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German Pages [89] Year 2016
V
Academic
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur Herausgegeben von Jürgen Wehnert
Vandenhoeck & Ruprecht
Philo von Alexandria – Über die Freiheit des Rechtschaffenen Übersetzt und eingeleitet von Reinhard von Bendemann
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-53465-7 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /
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Inhalt
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Wer war Philo von Alexandria? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Philo als bedeutendster Vertreter des hellenistischen Diasporajudentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Kurzer Überblick über die Schriften Philos und ihre Eigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Zu Datierung, Gattung und Inhalt der Schrift . . . . . . . . . . . 15 Thema der Schrift, Aufbau und Gefälle der Argumentation 21 Die philosophische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Zur Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Vorrede – Thema und erkenntnistheoretische Grundlagen 44 Klärung des Untersuchungsgegenstandes – Annäherung an Begriff und Wesen der wahrhaften Freiheit . . . . . . . . . . . 48 Zwischenschritt: Äußerliche Sklavendienste bedeuten nicht Unfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Freiheit und die Frage nach dem Glück des Menschen . . . . 55 Freiheit und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Die Freiheit der Rede als Prüfstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Rückkehr zur erkenntnistheoretischen Frage – Abschluss des ersten Teils der Untersuchung . . . . . . . . . . . . 59 Freiheit als ungezwungenes und ungehindertes Handeln – These und logischer Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Widerlegung von Einwänden – Die Zahl der Weisen und Tugendhaften ist gering und verborgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Beispiele für Gruppen von wahrhaft Freien – Die Gemeinschaft der Essener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
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Beispiele für herausragende Einzelne, die als wahrhaft frei gelten können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Der Sonderfall der Heroen und die wahre Kraft der menschlichen Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Sterben für die Freiheit – Der Tod als letzter Ausweg, um frei zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Freiheit als Wagemut und Unbeugsamkeit der Seele . . . . . . 76 Der Hahnenkampf als Beispiel aus der Tierwelt . . . . . . . . . 78 Die Freiheit als schönstes Gut und das hässliche Gegenbild der Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Abwehr von Kritik durch die Rechtschaffenen . . . . . . . . . . . 82 Asyl und Freilassung – Die Tugend als wahrer Schutzort und einziger Weg zur Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Schluss – Freiheit in der Überwindung der Leidenschaften und die Notwendigkeit der philosophischen Erziehung . . . 85 Abkürzungen der biblischen Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
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Einführung
Wer war Philo von Alexandria? In den Schriften des Philo ist sehr wenig über sein Leben zu erfahren, und zeitgenössische Nachrichten stehen ebenfalls nicht zur Verfügung. Philo hat zu einer der vermögendsten und angesehensten Familien unter den Juden Alexandrias in Nordägypten gehört. Sein Bruder Alexander war derart reich, dass er dem jüdischen König Herodes Agrippa zweihunderttausend Sesterzen ausleihen konnte.1 Sein Neffe Tiberius Julius Alexander, mit dem Philo sich in seiner Schrift »Über die Vorsehung« auseinandersetzt, wandte sich vom Judentum ab.2 Er war 46–48 n. Chr. römischer Prokurator von Judäa und 66–70 n. Chr. Präfekt der Provinz Ägypten.3 Zur Zeit der Belagerung Jerusalems durch die Römer war er der Generalstabschef des Titus.4 Die hervorgehobene Position Philos unter den Juden Alexandrias kommt in den Quellen am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass er 39/40 v. Chr. an der Spitze einer jüdischen Gesandtschaft nach Rom zum Kaiser Gaius »Caligula« stand. Auslöser für diese Gesandtschaft waren im Jahr 38 v. Chr. Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung Alexandrias, denen der römische Präfekt Flaccus am Ort keinen Einhalt gebot. Die Römer stellten sich auf die Seite der seit Jahrhunderten privilegierten griechischen Bevölkerung. Ihr stand die Mehrheit der jüdischen Menschen zusammen mit der einheimischen ägyptischen Bevölkerung gegenüber. Dieser wurde von Augustus in der Zeit des Antritts seines Prinzipats (»Erster im Staat unter Gleichen«) 1 2 3 4
Josephus, Jüdische Altertümer XVIII 159–160. Josephus, Jüdische Altertümer XX 100. Josephus, Jüdischer Krieg II 220, 309. Josephus, Jüdischer Krieg VI 237.
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eine Kopfsteuer auferlegt, und die Juden verloren zusammen mit den Einheimischen Privilegien, darunter insbesondere die Erlaubnis zur Teilnahme an der griechischen Ausbildung der Jugend (Epheben). Philo schreibt über das Scheitern der jüdischen Gesandtschaft nach Rom in seiner Schrift Gesandtschaft an Gaius.5 Dieser Schrift ist zu entnehmen, dass er zur Zeit der Gesandtschaft schon in fortgeschrittenem Alter gewesen sein muss.6 Von hier aus kann man vorsichtig folgern, dass Philo gegen Ende des letzten Jahrhunderts v. Chr. oder irgendwann zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. geboren sein muss; vielleicht hat er bis etwa 50 n. Chr. gelebt. Einfluss entfaltet hat Philo über die Jahrhunderte weniger durch sein politisches Wirken als vielmehr durch seine Schriften. Sie weisen ihn als den bedeutendsten Vertreter dessen aus, was man als hellenistisches Diasporajudentum bezeichnet.
Philo als bedeutendster Vertreter des hellenistischen Diasporajudentums Zur Zeit Philos hatte sich das Judentum so weit im Mittelmeerraum ausgebreitet, dass mehr jüdische Menschen in der Diaspora (»Zerstreuung«) als im Land Israel lebten. Die Schätzungen in der Forschung gehen auseinander, doch waren wahrscheinlich mindestens fünf Prozent der Gesamtbevölkerung des römischen Imperiums jüdisch. Die Ursachen für diese Ausbreitung waren vielfältig. Teilweise war sie durch Handelsbeziehungen bedingt, aber auch aus vielen anderen Gründen wanderten Menschen freiwillig aus. Nicht erst seit der Eroberung Palästinas durch die Neubabylonier (Anfang des 6. Jahrhunderts v. Chr.) war die Zerstreuung auch die Folge von Waffengewalt und gewaltsamer Verschleppung. Weiterhin spielten Hungersnöte und wirtschaftliche Notlagen im Mutterland eine Rolle. Zudem vermehrte sich die Zahl jüdischer Menschen in der Diaspora dadurch, dass Nichtjuden sich dem Judentum anschlossen. Dies war 5 Lateinischer Titel: Legatio ad Gaium; vgl. ferner Philo, In Flaccum (Gegen Flaccus); Josephus, Jüdische Altertümer XVIII 257–260. 6 Philo, Legatio ad Gaium 1, 182.
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der Fall, obwohl es in der Antike ein Misstrauen gegenüber den als fremd wahrgenommenen jüdischen Praktiken gab und das Judentum häufig dem Vorwurf des Aberglaubens ausgesetzt war. So kam es in der Diaspora trotz Zeiten friedlichen Zusammenlebens jüdischer Menschen und Gruppen mit der Mehrheitsgesellschaft immer wieder zu Konfrontationen. Philo blickt in seiner Zeit bereits auf lange, wechselvolle Beziehungen zwischen Ägypten und Palästina zurück sowie auf die Geschichte einer lebendigen ägyptischen jüdischen Diaspora. Um nur einige Punkte zu nennen: Schon das alttestamentliche Jeremiabuch weiß von jüdischen Ansiedlungen in Ägypten.7 Juden kamen als Söldner oder Händler ins Land Ägypten; in persischer Zeit finden sich Zeugnisse von Exil-Juden auf der Nilinsel Elephantine, die hier eine Militärkolonie bildeten. Zusammen mit der gesamten damals bekannten Welt war auch Ägypten im Gefolge der Feldzüge Alexanders des Großen in den direkten Einfluss griechischer Sprache, Bildung und Lebensweise gelangt. Das hellenistische Königshaus der Ptolemäer, das aus der Linie Alexanders des Großen stammte, übernahm die Stellung der ägyptischen Pharaonen. Die Folge war eine konsequente Hellenisierung Ägyptens. Von ihr war auch das alexandrinische Judentum betroffen. Die Hellenisierung darf man sich nicht allein als einen von außen aufgezwungenen Vorgang denken. Vielmehr löste sie Prozesse der Selbsthellenisierung aus: Die Menschen interessierten und begeisterten sich für die griechische Sprache und Kultur, die sämtliche Lebensbereiche, von der Bildung, den Wissenschaften über die Architektur, soziale Organisation, Religion bis hin zur Esskultur und Mode erfasste. Hierdurch kam es zu einer engen Verbindung der eigenen Kultur mit der neuen griechischen Lebensweise. Institutionellen Ausdruck fand die Hellenisierung auch in Alexandria in der Einführung des Gymnasiums (Sport- und Elementarschule) als Bildungsstätte. Das Griechische wurde zur bestimmenden Sprache der jüdischen Menschen in Ägypten. Mit Alexandria verbindet sich die Legende von der Übersetzung des hebräischen Alten Testaments in 7 Vgl. Jer 44,1.
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das Griechische.8 Philo setzt durchgängig die Übersetzung der altte stamentlichen Schriften in die neue Weltsprache des Koiné-Griechischen voraus. Das Griechische kann er als »unsere Sprache«, d. h. als Sprache der Juden, bezeichnen.9 Nicht allein in Alexandria hinterließ der Hellenismus bald deutliche Spuren in der antik-jüdischen Literatur. Die Annäherung ging so weit, dass man jüdische Ethik unter dem Namen nichtjüdischer Schriftsteller publik machen wollte. So wurde ein Lehrgedicht in Hexametern unter dem Namen des Phokylides, eines Dichters aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., verfasst. Als Erzeugnisse des hellenistischen Judentums sind mit Philos Schriften unter anderem das apokryphe, d. h. nicht in den alttestamentlichen Kanon aufgenommene, Buch Jesus Sirach, das vierte Makkabäerbuch sowie vor allem die ebenfalls in Alexandria entstandene Weisheit Salomos10 zu vergleichen. Das Sirachbuch wurde wahrscheinlich am Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. zunächst auf Hebräisch verfasst und dann ins Griechische übersetzt; es bildet als Zeugnis der Weisheitsliteratur eine wichtige Brücke zwischen der griechisch aufgefassten Weisheit und den eigenen Traditionen und Erfahrungen des Judentums. Das wohl um die Zeitenwende entstandene vierte Makkabäerbuch bietet ein Beispiel für eine weitreichende Verquickung philosophischer und jüdischer Vorstellungen; das Judentum wird als die wahre Philosophie aufgefasst, welche den Weg zur Tugendhaftigkeit und Glückseligkeit weist. Es geht um die Beherrschung der Leidenschaften durch die Vernunft. Hierbei werden die Vernunft mit der göttlichen Weisheit und die Tugendhaftigkeit mit dem Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora identifiziert. Allerdings werden die Leidenschaften, die Affekte, in ihrer Bedeutung für das menschliche Leben positiver als bei den zeitgenössischen stoischen Philosophen (siehe unten) gesehen. Die Leidenschaften sollen und können nicht 8 Vgl. neben Philo, De vita Mosis (Über das Leben Moses) II 26–42, das Zeugnis des Aristeasbriefs 301–316. 9 Philo, De congressu eruditionis gratia (Über das Zusammenleben der Allgemeinbildung wegen) 44. 10 Diese Schrift ist in der Übersetzung von Felix Albrecht in der vorliegenden Buchreihe erschienen.
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gänzlich ausgeschaltet werden. Sie sollen vielmehr als gottgegebene Anlagen in bestimmten Grenzen auch erhalten und gepflegt werden. Diese Position ist der Sichtweise Philos nicht unähnlich. Sehr dicht führt die Weisheit Salomos an die Gedankenwelt Philos heran. Diese Schrift ist von der Überzeugung getragen, dass die Weisheit Israels der der übrigen Weltvölker vorausliegt und überlegen ist. Unter die Vorläufer Philos bzw. die ihm vergleichbaren hellenistisch-jüdischen Schriftsteller sind auch der Chronograph Demetrius, der Historiker Aristobul sowie der Aristeasbrief zu rechnen. Die romanhafte Erzählung Joseph und Aseneth ist um die Zeitenwende wahrscheinlich ebenfalls in Ägypten entstanden. In ihr steht neben dem Jakobssohn Joseph die ägyptische Priestertochter Aseneth im Mittelpunkt.11 Kein anderer Verfasser aus der Gruppe der Schriftsteller, die man dem hellenistischen Judentum zuweist, hat jedoch die Breite und Tiefe der Bildung und Sprachkompetenz, die sich im Werk Philos von Alexandria finden. Das hellenistische Diasporajudentum bewegte sich insgesamt in besonderer Weise zwischen den beiden Polen einer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft und deren Kultur sowie der Wahrung der eigenen religiösen Identität. Die Ereignisse der Makkabäerzeit führten im 2. Jahrhundert v. Chr. dazu, dass man die Frage nach den Grenzen der Anpassung und die Rückbesinnung auf die mit der Tora gegebene eigene Identität auch in der jüdischen Diaspora stärker in den Vordergrund rückte. Generell kann man festhalten: Die Zeit der Ptolemäer bedeutete für das ägyptische Judentum grundsätzlich eine Phase friedlicher Existenz; den Juden waren die Praxis des Sabbats, die Freiheit der Versammlung sowie auch Geldzahlungen und Pilgerreisen nach Jerusalem gestattet. Erst mit der römischen Herrschaft begannen sich die Spannungen zu verschärfen, und es kam zu den ersten Pogromen gegen Juden12. 11 Diese Erzählung erscheint in der Übersetzung von Stefanie Holder in der vorliegenden Buchreihe. 12 Zur Eskalation unter dem römischen Präfekten Flaccus siehe oben.
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Kurzer Überblick über die Schriften Philos und ihre Eigenart Nach der in der Kirchengeschichte des Kirchenvaters Euseb von Caesarea zu findenden Liste der Philonischen Werke13 und aufgrund von Hinweisen in den Schriften Philos selbst ist davon auszugehen, dass zahlreiche Philo-Texte verloren gegangen sind. Dass gleichwohl eine derart große Sammlung seiner Schriften erhalten geblieben ist, hängt vor allem mit dessen Wertschätzung auf Seiten der späteren Christen zusammen. Vor allem die Kirchenväter Clemens von Alexandrien, Origenes und Euseb von Nikomedien waren dafür verantwortlich, dass Philo zu einem Gewährsmann der christlichen Theologie wurde. Will man den Stellenwert und das besondere Profil der Schrift Philos Über die Freiheit des Rechtschaffenen verstehen, sollte man sich wenigstens einen groben Überblick über das verschaffen, was Philo sonst publiziert hat. Der Hauptteil des erhaltenen Schrifttums ist exegetischer Natur, d. h. es geht darin um die Auslegung der biblischen Schriften. Die exegetischen Schriften beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem Pentateuch, d. h. mit den fünf Mose-Büchern. Philos Lehre wird in diesen Schriften nicht in der Gestalt einer Systematik vorgetragen, sondern in der Beschäftigung mit konkreten alttestamentlichen Stellen. Sein Ausgangstext ist das griechische Alte Testament, die Septuaginta (siehe oben); wahrscheinlich hat Philo keine detaillierten Hebräischkenntnisse besessen. In einer Folge von Büchern hat Philo zunächst die mosaische Gesetzgebung umfassend dargestellt.14 Sodann geben die Quaestiones et Solutiones (Fragen und Lösungen) einen fortlaufenden exegetischen Kommentar zur Genesis und zum Buch Exodus. Erhalten sind hiervon, zum Teil nur in armenischer Übersetzung, Stücke der Kommentierung von Gen 2,4–28,9 und Ex 12,2–28,34. 13 Euseb von Caesarea, Kirchengeschichte II 18,1–8. 14 Diese Schriften tragen folgende Titel: De opificio mundi (Über die Erschaffung der Welt), De Abrahamo (Über Abraham); De Josepho (Über Joseph); De decalogo (Über den Dekalog); vier Bücher De specialibus legibus (Über die Einzelgesetze); De virtutibus (Über die Tugenden) sowie De praemiis et poenis (Über Belohnungen und Strafen).
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Ferner behandelt ein groß angelegter allegorischer15 Kommentar zur Genesis in einer Folge von Einzeluntersuchungen Teile aus Gen 2–41.16 Darüber hinaus sind weitere Einzelschriften Philos erhalten. Hierunter finden sich historisch-biographische bzw. apologetische, d. h. darstellende und zugleich verteidigende Texte.17 Zuletzt gibt es einige wenige philosophische Traktate Philos. Zu diesen gehörte neben den zwei vollständig nur in armenischer Übersetzung erhaltenen Büchern »Über die Vorsehung«18 sowie dem Dialog »Über die Tiere«19 die Schrift »Über die Ewigkeit der Welt«20 sowie der vorliegende Text »Über die Freiheit des Rechtschaffenen«21.
15 Zum Begriff der Allegorese siehe unten. 16 Hierzu gehören die folgenden Schriften: Drei Bücher Legum allegoriae (Allegorische Erklärung der Gesetze); De Cherubim (Über die Cherubim); De sacrificiis Abelis et Caini (Über die Opfer Abels und Kains); Quod deterius potiori insidiari soleat (Über die Nachstellungen, die das Schlechtere dem Besseren bereitet); De posteritate Caini (Über die Nachkommen Kains); De gigantibus (Über die Riesen); Quod Deus sit immutabilis (Über die Unveränderlichkeit Gottes); De agricultura (Über die Landwirtschaft); De plantatione (Über die Pflanzung [Noahs]); De ebrietate (Über den Rausch); De sobrietate (Über die Nüchternheit); De confusione linguarum (Über die Verwirrung der Sprachen); De migratione Abrahami (Über die Wanderung Abrahams); Quis rerum divinarum heres sit (Über den Erben des Göttlichen); De congressu eruditionis gratia (Über das Zusammenleben der Allgemeinbildung wegen); De fuga et inventione (Über Flucht und Erfindung); De mutatione nominum (Über den Wandel der Namen); De Deo (Über Gott; nur auf Armenisch erhalten); fünf Bücher (davon zwei erhalten) De somniis (Über Träume). 17 In Flaccum (Gegen Flaccus); Legatio ad Gaium (Gesandtschaft an Gaius); De vita Mosis (Über das Leben Moses); Apologia pro Judaeis bzw. Hypothetica (Die Anklage der Juden; nur fragmentarisch erhalten; vgl. Euseb, Kirchengeschichte II 18,6). Die Schrift De vita contemplativa (Über das kontemplative Leben) stellt die jüdische Gemeinschaft der sogenannten Therapeuten dar. 18 Lateinischer Titel: De providentia. 19 De animalibus. 20 De aeternitate mundi. 21 Der griechische und der lateinische Titel (Quod omnis probus liber sit) wäre wörtlich zu übersetzen: »Dass ein jeder Rechtschaffene frei sei«. – Vgl. unten die Übersetzung.
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Daraus ergibt sich: Die Freiheitsschrift Philos – wie sie im Folgenden der Kürze halber und um der Sache willen genannt werden soll – stellt im Gesamtwerk Philos einen Sonderfall dar. Philos Schriften sind ansonsten ganz überwiegend der Auslegung biblischer Texte gewidmet. In seiner Auslegungspraxis kennt er durchaus auch die Frage nach dem wörtlichen Sinn von Texten, und er grenzt sich von Vertretern der Exegese ab, die ausschließlich allegorisch interpretieren.22 Doch liegt ein eindeutiger Schwerpunkt auf der allegorischen Interpretation. Diese Methode war nicht neu. Sie wurde seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria zunächst auf die epischen Erzählungen Homers angewandt, um diese in veränderter Zeit und unter veränderten Denkvoraussetzungen »zum Sprechen« zu bringen. Die Besonderheit des Verfahrens besteht darin, dass auch Stellen in der Literatur, die von Hause aus nicht übertragen oder symbolisch gemeint sind, mit einem tieferen Sinngehalt unterlegt werden. Hinter einem zunächst wörtlich gemeinten und nicht doppelbödig verfassten Text wird eine zweite Sinnwelt aufgespürt. Die Neulektüre dieses Textes gestaltet sich dann als ein komplexer Dechiffrierungsvorgang.23 Da dieses allegorische Verfahren auch in der Freiheitsschrift an einigen markanten Stellen zur Anwendung kommt24, sei hier ein zentraler Text zitiert, in dem Philos Verständnis der Allegorese zum Ausdruck kommt. Philo schreibt den jüdischen Therapeuten in der Nähe Alexandrias ein Auslegungsverfahren zu, das seinem eigenen Ansatz sehr nahe kommt: »Die Auslegungen der heiligen Schriften geschehen auf die Weise, dass die in Allegorien verborgene Bedeutung erörtert wird. Denn die gesamte Gesetzgebung gleicht nach Ansicht dieser Männer einem Lebewesen, das als Körper die wörtlichen Anordnungen hat, als Seele aber die in den Worten verborgene unsichtbare Bedeutung besitzt. Hierin besonders beginnt die vernunftbegabte Seele das 22 Vgl. De migratione Abrahami 89. 23 Vgl. De opificio mundi 2. 24 Vgl. in den Abschnitten 2, 29, 68, 153 die Rede von einer »dunklen«/»ahnenden«/»sinnbildlichen«/»symbolhaften« Andeutung.
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ihr Verwandte zu schauen. Sie erblickt durch die Worte wie durch einen Spiegel die übermäßige Schönheit der in ihnen sich zeigenden Gedanken; sie faltet die allegorischen Symbole auseinander und entfernt sie und führt die Bedeutung der Worte nackt ans Licht für die, welche nur ein wenig erinnert zu werden brauchen, um das Unsichtbare durch das Sichtbare sehen zu können.«25
Zu Datierung, Gattung und Inhalt der Schrift In der älteren Forschung wurde die Echtheit der Freiheitsschrift teilweise in Frage gestellt. Die Freiheitsschrift nimmt vergleichsweise wenig Bezug auf den für Philo sonst so wichtigen Pentateuch und auf jüdisches Leben und Denken. Diese Beobachtung hat z. B. den Kirchenvater Ambrosius (339–397 n. Chr.) dazu veranlasst, in seinem 37. Brief die alttestamentlichen Bezüge in Philos Text, den er allerdings nicht ausdrücklich auf diesen zurückführt, zu verstärken und zu vermehren. Doch besagt das Fehlen solcher Bezüge bei Philo selbst wenig in Anbetracht der Tatsache, dass Philos Bildungsbreite sowohl die jüdische als auch die griechische Kultur in bewundernswerter Weite umschließt. Der Kirchenvater Euseb setzt die Schrift in seinem Verzeichnis der Werke Philos voraus.26 Die Echtheit wird darum heute nicht mehr angezweifelt. Auch ist es kaum möglich, die Schrift wegen der fehlenden alttestamentlichen Bezüge in eine Frühphase des Schaffens Philos zu datieren, in der er mehr mit seiner philosophischen Ausbildung als mit dem Pentateuch befasst gewesen sei. Dass der biblische und jüdische Hintergrund zurücktreten, erklärt sich vielmehr aus der Wirkabsicht und der Zielgruppe des Textes. Philo wählt nicht die Form des philosophischen Dialogs, wie sie sich in der Tradition Platos nahegelegt hätte, sondern schreibt eine Monographie, d. h. eine Abhandlung zu einem bestimmten Gegenstand. Es geht um die Frage, wie der »Rechtschaffene« Freiheit erlangen kann sowie um die Kernthese, dass nur der Tugendhafte, der sich 25 De vita contemplativa 78. 26 Euseb von Caesarea, Kirchengeschichte II 18,1–8.
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von den »Leidenschaften« frei macht, wahrhaft frei sei. Die monographische Behandlung nutzt dabei Mittel der zeitgenössischen sogenannten Diatribe (vgl. unten den Abschnitt »Die philosophische Methode«). Dies hat zur Folge, dass der Text weniger streng gefasst ist. Vielmehr werden in lockerer, gesprächsähnlicher Gestalt Fragen und Antworten mit Beispielen durchgespielt; immer wieder begegnet direkte Rede. Philo schreibt im Vorwort, dass dieser monographischen Abhandlung ein »Zwillingstext« vorausging; dieser hatte die These zum Thema, »dass jeder schlechte Mensch ein Sklave sei« (»Quod omnis malus servus est«). Diese Schrift ist nicht erhalten, wird aber in der Liste der Werke Philos, die Euseb überliefert, verzeichnet.27 Man kann lediglich Vermutungen anstellen, wie sie inhaltlich aufgebaut war, wenn man von einer spiegelbildlichen Anordnung der Thesen und Beweise ausgeht.28 Über den im Eingang der Freiheitsschrift (Abschnitt 1) genannten Adressaten Theodotos ist sonst nichts bekannt. Die Gesamtanlage des Textes macht es wahrscheinlich, dass er nicht nur für einen Einzelnen, sondern für einen weiteren Leserkreis bestimmt war. In den rahmenden Abschnitten der Schrift spielt die Notwendigkeit von rechter Erkenntnis sowie von einer Erziehung und Bildung eine wichtige Rolle, die sich vom Vorfindlichen und Konventionellen löst. Die Schrift will es der Leserschaft ermöglichen, von der Grunderziehung und Grundbildung ausgehend zur wahren Philosophie voranzuschreiten. Zu einer solchen Erkenntnisbemühung und Wahrheitssuche will sie motivieren, diese anleiten, fördern und unterstützen. Darin wird eine erzieherische Absicht erkennbar. Man könnte sich den Text im griechischen Schulbetrieb Alexandrias vorstellen, in der Ausbildung von Jugendlichen (Epheben), die gemahnt, hingeführt und »gebildet« werden sollen (vgl. Abschnitt 15). Philo zeigt in der Schrift, wie auch sonst, ein besonderes Interesse und Verständnis für das jugendliche Lebensalter.
27 Euseb von Caesarea, Kirchengeschichte II 18,6. 28 Anspielungen auf diese nicht erhaltene erste Schrift lassen sich erkennen bzw. vermuten in den Abschnitten 21, 38, 45, 51 ff., 156, 158–159.
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Die Unterrichtsgegenstände sind nahezu durchgängig griechisch bestimmt. Wie stark Philo sich auf die griechische Erinnerungs- und Bildungstradition konzentriert, zeigen die in der Schrift angeführten Namen, Zitate und geschichtlichen Beispiele. Die Schrift enthält nur wenige Bezüge zu Mose bzw. zur Tora.29 Es ist aber aussagekräftig, dass die Stimme Zenos von Kition, des Schulbegründers der Stoa (ca. 333/2–262 v. Chr.), der in seiner Lebenspraxis und Lehre als unbedingt vorbildlich gilt (Abschnitte 53, 57, 97), nahezu gleiches Gewicht erhält. Zenos Lehre steht für Philo inhaltlich den Aussagen der Tora besonders nahe (vgl. Abschnitt 57); auf Zeno führt er auch die zentrale These zurück, die Zielpunkt der Schrift ist: »Leben gemäß der Natur« (Abschnitt 160). Auch sonst mischen sich philosophische Stimmen in die Freiheitsschrift. Zu Beginn wird an die philosophische Gemeinschaft der Pythagoreer erinnert (Abschnitt 2). In Abschnitt 13 wird aus Platos Phaidros zitiert. Sodann werden der Sokratiker Antisthenes (Abschnitt 28), die Sieben Weisen (Abschnitt 73), einer der Sieben Weisen, nämlich Bias von Priene (Abschnitt 153), Zeno von Elea (Abschnitt 106), Anaxarchus von Abdera (Philosoph und Begleiter Alexanders des Großen; Abschnitte 106–109), der Kyniker Diogenes von Sinope (Abschnitte 121–124) sowie Theodorus von Kyrene (Abschnitte 127–129) angeführt. Über den Bereich der Philosophie hinaus begegnen Lykurg und Solon als die vorbildlichen Gesetzgeber der Antike (Abschnitt 47).30 Viele weitere Beispiele entstammen der griechischen Mythologie und Geschichte (vgl. u. a. die Abschnitte 99, 101–119, 130, 132). In Abschnitt 98 beruft sich Philo an einer zentralen Stelle nicht auf Texte des Pentateuch, sondern auf Dichter und Schriftsteller als 29 Alle entsprechenden Belege bzw. Anspielungen finden sich im ersten Teil der Schrift. Vgl. zu Abschnitt 29: Ex 17,12 (siehe auch Philo, Legum allegoriae III 45); zu Abschnitt 43: Ex 7,1; zu Abschnitt 57: Gen 27,40; zu Abschnitt 68: Dtn 30,11–14; siehe auch in Abschnitt 69 die Rede von den »Ganzfrüchten«, die auf Mose – nur hier namentlich im Text genannt – zurückgeführt wird (vgl. Lev 16,4; Num 15,3 u. a.). 30 Der Name des Königssohnes Lykurg ist mit der Verfassung Spartas verbunden; insbesondere soll er die Teilung der Gewalten von Königtum, Ältestenrat und Volksversammlung eingeführt haben. Solon gilt als Begründer der attischen Demokratie und wurde in der Antike unter die Sieben Weisen gerechnet.
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»Zeugen für die Freiheit der Rechtschaffenen«, »nach deren Einsichten Griechen ebenso wie Nichtgriechen beinahe von ihrem Windelalter an erzogen« und durch die »ihr Charakter gebessert« werde, »weil sie alles, was auf Grund von Verfehlung in der Erziehung und Lebensweise in ihren Seelen verfälscht wurde, in die geprüfte Währung umprägen«. Nach Abschnitt 143 sind insbesondere die Dichter »wirklich Erzieher während unseres gesamten Lebens. Wie Eltern ihre Kinder im Privatleben zur Vernunft bringen, so tun es diese im öffentlichen Leben mit den Staaten.« Den Dichtern wird in der Freiheitsschrift ein erzieherischer und die Wahrheit erschließender Wert beigemessen, der sie faktisch Mose an die Seite stellt. Hier ist einer der Punkte, an denen sich das große, aber auch spannungsreiche Programm des hellenistischen Diasporajudentums gewissermaßen in Reinform studieren lässt.31 Neben Homer kommt in der Freiheitsschrift besonders Worten des Euripides eine zentrale Rolle zu (vgl. Abschnitte 22, 25, 99, 101, 103, 116, 141, 152). Philos Text ist hier auch insofern von besonderem Wert, als Worte aus verschollenen Stücken des Euripides vielfach nur in ihm bewahrt sind. Die beiden älteren Tragiker Aischylus (Abschnitt 143) und Sophokles (Abschnitt 19) werden ebenso herangezogen wie der Elegiker Theognis von Megara (Abschnitt 155) und Ion von Chios (Abschnitt 134). Für einen hellenistischen Philosophen gehört es sich sodann, dass sich der Blick über die eigene Kultur- und Bildungswelt hinaus weitet. Unter den vorbildlich freiheitsliebenden Gruppen nennt Philo zunächst die persischen »Magier«32 sowie die indischen »Gymnosophisten« (Abschnitt 74). Episodisch herausgestellt wird die Begegnung Alexanders des Großen mit dem Gymnosophisten Kalanos, der sich am Ende auf dem Scheiterhaufen selbst verbrannte. Dieser wird zum leuchtenden Beispiel dafür, dass jeder, der etwas auf 31 Auf dem Boden des hellenistischen Diasporajudentums entstehen – in Gestalt der Briefe des Apostels Paulus – auch die Anfänge einer sich begrifflich ordnenden christlichen Theologie. Daher überrascht es nicht, dass Philos Werke einen reichen Schatz für das Verständnis der frühchristlichen Schriften darstellen. 32 Dazu auch Philo, De specialibus legibus III 100.
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Anordnung gegen sein eigenes Wissen und Wollen täte, seine eigene Freiheit aufgeben würde.33 An all diesen Stellen hätte Philo, wie sein breites sonstiges Schrifttum zeigt, ohne weiteres auch Beispiele aus der biblischen Tradition heranziehen können. Er tut es offenbar ganz bewusst nicht. Neben die wenigen Bezüge zum Pentateuch tritt in der Freiheitsschrift aus der jüdischen Tradition nur der Abschnitt über die Gruppe der Essener (75–91)34. Sie werden in die Nähe von antiken philosophischen Gemeinschaften gerückt und von Philo nicht ohne Stolz als »wahre Freie« vergleichsweise ausführlich dargestellt. Nur bei dieser Gruppe werden jüdische Frömmigkeits- und Identitätsmerkmale genauer betrachtet. Die Essener führen ein frommes, gottgefälliges Leben in Orientierung an den väterlichen Gesetzen. Diese Gesetze gelten als inspiriert. Im Abschnitt über die Essener findet sich auch die einzige Stelle in der Abhandlung, an der Philo auf den Sabbat35 als entscheidendes Identitäts- und Abgrenzungsmerkmal des Judentums im Kontext der Mehrheitsgesellschaft zu sprechen kommt (81–82). Die
33 Abschnitte 92–96; zu den Gymnosophisten und dem berühmten Kalanos auch Philo, De Abrahamo 182; Strabo, Geographika XV 1,68; Cicero, Tusculane Disputationes II 52. 34 Der von Philo gebrauchte griechische Begriff wäre besser mit »Essäer« zu übersetzen. Doch wird hier die Wiedergabe mit dem von Josephus gewählten Begriff »Essener« bevorzugt, da er in der Forschung sowie in der allgemeinen Diskussion üblicherweise verwendet wird. In Darstellungen der Geschichte des frühen Judentums nehmen die Essener einen prominenten Platz ein. Sie sind ein zentrales Beispiel dafür, dass das antike Judentum sehr vielfältig gewesen ist. Von den Essenern berichtet nicht nur Philo in der Freiheitsschrift (vgl. auch De vita contemplativa I), sondern auch Josephus in seiner Darstellung der drei philosophischen »Schulrichtungen« des antiken Judentums (Jüdischer Krieg II 119–166). Beide Berichte berühren sich, z. B. darin, dass die Essener auf Reinheit und Heiligkeit besonders achten und Reichtum verabscheuen bzw. Gütergemeinschaft pflegen. Beide Berichte sind von den Positionen ihrer Verfasser beeinflusst, haben aber übereinstimmend die Tendenz, eine jüdische Bewegung für Nichtjuden verständlich und interessant zu machen. 35 Vgl. Gen 2,3; Ex 20,8–11; 31,12–17.
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Beschneidung wird dagegen nirgends erwähnt.36 Ferner verlautet in Abschnitt 86 nichts über die Beachtung der jüdischen Speisegebote bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Philo stellt so die Gemeinschaft der Essener als anschlussfähig und attraktiv für nichtjüdische Leserinnen und Leser dar. Die Essener erscheinen bei Philo als Experten der Philosophie. Folgt man der konventionellen Einteilung der antiken Philosophie in Logik, Physik (Naturkunde) und Ethik, interessieren sich die Essener nach Philos eigenwilliger Darstellung wenig für Logik und Physik. Allein die Religionsphilosophie, d. h. die erst später so genannte »Metaphysik« als das, was »nach der Physik« folgt, ist für sie laut Philo auf diesem Fachgebiet von Bedeutung. Ansonsten sind sie in Lehre und Leben vor allem im Bereich der Ethik engagiert. Sie leben das antike Ideal wahrer Brüderlichkeit und Freundschaft.37 Sie verwirklichen in vorbildlicher Weise das stoische Paradox (siehe unten) einer seelisch-innerlichen Freiheit, die von weltlichem Besitz, Habgier und weiteren Feldern der Abhängigkeit von den »Leidenschaften« Abstand wahrt. Und sie setzen – was in Philos Freiheitsschrift sonst wenig Beachtung findet – das Ideal der Freiheit auch in ihrem sozialen Zusammenleben um. Neben wenigen Ansatzpunkten, die Philo hier aus der griechischen Erzählwelt anführt38, sind die Essener die einzigen, von denen es ausdrücklich heißt, dass sie Sklaven nicht nur gut behandeln, sondern auf Sklaven überhaupt verzichten.
36 Vgl. dagegen Philos apologetische Verteidigung der Beschneidung in De specialibus legibus I 1–11. 37 Die Essener erfüllen das in der antiken Freundschaftsethik programmatische Postulat: »Allen ist alles gemeinsam« (vgl. Apg 2,44; 4,32). Den Idealen der antiken Freundschaftsethik kommt auch sonst in den Schriften Philos hohe Bedeutung zu. Freundschaft ist für ihn höchstes Gut (De virtutibus 109). Philo kann die Vorstellung der Freundschaft auch auf das Gottesverhältnis der Menschen anwenden (vgl. De Abrahamo 235; De vita Mosis I 155–156). Nur die wahre Gottesbeziehung kann echte Freundschaft begründen (vgl. De virtutibus 179 u. ö.). 38 Vgl. Abschnitt 142 zur Besatzung des mythischen Schiffes Argo, das laut Philo keine Sklaven an Bord hat.
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Thema der Schrift, Aufbau und Gefälle der Argumentation Die Struktur von Quod omnis probus liber sit ist nicht leicht zu bestimmen. Verschiedene Gliederungsmodelle kommen in Betracht, doch lässt sich keines konsequent durchführen. Innerhalb eines Rahmens, der die Erkenntnisvoraussetzungen thematisiert und auf die sorgfältige Erziehung und Bildung als notwendige Voraussetzungen der Philosophie abhebt, durchläuft die Schrift verschiedene Problemkreise und Argumentationsgänge. Zur Erleichterung der Lektüre des übersetzten Textes soll das Gefälle der Freiheitsschrift in ihrer inneren Logik hier in groben Konturen vorgestellt werden: Die Abschnitte 1–15 haben den Charakter einer einführenden Vorrede, eines Proömiums. In ihm geht es um die Eröffnung des Themas. Zugleich wird eine bestimmte Lesehaltung gefordert, die unmittelbar mit Philos philosophischen Voraussetzungen zusammenhängt (siehe unten). »Wahrscheinlichkeitsargumente« werden von »Wahrheitsargumenten« unterschieden – man könnte sagen: In der Philosophie geht es darum, Entdeckungs- und Begründungszusammenhänge unterscheiden zu können. Vom vordergründig und nur sinnlich Wahrnehmbaren, von den vorhandenen Gegebenheiten und sozialen Strukturen her, führt kein einfacher Weg zur Antwort auf die Frage nach der Freiheit. Vielmehr sind nach Philo neue Wege zu beschreiten, wie er im Anschluss an die Pythagoreer fordert (Abschnitte 2–3). In Abschnitt 5 gibt es deutliche Anklänge an das Höhlengleichnis Platos, das Philo verschiedentlich in seinen Schriften verwendet.39 Metaphorisch geht es in der Freiheitsfrage um ein Erkennen des »Lichtes«. Es geht damit zugleich um eine Grenzziehung gegenüber solchen Menschen, die im »Dunkeln« verharren. Die zeitgenössische Philosophie nutzt gern Bilder aus der Medizin. Menschen, deren Einsichtsvermögen unzureichend ist, können als krank gelten (Abschnitt 12). Die Gegenmedizin gegen solche Krankheit hält die Philosophie bereit. Sie ist die einzig wahre Medizin, weil sie nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen der 39 Vgl. De ebrietate 167–168.
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Menschen zu heilen vermag. Unterschieden werden also zu Beginn Wissende/Erkennende, d. h. Gesunde, von Unwissenden/Nicht-Erkennenden, d. h. Kranken. Diese Unterscheidung ist die Voraussetzung dafür, dass es in der Philosophie ganz widersprüchliche Sätze geben kann, sogenannte »Paradoxa«. Was für die einen, die Wissenden und Erkennenden, logisch und unmittelbar einsichtig ist, muss für die anderen, die Unwissenden und im Dunkeln Verharrenden, geradezu mit Notwendigkeit absurd erscheinen. An diesem Punkt zeigt sich erstmals deutlich der stoische Charakter der Schrift. Philo spielt hier nämlich paradoxe Sätze durch, die er der stoischen Tradition verdankt (siehe dazu weiter unten). So gelten gerade diejenigen, die nicht in der Bürgerliste eines Staates verzeichnet sind und folglich nicht die freien Bürgerrechte dieses Staates haben, dem Philosophen als »frei«. Und völlig arme und besitzlose Menschen gelten den Wissenden als die wahrhaft »Reichen«. Auch diejenigen, die nicht der Oberschicht angehören, sondern in ihren Familien seit Generationen als Sklaven leben, können in Wahrheit als Freie gelten (Abschnitt 6–10). Diese »Paradoxien« erschüttern zunächst die gewohnten Meinungen und Erwartungen, um die Dinge nun neu zusammensetzen zu können. Die Abschnitte 16–31 dienen vor diesem Hintergrund der weiteren Schärfung und Präzisierung der Begriffe bzw. des Untersuchungsgegenstandes insgesamt. Philo greift hierin die Unterscheidung zwischen einer äußeren und inneren Freiheit auf. Die Untersuchung richtet sich näherhin auf das stoische Thema der Freiheit der »Seele« von den »Leidenschaften«, den Affekten. Diese Unterscheidung erlaubt es Philo, Freiheit als Selbstbestimmung im Handeln zu verstehen. Freiheit bedeutet Autopragia (selbstständiges, unabhängiges Handeln)40 bzw. ein »Sich-Selbst-Befehlen« (Abschnitt 22) oder ein Von-niemandem-gezwungen-Werden (Abschnitt 30). Die Autopragia kommt dadurch zustande, dass der Gebildete den Leidenschaften überlegen ist, die die Menschen sonst in alle möglichen Richtungen drängen und ziehen (vgl. Abschnitt 21). 40 Vgl. Philo, De Josepho 66; zur Sache: Philo, De somniis I 124; Diogenes Laertius VII 121.
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Die Frage von »frei« und »unfrei« verlagert sich damit in das Feld innerer Werturteile und Einstellungen (Abschnitte 24, 27). Dies entspricht im Kern stoischer Lehrmeinung (siehe unten). Zugleich ist damit für Philo jedoch auch das Göttliche im Blick, das den Wert ewiger Ordnung und Glückseligkeit besitzt (Abschnitt 24). Vorausgesetzt ist, dass Tugendhaftigkeit für das Glück, die Eudaimonia, allein ausreichend ist. Dieser Abschnitt der Schrift deutet nicht zuletzt mit dem Euripides-Zitat41 bereits einen ganz wesentlichen Aspekt der Freiheitskonzeption Philos an, wie er in der weiteren Schrift immer wieder bestimmend wird: Freiheit besteht nicht nur in einer veränderten inneren Einstellung oder in einer anderen Denkweise. Sie bedeutet nicht allein, dass der Einzelne innere Distanz gegenüber dem Erleiden und ganz besonders gegenüber der Furcht vor dem Tod gewinnt. Vielmehr äußert sie sich lautstark verbal – in freimütiger Rede mit »jugendlicher« Kraft –, und sie operiert mutig, entscheidungsfreudig, ja bisweilen sogar frech und dreist. In den Abschnitten 32–40 folgen Beispiele und Bilder zur Untermauerung der These, dass allein derjenige wahrhaft frei ist, der sich in seiner Seelenkraft auf das Gute ausrichtet, während äußere Abhängigkeiten und Sklavendienste dieser echten Freiheit keinen Abbruch tun. Zugleich klingt ein für den Fortgang der Schrift wesentliches Grundprinzip an: Die wahre Freiheit wurzelt in einem Gesetz der Natur (vgl. Abschnitt 37). Auch hier geht Philo von einer stoischen Anschauung aus. Dass dieses freiheitsstiftende Naturgesetz von einem personalen Schöpfer gesetzt ist, nämlich von dem Gott Israels, der seinem Volk am Sinai die Tora als Ausdruck der Vernunft übergab, führt Philo in anderen Schriften aus.42 Der Schöpfer, wie er in den Erzählungen des Pentateuch begegnet, hat die Welt in ihrer gesamten Wirklichkeit geschaffen. Sein Handeln liegt damit allen natürlichen und geschichtlichen Zusammenhängen voraus. Man findet sich im Bereich des Denkens und des Handelns gewissermaßen immer schon in dem vor, was 41 Abschnitt 25; es stammt wahrscheinlich aus dem verlorenen Stück Syleus. 42 Vgl. De vita Mosis II 12–14; De opificio mundi 3; De Abrahamo 61; De specialibus legibus I 155.
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der Gott Israels uranfänglich getan und bewirkt hat. Wenn man sich an dem orientiert, was er geschaffen hat, stößt man damit zugleich auf eine Vernünftigkeit, an der man sein Leben ausrichten kann und soll. In Abschnitt 41 fällt erstmals derjenige griechische Begriff, der auch im Titel der Schrift verwendet wird: Es geht nun um die Freiheit des »Rechtschaffenen« bzw. »Tüchtigen« oder »Tugendhaften«. Dass Philo die Schrift nicht mit diesem Begriff begonnen, sondern zunächst den Begriff des »Gebildeten« gewählt hat, hängt mit der erzieherisch-anleitenden Absicht des Textes zusammen. Die Freiheitsschrift belässt es im Unterschied zu stoischen Schulpositionen nicht bei der plakativen Gegenüberstellung von Weisen und Unverständigen. Sie zielt vielmehr auf den allmählichen Fortschritt von der Unmündigkeit hin zu Klugheit, Bildung und Weisheit. Auch in diesem wichtigen Zwischenschritt verweist Philo auf den »Gesetzgeber der Juden«. Die Frage nach Freiheit und Glück ist für Philo nicht zu beantworten, ohne auf die Gottesbeziehung zu achten. Gott selbst bleibt es vorbehalten, König und Gott über Götter zu sein (Abschnitt 43). Hier ist das jüdische monotheistische Grundprinzip unverkennbar gewahrt. In einem weiteren wichtigen Schritt kommt Philo nun auf den in der griechischen Philosophie zentralen und unauflösbaren Zusammenhang von Freiheit und Gesetz zu sprechen. Auch wenn Freiheit ungehindertes Handeln bedeutet, welches sich von anderen keine Befehle auferlegen lässt,43 so ist dieses Freiheitsverständnis seit der klassischen Zeit doch nie ohne den Aspekt der Bindung an die Polis, d. h. an die staatliche Gemeinschaft, und deren Gesetze zu verwirklichen (Abschnitt 45–47). Auch die von Philo beachtete Individualität ist immer nur denkbar als ein Einbezogensein in bestimmte Formen von Gemeinschaft und Kultur sowie in der Bindung durch Traditionen. Die Stadt, der Staat mit seinen Gesetzen, ermöglicht, verbürgt und schützt die Freiheit seiner Bürger. Zu dieser Freiheit gehört als ihr ganz wesentlicher Ausdruck die Redefreiheit der politisch mündigen Vollbürger. Die Redefreiheit bzw. Freimütigkeit der Rede ist daher seit den Anfängen der 43 Zur stoischen Durchschnittsmeinung in diesem Punkt siehe Epiktet, Dissertationes I 12,9; IV 1,1; vgl. IV 1,28; Cicero, Paradoxa Stoicorum 34 u. a.
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griechischen Staatsphilosophie immer der Prüfstein für echte und gelebte Freiheit. Die Redefreiheit wird durch das Gesetz verbürgt (vgl. Abschnitt 52) und bedeutet in der Polis, mit den anderen Freien auf Augenhöhe reden und argumentieren zu dürfen. In der hellenistisch-römischen Zeit hatte diese Redefreiheit allerdings an Bedeutung verloren. Insbesondere in der römischen Kaiserzeit waren die politischen Einflussmöglichkeiten der Bürger einzelner Städte stark beschnitten. Folglich wurde gerade in der Philosophie versucht, die bürgerlichen Freiheiten neu zu bestimmen. Sie verlagerten sich stärker in das Innere der einzelnen Menschen, um sie von den Wirrnissen der Zeit unabhängiger zu machen. So wird in der Stoa die sogenannte »aufrechte Vernunft« des Menschen zum eigentlichen Ort der Freiheit. Sie übernimmt gewissermaßen die Funktion der Polis, und an sie sind nun auch die Gesetze geknüpft. Dies setzt Philo voraus, wenn er hier die »aufrechte Vernunft« der Stoa als »Quelle« aller anderen Gesetze begreift.44 Die Unterscheidungsgrenze in der Redefreiheit verläuft nun nicht mehr zwischen Vollbürger und Nichtbürger bzw. Fremdling und Beisassen, sondern zwischen »Guten« und »Schlechten«. Darum hat – mit einem Wort des Zeno von Kition – der schlechte Mensch keine Redefreiheit gegenüber dem Rechtschaffenen (Abschnitt 53). Mit Abschnitt 58 ist ein vorläufiger Abschluss eines ersten Spannungsbogens der Abhandlung erreicht. Philo setzt hier selbst eine deutliche Zäsur. Die Gliederung der weiteren Schrift fällt dagegen schwerer. Ab Abschnitt 59 vollzieht sich die Darlegung in verschiedenen Schleifen, Vertiefungsschritten, Argumentationsgängen und exemplarischen Beweisen. Eingefügt sind jeweils zahlreiche Beispiele. Es ist wieder ein medizinisches Bild, welches das Verfahren verdeutlicht: Der Philosoph verfährt hier wie die Ärzte, die vielfältige Krankheiten mit vielfältigen Therapien behandeln müssen. Was folgt, ist eine Mixtur
44 Abschnitte 47, 62, 97; die stoische Formel von der »aufrechten Vernunft« findet sich häufig bei Philo (vgl. De opificio mundi 143; Legum allego riae I 36 u. ö.); zur Sache vgl. auch Philo, De migratione Abrahami 130; De Josepho 29; De praemiis et poenis 55; auch Cicero, De legibus I 18.
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von philosophischen Medikamenten, die in der Summe zusammenwirken und am Ende Fortschritt bzw. Besserung bringen sollen.45 Die Abschnitte 59–61 greifen zunächst die zentrale These noch einmal auf. Dabei ändert sich nicht die These, sondern das philosophische Instrumentarium ihrer Bearbeitung. Einsatzpunkt sind nun nicht mehr die »Paradoxien« zwischen äußerlichen und innerlichen Freiheits- oder Unfreiheitszuständen. Vielmehr geht es um eine logische Begründung der Freiheit des Weisen. Es handelt sich um eines der wenigen Stücke in der Freiheitsschrift, in denen Figuren aristotelischer Logik wiedererkannt werden können. Dabei spielen Syllogismen, logische Kettenschlüsse, die von allgemeinen Axiomen über Zwischenschritte auf den besonderen Fall abzielen, eine wichtige Rolle. Vorausgesetzt ist auch hier die Grundannahme, dass »gutes« Handeln und vernünftiges, kluges und besonnenes Agieren quasi identisch seien. Wer an der Vernunft, dem Logos, partizipiert, kann nicht anders als »gut« handeln. In Abschnitt 62–72 schließt ein in der antik-philosophischen Literatur konventionelles Thema, ein sogenannter »Topos«, unmittelbar an die nochmalige logische Begründung der Grundthese an: Man könne und dürfe diese These nicht mit empirischen Einwänden entkräften, weil die Zahl der Guten, der Weisen immer gering sei. Zudem mieden solche hervorragende Gestalten die Menge der Menschen, würden folglich gar nicht sichtbar. Auf die Suche nach den wenigen Weisen und den durch sie repräsentierten Tugenden (Abschnitt 67, 69) müssten sich die intensiven Bemühungen der Menschen richten. Doch stattdessen verfehlten diese ihre Bestimmung durch Trägheit, Sorglosigkeit, Habgier, Ruhmsucht und Befriedigung ihrer sinnlichen Lüste. Dabei lägen Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit so nahe, wie Philo unter Bezug auf Dtn 33,11–12 festhält (Abschnitt 68). Diesem »Beweis vom Negativen her« steht ab Abschnitt 73 ein positiver Beweisgang gegenüber: Beispiele für Gruppen von wahr-
45 Abschnitt 58; vgl. auch das Bild der »Malaria« in Abschnitt 76: Eine Krankheit, die aus todbringender Luft hervorgeht, steht bildlich für die Zeitgenossen, von denen sich die Essener fernhalten.
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haft Freien46 und einzelne Protagonisten der Freiheit werden vorgestellt. All diese Gestalten versinnbildlichen das Wort des Zeno von Kition, dass man eher einen mit Luft gefüllten Schlauch unter Wasser drücken könne, als einen Rechtschaffenen dazu zwingen, etwas unfreiwillig zu tun (Abschnitt 97). Ab Abschnitt 98 schließen sich Beispiele aus der Literatur, Geschichte und Mythologie als Beweise an. Für manche Philo-Ausleger beginnt hier der dritte Hauptteil der Schrift. Doch gilt, was oben bereits gesagt wurde: Eine deutliche Zäsur, die dies nahelegte, bietet Philos Text nicht. Zunächst wird der Sonderfall der Heroen behandelt, d. h. derjenigen mythischen Gestalten, die aus der Verbindung von Göttern und Menschen hervorgingen und daher besondere Fähigkeiten besaßen. Abschnitt 99 schlägt mit dem Euripides-Zitat eines Wortes des Herakles den Bogen zurück zu Abschnitt 25. Damit kehrt ein Aspekt in die Darstellung zurück, der Philo sehr wichtig ist und der die Schrift bis zu ihrem Ende bestimmt: Freiheit bedeutet nicht Passivität der inneren Seelenruhe, sondern die kräftige Widerständigkeit des Rechtschaffenen gegenüber anderen. Freisein heißt: eine unbeugsame Seele zu haben und sie nicht zu verlieren; Freiheit bedeutet Wagemut. Auch für dieses Thema hätte Philo biblische Beispiele anführen können. Sein Held ist hier jedoch Herakles. Zugleich räumt Philo ein, dass die Heroen als Halbgötter nur bedingt für einen allgemeinen Beweis tauglich seien (Abschnitt 105), und schließt darum das Beispiel des Anaxarchus und des Zeno aus Elea an (Abschnitte 106–109). Das Thema der Unbeugsamkeit wird mit dem klassischen Testfall der Bereitschaft des »Sterbens für die Freiheit« fortgeführt (Abschnitte 110–119). Philo listet drastische Beispiele männlicher und weiblicher Todesbereitschaft auf; auch hier unterscheidet er Einzelne und Gruppen. Dabei wird auch die Selbsttötung bzw. die Tötung der eigenen Kinder im extremen Fall als vorbildhaft dargestellt, wenn sie die einzige Möglichkeit zur Wahrung der Freiheit ist (Abschnitt 114: der lakonische Junge; Abschnitt 115: die dardanischen Frauen; Abschnitt 116: die Polyxene des Euripides; Abschnitte 118–119: die Xanthier). 46 Zum ausführlichen Teil über die Essener in Abschnitt 75–91 siehe oben.
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Ab Abschnitt 120 stellt Philo denen, die für die Freiheit ihr Leben ließen, diejenigen gegenüber, die die Freiheit in ihrem Leben »philosophisch« zu bewähren suchten. Gegenstand sind Menschen mit »Seelen«, die königlicher Herkunft sind. Auch das ist eine typische stoische Figur: Herr schaftsattribute, die nur wenigen zustanden, werden quasi demokratisiert. Die Philosophie erlaubt es jedem (oder doch wenigstens den Weisen), wie »Könige« zu werden. Nochmals wird an Herakles erinnert (Abschnitt 120). An den Fall des gefangenen und versklavten Kynikers Diogenes (Abschnitte 121–124) schließt Philo ein vor Ort in Alexandria bekanntes Beispiel an: Die Geschichte von Chaireas (Abschnitt 125). Auch hier wird kein positiver Modellfall der biblisch-jüdischen Tradition bemüht, sondern vielmehr ein gewisser Theodoros, der den Beinamen der »Gottlose« trägt (Abschnitte 127–130). Bemerkenswert ist sodann ein Beispiel aus der Tierwelt. Vertritt Philo an anderer Stelle die Meinung, dass Tiere nicht in der Weise wie Menschen an der Vernunft teilhaben, so geht es ihm hier gerade um das »Animalische« (Abschnitte 131–135): Die Hähne stehen für unbeugsamen Mut und Aggressivität bis zum Tod. Philo setzt voraus, dass hiermit Soldaten zur animalischen Kampfbereitschaft motiviert werden können. Die Abschnitte 136–143 scheinen einen gewissen Bruch in der Argumentation zu bedeuten. In diesem Teil spielt die paradoxe Neudefinition einer inneren Freiheit trotz äußerer Zwänge und Sklaverei, mit der die Schrift einsetzte, scheinbar keine Rolle mehr. Dagegen werden die Freiheit als schönstes Gut und die Hässlichkeit der faktischen Sklaverei als ihr Kontrastbild gegenübergestellt. Doch hat Philo seine Eingangsdefinitionen keineswegs vergessen (vgl. Abschnitt 136). Im Übrigen ist das Freiheitspathos, das diesen Abschnitt bestimmt (vgl. die Ovationen im Theater in Abschnitt 141), vorrangig unter einem rhetorischen Aspekt zu verstehen. In einer Rede hätte dieser Teil die Funktion, die Alternativen, wie sie bisher dargelegt wurden, noch einmal als solche deutlich erkennbar einzuschärfen. Ziel ist es, die Leserschaft unter allen Umständen für die Freiheit zu gewinnen, nämlich für diejenige philosophische Freiheit, wie Philo sie vor Augen stellt. Durch Kritik von außen und 28
Widerstände soll man sich dabei nicht aus der Bahn bringen lassen (Abschnitte 144–147). In den Abschnitten 148–157 wird in einer letzten Schleife ein weiteres Teilthema behandelt. Es ist gewissermaßen ein letzter Prüfstein, auf den das in der Schrift so weit Behandelte nun noch einmal Anwendung finden kann. Es geht um zwei soziale bzw. religiöse Institutionen, von denen Sklaven in der Antike Gebrauch machen konnten bzw. die sie betrafen: Zum einen geht Philo auf das Asyl ein, zum anderen auf die Freilassung von Sklaven. Philos Stellungnahme kann nicht überraschen: Auch im Fall dieser beiden Möglichkeiten entscheidet allein die innere Würde der Seele; in ihr liegt der wahre und königliche Freiheitsort begründet, nicht in den äußeren Asylorten. Die Prüfung ihres inneren Anwalts, ihres Gewissens, kann auch Sklaveneigentümer als faktische Sklaven ausweisen. Und auch die Freilassung bewahrt Sklaven nicht davor, sogleich von den Leidenschaften versklavt zu werden. Die innere Unfreiheit erscheint gravierender als die Möglichkeit der tatsächlichen rechtlichen, sozialen, politischen und ökonomischen Freiheit. Die philosophische Freiheitskonzeption Philos hat hier, vom neuzeitlichen Standpunkt aus betrachtet, eine deutliche Schwachstelle. Die sonst von Philo stark betonte, nicht zuletzt in stoischem Denken wurzelnde These von der Gleichheit der Menschen als Geschöpfe47 schlägt am Ende nicht durch auf die Frage, wie es um die faktische Lebenssituation der Sklaven steht, die die antike Wirtschaft in ihrer Gesamtheit tragen. Freiheit ist insofern zunächst die Behauptung des »Schönen und Guten«, welches in nicht unbeträchtlicher Weise in Spannung zur sozialen Realität verbleibt. Man sieht hier Philo bei allem Eintreten für eine menschliche Behandlung der Sklaven und trotz seiner Neudefinitionen, die auch Sklaven als »Freie« erscheinen lassen, als einen Angehörigen der Oberschicht Alexandrias, der natürlich selbst Sklaven besitzt. Man darf seine Position allerdings nicht beckmesserisch verurteilen und muss sie im zeitgeschichtlichen Kontext bewerten. 47 Vgl. Abschnitt 145 mit einem Tragiker-Zitat: »Die ganze Erde ist mein Vaterland«; vgl. ferner die Freiheit der Rede und die Vorbildlichkeit der Gemeinschaft der Essener, die auf Sklaven verzichtet.
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Die Abschnitte 158–160 tragen deutlichen Abschlusscharakter. Noch einmal wird als »hohle Meinung« angesprochen, was die Mehrzahl der Zeitgenossen glaubt, nämlich dass Freiheit mit äußerer Dienst- und Bindungslosigkeit gleichzusetzen sei. Dagegen entscheiden sich Frei- und Unfreisein auf dem Feld der Praxis des Guten. In der Summe wird dies noch einmal in der Gegenüberstellung der vier klassischen Kardinaltugenden und Kardinallaster vor Augen gestellt.48 Der letzte Absatz kommt auf die pädagogisch bestimmte Ausgangssituation zurück, der die ganze Schrift zuzuordnen ist: »Seelen« wollen von Beginn an umsorgt werden. Dabei ergibt sich eine Stufenleiter von den Anfängen der gymnasialen Ausbildungsfächer, die auf die festere Kost der Philosophie vorbereiten, hin zu dem Ziel, das in einem tugendhaften Leben besteht, welches an der Natur Maß nimmt (siehe unten). Am Ende der Schrift kann man nochmals den für Philo in anderen Schriften so wichtigen Punkt angedeutet finden: Die Lehre der Philosophie, hier das Wort des Begründers der Schule der Stoa, steht im Einklang mit dem Wort des Schöpfergottes. Das göttliche Wort bietet die Erst- und Letztbegründung der natürlichen Ordnung, an der sich das Leben des wahrhaft Freien auszurichten hat (vgl. Abschnitt 62). Nach Abschnitt 20 ist derjenige frei und Herrscher über die anderen, der sich Gott als seinen Anführer nimmt.
Die philosophische Methode Die Frage, ob man Philo als einen »echten Philosophen« ansprechen darf, der seinen Ort in Darstellungen der antiken Philosophiegeschichte finden kann, hängt vom Verständnis dessen ab, was Philosophie eigentlich sei. Philos Positionen lassen sich nicht einfach den Lehrmeinungen der antiken Schulphilosophie zuordnen, die ihrerseits nur spätere Abstraktionen oft höchst individueller Denkleistungen darstellen.
48 Abschnitt 159; vgl. die grundlegenden »Leidenschaften« in De decalogo 142– 145.
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Die großen Schulen des Plato – die »Akademie« –, des Aristoteles – der »Peripatos« – sowie die in die Breite der antiken Gesellschaft wirkende Schule der Stoa hatten zur Zeit Philos bereits eine lange Geschichte durchlaufen. In hellenistisch-römischer Zeit stellten sich verbindende Fragen und Themen in der Philosophie ein. Die politischen Veränderungen infolge der Feldzüge Alexanders führten einerseits dazu, dass sich das philosophische Denken stärker auf die Geschicke der Menschheit als ganze richten konnte; die Frage galt mehr und mehr dem verbindenden Humanum. In der Theologie bzw. Religionsphilosophie bewirkte dieser Trend zur Universalisierung, dass nach einer verbindenden »Spitze« im Götterpantheon gefragt wurde. Man spricht von einem henotheistischen, d. h. auf die Frage nach einem Gott aller Menschen bzw. der Welt gerichteten, Zug der Zeit. Andererseits hatten die in rascher Folge erlebten militärischen und politischen Umbrüche zur Folge, dass sich die Philosophie stärker auf das je Eigene und Unveränderliche am Menschen konzentrierte, welches durch äußere Geschehnisse nicht zu bedrohen und zu verdunkeln ist. Die Philosophie suchte nach Strategien zur Abschottung des Einzelnen gegenüber dem schicksalhaft bestimmten Weltgeschehen. Für die griechische Freiheitsthematik waren solche Umbrüche besonders folgenreich. Sie begann sich aus der konkreten Staatsphilosophie zu lösen, wurde ihrerseits universalisiert – d. h. auf die Menschheit insgesamt bezogen –, umgekehrt aber auch individualisiert und damit verinnerlicht. Dies lässt sich an den Schulrichtungen in verschiedener Weise ablesen. Die genaue Einordnung einer Gestalt wie Philo ist allerdings schwierig. Deutlich ist, dass Philo sich auf die jüngste der großen griechischen Philosophenschulen bezieht: die Stoa. Er überblickt eine bereits ca. 300 Jahre währende Geschichte dieser Schule. Viele Fragmente der Stoiker sind überhaupt nur erhalten, weil Philo sie zitiert hat. Es fehlen jedoch oft Bindeglieder zwischen den stoischen Fragmenten. Die Entwicklungen der Schule des Aristoteles in hellenistisch-römischer Zeit sind nur schwer überschaubar. Wenn Philo schließlich häufig dem sogenannten »Mittelplatonismus« zugeordnet wird, so handelt es sich um eine sehr schwer abgrenzbare Beschreibungskategorie. 31
Philo hat in keinem Fall nur Schulmeinungen aufgegriffen. Vielmehr wird man ihm nur gerecht, wenn man seine Schriften als höchst originellen eigenen Beitrag zur Geschichte des antiken philosophischen Denkens würdigt. Dabei darf der Ausgangspunkt seiner jüdischen Überzeugungen auf keinen Fall übersehen werden. So wichtig z. B. Plato und Zeno von Kition, aber auch die großen antiken Tragiker für Philo sind, so ist doch der Grundtext, von dem her er denkt und schreibt, der mit dem Namen des Mose verknüpfte Pentateuch. Ihm verdankt die Menschheit das von Gott selbst der Welt eingepflanzte Gesetz, aus dem sich alle Wirklichkeit erschließt. Im Folgenden sollen der Übersetzung der Freiheitsschrift noch einige philosophiegeschichtliche Beobachtungen vorausschickt werden. Sie behandeln drei Bereiche, nämlich 1. die Frage nach allgemeinen griechisch-philosophischen Ausgangspunkten, 2. die Frage nach dem stoischen Erbe in der Freiheitsschrift sowie 3. die Frage nach möglichen platonischen Elementen. 1. Es ist grundsätzlich Ausdruck sokratischer Tradition, auf die sich alle Schulrichtungen und Einzelgestalten der Philosophie in hellenistisch-römischer Zeit in irgendeiner Weise zurückbeziehen, wenn sich auch bei Philo die philosophische Analyse zunächst in einem genauen Beobachten vollzieht. Dieses analytische Hinschauen richtet sich auf das Vorfindliche, die »Erscheinungen«, das selbst Erlebte und Wahrgenommene, aber auch auf Beobachtungen und Wissenselemente, die bereits Teil der philosophischen Auseinandersetzung geworden sind. Grundsätzlich lässt die philosophische Beobachtung nichts aus der materiellen, animalischen, sozio-politischen und geistigen Wirklichkeit beiseite. Die Freiheitsschrift ist hier überaus reich an Beobachtungsfeldern und Beispielen. Verschiedentlich notiert Philo Naturkundliches, darunter auch Kurioses. Er geht z. B. mit Plato davon aus, dass Zikaden keine Nahrung brauchen, sondern sich von Luft ernähren (Abschnitt 8). Die Landwirtschaft bietet auch sonst in der antiken Philosophie ein reichhaltiges Beobachtungsfeld, das zahlreiche Bilder bereitstellt (vgl. Abschnitte 68–70). In der antiken griechischen und römischen Welt galt die Landwirtschaft als ehrbare, hohe Kunst, deren Ausübung Vorbildcharakter besitzt und sich von »schmutzigen« Beru32
fen unterscheidet. In einem berühmten Abschnitt aus Hesiods Lehr gedicht Werke und Tage ist die Landwirtschaft das Musterbeispiel für die Arbeit des Freien.49 Die schweißtreibende körperliche Arbeit wehrt dem Hunger und füllt die Scheunen; sie mehrt Besitz und Reichtum. Dadurch schafft sie zugleich die Voraussetzung für ein tugendhaftes Leben. Arbeit vermittelt »Ehre«, Distanz zur Arbeit bzw. Faulheit dagegen Schande. Die beschwerliche Arbeit ist die Voraussetzung für ein Gutsein der Menschen. Sie vermag ihnen nicht nur das Ansehen der Sterblichen zu erwerben, sondern sie macht sie auch für die Unsterblichen, die Götter, wertvoller. Auch auf die Schifffahrt kommt Philo zu sprechen, die ihm – bis hin zu den großen Überseeschiffen – in der Hafenstadt Alexandria täglich gegenwärtig war (vgl. Abschnitte 33, 67–68). In vielfältiger Weise ist Philo ein kritischer Beobachter des zeitgenössischen sozialen Lebens. Ihm stehen die Gastmähler in den Häusern der Reichen und Adeligen vor Augen. In den zahlreichen Luxusprodukten, die die Speisemeister, Köche und Bäcker zubereiten, entdeckt er ein weiteres Feld für die Versklavung durch sinnliche Lüste und Leidenschaften (Abschnitt 31). Das gegenseitige Verhalten der Angehörigen der Oberschicht liefert Philo ein Thema, das auch sonst vielfach in der antiken Philosophie verhandelt wird: die Ablehnung von Schmeichelei und »Schleimerei« (Abschnitt 99). Dass Philo das griechische Theater besuchte (Abschnitt 141), war für einen hellenistischen Juden möglich. Nach dem Aristeasbrief besteht eine »gewisse Belehrung« in dem, was »mit Anstand« aufgeführt wird.50 Doch wurde diese Position keineswegs im gesamten antiken Judentum geteilt, da man den griechischen Kult der Schönheit und Nacktheit scheute. Das gilt noch stärker für die sportlichen Wettkämpfe, die Philo offenbar ebenfalls besucht hat. Er berichtet vom Erleben eines Pankration, eines »Allkampfes«, in dem mit allen körperlichen Mitteln gerungen werden durfte (Abschnitte 26–77, vgl. 110 und 146). Im Hintergrund von Philos Interpretation dieses Kampfes steht ein konventionelles Bildfeld, nach dem der tugendhafte Mensch sich 49 Hesiod, Werke und Tage, 286–316. 50 Aristeasbrief 284–285.
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stets in einem sportlichen Wettkampf befindet und der Philosoph in besonderer Weise einem Athleten gleicht. Insofern geht es im Leben des Tugendhaften stets um Olivenblätter und Efeu (Abschnitt 113). Verschiedentlich werden Beobachtungen aus dem Militärwesen angeführt, und der Krieg wird zur Metapher für die Übungen des Weisen. Die unerschrockenen Leistungen der einfachen Soldaten (Abschnitte 32–33, vgl. 131–132) werden ebenso herausgestellt wie die der Offiziere (Abschnitt 139). Besonders bei der Betrachtung des »religiösen Feldes« fällt auf, wie sehr Philo hier vor allem auf die griechische Welt seiner Zeit schaut und wie wenig die Mutterstadt des Judentums mit ihrem weltberühmten Tempel als Beispiel herangezogen wird. So führt er in Abschnitt 132 die für die Inszenierung griechischer Identität wichtigen Panathenäen in Athen an, und in Abschnitt 140 geht es um die »Erhabenen Göttinnen«. Die Frage, ob heidnische Gottheiten und Kulte für jüdische Menschen überhaupt von beispielhaftem Wert sein können, ist hier ganz zurückgestellt. Typische religiöse Themen der Zeit sind sodann die Verarbeitung von Schicksalsschlägen (Abschnitte 24–25) und die Frage, warum die Gottheit spät straft bzw. Gottes Mühlen nur langsam mahlen.51 So lässt sich vieles in der Freiheitsschrift auf Zugangsweisen und Vorstellungen der antik-griechischen Philosophie zurückführen, die für keine spezielle Schulrichtung typisch sind. Vieles ist dem zuzurechnen, was man als gemein-sokratisches Erbe bezeichnen kann; manches reicht bis zu den Vorsokratikern zurück. Allgemein gilt hier die philosophische Überzeugung: Das Leben ist auf das Glück hin orientiert. Philosophie hat mit dem Glück des Menschen zu tun bzw. mit der Frage, wie man es erreichen kann. »Güter«, Dinge, die als solche »gut« sind, erklären sich von dieser Zielbestimmung her. Die Ebene menschlicher Handlungen, die auf »Güter« bzw. in der Zielperspektive auf »Glück« ausgerichtet sind, ist im Begriff der »Tugenden« angesprochen. Philo setzt die konventionelle Vorstellung voraus, dass es vier Grundtugenden gibt (Vernünftigkeit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit und Gerechtigkeit). Diese können allerdings verschieden definiert und um andere vermehrt 51 Zu Abschnitt 89 vgl. Plutarchs Schrift »Von der späten Rache der Gottheit«.
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werden.52 Philos Eigenständigkeit zeigt sich darin, dass er diese vier Tugenden nicht nur inhaltlich abwandelt – so wird z. B. die Tapferkeit stärker in den Innenbereich der Seele verlagert und als Standhaftigkeit bzw. Charakterfestigkeit begriffen –, sondern um vorbildliche Grundverhaltensweisen wie die Frömmigkeit und die Menschenliebe ergänzt. Nach Philo sind die Synagogen Orte, an denen man in diese Tugenden eingeübt wird.53 Die Grundlage für die Weite der Perspektive, die die Freiheitsschrift aufweist, stellt fraglos die sogenannte »enzyklische« Erziehung bzw. Bildung im Griechentum dar. Nicht zufällig endet der Text mit einem Hinweis auf deren Bedeutung (Abschnitt 160). Im Gymnasium werden die Fundamente der körperlichen Ertüchtigung gelegt. Es schließt sich die Bildung in den »niederen« Wissenschaften der Grammatik, Arithmetik, Geometrie und Musik (sowie Astronomie) an (Abschnitte 49, 51, 157). Hierauf bauen Rhetorik und Dialektik auf, die auf die Philosophie vorbereiten.54 Insofern ist es kein Zufall, dass Philos Freiheitsschrift mit der Rede vom »Gebildeten« einsetzt. Vorausgesetzt ist, dass es Ungebildete, Fortschreitende und Gebildete gibt. Erst der Gebildete kann sich völlig unabhängig vom Urteil anderer wissen und ist insofern frei.55 2. Vor dem Hintergrund dieser »gemeinantiken« philosophischen Grundlage ist jedoch unverkennbar, dass Philos Freiheitsschrift sich an zentralen Punkten stoische Überzeugungen zu eigen macht (vgl. oben die Darstellung des argumentativen Gefälles der Schrift). In Abschnitt 60 setzt Philo die charakteristische stoische Unterscheidung zwischen »vollkommen pflichtgemäßen« Handlungen und ihrem Gegenteil, den Verfehlungen, voraus. »Vollkommen pflichtgemäß« kann nur der Mensch handeln, der sich seiner sitt52 Vgl. die Orientierung an Gottesliebe, Tüchtigkeit und Nächstenliebe bei den Essenern (Abschnitte 83–87). 53 Vgl. De vita Mosis II 215–216 und De specialibus legibus II 62–64. 54 Vgl. De specialibus legibus II 230. 55 Das entspricht insbesondere auch stoischer Grundüberzeugung. Nach Seneca, De beneficiis VII 1,7, verliert der Gebildete die Furcht vor Göttern und Menschen. Ähnlich äußert sich auch der Stoiker Epiktet, Dissertationes I 4,3.18 f.
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lichen Vernunft bedient. Zusätzlich werden »mittlere« oder »indifferente« Handlungsweisen, die sogenannten Adiaphora, unterschieden. Hierzu gehören etwa die Besitzverhältnisse oder die Gesundheit eines Menschen; sie gelten als weder »gut« noch »schlecht«. Philos Verständnis der Tugenden und Laster erweist sich insbesondere dort anschlussfähig für die antik-jüdische Ethik, wo auch diese die »Begierde« als Wurzel aller Übel ausmacht und speziell Geldgier und Habgier verurteilt. Vor allem aber ist die Generalthese der Freiheitsschrift im Kern stoisch. Das muss etwas genauer beleuchtet werden. Hilfreich hierfür ist ein Seitenblick auf die einige Jahrzehnte früher entstandene Schrift eines Römers, der seinerseits aus der reichen Tradition der älteren und mittleren Stoa geschöpft hat: Ciceros Paradoxa Stoicorum, entstanden im Jahr 46 v. Chr., weisen enge Parallelen zu Philos Schrift auf. Cicero, in philosophischen Dingen ebenfalls ein Eklektiker, der aus verschiedenen Schulströmungen der antiken Philosophie kritisch auswählt und eigenständig kombiniert, macht in dieser Schrift stoische Sätze über den weisen Menschen zum Thema. In jedem dieser Sätze geht es zugespitzt um einen Widerspruch, nämlich den zwischen der äußeren Gefangenheit des weisen Menschen in den Banden des Schicksals und seiner gleichzeitigen inneren Freiheit. Philosophische Urteile über den weisen Menschen und seine Freiheit gelangen damit wie bei Philo zu Ergebnissen, die landläufigen Wahrnehmungen und Meinungen grundsätzlich widersprechen. Insbesondere Ciceros Behandlung der fünften und sechsten stoischen »Paradoxie« erinnert unmittelbar an die These der Freiheitsschrift Philos: »Nur der Weise ist frei«. Für Cicero gilt wie für Philo, dass Gehorsam gegen die eigene Überzeugung Sklaverei bedeutet.56 Und paradoxerweise gilt auch: »Nur der Weise ist reich«. Philo kann ganz ähnlich zuspitzen. Er stellt jedoch den Weisen und den »Unverständigen«/»Kranken« nicht in allen Teilen seiner Schrift so schematisch gegenüber, sondern rechnet mit Abstufungen und Entwicklungsmöglichkeiten (siehe oben). 56 Siehe Abschnitt 24 und vgl. Cicero, Paradoxa Stoicorum 35. Zur Freiheit des Weisen siehe auch Philo, De posteritate Caini 138–139.
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Auch Ciceros Darstellung der ersten beiden »Paradoxien« liefern einen direkten Zugang zu Philos Denkweise. Cicero geht davon aus, dass nur die Tugend ein »Gut«/ein »Gutes« darstellt. Darum kann nur sie den Menschen zum Glück führen. Allerdings hat die Tugendlehre Ciceros mit dem Begriff des honestum, des »sittlich Guten« und »Ehrbaren«, eine deutlich andere Grundorientierung. Sie ist stark in altrömischen Werten verankert. Ciceros vorbildliche Beispiele entstammen häufig der römischen Gründungsmythologie bzw. der Gruppe der in seinen Augen bedeutenden Römer wie Scipio Africanus oder Cato der Ältere. Diese Gestalten führt Philo nicht an. Nur Julius Caesar nennt er in Abschnitt 118 als »Anführer und Wohltäter«. Dass man in Alexandria den Mord an Caesar im Rückblick nicht guthieß, dürfte mindestens in Oberschichtkreisen die allgemeine Auffassung gewesen sein. Cicero und Philo gemeinsam ist die zentrale Überzeugung, dass es Freiheit nur in der Kontrolle der Leidenschaften gibt. Nur wenn sich der Mensch der Versklavung unter die Affekte entledigt, wird er ungehindert handeln bzw. leben können, wie er will. Freiheit hat ihren Ort damit in der Seele des Menschen – hier liegt das wahre Kapital, das in einem tugendhaften Leben angesammelt wird. Es findet sich nicht in äußeren Gegebenheiten und schon gar nicht im Bereich des Materiellen. Cicero wie Philo haben auch die Missstände ihrer Gesellschaft und Zeit vor Augen, wenn es um extreme Fälle z. B. von Habgier, Luxusleben und Vergnügungssucht geht. 3. Vieles in Philos Freiheitsschrift verdankt sich also dem allgemeinen sokratischen Erbe in der griechischen Philosophie, und in seinem sachlichen Zentrum ist der Text stark von der Stoa geprägt. Darüber hinaus gibt es jedoch Anschauungen, die in den Bereich der platonischen Akademie verweisen. Diese Anschauungen sind hier weniger deutlich greifbar als in denjenigen Schriften Philos, die die Entstehung, das Wesen und die Zukunft von Welt und Mensch behandeln. Zudem bleibt oft unklar, wie sich Philo zu den Schülern Platos verhält, die dessen Denken weiterentwickelt haben. Zunächst ist auf einen wesentlichen Punkt hinzuweisen, der nochmals in einen Kernbereich dessen hineinführt, was das Denken des hellenistischen Diasporajudentums ausmacht: Bei der Rede vom 37
Menschen in seinen konkreten Vollzügen fällt auf, dass Philo überwiegend nicht von einer ganzheitlichen jüdischen Anthropologie ausgeht. Grundsätzlich gilt biblisch und im frühen Judentum: Der Mensch als ganzer ist »Leib«, »Seele«, »Geist«, auch »Gewissen« usw. Philo rechnet dagegen in der Freiheitsschrift durchgängig mit einem Gegenüber von »Leib« und »Seele« im Menschen. Die Freiheitsschrift ist in ihrer Psychologie jedoch nicht systematisch und differenziert. In anderen Schriften Philos wird die »Vernunft« im Anschluss an bestimmte Richtungen der philosophischen Psychologie in der »Seele« verortet, nämlich als ihr höherer Teil. Im Unterschied zu anderen Philo-Texten zeigt die Freiheitsschrift auch kein ausdrückliches Interesse am Ergehen der Seele nach dem Tod des Menschen. In der Darstellung des Aufbaus der Schrift wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Erkenntnistheorie, die Philo hierin entwickelt, auf die platonische Tradition zurückgreift, und zwar in sehr eigenwilliger Weise. Das vernünftige Vermögen des Menschen erscheint hier nicht nur als analytisches Instrument, sondern zugleich auch als rezeptive Instanz. In Abschnitt 3 führt Philo grundlegend aus: »Alle, die die Philosophie in Wahrheit lieb gewannen, ließen sich von dieser Aufforderung überzeugen, da sie annahmen, sie sei ein Gesetz oder mehr noch eine heilige Satzung, die einem göttlichen Orakelspruch gleichkomme. Sie fingen an, sich über die allgemein verbreiteten Meinungen hinwegzusetzen, sich einen andersartigen, neuen Weg von Worten und Lehren zu bahnen, den die Uneingeweihten nicht betreten können, und Ideen wie Himmelslichter aufgehen zu lassen, die kein Unreiner berühren darf.« Die hier angesprochenen Ideen beschreiben einen Bereich jenseits der sinnlich erfassbaren Welt. Abschnitt 5 setzt deutlich das Höhlengleichnis Platos voraus57; auch bei Plato findet der, der das Licht gesehen hat, bei den in der Höhle Verbliebenen keinen Glauben.58 57 Vgl. Plato, Politeia 514a–518b. 58 Plato, Politeia 516e–517a; vgl. Philo, De opificio mundi 117. Zum Licht, das für den Verstand einsichtig ist, siehe Plato, Politeia 508d, und vgl. Philo, De Abrahamo 119.
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Das vernünftige Vermögen muss also erleuchtet werden, soll es zur philosophischen Einsicht und zum Erblicken des Lichtes der Wahrheit gelangen.59 Es findet die Wahrheit nicht in den Dingen selbst; die Dinge beschreiben nur etwas Vordergründiges, das die Einsichtsfähigkeit gerade verdunkeln kann. Hier liegt einer der Schulunterschiede zwischen den Anhängern Platos und den Vertretern der Stoa: Die Stoa ist, bei allen Unterschieden in der Entwicklung dieser Schule, in ihrer Erkenntnislehre, der philosophischen Ästhetik, optimistisch: Die menschliche Vernunft kann die Dinge als solche erkennen, da diese ihrerseits – physischstofflich vermittelt – an der Vernunft teilhaben. Vom späten Plato her ist dieser Gedanke unmöglich; es bedarf vielmehr einer Bewegung des »Seins« von außen, die die menschliche Erkenntnisfähigkeit gewissermaßen »heilt« und sie öffnet.60 Zugleich ist damit ein zentraler Punkt benannt, an dem Philo – in anderen Schriften allerdings viel deutlicher – seine biblisch-jüdischen Überzeugungen mit den Erkenntnissen der hellenistischen Philosophie zusammenzuführen vermag. Mose als Geber der Tora, des göttlichen Willens, kann in den Rang eines Fachmanns der »nackten Philosophie«, d. h. der Weisheit und Vernunft in ihrer gleichsam gottgegebenen Ur- und Reinform, erhoben werden (vgl. Abschnitt 43). Nicht nur in das Verständnis der Welt als ganzer, ihres Werdens und in der Frage der Erkennbarkeit von Wahrheit fließt bei Philo Platonisches ein. Auch in seinen ethischen Überzeugungen lassen sich Verbindungslinien zur platonischen Akademie finden, wenn Philo tugendhaftes Leben so auffasst, dass man sich von der Kalokagathia, der Harmonie des Schönen und Guten, vorbildlicher und idealer Gestalten wie von archetypischen Gemälden prägen lassen soll (vgl. Abschnitte 62, 94). Als Vorläufer der Plato-Rezeption Philos kann im 1. Jahrhundert v. Chr. sein Landsmann Eudorus gelten, den man der sogenannten 59 Vgl. Philo, De fuga et inventione 136 und De opificio mundi 30–31, 66, zur Vorstellung eines göttlichen Sehens. 60 Zum Bild von der trinkbaren Rede, nach der man Durst hat (Abschnitt 13), vgl. Plato, Phaidros 243d; zum Trunkensein von nüchterner Trunkenheit vgl. Philo, De vita contemplativa 89 u. ö.
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jüngeren Akademie zurechnet. Schon Eudorus nahm insbesondere Elemente des Pythagoreismus in seiner Philosophie auf. Er näherte die platonischen »Ideen« der Vorstellung göttlicher »Gedanken« an. Er bereitete eine religiöse Interpretation der Vorstellung vom »höchsten Gut« vor, das in Folge mit einem personal begriffenen Gott verbunden werden konnte.
Zur Übersetzung Der Übersetzung von Philos Freiheitsschrift liegt der von Leopold Cohn und Siegfried Reiter herausgegebene Text zugrunde (Philonis Alexandrini opera quae supersunt, Bd. VI, Berlin 1915 [Nachdruck: 1963], 1–45). Eine »gute« Übersetzung eines Philo-Textes ins Deutsche kann es kaum geben. Auf einem sehr hohen Niveau bilden bei Philo Sprache, Form und Inhalt eine unauflösliche Einheit. Die langen, sprachlich und rhetorisch hoch reflektierten Satzperioden Philos mit ihrem überreichen Wortschatz und der Komplexität ihrer Strukturen und Stilmittel sind Ausdruck der erhabenen »Bildung« und »Freiheit«, um die es im Text geht. In der Übersetzung des Textes wurden darum in der Regel nur besonders lange und ausufernde Satz konstruktionen in mehrere Hauptsätze unterteilt. Schon der griechische Begriff spoudaios, der im Titel begegnet und im Haupttext erstmals in Abschnitt 41 gebraucht ist, kann kaum in einem gleichwertigen deutschen Ausdruck abgebildet werden. Die üblichen Übersetzungen mit »der Tüchtige«, »der Wackere« usw. sind antiquiert und führen in missverständliche Bahnen des rein Ethischen. Wenn für diese Ausgabe der an den lateinischen Titel der Schrift angelehnte »Rechtschaffene« gewählt wird, so ist das nur bedingt eine Lösung des Problems, zumal der lateinische probus ein ähnlich weites Bedeutungsspektrum besitzt. Die Fremdheit des Begriffs im heutigen Deutsch mag dazu ermuntern, im Text selbst Entdeckungen zu machen. Vergleichbares betrifft den Begriff asteios, mit dem Philo einsetzt. Die in der Übersetzung gewählte Wiedergabe mit »der Gebildete« hat den Nachteil, dass sie einen modernen Bildungsbegriff wachruft, der Philo völlig fremd gewesen wäre. Andererseits wäre es proble40
matisch, diesen Begriff genauso wie den des spoudaios zu übersetzen, da dann eine für Philo ganz wesentliche Gedankenfolge des Textes im Deutschen verdunkelt würde: Dieser schreitet vom »Gebildeten« über den »Rechtschaffenen« zum »Weisen« voran. Der Text Philos geht eben nicht von einem vereinfachenden stoischen Dualismus aus, nach dem die Menschheit nur in zwei Gruppen zerfiele: nämlich in »Weise« und »Toren«, d. h. dumme Menschen. Vielmehr zeigt die wechselnde Terminologie an, dass es Übergänge und Entwicklungsmöglichkeiten gibt, die gerade junge Menschen ergreifen sollen. Deshalb ist es auch unbefriedigend, den asteios gleich zu Beginn mit dem »Weisen« zu identifizieren. Letztlich bleibt hier heutigen Leserinnen und Lesern nur übrig, sich aus dem jeweiligen Kontext, in dem die Begriffe bei Philo begegnen, selbst einen Eindruck und ein Urteil zu verschaffen. Andernfalls wäre eine genaue Kommentierung der Schrift erforderlich, die im Rahmen dieser Ausgabe nicht geleistet werden kann. Ähnliche Schwierigkeiten werfen die zahlreichen »Vernunft«-Begriffe im Text auf (»Weisheit«, »Verstand«, »Einsicht«, »Klugheit«, »Besonnenheit«, »Urteilskraft«, »aufrechte Vernunft«, »Gesinnung«, »Umsicht« usw. sowie die entsprechenden Verben, Adjektive und Adverbien). Philo verwendet hier immer wieder Fachausdrücke, die in der antiken Philosophiegeschichte und teils auch schon in der biblischen Tradition eine lange Entwicklung ihrer Bedeutung durchlaufen haben. Die Übersetzung hat versucht, diese vielfältigen Verstandes- und Vernunftbegriffe, soweit dies möglich war, stets gleich wiederzugeben, so dass man die Stellen auch im Deutschen vergleichen kann. Dichterzitate wurden in der Übersetzung nicht in ein deutsches Metrum gebracht – dies zum einen um ihrer besseren Verständlichkeit willen und zum anderen, weil die Zitate nicht immer vollständige Zeilen umfassen und daher der Einsatzpunkt eines Versmaßes nicht immer erkennbar wäre. Die in die Übersetzung eingefügten Zwischenüberschriften sind nicht Bestandteil des ursprünglichen Textes. Sie sind im Zusammenhang mit der Einführung in die Logik und den Aufbau der Schrift (siehe oben) zu verstehen. Zuletzt betreffen Übersetzungsprobleme immer auch das Inhaltliche. Es handelt sich bei Philos Freiheitsschrift um einen antiken 41
Text. Dieser kann und darf in vielen Einzelheiten in einer Übersetzung nicht modernisiert werden. Beispielhaft deutlich wird dies an den Vorstellungen von Ehre und Scham, die Philo durchgängig voraussetzt und die sich in der Schrift oft auf das Engste mit den Freiheitsbegriffen verbinden. Philos Text liegt die antike Überzeugung zugrunde, dass es in Gesellschaften und Staaten nur ein begrenztes Ehrpotential gibt. Es findet hier ein ständiger öffentlicher Wettstreit um den Erwerb nicht nur von Freiheit, sondern auch von Ehre statt. Ehre zu gewinnen bedeutet grundsätzlich, jemand anderem Ehre zu nehmen. Jede Verletzung der eigenen Ehre betrifft den ganzen Körper, das ganze Sein eines Menschen, und fordert grundsätzlich Genugtuung. Die Zuschreibung von Ehre erfolgt zunächst jenseits von konkreten Handlungsmöglichkeiten durch Festlegungen wie Geburt, soziale Stellung einer Familie bzw. Wohlstand. Philo geht ganz selbstverständlich davon aus, dass es Menschen gibt, die allein durch ihre Geburt bzw. Abstammung »adelig« sind. Er stellt die Würde-Zuschreibungen der alexandrinischen Gesellschaft seiner Zeit nicht in Frage, auch wenn in seiner Freiheitskonzeption gewissermaßen eine übergeordnete Ebene geschaffen wird, die Härten deutlich mildert. Das betrifft besonders die Rolle der Frauen in der Gesellschaft, die nach Abschnitt 117 »von Natur aus« ein »geringes Einsichtsvermögen haben«.61 Philo teilt hier die Überzeugungen seiner Zeit, wonach Ehre grundsätzlich vom Mann zu erwerben ist, Frauen dagegen Scham und Schande zu vermeiden haben; für sie gelten andere Tugenden wie die der Scheu, der Unterordnung, der Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit, der Reinheit und Jungfräulichkeit.
61 Vgl. auch De gigantibus 4–5.
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Ausgewählte Literatur Peder Borgen, Philo of Alexandria. An Exegete for his Time (Supplements to Novum Testamentum 86), Leiden/New York/Köln 1997. Roland Deines/Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 172), Tübingen 2004. Andreas Graeser, Zenon von Kition. Positionen und Probleme, Berlin/New York 1975. Hellmut Flashar (Hg.), Die hellenistische Philosophie (Philosophie der Antike IV/ 1–2), Basel 1994. Otto Kaiser, Philo von Alexandrien. Denkender Glaube – Eine Einführung (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 259), Göttingen 2015. Adam Kamesar (Hg.), The Cambridge Companion to Philo, Cambridge 2009. Carlos Lévy, Philon aus Alexandria. Glaube und Philosophie, in: Michael Erler/ Andreas Graeser (Hg.), Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Spätantike. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 70–90. David T. Runia, Philo of Alexandria. On the Creation of the Cosmos according to Moses (Philo of Alexandria Commentary Series 1), Leiden u. a. 2001. Michael Edward Stone (Hg.), Jewish Writings of the Second Temple Period. Apo crypha, Pseudepigrapha, Qumran Sectarian Writings, Philo, Josephus (Compendium Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum 2/2), Assen/Philadelphia 1984. Samuel Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleu theria bei Paulus und in seiner Umwelt (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 147), Göttingen 1989. Clemens Zintzen (Hg.), Der Mittelplatonismus (Wege der Forschung 70), Darmstadt 1981.
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Übersetzung
Vorrede – Thema und erkenntnistheoretische Grundlagen 1. In der vorausgegangenen Abhandlung haben wir uns, Theodotos, mit dem Thema beschäftigt, dass jeder schlechte Mensch ein Sklave sei. So haben wir es durch zahlreiche Wahrscheinlichkeitsund Wahrheits-Argumente überzeugend nachgewiesen. Die vorliegende Abhandlung ist jener verwandt. Sie ist ihr Bruder, der vom gleichen Vater und der gleichen Mutter stammt und in gewisser Weise ihr Zwilling. Durch sie werden wir nachweisen, dass jeder gebildete Mensch1 frei ist. 2. Nun sagt man, dass die allerheiligste Gemeinschaft der Pythagoreer zugleich mit vielen anderen schönen Dingen auch dies in ihrer Lehre eingeschärft habe, »auf viel bevölkerten Wegen nicht einherzuschreiten«.2 Dies besagt nicht, dass wir Steilhänge erklimmen sollen – denn die Gemeinschaft der Pythagoreer forderte nicht die Ermüdung der Füße –, sondern es deutet zeichenhaft durch symbol-
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Philo geht im ersten Teil seiner Schrift nicht von dem »Weisen« aus; auch setzt er nicht mit dem Begriff ein, den er im Titel verwendet (zu Deutsch: der »Rechtschaffene«/»Tüchtige«/»Wackere«/»Tugendhafte«/»Verantwortungsbewusste« o. ä.; erstmals in Abschnitt 41). Der innerhalb des Textes nur in den Abschnitten 1–72 gebrauchte Begriff, der hier mit »gebildeter Mensch« wiedergegeben wird, ist tatsächlich kaum zu übersetzen. Im Unterschied zum neuzeitlichen Bildungsbegriff geht er von einer städtischen Erziehung aus, die insbesondere die grundlegenden Fächer einschließt (die sogenannte »enzyklische Bildung«; vgl. Abschnitt 160). Philo setzt also bei der erzieherischen Ausgangslage und der »Bildungs-Wirklichkeit« seiner Leserschaft an (vgl. die Einführung). 2 Vgl. z. B. Diogenes Laertius VIII 17; Aelian, Varia Historia IV 17; Clemens Alexandrinus, Stromata V 5.
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hafte Rede an, dass man weder in Worten noch in Taten allgemein bekannte und ausgetretene Pfade nutzen soll. 3. Alle aber, die die Philosophie in Wahrheit lieb gewannen, ließen sich von dieser Aufforderung überzeugen, da sie annahmen, sie sei ein Gesetz oder mehr noch eine heilige Satzung, die einem göttlichen Orakelspruch gleichkomme. Sie fingen an, sich über die allgemein verbreiteten Meinungen hinwegzusetzen, sich einen andersartigen, neuen Weg von Worten und Lehren zu bahnen, den die Uneingeweihten nicht betreten können, und Ideen wie Himmelslichter aufgehen zu lassen, die kein Unreiner berühren darf. 4. Mit »Unreinen« aber meine ich all diejenigen, die entweder überhaupt niemals irgendwie von Bildung gekostet oder die sie auf verquere Weise und nicht vorbehaltlos aufgenommen haben, weil sie die Schönheit der Weisheit in die Hässlichkeit der Sophisterei3 umprägten. 5. Diese vermögen aufgrund der Schwäche ihres seelischen Auges, welches von Natur durch das Geflimmer der Sinneseindrücke verdunkelt wird, das mit dem Verstand wahrnehmbare Licht nicht zu sehen. So als ob sie ihr Leben in der Nacht fristeten, schenken sie denen, die am Tag leben, keinen Glauben. Und all das, was diese berichten, nachdem sie es im reinen Glanz der Sonnenstrahlen ganz und gar klar gesehen haben, erachten sie als Absonderliches, das Gespenstern gleicht und sich von Gauklerkunststücken nicht unterscheidet. 6. Wie gehört es denn tatsächlich nicht in das Reich des Wunderbaren und Staunenswerten, wenn man diejenigen als Verbannte bezeichnet, die nicht nur im Zentrum des Staats verweilen, sondern auch Ratsbeschlüsse fällen und Recht sprechen und an der Bürgerversammlung teilnehmen – was bedeutet, dass sie bisweilen auch Aufgaben als Marktaufseher und Leiter der Festspiele sowie die anderen Dienstaufgaben im Staat auf sich nehmen?
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»Sophisterei« meint eine philosophische bzw. politische Richtung, gegen die sich schon Sokrates wandte: Leute, denen es auf Effekthascherei in der Rede ankam.
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7. Und wie gehört es nicht tatsächlich ebenso in das Reich des Wunderbaren und Staunenswerten, wenn man dagegen diejenigen als Bürger bezeichnet, die entweder gar nicht in der Bürgerliste notiert sind oder die zum Verlust ihrer Bürgerehre bzw. zur Verbannung verurteilt wurden – jenseits der Grenzen vertriebene Menschen, die nicht nur das Stadtgebiet nicht betreten, sondern den väterlichen Erdboden nicht einmal von ferne zu sehen vermögen, es sei denn, dass sie von irgendwelchen Rachegeistern hierher getrieben würden, um zu sterben? Es lauern ihnen nämlich, wenn sie zurückkehren, unzählige Strafvollstrecker auf, sowohl solche, die aus eigenem Antrieb angestachelt werden, als auch solche, die den Anordnungen der Gesetze gehorsam sind. 8. Wie aber ist es nicht gegen die Vernunft oder voll von aller Schamlosigkeit oder allem Wahn oder … – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, denn es ist wegen des Übermaßes nicht leicht, geeignete Begriffe zu finden –, diejenigen als Reiche zu bezeichnen, die die Mittellosesten sind und denen die notwendigsten Dinge fehlen, die betrübt und jammervoll dahinvegetieren, die kaum ihren täglichen Unterhalt aufbringen können, die trotz allgemeinen blühenden Wohlstandes schrecklichen Hunger leiden, die sich auf eine Weise vom Hauch der Tugend ernähren, wie man es von den Zikaden sagt, die von Luft leben sollen? 9. Wie aber ist es umgekehrt nicht genauso unvernünftig, schamlos und wahnsinnig usw., diejenigen als Arme zu klassifizieren, die in Silber und Gold und einer Fülle von Besitztümern und Einkünften und im Überfluss anderer unsagbarer Güter schwimmen? Fördert ihr Reichtum nur allein Verwandte und Freunde oder vielmehr nicht auch, sich über das eigene Haus hinaus erstreckend, große Gruppen von Angehörigen des eigenen Volkes und von Stammesgenossen? Geht er in seiner Bedeutung nicht sogar noch darüber hinaus und gewährt dem Staat alles, was Frieden oder Krieg erfordern? 10. Aus derselben irrigen Traumvorstellung heraus hat man nicht davor zurückgescheut, den rundherum reich Begüterten und den tatsächlich von einem edlen Geschlecht Abstammenden, die nicht nur Eltern, sondern auch Großeltern und weitere Vorfahren bis zu den Stammvätern haben, die sich in der männlichen und weiblichen 46
Linie als äußerst hervorragend ausgezeichnet haben, Sklavenschaft zuzuschreiben. Umgekehrt aber hat man denen Freiheit zugeschrieben, die seit der dritten Generation gebrandmarkt sind, die Fußfesseln tragen und immer schon Sklaven waren. 11. All dieses ist, wie ich ausgeführt habe, ein Vorwand derjenigen Menschen, die im Denkvermögen geschwächt sind. Sie sind vielmehr Sklaven der landläufigen Meinung, die sich auf Sinneseindrücke verlassen, deren kritisches Denken sich beständig durch die Untersuchungsgegenstände bestechen lässt und damit unzuverlässig ist. 12. Sie dürften, wenn sie wirklich ungeteilt nach Wahrheit strebten, in ihrem vernünftigen Denken nicht schwächer sein als die, die an einer körperlich Krankheit leiden. Jene wenden sich nämlich an Ärzte, wenn sie nach Gesundheit begehren. Sie aber scheuen davor zurück, sich der Krankheit der Seele, nämlich des Mangels an Bildung4, zu entledigen, indem sie Anhänger weiser Männer werden, durch die sie sich nicht nur der Unwissenheit entledigen, sondern vielmehr auch den ureigenen Besitz des Menschen erwerben könnten, nämlich Wissen. 13. Da aber nach dem allerheiligsten Plato »Neid seinen Ort außerhalb des göttlichen Chores hat«5, das Göttlichste und allen Lebewesen Gemeinsamste aber die Weisheit ist, verschließt diese niemals ihr Studierzimmer, sondern ist vielmehr stets weit geöffnet und nimmt diejenigen auf, die nach trinkbaren Worten dürsten. Sie schöpft ihnen freigebig den Trank reiner Lehre ein und ermuntert sie, sich mit ihrer nüchternen Trunkenheit zu betrinken. 14. Sie aber machen sich wie diejenigen, denen durch die Initiationsriten Heiliges offenbart wurde, wenn sie von den geheimen Bräuchen gekostet haben, vielfältige Vorwürfe wegen ihrer früheren Geringschätzung der Weisheit, da sie die Zeit zuvor nicht ausgenutzt haben, sondern vielmehr ein Leben führten, das seinen Namen nicht verdient, in dem sie keine Vernunft besaßen. 15. Es ist also angemessen, dass alle Jugend an allen Orten die Erstlingsopfer ihrer ersten Jugendreife niemand anderem mehr als 4 Vgl. die Anmerkung zum »gebildeten Menschen« in Abschnitt 1. 5 Plato, Phaidros 247a; auch zitiert in Philo, De specialibus legibus II 249; vgl. Legum allegoriae I 61.
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der Bildung darbringt. Es ist gut, in ihr sowohl die Zeit der Jugendkraft als auch die des reifen Alters zuzubringen. Ebenso wie man nämlich sagt, dass neue Gefäße die Gerüche der zum ersten Mal in sie hineingeschütteten Stoffe bleibend aufnehmen, so werden auch die Seelen junger Menschen in den ersten Umrissen ihrer Vorstellungen unauslöschlich vorgeprägt; und sie lassen sich nicht durch die Fülle des später auf sie Einströmenden fortspülen, sondern sie bleiben vielmehr durchscheinend für die ursprüngliche Gestalt.6 16. Doch nun genug von diesen Dingen.
Klärung des Untersuchungsgegenstandes – Annäherung an Begriff und Wesen der wahrhaften Freiheit Der Untersuchungsgegenstand muss jedoch sorgfältig gewählt werden, damit wir nicht durch die Unschärfe der Begriffe vom rechten Weg abgelenkt und in die Irre geführt werden, sondern vielmehr das Thema der Erörterung sicher begreifen und ihm unsere Beweise mit gutem Augenmaß anpassen. 17. Von Sklaverei spricht man nun einerseits, wenn von Seelen, andererseits wenn von Körpern die Rede ist. Herrscher über die Körper sind Menschen, über Seelen jedoch herrschen Boshaftigkeiten und Affekte. So verhält es sich auch mit der Freiheit: Sie bewirkt nämlich einerseits Sicherheit der Körper vor mächtigeren Menschen, andererseits jedoch Schutz des Verstandes vor der Gewaltherrschaft der Affekte. 18. Den ersten Aspekt macht niemand zum Gegenstand einer Untersuchung: Denn unzählig sind die Schicksale von Menschen, und viele der besonders gebildeten Menschen verloren vielfach in widrigen Zeiten ihre ihnen angestammte Freiheit. Dagegen richtet sich unsere Analyse auf diejenigen Erscheinungsformen, die sich weder von Begierden noch Ängsten, Lüsten und traurigen Sorgen gefangen nehmen ließen, die gleichsam aus einem Gefängnis entkommen sind und sich von den Fesseln, mit denen sie zusammengeschnürt waren, losgemacht haben. 6 Vgl. den Abschnitt zu Philos philosophischer Methode in der Einleitung.
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19. Als hinderlich aufgeben wollen wir also die Begriffe »im Haus geborener Sklave« oder »für Geld erworbener Sklave« oder »Kriegsgefangener«, da es sich bei ihnen um lediglich vorgeschobene Wortbildungen handelt und da sie der Natur fremd sind und sie vielmehr nur auf der landläufigen Meinung basieren. Vielmehr wollen wir umgekehrt den wahrhaft Freien zum Gegenstand der Untersuchung machen, der als einziger die Fähigkeit zur Selbstbestimmung besitzt, auch wenn sich Unzählige zu Herrschern über ihn erklären. Laut wird er nämlich jenes Wort des Sophokles ausrufen, welches sich in nichts von einem göttlichen Orakelspruch unterscheidet: »Gott ist mein Beherrscher, ein Sterblicher jedoch nicht.«7 20. Denn der ist allein frei, der sich den alleinigen Gott zum Anführer nimmt. Nach meiner Ansicht ist er auch der Anführer der anderen, der mit den irdischen Dingen betraut ist, gleichsam als Statthalter eines Großkönigs und damit als Sterblicher der eines Unsterblichen. – Doch sei die Behandlung der Herrschaft des Weisen auf einen geeigneteren Zeitpunkt verschoben. Dagegen muss jetzt die Abhandlung über die Freiheit sorgfältig in Angriff genommen werden. 21. Wenn man nun in die Sachverhalte eindringen und sich in sie hinein knien will, so wird man deutlich erkennen, dass nichts anderes mit einem anderen so verwandt ist wie das selbstbestimmte Handeln mit der Freiheit. Darum steht dem schlechten Menschen vieles im Weg: Geldgier, Ruhmsucht, Vergnügungssucht. Für den gebildeten Menschen gibt es dagegen keinerlei Hindernis, weil er sich über geschlechtliche Liebe, Furcht, Feigheit, Trauer und Ähnliches erhebt und gegen sie ankämpft wie ein Athlet im Wettkampf gegen die, die niedergerungen werden. 22. Er hat nämlich aufgrund seines Eifers für die Freiheit und seines Verlangens nach ihr gelernt, auf Befehle, die die ungesetzlichsten Herrscher der Seele erteilen, keine Rücksicht zu nehmen. Das unverwechselbare Erbe der Freiheit besteht im Sich-SelbstBefehlen und im Werk des eigenen Willens. Von einigen wird der Schöpfer jenes Trimeters8 gelobt »Wer aber ist Sklave, wenn er keine 7 Vgl. Aristoteles, Ethica Eudemia 1242a (hier: »Zeus« statt »Gott«). 8 Ein antikes Versmaß, das aus drei Maßeinheiten (»Metren«) besteht.
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Furcht vor dem Sterben hat?«9, da er die Folgerung hieraus wahrlich genau erkannt habe; er nahm nämlich an, dass von Natur aus nichts so sehr das Denkvermögen versklave wie die Todesfurcht – wegen des Verlangens nach Leben. 23. Man müsste jedoch bedenken, dass nicht allein derjenige unversklavt ist, der keine Furcht vor dem Sterben hat, sondern auch derjenige, welcher das Armsein und den Mangel an Ehre und Schmerzen und all die anderen Dinge nicht fürchtet, die die meisten Menschen als Schlechtes beurteilen, wobei sie selbst schlechte Richter über die Angelegenheiten sind. Sie beurteilen den Sklaven nach seinen Arbeitspflichten und blicken hierbei auf seine mühevollen Dienste; dabei wäre es angemessen, auf seinen unversklavten Charakter zu achten. 24. Derjenige nämlich, der sich – wider seine eigene Einsichtsfähigkeit – aus einer niederen und sklavenhaften Denkweise heraus mit niedrigen und sklavenhaften Dingen beschäftigt, der ist wirklich ein Sklave. Derjenige aber, der seine Verhältnisse auf den gegenwärtigen Zeitpunkt abstimmt und zugleich freiwillig und geduldig in den Dingen standhält, die das Schicksal für ihn bereitet, und der nichts unter den menschlichen Angelegenheiten für neu hält, sondern der vielmehr sorgsam überprüft hat, dass das Göttliche sich durch ewige Ordnung und Glückseligkeit auszeichnet, wohingegen alles Sterbliche durch das Schwanken und den Wogenschlag der Ereignisse hierhin und dorthin bewegt wird und sich zu unstetem Hinund Herwanken aufschaukelt, und der in edler Weise alles erduldet, das über ihn hereinbricht, der ist tatsächlich ein Philosoph und ist frei. 25. Deshalb wird er auch nicht einem jeden, der ihm befiehlt, Gehorsam leisten, selbst dann nicht, wenn dieser Misshandlungen und Foltermaßnahmen und irgendwelche besonders Furcht einflößende Drohungen in Aussicht stellt. Sondern er wird vielmehr in jugendlicher Kraft reagieren und laut erwidern: »Versenge, verbrenne mein Fleisch! Trinke dich voll mit meinem schwarzen Blut! Denn eher befinden sich die Sterne 9 Euripides, Fragment 950.
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unter der Erde und wird umgekehrt die Erde in den Himmel aufsteigen, als dass dir von mir ein Schmeichelwort entgegnet wird.«10 26. Ich sah schon einmal bei einem Wettkampf der Pankratiasten11, dass der eine Kämpfer seine Schläge sowohl mit den Händen als auch mit den Füßen sämtlich gut gezielt anbrachte und nichts ausließ und unversucht ließ, was zum Sieg führen musste. Dann jedoch sah ich, dass er zu erschlaffen begann und zuletzt ohne Siegerkranz das Stadion verließ. Der andere jedoch, der die Schläge empfing, zusammengedrückt von der dichten Masse des Fleisches, verbissen, fest, wahrhaft voll ausgestattet mit athletischem Kampfgeist, durch und durch in körperliche Spannung versetzt, wie ein Fels oder Eisen, gab in nichts den Schlägen nach. Vielmehr zersetzte er die Kraft des Kampfgegners durch seine beharrliche Ausdauer und Massigkeit bis zum vollständigen Sieg. 27. Ähnliches wie dieser scheint mir der gebildete Mensch zu erleiden. Da er in seiner Seele durch vernünftiges Abwägen, das in einer starken Urteilskraft gründet, ganz und gar gut gekräftigt ist, zwingt er den, der Gewalt gegen ihn anwendet, aufzugeben, bevor er es selbst erdulden muss, etwas gegen seine vernünftige Auffassung zu tun. Allerdings stößt das Gesagte vielleicht bei denen auf keinen Glauben, die von der Tugend keinen Eindruck empfangen haben12. Denn auch jenes Ereignis ist für die unglaublich, welche die Pankratiasten nicht kennen; doch ist es nichtsdestoweniger in Wahrheit geschehen. 28. Antisthenes sagte im Blick hierauf, dass der gebildete Mensch »schwer zu ertragen« sei.13 Wie nämlich die Unvernunft leichtfertig 10 Euripides, Fragment 688; nochmals zitiert in Paragraph 99. Es handelt sich um ein von Philo besonders geschätztes Wort, das sich auch in Legum allegoriae III 202 und De Josepho 78 findet. 11 Das Pankration ist ein Faustkampf ohne Waffen, bei dem alle körperlichen Mittel zugelassen sind. 12 Die Übersetzung folgt dem Vorschlag von Cohn; allerdings lässt sich die griechische Verbform nicht klar bestimmen bzw. passt nicht zum Kontext. Dem Zusammenhang nach geht es um Skeptiker bzw. Agnostiker, die der Herrschaft des Weisen gegenüberstehen. 13 Antisthenes, Fragment 74.
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und wankelmütig ist, so ist die Vernunft fest gegründet und unbeugsam und besitzt ein unerschütterliches Gewicht. 29. Bereits der Gesetzgeber der Juden führt »die Hände des Weisen« als »schwer« ein.14 Er deutet so zeichenhaft durch Symbole an, dass seine Taten nicht oberflächlich, sondern durch Verstand fest abgestützt sind, der niemals wankt. 30. Er vermag also durch niemanden gezwungen zu werden, weil er sowohl Schmerzgefühle als auch den Tod verachtet und aufgrund eines Gesetzes der Natur alle dummen Menschen als Untergebene hat. Denn ebenso wie Ziegen-, Rinder- und Schafhirten Ziegen, Rinder und Schafe anführen, hierbei jedoch unmöglich ist, dass die Herden den Hirten Befehle erteilen, bedarf auch die Menge, den Zuchttieren vergleichbar, eines Vorstehers und Herrschers. Anführer aber sind die gebildeten Menschen, die in die Position der Hirten eingesetzt worden sind. 31. Homer pflegt so die Könige als »Völkerhirten« zu bezeichnen.15 Die Natur aber sprach eben diese Bezeichnung als herrschaftlicheren Ausdruck den Guten zu. Dagegen werden nämlich jene zumeist mehr »geweidet« werden, als dass sie selbst »weiden« – denn ungemischter Wein leitet sie, ferner schönes Aussehen, Backwaren und Braten sowie die Süßigkeiten der Köche und Bäcker, um von den Begierden nach Silber und Gold und prunkvolleren Dingen gar nicht zu reden. Diesen ist es dagegen zugedacht worden, sich von niemandem ködern zu lassen, sondern vielmehr diejenigen zu tadeln, die sie in den Schlingen der sinnlichen Vergnügung gefangen sehen.
14 Ex 17,12. 15 Diese Wendung findet sich häufig bei Homer (z. B. Ilias I 263; II 85.105.243.254 u. ö.).
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Zwischenschritt: Äußerliche Sklavendienste bedeuten nicht Unfreiheit 32. Den sichtbarsten Beweis dafür, dass nicht die mühevollen Dienste als solche Zeichen für Sklaverei sind, bieten die Kriege. Man kann nämlich beobachten, dass die Soldaten sämtlich selbständig operieren: nicht nur, dass sie ihre vollständigen Waffenrüstungen herbeibringen, sondern vielmehr auch alles, was zum notwendigen Bedarf gehört, wobei sie wie Lasttiere beladen sind. Ferner schwärmen sie zur Wasserbeschaffung und zum Holzsammeln sowie zur Vieh futtersuche aus. 33. Denn wozu ist es notwendig, ausführlich davon zu handeln, was sie gegen die Feinde auf den Feldzügen aufbieten, wenn sie Gräben ziehen, Wälle aufrichten, Trieren16 bauen oder was sie an Dienstausübung und Kunstfertigkeit alles mit Händen und dem übrigen Körper leisten? 34. Es gibt aber auch im Frieden einen Krieg, der hinter den Auseinandersetzungen unter Waffen nicht zurücksteht. Ihn schmieden übler Ruf, Armut und erheblicher Mangel an lebensnotwendigen Dingen zusammen. Durch ihn werden die Menschen mit Gewalt gezwungen, selbst die sklavenhaftesten Tätigkeiten auszuüben. Sie graben, bebauen das Land, betreiben Handwerkskünste und leisten ohne zu zögern untergeordnete Dienste, um sich ernähren zu können. Häufig tragen sie auch Lasten mitten auf dem Marktplatz vor den Augen von Altersgenossen, Mitschülern und denen, die sich zusammen mit ihnen im Jünglingsalter befinden. 35. Andere sind ihrer Abstammung nach Sklaven und gehen gleichwohl durch einen glücklichen Verlauf des Schicksals den Aktivitäten von Freien nach: Als Verwalter von Häusern und Grundbesitz und großer Vermögenswerte nämlich; es kommt bisweilen sogar vor, dass sie als Aufseher ihrer Mitsklaven eingesetzt werden. Vielen wurden sogar die Frauen und verwaisten Kinder ihrer Herren anvertraut, wobei man sie wegen ihrer Zuverlässigkeit Freunden und Verwandten vorzog. Sie sind aber nichtsdestoweniger Sklaven, 16 Große antike Kriegsschiffe, die mit drei gestaffelten Reihen von Ruderern ausgestattet waren.
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obwohl sie Geld verleihen, einkaufen, Einnahmen eintreiben und mit Verwaltungsaufgaben betraut sind. 36. Was also ist daran verwunderlich, wenn jemand auch im Gegensatz hierzu in Folge der Flüchtigkeit des Glücks Dienste eines Sklaven verrichten muss? ›Der Gehorsam gegenüber einem anderen hebt die Freiheit auf.‹ – Und wie ist es dann zu verstehen, dass Kinder Anordnungen des Vaters oder der Mutter ertragen und ihre angesehenen Lehrer ihnen zureden? Niemand nämlich ist freiwillig Sklave. Ganz gewiss werden ja Eltern niemals ein solches Übermaß an Kindeshass an den Tag legen, dass sie ihre eigenen Kinder zwingen werden, Dienstverrichtungen auf sich zu nehmen, die allein Kennzeichen von Sklaverei sind. 37. Wenn aber jemand einige sieht, die von Sklavenhändlern verhökert werden, und meint, sie seien dadurch zugleich Sklaven, so verfehlt er die Wahrheit beträchtlich. Denn der Verkauf weist weder den Käufer als Herrn noch den Verkauften als Sklaven aus, weil schon Väter die Auslösungssummen für ihre Söhne und Söhne vielfach die für ihre Väter entrichtet haben, sei es, dass sie entführt oder im Krieg zu Gefangenen wurden. – Dass diese frei sind, bestimmen die Gesetze der Natur, welche fester begründet sind als die irdischen Gesetze. 38. Einige aber haben die Sachlage schon über die Maßen in ihr Gegenteil verkehrt und verrückt, indem sie anstatt Sklaven ihrer Käufer deren Herren wurden. Ich habe allerdings in der Tat vielfach gesehen, dass Sklavinnen, die schön und von Natur redelustig waren, ihren Besitzern durch zwei Angriffsmittel hart zusetzten: durch die Schönheit ihrer äußeren Erscheinung und durch ihre Anmut in Worten. Denn dies sind Belagerungsmaschinen für Seelen, die unstet und ohne feste Substanz sind; sie sind mächtiger als sämtliche Maschinen, die für die Zerstörung von Mauern verfertigt werden. 39. Ein Beweis aber ist: ihre Herren machen ihnen den Hof, sie flehen sie an, sie trachten danach, ihre Gunst wie vom Schicksal oder einer guten Gottheit zu erbitten; und werden sie nicht beachtet, so zappeln sie in ungeduldigem Verlangen; wenn sie aber nur einen einzigen gnädigen Blick wahrzunehmen vermögen, so geraten sie in Freude und tanzen. – 54
40. Wenn Verkauf als solcher mit Sklaverei gleichzusetzen wäre17, dann müsste man auch behaupten, dass jemand, der Löwen gekauft hat, Herrscher über die Löwen sei. Er wird jedoch sogleich leidvoll erfahren und lernen, welche wilden und grausamen Herren er, der Unselige, sich gekauft hat, wenn sie nur ihre Blicke auf ihn richten. Was also? Glauben wir nicht, dass der Weise im Vergleich zu Löwen noch weniger versklavt ist, da er doch in einer freien und unverwundbaren Seele mehr Abwehrkraft besitzt, als wenn er mit dem Körper, der von Natur aus versklavt ist, und mit der gewaltigsten Anspannung seiner Kraft sich von seinen Zügeln befreite?
Freiheit und die Frage nach dem Glück des Menschen 41. Man kann aber die Freiheit, die der Rechtschaffene18 besitzt, auch aus anderem erkennen: Kein Sklave ist in Wahrheit glücklich; denn was ist kläglicher, als wenn jemand über nichts Macht besitzt, auch nicht über sich selbst? Der Weise aber ist gewiss glücklich, da er Last und Fülle der Harmonie des Guten und Schönen mit sich führt, in welcher die Macht über alle Dinge liegt. Und so ist unzweifelhaft und mit Notwendigkeit der Rechtschaffene frei. 42. Hinzu kommt: Wer würde nicht sagen, dass die Freunde der Götter19 frei sind? Es sei denn, man misst den Freunden der Könige konsequenterweise nicht nur Freiheit, sondern auch Herrschaft zu, da sie doch mitverwalten und mitregieren. Dagegen müsste man den Freunden der olympischen Götter Sklavenstatus zusprechen, obwohl sie wegen ihrer Gottesliebe zugleich Gottgeliebte geworden sind und obwohl sie das gleiche von der Wahrheit als gerecht festgestellte Wohlwollen als Erwiderung empfangen und, wie es die Dichter sagen, Allbeherrscher und Könige über Könige sind20. 17 Der Beginn des Satzes wurde zur Verdeutlichung hinzugefügt. 18 Siehe die Anmerkung zum »gebildeten Menschen« in Abschnitt 1. 19 Die ursprüngliche Textgestalt der Stelle ist unsicher. Die Übersetzung folgt dem Vorschlag Cohns. 20 Vgl. Chrysipp, Fragmenta moralia 359,7.
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43. In noch größerer Kühnheit ging aber der Gesetzgeber der Juden darüber noch deutlich hinaus, da er – wie es heißt – Fachmann der nackten Philosophie ist. Er wagte zu sagen, dass der, der von göttlicher Liebe ergriffen ist und der allein das Seiende verehrt, nicht mehr ein Mensch, sondern ein Gott sei21; ein Gott der Menschen freilich, nicht der Teile der Natur, um es dem Vater aller Dinge zu überlassen, König und Gott über Götter zu sein. 44. Ist es also recht zu meinen, dass der vom Geschick mit solchem Vorrecht Ausgestattete ein Sklave ist, oder vielmehr als einziger ein Freier? Der, wenn er auch im Blick auf seine Person nicht göttlichen Geschicks für würdig befunden wurde, so doch tatsächlich glücklich sein müsste, weil er sich Gottes als Freund bedienen kann. Weder ist sein Fürstreiter nämlich schwach, noch missachtet Gott, der freundschaftlich ist und auf die Angelegenheiten der Freunde achtet, die Rechte der Freundschaft.
Freiheit und Gesetz 45. Fernerhin, wie von den Staaten die einen, die von Oligarchen und Tyrannen regiert werden, Sklaverei erdulden, da sie wilde und harte Herrscher haben, die sie unter das Joch zwingen und unterdrücken, die anderen dagegen, die sich der Gesetze als Aufseher und Verteidiger bedienen, frei sind, so ist es auch unter den Menschen: Die, bei denen Zorn und Begierde oder irgend ein anderer Affekt und hinterlistige Bosheit regieren, sind vollkommen versklavt; diejenigen dagegen, die ihr Leben mit Hilfe eines Gesetzes führen, sind frei. 46. Untrügliches Gesetz aber ist die aufrechte Vernunft. Nicht stammt es von irgendeinem Sterblichen oder gehört sterblich zu irgendeinem, nicht steht es leblos auf leblosen Täfelchen oder Säulen, vielmehr ist es unsterblich von einer Natur, die keinen Tod kennt, in den unsterblichen Verstand eingeprägt.22 47. Deshalb mag man sich auch über die Kurzsichtigkeit derer wundern, die derart deutliche Eigenarten von Sachverhalten nicht genau erkennen: Sie behaupten, für die größten Staaten, Athen und Sparta, 21 Ex 7,1. 22 Vgl. Chrysipp, Fragmenta moralia 360,8.
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seien die Gesetze Solons und Lykurgs, sofern sie in Kraft stünden und regierten und die Bürger ihnen gehorchten, völlig ausreichend, um ihre Freiheit zu garantieren. Dagegen genüge weisen Männern die aufrechte Vernunft, die auch Quelle der anderen Gesetze ist, nicht zur Teilhabe an der Freiheit. Und dies, obwohl sie allem Gehorsam leisten, was auch immer die aufrechte Vernunft gebietet oder verbietet.
Die Freiheit der Rede als Prüfstein 48. Zusätzlich zu dem Gesagten ist ferner das Recht gleichberechtigter Rede, das alle Rechtschaffenen untereinander wahren, der deutlichste Beweis der Freiheit. Daher sagt man auch, dass folgende Trimeter mit der Weisheit eines Philosophen formuliert sind: »von Natur aus haben Sklaven nämlich keinen Anteil an den Gesetzen«23; und nochmals: »wenn du von Natur Sklave bist, so hast du keinen Anteil am Rederecht«24. 49. Ebenso wie das in der Musik gültige Gesetz allen, die Musik studiert haben, das Recht gleichberechtigter Rede innerhalb der Disziplin verleiht, und wie das in der Grammatik oder der Geometrie gültige Gesetz dies im Blick auf Grammatiker oder Mathematiker tut, so auch das im Bereich des Lebens gültige Gesetz für die, die in den Lebensdingen erfahren sind. 50. Die Rechtschaffenen sind sämtlich erfahren in den Angelegenheiten des Lebens, weil sie auch die Sachverhalte in der gesamten Natur kennen. Und es sind manche von ihnen frei, so dass dies auch für diejenigen gilt, die mit ihnen zusammen am Recht gleichberechtigter Rede teilhaben.25 Folglich ist niemand unter den Rechtschaffenen ein Sklave, sondern alle sind frei. 51. Von demselben Ausgangspunkt ausgehend wird sich auch erweisen, dass der Dumme ein Sklave ist. Ebenso wie nämlich das im Bereich der Musik gültige Gesetz den nicht mit der Musik Vertrau23 Fragmente Griechischer Tragiker (Adespota) 326. 24 Fragmente Griechischer Tragiker (Adespota) 304. 25 Die Aussage, dass nur manche der »Rechtschaffenen« frei sind, widerspricht dem Kontext und der Gesamtthese von Philos Schrift; sie wurde z. T. als späterer Zusatz betrachtet. Mit Cohn wird sie hier dem ursprünglichen Text zugerechnet.
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ten kein Recht gleichberechtigter Rede mit solchen verleiht, die in der Musik gebildet sind, und auch das in der Grammatik bestimmende Gesetz den grammatisch Ungebildeten kein gleiches Recht der Rede mit den Grammatikern und wie überhaupt das einer Kunst zugehörige Gesetz den in ihr Ungebildeten kein Rederecht mit Kennern gibt, so verleiht auch das zum Leben gehörige Gesetz den im Leben Unerfahrenen keinen Anteil am Recht gleicher Rede mit den Erfahrenen. 52. Den Freien aber wird sämtlich das aus dem Gesetz stammende Recht gleichberechtigter Rede verliehen; und manche der Rechtschaffenen sind frei26. Und die in den zum Leben gehörigen Dingen Unerfahrenen sind die schlechten Menschen, dagegen sind die Weisen in ihnen sehr erfahren. Folglich gibt es unter den schlechten Menschen nicht solche, die frei sind, vielmehr sind sie alle Sklaven. 53. Zeno aber – wenn sich überhaupt irgendeiner von der Tugend leiten ließ – führt den Nachweis darüber, dass den schlechten Menschen gegenüber den Gebildeten kein Recht auf gleiche Rede zukommt, in noch größerer Kühnheit. Er sagt nämlich: »Wird man nicht über den Schlechten Klage erheben, wenn er dem Rechtschaffenen widerspricht? Der Schlechte hat also nicht das Recht auf gleichberechtigte Rede gegenüber dem Vortrefflichen.«27 54. Ich weiß, dass viele über dieses Wort spotten werden, es entstamme mehr der Anmaßung der Fragestellung als der Einsicht. Wenn sie aber ihren Spott beendet und mit ihrem Gelächter aufgehört haben und näher zusehen und den Ausspruch genau untersuchen wollen, werden sie erschrecken und seine Wahrheit erkennen, nämlich, dass man über niemanden größere Klage erheben wird als über den, der dem Weisen nicht Gehorsam leistet. 55. Denn Verlust von Besitztümern, Einbuße der öffentlichen Ehre, Verbannungen, Kränkungen durch Schläge und alles Derartige ist unbedeutend und ein Nichts im Vergleich zur Boshaftigkeit und zu dem, was die Boshaftigkeiten bewirken. 26 Siehe die vorige Anmerkung. 27 Zeno, Fragment 228. Möglicherweise ist der zweite Teil des Zenowortes nicht Zitat, sondern erst von Philo auf den Kontext hin gebildet.
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Rückkehr zur erkenntnistheoretischen Frage – Abschluss des ersten Teils der Untersuchung Es verhält sich so, dass die meisten die Schädigungen der Seele aufgrund einer Lähmung der Urteilskraft nicht erkennen und allein von den äußeren Dingen beschwert sind; denn ihnen wurde das Urteilskriterium genommen, mit dem allein man eine Schädigung des Verstandes erfassen kann. 56. Wenn sie aber ihre Klarsichtigkeit wiederzugewinnen vermögen, dann sehen sie die Täuschungen, die aus Unverstand entspringen, und die Bedrohungen, die aus Feigheit erwachsen, und all das, was von der Zügellosigkeit noch dazu gefördert wird oder was die Ungerechtigkeit an Gesetzlosem bewirkt. Aufgrund der Erkrankungen des besten Teils an ihnen stöhnen sie in endloser Betrübnis und werden wegen des Übermaßes ihrer Übel nicht einmal Trostworte ertragen. 57. Es scheint aber Zeno diese Vorstellung gleichsam aus einer Quelle der Gesetzgebung der Juden geschöpft zu haben. Dort ist die Rede von zwei Brüdern: Der eine ist besonnen, der andere zügellos. Der beiden gemeinsame Vater hat Mitleid mit dem nicht zur Tugend gelangten Sohn und bittet, dass er dem Bruder als Sklave diene28; denn er ist der Auffassung, dass das scheinbar größte Übel, die Sklaverei, für den dummen Menschen das vollendetste Gut sei, da diesem so die Unabhängigkeit genommen wäre, sich ohne Furcht vor Strafe zu vergehen, und er so unter Anleitung des Vormunds im Blick auf seinen Charakter gebessert würde. 58. Das soweit Dargelegte schiene mir nun als gründliche Zusammenstellung des Untersuchungsgegenstandes hinreichend zu sein. Da aber Ärzte die Vielfalt der Krankheiten durch noch vielfältigere Therapien zu heilen pflegen, ist es notwendig, den als paradox beurteilten Problemen aufgrund ihrer Ungewöhnlichkeit Beweise zuteil werden zu lassen, die schnell aufeinander folgen und noch tiefer eindringen. Denn manche werden nur mit Mühe und durch Beharrlichkeit getroffen, so dass sie die Beweise wahrnehmen. 28 Vgl. Gen 27,40.
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Freiheit als ungezwungenes und ungehindertes Handeln – These und logischer Beweis 59. Man sagt völlig zutreffend, dass der, der alles in besonnener Weise vollbringt, alles zugleich gut vollbringt. Wer aber alles gut vollbringt, vollbringt alles richtig. Wer aber alles richtig vollbringt, vollbringt es fehlerlos und untadelig und unangreifbar und ohne Rechenschaft und Strafe auf sich zu ziehen. Und so wird er die Macht besitzen, alles zu tun und so zu leben, wie er es will. Wem dies möglich ist, der wäre frei. Nun aber vollbringt der gebildete Mensch tatsächlich alles in besonnener Weise. Folglich ist er allein frei. 60. Und es gilt wirklich auch, dass jener, den man weder zwingen noch hindern kann, kein Sklave ist. Es ist aber weder möglich, den Rechtschaffenen zu zwingen noch ihn zu hindern. Folglich ist der Rechtschaffene kein Sklave. Dass er weder gezwungen noch gehindert werden kann, ist offensichtlich. Gehindert wird nämlich der, der die Dinge nicht erlangt, die er begehrt. Der Weise aber begehrt nach den Dingen, die aus Tugend herstammen; dass er sie verfehlt, ist von Natur aus unmöglich. Und ferner, wenn jemand gezwungen wird, ist es offenkundig, dass er irgendetwas unfreiwillig tut. Hierbei aber sind die Handlungen entweder vollkommen pflichtgemäß, wenn sie aus Tugend herstammen, oder Verfehlungen, wenn sie aus Bosheit resultieren, oder sie sind mittlere und indifferente Vollzüge. 61. Der Weise vollbringt die aus Tugend stammenden Handlungen also nicht unter Einwirkung von Gewalt, sondern freiwillig – denn bei ihm gründet alles, was er tut, auf freier Wahl –, die aus Bosheit entspringenden Handlungen führt er nicht einmal im Traum aus, da sie vermeidbar sind. Und gewiss vollbringt er natürlich auch keine indifferenten Taten. Ihnen gegenüber hält sich sein Verstand wie auf einer Waagschale in Balance, weil er darin gelehrt ist, ihnen weder nachzugeben, da sie Kraft wie eine Zugmaschine besäßen, noch sie zu verwerfen, als verdienten sie Abneigung. 60
Hieraus ist offenbar, dass er nichts unfreiwillig tut und sich auch nicht zwingen lässt. Wenn er aber tatsächlich ein Sklave wäre, dann ließe er sich zwingen. Und folglich ist der gebildete Mensch frei.
Widerlegung von Einwänden – Die Zahl der Weisen und Tugendhaften ist gering und verborgen 62. Doch verstehen manche von denen, die mit den Musen am wenigsten Umgang haben, logische Beweise nicht. Sie stellen prinzipiell die sichtbaren Abbilder der Taten daneben, indem sie zu fragen pflegen: Welche Männer gab es denn, entweder früher oder heute, von der Art, wie ihr sie erdichtet? Hierauf gibt es allerdings gute Antwort: Zum einen gab es in der Vergangenheit solche, die ihre Zeitgenossen an Tugend überragten, weil sie sich allein an Gott als Anführer orientierten und nach dem Gesetz, nämlich der aufrechten Vernunft der Natur, ihr Leben führten. Sie waren nicht allein selbst frei, sondern erfüllten auch die, die mit ihnen verkehrten, mit freiheitlicher Gesinnung. Zum anderen gibt es auch bei uns selbst heute noch solche, die von der Harmonie des Guten und Schönen weiser Männer so geprägt wurden, wie Bilder von einem archetypischen Gemälde. 63. Denn wenn die Seelen derer, die uns Widerspruch leisten, von Freiheit entblößt wurden, weil sie von Unverstand und den anderen Arten von Boshaftigkeit versklavt worden sind, so gilt dies deshalb nicht für das gesamte Menschengeschlecht. Es ist aber in keiner Weise verwunderlich, wenn solche Weisen nicht scharenweise in großen Ansammlungen auftreten. Zum ersten gilt nämlich, dass das sehr Gute selten ist; zum zweiten ist dies der Fall, weil sie der großen Menge der planloseren Menschen aus dem Weg gehen und sich der genauen Betrachtung der natürlichen Dinge widmen. Zwar wünschen sie, wenn es irgendwie möglich wäre, das Leben wieder in die rechte Bahn zu bringen – denn die Tugend ist auf den Nutzen für die Allgemeinheit ausgerichtet. Weil sie es aber nicht können, da die Staaten übervoll mit widerwärtigen Taten sind, welche durch die Leidenschaften und Bosheiten der Seele angewachsen sind, entziehen sie sich, um nicht durch die Gewalt des 61
Ansturmes wie von der Wucht einer winterlichen Flut fortgerissen zu werden. 64. Wenn wir aber irgendeinen Eifer nach Besserung besäßen, müssten wir die Schlupfwinkel dieser Männer aufspüren und uns als inständig Flehende niedersetzen und sie auffordern, das animalisch gewordene Leben zu bezähmen und – anstelle von Krieg und Sklaverei und unsagbaren Übeln – Frieden und Freiheit und die reich überströmende Fülle der anderen Güter zu verkünden. 65. So aber erforschen wir um der Besitztümer willen sämtliche Winkel und fördern die harten und rauhen Adern der Erde zu Tage; und der Abbau von Metall wird in vielen Teilen des flachen Landes betrieben; Metall baut man auch in zahlreichen Abschnitten des Gebirges ab, da man Gold und Silber, Erz und Eisen und die entsprechenden anderen Materialien sucht. 66. Die hohle Wahnvorstellung, die das Blendwerk vergöttert, stieg jedoch sogar bis in die Tiefe des Meeres hinab, um zu untersuchen, ob nicht irgendeine Kostbarkeit, welche zu den Sinnesfreuden gehört, dort irgendwo verborgen aufbewahrt liegt. Und wenn sie mannigfache Arten von bunten, kostbaren Steinen ausfindig gemacht hat, die teils an Felsen, teils an Muscheln angewachsen sind – welche sogar an Wert zugenommen haben –, dann schreibt sie der Täuschung des äußerlich sichtbaren Anscheins hohen Wert zu. 67. Um der Vernunft oder der Besonnenheit oder der Tapferkeit oder der Gerechtigkeit willen aber wird die Erde nicht durchstreift, auch nicht dort, wo sie zugänglich ist; Meeresfluten aber werden um ihrer willen nicht von Schiffen befahren, obwohl sie zu jeder Stunde des Jahres von Seeleuten bereist werden. 68. Indessen, welche Notwendigkeit besteht denn sowohl für weite Landreisen als auch für das Befahren der Meere, wenn es um das Aufspüren und die Suche nach der Tugend geht, da doch ihr Schöpfer ihre Wurzeln nicht weit entfernt, sondern so nahe eingepflanzt hat? In diesem Sinn sagt auch der weise Gesetzgeber der Juden: »In deinem Mund und in deinem Herzen und in deinen Händen«29; er verweist so sinnbildlich durch symbolische Rede auf Worte, Pläne 29 Dtn 30,14; zu Abschnitt 68 vgl. insgesamt Dtn 30,11–14 (auch zitiert in Philo, De virtutibus 183).
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und Taten, welche sämtlich einer Kunstfertigkeit bedürfen, wie sie dem Landmann zu eigen ist. 69. Die einen nun gaben der Trägheit den Vorzug vor der mühevollen Arbeit und verhinderten so nicht allein die Pflanzentriebe, sondern verdarben sie, indem sie die Wurzeln verdorren ließen. Die anderen aber erachteten Müßiggang für schädlich, sie waren willig, die Mühe harter körperlicher Arbeit auf sich zu nehmen, so als ob sie die Kunst des Ackerbaus auf edle Sprösslinge verwendeten. Durch anhaltendes sorgfältiges Bekümmern ließen sie Tugenden wie Baumstämme zu einer Länge wachsen, die an den Himmel reicht, immer blühende und unsterbliche Zweige, die niemals aufhören, als Frucht die Glückseligkeit zu tragen, oder, wie manche meinen, sie nicht zu tragen, sondern selbst die Glückseligkeit zu sein. Diese pflegt Mose mit einem zusammengesetzten Begriff als »Ganzfrüchte«30 zu bezeichnen. 70. Bei den aus der Erde sprossenden Pflanzen ist nämlich weder die Frucht mit den Bäumen zu identifizieren, noch die Bäume mit der Frucht; bei den Dingen aber, die in der Seele heranwachsen, haben sich die Zweige ganz und gar in die Natur der Frucht verwandelt, nämlich die der Vernunft, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit sowie der Besonnenheit. 71. Da wir nun derartige Fähigkeit in unserer Reichweite haben, werden wir nicht vor Scham erröten, wenn wir dem Menschengeschlecht Mangel an Weisheit bescheinigen, die man wie einen Funken, der im Holz glimmt, durch Blasen hervorrufen und wieder anfachen könnte? Aber gegenüber den Dingen, um die man sich eifrig bemühen müsste, weil sie dem Menschen am meisten verwandt und eigentümlich sind, bestehen große Trägheit und andauernde Sorglosigkeit. Hierdurch werden die Samen der Harmonie des Guten und Schönen verdorben. Dagegen besteht gegenüber den Dingen, auf die zu verzichten sich gehören würde, unersättliche Sehnsucht und Verlangen. 72. Deswegen sind Land und Meer mit Reichen und Berühmten und auf die sinnlichen Lüste fixierten Menschen angefüllt; dagegen 30 Vgl. im Singular Lev 16,4; Num 15,3 u. a. Hierzu Philo, Quaestiones et Solutiones in Gen. II 52 (zu Gen 8,20).
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ist jedoch die Zahl der Besonnenen und Gerechten und gebildeten Menschen nur gering. Diese geringe Gruppe aber gibt es tatsächlich, auch wenn sie nur spärlich an Zahl ist.
Beispiele für Gruppen von wahrhaft Freien – Die Gemeinschaft der Essener 73. Hierfür zeugen aber Griechenland und die nichtgriechische Welt. In Griechenland standen die, die man wahrheitsgemäß als die »sieben Weisen« bezeichnete, in Blüte. Auch andere erstarkten vor und, folgerichtig, nach ihnen. Die Erinnerung an die Älteren von ihnen verschwand aufgrund der Länge der gegebenen Zeiträume; die Erinnerung an die, die noch jung sind, aber wird wegen der überhand nehmenden Geringschätzung von Seiten ihrer Zeitgenossen verdunkelt. 74. In der nichtgriechischen Welt aber, in der es Botschafter der Worte und Taten gibt31, begegnen sehr mitgliederstarke Vereinigungen guter und schöner Männer. Bei den Persern gibt es die Vereinigung der »Magier«, die die Werke der Natur mit dem Ziel der genauen Wahrheitserkenntnis durchforschen. In abgeschiedener Ruhe werden sie mit Eindrücken, die durchdringender sind als die gewöhnlichen, in die göttlichen Fertigkeiten sowohl eingeweiht als auch weihen sie in sie ein. Bei den Indern besteht die Vereinigung der »Gymnosophisten«, die zusätzlich zum Studium der Naturkunde auch sorgsam die ethische Philosophie ausüben und ihr ganzes Leben zu einem Beweis der Tugend gemacht haben. 75. Es ist aber auch das palästinische Syrien nicht ohne Früchte der Harmonie des Guten und Schönen. Dieses bewohnt ein nicht geringer Teil des äußerst menschenreichen Volkes der Juden. Einige bei ihnen werden mit dem Begriff »Essener« bezeichnet, eine Menge von über viertausend. Meiner Meinung nach ist ihr Name – auf Basis einer ungenauen Ausprägung der griechischen Sprache – von »Heiligkeit«32 abgeleitet. Denn sie wurden auch wohl im höchsten Maß zu Dienern 31 Der Text dieser Stelle ist unsicher. 32 Griechisch: hosiótes.
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Gottes, indem sie nicht Lebewesen opfern, sondern es für ihre Pflicht erachten, ihren eigenen Verstand dem Heiligen gemäß einzurichten. 76. Diese, so ist an erster Stelle hervorzuheben, wohnen in Dörfern und wenden sich wegen der mit Händen zu greifenden Gesetzlosigkeiten ihrer Bewohner von den Städten ab. Sie wissen, dass aus dem Kontakt mit den Zeitgenossen eine unheilbare Infektion in den Seelen entsteht, wie eine Krankheit, die aus todbringender Luft hervorgeht. Von ihnen bearbeiten die einen das Land, die anderen befassen sich mit Künsten, die den Frieden fördern. Derart bringen sie sowohl sich selbst als auch denen, mit denen sie verkehren, Nutzen. Weder Silber noch Gold verwahren sie als Schätze, noch erwerben sie große Ländereien aus Begierde nach Einkünften, sondern sie beschaffen sich nur soviel, wie es die notwendigen Lebensbedürfnisse erfordern. 77. Denn beinahe als einzige unter allen Menschen sind sie eher aufgrund ihrer Lebensweise als aufgrund eines Mangels an glücklichem Geschick mittellos und arm geworden; zugleich werden sie für sehr reich gehalten – was sie ja auch sind –, weil sie die Genügsamkeit und Anspruchslosigkeit als Überfluss beurteilen. 78. Jemanden, der Pfeile, Speere, Dolche, Helme, Brustpanzer oder Schilde herstellt, wird man bei ihnen nicht finden, ferner auch überhaupt keinen Waffenschmied oder Kriegsmaschinenbauer oder einen, der irgendein Kriegsgerät anfertigt – aber auch nichts von den Dingen, die dem Frieden dienen, die jedoch gleichwohl leicht zur Schlechtigkeit missbraucht werden können. Denn Großhandel oder Kleinhandel oder Schiffsbetrieb kennen sie nicht einmal im Traum, weil sie alle Angriffsflächen der Habgier verabscheuen. 79. Und es gibt bei ihnen auch nicht einen einzigen Sklaven, sondern sie sind alle Freie, die sich untereinander Gegendienste leisten. Und sie verachten die Sklavenbesitzer, nicht nur, weil sie sie als ungerecht betrachten, da sie die Gleichheit verletzen, sondern auch, weil sie ihnen als gottlos gelten, da sie das Gesetz der Natur aufheben, welche alle in gleicher Weise geboren und wie eine Mutter ernährt und zu rechtmäßigen Brüdern gemacht hat – und das nicht nur dem Namen nach, sondern auch tatsächlich. Diese Verwandtschaft unter ihnen hat die hinterlistige Habsucht, die sich mit Erfolg ausgebreitet hat, heftig erschüttert; anstelle von 65
verwandtschaftlicher Verbundenheit hat diese vielmehr Entfremdung und anstelle von Freundschaft Feindschaft bewirkt. 80. Und aus dem Bereich der Philosophie überlassen sie die Logik denen, die Worten nachjagen, da sie zum Erwerb der Tugend nicht notwendig sei, und die Physik denen, die von überirdischen Dingen schwätzen, da sie glauben, dass sie über das hinausreicht, was sich auf die menschliche Natur bezieht. – Dies gilt mit Ausnahme von dem, was sich in ihrer Philosophie mit der Existenz Gottes selbst und der Entstehung des Alls befasst. In der Ethik jedoch üben sie sich sehr, indem sie die väterlichen Gesetze als Lehrmeister gebrauchen, die die menschliche Seele unmöglich ohne inspirative göttliche Eingebung erdacht haben kann. 81. In diesen Gesetzen werden sie zwar immer wieder auch während der übrigen Zeit unterwiesen, jedoch vornehmlich jeweils am siebten Wochentag. Denn der siebte Wochentag wird als heilig erachtet. An ihm enthalten sie sich der sonstigen Arbeiten und begeben sich zu heiligen Orten, die Synagogen genannt werden. Dort pflegen sie sich entsprechend dem Lebensalter – die Jungen zu den Füßen der Älteren – in Reihen niederzusetzen, und mit der gebührenden Ordnung sind sie bereit zu hören. 82. Dann nimmt einer die Bücher und liest vor; ein anderer aber aus den Reihen der Erfahrensten kommt herzu und belehrt gründlich über das, was nicht verständlich ist. Denn das meiste wird bei ihnen nach althergebrachtem Brauch durch die Nutzung von Symbolen philosophisch untersucht. 83. Sie werden aber in der Frömmigkeit, Heiligkeit, Gerechtigkeit, in der Verwaltung des Hauses, im Bürgerrecht, im Wissen um die in Hinsicht auf die Wahrheit guten und schlechten bzw. indifferenten Dinge und in der Wahl des Notwendigen sowie der Meidung des Gegenteiligen geschult. Hierbei bedienen sie sich dreifach strukturierter Regeln und Maßstäbe, nämlich der Gottesliebe und der Tugendliebe sowie der Menschenliebe. 84. Von ihrer Gottesliebe geben sie unzählige Beweise: Ihre das ganze Leben andauernde und kontinuierliche Reinheit, ihre Ablehnung des Schwörens, ihre Freiheit von Lüge, ihr Glaube, die Gottheit sei Ursache für alle guten Dinge, umgekehrt jedoch für nichts Schlechtes. 66
Beweise für ihre Tugendliebe aber sind ihre Freiheit von Liebe zu Reichtum, Ruhm und Vergnügen, ihre Selbstbeherrschung, ihre Geduld, ferner aber Bedürfnislosigkeit, Einfachheit, Anspruchslosigkeit, ihre Bescheidenheit, ihre Achtung des Gesetzes, ihre Aufrichtigkeit sowie alles, was diesen Verhaltensweisen ähnlich ist. Beweise ihrer Menschenliebe aber sind die wohlwollende Gesinnung, ihr Gleichheitsempfinden sowie ihr Gemeinschaftssinn, der höher steht als jedes Wort und worüber nur kurz zu handeln nicht angemessen ist. 85. Zunächst besitzt sodann niemand ein eigenes Haus, von dem nicht gelten würde, dass es allen gemeinsam gehörte. Denn darüber hinaus, dass sie in Gemeinschaften zusammenwohnen, steht auch den von anderswoher ankommenden Mitstreitern die Tür offen. 86. Ferner gibt es nur eine Vorratskammer für alle, und die Haushaltsmittel sind gemeinsam. Gemeinsam sind auch die Kleider, ferner die Speisen, wenn sie Gemeinschaftsmähler veranstalten. Die Gemeinsamkeit von Haus, Leben oder Tisch wird man nämlich wohl bei keiner anderen Vereinigung in höherem Maß durch die Tat bekräftigt finden. Und vielleicht ist das natürlich.33 Denn was sie als Lohn für ihre tägliche Arbeit empfangen, dies alles bewahren sie nicht als ihr Privateigentum, sondern stellen es als Gemeingut zur Verfügung und lassen den daraus sich ergebenden Nutzen allen zukommen, die von ihm Gebrauch machen wollen. 87. Und die Kranken, die nichts aufbringen können, lassen sie deswegen nicht ohne Pflege. Vielmehr steht ihnen das für die Maßnahmen der Krankenpflege Notwendige aus den gemeinsamen Mitteln bereit, so dass sie mit aller Sorglosigkeit aus einem beträchtlichen Überfluss Ausgaben machen können. Respekt und Fürsorge wird den Älteren zuteil, die im Alter wie Eltern von ihren rechtmäßigen Kindern mit unzähligen Händen und Gedanken in allem Überfluss ernährt werden. 88. Zu derartigen Meistern im Bereich der Tugend bildet eine Philosophie, die ohne die Kleinlichkeit griechischer Begriffsunter33 Der Satz ließe sich auch als Frage auffassen: »Und ist das nicht vielleicht natürlich/konsequent?«
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scheidungen betrieben wird. Sie gibt als Übungen die lobenswerten Taten vor, durch welche die unversklavbare Freiheit fest begründet wird. 89. Ein Beweis hierfür ist: Viele Herrscher erhoben sich zu verschiedenen Zeiten im Land, die sich durch verschiedene Naturen und Gesinnungen auszeichneten. Die einen von ihnen strebten nämlich danach, die ungezähmte Wildheit von Tieren zu übertreffen; sie ließen keine Art von Grausamkeit aus. Scharenweise brachten sie ihre Untertanen als Schlachtopfer dar oder zerhackten sie, sogar während sie noch am Leben waren, nach der Methode von Opferschlächtern stück- und gliedweise. Sie hörten damit nicht eher auf, bis sie durch die Gerechtigkeit, die über die menschlichen Verhältnisse wacht, dieselben unglücklichen Geschicke erlitten. 90. Die anderen aber verwandelten ihre Verrücktheit und rasende Wut in eine andersartige Gestalt der Bosheit. Sie übten unaussprechliche Grausamkeit; dabei sprachen sie in ruhiger Weise, sie verrieten jedoch durch den heuchlerischen Schein einer ruhigeren Stimme ihren zornerfüllten Charakter. Sie schmeichelten sich ein, wie es Gift absondernde Hunde tun, wurden zu Verursachern unheilbarer Übel und ließen über die Städte verteilt als Denkmäler ihrer Gottlosigkeit und ihres Menschenhasses die unvergesslichen Schicksale ihrer Opfer zurück. 91. Niemand jedoch, weder von den völlig Verrohten noch von den gänzlich Hinterlistigen und Heimtückischen, vermochte es freilich, der Gruppe der Essener oder Heiligen, von der wir sprachen, Schuld anzulasten. Vielmehr erwiesen sich alle im Vergleich zur Harmonie des Guten und Schönen dieser Männer als schwächer; und sie behandelten sie so, als wären sie unabhängig und frei von Natur aus, sie besangen lobpreisend ihre Gemeinschaftsmähler und ihren Gemeinschaftssinn, welcher höher steht als jedes Wort und der den deutlichsten Beweis eines vollkommenen und sehr glücklichen Lebens darstellt.
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Beispiele für herausragende Einzelne, die als wahrhaft frei gelten können 92. Weil einige meinen, dass die Tugenden, die sich in Gruppierungen finden, nicht vollkommen seien, sondern lediglich bis zu einem Wachstums- und Zunahmegrad gelangen, ist es notwendig, als Zeugen die Lebensbeispiele von einzelnen guten Männern anzuführen, die die deutlichsten Beweise der Freiheit sind. 93. Kalanos war seiner Herkunft nach ein Inder und gehörte zu den Gymnosophisten. Dieser wurde als der Standhafteste unter allen seinen Zeitgenossen erachtet; und dies nicht nur von seinen Landsleuten, sondern auch bei fremden, feindlichen Königen wurde er bewundert – was tatsächlich höchst selten ist –, weil er mit lobenswerten Worten kompetente Taten verband. 94. So wollte doch Alexander von Makedonien Griechenland die in der nichtgriechischen Welt zu findende Weisheit präsentieren, gleichsam als Abbild und Nachahmung eines urbildlichen Gemäldes. Und zunächst forderte er Kalanos auf, mit ihm zusammen sein Land zu verlassen, und zwar mit der Aussicht, er werde größten Ruhm in ganz Asien und Europa erwerben. 95. Als er ihn hierzu nicht überreden konnte, sprach er davon, er werde ihn zum Nachfolgen zwingen. Der aber erwiderte sehr treffend und vornehm: »Was wäre ich denn wert, dass du mich den Griechen zeigen willst, Alexander, wenn ich mich tatsächlich zwingen lassen würde, etwas zu tun, was ich nicht will?« Ist dieses Wort nicht erfüllt von der Freiheit der Rede, und ist nicht noch viel mehr sein Verstand erfüllt von Freiheit? Denn ferner ließ er auch in seinen schriftlichen Zeugnissen, die beständiger sind als gesprochene Worte, deutlich ins Auge fallende Ausprägungen eines Charakters erkennen, der sich nicht versklaven lässt. 96. Das verrät der Brief, den er dem König schickte: »Kalanos an Alexander. Freunde überreden dich, indischen Philosophen Gewaltmaßnahmen und Zwang anzutun. Sie haben jedoch nicht einmal in ihren Träumen unsere Taten gesehen. Du wirst nämlich nur Körper von einem Ort zum andern Ort bringen. Seelen aber wirst du ebenso wenig z wingen 69
etwas zu tun, was sie nicht wollen, wie du Backsteine und Holz stücke zu reden zwingen kannst. Feuer bereitet den lebenden Körpern größte Schmerzen und bewirkt ihre Vernichtung. Hierüber haben wir Überlegenheit gewonnen, lebendig lassen wir uns verbrennen. Es gibt keinen König und keinen Herrscher, der uns zwingen kann, etwas zu tun, was wir nicht selbst zuvor entschieden haben. Wir gleichen aber nicht denjenigen Philosophen der Griechen, die ihre Reden für eine festliche Volksversammlung einstudierten. Sondern vielmehr entsprechen bei uns den Worten die Taten und den Taten die Worte. – Sind die Worte knapp, so haben sie eine andere Kraft und vermögen sowohl Glück als auch Freiheit zu erwirken34–.« 97. Ist es also nicht angemessen, zu solchen Urteilen und Einsichten noch das Wort Zenos erklingen zu lassen: »Eher wird einer einen mit Luft gefüllten Schlauch untertauchen als einen von den Rechtschaffenen zwingen, etwas unfreiwillig zu tun, was er nicht will«?35 Denn eine Seele, die die aufrechte Vernunft mit festen Grundsätzen wie mit Sehnen angespannt hat, ist unnachgiebig und unbesiegbar.
Der Sonderfall der Heroen und die wahre Kraft der menschlichen Seele 98. Zeugen für die Freiheit der Rechtschaffenen sind Dichter und Schriftsteller, nach deren Einsichten Griechen ebenso wie Nichtgriechen beinahe von ihrem Windelalter an erzogen werden. Hierdurch wird ihr Charakter gebessert, weil sie alles, was auf Grund von Verfehlung in der Erziehung und Lebensweise in ihren Seelen verfälscht wurde, in die geprüfte Währung umprägen. 99. Sieh zum Beispiel, was Herakles bei Euripides sagt: »Versenge, verbrenne mein Fleisch! Trinke dich voll mit meinem schwarzen Blut! Denn eher befinden sich die Sterne unter der Erde und wird umgekehrt die Erde in den Himmel aufsteigen, als dass dir von mir ein Schmeichelwort entgegnet wird.«36 34 Der Wortlaut des Satzes ist unsicher und im Sinn umstritten. Möglicherweise ist zu Beginn ein Textteil ausgefallen. 35 Zeno, Fragment 48. 36 Dasselbe Euripides-Wort findet sich oben in Abschnitt 25.
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Denn tatsächlich sind Schmeichelei, Schleimerei und Heuchelei, bei denen Worte und Einsichten einander widerstreiten, stärkster Ausdruck von Sklaverei. Dagegen ist die echte und rechtmäßige, aus dem reinen Gewissen herrührende Freiheit der Rede den Edelgesinnten angemessen. 100. Weiterhin, siehst du nicht, dass derselbe Rechtschaffene nicht einmal dann, wenn er verkauft wird, ein Sklave zu sein scheint, sondern vielmehr die Zuschauer in Bestürzung versetzt, da sie erkennen, dass er nicht nur frei ist, sondern auch Herr über den sein wird, der ihn kauft? 101. Hermes zum Beispiel antwortet dem, der ihn fragt, ob Herakles untauglich sei: »Keineswegs untauglich, sondern ganz und gar im Gegenteil: In seiner äußeren Erscheinung ist er ehrbar; und er ist weder niedrig statuiert noch zu massig, wie es ein Sklave wohl wäre; vielmehr erscheint er dem Betrachter auch in seinem Gewand glänzend, und mit der Keule ist er effektiv.« – »Niemand will für seine Häuser Herren erwerben, die ihm selbst überlegen sind. Ein jeder aber, der dich betrachtet, gerät in Furcht. Denn dein Blick ist voll Feuer, wie beim Stier, der auf den Angriff eines Löwen starrt.« Dann fügt er hinzu: »Dieses dein Aussehen verrät, auch wenn du schweigst, dass du nicht gehorsam sein wirst, sondern eher befehlen als Befehle empfangen willst.«37 102. Auch als Syleus ihn gekauft hatte und er auf den Acker geschickt wurde, zeigte er aber durch seine Taten das unversklavte Wesen seiner Natur. Er schlachtete nämlich den besten unter den dort befindlichen Stieren – unter dem Vorwand eines Opfers für Zeus – und ließ ihn sich wohl schmecken; ferner schaffte er viel Wein auf einmal heraus und legte sich sehr gemütlich nieder, um zu frühstücken. 103. Als Syleus kommt und sowohl wegen des entstandenen Schadens als auch wegen der Lässigkeit seines Dieners und der von ihm an den Tag gelegten übergroßen Verachtung verärgert ist, verändert Herakles weder in irgendeiner Weise seine Gesichtsfarbe noch beschönigt er, was er getan hat, sondern er spricht vielmehr kühnste
37 Die drei Zitate entsprechen den Euripides-Fragmenten 689–691.
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Worte: »Leg dich nieder, und lass uns gemeinsam trinken! Mache aber sogleich die Probe, ob du hierin überlegen bist!«38 104. Muss man diesen, der es nicht allein wagt, sich wie ein Freigelassener zu benehmen, sondern vielmehr auch dem, der ihn gekauft hat, Befehle zu erteilen, ihn zu schlagen und zu misshandeln, wenn er sich empört, und wenn er andere zu Hilfe ruft, um alle zusammen umzubringen – muss man diesen eher zum Sklaven oder zum Herren seines Gebieters erklären? Die schriftlichen Urkunden jedenfalls, die sich auf die sogenannten Kaufsummen beziehen, sind Hohngelächter und dummes Zeug, wenn sie durch die stärkere Kraft derer, gegen die sie abgefasst sind, ihrer blühenden Kraft beraubt werden. Sie sind noch weniger rechtskräftig als unbeschriebene Blätter, sie sehen der gänzlichen Vernichtung durch Motten, Zeit oder Schimmel entgegen. 105. Allerdings darf man nicht, so wird man einwenden, die Fähigkeiten der Heroen als Beweis anführen. Denn sie gewannen eine Größe, die über der menschlichen Natur steht, so dass sie mit den olympischen Göttern wetteiferten. Sie erlangten durchs Schicksalslos gemischte Abstammung, indem unsterbliche und sterbliche Samen sich durchmischten, und wurden begreiflicherweise als Halbgötter bezeichnet, da die sterbliche Mischung in ihnen von dem unsterblichen Teil überwältigt wurde. Es ist daher keineswegs befremdlich, wenn sie diejenigen gering achteten, die ihnen künstlich die Sklaverei auferlegen wollten. Dies mag sein. 106. Waren etwa auch Anaxarchus oder Zeno, der Eleat, Heroen oder stammten sie von Göttern ab? Dessen ungeachtet, als sie von grausamen und von Natur aus harten Tyrannen, deren tierische Wut sich auf sie richtete, mit neu entwickelten Methoden der Misshandlung gefoltert wurden, verachteten sie jedoch mit großer Geringschätzung alle furchtbaren Ereignisse so, als gingen diese sie nichts an bzw. als richteten sie sich auf die Körper von Feinden. 107. Sie hatten nämlich ihre Seele von Anfang an aus Wissensliebe daran gewöhnt, sich von der Gemeinschaft mit den Leidenschaften fernzuhalten, und sich dagegen an Erziehung und Weisheit zu halten. Sie hatten ihre Seele zum Auszug aus dem Körper veranlasst und sie 38 Euripides, Fragment 692.
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dagegen zu einer Mitbewohnerin der Vernunft und Tapferkeit sowie der anderen Tugenden erklärt. 108. Als der eine vor Gericht gestellt und gefoltert wurde, um etwas von seinen Geheimnissen preiszugeben, zeigte er sich darum stärker als Feuer und Eisen, welche die stärksten Kräfte in der Natur bilden. Mit den Zähnen biss er seine Zunge ab und schleuderte sie auf den Folterer, damit er nicht etwas unfreiwillig unter Gewalt ausspräche, worüber Stillschweigen zu bewahren gut war. 109. Der andere aber sprach die duldsamsten Worte: »Zerstampfe die Haut des Anaxarchus, denn Anaxarchus selbst kannst du nicht zerstampfen.« Diese Beweise von Mut, angefüllt mit Dreistigkeit, übertreffen die edle Abstammung der Heroen beträchtlich, denn ihnen kommt Ruhm durch ihre Erzeuger ohne eigenen Beitrag zu, während der Ruhm der anderen auf selbst gewählten Tugenden beruht, die denjenigen, die in ehrlicher Weise von ihnen Gebrauch machen, von Natur aus Unsterblichkeit verleihen.
Sterben für die Freiheit – Der Tod als letzter Ausweg, um frei zu sein 110. Ich weiß, dass Ringkämpfer und Pankratiasten häufig, wenn ihnen ihre Körper ermatten, aus Ehrgeiz und Siegeseifer allein noch durch die Seele neuen Atem schöpfen und weiterkämpfen. Sie haben sich daran gewöhnt, das Furchtbare zu verachten. So bleiben sie bis zum Ende ihres Lebens standhaft. 111. Ferner trainieren die einen die Spannkraft in ihren Körpern und sind gegen die Furcht vor dem Tod angetreten, entweder wegen der Hoffnung auf den Sieg oder mit dem Ziel, ihre eigene Niederlage nicht ansehen zu müssen. Die anderen aber stärken die unsichtbare Vernunft in sich selbst, die in Wahrheit den Menschen ausmacht und die die äußerlich sichtbare Gestalt lediglich als ihre Behausung mit sich führt; und sie salben sie durch Worte aus der Philosophie und Taten, die der Tugend entspringen. Sind wir etwa der Meinung, dass sie nicht bereit sind, für die Freiheit zu sterben, damit sie in unversklavter Gesinnung ihren vom Schicksal bestimmten Weg vollenden werden? 73
112. Man berichtet, dass bei einem heiligen Wettkampf zwei Athleten, mit gleichgewichtiger Körperkraft ausgestattet, jeweils in derselben Weise den Angriff erwiderten sowie ihn auch in derselben Weise erlitten und nicht eher aufgaben, als bis jeder der beiden starb. »Unglücklicher! Dein Kampfesmut wird dich vernichten!«, mag man bei derartigen Menschen sagen.39 113. Wenn es aber für Wettkämpfer ruhmreich ist, für Olivenblätter und Efeu den Tod zu erleiden, ist es für die Weisen dann nicht viel ehrenvoller, ihn für die Freiheit zu erleiden? Die Sehnsucht nach ihr ist in den Seelen, – um die Wahrheit auszusprechen: nur in ihnen – eingepflanzt, gleichwie ein nicht durch Zufälle geeinter Teil, der, wenn er abgeschnitten würde, den Untergang der gesamten Gemeinschaft zur Folge hätte. 114. Von denen, die Tugendbeispiele aufzuspüren pflegen, wird das von Geburt oder Natur aus unversklavte Wesen eines lakonischen Jungen besungen. Als er nämlich durch einen der Leute des Antigonus als Kriegsgefangener verschleppt worden war, übernahm er die Dienstleistungen, die Zeichen eines Freien sind, widersetzte sich jedoch solchen, die sklavenhaft sind, und stellte fest, er werde nicht als Sklave dienen. Und wiewohl er aufgrund seines Alters noch nicht fest in den Gesetzen des Lykurg hatte erzogen werden können – denn er hatte nur von ihnen gekostet –, erachtete er den Tod als glücklicheres Los im Vergleich zu seinem gegenwärtigen nicht lebenswerten Leben. Nachdem er die Hoffnung, losgekauft zu werden, aufgegeben hatte, tötete er sich freudig selbst. 115. Es wird aber auch berichtet, dass bei den Makedonen gefangene dardanische Frauen, weil sie die Sklaverei als das schändlichste Übel betrachteten, ihre Kinder, die sie nährten, in die tiefste Stelle des Flusses warfen und dabei riefen: »Nein, ihr jedenfalls werdet nicht Sklavendienste leisten! Sondern bevor ihr ein Leben voll schwerem Elend beginnt, werdet ihr euer Schicksal verkürzen und als Freie den notwendigen und allerletzten Weg zum jenseitigen Ufer zurücklegen.«
39 Homer, Ilias VI 407.
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116. Der Tragödiendichter Euripides lässt Polyxene als Verächterin des Todes und Protagonistin der Freiheit auftreten. Aus dieser Einstellung heraus spricht sie: »Freiwillig sterbe ich, damit niemand meinen Leib berühre. Denn mutig will ich meinen Nacken darbieten. Lasst mich frei im Namen der Götter und tötet mich, damit ich als Freie sterbe.«40 117. Frauen und Jünglinge, von denen die einen von Natur aus geringes Einsichtsvermögen haben, die anderen aber sich in einem Alter befinden, welches leicht fehlgeht, sind von einer solchen Liebe zur Freiheit geprägt, dass sie, um dieser nicht beraubt zu werden, den Tod so erstreben, als ginge es um Unsterblichkeit. Sollen wir dann glauben, dass die, welche von der unvermischten Weisheit getrunken haben, nicht geradeheraus Freie seien – sie, die doch als eine Quelle ihrer Glückseligkeit die Tugend in sich tragen, welche keine hinterlistige Macht jemals zum Versiegen brachte, weil sie ewiges Erbe der Herrschaft und des Königtums besitzt? 118. Wir hören ja auch von ganzen Völkern, die um der Freiheit und zugleich der Treue gegenüber verstorbenen Wohltätern willen freiwillig die völlige Vernichtung auf sich nahmen, wie es die Xan thier vor nicht langer Zeit getan haben sollen. Als einer der Mörder Julius Caesars, nämlich Brutus, herbeizog und gegen sie die Schlacht begann, fürchteten sie nicht die Zerstörung, sondern die Sklaverei unter einem Mörder, der einen Anführer und Wohltäter getötet hatte. Beides nämlich war ihm Caesar gewesen. Sie versuchten, den Angriff abzuwehren, solange sie dies vermochten, und dies zunächst erfolgreich. Selbst als sie allmählich aufgerieben wurden, suchten sie noch Widerstand zu leisten. 119. Als sie aber ihre gesamte Kraft verbraucht hatten, trieben sie ein jeder Frauen und Eltern und Kinder in ihren jeweiligen Häusern zusammen und schlachteten sie ab. Und sie schichteten ihre Blutopfer zu Haufen auf, warfen Feuer hinein und brachten sich selbst darauf als Schlachtopfer dar. Auf diese Weise erfüllten sie aus freier und edelmütiger Gesinnung heraus als Freie das über sie verhängte Los.
40 Euripides, Hekabe 548–551.
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Freiheit als Wagemut und Unbeugsamkeit der Seele 120. Diese zogen den ruhmvollen Tod einem ehrlosen Leben vor, indem sie zugleich der erbarmungslosen Härte tyrannischer Feinde entflohen. Die aber, denen die vom Schicksal bestimmten Ereignisse gestatteten, weiter zu leben, harrten in Geduld aus, indem sie die Verwegenheit des Herakles sorgsam nachahmten. Denn auch jener erwies sich gegenüber den Geboten des Eurystheus als überlegen. 121. Einer solchen Erhabenheit und Größe der Gesinnung bediente sich zum Beispiel der kynische Philosoph Diogenes. So kam es, als er von Räubern gefangengenommen wurde und sie ihm nur kümmerlich und kaum die notwendigen Nahrungsmittel darboten, da ließ er sich weder von dem Schicksal, das ihn getroffen hatte, in die Knie zwingen noch fürchtete er die Grausamkeit derer, die ihn in ihre Gewalt gebracht hatten. Vielmehr sprach er: »Es geschieht doch etwas völlig Widersinniges, wenn man Schweine oder Schafe, sobald sie verkauft werden sollen, mit ausgesuchtesten Futtermitteln mästet, um sie fett zu machen, das Beste unter den Lebewesen aber, den Menschen, durch Fasten und ununterbrochene Mangelsituationen bis auf das Skelett abmagert, um dann nur einen geringen Preis zu erzielen.« 122. Als er aber ausreichende Nahrungsmittel erhielt, weil er mit anderen Gefangenen verkauft werden sollte, setzte er sich vorher hin, frühstückte guten Mutes, wobei er auch seinen Mitgefangenen gerne etwas abgab. Als aber einer es nicht aushielt, sondern vielmehr sehr niedergeschlagen war, da sprach Diogenes: »Willst du nicht mit dem Grübeln aufhören? Mache das Beste aus der jetzigen Situation! ›Denn auch Niobe, die schönhaarige, dachte an Speise; ihr waren zwölf Kinder in den Gemächern verstorben, sechs Töchter und sechs Söhne, die in blühender Jugendkraft standen.‹«41 123. Hernach, als ihn einer von den Kaufinteressenten fragte: »Worauf verstehst du dich?«, da sprach er mit jugendlichem Übermut: »Über Menschen zu herrschen!«, und zwar, wie es schien, aus 41 Homer, Ilias XXIV 602–604.
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dem Innern seiner Seele heraus, welche ihr Freisein und ihre edle Abkunft sowie ihren von Natur aus königlichen Charakter offenbarte. Endlich aber verlegte er sich auf scherzhaftes Reden infolge seiner gewohnten Sorglosigkeit42, angesichts derer die anderen von Grübeln erfüllt und niedergeschlagen waren. 124. Es heißt zum Beispiel, als er einen der Käufer erblickte, der ein feminines Leiden hatte und dem Aussehen nach unmännlich erschien, da sei er hingegangen und habe gesagt: »Kauf du mich! Du scheinst mir nämlich einen Mann nötig zu haben.« Da sei dieser auf Grund dessen, wessen er sich bewusst war, vor Scham im Boden versunken, die andern aber seien über die Treffsicherheit in Verbindung mit Verwegenheit bestürzt gewesen. Muss man folglich tatsächlich diesem Mann den Begriff Sklaverei zuschreiben, sondern nicht vielmehr einzig den der Freiheit – allerdings ohne unumschränkte Befehlsgewalt?43 125. Ein eifriger Verehrer von dessen Befähigung zur freien Rede war aufgrund seiner Bildung ein gewisser Chaireas. Er wohnte in Alexandria in Ägypten. Als einmal Ptolemäus zornig auf ihn war und ihm über die Maßen drohte, erachtete er die in seiner eigenen Natur begründete Freiheit als keineswegs geringer im Vergleich zu dessen Königswürde, so dass er erwiderte: »Sei du Herr über die Ägypter! Ich nehme keine Rücksicht auf dich. Auch scheue ich den Groll nicht.« 126. Die Seelen edler Abkunft besitzen nämlich etwas Königliches; sie werden in ihrem strahlenden Glanz durch die Überlegenheit des Schicksals nicht verdunkelt. Dieses Königliche treibt sie an, selbst mit den nach ihrer Stellung besonders gewichtigen Menschen auf gleicher Augenhöhe zu streiten, weil es der Prahlerei die Freiheit der Rede entgegenstellt. 127. Man berichtet, dass Theodorus mit dem Beinamen der Gottlose aus Athen verbannt wurde und zu Lysimachus kam. 42 Die Stelle ist unklar, ebenso der Anschluss des Relativsatzes, da die Mitgefangenen nicht wegen der Haltung des Diogenes, sondern aufgrund ihrer üblen Situation niedergeschlagen erscheinen. 43 Die Schlussbemerkung sprengt die paradoxe Vorstellung, dass der wahre Philosoph auch in äußerlichen Zwangslagen völlig frei sein kann.
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Als hier jemand von den an der Spitze Stehenden sein Entlaufen tadelte und ihm zugleich als die Ursachen hierfür vorhielt, dass er aufgrund von Gottlosigkeit und seines Verderbens der Jugend verurteilt und verbannt worden sei, da habe er gesagt: »Ich wurde verbannt44. Aber ich teilte dieses Geschick mit Herakles, dem Sohn des Zeus. 128. Denn auch jener wurde von den Argonauten an Land gesetzt, nicht weil er ein Unrecht begangen hatte, sondern weil er für sich selbst genommen Besatzung und Ballast genug war, um das Schiff zu überladen, und die Mitfahrenden zur Furcht veranlasste, der Rumpf werde vom Wasser überspült. Und auch ich wechselte aus diesem Grund meinen Wohnsitz, weil die Politiker in Athen mit der Erhabenheit und Größe meines Verstandes nicht mitzuhalten vermochten; gleichzeitig beneidete man mich auch.« 129. Als aber Lysimachus noch weiter fragte: »Du wurdest doch nicht etwa aus deinem Vaterland auf Grund von Neid verbannt?«, da habe er wiederum geantwortet: »Auf Grund von Neid nicht, vielmehr aber auf Grund des Überflusses meiner natürlichen Begabung, die mein Vaterland nicht fassen konnte. 130. Ebenso wie nämlich Semele zu der Zeit, als sie mit Dionysus schwanger ging, ihn die festgesetzte Zeit bis zu seiner Geburt nicht zu ertragen vermochte und Zeus erschrak und das Geschöpf, das in ihrem Leib war, als Frühgeburt herauszog und es den himmlischen Göttern als an Ehre gleich erklärte, so war es auch bei mir. Weil mein Vaterland zu schwach ist, als dass es eine derartige Last an philosophischer Kompetenz fassen könnte, hat irgendein Dämon oder Gott mich auswandern lassen und beabsichtigt, mich an einem glücklicheren Ort, als Athen es ist, anzusiedeln.«
Der Hahnenkampf als Beispiel aus der Tierwelt 131. Beispiele von der Freiheit unter den Weisen kann man bei genauer Betrachtung auch unter den nicht vernunftbegabten Lebewesen finden, wie dies auch für die anderen guten menschlichen 44 Es besteht eine Unsicherheit, ob in den Satz ein »nicht« einzufügen ist.
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Gaben gilt. Die Hähne zum Beispiel pflegen so gefahrliebend zu kämpfen, dass sie, um nicht zurückzuweichen und das Feld zu räumen, selbst wenn sie nach ihren Kräften, jedoch nicht nach ihrem Wagemut, unterliegen und bis zum Tod aushalten. 132. Das hatte Miltiades, der Feldherr der Athener, beobachtet. Als der König der Perser die gesamte Streitmacht Asiens aufgestellt hatte und mit vielen Zehntausenden nach Europa übersetzte, um Griechenland gleich beim ersten Angriff an sich zu reißen, da führte er an den Panathenäen45 seine Kampfgenossen zusammen und zeigte ihnen Hahnenkämpfe. Denn er nahm an, dass die Ermutigung durch dieses Schauspiel stärker als jede Rede sein werde, und er lag mit dieser Meinung nicht falsch. 133. Denn als sie die Ausdauer und den Ehrgeiz bestaunten, wie er in den vernunftlosen Wesen bis zum Tod unbesiegbar war, da rissen sie ihre Waffen an sich und stürzten zur Schlacht los, um die Leiber der Feinde zu bekämpfen. Hierbei nahmen sie keine Rücksicht auf das Niedermetzeln, um im Fall ihres Todes jedenfalls im freien Boden ihres Vaterlandes ihr Grab zu finden. Denn nichts gibt in solcher Weise Grund, um zur Besserung zu motivieren, als der über die Erwartung hinaus größere Erfolg von Wesen, die unscheinbarer sind. 134. An den Wettkampf der Hähne erinnert auch der Tragödiendichter Ion mit diesen Worten: »Selbst am Körper und an beiden Augen getroffen, vergisst er nicht die Abwehrkräfte. Vielmehr kräht er, auch wenn er ohnmächtig ist. Den Tod zieht er gewiss der Unterwerfung vor.«46 135. Warum sollen wir also glauben, dass die Weisen nicht mit größter Freude den Tod gegen die Sklaverei eintauschen werden? Ist es also nicht widersinnig zu behaupten, dass die Seelen von jungen und mit guten Anlagen versehenen Menschen in Wettkampfsituationen hinter der Tugend von Vögeln zurückstehen und dass sie nur mit Mühe den zweiten Platz erreichen können?
45 In mythische Zeit zurückreichendes Fest zu Ehren der Göttin Athene mit großer Bedeutung für das griechische Selbstverständnis. 46 Ion, Fragmente Griechischer Tragiker (Adespota) 53.
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Die Freiheit als schönstes Gut und das hässliche Gegenbild der Sklaverei 136. Und wirklich verkennt auch derjenige, welcher nur ein wenig mit Bildung in Berührung gekommen ist, nicht die Tatsache, dass Freiheit eine schöne Angelegenheit, Sklaverei dagegen etwas Hässliches ist und dass die schönen Dinge den Guten zukommen, die schändlichen Dinge dagegen den Schlechten. Daraus ergibt sich mit der größten Deutlichkeit, dass sowohl niemand von den Rechtschaffenen ein Sklave ist – selbst wenn unendlich viele Menschen Verträge, die sie als Eigentümer ausweisen, vorzeigen und gegen sie geltend machen –, noch irgendeiner von den Unverständigen ein Freier – selbst wenn er zufällig Krösus oder Midas oder der Großkönig wäre. 137. Die im Lied besungene Schönheit der Freiheit sowie umgekehrt die im Fluch verworfene Hässlichkeit der Sklaverei werden auch von Staaten und Völkern bezeugt, die älter sind und über längere Zeiträume Bestand hatten und die gleichsam unter Sterblichen Unsterbliche sind, für die das heilige Gesetz besteht, nicht zu lügen. 138. Denn wenn fast täglich Rats- und Volksversammlungen zusammentreten, wozu tun sie dies mehr, als zur Sicherung der Freiheit, wenn sie vorhanden ist, oder zu ihrem Erwerb, wenn sie fehlt? Wenn aber Griechenland und die nichtgriechische Welt sich in ihren einzelnen Völkern ständig auflehnen und Krieg führen – was wollen sie damit anderes, als der Sklaverei entfliehen und sich vielmehr die Freiheit verschaffen? 139. Und deshalb greifen auch bei Schlachten Hauptmänner und Taxiarchen47 und Strategen zu folgender schärfster Ermahnung: »Das schwerste Übel, Kampfgenossen, die Sklaverei, die uns droht, wollen wir von uns abwehren! Das schönste der menschlichen Güter, die Freiheit, wollen wir nicht übersehen! Sie ist Ursprung und Quelle der Glückseligkeit, aus der die einzelnen nutzbringenden Dinge hervorströmen.« 47 Etwa: »Unterfeldherren«.
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140. Deshalb, so scheint mir, beziehen diejenigen, die unter den Griechen in ihrem Verstand am scharfsinnigsten sind, die Athener – was nämlich der Augapfel im Auge oder die Urteilskraft in der Seele ist, dies sind innerhalb Griechenlands die Athener – keinen einzigen Sklaven mit ein, wenn sie einen Festzug zu Ehren der Erhabenen Göttinnen aufstellen. Vielmehr lassen sie sämtliche der althergebrachten Bräuche durch freie Männer und auch Frauen verrichten, und zwar nicht durch solche, die der Zufall bestimmt, sondern vielmehr durch die, welche sich eifrig um ein tadelloses Leben bemüht haben. Es bereiten nämlich auch die Angesehensten unter den Epheben die Opferkuchen für das Fest zu, die diese Dienstleistung für eine Belobigung und Ehre halten, was sie doch auch ist. 141. Als kürzlich Schauspieler eine Tragödie aufführten und jene von Euripides stammenden Trimeter vortrugen: »Denn der Name der Freiheit ist ein Wert, der alles gilt; und wenn einer nur wenig hat, so soll er es als großen Besitz erachten!«48, da sah ich, dass die Zuschauer sich aus Erschütterung sämtlich auf die Zehenspitzen aufrichteten. Und mit erhobenen Stimmen und fortwährenden Beifallsrufen verbanden sie das Lob dieses Spruchs mit dem Lob auch des Dichters, der nicht nur die Freiheit auf Grund ihrer Taten, sondern auch ihren Namen als solchen verherrlicht hat. 142. Ich bewundere auch die Argonauten, die ihre gesamte Schiffsbesatzung für frei erklärten und keinem Sklaven den Zutritt gestatteten, nicht einmal einem von denen, die für notwendige Dienstleistungen bestimmt sind. Denn sie hießen in der damaligen Zeit die Arbeit mit eigenen Händen als Schwester der Freiheit willkommen. 143. Wenn es von Wert ist, sich auch Dichtern zuzuwenden, – weshalb sollten wir es dann nicht auch tun? Denn diese sind wirklich Erzieher während unseres gesamten Lebens. Wie Eltern ihre Kinder im Privatleben zur Vernunft bringen, so tun es diese im öffentlichen Leben mit den Staaten. Auch die Argo gestattete es nicht, als Jason sie befehligte, dass Sklaven sie betreten. Ihr waren vom Schicksal eine Seele und eine Vernunftbegabung zugeteilt. Sie war eine freiheitsliebende Natur. 48 Euripides, Fragment 277,3–4.
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Deshalb sagte auch Aeschylus von ihr: »Wo aber ist es? Sprich, heiliges Holz der Argo!«49
Abwehr von Kritik durch die Rechtschaffenen 144. Wegen Widerständen und Drohungen, die einige gegen weise Männer richten, soll man sich am allerwenigsten Sorgen machen und vielmehr dasselbe sagen wie der Flötenspieler Antigenidas. Denn es heißt, als irgendeiner von seinen Kunstrivalen im Zorn zu ihm sprach: »Ich werde dich kaufen!«, da habe er in gewohnt tiefsinniger Art gesagt: »Und ich werde dich denn also das Flötenspiel lehren!« 145. Entsprechend soll auch der Rechtschaffene einem, der ihm gegenüber ein Kaufinteresse hat, antworten: »Dann wirst du also in Sachen Besonnenheit eines Besseren belehrt werden!« Einem aber, der ihm Verbannung androht, soll er sagen: »Die ganze Erde ist mein Vaterland!«50 Zu einem aber, der ihm Verlust seiner Besitztümer in Aussicht stellt: »Mir reicht ein mittlerer Lebensunterhalt!«51 Zu dem aber, der ihm Schläge oder den Tod vor Augen stellt: 146. »Dies kann mich nicht in Schrecken versetzen! Ich ziehe im Vergleich zu Faustkämpfern oder Pankratiasten nicht den Kürzeren! Diese sehen nur schwache Abbilder der Tugend, weil sie einzig und allein den guten Zustand ihrer Körper üben. Gleichwohl ertragen sie beides – Schläge oder Tod – geduldig. In mir nämlich ist das Steuerungsorgan meines Körpers – die Vernunft – durch Tapferkeit so sehr angespannt und wie durch Sehnen gefestigt, dass es über jeden Schmerz erhaben bestehen kann. 147. Man muss sich also hüten, ein solches Tier zu fangen, das nicht nur seiner Abwehrkraft, sondern auch seinem Aussehen nach furchteinflößend ist und dadurch anzeigt, dass es schwer zu fangen und keineswegs einfach verachtungswürdig ist.52 49 Aeschylus, Fragment 20. Im Hintergrund steht die Legende, dass Athene in den Bug der Argo ein sprechendes Holz von der Dodona-Eiche eingefügt haben soll. Die Übersetzung des Verses beruht auf einer Textverbesserung. 50 Vgl. Fragmente Griechischer Tragiker (Adespota) 318. 51 Vgl. Euripides, Fragment 885. 52 Die Stellung von Abschnitt 147 im gegebenen Zusammenhang ist ein altes Rätsel der Forschung.
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Asyl und Freilassung – Die Tugend als wahrer Schutzort und einziger Weg zur Freiheit 148. Die Unverletzlichkeit von bestimmten Orten gewährt häufig den Sklaven, die zu ihnen hinfliehen, Straflosigkeit und Sicherheit vor Verfolgung, als seien sie nach Ehre und politischem Status gleichberechtigt. Man kann beobachten, dass auch die, die von den Urgroßvätern und ihren noch früheren Vorfahren her nach einer Art verwandtschaftlicher Geschlechterfolge von alters her Sklaven sind, ohne jede Furcht freimütig reden, wenn sie als Schutzflehende in Tempeln dasitzen. 149. Es gibt aber solche, die, wenn sie mit ihren Eigentümern kräftig und zugleich geringschätzig über die gerechten Dinge streiten, dies nicht nur diesen gleich, sondern es auch aus großer Überlegenheit heraus tun. Es geschieht nämlich, dass die Prüfung ihres Gewissens Sklaveneigentümer, auch wenn sie von edlem Geschlecht abstammen, zu Sklaven macht. Die Sklaven aber verschaffen sich Sicherheit ihres Leibes durch die Unverletzlichkeit, die am Asylort gilt, und legen freie und sehr edle Charakterzüge der Seele an den Tag, welche Gott so geschaffen hat, dass sie von nichts bezwungen werden kann. 150. Es sei denn, irgendeiner wäre so gänzlich unvernünftig und würde davon ausgehen, dass bestimmte Orte als solche die Ursachen für Mut und Redefreiheit darstellen, das dem Gott Ähnlichste unter allen Dingen, nämlich die Tugend, dagegen nicht, obwohl erst durch sie in den Orten und allen übrigen Dingen, sofern sie an der Vernunft Anteil haben, das Heilig-Ehrwürdige einwohnt. 151. Und tatsächlich passiert es denen, die zu Asylorten hinfliehen und sich einzig durch diese Orte Sicherheit verschafft haben, dass sie durch unzählige andere Dinge manipulierbar werden, nämlich durch Geschenke einer Frau, durch den schlechten Ruf der Kinder, durch Verblendung in der Liebe. Die aber, die zur Tugend hinfliehen wie zu einer unbezwingbaren und geschützten Festung, beachten die Geschosse nicht, die die hinterhältigen Kräfte der Leidenschaften schleudern und abschießen. 83
152. Durch diese Kraft gewappnet, kann einer mit freimütiger Rede sagen: »Die anderen werden von den Schicksalsschlägen bezwungen. ›Ich aber‹, mit einem Wort des Tragödiendichters, ›weiß mir selbst zu gehorchen und ebenso zu befehlen, da ich alles aus der Tugend ermesse.‹«53 153. Es wird zum Beispiel berichtet, dass Bias von Priene, als Krösus ihm drohte, dessen Drohung mit großer Verachtung erwiderte: Er werde noch dazu Zwiebeln essen. Damit deutete er zeichenhaft an, er werde weinen, weil der Verzehr von Zwiebeln Tränen verursacht. 154. So sind die Weisen der Auffassung, dass es nichts gibt, das königlicher ist als die Tugend. Diese ordnet ihnen als Anführerin ihr ganzes Leben. Die Herrschaftsansprüche anderer fürchten sie nicht, da sie sie als untergeordnet betrachten. – Daher werden in ihrem Denken doppelbödige sowie hinterlistige Menschen gewöhnlich von allen als unfrei und sklavenhaft bezeichnet. – 155. Deshalb sind auch jene Worte treffend gesprochen: »Niemals steht von Natur ein sklavischer Kopf gerade, sondern immer verdreht, und er hat einen verrenkten Nacken.«54 Der schräge und schillernde und betrügerische Charakter ist nämlich von allerniedrigster Abstammung, wie umgekehrt der gerade gerichtete, unverstellte und nicht heimtückische von edler Abstammung ist, weil bei ihm Worte und Entscheidungen sowie Entscheidungen und Worte zusammenstimmen. 156. Die aber verdienen verlacht zu werden, die meinen freigekommen zu sein, wenn sie aus dem Besitz eines Herren entlassen werden. Die eben Entlassenen sind zwar wohl nicht mehr in gleicher Weise wie vorher Hausdiener; Sklaven aber und Taugenichtse sind sie jedoch alle. Sie gehorchen zwar nicht mehr Menschen – dann wäre es nämlich weniger furchtbar –, sondern vielmehr den verächtlichsten unter den leblosen Dingen: ungemischtem Wein, Gemüse, Kuchen – all dem, was die peniblen Anstrengungen von Bäckern und Köchen, gegen den unglücklichen Magen gerichtet, fabrizieren. 53 Fragmente Griechischer Tragiker (Adespota) 327; möglicherweise handelt es sich um ein weiteres Euripides-Zitat. 54 Theognis, Elegien 535–536.
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157. Als zum Beispiel Diogenes beobachtete, dass irgendeiner von den sogenannten Freigelassenen sich groß tat und dass viele ihn beglückwünschten, da wunderte er sich über diese Vernunft- und Kritiklosigkeit und sprach: »Das ist genau so, als ließe jemand öffentlich bekanntmachen, einer von den Hausdienern sei von diesem Tag an Grammatik- oder Geometrieexperte oder Musiker, auch wenn er nicht einmal im Traum etwas von diesen Künsten vernommen hat.« Wie nämlich die öffentliche Bekanntmachung sie nicht zu Experten macht, so auch nicht zu Freien – da dies etwas von Glückseligkeit hätte –; sie bewirkt vielmehr nur, dass sie keine Hausdiener mehr sind.
Schluss – Freiheit in der Überwindung der Leidenschaften und die Notwendigkeit der philosophischen Erziehung 158. Wir wollen also die hohle Meinung zurückweisen, die die große Masse der Menschen hochhält, und vielmehr unsere Liebe auf den allerheiligsten Besitz richten, nämlich die Wahrheit. Weder wollen wir den sogenannten Vollbürgern das Bürgerrecht oder die Freiheit, noch den im Haus aufgezogenen oder den zugekauften Sklaven die Sklaverei zusprechen; vielmehr wollen wir Fragen der Abstammung und Eigentumsverträge sowie überhaupt die Körper übergehen und vielmehr die Natur der Seele untersuchen. 159. Wenn sie nämlich von Begierde getrieben oder von Vergnügungslust geködert oder von Furcht aus der Bahn gebracht oder von Traurigkeit in sich zusammengedrückt oder von Zorn am Hals gepackt wird, dann versklavt sie sich selbst, macht aber auch ihren Inhaber zum Sklaven unzähliger Herren. Wenn sie aber Unwissenheit durch Vernunft, Zügellosigkeit durch Besonnenheit, Feigheit aber durch Tapferkeit und Habsucht durch Gerechtigkeit niederringt, so hat sie nicht nur Freiheit von Sklaverei, sondern auch die Herrscherwürde erlangt. 160. Seelen aber, die noch an keiner der beiden Gestalten irgendwie Anteil erlangt haben, weder an der, die zum Sklaven degradiert, noch an der, durch die Freiheit verbürgt wird, die vielmehr noch nackt sind wie die der ganz jungen Kinder, die muss man wie Säuglinge sorgfältig pflegen. 85
Zuerst muss man ihnen anstelle von Milch sanfte Nahrungsmittel einflößen, nämlich die Anleitungen, welche durch die allgemeinbildenden Fächer vermittelt werden; erst später dann kräftigere, welche die Philosophie zubereitet. Wenn sie hierdurch herangewachsen und kräftig geworden sind, dann werden sie zum glückverheißenden Ziel gelangen, das – von Zeno nicht mehr als durch einen göttlichen Orakelspruch bestimmt – so lautet: Leben in Übereinstimmung mit der Natur.55
55 Zeno, Fragment 179; vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum V 79.
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Abkürzungen der biblischen Bücher
Die Schriften der Bibel werden in der »Kleinen Bibliothek« mit folgenden Abkürzungen zitiert (in alphabetischer Reihenfolge):
1. Tenach / Altes Testament Amos Buch Amos 1. Chr 1. Buch der Chronik 2. Chr. 2. Buch der Chronik Dan Buch Daniel Dtn Deuteronomium (5. Buch Mose) Esra Buch Esra Est Buch Ester (Esther) Ex Exodus (2. Buch Mose) Ez Buch Ezechiel (Hesekiel) Gen Genesis (1. Buch Mose) Hab Buch Habakuk Hag Buch Haggai Hiob Buch Hiob (Ijob) Hld Hoheslied Hos Buch Hosea Jer Buch Jeremia Jes Buch Jesaja Joel Buch Joel Jona Buch Jona Jos Buch Josua Klgl Klagelieder des Jeremia Koh Buch Kohelet (Prediger Salomo) 1. Kön 1. Buch der Könige 2. Kön 2. Buch der Könige Lev Levitikus (3. Buch Mose) 87
Mal Mi Nah Neh Num Ob Ps Ri Rut Sach 1. Sam 2. Sam Spr Zeph
Buch Maleachi Buch Micha Buch Nahum Buch Nehemia Numeri (4. Buch Mose) Buch Obadja Buch der Psalmen Buch der Richter Buch Rut (Ruth) Buch Sacharja 1. Buch Samuel 2. Buch Samuel Buch der Sprüche (Sprüche Salomos) Buch Zephanja
Apokryphe bzw. deuterokanonische Schriften Bar Buch Baruch Jud Buch Judit (Judith) 1. Makk 1. Makkabäerbuch 2. Makk 2. Makkabäerbuch Sir Buch Jesus Sirach (Ben Sira) Tob Buch Tobit Weish Buch der Weisheit (Weisheit Salomos)
2. Neues Testament Apg Eph Gal Hebr Jak 1. Joh 2. Joh 3. Joh Joh Jud 88
Apostelgeschichte Brief an die Epheser Brief an die Galater Brief an die Hebräer Brief des Jakobus 1. Brief des Johannes 2. Brief des Johannes 3. Brief des Johannes Evangelium nach Johannes Brief des Judas
Kol Brief an die Kolosser 1. Kor 1. Brief an die Korinther 2. Kor 2. Brief an die Korinther Lk Evangelium nach Lukas Mk Evangelium nach Markus Mt Evangelium nach Matthäus Offb Offenbarung (Apokalypse) des Johannes 1. Petr 1. Brief des Petrus 2. Petr 2. Brief des Petrus Phil Brief an die Philipper Phlm Brief an Philemon Röm Brief an die Römer 1. Thess 1. Brief an die Thessalonicher 2. Thess 2. Brief an die Thessalonicher 1. Tim 1. Brief an Timotheus 2. Tim 2. Brief an Timotheus Tit Brief an Titus
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