer mit sich selbst versöhnten Gesellschaft erreicht wird. Dieses angenommene Ende der Geschichte leitet die ästhetische Wertung und Deutung der einzelnen Musikwerke ebenso (Kapitel 3.2) wie die teleologische Interpretation der gesamten Musikgeschichte (Kapitel 4.2). Nun gerät jeder Versuch einer Historiographie, der sich dieses Geschichtsbild zu eigen macht, geradewegs in ein geschichtshermeneutisches Dilemma, weil nach ihm schon gegenwärtig der Sinn der einzelnen Kunstwerke zu erkennen sein muss, dieser Sinn sich aber erst retrospektiv vom Standpunkt der realisierten Utopie aus zeigen kann. Erst dann, wenn das Ende – und damit das Ganze – der Geschichte bekannt ist, kann sich der historische Sinn jedes einzelnen Ereignisses offenbaren. Doch stellt sich dieses Problem für jene marxistischen Philosophen und Historiker nicht, die das Ende der Geschichte schon zu kennen vermeinen; hierin zeigen sie sich als Nachfahren des von Hegel nachhaltig geprägten Geschichtsdenkens des 19. Jahrhunderts, das etwa die Beethoven-Deutung von A. B. Marx 560

556 557 558 559 560

Ebd., S. 401. MEW 4, S. 462. Ebd., S. 463. MEW 13, S. 9. Siehe S. 137 dieser Arbeit.

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Interpretationsschemata

ebenso bestimmt wie die Annahme Johann Gustav Droysens, der Fortschritt der Geschichte zeige sich in der Entfaltung sittlicher Mächte. 561 Blochs Denken ist im Geist der Utopie von der Gewissheit getragen, schon jetzt jene Werke benennen zu können, die das Ende der Geschichte vorausahnen und antizipieren. 562 Hierfür übernimmt er den aristotelischen Begriff der Entelechie, das dynamei on – das InMöglichkeit-Sein –, 563 und überträgt ihn auf die Totalität der Geschichte. 564 Im Prinzip Hoffnung beschwört er emphatisch den Wert der absoluten Musik, weil er sie als Ausdruck versteht, der »letzthin ein Statthalter für viel weitergehende Artikulierung [ist], als sie bisher gekannt ist«, die aber »erst ganz vernehmbar [ist], wenn die Stunde der Sprache in einer dazu durchbrechenden Musik gekommen ist«: 565 Auch jede bisherige Musik wird, wenn kraft gelingender musikalischer Poesis a se solche Hellhörigkeit gelingen sollte, später noch andere als ihre bisherigen Ausdrucksgehalte vernehmen lassen und herausgeben. Demgegenüber könnte der bisher vernommene Ausdruck der Musik wie das Lallen eines Kindes erscheinen, wie eine sich bildenwollende, nur an einigen höchsten Orten sich nähernd schon gebildet habende Sprache letzter Art; sie kann noch niemand verstehen, obwohl es vorkommt, zu ahnen, was sie bedeutet, Keiner aber hat Mozart, Beethoven, Bach so, wie sie wirklich rufen, nennen, lehren, schon gehört; das wird erst viel später eintreten, in der vollsten Nachreife dieser und aller großen Werke. 566

Nach einer im Marxismus verbreiteten Sichtweise spaltet sich das Denken über Musik in eine Fraktion des Optimismus und eine des Pessimismus. Dem optimistischen Glauben an den Fortschritt der Geschichte wird ein Pessimismus vornehmlich westlicher Provenienz gegenübergestellt, wie es etwa das Unbehagen von Mayer und Knepler an Adornos Musikphilosophie zeigt. 567 Die marxistische Musikwissenschaft übernimmt damit ein Deutungsmuster, das die RezeptiJohann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, 3. Aufl., hg. v. Rudolf Hübner, München 1958, S. 331. 562 Siehe S. 135 ff. dieser Arbeit. 563 Ernst Bloch, Logikum / Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, in: Ästhetik des VorScheins 1, hg. v. Gert Ueding, Frankfurt a. M. 1974, S. 28–44, hier S. 38. 564 Hierzu kritisch Kołakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus 3, S. 471. 565 Bloch, Das Prinzip Hoffnung 3, S. 1256. 566 Ebd., S. 1256–1257. 567 S. 132 f. dieser Arbeit. 561

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Die Geschichte als Komödie

on der Frankfurter Schule in der DDR bestimmt: Einer der gegen die Vertreter der Frankfurter Schule gerichteten »Anklagepunkte lief darauf hinaus, entgegen deklarierter Praxisorientierung der theoretischen Vernunft den Vorzug gegeben bzw. aus einer tiefen Skepsis in die eingreifenden Möglichkeiten philosophischen Denkens heraus den Rückzug in die Theorie angetreten zu haben.« 568 Doch gehört dieses Argumentationsmuster – nebenbei – auch auf ›westlicher‹ Seite zum Repertoire der vermeintlich treffendsten Vorwürfen gegen die Frankfurter Schule. 569 Entgegen der Adornos Denken unterstellten pessimistischen Ausrichtung und anstelle der utopischen Gewissheit Blochs sucht Knepler eine »Theorie des Fortschritts auf dem Gebiet der Musikkultur« zu entwerfen, mit der eine versöhnte Gesellschaft hoffend anvisiert wird. 570 Mit seinem Fortschrittsbegriff, auf den er seine methodischen Überlegungen zur Möglichkeit der Musikhistoriographie gründet, 571 bewegt er sich bewusst in der Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts. 572 Referenzpunkt für das Maß des musikalischen ist der gesellschaftliche Fortschritt; und die Nähe oder Ferne eines Werkes zu den gesellschaftlich avanciertesten Strömungen seiner Epoche ist das Kriterium seines historischen Ranges. Er postuliert, dass Kunstwerke das Vermögen besitzen, Zeugnis über die Chancen des gesellschaftlich-politischen Fortschritts ihrer Gegenwart ablegen und diesen zugleich auch forcieren zu können, 573 nämlich dann, wenn ein »Musizierakt […] an der Herausbildung von Haltungen, Vorstellungen, Entscheidungen [mitwirkt], die zur Erneuerung der Gesellschaft beitragen.« 574 Die »Weltanschauungsdramen« der Symphonien von Ludwig van Beethoven bis Dmitri Schostakowitsch deutet er »als klingende Abbilder der Konflikte, der Ängste und Hoffnungen, der versuchten Lösungen und Entwürfe für kommende Welten, der anvisierten Möglichkeiten«. 575 568 Wolfgang Bialas, Zwischen ›Kritik der bürgerlichen Ideologie‹ und ›integralem Marxismus‹. Zur Rezeption der Frankfurter Schule in der DDR, in: DZPh 43 H. 1 (1995), S. 131–142, hier S. 133. 569 S. 75 ff. dieser Arbeit. 570 Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. 502. 571 Ebd., S. 368. 572 Ebd., S. 415, S. 419, S. 441–447 u. S. 575. 573 Ebd., S. 508. 574 Ebd., S. 536. 575 Ebd., S. 516.

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Interpretationsschemata

Zwar gibt Knepler hier einen marxistischen Allgemeinplatz wieder, mit dem das Fortschrittsdenken sprachlich nahtlos an die Emanzipationsmetaphorik des ›bürgerlichen‹ Musikschrifttums des 19. Jahrhunderts anknüpft: 576 »Die Emanzipation des Menschengeschlechtes«, stellt etwa auch Goldschmidt knapp fest, »ist der entscheidende Oberbegriff, der Generalnenner, unter den man Beethovens Fortschrittsideologie zu stellen hat.« 577 Wenn Knepler mit seiner gegen die »bürgerliche Musikwissenschaft« gerichteten Pointe seines Fortschrittskonzepts zunächst behauptet, diese lehne es ab, die Musikgeschichte als Fortschrittsgeschichte zu erzählen, so ist dies in dieser Pauschalität kaum zutreffend – und es ist zu mutmaßen, dass dies eine bewusste Verkürzung ist bzw. aus der Nichtakzeptanz eines anders konnotierten Fortschrittsbegriffs resultiert: 578 Knepler will den Fortschritt der Musik nicht in einer als Selbstzweck gewerteten Entwicklung der Kompositionstechnik bzw. des Materials verorten. Dieser Fortschrittsbegriff dürfte im ›bürgerlichen‹ Musikdenken des 20. Jahrhunderts kaum zu übersehen sein. 579 Kneplers vehementes Insistieren auf einen in gesellschaftlichen Idealen verankerten Fortschrittsbegriff ist damit nicht nur einem marxistischen Denken geschuldet, das die Geschichte der Menschheit als ein Fortschreiten menschlicher Emanzipation erzählen will. 580 Es ist vor allem auch gegen einen im Grunde gehaltlosen Fortschrittsbegriff gerichtet, der 576 Siehe hierzu die zahlreichen Beispiele in: Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt a. M. u. New York 2006, S. 257–331. 577 Harry Goldschmidt, Beethoven und der Fortschritt, in: Die Erscheinung Beethoven, Leipzig 1974 (Beethoven-Studien 1), S. 11–24, hier S. 20. 578 Ebd., S. 462–465. 579 Ebd., S. 505. Zu diesem Fortschrittbegriff siehe etwa Arnold Schönberg, Brahms der Fortschrittliche [1933], in: Stil und Gedanke, hg. v. Frank Schneider, Leipzig 1989, S. 99–145; Anton Webern, Der Weg zur Neuen Musik [1933], in: Wege zur Neuen Musik, hg. v. Willi Reich, Wien 1960, S. 9–44; Kurt von Fischer, Tradition(alismus), Antitradition(alismus) und das Problem des Fortschritts in der Musik der Gegenwart, in: Rudolf W. Meyer (Hg.), Das Problem des Fortschritts – heute, Darmstadt 1969, S. 248–270; Carl Dahlhaus, Neue Musik und Wissenschaft, in: Kurt Hübner u. Jules Vuillemin (Hg.), Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Rationalität. Ein deutsch-französisches Kolloquium, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983, S. 107–118; Andreas Ballstaedt, Wege zur Neuen Musik. Über einige Grundlagen der Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Mainz u. a. 2003 (Neue Studien zur Musikwissenschaft 8), S. 57–58. 580 Zu der »intersozialen Aneignung«, einem auf die soziale und kulturelle Praxis zielenden Aspekt seines Fortschrittskonzepts, siehe S. 192 dieser Arbeit.

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Die Gesetzmäßigkeit des Sozialen

sich auf rein musikimmanente Sachverhalte bezieht und dem zu huldigen er die ›bürgerliche‹ Musikwissenschaft bezichtigt. Diese reduziert – so ließe sich im Sinne Kneplers formulieren – den Fortschritt in der Geschichte der Musik auf einen, für dessen Verständnis es ausreicht, allein die perennierende Wechselwirkung von kompositionstechnischen Problemen und deren Lösungen zu analysieren. Der unendliche Prozess von Problemen und deren Lösungen, die wiederum neue Probleme nach sich ziehen, gilt dann als Fortschritt. Die Musik erscheint in ihrer Entwicklung gewissermaßen auf der permanenten Flucht vor sich selbst, um nicht im Stehenbleiben oder gar Umkehren dem obersten Gebot des Fortschritts nicht mehr genügen zu können. Kneplers Aversion gegen dieses Fortschrittsdenken leitet sich aus der Tatsache ab, dass Fortschritt als reiner Selbstzweck zu einer sinnlosen Kategorie wird. Er wird durch keine Sache gerechtfertigt, der er dient. Und weil es diese nicht gibt, fehlt auch das Kriterium, das die Unterscheidung zwischen avancierten und regressiven Tendenzen überhaupt erst ermöglicht und mehr als ein uneingestandenes Geschmacksurteil sein lässt. So sehr das der Erzählstruktur der Komödie entsprechende Geschichtsbild, aus dem sich auch Kneplers Fortschrittsbegriff ableitet, einerseits der Hoffnung eines versöhnten Endes der Geschichte unterliegt, so liefert aber andererseits gerade diese Hoffnung die normative Grundlage, die sein Konzept von Fortschritt schlüssiger erscheinen lässt als ein allein auf ›innermusikalische‹ Phänomene fixiertes Konzept. Denn ein Konzept von Fortschritt, das nicht auch das Ziel des Fortschritts beinhaltet, fällt mit einem Konzept von bloßer Veränderung zusammen. Von Fortschritt zu reden, ist dann sachlich nicht mehr gerechtfertigt.

5.3 Die Gesetzmäßigkeit des Sozialen Um die Geschichte als Komödie erzählen zu können, als ein – von Widersprüchen und Rückschlägen belastetes – Voranschreiten auf ein gutes Ende, lassen sich mit Referenz auf Marx Gesetzmäßigkeiten ihres Verlaufs postulieren, über deren Kenntnis die Geschichte wissenschaftlich überhaupt nur in den Griff zu bekommen ist: Die maßgeblich aus ökonomischen Sachverhalten und Klasseninteressen abgeleiteten Gesetze bestimmen den Fortgang der Geschichte – eine Annahme, die in unterschiedlicher Rigorosität auch von marxisti153 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

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schen Musikhistorikern übernommen wird. 581 Gesetze sollen aber nicht nur für den Fortgang der Geschichte insgesamt gelten, sondern »in letzter Instanz« auch für jedes ihrer Ereignisse (politische Konflikte, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen usf.). Es mag zunächst irritieren, von Gesetzen statt von »ökonomischen Gesetzen« zu sprechen, da Marx oft historische Prozesse mit ökonomischen Ursachen begründet, was im Marxismus häufig zu ihrer einseitigen Herleitung aus der Ökonomie geführt hat. Dass die Handlungen der Menschen indes nicht allein ökonomisch bestimmt sind, ist vor allem von Gramsci gesehen worden; und innerhalb der Cultural Studies, sofern sie marxistische Wurzeln haben, kann vom Primat der Ökonomie nicht die Rede sein. Dennoch gelten in der Tradition von Marx historische Entwicklungen nicht als zufällig und beliebig, weshalb von Gesetzen gesprochen wird. Diese sind keine Gesetze der Natur (etwa der Physik oder der Biologie), sondern solche, die sich aus der Lebenspraxis ableiten lassen: Der terminologischen Einfachheit halber soll daher schlicht von Gesetzen der sozialen Praxis gesprochen werden. 582 Doch die Abgrenzung gegenüber Gesetzen, die von den Naturwissenschaften entdeckt werden, lässt sofort die Frage virulent werden, welchen Status und Geltungsbereich soziale Gesetze eigentlich haben. Weil diese unter dem Paradigma der dialektischen Rationalität entwickelten Gesetze (Kapitel 2.2) das marxistische Denken über Ästhetik und Historiographie nicht nur begründen, sondern ihm auch jenen wissenschaftlichen Rang verleihen sollen, der es über bloße und beliebige Geschichtsspekulationen und -interpretationen hinaushebt, gilt es hier diese Gesetze näher anzusehen. Die Frage, wie der marxsche Gesetzesbegriff konkret zu fassen und auf historische Fragestellungen fruchtbar anzuwenden ist, ist Gegenstand heftiger Fehden und Kontroversen innerhalb des Marxismus selbst wie zwischen Marxisten und Nicht-Marxisten. Hier lassen sich idealtypisch zwei Positionen von einander abheben: Je stärker die sozialen Gesetze als historisch bedingte gedacht werden und je stärker Siehe exemplarisch: Heinz Alfred Brockhaus, Europäische Musikgeschichte 1–2, Berlin 1983 u. 1986, Bd. 1, S. 13–31, insb. S. 22–23 u. S. 26–27. 582 Stuart Hall, Gramscis Erneuerung des Marxismus und ihre Bedeutung für die Erforschung von »Rasse« und Ethnizität [1986], in: Ideologie – Kultur – Rassismus, Neuausgabe, Hamburg 2012 (Ausgewählte Schriften 1), S. 56–91, hier S. 64–71; Haug, Was ist Ökonomismus. Hierin insbesondere die Auseinandersetzung mit Gramsci, S. 142–155, und zu der bereits bei Marx und Engels einsetzenden Kritik des Ökonomismus, S. 129–134. 581

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Die Gesetzmäßigkeit des Sozialen

das menschliche Handeln als ein zwischen Autonomie und sozialer Bestimmtheit dialektisch vermitteltes gedacht wird, desto vorsichtiger müssen Prognosen über den Fortgang der Geschichte ausfallen. Je größere Ähnlichkeit aber die sozialen Gesetze mit Naturgesetzen aufweisen sollen, um so besser lassen sich prophetische Ahnungen des Fortgangs der Geschichte ›wissenschaftlich‹ absichern. Die letztgenannte Gesetzesauffassung, an deren Entstehen die von Engels und Lenin 583 , aber auch unter anderem von Karl Kautsky 584 und Georgi W. Plechanow 585 ausgehende marxistische Orthodoxie maßgeblich beteiligt war, ist Resultat einer Versimplifizierung des marxschen Denkens, deren lehrbuchtaugliche Verkürzungen sich dann leicht befehden lassen. 586 Prominente Kritik kommt vor allem von dem von Knepler als »Modephilosophen« geschmähten Karl Popper. 587 Popper lehnt die Annahme von Entwicklungsgesetzen oder Theorien der Geschichte aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen ab, weil diese die Geschichte von vornherein monokausal zu erklären suchten und prinzipiell nicht falsifizierbar seien. Das »historizistiZu Engels und Lenin siehe Kapitel 2.2. »Das Forschen nach den besonderen Gesetzen jeder historischen Epoche bildet ein wesentliches Charakteristikum der materialistischen Geschichtsauffassung. Diese unterscheidet sich dadurch von den beiden großen Typen gesellschaftlicher Auffassung, die heute die ›bürgerliche Wissenschaft‹ beherrschen. Die eine von ihnen erkennt nur allgemeine Naturgesetze jeder Gesellschaft an, die andere leugnet jede Naturgesetzlichkeit in der Gesellschaft überhaupt.« Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung 1–2, Berlin 1927, Bd. 2, S. 681. Die »materialistische Geschichtsauffassung […] zeigt uns wohl besondere Gesetze der Entwicklung der Gesellschaft, sie zeigt uns jedoch auch, daß diese den Gesetzen der Naturentwicklung nicht widersprechen, sondern ihre, man kann sagen, natürliche Fortsetzung bilden.« Ebd., S. 835. 585 Plechanow, der sich explizit auf Engels beruft, erachtet das menschliche Handeln als gesetzmäßig: »Die menschliche Tätigkeit selbst wird hier nicht als frei aufgefaßt, sondern als notwendig, d. h. als gesetzmäßig, d. h. als etwas, das zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchung werden kann. Ohne also von seiner [Engels’] These, daß die Umstände von den Menschen verändert werden, auch nur im geringsten Abstriche zu machen, gibt so der historische Materialismus zugleich zum ersten Male die Möglichkeit, den Prozeß dieser Veränderung vom Standpunkt der Wissenschaft zu betrachten. Wir haben daher das volle Recht zu der Behauptung, daß die materialistische Geschichtsauffassung die notwendigen Prolegomena zu einer jeden künftigen Lehre von der menschlichen Gesellschaft gibt, die Wissenschaft zu sein beansprucht.« Georgi W. Plechanow, Grundprobleme des Marxismus, Berlin 1958, S. 71. 586 Zum Begriff ›Lehrbuchmarxismus‹ siehe Graf, Lehrbuchmarxismus. 587 Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. 467. Siehe zum Hintergrund der Abwertung Poppers auch Kapferer, Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945–1988, S. 220. 583 584

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sche« Denken geht ihm zufolge von der illusionären Annahme aus, dass sich die Bewegungsgesetze der Gesellschaft und die von physikalischen Körpern analog verhalten; 588 tatsächlich soll aber zwischen historischen Trends und historischen Gesetzen unterschieden werden. 589 Der entscheidende Fehler eines historizistischen Denkens wie des historischen Materialismus’ sei, dass es nicht zwischen einer historischen Theorie, die falsifizierbar sein müsste, und einer bloßen Interpretation der Geschichte unterscheide. So sei es eine mögliche Interpretation, »die Geschichte« als Geschichte des Klassenkampfes zu verstehen; doch die »Historizisten […] sehen nicht ein, dass es zwangsläufig eine Vielfalt von Interpretationen gibt.« 590 Popper hält eine derartige Interpretation der Geschichte, die fälschlich mit einer Theorie verwechselt werde, für prinzipiell nicht falsifizierbar. Von marxistischer Seite stimmt Edward Thompson Popper zwar zu, dass »historische Erkenntnis nur unzureichende positive Beweise (von der den experimentellen Wissenschaften angemessenen Art) beibringen kann.« Er teilt aber nicht Poppers wissenschaftstheoretische Abwertung historischer Interpretationen, wenn er darauf insistiert, dass »falsche historische Erkenntnis generell Widerlegung unterworfen ist.« 591 Die dialektische Ausrichtung marxistischer Gesetze hält Popper für wissenschaftstheoretisch untragbar, weil – nach seiner Auffassung – sie den Gesetzesbegriff so weit von innen aushöhlt, dass auch Ereignisse, die den unterstellten Gesetzen offensichtlich zu widersprechen scheinen, von der Dialektik gewissermaßen aufgesogen, neutralisiert und in einen gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte integriert werden können. Die Dialektik, so Popper, »ist verschwommen und elastisch genug, um diese unvorhergesehene Situation ebenso zu interpretieren und zu erklären, wie sie jene Situation interpretiert und erklärt hatte, die sie vorausgesagt hatte und die nicht eingetreten war. Jede beliebige Entwicklung passt in das dialektische Schema; der Dialektiker braucht eine Widerlegung durch zukünftige Erfahrung niemals zu fürchten.« 592 Doch sind es nicht nur die Gesetze der Dialektik, sondern auch die immer gleichen Deutungen hisKarl Popper, Das Elend des Historizismus [1960], hg. v. Hubert Kiesewetter, 7., durchges. u. erg. Aufl., Tübingen 2003 (GW in deutscher Sprache 4), S. 102. 589 Ebd., S. 103. 590 Ebd., S. 135. 591 Thompson, Das Elend der Theorie, S. 83. 592 Popper, Was ist Dialektik, S. 286. 588

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torischer Prozesse, die Poppers Unbehagen hervorrufen. Nicht zuletzt deshalb müssen Vertreter einer normativ oder utopisch ausgerichteten marxistischen Musikhistoriographie eine unüberwindbare Kluft zwischen ihren Ansätzen und Poppers Geschichtsdenken sehen, weil Popper von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit verschiedener Interpretationsmöglichkeiten der Geschichte ausgeht und von einem eigentlichen und tragenden Fundament der Geschichte nichts wissen will. 593 Was hat es nun mit den Gesetzen der Geschichte auf sich? Von einer Gleichsetzung der Gesetze der Natur mit denen der Geschichte und der Gesellschaft, wie es Popper suggeriert, kann bei Marx nicht die Rede sein. Die Gesetze, von denen Marx spricht, sind nicht ewig und unverfügbar, sondern Resultat menschlicher Praxis und darin durch und durch historisch bedingt. 594 Daher treffen Poppers Ausführungen zumindest nicht Marx selbst, wenn er moniert, dass historische Theorien, die einen naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff voraussetzen, eigentlich bloße Interpretationen der Geschichte seien. Von der starren Geschichtsauffassung, wie sie Popper dem Marxismus unterstellt, hat sich Marx »seit seinem Eintritt in eine mehr empirische Gesellschaftsbetrachtung« verabschiedet. 595 Allerdings ist kaum zu übersehen, dass Marx selbst die Vorlage für begriffliche und inhaltliche Verkürzungen seiner Aussagen liefert. Wenn einleitend von widersprüchlichen Begriffsverwendungen bei Marx die Rede war, 596 dann ist sein Gesetzesbegriff dafür ein gutes Beispiel. 597 Um dies zu illustrieren: Marx scheint zu Beginn des Kapitals zunächst die poppersche Lesart seines Gesetzesbegriffs nahezulegen, wenn er von den »Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion« spricht. Doch darauf folgt eine leichte Einschränkung: Diese wirken zwar mit »eherner Notwendigkeit«, aber nur als sich »durchsetzende Tendenzen«. 598 Der Stellenwert des menschlichen Handelns bleibt dennoch relativ gering: »Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist […] kann sie naturGünter Mayer, Reflexionen zur Methodologie der Musikgeschichtsschreibung, in: Noeske u. Tischer (Hg.), Musikwissenschaft und Kalter Krieg, S. 21–67, hier S. 35. 594 Lenk, Marx in der Wissenssoziologie, S. 171–173. 595 Fleischer, Karl Marx, S. 163. 596 Siehe S. 13 ff. dieser Arbeit. 597 Zu den widersprüchlichen Verwendungen des Gesetzesbegriffs bei Marx siehe Kocka, Sozialgeschichte, S. 13–14. 598 MEW 23, S. 12. 593

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gemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.« 599 So sehr Gesetze nach den zitierten Passagen den Gang des Geschichte bestimmen, so sehr unterliegen sie selbst dem Lauf der Geschichte. Denn sie gelten Marx zufolge immer nur in einem bestimmten historischen Kontext, weil sie »nichts weniger als ewige Gesetze sind, sondern einem bestimmten Entwicklungszustande der Menschen und ihrer Produktivkräfte entsprechen«. 600 Im Gegensatz zu Naturgesetzen lassen Gesetze, die nicht ewig sind, Raum für selbstbestimmtes menschliches Handeln; tatsächlich tritt die Autonomie des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit bei Marx in ein kaum übersehbares Spannungsverhältnis. 601 Engels relativiert den Geltungsbereich historischer und ökonomischer Gesetze daher auch dahingehend, dass nach »materialistischer Geschichtsauffassung […] das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens [ist]«. Die Aussage, »das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende,« ist ihm zufolge eine »nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase«. 602 So ist der »Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweisen« einer Epoche nur »in letzter Instanz« aus der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft zu erklären. 603 Die für die marxistische Ästhetik und Historiographie so grundlegende Vorstellung von der relativen Autonomie der Kunst lässt sich in diesem Sinne auf Engels zurückführen. Denn er will »relativ selbstständige« gesellschaftliche Bereiche wie die Politik anerkennen, denen gegenüber sich die Ökonomie nur in letzter Instanz durchsetzt. 604 Nur indirekt sind, so Engels, auch Literatur und Philosophie in ihrer Entwicklung von der Ökonomie abhängig. »Die Ökonomie schafft hier nichts a novo, sie bestimmt aber die Art der Abänderung und Fortbildung des vorgefundnen Gedankenstoffs, und auch das meist indirekt, indem es die politischen, juristischen, moralischen ReEbd., S. 15–16. MEW 4, S. 140. 601 Siehe hierzu die erste und die dritte Feuerbachthese. MEW 3, S. 533–534. 602 MEW 37, S. 463. 603 MEW 20, S. 25. Siehe zum Stellenwert der Ökonomie Haug, Was ist Ökonomismus. Hierin insbesondere die Auseinandersetzung mit Gramsci, S. 142–155, und zu der bereits bei Marx und Engels einsetzenden Kritik des Ökonomismus, S. 129–134. 604 MEW 37, S. 490. 599 600

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flexe sind, die die größte direkte Wirkung auf die Philosophie üben.« 605 Vergleichbar spricht Marx von einem »unegalen Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion z. B. zur künstlerischen.« 606 Nach Engels machen »wir […] unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden. Aber auch die politischen usw., ja selbst die in den Köpfen der Menschen spukende Tradition, spielen eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende.« 607 Gegen die Auffassung von einer durch starre Gesetze determinierten Geschichte und Gesellschaft spricht auch die Äußerung von Marx und Engels in der Heiligen Familie, dass die Geschichte selbst nicht aktiv handelt, sondern es allein der Mensch ist, der den Geschichtsprozess durch seine Handlungen bestimmt: »Es ist nicht etwa die ›Geschichte‹, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.« 608 So scheint der Status von Gesetzen für die Erkenntnis historischer Zusammenhänge alles andere als eindeutig zu sein. Um noch einmal Thompson zu zitieren: Wenn wir ›Gesetz‹ mit der Implikation von Vorherbestimmung und Voraussage verwenden, dann provozieren wir 700 Einwände, von denen etwa 650 von Sir Karl Popper beharrlich dargelegt worden sind. Es ist zwecklos zu leugnen, daß sowohl Marx wie Engels gelegentlich ›Gesetz‹ in diesem Sinne verwendet haben; wo sie das tun, können die Einwände zuweilen auch aufrecht erhalten bleiben. Aber natürlich sind ›Gesetz‹, ›law‹, ›droit‹, ›diritto‹ Worte mit einer Vielzahl von Bedeutungsvarianten, die von ›Regel‹ über ›Regelmäßigkeit‹ bis hin zu ›Richtung‹ reichen. Seit Vico ist der historische Materialismus auf der Suche nach einem Begriff, der die Gleichartigkeit von Sitten usw., die Regelmäßigkeit von Gesellschaftsformationen kennzeichnet und sie nicht als gesetzmäßige Notwendigkeiten oder pure Zufälle, sondern als form- und richtungsgebende Zwänge, als indikativen Ausdruck menschlicher Tätigkeiten analysiert. [Diese Debatte könnte] vorangebracht werden […], wenn wir den Begriff des ›Gesetzes‹ aufgeben und durch den der ›Logik des Prozesses‹ ersetzen. 609

605 606 607 608 609

Ebd., S. 493. MEW 42, S. 43. MEW 37, S. 463. MEW 2, S. 98, siehe auch MEW 3, S. 38. Thompson, Das Elend der Theorie, S. 135.

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Der Begriff des Prozesses verweist semantisch auf den Bereich der Veränderbarkeit, Zeitlichkeit und Dynamik. Der Verlauf der Geschichte und die Entwicklung der Gesellschaft lassen sich nach Thompson nur im Sinne einer Tendenz begreifen, die aus einer »gemeinsamen Logik von Prozessen« folgt und sich nicht durch ahistorische Gesetze beschreiben lässt. Historische Theorien haben dann Erklärungskraft, wenn es mit ihnen gelingt, diese Prozesshaftigkeit zu integrieren. Ein Fehler ist es dagegen, den historischen Prozess zum Stillstand bringen wollen, um sich dann einen »statischen geologischen Querschnitt« herausgreifen zu können. Die dynamische und widersprüchliche Seite der Geschichte wird damit ausgeblendet. Jeder »historische Moment« muss immer auch als »Resultat eines vorangegangenen Prozesses« und als »Hinweis auf die Richtung seiner künftigen Entwicklung« begriffen werden. 610 Vergleichbar betont Engels, dass das »Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen« und »unzähligen einander durchkreuzenden Kräfte[n]« hervorgeht. Das Ergebnis eines historischen Prozesses kann dann »selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden«: »Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen.« 611 Wie also ›Gesetz‹ verstehen, wenn nicht als Naturgesetz, sondern als historisch bedingtes, das Raum für autonomes menschliches Handeln lässt? Wolfgang Fritz Haug leitet aus dem marxschen Denken einen Gesetzesbegriff ab, der »Gesetz« nicht mit »Determination« gleichsetzt 612 und für den der Begriff der Wechselwirkung grundlegend ist. 613 Das subjektunabhängig und objektiv erscheinende Gesetz ist das »per Rückwirkung« den Prozess »regulierende Resultat«. »Per Rückwirkung regelt sich aber auch das individuelle Handeln.« 614 Dieses erscheint als ein Lernprozess, weil Individuen »in jeder konkreten Situation unterschiedliche Handlungspfade einschlagen«, von denen einige eher zum Erfolg führen als andere und sich in

610 611 612 613 614

Ebd., S. 92. MEW 37, S. 464. Haug, Das »Kapital« lesen, S. 212. Ebd., S. 290. Ebd., S. 221.

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der Folge aus »divergenten Handlungen konvergente Erfahrungen« in der Wiederholung in Gewohnheiten niederschlagen. 615 Mit diesem Gesetzesverständnis lässt sich Determination »nun als Resultante aus anfänglicher Indeterminiertheit heraus rekonstruieren«. 616 Daher bestimmt Haug das Gesetz als »regulierendes Resultat«: »Die Wechselwirkung zeitigt das Gesetz. Sie tut das in Gestalt von Bewegungsformen, die sich gegenseitig bedingen. […] Dieses nie unmittelbar und direkt wirkende Determinationsparadigma ist das Gesetz. Es regelt die Wechselwirkung, die es zeitigt. Die Wechselwirkung ist das übergreifende.« 617 Nach dieser Interpretation des Gesetzesbegriffs muss die Annahme menschlicher Handlungsfreiheit nicht preisgegeben werden. Sofern die marxistische Musikhistoriographie – entgegen Adorno und Mayer – deshalb ein Werk als bedeutend erachtet, weil sie dessen ethischen Gehalt auch aus der bewussten Intention seines Urhebers ableitet, muss sie – freilich ohne dies zu reflektieren – von einem vergleichbaren Gesetzesbegriff ausgehen. Denn wäre das menschliche Handeln vollkommen determiniert, wären auch seine artifiziellen Produkte nichts als Folgen universal geltender Naturgesetze, und ihnen könnten dann jene ethischen Qualitäten nicht mehr zugeschrieben werden, ohne die die marxistische Musikhistoriographie nicht auskommt. 618 Der Forderung, die Knepler an realistische Musik richtet, »die jeweils existierenden Schranken weiter hinauszuschieben […], die die Menschen bei der Entfaltung ihrer Individualität hindern, am Wachsen ihrer Potenzen, Bedürfnisse ihrer produktiven und ihrer Genußfähigkeiten«, 619 liegt ein ethischer Appell zugrunde, wie er von Haug aus einem menschliche Autonomie gerade nicht ausschließenden Gesetzesbegriff abgeleitet wird: Wir werden daher zwar mit Marx den Einzelnen nicht »verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt«, wohl aber dafür, wenn er vor der Destruktivität dieser Verhältnisse die Augen verschließt. Keine zu exekutierenden Gesetze hindern ihn daran, sich subjektiv übers bloße Mitläufertum zu erheben. 620

615 616 617 618 619 620

Ebd., S. 221–222. Ebd., S. 222. Ebd., S. 291–292. Siehe S. 108 f. (Adorno und Mayer) und S. 56 f. (Kritik an Lenin) dieser Arbeit. Knepler, Musikalischer Realismus, S. 248–249. Haug, Das »Kapital« lesen, S. 222.

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Die skizzierten Probleme führen nun zu unübersehbaren Spannungen in den marxistischen Diskursen über Musik, und zwar vor allem in zwei Themenfeldern: Zum einen in der brisanten Frage, wie weitgehend die Handlungsautonomie des Menschen gegenüber den die Geschichte und die Gesellschaft durchwehenden Gesetzen zu denken ist, zum anderen in der sich als Konsequenz ergebenen Frage nach dem Methodenpluralismus: Je umfassender ökonomische Gesetze gedacht werden, desto eher reicht die Fokussierung auf die Ökonomie zur Erklärung historischer Sachverhalte aus; je stärker indes betont wird, dass diese immer nur »in letzter Instanz« gelten, desto weniger wird auch ein marxistisch orientierter Denker etwas gegen Methodenpluralismus einzuwenden haben. All dies ist für die im dritten und vierten Kapitel dargestellten Muster des marxistischen Musikdenkens fundamental: Nur dann, wenn es gelingt, die »relative Autonomie« des menschlichen Handelns widerspruchsfrei mit dem marxschen Gesetzesbegriff zusammenzudenken, müssen ethische Entscheidungen, die der realistischen Kunst zugrunde liegen, nicht zur blinden Notwendigkeit degradiert werden; und nur dann können auch ›bürgerliche‹ Werke als Vorschein auf eine bessere Gesellschaft gedeutet werden, wenn sie von der Bindung an ihre unmittelbaren Entstehungsbedingungen wenigstens partiell freigesprochen werden. Die wohl nachhaltigste Attacke gegen die materialistische Musikgeschichtsschreibung kommt von Carl Dahlhaus. Obgleich Dahlhaus die Geschichte der Kunst nicht losgelöst von sozioökonomischen Rahmenbedingungen versteht – hierfür übernimmt er das Konzept der Strukturgeschichte –, favorisiert er eine Form von Historiographie, die Kunst an einem Ort angesiedelt wissen will, in dem sie sich selbstbezüglich nach eigenen, mit der ›äußeren‹ Realität nicht vermittelbaren Gesetzen entfalten kann. Seine Pointe lautet, dass ein Kunstwerk einen Status besitzt, der es von anderen Gegenständen der Geschichte prinzipiell unterscheidet. Das Kunstwerk würde zum bloßen Dokument eines soziokulturellen Sachverhalts degradiert, 621 wenn der Historiker es im Kontext der Sozialgeschichte aufgehen ließe. Zum einen würde der Kunstcharakter eines Werkes geleugnet, wenn es als reines Abbild der Realität begriffen und ihm jede Autonomie abgesprochen würde. 622 Zum anderen zeichne ein Kunstwerk im Unterschied zu anderen Gegenständen der Geschichte die Eigenschaft 621 622

Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 13–14. Ebd., S. 182–183.

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der »Präsenz« aus, weil es in seinen ästhetischen Qualitäten den historischen Kontext, in dem es entstanden ist, überdauere. 623 All dies wäre für marxistische Musikforscher keiner Aufregung Wert; wahlweise böte es eine Kontrastfolie zur Schärfung des eigenen Profils oder ließe sich leicht als eben jene Form ›bürgerlicher‹ Historiographie abtun, die von den ›wahren‹ Ursachen der Geschichte nach wie vor nichts wissen will. Doch Dahlhaus lässt es nicht bei der Erarbeitung eines eigenen Ansatzes bewenden, sondern er sucht diesen zugleich gegen marxistisch-materialistisches Denken abzugrenzen; und zwar in einer provokanten Mischung aus eloquenter Polemik und einem Problembewusstsein, das auch bei sich ihrer Fundamente gewissen Marxisten für Beunruhigung sorgt – so zumindest bei Mayer, Knepler und Peter Wicke, die sich mit nicht minderer Emphase für den eigenen Standpunkt wiederum gegen Dahlhaus positionieren. Wenn eine bestimmte Variante der materialistisch ausgerichteten Versuche, Musik oder das musikalische Material gesellschaftspolitisch zu deuten, als zirkulär beschrieben wurde, 624 so lässt sich mit Dahlhaus argumentieren, dass dies für die marxistische Musikgeschichtsschreibung als Ganze gilt. Sie lässt sich in seinem Sinne dann als zirkulär deuten, wenn sie in der Interpretation historischer Prozesse zu dem Ergebnis ihrer ökonomischen Determiniertheit gelangt, diese zugleich aber auch als einzig zulässige Kraft unterstellt, die die Geschichte überhaupt vorantreibt: In »letzter Instanz« gelte es immer, dass der Fortgang der Geschichte das Resultat ökonomischer Bedingungen ist. Die orthodox marxistische Auslegung des Begriffs der relativen Autonomie der Kunst, eine Auslegung, die das utopische Moment zurückdrängt, andererseits allerdings einem ›vulgär-marxistischen‹ Mißbrauch des Basis-Überbau-Schemas entgegenzuwirken trachtet, konzediert zwar eine Wechselbeziehung zwischen Basis und Überbau statt einer einseitigen Abhängigkeit, beharrt jedoch auf dem Axiom, daß ›in letzter Instanz‹ immer und zu allen Zeiten die ökonomische Struktur ausschlaggebend sei. Dem verwickelten Zusammenhang zwischen kunsttechnischen, ästhetischen, psychologischen, sozialen und ökonomischen Momenten, den man empirisch untersuchen könne, müsse man, sobald man zur historischen Darstellung übergehe, als Interpretationsschema das Modell einer Hierarchie, und zwar einer immer gleichen Hierarchie, zugrundelegen. 625 623 624 625

Ebd., S. 61. Siehe Kapitel 5.1 dieser Arbeit. Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 186.

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Dem stellt Dahlhaus einen Methodenpluralismus gegenüber, den er resümierend das »Prinzip der Prinzipienlosigkeit« nennt: Dieses läuft darauf hinaus »nicht eine feste Hierarchie historischer Erklärungsgründe vorauszusetzen, sondern von einer Vielzahl offener Möglichkeiten auszugehen, um erst am Ende zur Feststellung von Fundierungsverhältnissen und Abhängigkeiten zu gelangen, die für ein bestimmtes Zeitalter charakteristisch sind.« 626 Damit fokussiert er seine Kritik auf die »immer gleich[e] Hierarchie der Erklärungsgründe«, die in Widerspruch zu dem von ihm geforderten Methodenpluralismus gerate, 627 der eben nicht davon ausgehe, dass es »in den geschichtlichen Ereignissen nur einen, den einzig wahren Zusammenhang gebe.« 628 Erst am Ende könne der Historiker »zu einer Hierarchie der Erklärungsgründe« gelangen und dürfe nicht vorher schon »eine feststehende Abstufung« voraussetzen. Nur die Offenheit, »eine Vielzahl gleichberechtigter Hypothesen über Ursachen anzunehmen und zu erproben« könne letztlich dem Erkenntnisfortschritt dienen. 629 Zudem sei es »kaum einleuchtend und eher unwahrscheinlich, daß das ökonomische Moment unterschiedslos in sämtlichen Epochen der Geschichte die letzte Instanz gewesen sein soll.« 630 Und selbst wenn dies in einer Epoche der Fall sein sollte, dann stehe aber immer noch nicht fest, »ob und in welchem Maße in kunsthistorischen Darstellungen ein Rekurs auf das Ökonomische überhaupt wissenschaftlich lohnt.« 631 Die sich hier anschließende Kontroverse zwischen Carl Dahlhaus und Georg Knepler ist nicht zuletzt Dank der Untersuchung von Ann Shreffler detailliert erschlossen worden, 632 sodass an dieser Stelle ein paar wenige Anmerkungen genügen. Der Kern der Auseinandersetzung liegt im wissenschaftstheoretischen Bereich, nämlich in der Frage nach dem Begrünungszusammenhang für den FortEbd., S. 195. Ebd., S. 186. 628 Ebd. 629 Ebd., S. 189. 630 Ebd., S. 190. 631 Ebd., S. 191. 632 Anne C. Shreffler, Berlin Walls. Dahlhaus, Knepler, and Ideologies of Music History, in: JoM 20 H. 4 (2003), S. 498–525. Siehe des Weiteren: James Hepokoski, The Dahlhaus Project and Its Extra-Musicological Sources, in: 19th-Century Music 14 H. 3 (1991), S. 221–246, hier S. 222. Zum Einfluss marxistischer Musikforschung bei Dahlhaus siehe auch: Mathias Hansen, Dahlhaus und das Politische, in: Musik und Ästhetik 12 H. 47 (2008), S. 5–18, hier S. 10–15. 626 627

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gang der Geschichte, für den Dahlhaus einen »Gegenentwurf zur marxistischen Geschichtstheorie« liefern will. 633 Der Vorwurf einer vulgärsoziologischen Marxrezeption scheint demgegenüber nur ein Nebenschauplatz zu sein, 634 da Knepler und Wicke hier zwar Dahlhaus zu Recht Vereinfachungen und Verkürzungen vorwerfen – wie etwa eine falsche Herleitung des Begriffs der »relativen Autonomie« oder die voreilige Zurechnung der Kunst zum Überbau –, sie hiermit aber nicht den eigentlichen Einwand von Dahlhaus gegen marxistische Musikhistoriographie treffen. 635 Günter Mayer moniert neben der Inkonsistenz des Prinzips des Methodenpluralismus’ 636 ebenso die nicht korrekte bzw. vereinfachende Anwendung marxscher Kategorien wie Dahlhaus’ unzutreffenden Begriff von der Basis, 637 die fehlende Reflexion der Dialektik von Struktur- und Entwicklungsgesetzen, 638 die Deutung der Kunst als per se dem »falschen Bewusstsein«, als Ideologie und dem Überbau zugehörig 639 usf. Diese Kritik verdeckt indes ebenso Dahlhaus’ eigentliche Intention, mit deren stichhaltiger Widerlegung sich Knepler/Wicke und Mayer offensichtlich schwerer tun: Dahlhaus’ Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass es durchaus nicht feststeht, für die Interpretation eines historischen Gegenstandes das immer gleiche Fundierungsverhältnis Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 186. Mayer, Reflexionen zur Methodologie der Musikgeschichtsschreibung, S. 23. 635 Georg Knepler u. Peter Wicke, Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit [Rezension zu: Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte], in: BzMw 21 H. 3 (1979), S. 222–228, hier S. 225. 636 Mayer, Reflexionen zur Methodologie der Musikgeschichtsschreibung, S. 33–34. 637 Ebd., S. 24–25. 638 Ebd., S. 28. 639 Ebd., S. 30. Er rezipiert hier die Kritik von Knepler und Wicke: Dahlhaus reproduziere im Grunde einseitige, an Popper erinnernde Verkürzungen marxistischer Methoden. Dahlhaus’ Deutung der Geschichte basiere auf einer starken Vereinfachung historisch-dialektischen Denkens und marxistischer Terminologie: nämlich die Reduzierung dialektischer Zusammenhänge auf Strukturen, ohne die zeitliche Dimension, das Gewordensein dieser Strukturen mit zu bedenken, sodass ihr innerer Sinn prinzipiell verschlossen bleiben muss (siehe hierzu Kapitel 2.2). Indem Dahlhaus die »dynamischen Qualitäten der marxistischen Geschichtskonzeption« außer Acht lasse, reduziere er den Marxismus auf Strukturgeschichte. Dies liege an seinem mangelnden Verständnis der »Produktivkräfte« als historische Kategorie; diese sei die »dynamischste aller marxistischen Kategorien«, die die »Dialektik von relativ stabilen Zuständen und mehr oder minder tiefen Umwälzungen« wesentlich in Gang setze. Dahlhaus spreche zudem statt von den Produktivkräften verfälschend lediglich von der »ökonomische Basis«, also der »Gesamtheit der Produktionsverhältnisse«. Knepler u. Wicke, S. 224. 633 634

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– nämlich das ökonomische – unterstellen zu müssen, wenn auch nur in »letzter Instanz«. Denn Dahlhaus zufolge erweist sich wissenschaftstheoretisch die prinzipielle Offenheit des historischen Herangehens immer angemessener, weil dann nicht – wie oben angedeutet – vor der Herausarbeitung eines historischen Zusammenhangs schon ein diesen begründendes, alternative Erklärungsansätze pauschal ausschließendes Fundament angenommen wird. Die Triftigkeit des Einwands von Knepler/Wicke und Mayer gegen diesen Vorwurf von Dahlhaus hängt von dem Verständnis der immer wieder angeführten engelsschen Wendung ab, nach der die ökonomische Struktur einer Gesellschaft nur die »letzte Instanz« für historische Erklärungsansätze sei. Doch wie weit diese »letzte Instanz« für ein Kunstwerk tatsächlich bestimmend sein soll, kann – wie zu Beginn des Kapitels gezeigt – auch für einen Marxisten pauschal kaum anzugeben sein. So geht der Konflikt im Kern von der Frage nach der korrekten Auslegung und dem Geltungsbereich dessen aus, was Engels mit »letzter Instanz« umschreibt. Mayers plädiert für die prinzipielle Relevanz ökonomischer Faktoren, wenn er mit Engels darauf pocht, dass das letzte Fundament auch aller anderen Motive, Beweggründe, Ursachen für menschliches Handeln ein ökonomisches ist. 640 Knepler und Wicke dagegen wollen materialistisches Musikverstehen nicht in einem so engen Rahmen wissen, dass der Gehalt der Werke immer und immer wieder Spiegel der ökonomischen Verhältnisse sein muss. Dies als marxistisch zu bezeichnen, sei eine »Parodie« marxistischer Musikforschung. Wie aber Erkenntnis und Täuschung, Vorahnung und Sehnsucht nach dem Vergangenen, Haltungen, Zielvorstellungen, Weltbilder, Wünsche in Musik verschlüsselt sind, wie diese mit der Ideologie, in der ein Komponist lebt, zusammenhängen und wie diese Ideologien wiederum – ›letzten Endes‹ – mit der Struktur der Gesellschaft verbunden sind, das sind Fragestellungen, die die marxistische Forschung beschäftigt, die aber Dahlhaus nicht einmal als Problemstellung ernsthaft zuzulassen scheint. 641

Eng verbunden mit der Frage nach der Reichweite ökonomischer Gesetze ist – gewissermaßen antiproportional – die Frage der Reichweite nicht ökonomisch determinierter Eigenleistungen des künstlerischen Subjekts, die – wie im dritten Kapitel gezeigt – durchaus lebhafte

640 641

Mayer, Reflexionen zur Methodologie der Musikgeschichtsschreibung, S. 26. Knepler u. Wicke, Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit, S. 228.

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Kontroversen auslöst. 642 Der irreduzible Freiraum, der dem Komponisten zugestanden wird, ist der seiner »relativen« Autonomie. So sehr die Rede von der relativen Autonomie zu den Konstanten marxistischer Kunstdiskurse gehört, so vertrackt erscheint es aber auch, sie aus den marxschen Schriften selbst abzuleiten. Das Theorem der relativen Autonomie der Kunst wird aus ihrer partiellen Unabhängigkeit vom Basis-Überbau-Schema hergeleitet. Doch die Kunst in einem Bereich zu verorten, der jenseits dieses Schemas angesiedelt ist, erweist sich als eine durchaus knifflige Herausforderung. »Basis« und »Überbau« gehören zu den zentralen marxschen Kategorien, die für die Deutung der kulturellen oder ›geistigen‹ Leistungen nicht zu umgehen sind, doch gliedert Marx – dessen Texte ohnehin künstlerische Fragen kaum explizit thematisieren – Kunst in dieses Schema nicht eindeutig ein. Nach seinem immer wieder zitierten, kanonisch gewordenen Vorwort aus Zur Kritik der politischen Ökonomie lässt sich Kunst – also auch Musik – durchaus dem Überbau zuordnen: Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. 643

Hiernach ist Kunst Teil des Überbaus, in dem sie, als Ideologie, von der Basis bestimmt ist – ihre Autonomie steht hier also infrage. An anderen Stellen wird diese Aussage indes wieder relativiert: So spricht Marx davon, dass »bestimmte Blütezeiten« der Kunst »keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage« stehen. 644 Am Beispiel der Rezeption der griechisch-antiken Kunst reflektiert Marx das Dilemma, das aus seinen theoretischen Erwägungen zum Überbau folgt: »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst 642 643 644

Siehe S. 96 ff. dieser Arbeit. MEW 13, S. 9. Ebd., S. 640.

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Interpretationsschemata

und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.« 645 Weil nun aber die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse der griechischen Antike nicht mehr die unsrigen sind, lässt sich dieser Satz so deuten, dass deren Kunst keine ausschließliche Sache des damaligen Überbaus, mithin nicht allein Ausdruck der damaligen herrschenden Ideologie sein konnte. Sie muss also zumindest partiell autonom sein und kann nicht vollständig mit den »ideologischen Formen« ihrer Entstehungszeit zusammenfallen, damit sie »für uns noch Kunstgenuß gewähren« kann. Hierzu bemerkt Otto Karl Werckmeister, dass ein »grundsätzlicher Widerspruch« sofort auffalle: »Marxistische Autoren im Osten wie im Westen akzeptieren stets fraglos Marx’ Grundsatz, daß Kunst von der materialen Produktion abhängt, wehren sich dagegen mit überraschender Einmütigkeit gegen seine Folgerung, daß sie deshalb zur Ideologie gehört.« 646 So will etwa auch Knepler den Überbau so verstanden wissen, dass er bei Marx »vor allem politische und juristische Anschauungen, Festlegungen und Institutionen« meint: »Nannte er Kunst im Zusammenhang mit anderen Hervorbringungen menschlichen Geistes, etwa mit Religion oder Philosophie, so sprach er von ›Bewußtseinsformen‹ oder ›Vorstellungsweisen‹.« 647 Für eine relative Abkoppelung der Musik vom Basis-Überbau-Schema argumentiert auch Mayer, indem er auf die »schöpferische Phantasieleistung des kompositorischen Subjekts« rekurriert – was für sich orthodox fühlende Marxisten die akute Gefahr des unversehenen Abtriftens in idealistisches Denken bedeutet. Die Entwicklung der Musik bilde durch eine gewissermaßen eigengesetzliche Spezialisierung eine »gegenüber anderen Teilsystemen der Gesellschaft« relative Autonomie aus. 648 »Im historischen Prozeß der zunehmenden Verselbständigung der Musik wird diese Seite der Vergegenständlichung historisch entfalteter Subjektivität mehr und mehr zum relativ autonomen Gegenstand menschlichen Selbstgenusses, verstanden im Marxschen Sinne als Selbstverwirklichung des gesellschaftlichen Individuums.« 649

645 646 647 648 649

Ebd., S. 641. Werckmeister, Ideologie und Kunst bei Marx, S. 19. Knepler u. Wicke, Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit, S. 225. Mayer, Materialtheorie bei Eisler, S. 134. Ebd., S. 135.

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Die Gesetzmäßigkeit des Sozialen

Wie oben in Kapitel 3.2 gezeigt, sind die Betonung der »relativen Autonomie« der Musik und ihre partielle Abkopplung vom BasisÜberbau-Schema auch durch das Bedürfnis motiviert, Musik der Vergangenheit aus ihrem Entstehungskontext herauszulösen, um aus ihr Verweise auf eine zukünftige Gesellschaftsform herauslesen zu können. In diesem Zusammenhang kommt Harry Goldschmidt das Verdienst zu, die Frage nach der möglichen Autonomie eines Werkes nicht mit politisch-normativen Forderungen zu verbinden, sondern sie im Kontext eines je unterschiedlichen Erkenntnisinteresses zu sehen: Er insistiert auf die Vorrangigkeit der musikalischen Analyse, aus deren Problemstellung es sich allein ergibt, ob ein Werk als autonom oder heteronom betrachtet wird. Jahrzehntelang sei diese Diskussion von einem »musikalischer Universalienstreit« über den Vorrang der Autonomie oder der Heteronomie der Musik beherrscht worden; doch sei dies eine verfehlte Fragestellung. 650 Autonomie und Heteronomie deutet er als Qualitäten, die beide zugleich einem Werk immer zukommen: Ob ein Werk als autonom oder heteronom verstanden wird, resultiert allein aus dem Aspekt, unter dem ein Werk betrachtet wird. 651

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Goldschmidt, Zur Methodologie der musikalischen Analyse, S. 3. Ebd.

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6. Potenziale

Die folgende Diskussion der Potenziale des marxistischen Musikdenkens zielt auf die Frage nach dessen möglicher Aktualität. Keinesfalls soll hiermit eine wie auch immer zu begreifende Vorrangstellung marxistischer Ansätze im Denken über Musik suggeriert werden. Denn ob diese sinnvoll sind, lässt sich nicht von vornherein, sondern allein auf der Grundlage der jeweiligen konkreten Erkenntnisinteressen des Historikers oder der artifiziellen Vorstellungen und Bedürfnisse eines Komponisten entscheiden. Daher wird es hier lediglich um den relativen Stellenwert des von Marx ausgehenden Denkens gehen: Lässt sich zeigen, dass marxistische Ansätze innerhalb des Spektrums sozial- und geschichtswissenschaftlicher Methoden eigenständige Potenziale beinhalten, die sich fruchtbar machen lassen, oder liefert marxistisches Denken im Grunde keine neue Einsichten versprechende Möglichkeiten mehr, sich dem, was sich im soziokulturellen Bereich ereignet, verstehend und interpretierend zu nähern? Gleiches gilt für den Bereich der künstlerischen Praxis: Inwiefern prägen marxistische Ansätze – und seien sie noch so vermittelt – künstlerische Konzepte? Es bedarf kaum des Hinweises, dass sich hier ein weites kulturelles bzw. kulturwissenschaftliches Feld zwischen kompositorischer Praxis, Ästhetik und Musikgeschichtsschreibung eröffnet, aus dem nur Stichproben entnommen werden können. An ihnen soll nur sichtbar werden, wo Anknüpfungspunkte und Potenziale marxistischen Denkens vorliegen. So ist im Folgenden nach einem knappen Blick auf Diskurse, in denen Musik als Produkt menschlich-gesellschaftlicher Lebenspraxis verstanden wird (Kapitel 6.1), die Aufmerksamkeit jenen artifiziellen Ansätzen zu widmen, für die Musik ein Mittel ist, eine realistische und politisch wirksame oder ideologiekritische Haltung einzunehmen (Kapitel 6.2). Das sechste Kapitel schließt mit dem Versuch, im marxschen Sinne Musik – wie Kunst überhaupt – als eine Praxis der Freiheit zu verstehen (Kapitel 6.3).

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Praxis

6.1 Praxis Von »Praxis« zu reden, kann unter zwei Gesichtspunkten geschehen: Zum einen kann nach jüngeren sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Methoden gefragt werden, mit denen der Gehalt von Musik aus ihrer unmittelbaren Einbettung in lebenspraktische Zusammenhänge abgeleitet wird. Hier kann die Musikwissenschaft an breite Forschungsfelder anknüpfen, die sich innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften im Laufe der letzten Jahrzehnte etabliert haben, in denen unter dem Label des Kulturellen Materialismus oder der Cultural Studies marxistische Einflüsse – je nach Forschungsinteresse mit unterschiedlichen Gewicht – spürbar sind. Bis hin zum sogenannten Practice Turn oszillieren materialistisch fundierte Methoden zwischen expliziter Bezugnahme auf Karl Marx und kreativer Neuerfindung von Konzepten oder Ideen, die zwar Affinitäten zum marxistischen Denken aufweisen, dieses als Stichwortgeber aber zumindest nicht mehr eindeutig identifizieren lassen (a). 652 Zum anderen ist nach der Lebenspraxis der jüngeren Vergangenheit selbst zu fragen: Welches sind die kulturellen Rahmenbedingungen, die künstlerische Praxen heute bestimmen? Hier stehen also nicht Forschungsmethoden zur Diskussion, sondern die Verfasstheit der (nordamerikanisch-europäischen) Gegenwartskultur, die jene einzelnen artifiziellen Leistungen prägt, die von der Forschung aufgegriffen werden können (b).

652 Einflussreich vor allem: Edward P. Thompson , The Making of the English Working Class, London 1963; Raymond Williams, Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von »Kultur« [1958], dt. v. Heinz Blumensath, München 1972; ders., Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur, hg. u. übers. v. H. Gustav Klaus, Frankfurt a. M. 1977; ders., Problems in Materialism and Culture. Selected Essays, London 1980. Siehe des Weiteren: Cary Nelson u. Lawrence Grossberg (Hg. u. Vorw.), Marxism and the Interpretation of Culture, Houndmills, Basingstoke, Hampshire 1988; Marvin Harris, Cultural Materialism. The Struggle for a Science of Culture, updated edition, with an introduction by Allen Johnson and Orna Johnson, Walnut Creek u. a. 2001, S. 141– 164 u. S. 216–257; H. Gustav Klaus u. Ingo Lauggas, Kultureller Materialismus, in: Wolfgang Fritz Haug u. a. (Hg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8/1, Hamburg 2012, Sp. 350–357. Zur Entwicklung des Marxismus im Westen: Rainer Winter, Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist 2001; Perry Anderson, Considerations on Western Marxism, London 1976. Zum »Practice Turn« siehe exemplarisch: Frank Hillebrandt, Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014 (Soziologische Theorie).

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Potenziale

a) Wenn auch all die Verästelungen und Verzweigungen der Marxrezeption hier nicht dargestellt werden können, sind doch zumindest dem kulturwissenschaftlich angereicherten Denken über Musik ein paar Proben zu entnehmen, unter denen sich marxistische Ideen als teils als implizites, teils als vergessenes Fundament freilegen lassen. Schnell wird hierbei deutlich, dass selbst dort, wo Anknüpfungspunkte oder Parallelen offensichtlich sind, ein utopisch-revolutionäres Moment, das Ansinnen, letztlich auch politisch-praktisch wirksam sein zu wollen, oft nur marginal ausgeprägt ist. Es liegt bestenfalls noch dort vor, wo das Forschungsinteresse von einer emanzipatorischen Werthaltung getragen ist, aber das Ziel der Emanzipation nicht mehr als genuin marxistisch bezeichnet werden kann. Wenn daher diese Ansätze nicht mehr als marxistisch beschrieben werden können, so sind sie doch aber die Ausläufer eines Denkens, dessen Ursprünge von Marx mit verursacht wurden. Spürbar ist allerdings in diesen Forschungsfeldern die Sensibilität für den Stellenwert sozialer Konflikte als Impulse für den Fortgang der Geschichte. »Der Marxismus«, so Georg Iggers, »ist unvereinbar mit Gesellschaftskonzeptionen, die nicht die zentrale Rolle sozialer Konflikte anerkennen.« 653 Kulturelle Leistungen sind nicht Sache eines autonomen Bereichs, sondern Produkte von Interessensund Machtkonflikten, ökonomischen und sozialen Bedingungen. Dass dies von marxistisch geschulten Denkern zur Grundlage der Interpretation von Musik gemacht wird, überrascht nicht: Die Tonalität – um ein Beispiel von Adorno anzuführen – »hat die Würde des geschlossenen und exklusiven Systems der Tauschgesellschaft zu verdanken, deren eigene Dynamik auf Totalität hinauswill und mit deren Fungibilität die aller tonalen Elemente aufs tiefste übereinstimmt.« 654 Doch wird ebenso von Autoren, die dem Marxismus ferner stehen, ein Zusammenhang zwischen Musik und menschlicher Praxis unterstellt. Dass etwa eine bestimmte Ton- und Formsprache das Produkt eines sozialen und kulturellen Kontextes sein kann, schlägt ebenso Reinhard Kannonier vor, wenn er die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zur Zeit der Klassik, die bürgerliche Identitätssuche und das Konfliktpotential in der Gesellschaft mit der inneren Dynamik, mit den Kontrasten und Spannungen der

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Iggers, Die Bedeutung des Marxismus für die Geschichtswissenschaft heute, S. 15. Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 20.

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Praxis

Sonatenhauptsatzform parallelisiert. 655 Ähnlich setzt Peter Rummenhöller Bachs und Scarlattis Musik anhand charakteristischer Kompositionstechniken in Beziehung zu bestimmten Gesellschaftsformen. 656 Susan McClary will den zweiten Satz aus Mozarts Klavierkonzert KV 453 als Ausdruck eines zur Zeit der Aufklärung virulent werdenden Konflikts zwischen dem Individuum und der aristokratisch dominierten Gesellschaft verstehen: 657 als Ausdruck eines »social discourse«. 658 Überhaupt erweist sich die sogenannte New Musicology als unerschöpfliche Quelle für die Suche nach Parallelen zwischen marxistischer und nicht-marxistischer Musikwissenschaft. Weil die New Musicology Musik explizit als – so Lawrence Kramer – »kulturelle Praxis« zu verstehen sucht, 659 entwickelt sie vergleichbare Methoden, sodass Günter Mayer die These vertreten kann, in der New Musicology seien »genuin marxistische Impulse wieder aufgegriffen oder neu erfunden worden.« 660 Die Motive, aus denen Joseph Kerman in Contemplating Music für eine neue, kulturwissenschaftlich ausgerichtete Musikwissenschaft plädiert, die ihre Fixierung auf werkimmanente Strukturanalysen oder positivistische Geschichtsschreibung überwinden soll, 661 sind letztlich materialistisch – ob Kerman von marxistischen Ideen sich inspirieren ließ, lässt sich anhand dieses Buches indes nicht unmittelbar entscheiden. Immerhin ist Adorno für Rose Rosengard Subotnik, die in den USA innerhalb der Musikwissenschaft einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für dessen Rezeption geleistet hat, auch deshalb von Interesse, weil er das musikalische Material immer in Abhängigkeit vom sozialhistorischen 655 Reinhard Kannonier, Zeitwenden und Stilwenden. Sozial- und geistesgeschichtliche Anmerkungen zur Entwicklung der europäischen Kunstmusik, Wien u. a. 1984, S. 142–146. 656 Peter Rummenhöller, Einführung in die Musiksoziologie, Wilhelmshaven 1978, S. 113. 657 Susan McClary, A Musical Dialectic from the Enlightenment: Mozart’s »Piano Concerto in G Major, K. 453«, Movement 2, in: Cultural Critique 4 (1986), S. 129– 169. 658 Ebd., S. 131. Siehe auch: Susan McClary, Narrative Agendas in »Absolute« Music. Identity and Difference in Brahms’s Third Symphony, in: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship, Berkeley u. Los Angeles 1993, S. 326–344. 659 Lawrence Kramer, Music as Cultural Practice. 1800–1900, Berkeley u. a. 1990. 660 Mayer, Marxistische Ansätze in der Musikforschung?, S. 223. 661 Joseph Kerman, Contemplating Music. Challenges to Musicology, Cambridge 1985, S. 155.

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Potenziale

Kontext zu begreifen sucht. 662 So ist hier der Einfluss von Marx eher indirekt. Susan McClary beruft sich u. a. auf Terry Eagleton, 663 und McClary und Kramer verweisen wegen seiner gesellschaftlichen Deutungen der Musik auf Adorno. 664 Nicht zu unterschätzen dürfte in diesem Zusammenhang auch der Einfluss von Michel Foucault sein, 665 dessen antiidealistischer Subjektbegriff Affinitäten zum marxschen Denken aufweist. 666 Doch lässt sich – wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt 667 – im marxschen Sinne das Subjekt nicht auf ein ohnmächtiges reduzieren, das hinter strukturellen Formationen und materiellen Determinanten verschwindet. Das dies im Marxismus indes Gegenstand heftiger Fehden und Kontroversen ist, wurde in den Kapiteln 2.2 und 5.3 gezeigt; Karl Korsch weist – um an diese Problematik noch einmal zu erinnern – in seiner Auseinandersetzung mit Lenin gerade auf die unhaltbare Vorstellung und ihre theoretischen wie praktische Implikationen hin, menschliches Denken und Handeln sei ein passives Spiegelbild der äußeren Wirklichkeit. 668 662 Rose Rosengard Subotnik, Why Is Adorno’s Music Criticism the Way It Is?, in: Developing Variations. Style and Ideology in Western Music, Minneapolis u. London 1991, S. 42–56, hier S. 52. 663 Susan McClary, Narrative Agendas in ›Absolute‹ Music, S. 327, Anm. 8. 664 Die Adorno-Rezeption in der New Musicology geht wesentlich auf Rose Rosengard Subotnik zurück. Siehe hierzu vor allem ihre Aufsätze: Toward a Deconstruction of Structural Listening. A Critique of Schoenberg, Adorno, and Stravinsky, in: Deconstructive Variations. Music and Reason in Western Society, Minneapolis u. London 1996, S. 148–176; und Why Is Adorno’s Music Criticism the Way It Is?. Siehe bei Susan McClary und Lawrence Kramer beispielsweise: McClary, Conventional Wisdom. The Content of Musical Form, Berkeley u. a. 2000, S. 7 u. S. 119; dies., Feminine Endings. Music, Gender, Sexuality, Minneapolis u. London 2002, S. 28–29; Kramer, Classical Music and Postmodern Knowledge, Berkeley u. a. 1996, S. 6–7. 665 McClary, Feminine Endings, S. 28–29; Kramer, Classical Music and Postmodern Knowledge, S. 9–10; siehe auch Kevin Korsyn, Beyond Privileged Contexts. Intertextuality, Influence and Dialogue, in: Nicholas Cook u. Mark Everist (Hg.), Rethinking Music, Oxford u. a. 2001, S. 55–72. 666 Michel Foucault, Archäologie des Wissens [1969], übers. v. Ulrich Köppen, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1986, S. 23–24 u. S. 195. Siehe des Weiteren: Ulrich Brieler, ›Erfahrungstiere‹ und ›Industriesoldaten‹. Marx und Foucault über das historische Denken, das Subjekt und die Geschichte der Gegenwart, in: Jürgen Martschukat (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt a. M. u. New York 2002, S. 42– 78; Alex Demirović, Das Wahr-Sagen des Marxismus: Foucault und Marx, in: Prokla 151 (2008), S. 179–201; Wolfgang Fritz Haug, Umrisse einer Theorie des Ideologischen [1979], in: Pluraler Marxismus 2, S. 11–41, hier S. 12–13. 667 Siehe S. 160 ff. dieser Arbeit. 668 Korsch, Marxismus und Philosophie, S. 62.

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Praxis

Ein Potenzial materialistisch-marxistischer Ansätze liegt in einer Vorstellung vom Subjekt, nach der das menschliche Handeln – und damit auch dessen artifizielle Leistungen – weder als passiver Reflex sozialer, kultureller oder ökonomischer Bedingungen gedeutet wird, noch als rein autonom missverstanden wird: Das musikalische Kunstwerk ist weder reiner Spiegel der Realität, noch reines Ergebnis einer autonomen Geistesleistung seines Schöpfers, die es zum notwenigen Baustein einer hermetisch der Realität entrückten »Problemgeschichte des Komponierens« werden lässt. Sozialhistorische Faktoren stehen dem Kunstwerk nicht äußerlich gegenüber, sodass deren historiographische Beachtung lediglich dem Zweck einer im Grunde verzichtbaren Kontextualisierung des Werkes dient, sondern konstituieren in einem bestimmten Maße dessen Gehalt. 669 Ein Potenzial materialistisch-marxistischer Ansätze liegt darüber hinaus in der Sensibilität für die innere Dynamik geschichtlicher Epochen und Ereignisse. Sie stellen die methodischen Mittel bereit, das Denken und Handeln des Subjekts prozesshaft aus der Dialektik zwischen bestimmenden, äußeren Bedingungen und eigenen Impulsen und Ideen zu beschreiben. Doch müssen weder äußere Bedingungen noch eigene Motivationen dem Subjekt selbst transparent sein. Als handlungsleitend einsichtig zu machen, was dem Subjekt selbst nicht verfügbar ist, und zu dechiffrieren, was ein Kunstwerk von sich selbst nicht preisgeben will, bedeutet Historiographie als Ideologiekritik. 670 Eine Geschichtsschreibung, die sich sensibel für die subjektiven und zunächst mitunter verborgenen Handlungsmotivationen der jeweiligen historischen Akteure zeigt, bedeutet den Versuch, ein Werk der Musikgeschichte nicht allein über Analysemethoden zu verstehen, die auf einer rein musikalisch-strukturellen Ebene verharren, sondern seinen Gehalt aus den lebenspraktischen Bezügen seines Verfassers abzuleiten. Ideologiekritisch lassen sich dann mitunter auch Sinnschichten eines Werkes zeigen, die der Intention seines Verfassers widersprechen. Hierin unterscheiden sich die Brahmsdeutungen von Goldschmidt 671 und McClary 672 nicht, und McClarys Deutung 669 Siehe hierzu polemisch Carl Dahlhaus, Zur Problemgeschichte des Komponierens, in: Zwischen Romantik und Moderne. Vier Studien zur Musikgeschichte des späten 19. Jahrhunderts, München 1974 (Berliner Musikwissenschaftliche Arbeiten 7), S. 40–73, hier S. 70. 670 Im Gegensatz zur Hermeneutik, siehe S. 42 f. dieser Arbeit. 671 Goldschmidt, Das Vermächtnis von Johannes Brahms (siehe Kapitel 4.2). 672 McClary, Narrative Agendas in »Absolute« Music.

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Potenziale

der neunten Symphonie von Beethoven kann gewissermaßen als Prototyp ideologiekritischer Analyse betrachtet werden – unabhängig von der Frage, wie Stichhaltig ihr Vorgehen im Einzelnen ist. 673 Gleichermaßen spiegeln Werke im marxistischen Sinne nicht allein die inneren Konflikte und Widersprüche einer Epoche, sondern auch die Dynamik, das Offene und Unabgegoltene einer Epoche. Für denjenigen, der die normativen Grundlagen der Historiographie Georg Kneplers teilt, ließe sich im besten Falle dann einlösen, was er in den Siebzigerjahren als zu wenig realisierte Möglichkeit der Geschichtsschreibung moniert hat: Die Möglichkeit, über die Befragung der Kunstproduktion einer Epoche deren Chancen auf Fortschritt zu erkennen. 674 Wenn Künstler – bewusst oder unbewusst – eine der Wirklichkeit gegenüber realistische Haltung einnehmen, bestehen – nach Knepler – Chancen auf Fortschritt. Als Illustration dieser Forderung bietet sich die Interpretation haydnscher Symphonien von David P. Schroeder an. Dies mag zunächst wenig plausibel erscheinen, weil er keine Referenz auf marxistische Methoden erkennen lässt. Doch versteht er Haydn als einen Komponisten, der das von Knepler geforderte Programm realistischer Kunst einlöst: Er deutet Haydns Symphonien als Ausdruck einer realistischen Haltung des Komponisten gegenüber der Wirklichkeit, in die der Komponist selbst aufklärend eingreift. Die Nähe zu Kneplers Intention zeigt sich zudem an konzeptionell vergleichbaren Herangehensweisen zwischen dessen spätem Buch über Mozart und Schroeders Buch über Haydn. Knepler interpretiert Mozarts Musik als realistisch: Sie zeuge von dem Einfluss aufgeklärten Denkens auf Mozarts eigenem politischen Bewusstsein, was Knepler anhand zahlreicher Analysen und Verweise auf kompositorische Details und anhand Mozarts Umgang mit den musikalischen Traditionen nachzuweisen sucht. 675 Schroeder liefert eine Interpretation von Haydns Musik, die sie in Kneplers Sinne auch als Indikator für die Chancen gesellschaftlichen Fortschritts verstehen lässt. Denn er deutet Haydns kompositorische Praxis zugleich als eine politische, weil sie aufgeklärtes Denken beim Zuhörer provozieren will – durch kalkuliertes Spiel mit dem Rezeptionsverhalten 673 Susan McClary, Getting Down Off the Beanstalk. The Presence of a Woman’s Voice in Janika Vandervelde’s Genesis II, in: Minnesota’s Composers Forum Newsletter, Februar 1987, ohne Seitenzahl; überarbeitete Version in: Feminine Endings, S. 112–131. 674 Siehe S. 132 dieser Arbeit. 675 Knepler, Wolfgang Amadé Mozart.

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Praxis

seines englischen Publikums. »The balance between popular features and intellectual challenge is different in each work, generally shifting towards the latter with each successive season. Having gained the approbation of the audience, he presented it with a musical process which required reflective listening and led to contemplation of matters not strictly musical.« 676 Das Entscheidende ist gewissermaßen die intendierte Transferleistung: »The more the listeners followed and engaged in this process, the further they were able to advance in the refinement or intelligibility which this process makes possible. Music had the potential, then, of achieving the same elevated moral goals as were commonly recognized in the eighteenth century as being the purpose of poetry, plays, and novels.« 677 So stellt etwa das Ende des ersten Satzes der Symphonie Nr. 83 nach Schroeder die Lösung eines Konfliktes dar, und zwar im Sinne eines aufgeklärten Denkens, nach dem jede Konfliktpartei seine Rechte letztlich zur Geltung bringen kann: By following the events of the first movement carefully, the listener becomes engaged in a process of understanding, a process yielding a truth at the end. The forces used here are genuinely dramatic ones. In strictly musical terms, the opposition can be reduced to a conflict between stability and instability, a process not unlike that of any significant dramatic work. But instead of using characters or ideas or beliefs, the symphonist embodies his conflict in musical gestures which, in an archetypal way, parallel human conflicts. In the conclusion of the first movement of No. 83, Haydn can be seen to be demonstrating a very fundamental yet difficult truth: opposition is inevitable, and the highest form of unity is not the one which eliminates conflict. On the contrary, it is one in which opposing forces can coexist. The best minds of Haydn’s age aspired to tolerance, not dogmatism. It is precisely this message that can be heard in many of Haydn’s late symphonies. 678

Schroeder deutet die Musik damit als Ausdruck der realen Spannungen und Konflikte einer Gesellschaft. Dass er zudem der Musik das Potenzial zuspricht, in diese Konflikte gewissermaßen als quasi-politischer Akteur mit den subtilen Mitteln der Musik des 18. Jahrhunderts selbst eingreifen zu können – er das kompositorische Subjekt also aus der Dialektik zwischen soziokulturellen Bestimmungen und eingreifendem Handeln begreift –, lässt seinen Ansatz als ein Beispiel David P. Schroeder, Haydn and the Enlightenment. The Late Symphonies and their Audience, Oxford 1990 (Oxford monographs on music), S. 5. 677 Ebd. 678 Ebd., S. 88. 676

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Potenziale

nicht-marxistischer Historiographie erscheinen, die den von Knepler geforderten Grundsätzen ähnlich ist. b) Der zweite oben angedeutete Aspekt betrifft die Frage nach der Lebenspraxis, die die künstlerischen Leistungen der Gegenwart bestimmen. Von welcher übergreifenden sozio-kulturellen Situation, die die je individuellen Werke und Leistungen prägt, hätten materialistische Ansätze in der Musikforschung auszugehen? Da dieses denkbar komplexe Problem hier nur knapp angerissen werden kann, soll nur auf einen Punkt verwiesen werden: Es ist evident, dass vor dem Hintergrund einer zunehmenden Pluralisierung und Partikularisierung der gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsrealitäten das marxsche Klassendenken einen großen Teil seiner Erklärungskraft für soziale Prozesse eingebüßt hat 679 – wobei hier das Problem ausgeblendet bleiben kann, ob eine Klasse überhaupt in sich je so homogen war, wie Marx sie dachte, ob also politische Klassen je zu Recht als »konkrete sozioökonomische Einheiten mit hoher Identität der Interessen, Homogenität der Lebenserfahrungen und -chancen, Gemeinsamkeit politischer Aktionsziele« aufzufassen waren. 680 Musik – wie Kunst allgemein – spiegelt folglich nicht »das« Interesse oder »die« Werthaltung einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse wider. Materialistische Ansätze in der Musikforschung, die sich auf marxsche Ideen berufen, hätten stattdessen davon auszugehen, dass in einer in sich durch und durch pluralen Gegenwartskultur es zu einem hohen Anteil partikulare Weltbilder, Wünsche und Werthaltungen sind, die individuelle Werke und Leistungen prägen. Der Gefahr, gesellschaftlich komplexe Phänomene in ihrer Darstellung so sehr zu homogenisieren, dass deren innere Mannigfaltigkeit nicht mehr zu Geltung gebracht wird, unterliegt auch die Kulturkritik der Frankfurter Schule. Erscheint es als gerechtfertigt, in deren Tradition von einer das gesellschaftliche Leben bestimmenden Kulturindustrie auszugehen, deren Strukturen in die Handlungsspielräume des Subjekts so weit eingreifen, dass dieses nicht als mündiges, sondern als ohnmächtiges verstanden werden muss? Der Befund für das 20. Jahrhundert lautet in diesem Sinne, dass die übergreifende Ökonomie selbst die Kunst als Ort der Freiheit oder auch wenigstens

Honneth, Die Idee des Sozialismus, S. 65–72. Wehler, Vorüberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte, S. 171–172. Siehe hierzu auch Thompson, The Making of the English Working Class. 679 680

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Praxis

der relativen Autonomie als Illusion erscheinen lassen muss. 681 Unter den Bedingungen des Kapitalismus und der Massenkultur lässt sich dann das Subjekt nur noch als ein entfremdetes denken, dessen artifizielle Leistungen kaum noch mehr sein können als Folge ökonomisch-materieller Zwänge. Gewissenmaßen paradigmatisch beschreibt Adorno ein ohnmächtiges, beschädigtes und entfremdetes Subjekt schon in seiner recht frühen Schrift Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. Der Kapitalismus – so Adorno – zieht auch die musikalische Produktion und Konsumtion so sehr in sich hinein, dass die »Entfremdung zwischen der Musik und den Menschen vollkommen« wird 682 und die »Macht der Verdinglichung« den Menschen »die Musik genommen und ihnen bloß deren Schein gelassen« hat. 683 Sind Adorno zufolge im 19. Jahrhundert noch Reste – »Inseln« – eines vorkapitalistischen Musizierens möglich gewesen, so beschreibt er den gegenwärtigen Status der Musik in den Begriffen des Kapitals: »Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozeß ist ausschließend die der Ware; ihr Wert der des Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bedürfnis und Gebrauch, sondern fügt sich mit allen anderen Gütern dem Zwang des Tausches um abstrakte Einheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert, wo immer er übrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter.« 684 Die Standardisierungszwänge der massenindustriellen Kulturproduktion formen so sehr die Bedürfnisse der Menschen, dass – wie er es mit Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung formuliert – ein »Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis« entsteht, »in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt. Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist. Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft.« 685 Das Subjekt wird nach Adornos Diagnose in der Massenkultur vollends als eines sichtbar, das es im Grunde als bürgerliches immer schon war,

681 Siehe hierzu Fredric Jameson, Postmodernism or, the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 2005 (Post-Contemporary Interventions), S. 260–278. 682 Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, S. 729. 683 Ebd., S. 730. 684 Ebd., S. 729. 685 Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], Frankfurt a. M. 1997 (GS 3), S. 142.

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Potenziale

nämlich als ein standardisiertes, dessen Individualität nur Schein ist. 686 Doch lassen sich Adornos Überlegungen ohne Weiteres auf die kulturelle Situation der Gegenwart übertragen? Adorno reduziert die Massenkultur so sehr auf eine vom Warentausch bestimmte Sphäre, dass er die Dynamik der Lebenspraxis in ihrer Pluralität und die in ihr stattfindenden Deutungskonflikte und Kämpfe um Emanzipation und Aufklärung nicht zu fassen vermag. Im Sinne von Fredric Jameson wäre stattdessen der menschlichen Lebenspraxis mit größerer Sensibilität zu begegnen, als sie allein über ein stereotyp dichotomes Schema von Hoch- und Massenkultur verstehen zu wollen. So ließen sich aus ihr kulturtheoretische Beobachtungen ableiten, mit denen sich zeigen ließe, dass der kulturelle Raum vielschichtiger ist, als er von Adorno gedacht wird. 687 Adornos Ausführungen dürften für diejenigen, die seiner Interpretation des Subjektes als eines beschädigten zustimmen, in ihrer prinzipiellen Intention nichts an Aktualität eingebüßt haben; doch erscheint diese Auffassung des Subjektes mit Jameson deshalb als einseitige, weil Adorno von einem Modell der Massenkultur ausgeht, das deren kritische und emanzipatorische Potenziale nicht zu fassen vermag. Hiergegen wendet sich auch – ebenso aus marxistischer Perspektive – Andreas Huyssen. Er moniert, dass Adornos Diagnose, die Massenkultur führe zur Aufhebung des autonomen Subjekts, gleichermaßen zu viel wie zu wenig marxistisches Denken in sich enthält. Denn einerseits überbetone Adorno den Aspekt des Warenfetischismus. Andererseits führe diese Überbetonung Adorno zu einem Subjektbegriff, der marxsches Denken stark verkürzt: »It is not Marxist enough in that it ignores praxis, bypassing the struggles for meaning, symbols, and images which constitute cultural and social life even when the mass-media try to contain them.« 688 Obgleich Huyssen nicht den zunehmenden Warencharakter kultureller Produkte leugnet, so sind seine Interpretationen sowohl des konsumierenden Subjekts als auch der Massenkultur nicht von dem resignierenden Tonfall Adornos geprägt:

Ebd., S. 178. Fredric Jameson, Spätmarxismus. Adorno, oder die Beharrlichkeit der Dialektik, aus d. Amerik. v. Michael Haupt, Hamburg 1992. 688 Andreas Huyssen, After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Bloomington u. Indianapolis 1986, S. 22. 686 687

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The double danger of Adorno’s theory is that the specificity of cultural products is wiped out and that the consumer is imagined in a state of passive regression. If cultural products were commodities through and through and had only exchange value, they would no longer even be able to fulfill their function in the processes of ideological reproduction. Since they do preserve this use value for capital, however, they also provide a locus for struggle and subversion. Culture industry, after all, does fulfill public functions; it satisfies and legitimizes cultural needs which are not all per se false or only retroactive; it articulates social contradictions in order to homogenize them. Precisely this process of articulation can become the field of contest and struggle. 689

6.2 Realismus Dass Kunst die Wirklichkeit nicht verschleiern oder verklären, sondern eine realistische Haltung zu ihr einnehmen soll, ist ein Grundsatz marxistischer Ästhetik, der mit all seinen politisch-normativen Implikationen hier nun noch einmal zur Sprache kommt, und zwar unter dem Blickwinkel seiner möglichen Bedeutung für neuere musikalische Kunstwerke, die mehr oder weniger stark Ausdruck einer von marxistischen Einflüssen inspirierten oder diesen zumindest nahestehenden realistischen Grundhaltung sind. Sich in der Kunst – so Knepler – realistisch zu verhalten meint in »den Abgrund sehen – sehen oder ahnen –, an dem die Menschheit steht, und die Chancen, ihm zu entgehen«. Allein die Realität des Sichtbaren, die weltweite Armut, das weltweite Elend auf der einen und unvorstellbarer Überfluss auf der anderen Seite, müsste den »Not- und Angstschrei« als den »einzig adäquaten Ausdruck realistischer Musik« erscheinen lassen. Was realistischer Musik dann noch bleibt, ist »Möglichkeiten, Chancen, Hoffnungen formulieren.« 690 Grundlage dieses Realismus ist kritisches Verhalten. In diesem Punkt treffen sich Kneplers Forderungen mit denen der kritischen Theorie, deren letztliches Ziel – wie es Max Horkheimer in Traditionelle und Kritische Theorie darlegt – die »Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts« ist. »An der Existenz des kritischen Verhaltens […] hängt heute die Zukunft der Humanität.« 691 Was Horkheimer hier für die 689 690 691

Ebd. Knepler, Musikalischer Realismus, S. 249. Max Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie (1937), in: Kritische Theorie.

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traditionelle Wissenschaft beschreibt, gilt für jene Kunst, die dem hier beschriebenen Realismus gegenübersteht, gleichermaßen: In ihrem selbstbetrügerischen Rückzug auf ein Reich jenseits der gesellschaftlichen Praxis, von der sie doch immer bestimmt bleibt, in ihrem Insistieren darauf, dass ihr Ureigenstes nur hermetisch und weltfern jenseits der Politik sich entfalten kann, hat sie »auf die Humanität schon verzichtet.« 692 »Der Konformismus des Denkens,« so Horkheimer, »das Beharren darauf, es sei ein fester Beruf, ein in sich abgeschlossenes Reich innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, gibt das eigene Wesen des Denkens preis.« 693 In der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Schaffen jener Komponisten, die diesen Anspruch einer kritisch-realistischen Haltung auf artifiziellem Wege umsetzen wollen, oftmals mit dem Etikett des »kritischen Komponierens« versehen, 694 das jedoch keine Fremdbezeichnung ist, sondern von einem ihrer Vertreter, Nicolaus A. Huber, 1972 zur Bezeichnung der eigenen Ästhetik eingeführt wurde. Huber, dessen Sprache zur Beschreibung des »kritischen Komponierens« deutliche Anleihen bei Marx macht, geht letztlich davon aus, dass ein avancierter Komponist mit dem musikalischen Material gleichermaßen »kritisch« umgeht wie ein aufgeklärtes und mündiges Subjekt mit politischen Normen und Ideen. Beide verhalten sich kritisch und wollen das Bestehende hinterfragen. Er reproduziert damit eine Denkfigur, die geradezu zu einem Topos in der gesellschaftlich-politischen Dechiffrierung von Musik geworden ist, und zwar auch von Musik, die – auf den ersten Blick betrachtet – rein autonom zu sein scheint: Im reflektierten Umgang mit der Musik und ihrem historisch geprägten Material zeigt sich ein ebenso reflektiertes wie fortgeschrittenes gesellschaftliches Bewusstsein. Doch soll die Analogie idealerweise nicht nur beim Komponisten, sondern auch beim Hörer funktionieren: Die Rezeption dieser Musik solle bei diesem gesellschaftskritisches Verhalten auslösen, weshalb Komponieren letztlich immer einen Eingriff in die gesellschaftliche

Eine Dokumentation 2, hg. v. Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1968, S. 137–191, hier S. 190. 692 Ebd. Im Sinne der hier zu diskutierenden Position. 693 Ebd., S. 191. 694 Zur Definition des Begriffs siehe Rainer Nonnenmann, Die Sackgasse als Ausweg. Kritisches Komponieren: ein historisches Phänomen?, in: Musik und Ästhetik 9 H. 36 (2005), S. 37–60, hier S. 38.

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Praxis bedeute. 695 Hierin trifft sich sein Ansatz mit demjenigen von Helmut Lachenmann, der die gesellschaftliche Relevanz der Musik darin sieht, dass sich in ihr das Denken mit sich selbst kritisch auseinandersetzt. 696 Indem Musik sich dem Gewohnten verweigere, keine eingeschliffenen Hörerwartungen bediene, wende sie sich ihm zufolge ebenso gegen gesellschaftliche Normen: Sie werde zum Ausdruck kritischen Denkens. Indes legt Lachenmann Wert auf die Feststellung, dass er Verweigerung nicht als ästhetischen Selbstzweck versteht. 697 Seine kritische Auseinandersetzung mit dem von ihm so genannten ästhetische Apparat soll ein neues Angebot von Schönheit sein, das Angebot einer »veränderten« und »befreiten Wahrnehmung«. 698 Die politische Programmatik ist damit ähnlich wie bei Huber eng mit der Kompositionstechnik und mit der Materialgestaltung verbunden, sie liegt nicht in vorgeordneten Texten oder Programmen. 699 Der Anspruch, durch Musik mit explizit politischer Programmatik unmittelbar eingreifen und die Gesellschaft ändern zu wollen, gilt ihm als »Heuchelei, oder – sympathischer – eine Donquichotterie«. Musik wird dann – so Lachenmann – »reaktionär« und in ihrer Verwendung verbrauchten Materials und »expressiver Klischees« letztlich affirmativ, versehen mit einer bloß »linken Etikettierung«. 700 Lachemann wendet sich hier gegen eine Ästhetik, die weder weniger realistisch noch weniger kritisch sein muss, deren kritisches Potenzial sich aber nicht mehr oder nicht mehr allein auf einer rein musikimmanenten Ebene artikuliert – das Label »kritisches Komponieren« haftet also nur solchen Werken an, deren politische Botschaft nur über ihre Kompositionstechnik zu entschlüsseln ist, sodass es ein bestimmtes ästhetisches Konzept bezeichnet, aber keine exkluNicolaus A. Huber, Kritisches Komponieren [1972], in: Nicolaus A. Huber, Durchleuchtungen. Texte zur Musik 1964–1999, hg. u. mit e. Vorw. versehen v. Josef Häusler, Wiesbaden 2000, S. 40–42, hier S. 40. 696 Helmut Lachenmann, Zum Verhältnis Kompositionstechnik – Gesellschaftlicher Standort [1971/1972], in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hg. u. mit e. Vorw. versehen v. Josef Häusler, Wiesbaden 1996, S. 93–97, hier S. 96. 697 Ebd. 698 Helmut Lachenmann, Musik als Abbild vom Menschen. Über die Chancen der Schönheit im heutigen Komponieren [1984], in: Musik als existentielle Erfahrung, S. 111–115, hier S. 113. 699 Huber, Kritisches Komponieren, S. 41. 700 Helmut Lachenmann, Zur Frage einer gesellschaftskritischen (-ändernden) Funktion der Musik [1972], in: Musik als existentielle Erfahrung, S. 98. 695

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sive begriffliche Auszeichnung für kritisches Bewusstsein in der Musik ist. Als realistisch-kritisch in dem weiteren, eingangs beschriebenen Sinne kann aufseiten marxistisch orientierter Komponisten das Schaffen Hans Werner Henzes gelten. Dass das Komponieren in einer Idiomatik, die sich auch eines aus der klassisch-romantischen Tradition entlehnten Materials bedient, zwingend eine reaktionäre Gesinnung mit sich bringen würde, ist eine Kritik, die Henze freilich nicht gelten lassen will. Henze will »die Schwierigkeiten und alle Probleme der heutigen bourgeoisen Musik mitvollziehen«, jedoch die Resultate »in etwas Brauchbares« umzufunktionieren versuchen, das »die Massen verstehen können« – wobei er zugleich betont, dass dies nicht das »Niveau von Unterhaltungsmusik und Schlager« bedeutet. 701 Gegenüber Henze bleibt der politische Anspruch bei Lachenmann und Huber im Forcieren kritischen Denkens und Handels vergleichsweise abstrakt. Musik ist für Henze im explizit marxistischen Sinne ein Mittel des Klassenkampfes; Kunst könne gesellschaftliche Widersprüche zwar nicht beseitigen, aber »analysieren und demonstrieren. Darin liegt ein Teil ihrer Bedeutung für den Kampf«. 702 »Kritisches Komponieren« im oben angedeuteten Sinne wäre – der Intention Henzes zufolge – wirkungs- und nutzlos, weil es nicht über die esoterischen Zirkel der Avantgarde hinaus wirken kann. Diejenigen, die eigentlich angesprochen werden sollten, werden von den Werken des »kritisches Komponierens« nicht erreicht, geschweige denn zum kritischen Denken animiert. So können diese Werke nicht einlösen, was sie gleichermaßen wie Henzes Werke beanspruchen, nämlich zum gesellschaftlichen Fortschritt beizutragen, indem sie »kämpferischen Geist und kritische Fähigkeiten« wecken. 703 Ziel des Fortschritts ist nach Henze die marxsche Utopie einer Gesellschaft jenseits von Entmenschlichung und Entfremdung, in der sich die

701 Hans Werner Henze, Die Krise des bürgerlichen Künstlers – Politisierung – Nutzbarmachung der Kunst für die Revolution. Aus einem Gespräch mit Hansjörg Pauli [1971], in: Musik und Politik. Schriften und Gespräche, 1955–1975, mit e. Vorwort hg. v. Jens Brockmeier, München 1976, S. 145–151, hier S. 148. 702 Hans Werner Henze, Musica impura – Musik als Sprache. Aus einem Gespräch mit Hans-Klaus Jungheinrich [1972], in: Musik und Politik, S. S. 186–195, hier S. 193. 703 Hans Werner Henze, Die DKP – Die Hauptaufgaben fortschrittlicher Musiker. Ein Interview [1973], in: Musik und Politik, S. 201–203, hier S. 202.

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Menschen frei entfalten können. 704 Einher mit dem Wunsch, den Kapitalismus und die »Herrschaft von Menschen über Menschen« zu überwinden, geht bei Henze die Forderung, den Warecharakter der Kunst, vor allem aber auch jede Form von elitärem Denken in der Musik zu überwinden. 705 Die antielitäre Überzeugung, dass Kultur ein »Moment der Bewußtwerdung, des Kampfes, der Provokation, der Diskussion« sein muss, dass die Kunstproduktion sich nicht an esoterische Zirkel der Eingeweihten, sondern an die gesamte Gesellschaft richten muss, teilt Henze mit Luigi Nono.706 Auch für Nono darf dies freilich nicht zulasten eines avancierten kompositorischen Anspruch gehen, schon um jede Nähe zum »sozialistischen Realismus« auszuschließen. Wie Henze glaubt auch Nono nicht, dass Musik die Gesellschaft unmittelbar ändern kann; Mittel zum Klassenkampf soll sie aber dennoch sein, weil sie »wie ein Bild, ein Gedicht oder ein Buch Nachricht geben [kann] vom desolaten Stand der Gesellschaft, sie kann mitwirken, kann Bewußtsein stiften, wenn ihre technischen Qualitäten sich auf der Höhe der ideologischen halten«. 707 Nonos direkte politische Beteiligung an Arbeiterveranstaltungen und Demonstrationen ab etwa 1970 führten dazu, dass Lachenmann seinen einstigen Lehrer zunehmend weniger verstehen konnte; umgekehrt verstärkte sich Nonos Aversion gegen die Entwicklung der Avantgarde in Westdeutschland. 708 Hier standen sich zwei ästhetische Ansätze unvereinbar gegenüber, wie es die zeitlich nicht weit auseinander liegenden Werke Intolleranza und Ein Gespenst geht um in der Welt von Nono sowie Air und Gran Torso von Lachenmann zeigen. Viele Werke von Reiner Bredemeyer, Friedrich Goldmann, Georg Katzer und Paul-Heinz Dittrich, die im Gegensatz zu den voranstehend genannten Komponisten in der früheren DDR aktiv wa704 Hans Werner Henze, Musica impura – Musik als Sprache. Aus einem Gespräch mit Hans-Klaus Jungheinrich [1972], in: Musik und Politik, S. S. 186–195, hier S. 193. – Hans Werner Henze, Musik ist nolens volens politisch. Aus einem Gespräch mit J. A. Makowsky [1969], in: Musik und Politik, S. 132–139, hier S. 139. 705 Henze, Musik ist nolens volens politisch, S. 138. 706 Luigi Nono, Musik und Revolution [1969], in: Texte. Studien zu seiner Musik, hg. v. Jürg Stenzl, Zürich u. Freiburg i. Br. 1975, S. 107–115, hier S. 113. 707 Luigi Nono, Gespräch mit Hansjörg Pauli [1969], in: Texte, S. 198–209, hier S. 203. 708 Rainer Nonnenmann, Der Gang durch die Klippen. Helmut Lachenmanns Begegnungen mit Luigi Nono anhand ihres Briefwechsels und anderer Quellen 1957–1990, Wiesbaden u. a. 2013, S. 291–292, S. 308 und S. 313.

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ren, lassen das ihnen zugrunde liegende musikalische Denken als ähnlich kritisch-realistisches interpretieren. 709 Zu den naheliegenden Beispielen mag die Vertonung der Winterreise von Wilhelm Müller durch Reiner Bredemeyer gehören. Dass dieser Gedichtszyklus vielerlei Indizien für eine mehr oder minder verdeckte Kritik an den gesellschaftlichen Missständen der Restaurationszeit liefert, ist immer wieder hervorgehoben worden. 710 Es mag dahingestellt bleiben, welche Rolle die politischen Implikationen des Textes für Franz Schuberts Vertonung gespielt haben – ob sie Neben- oder, wie es Harry Goldschmidt aus marxistischer Perspektive will, die Hauptsache waren: Schubert selbst sah seine Vertonung, so Goldschmidt, »in schroffem Gegensatz zu der selbstzufrieden-sentimentalen Liedproduktion […], mit der der Markt überschwemmt wurde. Ebenso fühlte er, daß er mit diesen Gesängen dem Biedermeier die Maske vom Gesicht riß und die offenen Wunden des zur politischen Ohnmacht verurteilten Bürgertums bloßlegte.« 711 In diesem Sinne deutet zwar auch Bredemeyer den Text der müllerschen Vorlage, die er als »eine einzigartige Bestandsaufnahme der politischen Eiszeit seiner Epoche« versteht, wirft der Vertonung durch Schubert aber vor, den eigentlichen Inhalt eher zu verschleiern. 712 Diesen will Bredemeyer wieder hervorheben, jedoch in einer aktualisierenden Übertragung der Textvorlage mit ihrer Reisemetaphorik aus dem Biedermeier auf die von ihm in der DDR erlebten politischen Zustände, zu denen er sich als Künstler zu Wort melden will. 713 709 Zum kritischen Komponieren in der DDR siehe auch: Günter Mayer, Advanced Composition and Critical (Political) Ambition?, in: Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.), Critical Composition Today, Hofheim 2006 (New Music and Aesthetics in the 21st Century 5), S. 171–184. 710 So etwa Frieder Reininghaus, Schubert und das Wirtshaus. Musik unter Metternich, Berlin 1979, S. 212–213. 711 Harry Goldschmidt, Franz Schubert. Ein Lebensbild, 4., weiter verb. u. vervollst. Aufl., Leipzig 1962, S. 405. 712 Reiner Bredemeyer, Ich wendete mich nicht. Einige persönliche Gedanken und Überlegungen zu meiner »Winterreise«, in: MusikTexte 64 (1996), S. 33–36, hier S. 33. Siehe hierzu auch Kelly, Composing the Canon in the German Democratic Republic, S. 161–164. 713 Bredemeyer, Ich wendete mich nicht, S. 33–34. Zu dieser Deutung siehe auch Frank Schneider, »Vorwärts nicht vergessen!« In memoriam Reiner Bredemeyer, in: MusikTexte 64 (1996), S. 29–33, hier S. 32. Kritisch dagegen hierzu Rainer Nonnenmann, »Winterreisen«. Komponierte Wege von und zu Franz Schuberts Liederzyklus aus zwei Jahrhunderten 1–2, Wilhelmshaven 2006 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft 150–151), Bd. 2, S. 273.

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Trägt hier der Text wesentlich zum politischen Verständnis des Werkes bei, so werden bei anderen Werken deren zunächst rein innermusikalische Zusammenhänge als Ausdruck eines realistischen Blicks auf die Wirklichkeit und einer gesellschaftskritischen Gesinnung gedeutet, wie es den Forderungen des »kritischen Komponierens« entspricht. Frank Schneider beobachtet bei Goldmann, dass dieser »ihn interessierende Aspekte der Welt, seine Welterfahrung im Bild kompositorischer Technik« spiegeln will. »Darin einbegriffen ist,« so Schneider weiter, »per autonomer Struktur, ihr konstruktives Korrektiv. Und damit signalisiert Technik, aus dem Zentrum von Goldmanns Musik, zugleich etwas von deren Gehalt: über diese Welt ›im Bilde‹ zu sein – schonungslos, kritisierend, auf ihre bessere Veränderung hoffend am Ende.« 714 Die Schwierigkeit besteht nun darin, Interpretationen vorzulegen, die plausibel zu machen vermögen, dass die Musik dies auch wirklich auf dem Wege rein kompositorischer Kunstgriffe sagt. Während Schneider hier vage bleibt, so legen es Nina Noeskes Analysen musikalischer Details nahe, dass etwa Goldmanns Solokonzerte oder Paul-Heinz Dittrichs Konzert für Violoncello und Orchester einen Konflikt zwischen Individuum und Staat gleichnishaft darstellen. 715 Dass Struktur und Formverlauf zu einem Abbild eines realen Konflikts der äußeren Wirklichkeit werden können, zeige Katzers Die D-Dur-Musikmaschine: 716 Ein automatenhafter und perfekt geordneter musikalischer Verlauf, der, aufgrund zu geringer ›mechanischer‹ Toleranzen, am Ende zerfällt – nach Katzers Deutung ein Sinnbild für die DDR. 717 Musik soll hier zum Erkenntnismittel werden, 718 und zwar über den Weg der Analogiebildung zwischen musikalischer und gesellschaftlicher Struktur. Diese liegt auch Dittrichs Verständnis des Prinzips der Sonatenhauptsatzform als Ausdruck einer auf Hierarchie und Ungleichheit beruhenden Gesellschaftsform zugrunde, weshalb er sich für die Reihungsform, in

Frank Schneider, Dialog ohne Kompromiß. Das Klavierkonzert von Friedrich Goldmann, in: BzMw 31 H. 4 (1989), S. 244–253, hier S. 253. 715 Nina Noeske, Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln u. a. 2007 (KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 3), S. 282–283. 716 Ebd., S. 286–296. 717 Georg Katzer, Auch neue Musik strebt der Vermutung nach, Kunst könne den Menschen bessern. Betrachtungen zu Gegenwartsmusik zwischen Rückblick und Perspektive, in: Musikforum 3 H. 1 (2005), S. 24–26, hier S. 26. 718 Ebd., S. 24. 714

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der sämtliche Teile gleichberechtigt nebeneinander stehen, als Sinnbild für die Gleichheit der Menschen ausspricht. 719 Die Verfechter des »kritischen Komponierens« gehen von der optimistischen Annahme aus, dass die Wahrnehmung und Reflexion oftmals neuartiger, fremder und eingeschliffene Hörgewohnheiten durchbrechender musikalischer Strukturen und Abläufe beim Hörer zu einer Transferleistung führt: Dass dieser nämlich nun zugleich auch die Normen und Gewohnheiten des eigenen Denkens sowie die gesamte Lebenspraxis – gesellschaftliche Strukturen, Sachverhalte usf. – kritisch hinterfragt. Reiner Nonnenmann weist zu Recht darauf hin, dass – sollte diese Rezeptionsweise beim Hörer überhaupt funktionieren – aufgrund der semantischen Indifferenz der Musik nicht klar ist, was der eigentliche Gegenstand der Kritik ist und zu welchen neuen Normen und Verhaltensformen der Gesinnungswandel motivieren soll. 720 Ob das politische Anliegen von Henze, Lachenmann und den anderen hier genannten Komponisten daher in der Praxis Erfolg hat – gemessen an ihrem eigenen Anspruch –, mag dahingestellt bleiben; doch ist weder von einem Befund über ihren – wie auch immer zu messenden – Erfolg noch von dem Anspruch, Kunst mit Lebenspraxis zu verbinden, eine Diagnose über ihren ästhetisch-artifiziellen Wert abzuleiten, 721 wie es etwa Reinhold Brinkmann will. Er erklärt Hanns Eisler als Komponisten nach der Feststellung seines praktischen Misserfolgs kurzerhand für »gescheitert«; dies – so Brinkmann – ist die »sachliche Feststellung eines Historikers«. 722 Brinkmanns nonchalantes Herausdrängen von Eisler aus einem imaginierten Zirkel großer Komponisten wird durch den Autorität erheischenden Duktus fachlicher Expertise maskiert, er urteile ja schließlich als Historiker. Doch auch unabhängig von der Frage nach Erfolg oder Misserfolg führt der Wusch, »Kunstmusik« von vornherein gegen eine drohende Infektion mit der Sphäre des Politischen immunisieren zu wollen, bisweilen zu skeptischen Blicken auf eine Kunst, die ästhetische Reinheitsgebote zu verletzen droht. Selbst für einen Historiker, der mit 719 Daniel Zur Weihen, Gespräch mit Paul-Heinz Dittrich, in: Sinn und Form 52 H. 6 (2000), S. 845–859, hier S. 855–856. 720 Nonnenmann, Die Sackgasse als Ausweg, S. 53. 721 Siehe S. 27 ff. dieser Arbeit. 722 Reinhold Brinkmann, Ästhetische und politische Kriterien der Kompositionskritik – Korreferat, in: Ernst Thomas (Hg.), Ferienkurse ’72, Mainz 1973 (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 8), S. 28–41, hier S. 34.

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Max Weber exakt zwischen Wertung und Wertbeziehung zu differenzieren vermag, scheinen sich ein avancierter ästhetischer Anspruch und das Bedürfnis, mit musikalischen Mitteln politisch wirksam zu werden, von vornherein auszuschließen. 723 Fredric Jamesons Blick auf die Frage nach der Möglichkeit einer kritischen und realistischen Kunst liefert demgegenüber einen Perspektivwechsel. Er stellt sich dem Problem, wie Kunst unter den Bedingungen des Spätkapitalismus und der Massenkultur überhaupt noch politisch wirksam werden könnte. So sehr seine Ausführungen unter ihrer Vagheit leiden, so sehr bieten sie den Vorteil eines Ansatzes, mit dem er die enge Bindung an den Horizont einer bestimmten Avantgarde vermeiden und sich den gesellschaftlichen Realitäten der Gegenwart stellen kann. Nach Jameson hat die Kunst unter den Bedingungen des Spätkapitalismus, der der Kunst ihre ursprünglichen Möglichkeiten der Kulturkritik genommen habe, ihre ursprünglichen Funktionsweisen und Wirkungsmechanismen eingebüßt. Sie werde vom globalen Kapitalismus als Bestandteil von ihm absorbiert, sodass ihr ihre zu früheren Zeiten selbstverständliche »kritische Distanz« verloren ginge. Er diagnostiziert für die Gegenwart einen Zustand der sogenannten Postmoderne, in dem unwiderruflich die »relative Autonomie« der Kunst verloren gegangen sei, die es ihr noch ermöglicht habe, die Realität kritisch zu kommentieren, und zwar »von der beschönigenden Widerspiegelung und Legitimierung der Wirklichkeit bis zur Anklage der kritischen Satire oder der schmerzvollen Darstellung in der Utopie.« 724 Diese Diagnose bedeutet ihm indes keine Resignation, keinen pessimistischen Blick auf eine ohnmächtig gewordene oder gleich ganz verschwundene Kunst. Denn die »Auflösung eines autonomen Kulturbereichs« könne im Gegenteil auch »als Aufsprengung verstanden werden: als ungeheure Expansion der Kultur in alle Lebensbereiche«. Daraus folge, dass das gesamte »gesellschaftlich[e] Leben, vom ökonomischen Wertgesetz und der Staatsgewalt bis zu den individuellen Handlungs- und Verhaltensweisen und sogar bis zur psy723 Carl Dahlhaus, Politische und ästhetische Kriterien der Kompositionskritik, in: Ernst Thomas (Hg.), Ferienkurse ’72, Mainz 1973 (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 8), S. 14–27. Zu Max Weber: Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 134–135 u. S. 144–145. 724 Fredric Jameson, Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45–102, hier S. 93.

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chischen Struktur, auf neuartige und bislang nicht theoretisierte Weise zu ›Kultur‹ geworden ist«. 725 Unter diesen Bedingungen erscheint Jameson die Frage umso dringlicher, wie Kunst zu einer kritischen Haltung wieder zurückkehren kann – in freilich geänderter Gestalt, denn die Voraussetzungen einer ästhetischen Praxis vergangener Zeiten sind nicht mehr die der Gegenwart. Ein »angemessenes Modell der politischen Kultur« müsse »die Frage des Raums zur wichtigsten Problemstellung machen.« Hieraus leitet er eine Ästhetik ab, die er »als die eines Kartographierens der Wahrnehmung und der Erkenntnis«, als »cognitive mapping« fassen will. 726 Was er damit zu beschreiben sucht, bleibt indes ein wenig im Ungefähren, und er selbst weist auf die Vorläufigkeit seiner Überlegungen hin. Die pädagogische und politische Aufgabe dieser Ästhetik sei es, »das Subjekt mit einem neuen und erweiterten Sinn für seinen Standort im Weltsystem« zustatten, das seinen »früheren und noch transparenten nationalen Raum« verlassen habe, der noch eine »traditionellere und Sicherheit bietende ›Perspektive‹« oder die Möglichkeit »einer residualen Vorstellung von ›Widerspiegelung‹« gewährte. 727 Jamesons Ausführungen artikulieren zwar eine Ästhetik, die von der Idee eines realistischen Blicks auf die Wirklichkeit getragen zu sein scheint. Doch bleiben seine Andeutungen so verschwommen, dass nicht klar wird, welche Mittel der Kunst zur Realisierung dieser Ästhetik zur Verfügung stehen: Die neue politische Kunst […] wird […] festhalten müssen an der wesentlichen Tatsache, am neuartigen Welt-Raum des multinationalen Kapitals. Dabei sollte ein Durchbruch möglich sein zu heute noch nicht vorstellbaren neuen Formen der Repräsentation dieses Raums, mit denen wir wieder beginnen können, unseren Standort als individuelle und kollektive Subjekte zu bestimmen. Nur so wäre eine neue Handlungs- und Kampfesfähigkeit zu gewinnen, die zur Zeit in der herrschenden räumlichen wie gesellschaftlichen Konfusion neutralisiert worden ist. 728

725 726 727 728

Ebd. Ebd., S. 96. Ebd., S. 99–100. Ebd.

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6.3 Freiheit Der Versuch, im Ausgang von Karl Marx ein Konzept von Musik und ihrer sozialen Praxis zu skizzieren, dessen Fundament der Begriff der Freiheit ist, 729 dürfte nach einem verbreiteten und sich hartnäckig am Leben erhaltenden Bild des marxschen Denkens wenig Aussicht auf Erfolg versprechen. Denn der diesem zugrunde liegenden Anthropologie zufolge kann es unter den gegebenen ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnissen nur ein Subjekt geben, dessen Bewusstsein bloßer Reflex der Wirklichkeit ist und dessen Glaube an sein selbstbestimmtes Handeln sich über die Kenntnis der Gesetze der Geschichte als reine Fiktion entlarven lässt. Doch erweist sich dieses Bild vom Menschen als ein Zerrbild, an dessen Entstehen eine lehrbuchkompatible und versimplifizierende Marxdeutung beteiligt ist, die in ihrer Blindheit für die Praxis die Möglichkeit freien Handelns konsequent ausblendet. Nach Marx’ dritter Feuerbachthese sind die Menschen ebenso »Produkte der Umstände und der Erziehung« wie »die Umstände eben von den Menschen verändert werden« und »der Erzieher selbst erzogen werden muß«. 730 Zunächst ist zu klären, worauf »Freiheit« als Leitbegriff des Denkens über Musik eigentlich zielen soll: auf die Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit, auf Freiheit ermöglichende politische Rahmenbedingungen, auf innermusikalische Sachverhalte als Spiegel äußerer, gesellschaftlicher Freiheit usf. Im ›schlimmsten‹ Falle geriete die Rede von der Freiheit künstlerischer Praxis unter den Verdacht, in der Affirmation des Bunten und Pluralen einem naiven Relativismus zu frönen, vor dem ihre Verächter, die um den Verlust ihrer Deutungshoheit über ›gut‹ und ›schlecht‹ in der Kunst fürchten, warnend den Finger heben. Im Anschluss an Marx lässt sich ein Konzept von Musik und 729 Der Freiheitsbegriff ist jüngst von Georg W. Bertram auf Kunst angewandt worden. Kunst ist, so Bertram, ein »Beitrag zur menschlichen Praxis als einer Praxis der Freiheit«. Georg W. Bertram, Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin 2014, S. 218. Kunst zeichne sich durch verschiedene selbstbestimmte Praktiken aus. Auch die Reflexion auf Kunst und deren Rezeption sei eine »offene und unabgesicherte Praxis«. Ebd., S. 155. Kunst ist nach Bertram, dessen Überlegungen freilich nicht in einem marxistischen Kontext verortet sind, ein plurales Phänomen, dessen innerer Zusammenhang durch die Verbindung der Werke in »generischen Konstellationen« sich darstellt. Ebd., S. 155–170. 730 MEW 3, S. 533–534. Siehe auch Kapitel 5.3 dieser Arbeit.

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ihrer sozialen Praxis formulieren, das von seiner Idee vom »Reich der Freiheit« 731 ausgeht und sie auf das Gebiet der Kunst anwendet: Die Pluralität der Kunst und der Eigenwert noch so divergierender Stile und Individualleistungen ist nach dieser Idee nicht gleichmütig oder resignierend zur Kenntnis zu nehmen, sondern zu bejahen. Das Verdikt des Relativismus wird sich dabei als gegenstandslos erweisen. Auszugehen ist von einem Freiheitsbegriff, nach dem sich »freie Individualität […] auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität« gründet. 732 Kunst erscheint – so Wolfgang Heise – als »unmittelbarster und intensivster Ausdruck« der Subjektivität, »deren in Kunstgestalt geronnenes Selbstverständnis und deren – vom unmittelbaren Bedürfnis und äußerer Zweckmäßigkeit freie, bis zu spielanaloger Freiheit sich emanzipierende Betätigung ist«. 733 Dies bedeutet ein prinzipiell bejahendes Verhältnis zur Vielfalt der Kunst, wie es Knepler – bezogen auf die Musik – formuliert. Er geht von der Annahme aus, dass »in den meisten Musiziersphären Werte enthalten sind, die nicht zu besitzen für Menschen der jeweils anderen Musiziersphäre ein Verlust ist«, 734 sodass »für jeden aus jeder dieser (und anderer) Musiziersphären etwas zu gewinnen« wäre; eine Möglichkeit, von der aber kaum Gebrauch gemacht werde. 735 »Kultureller Reichtum« nimmt ihm zufolge gerade im Anwachsen »intersozialer Aneignung« divergierender kultureller Bereiche zu – ein tragender Aspekt seines Fortschrittsdenkens. 736 »Erst wenn vom objektiven Tatbestand der Koexistenz verschiedener Musiziertypen Kenntnis genommen wird,« so Knepler, »erst wenn nicht bloß einzelne, sondern alle Gruppen einer Gesellschaft sich der gebotenen Möglichkeiten bedienen, wird aus ihr gesellschaftlicher Reichtum. Was aber zwischen die Möglichkeit und ihre Realisierung tritt, ist Mangel an Universalität, an Erlebnis- und Genußfähigkeit – das Erbe der Klassengesellschaften.« 737 Hier sprechen Heise und Knepler ein Ideal an, das sich nach dem marxschen Geschichtsdenken erst nach der Epoche der revolutionären Praxis, erst zur Zeit der realisierten Utopie, der klassen731 732 733 734 735 736 737

Siehe S. 70 dieser Arbeit. MEW 42, S. 91. Pracht, Ästhetik der Kunst, S. 519. Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. 521. Ebd., S. 522. Ebd., S. 520. Ebd., S. 522.

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losen, kommunistischen Gesellschaft vollständig verwirklichen wird. 738 Mit der Überwindung der »knechtende[n] Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit« und des Gegensatzes zwischen »geistiger und körperlicher Arbeit« soll sich eine Praxis der Freiheit, Sinnlichkeit und Genussfähigkeit verwirklichen lassen, in der es heißt: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« 739 Nach Otto Karl Werckmeister postulieren Marx und Engels in der Deutschen Ideologie ein »Ideal einer ideologiefreien Kunst«, nach dem Kunst »ausschließlich die individuelle, subjektiv erfahrene Freiheit« ausdrückt. 740 Entscheidend sei die »Subjektivität künstlerisch tätiger Menschen als Wesensbestimmung ihrer Freiheit, die eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu ermöglichen hat.« 741 Gegenwärtig dagegen gehöre Kunst »zu dem gesellschaftlichen Zustand, den es zu überwinden gilt: in ihrer ideologischen Realisierung ist das Wesen von Kunst seinem klassischen Ideal oder seiner utopischen Befreiung entfremdet.« 742 Ein Konzept von Musik und ihrer sozialen Praxis in dem angedeuteten Sinne bedeutet nicht das bloße Zurkenntnisnehmen der Mannigfaltigkeit noch so divergierender künstlerischer Praktiken und ästhetischer Konzepte, sondern vollzieht einen Perspektivwechsel, nach dem in dieser Mannigfaltigkeit etwas Positives zu sehen ist, das den Menschen und seine künstlerischen Ausdruckformen bereichert: Zum einen kann für den eigenen Erfahrungshorizont die Offenheit fürs Fremde und Andere einen Gewinn bedeuten. Zum anderen wird das Kunstwerk in der Konsequenz der marxschen Anthropologie als etwas den je individuellen Bedürfnissen des Menschen entsprechendes anerkannt und läuft weder Gefahr, vom Standpunkt einer vermeintlich richtigen oder geltenden Ästhetik, noch am Maß einer vermeintlich ›ewigen‹ Natur des Menschen beurteilt zu werden. 743 Der Mensch kann sich bedingungslos mit seinem Werk als etwas ihm eigenes und seinen Bedürfnissen entsprechendes identifi738 Siehe hierzu auch Carl Dahlhaus, Thesen über engagierte Musik [1972], in: Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch, Mainz u. a. 1978, S. 304–313, hier S. 305 u. S. 312; sowie ders., Grundlagen der Musikgeschichte, S. 183. 739 MEW 19, S. 21. 740 Werckmeister, Ideologie und Kunst bei Marx, S. 26. 741 Ebd., S. 31. 742 Ebd., S. 16. 743 Siehe S. 32 ff. dieser Arbeit.

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zieren. Es droht ihm nicht als ein Fremdes gegenüberzutreten, weil es einer ihm äußerlichen Ästhetik genügen sollte. Das Konzept von Kunst als sozialer Praxis der Freiheit zielt letztlich auf eine bestimmte Einstellung zur Pluralität der Kunst, deren faktische Existenz nicht zu leugnen ist. Mit Peter Bürger lässt sich dafür argumentieren, dass »der durch die historischen Avantgardebewegungen bewirkte Traditionsbruch die Rede vom historischen Stand künstlerischer Techniken in Bezug auf die Gegenwart gegenstandslos gemacht hat.« Dies zur Kenntnis zu nehmen bedeutet dann in der Konsequenz auch die Einsicht, dass »heute keine künstlerische Bewegung mehr legitimer Weise den Anspruch erheben kann, als Kunst historisch fortgeschrittener zu sein als andere Bewegungen«. 744 Dieser Ansatz droht leicht als relativistisch geschmäht zu werden, weil mit ihm – so der mögliche Vorwurf – sämtliche Formen von Kunst für gleichermaßen bedeutsam erklärt, die vollkommene Partikularisierung der Kunst legitimiert und der Verlust jeder Verständigungsmöglichkeit riskiert würden. Doch weil sich ein bestimmtes Kunstwerk im Unterschied zu einem anderen als Ergebnis eines Diskurses und eines praktischen Aushandlungsgeschehens als bedeutsam erweist, kann die Pluralität der Kunst als etwas Wertvolles anerkannt werden ohne zugleich fürchten zu müssen, innerhalb dieser Pluralität hätten auch sämtliche Werke die gleiche Bedeutung. Dagegen willentlich festlegen oder per musikalischer Analyse zeigen zu können, welchen Werken Bedeutung zukommt, erwiest sich als Illusion, weil die Bedeutung einer Sache sich nicht per Beschluss festlegen, sondern sich nur aus einem Bedeutungshorizont ableiten lässt, der immer etwas diskursiv Gegebenes ist. 745 Georg W. Bertram beschreibt die Praxis der Kunst in diesem Zusammenhang als ein intersubjektives Aushandlungsgeschehen, zu dem »irreduzibel auch normativ-evaluative Urteile« gehören und das »von dem dynamischen Zusammenhang zwischen Kunstwerken und interpretativen Aktivitäten« ausgeht. 746 Zu bestimmten Zeiten und in bestimmten kulturellen Milieus konstituieren sich über soziale, diskursive Praktiken Bedeutungen, die sich in anderen Kontexten wandeln oder auflösen. Normativ ist dieser Umgang mit Kunst nur noch insofern, als er Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, S. 86. Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1995, S. 46, S. 49 u. S. 77–78. 746 Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 202. 744 745

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»die unbezweifelbare Tugend einer reichen, umfassenden Entfaltung der Fähigkeiten eines jeden Individuums« in den Mittelpunkt stellt. 747 In diesem Sinne – und nicht im Sinne jener engen Varianten des marxistischen Realismusbegriffs – kann nach Terry Eagleton Kunst dann als politisch verstanden werden, weil sie ihren »Zweck ganz in sich selbst trägt und damit gerade in [ihrer] Autonomie politisch äußerst stark aufgeladen ist.« 748 Kern von Eagletons Deutung marxistischer Ästhetik ist, dass er Kunst in einem Zustand menschlicher Praxis jenseits der Entfremdung angesiedelt wissen will. Den »Diskurs des Ästhetischen« interpretiert er als einen der »schmerzhaften Entfremdung zwischen Sinnen und Geist, Begehren und Vernunft«. Dem arbeitenden und seiner selbst entfremdeten Mensch ist es nicht möglich »körperliche Lust« zu empfinden; Genuss erscheint allein als ein »unbedeutende[r] philosophische[r] Kult der herrschenden Klasse. Unter ihren Bedingungen scheint es unmöglich, ›Geist‹ und ›Sinne‹ harmonisch aufeinander zu beziehen – also die zwanghaften Formen des Gesellschaftslebens mit ihren kruden partikularistischen Inhalten zu versöhnen.« 749 Die ästhetische Praxis »spaltet sich auf in eine brutale Askese einerseits und in einen übersteigerten Ästhetizismus andererseits.« 750 Eagleton zufolge will der Marxismus dem Körper »die ihm gestohlene Macht« zurückgeben, was nur durch die Aufhebung des Privateigentums ereicht werden könne. 751 Tatsächlich kann er sich hiefür auf Marx berufen, dessen Denken auf die »vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften« zielt. »Das Bedürfnis oder der Genuß haben [dann] ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum menschlichen Nutzen geworden ist.« 752 Eagleton zielt hier auf Marx’ Intention einer Gesellschaftsform, in der Produktion die »Verwirklichung menschlicher Wesenskräfte« als »lustvolle Notwendigkeit« bedeutet, »die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf als ein Kunstwerk. In der Tat bietet die Kunst für Marx das ideale Paradigma der materiellen Produktion gerade deshalb, weil sie auf anschauliche Weise autotelisch ist.« 753 Die »wahre« 747 748 749 750 751 752 753

Eagleton, Ästhetik, S. 235. Ebd., S. 238–239. Ebd., S. 215. Ebd., S. 216. Ebd., S. 210. MEW 40, S. 540. Eagleton, Ästhetik, S. 212–213.

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menschliche Produktivität zeichne sich dadurch aus, »frei von unmittelbarer Not etwas zu schaffen«. 754 Weil die menschlichen Bedürfnisse nach Marx historischen und gesellschaftlichen Änderungen unterliegen, kann »die Herausarbeitung der schöpferischen Fähigkeiten der Menschen ihren Maßstab« nur in sich selbst tragen und »jede fixierte oder vorgegebene Form« überschreiten. 755 Es ist demnach vollkommen offen, welche Form die Kunst im Kommunismus haben wird, denn dieser liefert nur den Rahmen für die menschliche Selbstentfaltung, wie auch immer diese aussehen mag. 756 All dies steht der weitgehenden Fixierung des marxistischen Denkens auf die Ästhetik des Realismus gegenüber. Die Vorstellung von Kunst als einer Praxis der Freiheit spielt im marxistischen Denken eine nur marginale Rolle, das sich weitgehend für realistischpolitische Kunst als Teil revolutionärer Praxis interessiert – Folge der strikten historischen Trennung zwischen »Vorgeschichte« und Utopie: 757 Dass gegenwärtig – zur Zeit der noch nicht realisierten Utopie – eine auf Freiheit zielende Praxis der Kunst nicht möglich sein soll, weil der Mensch unter den Bedingungen einer weitreichenden Ökonomisierung und Verdinglichung des sozialen Lebens nicht zu eigentlicher Freiheit finden und eigene Bedürfnisse zur Entfaltung bringen kann, ist ein schwaches Argument. Denn es setzt einen absoluten Gegensatz zwischen Utopie und Gegenwart ohne vermittelnde Zwischenstufen voraus. Hiervon wird implizit ein auf den Realismus fixiertes Denken über Kunst geleitet, weil es keinerlei Zwischenschritte, Abstufungen und Nuancierungen in der Praxis und der Entwicklung der Kunst zuzulassen scheint und die gegenwärtige Möglichkeit von Kunst als Praxis der Freiheit anstelle des Realismusdogmas nicht einmal in Ansätzen anzuvisieren vermag. Dies mag vielleicht auch durch eine Entwicklung des Marxismus bedingt sein, in der jene politischen Ansätze als »reformistisch« gebrandmarkt wurden, die sozialen Fortschritt nicht durch einen revo-

Ebd., S. 213. Ebd., S. 221. 756 Ebd., S. 228. 757 »Die neue Kunst wird sich erst nach der soz[ialistischen] Rev[olution] festigen. Was wird sie zum Ausdruck bringen? Die allseitige Entwicklung des Menschen: der christl[iche] Asketismus wird ihr fremd sein, die bürgerliche Beschränktheit wird ihr fremd sein, sie wird die griechische Kunst in ihrer ganzen Fülle wieder aufleben lassen.« Plechanow, Kunst und Literatur, S. 351 754 755

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lutionären Bruch, sondern durch sukzessive Reformen der bestehenden Institutionen herbeiführen wollten. 758 Schließlich wäre zu fragen, ob musikalische Werke nicht nur Teil dieser Praxis der Freiheit sein können, sondern diese selbst auch artifiziell ausdrücken können. Einer Denkfigur Jean-François Lyotards folgend, lässt sich – mit aller Vorsicht – eine Vorstellung davon gewinnen, von welcher Gestalt eine Ästhetik sein könnte, deren Werke artifizieller Ausdruck einer Praxis der Freiheit sind. Seine Überlegungen gehen zunächst von einer pluralen Diskurspraxis aus: »Ein Unrecht resultiert daraus, dass die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von denen der beurteilten Diskursart(en) abweichen.« 759 Deshalb könne keine Diskursart allen anderen übergeordnet werden. 760 Zudem sieht er eine prinzipielle, die Form des Wissens betreffende Differenz zwischen der Gegenwart und früheren Gesellschaften. Die bisherige wissenschaftliche Praxis legitimierte sich ihm zufolge über ihre Integration in sogenannte Metaerzählungen: »die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns, die Emanzipation des vernünftigen und arbeitenden Subjekts.« 761 Die Wahrheit des produzierten Wissens wurde durch seine widerspruchslose Unterordnung unter eine der Metaerzählungen garantiert. Heute hat sich – so Lyotard – die Wissensproduktion dahingehend gewandelt, dass sie sich nicht mehr einem vereinheitlichenden, alles Divergierende, Besondere und Partikulare ausschließenden und starren Modell unterwerfen will. An die Stelle einer »spekulativen Hierarchie der Erkenntnisse« rücke ein »›flaches‹ Netz von Forschungen«. 762 Lyotard findet im Werk von John Cage jenen Prototyp, der in der Kunst die subversive Verneinung jeder Metaerzählung darstellt. 758 Klaus von Beyme, Sozialismus. Theorien des Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus im Zeitalter der Ideologien 1789–1945, Wiesbaden 2013, S. 261–267. 759 Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, übers. v. Joseph Vogl, 2. Aufl., München 1989, S. 9. 760 Ebd., S. 230. 761 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übers. v. Otto Pfersmann, hg. v. Peter Engelmann, 5. Aufl., Wien 1994, S. 13. 762 Ebd., S. 116–117. Inspiriert sind diese Überlegungen von Wittgensteins Theorie der Sprachspiele, ebd., S. 122. – Nun ließe sich sofort einwenden, dass das marxsche Geschichtsdenken eine der von Lyotard abgelehnten Metaerzählungen ist und infolgedessen sein Ansatz einem marxistischen gerade entgegensteht. Doch ist dieser Einwand nur dann triftig, wenn er sich auf die »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« (MEW 13, S. 9) bezieht. Das »Reich der Freiheit«, die realisierte Utopie, wäre indes ein gesellschaftlicher Zustand, der ohne jede Metaerzählung auskommt.

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Einer Metaerzählung entspricht im Bereich der Kunst ein sogenanntes Dispositiv, womit letztlich all jene Regelsysteme gemeint sind, die das musikalische Material strukturieren, noch bevor es in eine Komposition Eingang findet. Jedes Dispositiv zu durchbrechen, hat – so Lyotards Befund – zuerst Schönberg gewagt, jedoch mit der Dodekaphonie sogleich ein neues geschaffen. 763 Cage habe indes das vollendet, was Schönberg nach seinen frei-atonalen Werken wieder aufgegeben habe, nämlich eine Ästhetik zu realisieren, in der das reine Begehren, die reine Affirmation sich ungehemmt entfalten könne. Hier hat »kein Anderes […] Gewalt über den Ton, es gibt keinen Gott, keinen Signifikanten als vereinigendes Kompositions-Prinzip. Es gibt kein Filtern, keine geregelten Leerstellen, keine Ausschlüsse, also auch kein Werk mehr, keine Eingrenzung, welche die Musikalität als Bereich bestimmt.« 764 In diesem Sinne lieferte Cages Musik das ästhetisch-artifizielle Abbild einer Praxis der Freiheit. In seiner Kranichsteiner Vorlesung von 1961 Vers une musique informelle scheint Adorno etwas Vergleichbares anzudeuten: Nach der Erfahrung der seriellen Musik fordert Adorno, dass der Prozess wieder aufzunehmen ist, »den Schönberg bremste, als er ihn scheinbar durch seine geniale Neuerung weitertrieb. Der Idee unrevidierter, konzessionsloser Freiheit hätte eine musique informelle aufs neue sich zu stellen«. 765 Doch wie ist eine unrevidierte und konzessionslose Freiheit zu denken, da er die musique informelle zugleich als eine durch und durch geschichtlich determinierte begreift? Sie soll »kein kultureller Neutralismus« sein, sondern »Kritik des Vergangenen«. 766 Adorno schwebt eine Musik vor, die »alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat« und dabei »vollkommen frei vom heteronom Auferlegten und ihr Fremden, doch objektiv zwingend im Phänomen, nicht in diesen auswendigen Gesetzmäßigkeiten sich konstituiert.« Die Befreiung solle zugleich aber, »soweit das ohne abermalige Unterdrückung möglich ist, auch der Niederschläge des Koordinatensystems im Innern der Phänomene sich zu entledigen suchen«. 767 Ihr Gegensatz ist die serielle Musik; eine musique informelle stellt sich – so Adorno – »gegen VerdingJean-François Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 114. Ebd., S. 120. 765 Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle [1961], in: Musikalische Schriften 1–3, Frankfurt a. M. 1997 (GS 16), S. 493–540, hier S. 498. 766 Ebd., S. 525. 767 Ebd., S. 496. 763 764

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lichung; gegen Kunst, die aus Haß wider die Lüge des Geistes in pure Tatsächlichkeit umkippt und dadurch dem Bann dessen, was ist, ebensosehr willfahrt wie nur irgendeine Ideologie«. 768 Hier schimmert die Idee einer Ästhetik durch, die in der Musik das überwinden will, was Marx mit dem Begriff der Entfremdung zu fassen sucht: Das »Subjekt ist das einzige Moment von Nichtmechanischem, von Leben, das in die Kunstwerke hineinragt […]. So wenig Musik dem Subjekt gleichen darf […], so wenig darf sie ihm auch vollends nicht gleichen: sonst würde sie zum absolut Entfremdeten ohne raison d’être.« 769 »Informelle Musik« wäre »in allen Dimensionen […] ein Bild von Freiheit«. Sie »ist ein wenig wie der ewige Frieden Kants, den dieser als reale, konkrete Möglichkeit dachte, die verwirklicht werden kann, und doch auch wiederum als Idee. Die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.« 770

768 769 770

Ebd., S. 524. Ebd., S. 527. Ebd., S. 540.

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7. Resümee

Lässt sich nun resümierend angeben, wodurch sich marxistisches Musikdenken auszeichnet, und – im direkten Anschluss an das vorangegangene Kapitel – ob es Mittel bereit hält, die es nicht als veraltet erscheinen lassen und die für gegenwärtig Probleme nutzbar sind? Um mit der zweiten Teilfrage zu beginnen: Ob sich die Methoden, Begriffe und Denkfiguren, die sich im Marxismus entwickelt haben, als tragfähig und fruchtbar erweisen, ist pauschal nicht zu entscheiden. Ihr praktischer Wert bemisst sich – wie derjenige anderer historiographischer und sozialwissenschaftlicher Konzepte – allein an der Problemstellung und an dem Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers. Doch sind ein bestimmtes Erkenntnisinteresse und die Wahl einer bestimmten Methode insofern nicht beliebig, als sie Resultat einer Werthaltung sind; und eine Aussage über das rein formale Funktionieren marxistischer Methoden würde die ihnen implizite Wertgrundlage ausblenden. Marx und die an ihm orientierten Autoren leiten ihre Begriffe und Konzepte aus einer bewusst wertenden Einstellung gegenüber der Wirklichkeit ab, die ihre Methoden, die Wahl ihrer Forschungsgegenstände und die Diagnosen über die Wirklichkeit bestimmen. So drängt sich die Frage auf, inwiefern sich überhaupt eine marxistisch orientierte Wissenschaft ohne diese Wertgrundlage betreiben lässt. Es dürfte schwerfallen, eine allgemeine Aussage darüber zu treffen, ob sich aus dem Marxismus Theoreme herausoperieren lassen, die nur rein formal, unter Absehung ihrer ursprünglichen inhaltlichen Bezüge und ihrer Wertfundamente, aus denen heraus sie entstanden sind, angewendet werden können. Zumindest die Verwendung von Begriffen wie dem der Verdinglichung oder dem der Entfremdung wird kaum gelingen, ohne ihren historischen Ballast samt ihrer normativen Konnotationen mit zu übernehmen. Dies mag bei anderen Begriffen und Konzepten freilich sich anders darstellen, wie beispielsweise im Falle des Ideologiebegriffs, der sich etwa bei Mannheim zu einer wertneutralen Fassung hin ent200 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Resümee

wickelte. Doch wenn – wie in diesem Fall – Begriffe, Konzepte und Theoreme es zulassen, mit ihnen zu operieren und dabei zugleich von ihrer normativen Grundlage abzusehen, dann können diese allerdings Potenziale zeigen, die von der Überlagerung einer normativ-politischen Weltsicht gerade verdeckt bleiben müssen. Die im vorangegangenen Kapitel angesprochen kultur- und praxistheoretischen Konzepte, die noch entfernt marxistisch-materialistische Ausgangspunkte erahnen lassen, zeigen zumindest, dass sie für sozial- und geschichtswissenschaftliche Problemfelder herangezogen werden können und im besten Falle dort eine größere Erklärungskraft besitzen, wo allzu originär marxistisch geprägte Begriffe und Theoreme aufgrund eines eingeengten Geltungsbereichs gerade untauglich erscheinen müssen. Daher mag es für sozial- und geschichtswissenschaftliche Fragestellungen gewinnbringend sein, Marx und die sich ihm anschließenden Traditionen als intellektuellen Steinbruch zu verwenden und aus ihnen Methoden und Begriffe zu entnehmen, wenn sich durch sie Erkenntnisse über einen Gegenstand gewinnen lassen, die über andere Methoden und Begriffe nicht zu haben sind. Doch liegt dann kein marxistisches Denken mehr vor – zumindest nicht dasjenige, das der Ausgangspunkt der in dieser Arbeit diskutierten Ideen, Positionen und Traditionen ist. Der Verfasser unterliegt nicht dem Wunsch, platonische Wesensschau zu betreiben, um exakte Grenzen des marxistischen Denkens angeben zu können. Im Gegenteil: Die Bedeutung eines Wortes – so auch des Wortes ›Marxismus‹ – entscheidet sich an seinem Gebrauch. Doch worauf zielen im Kern Ideen, Theorien und Praktiken, die Ausgangspunkte dieser Arbeit waren und – als Resultat einer diskursiven Praxis – ›marxistisch‹ genannt werden? Noch einmal ist daher die Frage in Erinnerung zu rufen, was es eigentlich mit ›dem‹ Marxismus auf sich hat. Nicht ist über Dogmen oder Lehrbuchweisheiten festzulegen, was ›den‹ Marxismus inhaltlich auszeichnet. Der Marxismus ist, wie wohl sämtliche größeren gedanklichen und praktischen Leistungen, die sich historisch und geographisch nachhaltig durchsetzen konnten, ein durch und durch plurales Phänomen, und auch das marxsche Denken selbst zielt nicht auf die verbindliche Festschreibung einmal gefundener Wahrheiten: »Wir treten«, so Marx in einem Brief an Runge, »nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder!« 771 Im Gegenteil: »Unser Wahlspruch muß also sein: 771

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Resümee

Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf.« 772 Mit der Ablehnung einer dogmatischen, in der Geschichte des Marxismus weit verbreiteten Geisteshaltung tun sich all diejenigen schwer, die ein tiefsitzendes Verlangen nach festen Weltbildern haben, die als Korsett ihres Intellekts für alles und jedes eine Erklärung bereit halten und das unermessliche Potenzial einer offen gebliebenen Frage schon im Keim ersticken. Tatsächlich ist auch im marxschen Sinne auf den Aspekt der Unabgeschlossenheit und Offenheit, nicht auf ein unveränderliches Wesen der Dinge, sondern auf deren lebenspraktische, geschichtliche und kulturelle Gebundenheit zu insistieren und der umstandslosen Identifizierung des marxistischen Denkens mit einem festen Gerüst aus ewigen Gesetzen, die für die Natur wie für die Geschichte gleichermaßen zu gelten haben, mit Vorsicht zu begegnen. Obgleich die Geschichte des Marxismus hierfür genügend prominente Beispiele kennt, so sind sie doch nicht mit ihm identisch und lassen sie sich aus dem marxschen Denken selbst nicht widerspruchsfrei ableiten. Dennoch lässt sich jenseits aller Lehrsätze, Theoreme und Gesetze ein Kriterium benennen, das notwendigerweise wenigstens jenes marxistische Denken auszeichnet, das für diese Arbeit grundlegend ist und ausführlich dargelegt wurde: Es ist die Verbindung aus einer materialistisch fundierten Anthropologie mit einem utopischen Denken. Dieses Denken richtet sich normativ an dem von Marx angedeuteten »Reich der Freiheit« aus, mit dem eine menschliche Existenzweise jenseits von Phänomenen der Verdinglichung und Entfremdung möglich werden soll. Es sucht die Wirklichkeit nicht als etwas Statisches, sondern als etwas vom Menschen Gemachtes und daher von diesem auch Veränderbares zu beschreiben; es verwechselt nicht die vom Menschen gemachten Grundlagen der Wirklichkeit mit vermeintlich ewigen Gesetzen, sondern will dialektisch die konfliktgeladene Wirklichkeit im »Flusse ihrer Bewegung« verstehen und zugleich aufklärerisch und ideologiekritisch wirken. Weil aber Aufklärung und Ideologiekritik nicht von einer bestimmten Wertgrundlage zu trennen sind, ist es zumindest mit dem hier zugrunde liegenden Marxismusbegriff unvereinbar, auf Marx fußende Begriffe und Methoden anwenden, von deren normativen Ausgangspunkten aber 772

MEW 1, S. 346.

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Resümee

nichts wissen zu wollen. Sich hiervon unterscheidende Ansätze, die die in im zweiten Kapitel beschriebenen Ausgangspunkte nicht teilen, aber ebenfalls unter dem Label ›marxistisch‹ firmieren, liegen damit außerhalb des Geltungsbereichs dieser Untersuchung. Aus der Verbindung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und der bewussten Vermeidung eines wertneutralen Blicks auf die Wirklichkeit – der ohnehin eine Fiktion wäre – leiten sich die marxistischen Zugriffe auf die Musik und ihre Geschichte ab – womit nun die eingangs gestellte erste Teilfrage berührt wird. Sie sind eine besondere Form des Musikverstehens, dessen Fundament die Symbiose aus einer materialistisch begründeten Ästhetik und einem stark teleologisch ausgerichteten historischen Denken ist. Die historischutopische Ausrichtung verleiht den verschiedenen Facetten der marxistischen Musikphilosophie ihren inneren Zusammenhang. Die Betrachtung eines Kunstwerks, mit der allein nach ›neutralen‹ Widerspiegelungs- und Abbildbeziehungen zwischen Werk und Realität gefragt wird, lässt sich daher nur als idealtypisches Teilmoment aus dem marxistischen Musikdenken herausdestillieren. Diese Betrachtungsweise versteht das Werk als bloßes Dokument oder Zeugnis seiner Gegenwart und unterscheidet sich daher nicht prinzipiell von anderen materialistisch-historisch verfahrenden Ansätzen. Die entscheidende marxistische Zutat zur Deutung eines Werkes als Dokument und Resultat seiner Bezüge zur Lebenspraxis des Menschen ist der Versuch, dieses Dokument zugleich dialektisch und ideologiekritisch zu verstehen, in der Hoffnung, in ihm verborgene gesellschaftlich progressive oder reaktionäre Gehalte erkennen zu können.

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8. Verzeichnis der Literatur

Die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels werden nach der vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED bzw. vom Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung im Dietz Verlag herausgegebenen Ausgabe zitiert: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke 1–43, Berlin 1956–1990 (MEW). Adorno, Theodor W., u. Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], Frankfurt a. M. 1997 (GS 3). Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie [1970], Frankfurt a. M. 1997 (GS 7). Adorno, Theodor W., Negative Dialektik [1966], Frankfurt a. M. 1997 (GS 6). Adorno, Theodor W., Philosophie der neuen Musik [1949], Frankfurt a. M. 1997 (GS 12). Adorno, Theodor W., u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied u. a. 1969. Adorno, Theodor W., Vers une musique informelle [1961], in: Musikalische Schriften 1–3, Frankfurt a. M. 1997 (GS 16), S. 493–540. Adorno, Theodor W., Zur gesellschaftlichen Lage der Musik [1932], in: Musikalische Schriften 5, Frankfurt a. M. 1997 (GS 18), S. 729–777. Altmann, Günter, Oratorium, Kantate, kantatenartige Werke, in: Mathias Hansen (Hg.), Ernst Hermann Meyer. Das kompositorische und theoretische Werk, Leipzig 1976 (Handbücher der Sektion Musik), S. 27–46. Amberger, Alexander, Ernst Bloch in der DDR. Hoffnung – Utopie – Marxismus, in: DZPh 61 H. 4 (2013), S. 561–576. Anderson, Perry, Considerations on Western Marxism, London 1976. Angehrn, Emil, Dialektik der Utopie. Von der Unverzichtbarkeit und Fragwürdigkeit utopischen Denkens [2001], in: Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken, Würzburg 2008, S. 151–162. Angehrn, Emil, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, 2. Aufl., Weilerswist 2004. Aristoteles, Nikomachische Ethik, nach d. Übers. v. Eugen Rolfes bearb. v. Günther Bien, Hamburg 1995 (Philosophische Schriften 3). Aristoteles, Poetik, übers. u. erl. v. Arbogast Schmitt, Berlin 2008 (Werke in deutscher Übersetzung 5). Aristoteles, Politik, übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg 1995 (Philosophische Schriften 4). Arndt, Andreas, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, 2. durchges. u. um e. Nachw. erg. Aufl., Berlin 2012.

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220 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

9. Verzeichnis der Personen (Auswahl)

Adorno 16, 19, 76, 102–103, 107– 109, 127–128, 132–133, 172, 174, 179–181, 198 Aristoteles 82–83, 85–88, 105–106 Assafjew 90, 92–94 Balet 126 Baumgarten 18, 25, 87 Bekker 128–129 Bimberg 82–84, 91, 97, 99, 106 Blaukopf 125, 130 Bloch 35, 44, 65, 68–69, 75, 77–78, 111–112, 123, 131, 134–137, 147, 150 Braudel 12–13 Brecht 117 Brendel 124 Brockhaus 116, 154 Bürger 194 Dahlhaus 21, 52, 122–123, 152, 162– 166, 175, 189, 193 Dawydow 106 Droysen 150 Eagleton 25, 87, 174, 195 Eisler 76, 84, 104, 109, 112–113, 133, 168, 188 Elbe 17 Farbstein 84, 96–97 Felix 111 Finke 118 Fleischer 34, 157 Gadamer 14, 41–42

Goldschmidt 84, 90–92, 100–102, 104, 113, 138, 152, 169, 175, 186 Gramsci 60–61, 158 Habermas 16, 43, 56–58 Hanslick 89 Haug 16, 21, 31, 36, 38, 60–63, 72– 73, 160–161, 171, 174 Hausegger 89 Heise 81, 192 Henning 13–14, 66 Hoff 16–17, 35 Holz 16, 30, 46, 48–56, 58–59, 61–62, 67–69, 98 Honneth 73, 178 Horkheimer 16, 31–32, 179, 181 Huyssen 180, 189 Iggers 19–21, 172 Jameson 179–180, 189–190 Jarustowski 101 Kagan 18, 117 Karbusicky 21, 47, 56, 86, 95, 102, 142 Kautsky 155 Kluge 102 Kneif 21 Knepler 27, 39, 52, 80, 85, 90, 92–94, 109–110, 113–114, 120, 124–126, 128–129, 132–135, 146, 150–152, 155, 161, 163–166, 168, 176, 178, 181, 192 Kołakowski 14, 53–55, 65, 150 Kocka 19, 121, 157 Kofler 57, 77

221 https://doi.org/10.5771/9783495817865 .

Verzeichnis der Personen (Auswahl) Korsch 56, 58, 174 Kosing 54

Pracht 54, 80, 104, 140, 192

Laux 116 Lenin 16, 38, 53–57, 95–97, 115–116, 123, 155, 161, 174 Lenk 40, 43, 157 Lippold 47, 84, 90, 93, 97–100, 104– 105, 117–118 Lissa 95–99 Löwith 27–28, 65, 74–75, 136 Lukács 50, 58, 77, 95, 97–98, 111, 116 Lunatscharski 130 Lyotard 197–198 Mannheim 121–122, 200 Markus 105 Marx, Adolf Bernhard 137, 149 Mayer 20–21, 85, 90, 104, 109, 113, 133, 144, 150, 157, 163, 165–166, 168, 173, 186 Mersmann 125 Meyer 113–114, 117, 143, 147 Naumann 137 Pawlow 98, 100 Popper 45, 63, 155–157, 159, 165

Rebling 126 Riethmüller 21, 85, 89, 95, 106 Rudolph 131 Rukser 128 Rummenhöller 173 Rüsen 147 Scherchen 127 Schmidt 31, 35 Schneider 139, 187 Sève 34, 37 Suppan 27–30, 32 Taylor 194 Thompson 60, 67, 156, 159, 171, 178 Vetter 118 Vogel 142–144 Weber 29, 115, 129–130, 189 Wehler 19, 178 Werckmeister 111, 168, 193 White 75, 148–149 Winkler 101 Zoltai 84, 105

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