Personalpsychologie für das Human Resource Management 3662653079, 9783662653074, 9783662653081

Dieses Buch hilft Personalmanager:innen und Führungskräften dabei, die komplexen Aufgaben des Human Resource Managements

138 90 12MB

German Pages 370 Year 2023

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Table of contents :
Geleitwort
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Über die Herausgeber
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
I: Einführung und Grundlagen in Personalpsychologie und HRM
1: Human Resource Management und Personalpsychologie in der Arbeitswelt 4.0
1.1 Human Resource Management
1.2 Psychologie für das HRM
1.2.1 Psychologische Disziplinen
1.2.2 Allgemeine Beitragsdisziplinen, thematisch benachbart
1.2.3 Personalpsychologie
1.3 Von Megatrends zum Rollenverhalten: Ein Rahmenmodell für das HRM
1.4 Fokus und Aufbau dieses Buches
Literatur
2: HR-Rollenmodelle
2.1 HR-Rollen- und Kompetenzmodelle
2.1.1 HR-Rollen nach Dave Ulrich und deren Weiterentwicklung
2.1.2 Weiterentwicklung und Trends
Flexibilitätsmanager
Feel-Good-Manager:in
Employee-Experience-Manager:in
2.2 HR-Geschäftsmodelle und -Organisationsformen
2.2.1 HR-Geschäftsmodelle
HR-Business-Partner-Modell nach Dave Ulrich
"HR as a People Company" nach Walter Jochmann
Verschiebung des Aufgabenfokus
2.2.2 HR-Organisationformen
Klassische Organisationsformen
Agile Organisationsformen
2.2.3 Weiterentwicklung und Trends
Nearshoring
Holocracy
2.3 HR-Organisationen in der Praxis
2.3.1 HR-Neuorganisation der schweizerischen Post
2.3.2 Pro Juventute als kollegial geführtes Unternehmen
2.3.3 TX Group AG: Erfolgreiches Business Partnering & HR-Nearshoring
2.3.4 Siegfried Holding AG: HR in Phasen der Expansion
2.3.5 Ausblick
Zusammenfassung und Fazit
Literatur
3: HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft
3.1 Unternehmens- und HR-Strategie
3.1.1 Definition „Strategie“
3.1.2 Abgrenzung HR-Strategie
3.1.3 Instrumente und Vorgehen bei der Strategieentwicklung
Strategieentwicklung nach Lombriser und Aplanalp
Strategieentwicklung nach Probst und Wiedemann
3.1.4 Instrumente und Vorgehen bei der HR-Strategieentwicklung
HR-Strategie als integrativer Teil der Unternehmensstrategie
Induktive und deduktive HR-Strategieentwicklung
3.1.5 Organisatorische Fähigkeiten als Zielgröße der HR-Strategie
3.2 Strategisches Workforce-Planning
3.2.1 Definition „Workforce-Planning“
3.2.2 Strategisches Workforce-Planning in sechs Schritten
Schritt 1: Identifikation zentraler Trends und Analyse von deren Auswirkungen
Schritt 2: Prognose möglicher Zukunftsszenarien
Schritt 3: Ermittlung des qualitativen und quantitativen Personalbedarfs
Schritt 4: Feststellung von Lücken
Schritt 5: Ableitung von Maßnahmenalternativen mit Priorisierung
Schritt 6: Monitoring und Controlling der Umsetzung
3.2.3 Herausforderungen im Workforce-Planning
3.3 Workforce der Zukunft
3.3.1 Rahmenmodell „Flexible Workforce“
3.3.2 Ausblick
3.4 Strategietrends: Sustainable & Green HR
3.4.1 Definition „Sustainable Human Resource Management (HRM)„
3.4.2 Nachhaltigkeitsansätze
3.4.3 Typ 1: Socially Responsible HRM
3.4.4 Typ 2: Green HRM
3.4.5 Typ 3: Triple Bottom Line HRM
3.4.6 Typ 4: Common Good HRM
Zusammenfassung und Fazit
Literatur
4: Demografischer Wandel und Demografiemanagement
4.1 Das Phänomen des demografischen Wandels
4.1.1 Entwicklungen und Prognosen
4.1.2 Relevanz für das Human Resource Management
Fachkräftemangel
Steigendes Durchschnittsalter
Größere Altersdiversität
Strategisches Demografiemanagement
4.2 Klassisches Generationenmanagement
4.2.1 Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit
4.2.2 Lebenslanges Lernen
4.2.3 Intergenerationale Zusammenarbeit
4.3 Ganzheitliche Lösungsansätze
4.3.1 Beschäftigungsfähigkeit Jugendlicher
4.3.2 Frauen im Arbeitsmarkt
4.3.3 Gezielte Integration von Zugewanderten
4.3.4 Weiterbeschäftigung im Ruhestandsalter
Fazit
Literatur
II: Personalpsychologie und HR-Kernaufgaben
5: Employer Branding und Personalmarketing
5.1 Konzept des Personalmarketing
5.1.1 Begriffsklärungen und Definition
5.2 Handlungsfelder des Personalmarketing
5.2.1 Handlungsfeld 1: Ermittlung des Personalbedarfs, Marktsegmentierung, Marktforschung
5.2.2 Handlungsfeld 2: Definition des Angebots, Aufbau der Employer Brand, Produktentwicklung
5.2.3 Handlungsfeld 3: Arbeitsmarktauftritt, Rekrutierung, Selektion
5.2.4 Handlungsfeld 4: Controlling, Employee Relationship Management
5.3 Employer Branding
5.3.1 Definition und historische Verortung
5.3.2 Employer Branding als Prozess und Ergebnis
5.3.3 Ziele des Employer Branding: EVP und Employer of Choice
5.4 Fortlaufende Herausforderungen für die Praxis
Literatur
6: Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl
6.1 Warum es sich lohnt, in eine professionell durchgeführte Personalauswahl zu investieren
6.2 Anforderungen bestimmen
6.2.1 Der Anforderungs-Ermittlungs-Dialog
6.2.2 Bestimmen des definitiven Anforderungsprofils
6.3 Festlegen der Auswahlstrategie
6.3.1 Grundüberlegungen zur Auswahlstrategie
6.3.2 Die Bedeutung der Messgenauigkeit und der Gültigkeit der eingesetzten eignungsdiagnostischen Verfahren
6.3.3 Das Cockpit des Auswahlverfahrens: Die Anforderungs-Übungs-Matrix
6.4 Vorauswahl
6.4.1 Sichtung der Bewerbungsunterlagen
6.4.2 Durchführung von selektiven Vortestungen
6.5 Das Einstellungsinterview
6.5.1 Aspekte der Strukturierung von Einstellungsinterviews
6.5.2 Interviewführung und Fragetechnik
6.6 Übungen: Präsentationen, Fallstudien, Simulationen und Arbeitsproben
6.6.1 Aspekte bei der Übungsentwicklung
6.6.2 Einstufungsskalen zur Vereinheitlichung der Beobachtungen
6.7 Entscheidungsfindung
6.7.1 Das Resultate-Cockpit
6.7.2 Beurteilung des Potenzials
6.7.3 Fällen des Schlussentscheides
Mindestanforderungen an eine professionell durchgeführte Personalauswahl
Literatur
7: Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung
7.1 Performance Management in der HRM-Praxis
7.2 Leistung und Leistungsvoraussetzungen
7.2.1 Ziele und Leistungssteuerung über Motivation
7.2.2 Bedeutung von Feedback in der Leistungssteuerung
7.2.3 Stärkenbasiertes Feedback in der Leistungssteuerung
7.2.4 Fortlaufende Leistung durch Commitment
7.3 Leistungsbeurteilung
7.4 Leistungsabhängige Honorierung
7.5 Performance-Management-Update durch Kollaboration und Digitalisierung
Zusammenfassung und Fazit
Literatur
8: Lernen in Organisationen
8.1 New Work und New Learning
8.2 Grenzen des Modells
8.3 Entwickeln von geeigneten Lernaktivitäten – warum eine Bedarfsplanung sinnvoll und wichtig ist
8.4 Lernkultur
8.4.1 Lernkultur agiler Unternehmen
8.4.2 Analyse von Lernkultur
8.5 70:20:10-Modell
8.6 Selbstgesteuertes Lernen
8.6.1 Selbstgesteuertes Lernen im Unternehmen
8.6.2 Förderung selbstgesteuerten Lernens
8.7 Lerntransfer
8.7.1 Wirkung von Weiterbildungsmaßnahmen
8.7.2 Messung des Lerntransfers
8.8 Digitalisierung, Flexibilisierung und Personalisierung des Lernens
8.8.1 Blended Learning
8.8.2 Mobile Learning und Micro Learning
8.8.3 Adaptive Lernsysteme
8.9 Voraussetzungen für ein erfolgreiches New Learning
8.9.1 Ebene Mitarbeitende: Persönliche Voraussetzungen
8.9.2 Ebene Team: Psychologische Sicherheit
8.9.3 Ebene Organisation: Von der Agilität lernen
8.9.4 Agilität und Grundbedürfnisse
Literatur
9: Interne Laufbahnentwicklung
9.1 Einleitung
9.2 Laufbahnen gestern und heute
9.3 Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI)
9.4 Laufbahnentwicklung in Zeiten von Arbeiten 4.0 – Kompetenzorientierung, Selbstmanagement und lebenslanges Lernen greifen zu kurz
9.5 Fazit
Zusammenfassung
Literatur
10: Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung
10.1 Bedeutung von Teamarbeit in Organisationen
10.2 Teamdefinitionen und Arten von Teams
10.2.1 Teamdefinitionen
10.2.2 Arten von Teams
10.3 Ein Modell der Teamarbeit
10.4 Input: Team-Design
10.4.1 Zusammensetzung des Teams
10.4.2 Aufgabengestaltung und Teamstruktur
10.4.3 Teamführung
10.5 Prozess: Teamarbeit
10.5.1 Lokomotion und Kohäsion
10.5.2 Der gruppendynamische Raum
10.5.3 Entwicklungsphasen in der Teamarbeit
10.5.4 Normen in Teams
10.5.5 Teamrollen
10.5.6 Prozessgewinne in Teams
10.5.7 Prozessverluste in Teams
10.5.8 Emotionale Ansteckung
10.5.9 Psychologische Sicherheit
10.5.10 Mentale Teammodelle und Aufgabenstrategien in der Teamarbeit
10.5.11 Reflexivität in der Teamarbeit
10.6 HR-Praktiken zur Unterstützung von Teamarbeit
10.6.1 Selektion
10.6.2 Beurteilung und Honorierung von Teamleistungen
10.6.3 Entwicklung: Teamtraining, Teamentwicklung
10.6.4 Konfliktmanagement in Teams
Literatur
11: Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive
11.1 Der systemische Blick: Organisationen und Menschen in einem dynamischen Umfeld betrachten
11.1.1 Elemente der Veränderung und Entwicklung von Organisationen: Die Wechselwirkungen zwischen Strategie, Struktur und Kultur
11.1.2 Fokus auf das soziale System: Die Kultur als Wesenskern entwickeln und stärken
11.1.3 Kultur als Phänomen der Selbstorganisation sozialer Systeme: Die natürlichen Grenzen der Machbarkeit (an-)erkennen
11.2 Wofür und wohin Kultur entwickeln?
11.2.1 Einführung neuer Arbeitsformen
11.2.2 Sinn und Ansinnen ganzheitlicher Organisationsentwicklung
11.3 Möglichkeiten der Kulturentwicklung in Organisationen
11.3.1 Werte als Ansatz der Kulturentwicklung: Zugang zu den mentalen Modellen finden
Erzählungen und Geschichten als sprachlicher Ausdruck mentaler Modelle
Sinnbildliche Metapher als Analogie zur erlebten Kultur
Das reflektierende Team als Verfahren der kollegialen Beratung
11.3.2 Steuerung der Selbstorganisation als weiterer Ansatz der Kulturentwicklung: Die wirksamen Einflüsse erkennen und nutzen
Die Bedeutung von Führungsverhalten
Zusammenfassung und Fazit
Literatur
12: Kündigungen und Trennungskultur
12.1 Trennungskultur
12.2 Betriebsbedingte Kündigung
12.3 Individuelle Kündigung
12.4 Fristlose Kündigung
12.5 Kündigung durch Arbeitnehmende
12.6 Individuelle Kündigungen aussprechen
12.6.1 Verantwortlichkeiten und Rollen
12.6.2 Vorbereitung und begleitende Maßnahmen
12.6.3 Inhaltliche Vorbereitung des Gesprächs
12.6.4 Organisatorische Vorbereitung des Gesprächs
12.6.5 Verlauf des Gesprächs
12.6.6 Reaktion der Betroffenen
12.7 Begleitung der Betroffenen
12.8 Verbleibende
Literatur
III: Neue Arbeitswelten
13: Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit
13.1 Flexibilisierung in der Dimension Raum
13.1.1 Räumliche Flexibilisierung
13.1.2 Bürotypen
13.1.3 Die verschiedenen Ebenen der Büroumgebung
13.1.4 Virtuelle Räume und Kommunikationsräume
Kommunikationsräume
Psychologische Nähe und Distanz
Raumkompetenz
13.2 Flexibilisierung in der Dimension Zeit
13.2.1 Arbeitszeitmodelle und Definitionen
13.3 Mobil-flexibles Arbeiten aus personalpsychologischer Perspektive
13.3.1 Vorwiegend positive Effekte
13.3.2 Herausforderungen
Psychologische Hintergründe: Erreichbarkeitserwartungen, Boundary Management, Distanzierung von der Arbeit
Steuerungslogik und Verausgabungsdynamik im mobil-flexiblen Arbeiten
13.4 Gestaltungsempfehlungen auf verschiedenen Ebenen
13.4.1 Organisation
Technologie
Unterstützung des Top-Managements für hybride Arbeit
HR-Management
Führung
Teamarbeit
Kulturentwicklung
Gesundheitsschutz und -fürsorge
Training, Beratung, Erfahrungsaustausch
13.4.2 Aufgabe
13.4.3 Individuum (Person)
Zusammenfassung und Fazit
Literatur
14: Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden
14.1 Veränderungen in der Arbeitswelt
14.1.1 Digitalisierung und Flexibilisierung
14.1.2 Wertewandel in der Arbeitswelt
14.1.3 Herausforderung für Organisationen und Führungskräfte
14.2 Selbstführung
14.2.1 Was ist Selbstführung?
14.2.2 Selbstkonkordanztheorie und Motivation
14.2.3 Wie hängen Selbstkonkordanz und Selbstführung zusammen?
14.2.4 Die Bedeutung von Selbstkonkordanz und Selbstführung im Arbeitskontext
Ergebnisse einer Längsschnittstudie
14.3 Implikationen für die Praxis
14.3.1 Strategien zur Verbesserung der Selbstführung und der Selbstkonkordanz
Ziele setzen und planen, die eigenen Werten entsprechen
Ereignisse neu betrachten und eigene Werte in Arbeitsaktivitäten integrieren
Routine etablieren in Übereinstimmung mit eigenen Werten
14.3.2 Erhöhung der Selbstkonkordanz auf Ebene der Organisation
In der Führung die Werte der Mitarbeitenden berücksichtigen
Arbeitsorganisation und Belohnungssystem verändern
Organisationale Rahmenbedingungen anpassen
Literatur
15: Neue Formen der Führung
15.1 Führung als Interaktionsprozess
15.1.1 Effektive Führungsverhalten
15.1.2 Anforderungen an die Führungsrolle
15.2 Wandel der Führungsrollen
15.2.1 Bisheriger Wandel der Führungsrollen
15.2.2 Neue Führungsrollen im Zuge der Agilität
15.3 Plurale Führung
15.3.1 Auswirkungen auf die klassische Linienführung
15.4 Herausforderungen und Möglichkeiten des HRM
15.4.1 Organisationsprozesse
15.4.2 Ausbildung
15.4.3 Organisationskultur
Literatur
16: Agilität in Organisationen
16.1 Organisation
16.2 Das „magische Dreieck“
16.2.1 Strategie
16.2.2 Struktur
16.2.3 Kultur
16.3 Beitrag des Human Resource Managements zur Agilität in Organisationen
16.3.1 Strategie
HRM als strategischer Partner
HRM als agil handelnde Organisationseinheit
Gestaltungsfelder einer HR-Strategie für organisationale Agilität
16.3.2 Strukturen
Prozesssteuerung
Gestaltung der Arbeitsbedingungen: Arbeitsmodelle, Arbeitsräume und Arbeitsrichtlinien/Policies
16.3.3 Kultur
16.3.4 Ethische Überlegungen
Zusammenfassung und Fazit
Literatur
17: Organisationale Selbsterneuerung
17.1 Bedeutung organisationaler Adaptions- und Lernfähigkeit
17.2 Vom organisationalen Lernen zur kontinuierlichen Selbsterneuerung
17.2.1 Organisationales Lernen
17.2.2 Organisationale Erneuerungsfähigkeit
17.3 Organisationale Selbsterneuerung anregen und verankern: Handlungsfelder für Führungs-, HRM- und Organisationsentwicklung
17.3.1 Stärkung der organisationalen Absorptionsfähigkeit
17.3.2 Förderung von Erneuerungskompetenzen
17.3.3 Gestaltung einer partizipativ-potenzialorientierten Führungskultur
17.3.4 Etablierung einer Praxis reflexiven Erneuerns
17.4 Kontinuierliche Selbsterneuerung in der Praxis: Zwei Fallbeispiele
17.4.1 Fallbeispiel 1 – AMAG
17.4.2 Fallbeispiel 2 – V-ZUG
Zusammenfassung und Fazit
Literatur
18: People Analytics in der Praxis
18.1 Begriffsdefinition und Abgrenzung zu verwandten Disziplinen
18.2 Ziele und Nutzen von People Analytics
18.3 Adressaten von People Analytics
18.4 Maturitätsmodel
18.4.1 Descriptive Analytics
18.4.2 Benchmarking
18.4.3 Diagnostic Analytics
18.4.4 Predictive Analytics
18.4.5 Prescriptive Analytics
18.5 Kritische Betrachtung des People-Analytics-Maturitätsmodells
18.6 Schritte und Erfolgsfaktoren bei People-Analytics-Projekten
Zusammenfassung und Fazit
Literatur
Stichwortverzeichnis
Recommend Papers

Personalpsychologie für das Human Resource Management
 3662653079, 9783662653074, 9783662653081

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Birgit Werkmann-Karcher Andrea Müller Tatjana Zbinden  Hrsg.

Personalpsychologie für das Human Resource Management

Personalpsychologie für das Human Resource Management

Birgit Werkmann-Karcher • Andrea Müller • Tatjana Zbinden Hrsg.

Personalpsychologie für das Human Resource Management

Hrsg.

Birgit Werkmann-Karcher IAP Institut für Angewandte Psychologie ZHAW Zürcher Hochschule für ­Angewandte Wissenschaften Zürich, Schweiz

Andrea Müller IAP Institut für Angewandte Psychologie ZHAW Zürcher Hochschule für ­Angewandte Wissenschaften Zürich, Schweiz

Tatjana Zbinden Isolutions AG Zürich, Schweiz

ISBN 978-3-662-65307-4    ISBN 978-3-662-65308-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.­d-­nb.­de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Marion Krämer Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Geleitwort Personalpsychologie und Human Resource Management sind wie alle Branchen und alle Fach- und Führungskräfte in einem stetigen Wandel und gerade in der heutigen Zeit mit vielen neuen Herausforderungen konfrontiert. Wie kann HR-Management in Organisationen nachhaltig und wirkungsvoll gestaltet werden und wie können HR-Manager:innen einen relevanten Anteil für den Unternehmenserfolg und gleichzeitig auch für die individuelle Entwicklung der Mitarbeitenden leisten? Mit diesen Fragestellungen beschäftigt sich das IAP Institut für Angewandte Psychologie seit nahezu einhundert Jahren, und seit über 40 Jahren bietet das IAP Weiterbildungen zu Personalpsychologie und HR-Management an und berät viele Organisationen bei der Entwicklung und Gestaltung von HR-Strategien und HR-Prozessen. Das IAP setzt sich zum Ziel, die Entwicklung von Unternehmen zu fördern und Fach- und Führungskräfte sowie Teams bei der Erreichung ihrer Ziele zu unterstützen. Dabei geht es uns immer auch um die Entwicklung der einzelnen Menschen und die Wirksamkeit ihrer Zusammenarbeit. Denn Führungskräfte und Mitarbeitende sind die treibende Kraft eines erfolgreichen Unternehmens. Gerade da spielen HR-­Manager:innen und die Personalpsychologie eine wesentliche Rolle und können mit psychologisch begründeten, adressatenorientierten, zeitgemäßen und auf den eigentlichen Bedarf ausgerichteten Konzepten und Angeboten sowohl das Individuum als auch die Organisation nachhaltig unterstützen. Unsere IAP-Haltung ist, dass Psychologie hilft und der Mensch in den verschiedenen Arbeits- und Lebenswelten im Mittelpunkt steht. Genau das prägt auch die Ausrichtung im HRM.  Gleichzeitig wirkt der Organisationskontext auf Menschen als Mitarbeitende von Organisationen ein, und gesellschaftliche wie auch technologische Trends sind relevant für die Entwicklung des HR-Managements und müssen verstanden werden. In meiner Rolle als langjähriger Leiter des MAS Ausbildungsmanagement-­ Lehrgangs, als Leiter des IAP sowie als Begleiter und Berater vieler Organisationen bei der Entwicklung von neuen Learning-und Development-Konzepten als wichtiger Teil des HR-Managements für ganze Organisationseinheiten wie auch für Unternehmen durfte ich immer wieder das Zusammenspiel zwischen theoretischen Grundlagen und Anwendung mitgestalten und mitprägen. Ich durfte von den Teilnehmenden und den verschiedenen Kunden viel lernen und ihnen auch viel mitgeben. Dieses Wechselspiel ist uns am IAP ein großes Anliegen. Wir betrachten die Fragestellungen unserer Kund:innen ganzheitlich und beziehen all ihre Wirkungsfelder ein. So kann eine nachhaltige und wirkungsvolle Entwicklung entstehen. Ich bin überzeugt, dass wir Führungs- und Fachkräfte mit dieser Grundhaltung heute wie auch in Zukunft eine Schlüsselrolle in jeder Art von Organisation einnehmen können. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit den aktuellen und relevanten Herausforderungen von Personalpsychologie für das HR-Management. In den vielfältigen Beiträgen werden die aktuellen und wichtigen Themen aufgegriffen und in Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis diskutiert.

VI

Geleitwort

Gleichzeitig führt das Buch die lange Tradition des IAP weiter, sich aus psychologischer Perspektive und wissenschaftsbasiert sowie praxisnah mit Fragestellungen des HR-Managements zu beschäftigen, Weiterbildungsangebote zu entwickeln, Unternehmen dazu zu beraten und immer wieder auch zu Teilaspekten zu beforschen sowie darüber zu schreiben. In dem Sinn ist das vorliegende Buch eine kontinuierliche Weiterentwicklung des 2010 erschienen Buches Angewandte Psychologie für das Human Resource Management. Als Leiter des IAP freut es mich besonders, dass ich das Vorwort schreiben darf und dass meine Kolleginnen Birgit Werkmann-Karcher, Andrea Müller und Tatjana Zbinden diesen neuen Band zur Personalpsychologie für das Human Resource Management herausgeben. Es freut mich auch sehr, dass Fachpersonen mit langjährigen Erfahrungen im HR-Management sowie der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung als Autor:innen mitgewirkt haben, die mehrheitlich auch durch eine Dozierenden- und/oder Beratungsfunktion mit dem IAP in Zürich verbunden sind. Ganz im Sinne von „Psychologie hilft“ und Psychologie in vielen täglichen Arbeits- und Lebenssituationen nutzen zu können, leistet dieses Buch wertvolle Beiträge dazu. Zu vielen aktuellen Entwicklungen und Fragen ist im vorliegenden Herausgeberband eine Vielfalt an Anregungen zusammengefasst, die allen Leserinnen und Lesern die Möglichkeit bietet, sich kritisch mit Trends und Praxishinweisen auseinanderzusetzen und eine begründbare, fundierte Vorgehensweise zu wählen. Ich danke allen mitwirkenden Autorinnen und Autoren für die fachlich fundierte und engagierte Mitarbeit, dem Herausgeberinnen-Team vom IAP Birgit Werkmann-­ Karcher, Andrea Müller und Tatjana Zbinden für die tolle aktuelle inhaltliche Gestaltung und dem Springer Verlag für die Unterstützung bei der Entwicklung und Publikation dieses Buches sowie für die langjährige sehr wertvolle und konstruktive Zusammenarbeit. Nun wünsche ich allen Leserinnen und Lesern eine inspirierende und interessante Lektüre! Christoph Negri, Leiter IAP Institut für Angewandte Psychologie Zürich März 2022

VII

Vorwort Vor etwas mehr als 10 Jahren entstand das erste IAP-Herausgeberwerk, das sich mit einem breiten Fundus an psychologischem Wissen und Modellen an Human-­ Resource-­ Manager:innen richtete. Dieses Buch, Angewandte Psychologie für das Human Resource Management, war Begleitlektüre für den damaligen Weiterbildungs-­ Masterstudiengang in Human Resource Management (HRM) und konzipiert für Praktiker:innen in den HR-Abteilungen unterschiedlichster Organisationen. Das Thema in der deutschsprachigen HR-Community dieser Zeit war die HR-Business-­ Partnerschaft. Die ersten neuen Geschäftsmodelle waren gerade eingeführt worden und die HR-Rollendiskussion nahm einen prominenten Anteil im Buch ein, was sich auch in der Gliederung entlang der Rollen abbildete. Nun hat sich die Welt weitergedreht, wir sind in die Arbeitswelt 4.0 hineingewachsen. Damit einher gehen eine grundsätzliche Beschleunigung von Prozessen, kürzere Planungshorizonte und individualisierte Wahlbedürfnisse. Das zeigt sich in der HR-­Arbeit in den Unternehmen und Organisationen, und es zeigt sich auch in der Gestaltung der Weiterbildung. Aus einem großen „One-Size-fits-All“-Studiengang wurde ein flexibilisiertes Produkt, das Unterbrechungen und individuelle Schwerpunktsetzungen erlaubt. Den stabilen Kern dessen bildet die Personalpsychologie, die den relevanten Wissensbestand im HRM prägt und in diesem Buch im Mittelpunkt steht. Um den Wertbeitrag der Personalpsychologie für das HRM darzustellen, haben wir das Buch in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil erfolgt zunächst im Sinne eines Grundlagen- und Einführungsteils eine Verortung der beiden Themengebiete „Personalpsychologie“ und „HRM“ mit Blick auf die Arbeitswelt 4.0. Ab dem zweiten Kapitel widmen wir uns den sich ändernden Rahmenbedingungen und den Implikationen für die Personalarbeit aus strategischer Perspektive. Hier werden Themen wie Workforce der Zukunft, Green HRM und demografischer Wandel aufgegriffen. Im zweiten Teil werden die Kernfunktionen entlang eines erweiterten HR-Cycles aus der Perspektive der Personalpsychologie aufgegriffen und diskutiert, beispielsweise wie sich Personalentwicklung verändert, wie Leistung anhand der Bedürfnisse der Mitarbeitenden gesteuert werden kann und wie Teamarbeit in aktuellen Arbeitssettings am besten gelingt. Im dritten Teil sind die Themen gebündelt, die sich in den neuen Arbeitswelten stark verändert haben: Rollenverständnis und Beitragsverantwortung in den neuen Formen von Führung und Selbstführung; die Bedeutung von Agilität in Organisationen als Antwort auf sich schnell wandelnde Umweltbedingungen oder die Bedeutung von Selbsterneuerung für das Entstehen von Innovationen. Die Digitalisierung im engeren Sinne hat schließlich zur Etablierung eines neuen Themas – People Analytics im HR  – geführt und, beschleunigt durch die Covid-19-Pandemie, das Wesen der Arbeit in Bezug auf Zeit und Raum nachhaltig verändert. Mit dem entstanden Herausgeberwerk richten wir uns nicht nur an unsere Kursteilnehmer:innen und Kund:innen, sondern vielmehr an alle Leser:innen, die sich für die personalpsychologische Perspektive im Human Resource Management interessieren. Wir hoffen, mit diesem Buch ein hilfreiches Nachschlagewerk mit fundierten

VIII

Vorwort

Hintergründen für den Berufsalltag von HR-Professionals, Fach- und Führungspersonen sowie für Berater:innen vorlegen zu können. Wir bedanken uns herzlich bei unseren Kund:innen für viele Anregungen, die im Austausch entstanden sind, sowie bei allen Autor:innen und Helfer:innen (danke, Vanessa Hackmann und Silvan Wicki). Herzlich danken wir zudem dem Springer Verlag für die Wertschätzung und die Möglichkeit, ein weiteres Buch zu veröffentlich, insbesondere Marion Krämer für die Planung und Wegbereitung sowie Judith Danziger für das Projektmanagement. Birgit Werkmann-Karcher

Zürich, Schweiz Andrea Müller

Zürich, Schweiz Tatjana Zbinden

Zürich, Schweiz April 2022

IX

Inhaltsverzeichnis I

Einführung und Grundlagen in Personalpsychologie und HRM

1

 uman Resource Management und Personalpsychologie H in der Arbeitswelt 4.0.................................................................................................................. 3 Birgit Werkmann-Karcher und Andrea Müller

2

HR-Rollenmodelle.......................................................................................................................... 19 Tatjana Zbinden

3

 R-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce H der Zukunft........................................................................................................................................ 35 Tatjana Zbinden

4

Demografischer Wandel und Demografiemanagement...................................... 57 Leena Pundt

II 5

Personalpsychologie und HR-Kernaufgaben Employer Branding und Personalmarketing............................................................... 75 Andrea Müller

6

Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl......................................................... 89 Patrick Boss

7

Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung........................................................ 117 Andrea Müller

8

Lernen in Organisationen........................................................................................................ 135 Jürg Gabathuler und Julia Kornfeind

9

Interne Laufbahnentwicklung.............................................................................................. 157 Marc Schreiber

10

Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung................................................... 173 Birgit Werkmann-Karcher

11

 rganisationskultur und Kulturentwicklung aus O systemischer Perspektive......................................................................................................... 211 Volker Kiel

12

Kündigungen und Trennungskultur................................................................................. 233 Daniel Nordmann und Claudia Beutter

X

Inhaltsverzeichnis

III 13

Neue Arbeitswelten Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit.............................................................. 245 Birgit Werkmann-Karcher, Michael Zirkler, Lukas Windlinger und Clara Weber

14

Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden................................... 281 Imke Knafla und Carmen Keller

15

Neue Formen der Führung....................................................................................................... 295 Andres Claudius Pfister

16

Agilität in Organisationen....................................................................................................... 307 Michael Zirkler und Birgit Werkmann-Karcher

17

Organisationale Selbsterneuerung................................................................................... 329 Peter Kels und Bojana Aleksic

18

People Analytics in der Praxis............................................................................................... 343 Silvan Winkler, Rafael Huber und Dirk U. Wulff

Serviceteil Stichwortverzeichnis.................................................................................................................................361

XI

Herausgeber- und Autorenverzeichnis Über die Herausgeber Bojana Aleksic Geboren in Zug, 1996. Ihre ersten beruflichen Erfahrungen sammelte sie während der dreijährigen kaufmännischen Ausbildung in der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Nach einigen Jahren in der Arbeitswelt und einem Auslandsaufenthalt hat sie 2018 ihr Bachelorstudium an der Hochschule Luzern (HSLU), Departement Wirtschaft, begonnen. Nebst dem Erwerb von fundierten betriebswirtschaftlichen Grundlagen legte sie den Fokus im Studium insbesondere auf Value Network Management und Digital Business and Law. Vor dem erfolgreichen Studienabschluss im Jahr 2021 forschte sie im Rahmen ihres Bachelorarbeitsprojekts mehrere Monate zum Thema der kontinuierlichen Selbsterneuerung und des fortlaufenden Lernens in Organisationen.

Claudia Beutter Claudia Beutter, lic. phil. Psychologin mit Schwerpunkt Methoden und Angewandte Psychologie. Organisationsberaterin, Supervisorin und Coachin BSO.  Internationale Weiterbildungen in Coaching, Organisationsentwicklung und Change-Beratung. Langjährige Führungserfahrung auf verschiedenen Stufen in mehrsprachigen Unternehmen der Industrie und Dienstleistungsbranche. Organisationsentwicklungs- und Projektverantwortung in Start-ups, Pionierfunktionen und bei Restrukturierungen. Am IAP Institut für Angewandte Psychologie arbeitet sie als Beraterin und Dozentin im Bereich Organisationsberatung, Change und Coaching-Lehrgänge. Ihre Schwerpunkte sind Organisationsberatung und -entwicklung, Rollenkonzepte und Feedback.

Patrick Boss Prof. Dr. Patrick Boss, Jahrgang 1969, Studium der Psychologie, Psychopathologie und Neurophysiologie an der Universität Zürich, anschließend 15 Jahre Assistent an den Lehrstühlen Angewandte Psychologie und Sozial- und Wirtschaftspsychologie. In diese Zeit fallen zahlreiche Testentwicklungen für die Schweizer Armee in der Funktion als Projektleiter „Entwicklung und Umsetzung psychologischer Testverfahren für die Rekrutierung XXI“. Seit 2011 Berater und Dozent am IAP Institut für Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Zentrum Diagnostik, Verkehrs- und Sicherheitspsychologie. Hauptaufgabengebiet ist die Entwicklung und Durchführung von eignungsdiagnostischen Abklärungen.

XII

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Daneben Begleitung von studentischen Qualifikationsarbeiten und Halten von Weiterbildungsveranstaltungen im Bereich der Personalpsychologie, zur dunklen Seite des Menschen und zur Lügenerkennung. Mitentwickler des Zürcher Führungskompetenzmodells (ZFKM) und des Modells der Safe-Five-­Persönlichkeitseigenschaften. Verantwortlicher für die psychologische Beurteilung von zukünftigen Schweizer UN-Militärbeobachtern. Aktive Mitarbeit an der Schweizer Norm zu den Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik. Diverse praxisorientierte Beiträge zum Thema Personalauswahl.

Jürg Gabathuler Jürg Gabathuler ist Arbeits- und Organisationspsychologe. Er war viele Jahre Leiter Personalentwicklung im Bereich Finanzen und Telekommunikation. Seit 2017 ist er Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Als Studiengangleiter für MAS Ausbildungsmanagement interessieren ihn Fragestellungen zum Thema Personalentwicklung.

Rafael Huber Rafael Huber ist promovierter Psychologe und Neurowissenschaftler und arbeitete mehrere Jahre in der Forschung. Dort beschäftigte er sich mit der Frage, wie das menschliche Gehirn ökonomische Entscheidungen unter Unsicherheit verarbeitet. Von 2016 bis 2019 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig. Vor und nach seiner Zeit am IAP fungiert(e) er als Unternehmensberater und unterstützt(e) Organisationen, Teams und Individuen aus verschiedenen Branchen. Sein Arbeits- und Interessenschwerpunkt liegt heute im Bereich der Führungskräfte-, Personal- und Organisationsentwicklung, insbesondere bei Organisationen auf dem Weg in Richtung mehr Agilität. Seit 2020 tut er dies mit der Einzelfirma Dr. Rafael Huber | Organizational Development auch unter eigenem Namen.

Carmen Keller Dr. phil. Carmen Keller, Studium der Psychologie und Dissertation in Psychologie an der Universität Zürich. Mitarbeiterin der IBM Schweiz. Danach langjährige Tätigkeit als Dozentin in Forschung und Lehre am Psychologischen Institut der Universität Zürich und am Departement für Gesundheitswissenschaften der ETH Zürich. Forschungsschwerpunkten im Bereich Selbst- und Emotionsregulation, Vertrauen und Kooperation. Weiterbildung am IAP Institut für Angewandte Psychologie zur eidgenössisch anerkannten Psychotherapeutin. Am IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW Zürcher Hochschulen für Angewandte Wissenschaften ist sie als Dozentin, Psychotherapeutin und Studiengangsleiterin des MAS Systemische Psychotherapie mit kognitiv-behavioralem Schwerpunkt tätig.

XIII Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Peter Kels Geboren 1972  in Wiesbaden/Deutschland. Peter Kels studierte Soziologie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Pädagogik an den Universitäten Frankfurt am Main und Darmstadt. Studienbegleitend arbeitete er in verschiedenen Unternehmen in den Bereichen HR und Managementweiterbildung. Im Anschluss an sein Studium übernahm Peter Kels eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt am Main und forschte dort im Bereich der Arbeitssoziologie und des Personalmanagements. Peter Kels war während dieser Zeit ebenfalls DFG-Stipendiat im Interdisziplinären Graduiertenkolleg „Technisierung und Gesellschaft“ der TU Darmstadt und promovierte dort zum Thema Human Resource Management und individuelle Karriereentwicklung. Nach der Promotion arbeitete er zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und dann als Professor für Unternehmensführung am Kompetenzzentrum für Unternehmensführung der Berner Fachhochschule (BFH). Seit 2012 lehrt und forscht Peter Kels an der Hochschule Luzern – Wirtschaft als Professor für HRM, Führung und Innovation. Gemeinsam mit Dr. Peter Senn leitet er den Major „Human Resource Management“ im Bachelor Business Administration. Am Competence Center Unternehmensentwicklung, Führung und Personal (IBR) leitet er diverse grundlagen- und anwendungsorientierte Forschungsprojekte. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Knowledge Work, digitale Transformation, People Analytics, organisationales Lernen und der Generationenwechsel und Wertewandel in der Arbeitswelt.

Volker Kiel Prof. Dr. phil. Volker Kiel, Studienleiter im Bereich Coaching, Organisationsberatung und -entwicklung, Berater und Dozent im Zentrum Leadership, Coaching & Change Management am Institut für Angewandte Psychologie (IAP) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Langjährige Aus- und Weiterbildungen in Ansätzen der Humanistischen Psychologie (am IHP, Eschweiler), Systemischer Beratung und Therapie (am HSI, Heidelberg) und in Hypnosystemischen Ansätzen für Coaching, Team- und Organisationsentwicklung (am MEI, Heidelberg). Mehrjährige Tätigkeit als Personal- und Organisationsentwickler in leitender Funktion, Führungstrainer und Organisationsberater in Industrie, Verwaltung und Dienstleistungsunternehmen. Mitglied im Berufsverband für Beratung, Pädagogik & Psychotherapie (BVPPT) in Deutschland und im Berufsverband für Coaching, Supervision und Organisationsberatung (BSO) in der Schweiz.

XIV

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Imke Knafla Prof. Dr. phil. Imke Knafla, Studium der Psychologie an der Universität Trier, Dissertation an der Universität in Zürich. Weiterbildung an der Universität Bern zur eidgenössisch anerkannten Psychotherapeutin. Langjährige Erfahrung als Psychotherapeutin, Supervisorin, Coach und Dozentin an diversen Aus- und Weiterbildungsinstituten. Am IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften leitet sie als Co-Leiterin das Zentrum für Klinische Psychologie & Psychotherapie und ist Studiengangsleiterin des MAS Systemische Beratung. Zudem leitet sie die Psychologische Beratungsstelle für Mitarbeitende und Studierende der ZHAW.

Julia Kornfeind Julia Kornfeind ist Diplom-Pädagogin, Schwerpunkt Erwachsenenbildung. Seit 2020 ist sie Dozentin und Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie. Sie leitet den CAS Blended Learning und ist Expertin im Bereich Didaktik und digitales Lernen. Davor hat sie in unterschiedlichen Rollen in der Weiterbildung eines Pharmakonzerns und in Trainingsprojekten einer Unternehmensberatung gearbeitet.

Andrea Müller Andrea Müller, Prof. Dr., blickt auf fast 15 Jahre Erfahrung in Beratung, Forschung, Weiterbildung und Lehre an der ZHAW School of Management and Law im Bereich Human Capital Management, Leadership und Unternehmensethik zurück. Seit August 2021 legt sie am Institut für Angewandte Psychologie (ZHAW) den Fokus auf aktuelle Entwicklungen am Arbeitsmarkt, sich verändernde Werte und Kompetenzen aus Perspektive der Personalpsychologie. Davor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Bereichen empirische Sozialforschung, Wirtschafts- und Sozialpsychologie an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Universität Göttingen sowie mehrere Jahre in der Marktforschung tätig.

Daniel Nordmann Daniel Nordmann, Dipl.-Psych. IAP (Betriebs- und Organisationspsychologie) und Executive Master of Business Administration, Universität St. Gallen, selbstständig tätiger Management Coach. 2014–2019 selbstständiger Unternehmensberater, davor Regional Director EMEA für HRM und Post Merger Integration eines global tätigen Logistikkonzerns. 2000–2007 CEO SBB Cargo AG, 1998–2000 Konzernpersonalchef der SBB AG, in beiden Funktionen Mitglied der SBB Konzernleitung. 1991–1997 Geschäftsführender Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). 1981–1991 Zentralsekretär verschiedener Mitgliedsverbände des SGB.

XV Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Andres Pfister Studium der Psychologie mit Vertiefung Sozial- und Wirtschaftspsychologie (Universität Basel), Dissertation in der Psychologie mit Fokus Führung (Universität Zürich), Wissenschaftlicher Assistent und Dozent an der Militärakademie an der ETH Zürich (MILAK), am IAP als Professor für Leadership und Co-Zentrumsleiter tätig, Forschungsinteressen in den Bereichen Agilität, effektive Führungsverhalten, destruktives Führungsverhalten und Führung in Architektur und Bauwesen.

Leena Pundt Dr. phil. Leena Pundt ist seit 2015 Professorin für Personalmanagement an der Hochschule Bremen. 2016 gründete sie dort das Institut für Personalmanagement. Von 2011 bis 2014 war sie Diversity Managerin bei der Otto Group. Sie studierte Wirtschaftspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg und der London Metropolitan University und promovierte zu den Gründen aktiver Rentner:innen, weiter arbeiten zu wollen. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen des Human Resource Managements, der Personalpsychologie, im Diversity Management und in den Erfolgsfaktoren interkultureller Zusammenarbeit.

Marc Schreiber Marc Schreiber ist Professor für Laufbahn- und Persönlichkeitspsychologie am IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er berät Privatpersonen und Unternehmen in Fragen der Laufbahnentwicklung. Seine Schwerpunkte in Weiterbildung und Forschung liegen in den Bereichen Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung in der Arbeitswelt 4.0, Laufbahn- und Persönlichkeitspsychologie sowie qualitative (narrative) und quantitative Diagnostik.

Clara Weber Dr. Clara Weber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Workplace Management am Institut für Facility Management (IFM) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Sie ist ebenso Gastforscherin in Umweltpsychologie an der University of Surrey. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Mensch-Umwelt-Interaktion in Arbeitsumgebungen, sowie sensorische und sozial-räumliche Bedürfnisse (z. B. Privacy) am Arbeitsplatz.

XVI

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Birgit Werkmann-Karcher Birgit Werkmann-Karcher studierte Psychologie und Verwaltungswissenschaften mit Schwerpunkt Personal & Organisation an der Universität Konstanz. Weiterbildungen in Hypnosetherapie, Konfliktmanagement, Supervision und Organisationsentwicklung, MSc in Organisationsentwicklung. Langjährige Tätigkeit in der innerbetrieblichen Organisations- und Personalentwicklung und als freiberufliche Supervisorin. Am IAP als Dozentin, Beraterin und Studienleiterin und als Co-­Leiterin des Zentrums für Human Resources & Corporate Learning tätig. Themenschwerpunkte: New Work und Human Resources, Teamarbeit und HR-Beratung.

Lukas Windlinger Prof. Dr. Lukas Windlinger ist Professor für Workplace Management am Institut für Facility Management (IFM) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Design und Management von Arbeitsumgebungen hinsichtlich räumlicher, menschlicher und organisationspezifischer ­Faktoren.

Silvan Winkler Silvan Winkler ist promovierter Organisationspsychologe und hat seine Forschung dem Thema People Analytics gewidmet. Er ist seit über 10 Jahren in verschiedenen Praktikerrollen unterwegs, unter anderem in einer HR-Stabsfunktion einer Großbank und verschiedenen großen und kleinen Beratungsunternehmen. Aktuell leitet er den Diagnostik-Bereich der Jörg Lienert AG. Daneben doziert er an verschiedenen Hochschulen zum Thema People Analytics. Er lebt mit seiner Familie in Luzern und tüftelt in seiner Freizeit gerne an Musikinstrumenten und Sounddesign-Software.

Dirk Wulff Dirk Wulff ist promovierter Psychologe und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Basel. Seine Forschung befasst sich mit grundlegenden und praxisorientierten Fragen des menschlichen Urteilens und Entscheidens. Neben seiner Forschungstätigkeit ist er in mehreren von ihm mitgegründeten Organisationen als Dozent und Berater zum Thema Data Science aktiv. Er bietet als "The R Bootcamp" Kurse in den Weiterbildungsprogrammen mehrerer Schweizer Universitäten an und unterstützt mit Correlaid Switzerland und DataCross Non-Profit-Organisationen auf der ganzen Welt.

XVII Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Tatjana Zbinden Tatjana Zbinden absolvierte ein Betriebswirtschaftsstudium an der Universität St. Gallen mit Schwerpunkt Führung und Personalmanagement (lic. oec. HSG). Sie bringt langjährige Erfahrung als Head of Human Resources und Geschäftsleitungsmitglied in der IT und Technologiebranche mit. Beim IAP war sie als Dozentin und Beraterin tätig mit den Themenschwerpunkten Organisationsstrategie, HR-­ Strategie, Organisationskultur, Talent Management, organisationale Capabilities und Workforce der Zukunft. Nun ist sie selbstständig und als unabhängige Verwaltungsrätin bei der Löwenfels Partner AG und bei Meteotest AG im Einsatz und steht der ZHAW als externe Dozentin zur Verfügung.

Michael Zirkler Michael Zirkler, Prof. Dr., wuchs in einer Familie von Handwerkern im alemannischen Teil Deutschlands auf und verdiente erstes eigenes Geld im Betrieb seines Vaters. Er sammelte wichtige berufliche Erfahrungen als junger autodidaktischer Entrepreneur im Medienbereich, arbeitete als Konzeptioner, Texter und Kundenberater in einer Werbeagentur mit Spezialisierung im Personalmarketing, um schließlich Psychologie und Sexualwissenschaften in Hamburg zu studieren. Er kam 1999 als Assistent an die Universität Basel (Wirtschaftswissenschaftliches Zentrum), wo er 2004 zum Assistenzprofessor für Organisation, Führung und Personal berufen wurde. Seit 2008 ist er als Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig und leitet derzeit die Fachgruppe Organisationsentwicklung und -beratung am Departement Angewandte Psychologie. Momentane Arbeitsschwerpunkte in der Forschung und Lehre: (Soziale) Steuerungsfragen der Organisation, Transformationsprozesse sozialer Systeme (Organisationen), Führungund Führungsentwicklung sowie New Work. Als Fellow im Research Cluster der Digitalisierungsinitiative Zürich (2022–2024) forscht er zur Frage der digital vermittelten Gemeinschaft mit Fokus auf Solidarität. Er ist außerdem in internationalen Projekten mit Schwerpunt Indien und Israel engagiert.

XVIII

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis Bojana Aleksic  Neuheim, Schweiz Claudia Beutter  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Prof. Dr. Patrick  Boss  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Jürg Gabathuler  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Dr. Rafael Huber  RH Dr. Rafael Huber, Zürich, Schweiz Dr. Carmen Keller  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Prof. Dr. Peter Kels  Institut für Betriebs- und Regionalökonomie IBR, Hochschule Luzern – Wirtschaft, Luzern, Schweiz Prof. Dr. Volker Kiel  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Prof. Dr. Imke  Knafla  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Julia Kornfeind  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Prof. Dr. Andrea Müller  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Daniel Nordmann  dn.gmbh, Zürich, Schweiz Prof. Dr. Andres Claudius Pfister  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Prof. Dr. Leena Pundt  Fakultät 1, Wirtschaftswissenschaften, HSB – Hochschule Bremen, Bremen, Deutschland Prof. Dr. Marc Schreiber  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Dr. Clara  Weber  Sciences und Facility Management, ZHAW Zürcher Hochschule für ­Angewandte Wissenschaften, Wädenswil, Schweiz

XIX Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Birgit  Werkmann-Karcher  IAP Institut für Angewandte Psychologie, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz Prof. Dr. Lukas Windlinger  IFM Institut für Facility Management, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Wädenswil, Schweiz Dr. Silvan Winkler  Diagnostik und Projekte, Jörg Lienert AG, Luzern, Schweiz Dr. Dirk  U.  Wulff  Center for Cognitive and Decision Science, Universität Basel, Basel, Schweiz Tatjana Zbinden  Geschäftsführerin, Verwaltungsrätin, Aluan AG, Zürich, Schweiz Prof. Dr. Michael  Zirkler  PI Psychologisches Institut, ZHAW Zürcher Hochschule für ­Angewandte Wissenschaften, Zürich, Schweiz

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Einführung und Grundlagen in Personalpsychologie und HRM Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Human Resource Management und Personalpsychologie in der Arbeitswelt 4.0 – 3 Birgit Werkmann-Karcher und Andrea Müller Kapitel 2

HR-Rollenmodelle – 19 Tatjana Zbinden

Kapitel 3 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft – 35 Tatjana Zbinden Kapitel 4 Demografischer Wandel und Demografiemanagement – 57 Leena Pundt

I

3

Human Resource Management und Personalpsychologie in der Arbeitswelt 4.0 Birgit Werkmann-Karcher und Andrea Müller Inhaltsverzeichnis 1.1

Human Resource Management – 4

1.2

Psychologie für das HRM – 7

1.2.1 1.2.2

 sychologische Disziplinen – 7 P Allgemeine Beitragsdisziplinen, thematisch benachbart – 8 Personalpsychologie – 8

1.2.3

1.3

 on Megatrends zum Rollenverhalten: V Ein Rahmenmodell für das HRM – 9

1.4

Fokus und Aufbau dieses Buches – 14 Literatur – 18

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_1

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B. Werkmann-Karcher und A. Müller

Das Human Resource Management steuert den Einsatz und die Entwicklung der Humanressourcen und gründet auf verschiedene Disziplinen. Die zentralste Grundlage ist die Psychologie. In diesem Kapitel wird ein Grundlagenverständnis vom Human Resource Management skizziert und gezeigt, wie verschiedene psychologische Teildisziplinen zum Fundus des Human Resource Managements beitragen. In einem generischen Rahmenmodell werden Einflussebenen auf das HRM und das individuelle Rollenverhalten dargestellt und dessen Hintergründe vertieft. Die Struktur und Beiträge des gesamten Buches werden abschließend vorgestellt.

1.1 

Human Resource Management

Human Resource Management (HRM) ist ein Begriff, der für Verschiedenes steht: Auf institutioneller Ebene ist er eine Bezeichnung der Organisationseinheit, die sich zentral und dezentral ausschließlich mit Personalaufgaben beschäftigt. Vorgängerversionen lauteten „Personalmanagement“ („Personnel Management“) oder auch „Personalwesen“ oder „Personaladministration“; heute wird gelegentlich der Begriff „People Management“ verwendet, wenn es um ein modernes, ganzheitliches Verständnis ineinandergreifender HR-Praktiken zur Attraktion und Bindung von Mitarbeiter:inen geht. Die Bezeichnung, die sich Organisationseinheiten geben, hat eine Signalfunktion, durch die ein professionelles Selbstverständnis transportiert werden soll. Das professionelle Selbstverständnis, das im Human Resource Management ausgedrückt wird, entwickelte sich in der Phase der Personalarbeit, die als Ökonomisierungsphase bezeichnet wird (vgl. Oechsler & Paul, 2015, S. 3) und die in den 1980er-Jahren als Antwort auf Wettbewerbsverschärfungen infolge der Globalisierung und dem daraus resultierenden Kostendruck entstand. In diese Zeit fiel die Orientierung am Shareholder-­ Value als Bezugspunkt des Managementhandelns (vgl. Mintzberg et al., 2002) und als Imperativ für Effizienzsteigerungsbemühungen. Einerseits galt es also, den Wertschöpfungsbeitrag einzelner Organisationseinheiten – auch des Personalbereichs – zu belegen. Andererseits mussten Quellen potenzieller Wettbewerbsvorteile gegenüber Mitbewerber:innen gefunden werden. Hier schließlich wurden die Mitarbeiter:innen als die wichtigste Ressource eines Unternehmens  – die Humanressource  – und als Quelle eines Wettbewerbsvorteils identifiziert, da die Humanressourcen einer Organisation in ihrer Gesamtheit und Konfiguration nur schwer oder gar nicht imitierbar sind (vgl. Guest, 1990, S.  378). Dazu musste es allerdings gelingen, die wertvollen Humanressourcen voll und ganz zu nutzen, was durch eine inhaltliche Verzahnung bzw. Integration der Personalarbeit mit der Unternehmensstrategie gelingen sollte. Diese Integration zwischen Unternehmensstrategie und Personalmanagement zu realisieren versprach das Konzept HRM, weshalb Caldwell (2003, S. 984) es ironisierend als „Allheilmittel“ für diese Aufgabe bezeichnete. Die resultierenden Rollenbilder zur Realisierung einer HR-Business-Partnerschaft innerhalb der Organisation (vgl. 7 Kap.  2) sind logische Folgen des HRM-Anspruchs, individuelle Ziele der Mitarbeitenden mit den strategischen Zielen der Organisation zu harmonisieren, die HR-Strategie mit der Unternehmensstrategie zu verbinden (vgl. 7 Kap. 3) und durch vertikal aufeinander abgestimmte HR-Praktiken in Wirkung zu bringen.  



5 Human Resource Management und Personalpsychologie...

Definition Nach Eberhardt (2010, S.  28) ist das HRM die „umfassendste und zentralste Bezeichnung, wenn ein strategischer, integrierter und kohärenter Anspruch an die Beschäftigung, Entwicklung und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden in Organisationen besteht“.

Das inhaltliche Verständnis über die Art der Steuerung und Entwicklung von Humanressourcen drückt sich in zwei managementorientierten Modellen aus, die zeitgleich an zwei verschiedenen Schulen entwickelt wurden und das Kernverständnis von HRM prägten: z „Hard HRM“: Der Michigan-Ansatz

„Hard HRM“ im Michigan-Ansatz (Fombrun et al., 1984) fordert, dass der Einsatz und die Steuerung der Humanressourcen konsequent und gezielt auf die Erreichung der strategischen Organisationsziele ausgerichtet sein müssen. HR-Systeme sollen kongruent mit der Unternehmensstrategie und Struktur gestaltet werden. Individuen werden innerhalb eines klassischen HR-Zyklus gesteuert: Die Leistungserbringung steht im Mittelpunkt, Auswahl und Entwicklung von Individuen sowie Beurteilung und Belohnung von deren Leistung sind darauf bezogen. Leistungsziele werden aus der Unternehmensstrategie abgeleitet. Die Qualität „hart“ wurde diesem Ansatz verliehen, weil den Mitarbeiter:innen als Personal in diesem Konzept eine passive Rolle zugedacht wird. Die Handlungen liegen auf Managementseite, das Individuum wird zielorientiert gesteuert (vgl. Ortlieb, 2010). z „Soft HRM“: Der Harvard-Ansatz

Der Harvard-Ansatz (Beer et al., 1985) geht aus von einer Stakeholder-Perspektive im HRM, in der die Interessen verschiedener Gruppen auf situative Gegebenheiten wie Unternehmensstrategie, Produktionstechnologie, Arbeitsmarkt und Arbeitskräfte treffen. Hier setzt nun die Gestaltung der vier HRM-Politikfelder an: Im Personalfluss in und durch die Organisation kommen Verfahren für Beschaffung, Selektion, Laufbahnentwicklung und Personalabbau zum Einsatz. Eine der Arbeit angemessene materielle und immaterielle Belohnung gilt als hoch bedeutungsvoll für das Wohl der Mitarbeiter:innen, weshalb ein Politikfeld die Gestaltung der „Belohnungssysteme“ ist. Arbeitszeit- und Arbeitsplatzgestaltung werden im Politikfeld „Arbeitssysteme“ konzipiert. Der Wunsch nach Teilhabe an organisationalen Entscheidungen wird mit dem vierten HRM-Politikfeld aufgegriffen, das unter anderem Verantwortungsdelegation, Qualitätszirkel oder Personalinteressensvertretungen umfasst. Weil die Mitarbeiter:innen als Personal im Harvard-Ansatz stärker im Mittelpunkt stehen und ihre Entwicklungs- und Partizipationsinteressen repräsentiert sind, spricht man bei diesem Ansatz von „Soft HRM“. Mit dem stärkeren Fokus auf die Mitarbeiter:innen und auf die zunehmende Dynamik in der Arbeitswelt veränderten sich auch die Anforderungen, welche an

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B. Werkmann-Karcher und A. Müller

das HRM gestellt werden: Eine proaktive, vorausschauende Personalarbeit sowie die Vorteile einer strategischen Verankerung des HRM spiegeln sich nun in den Rollen der HR-Mitarbeiter:innen (z. B. die Rolle der strategischen HR-­Business-­ Partner:in) wider. Neue Beachtung fand zudem der Ansatz des Human Capital Managements, der seinen Ursprung in der Bildungsökonomie der 1960er-Jahre hat. Die OECD definiert Humankapital grob als der Bestand an Wissen, Fähigkeiten und anderen persönlichen Eigenschaften, die in Menschen verkörpert sind und ihnen helfen, produktiv zu sein. Investitionen in das Humankapital stellen einerseits formale Bildung und Erwachsenenbildungsprogramme, andererseits aber auch informelles Lernen und Lernen am Arbeitsplatz und Berufserfahrung dar (Botev et al., 2019). Der Einsatz des Humankapitals ist somit einerseits abhängig von der Bereitschaft der Mitarbeiter:innen, ihr Humankapital in Organisationen einzubringen, sowie andererseits von der Fähigkeit einer Organisation, dieses auch effektiv und effizient zu nutzen. Immer mehr Führungskräfte sind sich der strategischen Bedeutung des Humankapitals, der Mitarbeiter:innen für eine Organisation bewusst und sind nicht mehr bereit, ein primär operativ ausgerichtetes HRM, das sich oft nur mit der Verwaltung der bestehenden Human Resources auseinandersetzt, zu forcieren. Eine weitere aktuelle Entwicklung zeichnet sich mit dem neuen Forschungsfeld des Green HRM ab. In dem Bewusstsein, dass kultureller und struktureller Wandel in Organisationen nur durch die daran beteiligten Menschen erreicht werden kann, werden im Personalmanagement jene Aspekte und Praktiken verfolgt, die ökologische Nachhaltigkeit begünstigen. Wie auch die strategische Sicht auf das HRM kann Green HRM als kontinuierlicher Prozess verstanden werden, der Mitarbeiter:innen über alle Phasen ihrer Organisationszugehörigkeit hinweg begleitet und alle HR-Maßnahmen integrativ verfolgt (Müller-Camen et al., 2020). Unter dem Eindruck rasanter Veränderungen in der Arbeitswelt, die unter der Etikette "Arbeitswelt 4.0" oder auch "New Work" zusammengefasst werden, verändert sich wiederum das Modell- und Rollenverständnis des HRM.  Neue HR-­ Organisations- und Rollenmodelle werden diskutiert (7 Kap. 2). Sie sind Antworten auf gänzlich andersartige Steuerungsanforderungen einer individualisierten und diverseren Belegschaft in Organisationen, die ihrerseits gefordert ist, durch schnell veränderliche, unsichere, komplexe und mehrdeutige VUCA-Umwelten zu navigieren. Dabei wird erkennbar, dass die Individualisierung als Gesellschaftstrend tief in die Organisationen hineingreift. Das führt nicht nur zu einer hohen Orientierung an den singulären Kundenbedürfnissen, sondern ebenso zu einer Anerkennung von und Beschäftigung mit individualisierten Interessen, Werten, Kompetenzen und Stärken der einzelnen Mitarbeiter:innen und ihres Zusammenspiels in Teams. Dieser Fokus ist zutiefst psychologisch. Was nun kann die Psychologie dem HRM zum Verständnis, zur Erklärung und Prognose individueller Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen im Arbeitskontext vermitteln?  

7 Human Resource Management und Personalpsychologie...

1.2 

Psychologie für das HRM

1.2.1 

Psychologische Disziplinen

Die Psychologie beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten des Menschen. Ihr Anliegen ist es, menschliches Erleben und Verhalten zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu beeinflussen. Dabei wird die Psychologie in Grundlagenfächer und anwendungsbezogene Fächer sowie Methodenfächer unterschieden. Grundlagenfächer befassen sich mit allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten, wie z. B. Wahrnehmung, Problemlösen, Lernen, Motivation, Kommunikation, und mit Unterschieden zwischen Menschen, wie z. B. hinsichtlich Persönlichkeit und Intelligenz. Bereits bei dieser kurzen beispielhaften Auflistung wird deutlich, dass die Grundlagenfächer wichtige Erkenntnisse für die Anwendung auch im Rahmen des Human Resource Managements liefern – so wird etwa das Wissen über Motivation für das Gestalten von Arbeitsaufgaben genutzt, das Wissen über Lernen findet Anwendung im Vermitteln und Erwerben von Kompetenzen, die Differenzierung nach Persönlichkeitsunterschieden fließt in die Personalauswahl und Teamzusammensetzung ein, das Wissen über die menschliche Informationsverarbeitung unterstützt bei der Kommunikation in Veränderungsprozessen. Die Erkenntnisse der angewandten psychologischen Forschung können wiederum für Anwendungen in Unternehmen genutzt werden, um aktiv die aktuellen und zukünftigen Arbeitsbedingungen zu gestalten und den Fokus konsequent auf das menschliche Erleben und Verhalten im Arbeitskontext zu legen, um so insbesondere die Gesundheit, Motivation und auch Leistungsfähigkeit von Mitarbeiter:innen zu fördern. Für Frage- und Problemstellungen des Human Resource Managements liefern verschiedene Disziplinen der Psychologie einen Beitrag. Insbesondere werden Erkenntnisse und Methoden folgender Teildisziplinen herangezogen: 55 Differenzielle Psychologie: Erkenntnisse und Forschungsergebnisse sind für die Berufseignungs- und Leistungsdiagnostik unentbehrlich und die Methoden liefen die Grundlagen für die Diagnostik zu Personalauswahl und Potenzialanalysen. 55 Sozialpsychologie: liefert die Grundlagen, um Interaktions- und Einflussprozesse zu verstehen, Kommunikations- und Gruppenstrukturen zu gestalten. 55 Arbeits- und Organisationspsychologie: häufig als Doppelbegriff gebraucht, beschäftigt sich mit dem menschlichen Erleben und Verhalten im Kontext von Arbeit und Organisationen und deckt ein breites anwendungsbezogenes Spektrum ab, beginnend bei der Arbeitsgestaltung, der Mensch-Maschine-­Interaktion bis hin zu Organisationsdiagnose und -entwicklung und Gestaltung von Innovationen. 55 Wirtschaftspsychologie: stellt das Verhalten und Erleben des Menschen in größere wirtschaftliche Zusammenhänge, z.  B. als Konsument:in, Steuerzahler:in und umfassende wirtschaftliche Prozesse, wie z. B. Wirtschaftsentwicklung und Internationalisierung. 55 Personalpsychologie: kann als Teilgebiet der Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie betrachtet werden, die Mitarbeiter:innen mit ihren interindividuellen Unterschieden hinsichtlich Eignung, Verhalten, Leistungen etc. in den Mittelpunkt stellt.

1

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B. Werkmann-Karcher und A. Müller

1

Wirtschaftspsychologie

Fokus: menschliches Erleben, Verhalten und Entscheiden in wirtschaftlichen Abläufen (Marke, Werbung, Finanzentscheidungen u.ä.)

Anthropologie/ Ethnologie

Managementlehre Betriebsökonomie Arbeits- und Sozialversicherungsrecht

Arbeitsund Organisationssoziologie

Personalpsychologie

Fokus: Individuelles Erleben und Verhalten in Arbeit, Beruf und Organisation; v.a. Arbeitsverhalten, Arbeitsleistung

Differentielle Psychologie

WirtschaftsPädagogik

Fokus: Individuelles Erleben und Verhalten, interindividuelle Unterschiede

Sozialpsychologie Fokus: Erleben und Verhalten in Gruppen

Organisationspsychologie

Fokus: Erleben und Verhalten in Organisationen (Individuum-GruppeOrganisation)

Arbeitspsychologie Fokus: Erleben, Bewerten, Gestalten von Arbeitsinhalt und -umgebung

Organizational Behavior

..      Abb. 1.1  Personalpsychologie und Beitragsdisziplinen

Generell sind Problemstellungen des HRM interdisziplinärer Natur. Neben dem umfangreichen Fachwissen aus der Psychologie tragen auch andere Disziplinen wertvolle Erkenntnisse bei (. Abb. 1.1).  

1.2.2 

Allgemeine Beitragsdisziplinen, thematisch benachbart

Eine wichtige Quelle für erfolgreiches HRM sind thematisch benachbarte Disziplinen. Es fließen insbesondere Konzepte und Modelle aus den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie, der Wirtschaftspädagogik und des Organizational Behavior ein. Auch Erkenntnisse der Rechtswissenschaften und Informationstechnologien sind für das HRM bedeutsam (. Abb. 1.1). Unter dem Begriff des Organizational Behavior (deutsch: Verhalten in Organisationen) wurde ein interdisziplinäres Fachgebiet geschaffen, welches das konkrete menschliche Verhalten in Organisationen adressiert und dabei eine strikte verhaltenswissenschaftliche Perspektive einnimmt. Es wird untersucht, wie Menschen sich als Individuen, in Teams, in Organisationen verhalten und wie Menschen von Prozessen und Strukturen in bzw. von Organisationen und Arbeitswelten in ihrem Verhalten beeinflusst werden (Robbins & Judge, 2019). Zentral für das Etablieren dieses Fachgebietes war die Erkenntnis, dass Organisationen soziale Phänomene sind, die unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden können.  

1.2.3 

Personalpsychologie

Die Personalpsychologie ist die angewandte Psychologie für das Praxisfeld des HRM. Sie ist handlungs- und interventionsorientiert. Sie beschränkt sich dabei nicht nur auf eine individuelle verhaltensbezogene Handlungsebene, sondern zielt auf die

9 Human Resource Management und Personalpsychologie...

.       Tab. 1.1  Bereiche und Ebenen der Personalpsychologie Arbeit

Individuum

Interaktion

Organisation

Arbeitsgestaltung Arbeits- und Tätigkeitsanalyse Mensch-Maschine-­ Interaktion Neue Technologien

Personalmarketing Personalauswahl Personaldiagnostik Leistungsbeurteilung Kompetenzentwicklung Motivation und Zufriedenheit Beanspruchung und Gesundheit Selbstmanagement

Teamarbeit Führung Kommunikation Konflikte

Organisationsdiagnose Organisationsklima/-kultur Organisationsentwicklung Innovation

Gestaltung von Prozessen und Systemen für optimale Rahmenbedingungen, damit sich Mitarbeitende entfalten können (Schuler & Kanning, 2014). Mit Personalpsychologie wird in der Regel jenes Teilgebiet der Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie sowie des Human Resource Managements bezeichnet, das sich auf die Betrachtung des Individuums in seinen Verhaltens-, Befindens-, Leistungsund Entwicklungszusammenhängen als Mitarbeiter:in einer Organisation konzentriert. Die Themen der Personalpsychologie werden häufig nach vier Bereichen bzw. Ebenen differenziert (. Tab. 1.1). Das Interesse an personalpsychologischen Fragestellungen wächst mit der Bedeutungszunahme des Faktors Mensch in einer vom Wandel und Umbruch geprägten Arbeits- und Wirtschaftswelt. Diese Veränderungen führen insbesondere auch zu veränderten Rollenmustern für Mitarbeiter:innen im HRM (7 Kap. 2).  



1.3 

 on Megatrends zum Rollenverhalten: V Ein Rahmenmodell für das HRM

Das HRM hat also einen Arbeitsgegenstand, der ganz und gar nicht stabil ist. Es ändert sich die Arbeitswelt, in der die HR-Steuerung optimal gestaltet werden soll, und es ändern sich die Einstellungen der daran teilhabenden Menschen. Das HRM spiegelt diese Veränderungen in seiner Politik und seinen Praktiken, was man in den letzten Jahren an einigen Debatten z. B. über Leistungsbeurteilung, über Boni oder über innovative Arbeitsmodelle sehen konnte. Um die Perspektiven auf die verschiedenen Einflussebenen zu ordnen, wird ein Rahmenmodell eingeführt (. Abb.  1.2). Es stellt verschiedene Einflussebenen dar, die auf die Gestaltung des HRM bis hin zur individuellen professionellen Rolle wirken. Als äußerste Ebene oder Schicht, aus der fürs HRM relevante Veränderungen angetrieben werden, werden hier die Kategorien der PESTEL-Analyse verwendet (vgl. Kaufmann, 2021, S.  19). Dieses Analysemodell findet häufig in Strategieentwicklungen Einsatz. Es teilt die Umwelt in Subsysteme ein, in denen sich relevante Entwicklungen oder Ereignisse im makroökonomischen Umfeld von Organisationen erfassen lassen. PESTEL ist ein Akronym aus den Begriffen Politics, Economy, Society, Technology, Ecology, Legislation:  

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P: Polik Globalisierung

Megatrends

Wissenskultur

Arbeitswelt Organisaonswelt

New Work

Konnekvität

HRM-Polik und Organisaonsrolle Persönlichkeit

Silver Society

Individualisierung

Professionsrolle HR-Prakken

Urbanisierung

Professionswelt

Gender Shi

Arbeitswelt E: Ökologie

Neo-Ökologie

Mobilität

S: Gesellscha

T: Technologie

..      Abb. 1.2  Einflussebenen auf die Gestaltung des HRM. (Rahmenmodell)

55 Politik: politische Gestaltung mit Wirkung auf den Bereich Wirtschaft (Handelsbeziehungen, Zölle) 55 Ökonomie: weltwirtschaftliche und volkswirtschaftliche Entwicklungen der Märkte 55 Gesellschaft: Bildungsstand, Lebensstil, Bevölkerungsentwicklung, Konsumgewohnheiten 55 Technologie: bedeutsame technologische Entwicklungen (derzeit: Digitalisierung) 55 Ökologie: ökologische Entwicklungen wie Klimawandel, Ressourcenknappheit 55 Gesetzgebung: Gesetze, Auflagen, Gebote und Verbote Aus einzelnen oder mehreren dieser Kategorien stammen die prägenden Ereignisse und Entwicklungen, die als Megatrends bezeichnet und beschrieben werden. Definition Megatrends sind große soziale, ökonomische, politische oder technologische Veränderungen mit einer Wirkung über mindestens 10 Jahre oder darüber hinaus (Naisbitt, 1982).

Die Digitalisierung als epochale technologische Veränderung hat besonders tiefgreifende Auswirkungen, indem sie hinter einigen der im Folgenden aufgeführten Megatrends (Das Megatrendsystem, 2023) steht: 55 Globalisierung (weltweiter Austausch von Waren, Personen und Ideen) 55 Individualisierung (hoher Wert und Anspruch auf Einzigartigkeit) 55 New Work (Sinnfrage im Vordergrund der Arbeit, verschwimmende Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit)

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55 Wissenskultur (höherer Bildungsstandard, hohe Verfügbarkeit durch Konnektivität und hohe Bedeutung von Wissen) 55 Konnektivität (Vernetzung durch Digitalisierung, schnelle und umfassende Verbindungen in allen Lebensbereichen) 55 Gender Shift (veränderte Geschlechterrollen, abnehmende Determinierung der Lebensführung aufgrund geschlechtlicher Zugehörigkeit) 55 Silver Society (alternde Gesellschaft, verlängerte Lebensdauer und gesellschaftliche Teilhabe) 55 Neo-Ökologie (Nachhaltigkeit als Entscheidungsmaßstab) 55 Urbanisierung (Leben in den Städten, Städte als zentraler Lebensraum) 55 Mobilität (Beweglichkeit von Menschen und Waren und Mobilitätskonzepte) Megatrends wirken in alle Bereiche unseres Lebens hinein. Da sie per Definition mindestens 10 Jahre und länger wirken, liegt es nahe, ihre differenzielle Wirkung auf Generationen zu beziehen, was im HRM zum Postulat des Generationenmanagements geführt hat (Hintergrundinformation:Generationenunterschiede). Hintergrundinformation: Generationenunterschiede Die Wirkung von prägenden Ereignissen und Entwicklungen wird häufig auf der Ebene von Generationen erfasst und dazu verwendet, um generationenspezifische Arbeitswerte zu beschreiben. Dies geschieht in der Annahme, dass eine Generation im Heranwachsen denselben prägenden Umweltereignissen ausgesetzt ist und deshalb folglich vergleichbare Arbeitswerte entwickelt. Das zu belegen ist allerdings schwierig, denn die Forschung zu Generationenunterschieden unterliegt einer Vielzahl methodischer Herausforderungen: Verschiedene Studien variieren bereits in der Bestimmung der Generationengrenzen, und die meisten sind als Querschnittserhebungen angelegt und dadurch blind gegenüber Entwicklungen im Lebenslauf, die mit dem Älterwerden einhergehen. Deshalb könnten Unterschiede zwischen Altersgruppen, wenn man sie denn findet, ebenso auf Alterseffekte wie auf Generationeneffekte hinweisen. Schmidt et al. (2020) kommen deshalb zu dem Ergebnis, dass der derzeitige Forschungsstand keine überzeugende Begründung für ein auf Generationenunterschiede gerichtetes HRM liefert. Vielmehr ist es sinnvoll, von einer individuellen Unterschiedlichkeit der Werte und Bedürfnisse auszugehen und darüber hinaus eher die Lebensphasen als die Generationen als Treiber von veränderlichen Bedürfnissen zu betrachten.

Megatrends prägen in deutlicher Weise die Arbeitswelt. So kann man am Beispiel des Megatrends Konnektivität nachzeichnen, wie sich die Verbindungen über soziale Medien und Plattformen innerhalb des HRM im Employer Branding und Personalmarketing, in den Lernformen der Personalentwicklung und in Zusammenarbeitsformen auswirken. Auch für weitere Megatrends sind Beziehungen zu HR-Themen leicht auffindbar: Neo-Ökologie – Green HRM, Silver Society – flexible Workforce/ Freelancerpool etc. Während Arbeitsweltentwicklungen in der medialen Berichterstattung eher allgemein besprochen werden, werden sie in der professionellen Gemeinschaft spezifischer erörtert. Dort werden Auswirkungen für die Berufsbilder, Aus- und Weiterbildungscurricula, professionellen Rollen und Praktiken diskutiert. Zur jeweiligen professionellen Gemeinschaft (Professionswelt) fühlt man sich zugehörig, oft hat man ähnliche Aus- und Weiterbildungen absolviert, man trifft sich auf Versammlungen und Kongressen, in Erfahrungsaustauschgruppen, auf Social-MediaPlattformen, in Aus- und Weiterbildungen. Dort lernt, erfährt und handelt man im Austausch miteinander Praxistipps genauso wie Überzeugungen darüber, mit welchen Praktiken, Methoden, Tools und Modellen erfolgreich gearbeitet werden kann,

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„Best Practices“ werden geteilt. Die Professionswelt ist also eine wichtige Quelle für die Rollengestaltung der bzw. des Einzelnen. Hier werden Selbsterwartungen darüber geprägt, wie man seine professionelle Rolle gemäß den Standards und geteilten Überzeugungen ausüben möchte. Arbeitsweltveränderungen wirken schließlich auf die Organisationswelt ein, je nach Branche akzentuierter, werden früher oder später wahrgenommen und beantwortet: strategisch (z. B. neue Geschäftsmodelle, neue Absatzmärkte, neue Vertriebswege), strukturell (z. B. flache Hierarchien, dezentrale Einheiten) und kulturell (z.  B.  Du-Kultur, Austausch über Grenzen hinweg, kreative Atmosphäre in der Arbeitsplatzgestaltung). Die Ideen und Überzeugungen, die sich in der HR-­ Professionswelt herausbilden, werden durch einzelne Personen in ihren professionellen Rollen in die Organisation getragen bzw. innerhalb der HR-Abteilung diskutiert und abgestimmt. Welche Ideen sich durchsetzen und realisieren lassen, entscheidet sich in der Organisation aufgrund verschiedener Faktoren. Die Positionsmacht der HR-Abteilung und der Einfluss einzelner Personen in ihren professionellen Rollen zählen dazu (vgl. 7 Kap. 2 und 7 3). Die Entwicklungen in der Außenwelt werden in der Unternehmensstrategie und der HR-Strategie beantwortet; HR-Politik und -Praktiken werden innerhalb der Organisation in Übereinstimmung mit der Organisationskultur und -strategie weiterentwickelt und ausgeübt. Die professionellen HR-Rollen werden schließlich von der einzelnen Person mit ihrer einzigartigen Persönlichkeit übernommen, interpretiert und gespielt (vgl. dazu Hintergrundinformation: Rollentheorie und das Modell der Rollenübernahme und -aushandlung). Die Persönlichkeit bildet in diesem Modell den Kern und steht für die Gesamtheit aller individuellen Eigenschaften, die einen Menschen relativ stabil über den Zeitverlauf auszeichnen. Sie drückt sich aus in der Art, wie eine professionelle Rolle „gespielt“ wird, welche Gestaltungsansprüche in ihr verwirklicht werden sollen und final auch darin, ob die Rolle zur individuellen Zufriedenheit gespielt werden kann.  



Hintergrundinformation: Rollentheorie und das Modell der Rollenübernahme und -aushandlung Von einer „Rolle“ spricht man im Organisationskontext oft, um zu bezeichnen, welche Aufgaben eine Person als Träger:in einer Rolle übernehmen soll, wofür er oder sie Verantwortung trägt, was er oder sie erreichen soll. . Abb. 1.3 skizziert die Rollenübernahme und -aushandlung. Aus organisationspsychologischer Sicht haben Katz und Kahn (1966) in ihrer „Role Set“-Theorie Organisationsrollen als standardisiertes Verhaltensmuster bezeichnet, das man unabhängig von seinen eigenen Wünschen in Arbeitsbeziehungen mit anderen spielen muss. Die Organisation vermittelt ihre Erwartungen darüber, was in einer Rolle stattfinden soll und was nicht, mit Übergabe der Rolle – teils schriftlich, teils implizit. Die implizite Vermittlung geschieht in den täglichen Interaktionen mit „signifikanten Anderen“ (Plummer, 1991)  – also den Personen in den Rollen, die aufeinander bezogen sind und gemeinsam miteinander gespielt werden; sei es interagierend wie HR-Business-Partner:innen mit den Kund:innen oder co-agierend wie mehrere HR-Business-Partner:innen, die für verschiedene Bereiche Gleiches tun, oder contra-agierend wie mitunter HR-Vertreter:innen versus Gewerkschaftsvertreter:innen bei Vertragsverhandlungen. Diese signifikanten Anderen senden also ihre Erwartungen in jeder Interaktion aufs Neue. Die Rollenträger:innen nehmen diese wahr und interpretieren sie, beeinflusst von der eigenen Persönlichkeit. In diesem Prozess der Rollenübernahme steckt multiples Konfliktpotenzial: Rollenerwartungen können in Diskrepanz zu den Werten oder Fähigkeiten der Rollenträger:in stehen,  

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oder widersprüchliche Rollenerwartungen werden von verschiedenen signifikanten Anderen an ein- und dieselbe Rolle gerichtet; schliesslich kann Konfliktpotenzial zwischen verschiedenen Rollen liegen, die man in der Organisation oder im Leben eben auch noch spielt. Im Zusammenspiel zwischen den Rollenträger:innen und den signifikanten Anderen wird manchmal explizit und oft implizit ausgehandelt, wie eine Rolle gestaltet werden kann, was durchsetzbar ist und was nicht. Dies wird durch Zustimmung und Bestätigung oder Kritik und Ablehnung vermittelt. In diesem Zusammenspiel ist das „Role Taking“ wichtig, also die Fähigkeit, als Rollenträger:in die Reaktionen signifikanter Anderer auf das eigene Rollenverhalten antizipieren zu können. Das „Role Making“ wiederum beschreibt den aktiven Beitrag der Rollenträger:in, die Rolle zu modifizieren und sie sich im Handeln gewissermaßen zu eigen zu machen (Turner, 1962). Das Verbindungsglied zwischen dem Individuum mit seiner Persönlichkeit und der Organisation ist also im sozialpsychologischen Sinn die Rolle. Im juristischen Sinn ist es der Arbeitsvertrag. Das Modell kann helfen nachzuvollziehen, wer die signifikanten Anderen sind, welche Selbst- und ­Fremderwartungen in die Rolle transportiert werden und wo Konfliktpotenziale sind, die Spannungen verursachen und gelöst werden sollten. Das Modell kann auch helfen aufzuzeigen, wie wichtig anfängliche und fortgesetzte Aushandlungsprozesse mit den signifikanten Anderen sind, wenn sich Rollendefinitionen verändern sollen (vgl. 7 Kap. 2).  

Organisation signifikante Andere

definiert Rolle überträgt Rolle

repräsentieren Erwartungen

co-, inter- oder contraagieren

Rückgabe der Rolle

Erwartungsrepräsentation

ROLLE

-

Zufriedenheit ?

Aushandlung

+

Verbleib in Rolle

Aufgabenset (WAS) + Verhaltenserwartungen (WIE)

Aushandlung

Erwartungsinterpretation

Werte Fähigkeiten, Erfahrungen Erwartungen, Wünsche

setzt Rolle durch gestaltet Rolle interpretiert Rolle übernimmt Rolle

Rolle X

Person Rolle Y

Rolle Z

..      Abb. 1.3  Modell der Rollenübernahme und -aushandlung. (In Anlehnung an Katz & Kahn, 1966; Plummer, 1991)

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Praxis- und Anwendungstipp

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Eine anfängliche Rollenklärung über die Erwartungen der signifikanten Anderen zu Beginn einer Rollenübernahme ist für das „Role Taking“ förderlich. Da mit der Zeit Rollen modifiziert und kreativ verändert werden („Role Making“), sind Rollenfeedbacks ein weiteres hilfreiches Instrument, das um diese Kernfragen herum etabliert werden kann: Welches Rollenverhalten wünsche ich mir von dir weiterhin/mehr/ weniger/neu?

Fokus und Aufbau dieses Buches

1.4 

Personalpsychologisches Wissen wird in diesem Buch auf die Themen- und Anwendungsfelder der Personalarbeit ausgerichtet. Als Herausgeberinnenwerk lebt es von unterschiedlichen Perspektiven der beitragenden Autor:innen. Der psychologische Hintergrund bildet die gemeinsame Klammer. Die Aufbaulogik des Buches bildet sich in einer Dreiteilung ab: Im ersten Teil des Buches „Einführung und Grundlagen“ geht es um Modelle und Entwicklung des HRM und seines professionellen Selbstverständnisses in der Organisation bis heute. Das vorliegende Kapitel zeigt, welche Rolle verschiedene Disziplinen und vornehmlich die Personalpsychologie im HRM spielen und über welche Einflussebenen Veränderungen in die HR-Praktiken in Organisationen einwirken. In 7 Kap. 2 zeichnet Tatjana Zbinden die HR-Rollenentwicklung der jüngeren Zeit bis heute nach und zeigt, wie sich das professionelle Selbstverständnis über die Zeit in immer neuen Rollen abbildet. In 7 Kap. 3 erklärt dieselbe Autorin den Prozess einer HR-Strategieentwicklung und zeigt auf, wie strategische Personalplanung gestaltet und durchgeführt werden kann. Wie das HRM selbst von Trends beeinflusst ist und wie es diese strategisch behandeln kann, zeigt sie am Beispiel des Green HRM. Da die Bevölkerungsentwicklung die Verfügbarkeit der Humanressourcen stark determiniert, zählt 7 Kap.  4 zu den Grundlagen des ersten Teils. Leena Pundt beschreibt darin, welche strategischen Aufgaben sich aus der Demografieentwicklung ergeben und wie Organisationen sie beantworten können. Teil II des Buches „Personalpsychologie für HR-Kernaufgaben“ folgt der Logik des HR-Zyklus bzw. Personalflusses, die in den Soft- und Hard-HRM-Ansätzen beschrieben sind. Er definiert in einer traditionellen HR-Funktionslogik alle Aufgabenfelder, die sich auf die Beschaffung, den Einsatz, die Entwicklung und Trennung von Mitarbeitenden richten in erweiterter Perspektive werden die Teamarbeit in Organisationen und die Organisationskultur hier integriert. In 7 Kap. 5 definiert Andrea Müller die Aufgaben der Organisation, gegenüber potenziellen Mitarbeiter:innen und Beschäftigten eine authentische und attraktive Arbeitgeber:innenmarke aufzubauen, Quellen für Nachfolgepersonal aufzubauen und ihre Versprechen zu Bindungszwecken auch einzulösen. Wenn das Interesse von Bewerber:innen geweckt ist – sei es für einen Eintritt in die O ­ rganisation oder einen Laufbahnschritt innerhalb der Organisation –, dann werden diagnostische Verfahren eingesetzt, um möglichst gut sicherzustellen, dass die Anforderungen einer Stelle bzw. Rolle und die Kompetenzen zueinanderpassen. Darüber schreibt Patrick Boss in 7 Kap. 6. Im Hard HR-Modell ist die Leistungserbringung zentral, sie muss be 









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urteilt werden. Über die veränderliche Geschichte der Leistungsbeurteilung und ihre heutigen Formen schreibt Andrea Müller in 7 Kap.  7. Lernen in Organisationen spielte immer schon eine große Rolle: Früher, um Qualifikationsdefizite zu schließen oder auf einen Karriereschritt vorzubereiten. Heute geht es noch immer ums Lernen, aber das Lernen ist von einer Schulungsraumaktivität in die Mitte des Arbeitsalltags gerückt, Funktionen und Formate haben sich verändert, wie Jürg Gabathuler und Julia Kornfeind in 7 Kap. 8 beschreiben. Ein gänzlich neues Verständnis von Laufbahnentwicklung und Laufbahnplanung in Organisationen erläutert Marc Schreiber in 7 Kap. 9. Er erklärt, weshalb die Zeit des perfekten Matches vorbei ist und stattdessen Karrierekonstruktion in Organisationen als dialogischer Prozess verstanden und aufgesetzt werden soll. In 7 Kap. 10 beleuchtet Birgit Werkmann-Karcher die vielfältigen psychologischen Facetten des Querschnittsthemas Teamarbeit. Im Zuge flacher Hierarchien und verbreiteter Ansätze der Selbstorganisation sind Teams eine anerkannt wichtige Größe für Leistungserbringung, Innovation und Selbststeuerung geworden. HR-Aktivitäten müssen darauf abgestimmt werden und die Entwicklung von gut funktionierenden Teams ist ein Erfolgsfaktor. Große Bedeutung hat auch das Querschnittsthema Organisationskultur, das eng mit Organisationsentwicklung verbunden ist. Volker Kiel beschreibt in 7 Kap. 11 die komplexen Prozesse, die hinter Organisationsentwicklung stehen und warum sie einer rationalen Kulturgestaltung Grenzen setzen. Am Ende dieses Teils II steht die Kündigung von Mitarbeitenden, die anforderungsreich ist und deren Gestaltung die Trennungskultur prägt. Daniel Nordmann und Claudia Beutter geben in 7 Kap.  12 dazu wertvolle psychologisch fundierte Hinweise. Da sich die Arbeitswelt mit den technologischen Entwicklungen im Kontext der Digitalisierung, mit gesellschaftlichen Entwicklungen und mit der Erfahrung des Arbeitens unter Covid-19-Pandemiebedingungen grundlegend verändert hat, ist den „Neuen Arbeitswelten“ ein eigener, dritter Teil in diesem Buch gewidmet. In ihm sollen explizit jene Themenfelder beschrieben werden, die das HRM in Folge des Wandels vom Industrie- zum Informations- und Wissenszeitalter außerhalb der in Teil II beschriebenen Kernfunktionen beschäftigen.  











Hintergrundinformation: Neue versus alte Arbeitswelten Wenn man die Rede von der neuen Arbeitswelt und dem neuen Arbeiten bemüht, stellt sich früher oder später die Fragen, wie sich denn das Referenzbild von der alten Arbeitswelt darstellt. Womit wird verglichen, wenn von enormen Entwicklungen die Rede ist? Eine Antwort findet sich bei Sauer (2012, S.  4), der diese Entwicklung soziologisch einordnet und dabei mit der fordistisch-tayloristischen Normalarbeit in den 1950er- bis 1970er-Jahre kontrastiert. Fordistisch-­tayloristische Arbeit wird durch folgende Prinzipien charakterisiert: Massenproduktion (standardisierte, kleinteilige Arbeitsschritte, Fremdorganisation durch Trennung zwischen Planung und Ausführung der Arbeit), Massenkonsum (ein Automodell für alle statt konfigurierte Unikatlösungen nach individuellem Wunsch) und Normalarbeitsverhältnisse für primär männliche Erwerbstätige – gegenübergestellt den multipel-flexiblen Arbeitszeitmodellen für unterdessen gender- und kulturdivers gewordenes Personal. Mit der Krise dieses Modells in den 1970er-Jahren des letzten Jahrhunderts begann ein Umbruch, der den Weg in die bezeichnete neue Arbeitswelt ebnete. Mit den bereits skizzierten Trends der Globalisierung der Wirtschaft, der Individualisierung der Gesellschaft und der Informatisierung der Arbeit geht also, so die These der Entgrenzung, die Auflösung einst unverrückbarer Grenzen einher. Sie verändert den Charakter der Arbeit und auch die Orientierung der Arbeitnehmer:innen. Auf der individuellen Ebene entsteht eine subjektive, persönliche Beziehung zur Arbeit, in der Fremdsteuerung kaum mehr erforderlich ist, indem sie durch Selbststeuerung ersetzt wird. Wie ist das erklärbar?

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.       Tab. 1.2  Dimensionen der Entgrenzung. (Nach Sauer, 2012, S. 5) Erosion von Grenzen zwischen

Beschreibung

Unternehmen und Markt

Weg von der Abschottung der Organisation gegenüber dem Markt, hin zu: - Vermarktlichung und Vernetzung - Finanzialisierung (Kennzahlenorientierung) und indirekter Steuerung - permanenter Reorganisation

Unternehmen und Arbeitskraft

Weg von fremdorganisierter Arbeit im Modus von Anweisung und Kontrolle, hin zu: - Subjektivierung und Selbstorganisation - Hierarchieabbau und Delegation von Verantwortung - verstärkter Nutzung von subjektiven und lebensweltlichen Ressourcen von Arbeit - Selbstbestimmung und Selbstgefährdung

Arbeitswelt und Privatwelt

Weg von standardisierten Beschäftigungsverhältnissen und strikter Trennung von Erwerbsarbeit und privater Lebenswelt, hin zu: - Flexibilisierung von Erwerbsformen und Arbeitszeiten - Verschränkung von Arbeit und Leben

. Tab. 1.2 zeigt zunächst die drei Ebenen auf, in denen die Erosion von Grenzen deutlich wird. Entgrenzung kann in der Beziehung zwischen Unternehmen und Markt, zwischen Unternehmen und Arbeitskraft und schließlich zwischen Arbeits- und Lebenswelt nachgezeichnet werden. Der Abbau einst klarer Grenzen in allen drei Ebenen hat Auswirkungen auf die kollektive und individuelle Leistungsdynamik: 55 Entgrenzung zwischen Unternehmen und Markt: Unternehmen sind darauf angewiesen, sich dem Markt zu öffnen. Das bedeutet: ihn sehr genau zu beobachten und sich intensiv mit dem Erfassen und Beantworten von Kund:innen bedürfnissen auseinanderzusetzen. Erfolgssichernd ist es, früh zu erkennen oder, besser noch, vorausschauend zu erahnen, was Kund:innen wollen, und dies dann genügend schnell und konkurrenzfähig zur Verfügung stellen zu können. Der Marktdruck erzeugt verschiedene Antworten: Das Bewusstsein für die Kostenseite des Wirtschaftens hat zu einer Kennzahlenorientierung geführt, die mit der Erhebung und Rückmeldung von Leistungsindikatoren für breite Schichten von Mitarbeiter:innen einhergeht. Wer Kennzahlen als Rückmeldung für sein Arbeitshandeln erhält, kann diese lesen, interpretieren, sich danach ausrichten und sich damit selbst steuern. Die Fremdsteuerung durch Vorgesetzte wird überflüssig. Das ist mit „indirekter Leistungssteuerung“ (Peters, 2011) gemeint. Eine weitere Antwort der Unternehmen auf den Marktdruck besteht darin, Strukturanpassungen in oft kurz aufeinander folgenden Reorganisationsprozessen vorzunehmen. In jüngerer Vergangenheit wurde schließlich ein weiteres Prinzip der schnellen Anpassung an immer wieder neue Marktbedürfnisse entwickelt: das Prinzip der Agilität. Agilität wurde als spezifische Arbeitsmethode bekannt, gilt aber darüber hinaus und vor allem als Leitorientierung, an der sich Organisationen ausrichten und die unter dem Etikett „agiles Mindset“ eine steile Karriere in Organisationen erlebt hat (vgl. Zirkler & Werkmann-Karcher, 2020). Durch Kund:innenzentrierung, das Aufstellen von Hypothesen über Marktbedürfnisse und Produktequalitäten, deren schnelles Testen und dadurch ebenso schnelles Lernen soll erreicht werden, dass die Innovationskraft und -geschwindigkeit des Unternehmens erhöht und somit die Wettbewerbsposition am Markt gesichert oder sogar ausgebaut werden kann. Dieses Prinzip stellt weitreichende Anforderungen an die Selbststeuerung von Teams und Individuen und führt zu Folgen auf der nächsten Ebene. 55 Entgrenzung zwischen Unternehmen und Arbeitskraft: In der früheren Organisations- und Arbeitslogik wurde die Verbindung zwischen der Organisation und den einzelnen Mitarbeitenden als eine Art Teileinschluss („Partial Inclusion“, Katz & Kahn, 1966) beschrieben. Das Individuum war demnach für die Organisation, vermittelt über Kultur und Managementpraktiken, nicht in allen  

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Aspekten seiner Persönlichkeit wertvoll und interessant, sondern eben nur in den Teilen, die seine unmittelbare Einsetzbarkeit als Arbeitskraft betrafen. Die Persönlichkeit sollte nicht in allen Belangen und Facetten innerhalb der Organisation ausgespielt werden, sondern nur in den Verhaltensweisen ihren Ausdruck finden, die für die Arbeit unmittelbar relevant waren. Der Rest blieb sozusagen vor den Werkstoren zurück und interessierte die Organisation nicht, denn Arbeit war standardisiert und notwendige Kompetenzen zur deren Erfüllung in einer beständigen Umwelt waren klar definiert. Mit den Veränderungen, die als Vermarktlichung beschrieben sind, hat nun auch eine Subjektivierung der Arbeit stattgefunden. Mit ihr ist der Anteil der gesamten Persönlichkeit größer geworden, der in die Organisation eingebracht werden kann und sogar soll. Subjektivierung meint dabei sowohl die Aufladung der Arbeit mit persönlichem Bedeutungsgehalt – Quelle der Selbstverwirklichung – als auch die Integration einzigartiger persönlicher Qualitäten in die Arbeit oder das Utilisieren privater Beziehungen und Netzwerke für die Organisation, z. B. für die Besetzung offener Stellen. Auch die Selbststeuerung in der Leistungserbringung erfordert den Einsatz der ganzen Persönlichkeit. Sie ist eine logische Folge des Abbaus von Hierarchien und einer verstärkten indirekten Leistungssteuerung mittels breit verfügbarer Kennzahlen. 55 Entgrenzung zwischen Arbeitswelt und Privatwelt: Mit dem Einzug der Flexibilisierung von Arbeitsort und Arbeitszeit hat eine spürbare Entgrenzung zwischen den einst klaren Grenzen des Arbeitslebens gegenüber dem Privatleben stattgefunden. Wann Arbeit versus Privatleben stattfindet, ist nicht mehr klar durch äußere Umstände und Regeln begrenzt, sondern vielmehr individuelle Definitionsleistung geworden. Auch flexible, z.  B. kurzfristige oder in der Dauer befristete Beschäftigungsverhältnisse haben eine engere Verflechtung von Privat- und Arbeitsleben zur Folge, indem sich Ungewissheit und folglich die Beschäftigung mit Gedanken an den nächsten Job, der einen sichert, erhöhen.

Die Beiträge von Teil III lassen sich als Konsequenzen der skizzierten Ebenen der Entgrenzung verstehen: Wo Entgrenzung zwischen Privatwelt und Arbeitswelt stattfindet, hat zuvor Flexibilisierung in Raum und Zeit der Arbeitsverrichtung stattgefunden. In 7 Kap. 13 skizzieren Birgit Werkmann-Karcher, Michael Zirkler, Lukas Windlinger und Clara Weber die Entwicklungen in der Gestaltung von Arbeit in den Dimensionen Raum und Zeit, die neue Arten des Arbeitens, der Arbeitsplatzgestaltung, der Arbeit im virtuellen Raum und Aufgaben der raum-zeitlichen Grenzziehung hervorgebracht haben. Die Flexibilisierung der Arbeit führt unweigerlich zu einer Betonung der Selbststeuerung. Wie eine auf nachhaltige Leistungsfähigkeit ausgerichtete Selbstführung gestaltet werden kann, beschreiben Imke Knafla und Carmen Keller in 7 Kap. 14. Veränderte Arbeits- und Organisationsformen haben die Rolle der Führung verändert. Neue Modelle und Rollen von Führung sind als Element der neuen Arbeitswelt entstanden und werden in 7 Kap. 15 von Andres Pfister erklärt. Dass Organisationen in einem globalen Wettbewerb stehen und daher hohe Anpassungsfähigkeit und hohe Geschwindigkeit überlebensnotwendig sind, wird immer wieder mit dem Ruf nach Agilität verbunden. In 7 Kap.  16 beschreiben Michael Zirkler und Birgit Werkmann-­Karcher das Konzept der Agilität und Ansatzpunkte zur Förderung einer agilen Organisation durch das HRM. Um am Markt erfolgreich zu bleiben, erscheint eine kontinuierliche Selbsterneuerungsfähigkeit das Mittel zu sein, Innovationskraft in Organisationen zu fördern. Die Entwicklung von Innovation in Organisationen als organisationale Selbsterneuerung wird in 7 Kap.  17 von Peter Kels und Bojana Aleksic dargelegt. Das finale 7 Kap. 18 ist der Frage vorbehalten, welche Perspektiven sich aus der Verwendung von Daten für People Analytics ergeben. Silvan Winkler, Rafael Huber und Dirk Wulff beschreiben, wie Organisationen konkret vorgehen können, um in ihrem Kontext People Analytics aufzubauen.  











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HR-Rollenmodelle Tatjana Zbinden Inhaltsverzeichnis 2.1

HR-Rollen- und Kompetenzmodelle – 20

2.1.1 2.1.2

 R-Rollen nach Dave Ulrich und deren H Weiterentwicklung – 20 Weiterentwicklung und Trends – 22

2.2

HR-Geschäftsmodelle und -Organisationsformen – 24

2.2.1 2.2.2 2.2.3

 R-Geschäftsmodelle – 25 H HR-Organisationformen – 26 Weiterentwicklung und Trends – 27

2.3

HR-Organisationen in der Praxis – 28

2.3.1 2.3.2 2.3.3

 R-Neuorganisation der schweizerischen Post – 28 H Pro Juventute als kollegial geführtes Unternehmen – 29 T X Group AG: Erfolgreiches Business Partnering & HRNearshoring – 30 Siegfried Holding AG: HR in Phasen der Expansion – 31 Ausblick – 32

2.3.4 2.3.5

Literatur – 33

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_2

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T. Zbinden

Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis gibt es kein allgemeingültiges Verständnis darüber, wie das Personalmanagement optimal betrieben wird. Man findet unterschiedliche HR-Rollen und HR-Geschäftsmodelle. Einig ist man sich darin, dass sich die Aufgaben wie auch die Funktionen im Verlauf der letzten Jahre verändert und laufend weiterentwickelt haben (Lebrenz, 2017). Die Personalabteilung hat sich von einer untergeordneten, administrativen Funktion zu einer Kerngeschäftsfunktion und einem strategischen Geschäftspartner entwickelt (Ulrich & Dulebohn, 2015). Die Reise der Transformation ist damit noch lange nicht abgeschlossen. HR steht vor der Herausforderung, sich laufend externen Faktoren wie beispielsweise der Digitalisierung anzupassen. In diesem Kapitel werden HR-Rollen und HR-Geschäftsmodelle vorgestellt und insbesondere aktuelle wie auch zukünftige Trends diskutiert. Dafür wurden HR-­Führungspersonen aus diversen Schweizer Unternehmen interviewt. Dies ermöglicht einen punktuellen Einblick in aktuelle HR-Organisationsformen und zeigt uns, wie die Unternehmen ihr Human Resource Management strategisch weiterentwickeln wollen.

2.1 

HR-Rollen- und Kompetenzmodelle

Die 1997 von Dave Ulrich definierten Hauptrollen von HR-Fachleuten prägen sowohl die Personalrollen wie auch die Personalorganisation noch heute (Lebrenz, 2017). Im nachfolgenden Kapitel werden das HR-Rollenmodell nach Dave Ulrich und dessen Weiterentwicklung näher betrachtet sowie drei weitere, neue HR-Rollen vorgestellt. 2.1.1 

HR-Rollen nach Dave Ulrich und deren Weiterentwicklung

Dave Ulrich definierte 1997 vier Rollen für das Personalmanagement. Die Rollen setzen sich aus dem strategischen Partner, dem Change Agent, dem administrativen Experten sowie dem Employee Champion zusammen (. Tab. 2.1). Zwei dieser Rollen sind eher strategisch ausgerichtet: der strategische Partner sowie der Change-Agent. Die anderen beiden Rollen können dem operativen Tagesgeschäft zugeordnet werden (Ulrich, 1997).  

.       Tab. 2.1  Rollen innerhalb des HR-Business-Partner-Modells nach Ulrich, 1997 Rolle

Beitrag der Rolle

Strategischer Partner

Strategisches HR-Management und Partner des Business

Change-Agent

Management von Veränderungsprozessen und Gestaltung der Organisationskultur

Administrativer Experte

Management des HR-Informationssystems und Führung der administrativen Prozesse

Employee-Champion

Management der Mitarbeitenden-Beziehung

21 HR-Rollenmodelle

Das HR-Business-Partner-Modell wurde laufend weiterentwickelt, und es wurden neun Kompetenzen für HR-Professionals identifiziert. Die folgenden drei der neun Kompetenzen stellen zentrale Treiber dar (Ulrich et al., 2017): 55 Credible Activist: kann vertrauensvolle Beziehungen aufbauen, indem eine ­proaktive Einstellung an den Tag gelegt und zuverlässig gearbeitet wird. 55 Strategic Positioner: ist in der Lage, das Geschäft marktführend auszurichten und weiterzuentwickeln. 55 Paradox Navigator: kann professionell mit Spannungen umgehen. Er agiert und plant kurzfristig wie auch langfristig und interagiert erfolgreich mit verschiedenen hierarchischen Konstellationen. Zudem werden drei wichtige Felder von HR-Kompetenzen beschrieben, welche die Organisationen voranbringen, indem sie helfen, HR so aufzustellen, dass es strategische Bedeutung gewinnt (. Abb. 2.1): 55 Kultur- und Veränderungsbegleiter:in (Culture and Change Champion): ist in der Lage, Veränderungen herbeizuführen und die Organisationskultur zu gestalten. 55 Humankapital-Manager:in (Human Capital Curator): besitzt die Fähigkeit, den Strom der Talente zu kanalisieren. 55 Belohnungsverwalter:in (Total Reward Steward): erhöht die Zufriedenheit der Mitarbeitenden durch finanzielle und nichtfinanzielle Leistungen.  

HR-Kompetenzen mit Einfluss auf die Organisationsgestaltung

Kultur- und Veränderungsbegleiter:in

Strategischer/ Positionierer:in

Humankapital Manager:in Belohnungsverwalter:in

Vermittler:in

Compliance Manager:in Analytischer/ Gestalter:in

Zuverlässiger/ Aktivist:in

Technologieund Medien Integrator:in

..      Abb. 2.1  Neue Kompetenzen. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Ulrich et al., 2017)

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Drei weitere Performance-Unterstützer, die sich auf das Gestalten der strategischen oder grundlegenden Elemente von HR fokussieren (Ulrich et al., 2017), sind: 55 Technologie-und-Medien-Integrator:in: nutzt Technologie und Social Media, um Hochleistungsorganisationen am Laufen zu halten. 55 Analytische/r Gestalter:in: wendet analytische Verfahren an, um Entscheidungsprozesse zu optimieren. 55 Compliance Manager:in: steuert die Prozesse rund um Compliance mithilfe von regulatorischen Leitlinien. 2.1.2 

Weiterentwicklung und Trends

Neben den vier HR-Rollen nach Ulrich (1997) lassen sich nur wenige andere bzw. neue Rollen finden, welche sich in den Unternehmen bereits etabliert haben. Nachfolgend werden drei Rollen beschrieben, die an Wichtigkeit gewinnen, hierzulande jedoch noch nicht als autonome Rolle in Unternehmen bestehen. Die Aufgabenschwerpunkte dieser neuen Rollen sind in mittleren bis größeren Unternehmen innerhalb der HR-Organisation bereits abgedeckt.

Flexibilitätsmanager Hintergrundinformation Flexible Beschäftigungsformen „Unternehmen brauchen Flexibilität, um im Zuge der Globalisierung den wachsenden Wettbewerbsdruck bewältigen zu können. Flexible Beschäftigung ermöglicht die rasche Anpassung an veränderte Marktdynamiken und erhöht damit die Agilität sowie die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Somit können flexible Beschäftigungsformen auch maßgeblich zur Bewältigung des Strukturwandels beitragen. Auf der anderen Seite entsprechen flexible Beschäftigungsmöglichkeiten den wachsenden Bedürfnissen von Beschäftigten in unterschiedlichen Lebensphasen, um Arbeit und andere Lebensbereiche besser vereinbaren zu können“ (Oertig & Zölch, 2016).

Um der gewünschten Flexibilität Rechnung zu tragen, schlagen Zölch und Oertig (Zölch et al., 2020) das Rahmenmodell der „Flexible Workforce“ vor, siehe 7 Kap. 4. HR ist nun gefordert, die unterschiedlichen Beschäftigungsgruppen gemäß diesem neuen Rahmenmodell zu managen. In der Rolle des Flexibilitätsmanagers wird sich das Personalmanagement somit in Richtung eines strategischen wie auch ­operativen Einkäufers entwickeln. Dabei umfasst die strategische Ebene die Analyse und Entscheidung zum „Make or Buy“ (Zölch et al., 2020). Das flexible Sourcing von Personalressourcen stellt einen wesentlichen Pfeiler zur Gestaltung einer agilen Organisation dar. HRM und Führung sind dabei gleichermaßen gefordert, kulturelle und strukturelle Rahmenbedingungen sowie entsprechende Prozesse zu schaffen und diese im Alltag auch umzusetzen (Oertig & Zölch, 2016).  

Feel-Good-Manager:in Hintergrundinformation Bindung von Mitarbeitenden Talente der Generationen Y und Z müssen gewonnen, langjährige Mitarbeitende aber gleichzeitig gehalten werden. Das Thema Mitarbeiterbindung hat sich zu einer der zentralen Herausforderungen im demografischen Wandel entwickelt, siehe 7 Kap. 5. Mit den herkömmlichen Argumenten wie z.  B.  Gehalt und Urlaubstage lässt sich heute keine Überzeugungsarbeit mehr leisten (CareerBuilder Germany, 2020).  

23 HR-Rollenmodelle

Um dem Thema Mitarbeiterbindung entsprechend Rechnung zu tragen, hat die Rolle als Feel-Good-Manager:in an Bedeutung gewonnen. Das Aufgabenprofil ist vielseitig. Der Feel-Good-Manager:in ist dafür zuständig, die Unternehmenskultur zu verändern, und muss deshalb selbst sehr flexibel und veränderungsfähig sein können und wollen, dies mit dem Ziel, die körperliche, geistige und seelische Fitness der Mitarbeitenden beizubehalten. Fachlich bilden sowohl betriebswirtschaftliches als auch psychologisches Wissen die Grundlage (Lange, 2019). Es lassen sich weiter folgende Aufgaben benennen (CareerBuilder Germany, 2020): 55 Strukturen für ein Arbeitsumfeld entwickeln und aufbauen, in denen sich die Mitarbeitenden wohlfühlen. 55 Als persönlicher Ansprechpartner die Rolle des Vertrauensmanagers für Mitarbeitende übernehmen und direkten Kontakt pflegen. 55 Kommunikation: offene und transparente Kommunikationskanäle entwickeln, Treffpunkte und Austauschmöglichkeiten schaffen. 55 Organisation von Gemeinschaftserlebnissen und Team-Events. Auf der Basis von Leitbildern, Werten und Unternehmenskultur das Wohlbefinden der Mitarbeitenden steigern. 55 Im Rahmen einer Feedback-Kultur regelmäßig die Bedürfnisse der Mitarbeitenden analysieren. 55 Lernangebote etablieren. In den Gesprächen mit HR-Leadern aus der Praxis (siehe 7 Abschn. 2.3) hat sich gezeigt, dass der/die Feel-Good-Manager:in noch selten als gesonderte Rolle im HR zu finden ist, die genannten Aufgaben jedoch als wichtig erachtet werden. Oftmals werden diese im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements oder innerhalb der Personalentwicklung abgedeckt.  

Employee-Experience-Manager:in Neben dem demografischen Wandel beeinflussen auch die technologische Entwicklung und die zunehmende Mobilität die Rolle von HR. Die Covid-19-Pandemie hat die Mobilitätserwartungen der Mitarbeitenden bezüglich flexiblem Arbeitsort nochmals verstärkt. Das Konzept einer hohen Mitarbeitendenbindung durch die Schaffung einer guten kulturellen Umgebung (Feel-Good-Manager:in) braucht daher eine Erweiterung um die technologische und physische Arbeitsumgebung. Hintergrundinformation Employee Experience Der Begriff "Employee Experience" ist dem Begriff "Customer Experience" folgend entstanden. Dabei erkannte man, dass, um ein erstklassiges und nachhaltiges Kundenerlebnis zu schaffen, zuerst ein erstklassiges und nachhaltiges Mitarbeitererlebnis geschaffen werden muss. Beide Aspekte sind kongruent und beeinflussen und beflügeln sich gegenseitig. Der Begriff "Employee Experience" bezeichnet die Summe aller Wahrnehmungen, die Mitarbeitende bezüglich ihrer Interaktionen mit der Organisation, in der sie arbeiten, haben. Dabei ist die Wahrnehmung wiederum beeinflusst von den eigenen Erwartungshaltungen an eine Organisation (Maylett & Wride, 2017).

Um eine herausragende Employee Experience in allen HRM-Prozessen zu gestalten, braucht es eine gezielte Beeinflussung dreier Arbeitsumgebungen, die in . Abb. 2.2 dargestellt sind. Physische, technologische und kulturelle Arbeitsumgebung sollen wie folgt gestaltet werden (Morgan, 2017):  

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..      Abb. 2.2  Employee Experience Einflussfaktoren. Eigene Darstellung in Anlehnung an Morgan, 2017

55 Physische Arbeitsumgebung: Diese soll nach dem COOL-Prinzip gestaltet werden: –– C: "Chooses to bring in friends & visitors" – eine Organisation sollte willens sein, ihre Tür für andere zu öffnen. –– O: "Offers flexibility" – Den Mitarbeitenden soll so viel Flexibilität wie möglich geboten werden bezüglich Arbeitsort, Arbeitszeit und Arbeitsweise. –– O: "Organisation’s values are reflected" – Die Werte einer Organisation sollten in der physischen Arbeitsumgebung sichtbar sein oder sichtbar gemacht werden. –– L: "Leverages multiple workspace options"  – Raumpläne sollten den verschiedenen Arbeitsbedürfnissen Rechnung tragen (z. B. für ungestörte Arbeit, Arbeit im Team, Begegnungszonen, etc.). 55 Technologische Arbeitsumgebung: Diese muss für alle verfügbar sein, um eine kollaborative Zusammenarbeit zu ermöglichen. Die verwendeten Technologien sollten aktuell und benutzerfreundlich sein und den Mitarbeitenden ermöglichen, ihre beste Leistung abzurufen. 55 Kulturelle Arbeitsumgebung: Diese soll so gestaltet werden, dass die Organisation als positiv und sinnstiftend wahrgenommen wird. Dabei sollten die Mitarbeitenden sich stets fair, inklusiv und wertgeschätzt fühlen. Auch der Weiterentwicklung, den Lernangeboten und der nachhaltigen Gesundheit muss in diesem Aspekt Rechnung getragen werden (analog Feel-Good-Manager). Die Rolle von HR als Employee-Experience-Manager:in ist es nun, alle drei Arbeitsumgebungen aktiv zu gestalten. Dies ist möglich, indem die oben genannten Dimensionen auf „Moments that matter“ analysiert und anschließend gezielt verändert werden. Es überrascht nicht, dass diese neue Rolle bisher von Unternehmen wie z.  B.  Microsoft, Adobe, LinkedIn und Amazon verwendet wird, welche führend bezüglich Branding und Technologie sind (Whitter, 2019), und dass sie hierzulande noch nicht verbreitet ist.

2.2 

HR-Geschäftsmodelle und -Organisationsformen

Nach dem Einblick in die verschiedenen Rollen wird nun die Frage beantwortet, welche HR-Organisationsformen sich am besten eignen.

25 HR-Rollenmodelle

2.2.1 

HR-Geschäftsmodelle

HR-Business-Partner-Modell nach Dave Ulrich Neben den Rollenbeschreibungen hat Dave Ulrich mit seinem "HR Service Delivery Model"“ die Grundlagen geliefert, wie das HR organisiert werden könnte. Es besteht aus drei Säulen und ist in der Praxis unter der Bezeichnung HR-Business-Partner-­ Modell bekannt (Ulrich, 1997): 55 Im "HR Shared Service Center" wird das administrative Massengeschäft zu einem zentral geführten und nach Standards funktionierenden Service-Center zusammengefasst. 55 Der/die mit verschiedenen Rollen versehene HR-Business-Partner:in ist der dezidierte Ansprechpartner für Vorgesetzte und Mitarbeitende. 55 Im "Center of Expertise" finden sich die Expert:innen zusammen, die sich um Spezialthemen kümmern und Prozesse weiterentwickeln. Aktuelle Studien zeigen, dass die Praxis immer noch mit der Einführung, Verbesserung und Optimierung dieses HR-Business-Partner-Modells beschäftigt ist. Vor einigen Jahren wurden HR-Fachleute dazu befragt, ob sie glauben, dass das Ulrich-Modell im Jahr 2025 noch gültig sein werde. Die Meinungen waren sehr unterschiedlich. Etwa 35 % glaubten, dass das Ulrich-Modell nicht mehr in Gebrauch sein wird, während 34  % der Meinung waren, dass es auch in Zukunft das operative HR-Modell sein wird. Die verbleibenden 30 % waren sich nicht sicher (PWC, 2017). Selbst Dave Ulrich hält sein Modell mittlerweile für überholt. Die Grundannahme, dass es bei HR nicht um HR, sondern ums Business geht, ist heute noch aktuell. Das Geschäft steht im Vordergrund, daher sollten Personalverantwortliche sich nicht daran messen, wie viele Mitarbeitende sie einstellen oder ausbilden, sondern wie stark ihre Arbeit zum Geschäftserfolg beiträgt. Mit dem damals eingeführten Modell wollte Ulrich die Ergebnisse, die HR erreichen soll, in den Fokus stellen. Die Ziele der Personalarbeit haben sich seither weiterentwickelt. Heute entsprechen die Ergebnisse, die HR erzielen muss, den Fähigkeiten, die ein Unternehmen für den Erfolg braucht (Höhmann, 2020, 7 Kap. 4).  

"HR as a People Company" nach Walter Jochmann Walter Jochmann arbeitet derzeit an einem Modell, das darauf abzielt, HR als Business zu strukturieren: „HR as a People Company“. Aktuell sind viele Personalabteilungen eher wie eine Organisation von Experten und nicht wie eine Geschäftseinheit strukturiert; unternehmerische Grundsätze fehlen. Dabei ist es essenziell, die richtige Mischung aus Kosten, Qualität und Time-to-Market zu finden. Diese Art des Denkens fehle noch den meisten Personalabteilungen, wenn es um ihre Produktion geht. Deshalb schlägt Jochmann vor, die Personalabteilung nicht mehr als Geschäftspartnerin zu betrachten, sondern als Ermöglicherin des Geschäfts zu verstehen. Als Beispiel für die Umsetzung wird das "Stakeholder Board" genannt, das wie ein Aufsichtsrat für die Personalarbeit funktioniert. Einige Kund:innen und allenfalls der Betriebsratsvorsitzende sollten in diesem Gremium vertreten sein. Die wichtigsten Indikatoren für die Geschäftstätigkeiten sowie Strategien und Personalfragen sollen regelmäßig diskutiert werden. Dies mit dem Ziel, dass sich die Themen auf die Unternehmensplanung, -steuerung und -kontrolle konzentrieren und somit

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einen echten Mehrwert bietet. Anders als in Ulrichs ursprünglichem Modell soll der/ die HR-­Business-­Partner:in auch die Führungsebene unterstützen. In einer People Company wäre ein/e Business-Partner:in Key-Account-Manager:in, der/die Kund:innen umfassend berät und in Zusammenarbeit mit anderen HR-Rollen machbare ­Lösungen organisiert. Die sogenannten Shared Service Centers, die Verwaltungsaufgaben übernehmen, werden in diesem Modell „Exzellenzzentren“ g­ enannt. Sie gestalten digitale Produkte rund um die Verwaltung mit dem Ziel, kundenorientierte Prozesse und neue attraktive Produkte zu entwickeln. Diese Entwicklung soll in viel engerer Zusammenarbeit mit Kund:innen und dem/der Key-Account-Manager:in geschehen. Die Rolle des Change-­Agents muss innerhalb einer neuen HR-Geschäftsdefinition und eines neuen Geschäftsmodells fest verankert und auf ihren Mehrwert hin bewertet werden (Haller & Straub, 2021).

Verschiebung des Aufgabenfokus Die obigen Diskussionen zeigen, dass sich mit dem digitalen Wandel auch der Aufgabenfokus im HR über die Jahre veränderte. Viele administrative, repetitive Arbeiten können digital und dadurch effizienter abgewickelt werden. Diese Tätigkeiten verlieren an Bedeutung und können ausgelagert werden. Die strategische Rolle innerhalb des HR und das Steuern von Veränderung werden in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. 2.2.2 

HR-Organisationformen

Klassische Organisationsformen In der Entwicklung der HR-Organisation haben sich drei klassische Organisationsformen abgezeichnet: die funktionale und die divisionale Organisationsform sowie die Matrix-Organisation. In Unternehmen mit einer funktionalen HR-Organisation wird das HR nach Aufgaben gegliedert. Diese Organisationsform erhöht das Expertenwissen innerhalb der Unternehmen, da einzelne Mitarbeitende für ein spezifisches Teilgebiet wie z. B. Arbeitsrecht oder Personalentwicklung zuständig sind. Oftmals verlangen HR-­ Fragestellungen eine Vernetzung mehrerer HR-Funktionen, z. B. Personalmarketing und Rekrutierung, was die Zusammenarbeit der verschiedenen Expert:innen-Teams relevant macht. In einer divisionalen Unternehmensstruktur wird das HR organisatorisch ausgerichtet. Den Geschäftsbereichen werden HR-Bereichsleiter:innen zugeordnet. Diese tragen die Verantwortung für sämtliche HR-Prozesse. Im Sinne der Effizienzund Synergiegewinne bestehen oftmals zusätzlich funktionale HR-Strukturen für Funktionsbereiche wie Lohnbuchhaltung, Personalentwicklung und Ausbildung. Das HR-Matrix-Organisationsmodell ist ein weit verbreitetes Modell in der Praxis. Das Modell zeichnet sich durch das Zusammenspiel aller HR-Partner:innen ab, dies im Sinne einer optimalen Leistungserbringung für die HR-Kund:innen (Oertig & Kohler, 2010).

27 HR-Rollenmodelle

Agile Organisationsformen Die HR-Organisation muss primär zum Unternehmenskontext passen. Je größer die Komplexität des Geschäftes ist, desto stärker muss die HR-Organisation auf diese Komplexität ausgerichtet sein. Häusling (2020) differenziert folgende fünf Reifegrade einer agilen HR-Organisation: 55 Reifegrad 1 ist ein stabiler Kontext, eine divisionale Struktur, bei dem HR sich nach bestimmten Gruppen von Mitarbeitenden aufteilt und mit funktionalen Elementen ergänzt wird, funktioniert hier sehr gut. 55 In Reifegrad 2 ist das Unternehmen in Matrixstrukturen unterwegs. Um HR für Projekte, Produkte oder Regionen zu vereinheitlichen, ist das Business-Partner-­ Modell gefragt. 55 In Reifestufe 3 entstehen erste informelle Netzwerke, die agil arbeiten. 55 In Reifestufe 4 stellen die Organisationen fest, dass sie informelle Strukturen formalisieren müssen  – Hybrid-Organisationen entstehen, in denen verschiedene Organisationseinheiten unterschiedlich geprägt sind. Wenn die gesamte Organisation netzwerkartig strukturiert ist, geht HR in Reifestufe 5 im Netzwerk auf. Der Weg zur agilen Organisation ist ein evolutionärer Prozess. Oftmals werden alle Entwicklungsstufen durchlaufen, Abkürzungen gibt es meist nicht (Häusling, 2020). 2.2.3 

Weiterentwicklung und Trends

Mit der Weiterentwicklung der gesamten Unternehmensorganisation muss sich auch die HR-Organisation weiterentwickeln. Welche Entwicklung und Trends aktuell sind, wird im nachfolgenden Abschnitt dargestellt.

Nearshoring Die Tendenz, dass repetitive, administrative Tätigkeiten effizient und kostengünstig abgewickelt werden sollen, zeigt sich durch steigende Nearshoring-Aktivitäten in den Unternehmen. Definition Nearshoring ist die Verlagerung betrieblicher Aktivitäten ins nahegelegene Ausland. Für Deutschland, Österreich und die Schweiz gelten beispielsweise Polen oder ­Serbien als Nearshoring-­Destinationen (Bendel, 2021).

Dabei ist detailliert zu entscheiden, welche Aufgaben sinnvollerweise ausgelagert werden können, wie die Schnittstellen funktionieren und welcher Standort die eigenen Bedürfnisse am besten abdecken kann. Durch Effizienzgewinne mittels Nearshoring können Ressourcen geschaffen werden, um organisationale Fähigkeiten in der Unternehmung aufzubauen, welche eine Bedeutung für den geschäftlichen Erfolg haben.

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Holocracy

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Immer mehr Unternehmensorganisationen entwickeln sich evolutionär weiter. Dabei zeigt sich ein Trend Richtung Holokratie, der auch in HR-Organisationen aufgenommen wird. Definition In einer holokratisch geführten Organisation wird die Entscheidungskompetenz nicht wie in einer klassischen Organisation bei den Führungskräften gebündelt. Generell gibt es keine fixen Positionen, Abteilungen, Titel oder Ränge. Das Unternehmen wird in Kreisen organisiert, die aus Rollen bestehen. Diese Rollen sind an den Aufgaben des Unternehmens ausgerichtet und haben feste Verantwortlichkeiten. Die Kreise organisieren sich selbst. Sprich, sie entwickeln neue Rollen, verändern bestehende Rollen oder schaffen Rollen ab, die nicht mehr relevant sind. Mitarbeitende können verschiedene Rollen übernehmen. Die holokratische Organisation zeigt einen sehr dynamischen Charakter und befindet sich in einer laufenden Organisationsentwicklung (Haufe Online Redaktion & Schermuly, 2020).

In holokratischen Organisationsumfeldern wäre HR eine Rolle in diesen selbstorganisierten Kreisen und somit viel näher und direkter in die geschäftlichen Abläufe eingebettet.

2.3 

HR-Organisationen in der Praxis

In den folgenden Praxisbeispielen werden aktuelle HR-Organisationen und -Rollen dargestellt. HR-Leiter:innen von Schweizer Unternehmen gaben Einblick in ihre aktuelle Situation und teilten auch ihre Zukunftsvisionen und Weiterentwicklungspläne innerhalb HR. Einige Kernaussagen werden im nachfolgenden Abschnitt vorgestellt. 2.3.1 

HR-Neuorganisation der schweizerischen Post

Das HR der schweizerischen Post hat sich neu organisiert und eine Matrixorganisation umgesetzt, die sich klassisch nach Kompetenzgebieten mit funktionaler Trennung organisiert (. Abb. 2.3). Die neue Organisation bildet sich unter anderem aus den drei Fachstellen Entwicklung, Sourcing und Recruiting & Talents. Die divisionalen HR-­ Berater:innen wurden im Bereich HR-Services integriert und haben ihren Arbeitsplatz vor Ort beim Business. Somit kann sichergestellt werden, dass die geschäftlichen Anliegen und Herausforderungen klar sind und HR die Rolle als strategischer Berater wahrnehmen kann. Diese HR-Berater:innen sind im obersten Führungsteam in den zuständigen Bereichen vertreten und nehmen eine wichtige Rolle ein. Dieses HR-Berater:innen-Team wurde neu mit dem Backoffice zusammengelegt, um Synergien zu nutzen und eine First- und Second-Line-Ansprechstelle anbieten zu können.  

29 HR-Rollenmodelle

..      Abb. 2.3  Neue HR-Organisation der schweizerischen Post

Mit dieser neuen Organisation ist das HR der schweizerischen Post mit rund 440 Stellenprozent für rund 42.000 Mitarbeitende in der Schweiz zuständig. 2.3.2 

Pro Juventute als kollegial geführtes Unternehmen

„Pro Juventute unterstützt Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern seit über 100 Jahren auf dem Weg zu selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Persönlichkeiten“ https://www.projuventute.ch/de/stiftung. Die Stiftung ist in fünf Regionalstellen aufgeteilt, wobei HR als Stabstelle der Direktion geführt wird. Pro Juventute steht vor einem Transformationsprozess und befindet sich auf dem Weg in Richtung eines kollegial geführten Unternehmens. In dieser Veränderung übernimmt HR die Rolle als Change-Manager:in und Befähiger:in. Einerseits führt und begleitet HR die kulturelle und organisatorische Veränderung und führt andererseits die nötigen Systeme und Prozesse ein, welche die Transformation unterstützen und ermöglichen. Hintergrundinformation: Das kollegial geführte Unternehmen Gesellschaft und Wirtschaft befinden sich in einer großen Transformation. An die Stelle des Hierarchiedenkens treten Netzstrukturen und die Prinzipien kollegial-selbstorganisierter Führung in den Vordergrund. Das kollegial geführte Unternehmen ist das Resultat der Zusammenführung unterschiedlicher Modelle, der sozio- und holokratischen Kreisorganisation, der Netzwerkorganisation, der Systemtheorie und der reflektierten Praxis agiler Unternehmen. Um die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu erhalten, müssen Mitarbeitende verschiedener Fachgebiete ihr Wissen agil zusammenbringen und damit ein gemeinsames Ergebnis erarbeiten können. Dies ermöglicht die kollegiale Kreisorganisation, die beschreibt, welche Kreise sich in einer Organisation wiederfinden und in welcher Beziehung sie zueinander stehen, aber auch, wie die Kreise in sich organisiert sind, welcher Zweck hinter den einzelnen Kreisen steckt und

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welche Mitglieder mit welchen Rollen sie beinhalten. Die Mitarbeitenden sollten Spezialist:innen in einem Fachgebiet sein. Zudem braucht es Generalist:innen, um andere Disziplinen zu verstehen (Oestereich & Schröder, 2017).

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In der neuen Organisation wird HR eine Dienstleitungsrolle bzw. einem Dienstleistungskreis zugeteilt. HR fungiert zwar heute schon als Dienstleistungsstelle. Ziel der neuen Organisation ist jedoch, dass die Geschäftsvertreter direkt Ansprüche an die Dienstleistungskreise stellen. Dort kann entschieden werden, ob die Leistung intern oder extern abgewickelt wird. So soll die HR-Dienstleistung besser auf die internen Kundenbedürfnisse und die Geschäftsanforderungen abgestimmt werden. Um möglichst viele Dienstleistungen intern anbieten zu können, ist die Spezialisierung im Bereich Recruiting oder Employer Branding für Pro Juventute von hoher Bedeutung. Alleine mit der Rolle des HR-Generalisten fehle das nötige Know-how, um in diesen Themen die gestellten Anforderungen abdecken zu können. In Zukunft sollen die Ressourcen von HR so eingesetzt werden, dass sie dem Unternehmen einen Mehrwert bieten. Die Ressourcenzuteilung in administrative Tätigkeiten soll möglichst effizient gemacht werden. Es wird vermehrt strategisches und visionäres Denken innerhalb HR benötigt, um als strategischer Partner:in der Linie ernst genommen zu werden. Zusätzlich sind betriebswirtschaftliche Kenntnisse gekoppelt mit psychologischem Wissen gefragt, um den Markt zu verstehen und entsprechende HR-Aktivitäten abzuleiten. Um die Unternehmensleitung strategisch beraten zu können, müssen Zahlen vernetzt und stufengerecht ausgewertet und kommuniziert werden können. Eine Auseinandersetzung mit den Themen Analytics und Artificial Intelligence wäre wünschenswert, damit HR sich bestehende Daten zu nutzen machen und einen Mehrwert für das Unternehmen generieren kann. 2.3.3 

 X Group AG: Erfolgreiches Business Partnering & HRT Nearshoring

Die TX Group bildet ein Netzwerk von Medien und Plattformen, das täglich über 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung erreicht. Weit bekannte Marken der TX Group sind Tamedia und 20 Minuten. Bei der TX Group werden immer mehr Aufgaben der HR-Administration in einem Nearshoring-Modell angeboten. Dies hat den Vorteil, dass die Organisation schlanker und effizienter wird und die administrativen Kosten reduziert werden. Das Erfolgsgeheimnis des Nearshoring-Modells ist, dass die Kunden nach wie vor eine Ansprechperson vor Ort haben. Welche Tätigkeit wo erledigt wird, muss dem Kunden nicht erklärt werden. Die HR-Mitarbeitenden übernehmen gegenüber den Kunden nach wie vor die Verantwortung und regeln die Schnittstellen. Die eingesparten Ressourcen können für transformative und strategische Themen eingesetzt werden, welche einen Mehrwert stiften. Damit HR strategische Themen erfolgreich umsetzen kann, benötigen die Mitarbeitenden auch entsprechende Kompetenzen. Neben einem sehr guten People-Management braucht es Führungserfahrung und betriebswirtschaftliches Know-how. In Zukunft wird das Thema

31 HR-Rollenmodelle

„Data-driven HR“ in den Vordergrund rücken. Für den HR-Business-Partner bedingt dies, dass Zahlen und Modelle, welche aus den Daten generiert werden können, entsprechend in der Geschäftsleitung präsentiert und analysiert werden müssen. Nur dadurch kann die Geschäftsleitung in strategischer Hinsicht umfassend beraten werden. Um diesen zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden, hat die TX Group bereits in den Aufbau von HR Analytics und in die strategische Personalplanung investiert. Change-Management wird weiterhin wichtig bleiben, da die Veränderungsgeschwindigkeit in der Unternehmung zunimmt. HR als Change-Agent wird weiterhin eine wichtige Rolle bleiben. Dabei sei essenziell, dass innerhalb HR nicht nur nach Lehrbuch gearbeitet wird. Die Change-Agents müssen in der Lage sein, die Theorien auf das entsprechende Business anzuwenden und konkrete Umsetzungsvorschläge zu präsentieren. Auch hier ist das Verständnis des Geschäftsmodells und des Marktumfelds eine unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Rollengestaltung. 2.3.4 

Siegfried Holding AG: HR in Phasen der Expansion

Als international renommierter Outsourcing-Partner für die pharmazeutische Industrie hat Siegfried ihre technologische und geografische Präsenz rund um den Globus in den letzten Jahren stark ausgedehnt. Mit der Expansion des Unternehmens auf rund 3500 Mitarbeitende an 11 verschiedene Standorte hat sich auch HR mitentwickelt. Dabei ist die HR-Struktur der Geschäftsstruktur gefolgt, welche sich in zwei maßgebliche Geschäftsfelder aufteilen lässt: Produkte und Substanzen. Um Prozesse effizienter gestalten und vor allem auch Synergien zwischen den geografischen Standorten nutzen zu können, müssen HR-Prozesse sowie gewisse transaktionale HR-­ Aufgaben in Zukunft zentralisiert bzw. harmonisiert werden. Auch die bisherigen Kompetenzcenter müssen noch weiter ausgebaut werden, um der steigenden Komplexität innerhalb der Organisation Rechnung zu tragen. Hier stellt sich die Herausforderung, dass einerseits Spezialist:innen in den Kompetenzcentern benötigt werden, anderseits wird immer mehr verlangt, dass Mitarbeitende möglichst überall einsetzbar sind und gesamtheitliche Lösungen entwickeln können. Insbesondere in Projektarbeiten ist ein Mix von diesen beiden Kompetenzen wichtig. Im Zuge der Internationalisierung hat sich die Rolle des HR-Business-Partners bereits näher zum Business hinbewegt. So arbeiten bei Siegfried die HR-­Business-­ Partner:innen vor Ort in den verschiedenen Ländern und berichten direkt in die lokale Geschäftsorganisation. Fachlich werden die HR-Mitarbeitenden vom globalen HR-­Management geführt. Lokale HR-Mitarbeitende sollten direkt an die Länderorganisationen vor Ort berichten, um so nah wie möglich am Geschäft zu sein und die lokalen Marktgegebenheiten zu verstehen. Ein weiteres relevantes Thema, welches in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird, ist HR Analytics. Gute Systeme und eine stabile Datenqualität sind die Grundlage, damit verlässlich und vorausschauend gearbeitet werden kann.

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2.3.5 

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Ausblick

Aus den Praxisbeispielen lassen sich folgende Kernaussagen und Trends ableiten: z HR muss strategischer werden.

Die Einführung des HR-Rollenmodells nach Dave Ulrich war für einige Unternehmen eine große Herausforderung, da die strategische Rolle des HR-Business-­ Partners mit früheren HR-Generalist:innen besetzt wurde. Auf diese Weise waren die notwendigen Kompetenzen für die Ausübung der strategischen Rolle nicht vorhanden. Insbesondere analytische und konzeptionelle Fähigkeiten haben in der Vergangenheit oftmals gefehlt. Betriebswirtschaftliche Fähigkeiten ergänzt mit psychologischem Know-how sind die Basis für eine erfolgreiche strategische Positionierung von HR. z HR wird organisatorisch ins Business verlagert.

Um nachhaltig einen strategischen Mehrwert zu generieren, muss HR die relevanten Trends, Markt- und Geschäftsmechanismen umfassend verstehen. Dies kann nur gelingen, wenn die Nähe zu den Geschäftseinheiten sichergestellt wird. In unterschiedlicher Form wird dies in allen Praxisbeispielen bereits erfolgreich umgesetzt oder angestrebt. Im internationalen Kontext ist es üblich, dass HR-Business-Partner:innen direkt in die lokale Organisation berichten. Bei der schweizerischen Post wird die Nähe durch die physische Nähe (Arbeitsplatz) und die Verankerung in die Management-­Teams der entsprechenden Geschäftseinheiten sichergestellt, und bei Pro Juventute bewegt sich die HR-Rolle in die entsprechenden Dienstleistungskreise. Dieser Trend wird sich auch in Zukunft weiter fortsetzen. z Die Rolle des Change-Agents ist und bleibt zentral.

Ganz neue HR-Rollenmodelle lassen sich in der Praxis nicht finden. Der Change-­ Agent ist in allen Organisationen sehr wichtig und wird dies in Zukunft auch bleiben. Das Gestalten und Führen von Transformationsprozessen bleibt eine Kernaufgabe von HR. Die Aufgaben der neuen HR-Rollen (Feel-Good-Manager:in und Employee-­ Experience-­Manager:in) erachten die Praxisvertreter als sehr wichtig, sie haben jedoch keine dedizierte Rolle dazu eingeführt. Das aktive Gestalten und Transformieren der Unternehmenskultur als zentrale Aufgabe dieser Rollen wird häufig von der Personalentwicklung ausgeführt. Dabei sieht man das Gestalten der technologischen Arbeitsumgebung in der Verantwortung der IT, auch wenn die Digitalisierung als Trend erkannt wird, der zunehmend die HR-Arbeit beeinflusst. z Zentrale Entwicklungsthemen: Digitalisierung und HR Analytics

Die Digitalisierung hat auch innerhalb der HR-Organisation Einzug gehalten. Alle befragten Unternehmen nutzen digitalisierte Prozesse, um die HR-Arbeit effizienter zu gestalten. Es wird hier aber noch weiteres Potenzial gesehen. Man ist sich darin einig, dass die Datenkompetenz (Auswertung, Präsentation, Prognose, ableiten von Maßnahmen) innerhalb der HR-Rollen auf- und ausgebaut werden muss.

33 HR-Rollenmodelle

Zusammenfassung und Fazit Es zeichnet sich kein komplett neuer Modellgedanke im Bereich Human Resources ab. In der Literatur lassen sich zwar einige neue Denkansätze finden – in der Praxis orientieren sich die Unternehmen jedoch noch stark am HR-Rollenmodell nach Dave Ulrich. Die Rolle des Flexibilitätsmanagers, des Feel-Good-Managers oder des Employee-Experience-Managers wird zurzeit noch als Teilaufgabe bestehender HR-­ Funktionen gesehen. Obwohl Ulrichs Modell im Ansatz noch seine Gültigkeit hat und weit verbreitet ist, zeichnen sich neue Kompetenzen und Themen ab, welche in Zukunft an Wichtigkeit gewinnen. Themen wie Change-Management, HR-Analytics und Kulturgestaltung rücken zulasten der Administration in den Vordergrund. Transaktionale HR-­Tätigkeiten werden ins Nearshoring verlagert, um Kosten zu sparen und die Organisation schlanker und damit effizienter zu machen. Dadurch wird der Druck auf HR weiter steigen, einen Mehrwert für das Unternehmen zu generieren. Damit sich HR etablieren kann und strategisch an Relevanz gewinnt, müssen Zukunftstrends und deren Auswirkungen auf das Geschäftsmodell und den Erfolg frühzeitig erkannt und entsprechend adressiert werden. Um diese Aufgabe erfolgreich umsetzen zu können, sind einerseits die Nähe zum Business – sprich zur Linie – relevant und anderseits die Kompetenzen, welche die HR-­ Mitarbeitenden mitbringen. Deshalb ist gut vorstellbar, dass HR-Business-Partner:innen in Zukunft ganz in der Linienorganisation aufgehen.

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Maylett, T., & Wride, M. (2017). The employee experience. How to attract talent, retain top performers, and drive results. Wiley. Morgan, J. (2017). The employee experience advantage. Wiley. Oertig, M., & Kohler, C. (2010). Gestaltung von HR-Strukturen und -Prozessen. In B.  Werkmann-­ Karcher & J.  Rietiker (Hrsg.), Angewandte Psychologie für das Human Resource Management. Springer. https://doi.org/10.1007/978-­3-­642-­12481-­5 Oertig, M., & Zölch, M. (2016). Mehr Agilität durch flexible Beschäftigungsformen. HR-Today. https:// www.­hrtoday.­ch/de/article/mehr-­agilitaet-­durch-­flexible-­beschaeftigungsformen. Zugegriffen am 23.11.2021. Oestereich, B., & Schröder, C. (2017). Das kollegial geführte Unternehmen: Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. Vahlen. PWC. (2017). Future of work. PwC. https://www.­pwc.­ch/en/insights/hr/future-­of-­work.­html. Zugegriffen am 24.11.2021. Ulrich, D. (1997). Human Resource Champions. The next agenda for adding value and delivering results. Harvard Business Review Press. Ulrich, D., & Dulebohn, J. H. (2015). Are we there yet? What’s next for HR? Human Resource Management Review, 25(2), 188–204. https://doi.org/10.1016/j.hrmr.2015.01.004 Ulrich, D., Brockbank, W., Kryscynski, D., & Ulrich, M. (2017). Victory through organization. Why the war for talent is failing your company and what you can do about it. McGraw-Hill Education. Whitter, B. (2019). Employee experience. Kogan Page. Zölch, M., Oertig, M., & Calabrò, V. (Hrsg.). (2020). Flexible Workforce – Fit für die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt? Strategien, Modelle, Best Practice (2. Aufl.). Haupt.

35

HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft Tatjana Zbinden Inhaltsverzeichnis 3.1

Unternehmens- und HR-Strategie – 37

3.1.1 3.1.2 3.1.3

 efinition „Strategie“ – 37 D Abgrenzung HR-Strategie – 38 Instrumente und Vorgehen bei der Strategieentwicklung – 38 Instrumente und Vorgehen bei der HRStrategieentwicklung – 41 Organisatorische Fähigkeiten als Zielgröße der HR-Strategie – 42

3.1.4 3.1.5

3.2

Strategisches Workforce-Planning – 43

3.2.1 3.2.2 3.2.3

 efinition „Workforce-Planning“ – 43 D Strategisches Workforce-Planning in sechs Schritten – 44 Herausforderungen im Workforce-Planning – 46

3.3

Workforce der Zukunft – 46

3.3.1 3.3.2

 ahmenmodell „Flexible Workforce“ – 47 R Ausblick – 48

3.4

Strategietrends: Sustainable & Green HR – 49

3.4.1

 efinition „Sustainable Human Resource D Management (HRM)„ – 49 Nachhaltigkeitsansätze – 50

3.4.2

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_3

3

3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6

T yp 1: Socially Responsible HRM – 50 Typ 2: Green HRM – 50 Typ 3: Triple Bottom Line HRM – 52 Typ 4: Common Good HRM – 52

Literatur – 53

37 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

Trotz steigender Ansprüche an den Wertschöpfungsbeitrag von HRM wird die Personalarbeit oft noch sehr operativ betrieben. Dieses Kapitel zeigt auf, was strategisches Management bedeutet und mit welchen Instrumenten und Vorgehensweisen eine HR-­ Strategie ausgearbeitet werden kann, welche in der Lage ist, die organisationalen Fähigkeiten einer Organisation zu steigern. Dabei wird mittels strategischer Workforce-Planung sichergestellt, dass eine ausreichende Zahl an Mitarbeitenden mit den erforderlichen Fähigkeiten zu einer bestimmten Zeit am richtigen Ort vorhanden ist. Am Ende des Kapitels erfolgt eine umfassende Einführung in die Strategietrends Sustainable & Green HRM.

3.1 

Unternehmens- und HR-Strategie

Wie in 7 Kap. 2 beschrieben, soll HR sich noch stärker als strategischer Partner etablieren. Die dazu notwendigen Instrumente und Vorgehensweise zur Entwicklung einer Unternehmens- und HR-Strategie werden im Folgenden erläutert und eine mögliche Strategiezielgröße aufgezeigt.  

3.1.1 

Definition „Strategie“

Hintergrundinformation: Begriffsentstehung "Strategie" Strategische Überlegungen reichen weit in die Geschichte zurück und haben ihre Wurzeln in der Militärhistorie. Der Begriff „Strategie“ leitet sich aus dem Griechischen „stratos“ = Heer und „agos“ = Führer ab. Zusammengesetzt bedeutet der Begriff „Heeresführung“. In der Militärwissenschaft galt die strategische Kriegsführung als hohe Schule. Übertragungen vom militärischen Gedankengut auf die Wirtschaft wurden erst viel später gemacht (Probst & Wiedermann, 2013).

Definition Eine Strategie ist eine langfristige Planung, welche das Ziel hat, einen Vorteil gegenüber den Wettbewerbern aufzubauen und zu halten, sowie die Beschreibung eines Weges zur Erreichung des langfristigen Zieles (Venzin et  al., 2010). Strategie ist somit die Kunst und die Wissenschaft, alle Kräfte eines Unternehmens so zu entwickeln und einzusetzen, dass ein möglichst profitables, langfristiges Überleben gesichert wird (Simon & von der Gathen, 2010).

Die Gesamtunternehmensstrategie setzt sich in der Regel aus mehreren Teilstrategien zusammen. Die häufigsten sind die Unternehmens- und die Funktionalstrategie. Die Unternehmensstrategie beschäftigt sich damit, mit welchem Output das ganze Unternehmen langfristig marktfähig ist, und sichert dadurch die Zukunft des Unternehmens. Funktionalstrategien hingegen sind Teilstrategien für einzelne Funktionen in einer Organisation, welche sich um bestimmte Themen und Aufgaben kümmern, wie beispielsweise die IT oder das HR (Dietl, 2018).

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3.1.2 

Abgrenzung HR-Strategie

Die Unternehmensstrategie beschäftigt sich unter anderem mit dem Zielmarkt, dem Produkt, dessen Vertriebsmodell und der Preisgestaltung. Die HR-Strategie h ­ ingegen legt den Fokus auf das Personal (Dietl, 2018).

3

Definition Die HR-Strategie ist der Gesamtplan eines Unternehmens zur Verwaltung seines Personalbestands, um diesen auf seine Geschäftsaktivitäten auszurichten. Dabei dient sie als langfristige Orientierungshilfe für alle Maßnahmen des Personalwesens und gibt eine Richtung für alle Bereiche des Personalwesens vor. Dazu gehören die Einstellung, Leistungsbeurteilung, Entwicklung und Vergütung der Arbeitnehmenden (Karg, 2021).

Die HR-Strategie darf jedoch nicht losgelöst von der Unternehmensstrategie sein, sondern soll Hand in Hand mit dieser gehen. Gemäss Scholz (2013) gibt es fünf mögliche Zusammenhänge zwischen der Personal- und Unternehmensstrategie: 1. Die Unternehmensstrategie folgt der Personalstrategie. 2. Die Personal- und Unternehmensstrategie treten unabhängig voneinander auf. 3. Die Personalstrategie folgt der Unternehmensstrategie. 4. Die Personalstrategie ist ein integrativer Teil der Unternehmensstrategie. 5. Es ist keine Personalstrategie vorhanden. Die dritte Variante, in welcher die Personalstrategie der Unternehmensstrategie folgt, findet in den meisten Unternehmen Anwendung. In Anbetracht des massiv verschärften Fachkräftemangels ist der Idealfall jedoch die vierte Variante, bei der die Personalstrategie ein Bestandteil der Unternehmensstrategie ist. Die Unternehmensstrategie besteht damit aus mehreren funktionalen Teilstrategien, also beispielsweise einer Produkt-/Marktstrategie und einer HR-Strategie (Scholz, 2013). 3.1.3 

Instrumente und Vorgehen bei der Strategieentwicklung

Es gibt viele verschiedene Instrumente und Vorgehensweisen bei der Strategieentwicklung. Zwei wegweisende und praktikable Ansätze werden hier vorgestellt und erläutert.

Strategieentwicklung nach Lombriser und Aplanalp Der Prozess des strategischen Managements durchläuft folgende vier Phasen, welche weiter in Teilschritte unterteilt werden können (Lombriser & Aplanalp, 2018, . Abb. 3.1).  

z Informationsanalyse

In einem ersten Schritt ist die Situation des Unternehmens als Ganzes und auch für jede strategische Geschäftseinheit zu analysieren. Dabei gilt es, Fragen zur bisherigen Entwicklung, der Strategie und der Geschäftstätigkeit zu beantworten und in einer übersichtlichen, kurzen Form zusammenzufassen.

39 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

..      Abb. 3.1  Prozess des strategischen Managements. (Lombriser & Aplanalp, 2018)

Strategische Ausgangslage

Umweltanalyse

Unternehmensanalyse

Strategische Analyse

Vision/Leitbild

Strategieentwicklung

Strategieumsetzung

Strategiekontrolle

Diese Zusammenfassung beinhaltet eine Unternehmens- und Umweltanalyse. Die Unternehmensanalyse zeigt die Stärken und Schwächen einer Unternehmung bzw. einzelner Abteilungen auf, während im Rahmen der Umweltanalyse eine Auseinandersetzung mit dem Umfeld, der Branche und der Konkurrenz stattfindet. In der Unternehmensanalyse sind die Inhalte auf die strategisch relevanten Stärken und Schwächen reduziert. Dies bedeutet, dass sich die Analyse auf die Fähigkeits-, Wertketten- und Kulturanalyse (Kernkompetenzen) fokussiert. Zudem ist es wichtig, dass die Wettbewerberstellung zusammengefasst wird, um zu vergleichen, welche Erfolgsfaktoren im Markt sowohl bei der eigenen Unternehmung als auch bei der Hauptkonkurrenz zum Erfolg führen (strategische Erfolgspositionen). Die vielen Erkenntnisse der vorgängigen Analysen werden in der strategischen Analyse zusammengetragen und zu Schlüsselaussagen für das Unternehmen formuliert. Die Umwelt- und Unternehmensanalyse kann zur Veranschaulichung beispielsweise in eine SWOT-Matrix eingetragen werden. Hintergrundinformation SWOT-Analyse SWOT steht für Strengths (Stärken), Weaknesses (Schwächen), Opportunities (Chancen) und Threats (Risiken) und ist ein einfaches Instrument der strategischen Planung. Sie besteht aus einer externen Analyse (Umweltanalyse). Dabei werden die Chancen und Gefahren, welche sich aus Veränderungen im Markt sowie in der technologischen, sozialen oder ökologischen Umwelt ergeben, analysiert. Der zweite Bestandteil ist die interne Analyse (= Unternehmensanalyse), dabei werden sowohl Stärken wie auch die Schwächen der Unternehmung systematisch erfasst (Paul & Wollny, 2020).

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Auf diese Weise können die identifizierten internen Stärken und Schwächen den externe Chancen und Risiken gegenübergestellt werden, und mögliche Strategieoptionen lassen sich einfacher ableiten. Darauffolgend kann mit der erweiterten SWOT-­Analyse ein systematischer Handlungsbedarf aufgezeigt werden. Dafür werden die vier Kombinationen der SWOT gebildet: 55 Stärken – Chancen (SO) 55 Stärken – Risiken (ST) 55 Schwächen – Chancen (WO) 55 Schwächen – Risiken (WT) SO-Strategien sollen helfen, interne Stärken zur Realisierung von externen Chancen zu nutzen. Bei ST-Strategien sollen vorhanden Stärken helfen, externe Risiken zu minimieren. Wird eine WO-Strategie verfolgt, werden externe Chancen genutzt, um interne Schwächen zu minimieren. Bei WT-Strategien sollen schließlich externe Risiken vermieden werden, indem interne Schwächen abgebaut werden (Lombriser & Aplanalp, 2018). z Strategieentwicklung

In der Strategieentwicklung wird von zwei Ebenen gesprochen: der Ebene der strategischen Geschäftseinheit (auch Profitcenter oder Division genannt) und der Ebene des Gesamtunternehmens. Auf der Ebene der strategischen Geschäftseinheit wird die angestrebte Position inkl. KPIs (Key Performance Indicators) festgelegt. Damit können wiederum Entscheidungen darüber getroffen werden, mit welcher Strategie nachhaltige Wettbewerbsvorteile erzielt werden können. Auf der Ebene des Gesamtunternehmens geht es um die Definition der Geschäftsbereiche, in welchen man zukünftig präsent sein möchte. Zudem soll aufgezeigt werden, wie und welche Synergien zwischen den einzelnen Geschäftseinheiten genutzt werden können. Dabei gilt zu beachten, dass die Strategien der einzelnen Geschäftseinheiten untereinander und in Bezug auf die Unternehmensvision abgestimmt sind. z Strategieumsetzung

In der wichtigen und anspruchsvollen Umsetzungsphase werden Strategien und Visionen in die Realität adaptiert. Dies kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten die Strategieumsetzung unterstützen. Oft kommt für die Umsetzung als Managementinstrument eine Balanced Scorecard zum Einsatz, mit welcher der Gesamtprozess gesteuert, überprüft und gegebenenfalls korrigiert wird. Verlangt die Umsetzung umfassende interne Veränderungen, ist ein gut begleiteter Change-Management-­Prozess erforderlich. z Strategiekontrolle

Auch wenn die Strategiekontrolle als letzter Punkt beschrieben wird, soll diese Funktion nicht erst nach der Strategieumsetzung eingesetzt werden. Es ist aufgrund der zunehmenden Umweltdynamik wichtig, dass die Kontrolle schon während der Strategieumsetzung erfolgt.

41 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

Strategieentwicklung nach Probst und Wiedemann Die Strategiemethodik nach Probst und Wiedermann (2013) schlägt fünf Phasen vor, wobei die letzten drei Phasen identisch sind mit dem oben beschriebenen Ansatz. Die Informationsanalyse wird jedoch in folgenden zwei Schritten detaillierter beschrieben (Probst & Wiedermann, 2013). z Strategische Ausgangslage identifizieren:

Bevor der Strategieprozess gestartet wird, sind Motive, Rahmenbedingungen und die Mittel festzulegen und zu klären. Anschließend wird die strategische Ist-Situation der Organisation analysiert; das aktuelle Geschäftsmodell und die heutigen strategischen Erfolgspositionen liefern die Grundlage dazu. Auf diese Weise können bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine Vision und eine Vorstellung über zukünftige strategische Erfolgspositionen entwickelt werden. z Komplexität der Strategiesituation verstehen:

Erst nachdem die Ausgangslage geklärt ist, beschäftigt sich das Strategie-Team mit der Analyse der Geschäftslogik. Dabei werden die wichtigsten Einflussfaktoren auf den Erfolg einer Organisation und deren Interdependenzen analysiert. Anschließend werden die zeitlichen Abhängigkeiten und die Einflussfaktoren offengelegt. So kann im letzten Schritt geprüft werden, welche Faktoren sich zum Nutzen der Strategie lenken lassen. 3.1.4 

I nstrumente und Vorgehen bei der HRStrategieentwicklung

HR-Strategie als integrativer Teil der Unternehmensstrategie Verfolgt man das optimale Zusammenspiel, bei dem die Personalstrategie ein integrativer Teil der Unternehmensstrategie ist (Scholz, 2013), wird kein separater HR-­ Strategieentwicklungsprozess notwendig. Alle personalrelevanten Aspekte müssen in den oben beschriebenen Strategieentwicklungsprozessen berücksichtigt werden. Damit dies gelingt, muss, wie im vorhergegangenen Kapitel beschrieben, die Rolle als HR-Business-Partner gut etabliert und strategisch relevant positioniert sein. In der Praxis trifft man oft nicht den Idealzustand an. Die Schritte des strategischen Managements können dann analog angewendet werden, um basierend auf der Unternehmensstrategie eine HR-Strategie abzuleiten.

Induktive und deduktive HR-Strategieentwicklung Ein weiteres praktikables Modell stellt das Zusammenspiel von sogenannter induktiver und deduktiver HR-Strategieentwicklung vor. In Anlehnung an die Theorie, welche die Personalstrategie als Umsetzung der Unternehmensstrategie sieht, ist mit „deduktiv“ die systematische Ableitung einer HR-Strategie aus der Unternehmensstrategie gemeint. Deduktiv bedeutet in diesem Zusammenhang aber auch, dass relevante Megatrends aus der Umwelt die HR-Strategie beeinflussen. Die HR-­ Strategie kann also direkt von diesen Megatrends beeinflusst werden oder indirekt über die Unternehmensstrategie.

3

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Unternehmensstrategie D e d u k t i o n

3 Globale Megatrends

Geschäftsorientierte HR-Strategie

I n d u k t i o n

Trends im Human Resources Management

Funktionale Best-Practice-HR-Strategie

Konsistente Best-Fit-HR-Strategie

..      Abb. 3.2  Best-Fit-HR-Strategie (Bruederlin, 2020)

Die HR-relevanten Megatrends sind beispielsweise: Wertewandel, Technologieentwicklung, Informationszugang, Globalisierung und Mobilität/Vernetzung. Eine rein deduktiv definierte HR-Strategie genügt jedoch nicht, ihr haftet eine Limitierung auf das Reaktive und Ausführende an. Deshalb soll der deduktive Ansatz mit einer funktional getriebenen induktiven Strategie ergänzt werden. Im HR-­ Kontext versteht man unter „induktiv“ das selektive Herbeiführen einer HR-­ Strategie auf der Basis beobachteter und bekannter HR-Trends und bewährter HR-­ Praktiken, sogenannter Best Practices, sowie deren Integrierung in die Unternehmensstrategie und Durchsetzung innerhalb der Leitung. Aus diesen Best-­Practice-­Optionen werden die passenden ausgewählt (Best Fit), in die Unternehmensstrategie oder direkt in die HR-Strategie integriert und innerhalb der Leitungsorgane durchgesetzt (Bruederlin, 2020, . Abb. 3.2). Beispiele für HR-relevante Trends sind: eine neue Denkweise der HR-Funktion als Employee-Experience-Manager, die Neudefinition der Rekrutierung mittels Branding-Strategien, die Revolutionierung des Talent-Managements in einem global offenen Markt und die Nutzung neuster Technologien.  

3.1.5 

 rganisatorische Fähigkeiten als Zielgröße der HRO Strategie

HR-Strategien und HR-Aktivitäten fokussieren oft auf die Bereitstellung, Messung und Entwicklung der notwendigen Kompetenzen des Individuums. Die Leistungsfähigkeit einer Organisation ist jedoch viel mehr als nur die Summe der Leistungsfähigkeit aller Mitarbeitenden.

43 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

Organisatorische Fähigkeiten (besser bekannt unter dem englischen Begriff: "Organisational Capabilities") sind die einzigartige Kombination von Fertigkeiten, Verfahren, Technologien und menschlichen Fähigkeiten, die ein Unternehmen auszeichnen. Sie werden intern geschaffen und bereitgestellt und sind daher für andere schwer zu kopieren. Folgendes sind Beispiele von Fähigkeiten, welche in der Zukunft als zentral erachtet und aufgebaut werden sollten: Lernen, Change, Innovation, Agilität, Zusammenarbeit, Entscheidungsfähigkeit (Abrhiem, 2017). Eine Hinwendung zum Aufbau und Erhalt von organisatorischen Fähigkeiten ist somit eine hervorragende Zielgröße einer HR-Strategie. Wie z. B. Agilität von Organisationen entwickelt werden kann, wird in 7 Kap. 16 detailliert beschrieben.  

Praxis- und Anwendungstipps

Die HR-Strategie und die daraus abgeleiteten HR-Aktivitäten sollten darauf ausgerichtet werden, wichtige organisationale Fähigkeiten aufzubauen und zu erhalten. Insbesondere Talent-Management-Programme sind sehr gut geeignet, um mittelund langfristig relevante organisatorische Fähigkeiten auf- und auszubauen. Bereits heute sind in der Praxis einige Beispiele zu finden, deren Talent-Management darauf ausgerichtet ist, Agilität und Innovationfähigkeit aufzubauen.

3.2 

Strategisches Workforce-Planning

Ein geeignetes Mittel, um die strategische Ausrichtung und Arbeitsweise von HR zu stärken, bildet das Workforce-Planning. Im Folgenden wird der Begriff definiert, und es werden sechs konkrete Schritte zur Einführung eines erfolgreichen strategischen Personalplanungsprozesses vorgestellt. 3.2.1 

Definition „Workforce-Planning“

Das Workforce-Planning – oder zu Deutsch: die strategische Personalplanung – ist ein Teil des Workforce-Managements und beschäftigt sich dabei mit lang-, mittelund kurzfristigen Entscheidungen bezüglich Personalressourcen sowie deren Bereitstellung. Dabei leistet es einen Wertbeitrag zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Firma. Definition Strategisches Workforce-Planning ist ein analytisch fundierter Vorhersageprozess, der auf Basis einer Prognose über den zukünftigen Personal- bzw. Kompetenzbedarf hilft, eine ausreichende Zahl an Mitarbeitenden mit den erforderlichen Fähigkeiten zu einer bestimmten Zeit am richtigen Ort bereitzustellen und die Fähigkeiten einer Organisation langfristig profitabel weiterzuentwickeln (Sparkman, 2018).

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Für eine effektive strategische Personalplanung sind zwei Punkte zentral: 55 das Wissen und Verständnis über die aktuelle Mitarbeiterbasis (IST-Situation der Kompetenzen) und 55 die Definition des gewünschten Zielzustandes (SOLL-Situation).

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Mit anderen Worten: Welche Ziele werden seitens des Unternehmens verfolgt und welcher Umfang an Kompetenzen von Mitarbeitenden und welche organisationalen Kompetenzen sind notwendig, um diese zu erreichen? 3.2.2 

Strategisches Workforce-Planning in sechs Schritten

Der Prozess eines strategischen Workforce-Planning umfasst eine systematische Analyse, Prognose und Planung sowie ein gezieltes Monitoring. Die folgenden sechs konkreten Schritte führen dabei zum Erfolg (Thomas, 2017).

 chritt 1: Identifikation zentraler Trends und Analyse von deren S Auswirkungen Big Data, Silver Society und Neo-Ökologie sind nur einige Entwicklungstrends, mit welchen Unternehmen zurzeit konfrontiert werden. Insbesondere der demografische Wandel und die Digitalisierung verändern die bisherigen Arbeitsformen und damit auch die erforderlichen Kompetenzen. Deshalb erfolgen in einem ersten Schritt die Identifikation von zentralen Trends sowie eine Analyse von deren Auswirkungen auf die Organisation.

Schritt 2: Prognose möglicher Zukunftsszenarien Anschließend können diese Trends wiederum nach Relevanz für die Organisation priorisiert werden. Welche Trends haben einen unmittelbaren Einfluss auf das Unternehmen und wie hoch ist die (höhere, mittlere und niedrige) Eintrittswahrscheinlichkeit? Daraus lassen sich mögliche Zukunftsszenarien entwickeln, um anschließend vertieft zu überlegen, welche Auswirkungen sich hierdurch auf den quantitativen und qualitativen Personalbedarf ergeben.

 chritt 3: Ermittlung des qualitativen und quantitativen S Personalbedarfs Spätestens in diesem Schritt sind auch die langfristigen strategischen Unternehmensziele zu berücksichtigen und auf deren Grundlage die folgenden Fragen zu beantworten: 55 Welche Ziele sollen in welchen Bereichen bis wann konkret erreicht werden? 55 Welche für den Personalbestand relevanten Maßnahmen sind hierfür bereits absehbar? 55 In welchem Umfang können diese Ziele durch den technischen Fortschritt unterstützt bzw. erreicht werden? 55 Welche ergänzenden Kapazitäten werden hierfür benötigt bzw. welche Märkte, Geschäftsbereiche, Abteilunge etc. benötigen zukünftig mehr oder weniger Personal? Welche Positionen und Funktionen sind davon betroffen? 55 Welche Kompetenzen sind in Zukunft notwendig? Welche werden wegfallen, welche müssen neu hinzukommen? Für welche Bereiche ist dies relevant?

45 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

Schritt 4: Feststellung von Lücken Mittels einer Gap-Analyse kann nun in einem weiteren Schritt identifiziert werden, inwiefern und wo sich tatsächliche Lücken befinden. Dazu braucht es zwingend einen Abgleich des ermittelten quantitativen und qualitativen Personalbedarfs auf der Basis der prognostizierten Marktentwicklung und Unternehmensstrategieziele mit der fortgeschriebenen Entwicklung des derzeitigen Personalbestands unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Fluktuation sowie bereits absehbarer Ein- und Austritte. Die quantitativen Daten stammen meist aus HR-Informations- und Gehaltsabrechnungssystemen und umfassen demografische Daten der Belegschaft (Alter, Geschlecht, Standort), Gehälter und Sozialleistungen, Dauer der Beschäftigung sowie die Historie der Funktionen und Erfahrungen. Zu den qualitativen Daten, die in der Regel aus Talent-Management-Systemen stammen, gehören Kompetenz- und Leistungsbewertungen, Schulungs- und Entwicklungshistorie, ­ Nachfolgestatus, Mobilitätspräferenzen, Flugrisikobewertungen und Karrierepläne.

Schritt 5: Ableitung von Maßnahmenalternativen mit Priorisierung Aus der Gap-Analyse können entsprechende Maßnahmen für den Personalbestand abgeleitet werden, welche wiederum für das Unternehmen spezifisch priorisiert werden. Howes (Howes, 2015, . Abb. 3.3) unterteilt die verschiedenen Handlungsfelder in: 55 Buy – Woher sollen Talente eingestellt werden? 55 Build – Wie sollen bisherige Mitarbeitende weiter gefördert und ausgebildet werden? 55 Borrow – Welche externen Möglichkeiten können beigezogen werden, um Talente temporär auszuleihen?  

..      Abb. 3.3  Massnahmen des strategischen Workforce-Planning (Howes, 2015)

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55 Bind – Wie behalten wir unsere Mitarbeitenden mittels einer guten Employee Experience? 55 Transform – Welche Technologien können wir nutzen, um die Arbeitsproduktivität zu steigern? 55 Regroup – Sind Änderungen in der Unternehmensstrategie notwendig, weil die Ressourcen nicht bereitgestellt werden können? Es sollten alle Handlungsfelder durchdacht werden, um genügend geeignete Maßnahmen zu definieren und sich nicht nur auf kurzfristige Rekrutierungsthemen zu konzentrieren.

Schritt 6: Monitoring und Controlling der Umsetzung Um zum einen die Wirkung der einzelnen Maßnahmen und zum anderen die gesamte Wirkung der Handlungsfelder messen zu können, braucht es ein möglichst kennzahlenbasiertes Controlling. Dafür braucht es pro Maßnahme bzw. Handlungsfeld eine individuelle Zielsetzung (z. B. Verringerung der Fluktuation, Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit) und eine Analyse der jeweiligen Auswirkung auf die übergeordneten strategischen Ziele des Unternehmens. Es empfiehlt sich zudem für eine erhöhte szenariobasierte Prognosegenauigkeit, lang-, mittel- und kurzfristige Perspektiven permanent gegeneinander abzuwägen und diese stetig mit den Planungsund Prognoseergebnissen und dem tatsächlich festgestellten quantitativen und qualitativen Bedarf abzugleichen. 3.2.3 

Herausforderungen im Workforce-Planning

Die Herausforderung für die meisten Unternehmen ist neben einer wachsenden Belegschaft, welche auch mit zunehmend komplexen Daten einhergeht, die mangelnde Datenqualität. Durch fehlende digitalisierte Prozesse gelingt es HR-Fachleuten oftmals nicht, die notwendigen Zahlen mit überschaubarem Zeitaufwand zur Verfügung zu stellen. Weiter zeigt sich, dass selbst Unternehmen, welche über modernste HR-Technologien verfügen, Mühe haben, die erfassten Daten richtig zu analysieren und zu interpretieren. Deshalb braucht es auch im HRM vermehrt Kompetenzen im Umgang mit Daten. Obwohl People Analytics seit längerer Zeit in aller Munde ist, zeigte eine Studie, dass die Reise in Wirklichkeit gerade erst begonnen hat. In der Schweiz verlassen sich die meisten Unternehmen bisher immer noch auf eine reaktive betriebliche Berichterstattung oder auf eine proaktive erweiterte Berichterstattung von Personaldaten, wobei der Wunsch zur prädiktiven Analyse in den nächsten Jahren vorhanden ist (Deloitte, 2020).

3.3 

Workforce der Zukunft

Bei allen beschriebenen strategischen Vorgehensweisen wird immer versucht, Megatrends und deren Auswirkungen zu prognostizieren und zu berücksichtigen. Welches sind die zentralen Trends, die einen maßgeblichen Einfluss auf die Workforce der Zukunft haben?

47 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

55 Demografische Veränderung – Silver Society Der richtige Umgang mit unterschiedlichen Generationen ist zentral für das HRM der Zukunft. Wie er erfolgreich gestaltet werden kann, beschreibt 7 Kap. 4. 55 Flexibilisierung und Globalisierung führt zur Sharing Economy und Freelancing Im Zuge der Globalisierung und des wachsenden Wettbewerbsdrucks brauchen Unternehmen Flexibilität. Dafür sind flexible Beschäftigungsformen notwendig, um sich rasch an die veränderten Marktdynamiken anpassen zu können (Zölch et  al., 2020). Daneben sind auch aus Sicht der Mitarbeitenden immer mehr flexible Beschäftigungsformen gefragt, da der Wunsch nach Vereinbarkeit von Arbeit und anderen Lebensphasen an Bedeutung gewinnt. Gemäß einer Studie (Deloitte, 2016) macht Sharing Economy immer mehr Angestellte zu Mikrounternehmern. In der Schweiz gehen bereits 25  % aller Personen im erwerbsfähigen Alter projektbasierten, temporären und zusätzlichen Arbeiten nach.  

3.3.1 

Rahmenmodell „Flexible Workforce“

Um der gewünschten Flexibilität Rechnung zu tragen, schlagen Zölch et al. (2020) das Rahmenmodell der „Flexible Workforce“ vor. Dieses sieht vor, den Personalbestand in folgende verschiedene interne und externe Beschäftigtengruppen mit unterschiedlichem Flexibilisierungsgrad auszudifferenzieren: z Core Team

Das Core Team (= Kernteam) umfasst Schlüsselmitarbeitende, die eng an das Unternehmen gebunden sind und über feste Arbeitsverhältnisse mit zumeist auch weitgehend fixen Arbeits(zeit)modellen und mit hohem Beschäftigungsgrad von 80 bis 100 Prozent verfügen. Das Kernteam bildet in der Regel die Führungskräfte sowie wichtige Fachspezialisten, die zur Know-how-Sicherung beitragen. Während die Führungskräfte die strategische Ausrichtung und Gestaltung sowie die operative Führung und Steuerung des Geschäfts unterliegen, soll das festangestellte Spezialistenteam die Kernkompetenzen des Unternehmens nachhaltig sichern und im Sinne der Unternehmensstrategie weiterentwickeln. z Internal Flex Workforce

Mitarbeitende der Internal Flex Workforce verfügen ebenfalls über einen festen Anstellungsvertrag. Bei ihnen kommen bereits verstärkt Flexibilisierungsinstrumente zum Einsatz, welche die Möglichkeit schaffen, gewisse Volatilitäten des Geschäfts aufzufangen; dies über ein Jahresarbeitszeitmodell oder über die Pool-­Bildung von Kompetenzträgern für organisationsübergreifende Einsätze. z Extended Flex Workforce

Die Einarbeitungsphase stellt bezüglich der fachlichen Einführung, aber insbesondere auch in Bezug auf die organisatorische und kulturelle Vertrautheit ein Hindernis zur Einstellung externer Ressourcen dar. Eine weitere Beschäftigtenkategorie kann hier eine gute Lösung sein. Die Extended Flex Workforce greift auf Mitarbeitende zurück, die das Unternehmen bereits gut kennen, wie ehemalige und dem Unternehmen weiterhin nahestehende Mitarbeitende. Dies können ehemalige Mit-

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arbeitende, beispielsweise Teilzeitstudierende, Mütter und Väter während oder nach der Erziehungszeit oder Pensionierte sein, die im Sinne eines Portfolios flexible Einsätze übernehmen können. z External Flex Workforce

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Die External Flex Workforce bildet sich schließlich aus flexibel Beschäftigten wie temporären Mitarbeitenden oder immer stärker auch freien Mitarbeitenden, sogenannten Freelancern, die nicht über ein festes Anstellungsverhältnis verfügen. Während bei Temporärangestellten ein sogenannter Personalverleih erfolgt und der Einsatzbetrieb über wesentliche Weisungsrechte verfügt, sind Freelancer Selbstständigerwerbende, bei denen ein Auftragsverhältnis über einen Dienst- oder Werkvertrag besteht. Durch entsprechende Online-Plattformen ist der Einsatzprozess von External Flex Workforce heute einfacher, transparenter und schneller geworden. z Outsourced Workforce

Eine weitere Möglichkeit der Flexibilisierung beinhaltet das komplette Outsourcing von geeigneten Aufgabenbereichen bzw. Prozessen. Dies bedingt jedoch einen konsequenten „Make-or-Buy“-Entscheid, der für eine gewisse Zeit Bestand haben wird. Dabei kann zwischen dem Outsourcing von ausgewählten Prozessen (Business Process Outsourcing) bis hin zu einem Outsourcing von ganzen Teilbereichen eines Unternehmens unterschieden werden. Eine Flexibilisierung der Personalressourcen ergibt insbesondere dann Sinn, wenn beispielsweise Kosten gespart werden müssen, das Auftragsvolumen starken Schwankungen unterliegt oder Kapazitätsspitzen überbrückt werden müssen. Ebenfalls können Kompetenzlücken im Unternehmen auf diese Weise geschlossen werden oder die globale Mobilität erhöht werden. 3.3.2 

Ausblick

Eine Flexible Workforce erfordert eine zielgruppenspezifische Abstimmung von HR-­ Prozessen. Anstatt nur auf kurzfristige Auftragsschwankungen zu reagieren, ist der Einsatz flexibler Beschäftigter als Teil der gesamthaften Personalstrategie zu betrachten und in den Prozessen entsprechend abzubilden. Dies setzt ein gewisses Verständnis und eine bereits verankerte Flexibilität in der Organisationskultur voraus. Weiter erfordert es neben einem erhöhten Koordinationsaufwand eine noch tiefere Einarbeitung und eine Wissensvermittlung, welche die soziale und kulturelle Integration von flexiblen Beschäftigten fördern sollte. Hintergrundinformation HR als Flexibilitätsmanager:in Das Rahmenmodell der „Flexible Workforce“ verlangt sowohl die Definition neuer als auch die Anpassung bestehender Rollen des Personalmanagements. Das bisher klassische Personalmanagement wird sich verstärkt in Richtung eines strategischen, in der Umsetzung aber auch operativen Einkäufers entwickeln. Die strategische Ebene umfasst die Analyse und grundsätzliche Entscheidung zum „Make-orBuy“-Entscheid, wobei die Wertschöpfungskette insgesamt mit sämtlichen Kosten betrachtet werden soll. Durch das verstärkte Engagement in der Steuerung des flexiblen Personaleinsatzes wird sich die Rolle des Personalmanagements zudem immer stärker zu einem/r Flexibilitätsmanager:in entwickeln (siehe auch 7 Kap.  2), der die Führungskräfte mit entsprechenden Instrumenten unterstützt, um deren Führungshandeln auf die flexibilisierten Arbeitsbedingungen hin ausrichten zu können. Damit nimmt HR eine erweiterte Perspektive als Manager:in der gesamten Workforce ein, der sowohl interne als auch externe Beschäftigte als Gesamtportfolio betrachtet (Zölch et al., 2020).  

49 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

3.4 

Strategietrends: Sustainable & Green HR

Das Thema Nachhaltigkeit hat in den vergangenen Jahren in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung gewonnen. Längst beschäftigt es nicht mehr nur die jüngeren Generationen, auch Organisationen sehen sich zunehmend dazu veranlasst, ihre Handlungen ökologisch verantwortungsvoller und nachhaltiger zu gestalten als in den vorangegangenen Jahren. Dazu beigetragen hat sicherlich auch der globale Geschäftskontext, welcher sich in den vergangenen 10–15 Jahren rapide verändert hat. Bedingt durch langfristige Einflüsse wie Klimawandel, Biodiversität, Urbanisierung und die Demografie können Organisationen heutzutage nicht mehr nur rein ökonomische Ziele definieren, sondern müssen auch die ökologische und soziale Dimension ihres Handelns berücksichtigen (Aust et al., 2020). Hintergrundinformation Entwicklung der Nachhaltigkeit im HRM Interessanterweise zeigt sich, dass insbesondere im HRM das Thema Nachhaltigkeit im Vergleich zu anderen Bereichen wie beispielsweise Supply-Chain-Management oder Accounting noch immer in den Kinderschuhen steckt (Dron et al., 2018). Seit nun 10 Jahren beschäftigt sich die Forschung damit, nachhaltigere HRM-Systeme zu entwickeln, welche die menschliche Nachhaltigkeit fördern und die Unternehmen bei der Erreichung ihrer Corporate-­ Sustainability (CS)-Ziele unterstützen (Aust et al., 2020). Dabei nimmt gerade das Personalmanagement bei der Implementierung einer ökologischen Nachhaltigkeitsstrategie eine zentrale Rolle ein. So zeigen Untersuchungen von Renwick et al. (2016) sowie Rothenberg et al. (2017), dass HRM-Praktiken nicht nur Auswirkungen auf die Mitarbeitenden haben, sondern auch auf die menschlichen, sozialen und Umweltkontexte von Organisationen. Auch frühere Untersuchungen (z.  B. Cohen et  al., 2010; Opoku-Dakwa et al., 2018) zeigen, dass die Menschen in Organisationen eine entscheidende Rolle für die Effektivität und den Erfolg der Nachhaltigkeitsstrategie eines Unternehmens spielen.

3.4.1 

 efinition „Sustainable Human Resource D Management (HRM)„

Definition Sustainable HRM „ist die Einführung von HRM-Strategien und -Praktiken, die das Erreichen finanzieller, sozialer und ökologischer Ziele ermöglichen mit Auswirkungen innerhalb und außerhalb der Organisation und über einen langen Zeitraum hinweg, wobei unbeabsichtigte Nebeneffekte und negative Rückkopplungen vermieden werden“ (Ehnert et al., 2016, S. 90).

Diese Definition unterstreicht sowohl die Komplexität und Vernetzung von mannigfaltigen ökonomischen, sozialen und ökologischen Zielen, die auch im Widerspruch zueinanderstehen können, als auch die Wechselbeziehungen von Personalmanagementsystemen und ihrem Umfeld in einer längerfristigen Perspektive (Aust et  al., 2018). Dieses wechselseitige Geflecht aus ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekten wird als „Triple Bottom Line“ der „Corporate Social Responsibility“ bezeichnet (Dron et al., 2018).

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3.4.2 

3

Nachhaltigkeitsansätze

Gemäß Aust et al. (2020) finden sich rund um das Thema Nachhaltigkeit im Personalmanagement vier Typen von Ansätzen, welche unterschiedlichen In- und Output generieren und damit auch einen unterschiedlichen Sinn und Zweck des HRM vorsehen. Nachfolgend werden diese Ansätze kurz erklärt. Es ist zentral, dass wenn Nachhaltigkeit in Organisationen gelebt bzw. auch umgesetzt werden will und damit die Implementierung von nachhaltigen HRM-Systemen vollzogen werden kann, ein neues Verständnis des Personalmanagements entwickelt wird. Dabei ist die Anwendung von Nachhaltigkeit auf das HR-Management zur Erreichung organisatorischer Nachhaltigkeit von wesentlicher Bedeutung, da das Personalmanagement die Beziehung eines Unternehmens zu seiner externen Umwelt im Hinblick auf die Auswirkungen des Unternehmens auf Gesellschaft und Ökologie beeinflussen kann (Saifulina et al., 2020) 3.4.3 

Typ 1: Socially Responsible HRM

In seiner frühen Entwicklungsphase bezog sich nachhaltiges HRM auf sozial verantwortliche HRM-Aktivitäten und fokussierte, im Sinne der Tradition des Soft HRM, auf die Erhaltung des Humankapitals. Unternehmen sind demnach nicht nur für die Menschen verantwortlich, die sie direkt beschäftigen, sondern auch für die Gemeinschaften, in denen sie tätig sind, und auch für die indirekt Beschäftigten in ihren Lieferketten (Ehnert et al., 2014; Jackson et al., 2014). Ziel der Implementierung von Socially Responsible HRM ist es, negative Auswirkungen auf das Geschäft zu minimieren und damit Geschäftsrisiken zu reduzieren. Dabei ist ein primäres Ziel beispielsweise nicht, das Leben der Mitarbeitenden in den Lieferketten in Entwicklungsländern zu verbessern, sondern die wirtschaftlichen Risiken zu managen, die mit Personalmanagementpraktiken in der Lieferkette verbunden sind. Weiter berichten Unternehmen, beispielsweise durch die Richtlinien der Global Reporting Initiative, über ihre Personalarbeit in den Bereichen Diversity Management, Training und Entwicklung sowie Gesundheit und Sicherheit. Somit dient der soziale Zweck dem wirtschaftlichen Zweck. 3.4.4 

Typ 2: Green HRM

Green HRM beschäftigt sich primär mit der ökologischen Nachhaltigkeit in Unternehmen. Dabei geht es vordergründig darum, das ökologische Bewusstsein und Verhalten der Mitarbeitenden zu beeinflussen sowie zu verbessern. Damit wird sowohl der ökologische Fussabdruck einer Organisation reduziert als auch zu ihrer ökologischen Glaubwürdigkeit beigetragen (Renwick et al., 2013). Definition Unter Green HRM versteht man alle Aspekte und Praktiken im Personalmanagement, die das Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit verfolgen (Dron et al., 2018). Dabei soll auch das umweltorientierte Verhalten von Beschäftigten am Arbeitsplatz mitberücksichtigt werden (Paillé et al., 2014).

51 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

Dieser HR-Ansatz (obwohl immer noch Inside-out) unterscheidet sich von früheren Nachhaltigkeits-/CSR-Bestrebungen durch seinen Fokus auf der Ebene der Mitarbeitenden auf die Förderung von Praktiken und Maßnahmen zur Verbesserung der Umweltbilanz von Unternehmen. Green HRM hat in letzter Zeit zunehmend an Forschungsinteresse gewonnen (Renwick et al., 2016). Dabei geht es hauptsächlich darum, das Bewusstsein von Personalverantwortlichen für die Bedeutung der Berücksichtigung der Umweltdimension im HRM zu sensibilisieren, wie beispielsweise die Integration und Implementierung von ökologischer Nachhaltigkeit in bestehenden HR-Funktionen (z. B. Jackson et al., 2011; Renwick et al., 2013). Grüne HRM-Praktiken haben nachweislich einen signifikanten Einfluss auf nachhaltigen Erfolg. Beispiele von grünen HRM-Praktiken sind (Renwick et al., 2016): 55 Green Hiring: Rekrutierung von Mitarbeitende für Jobs, die eine grüne Einstellung erfordern und grüne Aufgaben beinhalten 55 Green Training: Anbieten von Kursen, die Umweltwissen vermitteln 55 Grüne Vergütung: Verknüpfung von Boni mit dem Erreichen von Umweltzielen Ähnlich wie beim Socially Responsible HRM wird erwartet, dass dieser ökologische Zweck auch einem ökonomischen Zweck dient. Nichtsdestotrotz gibt es immer noch wenige Daten und Analysen über die Mechanismen, mit denen Green-­ HRM-­ Praktiken tatsächlich den Druck von Regulierungs- und Verbraucherinteressengruppen vermitteln, um Unternehmen nachhaltiger zu machen (Guerci et al., 2016). Ebenso besteht Uneinigkeit über die Effektivität von Green-HRM-Praktiken sowohl bei der Beantwortung von Stakeholder-Anliegen als auch bei der Erzielung eines positiven Umwelteinflusses (Jackson & Seo, 2010). Trotz einiger begrenzter Bewegungen innerhalb der HR-Disziplin zur Förderung umweltfreundlicher Praktiken am Arbeitsplatz sind nicht alle HR-Akteure davon überzeugt, dass die Bewältigung ökologischer Herausforderungen eine Kernfunktion des HRM sein sollte. Praxis- und Anwendungstipps für grüne HRM-Praktiken

55 Employer Branding und Personalauswahl: Nachhaltigkeitsrichtlinien in der Stellenausschreibung kommunizieren; Teilnahme an Nachhaltigkeitsprogrammen kommunizieren; Informationen zu umweltrelevanten Arbeitserfahrungen und Einstellungen von Bewerbenden einholen 55 Personalentwicklung und Training: Seminare für Mitarbeitende zu Steigerung der umweltfreundlichen Einstellung und des Verhaltens; Bewusstseinsförderung bereits im Onboarding-Programm beginnen 55 Performance Management: Anreize für umweltfreundliches Verhalten schaffen; ökologische Unternehmensziele mit Bonuszahlungen verknüpfen, insbesondere auf höherer Managementebene

3

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3.4.5 

3

Typ 3: Triple Bottom Line HRM

Im Gegensatz zu den ersten beiden Typen konzentriert sich das Triple Bottom Line HRM gleichzeitig auf alle drei Zwecke (ökonomische, ökologische und soziale) und ist das meistverbreitete Konzept. Dieser Ansatz zeigt, dass ein breiteres Verständnis von Sustainable HRM möglich ist, wenn HRM als ein generischer Ansatz des Personalmanagements betrachtet wird, der sowohl mitarbeiterorientierte Praktiken (wie z. B. Wohlbefinden oder Beteiligung der Mitarbeiter) als auch die Auswirkungen von HRM auf das soziale und ökologische Umfeld (z. B. Ressourcenregeneration) berücksichtigt. Dennoch kann ein Mehrzweckfokus auch Konflikte auf Organisationsebene und einen abteilungsübergreifenden Wettbewerb um begrenzte Ressourcen und divergierende Erwartungen und Anforderungen hervorrufen (Bush, 2020). 3.4.6 

Typ 4: Common Good HRM

Der vierte Typ, Common Good HRM, unterscheidet sich stark von den vorangegangenen Typen, da alle drei Typen in unterschiedlichem Maße den traditionellen Geschäftszweck des wirtschaftlichen Gewinns angepasst haben, um dem externen Druck nach mehr sozialer und ökologischer Verantwortung gerecht zu werden (Inside-out). Der Common-Good-Ansatz geht jedoch viel weiter. Aus dieser Sicht ist es die grundsätzliche Verantwortung der Wirtschaft, Nachhaltigkeitslösungen zu generieren und umzusetzen. Somit stellt das Common Good HRM kollektive Interessen über – oder realistischerweise gleichberechtigt mit – individuelle und organisatorische Wünschen, Bedürfnisse und Begierden (Daly & Cobb, 1994; Frémeaux & Michelson, 2017). Dieser Perspektivenwechsel begründet sich darin, dass – trotz der jüngsten Verbreitung von organisatorischen Nachhaltigkeitsinitiativen  – Triple-Bottom-Lineund Umweltmanagement-Praktiken sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit betrachtet nur begrenzte positive Auswirkungen auf die Gesellschaft oder die Umwelt haben. Deshalb braucht es vielmehr ein neues, gemeinwohlorientiertes Geschäftsund HRM-Modell, sodass traditionell gewinnorientierte Sichtweisen überdacht werden und man sich stattdessen stärker auf ökologische und soziale Geschäftsperspektive fokussiert. Dabei nimmt das Personalmanagement eine ganz andere Rolle bei der Entwicklung der Organisationswerte und -kultur ein und unterstützt Führungskräfte und Mitarbeitende darin, ihre Kompetenzen und ihr Wissen für das ökologische und soziale Gemeinwohl umzusetzen. Dass diese Sichtweisen bereits in der Praxis Einzug nehmen, zeigen neuere Entwicklungen wie beispielsweise das Interesse von Millennials an Jobs, die einem Zweck dienen (Gong et al., 2018), sowie höhere CSR-Erwartungen von Kunden (Joshi & Rahman, 2015) und mehr Druck von Regierungen und Investoren auf Unternehmen, dem Gemeinwohl zu dienen (Crifo et al., 2019).

53 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

Zusammenfassung und Fazit Trotz steigender Ansprüche an den Wertschöpfungsbeitrag von HRM wird die Personalarbeit in der Praxis oft noch sehr funktional betrieben. Die HR-Arbeit muss sich noch erfolgreicher strategisch verankern, um einen signifikanten Wertschöpfungsbeitrag im Unternehmen leisten zu können. Dazu sind Kenntnisse des strategischen Managements unabdingbar. Es gilt, die HR-Strategie als integrativen Teil der Unternehmensstrategie zu erarbeiten und den Aufbau der notwendigen organisationalen Fähigkeiten ins Zentrum zu stellen. Dabei dient das strategische Workforce-Planning als geeignetes Mittel, um sicherzustellen, dass dem Unternehmen eine ausreichende Zahl an Mitarbeitenden mit den erforderlichen Fähigkeiten zu einer bestimmten Zeit am richtigen Ort zur Verfügung steht. Da das Thema Nachhaltigkeit in den vergangenen Jahren in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, sind die Strategietrends Sustainable & Green HR aufgekommen. Es werden zunehmend auch grüne HRM-Praktiken umgesetzt. Gehen diese Entwicklungen noch weiter und werden traditionell gewinnorientierte Sichtweisen überdacht und soziale und ökologische Geschäftsperspektiven eingeführt, wird HRM eine ganze andere Rolle bei der Entwicklung der Organisationswerte und kultur einnehmen müssen, um Führungskräfte und Mitarbeitende darin zu unterstützen, ihre Kompetenzen für das ökologische und soziale Gemeinwohl einzusetzen.

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55 HR-Strategie, organisationale Fähigkeiten und Workforce der Zukunft

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3

57

Demografischer Wandel und Demografiemanagement Leena Pundt Inhaltsverzeichnis 4.1

Das Phänomen des demografischen Wandels – 58

4.1.1 4.1.2

E ntwicklungen und Prognosen – 58 Relevanz für das Human Resource Management – 60

4.2

Klassisches Generationenmanagement – 63

4.2.1 4.2.2 4.2.3

E rhalt der Beschäftigungsfähigkeit – 63 Lebenslanges Lernen – 64 Intergenerationale Zusammenarbeit – 64

4.3

Ganzheitliche Lösungsansätze – 65

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

 eschäftigungsfähigkeit Jugendlicher – 66 B Frauen im Arbeitsmarkt – 67 Gezielte Integration von Zugewanderten – 68 Weiterbeschäftigung im Ruhestandsalter – 68

Literatur – 70

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_4

4

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L. Pundt

Dünne Geburtenjahrgänge der Vergangenheit beeinflussen die Struktur der Erwerbsbevölkerung und führen zu einem demografischen Wandel in den westlichen Industrienationen: Zum einen sind deutlich weniger Personen am Arbeitsmarkt verfügbar, sodass Unternehmen bereits heute intensiv mit einem Mangel an Fachkräften und Talenten zu kämpfen haben. Zum anderen ist die Erwerbsbevölkerung deutlich älter geworden und Konzepte zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit, zum lebenslangen Lernen und zur Zusammenarbeit von Alt und Jung gewinnen an Bedeutung. Mit der Verschiebung der demografischen Struktur geht auch einher, dass die Belegschaften vielfältiger, individueller und „bunter“ werden. Wollen Unternehmen neue Zielgruppen für sich gewinnen, müssen sie viel individueller auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der jeweiligen Gruppe eingehen. Im Rahmen des Demografiemanagements setzt sich das Human Resource Management mit diesen Phänomenen aktiv auseinander.

4.1 

Das Phänomen des demografischen Wandels

Seit 2016 gilt Deutschland offiziell als überalterte Gesellschaft, die Situation in der Schweiz und in Österreich ist ähnlich: Mehr als ein Fünftel der deutschen Bevölkerung ist älter als 65 Jahre und damit außerhalb des klassischen erwerbsfähigen Alters (Vereinte Nationen, 2016). Die steigende Lebenserwartung führt dazu, dass die Zahl der über 80-Jährigen in Deutschland auf 4,5 Millionen Menschen angestiegen ist, während sich die Zahl der über 80-Jährigen in der Schweiz bis 2050 von 0,46 Millionen auf 1,11 Millionen mehr als verdoppeln wird (Bundesamt für Statistik, 2021). Gleichzeitig ist Deutschland seit den 1970er-Jahren ein Land mit sehr niedriger Geburtenrate, die sich in den letzten Jahren nur mäßig positiv entwickelt. Neben dem weiter ansteigenden Durchschnittsalter der arbeitsfähigen Bevölkerung wird es in den Ländern der DACH-Region, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz, insgesamt deutlich weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben. Da sich die älteren Erfahrungsträger:innen dem Rentenalter nähern und gleichzeitig nur relativ wenige junge Talente nachrücken, sorgen sich viele Unternehmen um den Erhalt einer ausreichenden Zahl qualifizierter Mitarbeitenden. Deshalb ist das Demografiemanagement für Unternehmen ein wichtiges Handlungsfeld im Human Resource Management (HRM). Definition Demografischer Wandel bezeichnet die Veränderung in der Struktur und Entwicklung der Bevölkerung und geht dabei u.  a. auf die Altersstruktur, Geburtenzahlen und Lebenserwartung ein.

4.1.1 

Entwicklungen und Prognosen

Der demografische Wandel in den DACH-Ländern bedeutet erstens Rückgang der Einwohnerzahl und zweitens Alterung der Bevölkerung. Gründe für die Veränderung der Altersstrukturen sind einerseits geringe Geburtenzahlen und andererseits steigende Lebenserwartung (Destatis, 2021a). Die Konsequenz daraus ist ein kontinuier-

59 Demografischer Wandel und Demografiemanagement

..      Abb. 4.1  Altersaufbau in Deutschland 2022 und 2050. (Destatis 2019a, 2022)

licher Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, was in den Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamts anschaulich festzustellen ist (. Abb. 4.1). Deutschlands Bevölkerung hat im internationalen Vergleich ein sehr hohes Durchschnittsalter bei niedriger Fertilität, die Situation in der Schweiz und in Österreich ist vergleichbar (Habekuß, 2017). Zu dem Phänomen der geringen Geburtenzahlen in westlichen Industrienationen lässt sich zusätzlich beobachten, dass Frauen mit steigender Höhe ihres Bildungsabschlusses weniger Kinder bekommen (Pötzsch, 2021). Gleichzeitig erhöhte sich die Lebenserwartung in den DACH-Ländern kontinuierlich, wodurch sich die Schweiz im internationalen Ländervergleich innerhalb der Tabellenführer der Länder mit der höchsten Lebenserwartung wiederfindet (Rudnicka, 2021a). Die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen in der Schweiz lag für 2020 bei 85,3 Jahren, bei den Männern sind es 81,4 Jahre (Statista Research Department, 2021a). In Deutschland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei 83,6 Jahren für Frauen und bei 78,9 Jahren für Männer. Damit ist ca.  jede zweite Person älter als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre (Destatis, 2019a).  

Definition Erwerbspersonenpotenzial bezeichnet die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (aktuell ca. 20–66 Jahre).

Prognosen zufolge soll sich bis 2050 die Lebenserwartung deutscher Frauen auf 85,7 Jahre erhöhen, österreichische Frauen kommen auf 88,8 Jahre und die Schweizerinnen sogar auf 89,6 Jahre. Männer erreichen den Vorhersagen nach bis 2050 eine durchschnittliche Lebenserwartung von 81,7 Jahren in Deutschland, 85,2 Jahre in Österreich und 87,2 Jahre in der Schweiz (Bundesamt für Statistik, 2021; Mohr, 2021a). Die steigende Lebenserwartung führt dazu, dass bei insgesamt sinkenden Be-

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L. Pundt

völkerungszahlen die Anzahl der jüngeren Menschen in der Gesamtbevölkerung abnimmt, die der Älteren dagegen zunimmt (. Abb. 4.1). Bereits bis 2035 wird die Bevölkerung im Erwerbsalter in Deutschland voraussichtlich um 4–6 Millionen sinken (Destatis, 2019b).  

Hintergrundinformation: Demografischer Wandel und Migration

4

Auch Zuwanderung in den DACH-Ländern kann die sinkenden Geburtenzahlen nicht dauerhaft ausgleichen. Zwar ist der Durchschnitt aller Migrant:innen mit 33 Jahren (mehr als ein Drittel war bei Einwanderung unter 20 Jahren) deutlich jünger als der Durchschnitt der Bevölkerung in den DACH-Ländern (Rudnicka, 2021b; Statista Research Department, 2021b; Mohr, 2021b). Dies wirkt in den letzten Jahren der Altersstruktur zwar grundsätzlich positiv entgegen und erweitert das Erwerbspersonenpotenzial (Destatis, 2021b), aber selbst eine permanent viel höhere Zuwanderung als im Durchschnitt der vergangenen Jahrzehnte würde an den anstehenden Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten nur wenig ändern (Wilke, 2019). Mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Qualifikationen kann eine gezielte Zuwanderung perspektivisch jedoch als weiterer Ressourcenpool am Arbeitsmarkt gesehen werden (7 Abschn. 4.3.3).  

4.1.2 

Relevanz für das Human Resource Management

Für Unternehmen und Führungskräfte bedeuten die demografischen Entwicklungen, dass sie mit drei zentralen Herausforderungen konfrontiert sind: (1) mit Engpässen an qualifizierten Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt, (2) mit steigendem Durchschnittsalter der Beschäftigten und (3) mit größerer Altersdiversität in vielen Teams.

Fachkräftemangel Prognosen sagen Deutschland eine erstzunehmende Lücke von 2  Millionen Fachkräften bis zum Jahr 2030 voraus (Statista, 2020). Während 2018 noch an die 62,2 Millionen Personen auf dem Arbeitskräftemarkt zur Verfügung standen, wird das Arbeitskräfteangebot bis zum Jahr 2050 schätzungsweise auf 56,1 Millionen Personen sinken. Während gut ausgebildete Arbeitskräfte millionenfach in Rente gehen, werden schon bald nicht mehr genug Universitätsabsolvent:innen zur Verfügung stehen, um offene Stellen zu besetzen (Statista, 2020). Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird in den kommenden Jahrzehnten deutlich zurückgehen. Gleichzeitig nimmt der Anteil älterer Personen an der Erwerbsbevölkerung zu. >>Der Geburtenrückgang beeinflusst die Struktur des Arbeitsmarkts und verschiebt die Machtverhältnisse von einem „Anbietermarkt“ zu einem „Nachfragemarkt“. Dadurch ist das Angebot an Arbeit größer als die Nachfrage nach Arbeit.

Angesichts des steigenden Fachkräftemangels steigern Unternehmen quer durch alle Branchen ihre Anstrengungen und Budgets, um qualifiziertes Personal zu gewinnen und zu behalten (Priester, 2013). Dies führt einerseits zu einer erhöhten Relevanz von Employer Branding und Personalmarketing (7 Kap. 5): Die Verhandlungsmacht der Fachkräfte nimmt zu, wodurch der Bedarf nach modernen Karrierekonzepten nicht nur wächst, sondern auch aktiv eingefordert wird (Troger, 2019). Andererseits gewinnt auch das Thema Mitarbeiterbindung – oder Employee Branding – an Wichtigkeit (Braun & Pundt, 2020). Dies gilt jedoch längst nicht mehr nur für das Anwerben junger Talente, sondern adressiert heute Mitarbeitende aller Altersstufen.  

61 Demografischer Wandel und Demografiemanagement

Steigendes Durchschnittsalter Das steigende Durchschnittsalter der Beschäftigten stellt das HRM vor betriebswirtschaftliche Herausforderungen: Da noch vor 20 Jahren satte 40 % der in deutschen Unternehmen beschäftigten Personen jünger als 50 Jahre alt waren, entwickelte sich der Trend zu Vorruhestandsregelungen (Schönwald et al., 2014). Jedoch stieg in den Folgejahren das Durchschnittsalter der Belegschaften, einerseits durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters sowie andererseits durch den allgemeinen Rückgang des Arbeitskräfteangebots (Schellinger et al., 2021). Weiter ist zu beobachten, dass sich in Deutschland der Anteil von Menschen im Rentenalter, die weiterhin erwerbstätig sind, innerhalb von 10 Jahren verdoppelt hat (Destatis, 2021c).

Größere Altersdiversität Der demografische Wandel führt damit zu einer Verschiebung des Verhältnisses von Jüngeren und Älteren in der Belegschaft (. Abb.  4.2): Aktuell haben die 50–64-­Jährigen ihren Höchststand am Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung, in den Folgejahren werden sie dann sukzessive den Arbeitsmarkt verlassen. Insgesamt zeigt sich, dass das Erwerbspersonenpotenzial bis 2060 deutlich altert. Während im Jahr 2000 noch gut 10 Millionen Erwerbstätige jünger als 30 Jahre waren, so werden dies bis 2060 weniger als 8 Millionen sein (IAB, 2016). Für Unternehmen sind Team-Mitglieder unterschiedlichen Alters wichtig, damit durchgehend über arbeitsrelevantes Wissen und spezifische Erfahrungen verfügt werden kann. Ältere Mitarbeitende, welchen ein umfassendes Wissen durch langjährige Erfahrung im Unternehmen zuzuschreiben ist, sollten durch die Knappheit an Nachwuchs so lange wie möglich an das Unternehmen gebunden werden, unter anderem bis, im Sinne eines organisierten Wissenstransfers für entsprechende Schlüsselpositionen, ähnlich gut ausgebildete Nachfolger:innen gefunden wurden (Schwuchow & Gutmann, 2020). Millionen



30

25

Projektion ab 2014 Prognose für 2050

20

15-29-Jährige

15

30-49-Jährige 50-64-Jährige 65-74-Jährige

10 Aktueller Stand 2022

5

0 2000

2005

2010

2015

2020

2025

2030

2035

2040

2045

2050

2055

2060

..      Abb. 4.2  Anzahl von Jüngeren und Älteren in der erwerbsfähigen Bevölkerung. (Fuchs et al., 2016)

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Strategisches Demografiemanagement Unternehmen, die sich nachhaltig erfolgreich am Markt bewähren möchten, können bereits heute Maßnahmen einleiten, um trotz der geschilderten Entwicklungen über genügend qualifiziertes und motiviertes Personal zu verfügen (Deller et  al., 2008). Dies erfordert einen ganzheitlichen und umfassenden Blick auf das gesamte Spektrum eines nachhaltigen HRM.

4

>>Den Herausforderungen des strukturellen Wandels kann das HRM durch ein strategisches Demografiemanagement begegnen.

Daraus resultiert auch die Notwendigkeit einer strategischen Personalplanung, die gezielt verschiedene Personengruppen für anstehende Vakanzen, z. B. in der Nachfolgeplanung, vorsieht (Braun & Pundt, 2020). Das HRM sollte zu erwartende Personallücken frühzeitig erkennen und erforderliche Maßnahmen rechtzeitig ergreifen. Definition Demografiemanagement ist das aktive Gestalten des demografischen Wandels in Unternehmen.

Das HRM sollte auf eine langfristige und nachhaltige Denk- und Handlungsweise ausgelegt werden. Ein aktives Demografiemanagement kann dabei den Unternehmenserfolg steigern (Bieling et al., 2015). Praxistipp: Demografiemanagement als Change-Management-Prozess organisieren

Für das HRM empfiehlt es sich, die anstehenden Veränderungen im Sinne eines Change-Management-Prozesses zu gestalten (Deller et  al., 2008): Dieser orientiert sich dabei an einem klassischen Veränderungsprozess, ist jedoch auf ein Vorgehen im demografischen Kontext abgestimmt. Zunächst sollte Problembewusstsein für die demografischen Herausforderungen geschaffen werden, da das Bewusstwerden möglicher Auswirkungen auf das eigene Unternehmen eine notwendige Voraussetzung für einen Change-Prozess ist. Im nächsten Schritt geht es um die Analyse der unternehmensspezifischen demografischen Situation, um im Folgeschritt den Veränderungsbedarf der Organisation zu erkennen. Dann können Ziele festgelegt werden, die im weiteren Verlauf verfolgt und evaluiert werden. Es bietet sich eine begleitende Datenerhebung, -auswertung und -interpretation in Bezug auf die formulierten Ziele an (Pohlmann & Pundt, 2015).

Wenn das Demografiemanagement hauptsächlich als das Management verschiedener Generationen im Unternehmen verstanden wird, kann von klassischem Generationenmanagement gesprochen werden (7 Abschn.  4.2). Rücken jedoch ganzheitliche Lösungsansätze im HRM in den Vordergrund, so können personalpsychologische Handlungsoptionen auch in einem Management von personeller Vielfalt liegen (7 Abschn. 4.3).  



63 Demografischer Wandel und Demografiemanagement

4.2 

Klassisches Generationenmanagement

Um Beschäftigte bis zu ihrer Pensionierung im Betrieb zu halten, sind gute Arbeitsplatzbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten wichtig. Das Generationenmanagement setzt an den Herausforderungen der Altersdiversität konkret an, indem Rahmenbedingungen geschaffen werden, sodass Beschäftigte aller Altersgruppen fähig und bereit sind, ihren vollen Einsatz zu leisten (Klaffke, 2021). Diese Altersgruppen werden häufig in Generationen eingeteilt, um die Mitarbeitenden gezielt ihrer Generation entsprechend anzusprechen und durch die Erfüllung ihrer generationenspezifischen Bedürfnisse langfristig für das Unternehmen zu gewinnen. Hintergrundinformation: Einteilung in Generationen Als Generation werden diejenigen Personen bezeichnet, die in einem bestimmten Zeitraum geboren und aufgewachsen sind. Die Einteilung in Generationen versucht, Hauptmerkmale von verschiedenen Altersgruppen zu benennen und zusammenzufassen (Braun & Pundt, 2020). Generationen grenzen sich z. B. durch prägende Erlebnisse in der Kindheit oder Jugend, die einen Einfluss auf den ganzen Geburtsjahrgang haben, von anderen ab.

Neben dem Erhalt und Ausbau der Beschäftigungsfähigkeit gehören die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen, die persönliche Weiterentwicklung sowie die aktive Steuerung der intergenerationalen Zusammenarbeit zu gezielten Maßnahmen im Generationenmanagement. Diese können sogar die Arbeitszufriedenheit steigern (Kunze & Bruch, 2012). 4.2.1 

Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit

Alter ist nicht zwangsläufig mit einem Rückgang der Leistungsfähigkeit verbunden. Viele Menschen bleiben aufgrund der in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbesserten medizinischen Versorgung sowie entsprechender Lebensweise auch bis ins hohe Alter leistungsfähig (Ilmarinen, 2006). Um die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten, sollten auch Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements angeboten werden, die auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Generationen und vor allem präventiv auf die nachhaltige Leistungsfähigkeit abgestimmt sind. Durch die strukturellen Veränderungen des demografischen Wandels, die rasante Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien und die insgesamt volatilen Veränderungen in der Arbeitswelt entstehen immer stärkere psychische Belastungen und ein steigender Mangel an körperlicher Aktivität. Diese Defizite wurden darüber hinaus durch die Covid-19-Pandemie und die daraus resultierende lange Phase des mobilen Arbeitens verstärkt. Hierbei nimmt auch die Entgrenzung von Arbeit und die sich daraus ergebende Gefahr der Selbstausbeutung zu (Schwuchow & Gutmann, 2018). Hinzu kommt ein mit zunehmendem Alter steigendes Risiko chronischer Erkrankungen, die wiederum zu langfristigen Ausfällen und somit zu finanziellen Schäden für Unternehmen führen können. >>Betriebliches Gesundheitsmanagement stellt für Unternehmen eine lohnenswerte Investition in die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten dar.

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Im demografischen Kontext umfasst das Gesundheitsmanagement alle Aktivitäten der Organisation, die auf die Erhaltung und Förderung von Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeitenden ausgerichtet sind (Delle et al., 2016). Ein ganzheitliches Gesundheitsmanagement zeichnet sich dabei neben Maßnahmen zur Stärkung des Gesundheitsbewusstseins und -verhaltens der Beschäftigten auch durch eine gesundheitsfördernde Arbeitsgestaltung aus.

4

4.2.2 

Lebenslanges Lernen

Bei allen Maßnahmen im Generationenmanagement gilt es, die Einstellung zum Thema Alter und Altern von einer defizit- zu einer potenzialorientierten Sichtweise zu verändern. Dies kann eine Erhöhung der Lern- und Leistungsfähigkeit von Mitarbeitenden jeden Alters bewirken (Gerpott et al., 2016). Der demografische Wandel ist deshalb in starkem Maße auch mit dem Thema Lernen verbunden (Loos, 2017). Immer noch richtet sich der Großteil der Weiterbildungsangebote an jüngere Arbeitnehmer:innen. Nur jedes vierte Unternehmen bietet explizit Weiterbildungsmaßnahmen für Mitarbeitende über 50 Jahre an (Detemple & Höhn, 2018). Dabei bieten kontinuierliche Weiterbildungsangebote für alle Altersgruppen ein enormes Motivationspotenzial. Für das HRM erhält die Unterstützung der Mitarbeitenden in ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung über den gesamten Erwerbsverlauf enorme Bedeutung (Wöhrmann et al., 2018). Definition Lebenslanges Lernen beinhält nach EU-­Definition alles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient (EU, 2000). Maßnahmen und Konzepte des lebenslangen Lernens sollen Mitarbeitende befähigen, sich während ihrer gesamten Lebensspanne weiterzubilden.

Es ist wichtig, dass alle Altersgruppen eines Unternehmens die Möglichkeit haben, sich innerhalb ihres Unternehmens weiterzuentwickeln, und verschiedene Laufbahnund Karrieremöglichkeiten in Betracht ziehen können. Die Investition in die eigenen Mitarbeitenden wird mit vielen langfristig positiven Effekten in Verbindung gebracht (Erich & Hentrich, 2013). 4.2.3 

Intergenerationale Zusammenarbeit

Größere Altersdiversität in vielen Teams kann einerseits Innovationen begünstigen (Wegge et al., 2011), andererseits gibt es auch immer wieder die Herausforderung, unterschiedliche Werte und Einstellungen bei der Arbeit zusammenzubringen und Konsens zu erzielen. Auch dem Wissensverlust durch den Weggang älterer Beschäftigten kann durch spezielle Mentoring- oder Wissenstransfer-Programme gezielt entgegengewirkt werden. Ein aktiver Wissenstransfer und die Arbeit in altersgemischten Teams kann positive Auswirkungen haben (Göbel & Zwick, 2010): Jüngere Mitarbeitende lernen hierbei von langjähriger und fundierter Erfahrung und

65 Demografischer Wandel und Demografiemanagement

ergänzen ältere Kolleg:innen, indem sie möglicherweise eingefahrene Strukturen hinterfragen. Entscheidend für eine produktive Zusammenarbeit verschiedener Altersgruppen sind die überlegte Zusammenstellung des Teams und deren bewusste Führung (Kunze & Bruch, 2012). In der intergenerationalen Zusammenarbeit gewinnt das Wissensmanagement besondere Bedeutung. Es kann als eine pragmatische Weiterentwicklung des lebenslangen Lernens gesehen werden (Probst et al., 2012), um einen besseren Umgang mit der strategischen Ressource „Wissen“ als zentralem Hebel für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen. Definition Wissensmanagement bezeichnet im Rahmen des Generationenmanagements alle Aktivitäten, die dem Transfer, dem Austausch und der Bewahrung von Wissen aus verschiedenen Mitarbeitergenerationen dienen.

Auch das Konzept des Reverse-Knowledge-Transfers (Burmeister et  al., 2018) erfährt zunehmende Beliebtheit, wenn jüngere Mitarbeitende älteren Kolleg:innen Wissen weitergeben, z. B. in Bezug auf neue Technologien oder agile Methoden. >>Oft sorgt der Dialog zwischen den Generationen auch für eine Verbesserung der Unternehmenskultur, da sich die Teilnehmenden über Hierarchien hinweg mit der Lebenswelt der anderen vertraut machen.

Gleichzeitig erfahren die jüngeren Mentor:innen eine große Wertschätzung und erweitern neben ihren fachlichen und sozialen Kompetenzen das persönliche Netzwerk. Das HRM kann das Wissensmanagement mit einer Vielzahl an Methoden gestalten, z.  B. mit Wissenslandkarten, dokumentierten Interviews oder die gezielter Zusammenarbeit verschiedener Generationen für einen definierten Zeitraum, z. B. in der Phase des Übergangs in den Ruhestand. 4.3 

Ganzheitliche Lösungsansätze

Nach über 20 Jahren Forschung und Praxis zum Thema Arbeit und Alter entwickelt sich die Perspektive zu einer holistischen Herangehensweise im Demografiemanagement (Richter, 2021). Auch vor dem Hintergrund der Wettbewerbsfähigkeit am Markt sollten Unternehmen ganzheitliche Konzepte entwickeln und umsetzen (Lohmann et  al., 2011). Während klassisch noch der Einfluss der demografischen Frage auf das Human Resource Management diskutiert wird (z. B. Reindl, 2021), richtet die ganzheitliche Perspektive den Blick auf die Entwicklung vom Demografiemanagement zur systematischen Personalarbeit (Richter, 2021) und somit auf das Management von personeller Vielfalt. >>Für Unternehmen bedeutet der demografische Wandel, sich mit möglichen Fachkräfte- und Talentpotenzialen aktiv auseinanderzusetzen und zu überlegen, wie bislang ungenutzte Potenziale von neuen und bestehenden Mitarbeitenden gehoben werden können.

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Die dadurch gestiegenen personalpsychologischen Handlungsoptionen des HRMs haben zum Ziel, dass Unternehmen sich die personelle Vielfalt der Belegschaften bewusst machen und im Sinne der Unternehmensziele produktiv einsetzen. Somit ist das Demografiemanagement auch als Diversity Management zu sehen. Dies gelingt z. B. durch die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit Jugendlicher, mithilfe gut ausgebildeter Frauen auf allen Fachkräfteebenen, durch die gezielte Integration von Zugewanderten und mit der Einbindung älterer Fachkräfte auch jenseits der geltenden Ruhestandsgrenze. 4.3.1 

Beschäftigungsfähigkeit Jugendlicher

In der demografischen Situation mit deutlich weniger Nachwuchskräften entscheiden sich zusätzlich immer mehr Menschen für ein Studium, wogegen eine Lehre oder Ausbildung für viele Schüler:innen zunehmend unattraktiver erscheint (Troger, 2019). Auch wenn die Entwicklung der Akademisierung von Bildungsexperten wegen des großen Aufholbedarfs positiv gesehen wird, können viele Ausbildungsbetriebe ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. Dies liegt nicht nur an einer rückläufigen Anzahl von Bewerbungen, sondern auch an mangelnder Qualität der Bewerbungen (Braun, 2019). Somit gewinnt auch die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit Jugendlicher zunehmend an Bedeutung. Unternehmen müssen heute in der Lage sein, die besten Talente für ihre offenen Ausbildungsstellen zu identifizieren und für sich zu gewinnen. Für viele Schüler:innen ist bereits das Anschreiben die größte Hürde im Bewerbungsprozess (Braun & Voußem, 2018). Das Human Resource Management kann hier im Rahmen eines ganzheitlichen Demografiemanagements z.  B. durch das Angebot an Bewerbungstrainings für Schüler:innen bereits frühzeitig den Kontakt zur Zielgruppe herstellen. Praxistipp: Aktionstag „Fit für die Bewerbung!“

Ziel des jährlichen Aktionstages ist es, Schüler:innen aus Haupt-, Real- und Gesamtschulen bei der Berufsorientierung sowie bei der Bewerbung zu unterstützen und so den Berufseinstieg zu erleichtern. Die teilnehmenden Unternehmen führen an einem Tag an unterschiedlichen Standorten durch ein Tagesprogramm, das diverse Themenvorträge rund um das Thema Berufswahl und Bewerbung sowie individuelle Coaching-Gespräche umfasst. Dafür stellt die Initiative „Fit für die Bewerbung“ umfassende standardisierte Materialien zur Verfügung (Präsentationsfolien, Schülermappe, Trainerleitfaden, Arbeitsbögen und Entwurfsanschreiben). Während des Beratungstages finden individuelle Coaching-Gespräche zwischen Personalexpert:innen und den Jugendlichen statt. Dazu führen die Unternehmensvertreter:innen Gespräche mit Schüler:innen wie in einer realen Bewerbungssituation und geben anschließend Feedback zum Gespräch und zu den zuvor eingereichten Bewerbungsunterlagen. Mehr Informationen auf 7 http://www.­fit-­fuer-­die-­bewerbung.­de  

67 Demografischer Wandel und Demografiemanagement

4.3.2 

Frauen im Arbeitsmarkt

Ein maßgeblicher Grund für den Rückgang der Geburtenrate ist noch immer die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Klinger & Fuchs, 2020). Frauen, die eine ambitionierte Karriere und Familie mit Kindern vereinen möchten, stoßen in der Arbeitswelt immer noch aus vielerlei Gründen auf Widerstände. Vielen hervorragend ausgebildeten Frauen in Fach- und Führungspositionen bleibt der Wiedereinstieg nach einer Familienpause auf dem gleichen Niveau verwehrt, da geeignete Rahmenbedingungen fehlen (Robert Walters, 2018). Um das volle Arbeitskräftepotenzial zu nutzen, sollte das HRM flexible Arbeitsmodelle, Tandem-Positionen, Wiedereingliederung für Berufsrückkehrer:innen und innerbetriebliche Angebote wie Kinderbetreuung oder Betriebskindergärten anbieten und weiter ausbauen. Durch vereinbare Planung von Privatleben, Familie und attraktive berufliche Perspektiven wird es einfacher, bestehende Mitarbeitende zu halten und Unternehmenswechsel von Fachkräften zu vermeiden. Das HRM kann hier durch geeignete Maßnahmen den weiblichen Fach- und Führungsnachwuchs gezielt unterstützen. Hintergrundinformation: Equal Pay Day Es bestehen signifikante Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen (Destatis, 2019c), auf die z. B. mit dem internationalen Aktionstag für Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern hingewiesen wird. Dieser Equal Pay Day markiert jedes Jahr symbolisch die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen, indem er rechnerisch den Tag kennzeichnet, bis zu dem Frauen unentgeltlich arbeiten würden, während Männer ihren Lohn schon ab 01. Januar bekämen. In der Schweiz lag der Equal Pay Day für das Jahr 2021 am 20. Februar, in Österreich am 21. Februar und in Deutschland am 10. März.

Ist ein Arbeitsumfeld von einem Geschlecht dominiert, erschwert das die Entwicklung und Entfaltung von Leistung und Potenzial. Optimal dagegen ist eine Kultur, in der sich alle motiviert fühlen, ihren Beitrag zu leisten (Charta der Vielfalt, 2019). Ist ein Geschlecht deutlich unterrepräsentiert, werden die entsprechenden Mitarbeitenden oft unbewusst ausgegrenzt, besonders behandelt oder z. B. bei Beförderungen nicht berücksichtigt. Ein Beispiel dafür ist die in vielen Studien bestätigte gläserne Decke, die in erster Linie Frauen daran hindert, Führungspositionen zu erreichen (Thomas et al., 2019). Dies ist die Bezeichnung für eine unsichtbare Barriere, mit der Frauen im Karriereverlauf trotz hoher Qualifikation häufig dann konfrontiert sind, wenn sie in das obere Management aufsteigen wollen  – und männlichen Kollegen mit vergleichbarer Qualifikation dieser Aufstieg in der Regel gelingt. >>Das Schaffen von Transparenz über weibliche Karrierewege im Unternehmen und entsprechend sichtbare Vorbilder sind wichtige Schritte zur Gleichstellung der Geschlechter auf allen Hierarchieebenen. Dazu beitragen können z. B auch Berichte über Väter in Elternzeit.

Darüber hinaus können gezielte Maßnahmen wie Seminare zur Karriereentwicklung und Coachings oder das Vernetzen von weiblichen Nachwuchskräften mit erfahrenen Führungspersonen im Unternehmen zum Erfolg beitragen. Im Vordergrund stehen hierbei der Erfahrungsaustausch und die individuelle Karriereförderung von Talenten innerhalb des Unternehmens (Elprana et al., 2016).

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4.3.3 

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Gezielte Integration von Zugewanderten

Anstatt die ungesteuerte Migration der normalen Bevölkerungsentwicklung reaktiv am Arbeitsmarkt zu bedienen, kann das HRM durch gezielte Recruiting-Strategien zur Gewinnung ausländischer Fachkräfte beitragen und damit nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Fachkräftelücke schließen. Gerade die junge Altersgruppe der Zugewanderten ist dabei besonders interessant, da sie noch den Großteil ihres Erwerbslebens vor sich hat (Troger, 2019). >>Unternehmen profitieren davon, wenn sie gezielt Menschen internationaler Herkunft und mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen einstellen. So lassen sich gezielt neue Zielgruppen ansprechen und internationale Fachkräfte gewinnen.

Seit der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 stellt sich auch die Aufgabe der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Insbesondere im Handwerk und in Sozialberufen kann die Einstellung von Geflüchteten dem durch demografischen Wandel hervorgerufenen Arbeitskräftemangel entgegenwirken. Ausbildungen bieten hier eine Chance für Betriebe, ihren Fachkräftebedarf zu decken. Sie geben außerdem den Geflüchteten eine Zukunftsperspektive und die Chance auf eine anerkannte Qualifizierung (Gericke et  al., 2017). Es kann für Unternehmen daher eine Zukunftschance und auch ein strategischer Vorteil sein, Geflüchtete als neue Mitarbeitende zu gewinnen. Praxistipp: Interkulturelle Trainings und Angebote schaffen

Um negative Auswirkungen auf die interkulturelle Zusammenarbeit und die Arbeitsergebnisse zu vermeiden, kann das HRM Gelegenheiten schaffen, dass sich Teammitglieder untereinander kennen und schätzen lernen. Dies verbessert den Zusammenhalt und den Informationsaustausch zwischen Mitarbeitenden, denn regelmäßiger Kontakt hilft, Vorurteile abzubauen (Voci & Hewstone, 2003). Interkulturelle Trainings, regelmäßige Teamtreffen, interkulturelle Feste oder kulinarische Thementage, aber auch ein persönliches Mentoring-Programm oder Sprachtandem können hier unterstützend eingesetzt werden.

4.3.4 

Weiterbeschäftigung im Ruhestandsalter

Der Fachkräftemangel und der damit verbundene Wunsch, ältere Erfahrungsträger möglichst lange im Unternehmen zu halten, haben in den letzten Jahrzehnten bereits zu einigen Modellen zur Weiter- oder Wiederbeschäftigung von Menschen im Ruhestandsalter geführt. Viele Unternehmen haben dafür sogar eigene Gesellschaften gegründet. In diesen Modellen werden die ehemaligen Beschäftigten entweder nach dem Prinzip der Arbeitnehmerüberlassung im Unternehmen zeitlich befristet eingesetzt oder ehrenamtlich für einige Wochen meist ins Ausland unentgeltlich für Projekte entsandt. Für das HRM offenbart sich hier ein weiteres Aktionsfeld, in dem

69 Demografischer Wandel und Demografiemanagement

Mitarbeitende über die Ruhestandsgrenze hinaus als sogenannte Silver Worker (Deller & Maxin, 2008) beschäftigt werden. Definition Silver Work bezeichnet die entgeltliche oder unentgeltliche Weiterbeschäftigung über die jeweils geltende Renteneintrittsgrenze hinweg.

Das Silver-Work-Konzept berücksichtigt die unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen mit Blick auf Leistungsbereitschaft und Beschäftigungsfähigkeit jenseits der gesetzlichen Renteneintrittsgrenze. Aus Sicht der Silver Worker selbst sprechen viele Gründe für eine Weiterbeschäftigung: Sie möchten ihr Wissen weitergeben und den Kontakt zu anderen halten, aber auch weiter einen Beitrag leisten und Anerkennung für ihre Leistung erhalten (Pundt et al., 2015). >>Damit Unternehmen vom Erfahrungswissen der Silver Worker profitieren können, sollte das HRM beratende freiberufliche Tätigkeiten mit Entscheidungsfreiheit, angepasster Arbeitsmenge und -beanspruchung sowie einen aktiven Einbezug in das Unternehmen ermöglichen (Maxin & Deller, 2010).

Das HRM kann in vielfacher Hinsicht positiv auf die Beschäftigung älterer Erwerbstätiger einwirken. Bereits vor dem Übergang in die Ruhestandsphase spielt die individuelle Planung und Gestaltung des Eintritts in den Ruhestand eine wichtige Rolle (Wöhrmann et al., 2018). Dazu gehört erstens ein frühzeitiger Abgleich des unternehmerischen Beschäftigungsbedarfs mit den individuellen Vorstellungen, zweitens die konkrete Unterstützung in der Vorruhestandsphase und drittens die tatsächliche betriebliche Einbindung der Mitarbeitenden auch über den Eintritt in den Ruhestand hinaus. Fazit Der demografische Wandel verändert die Struktur der Belegschaften und stellt eine der zentralen Herausforderungen für das HRM dar. Personalpsychologische Handlungsoptionen liegen im klassischen Generationenmanagement durch den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit Älterer, Maßnahmen zum Lebenslangen Lernen und produktiver intergenerationaler Zusammenarbeit. Für Unternehmen bedeutet der demografische Wandel aber auch, sich mit weiteren Fachkräfte- und Talentpotenzialen aktiv auseinanderzusetzen. Ganzheitliche Lösungsansätze der demografischen Herausforderung befassen sich demnach auch mit bislang ungenutzten Potenzialen von neuen und bestehenden Mitarbeitenden. Dies gelingt z. B. durch die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit Jugendlicher, mithilfe gut ausgebildeter Frauen auf allen Fachkräfteebenen, durch die gezielte Integration von Zugewanderten und mit der Einbindung älterer Fachkräfte auch jenseits der geltenden Ruhestandsgrenze. Aspekte wie die Entwicklung von Arbeitszeitmodellen, welche die demografischen Entwicklungen berücksichtigen, sowie Antworten auf Fragestellungen, wie neue Konzepte, z. B. New Work, auch für Ältere gelingen können, werden zukünftig weiter an

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Aufmerksamkeit gewinnen. Dem HRM kommt in Zeiten von demografischem Wandel, gesellschaftlichem Wertewandel und Digitalisierung eine Schlüsselrolle zu. Es liegt auf der Hand, möchte die Personalarbeit in Unternehmen und Organisationen nachhaltig erfolgreich sein, so sind bei Konzeption und Umsetzung von HR-Massnahmen, wie etwa im Rahmen der in diesem Band weiter ausgeführten Themenfelder, Flexibilisierung der Arbeit (7 Kap.  13), neue Formen der Führung (7 Kap. 15), immer auch die hier beschriebenen demografischen Herausforderungen mitzudenken.  



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L. Pundt

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73

Personalpsychologie und HR-Kernaufgaben Inhaltsverzeichnis Kapitel 5 Employer Branding und Personalmarketing – 75 Andrea Müller Kapitel 6 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl – 89 Patrick Boss Kapitel 7

Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung – 117 Andrea Müller

Kapitel 8

Lernen in Organisationen – 135 Jürg Gabathuler und Julia Kornfeind

Kapitel 9

Interne Laufbahnentwicklung – 157 Marc Schreiber

Kapitel 10 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung – 173 Birgit Werkmann-Karcher Kapitel 11 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive – 211 Volker Kiel Kapitel 12

Kündigungen und Trennungskultur – 233 Daniel Nordmann und Claudia Beutter

II

75

Employer Branding und Personalmarketing Andrea Müller Inhaltsverzeichnis 5.1

Konzept des Personalmarketing – 76

5.1.1

Begriffsklärungen und Definition – 76

5.2

Handlungsfelder des Personalmarketing – 77

5.2.1

 andlungsfeld 1: Ermittlung des Personalbedarfs, H Marktsegmentierung, Marktforschung – 78 Handlungsfeld 2: Definition des Angebots, Aufbau der Employer Brand, Produktentwicklung – 79 Handlungsfeld 3: Arbeitsmarktauftritt, Rekrutierung, Selektion – 80 Handlungsfeld 4: Controlling, Employee Relationship Management – 81

5.2.2 5.2.3 5.2.4

5.3

Employer Branding – 83

5.3.1 5.3.2 5.3.3

 efinition und historische Verortung – 83 D Employer Branding als Prozess und Ergebnis – 84 Ziele des Employer Branding: EVP und Employer of Choice – 85

5.4

Fortlaufende Herausforderungen für die Praxis – 86 Literatur – 87

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_5

5

76

5

A. Müller

Die Bedeutung der Arbeitgeberattraktivität hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Die Megatrends Demografie, Technologisierung und Digitalisierung sowie der Wertewandel der Generationen erfordern von HRM-Verantwortlichen schon länger ein Umdenken, welches Mitarbeitende und deren Bedürfnisse immer stärker adressiert. Aus einem Arbeitgebermarkt wurde ein Arbeitnehmermarkt. Die passenden Mitarbeitenden zu gewinnen und an das Unternehmen zu binden ist zu einem erfolgskritischen Faktor geworden. Ein wohlüberlegtes Personalmarketing sollte daher die Rekrutierungsaktivitäten eines Unternehmens ergänzen. Um als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden, kann die konsequente Investition in und Arbeit an der eigenen Arbeitgebermarke hilfreich sein. Der Aufbau einer eigenen Arbeitgebermarke ergibt allerdings nur Sinn, wenn das Employer Branding konzeptionell in ein Personalmarketing eingebunden ist. In diesem Kapitel werden daher zunächst die zentralen Konzepte im Zusammenhang mit Personalmarketing und Employer Branding vorgestellt und in ihrer Beziehung zueinander verdeutlicht, um so die Grundlagen für eine konzeptionelle Umsetzung aufzuzeigen. Auch wenn das Themenfeld originär stark aus dem Denken des Marketings heraus etabliert wurde, greifen hier Marketing- und Psychologiewissen ineinander.

5.1 

Konzept des Personalmarketing

Zunächst werden zentrale Begriffe und Definitionen eingeführt, um die konzeptionelle Grundlagen für das Personalmarketing darzulegen. 5.1.1 

Begriffsklärungen und Definition

In der Literatur wird Personalmarketing oft mit Rekrutierung bzw. Personalbeschaffung gleichgesetzt. In betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern zum Personalmanagement (z. B. Stock-Homburg & Groß, 2019) wird deutlich, dass beim Personalmarketing eine begriffliche Affinität zu traditionellen Marketingkonzepten besteht, ebenso sind die verwendeten Konzepte und Instrumentarien sehr ähnlich und weiterstgehend identisch (Felser, 2010). Deutlich wird auch, dass Personalmarketing primär ein Anwendungsfeld für wissenschaftliche Erkenntnisse und weniger ein eigenständiges Forschungsgebiet ist (Kanning, 2017). Beck (2012) stellt drei Auffassungsebenen des Personalmarketing fest und unterscheidet: 55 Personalmarketing im engeren Sinn als operatives Instrument zur Gewinnung von neuen Mitarbeitenden, 55 Personalmarketing im erweiterten Sinn als operatives Instrument zur Bindung, Motivation und Entwicklung von bereits vorhandenen Mitarbeitenden und Gewinnung von neuen, geeigneten Mitarbeitenden, 55 Personalmarketing in weitesten Sinn als Denk- und Handlungskonzept zur konsequenten Umsetzung des Marketingdenkens im Human Resource Management.

77 Employer Branding und Personalmarketing

Definition Im folgenden Kapitel wird Personalmarketing als Denk- und Handlungskonzept definiert. Personalmarketing umfasst demnach alle Maßnahmen zur dauerhaften Gewinnung von Mitarbeitenden, wobei zwischen internem Personalmarketing  – der Bindung und ­Motivation der bestehenden Mitarbeitenden – und externem Personalmarketing – der Anziehung und Gewinnung neuer Bewerber – unterschieden wird.

Die Auffassung von Personalmarketing in diesem erweiterten Sinn ermöglicht ein konzeptionelles und strategisches Handeln sowie die Abstimmung mit anderen Aufgaben- und Funktionsbereichen innerhalb des Human Resource Managements wie dem Kompetenzmanagement, der Personalentwicklung und Organisationskulturgestaltung. Personalmarketing ist eine betriebliche Querschnittsfunktion. Um die verschieden Handlungsfelder des Personalmarketing zu verdeutlichen, wird nachfolgend ein Modell vorgestellt.

5.2 

Handlungsfelder des Personalmarketing

Das Personalmarketing-Modell nach Meyer-Ferreira (2015) hat den Anspruch, einerseits die externe und interne Positionierung eines Unternehmens für Mitarbeitende in Übereinstimmung mit der strategischen Ausrichtung des Unternehmens abzubilden und andererseits eine Grundlage für das Ableiten entsprechender operative Maßnahmen für das Personalmarketing zu liefern. Dabei unterteilt das Modell Personalmarketing in vier Handlungsfelder (siehe . Abb.  5.1). Auf diese vier Handlungsfelder soll nachfolgend eingegangen werden.  

Ermittlung Personalbedarf Marktsegmen erung

HR-Marke ng-Controlling Employee Rela onship Management

HR-Strategie

Defini on des Angebots Auau Employer Brand Produktentwicklung

Arbeitsmarktau ri Rekru erung Selek on ..      Abb. 5.1  Personalmarketing-Modell. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Meyer-Ferreira, 2015, S. 84)

5

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A. Müller

5.2.1 

5

 andlungsfeld 1: Ermittlung des Personalbedarfs, H Marktsegmentierung, Marktforschung

Im ersten Handlungsfeld stehen die Fragen der Marktanalyse, insbesondere der Arbeitsmarkt- und Personalforschung, im Zentrum. Die Personalforschung beinhaltet die strategische Personalbedarfsplanung und das Ermitteln des quantitativen und qualitativen Personalbedarfs, abgeleitet aus der Unternehmensstrategie (zur Personalbedarfsplanung und Personalbedarfsanalyse siehe z.  B.  Kanning, 2017; Stock-­ Homburg & Groß, 2019). Grundlage ist eine prospektive, strategische Personalplanung mit dem Ziel, Mitarbeitende mit den richtigen Kompetenzen in der richtigen Menge zur richtigen Zeit am richtigen Ort einsatzbereit zur Verfügung zu haben (Meyer-­Ferreira, 2015). Hierdurch können Entwicklungen im Vorfeld antizipiert werden. Eine Reihe von Kennzahlen dient dabei der Beobachtung der Entwicklung des aktuellen Personalbestandes. Zu diesen Kennzahlen gehören beispielsweise: Anzahl der Mitarbeitenden, Altersstrukturanalyse, Krankenstand, Fluktuation, Arbeitszufriedenheit, im Unternehmen vorhandene Kompetenzen. Stellt man beispielsweise fest, dass zukünftig erfolgskritische Kompetenzen und Mitarbeitendenprofile bereits im Unternehmen vorhanden sind, dann rücken Maßnahmen der Personalentwicklung und Bindung der aktuellen Mitarbeitenden in den Vordergrund. Gleiches ist möglich, wenn die Untersuchung des Arbeitsmarkts ergeben hat, dass etwa ein Mangel an Fachkräften besteht. Auch hier rückt der interne Arbeitsmarkt, rücken die Bedürfnisse und Entwicklungspotenziale der aktuellen Mitarbeitenden in den Vordergrund. Aufgabe der Marktforschung ist es jedoch, primär den externen Arbeitsmarkt zu analysieren. Dabei interessieren Daten etwa zur gegenwärtigen und zukünftigen ­Bevölkerungsstruktur, Migrationsbewegungen, Kennzahlen zu Arbeitslosigkeit und Bildungsabschlüssen sowie rechtliche Rahmenbedingungen. Dazu gehören auch die Analyse der Attraktivität von Konkurrenzunternehmen und -organisationen und die Analyse des Branchen-, Unternehmens- und Arbeitgeberimages. Unterstützend dafür kann es sein, Einträge auf Arbeitgeberplattformen wie „kununu“ oder „glassdoor“ zu analysieren. Marktforschung ist zudem die bewusste Auseinandersetzung mit den Zielgruppen der potenziellen Mitarbeitenden und das Erforschen der Bedürfnisse potenzieller Mitarbeitenden. Hierzu hat sich eine Reihe von Studien etabliert, welche in regelmäßigen Zeitabständen den Arbeitsmarkt und das Verhalten von Stellensuchenden (vgl. z. B. Jobclouds) sowie die Präferenzen von Studienabgänger:innen und Stellensuchenden (vgl. z. B. Universum) erheben. Die Arbeitsmarktforschung dient dazu, das Bewerbungsverhalten und die Mediennutzung von potenziellen Mitarbeitenden zu analysieren. Daten aus Studien helfen, die Zielgruppe der potenziellen Mitarbeitenden mit ihren Eigenheiten, Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und Präferenzen zu verstehen. Die Forschung zur Präferenzstruktur von Arbeitnehmenden hinsichtlich der Attraktivität von Arbeitsplatzmerkmalen hat eine lange Tradition (Scheidegger & Müller, 2017). Diese Studien zeigen einerseits einheitliche Präferenzstrukturen, indem ein hoher Konsens bezüglich der Bedeutung der Art der Tätigkeit (z. B. ganzheitliche und abwechslungsreiche, fachlich herausfordernde Aufgabe), des Gehalts (ideal im Branchendurchschnitt) und des Verhältnisses zu Arbeitskollegen und direk-

79 Employer Branding und Personalmarketing

ten Vorgesetzen besteht. Andererseits zeigen sich Differenzierungen, sofern man einzelne Gruppierungen näher untersucht. So sind Karrieremöglichkeiten insbesondere in jüngeren Jahren besonders bedeutsam. Interessant in Bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten ist, dass Studienteilnehmende nicht primär einen vertikalen Aufstieg fokussieren, sondern oftmals horizontale Veränderungen (z. B. Wechsel des Aufgabenbereichs, Verantwortungszunahme auf derselben Hierarchiestufe) präferieren. Auch zeigen sich Bildungsunterschiede, indem insbesondere untere Bildungsschichten die Arbeitsplatzsicherheit hoch gewichten. Diese Kenntnisse können für die Marktsegmentierung genutzt werden und dienen einer differenzierten Ansprache potenzieller Mitarbeitenden. 5.2.2 

 andlungsfeld 2: Definition des Angebots, Aufbau der H Employer Brand, Produktentwicklung

Im Handlungsfeld 2 werden die Erkenntnisse aus Personalbedarfsplanung, Personalund Arbeitsmarktforschung den Möglichkeiten des Unternehmens gegenübergestellt. Jedes Unternehmen hat dabei unveränderbare Merkmale wie Standort, Unternehmensgröße, Branche. Neben diesen unveränderbaren Merkmalen besitzt jedes Unternehmen einen gewissen Spielraum, um sich den Erwartungen und Bedürfnissen der aktuellen und potenziellen Mitarbeitenden anzupassen. Hier gilt es festzulegen, wie die Ausgestaltung des Angebotes an die Mitarbeitenden erfolgt. Welches Angebot hinsichtlich der Präferenzen der Zielgruppe möchte ein Unternehmen machen? Häufig findet sich dazu der Begriff des „Total Reward“, der alle HR-­ Instrumente umfasst, die ein Unternehmen einsetzen kann, um Mitarbeitende zu gewinnen, zu motivieren und zu halten. Dazu gehören Angebote für die Ausgestaltung der Arbeitstätigkeit selbst sowie Entwicklungsmöglichkeiten und Leistungen rund um den Arbeitsplatz wie die Entlohnung, besondere Benefits und Nebenleistungen, die Arbeitszeit sowie Unternehmenskultur und -image. Alle Elemente, die in der Beziehung zwischen dem Unternehmen und seinen Mitarbeitenden eine Rolle spielen und zur Attraktivität für die Mitarbeitenden beitragen, sind dabei einzubeziehen. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels und des zunehmenden Fachkräftemangels erkannten immer mehr Unternehmen den Wert eines positiven Unternehmensimages und einer wiedererkennbaren Arbeitgebermarke (Felser, 2010). Der Aufbau einer attraktiven Arbeitgebermarke wurde daher für viele Unternehmen zum primären Ziel des Personalmarketing und lässt sich unter dem Begriff des Employer Branding subsumieren. Weiter unten wird darauf explizit eingegangen. Im Handlungsfeld 2 erfolgt der Brückenschlag von den Erkenntnissen aus der Arbeitsmarkt- und Personalforschung zur Definition und Gestaltung von Angeboten hinsichtlich attraktiver Arbeitsbedingungen bis hin zur Ausgestaltung des Angebotes der einzelnen Stelle. Die ist wiederum ein originär psychologisches Gebiet. Die Erkenntnisse aus Personalbedarfsplanung, Marktforschung und Entwicklung des (Job-)Angebots werden schließlich in einer Stellenbeschreibung mit entsprechendem Anforderungsprofil konkretisiert. Die Stellenbeschreibung fasst in der Regel die Tätigkeiten, Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Rahmenbedingungen der vakanten Stelle zusammen. Das Anforderungsprofil beschreibt die personenrelevanten

5

80

5

A. Müller

Voraussetzungen zur Besetzung der Stelle (Nerdinger et al., 2019). Mittels einer Anforderungsanalyse gilt es, die qualitative Personalbedarfsplanung zu konkretisieren. Für das Personalmarketing ist die Anforderungsanalyse eine wichtige Basis, da sie aufzeigt, welche Zielgruppen angesprochen werden müssen und wie die Segmentierung vorgenommen werden kann. Erst mittels einer Anforderungsanalyse kann ermittelt werden, welche Kompetenzen im Personalauswahlverfahren untersucht werden sollen. Für die Anforderungsanalyse unterscheidet Schuler (2014) drei Vorgehensweisen: (1) die erfahrungsgeleitet-intuitive, (2) die arbeitsplatzanalytisch-­ empirische und (3) die personenbezogen-empirische Methode. Kanning (2017, Kap. 4, S. 32) hält fest: „Trotz dieser wichtigen Funktion wird in der Praxis leider noch sehr oft auf die Durchführung von Anforderungsanalysen verzichtet. Die Verantwortlichen vertrauen vielmehr darauf, dass sie schon wissen, welche Personen für die vakante Stelle benötigt werden. Zudem glauben sie fest daran, dass sie aufgrund ihrer besonderen Menschenkenntnis oder Berufserfahrung einen guten Bewerber quasi von allein erkennen.“ 5.2.3 

 andlungsfeld 3: Arbeitsmarktauftritt, Rekrutierung, H Selektion

Mit den nun vorliegenden Erkenntnissen kann der Auftritt am Arbeitsmarkt erfolgen. Die Ansprache potenzieller Bewerber:innen erfolgt meist auf der Basis einer ausformulierten Stellenanzeige. Jedoch wird diese bzw. werden die Inhalte auf ­unterschiedlichen Kanälen kommuniziert – dies abgestimmt auf die Bedürfnisse der Zielgruppe, den Ergebnissen der Marktforschung folgend. In den vergangenen Jahren hat sich die Karrierehomepage als unerlässlicher Kommunikationskanal herauskristallisiert sowie ein zielgruppenadäquater Mix an Social-­Media-­Kanälen bewährt (Buckmann, 2016). Des Weiteren stehen auch die sogenannten klassischen Rekrutierungskanäle zur Verfügung, wie Stellenanzeigen in Tageszeitungen und Fachjournalen, Auftritte auf Messen und spezielle Informationsveranstaltungen (z. B. Karrieretag an Hochschulen), Praktika oder Tage der offenen Tür. Thielsch et al. (2021) haben klassische und neue digitale Methoden des Rekrutierens miteinander verglichen. Demnach bevorzugt die Mehrheit der Befragten Stellenanzeigen in Zeitungen, auf Unternehmenswebsites, in Online-Jobportalen sowie persönliche Kontakte. Maßnahmen über soziale Medien wie Stellenanzeigen in Online-Communities, auf Xing, LinkedIn, Facebook, YouTube, Instagram, Twitter werden weniger häufig genutzt und schlechter bewertet. Dem Wunsch nach persönlicher Ansprache, welchen verschiedene Studien belegen, begegnen immer mehr Unternehmen damit, dass sie über kurze Videos einen realen Einblick in ihre Unternehmenswelt bieten (Buckmann, 2016). Untersuchungen zur Theorie des Realistic Job Preview stellen Auswirkungen von realitätskonformen, authentischen Darstellungen der Arbeitsplatz- und Arbeitsgebermerkmal einer eher am Personalmarketing orientierten Hervorhebung von positiven Merkmalen gegenüber. Earnest et  al. (2011) konnten in einer Metaanalyse belegen, dass die Anwendung des Realistic Job Preview die Bindung der Mitarbeitenden erhöht, und begründen dies mit einer höheren Zufriedenheit in den ersten Monaten der Anstellung und dem Ausbleiben überhöhter Erwartungen.

81 Employer Branding und Personalmarketing

Eine weitere, sehr effektive Rekrutierungsmethode sind Mitarbeitendenempfehlungen. Ist der Rekrutierungsprozess einmal abgeschlossen, lässt sich eine klare Tendenz zugunsten einer nachhaltigen Anstellung anhand einer Mitarbeiterempfehlung erkennen. Neben einer hohen Arbeitszufriedenheit zeigen die so gewonnen Mitarbeitenden auch eine hohe Bindung und Motivation (Bloemer, 2010). Der Begriff „Cultural Fit“ beschreibt, wie eine Mitarbeiterin mit ihren individuellen Werten, Einstellungen und Vorlieben zu der jeweiligen Unternehmenskultur passt. Eine hohe und durch die Empfehlung unterstützte Passung erleichtert die erfolgreiche Integration des Bewerbers und hat eine hohe Identifikation mit dem Unternehmen zur Folge (Kristof-Brown et al., 2005). Die Anforderungsanalyse hat ergeben, welche Kompetenzen in Rekrutierung und Selektion überprüft werden sollen. Danach entscheidet sich auch, welche Auswahlverfahren eingesetzt werden. Dies hat Konsequenzen für die Sichtung der Bewerbungsunterlagen, für die Fragen im Einstellungsinterview und die Auswahl von Testverfahren. Detaillierte Ausführungen dazu finden sich in 7 Kap. 6 „Kompetenzund Potenzialdiagnostik in Selektionsprozessen“ dieses Buches. Interessant ist hier noch die Unterteilung bezüglich der zeitlichen Verfügbarkeit von Informationen über die vakante Stelle bzw. das Unternehmen für Interessierte. Highhouse et al. (2007) unterschieden hierzu symbolische Merkmale bestehend aus Fakten des Unternehmens wie Branche, Größe und Standort und Merkmale des Unternehmens wie Bekanntheit, Image, Reputation, die öffentlich wahrnehmbar sind. Diese Merkmale sind entweder bekannt oder können leicht recherchiert werden. Sie sind daher früh im Bewerbungsprozess verfügbar. Eine weitere Gruppe bilden instrumentelle Merkmale des Unternehmens. Dies sind etwa die Konditionen des Arbeitsvertrags, Vergütung, Regelungen zu Arbeitszeit und Arbeitsort, Urlaubsanspruch sowie die im Unternehmen gelebten Werte und andere subjektive Faktoren der Arbeitgeberattraktivität wie die Ausgestaltung der Arbeitsaufgabe, Entwicklungsmöglichkeiten, Karrierechancen und die Unternehmenskultur. Informationen darüber sind in der Regel nicht öffentlich bekannt und erst gegen Ende des Bewerbungsprozesses einschätzbar. Teils werden sie durch Aussagen im Bewerbungsprozess kommuniziert, konkret sind sie erst im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erfahrbar. Symbolische Merkmale bieten Mitarbeitenden eine Identifikationsmöglichkeit durch die Zugehörigkeit zu einem Unternehmen und damit eine Möglichkeit, den Selbstwert zu erhöhen (vgl. Social Identity Theorie, Tajfel, 1982). Instrumentelle Merkmale bieten den Mitarbeitenden einen konkreten Nutzen, z.  B. materielle Belohnungen, und sind bedeutsam für Arbeitszufriedenheit und Motivation. Das bedeutet, Unternehmen müssen eine Möglichkeit finden, diese spät erfahrbaren Merkmale überzeugend und wirksam zu kommunizieren.  

5.2.4 

 andlungsfeld 4: Controlling, Employee Relationship H Management

Dem vierten Handlungsfeld ist einerseits das Controlling zugeordnet, um für die durchgeführten Maßnahmen im Rahmen des Personalmarketing eine Kostenanalyse und Erfolgskontrolle sowie Evaluation vorzunehmen. Andererseits ist hier das Employee Relationship Management zugeordnet, was einen eher technisch-­operativen

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A. Müller

Aspekt beinhaltet, aber auch den wichtigen Aspekt des internen Personalmarketing und die Bedürfnisse sowie Zufriedenheit der aktuellen Mitarbeitenden abdecken soll. Ein wichtiges Instrument des internen Personalmarketing sind Maßnahmen der Personalentwicklung, die ein wesentliches Attraktivitätsmerkmal darstellen. Gerade KMUs sind hier gefordert und können mit einem geregelten Prozess die Zufriedenheit ihrer Mitarbeitenden positiv beeinflussen (Müller et al., 2011). Weitere Instrumente des internen Personalmarketing sind Anreizsysteme, Karriere- und Aufstiegsmöglichkeiten und Maßnahmen zur Pflege der Unternehmenskultur. Entscheidend ist hier, dass sich das nach außen kommunizierte Bild des Unternehmens und das Bild, welches die Mitarbeitenden vom Unternehmen haben, entsprechen (Felser, 2010). Das wachsende Bewusstsein dafür, dass die nachhaltige Gestaltung der Beziehungen zu den Mitarbeitenden nicht mit der erfolgreichen Rekrutierung abgeschlossen ist, sondern ein professionelles Beziehungsmanagement erfordert, spiegelt sich in neueren Veröffentlichungen zum Thema Personalmarketing und insbesondere in der Beachtung der Candidate Experience und der Employee Experience wider. Employee Experience kann verstanden werden als die Kombination zahlreicher Elemente, die das Arbeitserlebnis ausmachen. Vom Vorstellungsgespräch über Onboarding-­Prozesse, tägliche To-Dos und Routinen bis hin zum abschließenden Gespräch: All diese und noch mehr Faktoren charakterisieren die Employee Experience, weil sie sich unmittelbar und nachhaltig auf die Unternehmenskultur auswirken (King, 2016; siehe auch 7 Abschn. 2.1.2). Candidate Experience bezeichnet nach Kootz (2014) den Gesamteindruck, den ein potenzieller Bewerber oder eine potenzielle Bewerberin im Rahmen des Rekrutierungsprozesses vom potenziellen Arbeitgeber erhalten. Es geht dabei um das individuelle Erleben in einem Bewerbungs- und Auswahlprozess an allen direkten und indirekten Kontaktpunkten mit dem Unternehmen. Als Candidate Experience Management wird das aktive Gestalten aller Kontaktpunkte des Bewerbers oder der Bewerberin (Candidate Touchpoints) mit dem Unternehmen bezeichnet. Ziel ist es, einen positiven Gesamteindruck zu hinterlassen. Aus Sicht der Kandidat:innen als Kund:innen eines Unternehmens werden Menschen und Prozesse schrittweise analysiert und interpretiert. Im Mittelpunkt steht das Erleben der Kandidat:innen. Weiterhin wird es mit der Sicht von außen möglich zu verstehen, welche tatsächlichen Erwartungen an Rekrutierungsprozesse bestehen und wie diese am besten erfüllt werden können. Damit wird die Verknüpfung zur Evaluation und zum Controlling bereits deutlich. Employee Relationship Management kann auch als interne Marktforschung angesehen werden. Neben der Analyse von Fehlzeiten und Fluktuationen der aktuellen Mitarbeitenden und regelmäßigen Mitarbeitendenbefragungen sind auch Informationen aus Austrittsinterviews sehr hilfreich. Für das Controlling von Maßnahmen des Personalmarketing dienen verschiedene Kennzahlen, die den Arbeitsmarktauftritt überprüfen, wie Bekanntheit, Beliebtheit, Sympathie, Einstellung gegenüber dem Unternehmen, die Position in Arbeitgeberrankings. Weitere Kennzahlen betreffen die Analyse der Qualität und Quantität der eingegangenen Bewerbungen pro Bewerbungskanal, Aufrufe von Online-Medien, Reaktionen in sozialen Medien, tatsächliche Rekrutierungskosten und die Wirkung der Maßnahmen dahingehend, ob die gewünschten Zielgruppen erreicht werden konnten und deren Wünsche getroffen wurden.  

83 Employer Branding und Personalmarketing

Abschließend sei hier noch erwähnt, dass sich in der Literatur ähnliche Modelle wie das hier zugrunde gelegte finden, die Personalmarketing als umfassenden Prozess verstehen (vgl. etwa Kanning, 2017 oder Personalmarketingzyklus der DGFP, 2006). Hintergrundinformation: Personalmarketing 2030 Mittels einer Delphi-Studie zeigen Müller et al. (2019) wesentliche Herausforderungen für das Personalmarketing im Jahr 2030 auf. In der Studie wurden die Erwartungen von 63 Personalmarketing-­Expert:innen dazu, wie sich das Personalmarketing bis zum Jahr 2030 entwickeln könnte, erhoben. Nach Einschätzung der Expert:innen wird das Personalmarketing strategisch bedeutsamer und anspruchsvoller. Erfolgskritische Zielgruppen müssen mit maßgeschneiderten Angeboten angesprochen werden. Wichtiger werden auch eine attraktive Unternehmenskultur und die Schaffung einer authentischen und stimmigen Arbeitgebermarke. Die Nutzung von automatisierten Software-Tools wird insbesondere für den Rekrutierungsprozess als noch relevanter eingeschätzt, wobei das vollständige Ersetzen des persönlichen Kontakts nicht erwartet wird. Zu ähnlichen Ergebnisse kommt eine Interview-Studie von Maheshwari et al. (2017), bei der HR-Verantwortliche die zukünftige Bedeutung von Personalmarketing als eine strategische Aufgabe bezeichnen.

5.3 

Employer Branding

Das primäre Ziel des Personalmarketing besteht für Unternehmen darin, eine attraktive Arbeitgebermarke zu schaffen. Die Arbeitgebermarke (Employer Brand) ist ein zentrales Element des Personalmarketing. Der Begriff „Employer Branding“ wurde seit seiner Einführung durch Ambler und Barrow (1996) vielfältig definiert und verwendet. Er bezieht sich auf alle Bemühungen eines Arbeitgebers, sich als besonders attraktiv zu präsentieren. Dabei geht es im Gegensatz zum Personalmarketing nicht um eine konkrete Stelle, die akut zu besetzen wäre, sondern um ein dauerhaft positives Image als Arbeitgeber. Im Vergleich zu konkreten Maßnahmen des Personalmarketing ist das Employer Branding langfristig und strategisch angelegt (Edwards, 2009). Je nach Perspektive steht das Employer Branding im Dienst des Personalmarketing oder aber das Personalmarketing im Dienst des Employer Branding. 5.3.1 

Definition und historische Verortung

Ambler und Barrow (1996) orientieren sich für ihre Definition von "Employer Brand" stark am Markenverständnis und stellen den Nutzen ins Zentrum. Definition Die Arbeitgebermarke wird definiert als „the package of functional, economic and psychological benefits provided by employment, and identified with the employing company“ (Ambler & Barrow, 1996, S. 187).

Für die häufig zitierte DEBA (Deutsche Employer Branding Akademie, 2006) ist Employer Branding die identitätsbasierte, intern wie extern wirksame Entwicklung und Positionierung eines Unternehmens als glaubwürdiger und attraktiver Arbeitgeber. In den letzten Jahren haben viele Unternehmen erheblichen Aufwand in den Aufbau ihrer Employer Brand investiert, mit der die spezifischen Attraktivitätsmerkmale

5

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A. Müller

«The Employer Brand», Ambler & Barrow, Journal of Brand Management, 1996

Employer Branding ist mehr als Personalmarketing (EVP, Cultural-Fit), ab ca. 2012

«War for Talents», McKinsey, 1997

Steigende Medienpräsenz

5 Employer Branding als Teil des strategischen HRM, ab ca. 2005 Operative Hektik

Vom Employer Branding zu Employer Reputation: Man kann Employer Branding nicht mehr als Hobby nebenher betreiben

..      Abb. 5.2  Geschichte und Entwicklung des Employer Branding

des eigenen Unternehmens kommuniziert werden. Beim Employer Branding handelt es sich um einen mittel- bis langfristigen Prozess zur Darstellung der Arbeitgebermarke, der die Perspektiven der Geschäftsleitung, der derzeitigen Mitarbeitenden und der extern gesuchten Zielgruppen einbezieht (Backhaus & Tikoo, 2004). . Abb. 5.2. stellt das Verständnis zum Employer Branding seit der erstmaligen Definition dar.  

5.3.2 

Employer Branding als Prozess und Ergebnis

Diverse Studien unterstützen die Bedeutsamkeit des Aufbaus einer Employer Brand. Die Ergebnisse von Tanwar und Prasad (2016) zeigen, dass die Employer Brand ein wichtiger Prädiktor für die Arbeitszufriedenheit ist. Sie extrahieren sechs Dimensionen einer Employer Brand (Aus- und Weiterbildung, Ansehen, Organisationskultur und Ethik, soziale Verantwortung des Unternehmens, Work-Life-Balance und Diversität), die sich in ihrer Studie als kritische Prädiktoren für die Zufriedenheit erwiesen. Vergleichbar zum Personalmarketing ist auch das Employer Branding ein Prozess. Dieser ist gekennzeichnet durch die Planung, Durchführung und Evaluation von Maßnahmen zur Steigerung der Bekanntheit und Beliebtheit der Arbeitgebermarke. In der Literatur finden sich dafür unterschiedliche Modelle, die sich jedoch meist auf die drei Schritte Analyse, Intervention und Evaluation in abweichendem Detailliertheitsgrad zurückführen lassen (Immerschitt & Stumpf, 2019). In der Analysephase wird die Ist-Situation ermittelt, dafür werden die Arbeitgebereigenschaften, relevante Zielgruppen und Wettbewerber:innen analysiert (Trost, 2018). Im zweiten Schritt wird das Konzept der Arbeitgebermarke entwickelt und Maßnahmen zur Umsetzung geplant. Wichtig ist dabei, auf die Passung der Employer Brand zur Gesamtmarkenstrategie des Unternehmens zu achten. Zudem muss

85 Employer Branding und Personalmarketing

die Employer Brand zur Kultur des Unternehmens passen, um Authentizität zu gewährleisten. Die Maßnahmen zur Umsetzung gleichen dabei denen des Arbeitsmarktauftritts des Personalmarketing, ergänzt durch Imageanzeigen oder Arbeitgeberwettbewerbe, -siegel und -preise (z. B. Positionierung in Rankings). Im letzten Schritt, der Evaluation, werden die Maßnahmen hinsichtlich Kosten, Effizienz und Wirkung bewertet (Immerschitt & Stumpf, 2019). Kanning (2017) macht deutlich, dass aktuell sehr wenig Forschung zum Employer-­ Branding-­Prozess und dessen Wirkung vorliegt. 5.3.3 

Ziele des Employer Branding: EVP und Employer of Choice

Grundsätzlich erhoffen sich Unternehmen vom Employer Branding eine positive Wirkung sowohl nach innen als auch nach außen (Backhaus & Tikoo, 2004). Nach innen richtet sich das Employer Branding an die aktuellen Mitarbeitenden. Die Mitarbeitenden sollen eine positive emotionale Beziehung zu ihrem Arbeitgeber aufbauen, was eine positive Wirkung auf die Qualität ihrer Arbeit sowie die dauerhafte Bindung an den Arbeitgeber hat (Kanning, 2017). Ziel des Employer Branding ist es, eine gewisse Einzigartigkeit des Arbeitgebers zu schaffen und sich als attraktiver Employer of Choice, sprich als Arbeitgeber der Wahl, bei aktuellen und potenziellen Mitarbeitenden zu verankern. Ein erfolgreiches Employer Branding sollte daher unternehmensspezifische Merkmale besonders hervorheben. Von zentraler Bedeutung ist hierfür die sogenannte Employee Value Proposition (EVP), welche ein authentisches, relevantes und differenzierendes Nutzenversprechen der Employer Brand geben soll. Eine Arbeitgebereigenschaft (authentisch) wird nur Teil der EVP, wenn sie die Präferenzen der Zielgruppe (relevant) erfüllt, aber keine Stärke der Wettbewerber (differenzierend) darstellt (Trost, 2013). Mit einer EVP hebt ein Unternehmen gleichzeitig die eigenen Stärken hervor mit dem Ziel, dem Idealbild der Zielgruppe zu entsprechen. Die Positionierungsaussage einer EVP ist auch hinsichtlich ihrer Qualitäten als Treiber, Anker und Differenziator zu beurteilen. Der Treiber erteilt Auskunft über die künftige strategische Grundausrichtung eines Unternehmens als Arbeitgeber. Der Anker definiert die Kultur und die Werte des Unternehmens und zeigt auf, welche Mitarbeitenden zum Unternehmen passen. Der Differenziator hebt das Unternehmen von den Wettbewerbern ab und sorgt für erhöhte Aufmerksamkeit und Wiedererkennung auf dem Arbeitsmarkt (Kriegler, 2018). Mit einer EVP sind demnach die zukunftsweisenden, authentischen und differenzierenden Besonderheiten als Arbeitgeber so herauszuarbeiten, dass sie von der Zielgruppe erkannt und als attraktiv empfunden werden. Für das Festlegen der Inhalte einer EVP kann der in . Abb.  5.3 dargestellte Bezugsrahmen dienen. Dieser fasst die Vorschläge für eine Arbeitgeberpositionierung von Kriegler (2018) sowie Immerschitt und Stumpf (2019) und die dazugehörigen Leitfragen zusammen. Ein fundiertes Employer Branding steht nicht nur in einem direkten Wirkungszusammenhang mit der Mitarbeitergewinnung und -bindung, sondern ­ schafft auch Substanz in den Bereichen Unternehmenskultur, Unternehmensmarke sowie der Leistungsbereitschaft und dem Arbeitsergebnis der Mitarbeitenden.  

5

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A. Müller

Kultur

Werte Cultural Fit Welche Mitarbeitenden passen kulturell und persönlich zur Organisation?

5

UEP Was macht die Organisation als Arbeitgeber im Vergleich zum Wettbewerber besonders?

Employer Brand Positioning Statement Was zeichnet die Organisation als Arbeitgeber aus?

Ziel Welche Ziele will die Organisation durch Employer Branding erreichen?

Identität

Ziel

..      Abb. 5.3  Bezugsrahmen zu den Inhalten einer EVP

Als Schlussfolgerung ist festzustellen, dass die Arbeitgebermarke mit der EVP der zentrale Ausgangspunkt für die Rekrutierungsaktivitäten eines Unternehmens ist.

5.4 

Fortlaufende Herausforderungen für die Praxis

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Personalmarketing und Employer Branding für die Gewinnung und Bindung von qualifizierten Mitarbeitenden – unabhängig von der Unternehmensgröße  – zukünftig eine bedeutende Rolle spielen wird. Es gilt, die Positionierung eines Unternehmens im externen und internen Arbeitsmarkt aktiv zu gestalten. Personalmarketing und Employer Branding sind weitaus mehr als nur Marketing. Es geht nicht nur darum, ein Unternehmen als attraktiven Arbeitgeber zu vermarkten, sondern auch darum, die Grundlagen zu schaffen, ein solcher Arbeitgeber zu werden. Ein positives Arbeitgeberimage bei den Mitarbeitenden wird als Ursache für größere Arbeitszufriedenheit, größeres Commitment und eine geringere Bereitschaft, das Unternehmen zu verlassen, angesehen. Relevant für das Personalmarketing und Employer Branding sind zudem folgenden Trendprognosen, die es gilt im Blick zu behalten:

87 Employer Branding und Personalmarketing

z Personalmarketing und Employer Branding im HRM verankern und verzahnen

Personalmarketing, Personalauswahl und Personalentwicklung werden in vielen Unternehmen häufig durch unterschiedliche Personen oder sogar Abteilungen betreut. Hier wird zukünftig ein abgestimmter Prozess benötigt, um etwa Maßnahmen des Personalmarketing mit Eignungsfragen und in Entwicklungsperspektiven gezielt berücksichtigen zu können. Die Professionalisierung dieser Prozesse ist nach vielen Prognosen zu Veränderungen in der Arbeitswelt verstärkt notwendig, um auch in Zukunft unterschiedliche Fach- und Führungspositionen adäquat besetzen zu können (Kanning, 2017). z Die sich wandelnde Arbeitswelt berücksichtigen

In der heute agilen Arbeitswelt wandeln und erweitern sich berufliche Anforderungsprofile in kurzer Zeit. Dies gilt es in der Ansprache der Mitarbeitenden und im Auswahlprozess zu berücksichtigen. Durch unterschiedliche gesellschaftliche Veränderungen kommt es zu einer größeren Heterogenität in der Qualifikationsstruktur potenzieller Bewerber:innen – eine fortlaufende Analyse der relevanten Zielgruppen scheint unerlässlich. Ebenso gilt es, neue Zielgruppen zu aktivieren und zu erschließen. Diskutiert werden zudem ein Wertewandel bei stark nachgefragten Zielgruppen und sich verändernde Bedürfnisse. Hier gilt es, die Attraktoren und die EVP fortwährend zu überprüfen. z Die sich weiterentwickelnde Digitalisierung berücksichtigen

Durch die fortschreitende Digitalisierung stehen neue Möglichkeiten der Ansprache und auch für die Rekrutierung zur Verfügung. Hier gilt es, fortlaufend zu überprüfen, welche Formate und Instrumente, z. B. daten- und medienbasierte Möglichkeiten für die Rekrutierung oder Gamification als Ergänzung des internen Personalmarketing, nutzenstiftend sind.

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88

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89

Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl Patrick Boss Inhaltsverzeichnis 6.1

 arum es sich lohnt, in eine professionell W durchgeführte Personalauswahl zu investieren – 91

6.2

Anforderungen bestimmen – 93

6.2.1 6.2.2

 er Anforderungs-Ermittlungs-Dialog – 93 D Bestimmen des definitiven Anforderungsprofils – 94

6.3

Festlegen der Auswahlstrategie – 95

6.3.1 6.3.2

 rundüberlegungen zur Auswahlstrategie – 95 G Die Bedeutung der Messgenauigkeit und der Gültigkeit der eingesetzten eignungsdiagnostischen Verfahren – 96 Das Cockpit des Auswahlverfahrens: Die Anforderungs-­Übungs-­Matrix – 98

6.3.3

6.4

Vorauswahl – 100

6.4.1 6.4.2

S ichtung der Bewerbungsunterlagen – 100 Durchführung von selektiven Vortestungen – 101

6.5

Das Einstellungsinterview – 102

6.5.1 6.5.2

 spekte der Strukturierung von Einstellungsinterviews – 103 A Interviewführung und Fragetechnik – 105

6.6

 bungen: Präsentationen, Fallstudien, Simulationen Ü und Arbeitsproben – 107

6.6.1 6.6.2

 spekte bei der Übungsentwicklung – 107 A Einstufungsskalen zur Vereinheitlichung der Beobachtungen – 108

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_6

6

6.7

Entscheidungsfindung – 109

6.7.1 6.7.2 6.7.3

 as Resultate-Cockpit – 109 D Beurteilung des Potenzials – 111 Fällen des Schlussentscheides – 112

Literatur – 114

91 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

Jeden Tag werden im deutschsprachigen Raum tausende von Stellen neu besetzt. Entsprechend sind diese Prozesse gut eingespielt und laufen nach festen Regeln und Gewohnheiten ab. Da deren Güte jedoch kaum je systematisch erhoben wird, besteht kein Druck, diese zu hinterfragen und zu verbessern. Dabei belegen unzählige Studien, dass sich eine Erhöhung des Strukturierungsgrades von eignungsdiagnostischen Verfahren wie Interviews oder Übungen schlussendlich in einer höheren Produktivität der Mitarbeitenden niederschlägt. Und es gibt wohl kaum eine Unternehmung, welche hier nicht noch Verbesserungspotenzial aufweisen würde. Nachfolgend werden die Grundlagen einer professionell durchgeführten Personalauswahl dargestellt. Deren Grundpfeiler ist eine stellenbezogene Anforderungsanalyse, welche zu den zentralen verhaltensverankerten Anforderungskriterien führt. Dieser und alle nachfolgenden Schritte sind geprägt von einer systematischen und strukturierten Vorgehensweise. Ziel ist es, am Schluss den Einstellungsentscheid auf der Basis von zuverlässigen und aussagekräftigen Messwerten fällen zu können. Neben einer verbesserten Prognosegüte führt dies auch zu mehr Transparenz und Fairness, da sich die Entscheidung gut nachvollziehbar begründen lässt und alle Bewerbenden exakt dasselbe Prozedere durchlaufen haben und anhand derselben Kriterien beurteilt wurden. Diese Qualität ist nicht umsonst zu haben. So ist der zeitliche Aufwand im Vergleich zu einem Verfahren, welches größtenteils auf den Ergebnissen aus einem unstrukturierten Interview basiert, deutlich größer. Unter dem Strich zahlt es sich jedoch im wahrsten Sinne des Wortes aus und führt mittelfristig auch zu zufriedeneren und motivierteren Mitarbeitenden, welche den an sie gestellten Anforderungen vollumfänglich gewachsen sind.

6.1 

 arum es sich lohnt, in eine professionell durchgeführte W Personalauswahl zu investieren

Der unternehmerische Erfolg einer Unternehmung hängt direkt und maßgeblich mit der Leistung der darin beschäftigten Mitarbeitenden zusammen. Aus diesem Grund kann die Personalauswahl in den meisten Fällen als eine der wichtigsten Investitionen eines Unternehmens angesehen werden (Kanning, 2017). Dies ist auch bezüglich des Umfangs nicht zu unterschätzen: So kostet ein:e Mitarbeiter:in mit einem monatlichen Bruttosalär von 6500 CHF bei einer Verweildauer von 6 Jahren die Unternehmung ungefähr 1 Million Franken (inkl. Teamleitungskosten; nach Stirnemann, 2020). Dabei muss es doch erstaunen, dass eine solche Investition häufig unter Berücksichtigung von eher oberflächlichen, unsystematisch erhobenen Informationen getätigt wird. Es scheint die Überzeugung vorzuherrschen, dass die Entscheide auf der Basis einer in vielen Jahren ausgebildeten Menschenkenntnis schon genügend gut abgesichert sind. Vielen HR-Fachpersonen wird aber auch nicht genügend Zeit zur Verfügung stehen, die Personalauswahl nach den Regeln der Kunst durchzuführen. Zudem ist man sich wohl auch des Stellenwerts einer solchen Entscheidung nicht voll bewusst. Würde es sich nämlich um den Einkauf einer kostspieligen Maschine handeln, würde in jedem Fall ein ausführliches Pflichtenheft erstellt, in welches das Wissen der Produktionsmitarbeitenden zu den Anforderungen, eine Analyse zum aktuellen Stand der Technik, ein detaillierter Business Case etc. einfließen würden. Schließlich muss man ja aus einer Vielzahl von Fabrikaten mit ­unterschiedlichen

6

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6

P. Boss

Leistungsmerkmalen die richtige Wahl treffen. Nun, ganz ähnlich verhält es sich mit der Personalauswahl: Auch hier gilt es, die mannigfaltigen Anforderungen der Stelle mit den Merkmalen der Bewerbenden abzugleichen. Abgesehen davon, dass die Anforderungen oft nur rudimentär erhoben wurden, ist man sich kaum bewusst, wie groß die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit zwischen den Bewerbenden ausfallen können. Auch finanziell lohnt es sich, in eine professionelle Personalauswahl zu investieren: Anhand komplexer Formeln zur Berechnung des Nutzens lässt sich ableiten, dass schon allein mit dem Wechsel von einem unstrukturierten zu einem strukturierten Einstellungsinterview bei 15 Bewerbenden pro Stelle ein Produktivitätszuwachs von ca. 40 % erzielt werden kann (nach Herrnstein & Murray, 1994, aus Schuler, 2014). Ziel des Auswahlprozesses soll sein, die für die zu besetzende Stelle am besten geeignete Person zu finden. Dies ist selbstverständlich und klingt banal  – ist es aber nicht. Welche Anforderungen stellt die konkrete Berufsausübung an den/die Stelleninhaber:in? Und welche Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Eigenschaften (in der Folge als Kompetenzen zusammengefasst) werden benötigt, um diese Stellenanforderungen erfolgreich zu meistern? Und wie lässt sich zuverlässig feststellen, in welchem Ausmaß die Bewerbenden über diese Kompetenzen verfügen? Dass diese Thematik mit einer gewissen Komplexität einhergeht, zeigt sich im Umfang der einschlägigen Literatur: Kannings Buch Standards der Personaldiagnostik (2019a) umfasst 800, das Buch Das Einstellungsinterview von Schuler (2018) knapp 400 Seiten. Reglementarisch dargestellt ist sie in der DIN 33430 „Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik“ (DIN e. V., 2016). Wenn die „am besten geeignete Person“ gesucht wird, heißt dies nicht, dass es ausschließlich darum geht, die leistungsfähigste Person für das Unternehmen gewinnen zu können. Es geht um die Passung zwischen den Anforderungen der Stelle und den Fähigkeiten, Eigenschaften und Einstellungen einer Mitarbeiterin bzw. eines Mitarbeiters. Ist diese hoch, führt das neben einer hohen Leistungsfähigkeit auch zu Zufriedenheit und psychischer und physischer Gesundheit (Person-Environment-Fit-­ Modell; z. B. Reif & Spiess, 2018). Vor allem bei der Auswahl von Führungskräften kann ein Fehlentscheid weitreichende Folgen haben: Nicht nur der direkte wirtschaftliche Verlust durch entgangene oder fehlerhaft ausgeführte Aufträge, sondern auch eine schlechte Stimmung im Team, belastete und kranke Mitarbeitende, eine erhöhte Fluktuation oder eine Verringerung der Produktivität konnten in Zusammenhang mit überforderten, unfähigen oder persönlichkeitsauffälligen Führungskräften nachgewiesen werden (Management Derailment; Kanning, 2019b). Aber auch bei der Besetzung von Stellen ohne Führungsfunktion profitiert das Team von leistungsfähigen Kolleg:innen, welche zu einer Entlastung und zu einer guten Arbeitsstimmung beitragen. Nicht zuletzt werden qualifizierte Mitarbeiter:innen auch zu zufriedenen und treuen Kund:innen führen. Definition Kompetenz bezeichnet das Wissen, die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale, welche zur erfolgreichen Bearbeitung bzw. Lösung von Aufgaben im Arbeitskontext benötigt werden.

93 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

6.2 

Anforderungen bestimmen

Damit die Personalauswahl zielgerichtet erfolgen kann, muss im Vorfeld genau geklärt werden, über welche Kompetenzen ein:e Stelleninhaber:in verfügen muss, um die mit der Arbeitsstelle einhergehenden Anforderungen erfolgreich zu bewältigen. Das fachliche Wissen und die entsprechenden Fähigkeiten dürften sich in den meisten Fällen im Gespräch mit der zukünftig vorgesetzten Person oder einem/einer aktuellen Stelleninhaber:in noch relativ einfach und schnell klären lassen. Ganz anders verhält es sich mit den geforderten Persönlichkeitsmerkmalen und Einstellungen: Hier reicht es nicht aus, sich an den Schreibtisch zu setzen, die Stellenbeschreibung zu lesen und diese dann daraus abzuleiten. Das Ergebnis dieses – zugegebenermaßen höchst effizienten – Vorgehens wird nämlich eine ungewichtete Liste sein, welche sich zu einem guten Teil aus nichtssagenden Eigenschaftsbeschreibungen wie „Teamfähigkeit“, „Flexibilität“ oder „Zuverlässigkeit“ zusammensetzt. Damit soll nicht ausgesagt werden, dass beispielsweise Flexibilität in einem bestimmten Job nicht auch eine erfolgsrelevante Eigenschaft darstellen kann, sondern, dass der Begriff nichts darüber aussagt, was Flexibilität im Kontext der zu besetzenden Stelle konkret bedeutet. Heißt es, dass viel gereist werden muss? Oder dass man seine Vorgehensweisen laufend an neuen Vorgaben auszurichten hat? Oder dass spontan Überstunden geleistet werden müssen? Auch kann anhand dieses Vorgehens keine Aussage zur Wichtigkeit der betreffenden Eigenschaft abgeleitet werden: Ist „Teamfähigkeit“ einfach nur "nice to have", weil im betreffenden Team ein harmonisches Miteinander groß geschrieben wird? Oder ist es matchentscheidend, weil nur durch eine reibungslos funktionierende Teamkommunikation Fehler verhindert werden können? Eine solche verhaltensnahe Charakterisierung der erfolgsrelevanten Kompetenzen ist jedoch vonnöten, damit diese im Interview oder in einer Rollensimulation auch exakt und passgenau erfasst werden können. Und da sich diese nicht ad hoc aus dem Hut zaubern lassen, muss dazu systematisch vorgegangen und eine Anforderungsanalyse durchgeführt werden. 6.2.1 

Der Anforderungs-Ermittlungs-Dialog

In der Fachliteratur werden unterschiedliche Ansätze zur Anforderungsanalyse beschrieben (z. B. Kanning, 2019a). Einige davon sind äußerst zeitaufwendig und im Zusammenhang mit der einmaligen Besetzung einer Stelle nicht praxistauglich. Ein Vorgehen, welches einerseits nach einer festgelegten Struktur abläuft, andererseits aber auch mit einem vernünftig hohen zeitlichen Aufwand umsetzbar ist, ist der Anforderungs-Ermittlungs-Dialog (AED; Jetter, 2008). Dabei werden in einem Workshop, an welchem idealerweise neben der HR-­ Fachperson ein:e aktuelle:r Stelleninhaber:in und die vorgesetzte Person teilnehmen, in einem ersten Schritt erfolgsentscheidende Situationen gesammelt, welche bei der Ausübung der zu besetzenden Stelle auftreten werden. Jetter (2008, S. 125) führt folgende Fragen auf, deren Beantwortung zu den gesuchten Situationen führt: 55 Durch welche Tätigkeiten entsteht die größte Wertschöpfung in dieser Funktion? 55 Welche dieser Tätigkeiten bzw. Arbeitssituationen stellen eine besondere Herausforderung (Schwierigkeit, Bedeutung etc.) dar? 55 In welchen Situationen unterscheiden sich erfolgreiche besonders von weniger erfolgreichen Stelleninhaber:innen?

6

94

P. Boss

6

..      Abb. 6.1  Der Anforderungs-Ermittlungs-Dialog

In einem zweiten Schritt werden für jede Situation die Anforderungskriterien abgeleitet, d. h., es wird gemeinsam entschieden, welche Fähigkeiten, Verhaltensweisen oder Eigenschaften zu deren erfolgreichen Bewältigung erforderlich sind. Dabei handelt es sich um Schlagworte, welche im dritten Schritt durch eine verhaltensnahe Definition beobachtbar gemacht werden. Später dient diese zudem dazu, die Äußerungen oder das Verhalten der Bewerbenden einzustufen. Im vierten Schritt erfolgt sodann die Relevanzeinstufung der einzelnen Anforderungskriterien. Den Abschluss bildet das Festlegen von Mindestanforderungen. In . Abb. 6.1 ist dieser Ablauf beispielhaft anhand der Stelle eines/einer Service-Desk-Mitarbeiter:in für die erfolgsentscheidende Situation der Erfassung des Kundenbedürfnisses dargestellt.  

6.2.2 

Bestimmen des definitiven Anforderungsprofils

Für die Durchführung des Anforderungs-Ermittlungs-Dialoges sollten je nach Vielfalt und Komplexität der Stellenanforderungen etwa 90 bis 120 Minuten eingeplant werden. Zu beachten gilt es, dass man sich nicht in den Details verliert  – es geht darum, die wichtigsten Anforderungen zu identifizieren und diese anhand konkreter Verhaltensbeispiele zu beschreiben. 8–12 Anforderungskriterien sollten in den allermeisten Fällen ausreichend sein. Wählt man mehr, werden diese in den meisten Fällen nicht mehr gut voneinander abgrenzbar sein, in dem Sinne, dass sie sich teilweise inhaltlich überlappen. So kann beispielsweise „Konfliktfähigkeit“ ein zentraler Aspekt von „Teamfähigkeit“ sein, sodass es ausreicht, nur letztere Kompetenz in das Anforderungsprofil aufzunehmen. Zudem kann man Gefahr laufen, zu viele nicht wirklich matchentscheidende Kriterien aufzunehmen und damit die Schlussentscheidung zu erschweren oder gar zu verwässern. Weiter muss berücksichtigt werden, dass das Zeitbudget bei der Durchführung der Einstellungsinterviews beschränkt ist.

95 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

So wird man nicht mehr als 4–5 Eignungsmerkmale vertieft, d. h. mit jeweils 2–3 Fragen, erfassen können. Entsprechend muss am Ende des Anforderungs-Ermittlungs-Dialoges auf der Grundlage der Relevanzeinstufungen eine Auswahl der definitiven Anforderungskriterien vorgenommen werden. Dabei gilt es, über den eigenen Schatten zu springen und sich von der Einstellung, „das sind in diesem Job doch alles wichtige Kompetenzen“, bewusst zu lösen und sich auf das wirklich Relevante zu fokussieren. Das definitive Anforderungsprofil, welches sich einerseits aus der Auflistung der erfolgskritischen Situationen, andererseits aus den verhaltensnah definierten Kriterien zusammensetzt, ist das Fundament des gesamten Auswahlverfahrens. Je solider – im Sinne von aussagekräftig – es ist, desto passgenauer können die später eingesetzten Verfahren darauf abgestimmt werden und desto fundierter und auch besser wird die abschließende Entscheidung ausfallen.

6.3 

Festlegen der Auswahlstrategie

Die Kapitelüberschrift lässt es schon erahnen: „One size fits all“ im Sinne von „Schreiben wir die Stelle aus, sichten die eingegangenen Bewerbungsunterlagen und führen dann unser vielfach bewährtes Einstellungsinterview durch“ ist bei einer professionell durchgeführten Personalauswahl kein erfolgversprechendes Vorgehen. Das liegt auch auf der Hand: Das Auswahlprozedere bei der Besetzung einer Führungsposition wird deutlich anders – und hoffentlich auch aufwendiger – ausfallen als das für die Stelle einer administrativen Hilfskraft. Insofern bestimmt das Anforderungsprofil die Ausgestaltung des Auswahlprozesses. 6.3.1 

Grundüberlegungen zur Auswahlstrategie

Welches Vorgehen für die im konkreten Fall zu besetzende Stelle gewählt werden soll, hängt neben der Anzahl und der Komplexität der zu erhebenden Anforderungen auch mit dem Anteil potenziell geeigneter Bewerbenden ab, welche sich auf die Stellenausschreibung melden. Um das nachvollziehen zu können, versetzen Sie sich in die Rolle eines Regisseurs: Wenn Sie 500 Statist:innen für eine Szene in einem Monumentalfilm suchen, reicht es aus, wenn Sie einen Aufruf in den sozialen Medien starten und das Datum und den Drehort bekannt geben. Eine spezifische Auswahl wird nicht benötigt, da alle diese Aufgabe erfüllen können werden. Wollen Sie jedoch die Figur des James Bond neu besetzen, werden Ihnen zahlreiche Schauspieler die Türe einrennen, nur ganz wenige davon würden jedoch in der Rolle des unverwüstlichen Agenten auch beim Publikum ankommen. Sie müssen demnach eine gezielte Suche starten und auch einige Castings durchführen, um schlussendlich die richtige Wahl treffen zu können. Die zwei hier angesprochenen Konzepte werden Basis- und Selektionsrate genannt. Erstere beschreibt den Anteil der Bewerbenden, welche grundsätzlich für die zu besetzende Stelle geeignet sind. Bei der Suche nach Statisten wäre sie 100 %, beim Bond-Darsteller wohl weniger als 5 %. Den Anteil derjenigen Bewerbenden, welcher schlussendlich eingestellt wird, wird Selektionsrate genannt. Nun könnten Sie sich die Aufgabe einfach machen und den Bond-Darsteller zufällig aus den eingegangenen Bewerbungen auswählen. Die Chance, eine gute Wahl zu treffen, entspräche dann

6

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der Basisrate und wäre demnach kleiner als 5 %. Mit dem Einsatz eines eignungsdiagnostischen Verfahrens – hier einem Casting – werden Sie versuchen, die Chance, den Publikumsliebling zu finden, deutlich zu erhöhen. Für die Praxis gilt nun entsprechend: Je niedriger die Basisrate und je höher die Selektionsrate, desto aussagekräftiger und damit auch aufwendiger muss die Personalauswahl durchgeführt werden. Konkret: Wenn man davon ausgehen kann, dass eine Mehrheit der Bewerbenden die wenig herausfordernden Stellenanforderungen erfüllen wird, reicht ein kurzes, strukturiertes Interview. Wenn es jedoch eine äußerst anspruchsvolle Stelle zu besetzen gilt, bei welcher nur ein kleiner Teil der Bewerbenden darin auch erfolgreich sein wird, muss ein mehrstufiges, strukturiertes Verfahren geplant und durchgeführt werden, um die Chance auf eine erfolgreiche Auswahl zu maximieren.

6 6.3.2 

 ie Bedeutung der Messgenauigkeit und der Gültigkeit D der eingesetzten eignungsdiagnostischen Verfahren

Eine professionell durchgeführte Personalauswahl ist unter anderem gekennzeichnet durch den Einsatz von Verfahren, welche eine gute Vorhersage der beruflichen Leistung ermöglichen. Anhand der sog. Gütekriterien lässt sich deren diesbezügliche Qualität beschreiben. Die wichtigsten sind die Objektivität, die Messgenauigkeit (Reliabilität) und die Gültigkeit (Validität), wobei Letztere von den beiden ersten abhängig ist: So kann mit einem Verfahren, welches eine bestimmte Eigenschaft nicht genau erfasst – also weder objektiv noch reliabel ist –, auch keine zuverlässige Aussage zur späteren beruflichen Leistung getroffen werden. Definition 55 Gütekriterien psychologischer Messmethoden –– Objektivität: Unabhängigkeit der Erfassung des Ausprägungsgrades des Merkmals von der durchführenden Person oder der Situation. –– Reliabilität: Genauigkeit und Stabilität der Erfassung bzw. der Messung eines Merkmals. Sie wird als Korrelationskoeffizient ausgewiesen, wobei Werte ab .80 als gut gelten. –– Prognostische Validität: Genauigkeit der Vorhersage des zukünftigen Verhaltens. Sie wird anhand des Zusammenhanges zwischen der aktuellen Messung und der Leistungseinschätzung nach einer bestimmten Zeit der Tätigkeitsausübung berechnet. Richtwerte: multimodale Potenzialanalysen .60; Intelligenztest .50; strukturierte Interviews .40; Gewissenhaftigkeitstests .30; unstrukturierte Interviews .25; Bewerbungsunterlagen/Schulnoten .20; grafologische Gutachten .00 (vollständige Liste in Schuler, 2014, S. 342). 55 Nebengütekriterien –– Normierung: Vergleichsbasis zur Beurteilung der individuellen Testwerte –– Ökonomie/Nützlichkeit: Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag –– Zumutbarkeit: Zeitaufwand und Belastung der Testdurchführung für die Bewerber:innen –– Fairness/Unverfälschbarkeit: Gleichbehandlung aller Bewerber:innen

97 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

Bei psychologischen Testverfahren wie beispielsweise Intelligenztests oder Persönlichkeitsfragebogen ist die Objektivität durch die computergestützte Darbietungsform und Auswertung gegeben. Zudem wurde bei der Verfahrensentwicklung darauf geachtet, dass die Reliabilität zumindest einen akzeptablen Wert erreicht. Anders sieht dies bei einem unstrukturierten Interview aus: Hier hängt das Abschneiden der beurteilten Person maßgeblich von der Interviewerin bzw. dem Interviewer ab. Führen mehrere Interviewende (unstrukturierte) Gespräche durch, werden sich sowohl die gestellten Fragen als auch die Beurteilung der Antworten stark voneinander unterscheiden. Kahneman und Kollegen (2021) bezeichnen dies als „Noise“, Rauschen, welches die Qualität von Entscheidungen negativ beeinflusst. Diese Verzerrungen können systematischer Natur sein („Level Noise“ und „Pattern Noise“), indem sich die Interviewenden nicht nur hinsichtlich ihrer Beurteilungsstrenge unterscheiden, sondern auch durch eine individuell unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Anforderungskriterien bei der Entscheidungsfindung. Rauschen kann aber auch zufällig entstehen („Occasion Noise“), beispielsweise in Abhängigkeit der Tagesform. Als Mittel der Wahl zur Reduzierung von Noise in der Personalauswahl ­verweisen Kahneman und Kollegen auf die Strukturierung des gesamten Prozesses inklusive der Entscheidungsfindung  – und bekräftigen damit einmal mehr, was Forschungsergebnisse schon seit 70 Jahren nahelegen. Die überragende Bedeutung der Testgütekriterien lässt sich anhand eines Gedankenexperimentes aufzeigen (. Abb.  6.2): Nehmen wir an, dass wir für die Besetzung von zwei anspruchsvollen Stellen (Basisrate  =  40  %) lediglich ein unstrukturiertes Einstellungsgespräch durchführen (Validität = .20) und wir am Ende unseren Eindruck auf einer Skala von 0 bis 30 einstufen. Von den insgesamt 20 Bewerbenden würden wir die zwei mit der höchsten Punktzahl einstellen. Um jedoch die Güte unseres Verfahrens bestimmen zu können, stellen wir alle 20 Personen ein. Ein Jahr später messen wir deren berufliche Leistungsfähigkeit. Die Grenze für eine akzeptable Leistungserbringung liegt für uns bei 66 %. In einer Vierfelder-Tafel können wir nun feststellen, ob die beiden ausgewählten Bewerbenden mit den höchsten Punktzahlen auch unsere Jobanforderungen erfüllen würden. Es zeigt sich, dass dies nur auf eine:n davon zutrifft. Anhand der Abbildung „Leistung im unstrukturierten  

..      Abb. 6.2  Auswirkung der Validität auf den Auswahlentscheid

6

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P. Boss

Interview“ (siehe . Abb. 6.2) erkennen wir weiter, dass sieben der nicht eingestellten Bewerbenden die Anforderungen jedoch durchaus erfüllt hätten, vier davon sogar sehr gut. Dies wird als Beta-Fehler bezeichnet. (Diesen Fehler kennen wir in der Praxis nicht, da wir ja über abgelehnte Bewerbende keine Informationen zu deren tatsächlicher Leistung in der zu besetzenden Stelle haben.) Insgesamt ist unser Auswahlverfahren wenig überzeugend – wir hätten dasselbe Ergebnis auch mit einer Zufallsauswahl erreicht. Wenn wir nun anstelle eines unstrukturierten Interviews ein strukturiertes multimethodales Auswahlverfahren mit einer Validität von .60 durchführen würden (z. B. ein strukturiertes Interview ergänzt durch eine Analyse- und Präsentationaufgabe und einen Intelligenztest), sähe die Sachlage deutlich anders aus. In der zweiten Abbildung „Leistung im Auswahlverfahren“ (siehe . Abb. 6.2) fällt auf, dass die Punktwolke viel enger ist. Es zeigt sich auch, dass beide ausgewählte Bewerbende die Berufsanforderungen erfüllen – wir dürfen zufrieden sein. In den meisten Fällen wird es so sein, dass es nur eine Stelle zu besetzten gilt und man davon ausgehen kann, dass viele der Bewerbenden die Stellenanforderungen grundsätzlich erfüllen. Würden dann nicht auch schon das Studium der Bewerbungsdossiers und ein kurzes Gespräch genügen, um eine passende Person zu finden? Schon, aber: Möchte man jedoch die beste und passendste Bewerberin einstellen, ist dieses Vorgehen nicht zielführend. Dies, da die auf den Ergebnissen eines unstrukturierten Interviews gebildete Rangreihenfolge unter den Bewerbenden stark von derjenigen abweicht, welche sich aufgrund der tatsächlich erbrachten Leistung in der späteren Berufsausübung ergibt. Insofern gliche eine solche Entscheidung einer Lotterie. Nur der Einsatz valider Verfahren führt zu einer soliden Entscheidungsgrundlage und ermöglicht so eine langfristig erfolgreiche Einstellung.  



6

6.3.3 

 as Cockpit des Auswahlverfahrens: Die Anforderungs-­ D Übungs-­Matrix

Liegt das Anforderungsprofil vor und ist die Auswahlstrategie festgelegt, muss in einem letzten Arbeitsschritt definiert werden, mit welchen Verfahren die einzelnen ­Anforderungskriterien konkret gemessen werden sollen. Neben dem Einstellungsinterview können dies beispielsweise Selbstvorstellung, spontane Kurzpräsentation, vorbereitete Präsentation, Rollenübung/Gesprächssimulation, Fallstudie, Organi­ sationsaufgabe, analytisch-konzeptionelle Übungen, Arbeitsproben, psychologische Testverfahren (Persönlichkeitstests, Intelligenztest, kognitive Leistungstests) oder auch Referenzauskünfte sein (ausführlichere Übersicht z. B. Obermann, 2018). Bei tendenziell einfach gearteten Stellen wird es möglich sein, alle Anforderungskriterien mit dem Einstellungsinterview abzudecken. Aber selbst hier könnte eine Arbeitsprobe wertvolle und wichtige Zusatzinformationen liefern. Bei anspruchsvollen Tätigkeiten wird es in den meisten Fällen nicht möglich sein, alle Kriterien im Interview ausreichend genau erfassen zu können. Dies trifft insbesondere auf eher abstrakte Kompetenzen wie „Analysefähigkeit“ zu oder auf solche mit einem starken Verhaltensbezug wie „Auftrittskompetenz“ oder „Überzeugungsfähigkeit“. Hier

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Referenzauskunft

Englisch-Konversation

Arbeitsprobe

Kurz-Intelligenz-Test

Persönlichkeitsinventar

Anforderungskriterien

Strukturiertes Interview

Verfahren

Übung ,,Kundenreklamation“

Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

Dienstleistungsmentalität Freundlichkeit Kommunikationsfähigkeit Belastbarkeit Gewissenhaftigkeit schnelle Auffassungsgabe Problemlösefähigkeit 10-Finger-System Englischkenntnisse ..      Abb. 6.3  Beispiel einer Anforderungs-Übungs-Matrix

sind Tests bzw. Übungen eine notwendige Ergänzung. Zudem, wie oben ausgeführt, verfügen multimethodale Vorgehensweisen, bei welchen verschiedene Verfahren kombiniert werden, über eine besonders hohe Validität. In der Anforderungs-Übungs-Matrix lässt sich übersichtlich aufzeigen, mit welchen Verfahren die verschiedenen Anforderungskriterien erfasst werden. . Abb. 6.3 zeigt ein Beispiel einer solchen Matrix. Dabei gilt es zu beachten, dass sich pro Verfahren nur eine beschränkte Anzahl an Kompetenzen erfassen lässt: Beim Interview liegt die Begrenzung bei der Durchführungsdauer, bei den Übungen im Problem der Unabhängigkeit der Beobachtungsdimensionen und der mentalen Kapazität der Beobachtenden. Den Fokus auf einige wenige Kompetenzen zu richten vereinfacht später auch die gezielte Entwicklung der Übungen, denn diese müssen ja so ausgestaltet sein, dass sie das gewünschte Verhalten bei den Bewerbenden hervorrufen können. Aus diesen Gründen empfiehlt es sich, die Anzahl der Anforderungskompetenzen pro Verfahren auf maximal fünf zu beschränken. Bei der Wahl der Übungen und Tests gilt es darauf zu achten, dass man über das Wissen verfügt, diese auch kompetent einsetzen zu können. Auch darf der Aufwand für die maßgeschneiderte Entwicklung einer Übung nicht unterschätzt werden: Dieser ist bei einer Präsentationsaufgabe überschaubar, kann aber nur schon für eine einfache Rollensimulation eine Stunde betragen, da hier neben den Anweisungen für die Bewerbenden auch diejenigen für die Rollenspielenden erstellt und Verhaltenseinstufungsskalen für die Beobachtenden entwickelt werden müssen.  

6

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6.4 

Vorauswahl

Das Ziel der Vorauswahl ist es, mittels eines überschaubaren Aufwandes einen möglichst großen Anteil der ungeeigneten Bewerbenden zuverlässig zu identifizieren, um so zu einer in den nachfolgenden Prozessen gut bewältigbaren Anzahl an aussichtsreichen Kandidierenden zu gelangen. Dabei gilt es, den Beta-Fehler zu vermeiden, sodass wir nicht potenziell sehr gut Geeignete fälschlicherweise schon bei der Vorselektion ausschließen. Zudem gilt: Je tiefer die Basisrate, d. h., je weniger potenziell erfolgreiche Bewerbende wir erwarten, desto umsichtiger müssen wir bei der Vorauswahl vorgehen, indem wir reliable und valide Verfahren einsetzen (z. B. Gatewood et al., 2018).

6

6.4.1 

Sichtung der Bewerbungsunterlagen

Eine in der Personalarbeit weit verbreitete Praxis ist die Triage der Bewerbendendossiers in drei Kategorien: A: zum Vorstellungsgespräch einladen; B: Reserve-­ Bewerber:innen; C: Absagen. Wohl ohne sich dessen bewusst zu sein, werden in diesem Schritt schon wichtige Weichen gestellt. Dabei stellt die Identifikation von Bewerbenden, welche die Anforderungen offensichtlich nicht erfüllen, weil sie beispielsweise eine zwingend erforderliche Ausbildung nicht vorweisen können, keine große Herausforderung dar. Anspruchsvoller ist da schon die Entscheidung, wer zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird. Hierbei wird häufig nach subjektiven Kriterien und Bauchgefühl vorgegangen, zeigte doch eine Umfrage unter Personalfachleuten auf, dass dafür in nur gerade 1,2 % der Fälle vollständig festgelegte Kriterien vorliegen (Kanning, 2016). Kanning ist in vielen Studien der Ableitung von Persönlichkeitseigenschaften und der Vorhersagkraft des Berufserfolges durch Merkmale in den Bewerbungsunterlagen nachgegangen und konnte aufzeigen, dass diese in den meisten Fällen gering ist (zusammenfassende Übersicht: 2019a; praxisnahe Darstellung: 2017). Dies trifft insbesondere auf häufig beachtete Merkmale zu wie ein korrektes Anschreiben, Tippund Grammatikfehler, eine übersichtliche Darstellung, Stellenpassung der Selbstbeschreibung oder Hobbys. Sogar biografische Fakten wie die Länge der Berufserfahrung, der Verlauf der Karriere, Lücken im Lebenslauf oder die Anzahl der Stellenwechsel sagen wenig über die Leistungsfähigkeit eines Menschen aus. Kanning schließt aus diesen Befunden, dass „die Praxis der Sichtung von Bewerbungsunterlagen … mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vielen Fehlentscheidungen [führt], die zum großen Teil durch nachfolgende Auswahlschritte nicht mehr korrigiert werden können, da die zu Unrecht abgelehnten Bewerber nicht mehr weiter untersucht werden“ (2019a, S. 385). Was bedeutet dies nun für die Praxis? Bezogen auf die Auswahlstrategie sollte in der Vorauswahl ein Select-out-Prozedere gewählt werden, was bedeutet, dass der Fokus auf den Ausschluss definitiv ungeeigneter Bewerbenden gerichtet wird. Dazu soll auf der Grundlage des Anforderungsprofils vorgängig bestimmt werden, welche „Hard Facts“ aus den Bewerbungsunterlagen dazu hinzugezogen werden. Dies sind in erster Linie die fachlichen Qualifikationen, also die besuchten Aus- und Weiterbildungen, welche für die Berufsausübung unabdingbar sind, und eine minimale Berufserfahrung – falls es sich nicht um eine „Junior-Stelle“ handelt. Hierzu können

101 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

auch die Informationen aus Arbeitszeugnissen berücksichtigt werden – mehr dazu im Praxis-Tipp. Relevant können zudem stellenspezifische Anforderungen wie beispielsweise ein Mindestalter, Auslanderfahrungen, Fremdsprachkenntnisse etc. sein. Aufgrund der geringen Validität vieler anderer Merkmale der Bewerbungsunterlagen sollte man in diesem Schritt jedoch eher zurückhaltend sein. Vielmehr empfiehlt es sich, die Vorauswahl durch eine kurze Online-Testung zu ergänzen. Praxistipp: Einbezug von Arbeitszeugnissen

Da Arbeitszeugnisse wohlwollend verfasst werden müssen, lassen sich die Beurteilungen der Leistung wie auch die Beschreibungen der Persönlichkeit kaum zuverlässig interpretieren. Lediglich wenn ein Aspekt in mehreren Arbeitszeugnissen vergleichbar dargestellt wird oder Superlative verwendet werden, handelt es sich um potenziell verwertbare Informationen. Da sich diese in den Zeugnissen besonders hervorgehobenen Einzelmerkmale von Bewerberin zu Bewerber unterscheiden, lassen sie sich nicht systematisch auswerten, wodurch deren Nutzen für eine aussagekräftige Vorselektion gering ist. Als ein Checkpoint bei der Sichtung der Bewerbungsunterlagen ließe sich jedoch das Kriterium „durchgängig sehr gute Beurteilungen“ verwenden. Arbeitszeugnisse geben jedoch detailliert Auskunft über die ausgeübten Tätigkeiten und die gesammelten beruflichen Erfahrungen. Eine in einem Tabellenkalkulationsprogramm erstellte Checkbox-Liste mit unabdingbaren und wünschenswerten beruflichen Fähigkeiten und Erfahrungen bietet demzufolge eine gute Vergleichsmöglichkeit unter den Bewerbenden.

6.4.2 

Durchführung von selektiven Vortestungen

Der Einsatz psychologischer Testverfahren in der Vorauswahl oder auch später anlässlich des Vorstellungstermins kann zusätzliche wertvolle Informationen liefern und somit sehr nützlich sein. Für deren Handhabung braucht es jedoch idealerweise umfassendes Wissen und Expertise, im Minimum eine verfahrensspezifische Schulung. Zu den validesten Verfahren in der Personalauswahl gehören Intelligenztests. In Kombination mit Integritätstests lässt sich die Validität nochmals steigern (z. B. Ones et  al., 1993; Schmidt & Hunter, 1998). Persönlichkeitsfragebogen schneiden hingegen  – abgesehen von der Eigenschaft "Gewissenhaftigkeit" (Wilmot & Ones, 2021) – bezüglich der Vorhersage von beruflicher Leistung vergleichsweise schlecht ab. Zusätzlich sind deren Ergebnisse anfällig für unterschiedlichste – bewusst oder auch unbewusst vorgenommene – Verzerrungen (z. B. Donovan et al., 2014), weshalb ihr Einsatz in der Personalauswahl auch umstritten ist (z. B. Morgeson et al., 2007). Auf deren Einsatz muss man jedoch trotzdem nicht verzichten: In Studien konnte aufgezeigt werden, dass Ergebnisse aus Persönlichkeitstests bei einer Select-out-­ Strategie zu validen Ergebnissen führen (Mueller-Hanson et al., 2003). Aus diesen Hinweisen lässt sich ableiten, dass bei einer selektiven Vortestung mit Vorteil ein zweistufiges Vorgehen einzusetzen ist: Im ersten Schritt werden alle Bewerbenden ausgeschlossen, deren Ergebnisse in einer der erfassten Persönlichkeitsdimensionen oder im Intelligenztest unter einer im Voraus definierten Grenze zu lie-

6

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gen kommen. Diese sollte unter dem Wert liegen, welcher ein Drittel der Normgruppe in diesen Verfahren erzielt. Die verbleibenden Bewerbenden können dann anhand ihres Ergebnisses im Intelligenztest in eine Rangreihenfolge gebracht werden. Eine aus einem die Gewissenhaftigkeit erfassenden kurzen Persönlichkeitsfragebogen und einem Intelligenztest bestehende Vortestung ist relativ einfach und kostengünstig umzusetzen und führt zu einem belastbaren Ergebnis. Der Nachteil dabei ist, dass bei einer Remote-Online-Testung – außer man würde alle Bewerbenden dabei videoüberwachen  – nicht ausgeschlossen werden kann, dass einzelne bei der Bearbeitung zusätzliche Hilfe in Anspruch nehmen. Um auszuschließen, dass letztendlich Personen eingestellt werden, welche ihr Testergebnis mit unlauteren Mitteln verfälscht haben, ist in der zweiten Auswahlphase eine Testwiederholung in einem überwachten Setting notwendig.

6

Hintergrundinformation: Einsatz psychologischer Testverfahren Zur Vorauswahl und ergänzend zum Interview und zu Übungen können bei der Personalauswahl auch psychologische Testverfahren eingesetzt werden. Der Markt bietet für diesen Einsatz eine große Palette an entsprechenden Tests und Fragebögen an. Der Vorteil dieser Verfahren liegt in deren standardisierter Erfassung klar definierter Persönlichkeits- und Leistungsdimensionen. Diese sind bei jedem nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelten Verfahren im Testmanual ausführlich beschrieben. Zudem werden dort die Kennwerte für Reliabilität und Validität angegeben. Vorsicht ist bei Persönlichkeitsinventaren geboten: Ungeeignet für den Einsatz in der Personalauswahl sind Verfahren, welche auf einer Typologie basieren, da sie die riesige Vielfalt von unterschiedlichen Persönlichkeitsausprägungen auf eine geringe Anzahl von Typen reduzieren. Dies führt zu stark verallgemeinerten Charakterisierungen. Geeignet sind beispielsweise das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP, Hossiep & Paschen, 2003) oder das NEO-­ Persönlichkeitsinventar nach Costa und McCrae (NEO-PI-R, Ostendorf & Angleitner, 2004). Diese gehören aber, wie auch ganz allgemein psychologische Testverfahren, ausschließlich in die Hände dafür ausgebildeter Personen. Für den Einsatz zur Messung der Intelligenz eignen sich unter anderem folgende Verfahren: Modularer Kurzintelligenztest (M-KIT, Dantlgraber, 2015), Intelligenz-Struktur-Test-Screening (IST-Screening, Liepmann et al., 2012) oder Bochumer Matrizentest Standard (BOMAT – Standard, Hossiep & Hasella, 2010).

Ergänzen lässt sich die Vortestung bei Bedarf mit einem online oder telefonisch durchgeführten Kurzinterview. Dabei können 2–3 der wichtigsten Kompetenzen anhand fix definierter Interviewfragen mit entsprechenden Auswertungsskalen überprüft werden. So basiert die Vorentscheidung auf einem noch zuverlässigeren Fundament.

6.5 

Das Einstellungsinterview

Nach der Vorauswahl werden die aussichtsreichsten Bewerbenden zu einem ersten Vorstellungstermin eingeladen. Das dabei durchgeführte Einstellungsinterview ist das Kernstück des Auswahlprozesses und kommt bei Stellenbesetzungen praktisch ausnahmslos zum Einsatz (Armoneit et al., 2020). Entsprechend der hohen Praxisrelevanz liegen auch unzählige Forschungsberichte vor, welche die Qualitätsmerkmale dieser Methode thematisieren. Ein immer wieder replizierter Befund zeigt, dass sich die Güte der Vorhersage der beruflichen Leistung mit zunehmendem Strukturierungsgrad erhöht (z.  B.  Huffcutt et  al., 2014). Strukturierte Einstellungsinterviews haben jedoch nicht nur den Vorteil der höheren Aussagekraft, sondern führen auch zu einer besseren Vergleichbarkeit der Bewerbenden untereinander und zu mehr Fairness. Sie reduzieren

103 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

zudem Subjektivität und Beurteilungsfehler, wie beispielsweise Sympathie-Antipathie, Stereotype, Reihenfolge-Effekte, selektive Wahrnehmung etc. (mehr zu Urteilsfehlern: Kanning, 2019a). Ein praxisorientiertes Vorgehen für die Einbettung des strukturierten Interviews in den Vorstellungstermin ist das Multimodale Interview (Schuler, 2018), wobei hier Übungen nicht explizit als Bestandteil aufgeführt werden. In einem strukturierten Einstellungsinterview wird im Vorfeld jede Frage gezielt, d. h. auf die Stelle zugeschnitten ausgewählt, um damit Informationen zur Einschätzung einer im Anforderungsprofil enthaltenen Fähigkeit oder Persönlichkeitseigenschaft zu erheben. Die Antworten werden nach dem Interview anhand eines Einstufungsrasters beurteilt. Somit haben hier auch die tradierten Standardfragen aus dem HR-Nähkästchen nichts zu suchen. Welche konkreten, anforderungsbezogenen Informationen erhalten wir mit den Fragen zu den größten Stärken und Schwächen? Wie bei der Aufforderung zur Selbstcharakterisierung („Beschreiben Sie sich einmal selbst!“) können wir davon ausgehen, dass sich die Bewerbenden darauf vorbereitet haben und Eigenschaften nennen werden, welche sie dem Ausschreibungstext der Stelle entnommen haben. Zudem gestaltet es sich schwierig, diese – stark subjektiv – gefärbten Antworten einzustufen: Nehmen wir an, die Bewerberin nennt Führungsstärke als eine ihrer Stärken. Was bedeutet denn „Führungsstärke“ für sie? Passt diese Ansicht zu den Anforderungen der Stelle? Und wie gelangte sie zur Einsicht, dass sie führungsstark ist? Und überhaupt, wie ausgeprägt ist denn diese Führungsstärke? Eventuell sind die Anforderungen der Stelle höher, dann wäre dies sogar eine Schwäche. Uns interessiert die absolute Ausprägung der Eigenschaft, nicht eine subjektive Einstufung. Zu vermeiden sind auch unspezifische Fragen nach „Allgemeinplätzen“ wie beispielsweise „Wie gehen Sie mit Fehlern/Kritik um?“. Diese Fragen bringen wenig, da darauf häufig mit stark positiv gefärbten Standardaussagen geantwortet wird, welche kaum Unterschiede zwischen einzelnen Bewerbenden erkennen lassen. Nicht weiter ausgeführt werden muss, dass Suggestivfragen („Sie sind wohl auch der Meinung, dass …?“) nur in Ausnahmefällen zu aussagekräftigen Antworten führen werden. Ob eine Frage sinnvoll und nützlich ist oder nicht, lässt sich ganz einfach bestimmen, indem man sich fragt, wie man die möglichen Antworten beurteilt. Welche anforderungsspezifische Information erhalte ich mit der Frage „Welches Buch liegt auf Ihrem Nachttisch?“ und wie stufe ich die Antwort ein? Weitere Beispiele für unzulängliche Interviewfragen führt Kanning (2017, 2019a) auf. Der Buchmarkt bietet eine Vielzahl an Publikationen, welche Listen mit möglichen Interviewfragen enthalten (z. B. Obermann & Solga, 2018; Schneider, 2015). Dies sind durchaus nützliche Ideenlieferanten, wobei die Fragen meistens noch hinsichtlich der spezifischen Stellenanforderungen angepasst werden müssen. 6.5.1 

Aspekte der Strukturierung von Einstellungsinterviews

Ein Interview besteht aus zwei Vorgehensschritten: der Informationssammlung und der Informationsbewertung. Entsprechend umfasst die Strukturierung die zwei Dimensionen „Grad der Standardisierung der Fragen“ und „Grad der Standardisierung der Bewertung der Antworten“ (Huffcutt & Arthur, 1994). Ein maximal strukturiertes Einstellungsinterview besteht demnach aus einem Interviewleitfaden, welcher ein vordefiniertes Set von aus dem Anforderungsprofil abgeleiteten Fragen enthält. Weiter existiert zu jeder Frage eine verhaltensverankerte Einstufungsskala, welche Bei-

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spiele von guten, durchschnittlichen und unpassenden Antworten aufführt. Bei der Interviewdurchführung müssen alle Fragen im vorgegebenen Wortlaut gestellt werden und klärende Nachfragen sind unzulässig (Campion et al., 1997). Dies ist in der Praxis aufgrund des hohen Entwicklungsaufwandes weder umsetzbar, noch erscheint ein solch rigides Vorgehen zielführend zu sein, da oft erst gezieltes Nachfragen zu einem Verständnis der Gründe für das beschriebene Verhalten und dessen Auswirkungen führt. Zudem gestaltet sich ein als Dialog geführtes Gespräch lebendiger, was bewirkt, dass sich die Bewerbenden besser abgeholt fühlen. Insofern reicht es vollkommen aus, wenn ein aus dem Anforderungsprofil abgeleiteter Interviewleitfaden vorliegt und die Antworten anhand einfacher verhaltensverankerter Skalen eingestuft werden. Noch ein Hinweis zur Länge des Interviews: Forschungsbefunde zeigen auf, dass der Validitätszuwachs nach 30 Minuten vernachlässigbar ist (Thorsteinson, 2018).

6

Praxistipp: Umsetzung der Strukturierung von Einstellungsinterviews in der Praxis

Der Einsatz von mehreren Interviewenden, welche unabhängig voneinander eine Beurteilung vornehmen, führt zu einem deutlichen Validitätsgewinn. Bei der Zusammenstellung der Interviewfragen und der Interviewdurchführung sollten zudem folgende Punkte eingehalten werden: 55 Alle Interviewfragen aus dem Anforderungsprofil ableiten. 55 Passende Frageformen und -techniken anwenden. 55 Allen Bewerbenden die – mehr oder weniger – gleichen Fragen stellen. 55 Aussagen stichwortartig notieren. Bei der anschließenden Bewertung der Antworten sind verhaltensverankerte Einstufungsskalen einzusetzen und die Antwort auf die Fragen pro Anforderungskriterium einzustufen. Nachfolgend ein Beispiel zum Anforderungskriterium „Belastbarkeit“ bei Service-Desk-Mitarbeiter:innen: Erfolgskritische Verhaltensweisen (Belastbarkeit)

- Ist auch gegen Ende eines Arbeitstages noch voll leistungsfähig - Lässt sich den Arbeitsdruck im Gespräch mit Kunden nicht anmerken - Kommt mit von kundenseits ausgesprochenen Beleidigungen klar

Interviewfragen

Erzählen Sie uns von einer beruflichen Situation, in welcher alles „drunter und drüber“ ging. Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Bestimmt hatten Sie es auch schon mit einem stark verärgerten Kunden zu tun. Wie war die Situation und wie haben Sie sich verhalten? Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Wie ging die Angelegenheit aus? Gab es schon eine berufliche Situation, in welcher Sie an Ihre Belastungsgrenze gestoßen sind?

Einstufungsskala 1

2

3

Fühlt sich schnell gestresst Erreicht schnell die Belastungsgrenze Ist am Ende eines Arbeitstages erschöpft Nimmt Beleidigungen persönlich

4

5

Blüht unter Druck auf Ist äußerst leistungsfähig Ist auch nach einem langen Arbeitstag noch fit Schenkt Beleidigungen keine Beachtung

105 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

6.5.2 

Interviewführung und Fragetechnik

Die Art und Weise der Interviewführung und der Gestaltung der Gesprächssituation beeinflusst maßgeblich die Aussagekraft der Antworten: Fühlen sich die Bewerbenden unwohl oder gar bedroht, werden sie die Fragen sehr zurückhaltend beantworten und so wenig von sich preisgeben, schon gar nicht Schwächen. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass eine offene, unterstützende Gesprächsatmosphäre mehr Offenheit erzeugt (Verschuere et al., 2016; Vrij et al., 2015) Praxistipp: Zum Erzählen ermuntern – Gestaltung der Gesprächssituation und Mirroring-Technik

Bewerbende müssen sich in der Interviewsituation wohl fühlen, damit sie offen von sich und ihren Erfahrungen berichten. Es ist demnach darauf zu achten, dass das Interview in einer freundlichen, eher lockeren Atmosphäre stattfindet und man sich offen, interessiert, zuhörend, annehmend und verständnisvoll zeigt. Dies ist – neben der wahrgenommenen Fairness  – auch ein wichtiger Aspekt der Candidate Experience. Die Fragen sollen entsprechend der STAR-Technik offen gestellt werden und so zum Erzählen ermuntern. Wichtig ist auch, dass man sich nicht mit der erstbesten Kurzantwort zufriedengibt, sondern interessiert nachfragt, bis der Sachverhalt vollständig berichtet wurde. Das Zeigen von echtem Interesse am Erlebten der Bewerbenden wirkt Wunder! Zudem sollten alle Ausführungen positiv und keinesfalls wertend aufgenommen werden. Ist man der Auffassung, dass das Thema noch nicht ganz abgehandelt wurde bzw. einzelne, eventuell weniger positive Details ausgelassen wurden, kann auch gezielt geschwiegen werden, was in den meisten Fällen bewirkt, dass der/die Bewerber:in mit den Ausführungen fortfährt. Eine Technik, welche zu Sympathie und somit zu einem ungezwungeneren Austausch führen kann, ist das Mirroring, das Spiegeln des Gesprächspartners/der Gesprächspartnerin. So bewirkt das Wiederholen von ein bis drei der vom Gegenüber geäußerten Wörter, dass es sich verstanden fühlt. Das Spiegeln der Gestik und Haltung erzeugt zudem Sympathie. All dies führt dazu, dass sich das Gegenüber in der Gesprächssituation angenommen und wohl fühlt und sich dadurch mehr öffnet (Voss & Raz, 2016).

Im strukturierten Einstellungsinterview werden zwei Arten von Fragen – biografische und situative – unterschieden. Bei einer biografischen Frage möchte man von der bewerbenden Person anhand einer konkreten Schilderung erfahren, wie sie sich in der Vergangenheit in einer bestimmten Situation verhalten hat, beispielsweise:

»» „Berichten Sie uns von einer Situation, in welcher Sie eine Kundenreklamation zu bearbeiten hatten.“

Diese Art von Fragen basieren auf der Annahme, dass in der Vergangenheit gezeigtes Verhalten die beste Vorhersage für zukünftiges Verhalten darstellt. Im Gegensatz dazu beziehen sich situative Fragen auf Situationen, welche bei der späteren Berufsausübung angetroffen werden können. So wie in dieser Frage:

»» „Ein Kunde beschwert sich bei Ihnen über Lieferverzögerungen und Qualitätsmängel. Wie würden Sie in dieser Situation vorgehen?“

6

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6

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Dieser Fragentyp bietet sich vor allem für Bewerbende an, welche noch über wenig Berufserfahrung verfügen. Zudem stellen sie eine weitere Möglichkeit dar, einen Einblick in die zukünftige Tätigkeit zu geben ("Realistic Job Preview"). Beide Fragearten verfügen über eine ausreichende bis gute Validität (Culbertson et al., 2017; Thorsteinson, 2018). Um bei den biografieorientierten Fragen eine vollständige Situationsschilderung zu erhalten, müssen in der Regel klärende Nachfragen gestellt werden. Dazu eignet sich die STAR-Technik, in welcher die Aspekte Situation, Aufgabe, Vorgehen und Ergebnis unterschieden werden (vertieft behandelt in Obermann & Solga, 2018). Wichtig ist, dass man sich jeweils nicht mit der erstbesten, wenig differenzierten Antwort zufriedengibt, sondern konsequent und hartnäckig nachfragt, bis man den Eindruck hat, die Situation und das Verhalten vollständig erfasst zu haben. Ab und zu kommt es auch vor, dass die von Bewerbenden geschilderte Situation wenig ergiebig ist oder ganz einfach ungünstig gewählt wurde. Um eine bessere Kompetenzeinschätzung vornehmen zu können, lässt man sich in solchen Fällen noch ein weiteres Erlebnis präsentieren. Praxistipp: Die STAR-Technik Situation:

Welche Situation haben Sie vorgefunden? Worum ging es? Was geschah konkret?

Task:

Was war Ihre persönliche Aufgabe? Welchen Auftrag haben Sie erhalten? Was war Ihre Rolle?

Action:

Was haben Sie konkret getan? Welches Ziel haben Sie verfolgt? Was waren die Schwierigkeiten? Wie sind Sie damit umgegangen? Was haben Sie dabei gedacht/gefühlt?

Result:

Welches Ergebnis haben Sie erzielt? Welches Feedback haben Sie erhalten? Was haben Sie daraus gelernt? Was sagt mir das über Sie aus?

Noch ein Tipp zur Formulierung der Fragen: Viele Fragen schreien geradezu nach einer stark positiv gefärbten Antwort, so beispielsweise „Erzählen Sie mir von einer Konfliktsituation!“. Hier kann man darauf wetten, dass der Bewerber von einem Ereignis berichtet, das sich im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst hat. Eine Möglichkeit, diese Positivschilderungen gezielt zu umgehen, sind direkte Fragen nach nicht gut verlaufenen Situationen:

107 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

»» „Beschreiben Sie mir eine Situation, in welcher ein Mitarbeiter / eine Mitarbeiterin mit Ihrem Führungsverhalten nicht zufrieden war. Was wurde bemängelt? Wie sind Sie damit umgegangen?“

Hilfreich kann auch sein, in der Frage auf die Normalität eines eigentlich sozial unerwünschten Verhaltens hinzuweisen, um es so den Bewerbenden zu erleichtern, davon zu berichten:

»» „Mitarbeitende können zuweilen auch ganz schön nerven. Manchmal könnte man dabei

das Gefühl haben, sie legen es absichtlich darauf an. Erzählen Sie uns von einer Situation mit einem/einer mühsamen Mitarbeiter:in, in welcher Sie Ihre Fassung verloren haben. Wie kam es dazu und wie ist es ausgegangen?“

Ein seriös geplantes und durchgeführtes Einstellungsinterview ist das wichtigste Element des Vorstellungstermins. Jedoch lassen sich damit nicht immer alle Anforderungskriterien auch optimal erfassen. Um beim Beispiel zu bleiben, kann es bei der Auswahl von Mitarbeitenden für den Service-Desk angezeigt sein, eine Kundenreklamation zu simulieren, um das tatsächliche Verhalten beobachten zu können.

6.6 

 bungen: Präsentationen, Fallstudien, Simulationen Ü und Arbeitsproben

Bei der Planung des Auswahlverfahrens wird auf der Basis des Anforderungsprofils entschieden, welche Übungen zusätzlich zum Einstellungsinterview durchgeführt werden sollen. Übungen im Rahmen der Personalauswahl dienen dazu, Verhalten zu beobachten oder das Vorgehen bei der Lösung von (komplexen) Aufgabenstellungen zu erfassen. Sie sollten, wenn immer möglich, nahe am späteren Berufsalltag sein, diesen also simulieren. 6.6.1 

Aspekte bei der Übungsentwicklung

Die Anforderungs-Übungs-Matrix gibt vor, welche Anforderungskriterien im jeweiligen Verfahren zu erfassen sind. Bei der Entwicklung einer Übung muss nun darauf geachtet werden, dass die Bewerbenden durch das Übungssetting herausgefordert werden, das entsprechende Verhalten auch tatsächlich zu zeigen. So lässt sich beispielsweise ein konstruktiver Umgang mit Konflikten nur beobachten, wenn ein Konflikt auch simuliert wird und die Bewerbenden darauf einsteigen. Zudem ist abzuwägen, wie viel berufsspezifisches Vorwissen benötigt wird, um die Übung grundsätzlich erfolgreich bewältigen zu können. Wenn die Übung nicht zum Ziel hat, dieses Basiswissen zu erheben, so muss ausgeschlossen werden können, dass Bewerbende mit umfangreicher Praxiserfahrung einen Vorteil haben. Ein Beispiel dazu: Die Dienstleistungsorientierung der Bewerbenden auf die Service-­Desk-­Stelle soll anhand eines simulierten Kundengespräches erfasst werden. Das Drehbuch sieht für die anrufende Kundin vor, dass sie eine Lösung für ein technisches Problem mit einem unserer Produkte einfordern soll. Bewerbende, welche über entsprechende technische Vorkenntnisse verfügen, werden hierbei einen klaren Vorteil gegenüber Bewerbenden aus anderen Branchen haben. Die Erfassung des

6

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6

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Anforderungskriteriums „Dienstleistungsorientierung“ würde damit zwangsläufig durch das Ausmaß an technischem Vorwissen beeinflusst. Die Rollenanweisung müsste demnach geändert werden, sodass die Kompetenzen unabhängig voneinander beurteilt werden können, beispielsweise, dass die Kundin sich über den schlechten Service beklagt. Wenn die technischen Kenntnisse auch unabdingbare Voraussetzung hinsichtlich der Stellenanforderungen sind, müssten diese zusätzlich überprüft werden. Dies könnte anhand einer kleinen Fallstudie geschehen, in welcher den Bewerbenden ein technisches Problem geschildert wird, welches sie zu lösen haben. Dass solche Übungen auch sehr kurz sein können und sich so problemlos in einen 90-minütigen Vorstellungstermin integrieren lassen, zeigt die Methode des „Smart-­AC“ (Boss & Hardegger, 2020). In unserem Beispiel könnte das Anforderungskriterium „Freundlichkeit“ in einer solchen Kurzübung erfasst werden: Die Übung sieht vor, den Anruf eines stark verärgerten Kunden zu übernehmen. Dieser soll sich lautstark über den Service beschweren, sich rüde verhalten, immer wieder unterbrechen und das Gespräch nach ca.  3 Minuten abbrechen. Diese Rolle übernimmt eine dafür geeignete und entsprechend instruierte Person, welche mit der Arbeit am Service-­Desk vertraut ist. Am Vorstellungstermin wird nach der Instruktion der Bewerberin der Rollenspieler auf das sich im Raum befindliche Telefon anrufen, die Bewerberin nimmt ab, stellt auf Lautsprecher und die Übung kann beginnen. 6.6.2 

 instufungsskalen zur Vereinheitlichung der E Beobachtungen

Eine Übung liefert eine große Vielfalt an beobachtbaren Aspekten. Bei einer Präsentation sind dies beispielsweise neben dem Inhalt und der Struktur auch Wortwahl, Sprechtempo und -flüssigkeit, Aussprache, Stimmlage, Mimik und Gestik, Körperhaltung, etc. Um den Fokus der Beobachtenden auf die in der Anforderungs-­ Übungs-­Matrix festgelegten Kompetenzen zu richten und einen verbindlichen Beurteilungsmaßstab vorzugeben, sind Einstufungsskalen zwingend notwendig (z.  B.  Kanning, 2017; Strategie 42). Dabei stützt man sich auf die im AED festgelegten erfolgskritischen Verhaltensweisen. Pro Anforderungskriterium leitet man daraus 3–4 zentrale und vor allem gut beobachtbare Merkmale ab und gibt diese in einem Einstufungsraster vor. . Abb. 6.4 zeigt als mögliches Beispiel die Einstufung des Anforderungskriteriums „Dienstleistungsorientierung“ bei der Übung „Kundenreklamation“. Beim Einsatz solcher Einstufungsskalen ist zu beachten, dass die Beurteilung jeweils erst nach dem Abschluss der Übung vorgenommen wird. Damit lässt sich verhindern, dass schon nach den ersten Beobachtungen vorschnell ein Urteil gefällt wird. Dies birgt die Gefahr, dass man in der Folge nicht mehr genügend offen für vom ersten Eindruck abweichendes Verhalten ist. Weiter ist darauf zu achten, dass jede:r Beobachter:in unmittelbar nach der Übung ein unabhängiges Urteil abgibt, welches später auch nicht mehr angepasst wird (Kanning, 2017; Strategie 46). Das hier geschilderte Vorgehen empfiehlt sich auch bei einer Arbeitsprobe: Damit die Beurteilungen der Leistung der Bewerbenden vergleichbar sind, müssen für die in der Anforderungs-Übungs-Matrix bestimmten Kompetenzen verhaltensverankerte Beurteilungsbögen vorliegen.  

109 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

Dienstleistungsorientierung Positive Verhaltensindikatoren

5

4

3

2

1

Negative Verhaltensindikatoren

Hört sich das Anliegen des Kunden geduldig an

Unterbricht den Kunden; wirkt ungehalten

Äussert explizit Verständnis für die Situation des Kunden

Nimmt das Kundenanliegen zu wenig ernst

Fragt explizit nach dem Wunsch des Kunden

Bringt den Kundenwunsch nich aktiv in Erfahrung

Bietet eine Lösung an / sichert eine Lösungsfindung zu

Zeigt keinerlei Anstalten das Problem lösen zu wollen

Dienstleistungsorientierung

5

4

3

2

1

Red Flag

..      Abb. 6.4  Einstufungsskala einer Beobachtungsübung (Ausschnitt)

6.7 

Entscheidungsfindung

Der betriebene Aufwand zur Erlangung einer hohen Qualität droht teilweise zu verpuffen, geht man nicht auch noch die Entscheidungsfindung strukturiert an. Die Basis dazu bildet die Übersicht über alle Beurteilungen und festgesetzten Entscheidungsregeln. Das bisher weitgehend außen vor gelassene Bauchgefühl hat dann zum Schluss des Prozesses noch seinen Auftritt. Vertieft behandelt das Thema Kanning (2019a). 6.7.1 

Das Resultate-Cockpit

Um auch bei der Entscheidungsfindung systematisch vorgehen zu können, empfiehlt es sich, alle Einstufungen pro Bewerber:in in einem Resultate-Cockpit in einem Tabellenkalkulationsprogramm übersichtlich darzustellen. Dieses bildet die Anforderungs-­Übungs-Matrix ab und erlaubt so einen vollständigen Überblick über die eingestuften Leistungen des/der Bewerber:in. Ungenügende Leistungen können mittels einer durch eine bedingte Formatierung automatisch vorgenommenen Einfärbung der entsprechenden Zellen auf einen Blick sichtbar gemacht werden. Die . Abb.  6.5 und  6.6 zeigen beispielhaft eine mögliche Umsetzung des Resultate-­ Cockpits (fiktives Beispiel). Pro Anforderungskriterium lässt man sich den Mittelwert über die einzelnen Einstufungen berechnen und bekommt so einen Richtwert bezüglich dessen Ausprägung. Zudem kann als Schätzung der Gesamtleistung der Durchschnittswert über alle Kriterien berechnet werden, was einen groben Vergleich der Bewerbenden untereinander ermöglicht. In diese Berechnungen können auch die in Schritt 4 des Anforderung-Ermittlungs-Dialogs bestimmten Gewichtungen einbezogen werden, was bewirkt, dass sehr wichtige Anforderungskriterien den Schlusswert entsprechend stärker beeinflussen. Einen äußerst wichtigen Aspekt gilt es dabei zu berücksichtigen: Ein auf diese Weise berechneter Durchschnittswert führt dazu, dass eine ungenügende Leistung in einem Kriterium durch gute Leistungen in anderen Kriterien kompensiert  

6

3

3

Belastbarkeit

1

Gewissenhaftigkeit

Linie

HR

Linie

4

5

4

5

5

5

5

5

3

5

3

4

3

4

1

3.5

4

4

5

schnelle Auffassungsgabe

3

4

Problemlösefähigkeit

1

3

10-Finger-System

1

4

Englischkenntnisse

1

4

Gesamtbeurteilung

15

3 3

4

4.4

5

4

3

Durchschnittsrating

Kommunikationsfähigkeit

HR

Flag

Referenzauskunft

4

EnglischKonversation

2

knuf

Kurz-IntelligenzTest

Freundlichkeit

Linie

suti

Persönlichkeits inverntar

4

HR

23.01.2022 Übung ,,Kundenreklamation“

2

Datum

Karin Meyer

Fail-Wert

Anforderung

Dienstleistungsmentalität

Kandidat:in

5.0 4.8 3.7 5

4.5 3

2

3

2.7 2.7

2 5

5.0 5

5.0

4.1

Die Namen der Kandidat:innen sind frei erfunden.

Pia Herder

Helen Büsser

Karin Meyer

Marc Keller

Dienstleistungsmentalität

2

4

4.2

4.4

4.4

3.4

Freundlichkeit

2

4

3.7

4.3

5.0

2.7

Kommunikationsfähigkeit

3

3

4.5

4.8

4.8

3.5

Belastbarkeit

1

3

3.0

3.7

3.7

3.0

Gewissenhaftigkeit

1

3.5

2.5

3.5

4.5

4.8

schnelle Auffassungsgabe

3

4

4.3

3.7

2.7

3.3

Problemlösefähigkeit

1

3

4.7

3.7

2.7

3.0

10-Finger-System

1

4

5.0

4.0

5.0

4.0

Englischkenntnisse

1

4

2.0

4.0

5.0

2.0

Gesamtbeurteilung

15

4.0

4.1

4.1

3.3

Fail-Wert

Mindestanforderung

..      Abb. 6.5  Auswerte-Matrix Teil 1

Gewichtung

6

Gewichtung

Stelle

Arbeitsprobe

P. Boss

Strukturiertes Interview

110

Flag

Die Namen der Kandidat:innen sind frei erfunden.

..      Abb. 6.6  Auswerte-Matrix Teil 2

3

3

111 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

werden kann. Beim Kompensationsgedanken handelt es sich jedoch um eine in vielen Fällen unzulässige Annahme. So wäre es in unserem Beispiel nicht möglich, die ungenügende Englisch-Kompetenz mit der stark ausgeprägten Dienstleistungsmentalität zu kompensieren. Aus diesem Grund sind die gebildeten Durchschnittswerte mit entsprechender Vorsicht zu behandeln. Es muss in jedem Einzelfall abgeklärt werden, ob die ungenügende Leistung im entsprechenden Anforderungskriterium ein No-Go darstellt, sie sich tatsächlich kompensieren ließe oder ob sie allenfalls mit einer Entwicklungsmaßnahme behoben werden könnte. Bei sehr wichtigen Kompetenzen, welche zudem als nicht kompensierbar oder nur schwer entwickelbar einzustufen sind, können auch im Vorhinein schon absolute Minimalwerte definiert werden („Cut-off-Werte“). Ein Unterschreiten derselben würde dann zwangsläufig zu einem Ausschluss führen. Im Beispiel Service-Desk-­ Mitarbeiter:in sind bei den Kriterien „Kommunikationsfähigkeit“ und „schnelle Auffassungsgabe“ solche Fail-Werte definiert worden: Erreicht ein:e Bewerber:in in einer der beiden Kompetenzen den Wert 3 nicht, wird er/sie definitiv nicht eingestellt. Im Beispiel enthält die Tabelle zusätzlich noch das Feld „Flag“. Ist dieses markiert, weist es auf das Vorliegen von speziellen, nicht einem der Anforderungskriterien direkt zuordenbaren Beobachtungen hin, welche bei der Schlussentscheidung jedoch beachtet werden müssen. Bezogen auf die Übung „Kundenreklamation“ könnte das die Beobachtung sein, dass die Bewerberin sehr angespannt gewirkt hat und sie anschließend geäußert hat, dass ihr der Umgang mit unhöflichen Menschen schwerfalle. Oder aber im Interview – eventuell beiläufig – gemachte Aussagen wie beispielsweise, dass an zwei Tagen in der Woche der Hund mitgenommen werden müsse, dass eine Lärmempfindlichkeit vorliege oder dass man frühestens um 8:30 Uhr zur Arbeit erscheinen könne. 6.7.2 

Beurteilung des Potenzials

Bei nicht erfüllten Anforderungskriterien muss auf den Einzelfall bezogen beurteilt werden, ob sich dieses Manko durch geeignete Maßnahmen beheben ließe. Es stellt sich demnach die Frage nach dem Potenzial des Bewerbers bzw. der Bewerberin bezogen auf dieses Merkmal. Folgende Fragen gilt es bei dieser Entscheidung zu beachten: 1. Lässt sich diese Kompetenz grundsätzlich entwickeln? Die meisten Fähigkeiten, wie beispielsweise Fremdsprachenkenntnisse oder das 10-Finger-System, sind entwickelbar. Bei Persönlichkeitseigenschaften sieht dies schon anders aus: Wer eher introvertiert ist, wird sich kaum zu einem extravertierten Verkäufer-Typ entwickeln können. Nicht entwickelbar sind leistungsbezogene Kompetenzen wie Intelligenz oder Konzentrationsfähigkeit. 2. Liegen die für den Entwicklungsschritt benötigten Kompetenzen vor? Die Entwicklung von Kompetenzen ist ein Lernprozess. Dieser ist dann erfolgreich, wenn die grundsätzliche Fähigkeit dazu vorliegt, welche in einem engen Zusammenhang mit Intelligenz steht (Kanning, 2018). 3. Bestehen die Einsicht und der Wille zur Kompetenzentwicklung? Damit ein Entwicklungsprozess erfolgreich ist, müssen die Einsicht und die Bereitschaft vorliegen, diesen Prozess auch ernsthaft anzugehen. Damit einher-

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112

P. Boss

gehend sind Kompetenzen und Motive wie kritische Selbstreflexion, Offenheit, Engagement und Lerneifer. 4. Wie groß ist der zu investierende Aufwand an Zeit und Geld? Aus Sicht des Unternehmens muss abgeschätzt werden, ob man gewillt ist, diese Investition zu tätigen, und ob sich diese mittelfristig auch auszahlt. So kann es sinnvoll sein, in eine weiterführende Ausbildung eines Bewerbers bzw. einer Bewerberin zu investieren, weil sich auf dem Arbeitsmarkt keine Personen finden lassen, welche die zur Diskussion stehende Kompetenz schon mitbringen.

6

Wichtig zu beachten ist, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich eine Person ohne Unterstützung, quasi „von selbst“, entwickelt. Dies kann zwar durchaus der Fall sein, größere Chancen auf Erfolg haben jedoch gezielt eingesetzte Personalentwicklungsmaßnahmen. Die Potenzial-Frage stellt sich auch dann, wenn es zu beurteilen gilt, ob ein:e Bewerber:in in der Zukunft eine bestimmte Position oder Aufgabe übernehmen kann, beispielsweise bei der Besetzung eines Career-Tracks, bei welchem in 3–5 Jahren eine Führungsposition eingenommen werden soll. Spezifische Führungskompetenzen müssten demnach heute noch nicht vorliegen, sollten aber in den folgenden Jahren entwickelt werden. Dabei gilt es, zwischen „Führungs-Tools“ wie Zeitmanagement, Planungs- und Organisationsfähigkeit oder Führen von Gesprächen einerseits und Persönlichkeitseigenschaften und Einstellungen andererseits zu unterscheiden. Erstere lassen sich in Führungskursen schulen, Letztere sollten schon in der gewünschten Ausprägung vorliegen. Als Faktoren des Führungserfolges zeigten sich Persönlichkeitseigenschaften wie Intelligenz, Gewissenhaftigkeit und psychische Stabilität oder auch der Generalfaktor der Persönlichkeit (z. B. Cavazotte et al., 2012; Do & Minbashian, 2020). Deren aktuelle Ausprägung lässt sich mit Testverfahren und Interviews gut erfassen. Auch führungsbezogene Einstellungen können im Interview beleuchtet werden, indem beispielsweise nach Führungsvorbildern und deren Führungsstil gefragt wird. 6.7.3 

Fällen des Schlussentscheides

Der Schlussentscheid sollte hauptsächlich auf dem Resultate-Cockpit und der davon abgeleiteten Rangreihenfolge unter den Bewerbenden basieren. Es ist eine empirisch sehr gut bestätigte Tatsache, dass Entscheide, welche auf der Grundlage einer Verrechnung von Daten vorgenommen werden, expertenbasierten Beurteilungen der Einzelergebnisse überlegen sind („klinische versus statistische Urteilsbildung“; z. B. Kahneman et al., 2021). Liegen die Durchschnittspunktwerte der Bestplatzierten nahe beisammen, können die Leistungsprofile verglichen werden, indem man die individuellen Stärken und Schwächen einander gegenüberstellt. Hier kommen dann unter Umständen auch die Überlegungen zur Kompensation von Schwächen zum Tragen und es gilt, eventuell gesetzte „Flags“ zu berücksichtigen. Es können zu diesem Zeitpunkt jedoch auch zusätzliche, bisher unbeachtete Kriterien hinzugezogen werden, wie beispielsweise der Wohnort, spezielle Fähigkeiten, Diversitätsaspekte etc. Auch das Bauchgefühl darf hier noch das Zünglein an der Waage sein.

113 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

Wie gut die Entscheidung ist, wird die Zukunft zeigen. Um Rückschlüsse auf eventuell vorliegende Schwächen im Auswahlprozess ziehen zu können, muss jedoch eine systematische Evaluation erfolgen. Liegen die dem Entscheid zugrunde liegenden Beurteilungen, wie hier empfohlen, numerisch und digitalisiert vor, ließe sich diese mit einem überschaubaren Aufwand vornehmen, indem die Resultate mit später erhobenen Leistungsbeurteilungen verglichen werden. Mehr Informationen dazu finden sich im Buch zur DIN 33430 (Schmidt-Atzert et al., 2018). Mindestanforderungen an eine professionell durchgeführte Personalauswahl In diesem Kapitel habe ich den Versuch unternommen, die teilweise sehr hoch angesetzten Anforderungen an eine professionelle Personalauswahl den Möglichkeiten im Praxisalltag anzupassen. Es ist unbestritten, dass der zu betreibende Aufwand immer noch sehr groß ist – langfristig betrachtet wird er sich aber lohnen. Es ist mir aber auch bewusst, dass die dafür benötigten Ressourcen häufig nicht zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund präsentiere ich abschließend eine Liste mit denjenigen Punkten, welche in jedem Fall beachtet werden müssen, damit bei der Personalauswahl ein Mindestmaß an Seriosität und Qualität gewährleistet ist: 1. Für die zu besetzende Stelle sind im Austausch mit einer/einem Stelleninhaber:in oder einer vorgesetzten Person die 5 bis maximal 10 wichtigsten Anforderungskriterien zu bestimmen und diese mit jeweils 4–5 Stichworten möglichst verhaltensnah zu charakterisieren. 2. In einer Matrix ist festzuhalten, mit welchem Verfahren die Anforderungskriterien erfasst werden. Die absolut wichtigsten davon sollten mit zwei unterschiedlichen Verfahren gemessen werden. 3. Für das strukturierte Interview ist ein Leitfaden mit aus den Anforderungskriterien abgeleiteten Fragen zu erstellen. Dazu kann ein nach Kompetenzen gegliederter Katalog mit Interviewfragen zu Rate gezogen werden. Am ergiebigsten sind Fragen zum in der Vergangenheit gezeigten Verhalten. 4. Übungen sollen den Berufsalltag möglichst gut widerspiegeln. Sie sind so zu entwickeln, dass die Bewerbenden dadurch angeregt werden, das zu den zu erfassenden Kompetenzen passende Verhalten zu zeigen. 5. Einfache Formulare, welche für jede Kompetenz eine minimal verankerte Einstufungsskala enthalten, ermöglichen es, die Antworten und Beobachtungen systematisch und einheitlich bewerten zu können. 6. Die Vorselektion ist anhand definierter aussagekräftiger Kriterien vorzunehmen. 7. Bei der Interviewdurchführung muss man sich an den Leitfaden halten und jeder/ jedem Bewerbenden dieselben Fragen stellen. Nur so lassen sich die erhobenen Informationen auch vergleichen. Sind die Ausführungen unklar, lohnt es sich, so lange nachzufragen, bis man sich ein genaues Bild vom geschilderten Sachverhalt machen kann. 8. Der Schlussentscheid wird auf der Basis einer Resultate-Übersicht gefällt, in welcher die Einzelbewertungen verrechnet werden.

6

114

P. Boss

Literatur

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115 Kompetenzdiagnostik in der Personalauswahl

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117

Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung Andrea Müller Inhaltsverzeichnis 7.1

Performance Management in der HRM-Praxis – 118

7.2

Leistung und Leistungsvoraussetzungen – 120

7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4

 iele und Leistungssteuerung über Motivation – 121 Z Bedeutung von Feedback in der Leistungssteuerung – 123 Stärkenbasiertes Feedback in der Leistungssteuerung – 125 Fortlaufende Leistung durch Commitment – 126

7.3

Leistungsbeurteilung – 128

7.4

Leistungsabhängige Honorierung – 130

7.5

Performance-Management-Update durch Kollaboration und Digitalisierung – 131 Literatur – 132

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_7

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A. Müller

Die Steuerung und die Beurteilung von Leistung wird im Human Resource Management unter dem Begriff des Performance Managements subsumiert. Das Performance Management stellt für viele Unternehmen eine besondere Herausforderung dar. Es ist eine Kernfunktion von HR, jedoch eng mit anderen HR-Aufgaben und -Prozessen verknüpft und idealerweise eng mit Kompetenzmanagement, Personalentwicklung und Personalmarketing verzahnt. Gleichfalls haben die Führungs- und Organisationskultur einen starken Einfluss auf die Leistungssteuerung innerhalb eines Unternehmens. Die Beurteilung der Leistungen von Mitarbeitenden steht zudem häufig in engem Zusammenhang mit deren Incentivierung und Entwicklungsperspektiven. In der heutigen Arbeitswelt, welche durch Digitalisierung und (agile) Transformation gekennzeichnet ist, wird der bisherige Prozess des Performance Managements hinterfragt, neue Möglichkeiten der Leistungssteuerung und -beurteilung werden ausprobiert. Psychologisches Wissen kann sowohl bei der Leistungssteuerung als auch bei der Leistungsbeurteilung einen wertvollen Beitrag leisten. In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen für Performance/Leistung vorgestellt, um anschließend aufzuzeigen, wie das Leistungsverhalten von Mitarbeitenden gesteuert und beurteilt werden kann – sodass eine hohe Motivation und ein hohes Commitment positive Folgen sind.

7.1 

Performance Management in der HRM-Praxis

Allgemeinhin werden unter Performance Management (deutsch: Leistungsmanagement) alle Aktivitäten und Prozesse angesehen, die darauf abzielen, die Leistung der Mitarbeitenden zu steuern und optimal auf das Erreichen der Unternehmensziele auszurichten (vgl. z.  B.  Meyer-Ferreira, 2015). Der Prozess des Performance Managements im engeren Sinne hat klassischerweise die folgenden drei Elemente: 55 Zieldefinition und Zielvereinbarung, 55 Leistungsmessung und Leistungsbeurteilung, 55 Verknüpfung mit einem Anreizsystem bzw. der Leistungshonorierung. Die einzelnen Elemente des Performance-Management-Prozesses können in der Praxis sehr unterschiedlich ausgestaltet sein, nutzen jedoch typischerweise ähnliche Instrumente. Zielvereinbarungen sind als Führungsinstrument häufig ein wesentlicher Teil des Performance Managements. Das Konzept der Zielvereinbarung geht auf Peter Drucker und das von ihm im Jahre 1954 veröffentlichte Konzept des „Management by Objectives“ (deutsch: Führen mit Zielvereinbarungen) zurück (Drucker, 1954). In der Regel finden Zielvereinbarungen einmal jährlich statt, andere kürzere Zyklen sind möglich. Unterschiedlich kann auch die Art der vereinbarten Ziele sein. Es werden z. B. Sachziele und Entwicklungsziele unterschieden. Ziele können quantitativ im Sinne von Schlüsselindikatoren für die Leistung (KPIs, Key Performance Indicators) oder auch qualitativ im Sinne von Verhaltenszielen formuliert werden. Wesentlich ist dabei, dass sich die Ziele tatsächlich operationalisieren lassen und dass Ergebnisse und gezeigtes Verhalten tatsächlich gesetzten Zielen zuordenbar sind. Im Rahmen des Performance Managements unterscheidet man zudem zwischen Individualzielen, Teamzielen, Bereichs- und Unternehmenszielen (zu Teamzielen siehe 7 Kap.  10). Die meisten Unternehmen nutzen die Zielvereinbarungen, um  

119 Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung

Unternehmensziele entsprechend der hierarchischen Unternehmensstruktur bis auf Ebene der Mitarbeitenden herunterzubrechen (obwohl das ursprüngliche Konzept nur für die Managementebene gedacht war). Mit dieser Praxis wird die Ausrichtung der Mitarbeitenden auf die strategischen Unternehmensziele unterstützt. Die Unternehmenskultur kann die strategische Sichtweise auf das Performance Management stark beeinflussen – negativ wie auch positiv. Es gibt Unternehmenskulturen, die die MbO-Logik infrage stellen, und solche, die den Status quo dieses Instruments schützen. Entsprechend der Unternehmenskultur werden auch die Instrumente für die Leistungsbeurteilung entwickelt und eingesetzt. Die Leistungsbeurteilung ist ein wesentlicher Teil des Performance Managements. Die Leistungsbeurteilung bezieht sich im Gegensatz zur Potenzialbeurteilung auf Leistungen und Verhalten der Mitarbeitenden in der Vergangenheit. Für die Leistungsbeurteilung kommen verschiedene Methoden zur Anwendung (z. B. freie Beurteilung, Rangordnungsverfahren, Rangordnungsverfahren mit Verteilungsvorhaben wie "Forced Ranking" oder "Guided Distribution", Armstrong, 2017). Die Leistungsbeurteilung kann als ausschließliche Beurteilung durch die direkte Vorgesetzte bzw. den direkten Vorgesetzen erfolgen oder als sogenanntes 360-­Grad-­Feedback, bei dem neben der oder dem Vorgesetzen auch Teamkolleg:innen, andere Mitarbeitende sowie interne und externe Kund:innen an der Beurteilung beteiligt werden. Analog zur Zielvereinbarung findet die Leistungsbeurteilung im Rahmen des Performance Managements in vielen Unternehmen in der Regel einmal jährlich statt – meist im Rahmen eines Mitarbeitergesprächs, bei dem auch das Erreichen der vereinbarten Ziele Gegenstand ist. Im Zuge der Digitalisierung und dem damit einhergehenden schnellen Wandel der Arbeitswelt gilt dieser jährliche Leistungsbeurteilungszyklus als überholt. Daher setzen viele Unternehmen aktuell auf kürzere Abstände und agilere Methoden der Leistungsbeurteilung. Bei der Suche nach agilen Methoden der Leistungsbeurteilung wenden sich viele Unternehmen vom Konzept des Management by Objectives (MbO) ab und führen stattdessen „Objectives and Key Results“ (OKRs) als neue Methode des Ziel- und Performance Managements ein. Beide Konzepte ähneln sich. Es gibt jedoch entscheidende Unterschiede. Während die Ziele bei MbO vordergründig quantitativ und oft als KPIs formuliert sind, bestehen OKRs aus qualitativen Objectives, die durch Key Results in quantitative Schlüsselergebnisse gegliedert werden. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen OKRs und klassischem Führen mit Zielen ist, dass die Zielerreichung im OKR-Modell nicht mit einem monetären Anreizsystem verknüpft ist. Hintergrundinformation: OKRs – Objectives and Key Results OKRs entstehen in einem strukturierten Prozess der Zielsetzung und -verfolgung, bei dem die Beantwortung von zwei Fragen im Mittelpunkt steht: „Was wollen wir erreichen?“ (Objectives) und „Wie können wir messen, dass wir das Ziel erreicht haben?“ (Key Results). Zentral sind dabei die Prinzipien Fokus, Ambition, vollständige Transparenz der OKRs vertikal und horizontal in der gesamten Organisation, partizipative Erarbeitung, konsequente Zuordnung von Verantwortlichkeit und Bewertung der Zielerreichung, Trennung von Vergütungssystemen und Fokus auf Lernen. OKRs sind im zeitlichen Rhythmus je nach Bedarf von täglich zu quartalsweise anpassbar und eignen sich für Start-ups ebenso wie für Konzerne. In der Praxis hat es sich bewährt, dass Teams alle drei Monate überlegen, welchen Beitrag sie zur Vision des Unternehmens leisten können, und daraus ambitionierte, motivierende Ziele (Objectives) ab-

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A. Müller

leiten. Diese werden dann in konkret zu erreichende Ergebnisse (Key Results) übersetzt und dienen als Maßstab dafür, den Teambeitrag zu messen. Besonders viel Erfahrung mit dem OKR-Prozess konnte das Unternehmen Google sammeln. Die positiven Erfahrungen und Hinweise sind bei Doerr et al. (2018) gut dokumentiert.

7

Die Leistungshonorierung als Element des Performance Managements folgt der Idee einer leistungsabhängigen Vergütung. Damit soll ein Anreizsystem geschaffen werden, das die Motivation der Mitarbeitenden und damit deren Leistung erhöht. Die Honorierung, welche im Rahmen des Performance Managements thematisiert wird, betrifft vor allem den variablen Vergütungsanteil (häufig „variable Vergütung“ genannt). Es gibt eine Vielzahl an Modellen der leistungsorientieren Vergütung im Sinne einer Belohnung für zurückliegende Leistung und Zielerreichung (DeNisi & Sonesh, 2011). Leistungsorientierte Vergütung (Pay for Performance) eignet sich jedoch nicht für alle Positionen und Mitarbeitergruppen. Fraglich ist außerdem, ob sich die Verknüpfung von individueller Leistung mit variablen Vergütungsbestandteilen überhaupt auf die Motivation auswirkt. Derzeit geht der Trend dahin, den Individualbonus zugunsten eines Teambonus oder anderer Kollektivboni abzuschaffen. Nach diesem ersten Überblick zum Verständnis von Performance Management in der Praxis soll in den folgenden Abschnitten nun konsequent die psychologische Perspektive herangezogen werden. Hilfreich hierfür ist, zunächst mit dem Begriff „Leistung“ zu beginnen.

7.2 

Leistung und Leistungsvoraussetzungen

Leistung wird grundsätzlich als Funktion von Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten und Motivation interpretiert, wobei Fähigkeiten und Motivation multiplikativ verknüpft werden. Diese Formel wurde 1964 von Vroom aufgestellt, häufig genutzt und um die situativen Möglichkeiten, z.  B.  Normen und Regelungen, ergänzt (von Rosenstiel, 2005). Durch multiplikative Verknüpfung muss jede Komponente wenigstens zu einem Mindestmaß vorliegen, damit Leistung entsteht. Definition

(

)

L Leistung = f FFähigkeit × MMotivation × SSituation

Nach der Definition von Schuler und Marcus (2004) verbirgt sich hinter dem Begriff „Leistung“ der individuelle Leistungsbeitrag zu den Zielen eines Unternehmens, welcher mittels Leistungsbeurteilung quantifiziert wird. Leistung wird im Rahmen des Performance Managements als ein messbares Ergebnis verstanden und umfasst demnach nur solche Aktivitäten, die für die Ziele des Unternehmens von Bedeutung und als individuelle Leistung einer Person messbar sind. Dennoch ist Leistung gleichfalls ein Prozess, da die Ausübung von Arbeitstätigkeiten häufig erst mittel- oder langfristig sichtbar wird. Lohaus (2009) unterscheidet zwischen einer Ergebnis- und einer Prozessperspektive auf Leistung, auch Motowidlo und Keil (2013) unterteilen in aufgabenund umfeldbezogene Leistungen. Ergebnis- und aufgabenbezogene Leistungen (Task Performance) betreffen das Verhalten auf eine bestimmte Tätigkeit beschränkt, d. h.,

121 Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung

die Leistung einer Person entspricht dem, was sie geschaffen oder erreicht hat, z. B. Anzahl abgeschlossener Versicherungsverträge oder Zufriedenheit der Kund:innen mit der Betreuung durch eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter. Die zweite Perspektive ist die Sicht auf Leistung als Prozess. Die individuelle Leistung wird hier als Verhalten beschrieben, das dazu geeignet ist, Unternehmensziele unabhängig von der spezifischen Tätigkeit zu erreichen, wie z. B. Freundlichkeit. Das Leistungsverhalten hat dabei Aspekte, die über Fertigkeiten im fachlichen Sinne hinausgehen, und trägt zur Effektivität des Unternehmens bei, indem es a­ ufgabenbezogenes Verhalten erleichtert. Individuelle Leistungsunterschiede in sog. umfeldbezogenen Leistungen sind eher mit Motivationsunterschieden als mit Unterschieden im Wissen, in Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erklären. Diese Klasse von Verhaltensweisen wird als eigenständige Form des beruflichen Leistungsverhaltens verstanden, die von aufgabenbezogenem Verhalten unabhängig und berufsübergreifend relevanter Verhaltensbestandteil der Leistung ist. Unter der Annahme, dass eben diese überfachlichen Verhaltensweisen wichtig für das bessere Funktionieren von Unternehmen sind, wurde ihnen der Forschung viel Aufmerksamkeit zu teil (vgl. Konzept des "Organizational Citizenship Behavior"). Der Leistungsbegriff, den Unternehmen für Beurteilungen im Rahmen des Performance Managements heranziehen, bezieht sich dann auf die aufgaben- und umfeldbezogene Perspektive, wenn einerseits konkrete quantitative Ziele gesetzt wurden und andererseits qualitative Ziele über dokumentierte Beobachtungen, z. B. zu Kooperations- oder Extrarollen-Verhalten, berücksichtigt werden. Im Rahmen des Performance Managements spielt vor allem die Motivation der Mitarbeiter:innen eine Rolle. Motivation ist als Kombination von (1) Aktivierung, (2) Richtung und (3) Ausdauer eines zielgerichteten Verhaltens definiert. (1) Unter Aktivierung werden die Anstrengung und Intensität (Antrieb oder Energie) verstanden, die Handlungen auslösen. (2) Die Richtung der Anstrengung wird durch die persönliche Entscheidung darüber, welches Ziel ausgewählt wird, festgelegt. (3) Die Ausdauer des Verhaltens bezieht sich auf die Dauer der Anstrengung und auf Faktoren, die dazu beitragen, dass ein Verhalten bis zur Erreichung eines Ziels durchgeführt wird. Wenn sich Mitarbeitende weder in ihren Fähigkeiten noch in ihren Fertigkeiten unterscheiden, aber dennoch unterschiedliche Leistung erbringen, geht man von motivationalen Unterschieden aus. 7.2.1 

Ziele und Leistungssteuerung über Motivation

Die Annahmen der Zielsetzungstheorie (Locke & Latham, 2013) gehen davon aus, dass Ziele das Leistungshandeln positiv beeinflussen, weil sie die Aufmerksamkeit auf handlungsrelevante Informationen lenken sowie Anstrengung und Ausdauer regulieren. Die Zielsetzungstheorie wurde vielfach untersucht und empirisch bestätigt und lieferte Anfang der 1990er-Jahre die theoretische Grundlage für das Führen über Zielvereinbarungen (MbO) nach. Der Vorteil der Anwendung von Zielen besteht darin, dass sie das Streben von Mitarbeitenden nach der Erreichung von Zielen nutzt, jedoch die Wahlfreiheit des Weges zur

7

122

A. Müller

Moderatoren und Randbedingungen Fähigkeiten Selbstwirksamkeit Zielbindung Rückmeldung Aufgabenkomplexität Inhalt und Form der Zielsetzung schwierig spezifisch

7

Prozessvariablen und Wirkmechanismen Anstrengung Ausdauer Aufmerksamkeit Aufgaben-spezifische Strategien

Leistung

Konsequenzen Bindung an Aufgabe und Unternehmen

Belohnung internal/ external

Zufriedenheit

..      Abb. 7.1  Komponenten der Zielsetzungstheorie. (Nach Locke & Latham, 2013)

Erreichung des Ziels lässt und damit Selbststeuerung und Handlungsspielraum ermöglicht. Der positive Zusammenhang zwischen Zielen und Leistung hat sich in vielen Studien bestätigt und gilt als unbestritten (Kleinbeck & Kleinbeck, 2009). Die Wirkweise hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab, die in . Abb. 7.1 dargestellt werden. Die Erkenntnisse sind folgende: hohe, herausfordernde und spezifisch formulierte Ziele können die Leistung fördern. Wichtig dabei ist, dass die Ziele von den Mitarbeitenden als anspruchsvoll empfunden werden. Das ist z. B. der Fall, wenn ein Mitarbeiter größere Verantwortung übernehmen kann oder einer Mitarbeiterin die Aufgaben wichtig und interessant sind. Neben den Zielen ist die zweite Voraussetzung für hohe Leistung eine hohe Selbstwirksamkeit, d. h. das Zutrauen der Mitarbeiterin/des Mitarbeiters in die eigenen Fähigkeiten, die Aufgabe zu erfüllen. Entsprechende Ziele und Selbstwirksamkeit führen dazu, dass Mitarbeitende ihr Verhalten auf die Ziele ausrichten und nach Strategien suchen, die für die Zielerreichung nützlich sind. Außerdem bewirken sie eine höhere Anstrengung und Ausdauer als zu wenig anspruchsvolle und vage formulierte Ziele und geringe Selbstwirksamkeit. Die Höhe der resultierenden Leistung wird noch durch weitere Faktoren beeinflusst. Ausreichende Fähigkeiten, Akzeptanz und Commitment, d. h. die Bindung an die Ziele, Feedback bezüglich der Zielerreichung sowie die Aufgabenkomplexität und situative Rahmenbedingungen (z.  B. geeignete Werkzeuge, Arbeitsmethoden und Arbeitsumgebung oder Zeit) beeinflussen sowohl das Verhalten als auch die Leistung. Gute Leistungen in anspruchsvollen Aufgaben, die entsprechend belohnt werden (z.  B. durch Erkennen des eigenen Beitrags oder des Arbeitsfortschritts, anerkennendes Feedback, finanzielle Konsequenzen, Karriereschritte) führen zu hoher Arbeitszufriedenheit. Folgen hoher Arbeitszufriedenheit sind eine stärkere Bindung an das Unternehmen und die Bereitschaft, auch zukünftig hohe Ziele zu akzeptieren und sich zu engagieren.  

123 Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung

Positiv an der Zielsetzungstheorie ist, dass sich ihre Aussagen in konkrete Handlungsanweisungen überführen lassen, welche u.  a. in Zielvereinbarungsgesprächen genutzt werden können. Im Rahmen des Performance Managements hat sich in diesem Zusammenhang besonders das Akronym SMART weit verbreitet, nach dem Ziele spezifisch definiert, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert formuliert werden sollen. Ein wichtiger Aspekt ist das regelmäßige Feedback, worauf weiter unten genauer eingegangen wird (7 Abschn. 7.2.2). Ungünstig wirken sich miteinander in Konkurrenz stehende Ziele aus. Besonders unvereinbare, konfligierende Ziele können eine klare Ausrichtung des Verhaltens verhindern. In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, dass die Zielsetzungstheorie für Individuen als empirisch gut gesichert gilt, aber nicht in gleichem Ausmaß auf Teams oder Gruppen übertragbar ist. Die typische Unterscheidung nach intrinsischen und extrinsischen Arbeitsmotiven sei hier kurz erwähnt. Intrinsische Arbeitsmotive ergeben sich aus der Tätigkeit selbst und bedürfen keiner Anerkennung von außerhalb. Das Bedürfnis, Leistung zu erbringen, und das Bedürfnis nach Sinngebung und Selbstverwirklichung zählen beispielsweise zu den intrinsischen Arbeitsmotiven. Zu den extrinsischen Motiven zählen das Bedürfnis nach Geld, Anerkennung und Sicherheit sowie das Bedürfnis nach Kontakten zu anderen Menschen, die sich nicht direkt aus der Arbeitstätigkeit ergeben (Lohaus, 2009).  

7.2.2 

Bedeutung von Feedback in der Leistungssteuerung

Die besondere Rolle von Feedback wird nicht nur in der Zielsetzungstheorie betont, sondern auch in anderen Theorien wie dem Job-Characteristics-Modell, welches Kenntnisse der Ergebnisse der eigenen Aktivitäten als kritischen psychologischen Zustand und das Ausmaß, in dem die Ausführung einer Tätigkeit selbst direkte und klare Informationen über die Leistung eines Mitarbeitenden gibt, als Kernmerkmal der Arbeit und wesentliche Komponente des Motivationspotenzials beschreibt (Hackman & Oldham, 1980). Um in einer Tätigkeit gut zu werden, benötigen Mitarbeitende eine Rückmeldung zu dem, was sie tun bzw. erreichen. Durch ein klares Feedback erkennen Mitarbeitende, wie sehr ihre Leistungen den Anforderungen entsprechen. Unternehmen versuchen daher seit Jahrzehnten, Feedback zu institutionalisieren. Feedback zum zentralen Bestandteil des jährlichen Mitarbeitendengesprächs im Rahmen des MbO zu machen ist dabei weitverbreitete Praxis. Führungskräfte werden so aufgefordert bzw. verpflichtet, mindestens einmal im Jahr ihren Mitarbeitenden rückblickend ein individuelles Feedback über deren Zielerreichung, Leistung, Verhalten und Fähigkeiten zu geben. Man geht davon aus, dass Mitarbeitende nur oder vor allem dann von ihren Führungskräften Feedback erhalten. Aus der Forschung ist bekannt, dass Feedback am effektivsten ist, wenn es unmittelbar statt verzögert gegeben wird (vgl. Hossiep et al., 2008). Feedback sollte spezifisch und glaubwürdig sein, geeignete Informationen für die Verbesserung der Leistung enthalten und auf die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen. So benötigen etwa leistungsschwache Mitarbeitende besonders spezifisches und besser wertschätzendes Feedback. Mehr Feedback ist generell besser, obwohl es bei zu viel Feedback zu Überforderung, Verwirrung und Ohnmachtsgefühlen bei den Feedback-

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empfangenden kommen kann. Dies insbesondere dann, wenn das Feedback negativ ist und von der eigenen Selbsteinschätzung abweicht (Green et al., 2017). In Feldstudien zum Einfluss der Zielsetzung auf Leistung wurde zwischen Feedback von Vorgesetzen und Feedback, das Mitarbeitende selbstständig in ihrem Aufgabenbereich ermitteln konnten, unterschieden. Die Möglichkeit, den Grad der Zielerreichung selbst zu bestimmen, führte dabei im Vergleich zu externem Feedback zu höherer Leistung (vgl. Jöns, 2018). Ein weiterer theoretischer Ansatz, der sich mit arbeitsbezogenen Rückmeldungen in Form von objektiven Leistungsdaten befasst und wichtige Handlungsempfehlungen ermöglicht, ist die Feedback-Intervention-Theorie (Kluger & De Nisi, 1996). In einer umfassenden Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass es im Großen und Ganzen einen positiven Zusammenhang zwischen Feedback und Leistung gibt, Feedback aber auch zu Leistungsreduktion führen kann. Feedback kann dazu führen, dass Mitarbeitende entweder ihre Aufgaben, Aufgabendetails und die Leistung beachten oder die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken. Ist das Feedback mit der Aufgabe gekoppelt, dann ist der Effekt üblicherweise positiv. Wird das Feedback hingegen mit der Person selbst in Verbindung gesetzt, scheinen positive Effekte auszubleiben und manchmal sogar negative Effekte einzutreten (Krenn et al., 2013). Rückmeldungen bewirken eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Aufgabe und Aufgabenschritte oder auf die Person selbst. Zudem konnte gezeigt werden, dass positive und negative Rückmeldungen eine differenzierte Wirkung auf Leistung haben. Idson und Higgins (2000) wiesen nach, dass Personen, die vorwiegend auf die Zielerreichung konzentriert sind, eher durch positives Feedback motivierbar sind und ihre Leistungen steigern können. Personen dagegen, die vor allem Fehler vermeiden wollen, sind durch negatives Feedback motivierbar. Letztere können aus Feedback zu Fehlern mehr handlungssteuernde Informationen entnehmen als aus Feedback zu positiven Handlungsergebnissen. Noch ein Beleg dafür, dass nicht jede Art von Feedback gleichermaßen nützlich und unterstützend ist. Grundsätzlich hat die Forschung jedoch gezeigt, dass positives Feedback effektiver ist als negatives Feedback, welches darauf fokussiert, was Mitarbeitende falsch gemacht haben. Zusammenfassung der Praxis- und Anwendungstipps für wirkungsvolles Feedback

Werkmann-Karcher (2019, S. 163) fasst die Empfehlungen und Erkenntnisse aus der Forschung dazu, wie wirkungsvolles Feedback die Leistung fördern kann, in folgenden Stichpunkten zusammen: Feedback sollte 55 einen deutlichen Bezug zur Aufgabenebene aufweisen (Tun, Handeln), 55 sich nicht an die Persönlichkeit adressieren (Sein oder Nichtsein), 55 positive Vergleiche mit eigenem, früherem Leistungsverhalten beinhalten, 55 keine Vergleiche mit den Leistungen anderer Mitarbeitenden enthalten, 55 klare Verbesserungsvorschläge oder -empfehlungen beinhalten sowie 55 von Zielsetzungen begleitet werden.

125 Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung

Wie Feedback aufgenommen wird, hängt stark von der Art und Weise ab, in der es vermittelt wird. Eine weitere Voraussetzung dafür, dass Feedback ankommt, ist die Offenheit gegenüber Feedback. Die Offenheit gegenüber Feedback ist dann am größten, wenn die bzw. der Feedbackempfangende aktiv um Feedback bittet (Trost, 2017). Mit formellen und institutionalisierten Feedbackprozessen erkennt ein Unternehmen an, dass es bzw. dessen Mitarbeitende in Führungsfunktionen Verantwortung dafür tragen, dass Mitarbeitende regelmäßig Feedback erhalten. Kritisch zu ergänzen ist hier allerdings, dass verordnetes, also extrinsisch motiviertes Feedback von Mitarbeitenden geringer geschätzt wird als freiwilliges, intrinsisch motiviertes Feedback. Weiterhin gilt es zu bedenken, dass Mitarbeitende häufig über eine höhere Expertise in ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet verfügen als direkte Vorgesetzte. Zudem führen agile Arbeitsmethoden wie z. B. Scrum dazu, dass sich Mitarbeitende nicht primär der direkten Führungskraft verpflichtet fühlen, sondern den internen oder externen Kund:innen und auch von diesen Feedback einholen. Dass Unternehmen die Grenzen klassischer, durch Zielvereinbarungen regulierter Feedbackprozesse erkennen, bestätigt ein Trend, wonach bekannte Unternehmen wie Adobe, Accenture, Deloitte, Gap, General Electric, Microsoft, PwC oder SAP sogenannte Check-Ins und Feedback-Apps etablieren (Lievens et al., 2020). Ein anderer Trend greift Erkenntnisse der positiven Psychologie auf und fokussiert konsequent auf einem stärkenbasierten Leistungsfeedback. Der Ansatz wird im folgenden Absatz näher vorgestellt. 7.2.3 

Stärkenbasiertes Feedback in der Leistungssteuerung

Auf der Grundlage der positiven Psychologie wurde im Leistungsmanagement eine Bewegung (auch: positives HRM) in Gang gesetzt, die darauf abzielt, die Stärken der Mitarbeitenden zu ermitteln und zu entwickeln, anstatt ihre Schwächen hervorzuheben (Buckingham & Goodall, 2015). Der Grund dafür ist, dass Mitarbeitende in der Regel schon genug über ihre Schwächen gehört haben und oft nur ungern auf negatives Feedback reagieren. Infolgedessen führt korrigierendes Feedback häufig zu Unzufriedenheit, Abwehrreaktionen und weniger Verhaltensänderungen. Theoretisch baut das stärkenbasierte Feedback (Strength-Based Performance Appraisal) auf dem Prinzip der sogenannten Appreciative Inquiry auf. Der Ansatz aus der Organisationsentwicklung geht auf Cooperrider und Srivastva (1987) zurück und beschreibt eine Methode zu Aufbau und Veränderung einer Organisation auf der Grundlage dessen, was funktioniert, und nicht auf der Grundlage dessen, was nicht richtig funktioniert. Infolge von stärkenbasiertem Feedback wird positives Feedback und damit die Konzentration auf die Stärken der Mitarbeitenden, auf deren individuelles Wohlbefinden, Engagement und Produktivität gesteigert (Clifton & Harter, 2003; Bouskila-Yam & Kluger, 2011; Budworth et al., 2015). Im Performance Management wird dies über ein Feedforward-Interview umgesetzt. Kluger und Nir (2010) schlagen vor, traditionelle Zielvereinbarungsgespräche und Leistungsbeurteilungsgespräche durch ein Feedforward-Interview zu ersetzen oder zumindest darum zu ergänzen. In einem solchen Interview haben Mitarbeitende

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höchstmögliches Mitspracherecht. Zunächst wird darum gebeten, die Geschichte konkreter Erfolge zu erzählen, bei denen die Mitarbeiterin bzw. der Mitarbeiter ihr/ sein Bestes gegeben hat. Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem erzielten Ergebnis, sondern auf dem Gefühl (positive Emotionen und Flow), welches die Mitarbeitenden bei der Ausführung der Tätigkeit hatten. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass die Mitarbeitenden jeweils von ihrem besten Arbeitstag im vergangenen Jahr erzählen. Auf diese Weise werden die Rahmenbedingungen ermittelt, unter denen die Mitarbeitenden in Zukunft am besten arbeiten können. Der Schwerpunkt liegt auf den positiven Aspekten, auf der Schaffung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden und einem psychologisch sicheren Umfeld für den Informationsaustausch. Neben Feedforward kommt die Methode des „reflektierten, besten Selbstporträts“ (Reflected Best Self; Roberts et al., 2005) zur Anwendung. Ein reflektiertes, bestes Selbstporträt basiert auf den Kompetenzen, die Mitarbeitende derzeit tatsächlich besitzen. Es ist kein ideales Selbstbild. Da es nicht immer einfach ist, die Stärken selbst zu bestimmen, befragt die Zielperson z.  B.  Familie, Freund:innen, Lehrer:innen, Vorgesetzte und Kolleg:innen zu ihren Stärken (vgl. auch 360°-Feedback). Auch hier wird darum gebeten, kurze Geschichten über die jeweiligen Stärken zu schreiben. Auf diese Weise erhält die Zielperson konkrete Beispiele für Momente, in denen sie diese Stärken auf sinnvolle Weise eingesetzt hat. Anschließend fügt die Zielperson ihre eigenen Beobachtungen hinzu und sucht nach gemeinsamen Themen. Als Endergebnis verfasst die Zielperson eine Beschreibung ihrer selbst, die die gesammelten Informationen zusammenfasst. Diese Selbstbeschreibung beginnt mit: „Ich bin am besten als …“ und kann verwendet werden, um Anpassungen an die Funktion und den Arbeitskontext vorzunehmen. Der Nutzen von positivem HRM für das Performance Management liegt in der Möglichkeit, Ziele zu entwickeln, die den Stärken der Mitarbeitenden entsprechen und gleichzeitig den Unternehmenszielen dienen. Zielsetzung und Zielbeurteilung werden hier beibehalten. Werden Ziele nicht erreicht, soll die Frage danach gestellt werden, wo im Unternehmen und in welcher Aufgabenstellung die vorhandenen Stärken der Mitarbeitenden besser eingesetzt werden können. 7.2.4 

Fortlaufende Leistung durch Commitment

Beim Thema Mitarbeiterbindung (Commitment) konzentriert sich das Performance Management insbesondere auf die Mitarbeitenden, die für das Unternehmen überdurchschnittlich wertvoll und schwer ersetzbar sind. Forschungsergebnisse belegen, dass eher die leistungsstarken Mitarbeitenden ein Unternehmen freiwillig verlassen. Zugleich sind die Fluktuationskosten bei leistungsstarken Mitarbeitenden, bei besonders talentierten High-Potentials und bei Mitarbeitenden auf Schlüsselpositionen höher als bei den anderen Mitarbeitenden desselben Unternehmens (vgl. Trost, 2017). Die Bindung an ein Unternehmen ist bei Mitarbeitenden besonders hoch, wenn sie dessen Werte und Normen internalisiert haben, bereit sind, sich für das Unter-

127 Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung

nehmen anzustrengen, und sich wünschen, im Unternehmen zu verbleiben. Es werden drei Formen von Commitment unterschieden – kalkulatives, affektives und normatives Commitment (vgl. Felfe, 2020): 55 Kalkulatives Commitment entsteht, wenn Mitarbeitende ihre Kosten für das Verlassen des Unternehmens als zu hoch einschätzen, z.  B. wegen ungenügender Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder weil sie herausfordernde und schwierige Auswahlprozesse für eine Stelle in dem Unternehmen durchlaufen haben. Mitarbeitende bleiben im Unternehmen, weil sie aus ihrer Bewertung heraus bleiben müssen. 55 Affektives Commitment korreliert negativ mit der Kündigungsbereitschaft und kann innovatives Verhalten und Leistung fördern. Mitarbeitende, die affektiv an ein Unternehmen gebunden sind, bleiben, weil sie sich mit dem Unternehmen identifizieren, in seine Aufgaben involviert sind und sich dem Unternehmen emotional verpflichtet fühlen. Affektive Bindung kann durch verschiedene Maßnahmen hervorgerufen werden, z. B. führt ein gelungenes Mentoring während der Einarbeitungszeit zu Gefühlen der Dankbarkeit und Identifikation mit dem Unternehmen. 55 Normatives Commitment beruht auf dem Gefühl der Verpflichtung, dem Unternehmen treu bleiben zu müssen. Positiv ausgedrückt sind die Mitarbeitenden mit normativer Bindung überzeugt, dass es richtig ist, dem Unternehmen treu zu bleiben und eine Kündigung aus moralischen Gründen, wie aus Dankbarkeit, nicht in Frage kommt. Aus Unternehmenssicht stellt ein positives Commitment eine wichtige Ressource dar. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass Mitarbeitende nicht das Unternehmen verlassen, sobald sich eine attraktivere Alternative bietet, und vor allem auch in schwierigeren Zeiten dem Unternehmen „treu“ bleiben. Wenn sich die Mitarbeitenden einem Unternehmen in hohem Maße verbunden fühlen und sich mit ihm identifizieren, werden sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit stärker für die Interessen und Ziele des Unternehmens engagieren, eher bereit sein, Veränderungen und neue Entwicklungen zu akzeptieren, und dem Unternehmen auch dann treu bleiben, wenn sich attraktive Beschäftigungsalternativen bieten. Damit ist Commitment ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Der Zusammenhang zwischen Commitment und Leistung ist generell weniger gut erforscht als der Zusammenhang zwischen Arbeitszufriedenheit und Leistung. Die untersuchten Konsequenzen von hohem bzw. niedrigem Commitment lassen sich laut Felfe (2020) in zwei Bereiche unterteilen: erwünschte positive Auswirkungen wie Leistungssteigerung, Organizational Citizenship Behavior, Veränderungsbereitschaft, Wohlbefinden und das Ausbleiben negativer Verhaltensweisen wie Absentismus und Fluktuation. Der Zusammenhang zwischen Commitment und Leistung wird außerdem durch das Streben nach einer positiven sozialen Identität im Sinne der Theorie der sozialen Identität (SIT; Tajfel & Turner, 1986) erklärt. Der Erfolg des Unternehmens wertet die soziale Identität auf und hebt damit den Selbstwert.

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7.3 

Leistungsbeurteilung

Wie zuvor dargestellt, schließt die Perspektive auf Leistung nicht ausschließlich die erfüllte Ergebniserwartung, sondern auch das Verhalten selbst, das zu den Ergebnissen führt, mit ein. Das stellt hohe Anforderungen an das Beurteilungssystem und an die Kompetenzen derer, die für die praktische Umsetzung verantwortlich sind. Definition „Bei der Leistungsbeurteilung geht es darum, die Leistung im Sinne des Beitrags einer Person zur Erreichung der Ziele der Unternehmensleitung möglichst angemessen zu beschreiben und zu bewerten. Grundlage ist die Leistung, die Menschen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit gegen Entgelt erbringen. Die übliche Betrachtungseinheit ist der Arbeitsplatz bzw. eine Position, die eine Person innehat“ (Lohaus, 2009, S. 9).

7 Laut Blickle (2019) ist ein Aspekt immer zu beachten, unabhängig davon, für welche Form der Beurteilung man sich auch entscheidet  – vor jeder systematischen Beurteilung muss genau festgelegt werden, was man beurteilen will. Daraus folgt die grundsätzliche Forderung, dass Beurteilungen immer anforderungsbezogen sein müssen. Es sollte also nicht die Person beurteilt werden, sondern in welchem Maße die Mitarbeitenden den gestellten Anforderungen gerecht werden. In Bezug auf die konkreten Anlässe der Leistungsbeurteilung lassen sich tägliche Rückmeldungen (Day-to-day-Feedback), die Regelbeurteilung und die Potenzialbeurteilung unterscheiden. Bei Day-to-Day-Feedback handelt es sich um leistungsbezogene Rückmeldungen, die Vorgesetzte in der täglichen Zusammenarbeit mit ihren Mitarbeitenden geben. Meist finden sie unsystematisch im Rahmen eines kurzen, informellen Gesprächs statt, beschränken sich auf einen Aspekt der Leistung und werden nicht schriftlich festgehalten. Ziel dieses Feedbacks ist neben Verhaltenssteuerung und Lernen auch die Motivation der Mitarbeitenden. Diese Art des Feedbacks wird in der heutigen Arbeitswelt immer wichtiger. Bei der Potenzialbeurteilung geht es um die Ermittlung der fachlichen und sozialen Eignung von Mitarbeitenden für die Erledigung von Arbeitsaufgaben. Im Gegensatz zur Leistungsbeurteilung, die sich auf in der Vergangenheit tatsächlich erbrachte Leistungen bezieht, macht die Potenzialanalyse Aussagen darüber, was von einer Person in Zukunft erwartet werden kann. Während bei der Leistungsbeurteilung die typische Leistung erfasst wird, die sich aus Leistungsfähigkeit, Motivation und situativen Faktoren ergibt, bezieht die Potenzialbeurteilung keine situativen Faktoren ein. Potenzialanalysen werden bei der Personalauswahl und -entwicklung, im Rahmen von regelmäßigen Leistungsbeurteilungen und Assessment-Centern durchgeführt. Sie zeigen die Verzahnung des Performance Managements mit anderen Bereichen des HRM deutlich. Die Regelbeurteilung ist die eigentliche Leistungsbeurteilung und hat zur Aufgabe, Ziele über längere Fristen hinweg zu setzen und eine Basis für das zu liefern, was gemeinhin als „Beurteilungsgespräch“ bezeichnet wird, sowie für diverse personelle Maßnahmen wie Bezahlung, Förderungsplanung etc. (vgl. Schuler & Görlich,

129 Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung

2018). Ihre Form ist die übliche turnusgemäße Beurteilung, meist unter Verwendung eines bestimmten Beurteilungsverfahrens. Eine Vielzahl von Studien auf dem Gebiet der Leistungsbeurteilung hat gezeigt, dass sich Einschätzungen je nach dem Zweck der Beurteilung deutlich unterscheiden können. Es ist daher wichtig, das Ziel einer Beurteilung genau zu spezifizieren und bewusst im Beurteilungsinstrument zu berücksichtigen. Speziell die gleichzeitige Nutzung der Leistungsbeurteilung für administrative Zwecke (z. B. Entscheidungen über Entgelt oder Beförderungen) und für Entwicklungszwecke (z.  B.  Ermittlung von Trainingsbedarf) ist problematisch (vgl. Lohaus, 2009). Kanning und Team (2013) beobachten eine verstärkte Entwicklung hin zur Entformalisierung und einer zunehmenden Individualisierung von Beurteilungssystemen. Mit dem Anspruch, motivationale sowie soziale und entwicklungsorientierte Aspekte deutlicher zu berücksichtigen, werden zugleich Abstriche in Hinblick auf die klassische Messung von Leistung gemacht. Ein Überblick dazu, welche Verfahren der Leistungsbeurteilung in der Praxis relevant sind, gibt . Tab. 7.1.  

..      Tab. 7.1  Varianten der Leistungsbeurteilung und Beurteilungsverfahren. (Vgl. Werkmann-­ Karcher, 2013 und Kanning et al., 2013) Beurteilungsverfahren

Beschreibung

Freie Eindrucksbildung

Individuelle, nicht formalisierte Urteilsbildung aufgrund der Beobachtung von Eigenschaften und Verhaltensweisen, die nach Urteilsaspekten subjektiv bedeutsam erscheinen

Einstufungsverfahren

Häufige Form der standardisierten Leistungsbeurteilung mittels Kriterien- oder Merkmalsdimensionen (z. B. Ergebnisorientierung), die auf einer mehrstufigen Skala (i. d. R. 1–5) eingeschätzt werden. Sie ermöglichen eine gute Vergleichbarkeit der Beurteilungen insbesondere, wenn ausformulierte Verhaltensanker die Beurteilung unterstützen

Rangordnungsverfahren

Rangordnungen stützen sich auf den Vergleich der Leistung von mehreren Mitarbeitenden und können sowohl für die Gesamtleistung von Mitarbeitenden als auch für einzelne Leistungsdimensionen erstellt werden. Auf die Vorgabe zu bewertender Aussagen wird verzichtet, möglich sind direkte Paar-Vergleiche. Aufgrund der Annahme einer Normalverteilung der Gesamtleistung der beurteilten Mitarbeitenden werden Quoten festgelegt (Forced Ranking oder Guided Distribution)

Kennzeichnungsverfahren

Auch Auswahlverfahren genannt. Beurteilen mittels Checklisten, ob bestimmt Aussagen zum Arbeitsverhalten (meist erfolgskritische Herausforderungen) zutreffen oder nicht zutreffen. Beim Zwangswahlverfahren ist zwischen mehreren alternativen Aussagen zu entscheiden. Leistungseinschätzungen sind wenig untereinander vergleichbar

Zielsetzungsverfahren

Einstufungsverfahren werden häufig mit konkreten Zielen verknüpft, welche im Rahmen eines MbO gesetzt wurden. Wichtig ist hier, dass die Ziele operationalisiert werden können und Verhalten den gesetzten Zielen zugeordnet werden kann

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Psychologisches Know-how fließt einerseits in das Ausformulieren von Verhaltensankern und der genutzten Ratingskalen ein, anderseits trägt es zur Güte der entwickelten Beurteilungsverfahren bei, indem Reliabilität und Validität der Beurteilungsinstrumente sichergestellt werden können. Kritisch diskutiert wird, ob vorgegebene Verteilungen wie Forced Distribution sich negativ auf die Motivation und Akzeptanz der Mitarbeitenden auswirken, da solche Vorgaben lediglich auf Vergleichen der Mitarbeitenden untereinander beruhen, aber keine objektive Leistungsbeurteilung ermöglichen (Meyer-Ferreira, 2015). Weithin bekannt ist das Problem der Urteilsverzerrung. Es können verschiedene Arten von Urteilstendenzen unterschieden werden wie Mittelwerts-, Streuungs-, und Korrelationstendenzen. Die Urteilstendenzen führen jedoch im Ganzen gesehen nicht zu weniger akkuraten Leistungsbeurteilungen (Schuler & Görlich, 2018). Eine entsprechende Schulung der beurteilenden Personen, in der Regel der Führungskräfte, ist dennoch sinnvoll.

7.4 

Leistungsabhängige Honorierung

Leistungsabhängige Vergütung ist in der Praxis meist mit der Zielerreichung im Rahmen eines MbO verknüpft. Ein häufiges Argument für die variable Vergütung ist der Anspruch, dass die Mitarbeitenden dadurch zu unternehmerischem Denken angeregt und gefördert werden sollen. Die Idee hinter einer leistungsabhängigen Vergütung (Pay for Performance, häufig auch „variable Vergütung“ genannt) ist es, im Rahmen des Performance Managements ein Anreizsystem zu schaffen, das die Motivation der Mitarbeitenden und damit deren Leistung erhöht. Es gibt eine Vielzahl an Modellen der leistungsorientieren Vergütung (für eine Übersicht siehe Stock-Homburg, 2013). Die Kritik, welche die Grenzen des MbO betrifft, wird durch die Koppelung zwischen Zielvereinbarung und Honorierung der Zielerreichung mittels variabler Lohnkomponenten (i. d. R. Boni) noch verstärkt. Die oft kurzfristige (an ökonomischen Maßstäben ausgerichtete) Zielerfüllung steht im Widerspruch zur Schaffung langfristig nutzbarer Potenziale. Dieses Vorgehen birgt die Gefahr einer einseitigen Fixierung auf bestimmte, insbesondere quantitative Ziele. Zudem ist es nur für Aufgaben bestimmter Mitarbeitendengruppen geeignet, für die eine eindeutige Operationalisierbarkeit und Messbarkeit der Zielerreichung gegeben ist. Zudem besteht das Problem der Zurechenbarkeit bzw. des Spielraums zur Beeinflussung der Zielerreichung sowie des Belohnens der extrinsischen Motive. Es ist daher fraglich, ob sich die Verknüpfung von individueller Leistung mit variablen Vergütungsbestandteilen überhaupt auf die Motivation auswirkt. Es ist zu erwarten, dass Boni sich sogar negativ auf die Leistung auswirken, da sie die intrinsische Motivation untergraben. Donkor und Slobodjanjuk (2014) stellen fest, dass der eigentliche Hauptzweck des Performance Managements – die Beurteilung und Weiterentwicklung von Mitarbeitendenleistungen  – heute immer mehr durch die vergütungsbezogene Nutzung von Performance-Management-Systemen verdrängt wird. Gleichzeitig sagen sie voraus, dass künftig eine verstärkte Entkopplung von Leistungsbeurteilung und Ver-

131 Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung

gütungsentscheid stattfinden wird. Armstrong (2017) stellt sich diesbezüglich auf den Standpunkt, dass eine leistungsbezogene Vergütung auch ohne Leistungsbeurteilung und Performance-Ratings möglich sei. Dazu sei es nötig, die Entlohnung zeitlich wie auch prozessual von der Mitarbeitendenbeurteilung zu entkoppeln. Vergütungsentscheide sind seiner Ansicht nach basierend auf dem Wert des/der Mitarbeitenden für das Unternehmen (z. B. hoch, mittel, tief, kein) zu fällen. Diesen einzuschätzen und zu benennen, obliege der Führungskraft, so Armstrong. Inwiefern sich eine solche Einschätzung tatsächlich von einer Mitarbeitendenbeurteilung im klassischen Sinne unterscheidet, scheint allerdings fraglich. Theoretisch stützen sich Überlegungen zur variablen Vergütung auf die Equity-­ Theorie von Adams aus dem Jahr 1965 (Müller, 2018). Obwohl die Equity-Theorie grundsätzlich für alle Arten von Belohnungen gilt und ihrem Anspruch nach nicht ausschließlich für Leistungsvergütungssysteme formuliert wurde, fand in der Praxis eine Eingrenzung in der Anwendung der Theorie auf die Beziehung zwischen Leistung und finanzieller Entlohnung statt. Im Sinne der Equity-Theorie erleben Personen ihr Gehalt als gerecht, wenn das Verhältnis zwischen eigener Leistung und erhaltenem Lohn dem Verhältnis der Leistung anderer und deren Lohn entspricht. Ebenso erleben Mitarbeitende den Prozess, welcher zur Entscheidung über die Höhe ihres Leistungslohns führt, als umso gerechter, je transparenter der Entscheidungsprozess durch aktive Darstellung von offiziellen und nachvollziehbaren Begründungen gestaltet ist und je beeinflussbarer sie ihn durch das Kundtun ihrer eigenen Meinung wahrnehmen.

7.5 

 erformance-Management-Update durch Kollaboration P und Digitalisierung

Digitalisierung und neue Strukturen der Zusammenarbeit führen dazu, dass Abläufe und Entscheidungswege in Unternehmen grundsätzlich transparenter werden. Fluide und anpassbare Ziele, kontinuierliches Feedback und zukunftsorientiertes Coaching anstelle von vergangenheitsorientierten Rankings und Ratings, ein größerer Fokus auf das Team als Ganzes und nicht auf einzelne Mitarbeitende als konkurrierende Individuen – all dies beinhaltet der zeitgemäße Ansatz des Performance Managements. Firmen wie General Electrics, Gap, Adobe Systems, Zalando haben sich vom klassischen Performance Management im Sinne von jährlichen Beurteilungen verabschiedet und probieren neue Formen der Performance-Reviews aus (Lievens et al., 2020). Sogar die großen Finanz- und Versicherungsinstitute, welche typischerweise einen hohen Anteil von Mitarbeitenden über Leistungsziele und Leistungshonorierung steuern, trauen der neuen Performance-Philosophie. So will etwa Goldman Sachs ihre 36.500 Mitarbeiter nicht mehr jährlich auf einer Skala von 1 bis 9 bewerten, sondern setzt auf das kontinuierliche Feedback via spezialisierten Online-Systemen (Trost, 2017). Solche Systeme erlauben zudem eine Real-Time-Analyse hinsichtlich der Performance und bieten eine gute Datengrundlage für People Analytics. Entscheidend ist jedoch, wie derartige Online-Systeme in den Feedbackprozess integriert werden. Werden auch diese im Sinne einer Stärkenorientierung mit vorausschauenden und kontinuierlichen Dialogen genutzt, fühlen sich Mitarbeitende geschätzt und unterstützt.

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Zusammenfassung und Fazit

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Lievens et al. (2020) sind davon überzeugt, dass die Zukunft des Performance Managements in einer Mischung aus traditionellen Ansätzen und neueren Erkenntnissen liegt. Als Beispiel für einen solchen hybriden Ansatz könnten Unternehmen ein System mit sofortigem, kontinuierlichem, informellem Feedback während des Jahres (unterstützt durch mobile Technologie) und einer formellen Beurteilung mindestens einmal im Jahr einführen. So verbinden Unternehmen den Nutzen von sofortigem Feedback mit konkreteren Kontrollpunkten, die die Leistung der Mitarbeitenden im Laufe der Zeit verfolgen. Dies macht die endgültige Beurteilung auch weniger abhängig von den jüngsten Ereignissen und erhöht sowohl die Genauigkeit als auch die Akzeptanz des Endergebnisses. Unternehmen interessieren nicht nur die Feedbackinstrumente, sondern vor allem die durch ihren Einsatz ausgelösten gemeinsamen Reflexions- und Lernprozesse, die letztlich zu einer Verhaltensverbesserung führen sollen. Zentrale Charakteristika zeitgemäßer Ansätze im Performance Management lassen sich wie folgt zusammenfassen: 55 Kontinuierlicher Dialog anstelle des jährlichen Mitarbeitendengesprächs 55 Stärkenbasiertes Feedback anstelle von vergangenheitsbezogenem Schwächen-­ Management 55 Mehr Fokus auf persönliche Entwicklung und wirksame Beiträge zum Unternehmenserfolg als auf starre Erreichung von top-down vorgegebenen Unternehmenszielen 55 Mehr Eigenverantwortung der Mitarbeitenden für den Performance-Management-­ Prozess anstelle von einseitigen Vorgaben und Fremdsteuerung durch Vorgesetzte und HR 55 Anstelle von individuellen Ratings und Boni mehr unternehmens- und teamerfolgsgetriebene Verteilung der variablen Vergütung

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133 Leistungssteuerung und Leistungsbeurteilung

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7

135

Lernen in Organisationen Jürg Gabathuler und Julia Kornfeind Inhaltsverzeichnis 8.1

New Work und New Learning – 137

8.2

Grenzen des Modells – 138

8.3

 ntwickeln von geeigneten Lernaktivitäten – warum E eine Bedarfsplanung sinnvoll und wichtig ist – 139

8.4

Lernkultur – 141

8.4.1 8.4.2

L ernkultur agiler Unternehmen – 141 Analyse von Lernkultur – 141

8.5

70:20:10-Modell – 142

8.6

Selbstgesteuertes Lernen – 143

8.6.1 8.6.2

S elbstgesteuertes Lernen im Unternehmen – 143 Förderung selbstgesteuerten Lernens – 144

8.7

Lerntransfer – 144

8.7.1 8.7.2

 irkung von Weiterbildungsmaßnahmen – 144 W Messung des Lerntransfers – 144

8.8

Digitalisierung, Flexibilisierung und Personalisierung des Lernens – 146

8.8.1 8.8.2 8.8.3

 lended Learning – 146 B Mobile Learning und Micro Learning – 149 Adaptive Lernsysteme – 149

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_8

8

8.9

 oraussetzungen für ein erfolgreiches V New Learning – 149

8.9.1 8.9.2 8.9.3 8.9.4

E bene Mitarbeitende: Persönliche Voraussetzungen – 150 Ebene Team: Psychologische Sicherheit – 151 Ebene Organisation: Von der Agilität lernen – 152 Agilität und Grundbedürfnisse – 152

Literatur – 153

137 Lernen in Organisationen

Nicht erst seit VUCA oder BANI in aller Munde sind, sondern bereits in den 1970-ern taucht das Konzept der New Work und des New Learning auf, um wirksam auf Veränderungen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt zu reagieren (Bergmann, 1977). Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie Lernen gestaltet werden muss, sodass Mitarbeitende in der Lage sind, rasch neues Wissen zu erwerben, und so ihre Arbeitsfähigkeit erhalten können. In den meisten Organisationen beschäftigt sich die Personalentwicklung mit dieser Aufgabe und leistet so einen wichtigen Beitrag für die Organisation wie auch für die Mitarbeitenden. Im Vordergrund stehen dabei Lernsettings, die Mitarbeitende beim lebenslangen Lernen unterstützen. In diesem Buchbeitrag werden deshalb die nachfolgenden Themen, die aus Sicht der Autoren entscheidend für das Gelingen von New Learning sind, besprochen und erläutert: 55 Neue Lernkultur prägen und Rahmenbedingungen für New Learning schaffen 55 Ermöglichung und Förderung selbstgesteuerten Lernens 55 Wirksamkeit von Lernangeboten sicherstellen 55 Notwendige Voraussetzungen, damit New Learning gelingt Nur wenn diese Faktoren gemeinsam bei der Gestaltung und Entwicklung von Weiterbildungsmaßnahmen berücksichtigt werden, wird New Learning wirksam zum Nutzen der Mitarbeitenden und der Organisation umgesetzt werden können.

Dieser Beitrag hat zum Ziel 55 den Wandel in der Personalentwicklung und das Bedürfnis nach New Learning zu erläutern, 55 auf die Grenzen des selbstgesteuerten Lernens in Organisationen aufmerksam zu machen, 55 organisationale Rahmenbedingungen für erfolgreiches Lernen zu erläutern, 55 Möglichkeiten zur Messung der Wirksamkeit von Weiterbildungsmaßnahmen aufzuzeigen, 55 einen Überblick über aktuelle Trends in der betrieblichen Weiterbildung zu geben, 55 die Voraussetzungen für New Learning auf den Ebenen Individuum, Team und Organisation mit konkreten Beispielen zu erklären.

8.1 

New Work und New Learning

Megatrends, VUCA-Welt oder neuerdings die BANI-Welt (FH-HWZ, 2021) sorgen für eine anhaltende Diskussion über die Auswirkungen auf die Personalentwicklung. Die beiden Begriffe New Work und New Learning stehen dabei für den bereits stattfindenden Wandel in der Personalentwicklung. Für das gemeinsame Verständnis ist eine Klärung der Begriffe Personalentwicklung, New Work und New Learning sinnvoll.

8

138

J. Gabathuler und J. Kornfeind

Definition Gemäß der in diesem Beitrag verwendeten Definition (haufe.de, 2019) ist die Personalentwicklung ein Teilbereich des Personalwesens (Human Resources) und umfasst alle Maßnahmen zur Förderung und Weiterbildung der Mitarbeitenden, Führungskräfte und Führungsnachwuchskräfte. Ziel der Personalentwicklung ist es, die Beschäftigungsfähigkeit und damit den langfristigen Unternehmenserfolg zu sichern, aber auch zur Motivation der Mitarbeitenden beizutragen (haufe.de, 2019).

8

Maßnahmen zur Förderung und Weiterbildung der Mitarbeitenden und Unternehmenserfolg hängen eng zusammen. Der langfristige Unternehmenserfolg kann nur mit Mitarbeitenden erreicht werden, die über die erfolgskritischen Kompetenzen verfügen und motiviert sind, Herausforderungen zu meistern. Doch was bedeuten New Work und New Learning in diesem Buchbeitrag? Der Begriff „New Work“ wurde in den 1970-ern vom Philosophen Frithjof Bergmann (Bergmann, 1977) in seinem Konzept zu grundlegenden Veränderungen in der Arbeitswelt eingeführt. Vor dem Hintergrund der Erdölkrise und deren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft sowie der beginnenden Computerisierung der Arbeitswelt postulierte er ein neues Arbeitsmodell: Statt die Arbeit als Mittel zum Zweck zu sehen, erhalten die Bedürfnisse des Menschen und die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit eine höhere Bedeutung. Hauptziel seines Ansatzes ist es, dass Tätigkeiten, die Mitarbeitende verrichten, sinnerfüllend sein müssen. New Work ist kein konkretes Arbeitsmodell, beinhaltet in der Stoßrichtung jedoch bereits Ansätze, wie sie heute in der Agilität, Holokratie oder Soziokratie vorkommen und umgesetzt werden. Darum soll die Verwendung des Begriffs "New Learning" im Kontext von New Work verstanden werden. Wie von Schmitz und Foelsing (2019) postuliert, rückt damit die Fokussierung auf die persönliche Potenzialentfaltung bei der Weiterbildung in den Vordergrund. New Learning wird dadurch von den Lernenden als sinnhaft oder wenigstens relevant für die eigene Tätigkeit erlebt. Dadurch wird Lernen als Beitrag zum Ganzen oder als Beitrag zur Zielerreichung im Team und damit zu den Zielen der Gesamtorganisation erlebt. Für den organisationalen Kontext ergeben sich daraus konkrete Anforderungen, wie New Learning ausgestaltet sein muss, damit es die Bedingungen der New Work erfüllt. Darunter finden sich dann in der Ausprägung neue Organisationsformen/-strukturen, wie sie von Laloux (2015) bereits angedacht sind.

8.2 

Grenzen des Modells

Nur selbstgesteuertes Lernen genügt nicht. Der New-Work-Ansatz mit den Implikationen für das New Learning beruht auf der idealistischen Annahme, dass selbstgesteuertes Lernen bei allen Menschen gleich intrinsisch motiviert ist. Dem ist nicht so, denn Menschen unterscheiden sich voneinander und der Anreiz zum selbstgesteuerten Lernen ist unterschiedlich stark vorhanden. Gerade deshalb besteht das Risiko, dass Mitarbeitende, bei denen wesentliche Kompetenzen zu wenig vorhanden sind, sich nicht an selbstgesteuerten Lernaktivitäten beteiligen. Häufig sind diese Mitarbeitenden überzeugt, dass sie über die

139 Lernen in Organisationen

..      Abb. 8.1  Lernen im Spannungsfeld zwischen selbst- und fremdgesteuert. (In Anlehnung an Sammet & Wolf, 2019)

notwendigen Kompetenzen verfügen und weitere Lernaktivitäten nicht notwendig sind. Darum ist es sinnvoll, das Modell des rein selbstgesteuerten Lernens mit verordneten oder relevanten Lerninhalten zu ergänzen. Im Idealfall besteht die „Verordnung von Lernaktivitäten“ im Aufzeigen von relevanten Kompetenzen, die für die Zukunft notwendig, aber aktuell zu wenig ausgeprägt sind. Dafür sind konstruktiv-kritische Feedbackgespräche zu nutzen, sei es in speziellen Teamformaten, wie sie in unterschiedlichen Formen in der agilen Welt schon genutzt werden, z. B. in Retros oder in bilateralen Gesprächen zusammen mit der Führungskraft. Erst dadurch werden auch die Bedürfnisse der Organisation optimal berücksichtigt. Die Matrix in . Abb. 8.1 zeigt eine nicht vollständige Sammlung von Lernaktivitäten im Spannungsfeld zwischen selbstgesteuerten und fremdgesteuerten bzw. von der Organisation/Führungskraft angeregten Lernaktivitäten. Die vertikale Unterteilung in formale und informelle Lernsettings weist darauf hin, dass Lernen nicht nur zielgerichtet, also formal organisiert stattfindet, sondern auch mit informellen Lernsettings erfolgt (siehe dazu auch 7 Abschn.8.6, Selbstgesteuertes Lernen)  



8.3 

 ntwickeln von geeigneten Lernaktivitäten – warum E eine Bedarfsplanung sinnvoll und wichtig ist

Die Entwicklung von wirksamen Lernaktivitäten startet mit einer Bedarfsplanung, um einen Überblick über die Lernbedürfnisse zu erhalten. Auch hier empfiehlt es sich, keine einjährigen Bedarfsplanungsprozesse anzustoßen. Einjährige Bedarfsplanungen mit den darauf basierten Lernaktivitäten sind obsolet geworden und werden einer sich schnell ändernden Umwelt wenig gerecht.

8

140

8

J. Gabathuler und J. Kornfeind

Die Bedarfsplanung soll sich an den Bedürfnissen des Business orientieren und mit der Unternehmensstrategie kongruent sein. Das heißt, es braucht eine enge Zusammenarbeit mit dem Kunden und es soll ein Mehrwert generiert werden. Dabei zählt der Outcome mehr als der Output. Also nicht die Anzahl der Lernaktivitäten ist wichtig, sondern welchen Beitrag die Personalentwicklung leisten kann, damit einzelne Geschäftsbereiche ihre Bereichsziele erreichen. Damit steht die Beantwortung der folgenden Fragen am Beginn jeder Bedarfsplanung: 55 Wie kann die Personalentwicklung einen Mehrwert zur Erreichung der Geschäftsziele generieren? Konkret geht es dabei um Lösungen für die folgenden Sub-Fragen: –– Wer sind unsere Anspruchsgruppen? –– Was für Hindernisse erwartet die Linie bei der Zielerreichung? –– Welche Hindernisse können mithilfe der Personalentwicklung rascher überwunden werden, damit die Linie unterstützt wird? –– Wie lauten die daraus abgeleiteten Lernaktivitäten und warum sind sie relevant? –– Wie müssen die Lernaktivitäten ausgestaltet sein, damit sie der Lernkultur der Organisation entsprechen? (siehe 7 Abschn. 8.4, Lernkultur)  

Praxistipp: Ablauf und Instrumente für die Bedarfsplanung von Lernaktivitäten

Rhythmus der Bedarfsplanung: Um schnell auf wechselnde Veränderungen, wie z. B. auf den Lockdown durch Covid-19, reagieren zu können, findet die Bedarfsplanung mehrmals jährlich statt, idealerweise alle 3–4 Monate. Damit können Ziele rechtzeitig angepasst werden und die Relevanz der geplanten Lernaktivitäten bleibt für die Mitarbeitenden hoch. Was?

Wie?

- Vor Bedarfsplanung: Lernstrategie entwickeln/anpassen

- Teamworkshop Mitarbeitende Personalentwicklung - Aus der Unternehmensstrategie eine Lernstrategie ableiten, der Geschäftsleitung vorstellen

- Vor oder während Bedarfsplanung: Lernkultur in der Organisation erheben oder anpassen

- Qualitativ mit ausgewählten Exponenten aller Stufen - Quantitativ mit Lernkulturanalyse, auf repräsentative Stichprobe achten

- Während Bedarfsplanung: Fragen klären, siehe auch Aufzählung im Text - Anspruchsgruppen? - Beitrag Personalentwicklung zur Zielerreichung der Linie? - Relevant für wen?

- Workshop zusammen mit wichtigen Stakeholdern aus der Linie. Gemeinsames Klären und Erarbeiten von Lösungen - Gleichzeitig Key Performance Figures zusammen mit den Stakeholdern definieren, um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu evaluieren (siehe auch 7 Abschn. 8.7, Lerntransfer)  

141 Lernen in Organisationen

8.4 

Lernkultur

Die zunehmende Dynamik und Komplexität im Unternehmensumfeld führt dazu, dass Mitarbeitende immer schneller neues Wissen erwerben und im Arbeitsalltag anwenden müssen (Häusling & Fischer, 2016). Lebenslanges Lernen ist die Basis, um sich den verändernden Aufgaben und Jobprofilen anpassen und auch zukünftig wettbewerbsfähig und beschäftigungsfähig bleiben zu können. 8.4.1 

Lernkultur agiler Unternehmen

Voraussetzung dafür ist, dass das Unternehmen über eine Lernkultur verfügt, in der das Lernen und die Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden aktiv gelebt werden. Definition Nach Sonntag et  al. (2005, S.  107) bezieht sich der Begriff Lernkultur im Unternehmenskontext auf „sämtliche mit Lernen verbundenen kognitiven, kommunikativen oder soziokulturellen Aspekte und ist zugleich Ausdruck des Stellenwertes, der Lernen im Unternehmen zukommt.“

Die Lernkultur in agilen Unternehmen zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass Lernen und Arbeiten nicht mehr getrennt voneinander gedacht werden (vgl. Müller, 2020; Blum & Gabathuler, 2019). Lernen geschieht vor allem informell im Prozess des Arbeitens und nicht ausschließlich während eines Seminars von 9–12 Uhr. Schüssler und Thurnes (2005) charakterisieren neue betriebliche Lernkulturen in Anlehnung an Leuschner und Reuther (1999) u. a. anhand folgender Kennzeichen: 55 Lernchancen werden im alltäglichen Handeln gesucht und genutzt. 55 Lernen ist Teil der Arbeit, kein Prozess neben der Arbeit. 55 Lernen liegt in der Verantwortung der Mitarbeitenden und ist in hohem Maße selbstgesteuert. 55 Lerntransfer und konkrete Anwendbarkeit des Gelernten stehen im Vordergrund. 55 Der Zugang zu Lernmöglichkeiten wird transparent kommuniziert. 55 Vielfältige Lernangebote. 55 Lernen aus Erfolgen und Fehlern. 8.4.2 

Analyse von Lernkultur

Um eine Standortbestimmung der Lernkultur in einem Unternehmen durchzuführen, gibt es unterschiedliche Messinstrumente. Die Lernkulturanalyse des scil (swiss competence center for innovations in learning) erfasst den Status quo im Unternehmen und zeigt Optimierungsmöglichkeiten und Veränderungsprozesse auf (Diesner & Seufert, 2010). Die Analyse erfolgt anhand von zwei Fragebogenversionen (Mitarbeitende, Führungskräfte) und erfasst folgende Dimensionen der Lernkultur (vgl. auch . Abb. 8.2):  

8

142

J. Gabathuler und J. Kornfeind

Reflexion 1. Initiierung

MItarbeiter befähigen

5

1

Ergebnisse messen

Führungssysteme anpassen

Bausteine der Lernkultur

4. Interventionen 4

2. Diagnose Infrastruktur ausbauen

Methoden weiterentwickeln

2

3

3. Positionierung

Reflexion

8

..      Abb. 8.2  Bausteine der Lernkultur. (Seufert et al., 2007, S. 13)

55 Mitarbeitendebefähigen: Unterstützungsmaßnahmen zur Förderung des selbstgesteuerten Lernens 55 Führungssysteme anpassen: Rolle der Führungskraft bei der Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden 55 Infrastruktur ausbauen: Rahmenbedingungen für das Lernen im Unternehmen 55 Methoden weiterentwickeln: didaktisch-methodische Gestaltung der Bildungsmaßnahmen 55 Ergebnisse messen: Qualität und stetige Weiterentwicklung der Bildungsmaßnahmen

8.5 

70:20:10-Modell

Das 70:20:10-Modell, das 1996 von McCall et al. formuliert wurde, ist in der Personalentwicklung weit verbreitet. In den letzten Jahren wurden Bedeutung und Nutzen des Modells anhand mehrerer empirischen Forschungsprojekte bestätigt (Arets et al., 2015). Kernaussage des Modells ist, dass nur ein geringer Teil des Lernens im Unternehmen mittels formaler Weiterbildungsangebote erfolgt: 55 70 % des Lernens findet im Arbeitsprozess selbst statt, z. B. durch neue Aufgaben oder das Bewältigen von Herausforderungen. 55 20  % des Lernens erfolgt durch den Austausch mit Kollegen, Kolleginnen und Vorgesetzten, z. B. durch Feedback und Coaching. 55 10 % des Lernens findet durch formale Weiterbildung statt, z. B. durch Seminare.

143 Lernen in Organisationen

Das Modell verdeutlicht noch einmal, dass das bloße Angebot formaler Weiterbildungskurse zur Entwicklung der Mitarbeitenden nicht ausreicht. Führungskräfte sollten sich regelmäßig mit ihren Mitarbeitenden austauschen und ihnen Feedback zur Performance geben. Zudem muss es Zeit und Gelegenheiten geben, sich mit Kollegen, Kolleginnen auszutauschen.

8.6 

Selbstgesteuertes Lernen

Die zunehmende Dynamik und Komplexität im Unternehmensumfeld führt auch dazu, dass Lernen immer stärker durch die Lernenden selbst gesteuert und weniger fremdgesteuert (z. B. durch den/die Vorgesetzte(n), die Personalabteilung) wird. Selbststeuerung bedeutet, dass Elemente des Lernens bzw. Lernprozesses durch die Lernenden beeinflusst werden können (Weinert, 1982, S. 102), z. B.: 55 Wann lerne ich? 55 Wo lerne ich? 55 Mit welchen Methoden und Medien lerne ich? 55 Was lerne ich? 55 Welche Lernziele möchte ich erreichen? 8.6.1 

Selbstgesteuertes Lernen im Unternehmen

Die Mitarbeitenden müssen die Möglichkeit erhalten, ihre Lernprozesse, die sich an ihren individuellen Herausforderungen des Berufsalltags orientieren, selbstorganisiert  – mit Unterstützung der Führungskraft oder eines Lernberaters, einer Lernberaterin  – zu gestalten (vgl. Erpenbeck et  al., 2016, S.  3). Eine reine Selbststeuerung findet in der betrieblichen Praxis kaum statt. Lernen lässt sich eher auf einem Kontinuum zwischen überwiegend selbst- und überwiegend fremdgesteuert verorten (vgl. . Abb. 8.3; Faulstich, 2001):  

Dimensionen

selbst...

...fremd

Lernziele:

autonom

vorgegeben

Lerninhalte:

wählbar

festgelegt

Lernmethoden

reflexiv

instrumentell

Lernorganisation:

variabel

determiniert

Lernzeiten:

offen

eingeschränkt

Lernorte:

variabel

fixiert

Lernerfolg:

selbstverortend

abgeprüft

..      Abb. 8.3  Selbst vs. Fremd. (Faulstich, 2001, S. 42)

8

144

J. Gabathuler und J. Kornfeind

8.6.2 

Förderung selbstgesteuerten Lernens

Der Erfolg selbstgesteuerten Lernens wird maßgeblich dadurch bestimmt, ob die Mitarbeitenden die dafür notwendigen Kompetenzen und Motivation besitzen und gleichzeitig Rahmenbedingungen im Unternehmen vorfinden, die selbstgesteuertes Lernen ermöglichen (vgl. Friedrich & Mandl, 1997, S. 246). Möchte man selbstgesteuertes Lernen im Unternehmen fördern, ist es zum einen notwendig, Rahmenbedingungen zu schaffen, die selbstgesteuertes Lernen ermöglichen. Die vorherrschende Lernkultur und der Einfluss der Führungskräfte spielen hier eine bedeutende Rolle. Die Mitarbeitenden benötigen ausreichend Freiräume und Gelegenheiten, um ihr Lernen innerhalb gewisser Leitplanken individuell gestalten zu können (vgl. Kortsch et al., 2021). Sie brauchen freien Zugang zu Lernressourcen, die sie in ihrer individuellen Entwicklung unterstützen (vgl. . Abb. 8.3). Gleichzeitig sollten Mitarbeitende dazu befähigt werden, selbstgesteuert zu lernen. Eine Möglichkeit sind Lernstrategietrainings zur Entwicklung der kognitiven und motivationalen Komponenten des selbstgesteuerten Lernens, z. B. Informationsverarbeitungsstrategien, Analyse von Bedürfnissen und Zielen. Auch die individuelle Lernberatung durch Personalentwicklung oder die eigene Führungskraft können eine wichtige Unterstützung für die Mitarbeitenden darstellen. Neben der Bestimmung von Lernzielen kann die Beratung auch in der Gestaltung von Lernwegen und Auswahl von Lernmethoden und -ressourcen unterstützen (vgl. Faulstich, 2001).  

8

8.7 

Lerntransfer

Die Personalentwicklung muss verstärkt Wirkung und Nutzen von Weiterbildungsmaßnahmen nachweisen. 8.7.1 

Wirkung von Weiterbildungsmaßnahmen

In der Praxis beinhaltet die Evaluation von Weiterbildungsmaßnahmen oft lediglich die Messung der Zufriedenheit mithilfe sogenannter „Happy Sheets“ (Kauffeld, 2016). Diese lassen jedoch keine Aussagen darüber zu, wie erfolgreich der tatsächliche Lerntransfer ist (Arthur et al., 2003) – also wie erfolgreich Mitarbeitende die in einer Weiterbildungsmaßnahme erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen im eigenen Arbeitsumfeld anwenden können. Man geht davon aus, dass nur etwa 10–30 % der Weiterbildungsausgaben sich auch in einer gesteigerten Arbeitsleistung zeigen (Holton, 2015). 8.7.2 

Messung des Lerntransfers

Ein Instrument, um die Wirksamkeit von Weiterbildungsmaßnahmen zu überprüfen, ist der Questionnaire for Professional Training Evaluation (Q4TE) (Grohmann & Kauffeld, 2013), der auf dem Vier-Stufen-Modell von Kirkpatrick (1994) basiert. Im

145 Lernen in Organisationen

Anschluss an eine Weiterbildungsmaßnahme stufen die Teilnehmenden ihre Zustimmung zu 12 Aussagen auf einer Skala von 0 % bis 100 % ein. Neben Aussagen zur Zufriedenheit beinhaltet der Fragebogen auch Aussagen über den Lern-, Transfer- und Unternehmenserfolg, z. B.: 55 „In dem Training habe ich sehr viel Neues gelernt.“ (Lernerfolg) 55 „Es gelingt mir sehr gut, die erlernten Trainingsinhalte in meiner täglichen Arbeit anzuwenden.“ (Transfererfolg) 55 „Durch die Anwendung der Trainingsinhalte konnten Arbeitsabläufe im Unternehmen vereinfacht werden.“ (Unternehmenserfolge) Praxistipp

Der Q4TE stellt eine Möglichkeit dar, die Wirksamkeit einer Weiterbildungsmaßnahme auf ökonomische Weise zu evaluieren. Jedoch muss einem bewusst sein, dass die Ergebnisse auf subjektiven Einschätzungen der Teilnehmenden basieren.

Ein weiteres Instrument zur Evaluation von Weiterbildungsmaßnahmen ist das Lerntransfer-System-Inventar (LTSI) (Bates et  al., 2007; Holton et  al., 2000; Kauffeld et al., 2008). Das LTSI überprüft nicht die Wirksamkeit einer Weiterbildungsmaßnahme an sich, wie der Q4TE, sondern identifiziert Katalysatoren und Barrieren des Lerntransfers mithilfe eines Fragebogens. Wie erfolgreich der Lerntransfer ist, hängt mit einer Vielzahl von Merkmalen der Trainingsteilnehmenden, des Trainings selbst und der Arbeitsumgebung zusammen (vgl. . Abb. 8.4; Baldwin & Ford, 1988; Kauffeld et al., 2012).  

Lernende • • • •

Motivation zum Lerntransfer Generelle Selbstwirksamkeitsüberzeugung Überzeugung: Leistungsverbesserung durch Anstrengung Erwartung eines erstrebenswerten Ergebnisses

Weiterbildungsmassnahme • •

Trainingsdesign bietet Möglichkeiten zum Transfer, z.B. durch praxisnahe Übungen Trainings-Arbeits-Übereinstimmung

Erfolg im Lernfeld

Erfolg im Arbeitsfeld

Arbeitsumgebung • • • • • • • •

Erwartungsklarheit Kapazität zur Anwendung des Gelernten (Zeit, Belastung) Möglichkeit zur Wissensanwendung Positive Folgen bei Anwendung bzw. negative Folgen bei Nichtanwendung Sanktionen durch Vorgesetzte Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen Offenheit für Änderungen Feedback

..      Abb. 8.4  Erfolgsfaktoren für den Lerntransfer. (In Anlehnung an Kauffeld, 2010)

8

146

J. Gabathuler und J. Kornfeind

Praxistipp

Das LTSI kann in der Praxis u. a. als Diagnose-Tool eingesetzt werden, um mögliche Ursachen geringen Lerntransfers zu identifizieren und gezielte Maßnahmen zur Förderung des Lerntransfers zu initiieren. Diese Maßnahmen können dabei trainingsspezifisch oder generell den Lerntransfer fördern (Kauffeld, 2010) und sich dabei auf das Training, die Teilnehmenden und/oder die Arbeitsumgebung beziehen (vgl. . Tab. 8.1).  

..      Tab. 8.1  Exemplarische Maßnahmen zur Förderung des Lerntransfers. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Kauffeld, 2010) Trainingsspezifische Maßnahmen

- Follow-up-Module, um Erfahrungen auszutauschen, Transfererfolge aufzuzeigen, Transferhindernisse zu benennen und durch den kollegialen Austausch Ansätze zur Beseitigung zu finden - Zuweisen einer aktiven Rolle an die Führungskräfte für die Umsetzung der Trainingsinhalte der Mitarbeitenden - Zur-Verfügung-Stellen von Arbeitsmitteln (z. B. Moderationsmaterial nach einem Moderationstraining)

Generelle Maßnahmen

- Regelmäßige Mitarbeitergespräche - 360°-Feedback - Aufzeigen von Erfolgen des/der Mitarbeitenden

8

8.8 

 igitalisierung, Flexibilisierung und Personalisierung D des Lernens

Neue Technologien haben in der Vergangenheit beeinflusst und werden auch zukünftig beeinflussen, wie Mitarbeitende lernen. Sie ermöglichen einen höheren Grad an Flexibilisierung und Personalisierung des Lernens, wie die folgenden Beispiele Blended Learning, Mobile & Micro Learning sowie adaptive Lernsysteme zeigen. 8.8.1 

Blended Learning

Der Begriff "Blended Learning" wird unterschiedlich verwendet und hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt. Zu Beginn stand eher die Kombination aus Präsenzkursen und digitalem Lernen im Vordergrund (vgl. Sauter, 2004). Heute wird der Begriff oft breiter gefasst und betont eher die Kombination aus synchronen und asynchronen Lernformaten.

147 Lernen in Organisationen

Definition „Der Begriff Blended Learning steht dafür, dass Lernen mit digitalen Medien in virtuellen Lernräumen ergänzt oder verbunden wird mit Lernen in Präsenzveranstaltungen. Wobei die Präsenz heute auch virtuell hergestellt werden kann, z. B. in Online-­Vorlesungen, ­-Seminaren oder -Tutorien“ (Arnold et al., 2018, S. 23).

Die Bedeutung von Blended Learning für die betriebliche Weiterbildung nimmt seit Jahren zu, wie z. B. die jährliche Trendstudie „mmb Learning Delphi“ (vgl. mmb Institut GmbH, 2021) zeigt. In der Studie 2020/21 gaben alle 61 befragten Bildungsexperten (100 %) aus Deutschland, Österreich und der Schweiz an, dass Blended Learning in den folgenden 3 Jahren eine zentrale Bedeutung als Lernform für das betriebliche Lernen in Unternehmen haben werde. Die IAP Trendstudie 2021 zeigt, dass sich 86 % der Befragten in einem Blended-Learning-Format weiterbilden möchten. Dies entspricht einer Zunahme von +31 % gegenüber 2017 (vgl. IAP, 2021). In Blended-Learning-Arrangements lassen sich die Vorteile von Präsenz- und Online-Lernen kombinieren: 55 Orts- und Zeitflexibilität des Lernens 55 Lernen im eigenen Tempo 55 Individualisierung des Lernens 55 Learning on Demand & Nachschlagen 55 Kommunikation und Kollaboration der Lernenden über digitale Tools ergänzend zum persönlichen Austausch 55 Feedback 55 Fragen stellen Blended-Learning-Arrangements sind sehr individuell und es gibt nicht das eine Standard-Arrangement, das sich auf jegliche Fälle anwenden lässt. Allerdings gibt es typische Abläufe, die in unterschiedlichen Variationen häufiger anzutreffen sind. In . Abb. 8.5 startet der Lernprozess mit einem Online-Kickoff, der vor allem folgende Ziele verfolgt: 55 Kennenlernen der Teilnehmenden 55 Erwartungen klären  

..      Abb. 8.5  Beispiel für ein Blended-Learning-Arrangement

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J. Gabathuler und J. Kornfeind

55 Einführung in das Blended-Learning-Arrangement und die Lernplattform 55 Erläuterung der Aufgaben für das asynchrone Selbststudium

8

Je nach Umfang und Dauer des Blended-Learning-Arrangements werden zu diesem Zeitpunkt auch Lerngruppen gebildet, die sich selbstorganisiert während der Selbstlernphase treffen, sich austauschen, Feedback geben und sich gegenseitig unterstützen. In der sich anschließenden Selbststudiumsphase erwerben die Teilnehmenden durch das Durcharbeiten von Lernmedien (z. B. Lernvideos, Web-based-Trainings, Fachliteratur) grundlegendes Wissen und wenden dies in Aufgaben an. Die Lernziele, die in dieser Phase angestrebt werden, befinden sich auf Blooms Lernzieltaxonomie meist auf Ebene 1 und 2 (Wissen, Verstehen). Die Präsenzveranstaltung dient in erster Linie dem sozialen Lernen und Anwenden des erworbenen Wissens: Es werden offene Fragen geklärt, Aufgaben aus dem Selbststudium besprochen, Übungen durchgeführt, das Wissen an Praxisfällen angewandt, Erfahrungen ausgetauscht, der Lernprozess reflektiert sowie ggf. die nächste Phase des Selbststudiums besprochen. In der Praxis- und Transferphase liegt der Fokus darauf, dass die Lernenden erste Praxiserfahrungen sammeln und das Gelernte in ihrem Arbeitsalltag anwenden. In einer Follow-up-Veranstaltung reflektieren die Lernenden ihren Entwicklungsprozess, tauschen sich über ihre Erfahrungen aus, besprechen Herausforderungen und erhalten Feedback. Der Erfolg eines Blended-Learning-Arrangements hängt von unterschiedlichen Faktoren ab (vgl. u. a. Behringer, 2011; Eckelt & Enk, 2017): 55 Das didaktische Konzept bildet die Basis. Erst im Anschluss werden die passenden digitalen Lernmedien und Hilfsmittel ausgewählt. Der Einsatz von Technologie ist kein Selbstzweck, sondern muss sinnvoll sein und von den Lernenden als nützlich und zielbringend erlebt werden. 55 Bereits bei der Konzeption sollten die verschiedenen Stakeholder-Gruppen involviert werden (Personalentwicklung, Learning Designer, Medienexperten, Inhaltsexperten, Trainer). 55 Das Selbststudium sollte sich nicht auf das passive Durcharbeiten von Lernmedien (z.  B.  Videos, Web-based-Trainings) beschränken, sondern aktives und soziales Lernen ermöglichen. Elemente wie Diskussionsforen, Quiz, Transferaufgaben sollten sinnvoll in das Blended-Learning-Arrangement integriert werden, um die Inhalte des Selbststudiums zu verarbeiten. 55 Es muss sichergestellt sein, dass die Lernenden sowohl über das notwendige Equipment als auch über die Zeit für ungestörtes Lernen am Arbeitsplatz während der asynchronen Phasen verfügen. 55 Die Lernkultur unterstützt kontinuierliches, selbstgesteuertes Lernen. 55 Die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen kann nicht automatisch bei den Lernenden vorausgesetzt werden. Daher ist ein Betreuungs- und Supportkonzept für die asynchronen Selbstlernphasen essenziell für einen gelingenden Lernprozess. Auch digitale Kompetenzen sind essenziell für die Bearbeitung digitaler Lernmodule. 55 Das Konzept des Blended-Learning-Arrangements, der zeitliche Aufwand für synchrone und asynchrone Phasen, angestrebte Lernziele und Erwartungen an die Lernenden sollten transparent kommuniziert werden.

149 Lernen in Organisationen

8.8.2 

Mobile Learning und Micro Learning

Die Verbreitung von Smartphones und Tablets führte dazu, dass digitales Lernen nicht mehr nur zeitlich unabhängig vom Schreibtisch aus, sondern nun auch ortsungebunden stattfinden kann. Beim Mobile Learning findet der Lernprozess oft von unterwegs aus und in kleineren Zeitfenstern statt. Klassische Web-based-Trainings mit längerer Dauer sind hierfür eher ungeeignet. Der Trend geht zu Lernapps und Lernangeboten, die kurze, wenige Minuten dauernde „Learning Nuggets“ anbieten (vgl. Kerres, 2018, S. 153). Dieses Lernen in kurzen Etappen mit kleinen, in sich abgeschlossenen Lerneinheiten (z. B. Lernvideos, Infografiken, Kurzanleitungen) wird auch als Micro Learning bezeichnet. Micro Learning wird einerseits zum Aufbau von Wissen eingesetzt, hat aber besonders im Bereich Performance-Support eine wichtige Bedeutung, d.  h., es unterstützt die Lernenden im Moment ihres Lernbedarfs. Der niedrigschwellige Ansatz des Micro Learning bietet den Lernenden eine große zeitliche und örtliche Flexibilität, was bei entsprechender Qualität der Lernmodule für eine große Akzeptanz bei den Mitarbeitenden und einer hohen Reichweite im Unternehmen sorgt (vgl. Baumgartner, 2014). Zudem bietet Micro Learning den Vorteil, dass die kurzen Lerneinheiten relativ schnell upgedatet oder mit neuen Inhalten ergänzt werden können. 8.8.3 

Adaptive Lernsysteme

Durch adaptive Lernsysteme auf Basis künstlicher Intelligenz ergeben sich neue Möglichkeiten, Lernende stärker in ihren individuellen Lernprozessen unterstützen zu können (vgl. Hasenbein, 2020, S. 80). Hierzu werden während des Lernprozesses Daten über die Lernenden erfasst, analysiert und die gewonnenen Informationen dazu genutzt, den Lernprozess an deren aktuelle Bedürfnisse und Vorlieben anzupassen. Das Lernsystem erkennt beispielsweise, mit welchen Inhalten oder Aufgaben die Lernenden noch Schwierigkeiten haben, bietet Unterstützung an oder wählt Zusatzaufgaben aus diesem Bereich aus. Es registriert, welche Art von Lernmedien (z. B. Videos, Texte) die Lernenden bevorzugen, und bietet zukünftig verstärkt diese Medien an (vgl. Meier, 2019). > Wichtig Ziel der adaptiven Lernsysteme ist es, mithilfe der Personalisierung des Lernprozesses die Lerneffizienz und den Lernerfolg zu steigern. Der Einsatz adaptiver Lernsysteme kann das selbstgesteuerte Lernen für die Lernenden vereinfachen und die Hemmschwelle vor digitalem Lernen senken.

8.9 

Voraussetzungen für ein erfolgreiches New Learning

Für ein erfolgreiches New Learning müssen die Voraussetzungen auf den verschiedenen Ebenen gegeben sein.

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J. Gabathuler und J. Kornfeind

8.9.1 

8

Ebene Mitarbeitende: Persönliche Voraussetzungen

Die Mitarbeitenden müssen auf das selbstgesteuerte Lernen und die damit verbundenen Lernaktivitäten vorbereitet werden. Vor allem übergeordnete Kompetenzen wie Lernen, Neugierde, Offenheit für Veränderungen (= Umsetzung des Gelernten) und Selbstmanagement/Selbstverantwortung (= Planung, Organisation und Reflexionsfähigkeit) müssen aufgebaut oder weiterentwickelt werden. Bisher ging die Initiative für Lernen, Laufbahnplanung oder Entwicklung von beruflichen Perspektiven mehrheitlich von der Führungskraft bzw. der Personalentwicklung aus. Beim selbstgesteuerten Lernen ist jedoch der/die Mitarbeitende für diese Aspekte verantwortlich. War in hierarchischen Organisationen die Führungskraft zusammen mit der Personalentwicklung die allwissende Schaltzentrale für das berufliche Fortkommen, ändert sich dies nun. Mitarbeitende sollen jetzt selbst entscheiden, was sie an Weiterbildung brauchen, Lernen wird zur Schlüsselkompetenz (Gramss et al., 2017). Was aber tun, wenn Mitarbeitende damit überfordert sind und sich auch über die eigenen Stärken und Entwicklungsfelder nicht im Klaren sind? Hier ergeben sich neue Betätigungsfelder für die Personalentwicklung. Durch die Bereitstellung von geeigneten Unterstützungsangeboten können Mitarbeitende bei der Entwicklung von Kompetenzen unterstützt werden, die sie in Zukunft für das selbstgesteuerte Lernen brauchen werden“. Dazu eignen sich z. B. die folgenden Aktivitäten: 55 Nutzung von Instrumenten/Fragebogen, um die eigenen Stärken und Entwick­ lungsfelder herauszufinden. Dazu eignen sich Fragebogen wie z. B. der VIA aus der positiven Psychologie (Universität Zürich, 2022), 360°-Feedbacks, Feedbackgespräche mit Arbeitskolleginnen oder -kollegen, mit Vorgesetzten, mit Mitarbeitenden aus Projekten, Gespräche mit Coaches oder Mentor:innen. Die Reflexion über die Ergebnisse und die Planung von Lernaktivitäten kann anschließend von der Personalentwicklung beratend oder begleitend unterstützt werden (Personalentwicklung als Learning Consultant). 55 Offene, aber fix terminierte Sprechstunden anbieten, die unkompliziert und ohne vorherige Anmeldung zur Reflexion und Lösungsfindung durch Mitarbeitende genutzt werden können. 55 Angebote im Blended-Learning-Format zu den Themen Lernen (Lernstile, Lerntypen, Lernprozesse), BarCamp/Wissensbörse zum Thema selbstgesteuertes Lernen, Selbstmanagement. 55 Offene, ungezwungene Formate in regelmäßigen Abständen anbieten und mitmoderieren, wie beispielsweise Brown-Bag-Lunches oder Development Coffees zum Austausch mit anderen Mitarbeitenden über Themen wie Laufbahnplanung oder Entwicklung von beruflichen Perspektiven. 55 Working Out Loud (WOL) einführen, jedoch mit unterschiedlichen Formaten, die an die berufliche Zielgruppe angepasst sind. Nicht alle Mitarbeitende schreiben gerne in Wikis und Blogs, deshalb auch bei WOL andere Formate wie z. B. ein Präsenzformat ausprobieren (vgl. dazu Karrlein, 2022). 55 Festlegung von Lernzielen, die im gleichen Rhythmus anzupassen sind wie die Bedarfsplanung, idealerweise also im 3- bis 4-Monats-Rhythmus.

151 Lernen in Organisationen

8.9.2 

Ebene Team: Psychologische Sicherheit

Selbstgesteuertes Lernen braucht eine wertschätzende Lernatmosphäre, in der hierarchiefrei und wohlwollend gelernt werden kann. Unter wohlwollendem Lernen wird der Umgang mit Erfolg und Fehlern verstanden (siehe Lernkultur, 7 Abschn. 8.4). Diverse Untersuchungen zeigen, wie Teams effektiver und effizienter lernen. Die Wirkung von psychologischer Sicherheit auf Leistungsparameter und Innovationsfähigkeit ist nachgewiesen (vgl. dazu Goller & Laufer, 2018 sowie Duhigg, 2016). Dabei spielt das Konzept der psychologischen Sicherheit in Teams eine tragende Rolle. Für weitere Informationen zum Konzept der psychologischen Sicherheit wird auf das 7 Kap. 10 in diesem Buch verwiesen.  



z Psychologische Sicherheit im Berufsalltag

Eine hohe psychologische Sicherheit zeigt sich im beruflichen Alltag durch die Bereitschaft, unkonventionelle Ideen einzubringen, eigeninitiativ zu handeln und aus Rückmeldungen zu lernen. Dabei entsteht keineswegs ein Kuschelklima, sondern ein Teamklima, bei welchem gemeinsam nach der besten Lösung gesucht wird. Doch wie erreiche ich eine gute psychologische Sicherheit in einem Team? In der folgenden Übersicht finden sich einige Hinweise, wie man psychologische Sicherheit in Teams entwickeln kann. Tipps zur Entwicklung von psychologischer Sicherheit in Teams (in Anlehnung an Goller & Laufer, 2018) 55 Offene Meinungsäußerung Hier geht es darum, dass möglichst alle im Team ihre Meinung zur Lösungsfindung preisgeben. Sätze wie „Es ist bereits alles gesagt …“ sind nicht erwünscht. Hilfreich ist eine entsprechende Moderation der Teambesprechungen. Die verantwortliche Person für die Moderation stellt dann sicher, dass immer wieder auf die Bedeutung der eigenen Stimme hingewiesen wird. 55 Gesprächsanteile sind gleichmäßig verteilt Besprechungen im Team sollen nicht von wenigen dominiert werden. Falls dies passiert, diesen Punkt im Team diskutieren: Wie wollen wir damit umgehen, wenn jemand immer wieder zu viel Sprechzeit beansprucht? Wie stellen wir sicher, dass alle ausgewogen zu Wort kommen? Wie erreichen wir ein optimales Sprechmanagement? Auch hier ist es hilfreich, die Teamsitzungen jeweils von unterschiedlichen Personen moderieren zu lassen und anschließend dazu Feedback zu geben. 55 Ressourcenorientiert arbeiten In jedem Team gibt es eine große Vielfalt an Ressourcen oder Stärken, die häufig nicht bekannt und genutzt werden. Diese Ressourcen gilt es zu identifizieren und anschließend entsprechend einzusetzen. Um herauszufinden, wie die Stärken in einem Team verteilt sind, kann man den VIA-Stärken-Fragebogen aus der positiven Psychologie nutzen (Universität Zürich, 2022). Durch den Einsatz dieses wissenschaftlichen und strukturierten Instruments ergeben sich interessante Einblicke in Aspekte, die sonst nicht an die Oberfläche oder zur Sprache gekommen wären. Letztendlich unterstützt eine solche Vorgehensweise die Vertrautheit im Team, was automatisch eine höhere psychologische Sicherheit bewirkt.

8

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J. Gabathuler und J. Kornfeind

8.9.3 

Ebene Organisation: Von der Agilität lernen

Betrachtet man neue betriebliche Lernkulturen, wie sie beispielsweise von Schüssler und Thurnes (2005) im 7 Abschn. 8.4 skizziert werden, so unterstützen agile Methoden am besten die dort geforderten Anforderungen. Agile Methoden unterstützen New Learning deshalb erfolgreich, weil sie den menschlichen Grundbedürfnissen entsprechen. Nach dem wissenschaftlich validierten Modell von Grawe (2004) gibt es vier menschliche Grundbedürfnisse, die uns in unserem beruflichen und privaten Alltag begleiten. Werden diese Grundbedürfnisse dauerhaft verletzt oder bleiben sie unbefriedigt, so kann das zu Schädigungen der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens führen. Im Beruf führt eine dauerhafte Nichtbefriedigung oder Verletzung dieser Bedürfnisse zu geringerer Leistungsfähigkeit und Resilienz. Grawe (2004) nennt folgende vier Grundbedürfnisse: 55 Orientierung und Kontrolle Habe ich eine Aufgabe, welches sind die relevanten Ziele in meinem Beruf und verfüge ich über Handlungsmöglichkeiten für meine beruflichen Aufgaben? Lohnt es sich, sich dafür einzusetzen? 55 Lustgewinn und Unlustvermeidung Das Bestreben nach erfreulichen, lustvollen Erfahrungen und danach, schmerzhafte, unangenehme Erfahrungen zu vermeiden oder aufzuschieben. 55 Bindung Darunter wird das Bedürfnis des Menschen nach Austausch mit anderen und nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einem Team verstanden. 55 Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz Ich fühle mich gut bzw. kompetent und bin damit in der Lage, meine beruflichen Aufgaben zu meistern. Meine Kompetenz wird von andern geschätzt.  

8

8.9.4 

Agilität und Grundbedürfnisse

Orientierung und Autonomie ergeben sich in der Agilität durch flachere Hierarchien und mehr Entscheidungsbefugnisse für das Team wie auch für den Einzelnen. Im Team wird entschieden, welche Ziele als nächstes zu erfüllen sind. Gleichzeitig übernehmen Teams und Mitarbeitende mehr Verantwortung, indem sie sich verpflichten, die beschlossenen Ziele oder Teilziele zu erreichen. Mit unterschiedlichen Methoden wie z. B. einem Kanban-Board wird Transparenz zu einzelnen Arbeitsschritten hergestellt und gleichzeitig das Pull-Prinzip eingeführt. Das bedeutet, es wird sichtbar, wer noch freie Kapazitäten hat und welche Arbeitsaufträge noch abgearbeitet werden müssen. Teammitarbeitende mit wieder frei gewordenen Arbeitskapazitäten holen sich selbstgesteuert den nächsten Auftrag. Durch regelmäßige und institutionalisierte Rückmeldeschlaufen in den Reviews und Retros wird das Bedürfnis nach Beziehungen befriedigt und Lernen ermöglicht. Dadurch findet automatisch auch Kompetenzentwicklung oder Selbstwerterhöhung statt, z. B. wenn ein Lösungsvorschlag zum Erfolg geführt hat. Und das Bedürfnis nach Lustgewinn wird durch das gemeinsame Feiern beim Erreichen von Teamzielen befriedigt.

153 Lernen in Organisationen

..      Abb. 8.6  Zusammenfassung der wichtigsten Voraussetzungen, damit New Learning gelingt

In . Abb. 8.6 werden die verschiedenen Voraussetzungen für ein wirksames New Learning für die Ebenen Individuum, Team und Organisation zusammengefasst und dargestellt. Agile Methoden sind deshalb wertvolle Begleiter bei der Befähigung von Mitarbeitenden für das New Learning. Jedoch ist keinesfalls empfehlenswert, Agilität flächendeckend und orthodox in einer Organisation auf einen Schritt einzuführen. Es ist lohnender, sich die Agile-Methoden-Toolbox genauer anzuschauen und dann diejenigen Methoden auszuwählen, die zur aktuellen (Lern-)Kultur der Organisation am besten passen. Eine vertiefte psychologische Auseinandersetzung findet sich im Buch Psychologie der Agilität  – Lernwege für Individuen und Teams von Zirkler & Werkmann-­ Karcher, 2020. Wer sich für agile Methodik interessiert, findet eine gute Einführung in das agile Projektmanagement im Buch Agiles Projektmanagement im Berufsalltag von Kusay-Merkle (2021).  

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155 Lernen in Organisationen

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8

157

Interne Laufbahnentwicklung Marc Schreiber Inhaltsverzeichnis 9.1

Einleitung – 158

9.2

Laufbahnen gestern und heute – 159

9.3

 odell der Persönlichkeits- und M Identitätskonstruktion (MPI) – 161

9.4

L aufbahnentwicklung in Zeiten von Arbeiten 4.0 – Kompetenzorientierung, Selbstmanagement und lebenslanges Lernen greifen zu kurz – 166

9.5

Fazit – 169 Literatur – 171

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_9

9

158

M. Schreiber

Es ist charakteristisch für die heutige Zeit, dass berufliche Laufbahnen nicht mehr wie früher nach einem typischen Muster verlaufen. Unternehmen stehen vor der großen Herausforderung, wie sie ihre Mitarbeitenden in ihrer Entwicklung unterstützen und dabei gleichzeitig die potenziell disruptive wirtschaftliche Entwicklung im Blick haben können. Rückblickend auf die Zeit seit 1900 und mit Bezug zu den industriellen Revolutionen kann man von drei Paradigmen wirksamer Laufbahnberatung sprechen: Passung, Lebenslanges Lernen und Life Design. Im vorliegenden Kapitel werden die drei Paradigmen erläutert und in der Folge das Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI) vorgestellt. Dabei wird aufgezeigt, dass die Konzepte Kompetenzorientierung, Selbstmanagement und lebenslanges Lernen im Kontext der internen Laufbahnentwicklung zu kurz greifen und dass der Fokus in der Arbeitswelt 4.0 vermehrt auf die Ebene der Identitätskonstruktion gerichtet werden sollte. Die Ebene der beruflichen Identität, also wie sich eine Person in das berufliche Umfeld einbettet, entspricht unternehmensseitig der Ebene des normativen Managements im Sinne von Vision und Mission. Eine nachhaltige interne Laufbahnentwicklung sollte nicht versuchen, Laufbahnen zu planen, sondern vielmehr den wiederkehrenden und systematischen Austausch über die berufliche Identität der Mitarbeitenden und die Vision und Mission des Unternehmens fördern.

9 9.1 

Einleitung

Berufliche Laufbahnen verlaufen nicht mehr wie früher nach einem typischen Muster. Unternehmen stehen vor der großen Herausforderung, wie sie die Mitarbeitenden in ihrer Entwicklung unterstützen und dabei gleichzeitig in potenziell disruptiven Marktumfeldern bestehen können. Vereinfacht ausgedrückt besteht interne Laufbahnentwicklung darin, die Visionen der Mitarbeitenden mit derjenigen des Unternehmens abzustimmen. Visionen sind abstrakt und sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft ausgerichtet. Dadurch eignen sie sich sehr gut, um dem schnellen Wandel in Zeiten von Arbeiten 4.0 sowie der damit einhergehenden Unsicherheit und Unplanbarkeit zu begegnen. Im vorliegenden Kapitel wird ein Ansatz aufgezeigt, der bei der internen Laufbahnentwicklung zwischen den Paradigmen der Passung, des lebenslangen Lernens und des Life Designs unterscheidet und auf die Identitätskonstruktion der Mitarbeitenden fokussiert. Die drei Paradigmen werden im Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI; Schreiber, 2022) integriert. Im MPI geht es darum, wie Menschen ihre Persönlichkeit sowie ihre Identität in ihr soziales Umfeld einbetten und wie sie ihr soziales Umfeld dabei auch aktiv mitgestalten. Als Leitmotiv für die Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion wird – analog zur Career-Construction-Theorie (CCT; Savickas, 2019, 2020) – vom Leitmotiv einer erfolgreichen Adaptation an das soziale Umfeld mit dem Ziel eines gelingenden Lebens ausgegangen. Dazu gehört auch, dass eine Person ihr Leben als sinn- und bedeutungsvoll erlebt. Anhand des MPI wird aufgezeigt, wie eine nachhaltige interne Laufbahnentwicklung in Zeiten von Arbeiten 4.0 aufgegleist werden kann. Zuerst wird skizziert, wie Laufbahnen heute im Vergleich zu früher verlaufen und welche Paradigmen aus der Laufbahnberatung dabei im Vordergrund stehen.

159 Interne Laufbahnentwicklung

9.2 

Laufbahnen gestern und heute

Die Arbeitswelt hat seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vier industrielle Revolutionen durchlaufen (BMAS, 2015; Schwab, 2017). Die erste industrielle Revolution im Sinne von Arbeiten 1.0 gegen Ende des 18. Jahrhunderts ging mit der Wasser- und Dampfkraft einher. Diese kann die menschliche Muskelkraft (z. B. durch einen mechanischen Webstuhl) ersetzen und charakterisiert den Beginn der Industriegesellschaft. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts folgt die zweite industrielle Revolution im Sinne von Arbeiten 2.0 (BMAS, 2015; Schwab, 2017). Diese Entwicklung wurde durch die Elektrizität ausgelöst und sie hat zu Fließbandarbeit, Massenproduktion sowie einem beginnenden Wohlfahrtsstaat geführt (. Tab. 9.1). Mitte des 20. Jahrhunderts etablierte sich die Elektronik als Technologie und brachte eine rasante Entwicklung der Personal Computer (PC). Diese dritte industrielle Revolution im Sinne von Arbeiten 3.0 ging einher mit einer zunehmenden Digitalisierung und Globalisierung, und mit Blick auf die Gesellschaftsordnung hat sich in vielen industrialisierten Staaten die soziale Marktwirtschaft mit einer mehr oder weniger ausgeprägten sozialen Absicherung der Bevölkerung durchgesetzt (BMAS, 2015; Schwab, 2017). Im 21. Jahrhunderts verschmelzen Mensch und Maschine zunehmend, und im Zuge der vierten industriellen Revolution im Sinne von Arbeiten 4.0 spielen die Künstliche Intelligenz (KI) sowie cyber-physische Systeme zunehmend eine zentrale Rolle. Dabei wird befürchtet, dass die menschliche Denkkraft durch Maschinen ersetzt wird. Aufgrund der disruptiven Entwicklung in vielen Branchen und Märkten (z.  B.  Taxibranche durch Uber oder Detailhandel durch Amazon) wird das bestehende soziale  

..      Tab. 9.1  Paradigmen der beruflichen Laufbahnentwicklung, industrielle Revolutionen seit 1900 und typische Laufbahnen im Überblick (gemäß Schreiber, 2022) Paradigma

Passung (einmalige Passung)

Lebenslanges Lernen (kontinuierliche Entwicklung)

Life Design (flexible Entwicklung)

Industrielle Revolution

Arbeiten 2.0 (~1900) Elektrizität Fließband Massenproduktion

Arbeiten 3.0 (~1950) Elektronik Computer Automatisierung

Arbeiten 4.0 (~2000) KI, Robotik Cyber-physische Systeme Vernetztes Arbeiten

Fragestellung und zentrales Konzept in der Beratung

Was für ein Beruf passt zu mir? Objektive Fakten

Welches sind meine beruf- Wie gestalte ich meine lichen Ziele und wie berufliche Identität? erreiche ich diese? Soziale Narrative Subjektive Ziele

Rolle der Unternehmen

Sicherheit der Mitarbeitenden

Autonomie der Mitarbeitenden

Typische Laufbahn (visualisiert als Bild)

Orientierung der Mitarbeitenden

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M. Schreiber

Gefüge in Frage gestellt. Dabei stellt sich die Frage nach einem neuen sozialen Kompromiss (BMAS, 2015) wie beispielsweise dem bedingungslosen Grundeinkommen (Straubhaar, 2021; Varoufakis, 2017, 2020). Typische berufliche Laufbahnen verlaufen immer in Abhängigkeit des Zeitgeistes der Arbeitswelt sowie einer spezifischen Branche. Savickas (2012, 2015, 2019) unterscheidet zwischen drei Paradigmen wirksamer Laufbahnberatung (. Tab. 9.1). Er bezieht sich dabei auf die Zeit seit 1900, also Arbeiten 2.0. In Ländern wie der Schweiz oder auch den USA war das die Anfangszeit der institutionalisierten Laufbahnberatung. Laufbahnberatung zwischen 1900 und 1950 funktioniert primär gemäß dem Paradigma der Passung (einmalige Passung). Dabei steht die Frage „Was für ein Beruf passt zu mir?“ im Vordergrund. Unternehmen geben den Mitarbeitenden (finanzielle und strukturelle) Sicherheit und setzen sie im Gegenzug gemäß ihren Eigenschaften dort ein, wo sie gebraucht werden können. Laufbahnberatung im Paradigma der Passung versucht zu objektivieren und quantifizieren. In . Tab.  9.1 steht das Bild der Brücke dafür, dass es in der Beratung darum geht, den Klient:innen den Weg zur „richtigen“ Brücke auf der Basis objektiver Fakten zu weisen. Laufbahnberatung im Paradigma des lebenslangen Lernens (kontinuierliche Entwicklung) lehnt sich an den Zeitgeist des „immer mehr“ im Sinne des wirtschaftlichen Wachstums an und fokussiert primär auf das Erreichen von subjektiven Zielen auf der Basis der relevanten Motive sowie der nötigen Kompetenzen. Obwohl eigentlich nicht so gedacht, wird Laufbahnentwicklung gemäß dem Paradigma des lebenslangen Lernens im Kontext von Arbeiten 3.0 zwischen 1950 und 2000 von vielen als Aufstieg in der Karriereleiter im Sinne einer „normativen“ Entwicklung hin zu mehr Lohn und höherem Status interpretiert. Das hat auch damit zu tun, dass dieses Narrativ von vielen Mitarbeitenden großer und multinational tätiger Firmen gelebt werden kann (oder konnte). Mitarbeitende leiten daraus ab, sich Ziele zu setzen und die eigene berufliche Laufbahn erfolgreich nach oben zu „managen“. Unternehmen können ihren Mitarbeitenden zu Zeiten von Arbeiten 3.0 aufgrund der konstant wachsenden Wirtschaft die Autonomie gewähren, die diese für die Umsetzung ihrer subjektiven Ziele benötigen (. Tab. 9.1). In einer Beratung gemäß dem Paradigma des lebenslangen Lernens stehen die folgenden Fragen im Vordergrund: Welches sind meine beruflichen Ziele und wie erreiche ich diese? Klient:innen werden dabei unterstützt, ihre Motive zu erkennen, daraus subjektive Ziele abzuleiten und die für deren Umsetzung nötigen Kompetenzen zu entwickeln. In . Tab.  9.1 steht das Bild mit den Wegweisern dafür, dass Klient:innen wissen, in welche Richtung sie gehen möchten. In der Beratung werden sie dabei unterstützt. Laufbahnberatung im Paradigma des Life Designs (flexible Entwicklung) bezieht sich auf das Arbeiten 4.0 des 21. Jahrhunderts. Der Zeitgeist der sogenannten neuen Arbeitswelt ist durchdrungen von potenzieller Disruption und der damit einhergehenden Unsicherheit und Unplanbarkeit sowohl für Mitarbeitende als auch für Unternehmen. Kontinuierliches Wachstum wie zu Zeiten vom Arbeiten 3.0 ist nicht mehr der Normalfall, auch wenn sich viele immer noch stark danach sehnen und ihr Handeln auch darauf ausrichten. Beratungspersonen unterstützen ihre Klient:innen beim Identifizieren relevanter Lebensthemen sowie beim fortlaufenden Gestalten ihrer beruflichen Identität. Die Herausforderung im Paradigma des Life Designs besteht darin, einen Umgang mit der Schnelllebigkeit der (Arbeits-) Welt zu finden, sich  



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161 Interne Laufbahnentwicklung

selbst im sozialen und kulturellen Kontext zu verorten und eine (berufliche) Identität auf der Basis eines sozial eingebetteten Narrativs (soziales Narrativ) zu konstruieren. Weil die Arbeitswelt keine Stabilität und Planbarkeit mehr von „außen“ bietet, geht es für Mitarbeitende darum, Stabilität und Kontinuität von „innen“ heraus zu entwickeln. Unternehmen können den Mitarbeitenden Orientierung geben, indem sie transparent kommunizieren, welche Vision sie verfolgen (. Tab. 9.1). In . Tab. 9.1 steht das Bild mit der stark frequentierten Straßenkreuzung („Shibuya Crossing“ in Tokyo) dafür, dass Klient:innen zwar wissen, wohin sie wollen, beim Überqueren der Straßenkreuzung aber gut daran tun, sich flexibel auf ihre unmittelbare soziale Umwelt mit den anderen Verkehrsteilnehmenden zu beziehen. In der Laufbahnberatung konzipieren Klient:innen eine sinnhafte autobiografische Geschichte. Darin werden die verschiedenen Ebenen der Persönlichkeit in die für eine Person relevanten Lebensbereiche eingebettet und als Basis für konkrete (kleine) Schritte der beruflichen Laufbahnentwicklung genutzt. In der Folge wird die Grundstruktur des MPI (Schreiber, 2022) mit den drei Ebenen der Persönlichkeit, die sich auf die soeben dargestellten Paradigmen wirksamer Beratung beziehen, vorgestellt und aufgezeigt, dass sich interne Laufbahnentwicklung ebenfalls auf alle Ebenen beziehen sollte.  

9.3 



Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI)

Im MPI (Schreiber, 2022) werden Inhalte und Prozesse der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion beschrieben, die einem gelingenden Leben zuträglich sind (. Abb. 9.1). Dabei spielen wie bereits erwähnt das Leitmotiv der Adaptation an das soziale Umfeld und ein Leben, das als sinn- und bedeutungsvoll erlebt wird, eine wichtige Rolle. Das MPI stützt sich auf die erkenntnistheoretische Perspektive des sozialen Konstruktionismus. Gergen und Gergen (2009, S. 10) erläutern diese Perspektive wie folgt:  

»» Alles, was wir für real erachten, ist sozial konstruiert. Oder spannungsgeladener formuliert: Nichts ist real, solange Menschen nicht darin übereinstimmen, dass es real ist.

Dabei beziehen sie diese Prämisse nicht nur auf die zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Prozesse, sondern auch auf die physische Welt des direkt Beobachtbaren. Für das MPI bedeutet diese sozial-konstruktionistische Basis, dass objektive Fakten und subjektive Ziele immer nur dann von Relevanz sind für eine Person, wenn die Person diese sinn- und bedeutungsvoll auf der Ebene der sozialen Narrative integrieren kann (. Abb. 9.1). Diese Integration geschieht durch soziale Konstruktionen, die im Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI) – analog zur CCT (Savickas, 2019, 2020) – beschrieben werden (Schreiber, 2022). Die Konzepte "Selbst" und "Identität" werden im MPI von der CCT (Savickas, 2019, 2020) übernommen und neben dem Beruf auch auf alle anderen Lebensbereiche wie Familie oder Freizeit bezogen. Das Selbst als Teil der Persönlichkeit wird gemäß McAdams (1995, 2013) und mit Bezug zur CCT sowie den Paradigmen der beruflichen Laufbahnentwicklung (. Tab. 9.2) auf drei Ebenen betrachtet. Den drei sich überlagernden Ebenen der Persönlichkeit werden die folgenden Inhaltstheorien zugeordnet (. Abb. 9.1):  





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M. Schreiber

..      Abb. 9.1  Grundstruktur des Modells der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI) aus Schreiber (2022). Hinweis: Die Inhaltstheorien des MPI können sowohl auf einer expliziten (dem Bewusstsein zugänglichen) als auch auf einer impliziten (dem Bewusstsein nicht ohne Weiteres zugänglichen) Ebene zum Ausdruck kommen. So kann sich z.  B. eine Persönlichkeitseigenschaft wie Extraversion explizit und/oder implizit manifestieren

..      Tab. 9.2  Paradigmen wirksamer Beratung, Rahmenmodell des Modells der Persönlichkeitsund Identitätskonstruktion (MPI) sowie Bezüge zur Rolle und Funktion der Unternehmen Typische Laufbahnen (7 Abschn. 9.2)

Rahmenmodell und Inhaltstheorien des MPI (7 Abschn. 9.3)

Rolle der Unternehmen (7 Abschn. 9.2)

Management-­Ebenen in Unternehmen (7 Abschn. 9.3)

Flexible Entwicklung (soziale Narrative)

Autobiografische:r Autor:in: Identität; Reflexivität

Orientierung der Mitarbeitenden

Vision & Mission (normatives Management) Zeithorizont: 5–10 Jahre Konkretisierungsgrad: abstrakt

Kontinuierliche Entwicklung (subjektive Ziele)

Motivierte:r Agent:in: Adaptabilitätskompetenzen; Bedürfnisse und Motive

Autonomie der Mitarbeitenden

Strategie (strategisches Management) Zeithorizont: 2–4 Jahre Konkretisierungsgrad: abstrakt/konkret

Einmalige Passung (objektive Fakten)

Soziale:r Akteur:in: Persönlichkeitseigenschaften (sowie Charakterstärken, Tugenden); Werte

Sicherheit der Mitarbeitenden

Struktur (operatives Management) Zeithorizont: ca. 1 Jahr Konkretisierungsgrad: konkret









163 Interne Laufbahnentwicklung

1. Autobiografische:r Autor:in: Diese Ebene umfasst die Konzepte Reflexivität und Identität. Bei der Reflexivität geht es darum, wie eine Person in der Gegenwart auf die Vergangenheit blickt und daraus Schlüsse für die Zukunft zieht. Diese Erkenntnisse werden für die Entwicklung der Identität genutzt. Dabei geht es um die Frage, wie sich eine Person in ihr soziales Umfeld einbettet. Das Erleben (Sensorik) und Handeln (Motorik) der autobiografischen Autor:innen bezieht sich gemäß dem Paradigma des Life Designs (flexible Entwicklung) insbesondere auf selbstkonzipierte soziale Narrative, die den eigenen subjektiven Erfahrungshintergrund sowie die soziale Umwelt integrieren. Dabei werden die beiden „unteren“ Eben der Persönlichkeit mit einbezogen. 2. Motivierte:r Agent:in: Diese Ebene umfasst Bedürfnisse, Motive und Kompetenzen der Adaptabilität an das soziale Umfeld. Das Erleben (Sensorik) und Handeln (Motorik) der motivierten Agent:innen bezieht sich gemäß dem Paradigma des lebenslangen Lernens (kontinuierliche Entwicklung) insbesondere auf die subjektiven Ziele sowie deren Umsetzung. 3. Soziale:r Akteur:in: Diese Ebene umfasst Werte und Persönlichkeitseigenschaften (sowie Charakterstärken, Tugenden). Das Erleben (Sensorik) und Handeln (Motorik) der sozialen Akteur:innen bezieht sich gemäß dem Paradigma der Passung (einmalige Passung) insbesondere auf objektive Fakten und konkrete Erfahrungen in der sozialen Umwelt. . Abb.  9.1 zeigt die Grundstruktur des MPI mit dem übergeordneten Rahmenmodell der drei Ebenen der Persönlichkeit und den Inhaltstheorien, unterteilt in Strategien zur sozialen Adaptation (Persönlichkeitseigenschaften sowie Charakterstärken, Tugenden; Adaptabilitätskompetenzen; Identität) und kognitive Schemata der Situationsbewertung (Werte; Bedürfnisse, Motive; Reflexivität). Während die Strategien eher Persönlichkeitsaspekte umfassen, die für die Adaptation nützlich sind, geht es bei den Situationsbewertungen um Aspekte, die sich eine Person in ihrem Umfeld wünscht und die für sie wichtig sind. Neben den drei Ebenen der Persönlichkeit werden im MPI Elemente der folgenden Ansätze aus der Persönlichkeits- und Motivpsychologie einbezogen: 55 Zürcher Modell der sozialen Motivation (ZMSM; Bischof, 1985, 1993) 55 Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie; Kuhl, 2001, 2010, 2018) 55 Kybernetische Big-Five-Theorie (Cybernetic Big Five Theory; CB5T; DeYoung, 2015)  

Dabei spielen die beiden Prozesse Selbstwachstum („Wie entwickle ich mich selbst weiter?“) und Zielumsetzung („Wie setze ich meine Ziele um?“) gemäß der PSI-­ Theorie (Kuhl, 2001, 2010) eine zentrale Rolle. Die beiden Prozesse sind im MPI entlang der vier Phasen kreativer Selbstregulation von (Quirin et  al. 2020; Quirin & Kuhl, 2022) angeordnet: 1) Zielselektion, 2) Planung, 3) Handlung und 4) Evaluation (. Abb. 9.1). Die vier Phasen der kreativen Selbstregulation bilden einen kybernetischen Zyklus (DeYoung, 2015) ab, der sich sowohl auf das Erleben (Sensorik) als auch auf das Handeln (Motorik) bezieht. In diesem kybernetischen Zyklus werden bewusste und unbewusste Ziele gegeneinander abgewogen, priorisiert und wenn  

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möglich umgesetzt. Dabei wird analog zur PSI-Theorie zwischen analytisch-­ sequenziellen Prozessen (Planung und Evaluation), die dem Bewusstsein zugänglich sind, und intuitiv-parallelen Prozessen (Zielselektion und Handlung), die dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich sind, unterschieden. In der auf das Erleben (Sensorik) bezogene ersten Phase der Zielselektion sind gemäß der PSI-Theorie (Kuhl, 2018) die intuitiv-parallelen Informationsverarbeitungsprozesse von Relevanz. Intuitiv-parallele Prozesse laufen schnell und aufgrund ihrer impliziten Verankerung häufig auch unbewusst ab. In einer Beratung geht es deshalb unter anderem darum, unbewusste oder nur diffus fassbare Aspekte des Selbst dem Bewusstsein zugänglich und dadurch für die zweite Phase der Planung "nutzbar zu machen“. >>So kann aus einem eher diffusen Gefühl (z. B. „Ich möchte mitreden und mich einbringen können“) ein abstrakter Plan (z. B. „Ich möchte meine Fachexpertise weiter vertiefen und als Fachexpert:in mitgestalten können“) werden.

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In der auf das Handeln (Motorik) bezogene Planungsphase dominieren gemäß der PSI-Theorie (Kuhl, 2018) die analytisch-sequenziellen Informationsverarbeitungsprozesse. Hierbei werden Informationen hintereinander und deshalb auch eher langsam verarbeitet. Sie sind explizit verankert und dadurch dem Bewusstsein auch zugänglich. In der Planungsphase werden die relevanten Informationen aufbewahrt, bis sich eine Situation ergibt, in welcher der abstrakte Plan umgesetzt werden kann (z. B. wenn eine Stelle als Fachexpert:in ausgeschrieben ist). Die Umsetzung geschieht in der dritten Phase der Handlung, welche sich gemäß der PSI-Theorie (Kuhl, 2018) ebenfalls auf die motorische Umsetzung bezieht und wieder intuitiv-parallel funktioniert. Die parallele Funktionsweise kann man sich so vorstellen: Bei der motorischen Umsetzung (z. B. Bewerbung verfassen) sind immer zahlreiche Muskeln parallel aktiv. Deren Koordination funktioniert am besten, wenn sie parallel und über weite Strecken unbewusst abläuft. Schließlich folgt die vierte Phase der ­Evaluation, die sich wiederum auf das Erleben (Sensorik) bezieht und in welcher die Zielerreichung überprüft und zurückgemeldet wird. Das Fokussieren auf einzelne Details passt zur während der Evaluationsphase vorherrschenden analytisch-sequenziellen Informationsverarbeitung. Kuhl (2018) ordnet die analytisch-sequenzielle Informationsverarbeitung eher der Funktionsweise der linken Hirnhemisphäre zu und die intuitiv-parallele Informationsverarbeitung eher der rechten Hirnhemisphäre. Entsprechend sind die vier Phasen kreativer Selbstregulation in . Abb. 9.1 angeordnet. Daraus geht hervor, dass sowohl beim Selbstwachstum (Erleben) als auch bei der Zielumsetzung (Handeln) beide Hirnhemisphären beteiligt sind. Gemäß der PSI-Theorie (Kuhl, 2018) spielen die Motive eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, „ein Ziel umzusetzen“ oder „selbst als Person zu wachsen“. Im MPI wird dabei gemäß dem Zürcher Modell der sozialen Motivation (ZMSM; Bischof, 1985, 1993) zwischen den Motivsystemen Sicherheit, Erregung und Autonomie unterschieden (Schreiber, 2022). Das Sicherheitssystem (auch Abhängigkeit, Bindungsbedürfnis) wird durch die Nähe zu vertrauten und sicherheitsspendenden Objekten reguliert und bezieht sich im MPI auf das Selbstwachstum (Schreiber,  

165 Interne Laufbahnentwicklung

2022). Demgemäß kann das „Selbst“ insbesondere dann optimal wachsen und wichtige Lebenserfahrungen verarbeiten und integrieren, wenn es genügend Sicherheit erfährt. Das Erregungssystem (auch Unternehmungslust, Erregungsbedürfnis) geht mit der Exploration fremder Objekte einher und ist im MPI auf die Zielumsetzung bezogen. Unternehmungslust fördert das Explorieren und dadurch auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ziel erfolgreich umgesetzt werden kann. Das Autonomiesystem wird im ZMSM gemäß Bischof (1993) primär über das Machtmotiv (Ranghierarchie, „anführen und Verantwortung übernehmen wollen“) ausdifferenziert. Es kommt aber auch über das Geltungsmotiv (Geltungshierarchie, „im Mittelpunkt stehen wollen“) oder das Leistungsmotiv (Leistungshierarchie, „dem eigenen Leistungsanspruch entsprechen wollen“) zum Ausdruck (Schreiber, 2022). Das MPI kann als Rahmen für Laufbahnentwicklungsprozesse innerhalb von Unternehmen beigezogen werden. Dabei spielt wiederum das Rahmenmodell mit den drei Ebenen der Persönlichkeit eine wichtige Rolle. Diese drei Ebenen werden in . Tab. 9.2 auf die Management-Ebenen in Unternehmen gemäß Rüegg-Stürm und Grand (2019) bezogen: Operatives, strategisches und normatives Management. Daraus kann, bezogen auf die Personalentwicklung, gefolgert werden, dass interne Laufbahnentwicklung gemäß dem Paradigma der Passung (einmalige Passung) aufgrund von „objektiv“ erfassbaren Persönlichkeitseigenschaften (Selbst als soziale:r Akteur:in) sowie der „objektiven“ Anforderungen an eine bestimmte Stelle im Sinne des operativen Managements angegangen wird. Im Paradigma der Passung wird von einer stabilen „Welt“ im Sinne von Arbeiten 2.0 ausgegangen. Die Stabilität bezieht sich sowohl auf die Eigenschaften der Mitarbeitenden als auch auf das operative Management und die Struktur des Unternehmens. Werden in der Beratung Persönlichkeits- oder auch Interessensfragebogen eingesetzt, so folgen diese mindestens implizit dem Paradigma der Passung, weil mithilfe von Fragebögen zeit- und situationsübergreifende Persönlichkeitsaspekte erfasst werden (Schreiber, 2020). Interne Laufbahnentwicklung gemäß dem Paradigma des lebenslangen Lernens (kontinuierliche Entwicklung) bezieht sich auf die subjektiven Ziele der Mitarbeitenden (z. B. eine Führungslaufbahn in Angriff nehmen wollen) im Sinne des Selbst als motivierte:r Agent:in sowie auf das strategische Management des Unternehmens im Sinne einer Planung über einen Zeithorizont von 2–4 Jahren. Begriffe wie ­Kompetenzorientierung, Selbstmanagement und lebenslanges Lernen suggerieren, dass kontinuierliche Entwicklung möglich ist, wenn man die eigenen Ziele konsequent genug „managt“ und dabei die nötigen Kompetenzen mitbringt oder erwirbt. Schließlich bedeutet interne Laufbahnentwicklung gemäß dem Paradigma des Life Designs (flexible Entwicklung), dass die Laufbahnentwicklung auf einer abstrakten Ebene aufgrund der beruflichen Identität der Mitarbeitenden (Selbst als autobiografische:r Autor:in) sowie des normativen Managements des Unternehmens (Vision & Mission) angegangen wird. Im Folgenden werden traditionelle Laufbahnkonzepte, die sich primär auf das Paradigma des lebenslangen Lernens und das Prinzip der kontinuierlichen Entwicklung (Arbeiten 3.0) beziehen, kritisch beleuchtet. Sie greifen in einer potenziell disruptiven Arbeitswelt (Arbeiten 4.0) zu kurz.  

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 aufbahnentwicklung in Zeiten von Arbeiten 4.0 – L Kompetenzorientierung, Selbstmanagement und lebenslanges Lernen greifen zu kurz

Kompetenzorientierung, Selbstmanagement und lebenslanges Lernen sind häufig verwendete Schlagworte, auch im Zusammenhang mit der internen Laufbahnentwicklung. Anhand des MPI (Schreiber, 2022) wird in der Folge aufgezeigt, dass diese Konzepte einen eingeschränkten Fokus auf die subjektiven Ziele gemäß dem Paradigma des lebenslangen Lernens (kontinuierliche Entwicklung) richten. Vor allem das Nichtberücksichtigen der zur heutigen Arbeitswelt gehörigen sozialen Narrative im Sinne der autobiografischen Autor:innen sowie der Ebene des normativen Managements seitens der Unternehmen wiegen schwer und können Personalentwicklungsprozesse zu einer Farce verkommen lassen (. Abb. 9.1; . Tab. 9.2). Der einseitige Fokus auf das Prinzip der kontinuierlichen Entwicklung soll anhand einer sinngemäßen Äußerung, die Klient:innen in Beratungen immer wieder machen, illustriert werden. Dabei soll aufgezeigt werden, dass es sich lohnt, bei der Laufbahnentwicklung in Unternehmen nicht nur objektive Fakten und subjektive Ziele, sondern insbesondere auch die Ebene der sozialen Narrative einzubeziehen.  

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»» Ich habe mein Leadership Training erfolgreich abgeschlossen und bin frustriert, weil mir jetzt keine Führungsposition angeboten wird.

Immer wieder berichten Klient:innen in der Beratung, dass sie in ihrem Unternehmen zwar gute Beurteilungen erhalten und auch gefördert werden, aber trotzdem frustriert sind, weil sie die in Aussicht gestellten Entwicklungsschritte nicht umsetzen können. Klassische Laufbahnentwicklungskonzepte (z.  B.  Führungs-, Fach- und Projektlaufbahnen) basieren, wie bereits erwähnt, sehr einseitig auf dem Prinzip der kontinuierlichen Entwicklung. Laufbahnplanung wird dabei gemäß dem MPI auf der Basis der subjektiven Ziele der Mitarbeitenden (z. B. "Ich möchte eine Führungsrolle übernehmen") – unter Einbezug der Bedürfnisse und Motive sowie der für die Zielerreichung nötigen Kompetenzen – sowie der strategischen Planung des Unternehmens mit einem Planungshorizont von 2–4 Jahren vollzogen (. Abb.  9.1; . Tab. 9.2). Zur strategischen Planung gehört auch die strategische Personalplanung, die eine Prognose des Vollzeitäquivalents (VZÄ; englisch: Full Time Equivalent, FTE), also der rechnerischen Vollzeitstellen, mit denen über den entsprechenden Zeithorizont geplant wird, beinhaltet. Kontinuierliche Entwicklung impliziert ­Vorhersehbarkeit seitens der Mitarbeitenden sowie des Unternehmens. Das bedeutet, dass die Ziele der Mitarbeitenden und die zu erwerbenden Kompetenzen über einen bestimmten Zeithorizont genauso vorausgesagt werden können wie die Entwicklung des Unternehmens bezogen auf die strategische Personalplanung. In einer Welt, in der diese Voraussetzungen erfüllt sind und die nach dem Prinzip der kontinuierlichen Entwicklung (Arbeiten 3.0) funktioniert, können sich Unternehmen darauf konzentrieren, ihren Mitarbeitenden die Autonomie zu geben, die sie für ihre kontinuierliche Entwicklung benötigen. Die Autonomie kann sich gemäß dem ZMSM von Bischof (1993) wie erwähnt auf das Machtmotiv (z. B. in der Karriereleiter aufsteigen), aber  



167 Interne Laufbahnentwicklung

auch auf das Geltungsmotiv1 und das Leistungsmotiv (z. B. fachliche Vertiefung im Sinne einer Fachlaufbahn) beziehen (Schreiber, 2022). Doch weder Unternehmen noch Mitarbeitende können in Zeiten von Arbeiten 4.0 von einer Planungssicherheit über 2–4 Jahre ausgehen. Unternehmen können die Marktlage über diesen Zeithorizont oft nicht verlässlich prognostizieren, und Mitarbeitende wollen sich oft gar nicht über 2–4 Jahre an ein Unternehmen binden. Gerade in einem Marktumfeld, in dem Fachkräftemangel herrscht, können Mitarbeitende über Anreizsysteme wie Lohn oder attraktive Arbeitsbedingungen abgeworben werden. Es kann aber auch sein, dass Mitarbeitende ihre Kompetenzen nicht wie geplant entwickeln und dass die Planung deshalb nicht möglich ist. So liegt es auf der Hand, dass eine solche Planung in Zeiten von Arbeiten 4.0 nicht aufgeht. Dennoch wird die interne Laufbahnentwicklung in vielen Unternehmen gemäß dem Prinzip der kontinuierlichen Entwicklung (Arbeiten 3.0) aufgegleist. Durch Trainings und Weiterbildungen sowie vorgespurte Laufbahnpfade wird dabei suggeriert, dass interne Laufbahnen geplant werden können. Mitarbeitende durchlaufen dann die internen oder externen Trainings oder Weiterbildungen und erwerben dabei die für die geplante Entwicklung nötigen Kompetenzen. Viele müssen dann aber realisieren, dass ihnen intern gar keine entsprechende Stelle angeboten werden kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Umsetzung einer internen Laufbahnplanung von beiden Parteien eine enorme Flexibilität erfordert, weil sich die Prognosen über einen Zeithorizont von 2–4 Jahren häufig als unpräzise oder gar „falsch“ herausstellen. Interne Laufbahnentwicklung funktioniert heute eher gemäß dem Prinzip der flexiblen Entwicklung (Arbeiten 4.0) und nicht mehr wie früher gemäß demjenigen der kontinuierlichen Entwicklung (Arbeiten 3.0) (. Tab.  9.1 und 9.2) – entsprechend sollte sie auch aufgegleist werden. In einer Arbeitswelt, die sich flexibel entwickelt, sollte bei der internen Laufbahnentwicklung gemäß dem MPI (Schreiber, 2022) der Fokus auf die sozialen Narrative und die dazugehörigen Konzepte Reflexivität und Identität (seitens der Mitarbeitenden) sowie das normative Management im Sinne von Vision und Mission (seitens der Unternehmen) gerichtet werden (. Abb.  9.1; . Tab.  9.2). Dass sich dabei der im Fokus stehende Zeithorizont von 2–4 auf 5–10 Jahre verlängert, mag auf den ersten Blick erstaunen. Das macht aber deshalb Sinn, weil die sozialen Narrative entsprechend dem Paradigma des Life Designs (flexible Entwicklung) auf einer abstrakten Ebene betrachtet werden. Anders ausgedrückt: Auf der Ebene der sozialen Narrative geht es für die Mitarbeitenden nicht darum, einen Plan für eine konkrete Umsetzung der Laufbahnentwicklung zu erstellen. Vielmehr geht es darum, die eigene berufliche Identität im Sinne eines inneren Kompasses zu skizzieren und den inneren Kompass in der Folge als Grundlage für die anstehenden Laufbahnentscheidungen zu nutzen. Der innere Kompass der Mitarbeitenden soll – analog zu Vision und Mission eines Unternehmens – zum einen eine klare Richtung vorgeben. Er darf zum anderen aber nicht einengend wirken. Während der längere Zeithorizont von 5–10 Jahren die klare Richtung und dadurch auch Orientierung von „innen“ vermitteln kann, lässt der abstrakte Konkretisierungsgrad genügend Raum für die nötige Flexibilität bei der Umsetzung. Diese Flexibilität bezüglich der Umsetzung der  



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Das Geltungsmotiv (Geltungshierarchie) kann keinem Laufbahnentwicklungspfad zugeordnet werden.

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beruflichen Identität der Mitarbeitenden sowie der Vision eines Unternehmens ist zu Zeiten einer potenziell disruptiven Arbeitswelt (Arbeiten 4.0) wichtig. Neben der Identität spielt auf der Ebene der sozialen Narrative bei den Mitarbeitenden auch das Konzept der Reflexivität eine zentrale Rolle (Savickas, 2019, 2020) (. Abb. 9.1; . Tab. 9.2). Reflexivität bedeutet Biografiearbeit und dass sich eine Person mit ihrer (beruflichen) Laufbahn auseinandersetzt, um auf dieser Basis zentrale Lebensthemen im Sinne eines roten Fadens zu identifizieren (z.  B. „Entwicklung unterstützen wollen“ oder „den eigenen Bedürfnissen folgen wollen“). Dabei ergänzen sich die retrospektive Reflexion (vergangene Erfahrungen in die Gegenwart bringen; z. B. „Ich habe selbst nicht immer die Unterstützung erhalten, die ich mir gewünscht habe“) und die prospektive Reflexivität (Zukunft proaktiv gestalten; z.  B. „Ich möchte in meinem Beruf andere in deren Entwicklung unterstützen“). Die Reflexion über die Vergangenheit wird genutzt, um wesentliche Erkenntnisse über sich selbst zu generieren und diese in die berufliche Identität zu integrieren. Bei der Identität geht es gemäß Savickas (2012a) darum, wie eine Person sich selbst in ihr soziales Umfeld einbettet und wie sie darin ihre soziale Rolle ausgestalten möchte – also um den oben beschriebenen inneren Kompass. Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion, also die Frage, wie eine Person sich selbst sieht und in verschiedene soziale Kontexte (z. B. Arbeit, Familie, Freizeit) einbettet, kann im Rahmen einer Laufbahnberatung mithilfe narrativer Verfahren unterstützt werden (Schreiber, 2022). Die narrativen Verfahren eignen sich deshalb sehr gut, weil sie nicht primär auf objektive Fakten oder subjektive Ziele fokussieren, sondern Klient:innen vielmehr dabei unterstützen, ihre sozialen Narrative zu konstruieren. Interne Laufbahnentwicklung im Kontext von Arbeiten 4.0 sollte sich also primär auf die Konzepte beziehen, die im Paradigma des Life Designs (flexible Entwicklung) relevant sind (. Abb. 9.1; . Tab. 9.1). Während im Paradigma der Passung (einmalige Passung) das Sicherheitsbedürfnis und im Paradigma des lebenslangen Lernens (kontinuierliche Entwicklung) das Autonomiebedürfnis der Mitarbeitenden im Vordergrund stehen, ist es im Paradigma des Life Designs eher das Erregungsbedürfnis im Sinne der Unternehmungslust (Schreiber, 2022). Personen mit einem hohen Bedürfnis nach Erregung fühlen sich im Kontext von Arbeiten 4.0 wohl und können sich darin flexibel entfalten. Unternehmen können und sollen den Mitarbeitenden nach Möglichkeit Orientierung geben, indem sie ihre Vision und Mission transparent machen und aufzeigen, welche strategischen und operativen Ziele gerade verfolgt werden und wie ein gemeinsamer Weg in der Zukunft aussehen könnte (. Tab. 9.1). Dabei sollte nicht das Narrativ einer prognostizierbaren (Arbeits-) Welt mit kontinuierlichem Wachstum im Vordergrund stehen und auch keine Planungssicherheit suggeriert werden. Vielmehr sollte das Narrativ einer (Arbeits-) Welt, die sich flexibel entwickelt und mit zahlreichen Chancen und Möglichkeiten einhergeht, im Vordergrund stehen.  

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>>Auf eine konkrete Planung, beispielsweise im Sinne von SMART-Zielen,2 kann und soll dabei verzichtet werden. Der Abgleich der sozialen Narrative der Mitarbeitenden mit denjenigen des Unternehmens findet sinnvollerweise auf einer abstrakten Ebene statt (z. B. ein beidseitiges Gefühl, dass es sinnvoll ist, weiter gemeinsam in dieselbe

2 Unter einem SMART-Ziel wird ein Ziel verstanden, das spezifisch (S), messbar (M), attraktiv (A), realistisch (R) und zeitlich terminiert (T) ist.

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Richtung zu gehen). Überlegungen auf einer abstrakten Ebene haben den großen Vorteil, dass sie nicht einengend wirken und dass dabei trotz Klarheit bezüglich der Identität der Mitarbeitenden sowie der Vision des Unternehmens eine große Offenheit bezüglich der konkreten Umsetzung des gemeinsamen Weges besteht. Genau diese Offenheit ist wichtig für eine flexible und dennoch nachhaltige gemeinsame Entwicklung. Ist der eingeschlagene Weg für beide Seiten kongruent, so können sie der Zukunft mit Zuversicht entgegengehen.

Der Zukunftsfokus einer internen Laufbahnentwicklung auf der Ebene der sozialen Narrative liegt darin, dass sich sowohl die berufliche Identität der Mitarbeitenden (auf der Basis der Reflexivität) als auch Vision und Mission eines Unternehmens zwar durchaus entwickeln und dadurch auch verändern können, aber tendenziell stabil und unabhängig von wirtschaftlichen Schwankungen sind. Für die regelmäßige Abstimmung der beiden Perspektiven können die bestehenden Gefäße (z. B. Mitarbeitendengespräche) genutzt werden. Die Mitarbeitenden stehen in der Verantwortung, die zentralen Pfeiler ihrer beruflichen Identität zu kennen und diese auch einzubringen. Dafür benötigen viele Mitarbeitende Unterstützung, die sie in Form einer internen oder externen Laufbahnberatung in Anspruch nehmen können. Die Vorgesetzten wiederum verantworten eine transparente Kommunikation und Orientierung der Mitarbeitenden bezüglich der Vision und Mission des Unternehmens. Mitarbeitende und Vorgesetzte stehen also beide in der Verantwortung dafür, dass die beiden sozialen Narrative regelmäßig abgeglichen werden (. Abb. 9.1; . Tab. 9.1). Ein Zeichen dafür, dass der Abgleich auf der Ebene der sozialen Narrative stattfindet, kann den Stimmen derjenigen Klient:innen entnommen werden, die bisweilen fast beiläufig erwähnen, dass ihnen die Kultur ihres Unternehmens nicht (mehr) entspricht oder dass ihr Lebensthema oder -konzept nicht mit der Haltung des Unternehmens korrespondiert. Solche Stimmen und dahinterliegende Haltungen und Meinungen können sowohl explizit als auch implizit verankert sein. Hier spielt die Unterscheidung zwischen der analytisch-sequenziellen Informationsverarbeitung (eher explizit und direkt erfragbar) und der intuitiv-parallelen Informationsverarbeitung (eher implizit und nicht direkt erfragbar) wieder eine wichtige Rolle: In einer Beratung sollte beiden Zugängen zum Erleben (Sensorik) und Handeln (Motorik) einer Person Raum gegeben werden. Mitarbeitende können ihre berufliche Identität nur dann umfassend reflektieren und weiterentwickeln, wenn es ihnen möglich ist, auch implizit verankerte Meinungen und Haltungen ins Bewusstsein zu rufen und diese in ihre berufliche Identität zu integrieren sowie für ihre Laufbahnentwicklung zu nutzen.  



9.5 

Fazit

Spätestens seit den 1950er-Jahren sind wir gesellschaftlich und ökonomisch auf das Narrativ eines kontinuierlichen Wirtschaftswachstums getrimmt. Darauf baut auch die Finanzierung unserer Sozialsysteme auf. So ist es nachvollziehbar, dass viele Mitarbeitende und Unternehmen die berufliche Laufbahnentwicklung auf das Prinzip der kontinuierlichen Entwicklung (Arbeiten 3.0) oder gar dasjenige der einmaligen Passung (Arbeiten 2.0) ausrichten. Das Narrativ der einmaligen Passung handelt von einer einmaligen Laufbahnentscheidung, die zum passenden Beruf für das gesamte Arbeits-

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leben führt. Das Narrativ der kontinuierlichen Entwicklung handelt davon, dass die Phase des beruflichen Ausprobierens in die Phase der kontinuierlichen Entwicklung mündet. Das ist dann der Fall, wenn Mitarbeitende ihre berufliche Rolle gefunden haben und sich dort kontinuierlich weiterentwickeln. Die beiden Narrative passen aber nicht zur potenziell disruptiven Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts (Arbeiten 4.0). Berufliche Laufbahnentwicklung, die sich primär am Aufstieg auf der Karriereleiter und an den Autonomiebedürfnissen der Mitarbeitenden orientiert und die über klassische Laufbahnpfade umgesetzt wird, „funktioniert“ für viele Mitarbeitende nicht mehr. Sicherheit und Planbarkeit können nicht mehr durch von „außen“ vorgespurte Laufbahnen erreicht werden. Deshalb muss Orientierung von „innen“ durch Biografiearbeit und Richten des inneren Kompasses entwickelt werden. . Abb. 9.1 und . Tab. 9.2 verdeutlichen, dass Entscheidungen bezüglich der internen Laufbahnentwicklung in einer Welt der flexiblen Entwicklung auf der Basis von Reflexivität und Identität sowie Vision und Mission gefällt werden sollten.  



Zusammenfassung

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55 Berufliche Laufbahnentwicklung gemäß dem Paradigma des Life Designs (flexible Entwicklung; Arbeiten 4.0) lässt sich als einen Prozess charakterisieren, der nicht kontinuierlich verläuft und deshalb auch nicht geplant werden kann. Vielmehr geht der Prozess mit wiederkehrenden Entscheidungen sowie einer permanenten Adaptation an das berufliche Umfeld einher. In Zeiten von Arbeiten 4.0 gilt das auch für Mitarbeitende, die in der Lebensmitte stehen, bereits zahlreiche berufliche Entscheidungen getroffen haben und ihre berufliche Identität umfassend reflektiert haben. Auch sie sind gefordert, sich immer wieder von Neuem an die sich wandelnde Arbeitswelt anzupassen und diese gleichzeitig mitzugestalten. 55 Nachhaltige interne Laufbahnentwicklung in Zeiten von Arbeiten 4.0 und gemäß dem Prinzip der flexiblen Entwicklung sollte gemäß dem MPI (Schreiber, 2022) auf der erkenntnistheoretischen Perspektive des sozialen Konstruktionismus aufbauen und den Fokus auf die Ebene der sozialen Narrative legen (. Abb. 9.1; . Tab. 9.2). –– Für die Mitarbeitenden bedeutet dies, dass Laufbahnentwicklung auf der Basis von Biografiearbeit mit dem Ziel der Konstruktion einer sinn- und bedeutungsvollen beruflichen Identität angegangen wird. Dabei werden immer auch Werte und Persönlichkeitseigenschaften (sowie Charakterstärken, Tugenden) im Sinne von objektiven Fakten sowie Bedürfnisse, Motive und Adaptabilitätskompetenzen im Sinne von subjektiven Zielen einbezogen. Biografiearbeit kann auch als kybernetischer Zyklus mit den Teilprozessen Selbstwachstum („Wie entwickle ich mich selbst weiter?“) und Zielumsetzung („Wie setze ich meine Ziele um?“) verstanden werden. Die beiden Teilprozesse stellen sicher, dass bewusste und unbewusste Ziele entwickelt, priorisiert und, wenn es die soziale Umwelt erlaubt, auch umgesetzt werden. –– Für Unternehmen bedeutet dies, dass interne Laufbahnentwicklung auf der Basis von Vision und Mission angegangen wird. Strategie (strategisches Management) und Struktur (operatives Management) werden auch berücksichtigt, stehen aber nicht im Vordergrund. –– Bereits bestehende Gefäße (z. B. Mitarbeitendengespräche) können und sollen für die regelmäßige Abstimmung der beiden Perspektiven genutzt werden.  



171 Interne Laufbahnentwicklung

55 Der Lebensbereich Arbeit stellt in unserer Gesellschaft zwar für viele einen zentralen Lebensbereich dar. Weitere Lebensbereiche wie Familie, Freizeit, Religion oder Politik sind aber auch bei beruflichen Laubahnentscheidungen von Relevanz. Deshalb sollte sich Biografiearbeit in der Beratung auch auf die anderen relevanten Lebensbereiche beziehen.

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9

173

Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung Birgit Werkmann-Karcher Inhaltsverzeichnis 10.1

Bedeutung von Teamarbeit in Organisationen – 175

10.2

Teamdefinitionen und Arten von Teams – 176

10.2.1 10.2.2

T eamdefinitionen – 176 Arten von Teams – 177

10.3

Ein Modell der Teamarbeit – 178

10.4

Input: Team-Design – 179

10.4.1 10.4.2 10.4.3

 usammensetzung des Teams – 179 Z Aufgabengestaltung und Teamstruktur – 183 Teamführung – 187

10.5

Prozess: Teamarbeit – 188

10.5.1 10.5.2 10.5.3 10.5.4 10.5.5 10.5.6 10.5.7 10.5.8 10.5.9 10.5.10

L okomotion und Kohäsion – 188 Der gruppendynamische Raum – 188 Entwicklungsphasen in der Teamarbeit – 189 Normen in Teams – 190 Teamrollen – 191 Prozessgewinne in Teams – 193 Prozessverluste in Teams – 193 Emotionale Ansteckung – 194 Psychologische Sicherheit – 195 Mentale Teammodelle und Aufgabenstrategien in der Teamarbeit – 196 10.5.11 Reflexivität in der Teamarbeit – 197

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_10

10

10.6

HR-Praktiken zur Unterstützung von Teamarbeit – 200

10.6.1 10.6.2 10.6.3 10.6.4

S elektion – 201 Beurteilung und Honorierung von Teamleistungen – 201 Entwicklung: Teamtraining, Teamentwicklung – 203 Konfliktmanagement in Teams – 206

Literatur – 208

175 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Teamarbeit ist ein wichtiges Instrument zur Organisation von Arbeit, Wissensmanagement und Lernen in Organisationen. Teams bieten ihren Mitgliedern Zugehörigkeit, soziale Unterstützung, Lernfeld und Entwicklungschancen. Sie können sich schnell an veränderte Umweltbedingungen anpassen, übernehmen Führungsaufgaben und ermöglichen dadurch flachere Organisationshierarchien  – all das ist für organisationale Agilität wichtig. Doch Teamarbeit ist per se noch kein Garant für Erfolg. Bedingungen für erfolgreiche Teamarbeit sind vielschichtig und liegen im Team-Design, in der Gestaltung unterstützender Kontextbedingungen und in einer effektiven Steuerung auf der Aufgaben- und Beziehungsebene. Diese Elemente werden im folgenden Kapitel nachgezeichnet. Die spezifischen Beiträge des HRM werden skizziert.

10.1 

Bedeutung von Teamarbeit in Organisationen

Teamarbeit ist eine weit verbreitete Arbeitsform in Organisationen. Sie erhielt seit den 1970er-Jahren viel Aufmerksamkeit, als neuere Konzepte der Gruppenarbeit zunächst in der industriellen Fertigung erforscht wurden. In einer Zeit, in der man aus dem repetitiven, fremdbestimmten Arbeiten des Taylorismus kommend an alternativen Arbeitsformen zur Humanisierung und Demokratisierung der Arbeitswelt interessiert war, erschien die Idee teilautonomer Arbeitsgruppen vielversprechend. Dies bedeutete, dass eine solche Arbeitsgruppe die Verantwortung für das Erstellen eines Produkts selbst übernehmen sollte. Dazu zählten ganzheitliche Planung und Realisierung von Arbeitseinsatz, -ausführung und -kontrolle ebenso wie selbstständige Dispositionsentscheidungen über Personaleinsatz, Qualitätskontrollen und -verbesserungen. Diese Gruppen verfügten über eine:n selbstgewählte:n Gruppensprecher:in, die oder  der das Bindeglied zu Nachbargruppen und übergeordneten Ebenen war. Ziel der Projekte zur Humanisierung der Arbeitswelt und industriellen Demokratisierung war es also, Mitarbeitenden mehr Herausforderung, Lernchancen, Sinnhaftigkeit und Autonomie in ganzheitlicheren Arbeitsprozessen zu gewährleisten (vgl. Emery & Thorsrud, 1982, S. 32). Gleichzeitig wurden aber auch betriebswirtschaftliche Vorteile realisiert: So wurde z. B. durch breitgefächerte Arbeitseinsätze an verschiedenen Stationen Polyvalenz aufgebaut, wodurch intern und extern bedingte Schwankungen im Produktionsprozess von autonom entscheidenden Gruppen sehr viel schneller ausgeglichen werden konnten, als das in der hierarchischen Arbeitsorganisation der Fall gewesen war. Diese Gruppen wurden zunächst als „autonome“ und später als „teilautonome Arbeitsgruppen“ bezeichnet. „Teilautonom“ in Anerkennung der Tatsache, dass es weiterhin übergeordnete Hierarchieebenen gab, die eine vollkommene Gruppenautonomie über Ressourcen und Strategie nicht erlaubten. Kühl (2001) beschreibt das „Einschlafen“ der einst so gefeierten teilautonomen Gruppenarbeit in den späten 1990er-Jahren und verortet die Gründe dafür auf verschiedenen Ebenen, unter anderem in der Anfälligkeit von Gruppenarbeit für Instabilitäten bei personeller Fluktuation, im hohen Unterstützungsaufwand für funktionierende Gruppenarbeit, im partiellen Desinteresse von Mitarbeiter:innen an Steuerungsaufgaben und in der Übersteuerung der Gruppenselbstorganisation durch die Führungsebene. Diese Herausforderungen zu lösen dürfte heute wieder von Interesse sein, denn seit einigen Jahren gilt der Einsatz selbstgesteuerter, agiler Teams erneut als Lösung für Organisationen, um sich wandelnden

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B. Werkmann-Karcher

Marktbedürfnissen schnell anzupassen und den Autonomiebedürfnissen der Mitarbeiter:innen zu entsprechen. Der Beitrag, den Teamarbeit zum Organisationserfolg leistet, lässt sich nachweisen. So konnten Delarue et al. (2008) in einer Metaanalyse mit 31 Studien bereits zeigen, dass der Einsatz von Teamarbeit in einem positiven Zusammenhang mit operativen Ergebnissen und Finanzkennzahlen steht, ebenso mit Arbeitsverhalten und Arbeitseinstellungen von Mitarbeiter:innen, die wiederum indirekt mit Organisationserfolg korreliert sind. Richter et al. (2011) konnten in einer weiteren Metaanalyse von 61 Studien ebenfalls einen positiven Zusammenhang zwischen Teamarbeit und Organisationsleistung sowie Teamarbeit und Arbeitseinstellungen der Mitarbeiter:innen feststellen. Dieser positive Zusammenhang zeigte sich in denjenigen Organisationen deutlich stärker, in denen Teamarbeit durch begleitende HR-Praktiken ergänzt wurde. Das bedeutet, dass Teamarbeit nicht nur eingesetzt, sondern auch systematisch unterstützt und eingebettet werden sollte, um mehr Wirkung zu erzielen. Hier kommen HR-Praktiken wie gezielte Selektion, Teamtraining und Teamentwicklung ins Spiel (7 Abschn. 10.4).  

10.2 

10

Teamdefinitionen und Arten von Teams

Nahezu jedes Organisationsmitglied würde von sich sagen, dass es Teil eines oder mehrerer Teams ist. Für manche mag das die eigene organisatorische Einheit sein, zu der man gehört, andere denken vielleicht eher an ein Projektteam oder ein Fachteam mit demselben Berufshintergrund. Wo liegt der Unterschied, und weshalb ist er wichtig? 10.2.1 

Teamdefinitionen

Trotz großer Heterogenität in den Definitionen von Teams oder Gruppen findet man doch Übereinstimmungen dahingehend, dass eine bestimmte Anzahl von Personen, ein gemeinsames Ziel und eine hinreichende Abhängigkeit voneinander im Erreichen desselben den definitorischen Kern von Teams bilden: Definition Teams in Organisationen setzen sich zusammen aus mehr als zwei und idealerweise nicht mehr als zehn Personen, die gemeinsame organisationale Zielsetzungen haben, über die zur Zielerreichung nötige Autonomie, Befugnisse und Ressourcen verfügen, in der Leistungserbringung signifikant voneinander abhängig sind und eng sowie unterstützend in verteilten Rollen zusammenarbeiten müssen, um die Ziele zu erreichen. Als soziales System verfügt ein Team über eine Grenze zur Umwelt und wird von anderen Organisationsmitgliedern als Team wahrgenommen (vgl. West, 2012, S. 27).

Die Begriffe „Gruppe“ und „Team“ werden meist voneinander abgegrenzt, indem auf die Qualität der Kooperation (zielorientierter, enger, abhängiger und unter-

177 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

stützender bei Teams, weniger zielorientiert und unverbindlicher bei Gruppen) und auf die Größe (geringer bei Teams) hingewiesen wird. In diesem Sinne ist im Folgenden von „Teams“ und „Teamarbeit“ die Rede. 10.2.2 

Arten von Teams

Man kann Teams in Organisationen unterscheiden, indem man ihre primäre Aufgabe benennt. So kommt man zu folgender Unterscheidung (vgl. Woods & West, 2020): 55 Produktionsteams (Teams, die ein materielles Produkt herstellen, z. B. in Fließbandproduktion, Montage, Gärtnerei) 55 Dienstleistungsteams (Teams, deren Produkt eine Dienstleistung ist, z. B. Teams in Beratungsstellen, Kundenservice oder Pflege) 55 Einsatz-Teams („Action and Performing Team“: Teams, die ihre Leistung gleichzeitig in intensiver Interaktion an ein- und demselben Arbeitsgegenstand erbringen, z. B. Feuerwehrteams, Cockpit-Teams, OP-Teams) 55 Projekt- und Entwicklungsteams (Teams in Forschung oder Entwicklung, die an einer Stelle des Prozesses von der Idee zum Produkt arbeiten, oder Teams, die eine interdisziplinäre Problemstellung lösen) 55 Strategieteams (Teams, die Managemententscheidungen treffen oder Standards festlegen) In all diesen Teams gibt es eine gegenseitige Ergebnisabhängigkeit, keiner kann unabhängig von der Leistung der anderen Mitglieder das Ziel erreichen. Die Prozesse der Zusammenarbeit und Art der Abhängigkeit aber unterscheiden sich. Strategieteams müssen tragfähige Entscheidungen treffen und sind abhängig von geteilter Zustimmung trotz verschiedener Fach- oder Bereichsperspektiven und -interessen. In Dienstleistungsteams wie auch in Produktionsteams liegen die Abhängigkeiten im Informationsfluss an den Schnittstellen der Arbeitsprozesse und der kollegialen Hilfsbereitschaft bei Engpässen und Störungen. Projektteams arbeiten an der Entstehung von Neuem und sind dabei sehr abhängig davon, Wissen und Ideen aus verschiedenen Fachrichtungen und Köpfen maximal zu aktivieren, zu teilen und für Lösungen zu nutzen. Der Prozess, in dem sich die gegenseitige Abhängigkeit entfaltet, ist also unterschiedlich, weshalb manche Empfehlungen für die ideale Teambesetzung auch nur für bestimmte Arten von Teams gelten. Ein wohlwollendes, unterstützendes Klima ist in all diesen Teams hilfreich und gilt als ein Erfolgsfaktor in allen gängigen Teammodellen. Ein weiterer Unterschied liegt im Arbeitsgegenstand selbst, den nicht alle Teams teilen (z. B. denselben Patienten, denselben Kunden, dasselbe Marksegment, dasselbe Thema).  Einsatz-Teams sind diejenigen, die den Gegenstand ihrer Arbeit in höchstem Maß teilen (dasselbe Flugzeug, dasselbe Feuer, derselbe Patient), ihren Arbeitseinsatz simultan erbringen und dabei miteinander intensiv interagieren. Diese Art von Teams ist es auch, die man in den sogenannten „High Reliability“-Organisationen aus Branchen wie z. B. der Luftfahrt, Kernkraft- und Ölindustrie oder in Krankenhäusern findet, in denen effektive Teamarbeit aufgrund der damit einhergehenden hohen Risiken für Mensch und Umwelt besonders erfolgskritisch ist. Die Wichtigkeit jeder einzelnen Beobachtung von kritischen Abweichungen und Vor-

10

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kommnissen ist hier hoch bedeutungsvoll, weshalb die Förderung eines Klimas psychologischer Sicherheit (7 Abschn.  10.10.9) gerade in diesen hochverantwortlichen („High Responsibility“) Teams so wichtig ist, neben dem Training hervorragender Kommunikations- und Entscheidungsfällungsfähigkeit in komplexen zeitkritischen Situationen. Wofür sind diese bislang vorgestellten Unterscheidungen wichtig? Sie helfen, die besonderen Anforderungen besser zu verstehen, die an ein Team gestellt werden: So ist z. B. die Notwendigkeit für das Einhalten standardisierter Prozeduren hoch bei Einsatz-Teams, aber niedrig bei Entwicklungsteams, die vielmehr kreative Ideen und Experimentierbereitschaft benötigen. Projektteams müssen das Verständnis vom Ziel des Projekts und möglichen Ergebnisformen in einem viel extensiveren Maß adressieren, als dies bei Dienstleistungsteams der Fall ist, deren Arbeit auf gefestigten Strukturen aufsetzt, mehr Unabhängigkeitsgrade in der Arbeit für den Einzelnen beinhaltet und sich oft mehr um eine Abstimmung von guten Praktiken oder gegenseitige soziale Unterstützung dreht. Wenn man also über Besetzungen von vakanten Stellen entscheiden möchte oder Entwicklungsmaßnahmen für Teams plant, dann ist hilfreich, diese spezifischen Anforderungen zu verstehen.  

10.3 

10

Ein Modell der Teamarbeit

Teamarbeit ist ein komplexes Phänomen. Dabei spielen verschiedene Input- und Prozessfaktoren eine Rolle, die sich in einem generischen Input-Prozess-Output-­ Modell darstellen lassen (. Abb. 10.1). Teamarbeit setzt zunächst eine Zielsetzung und Aufgabenstellung  voraus, deren Bearbeitung mehrere Personen erfordert. Aus dem organisationalen Kontext wirken  

INPUT

PROZESS

TEAM-DESIGN

Zusammensetzung des Teams – Teamgröße – Biodemographische und organisationsdemographische Variablen (Alter, Geschlecht, Zugehörigkeitsdauer usw.) – Persönlichkeitsvariablen

Aufgaben-/Arbeitsgestaltung – Vielfalt – Sinnhaftigkeit – Ganzheitlichkeit – Feedback – Autonomie



Kommunikation Führung

Leistung (Quantität, Qualität) Effizienz

Partizipation Entscheidungsfindung Normen Rollen

Teamführung

Kohäsion

Organisationaler Kontext:

Psychologische Sicherheit

Belohnungssystem für Teamarbeit – Information/Feedback – Unterstützung und Training

OUTPUT

…..

Innovation

Lernen Lebendigkeit / Lebensfähigkeit des Teams Individuelle Zufriedenheit und Wohlbefinden

..      Abb. 10.1  Input-Prozess-Output-Modell von Teamerfolg. (In Anlehnung an van Dick & West, 2013)

179 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

dann Unterstützungsleistungen, Informationseinbindung und Belohnungssysteme auf Teamarbeit ein. Der kulturelle Kontext wird ebenfalls als Inputfaktor betrachtet, da sich Kulturregeln wie z. B. die Einstellung gegenüber Gemeinschaft versus Individualität darin ausdrücken können, was man für richtig hält, wenn es um das Teilen von Belohnung oder das Hinterfragen von Einzelbeiträgen geht. Führung kann insofern als Inputfaktor betrachtet werden, als man eine andere Art von T ­ eamarbeit entwirft, wenn die gesamte Positionsmacht einer Führungsrolle an eine einzige Person übertragen wird, als wenn einzelne Führungsaufgaben auf zwei oder noch mehr Köpfe verteilt werden, wie das bei neueren Führungskonzepten der Fall ist (7 Kap. 15). Die Inputfaktoren werden in komplexen Prozessen zu Ergebnissen verarbeitet, in denen z. B. neben der formell vorgesehenen Führung auch informelle Führung wirkt und die Organisation und Weise der Kommunikation, Entscheidungsfällung oder das Maß an Zusammenhalt in einem Team („Kohäsion“) eine Rolle spielen. Auf der Output-Seite zählen nicht nur leistungsbezogene Ergebnisse zu den Indikatoren erfolgreicher Teamarbeit. Zwar wird die Erreichung der quantitativen und qualitativen Leistungsziele (z. B. Anzahl Kundenkontakte, Umsatzziele, Zufriedenheitswerte) an vorderster Stelle als Maß für Teamerfolg verstanden. Relevant sind allerdings auch weniger offensichtliche Ergebnisse: So trägt eine erfolgreiche Teamarbeit dazu bei, dass Teammitglieder lernen und Folgeaufgaben besser bewältigen können. Ein weiteres Kriterium für Teamerfolg ist die Sicherung der Überlebensfähigkeit des Teams. Denn nur wenn das Zusammenarbeitserlebnis hinreichend positiv ist, haben Teammitglieder an einer Fortsetzung Interesse und werden Teil des Teams bleiben wollen. Auf individueller Ebene sind Zufriedenheit und persönliche Entwicklung ebenfalls Ergebnisse von Teamarbeit. Aus einer gestaltungsorientierten HR-Perspektive kann man Unterstützung auf der Seite des Team-Designs, der Teamentwicklung oder der Systemgestaltung geben. Interventionen fürs Team-Design richten sich auf die Gestaltung der Zusammensetzung, Aufgabe und Führung des Teams (vgl. Stewart, 2006). Interventionen zur Teamentwicklung zielen auf Aufbau oder Verbesserung der Aufgabenbearbeitung und Zusammenarbeit eines Teams. Auf einer Systemebene schließlich kann man Feedback- und Belohnungssysteme teamförderlich gestalten.  

10.4 

Input: Team-Design

10.4.1 

Zusammensetzung des Teams

Zu den Variablen, die man innerhalb der Teamzusammensetzung häufig untersucht, zählen demografische und psychologische Attribute wie 55 Persönlichkeitseigenschaften des Big-Five-Modells (7 Kap. 6): Offenheit für Neues, Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit; 55 allgemeine mentale Fähigkeiten; 55 biologisch-demografische Variablen: Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit; 55 organisationsdemografische Variablen: Zugehörigkeitsdauer Organisation/Team, Funktion; 55 Bildungsabschlüsse.  

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Für die optimale Besetzung eines Teams interessiert es, welche dieser Attribute mit dem Erfolg von Teamarbeit zusammenhängen. Dazu wird in der Regel der Mittelwert der Merkmalsausprägungen aller Teammitglieder in einer Variablen wie z. B. kognitiven Fähigkeiten mit Messgrößen für Teamerfolg korreliert. Findet man statistisch signifikante positive Zusammenhänge, kann man davon ausgehen, Erfolgsfaktoren gefunden zu haben. Aufschlussreich können auch die im Team vertretenen Mindest- oder Maximalausprägungen eines Merkmals sein, weil sie Hinweise darauf geben können, in welchen Merkmalen die Teamleistung vom niedrigsten oder höchsten Einzelwert eines Mitglieds abhängt. Möchte man nun wissen, wie gerade die Unterschiedlichkeit, die ein Team in einem Merkmal aufweist, mit dem Teamerfolg im Zusammenhang steht, muss man statt des Teammittelwertes die Varianz, d. h. die Streubreite, verwenden, die innerhalb eines Teams in einem Merkmal festzustellen ist. Homogene Teams haben eine geringe Varianz, d. h. die Einzelwerte der Teammitglieder in einem Merkmal liegen nah beieinander, während sie bei heterogenen Teams breit streuen. Diese Analyse der Unterschiedlichkeit ist für die Frage der Teamdiversität interessant. Teamdiversität wird oft und verkürzt nur mit der biodemografischen Diversität (Alter, Geschlecht, Ethnie/Kulturzugehörigkeit) in Zusammenhang gebracht. Daneben gibt es aber auch eine psychologische Diversität, die mit Persönlichkeitseigenschaften – in der Regel aus dem Big-Five-Persönlichkeitsmodell – beschrieben wird. Die funktionale Diversität schließlich umfasst alle Variablen, die einen Bezug zur Aufgabenbearbeitung des Teams haben, z. B. der Bildungshintergrund (welche professionellen Schwerpunkte wurden in welcher Ausbildung erworben?), der funktionale Hintergrund (zu welchen Jobkategorien in der Organisation gehört man?) oder die Dauer der Zugehörigkeit zur Organisation (wie gut kennt man Kunden, Schlüsselpersonen und Spielregeln der Organisation)? Wie sich Diversität theoretisch auswirkt, wird im Folgenden erläutert. Hintergrundinformation: Gleich und gleich gesellt sich gern? Soziale Kategorisierung und Informationsverarbeitung Die soziale Kategorisierungstheorie (Turner et al., 1987) geht davon aus, dass Individuen dazu tendieren, soziale Kategorien zu bilden und sich selbst wie auch andere dort einzuordnen. Wer zur selben Kategorie wie man selbst gehört, der ist einem vertraut, den kann man gut begreifen, den findet man gut, denn da ist nichts Irritierendes. In ähnlicher Weise argumentiert das Ähnlichkeits-Attraktions-Paradigma (Pfeffer, 1983): Wir sind gerne mit Menschen zusammen, die uns ähnlich erscheinen – gleich und gleich gesellt sich gern. Auf Teams bezogen bedeutet es, dass wir auch hier die Ähnlichkeit mit anderen Mitgliedern angenehmer empfinden und sich daher Homogenität in der Zusammensetzung für Leistungsergebnisse eher vorteilhaft zeigt und vor allem eine Wertehomogenität auch mit weniger Beziehungskonflikten einhergeht. Diese theoretische Perspektive repräsentiert also die Tendenz von Individuen, sich in homogenen Gruppen schnell wohlzufühlen, einander zu verstehen und als Gruppe eine hohe Verbundenheit, ein „Wir-­Gefühl“, zu entwickeln. Homogenität kann aber dann nachteilig sein, wenn alle Teammitglieder denselben professionellen Wissensstand haben, dieselben Informationen aus der Organisation besitzen, dieselben Ideen und Überzeugungen hegen. Denn kreative und innovative Aufgaben und die Qualität von Problemlösungen und Entscheidungsfällung profitieren von einer größeren Menge an Informationen, die in homogenen Teams nicht im selben Maße zur Verfügung stehen wie in diversen Teams. Unter diesem Gesichtspunkt kann es sinnvoll sein, Unterschiedlichkeit herzustellen. Damit sie aber im Sinne der Informationsvielfalt auch kapitalisiert werden kann, müssen Teams gut darin sein, Informationen zu teilen und zu explorieren – eine Teamfähigkeit, die trainierbar ist.

181 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Die Nachteile der Diversität in Teams scheinen eher in der Startphase zu liegen, mit der Zeit schwächer zu werden und sich in das Gegenteil verkehren zu können (vgl. Li et al., 2018). Man vermutet, dass dies mit der nachlassenden Wirkung anfänglicher sozialer Kategorisierungen zusammenhängt, die aufgrund äußerlich sichtbarer Attribute wie Alter und Geschlecht stattfinden. Mit der Zeit können Ähnlichkeiten in weniger sichtbaren, psychologischen Attributen entdeckt werden, man entwickelt Vertrautheit und lernt den Umgang mit unterschiedlichen Perspektiven zu nutzen. Dieser Prozess des Kennenlernens und der Nutzbarmachung von Unterschiedlichkeit benötigt Zeit für Exploration, die man einberechnen sollte. Er kann mit Teamentwicklungsinterventionen sehr gut unterstützt werden.

Was im Folgenden über den Zusammenhang von Teammerkmalen sowie Teamdiversität und Teamleistung berichtet wird, entstammt größtenteils einer jüngeren Übersicht über 398 Studien, manche davon ihrerseits Metaanalysen (Carter et al., 2019). Um differenzierte Aussagen treffen zu können, wurden darin Teams folgendermaßen kategorisiert: „Produktionsteams“ stammten aus Produktionsbereichen verschiedener Branchen. „Dienstleistungsteams“ umfassten Teams aus Verkauf, Finanzen & Versicherungen, Bildung, Transport, Gesundheitswesen und öffentlichem Dienst. Teams aus Informationsverarbeitung, Telekommunikation und Forschung & Entwicklung wurden als „High-Tech-Teams“ kategorisiert, die projektförmig arbeiten. Höhere Teammittelwerte in den kognitiven Fähigkeiten sowie in vier der fünf „Big-Five“-Persönlichkeitsvariablen, namentlich Verträglichkeit, Extraversion, emotionale Stabilität und Offenheit für Neues, standen allgemein  mit höherer Teamleistung in Zusammenhang. Ergänzend sei darauf verwiesen, dass Bell (2007) für die Variable Verträglichkeit festgestellt hat, dass sich auch der Minimalwert als relevant erweist, was bedeutet, dass ein Mitglied mit wenig Fokus auf freundliche, ausgleichende soziale Interaktionen das soziale Klima stören und so ein Risiko für den Teamerfolg darstellen kann. Die Diversität der Teams in diesen Variablen, also die psychologische Diversität, stand hingegen in keinem Zusammenhang zu Teamerfolg. Anders zeigte sich dies hinsichtlich der biodemografischen Diversität, die Alter, Geschlecht und Ethnie umfasst: Altersdiversität erwies sich nur bei Dienstleistungsteams als positiv mit der Teamleistung verbunden; bei wissensintensiven Entwicklungs- und Projektteams hingegen zeigten sich negative Zusammenhänge. Ethnische Diversität wie auch Geschlechterdiversität wiesen insgesamt über alle Teamarten hinweg einen schwach negativen Zusammenhang zu Teamleistung auf, der für Geschlechterdiversität bei den Produktionsteams stärker negativ ausfiel. Funktionale Diversität umfasst Unterschiedlichkeit in der funktionsbezogenen Expertise, den Erfahrungen und Fertigkeiten. Sie kann sich günstig auswirken, wenn die im Team vorhandenen unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen und Ideen für bessere Problemlösungen nutzbar gemacht werden können, und wirkt ungünstig, wenn das Team aus dieser Diversität nicht gemeinsame Perspektiven und Ideen entwickeln kann. In verschiedenen Studien findet man zunächst positive wie auch negative Effekte funktionaler Diversität auf Teamleistung. Erst eine Differenzierung nach Teamarten löst die Widersprüchlichkeit auf: Bei High-Tech-Teams fand sich ein positiver Zusammenhang zwischen funktionaler Diversität und Teamleistung, während dies bei Produktionsteams genau umgekehrt war. Die Erklärung könnte also in der Natur der Aufgabe liegen: Während unterschiedliche Sichtweisen in neuartigen Aufgabenstellungen oft hilfreich sind, weil Ideenvielfalt

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die Chance auf bessere Lösungen erhöhen kann, werden sie in schon etablierten, umsetzungsorientierten Arbeitsroutinen kaum benötigt, wirken dann also nicht günstig oder sogar störend. Über alle Studien hinweg wurde ein schwach positiver Zusammenhang zwischen der Teamgröße und der Teamleistung festgestellt, der bei High-Tech-Teams etwas ausgeprägter war. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass große Teams mehr Informationsvielfalt bieten, die besonders vorteilhaft für Teamleistungen in innovativen Aufgabenkontexten ist. Darüber hinaus stellt eine größere Anzahl an ­Mitgliedern einerseits eine Ressource für das Auffangen von Engpässen dar. Dass andererseits das Risiko von Prozessverlusten aufgrund von Koordinationsmängeln oder schlicht einer Überdotierung von Mitgliedern gemessen an der Aufgabe mit der Teamgröße ansteigt, dürfte erklären, weshalb der Zusammenhang nur schwach positiv war. Die meisten Studien unterstützen die Aussage, dass es günstig ist, wenn jedes Teammitglied möglichst hohe Ausprägungen in den Merkmalen aufweist, die günstig für Teamarbeit sind (z. B. kognitive Fähigkeiten). Allerdings zeigt sich mittlerweile auch, dass nicht jedes Mitglied dieselbe Wirkung auf den finalen Teamerfolg haben muss oder kann und einzelne Mitglieder eine besonders prägende Wirkung ausüben können. So identifizierten Li et al. (2015) in über 100 verschiedenen Teams jeweils sogenannte „Extra-Miler“, denen von den Kolleg:innen ein hohes Maß an Hilfestellung und Einsatz fürs Team zugeschrieben wurde. Sie konnten zeigen, dass ein einzelnes Teammitglied, der oder die Extra-Miler, allein einen stärkeren Anteil an der Gesamtleistung als die anderen Mitglieder hat und sich dieser nochmals ausgeprägter manifestiert, wenn dieses Mitglied eine zentrale Position im Team innehat. Eine Empfehlung aus dieser Studie ist es daher, die „Extra-Miler“ in Teams wahrzunehmen und ihnen eine zentrale Position zukommen zu lassen. Weiter kann man auch schlussfolgern, dass nicht zwingend jedes Teammitglied über alle erfolgskritischen Fähigkeiten verfügen muss  – eine Annahme, die einigen Teamrollenmodellen zugrunde liegt (7 Abschn. 10.5.5).  

Hintergrundinformation: Faultlines – Bruchlinien in Teams? Es gibt verschiedene Ansätze, Ungleichheit in Teams zu beschreiben und Spannungen und Konflikte in Teams vor dem Hintergrund von Unterschiedlichkeit zu erklären. Ein neuerer Ansatz besagt, dass sich sogenannte Bruchlinien innerhalb einer Gruppe bilden können, wenn mehrere Merkmale wie z. B. Alter und Geschlecht innerhalb einer Gesamtgruppe so zusammenfallen, dass ihre Kombination aus einer heterogenen Gesamtgruppe plötzlich zwei homogene Untergruppen macht: „Wir“ versus „Ihr“ (vgl. Bezrukova et  al., 2016). Dies geschieht besonders bei Merkmalsdiversität in Geschlecht, Ethnie, Alter und Betriebszugehörigkeitsdauer (Thatcher & Patel, 2011). Wenn mehrere Merkmale in einer Subgruppe zusammenwirken, können deren kombinierte Effekte eine besonders spaltende Wirkung ausüben. Das Zustandekommen von Bruchlinien wird mit der sozialen Kategorisierungstheorie und dem Ähnlichkeits-­Attraktions-Paradigma erklärt, wonach sich Mitglieder mit ähnlichen Attributen immer leicht zusammenfinden, z. B. jüngere männliche versus ältere weibliche Teammitglieder. Wenn sich dazu noch funktionsbedingt unterschiedliche Interaktionsintensitäten ergeben (z. B. jüngere männliche Pflegekräfte und ältere weibliche Ärztinnen), können sich solche Bruchlinien noch stärker festigen. Unter ihnen leidet die Kohäsion des Gesamtteams, und auch der Informationsaustausch zwischen den Subgruppen sowie die Gesamtleistung scheinen zu leiden. Außerdem bergen Bruchlinien zwischen den Mitgliedern Konfliktpotenzial (Carter et al., 2019). All dies sind gute Gründe, bei Teambesetzungen sensibel für dieses Phänomen zu sein.

183 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Nicht immer ist es möglich, Teams nach diesen Hinweisen zusammenzusetzen, weshalb neben dem Teamdesign die Teamentwicklung eine wichtige Rolle spielt. Gleichwohl lassen sich abschließend folgende Empfehlungen für Besetzungsüberlegungen an HR-Professionals, Führungskräfte und Teams formulieren: Praxistipp

Es ist wichtig, den „Input“ der Teamarbeit hinsichtlich der Teamzusammensetzung, der Teamaufgabe und der Führung bewusst zu gestalten. 1. Es lohnt sich, die Art der Teamaufgabe zu beachten. Geht es darum, Routineaufgaben zu meistern, ist eine geringe Diversität günstiger; wenn es hingegen um komplexe Aufgabenstellungen geht, bringt Diversität mehr Vorteile. 2. Wenn die Diversität hoch ist, lohnt es sich, die Teams darin zu unterstützen, anfänglich gezielt Zeit ins gegenseitige Kennenlernen und Verstehen von Unterschiedlichkeit zu investieren und dann ebenso gezielt die Möglichkeiten zu explorieren, wie diese Unterschiedlichkeit für die Teamaufgaben nutzbar gemacht werden kann. 3. Einzelne Teammitglieder haben durchaus großen Einfluss auf verschiedene Teamergebnisse. Daher gilt es, bei Besetzungsentscheidungen nicht nur auf die Abdeckung der aufgabenrelevanten Fähigkeiten und Kompetenzen im Team zu achten. Wichtig ist auch, bei der Teambesetzung möglichst auf Mitglieder mit niedrigen Verträglichkeitswerten zu verzichten und darüber hinaus den Teamdurchschnitt in den allgemeinen mentalen Fähigkeiten, emotionaler Stabilität, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit für Neues zu maximieren. Mitglieder, die als „Extra-Miler“ freiwillig dem Team und Einzelnen darin Gutes tun, wirken ebenfalls positiv auf Teamprozesse und Teamleistung.

10.4.2 

Aufgabengestaltung und Teamstruktur

Für die Gestaltung der Aufgabenstellung, die dem Team übergeben wird (Task Design), gelten die Empfehlungen des Job-Characteristics-Modells (Hackman & Oldham, 1980), die zunächst für Individualarbeit formuliert wurden. Sie finden sich in den ersten drei der folgenden fünf Faktoren, die dazu beitragen, die Teamleistung positiv zu beeinflussen (vgl. Carter et al., 2019) und Motivation und Zufriedenheit zu erhöhen: 1. Bedeutsamkeit der Aufgaben Das psychologische Erlebnis, eine insgesamt bedeutsame Arbeitstätigkeit zu verfolgen, setzt sich aus drei Faktoren zusammen: Anforderungsvielfalt, Ganzheitlichkeit und Bedeutsamkeit der Aufgaben, die zur Tätigkeit gehören. Die Anforderungsvielfalt fördert Abwechslung und Kompetenzbreite einer Tätigkeit; die Ganzheitlichkeit der Aufgabe – alle Schritte von A–Z ausführen zu können, statt nur segmentierte Einzelaufgaben zu bearbeiten  – stärkt die Motivation und

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Identifikation; die Bedeutsamkeit und Wichtigkeit einer Aufgabe stärkt das Gefühl der Sinnhaftigkeit in der Arbeit. Vor allem der Anspruch an bedeutsame Aufgaben, die für das Wohl von Mensch und Umwelt erkennbar wichtig sind, gehört zu den aktuell wichtigsten Anforderungen der Mitarbeiter:innen an ihre Organisationen und Tätigkeiten. 2. Feedback Rückmeldungen sind ein wesentliches Element im Lernprozess. Nur wenn man erfährt, ob Aufgaben richtig ausgeführt und Ziele erreicht worden sind, ob Kooperationspartner:innen dem Verhalten begegnen, das sie erwarten, kann man sich entsprechend steuern und anpassen. Über viele Studien hinweg zeigt sich für alle Arten von Teams Feedback als positiv mit der Teamleistung verbunden. 3. Autonomie (Selbststeuerung) Autonomie beschreibt das Maß an Entscheidungsfreiheit darüber, welche Aufgaben zur Erfüllung der Teamziele notwendig sind und meist auch, wie und von wem im Team sie ausgeführt werden. Autonomie hat sich bereits in den frühen Studien zur Teamarbeit als notwendig für das Abfedern von Umgebungsschwankungen gezeigt; sie ist aber gleichermaßen auch ein selbstverständlicher Gestaltungsanspruch von qualifizierten Arbeitskräften geworden. Ihr Zusammenhang mit Teamleistung ist klar positiv. 4. Interdependenz Dass einzelne Teammitglieder miteinander interagieren müssen, um Material und Informationen auszutauschen, wird als gegenseitige Abhängigkeit, Interdependenz, bezeichnet. Prima vista könnte man vermuten, dass eine solche Abhängigkeit von anderen per se leistungsmindernd ist. Tatsächlich zeigte sich aber bei Dienstleistungsteams und wissensintensiven „High-Tech“-Teams das Gegenteil. Interdependenz und Teamleistung standen hier in einem positiven Zusammenhang, möglicherweise weil dadurch notwendige Informationen ausgetauscht und gemeinsame mentale Modelle gebildet werden konnten (vgl. 7 Abschn. 10.5.10). Bei Produktionsteams, die meist über etablierte Ablaufroutinen mit geringer Anpassungsnotwendigkeit verfügen, erwies sich hingegen Interdependenz tatsächlich als ungünstig (Carter et al., 2019). 5. Raum-zeitliche Verteilung der Teamarbeit Die Verteilung von Teammitgliedern über räumliche und – bei global verteilten Teams – auch zeitliche Grenzen führt dazu, dass der Anteil der Zusammenarbeit in physischer Präsenz gering oder inexistent ist und die Kommunikation in signifikanten Anteilen oder ausschließlich virtuell vermittelt ist. Man kann hier zwischen rein virtuellen Teams, hybriden Teams und traditionellen Teams unterscheiden.  

185 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Zu den Herausforderungen hybrider Teams, deren Mitglieder teilweise vor Ort und teilweise virtuell kooperieren, zählt die Ingroup-Outgroup-Problematik. Dabei handelt es sich um eine Voreingenommenheit, die generell oft entsteht, sobald man Teil einer Gruppe ist, und die dazu führt, dass man seine eigene „Ingroup“ dann begünstigt behandelt, ihr mehr Ressourcen zukommen lässt und sie auch positiver bewertet als die andere Gruppe („Outgroup“). Bei hybriden Teams kann dies ebenso passieren, indem diejenigen Mitglieder miteinander eine „Ingroup“ bilden, die häufiger physisch vor Ort sind, und folglich ein „Wir“-Gefühl in Abgrenzung zu „den Anderen“ aus dem Team entwickeln, die häufig virtuell zugeschaltet sind. Wenn dies stattfindet, können Informationsaustausch und Zusammenhalt im Gesamtteam deutlich beeinträchtigt werden (Webster & Wong, 2008). Praxistipp

Bei simultan hybrider Teamarbeit  – also Teamarbeit, die von einigen Mitgliedern vor Ort und anderen gleichzeitig von anderen Orten erbracht wird – ist es wichtig, eine Durchmischung der vor Ort arbeitenden Subgruppe mit der virtuell zugeschalteten Subgruppe im Austausch und der Aufgabenbearbeitung anzuregen und darauf auch in gemeinsamen Präsenzsettings zu achten. Darüber hinaus gilt: Über dieses Phänomen zu informieren und das Team zur Selbstreflexion anzuregen, sensibilisiert dafür.

Für hybride wie auch für virtuelle Teams werden Herausforderungen auf der Beziehungsebene darin gesehen, Vertrauen und soziale Bindungen aufzubauen; auf der Aufgabenebene sind es  vor allem die  reichhaltige Informationsnutzung und die hohe Entscheidungsqualität. Insgesamt wird daher in einer Metastudie über die 20 zurückliegenden Jahre ein – doch sehr schwacher – negativer Zusammenhang zwischen verteilter Teamarbeit und Leistung festgestellt (Carter et al., 2019). Allerdings gibt der Digitalisierungsschub der Corona-Zeit in puncto organisationaler Unterstützung virtueller Arbeit, Ausbau der digitalen Kompetenzen und der Verfügbarkeit verbesserter Kollaborationssoftwarelösungen Anlass, kommende Untersuchungen abzuwarten (vgl. 7 Kap. 13).  

Hintergrundinformation: Virtuelle Teamarbeit Virtuelle Teamarbeit beschreibt die Zusammenarbeit von Teammitgliedern über Raum-, Zeit- und Kommunikationsgrenzen hinweg durch den Einsatz von Kommunikationstechnologie (vgl. Boos, 2017). Die Kommunikationsherausforderungen bei virtueller Kommunikation werden in vielfältigen Theorien wie der Media-Richness-Theorie bis hin zum Medien-Kompensationsmodell erklärt (vgl. Boos, 2017). Demnach stellt die physische Präsenzkommunikation quasi den Goldstandard dar, weil hier neben den verbalen Äußerungen zusätzliche reichhaltige nonverbale Hinweisreize wie Tonfall, Gestik und Mimik zur Verfügung stehen. Diese helfen, verbale Kommunikationsinhalte besser zu lesen und zu interpretieren. Virtuelle Kommunikationsmedien hingegen reduzieren die Zusatzhinweise auf unterschiedliche Weise: In der asynchronen Kommunikation via Mails oder Messaging-Systemen fehlen deutlich mehr Hinweisreize als in synchroner Kommunikation via Telefon. Videokonferenzen bieten im virtuellen Medienspektrum die größte Reichhaltigkeit, werden aber selbst bei stabiler Netzverbindung in den kommunikativen Möglichkeiten nicht als gleichwertig zu physischer Präsenzkommunikation betrachtet. Ergo, so die Kompensationsthese, muss dieser Hinweisreizarmut durch sorgfältige explizite Kommunikation gegengesteuert werden, damit Missinterpretationen und Irritationen vermieden werden können.

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Ein weiterer Aspekt gelingender Teamarbeit liegt in der Gleichzeitigkeit der Kommunikation. Asynchrone, zeitverzögerte Kommunikation bringt nicht nur Hinweisreizarmut mit sich, sondern auch verzögertes Feedback auf Fragen oder Vorschläge. In der Folge verliert sich oft der Bezug zum Thema, Distanz tritt ein. Meist wird versucht, durch gemeinsame Sitzungstermine eine zeitliche Synchronisierung der Kommunikation organisieren, was für global verteilte Teams aufgrund der Zeitverschiebung aber eine große Herausforderung darstellt. Hier werden stattdessen Kollaborationsplattformen genutzt, die asynchron bedient werden können, aber über Chats auch Synchronizität ermöglichen. In einem Experiment mit virtuellen Teams konnten Riedl und Woolley (2016) Muster von wiederholt hoher kommunikativer Aktivität feststellen, in der hoch getaktet ein schneller Austausch von Nachrichten und Beiträgen erfolgte. Diese Ausbrüche werden als „Bursts“ bezeichnet, in ihnen werden Beiträge geteilt, es wird gleichzeitig oder zeitnah gedacht, gefragt und geantwortet, bevor wieder kommunikative Ruhe einkehrt. Teams, die ein solches Muster hoher zeitlicher Verbundenheit von Kommunikationsbeiträgen aufwiesen, waren erfolgreicher als Teams, bei denen eine geringe „Burstiness“ zu verzeichnen war, deren Kommunikation also verzögert oder über mehrere Themenstränge in den Nachrichtenkanälen verteilt war. Riedl und Woolley (2016) erklären den Burstiness-Erfolgseffekt damit, dass sich das einzelne Mitglied zwar in seine Aufgaben vertiefen kann, aber bei auftretenden Fragen oder neuen Etappenlösungen dennoch unmittelbare zeitnahe Antworten und Feedback von Kolleg:innen erhält, wodurch Energieverlust im Warten auf Antworten verhindert wird und stattdessen eine Art energetische Aufladung im Austausch mit neuem Input stattfindet, der dann wiederum Material für vertiefte Einzelarbeit generiert. Eine weitere viel diskutierte Herausforderung für virtuelle Teams ist der vermutete Mangel an Vertrauen (vgl. West, 2012). Unterschieden wird zwischen kognitivem Vertrauen („Ich weiß, dass der Andere integer, kompetent und zuverlässig ist“) und affektivem Vertrauen („Ich weiß, dass der Andere sich um mein Wohlbefinden sorgt“). Man geht davon aus, dass zunächst kognitives Vertrauen aufgebaut wird und hierfür das Teilen von gemeinsamen Zielen und Werten hilfreich ist. Ausserdem - und weil Vertrauen im Austausch entsteht – sollte für eine angemessene Kommunikationshäufigkeit und für eine hohe Zuverlässigkeit durch Erreichbarkeits- und Antwortzeitenregeln gesorgt werden. Wo Projektteams zusammenarbeiten, sind gerade in den frühen Projektphasen vertrauensfördernde Face-to-Face-Interaktionen wichtig (Coenen & Kok, 2014). Affektives Vertrauen baut sich im persönlichen Austausch von Angesicht zu Angesicht auf, der physisch sehr einfach und ungeplant stattfinden kann. Vertrauensstiftende Face-to-Face-Austausche können allerdings auch virtuell stattfinden. Einzig die Zufälligkeit lässt sich virtuell nicht gänzlich simulieren, sie muss organisiert werden. Das gilt für bilaterale Gespräche zwischen verschiedenen Teammitgliedern, die sich gezielt miteinander verabreden oder die für informellen Austausch per Los zusammengebracht werden, wie auch für das informelle Zusammenkommen des gesamten Teams zu Online-Treffen.

Praxistipp

Kollaboration in verteilt arbeitenden, virtuellen Teams profitiert davon, dass Teams wissen, welcher Kommunikationsstil erfolgversprechend ist. Dieses Wissen kann Teams vermittelt werden: Ein Ansatz betrifft die klare, saubere Strukturierung der Themenstränge in ­Nachrichtenkanälen („Threads“), sodass Fokussierung erleichtert wird. Die Gleichzeitigkeitskommunikation lässt sich nicht in fixen Terminen organisieren, aber in Zeitfenstern, die in den Terminkalendern der Teammitglieder ersichtlich gemacht werden können. Hilfreich ist auch das Vereinbaren einer Norm für zeitnahe Antworten. Für Teams in verschiedenen Zeitzonen muss geklärt werden, wie diese Norm gestaltet werden kann, damit das Antwortversprechen für alle Mitglieder einlösbar ist.

187 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

10.4.3 

Teamführung

Die Führungsfunktion in Teams ist häufig an eine einzelne Person gebunden, die als Teamleitung sowohl Teamarbeit organisiert und koordiniert als auch die Entwicklung des Einzelnen und des gesamten Teams fördern soll. Davon abgegrenzt sind selbstgeführte, autonome Teams, die nicht nur die Herstellung eines Produkts oder einer Dienstleistung, sondern auch Führungsaufgaben gemeinsam verantworten und dabei über hohe Autonomie verfügen. Definition Selbstgesteuerte, teilautonome und selbstregulierende Teams („Self-Managing Teams“, „Self-Directing Teams“) sind Bezeichnungen für Teams, die für die Erstellung eines Produkts oder Teilprodukts oder einer Dienstleistung Verantwortung tragen und die dafür benötigte Steuerung und Kontrolle ihrer Leistungsprozesse übernehmen (vgl. Antoni, 2003, S. 447). Selbstgeführte Teams („Self-Designing Teams“) hingegen entscheiden darüber hinaus zusätzlich über ihre Ziele, Finanzen, Personal und ihre Entscheidungsgrundlagen; die Organisation verantwortet nur den organisationalen Kontext dieser Teams (Hackman, 1987, S. 333).

Bis heute sind die Begriffe nicht trennscharf definiert, weshalb es sich lohnt, zur Differenzierung die Autonomiestufen der . Tab. 10.1 zu verwenden. Die selbstgesteuerten, teilautonomen Teams erfüllen 1) – 3) und sie verfügen oft über die raum-zeitliche Flexibilität bei 6), können mitbestimmen bei 7), aber ver 

.       Tab. 10.1  Einschätzung der Autonomie von Teams Kann das Team … 1) … darüber entscheiden, wie es individuelle Aufgaben ausführt? 2) … seine Produktionsmethoden (d. h. die Methoden zur Herstellung der Leistungsergebnisse) selbst auswählen? 3) … die Verantwortlichkeiten für die einzelnen Aufgaben innerhalb des Teams selbst verteilen? 4) … selbst bestimmen, welche weiteren Aktivitäten jenseits der übertragenen Aufgabe es ausführen wird? 5) … seine Ziele selbst formulieren, d. h. bestimmen, was und in welcher Menge es produzieren wird? 6) … selbst bestimmen, wo es wie viele Stunden arbeitet, wann Überstunden gemacht werden und wann man heimgeht? 7) … selbst über die Mitgliedschaft in seinem Team bestimmen, d. h. wer als Mitglied aufgenommen wird (Selektion) und wie viele Mitglieder es hat? nach West (2012, S. 31)

Ja

Nein

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fügen in der Regel nicht über die Ressourcenhoheit und die Selbstbestimmung über die übertragenen Aufgaben hinaus bei den Fragen 4) – 7). Diese zeichnen die selbstgeführten/autonomen Teams aus. Die Führungsaufgaben bleiben in allen Teams dieselben. Sie werden aber auf verschiedene Personen aufgeteilt. Dabei gibt es eine Aufteilung in die Rolle der Fachführung und der Personalführung, wodurch die klassische Teamleitungsfunktion nun auf mindestens zwei Köpfe verteilt wird. Die Fachführung auf der einen Seite kann sich komplett der fachlichen Entwicklung widmen und adressiert die aufgabenbezogene, sachlogische Ebene. Die Personalführungsrolle adressiert Befinden und Entwicklungsthemen und damit die psychoemotionale Ebene.

10.5 

Prozess: Teamarbeit

Der Prozess, in dem Teams aus Input Output generieren, beinhaltet neben Kommunikation, Koordination und Entscheidungsfällung weitere Phänomene, die vorwiegend in der Sozialpsychologie, der Kleingruppenforschung und der Gruppendynamik erforscht und beschrieben wurden. 10.5.1 

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Lokomotion und Kohäsion

In jeder Gruppe gibt es eine Aufgabenebene und eine sozioemotionale Ebene. Innerhalb der Aufgabenebene geht es darum vorwärtszukommen, sich in der Bearbeitung seiner Aufgabenstellung also zur Lösung hinzubewegen (Lokomotion). Gleichzeitig muss die Gruppe genügend attraktiv für den Einzelnen sein, sodass sich ein Zusammenhalt entwickelt (Kohäsion). Das ist der Fall, wenn Ziele und Aufgaben attraktiv sind, sympathische oder auch statushohe Mitglieder in der Gruppe sind und sich Gruppenstolz entwickelt. Diese beiden Dimensionen der Lokomotion und Kohäsion hat Kurt Lewin bereits in den 1940er-Jahren in seiner gruppendynamischen Feldforschung beschrieben. Später wurden sie in der Gruppendynamik ausdifferenziert und finden sich heute in ähnlicher Form im Reflexivitätsmodell von Teamarbeit (7 Abschn. 10.5.11) wieder.  

10.5.2 

Der gruppendynamische Raum

Wenn man in Gruppen zusammenkommt, findet aus gruppendynamischer Sicht eine Besetzung von Positionen im fiktiven Raum statt (König & Schattenhofer, 2012). Besetzt werden Positionen in den Dimensionen Zugehörigkeit (wer ist Teil der Gruppe, wer nicht), Macht (wer hat hier das Sagen, oder auch: wessen Ideen werden gehört?) und Intimität (wie nah, herzlich, persönlich kommt man sich, wer pflegt mit wem welchen Umgang?). Auch wenn in Arbeitsteams einiges formal geregelt ist, wie es z. B. die Zugehörigkeit zu den meisten Teams durch Selektionsverfahren ist, mag ein neues Teammitglied durchaus die Frage der Zugehörigkeit beschäftigen: Finde ich hier dauerhaft meinen Platz? In puncto Nähe kann man fragen, welche Mitglieder sich besonders nah stehen und inwiefern das die Meinungs- und Entscheidungsbildung im Team beein-

189 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

flusst. Dies dürfte vor allem Teams beschäftigen, in denen zwei Mitglieder besondere Nähe durch eine Liebesbeziehung oder eine enge Freundschaft pflegen, wenn / dessen Auswirkung auf das Team nicht thematisiert wird. Praxistipp

Das Modell des gruppendynamischen Raums kann die individuelle Selbstreflexion unterstützen. In einer Teamentwicklung kann das Offenlegen von Selbst- und Fremdeinschätzungen in diesen Positionierungen hilfreich für individuelle Klärungen und das soziale Funktionieren des gesamten Teams sein, sollte aber aufgrund der emotionalen Ladung der Dimensionen nur unter erfahrener Anleitung stattfinden.

10.5.3 

Entwicklungsphasen in der Teamarbeit

Das bekannteste Modell zur Entwicklung von Teams stammt von Tuckman (1965, . Abb. 10.2), das seinerseits auf einer großen Menge an Studien zur Gruppenentwicklung in Therapie- und Sensitivity-Trainingsgruppen basiert. Er beschreibt eine anfängliche Formierungsphase, der dann gefolgt wird von einer Storming-Phase, in der Widerstand gegen die Anforderungen der Aufgabenstellung das Klima trübt und die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt. In der folgenden Norming-Phase wird dieser Widerstand durch einen offenen Austausch verschiedener Sichtweisen aufgelöst und es entstehen Regeln und Routinen in der Gruppe. Danach kann erfolgreich gearbeitet werden – Performing. Die sozioemotionale Ebene der Gruppenentwicklung steht in diesem Modell deutlich im Vordergrund, was seinem Ursprungskontext auch angemessen ist. Das Modell ist äußerst verbreitet, doch die Übertragbarkeit auf Arbeitsteams in betrieblichen Kontexten ist fragwürdig (vgl. Simon, 2003). Man kann das Tuckman-Modell vermutlich gut auf  

Leistungsfähigkeit

Performing

Tuckman-Modell Norming

Forming Storming

Gersick-Modell

Start der Gruppe

Zeitlicher Mittelpunkt

Abschluss

..      Abb. 10.2  Gruppenentwicklungsmodelle nach Tuckman (1965) und nach Gersick (1988)

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Teams übertragen, die ähnlich wie Selbsterfahrungsgruppen mit einer Niedrigstrukturierung in allen Dimensionen konfrontiert sind, d. h. in denen Ziel, Arbeitsweise und Führung vage oder offen gestaltet sind. Dies allerdings dürfte in betrieblichen Kontexten selten der Fall sein. Ein weniger bekanntes Modell, das „Punctuated Equilibrium“-Modell (Gersick, 1988, . Abb. 10.2), wurde empirisch basiert entwickelt und aus Gesprächsprotokollen betrieblicher Projektgruppen abgeleitet. Es ist daher auf Teams mit begrenzter Dauer anwendbar. Es postuliert, dass gleich nach dem Start der Gruppe festgelegt wird, mit welcher Herangehensweise und unter welchen Rahmenbedingungen die Aufgabenstellung gelöst werden soll. Es bilden sich dabei sehr schnell Verhaltensroutinen aus, die lange im Team aufrechterhalten werden. Zur Mitte der Projektlaufzeit kommt es dann zu einem Wendepunkt („Midtime Transition“), der eine Revision der Herangehensweise, also der Aufgabenstrategie, beinhaltet. Diese Revision hebt die Aufgabenstrategie auf ein höheres Niveau. Danach wird in der zeitlich zweiten Hälfte auf diesem Niveau weitergearbeitet, bis sich zum Ende die Aufmerksamkeit dahin verlagert, die Erwartungserfüllung zu kontrollieren, die entwickelten Lösungen zu übergeben und eine emotionale Bilanz über die Aufgabe und die Zusammenarbeit zu ziehen. In Folgeuntersuchungen konnte bestätigt werden, dass sich in Arbeitsgruppen sehr schnell Verhaltensroutinen aufbauen und aufrechterhalten werden. Interessant erscheint, dass gerade ineffektive Teams ihre destruktiven Kommunikationsformen stabil beibehalten (Simon, 2003).  

10

Praxistipp

Man kann also davon ausgeht, dass Teams von Beginn an gute Leistung erbringen können. Manche Arbeitsgruppen geraten aber aufgrund ihrer Zusammensetzung auf der sozioemotionalen Ebene und der Aufgabenebene in Ineffektivität und benötigen dann Unterstützung in Form von Teamentwicklung (vgl. 7 Abschn. 10.6.3). Die Beobachtung der Interaktionen im Team liefert dafür gute Ansatzpunkte.  

10.5.4 

Normen in Teams

Viele Teams haben sich irgendwann einmal darüber verständigt, wie sie zusammenarbeiten wollen und vielleicht sogar, welche Regeln ganz konkret gelten. Auch aus übergeordneter Ebene der Organisation gibt es vielerorts einen Verhaltenskodex, der regelt, wie man miteinander umgehen soll und was nicht toleriert wird. Neben diesen expliziten Normen, die einmal für sinnvoll befunden und aufgestellt wurden, gibt es immer auch informelle Normen, die mit expliziten Normen nicht unbedingt übereinstimmen. Sie entstehen im Arbeitsalltag durch Handeln, d. h., sie entstehen aus all den Verhaltensweisen, die sich durchsetzen, indem sie von vielen Mitgliedern wiederholt werden. Sie werden selten thematisiert, obwohl Gruppenmitglieder darüber Auskunft geben können, wenn sie gefragt werden, was z. B. die Leistungsnormen der Gruppe, die Vorgehensnormen in der Aufgabenbearbeitung oder die allgemeinen Verhaltensnormen sind.

191 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Praxistipp: Reflexion der Teamnormen

Teams können ihre gelebten Teamnormen z. B. in einem Team-Check reflektieren und deren Funktionalität für die erwünschte Teamarbeit untersuchen. Die Figur eines  fiktiven neuen Teammitglieds ist dafür ein gut funktionierendes und beliebig erweiterbares Fragemuster: Was würde ich einem neuen Teammitglied sagen, 55 wie es sich verhalten müsste, um nicht negativ aufzufallen? 55 wie es sich verhalten müsste, um Anerkennung zu finden? 55 mit welchem Verhalten es hier am schnellsten auf Abwehr stoßen würde? 55 wie es mit Konflikten mit anderen umgehen müsste? 55 wie die Leistungsnorm des Teams lautet? Zunächst werden die Fragen in Einzelarbeit beantwortet, dann folgen der Austausch und die Diskussion  darüber, was man belassen und was man ändern möchte. Oft reicht das Explizitmachen von impliziten Normen, um Veränderung anzustoßen, indem die impliziten Regeln dann Teil der offenen Kommunikation geworden sind und man darauf Bezug nehmen kann.

10.5.5 

Teamrollen

Rollen bezeichnen auf einer sachlogischen Ebene Aufgabenpakete, Verantwortlichkeiten und damit einhergehende Verhaltenserwartungen. Wenn man von Rollenklärung in Teams spricht, geht es um die Klärung von Rollen als Positionen in der Organisation: Welche Aufgaben gehören zu dieser Rolle, welche Verantwortung gehört dazu, und welche Verhaltenserwartungen haben die anderen an den oder die Träger:in dieser Rolle? In diesem Verständnis sind Rollen überpersönlich, werden aber  von konkreten  Personen übernommen. Durch deren  Interpretation und Ausgestaltung allerdings prägen die Persönlichkeiten der Rollenträger:innen die Rollen. Ein etwas anderes Verständnis des Begriffs der Rolle liegt dann vor, wenn man das typische Handeln, die typischen Beiträge individueller Gruppenmitglieder im Teamkontext meint, die z. B. eher  im Entwickeln  neuer Ideen  oder im Organisieren liegen. Mit dem „TREO“-Modell (Team Role Experience and Orientation, . Tab. 10.2) existiert ein neueres Teamrollenmodell, das aus einer Vielzahl bereits vorhandener Modelle entwickelt wurde (Mathieu et al., 2015). In den sechs verschiedenen validierten Rollen sollen sich nicht nur individuelle Erfahrungen aus früherer Teamarbeit abbilden, sondern auch individuelle Neigungen bzw. Präferenzen. Fragen und ein einfaches Auswertungsschema zum Diagnostizieren der TREO-­ Teamtypen findet sich in der Literatur (Mathieu et  al., 2015); die offizielle Übersetzung und Validierung für den deutschsprachigen Raum steht allerdings derzeit noch aus. Wenn man Teamrollentests einsetzt, trägt die Kenntnis der individuellen Präferenzen oft dazu bei, dass die Teammitglieder das eigene Verhalten und das der ande 

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.       Tab. 10.2  Modell der Teamrollen: TREO (Team Role Experience and Orientation)

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Rolle

Orientierung an …

Beiträge

Organizer (Organisator:in)

Aufgabe

Strukturiert Aktivitäten des Teams und überwacht Fortschritte in der Zielerreichung

Doer (Macher:in)

Aufgabe

Übernimmt Arbeit, liefert zuverlässig ab und erledigt die Aufgaben, die den Teamerfolg sicherstellen

Challenger (Herausforder:in)

Veränderung

Sorgt dafür, dass das Team alle Aspekte einer Situation exploriert und Alternativen bedenkt, fragt oft „Warum“ und kritisiert und debattiert gerne

Innovator (Innovator:in)

Veränderung

Generiert zuverlässig neue und kreative Ideen und Strategien für den Umgang mit verschiedenen Situationen und Herausforderungen. Macht oft originelle und einfallsreiche Vorschläge

Connector (Verbindungsperson)

sozioemotionalem Klima

Trägt dazu bei, dass Normen etabliert werden, unterstützt Entscheidungen und hält eine positive Arbeitsatmosphäre aufrecht. Beruhigt gestresste Mitglieder und motiviert sie, wenn sie einen Tiefpunkt haben

Team Builder (Teamentwickler:in)

sozioemotionalem Klima

Verbindet das Team mit Menschen, Gruppen und Stakeholdern außerhalb des Teams, stellt gute Arbeitsbeziehungen zwischen dem Team und Außenstehenden sicher

nach Mathieu et al. (2015) (eigene Übersetzung)

ren im Rückblick oft besser verstehen und erklären können. Für die zukünftige Zusammenarbeit nutzt es, sich über den gezielten Einsatz von Stärken zu verständigen und zu prüfen, ob im Team gesamthaft alle drei Orientierungen durch Mitgliederpräferenzen abgedeckt sind. Andernfalls muss überlegt werden, durch welche Lösungsansätze man fehlende Orientierungen ersetzen kann. Wenn man davon absieht, welche Präferenz das Individuum hat, und lediglich analysiert, welche Kommunikationsbeiträge in Teamsitzungen zu verzeichnen sind, kommt man zu weiteren Empfehlungen: So konnten Kauffeld & Lehmann-­ Willenbrock (2012) in einer Analyse der Sitzungen von 92 Produktionsteams zeigen, dass folgende Beiträge für die Teameffektivität und Jahre später auch für die Effektivität auf Organisationsebene erfolgsentscheidend waren: 55 Problemlösungsorientierte Beiträge (Differenzieren des Problems und seiner Lösung) 55 Positive Vorgehensbeiträge (klärendes Nachfragen, Visualisieren) 55 Proaktive Beiträge (Ziele und Handlungen) Kritisierende und sich beschwerende Beiträge hingegen hatten besonders negative Wirkung.

193 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Praxistipp

Das Wissen über die Effekte von Kommunikationsbeiträgen kann in einer Teamentwicklung genutzt werden, indem man für die Notwendigkeit problemlösungsorientierter, positiver und proaktiver Kommunikationsbeiträge im Team sensibilisiert, eine Selbstdiagnose im Team anregt, eventuell eine Fremdbeobachtung vereinbart und sich über den Umgang mit unterrepräsentierten Kommunikationsbeiträgen verständigen kann: In welchen Situationen kann man feststellen, dass bestimmte Beiträge fehlen oder dass es eine Tendenz in eine unproduktive Richtung gibt, und wie kann man als Team andere Kommunikationsmuster stärken?

10.5.6 

Prozessgewinne in Teams

Vorteile von Team- und Gruppenarbeit entstehen, wenn gegenseitig Fehler kompensiert oder die Motivation des Einzelnen erhöht wird. Das ist z. B. beim „Köhler-­Effekt“ der Fall, der die gesteigerte Anstrengung vor allem von leistungsschwächeren Mitgliedern einer Gruppe beschreibt, die sich aus der Motivation, mithalten zu wollen, ergibt. Erhöhte Anstrengung in Gruppen kann auch durch einen Wettbewerb mit einer anderen Gruppe stimuliert werden. 10.5.7 

Prozessverluste in Teams

Mit zunehmender Gruppengröße steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Einzelbeiträge nicht bemerkt werden und/oder wenig ins Gewicht fallen. So wird das für verschiedene motorische oder auch kognitive Aufgaben gut belegte Gruppenphänomen des „Social Loafing“ (soziales Faulenzen) erklärt, das im nicht beabsichtigten Zurücknehmen der maximal möglichen individuellen Leistung besteht. Man kann dies gut erfassen, indem man in Laborexperimenten zunächst jedes Individuum eine entsprechende Einzelleistung erbringen lässt wie z. B. Tauziehen. Anschließend vollbringen dann diese Einzelpersonen in der Gruppe zeitgleich dieselbe Leistung. Regelmäßig findet sich ein Gruppenergebnis, das unter der Summe aller zuvor erbrachten Einzelleistungen liegt. Wenn das Zurückhalten der eigenen Leistungspotenziale aber absichtsvoll geschieht, weil man auf die Beiträge anderer Mitglieder setzt und selbst willentlich weniger tut, spricht man vom „Freerider“-Effekt (Trittbrettfahren). Das ironisierte Akronym TEAM („Toll, Ein Anderer Macht‘s“) beschreibt diese Dynamik. Daraufhin kann als Folgereaktion ein „Social Suckering“ (Trotteleffekt) einsetzen, indem keiner der Trottel sein möchte, der für andere arbeitet, weshalb sich dann insgesamt die Teamleistung reduziert. Das bereits erwähnte Ingroup-Outgroup-Phänomen besagt, dass die eigene Gruppe (Ingroup) in der Regel besser bewertet wird als Nachbarsgruppen in der Organisation (Outgroup). Dieser Effekt der Aufwertung der eigenen Gruppe und Abwertung der anderen kann vor allem dann schädlich werden, wenn beide Gruppen konfligierende Ziele haben, was die Polarisierung nochmals akzentuiert.

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Praxistipp

Prozessverluste durch Social Loafing können dadurch vermieden werden, dass jedes einzelne Mitglied seinen eigenen Beitrag zur Teamarbeit als wichtig oder unverzichtbar wahrnimmt und dieser Beitrag auch sichtbar gemacht wird. Dem Herstellen von Sichtbarkeit dienen allgemein alle Zielsetzungs- und Auswertungsprozesse in Teams. Kanban-Boards z.B.  dokumentieren Aufgabenzuteilungen und stellen damit die Sichtbarkeit der individuellen Beiträge her, wie dies alle Formen offen kommunizierter individueller Aufgabenzuteilung tun. Die Zuteilung von Verantwortung und das Einlösen von Verantwortung sind wichtige Elemente im Aufbau von Vertrauen und positivem Klima. Ingroup-Outgroup-Probleme können durch ein gemeinsames übergeordnetes Ziel reduziert werden. Auch direkte Begegnung und Austausch tragen zu einer Verringerung solcher Probleme bei. Dies ist vor allem in virtuellen oder hybriden Arbeitskontexten wichtig zu beachten, da sich hier  üblicherweise der Austausch zwischen Teams aufgrund der fehlenden Zufälligkeit verringert.

Weitere Gruppenphänomene wie z. B. Gruppendruck oder Gruppendenken sind z. B. bei Wegge (2013) nachzulesen.

10

10.5.8 

Emotionale Ansteckung

Zu Prozessgewinnen oder auch -verlusten kann auch das Phänomen der emotionalen Ansteckung (Barsade, 2002) beitragen: Demnach lassen sich Gruppenmitglieder nicht nur von Ideen und Gedanken Einzelner inspirieren und kognitiv „anstecken“, sondern auch Stimmungen stecken an. Sowohl die positive als auch negative Stimmung einer Einzelperson vermittelt sich über verbale und nonverbale Kommunikationskanäle, steckt durch unwillkürliche Nachahmeffekte andere an und kann dadurch die gesamte Gruppenstimmung innerhalb einer Sitzung im Affekt und mittelbar dann auch in der Kooperation und Leistung beeinflussen. Barsade spricht deshalb von Individuen in Gruppen als „wandelnde Stimmungsinduktoren“ (2002, S. 667). Praxistipp

Das Phänomen der emotionalen Ansteckung lässt sich von jedem Individuum in allen Kontexten nutzen, indem man es sich bewusst macht und gerade bei negativer Stimmung auf seine Kommunikationsinhalte, Mimik und Tonfall achtet. Für die Nutzung im Team empfiehlt es sich, das Phänomen bekanntzumachen und sich als Team z. B. in einer Sitzung selbst zu beobachten oder, besser noch, beobachten zu lassen. Welcher affektive Gehalt der Beiträge überwiegt, und wie kann man sich verbessern?

195 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

10.5.9 

Psychologische Sicherheit

In jedem Team herrscht ein soziales Klima, das dessen Funktionieren prägt. Welche Rollenmuster in Teams dominant sind und welche fehlen, welchen informellen Normen das Team folgt, ob man gegenseitig Vertrauen aufgebaut hat, all das spielt eine Rolle. Das Phänomen der psychologischen Sicherheit (Edmondson, 1999) bezieht sich vorwiegend auf die Aspekte Vertrauen und Respekt im Team und beschreibt ein Teamklima, das Exploration fördert. Psychologische Sicherheit in Teams besteht, wenn sich alle Teammitglieder frei und sicher fühlen, unzensiert Gedanken mitzuteilen, von der Gruppenmeinung abzuweichen und konstruktiv-kritische Fragen zu stellen, weil sie keine Angst vor Abweisung, Beschämung oder Ausschluss haben müssen. Psychologische Sicherheit ist in den High-Reliability-Teams auf maximale Art erfolgsentscheidend, denn dort kann das Ansprechen von Fehlern lebensrettend sein, wie z. B. die Analyse des Flugunglücks 1977 auf Teneriffa gut verdeutlicht (abrufbar unter 7 https://rosap.­ntl.­bts.­gov/view/dot/13937). Aber auch in Teams, von deren Konfrontationskultur das Leben anderer nicht unmittelbar abhängt, ist ein Klima psychologischer Sicherheit sehr förderlich. Gerade wenn man in komplexen Aufgabenstellungen in hoher Abhängigkeit voneinander zusammenarbeitet, ist man darauf angewiesen, viele Ideen zu generieren, auszuprobieren und gemeinsam aus Fehlern lernen zu können, was voraussetzt, dass man Informationen frei teilen, sich öffnen und sein Handeln hinterfragbar machen kann. Man geht davon aus, dass es Teams besser gelingt, eine Atmosphäre der Sicherheit herzustellen, wenn sie eine gemeinsame Teamidentität sowie geteilte Ziele haben. Für eine gemeinsame Identität ist es wichtig, dass nicht Subgruppen fokussiert werden. Statt eines „Wir hier“ und „Ihr dort“ sollte auch in der Kommunikation ein übergreifendes Team-„Wir“ verwendet werden. Aus einer Führungsrolle heraus kann man psychologische Sicherheit aufbauen, indem man dazu einlädt, alle Ideen zur Verbesserung oder Beobachtungen über Risiken in Arbeitsprozessen zu teilen. Der Zweck dieser Offenheit liegt immer in der Verbesserung des Produkts oder der Dienstleistung, also in der Ausrichtung auf das gemeinsame Ziel. Der Führungskraft wird im Aufbau eines Sicherheitsklimas eine hervorgehobene Rolle zugeschrieben. Sie hat eine große Hebelwirkung, indem sie eine Einladung dazu ausspricht und vorlebt, dass alle Ideen und Beiträge wertfrei und offen aufgenommen, gehört und sachlich exploriert werden und wo immer möglich zur Umsetzung im Sinne einer Verbesserung führen.  

Praxistipp

Den deutschsprachigen PsycSafety-Test findet man beschrieben bei: Fischer, J. A., & Hüttermann, H. (2020). PsySafety-Check (PS-C): Fragebogen zur Messung psychologischer Sicherheit in Teams. Zusammenstellung sozialwissenschaftlicher Items und Skalen (ZIS). 7 https://doi.org/10.6102/zis279  

10

196

B. Werkmann-Karcher

10.5.10 

10

 entale Teammodelle und Aufgabenstrategien M in der Teamarbeit

Die Arbeit an und mit mentalen Modellen wurden in den 1990er-Jahren als vielversprechender Durchbruch im Aufbau einer „lernenden Organisation“ gehandelt (Senge, 1990, S. 175). Senge ging davon aus, dass jede Person Grundannahmen und Bilder über verschiedenste Aspekte der Welt in sich trägt und diese unser Denken und Handeln beeinflussen. Das Explorieren im Organisationskontext diente der Prüfung und Revision zuvor unbewusster mentaler Modelle und sollte dadurch gemeinsames Lernen befördern. Aus einer informationsverarbeitenden Perspektive definiert sind mentale Modelle also Wissensrepräsentationen, die als Gedanken, Vorstellungen und Bilder über verschiedenste Sachverhalte in unseren Köpfen existieren. Für Teams besteht die Herausforderung darin, aus den individuellen mentalen Modellen ein gemeinsames mentales Team-Modell zu schaffen, das all das Wissen der Teammitglieder über teamrelevante Gegebenheiten umfasst (vgl. Badke-Schaub et al., 2008, S. 120). Dazu zählen a. das mentale Modell vom Team selbst: Welches Mitglied besitzt welche Expertise, Kenntnisse und Fertigkeiten, wer hat welche Stärken und Talente, wer weiß was? b. das mentale Modell von der Aufgabe: Worin besteht der Output? c. das mentale Modell vom Prozess: Mit welcher Aufgabenstrategie kann der Output am besten erreicht werden? Wie gehen wir vor, welche Prozessschritte sind hilfreich, wer übernimmt dabei welche Rolle, Beiträge, Verantwortung? Ein mentales Team-Modell wie in . Abb. 10.3 skizziert baut sich durch Informationsaustausch und gemeinsame Reflexion auf. Je mehr relevante Informationen über die Aufgabe durch Kommunikation miteinander geteilt werden und je besser das gemeinsam erarbeitete Verständnis der Aufgabe ist, desto besser kann sich das Team in  

Kommunikation

Team

Aufgabe

Mentales Teammodell

Kooperation

Koordination Prozess

..      Abb. 10.3  Mentales Team-Modell. (Nach Badke-Schaub et al., 2008, S. 121)

197 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

der Lösung der Aufgabe koordinieren und seine Ideen vom geeigneten Vorgehen austauschen und schärfen. Das Wissen über individuelle Stärken, Expertise und Interessen trägt dazu bei, dass im Team sinnvolle ressourcen- und stärkenorientierte Aufgabenzuteilungen stattfinden können. In einer Anfangsphase muss ein Team Zeit in die Ausarbeitung eines gemeinsamen mentalen Modells der Aufgabe legen. Je besser die Aufgabe geklärt und verstanden ist, desto besser kann die Aufgabenstrategie darauf abgestimmt werden. Unter der Aufgabenstrategie versteht man die Herangehensweise, mit der aus Input Output generiert wird. Bei High-Reliability-Teams wie z. B. einer Flugzeug-Crew ist die Aufgabe zumindest im Kern eindeutig  – die Fluggäste sollen unbeschadet und in der geplanten Zeit von A nach B transportiert werden. Auch die Aufgabenstrategie ist genau vorgeschrieben, d. h., welche Rollen die Crewmitglieder haben und was sie darin tun müssen, um die Passagiere von A nach B zu befördern. Der Spielraum für individuelle Aufgabengestaltung ist hier zwar gering, aber es zeigt sich auch in diesem Fall, dass ein gemeinsames Vergegenwärtigen der Vorgehensweise in einem Briefing zu Beginn bessere Teamleistungen zeitigt als der Verzicht darauf (Ginnett, 1993). Bei Projektteams sind die Aufgaben zu Beginn meist sehr viel unklarer, und die Aufgabenstrategien können vieles betreffen – von Entscheidungen, was selbst entwickelt oder übernommen wird bis hin zur Definition von Aufgabenpaketen und der Frage, was in Einzel- und was in Gruppenarbeit geleistet wird. Für einen effektiven Ressourceneinsatz ist es umso wichtiger zu wissen, welches Teammitglied welche Stärken und Erfahrungen hat, je weniger normiert die Rollen von Anfang an sind. Bei Flugzeug-Crews sind diese Rollen sehr stark normiert, bei heterogen besetzten Projektteams ist dies nicht der Fall. Praxistipp

In der Teamentwicklung besteht zu Beginn der Zusammenarbeit eine wichtige Intervention darin, aus individuellen mentalen Modellen ein gemeinsames zu entwickeln, indem man über Kenntnisse und Präferenzen in der Aufgabe und der Zusammenarbeit redet und auch über das Verständnis der Aufgabe kommuniziert. Zum Begreifen des Kontextes, der Stakeholder und der Ergebnisse einer Aufgabenstellung entfalten darstellende Methoden mit Bildern, Bausteinen oder Figuren eine klärende und oft energetisierende Wirkung. In einem solchen Prozess können gemeinsame mentale Modell für alle sichtbar und konkret abgebildet werden. Wichtig ist es auch, das Verständnis über Fähigkeiten und Stärken der einzelnen Teammitglieder zu fördern, indem man z. B. Stärken- oder Teamrollen-Diagnostikverfahren einsetzt.

10.5.11 

Reflexivität in der Teamarbeit

Teamreflexivität umschreibt die Fähigkeit und Praxis eines Teams, gemeinsam über seine Ziele, Strategien, Prozesse und Leistungen zu reflektieren und daraus entsprechende Veränderungen abzuleiten, die ihm helfen, sich erfolgreich an veränderte Bedingungen anzupassen (West, 2012, S. 5). Wenn man reflektiert, schaut man aus einer Metaperspektive auf Handlungen und Ergebnisse, auf Absichten und Wirkungen zurück, erzeugt auf diesem Weg Erkenntnisse und kann sich daran neu aus-

10

198

B. Werkmann-Karcher

richten. Für Teams gibt es dabei zwei Dimensionen: Die aufgabenbezogene Reflexion beinhaltet das Monitoring der Ziele und des Fortschritts in der Zielerreichung, das Erkennen von Möglichkeiten zur Verbesserung der Aufgabenstrategie und von Veränderungen der Umweltbedingungen und nötiger Anpassungen. In der sozialen Reflexion geht es darum, das Klima im Team, die gegenseitige Unterstützung und den Umgang mit Spannungen zu besprechen. Aus drei Gründen wird die Teameffektivität durch Reflexion verbessert: 1. Die Informationsverarbeitung verbessert sich: Jedes Team verfügt über eine Menge an Informationen in den Köpfen seiner Mitglieder. Je besser ein Team es schafft, diese vorhandenen Informationen für die Zielerreichung auszutauschen und zu nutzen, desto bessere Ergebnisse kann es erzielen. Dies kann wirkungsvoll unterstützt werden, indem das Team Feedback aus der Aufgabenbearbeitung (z. B. diverse Kennzahlen) erhält und man zusätzlich Fragen zur Anleitung der Reflexion zur Verfügung stellt (siehe Praxistipp). Beides zusammen, eine so angeleitete Teamreflexivität und zur Verfügung gestelltes Feedback, hat sich einer Studie zufolge als besonders wirksam erwiesen. Warum? Weil dadurch mehr Informationen geteilt und genutzt werden, mentale Modelle über das Team und über die Aufgabe entstehen und final eine Anpassung in der Aufgabenbearbeitung stattfindet (Konradt et al., 2015).

10

Praxistipp: Fragen zur Erhöhung der Reflexivität und der Bildung von geteilten mentalen Modellen (Team, Aufgabe, Prozess)

1. In der Anfangsphase der Teamarbeit: Worin genau besteht unsere Aufgabe? Welche Stakeholder von außerhalb haben Erwartungen an das Ergebnis? Was genau soll unser Lieferergebnis sein? 2. Welches Expertenwissen und welche spezifischen Fähigkeiten hat jedes Mitglied? Welche Stärken und Präferenzen hat jedes Mitglied? Wo gibt es relevante Expertise außerhalb des Teams, die wir benötigen? 3. Im weiteren Verlauf: Was haben wir bisher erreicht? Wo stehen wir in Bezug auf das Ziel? 4. Was können wir anpassen in der Art, wie wir die Aufgabe bearbeiten? Wie klar sind die Verantwortlichkeiten der Einzelnen? 5. Wie setzen wir diese Erkenntnisse um?

2. Lernen wird gefördert: Der Lernzyklus von Kolb und Kolb (2009) beschreibt, dass eine konkrete Erfahrung erst durch die Schritte der Beobachtung und Reflexion zu neuen Erkenntnissen führt, indem sie abstrahiert wird („Welche allgemeinen Prinzipien kann ich aus dieser Einzelerfahrung ableiten?“) und zu neuem aktivem Experimentieren führt, was wiederum eine neue konkrete Erfahrung erzeugt (. Abb. 10.4). 3. Soziales Klima und Wohlbefinden werden gefördert: Die Reflexion der Zusammenarbeit ermöglicht das Ansprechen und Erkennen von ungünstigen Kommunikationsverläufen und Spannungen, noch bevor eine Eskalation die Zusammenarbeit stark belastet.  

199 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

..      Abb. 10.4  Erfahrungsbasierter Lernzyklus. (Zirkler & Werkmann-Karcher, 2020, S. 25, angelehnt an Kolb & Kolb, 2009) Hohe aufgabenbezogene Reflexivität

Niedrige soziale Reflexivität

Ehrgeiziges Team (driven team, früher: cold efficiency team)

Resilientes Team (resilient team, früher: fully functioning team)

Hohe kurzfristige Aufgabeneffektivität Schlechtes Wohlbefinden der Mitglieder Kurze Lebensfähigkeit Moderate Innovation Hohe Konflikte mit anderen Teams

Hohe Aufgabeneffektivität Gutes Wohlbefinden der Mitglieder Lange Lebensfähigkeit Hohe Innovation Hohe Kooperation mit anderen Teams

Hohe

Dysfunktionales Team (dysfunctional team)

soziale Reflexivität Selbstgefälliges Team (complacent team, früher: cosy team)

Niedrige Aufgabeneffektivität Niedriges Wohlbefinden der Mitglieder Sehr kurze Lebensfähigkeit Niedrige Innovation Hohe Konflikte mit anderen Teams

Niedrige Aufgabeneffektivität Durchschnittliches Wohlbefinden der Mitglieder Kurze Lebensfähigkeit Niedrige Innovation Moderate Konflikte mit anderen Teams

Niedrige aufgabenbezogene Reflexivität

..      Abb. 10.5  Vier Teamtypen der Reflexivität. (Nach West, 2012, S. 8)

Das Modell der vier Teamtypen beschreibt Kombinationsmöglichkeiten der beiden Reflexivitätsdimensionen und setzt sie mit Ergebnissen der Teamarbeit in Zusammenhang (. Abb. 10.5). Eine niedrige Fokussierung auf Leistung versus auf das soziale Funktionieren begrenzt in allen Fällen die Lebenszeit der Teams –in den selbstgefälligen Kuschel-Teams eher aufgrund von Druck aus der Organisation wegen unbefriedigender Ergebnisse, in den ehrgeizigen, kalten Effizienzteams, weil ehrgeizige Teams ihren Mitgliedern wenig Spaß und psychologische Sicherheit bieten. Wenn beide Dimensionen niedrig ausgeprägt sind, spricht man von einem dysfunktionalen Team, das beide Suboptimalitäten vereint.  

10

200

B. Werkmann-Karcher

Praxistipp

In einer Teamentwicklung können dieses Modell oder die Fragen zur Reflexivität (. Tab. 10.3) eingesetzt werden, um eine Selbstdiagnose der Teammitglieder anzuregen. Zur Förderung der Reflexivität können verschiedene Fragestellungen verwendet werden (siehe vorigen Praxistipp), die in regelmäßig geplanten Kurz-­ Workshops besprochen werden. In der Arbeit von agilen Teams ist die Reflexivität in beiden Dimensionen bereits Teil der Arbeitsmethode: Die Sprint-Reviews dienen der aufgabenbezogenen Reflexion und die Retrospektiven etwas stärker der sozialen Reflexion.  

.       Tab. 10.3  Test: Fragen zur aufgabenbezogenen und sozialen Teamreflexivität (Bsp.)

10

Aufgabenbezogene Reflexivität

Soziale Reflexivität

Wir diskutieren regelmäßig, ob wir effektiv zusammenarbeiten

In schwierigen Momenten unterstützen wir uns

Wenn sich die Umstände ändern, passen wir auch unsere Ziele den Veränderungen an

Konflikte bleiben bei uns nicht unbearbeitet

Wir sprechen darüber, ob wir angemessen miteinander kommunizieren

Die Teammitglieder bringen sich gegenseitig häufig neue Fertigkeiten bei

Wir diskutieren regelmäßig darüber, ob die Art und Weise, wie wir unsere Arbeit erledigen, angemessen ist

Wenn es besonders anstrengend wird, ziehen wir an einem Strang

Die Art und Weise, wie wir zu Entscheidungen kommen, wird hier regelmäßig hinterfragt

Meinungsverschiedenheiten zwischen Teammitgliedern werden normalerweise schnell aus dem Weg geräumt

Van Dick & West (2013, Anhang)

10.6 

HR-Praktiken zur Unterstützung von Teamarbeit

Die HR-Praktiken zur Unterstützung von Teamarbeit lassen sich in den klassischen HR-Prozessen der Selektion, der Beurteilung und Honorierung sowie der Teamentwicklung verorten. In allen Bereichen können die HR-Aufgaben auf drei Ebenen erfüllt werden: 1) Entwickeln von Systemen, die diese Aufgabenstellungen so gut als möglich unterstützen, 2) Beratung in der Anwendung dieser Systeme, evtl. in Form von Teamtraining, und 3) Unterstützung der Teams mit HR-Kennzahlen, die für die Leistungssteuerung hilfreich sind.

201 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

10.6.1 

Selektion

In 7 Abschn. 10.4 wurden einige Hinweise aufgeführt, die Teams in der Selektionsaufgabe helfen können. Als HR-Professional kann man diesen Input den Teams zur Verfügung stellen, mit ihnen Anforderungsprofile erarbeiten, die Suchstrategie diskutieren und sie in der Selektion in professionell durchgeführten Schritten aus kritisch hinterfragender professioneller Perspektive begleiten.  

10.6.2 

Beurteilung und Honorierung von Teamleistungen

Als psychologische Grundlage der Anwendung von Zielen in der Arbeit gilt die Zielsetzungstheorie (Locke & Latham, 1990, 2006) (7 Kap. 7). Sie besagt im Wesentlichen, dass das Setzen spezifischer und herausfordernder Ziele die Leistung verbessert, indem Energie und Aufmerksamkeit auf die Handlungen gerichtet werden, die einen der Zielerreichung näherbringen. Dass spezifische und herausfordernde Ziele die individuelle Leistung verbessern, ist für individuelle, aber auch für Teamleistungen in der Arbeit belegt. Es gelten Einschränkungen der Art, dass ein Ziel-Commitment nötig und daher das einseitige Vorgeben von Zielen nicht wirksam ist; dass man über die zur Zielerreichung notwendigen Fähigkeiten verfügen muss und andernfalls besser Lernzieletappen formuliert; dass man nicht bereits schon in einer Überlastsituation steckt, die keinen Platz für weitere Ziele lässt; dass man im Prozess immer wieder Feedback über die Fortschritte erhält; dass es keine konfligierenden Ziele gibt, die einen in der Zielverfolgung irritieren könnten. Für die Leistungssteuerung ergibt sich aus der Forderung nach konfliktfreien Zielen die Kernfrage, wie denn nun die individuelle Leistung versus die Teamleistung konfliktfrei mit Zielen gesteuert werden soll. Soll es gar keine individuellen Ziele mehr geben oder doch, und wenn ja, sollen sie dann mit den Teamzielen verbunden sein? Wenn man aus einer Gruppenprozessperspektive argumentiert, sollte die Leistung einer Einzelperson in einem Team weiterhin zumindest sichtbar und ihr Beitrag feststellbar sein. So können destruktive Kreisläufe aus Freeriding und Social Suckering verhindert werden. Um dies zu erreichen, müssen allerdings nicht zwingend Individualziele gesetzt werden, solange die individuelle Beitragsverantwortung zur Erreichung von Teamzielen erkennbar ist. Über die Wirkung von Individualzielen auf Gruppenziele kann auf der Basis einer Metaanalyse von 38 Studien (Kleingeld et al., 2011) – leider nur wenige davon Feldstudien  – als belegt gelten, was man auch erwarten würde: Egozentrische Individualziele, die auf eine Maximierung der Einzelleistung ausgerichtet sind, schaden der Gruppenleistung, während gruppenzentrierte Individualziele sie verbessern, weil sie auf die Maximierung der Gruppenleistung ausgerichtet sind.  

10

202

B. Werkmann-Karcher

Praxistipp

Wenn man mit Teamzielen und Individualzielen arbeitet, ist es also für die Teamleistung besser, wenn Individualziele so mit dem Teamziel verbunden sind, dass deren Erreichen dem Teamziel hilft. Egozentrische Individualziele schaden der Teamleistung.

10

Eine ähnliche Fragestellung über das Zusammenspiel der Individual- und Teamebene ergibt sich bei der Honorierung der Leistung. In einigen Studien (Garbers & Konradt, 2013) konnte belegt werden, dass eine Team-Incentivierung einen deutlich positiven Effekt auf die Leistung des Teams hat und eine finanzielle Belohnung auf Teamebene also empfehlenswert ist. Wichtig ist die Grundlage der Verteilung von Belohnung: Geht man nach dem Gleichheitsprinzip („Equality“) vor, wird jedem Mitglied ein Anteil in identischer Höhe zugeteilt. Wenn man hingegen variierenden Beiträgen innerhalb eines Teams Rechnung tragen und diejenigen stärker belohnen möchte, die mehr zum Teamergebnis beigetragen haben, muss man nach dem Gerechtigkeitsprinzip („Equity“) die relativen Beiträge belohnen, was die Belohnung dann wiederum individualisiert. Beide Seiten haben Vor- und Nachteile. Das Gleichheitsprinzip steht für Konfliktfreiheit und ist sehr viel einfacher umzusetzen. Es birgt aber das Risiko, Freerider-Effekte zu fördern und die Motivation der Beitragsstärkeren dadurch zu senken. In der oben referierten Studienübersicht führte das Gerechtigkeitsprinzip zu höheren Teamleistungen. Die Kooperation allerdings könnte darunter leiden: So untersuchten Burks et al. (2009) Fahrradkuriere im Leistungslohn versus im Stundenlohn in San Francisco und der Schweiz. Leistungslohn entspricht dem Gerechtigkeitsprinzip, Stundenlohn dem Gleichheitsprinzip. Die Autoren stellten fest, dass individuelle Anreizgestaltung und Belohnung zu egoistischem Verhalten anstelle von Kooperation führen. Sie konnten auch zeigen, dass nicht etwa besonders egoistisch orientierte Individuen in Firmen mit entsprechender Anreizgestaltung gingen, sondern die Arbeit unter den Leistungslohnbedingungen zur Herausbildung des individuellen Egoismus führte. Einige Organisationen haben in jüngerer Zeit davon abgesehen, mit ausgeklügelten Incentivierungsprinzipien zu arbeiten, und sind stattdessen zu einem Gleichheitsprinzip in der Verteilung von finanziellen Erfolgen auf Organisations- und Geschäftsbereichsebene übergegangen. Wo es auf Teamebene einen Bonus gibt und es um die Wahl des bestgeeigneten Verteilungsprinzips geht, sollte das Team selbst in die Entscheidung einbezogen sein, welche Form es als transparent und fair empfindet und daher wählen möchte. In Konsenskulturen dürfte dies das Gleichheitsprinzip sein. Falls gerechtigkeitsorientiert aufgeteilt werden soll, sollte das Team beim Festlegen individueller Beiträge beteiligt sein oder gänzlich selbst entscheiden. Das setzt eine Feedback-Reife voraus, die möglicherweise zunächst noch mit beratender Unterstützung entwickelt werden muss. Das psychologische Grundthema hinter dieser Frage ist das der subjektiven Fairness, die durch intransparente Prozesse und fehlende Anerkennung von individuellen Beiträgen verletzt werden kann. Deshalb besteht eine weitere Investition neben der finanziellen Wertschätzung darin, auch alternative Formen der Sichtbarmachung und Anerkennung individueller Beiträge in Teams zu finden (7 Kap. 16).  

203 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Praxistipp: HR-Beiträge bei selbstgesteuerten Teams

Wenn Teams sich selbst steuern, wie das bei agilen Teams oder in holokratischen Organisationen der Fall ist, verändert sich die Führungsrolle und auch die Kaskade der HR-Beiträge. Renkema et al. (2018) konnten aus der Auswertung einer großen organisationalen Transformation hin zu selbstgesteuerten Teams beim niederländischen Pflegeanbieter Buurtsorg folgende Empfehlungen an die HR-Beiträge ableiten: 1. Beobachten von Arbeitsmarktentwicklungen und arbeitsrechtlichen Entwicklungen sowie des Auftretens von unethischem oder ungesetzlichen Verhalten in der Organisation 2. Dem Team zur Verfügung stellen: –– Kennzahlensystemen (Performance, Fluktuation, Zufriedenheit etc.) –– Richtlinien für Trainings und andere Unterstützung –– Beratung in HR-Fachthemen wie z. B. Rekrutierung und Selektion –– Unterstützung in Teamtraining, -entwicklung 3. Dafür sorgen, dass –– die Rollen und Zuständigkeiten glasklar sind –– die Organisation klare Leistungsindikatoren für das erwartete Teamergebnis hat –– Teams genügend Zeit für Sitzungen (Kommunikation, Entscheidungsfällung, Reflexion) einplanen

10.6.3 

Entwicklung: Teamtraining, Teamentwicklung

Teamtraining besteht in der Vermittlung von Techniken, die das Wissen über Teamarbeit, die Fertigkeiten und Einstellungen dazu verbessern (vgl. Antoni, 2003). Die Grenze zur Teamentwicklung kann man zumindest dann als fließend betrachten, wenn das Arbeits- bzw. Projektteam gemeinsam ein solches Training absolviert. Im englischsprachigen Raum steht der Begriff „Teamtraining“ oft äquivalent zur ­„Teamentwicklung“ für Interventionen auf der Aufgaben- und sozialen Ebene des Teams. Im deutschsprachigen Verständnis hingegen beziehen sich die hier gleichbedeutend verwendeten Begriffe  „Teamentwicklung“ (TE) oder „Teamcoaching“ mehrheitlich auf prozessorientierte Interventionen auf der sozialen Ebene des Teams, die eine Reflexion von Verhalten und Beziehungen, Rollen, Problemlösungen und Konflikte in Teams beinhalten. Dass Teamtraining sowohl mit aufgabenorientierten als auch mit zusammenarbeitsorientierten Inhalten wie Feedback, Kommunikation, Entscheiden, Koordinieren etc. die Teamarbeit auf verschiedenen Ebenen verbessert, konnte in einer Metastudie von Salas et al. (2008) gezeigt werden. Eine hilfreiche Ausrichtung aller Teamentwicklungsmaßnahmen liefert die Kasseler Teampyramide (Kauffeld, 2001, . Abb. 10.6). Sie skizziert die vier Ebenen, die für eine erfolgreiche Teamarbeit erfüllt sein müssen. Die Grundlage der Teampyramide ist einerseits das System-Goal-Role-Procedure-Interpersonal (SGRPI)-Modell von Beckhard (1972), das zur Unterstützung von Teams vorschlägt, Klarheit auf allen Ebenen der Teamarbeit – vom umgebenden System über Ziele, Rollen, Vorgehensweisen bis zu interpersonellen Prozessen – zu schaffen. Dieses Modell wird zusammengeführt mit  

10

204

B. Werkmann-Karcher

Verantwortungsübernahme Zusammenhalt Aufgabenbewältigung Zielorientierung ..      Abb. 10.6  Kasseler Teampyramide. (Kauffeld, 2001)

dem Team-Reflexivitäts-Modell von West (2012, siehe . Abb. 10.5)  und besagt als Kasseler Teampyramide nun, dass die tragende Säule aller Teamarbeit geklärte und von allen akzeptierte Teamziele sind. Ohne sie fehlt die grundlegende Ausrichtung des Zusammenarbeitens, aber alleine durch sie entsteht noch keine Bewegung. Erst die verschiedenen Aktivitäten zur Aufgabenbearbeitung ermöglichen ein Vorwärtskommen. Sie müssen sinnvoll aufeinander abgestimmt sein, in klaren Rollen erfolgen und idealerweise auch die Stärken jedes einzelnen Mitglieds berücksichtigen und nutzen. Dadurch können sich unterstützende Zusammenarbeitsprozesse entwickeln, die jedem einzelnen Mitglied Gehör, Teilhabe und einen psychologisch sicheren Platz geben. Zielorientierung und Aufgabenbewältigung entsprechen inhaltslogisch  der bereits erwähnten aufgabenbezogenen Reflexivität. Das Äquivalent zur sozialen Reflexivität findet sich in den nächsten beiden Ebenen: Zusammenhalt und Verantwortungsübernahme. Zusammenhalt wird durch Zielklarheit, erfolgreiche Aufgabenbearbeitung und Partizipation aller befördert. Ein starker Zusammenhalt wiederum  stärkt die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme jeder und jedes Einzelnen für Teamergebnisse und erhöht die Einsatzbereitschaft der einzelnen Mitglieder. Was nun die Anlässe einer geplanten Teamentwicklung betrifft, beschreiben Hackman und Wageman (2005) in ihrer Theorie des Team-Coachings drei wichtige oder sensible Momente für eine solche Unterstützung. Sie lehnen sich dabei an Gersicks Punctuated-Equilibium-Modell (7 Abschn. 10.5.3) an, indem sie Start, Mitte der Projektlaufzeit und Ende als Ausgangspunkte für Unterstützungsmaßnahmen setzen und diese mit unterschiedlichen Schwerpunkten verbinden: Der Start dient dem Aufbau von Motivation für die Teamaufgabe, indem das Kennenlernen der Mitglieder und der Aufgabe genügend Platz erhalten und die Lust, diese Aufgabe miteinander zu lösen, erhöht wird („Motivational Coaching“). In der Mitte hat das Team genügend Erfahrungen aus der Zusammenarbeit gesammelt, um von einer beratenden Coaching-Intervention zu profitieren, die auf die Reflexion der Ziele, Rollen, Kommunikation, Meeting-Häufigkeit, Entscheidungsprozesse etc. fokussiert und es dem Team final ermöglicht, Verbesserungsmöglichkeiten in der Aufgabenstrategie zu realisieren („Consultative Coaching“). Dieses konsultative Coaching ähnelt den etablierten Verfahren zur Retrospektive, die in agilen Teamsettings regelmäßig vorgesehen sind.  

10



205 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Zum Ende eines Projekts bzw. einer bestimmten Zeitperiode wie z. B. eines Arbeitsjahres sollen dann Lernerfolge auf der Ebene von Wissen und Fertigkeiten gesichert werden („Educational Coaching“), indem man bilanziert, was sich mehr und was sich weniger bewährt hat und was man individuell und als Team gelernt hat und ein nächstes Mal wieder genauso oder eben anders machen würde. Neben diesen Standardanlässen gibt es weitere situative Gründe dafür, sich als Team aus dem operativen Alltagsablauf zurückzuziehen und mit der Unterstützung einer Drittperson Probleme zu lösen oder das Klima zu verbessern. . Tab. 10.4 stellt eine Zusammenfassung verschiedener Teamentwicklungsanlässe dar. Sie können HR-seitig angeboten und organisiert oder bei guter Beratungskompetenz, vorhandenen Ressourcen und einer guten Reputation in der Organisation selbst durchgeführt werden.  

.       Tab. 10.4  Übersicht über Teamentwicklungsanlässe Anlass/Motto/Dauer

Inhalt

Ergebnisse

Team-Kick-off, Start Neu gebildete Teams lernen sich kennen, setzen ihre Agenda und starten motiviert in die Zusammenarbeit/ 1–2 Tage oder aufgeteilt in 2–3 kürzere Blöcke

- Kennenlernen - nach Restrukturierungen und Fusionen: die Organisationsgeschichten und Kulturspezifika mitteilen - Klären der Mission des Teams (Einbettung in den Kontext, primäre Aufgabe und Auftrag) - Sichtbarmachen der individuellen Erfahrungen, Stärken, Beiträge (Wer bringt welche Stärken, Vorerfahrungen, Interessen und Wünsche an die Zusammenarbeit mit; wer trägt was bei?) - Informieren über Phänomene und Erfolgsfaktoren für Teamarbeit (Was hilft und was kann hinderlich sein?) ➔ Vereinbaren von Normen der Zusammenarbeit; Konkretisieren der Kommunikationsmodi, Tools, Dokumentation, Antwortzeiten, Erreichbarkeiten

- Motivation - Erster Aufbau von Beziehungen, in denen man die anderen als integer und kompetent kennenlernen kann - Erstes mentales Modell des Teams und der Aufgabe - Geklärter Arbeitsmodus

Team-Check (Projektmitte oder häufiger bei Entwicklungsteams, jährlich bei anderen Teams)/ Laufende Teams überprüfen ihre Zusammenarbeit/ 2 Stunden – 1 Tag

- Aufgabenbezogene und soziale Reflexion der Zusammenarbeit (Was hat nserer Zusammenarbeit gut getan, worüber sind wir gestolpert oder waren uneinig, was könnten wir besser machen, was wollen wir ändern?) - Anerkennung und positives Feedback für individuelle Beiträge

- Anpassungen auf verschiedenen Ebenen wie Aufgabenstrategie, Kommunikationsstrukturen, Stakeholder-­Einbezug etc.

(Fortsetzung)

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206

B. Werkmann-Karcher

.       Tab. 10.4  (Fortsetzung)

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Anlass/Motto/Dauer

Inhalt

Ergebnisse

Problemlösungs-Workshop Teams finden Lösungen für bekannte Probleme oder unbekannte Probleme/ ½ Tag – evtl. Fortsetzungen für Diagnose oder für Interventionen zur Verbesserung der sozialen Prozesse

- Lösungen für ein bekanntes Problem entwickeln - oder zunächst herausfinden, was das Problem ist (Diagnose) - Ggfs. im Anschluss Aufarbeiten der diagnostischen Befunde in Form von spezifisch zugeschnittenen Maßnahmen auf der sozialen Ebene (Teamklima, Konfliktlösungen, vermehrte informelle Aktivitäten etc.)

- Tragfähige Lösungen für bereits erkannte Probleme - Erhebung verschiedener Sichtweisen durch Einzelinterviews, schriftliche Befragungen oder auch Beobachtungen und Rückmeldungen von Sitzungen - Verbessertes soziales Funktionieren, wenn die erkannten Probleme bearbeitet sind

Abschluss eines Projekts Teams schließen ihre Arbeit ab, feiern Erfolge und nehmen Lerngewinne daraus mit/ ½ – 1 Tag

- Evaluation der Zusammenarbeit und der Ergebnisse mit dem Ziel, daraus Learnings abzuleiten für das nächstes Projekt (Was würde man ein nächstes Mal mit dem jetzigen Wissen anders machen, was würde man gleich machen? Was kann man neu, was man zuvor noch nicht konnte?) - Feedback geben und erhalten - Erfolg feiern und abschließen

- Sichern von Lerneffekten - Abschliessen

angelehnt an West (2012, S. 92 ff.)

10.6.4 

Konfliktmanagement in Teams

Teamarbeit bietet vielfältige Quellen für Konflikterleben innerhalb und zwischen Teams. Was immer es sein mag, was man als unvereinbar mit dem oder den Anderen erlebt und wodurch man sich beeinträchtigt, eingeengt oder gehindert fühlt, hat Konfliktpotenzial. Oft sind aufgabenbezogene Themen wie Ressourcenfragen, unterschiedliche Vorstellungen vom Ziel oder vom richtigen Vorgehen, aber auch beziehungsbezogene Themen wie Wertediversität oder fehlende Anerkennung Treiber von Konflikten. De Dreu und Weingart (2003) unterscheiden schlicht zwischen Aufgabenkonflikten und Beziehungskonflikten, wobei Beziehungskonflikte auch ohne Aufgabenkonflikt existieren können, aber jeder ungelöste Aufgabenkonflikt irgendwann auch die Beziehungsebene erreicht. Das Konfliktmanagement selbst beinhaltet Investitionen in Konfliktprävention wie auch Investitionen in Konfliktdiagnose und -behandlung.

207 Teamarbeit, Teamleistung und Teamentwicklung

Praxistipp

Konfliktprävention umfasst sehr viele der bereits vorgestellten Ansatzpunkte: 55 Investieren in die Exploration von Unterschiedlichkeit in fachlichem und funktionalem Hintergrund, Alter, Gender und Kultur (Wie sind wir unterschiedlich, wie könnten diese Unterschiede ein Risiko für unsere Teamarbeit sein und wie können sie ein Vorteil sein?) 55 Investieren in den Aufbau eines sicheren psychologischen Klimas 55 Verankern von Reflexivität in beiden Dimensionen in Kommunikationsstrukturen (reguläre Team-Checks) 55 Investieren in Trainings für Selbstmanagement mit Fokus auf Selbstreflexion, in Trainings für Teamreflexivität, in Feedbacktrainings und in Trainings über Grundmuster von Konfliktlösungen

Konfliktlösungen in wenig eskalierten Situationen sind in eigener Regie, durch Selbsthilfe oder durch die Moderation einer neutralen Drittperson möglich. Das Muster der Konfliktklärung folgt dem Prinzip der verlangsamten Kommunikation und dem Anerkennen von Gleichrangigkeit der Bedürfnisse auf beiden Seiten. In Eigenregie der Beteiligten funktioniert das nur bei einer ernst gemeinten Orientierung an beidseitigem Gewinn und sehr guter Selbstreflexion. Folgende Schritte strukturieren eines oder mehrere solcher Klärungsgespräche: 1. Offenlegen und Klären von Wahrnehmungen der Situation der Beteiligten 2. Offenlegen der Wünsche und Bedürfnisse der Beteiligten 3. Sammeln von Lösungsideen 4. Festlegen von Kriterien für eine gute Lösung – Lösungsauswahl – Konkretisierung der Maßnahmen 5. Umsetzung und Kontrolle des Erfolgs Je größer allerdings die Zahl der an der Spannung beteiligten Personen ist und je verhärteter die Positionen bereits sind, desto notwendiger ist die Moderation eines Konfliktklärungsprozesses durch eine Drittperson. Aufgabenkonflikte können eher in Selbsthilfe oder mit interner Moderation gelöst werden. Wenn sie sich allerdings bereits auf die Beziehungsebene ausgedehnt haben, ist Selbsthilfe selten zu erwarten und auch nicht das Modell der Wahl. Dann sollte Konfliktlösungshilfe durch eine gänzlich außenstehende Drittpartei organisiert werden, die über ein breites Interventionsrepertoire jenseits der oben skizzierten Schritte verfügt. Praxistipp

Für Selbsthilfe in Konflikten ist das gleichnamige Buch von Friedrich Glasl (2017) sehr empfehlenswert. In dem Buch Konfliktmoderationen in Gruppen gibt Alexander Redlich (2019) einen guten Überblick über Vorgehensschritte als moderierende Drittperson. Konfliktmanagement als Aufgabenstellung des HRM ist in Werkmann-Karcher (2010) ausführlicher beschrieben.

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B. Werkmann-Karcher

Zusammenfassung und Fazit Teamarbeit in Organisationen ist bedeutsam; die Qualität der Teamarbeit ist kein Selbstläufer und kann durch strukturelle Maßnahmen und durch Teamentwicklung und -training unterstützt werden. Aus HR-Perspektive ist eine Konzentration auf das Team-Design (Besetzung des Teams, Auswahl der Mitglieder, Gestaltung der Teamaufgabe) und auf die Unterstützung der Prozesse wichtig, in denen sich die Teamarbeit entfaltet. Hier sind Interventionen in der Systemgestaltung der Leistungssteuerung zu nennen, ebenso Unterstützung in der Selektion und im Training wie auch in der Entwicklung eines Teams. Da Teamarbeit weiterhin an Bedeutung gewinnen wird, lohnt es sich für ein professionelles HRM, Ressourcen für Training, Entwicklung oder Beratung von Teams bereitzustellen, eigene Kompetenzen darin zu vertiefen sowie den Teams Kennzahlen als Feedback für ihre Selbststeuerung zur Verfügung zu stellen.

Literatur

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211

Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive Volker Kiel Inhaltsverzeichnis 11.1

 er systemische Blick: Organisationen und Menschen D in einem dynamischen Umfeld betrachten – 212

11.1.1

E lemente der Veränderung und Entwicklung von Organisationen: Die Wechselwirkungen zwischen Strategie, Struktur und Kultur – 213 Fokus auf das soziale System: Die Kultur als Wesenskern entwickeln und stärken – 214 Kultur als Phänomen der Selbstorganisation sozialer Systeme: Die natürlichen Grenzen der Machbarkeit (an-)erkennen – 217

11.1.2 11.1.3

11.2

Wofür und wohin Kultur entwickeln? – 219

11.2.1 11.2.2

E inführung neuer Arbeitsformen – 221 Sinn und Ansinnen ganzheitlicher Organisationsentwicklung – 221

11.3

 öglichkeiten der Kulturentwicklung in M Organisationen – 222

11.3.1

 erte als Ansatz der Kulturentwicklung: Zugang W zu den mentalen Modellen finden – 222 Steuerung der Selbstorganisation als weiterer Ansatz der Kulturentwicklung: Die wirksamen Einflüsse erkennen und nutzen – 227

11.3.2

Literatur – 230 © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_11

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212

V. Kiel

Organisationen werden als lebende Systeme beschrieben, die sich den ständig verändernden Umweltbedingungen anpassen, um ihre Legitimität und somit ihre Lebensgrundlage zu erhalten. Als Wesenselemente von Organisationen gelten die Strategie, Struktur und Kultur, die sich gegenseitig beeinflussen. Da immer Menschen durch ihr Verhalten und Handeln eine Organisation zum Leben bringen, werden Organisationen als soziale Systeme betrachtet, die aus einer Vielzahl von Kommunikationen bestehen. Aus den Kommunikationen und Wechselwirkungen der Menschen etabliert sich wie von selbst eine Kultur. Kultur kann nicht verordnet oder instruiert werden, sondern ist ein Phänomen, welches von den ihr zugehörigen Menschen fortlaufend von selbst hervorgebracht wird und sich über bestimmte Rituale, Verhaltens- und Interaktionsmuster in einem dynamischen Gleichgewicht stabilisiert. Dabei geben Ansätze und Prinzipien der Selbstorganisation Antworten auf die Fragen, wie relativ stabile Ordnungen in sozialen Systemen von selbst entstehen und sich festigen und wie diese beeinflusst werden können. Hier sind Werte als Wesenskern von Kultur und Führungskräfte als verkörperte Kulturträger die kritischen Faktoren der Kulturentwicklung in Organisationen.

11.1 

11

 er systemische Blick: Organisationen und Menschen D in einem dynamischen Umfeld betrachten

Aus systemischer Perspektive betrachten und beschreiben wir Organisationen als lebende Systeme, die in einer sich ständig verändernden Umwelt eingebettet sind und mit dieser in Wechselwirkung Materialien, Energie und Informationen austauschen. Währenddessen passen sich Organisationen den Erfordernissen und Anforderungen ihrer Umwelt an, um ihre Existenz und Lebensfähigkeit zu sichern. Es ist allgemein bekannt, dass sich Organisationen heute in einem äußerst dynamischen und immer komplexer werdenden Umfeld befinden. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts nimmt die digitale Revolution zunehmend Gestalt an und verändert die Arbeitswelt sowie die Gesellschaft in einem nicht vorhersehbaren Ausmaß. Die weltweite Vernetzung, der rasante Informationsfluss und die hierdurch steigende Komplexität bedingt durch das Internet führen dazu, dass Wandel sich immer schneller vollzieht. Durch die Einführung neuer Technologien sind wir Menschen und auch zunehmend Maschinen oder Gegenstände miteinander digital vernetzt. Bedingt durch die allumfassende digitale Vernetzung verläuft diese Dynamik mehr und mehr global. Wesentlicher Bestandteil dieser digitalen Transformation ist das Entstehen der sogenannten „Plattform-Ökonomie“, wie in Form von sozialen Netzwerken, Online-­ Handelsplätzen, Reise- und Mobilitätsplattformen. Diese Plattformen schieben sich zwischen Kunden und Lieferanten, gewinnen Marktmacht und sind auf einmal marktbeherrschend und -bestimmend. Soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Spielregeln verändern sich massiv. Beispielsweise stehen lokal ausgerichtete Unternehmen plötzlich in einem weltweiten Wettbewerb für die Erbringung ihrer Dienstleistungen oder Produkte. In diesem Zusammenhang wird häufig auch vom disruptiven Wandel gesprochen, der zu einer völligen Umstrukturierung eines Marktes oder zu einer ganz neuen Art, Probleme zu lösen, führt.

213 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

Gleichzeitig spielen im Hintergrund Kapitalgeber und Inverstoren eine zunehmend dominierende unternehmenspolitische Rolle mit dem vordringlichen Interesse, die Wertschöpfung bzw. den Gewinn der Unternehmen zu maximieren, wobei nach dieser Logik Arbeitnehmende als „Produktionsfaktor“ hauptsächlich als Kostenverursacher betrachtet werden. Häufig passen sich Organisationen durch eine Neuausrichtung ihrer Strategie und durch Optimierung ihrer Strukturen den derzeit wahrgenommenen sowie den künftig angenommenen Anforderungen der Umwelt an, um den Kundennutzen und somit ihre Erfolgspotenziale zu sichern. In der Regel führen diese Anpassungen zu massiven Kostensenkungsprogrammen, Restrukturierungen, Akquisitionen oder Verkäufen von Organisationseinheiten, zu Konzentration auf Kerngeschäfte und Veränderung des Produktportfolios. Dabei sind Denken und Handeln in „modernen Organisationen“ (Laloux, 2015) überwiegend durch das vorherrschende „Gebot“ der Effizienz und Rationalität gesteuert. Mögliche Konsequenzen dieser Veränderungen sind z.  B. flachere Hierarchien, breitere Führungsspannen und damit verbunden größere Entscheidungs- und Gestaltungsräume, mehr Verantwortung und Selbstorganisation, Leistungsverdichtung, höhere Anforderungsprofile, Tätigkeitsverlagerung und -ausgliederung oder auch hohe Standardisierung von Prozessen und Abläufen. Das erfordert ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft, Flexibilität, Lernund Anpassungsfähigkeit der Menschen. Diese Anforderungen werden nicht selten als bedrohlich, belastend oder gar überfordernd empfunden. Missstimmungen, (An-) Spannungen oder ein erhöhter Wettbewerbsdruck erschweren erheblich die Zusammenarbeit, binden Energie und können auf Dauer Menschen in ihrer Leistungsbereitschaft und -fähigkeit schwächen oder gar die Gesundheit gefährden. Gleichzeitig beobachte ich in meiner Praxis als Berater in verschiedenen Settings, dass die Übereinstimmung persönlicher Werte von Führungskräften und Mitarbeitenden mit der Ausrichtung und den damit verbundenen „Spielregeln“ der Organisation tendenziell sinkt. Hier stellt sich die Frage: Wie ist es möglich, eine Kultur zu fördern, die ein Klima von Wandel, Lernen und Entwicklung beinhaltet sowie gleichzeitig die Gesundheit und Resilienz sowie die Identifikation der ihr zugehörigen Menschen stärkt? 11.1.1 

 lemente der Veränderung und Entwicklung von E Organisationen: Die Wechselwirkungen zwischen Strategie, Struktur und Kultur

»» „Culture eats strategy for breakfast.“ Peter Drucker Organisationen erfüllen innerhalb einer definierten Umwelt eine Funktion, woraus sie ihre Legitimation erhalten. Sie erfüllen einen Zweck oder erbringen einen Nutzen für bestimmte Kunden, der sie zur Existenz berechtigt. Oder als Frage formuliert: Wofür existiert die Organisation für wen in welchem Umfeld? Oder: Wofür sorgt die Organisation? Das bedeutet auch, dass jede Organisation – je nach Kunden, Lieferanten und Mitbewerbern, Politik und Gesellschaft  – in einem originären Umfeld existiert und agiert. Gleichzeitig ist folgende Frage mehr denn je aktuell: Wie

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V. Kiel

bekömmlich ist die Organisation für ihre Umwelt? Oder: Welchen Preis bezahlt die Umwelt bzw. Gesellschaft für die Existenz dieser Organisation? In der Strategie wird die erwünschte mittel- bis langfristige Ausrichtung der Organisation beschrieben. Auf der Grundlage von Annahmen, wie sich durch wahrnehmbare Trends und Treiber die Umwelt wandelt, werden Vor- und Aufgaben für die künftige Ausrichtung der Organisation formuliert, um sie für dieses Zukunftsszenario in ihrer Existenz zu sichern. Oder anders gesagt: Die Strategie dient als Orientierung für die Steuerung der Organisation in eine erwünschte Richtung, um den derzeitigen sowie den angenommenen künftigen Bedingungen und Anforderungen der Umwelt zu entsprechen. Gleichzeitig bedeutet Strategie auch Zukunft gestalten, da jede Entwicklung der Organisation künftige Umwelten mitprägt. Aus der Strategie werden die Anforderungen an die Struktur hergeleitet. Aufbau der Organisation, Funktionen, Prozesse und Abläufe sollten so angepasst werden, dass diese dazu beitragen, die Strategie möglichst weitreichend und umfassend zu realisieren. Demnach folgt die Struktur der Strategie. Oder in der üblichen Managementsprache gesagt: „Structure follows Strategy.“ Jedoch erwächst nur selten die künftige Ausrichtung der Organisation auf der „grünen Wiese“ wie z. B. bei „Startups“. Wir sollten nicht unterschätzen, wie in traditionellen Unternehmen die Strategie überwiegend unter Berücksichtigung der vorhandenen Struktur definiert wird. Insofern hat die gegenwärtige Struktur erheblichen Einfluss auf die zukünftige Ausrichtung. Darüber hinaus wird die Strategie immer aus der derzeit bestehenden Struktur von den in der Organisation tätigen Menschen verwirklicht. Und hier gerät ein weiteres Wesenselement von Organisationen in den Blick: die Kultur. Strategie und Struktur haben zwar erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Kultur, können diese jedoch nicht in ihrer Ausprägung direkt bestimmen. Kultur kann man nicht machen, sondern sie ist ein emergentes1 Phänomen, welches aus den Interaktionen und Wechselwirkungen der Menschen innerhalb der Organisation fortlaufend von selbst hervorgeht. Diese sich herausschälende und im dynamischen Gleichgewicht befindliche Kultur ist der psychosoziale Nährboden für jenes Verhalten, welches auf diesem fruchtet und gedeiht, wobei davon abweichendem Verhalten wenig Halt gegeben wird und dieses bei wenig Unterstützung oder gar durch Sanktionen ausdürren könnte. Auf diesem Grund bedingt Kultur die Realisierbarkeit von Strategie und Struktur. So gesehen bedarf Kultur als psychosoziales Zentrum der Organisation besonderer Beachtung. 11.1.2 

 okus auf das soziale System: Die Kultur als Wesenskern F entwickeln und stärken

Es sind immer Menschen, die durch ihr Verhalten und Handeln eine Organisation zum Leben bringen, Strukturen und Prozesse kontinuierlich reproduzieren, Maschinen und Computer bedienen, Strategien entwickeln, Abläufe, Prozesse und Arbeitsweisen definieren oder optimieren, Veränderungen gestalten, einführen oder umsetzen. 1

Emergenz von lat. emergere: auftauchen, hervorkommen, sich zeigen

215 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

..      Abb. 11.1  Ebenen der Organisationskultur

Aus dieser Betrachtung erscheinen Organisationen als soziale Systeme, die aus einer Vielzahl von Kommunikationen und Handlungen der ihr zugehörigen Menschen bestehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Aus den Kommunikationen und ­Wechselwirkungen der Menschen etabliert sich als emergentes Phänomen wie von selbst eine Kultur (. Abb. 11.1).  

Definition Die Kultur ist das Gefüge von gemeinsamen Werten, Annahmen, Überzeugungen, Normen und Regeln, die ein soziales System aus dem Verlauf seiner Geschichte hervorbringt und das sich über Rituale, Interaktions- und Verhaltensmuster manifestiert. Normen sind nach dem Soziologen Talcott Parson (1967) „Muster generalisierter Erwartungen“, die sich aus bestimmten Wertvorstellungen der Handelnden ergeben.

Dieses Gefüge beeinflusst gleichzeitig das Wahrnehmen, Denken und emotionale Erleben von jedem Einzelnen, wodurch sich über individuelles Verhalten dieses Gefüge wiederum realisiert und stabilisiert.

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V. Kiel

Oder anders gesagt: Aus der Gesamtheit der Wechselwirkungen geht eine einzigartige (soziale) Struktur hervor, ein Set formeller und informeller Normen und Regeln, die die individuellen Verhaltensweisen und Kommunikationen organisieren und regulieren, die wiederum die bestehenden Normen und Regeln stabilisieren. Verhalten und Kommunikation eines sozialen Systems sind demnach selbstrückbezüglich bzw. wirken auf sich selbst zurück, weil sie die Strukturen (Normen und Regeln) selbst hervorbringen, durch welche sie bestimmt sind. Soziale Systeme sind autonom, weil sie sich selbst erzeugen, regulieren und entwickeln und entsprechend nicht von außen direkt steuerbar oder kontrollierbar sind.

»» „Kultur, wie sie von den Menschen mit ihren ethischen Einstellungen in der täglichen Kommunikation gelebt wird, lässt sich nicht machen und entzieht sich damit zielorientierten Veränderungsprozessen“ (Häfele, 2009, S. 53).

Hintergrundinformation: Autonomie Autonomie bedeutet nicht Unabhängigkeit gegenüber der Umwelt. Die systeminternen Operationen können durch Signale oder Impulse aus der Umwelt beeinflusst werden. „Wie sich aber ein System verhält, welche Entscheidungen es trifft, hängt von ihm selbst, seinen Interaktionsmustern und seiner Geschichte ab“ (Probst, 1987, S. 82).

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Im sozialen System ebnen und verfestigen sich um die formal definierte Organisationsstruktur informelle Rituale, Verhaltens- bzw. Interaktionsmuster wie eigenständige Informations-, Abstimmungs- und Entscheidungswege, Formen der Zusammenarbeit, Kooperation und Arbeitsorganisation sowie bestimmte Führungsstile und -muster. Diese „kulturellen“ Regeln entstehen nicht zweckrational, sondern entwickeln sich evolutionär und haben erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Mitglieder des sozialen Systems.

»» „Es gibt niemanden, der entscheiden könnte, welche Regeln gelten, und dennoch stellen sie Entscheidungsprämissen für das Verhalten derer dar, die sich einer Kultur (auch einer Organisationskultur) zugehörig fühlen. Diese oft eher zufällig erscheinenden Kommunikations- und Verhaltensregeln … muss einhalten, wer ‚dazugehören‘ will, obwohl niemand sagen kann, wie und warum sie einmal entstanden sind“ (Simon, 2009, S. 96).

Auf einer tieferen Schicht beinhaltet Kultur die gemeinsamen Werte, Annahmen und Überzeugungen, welche die Wahrnehmungen, Beschreibungen, Bedeutungen und Erklärungsmuster beeinflussen, woraus gemeinsame Konstrukte von Wirklichkeit entstehen, die zur Gewohnheit bzw. „Gewohnheitswirklichkeit“ werden können. Dabei sind die gemeinsam gelebten Werte der wesentliche Bestandteil einer Kultur. Diese ergeben sich auch aus dem Zusammenwirken der persönlichen Werte, die aus der jeweils individuellen Geschichte erwachsen sind. Definition Werte sind eine relativ begrenzte Anzahl von Überzeugungen und Grundannahmen, die sich auf wünschenswerte Verhaltensweisen, Ziele oder Zustände eines sozialen Systems beziehen. Sie dienen häufig unbewusst als Entscheidungsprämissen bei der Wahl aus verschiedenen Handlungsalternativen und steuern die Bewertung von Verhalten und Ereignissen (Landau, 2003; König & Volmer, 2008).

217 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

Werte prägen das Identitätsbewusstsein und können dementsprechend als „Quintessenz“ der Organisationskultur bezeichnet werden (Schein, 1997). Je nachdem, wie sehr wir mit den gemeinsam gelebten Werten im Einklang sind, empfinden wir ein Gefühl von Zugehörigkeit und Identität im Sinne von „Sich-­ gehört-­fühlen“ oder von „Sich-wieder-finden“. Das Ausmaß der jeweils individuell empfundenen Zugehörigkeit oder Identität beinhaltet auch den Aspekt, inwieweit wir uns den äußeren Gegebenheiten eher ohnmächtig ausgeliefert fühlen oder uns eher als aktiv gestaltend und einflussnehmend erleben. Hintergrundinformation: Zugehörigkeit und Identität Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Kultur ist einer der wesentlichen Faktoren der Identitätsbildung. Menschen binden sich emotional an die für sie identitätsstiftenden Organisationen. Dabei sind Versuche, die kulturellen Regeln zu bewahren, für die Mitglieder ein Weg, die eigene Identität zu bewahren (Simon, 2009, S. 101).

Die zentrale Frage ist, inwieweit die Mitarbeitenden ein Gefühl von Zugehörigkeit in ihrem organisationalen Umfeld erleben und welche Auswirkungen dieses Erleben auf ihr Denken, Fühlen und Handeln hat. In der Folge sind Zugehörigkeit und Identität grundlegend für die Innovationskraft, Leistungsbereitschaft, Produktivität und Entwicklungsfähigkeit einer Organisation. Die positiven Auswirkungen von „emotionaler Bindung“ und „Identität“ auf den Unternehmenserfolg werden in mehreren Studien aufgezeigt (Sackmann, 2017, S. 139 ff.). Hier wird der Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an emotionaler Bindung und verschiedenen Leistungsfaktoren wie z.  B. höherer Rentabilität und Produktivität unübersehbar deutlich (Sackmann, 2017, S. 145). Die Entwicklung von Kultur wird dann not-wendend, wenn diese als problemerzeugend, konflikthaltig oder zu rigide erlebt wird und somit die Denkweisen, Handlungsmöglichkeiten und Innovationskraft der Mitarbeitenden zu sehr einschränkt. Unter diesen Bedingungen können sich die vorhandenen Potenziale nicht entfalten und folglich könnte es für die Organisation schwierig werden, die Anforderungen ihrer Umwelt dauerhaft zu bewältigen. 11.1.3 

 ultur als Phänomen der Selbstorganisation sozialer K Systeme: Die natürlichen Grenzen der Machbarkeit (an-) erkennen

In der gängigen Literatur zum Thema Organisationsberatung wird vermehrt von Selbstorganisation gesprochen. Häufig wird sogar die „Selbstorganisation von Teams“ ausdrücklich gefordert, ohne den Begriff oder das Phänomen von Selbstorganisation theoretisch hinreichend zu klären. Mit ist es ein Anliegen, diesen Begriff genauer zu bestimmen, um selbstorganisierende Phänomene in sozialen Systemen begreifen, beeinflussen und in eine ­erwünschte Richtung entwickeln zu können. Dabei ist Selbstorganisation an sich weder gut noch schlecht, sondern ein beobachtbares Phänomen aller dynamischen komplexen Systeme. In selbstorganisierenden Systemen wird zwischen einer mikroskopischen und einer makroskopischen Ebene unterschieden. Auf der Mikroebene befinden sich die

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218

V. Kiel

Vielzahl der Einzelelemente des Systems und deren unzählige Wechselwirkungen untereinander. Diese Einzelelemente wirken derart zusammen, dass sie sprunghaft ein geordnetes Muster von selbst erzeugen, das sich auf der Makroebene des Systems herausbildet. Diese Ordnung wird Attraktor genannt (Strunk & Schiepek, 2006, S. 80 ff.). Definition Attraktor bezeichnet eine Ordnung (Muster, Struktur, Regel), auf die hin sich eine Systemdynamik entwickelt. Diese entstandene Ordnung weist eine gewisse Stabilität auch bei veränderten Umweltbedingungen bzw. gegenüber mäßigen Störungen auf.

► Beispiel

Beispielsweise kann der gemeinsame Klatschrhythmus in einem Konzert als eine relativ stabile Ordnung und somit als Attraktor bezeichnet werden, der aus dem wechselwirkenden Klatschen vieler einzelner Zuschauer entsteht und wiederum gleichzeitig das Verhalten aller Zuschauer bestimmt bzw. die Freiheitsgrade aller Zuschauer erheblich einschränkt. Hier kann auf der mikroskopischen Ebene das rhythmische Klatschen Einzelner als Ordner verstanden werden, der sich wie zufällig aus unzähligen Möglichkeiten durchsetzt und das Verhalten aller anderen Zuschauer wie durch eine Welle bindet, sodass erst das Muster auf der makroskopischen Ebene – der gemeinsame Klatschrhythmus – entstehen kann. ◄

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Das Verhalten der Einzelelemente auf der mikroskopischen Ebene wird von einem sogenannten Ordner eingebunden, der das geordnete Muster auf der makroskopischen Ebene hervorbringt und über einen gewissen Zeitraum stabil hält. Dieser dynamische Prozess verläuft in einer kreisförmigen Kausalität, da die Einzelelemente des Systems den Ordner selbst schaffen, durch welchen sie wiederum in ihrem Verhalten bestimmt werden (Schiepek et al., 2013, S. 33, . Abb. 11.2). Demnach geht der Ordner einerseits aus dem Zusammenwirken der Einzelelemente hervor („bottom-up“), bestimmt aber auch andererseits die Einzelelemente, indem er ihr Verhalten vorschreibt und deren „Freiheitsgrade“ beträchtlich reduziert („top-down“).  

..      Abb. 11.2  Vorgänge in selbstorganisierenden Systemen. (In Anlehnung an Haken und Schiepek 2010, S. 134)

219 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

Folglich verlaufen zwei dynamische kreiskausale Vorgänge in offenen komplexen Systemen: einerseits die Wechselwirkungen zwischen den Einzelelementen auf der mikroskopischen Ebene, aus denen sich ein Ordner herausbildet, von diesem wiederum die Einzelelemente in ihrem Verhalten gebunden werden (Herausbildung von und Bindung durch Ordner). Andererseits verläuft eine Wechselwirkung zwischen der mikro- und makroskopischen Ebene des Systems. In diesem Vorgang bildet der unsichtbare Ordner aus der mikroskopischen Ebene eine wahrnehmbare Ordnung – den Attraktor – auf der Makroebene heraus, die wiederum das Verhalten der Einzelelemente auf der Mikroebene und somit den Ordner bestimmt (Herausbildung von und Einbindung durch Ordnung). Durch diese zwei Vorgänge erhält das System einen relativ stabilen dynamischen Gleichgewichts- und Ordnungszustand. Beim Übertragungen auf den kulturellen Phänomenbereich in Organisationen stellt sich die Frage, wie relativ stabile Ordnungen wie etwa Normen, Regeln oder Rituale, Verhaltens- und Interaktionsmuster in sozialen Systemen von selbst entstehen und sich stabilisieren. Dementsprechend stehen die Begriffe „Selbstorganisation“ und „Ordnung“ in einem engen Zusammenhang. Im Prinzip wird eine wie auch immer geartete Ordnung von Menschen durch eigene Organisation selbst erschaffen und erhalten. Demnach bilden Menschen aus sich selbst heraus Ordnungen bzw. Muster, Strukturen oder Regeln, erhalten diese aufrecht und passen sie an veränderte Umweltbedingungen an. Für das Verständnis von Veränderung ist von zentraler Bedeutung, dass in offenen komplexen Systemen sogenannte Kontrollparameter wirken: Kontrollparameter sind die wesentlichen Wirkfaktoren, die die vorhandene Ordnung aufrechterhalten bzw. stabilisieren und durch deren Änderung ein anderer Ordnungszustand möglich wird (Schiepek et al., 2013, S. 33). In sozialen Systemen halten sie bestimmte Normen, Regeln sowie Rituale, Interaktions- und Verhaltensmuster oder gemeinsam geteilte Werte, Annahmen und Überzeugungen in einer relativen Stabilität aufrecht. Durch Änderung der Kontrollparameter gerät gerade diese Stabilität ins Wanken, wobei sich eine neue soziale Ordnung herausbilden kann. Durch die Annahme des Vorhandenseins von Kontrollparametern in selbstorganisierenden Systemen scheint es zumindest theoretisch Möglichkeiten der bewusst geplanten und gesteuerten Beeinflussung zu geben.

11.2 

Wofür und wohin Kultur entwickeln?

Angekommen im Zeitalter der Digitalisierung und der sogenannten „Arbeitswelt 4.0“ ist eine identitätsstiftende Kultur für den langfristigen Erhalt von Organisationen grundlegend. Eine Kultur, die die Zugehörigkeit, sachliche Einbindung und emotionale Bindung der Mitarbeitenden fördert, um auf diese Weise die Identifikation mit „ihrer“ Organisation zu stärken. Diese „DNA“ bildet eine wesentliche Voraussetzung für hohe Leistungsbereitschaft, Eigeninitiative und (Mit-)Verantwortung. Eine Kultur, die die Sichtweise, Fähigkeiten und das Wissen der Menschen vor Ort einbezieht, systematisiert und kanalisiert, um auf diese Weise für eine schnelle Reaktionsmöglichkeit und dauerhafte Anpassungsfähigkeit der Organisation zu sorgen.

11

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V. Kiel

Sonja Sackmann führt vor dem Hintergrund empirischer Studien „Kulturdimensionen“ auf, die als Haupttreiber für das Engagement von Mitarbeitenden gelten. Darunter zählen z.  B.  Identifikation, Teamorientierung („Wir-Gefühl“), Fairness (vollwertiges Mitglied), Förderung (Wertschätzung), Fürsorge (Interesse an Person) oder Führungskompetenz wie Integrität (Vertrauen) (Sackmann, 2017, S. 147). Frederic Laloux spricht auch von einer wertorientierten sinnstiftenden Kultur der „postmodernen Organisation“, die zu einer erhöhten Leistungsfähigkeit beiträgt.

»» „In postmodernen Organisationen, wo Führungskräfte tatsächlich gemeinsamen Wer-

ten folgen, erleben wir ungemein lebendige Kulturen, in denen sich die Mitarbeiter wertgeschätzt fühlen und ermutigt werden, ihren Teil beizutragen. Die Ergebnisse sind oft spektakulär. Forschungsstudien scheinen zu zeigen, dass die Leistungsfähigkeit wertorientierter Organisationen die ihrer Mitbewerber weit ­übersteigt“ (Laloux, 2015, S. 33).

11

Insgesamt kann durch diese Art und Ausgestaltung von Kultur auch ein Beitrag erkannt werden, die Arbeitswelt zu humanisieren: 55 Die Mitarbeitenden werden in ihren Erfahrungen, Fähigkeiten und Stärken erkannt, anerkannt und gewürdigt. Menschen haben das Bedürfnis, in ihrer Einzigartigkeit gesehen und geschätzt zu werden. 55 Die vorhandenen Potenziale dürfen sich im Arbeitsfeld mehr entfalten und sich verwirklichen. 55 Durch den Einbezug in das Ganze sowie über die Stärkung und Würdigung des individuellen Beitrages für die Weiterentwicklung der Organisation wird die Sinnhaftigkeit für den Einzelnen erkennbarer. 55 Die Mitarbeitenden identifizieren sich vielmehr mit ihrer Tätigkeit und dem Ergebnis. Sie werden von Mitarbeitenden, die Anweisungen im Einzelnen befolgen, zum Mitdenkenden, die Verantwortung für das Ganze empfinden. 55 Die tagtägliche Arbeit kann zu einem erfüllenden, sinn- und anspruchsvollen Bestandteil des Lebens und somit der eigenen Existenz werden. Diese Ausrichtung und Ausgestaltung der Kultur würde auch einem Menschenbild entsprechen, welches von Vertretern der Organisationsentwicklung definiert wird (Häfele, 2009, S. 35): 55 Wertschätzende Akzeptanz: Jeder Mensch ist gleichwertig, sinnstrebend, einzigartig und würdevoll. 55 Ressourcen (Wissen, Fähigkeiten, Eigenschaften): Jeder Mensch verfügt explizit über gelebte und potenzielle Ressourcen. 55 Entwicklungsfähigkeit: Jeder Mensch ist zeit seines Lebens entwicklungsfähig und selbstverantwortlich. 55 Autonomie und Verbundenheit: Jeder Mensch braucht für seine Existenz sowohl Bewusstheit für seine Individualität als auch Verbundenheit mit einer Gemeinschaft. 55 Freiheit: Der Mensch ist ein Wesen der Wahlfreiheit. Jeder hat die Freiheit und die Verantwortung zur persönlichen Stellungnahme. Er hat zudem die Freiheit der Einstellung zu den jeweiligen Situationen.

221 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

11.2.1 

Einführung neuer Arbeitsformen

Heute versuchen Unternehmen vermehrt, ihre Organisation und Arbeitsformen so auszurichten, dass durch Selbstorganisation die Geschwindigkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gesteigert wird. Jedoch ist in vielen Fällen bei der Einführung sogenannter „agiler Arbeitsformen“ ein elementarer Widerspruch zu erkennen: Da mit diesen neuen Arbeitsformen über Abbau von Hierarchien mehr Selbstverantwortung und Selbstorganisation verbunden wird, wird per se davon ausgegangen, dass diese ohne sorgfältige Einführung und Begleitung in der Kultur von selbst gelebt werden. Jedoch benötigt gerade die Ausgestaltung dieser Formen eine professionelle Begleitung auf der kulturellen Ebene, sodass sich auch die geforderte (Wert-)Haltung und Mentalität entfalten können und die Menschen sich nicht überfordert fühlen. Gerade diese radikalen strukturellen Veränderungen sind in der Regel mit erheblichen Konsequenzen für die betroffenen Mitarbeitenden und Führungskräfte ­verbunden und bedürfen häufig eines radikalen Wandels im Denken und Handeln und folglich eines wesentlichen Wandels in der Kultur. 11.2.2 

 inn und Ansinnen ganzheitlicher S Organisationsentwicklung

Dabei steht über allem die Frage: Wofür das Ganze? Neue Strukturen und Arbeitsformen sollten dazu führen, 55 die Produktionsprozesse und Arbeitsabläufe kontinuierlich zu optimieren, 55 den Informationsfluss zu beschleunigen, 55 die Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse zu vereinfachen, 55 das Wissen und das Potenzial der Mitarbeitenden stärker zu nutzen, 55 die interdisziplinäre Zusammenarbeit reibungsloser und effizienter zu gestalten, 55 Innovationen und Neuerungen zu fördern, umzusetzen und zu evaluieren. Damit verbunden ist die übergeordnete strategische Zielsetzung: die Innovationskraft zu stärken und somit schneller auf Kundenanforderungen zu reagieren, um einen hohen Kundennutzen dauerhaft zu gewährleisten. Der "Customer Value" steht im Fokus. Dafür bedarf es einer Kultur, die sowohl die Zusammenarbeit im Gesamtgefüge erleichtert als auch den Einzelnen stärkt und in seiner Entwicklung fördert: 55 Ein wertschätzendes und vertrauensvolles Arbeitsklima fördern. 55 Dialogische Führung und ehrlichen Dialog als Basis für Entwicklung ermöglichen. 55 Eine klärende und entwicklungsfördernde Feedbackkultur etablieren. 55 Die Leistungsbereitschaft, Eigeninitiative und Verantwortungsübernahme des Einzelnen stärken. 55 Das Wissen und die Potenziale des Einzelnen erkennen und anerkennen.

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222

V. Kiel

55 Die Zugehörigkeit und Identifikation der Mitarbeitenden und somit die emotionale Bindung an die Organisation erhöhen. Zugehörigkeit durch „Gehörtwerden“. 55 Loyalität und Wohlwollen als Grundlage für gegenseitiges Vertrauen fördern. 11.3 

Möglichkeiten der Kulturentwicklung in Organisationen

11.3.1 

 erte als Ansatz der Kulturentwicklung: Zugang zu den W mentalen Modellen finden

Werte bilden den Wesenskern einer Organisationskultur. Sie prägen die Art und Weise, wie Menschen arbeiten, miteinander umgehen und kooperieren und haben einen erheblichen Einfluss auf das Befinden und Empfinden des Einzelnen. Aus den gelebten und gespürten Werten bildet sich eine Atmosphäre mit einem emotionalen Klima, welches sich auf den Menschen stärkend oder schwächend, fördernd oder hemmend, Energie freisetzend oder Energie bindend auswirken kann. >>Werte können den Zusammenhalt, die Gemeinschaft und die Identifikation stärken oder das soziale Gefüge schwächen.

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Hier kommt den Führungskräften eine wesentliche und erhebliche Rolle zu: Sie haben aufgrund ihrer Funktion – gewollt oder nicht gewollt – Einfluss auf das soziale System und dienen dementsprechend als Promotoren für die erwünschten Werte.

»» „Das Verhalten der Führungskräfte entscheidet darüber, ob die Werte ernst genommen werden oder nicht. Wenn Führungskräfte nicht das Verhalten leben, wird niemand von den Mitarbeitern sich verpflichtet fühlen“ (König & Volmer, 2008, S. 188).

Die Führungskräfte verkörpern, leben und kommunizieren bewusst oder nicht bewusst die Werte, mit welchen sie sich identifizieren. Sie bringen durch ihre Haltung und ihr Verhalten unmittelbar zum Ausdruck, was für sie wichtig und unwichtig, richtig und falsch, legitim und nicht legitim ist und leisten demnach immer einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung oder Stabilisierung kultureller Ausprägungen. Führungskräfte sind in ihrem Reden und Handeln „lebendige Kulturträger“. Sie wirken als Repräsentanten der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Unternehmensphilosophie. Sie sanktionieren und prägen aufgrund ihrer Position die wesentlichen Bereiche und Handlungsfelder einer Unternehmenskultur wie Kommunikation, Art der Zusammenarbeit, Umgang mit Konflikten, Zugang zum Menschen, Einbezug und Partizipation, den Menschen in seiner individuellen Situation wahrnehmen und ernst nehmen oder die Art des Lernens (Hülshoff, 2010). Hintergrundinformation Werte Der persönliche Satz an Werten ist aus prägenden Ereignissen und Erlebnissen aus der eigenen (beruflichen) Sozialisation hervorgegangen und beeinflusst das gegenwärtigen Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln.

223 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

Jeder Mensch bildet sich geschichtlich aus seinen Erfahrungen persönliche Werte heraus: Was ist mir wichtig in der Zusammenarbeit? Mit welcher Art zwischenmenschlichen Umgangs fühle ich mich wohl und zugehörig? Welcher Umgang ist für mich stärkend? Welcher eher schwächend? Welches Verhalten hat für mich wert? Von welchem Verhalten grenze ich mich ab? Wofür habe ich Verständnis und wofür keines? >>Die persönlichen Werte sind biografisch erwachsen.

Werte sind keine rein kognitiven Konstrukte, sondern werden vor allem emotional-­ körperlich gelebt und erlebt: In welchen Momenten fühle ich mich harmonisch und in welchen disharmonisch? Wann spüre ich Stimmigkeit und wann Unstimmigkeiten oder gar Spannungen? Worüber fühle ich Freude und worüber werde ich ärgerlich? Dabei könnte sich negatives Erleben dauerhaft auch körperlich auswirken: z. B. durch Verspannungen oder Druck. Unruhe, Schlaflosigkeit oder Kopfschmerzen bis hin zu Depressionen oder Angstzuständen. Hier wird deutlich, dass der Wert von Werten nicht überschätzt werden kann: Ein dauerhaftes Klima von Anerkennung, Respekt, Fairness und Wertschätzung setzt Energien frei für die eigentlichen Aufgaben und somit für die Erfüllung der gemeinsamen Anforderungen. Eine Atmosphäre, in welcher sich auch die Potenziale und Kreativität der Mitarbeitenden entfalten dürfen. Hingegen binden lang andauernde Unstimmigkeiten, Spannungen, dauerhafter Ärger oder Abgrenzung immens viel Aufmerksamkeit und somit Energie, die für die Bewältigung der eigentlichen Aufgaben fehlt. >>Das Top-Management bringt implizit durch jede Entscheidung die Werthaltung der Unternehmensleitung zum Ausdruck, die für die gesamte Organisation prägend ist.

Führungskräfte können den Mitarbeitenden die erwünschten Werte und Leitgedanken zumindest inhaltlich vermitteln, sodass die Kultur sich eher wahrscheinlich in diese angedachte Richtung herausbildet. Allerdings lassen sich soziale Systeme als autonome Systeme nicht instruktiv verändern bzw. direkt beeinflussen. Instruktionen in Form von Weisungen, Broschüren oder Handbüchern bestimmen nicht, dass die erwünschten Werte auch tatsächlich aus ehrlicher Überzeugung gelebt werden. Gerade das Gegenteil wie Zynismus oder Sarkasmus könnte die Reaktion sein, wenn die formulierten Werte ausschließlich dem Zweck der Imagebildung dienen und dahinterliegende wirtschaftliche Interessen die eigentlichen Treiber von Kulturbildung sind:

»» „Einige Menschen wurden desillusioniert von der Idee gemeinsamer Werte und machen

sich darüber lustig. Der Grund dafür ist, dass auch moderne Organisationen sich immer mehr verpflichtet fühlen, diesem Trend zu folgen: Sie definieren eine Reihe von Werten und produzieren Statements, die dann in den Büros oder auf der Webseite platziert werden – um dann sie zu ignorieren, wenn es für den Umsatz förderlich ist“ (Laloux, 2015, S. 33).

Auch können diese erwünschten Werte nicht unmittelbar in ihrer gemeinten Bedeutung vermittelt werden. Jeder Mensch verbindet Begriffe wie „Vertrauen“, „Zuverlässigkeit“ oder „Ehrlichkeit“ mit eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, wodurch diese einzigartig begriffen werden und Bedeutung erhalten. Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, die Menschen bei der Entwicklung von Kultur miteinzubeziehen:

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»» „Einstellungen, innere Bilder, Gefühle und Erlebnisse, Beziehungen, Kommunikation, Klima und das konkrete Verhalten lassen sich vor dem Hintergrund des Menschenbildes der OE und der Auffassung der Organisation als lebendes, soziales System nur unter Einbeziehung der unmittelbar beteiligten Führungskräfte und Mitarbeiter entwickeln“ (Häfele, 2009, S. 53).

Hier könnten die Führungskräfte gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden nach Beispielen suchen: Wann, wo, durch wen, wie und mit welchen Auswirkungen werden gegenwärtig oder wurden in der Vergangenheit die erwünschten Werte schon gelebt? Diese „Geschichten“ verdeutlichen sinnbildlich und somit vorstellbar, was mit den Werten im Arbeitsumfeld konkret gemeint ist und fokussieren auf das „Wünschenswerte“, was heute schon gelebt wird („alltagsbezogenes Storytelling“). Gemäß dem systemisch-konstruktivistischen Denken können wir annehmen, dass es „die Kultur“ außerhalb eines Beobachters in Form einer objektiv wahrnehmbaren und fassbaren Entität nicht gibt. Kultur wird immer nur gegenwärtig von einer Beobachterin aus ihrer Perspektive subjektiv durch ihr Wahrnehmen und Denken (re-) konstruiert und vor allem durch ihre Sprache bzw. Erzählweise erst erschaffen. >>Kultur ist kein reales Gebilde, sondern ein mentales Modell.

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Auf der Grundlage dieser Überlegungen sollten wir eher erkunden, welche derzeit gelebte als auch künftig erforderliche organisationale Kultur die Mitarbeitenden aus ihrer Sicht erkennen und wie diese jeweils mit ihren eigenen Werten stimmig bzw. unstimmig ist. Im Folgenden führe ich exemplarisch Verfahren und Methoden auf, mit welchen die jeweils individuell erlebte, sowie eine erwünschte Organisationskultur sichtbar und fassbarer werden kann.

 rzählungen und Geschichten als sprachlicher Ausdruck mentaler E Modelle

»» „Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt.“ Humberto Maturana Ein wesentliches Moment der Erkundung und Entwicklung von Kultur ist der Raum für einen ehrlichen vertrauensvollen Austausch zwischen den Mitarbeitenden des jeweils gemeinten Teams. Allein schon das Zulassen und Ermöglichen dieses Raumes kann als kulturstiftender Akt begriffen werden in dem Sinne: „Uns ist es wichtig, zu hören und zu erfahren, wie ihr die Kultur erlebt und welche Entwicklung ihr euch wünscht.“ Durch den sprachlichen Austausch werden verschiedene Sichtweisen und Erzählweisen über Kultur gegenübergestellt und miteinander verschränkt, wobei subjektive Ansichten, Überzeugungen oder Wertungen hinterfragt werden. Hier ist es bedeutsam, mit welchen Worten bzw. Begriffen und auf welche Weise die wahrgenommene oder erwünschte Kultur erzählt wird. Dabei haben die Art der Erzählung und die Erzählweise Auswirkungen auf das gegenwärtige Erleben des Erzählenden und der Zuhörenden. Beispielsweise könnte die Erzählung sehr unterschiedlich wirken, je nachdem, ob ich ausschließlich die problematischen, schwierigen oder hinderlichen Aspekte der erlebten Kultur in Augenschein nehme oder mir auch Kraftquellen, Ressourcen und erfreuliche Momente vor Augen führe und erzähle.

225 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

Wir sollten uns dessen bewusst sein, welche merklichen Unterschiede im Erleben erlebbar werden, je nachdem, auf welche Aspekte wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren und mit welchen Worten wir diese beschreiben (Schmidt, 2008). Folgende Fragen könnten helfen, das zu klären: 55 Ist meine Erzählweise eher problem- oder ressourcen- und lösungsorientiert? 55 Erzähle ich das Gute im Schlechten oder das Schlechte im Guten? 55 Betone ich das, was ich als schwierig erlebe, oder das, was mir leichtfällt? 55 Hebe ich hervor, was ich erlitten habe, oder das, was ich daraus gelernt habe? 55 Mit welchen Worten oder Begriffen beschreibe und bewerte ich das Wahrgenommene? Aus diesem intersubjektiven Austausch und Hinterfragen werden sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede deutlich, die das bisherige Wahrnehmen, Denken und Verhalten aller Beteiligten beeinflussen und in eine gemeinsame Sicht- bzw. Erzählweise münden können. Beispielsweise wird in der Unternehmensphilosophie häufig von „Wertschätzung“ gesprochen und wertschätzendes Verhalten von den Mitarbeitenden eingefordert. Auch „Wertschätzung“ lässt sich sicher nicht allein durch geschriebene oder ausgesprochene Anweisungen entwickeln oder gar instruieren. Und: Was ist eigentlich mit Wertschätzung gemeint oder gewollt? Hier ist es unabdingbar, grundlegende ­Begriffe gemeinsam zu klären, um abstrakte Worthülsen mit bildlich inneren Vorstellungen, mit konkretem Erleben und sinnvoller Bedeutung handlungsbezogen zu füllen: 55 Was verstehen wir unter Wertschätzung? 55 Welche Bedeutung hat Wertschätzung für uns? 55 Wofür brauchen wir Wertschätzung? 55 Woran würden wir konkret erkennen, dass wir wertschätzend arbeiten? 55 In welchen Situationen haben wir schon wertschätzend zusammengearbeitet? Mit welchen Auswirkungen? 55 Welche Ereignisse oder Geschichten können wir über Wertschätzung erzählen? 55 Was ist für eine wertschätzende Zusammenarbeit förderlich? Was ist hinderlich?

Sinnbildliche Metapher als Analogie zur erlebten Kultur Darüber hinaus könnten wir im Rahmen eines Workshops oder einer Teamentwicklung das innere Bild, welches die Mitarbeitenden von der Organisation sich erschaffen haben, in Form einer sinnbildlichen Metapher erkunden: Hinführende Fragen: „Angenommen, du könntest die Organisation durch eine Gestalt, Figur oder durch ein Wesen darstellen. Durch welche Gestalt, Figur oder durch welches Wesen würde die Organisation am ehesten sinnbildlich zum Ausdruck gebracht? Was würde diese Gestalt, Figur oder dieses Wesen dir sagen oder dir als Hinweis auf deinen weiteren Weg geben wollen? Was würdest du antworten? Was würdest du ihr sagen wollen? Welche Werte werden durch diese Gestalt verkörpert? Inwieweit kannst du dich mit dieser Gestalt identifizieren (auf einer Skala von 0 % bis 100 %)? Womit am ehesten? Womit am wenigsten?“

11

226

V. Kiel

Die Mitarbeitenden könnten auch eingeladen sein, ihr inneres Bild von der Organisation über ein selbst gemaltes Bild mit Ölkreide auf DIN-A3-Zeichenpapier nach außen sichtbar zu machen. Beispielsweise über die einleitende Frage: „Durch welches Bild wird dein Erleben in der Organisation sichtbar?“ Oder: „Durch welches Bild wird deine Sichtweise auf die Organisation am ehesten zum Ausdruck gebracht?“ (vgl. Kiel, 2020; Kiel & Ewald, 2014). Anschließend erhält jede:r Mitarbeitende in einer kollegialen Beratung Impulse, Hinweise und Rückmeldungen zu ihrem/seinem dargelegten Erleben im Hinblick auf die Metapher oder das gemalte Bild. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Beratung stellt das Verfahren des reflektierenden Teams dar, das von Tom Andersen im Kontext der Familientherapie in den 1990er-Jahren entwickelt wurde.

Das reflektierende Team als Verfahren der kollegialen Beratung Hintergrundinformation: Reflektierendes Team Das Verfahren des "reflektierenden Teams" geht von der Überlegung aus, dass Veränderungen subjektiver Sichtweisen und Ansichten am ehesten da entstehen, wo ein Freiraum für Gedankenaustausch zwischen zwei oder mehreren Menschen ermöglicht wird und dabei die Integrität der Beteiligten gesichert ist. Verstehen hat in diesem Sinn nicht das Ziel, herauszufinden, wie die äußere Welt „wirklich“ ist. Vielmehr wird Verstehen im Sinne eines aktiven Spiels mit Bedeutungen beschrieben. Es geht um das Herstellen von Kooperation, indem assoziatives Denken, das Äußern von Wahrnehmen und Bewerten von Beziehungen und Ereignissen erleichtert werden (vgl. Schlippe und Schweitzer, 1996, S. 199 ff.).

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Das Ziel des reflektierenden Teams ist es, zu dem jeweiligen Erleben in der ­Organisation möglichst viele Resonanzen, Ideen, Hypothesen und Lösungsansätze zu generieren und diese auch in ihrer teilweisen Widersprüchlichkeit im Raum zur Wirkung kommen zu lassen. Durch diese vielfältigen Impulse wird eine Veränderung der subjektiven Sichtweise nicht nur bei der fallgebenden Mitarbeitenden, sondern auch bei den Beratenden angeregt. In der methodischen Umsetzung bilden die Mitarbeitenden 4er-Gruppen, in welcher jede:r durch Rotation die Gelegenheit erhält, als Fallgebende:r von den drei Kolleg:innen beraten zu werden. Jeder kollegiale Beratungsprozess dauert 45 Minuten. In der ersten Phase erläutert die Fallgebende, wie sie derzeit die Organisationskultur wahrnimmt, bewertet und erlebt. Sie beschreibt, welche Werte ihr Handeln prägen, welche Werte in ihrem Umfeld derzeit gelebt werden und welche von der Organisation erwünscht sind. Währenddessen hören die Beratenden aufmerksam und achtsam zu. Dabei achten sie nicht nur auf die gesprochenen Worte, sondern auch auf Körpersignale, Mimik, Gestik, Schweigen oder Stimmlage. Anschließend teilen die Beratenden Eindrücke, Hypothesen und tauschen Impulse, Anregungen und Lösungsansätze aus. Das Besondere am reflektierenden Team ist, dass in dieser Phase die Beratenden sich über die Fallgebende und ihre Situation untereinander austauschen und derweil sie nicht direkt ansprechen. Sie unterhalten sich über sie und ihre Situation, wobei sie „so tun, als ob“ sie nicht anwesend wäre. In der Konsequenz tauschen die Beteiligten freier und offener ihre Perspektiven und Ansichten aus und können vermehrt aus der sich entfaltenden Dynamik die Situation intuitiv erfassen. Die Fallgebende erhält eine Vielzahl von Informationen, wodurch ihre eigene Sichtweise und Einstellung zur Situation infrage gestellt wird und sich erheblich verändern kann.

227 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

Am Ende der jeweiligen Beratung meldet die Fallgebende zurück, welche Eindrücke, Ideen oder Impulse nachklingen und welche Auswirkungen diese auf ihr Denken, Erleben und Handeln im organisationalen Kontext haben. 11.3.2 

 teuerung der Selbstorganisation als weiterer Ansatz S der Kulturentwicklung: Die wirksamen Einflüsse erkennen und nutzen

»» „Die Tatsache, dass man soziale Systeme nicht zuverlässig steuern kann, heißt nicht, dass man sie nicht steuern kann.“Fritz Simon

In sozialen Systemen sind auf der mikroskopischen Ebene die unzähligen Interessen, Bedürfnisse, Empfindungen und Kommunikationen der einzelnen Mitglieder so miteinander vernetzt, dass sie sich gegenseitig beeinflussen. Aus diesen Wechselwirkungen bildet sich wie von selbst ein Ordner in Form von Normen und Regeln heraus, der das Verhalten des Einzelnen bindet und dessen Freiheitsgrade erheblich einschränkt. Aus dieser durch den Ordner gebundenen Dynamik auf der mikroskopischen Ebene entsteht auf der makroskopischen Ebene eine beobachtbare, relativ stabile Ordnung bzw. Struktur. Diese Struktur besteht aus den vom sozialen System hervorgebrachten sichtbaren Ritualen, Verhaltens- und Interaktionsmuster, die als „Artefakte“ der Kultur gelten und wiederum die Wahrnehmungen, Gedanken, Empfindungen und Verhaltensweisen des Einzelnen koordinieren und binden. Diese kulturelle Ordnung kann in ihrer relativen Stabilität durch innere und/oder äußere Einflüsse irritiert werden: entweder durch Veränderungen von Kontrollparametern des sozialen Systems oder durch Veränderung innerer und äußerer Randbzw. Rahmenbedingungen (. Abb. 11.3).  

..      Abb. 11.3  Kultur als Phänomen der Selbstorganisation

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Kontrollparameter sind dem sozialen System immanent und beeinflussen erheblich die Intensität und Qualität der Wechselwirkungen auf der mikroskopischen Ebene, woraus sich ein neuer Ordner herausbilden und in Zuge dessen die bestehende Ordnung sich in eine neue wandeln kann. Beispielsweise können in Organisationen folgende Parameter kritisch auf die relativ stabile Ordnung des sozialen Systems wirken: 55 das dauerhaft erlebte Klima wie z. B. von Wertschätzung, Respekt, Fairness und Vertrauen oder von Abwertung, Misstrauen und Missgunst; 55 die aktuell vorherrschende Atmosphäre wie Freude, Spannung oder Entspannung, Angst, Ärger, Druck, Stress und Überlastung oder Zuversicht oder Unsicherheit über die Zukunft des Unternehmens; 55 prägendes Führungsverhalten und durch dieses auch unausgesprochen vermittelt bestimmte Werte; 55 das Verhalten einflussreicher Mitarbeitenden; 55 bewusste oder nicht bewusste Entscheidungskriterien bzw. Entscheidungsprämissen. >>Jedoch sind die Kontrollparameter eines sozialen Systems nicht eindeutig bestimmbar oder zu verorten.

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Daneben wirken auf die mikroskopische Ebene äußere und innere Rahmenbedingungen. In Organisationen sind z. B. äußere Rahmenbedingungen 55 die strategische Ausrichtung der Organisation und die vorgegebenen Ziele, 55 die Organisationsform wie z. B. hierarchisch, Matrix oder Netzwerk, 55 definierte Arbeitsabläufe, 55 definierte Handlungs- und Entscheidungsräume, 55 festgelegte Standards und Richtlinien, 55 Raumstrukturen, 55 Beurteilungssysteme, 55 die formulierte Unternehmensphilosophie und daraus abgeleitete 55 „Gebote“ und „Verbote“ als präskriptive (vorschreibende) Regeln. Hintergrundinformation: „Gebote“ und „Verbote“ Nach Simon (2009, S.  51) definieren „Gebote“ und „Verbote“ den Handlungsspielraum, innerhalb dessen die Mitglieder eines sozialen Systems frei entscheiden können. Gebote initiieren bestimmte Akte, die sonst nicht vollzogen würden. Verbote führen zu Unterlassungen, d. h., sie verhindern, dass Unerwünschtes getan wird. Dabei ist der Verbindlichkeitsgrad solcher Gebote und Verbote unterschiedlich, denn die Mitglieder könnten sich auch immer anders Verhalten und die Erwartungen enttäuschen. In Organisationen hat das Nichtbeachten in der Regel Konsequenzen.

Innere Rahmenbedingungen sind z. B. 55 die gemeinsam erlebte Unternehmensgeschichte, 55 prägende Ereignisse oder gemeinsame Erlebnisse und Lernerfahrungen, 55 spürbare Einstellungen, Überzeugungen, Interessen, Bedürfnisse, 55 Führungs- und Machtansprüche.

229 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

Insbesondere die äußeren Rahmenbedingungen können je nach Detaillierung, Standardisierung, Ausprägung und Verpflichtung die Mitarbeitenden in ihrem Verhalten mehr oder weniger einschränken und somit vorweg die Selbstorganisation in bestimmte Bahnen lenken. Im Hinblick auf die inneren Rahmenbedingungen haben Personalentscheidungen einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung einer erwünschten Kultur. Hier könnte es förderlich sein, nicht unbedingt die „besten“ Mitarbeitenden im Sinne von „Zeugnissen“, sondern die „richtigen“ Mitarbeitenden im Sinne der erwünschen Werte für die erwünschte Ausrichtung der Kultur zu gewinnen: Welche Einstellungen, Überzeugungen, Interessen, Bedürfnisse sind für die erwünschte Entwicklung unsere Kultur erforderlich und förderlich? Aus diesen äußeren und inneren Rahmenbedingungen bilden sich Kontrollparameter heraus wie z.  B. prägendes Führungs- oder Mitarbeiterverhalten oder eine emotionale Atmosphäre wie Unsicherheit, Angst, Druck, Freude, Zusammenhalt oder Leichtigkeit. Die Stabilität des dynamischen Gleichgewichtes steht nun in unmittelbarer Wechselwirkung mit den Kontrollparametern. Beispielsweise könnte das Gleichgewicht ins Schwanken geraten, wenn das Unternehmen in eine Liquiditätskrise gerät und infolgedessen das Führungsverhalten und die emotionale Atmosphäre sich plötzlich wandeln. Oder eine veränderte Raumstruktur könnte plötzlich ein Klima von Konkurrenz und Missgunst hervorbringen. Oder allein schon die Kündigung einer einflussreichen Mitarbeiterin könnte destabilisierend wirken, weil uns das „soziale Gewissen“ oder die „gute Seele“ verloren geht oder wir diese „Ellenbogenmentalität“ losgeworden sind. Diese Phasen der Instabilität sind durch auffällige Fluktuationen bzw. Abweichungen von den etablierten Verhaltens- und Handlungsmustern gekennzeichnet. Aus diesen Abweichungen könnte sich ein neuer Ordner in Form von neuen Normen oder Regeln auf der mikroskopischen Ebene herausbilden, der die Elemente in seine Dynamik einbindet, wodurch auf der makroskopischen Ebene andere Rituale, Verhaltens- und Interaktionsmuster entstehen und sich mit der Zeit festigen. Oestereich und Schröder (2019) beschreiben im Zusammenhang von „agiler Organisationsentwicklung“ dieses Phänomen des plötzlichen Wandels als „kulturbildende Momente“. Dort werden diese wie folgt konkretisiert: Definition „Ein kulturbildendes Moment ist eine überraschende Situation in einer Gemeinschaft, in der die Beteiligten mit hoher Aufmerksamkeit verfolgen, was nun passiert, um daraus ein Erfahrungsmuster für die Zukunft abzuleiten“ (Oestereich & Schröder, 2019, S. 191).

Die Bedeutung von Führungsverhalten Führungskräfte haben die Möglichkeit, über Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen oder unmittelbar durch ihr Verhalten das Gleichgewicht des sozialen Systems zu beeinflussen. Dabei ist es erforderlich, über einen gewissen Zeitraum das neue Verhalten in merklicher Form dauerhaft und gleichbleibend zu zeigen, sodass

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dieses für die Mitarbeitende als konstanter Unterschied bzw. als dauerhafte Abweichung zum Bisherigen erlebbar wird. Gerade in Phasen der Unsicherheit scheinen die Mitarbeitenden besonders sensibel und empfänglich für das Verhalten und den zwischenmenschlichen Umgang der Führungskräfte und insbesondere des direkten Vorgesetzten zu sein. Ehrlich, transparent, ausgewogen und fair sein, Einbeziehung und Mitwirkung sowie Loyalität und Wohlwollen sind Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Dabei ist es entscheidend, dass diese Werte nicht von außen aufgesetzt, sondern von innen aus ureigener Überzeugung (vor-)gelebt werden. Es geht darum, authentisch zu sein. Ansonsten artet das Verhalten in künstlichem Getue aus, woraus nicht Glaubwürdigkeit und Vertrauen erwachsen, sondern vielmehr das Gegenteil: Zynismus, Sarkasmus und Misstrauen. Daneben scheinen Zuversicht in die Zukunft und Zutrauen in die Mitarbeitenden weitere wesentliche Grundhaltungen für die Prägung eines positiven und entwicklungsfördernden Klimas zu sein. Zusammenfassung und Fazit

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55 Organisationen werden als lebende Systeme verstanden, die sich durch Veränderung und Entwicklung ihrer sich stetig verändernden Umwelt anpassen, um ihre Existenz und Lebensfähigkeit zu sichern. 55 Dabei ist eine sinn- und identitätsstiftende Kultur für den langfristigen Erfolg von Organisationen erforderlich. Eine Kultur, die die Zugehörigkeit, sachliche Einbindung und emotionale Bindung der Mitarbeitenden fördert, um die Leistungsbereitschaft, Eigeninitiative und Verantwortung der Menschen zu stärken. 55 Kultur ist ein Phänomen der Selbstorganisation, welches aus den Interaktionen und Wechselwirkungen der Menschen innerhalb der Organisation fortlaufend von selbst hervorgeht und nicht in ihrer Ausprägung direkt bestimmt werden kann. 55 Werte bilden den Wesenskern einer Organisationskultur und prägen das Identitätsbewusstsein. Sie prägen die Art und Weise, wie Menschen arbeiten, miteinander umgehen und kooperieren, und haben einen erheblichen Einfluss auf das Befinden und Empfinden des Einzelnen. 55 Die Entwicklung von Kultur ist unmittelbar mit der Entwicklung der ihr zugehörigen Menschen verknüpft. Dabei haben die Führungskräfte einen prägenden Einfluss auf die Kultur und sollten eng in den Entwicklungsprozess eingebunden werden. 55 Nach den Prinzipien der Selbstorganisation sind innere und äußere Rahmenbedingen wesentliche Einflussmöglichkeiten, aus denen sich Parameter für die erwünschte Entwicklung der Kultur ergeben können.

Literatur Häfele, W. (Hrsg.). (2009). OE-Prozesse initiieren und gestalten (2. Aufl.). Haupt. Haken, H., & Schiepek, G. (2010). Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten (2. Aufl.). Hogrefe. Hülshoff, T. (2010). Über den Zusammenhang von Lernen, Persönlichkeitsentwicklung und Führungskultur im betriebs- und führungspädagogischen Kontext. In C. Negri (Hrsg.), Angewandte Psychologie für Personalentwicklung. Konzepte und Methoden für Bildungsmanagement, betriebliche Ausund Weiterbildung (S. 70–80). Springer.

231 Organisationskultur und Kulturentwicklung aus systemischer Perspektive

Kiel, V. (2020). Analoge Verfahren in der systemischen Beratung. Ein integrativer Ansatz für Coaching, Team- und Organisationsentwicklung. V&R. Kiel, V., & Ewald, P. (2014). Systemische Impulse als Beitrag für die Kulturentwicklung im Rahmen eines Führungsprogramms bei der Swisscom AG.  In D.  Eberhardt (Hrsg.), Unternehmenskultur aktiv gestalten (S. 117–129). Springer. König, E., & Volmer, G. (2008). Handbuch systemische Organisationsberatung. Beltz. Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Former der Zusammenarbeit. Vahlen. Landau, D. (2003). Unternehmenskultur und Organisationsberatung. Über den Umgang mit Werten in Veränderungsprozessen. Carl-Auer Systeme. Oestereich, B., & Schröder, C. (2019). Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. Vahlen. Parsons, T. (1967). The structure of social action. The Free Press. Probst, G.  J. B. (1987). Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht. Paul Parey. Sackmann, S. (2017). Unternehmenskultur: Erkennen – Entwickeln – Verändern. Erfolgreich durch kulturbewusstes Management (2. Aufl.). Springer. Schein, E. D. (1997). Unternehmenskultur. Ein Handbuch für Führungskräfte. Campus. Schiepek, G., Eckert, H., & Kravanja, B. (2013). Grundlagen systemischer Therapie und Beratung. Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen. Hogrefe. von Schlippe, A., & Schweitzer, J. (1996). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. V&R. Schmidt, G. (2008). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung (2. Aufl.). Carl-Auer Systeme. Simon, F. (2009). Einführung in die systemische Organisationstheorie. Carl-Auer. Strunk, G., & Schiepek, G. (2006). Systemische Psychologie. Einführung in die komplexen Grundlagen menschlichen Verhaltens. Spektrum.

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Kündigungen und Trennungskultur Daniel Nordmann und Claudia Beutter Inhaltsverzeichnis 12.1

Trennungskultur – 234

12.2

Betriebsbedingte Kündigung – 234

12.3

Individuelle Kündigung – 235

12.4

Fristlose Kündigung – 235

12.5

Kündigung durch Arbeitnehmende – 236

12.6

Individuelle Kündigungen aussprechen – 236

12.6.1 12.6.2 12.6.3 12.6.4 12.6.5 12.6.6

 erantwortlichkeiten und Rollen – 236 V Vorbereitung und begleitende Maßnahmen – 236 Inhaltliche Vorbereitung des Gesprächs – 237 Organisatorische Vorbereitung des Gesprächs – 238 Verlauf des Gesprächs – 238 Reaktion der Betroffenen – 239

12.7

Begleitung der Betroffenen – 240

12.8

Verbleibende – 240 Literatur – 241

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_12

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234

D. Nordmann und C. Beutter

Die Kündigung von Angestellten ist fair zu gestalten und ihr Austritt wertschätzend umzusetzen. Dies sicherzustellen ist eine der wichtigen Aufgaben der Verantwortlichen des Human Resource Managements (HRM). Alle Schritte des Trennungsprozesses sind professionell vorzubereiten und umzusetzen. Im nachfolgenden Beitrag werden die Vorbereitung, Durchführung und die Begleitung der Gekündigten beschrieben und Empfehlungen formuliert. Im Fokus steht die Rolle des HRM bei individuellen Kündigungen von Angestellten durch das Unternehmen.

12.1 

Trennungskultur

Die Trennungskultur spiegelt die Unternehmenskultur in einem kritischen Moment des Führungsalltags. Sie umfasst „die Summe aller Regeln und Maßnahmen, die zu Fairness und Professionalität bei Trennungen und Veränderungen in der Unternehmung führen“ (Andrzejewski & Refisch, 2015, S. 29). Es gilt, sie gleichzeitig mit Führungsleitlinien und personalpolitischen Konzepten festzulegen. Denn jede Kündigung, sei sie individuell oder betriebsbedingt, hat auch eine starke Ausstrahlung auf die verbleibenden Angestellten. Sowohl der Entscheid als auch Art und Weise, wie Kündigungen umgesetzt werden, zeigen, wie das Unternehmen in kritischen Situationen mit Angestellten umgeht. Damit bestätigen oder dementieren die Verantwortlichen in eindrücklicher Weise die definierten Werte und die Unternehmenskultur. Definition

12

Für eine gute Trennungskultur kann kurz und prägnant wie folgt formuliert werden, dass: 55 „Trennungen und Veränderungen mit geringstmöglichen Verletzungen der Persönlichkeit der Menschen und mit den geringstmöglichen Schäden für das Unternehmen einhergehen, 55 Menschen gesund und stabil aus den Veränderungen hervorgehen, 55 alle Maßnahmen so gestaltet werden, dass sie der Würde des Menschen gerecht werden.“ (Andrzejewski & Refisch, 2015, S. 29)

12.2 

Betriebsbedingte Kündigung

Bei betriebsbedingten Kündigungen ist meist eine größere Zahl von Angestellten betroffen. Überschreitet dies eine Mindestzahl, spricht der Gesetzgeber von einer Massenentlassung und regelt ein zwingendes Vorgehen (Streiff et  al., 2012, Art. 335 ff.). Der Autor und die Autorin dieses Kapitels beschreiben Trennungsmanagement bei Kollektiventlassungen in einem Handbuch für Führungskräfte (Nordmann & Beutter, 2019, S.  587  ff.) Wichtig ist, dass bereits bei der Erwägung solcher Maß-

235 Kündigungen und Trennungskultur

nahmen das HRM beigezogen wird. Von Beginn an und insbesondere für die Umsetzung müssen die Rollen und Aufgaben vom CEO bis hin zum Basiskader von den HRM-­ Verantwortlichen, HRM-Fachleuten und anderen Querschnittsfunktionen präzise vereinbart werden. Solche Vorhaben sind ein Teil des Change-Managements und müssen als professionell geführtes Unternehmensprojekt geplant und umgesetzt werden.

12.3 

Individuelle Kündigung

Kommt es zu Kündigungen aus leistungs- oder verhaltensbedingten Gründen, haben diese eine dokumentierte Vorgeschichte (Führungs- und Jahresgespräche, Zielvereinbarungen, Ermahnungen oder Verwarnungen). Überraschende individuelle Kündigungen wären, von fristlosen Kündigungen abgesehen, Ausdruck einer unprofessionellen Führung. Erfolgen Kündigungen im Hinblick auf fehlende fachliche Kompetenzen in Bezug auf veränderte Anforderungen, gehen der Kündigung erfolglose Weiterbildungs- oder andere Entwicklungsmaßnahmen voran. Bei leistungsbedingten Entlassungen gehen ebenfalls vereinbarte Maßnahmen voraus, die nicht zur Zielerreichung geführt haben. Verhaltensbedingte Kündigungen erfolgen nach wiederholten, dokumentierten und angemahnten Vorfällen. Diese können das persönliche Verhalten, dasjenige im Team oder in kollaborativen Situationen (Projekte, Gruppen) betreffen. Vielfach betrifft es die Beziehung mit neuen Vorgesetzten. Auch in dieser Situation gilt: Bei ersten Vorfällen sind Entwicklungsmaßnahmen zu besprechen, zu vereinbaren, umzusetzen und auszuwerten. Der einfache Spruch „Die Chemie stimmt nicht“ ist keine faire Basis, auf der eine mehr- oder gar langjährige Anstellung ohne Entwicklungschance beendet werden kann.

12.4 

Fristlose Kündigung

Arbeitgebende und Arbeitnehmende können auch fristlos kündigen. Der Anwendung dieser außerordentlichen Maßnahme sind gesetzliche und durch eine ausführliche Gerichtspraxis enge Grenzen gesetzt. Das Instrument stellt quasi den letzten Ausweg in einer konkreten Krise dar. Voraussetzungen sind besonders schwere Ereignisse oder fortgesetzte Vertragsverletzungen nach schriftlichen Mahnungen oder allenfalls einer Kündigungsandrohung. Die fristlose Kündigung muss unmittelbar erfolgen, nachdem die kündigende Partei vom angeführten Grund erfährt. Zeit nehmen kann sich die Partei noch für die erforderlichen Abklärungen (Streiff et al., 2012, 337 N17). Der Beizug einer juristischen Fachberatung ist bei einer fristlosen Kündigung angezeigt.

12

236

D. Nordmann und C. Beutter

12.5 

Kündigung durch Arbeitnehmende

Kündigen Angestellte das Arbeitsverhältnis, hat sich die Reaktion von Vorgesetzten und HRM-Fachleuten ebenfalls an der Trennungskultur zu orientieren. Respekt, Wertschätzung und Fairness müssen auch diesen Austrittsprozess leiten. Ein strukturiertes Austrittsinterview ermöglicht meist, wichtige Rückschlüsse auf die Situation des Unternehmens oder auf eine konkrete Einheit der Organisation zu ziehen.

12.6 

Individuelle Kündigungen aussprechen

Vor dem Aussprechen der Kündigung müssen Vorbereitungen getroffen, Verantwortlichkeiten geklärt und das Gespräch geplant werden. 12.6.1 

12

Verantwortlichkeiten und Rollen

Die geteilte Verantwortung zwischen den Vorgesetzten und dem HRM muss klar definiert werden. Der Entscheid, Angestellte zu kündigen, liegt unter Einhaltung betrieblicher Regelungen in der Verantwortung der zuständigen Linienverantwortlichen. Das HRM ist zuständig für die Vorbereitung des Entscheids, die Vorbereitung der oder des Vorgesetzten auf das Kündigungsgespräch und den Prozess bis zum Austritt der gekündigten Person. Das Kündigungsgespräch ist durch die oder den direkten Vorgesetzten idealerweise unter vier Augen zu führen (Doppler & Lauterburg, 2019, S. 145 ff.). In der Schweiz ist der Beizug von Zeugen nicht notwendig. Die schriftliche Kündigung wird ausgehändigt oder zugestellt. Das HRM führt nach dem Kündigungsgespräch der Vorgesetzten ein sogenanntes Auffanggespräch. Dieses klärt Fragen und kümmert sich um Anliegen der Betroffenen. Das HRM steht den Gekündigten für Rückfragen und Anliegen bis zum Austritt und darüber hinaus mit einer definierten Kontaktperson zur Verfügung. 12.6.2 

Vorbereitung und begleitende Maßnahmen

Das HRM stellt sicher, dass die persönlichen Angaben und der vorausgegangene Führungsalltag im Personaldossier vollständig dokumentiert sind. Das professionelle Führen von Kündigungsgesprächen ist im Rahmen der Weiterbildung von Vorgesetzten vorzubereiten und zu trainieren. Begleitende Maßnahmen, die bei Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen in einem Sozialplan geregelt werden, sind zumindest in Teilen auch bei einer individuellen Kündigung zu prüfen. Dabei sollen, von vorzeitigen Pensionierungsmöglichkeiten abgesehen, die Vorbereitung und die Unterstützung des Wiedereintrittes in den Arbeitsmarkt im Fokus stehen. Idealerweise wird Betroffenen unter Beizug externer Fachleute eine professionelle Standortbestimmung ermöglicht. Zudem sind sie im Erstellen zeitgemäßer Bewerbungsunterlagen zu schulen. Schließlich haben sie auch den Auftritt auf dem

237 Kündigungen und Trennungskultur

Arbeitsmarkt zu trainieren. Für Angestellte ab 50 Jahren empfiehlt es sich, die Durchführung eines 3- bis 9-monatigen Outplacements zu finanzieren (Reemts Flum & Nadig, 2015, S. 117 ff.). Bei Trennungen geht es hoch emotional zu. Trennungsgespräche sind auch für Führungskräfte eine Ausnahmesituation. Es gelten im Grundsatz die gleichen Vorbereitungsregeln wie für Führungsgespräche. Weil es sich um eine verletzende Botschaft handelt, ist die Wertschätzung besonders zu beachten. Ein Kündigungsgespräch stützt sich ausschließlich auf nachvollziehbare, dokumentierte Fakten aus dem Führungsprozess. Keinen Platz haben Begründungen, die sich auf Gehörtes beziehen. Die Vorgesetzten müssen in der Vorbereitung zudem ihre eigene Gefühlswelt sortieren und reflektieren: 55 Die Reaktionen der Betroffenen sind in dieser Ausnahmesituation nicht leicht einschätzbar. 55 Vorgesetzte müssen aushalten, dass in dieser Situation keine Harmonie möglich ist. 55 Der Verlust der Stelle beinhaltet für Betroffene viele weitere Verluste: Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen, finanzielle Sicherheit, berufliches Selbstverständnis, Laufbahnvorstellungen, Anerkennung der Fachkompetenz, Status und Selbstwert. 55 Der Stellenverlust zählt darum zu den zehn belastendsten Lebenserfahrungen eines Menschen (Holmes & Rahe, 1980, S. 164). 12.6.3 

Inhaltliche Vorbereitung des Gesprächs

HRM und die linienvorgesetzte Person, die das Gespräch führen wird, klären 55 ihre Haltung und die Prioritäten für das Gespräch; 55 das Wissen über Familienstand, Geburtstag, allfällige Jubiläen der betroffenen Person im Unternehmen; 55 die Kenntnis über die Personalakte (Abmachungen, Weiterbildungsbeiträge etc.); 55 das Festhalten der Inhalte des Kündigungsgesprächs; 55 die Begründung der Kündigung und den Inhalt des Kündigungsschreibens; 55 den Inhalt allfälliger begleitender Maßnahmen; 55 die Formulierung der ersten fünf Sätze und die spezielle Bedeutung des Tons und der Körpersprache (und das Üben dieser Punkte); 55 die möglichen Reaktionen der Betroffenen; 55 mögliche Freistellung/Freistellungsregelung und allenfalls einen Aufhebungsvertrag; 55 den Umgang mit offenen Fragen; idealerweise werden diese durch die Vorgesetzten entgegengenommen, vom HRM gesammelt, geklärt und danach Vorgesetzte und Betroffene informiert; 55 die Information über die Kündigung an andere Vorgesetzte, Arbeitskolleginnen und -kollegen, die Kundschaft, Lieferanten und Geschäftspartnerinnen und -partner.

12

238

D. Nordmann und C. Beutter

12.6.4 

12

Organisatorische Vorbereitung des Gesprächs

55 Trennungsgespräche sind im Büro der Vorgesetzten durchzuführen. Existiert keines, sollten sie in einem angenehmen Raum stattfinden, wo ungestört geredet werden kann und die Betroffenen weder ausgestellt noch vorgeführt werden. 55 Klären, wie gewährleistet wird, dass heikle oder sensible Daten umgehend gesichert werden können und ein Zugriffsrecht auf vertrauliche Daten umgehend gelöscht wird. 55 Den Gesprächstermin nicht vor Wochenenden, Feiertagen, Ferien festlegen, sondern vorzugsweise gegen Mitte der Woche vormittags. 55 Definieren der Unterlagen, die von der vorgesetzten Person und vom HRM abgegeben werden. 55 Kurzfristige Ankündigung des Vorgesetzten-Gespräches. 55 Die Gesprächsführung kann von der vorgesetzten Person nicht an andere Personen delegiert werden. Das Gespräch erfolgt in der Regel wie Führungsgespräche unter vier Augen. 55 In Ausnahmesituationen kann es Gründe für eine Begleitung beim Kündigungsgespräch geben. Beispielsweise, wenn es im Vorfeld zu einem massiven Vertrauensbruch in der Führungsbeziehung gekommen ist, wenn tätliche Angriffe wahrscheinlich sind oder wenn die betroffene Person dies selbst ausdrücklich wünscht. Auch in dieser Situation liegt die Gesprächsführung bei der Führungskraft. 55 Wird von der gekündigten Person eine Bestätigung der Entgegennahme der Kündigung verlangt, darf darin keine Formulierung enthalten sein, die das „Akzeptieren“ der Kündigung beinhaltet. Die betroffene Person muss die Kündigung rechtlich prüfen lassen können. 55 Im Anschluss an das Gespräch werden Betroffene zur verantwortlichen HRM-­ Person begleitet, die ein Auffanggespräch führt. 12.6.5 

Verlauf des Gesprächs

Die Gesprächseröffnung ist kurz zu halten. Die Mitarbeitenden sollen ankommen können, ohne Smalltalk hören oder gar führen zu müssen. Die Kündigung/Trennung ist in den ersten fünf Sätzen unmissverständlich auszusprechen. Wer gut vorbereitet ist, braucht deutlich weniger Zeit, als dies spontan angenommen wird. Die Botschaft ist in wenigen Sätzen vermittelt. Vorgesetzte dürfen sich keinesfalls zu ihrem eigenen Befinden äußern (weder bezogen auf den Moment noch auf die vorangegangene Zeit). Die Betroffenen erhalten genügend Zeit, um auf die Kündigungsansage zu reagieren. Emotionale Reaktionen müssen ausgehalten werden: Günstig ist, aufmerksam zuzuhören und das Gegenüber wissen zu lassen, dass jede Reaktion (ausgenommen eine gewalttätige) okay ist. Auf Fragen braucht es entweder ruhige, sachliche Antworten oder den Hinweis, dass Abklärungen notwendig sind und die Antwort vom HRM folgen wird.

239 Kündigungen und Trennungskultur

12.6.6 

Reaktion der Betroffenen

Die Reaktionen der Betroffenen sind von Person zu Person unterschiedlich. Nachfolgende Beschreibungen sollen helfen, sich anhand von Typisierungen auf verschiedene Ausprägungen vorzubereiten. Sie basieren auf Ausführungen von Andrzejewski und Refisch (2015) sowie Ledergerber (2009). Es ist davon auszugehen, dass keine reinen Typenreaktionen vorkommen. z Geschockte

Die Geschockten benennen ihren Schock („Das darf nicht sein!“) oder reagieren völlig blockiert (Schweigen Zittern, Tränen, Erblassen, etc.). Reaktionsmöglichkeiten der vorgesetzten Person: Emotionen zulassen, Pause machen und Schweigen aushalten, Verständnis für die Reaktion ausdrücken; Botschaft nochmals langsam und in einfachen Worten wiederholen; die nächsten Schritte einfach und klar erläutern, schriftlich abgeben. Dann die Person sich sammeln und emotionelle Reaktionen (Röte etc.) abklingen lassen und sie dann zu der oder dem HRM-Verantwortlichen zum Auffanggespräch begleiten. z Selbstbeherrschte

Sie zeigen keine oder kaum Anzeichen von Betroffenheit und wirken (scheinbar) „cool“, professionell, stark. Diese Mitarbeitenden haben sich sehr gut unter Kontrolle oder mit der Kündigung gerechnet. Innerlich kann es bei den Betroffenen oft ganz anders aussehen. Reaktionsmöglichkeit der vorgesetzten Person: Das Gegenüber ansehen und Offenheit für Reaktionen signalisieren; nachfragen, um herauszufinden, was bei der Mitarbeiterin angekommen ist; dem Gespräch eine klare Struktur geben (worum geht es heute noch, was ist offen, wie geht es wann weiter). Die Person erst zur HRM-­ Verantwortlichen begleiten, wenn klar ist, dass die Trennungsbotschaft wirklich ankam. z Aufbrausende

Sie bringen ihre Überraschung, Wut oder Verärgerung spontan zum Ausdruck und argumentieren oder lamentieren. Damit verschaffen sie ihrer Erregung Luft. Möglicherweise attackieren sie Vorgesetzte oder das Management verbal und machen persönliche Vorwürfe. Reaktionsmöglichkeit der vorgesetzten Person: Genügend Zeit lassen, damit dem Ärger Luft gemacht werden kann; signalisieren, dass die emotionale Reaktion okay ist; sachlich in der Sprache die Botschaft wiederholen. Die Vorgesetzten machen sich die eigenen Emotionen bewusst und behalten einen klaren Kopf. z Verhandelnde

Die Betroffenen zeigen keinen emotionalen Schock bzw. keine emotionale Reaktion (weil ihre Persönlichkeit so ist oder sie mental vorbereitet sind). Sie vermitteln den Eindruck, als hätten sie bereits einen anderen Job „in der Tasche“; möglicherweise hören sie aufmerksam zu und beginnen danach sofort zu verhandeln.

12

240

D. Nordmann und C. Beutter

Reaktionsmöglichkeit der vorgesetzten Person: Freundlich und verbindlich die Botschaft wiederholt erläutern, vielleicht mit mehr Hintergrund, Information und dann das weitere Vorgehen festhalten; Fragen soweit möglich beantworten; die offenen Fragen festhalten und eine Beantwortung durch HRM sicherstellen.

12.7 

Begleitung der Betroffenen

Die HRM-Verantwortlichen begleiten und unterstützen die Betroffenen. Zwingend ist, dass die Betroffenen nach der Kündigung umgehend ein Zwischenzeugnis erhalten, um für Bewerbungen gerüstet zu sein. Maßnahmen zur Vorbereitung der Stellensuche (Standortbestimmung, Schulung Bewerbungsschreiben u.  a., vgl. 7 Abschn. 12.6.2) sind umgehend einzuleiten. Anzusprechen ist auch, dass sich die Betroffenen überlegen, wie sie sich von ihren Kolleginnen und Kollegen verabschieden wollen. Ihr Wunsch ist, sofern irgend möglich, umzusetzen. Sollten Betroffene gegen die Kündigung klagen, darf dies auf den Verlauf keinen negativen Einfluss haben. Ein professionelles HRM betrachtet dies als Überprüfung der Kündigung, was den Betroffenen zusteht. Sollten Gekündigte krank werden, sind sie von Beginn an vom betrieblichen Case-Management zu begleiten.  

12.8 

12

Verbleibende

Die Information der Kolleginnen und Kollegen sowie der „betrieblichen Öffentlichkeit“ ist idealerweise zwischen HRM und den Betroffenen zu vereinbaren. Der Text soll sehr kurz, fair und wertschätzend sein. Kommt keine schriftlich vereinbarte Kommunikation zustande, ist eine angemessene, kurze Kommunikation trotzdem notwendig. Sonst werden zum Schaden der Betroffenen und des Unternehmens Gerüchte „informieren“. Der Inhalt einer einseitigen Kommunikation muss ebenfalls fair und wertschätzend verfasst werden. Ihr sind aus datenschutzrechtlichen Gründen jedoch engste Grenzen gesetzt. Die Kolleginnen und Kollegen und je Stellung der betroffenen Person auch weitere Kreise darüber hinaus werden genau hinschauen, wie sich das Unternehmen bei der Kündigung verhält und wie die Führungskräfte mit der betroffenen Person umgehen. Sie werden es als Muster nehmen, wie es ihnen auch einmal ergehen könnte. Werden die Kündigung und der Trennungsprozess als nicht hinreichend fair und nachvollziehbar erlebt, wird das Konsequenzen haben. Beispielsweise ist eine mit der Zeit wachsende Fluktuation zu erwarten. Die Erkenntnisse aus der Forschung über die Verbleibenden („Survivors“) bei Massenentlassungen sind wohl im übertragenen Sinne anwendbar (Weiss & Udris, 2001).

241 Kündigungen und Trennungskultur

Praxistipps

Im Vorgehen bei einer ordentlichen Kündigung spiegelt sich die Unternehmenskultur. Es ist fair und erfolgt nicht überraschend. Dem Entscheid der vorgesetzten Person voraus geht ein längerer, dokumentierter Führungsprozess. Dabei waren die getroffenen Maßnahmen nicht erfolgreich. HR sichert die professionelle Vorbereitung: vollständiges Personaldossier und individuelle Vorbereitung der direkt vorgesetzten Person. Eine ordentliche Kündigung erfolgt nie am Freitag oder vor Feiertagen. Sie wird unter vier Augen von der direkt vorgesetzten Person in deren Büro oder einem entsprechenden Raum ausgesprochen und kurz und klar begründet. Die vorgesetzte Person spricht bei der Kündigung weder über „Bedauern“ noch über die eigene Befindlichkeit. Sie hört der Reaktion des Vis-à-Vis ohne Kommentar und Gegenrede zu und nimmt davon Kenntnis. Fragen beantwortet die vorgesetzte Person, sofern sie sich bei der Antwort 100 % sicher fühlt. In der Regel verweist sie auf eine Abklärung und den Bericht durch HR. Die HR-Verantwortliche holt die betroffene Person nach dem kurzen Gespräch ab. Sie bespricht mit ihr die Situation. Auch wenn sie Verständnis über deren Reaktion zeigt, distanziert sie sich nicht vom Entscheid der vorgesetzten Person. Die HR-Verantwortliche informiert über das weitere Vorgehen. Sie begleitet und unterstützt die betroffene Person bis zu deren Austritt. Spätestens dann händigt sie das Zeugnis aus und bespricht eine allfällige Begründung gegenüber der Arbeitslosenversicherung.

Fazit Trennungsprozesse sind nicht Alltag für HRM und Vorgesetzte. Die speziellen Aufgaben und Rollen von Vorgesetzten und HRM müssen konkret besprochen und definiert werden. Jeder Trennungsprozess muss sorgfältig und umsichtig vorbereitet werden. Dazu gehört auch, die Vorgesetzten für die außerordentliche Aufgabe zu sensibilisieren und zu trainieren. So besteht die Chance, den belastenden Prozess für die Betroffenen fair zu gestalten und wertschätzend umzusetzen. Die Basis für das Vorgehen bildet eine formulierte Trennungskultur, die sich aus den Unternehmenswerten ableitet. Ist dies in der Umsetzung einer Kündigung sowohl für die Betroffenen als auch für die Verbleibenden erkennbar, werden die Werte im Unternehmen gestärkt.

Literatur Andrzejewski, L., & Refisch, H. (2015). Trennungs-Kultur und Mitarbeiterbindung (4. Aufl.). Luchterhand. Doppler, K., & Lauterburg, C. (2019). Change management (14. Aufl.). Campus. Holmes, T. H., & Rahe, R. H. (1980). Social rejustment rating scale. In H. Katschnig (Hrsg.), Sozialer Stress und psychologische Erkrankung. Urban und Schwarzenberg. Ledergerber, K. (2009). Trennungsmanagement. Praxium. Nordmann, D., & Beutter, C. (2019). Trennungsprozesse gestalten. In E. Lippmann et al. (Hrsg.), Handbuch für Angewandte Psychologie für Führungskräfte (5. Aufl.). Springer. Reemts Flum, B., & Nadig, T. (2015). „50plus“ – Neuorientierung im Beruf. Ringier Axel Springer.

12

242

D. Nordmann und C. Beutter

Streiff, U., von Kaehnel, A., & Rudolph, R. (2012). Arbeitsvertrag: Praxiskommentar zu Art. 319-362 OR (7. Aufl.). Schulthess. Weiss, V., & Udris, I. (2001). Downsizing und Survivors: Stand der Forschung zum Leben und Überleben in schlanken und fusionierten Organisationen. Arbeit, 10(2), 103–112. https://doi.org/10.1515/ arbeit-­2001-­0202

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243

Neue Arbeitswelten Inhaltsverzeichnis Kapitel 13 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit – 245 Birgit Werkmann-Karcher, Michael Zirkler, Lukas Windlinger und Clara Weber Kapitel 14 Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden – 281 Imke Knafla und Carmen Keller Kapitel 15

Neue Formen der Führung – 295 Andres Claudius Pfister

Kapitel 16

Agilität in Organisationen – 307 Michael Zirkler und Birgit Werkmann-Karcher

Kapitel 17

Organisationale Selbsterneuerung – 329 Peter Kels und Bojana Aleksic

Kapitel 18

People Analytics in der Praxis – 343 Silvan Winkler, Rafael Huber und Dirk U. Wulff

III

245

Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit Birgit Werkmann-Karcher, Michael Zirkler, Lukas Windlinger und Clara Weber Inhaltsverzeichnis 13.1

Flexibilisierung in der Dimension Raum – 248

13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4

 äumliche Flexibilisierung – 248 R Bürotypen – 250 Die verschiedenen Ebenen der Büroumgebung – 251 Virtuelle Räume und Kommunikationsräume – 255

13.2

Flexibilisierung in der Dimension Zeit – 261

13.2.1

Arbeitszeitmodelle und Definitionen – 261

13.3

Mobil-flexibles Arbeiten aus personalpsychologischer Perspektive – 264

13.3.1 13.3.2

 orwiegend positive Effekte – 264 V Herausforderungen – 266

13.4

 estaltungsempfehlungen auf verschiedenen G Ebenen – 269

13.4.1 13.4.2 13.4.3

 rganisation – 269 O Aufgabe – 273 Individuum (Person) – 273

Literatur – 275

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_13

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246

B. Werkmann-Karcher et al.

Die Flexibilisierung der Arbeit findet wesentlich in räumlichen und zeitlichen Dimensionen statt. Insbesondere in den Bereichen der Wissensarbeit sind mithilfe digitaler Mittel Flexibilisierungen möglich. Sie ziehen jedoch verschiedene psychologische, soziale und organisatorische Konsequenzen nach sich, die insgesamt den Charakter der Arbeit verändern. Entsprechende Arbeitsmodelle versuchen, den veränderten Anforderungen und Bedingungen gerecht zu werden. Sie müssen komplexe und teilweise widersprüchliche Bedürfnisse und Aspekte von Individuen, Teams, Organisationen und weiteren Anspruchsgruppen adressieren. Diese werden im Beitrag ausführlich diskutiert und mit Gestaltungshinweisen versehen.

Mit der Flexibilisierung von Arbeit ist eine Beweglichkeit, eine Abweichung von einer Norm gemeint, in der lange Zeit gleiche Arbeitsmodelle für einen Großteil von Arbeitnehmer:innen als selbstverständlich galten. Diesem „One model fits all“-Denken entsprechen das Standard-Schichtarbeitsmodell der Industrieproduktion und vielleicht mehr noch der klassische „9 to 5“-Bürojob, der zwar niemals für alle gegolten hat, aber dennoch das Bild vom Arbeitsleben in industrialisierten Ländern ausdrückt. Ausnahmen davon gab es schon immer, so z. B. kurzfristige Springereinsätze oder die mobil-flexiblen Arbeitseinsätze von Außendienstler:innen. Diese Flexibilität aber war eher tätigkeitsbedingte Ausnahme denn ein Breitenprogramm. Seit den 1980er-Jahren allerdings wurde die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen als systematische Managementantwort auf zunehmend volatile Wirtschaftsbedingungen entdeckt: So kann eine numerische Flexibilität durch Auslagerung oder Befristung von Arbeitseinsätzen dazu beitragen, dass die Personalkosten variabel gehalten werden können. Funktionale Flexibilität wird erreicht, indem Mitarbeiter:innen ihr Kompetenzprofil durch Training erweitern können und dadurch andere Aufgaben und neue Rollen übernehmen können. Finanzielle Flexibilität schließlich wird durch variable Vergütungsanteile gesteigert. Die wohl prominentesten Dimensionen im Kontext der neuen Arbeitswelt schließlich sind die räumliche und zeitliche Flexibilität. . Tab. 13.1 fasst die fünf Dimensionen arbeitsplatzbezogener Flexibilität zusammen (vgl. Reilly, 1998).  

13

.       Tab. 13.1  Typologie der Arbeitsplatzflexibilität. (nach Reilly, 1998) Dimension

Beschreibung

Numerische Flexibilität

Variationen in der Beschäftigtenzahl

Funktionale Flexibilität

Variation in Arbeitseinsatz und Aufgabenallokation

Zeitliche Flexibilität

Variationen in den Arbeitszeiten (formell und informell)

Räumliche Flexibilität

Variationen im Ort der Leistungserbringung

Finanzielle Flexibilität

Flexibilität in den Lohnkosten

247 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

Als neuere, sechste Dimension wird die Flexibilität über die gesamte Spanne des Arbeitslebens diskutiert. Sie ist Ausdruck individueller Wünsche und Möglichkeiten, das geeignete Maß an Arbeit in die eigene Lebensgestaltung zu bringen. Bedürfnisse nach verlängerten, unterbrochenen oder verkürzten Arbeitsphasen im Leben können durch verschiedene Modelle realisiert werden: 55 Verlängertes Arbeiten nach Erwerbsende: z. B.  Senior-Consulting-Pools für projektbezogene Arbeit 55 Verkürztes oder verantwortungsreduziertes Arbeiten vor Erwerbsende: Bogenkarriere-­Modelle mit reduzierten Pensen bzw. Abgabe von Verantwortungsrollen bereits mehrere Jahre vor Renteneintritt 55 Unterbrechung der Arbeit: Sabbaticals Arbeitsflexibilisierung ist also ein HR-Instrument, das es Organisationen erlaubt, ihr Personal in verschiedenen Dimensionen den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen anzupassen. Aus dieser Perspektive kann sie als ein primär wirtschaftsfreundliches Anpassungsinstrument fürs Überleben im globalen Wettbewerb betrachtet werden, dem vitale Lebensführungsinteressen nach Stabilität, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit untergeordnet werden. Sennett (1998) hat diese Perspektive in seiner Schilderung des flexiblen Menschen skizziert, der in einer instabilen, von Brüchen und Wechseln gekennzeichneten Laufbahn eine für sich Sinn stiftende, kohärente Lebenserzählung entwerfen muss. Arbeitsflexibilisierung ist gleichzeitig auch ein HR-Instrument, das der Arbeitgeberattraktivität dient. Denn der gesellschaftliche Trend zur Individualisierung – der Hinwendung zu individualistischen Einstellungen und Gestaltungsbedürfnissen – und mehr noch zur Singularisierung (Reckwitz, 2018) – dem Streben nach und der positiven Bewertung von Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit – hat vielfältige Lebensführungsformen und Werthaltungen hervorgebracht. Sie sind nicht zu jeder Zeit und für jedes Individuum mit konventionellen und starren Schemata eines Normarbeitstages am Betriebsort vereinbar. Mit Flexibilität in der Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen aber können die individuell variierenden Bedürfnisse an Arbeit berücksichtigt und dadurch Arbeitskräfte angezogen und gehalten werden. So resultieren neue, differenzierte Arbeitsmodelle. Diese können sich in vertraglich variablen Beschäftigungsverhältnissen ausdrücken (7 Kap. 3). In jüngerer Zeit drücken sie sich vor allem in der Neukonzeption von Arbeit in der Raum-­ /Zeit-­ Dimension aus. Das Ineinandergreifen von derart veränderten Büroraumkonzepten, Arbeitsmodellen und Führungspraktiken wird im Resultat als neue Arbeitsweisen – „New Ways of Working“ beschrieben (. Abb. 13.1). Die beiden Flexibilisierungsdimensionen Raum und Zeit stehen im Vordergrund dieses Kapitels, die neuen Formen der Führung werden in 7 Kap. 15 beschrieben.  





13

248

B. Werkmann-Karcher et al.

Aktivitätsorientiertes Bürokonzept

Ergebnisorientierte Führung

Flexible Arbeitszeitmodelle

Mobile Arbeit

..      Abb. 13.1  New Ways of Working. (Basierend auf Windlinger & Konkol, 2017)

13.1 

13

Flexibilisierung in der Dimension Raum

13.1.1 

Räumliche Flexibilisierung

Die räumliche Flexibilisierung der Arbeit ist eine Folge von informations- und kommunikationstechnischen Innovationen. Sie betrifft in erster Linie die Wissensbzw. Büroarbeit, welche oft wenig funktionale, räumlich gebundene Anforderungen aufweist (im Gegensatz zu industrieller Arbeit und anderen Arbeitsformen, die auf räumlich gebundene Infrastrukturen angewiesen sind). Der Fokus liegt deshalb im Folgenden auf der Wissensarbeit. Definition „Als Wissensarbeit gilt … eine Tätigkeit, die neues Wissen schafft und in der Ausführung ziel- und ergebnisoffen sowie stark kommunikationsorientiert ist … Diese Arbeit ist … wenig standardisiert und es ist häufig so, dass zu Beginn der jeweiligen Tätigkeiten weder der genaue Weg noch das genaue Arbeitsergebnis klar feststehen“ (Hofmann, 2012, S. 90).

249 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

In vielen Organisationen ist der Bestand an Arbeitsplätzen das Resultat jahrelanger additiver Erweiterung von Flächen. Erweiterungen und Anpassungen erfolgten meist kurzfristig, orientiert am jeweilig aktuellen Bedarf. Das Ergebnis ist eine unsystematisch gewachsene Struktur unterschiedlicher Arbeitsplatzformen, welche die Arbeitsräume nur bedingt als Werkzeug versteht, nutzt und bewirtschaftet. Büroarbeitsplätze wurden eher als Statusmerkmale und sachliche Notwendigkeit verstanden und weniger als Ressource für das Arbeiten betrachtet. Das Quickborner Team entwickelte Ende der 1960er-Jahre Layoutkonzepte basierend auf der Idee, Büroumgebungen als Instrument/Werkzeug zur Unterstützung (nicht nur formeller) kommunikativer und kollaborativer organisationaler Prozesse zu verstehen (Duffy & Hannay, 1992; Van Meel, 2000; Kaufmann-Buhler, 2016). Seither werden Arbeitsumgebungen zunehmend als Ressource für das effiziente und effektive Funktionieren von Organisationen, auch auf psychosozialer Ebene, verstanden, und die Betrachtung der Nutzendimensionen (siehe Wieber et  al., 2016) ergänzt die Kostenperspektive (vgl. Konkol et al., 2017). Grundlagen für zunehmenden Einbezug der Nutzenperspektive liefern Studien, welche zeigen, wie Büroumgebungen Arbeitsleistung, Gesundheit und Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen beeinflussen können (z. B. Engelen et al., 2019; Oseland, 2021; Windlinger et al., 2014). Arbeitsumgebungen können insofern als Investition in die Mitarbeiter:innen verstanden werden. Damit rückt auch die Wechselwirkung von räumlich-materiellen Faktoren mit Arbeitsprozessen, Organisationskultur, Mitarbeitenden, sozialen Beziehungen sowie Informations- und Kommunikationstechnologien stärker in den Mittelpunkt der Gestaltung und Steuerung von Büros („Office Ecology“, vgl. Becker & Steele, 1995; „Needs-­Supply Fit“, Wohlers et  al., 2017). Die Ergänzung der Kosten- durch die Nutzenperspektive mit der Verbindung von Raum und Mensch charakterisiert auch die Ablösung des Flächenmanagements als steuerndem Ansatz für die Bewirtschaftung von Arbeitsumgebungen durch das Workplace-Management, einen nutzerorientierten Ansatz, nach dem die Konzeption, Gestaltung, Optimierung und der Betrieb von Arbeitsumgebungen ausgerichtet werden auf übergeordnete organisationale Ziele (z. B. Strategie, Kultur, Image) (Lange & Windlinger, 2021; Windlinger & Lange, 2021). Diese Transformation im Umgang mit Arbeitsumgebungen lässt sich letztlich auch wirtschaftlich begründen: Die Kosten für Büros machen im Vergleich zu Lohnkosten einen Bruchteil aus. So sind beispielsweise für ein Büro in Zürich folgende Kennzahlen aktuell charakteristisch: 55 Mietkosten: 300 CHF netto pro m2 Hauptnutzfläche1 pro Jahr (Wüest & Partner, 2012) 55 Betriebskosten: 53 CHF pro m2 Geschossfläche (inkl. Verwaltungskosten) pro Jahr (pom+ Consulting AG, 2014) 55 Lohnkosten pro Mitarbeiter:in: ca. 120.000 CHF/Jahr (Bundesamt für Statistik, 2012a, b) 55 Gesamtfläche pro Arbeitsplatz (inkl. Sonderflächen): 18  m2 Hauptnutzfläche bzw. 29 m2 Geschossfläche (pom+ Consulting AG, 2014; Windlinger, 2012)

1 Gemäss SIA 416 ist Hauptnutzfläche HNF derjenige Anteil der Nutzfläche, welcher der Zweckbestimmung und Nutzung des Gebäudes im engeren Sinn dient. Damit ist jener Teil der Geschossfläche gemeint, der für die Nutzung als Büro zur Verfügung steht (d. h. ohne Flächen, die für Konstruktion, Betrieb, Erschließung u. ä. notwendig sind).

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Mit diesen Kennzahlen lässt sich festhalten, dass Lohnkosten pro Mitarbeiter:in projiziert auf Geschossfläche (GF) rund 4140 CHF bzw. Lohnkosten pro m2 Hauptnutzfläche (HNF) etwa 6670 CHF ausmachen. Das heißt, dass Lohnkosten um ein Vielfaches höher ausfallen als Flächenkosten. Das Verhältnis von Betriebs- zu Mietzu Lohnkosten beträgt für die Hauptnutzfläche (HNF) 1:6:126 und für die ­Geschossfläche (GF) 1:6:78 (GF). Diese Abschätzung der Kostenverhältnisse zeigt deutlich, dass die Kosten für Löhne die mit Abstand größte Kostenkategorie in Dienstleistungsunternehmen darstellen. Insofern ist wichtig, Strategien zur Kostenersparnis zu hinterfragen, welche sich primär auf Flächenreduktion stützen und potenziell die Gesundheit, Zufriedenheit oder Arbeitsleistung einschränken. Vielmehr sollen die Kosten für die Infrastruktur als Investition in die Mitarbeiter:innen verstanden werden. 13.1.2 

Bürotypen

In frühen Phasen der Konzeption von Büroräumen werden typischerweise verschiedene Bürotypen als architektonische Grundformen unterschieden. Die Grundformen Zellen-, Gruppen- und Großraumbüro bilden nach wie vor oft die Ausgangslage von Planungsprozessen und sind Grundlage von geltenden Weisungen und Bewilligungsprozessen. In letzter Zeit haben sich jedoch stärker Mischformen durchgesetzt, die verschiedene Arbeitssettings auf einer Fläche zusammenführen und das Ziel verfolgen, unterschiedliche Arbeitsaktivitäten im Büro durch spezifische Gestaltung bestmöglich zu unterstützen. Die verschiedenen Büroraumtypen werden nachfolgend kurz beschrieben (für eine ausführliche Darstellung und Diskussion siehe Konkol et al., 2019). z Zellenbüro

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Das Zellenbüro besteht aus einer Aneinanderreihung von Einzel- und Mehrpersonenbüros entlang der Fassade, welche durch einen Flur miteinander verbunden sind und oftmals durch Kommunikations- und Austauschflächen (z. B. Teeküchen oder Besprechungsräume) ergänzt werden. Aufgrund der räumlichen Kleinteiligkeit ist dieser Bürotyp unflexibel und kann nur erschwert an Veränderungen der Organisation angepasst werden. z Gruppenbüro

Das Gruppenbüro ist ein Mehrpersonenbüro explizit für Teams oder zusammengehörige Organisationseinheiten. Gruppenbüros sollen den effizienten Austausch innerhalb der Einheiten fördern. In der Praxis sind Team- und Raumgrößen jedoch selten aufeinander abgestimmt, was die erwünschte Kommunikationsförderung beeinträchtigen kann und die Flächennutzung ineffizient gestaltet. Aufgrund seiner räumlichen Konfiguration ist dieser Bürotyp unflexibel. z Großraumbüro

Das Großraumbüro (auch „Open-Space-Büro“) ist ein offener Raum, der Arbeitsplätze für eine große Anzahl von Personen bietet. Teams oder zusammengehörige Organisationseinheiten werden in der Regel in Zonen oder Quartieren miteinander untergebracht. Sonder- oder Unterstützungsflächen (wie z. B. Besprechungs-, Rück-

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zugs-, Begegnungs- oder Pausenräume oder -zonen) sind selten, was das Großraumbüro von modernen Büroformen (Kombibüro, Multispace oder aktivitätsorientierte Büros) unterscheidet. Durch die hohe Belegungsdichte entsteht ein geringerer Flächenbedarf als in Zellenbüros. Räumlich/architektonisch weist dieser Bürotyp eine hohe Flexibilität auf. z Kombibüro

Das Kombibüro unterteilt sich in zwei Bereiche: Einzel- oder Mehrpersonenbüros in einer Konzentrationszone in der Regel an der Fassade und eine multifunktionale Kommunikations- und Kollaborationszone im Mittelbereich. Die beiden Bereiche werden meist durch eine tageslichtdurchlässige Glaswand getrennt. Ziel bei der Entwicklung dieses Typs war es, die Vorteile von Großraum- und Zellenbüros zu vereinen, um sowohl Kommunikations- als auch Konzentrationsbedarf zu erfüllen. Architektonisch ist dieser Bürotyp aufgrund der vielen kleinteiligen Einbauten eher unflexibel. z Multispace-Büro

Das Multispace-Büro besteht aus Gruppenbüros oder Großraumbüros, die durch multifunktionale Unterstützungsflächen für Kommunikation und Rückzug ergänzt werden. Damit werden Raumangebote geschaffen, die den heutigen Arbeitsabläufen und Kommunikationsverhalten besser gerecht werden als die bekannten monofunktionalen Großraumstrukturen, welche allzu oft bis an ihre Kapazitätsgrenzen belegt werden. Räumlich/architektonisch ist dieser Bürotyp eher flexibel. z Aktivitätsorientiertes Büro

Das aktivitätsorientierte Büro (auch „Business Club“) kann als Bürolandschaft bezeichnet werden, in der eine Vielfalt von frei wählbaren Flächenarten mit Arbeitssettings für unterschiedliche Arbeitsaktivitäten (z. B.  Besprechungsräume, Steharbeitsplätze, Lesezonen, Projektarbeitsplätze, Zonen für konzentriertes Arbeiten, Lounges etc.) zur Verfügung gestellt werden. In der Regel werden aktivitätsorientierte Büros nonterritorial genutzt, d. h., es gibt keine oder nur wenige persönlich zugewiesene Arbeitsplätze. Voraussetzung für dieses Arbeitsplatzkonzept ist ein hoher und einheitlicher technischer Standard und eine passende Arbeitskultur, welche freie Arbeitsortwahl unterstützt. Räumlich/ architektonisch weist dieser Bürotyp eine hohe Flexibilität auf. 13.1.3 

Die verschiedenen Ebenen der Büroumgebung

Viele Diskussionen rund um Bürogestaltung werden durch die räumliche Grundstruktur der architektonischen Büro-Grundform, den Büroraumtyp, dominiert, die sich zwischen den Polen „Einzelbüro“ und „Großraumbüro“ abspielt. Diese oft auch emotional gefärbten Diskussionen beruhen jedoch auf einem unvollständigen Verständnis von Büro-Arbeitsumgebungen und tragen wenig zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit einer Infrastruktur bei, die arbeitsbezogene Bedürfnisse, individuelle Vorlieben, räumliche Gegebenheiten und ökologische, ökonomische und rechtliche Rahmenbedingungen integrieren muss.

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Im Kern aktueller Ansätze des Workplace Management steht das Erleben der räumlichen Arbeitsumgebung durch die Nutzer:innen („Workplace Experience“, siehe Windlinger & Lange, 2021). Dieses Erleben wiederum hängt stärker mit Eigenschaften der Büroumgebungen zusammen als mit Bürotypen (Windlinger et  al., 2014). Psychologisch orientierte konzeptionelle Ansätze fokussieren die funktionale Passung des Menschen mit der Arbeitsumgebung („Needs-Supply Fit“, Wohlers et al., 2017) bzw. die psychologische Passung („Environmental Comfort Model of Workspace Quality“, Vischer, 2008). Insofern sind die durch die Nutzer:innen wahrgenommene räumliche Qualität und die Passung zwischen Menschen, Aufgaben, Technologie und Raum (siehe „Office Ecology“) die übergeordneten Ziele bei der Konzeption, Planung und dem Betrieb von Arbeitsumgebungen. Arbeitsumgebungen sind nicht nur Bedingung, sondern auch Kontext menschlichen Arbeitshandelns. Für eine Vielzahl von Faktoren der Arbeitsumgebung liegen Befunde zu deren Wirkung auf Zufriedenheit, Gesundheit und Arbeitsleistung vor (Bergefurt et al., 2022; Colenberg et al., 2021; Kim et al., 2016; Soriano et al., 2021). Die Faktoren lassen sich auf folgenden Dimensionen zusammenfassen (Windlinger et al., 2014): 55 Materielle Umgebung (räumliche Organisation und Layout; Ruhe- und Regenerationsräume; Bürogröße, Qualität der Arbeitsplatzumgebung, Farben, Pflanzen und natürliche Elemente) 55 Innenraumumgebung (Akustik, Luftqualität und Klima, Düfte, Licht und Beleuchtung) 55 Sozial-räumliche Umgebung (Privacy, Crowding, Territorialität, Unterbrechungen und Störungen)

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Ferner spielen die übergeordneten Faktoren der Angemessenheit bzw. Passung von Arbeitsumgebung und Services zu Organisation, Mitarbeiter:innen und Arbeitsweisen auf folgenden Ebenen eine Rolle: (1) Funktionalität der Arbeitsumgebung, (2) Ästhetik sowie (3) Symbolik (Vilnai-Yavetz et al., 2005). Arbeitsumgebungen dienen der Unterstützung von Arbeitsaktivitäten und -prozessen, sind über sämtliche Sinne wahrnehmbar und erlebbar und sind Träger von Bedeutung, indem sie z. B. Kultur und Werte assoziativ abbilden. Bei der Gewährleistung der Passung von Menschen, Aufgaben, Technologie und Raum erscheint der Raum als wenig dynamische Komponente. Aktivitätsorientierte Bürokonzepte bieten deshalb ein vielfältiges Raumangebot mit unterschiedlichen Arbeitssettings, das es erlaubt, die Passung situativ zu optimieren, indem für bestimmte Arbeitsaktivitäten die passenden Arbeitssettings aufgesucht werden. Die Mitarbeiter:innen haben keinen persönlichen Arbeitsplatz mehr, sondern suchen ihren Arbeitsplatz je nach Aufgabe oder persönlicher Präferenz in offenen Teamzonen, Rückzugsräumen, Team- oder Besprechungsräumen, Lounges, Begegnungszonen oder in Lesebereichen. Sie können so situativ die Passung zwischen Arbeitsaktivität und -umgebung herstellen. Das aktivitätsorientierte Büro unterstützt dadurch gleichermaßen Kommunikation und ungestörtes Arbeiten. Die damit unterstützte mitarbeitendenorientierte Flexibilität wird ergänzt durch betriebliche Flexibilität, die erreicht wird, indem die Arbeitsplätze nicht personalisiert sind, d. h. nicht einer/einem bestimmten Mitarbeiter:in zugewiesen werden. Bei traditionellen Büros mit personalisierten Arbeitsplätzen lässt sich feststellen, dass in der Regel ein großer Teil der Arbeitsplätze im Verlauf eines normalen Arbeitstages

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100% 90% 80% 70% 60% 50% keine Zuordnung möglich

40%

leer

30%

passiv benutzt aktiv benutzt

20% 10% 0%

Mittelwert aktiv benutzt: 36% Mittelwert passiv benutzt: 22% Mittelwert leer: 40%

..      Abb. 13.2  Auslastung von Büroarbeitsplätzen in 12 Schweizer Bürogebäuden (jeweils 3–5 Tage Beobachtung im Normalbetrieb vor der Covid-19-Pandemie)

gar nicht benutzt werden (. Abb. 13.2; weitere Plätze sind zwar besetzt, aber nicht aktiv benutzt). Der Grund dafür liegt darin, dass Mitarbeiter:innen in und zwischen Gebäuden mobil sind (v. a. aufgrund von Sitzungen), aber auch außerhalb der Firmensitze arbeiten (z. B. bei Kunden, unterwegs oder zu Hause). Ferner führen Teilzeitstellen, Ferien, krankheitsbedingte und weitere Abwesenheiten zu einer geringen Auslastung der Büroarbeitsplätze. Als Reaktion auf diese Situation entscheiden sich Unternehmen, aktivitätsorientierte Bürokonzepte einzuführen. Dabei wird in der Regel die Anzahl der Standardarbeitsplätze2 reduziert und ergänzt durch alternative Arbeitsmöglichkeiten.3 Die Standardarbeitsplätze werden meistens akustisch zoniert, sodass neben herkömmlichen Arbeitsbereichen auch Zonen ausgeschieden werden, die der stillen, hochkonzentrierten individuellen Arbeit gewidmet sind. In der Regel liegt der Transformation von Büroumgebungen ein Business Case zugrunde, wonach durch das Teilen der Arbeitsplätze mittelfristig Flächenkosten reduziert werden können. Das Potenzial aktivitätsorientierter Bürokonzepte bietet Vorteile auf den Ebenen Mitarbeiter:innen (Wahlmöglichkeit), Betrieb (Flexibilität, Kosten) und Umwelt (reduzierte Flächenverbräuche) und begründet den aktuellen Erfolg dieses Bürotyps. Mit der Covid-19-Pandemie stellt sich u. a. die Frage nach Rolle und Bedeutung von Büroarbeitsplätzen neu. Arbeitsorganisationen haben anhand der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie (Lockdown, Home-Office-Pflicht) eine beschleunigte Flexibilisierung erlebt und gelernt, dass räumlich verteiltes Arbeiten zumindest tem 

2

Als Standardarbeitsplätze werden Plätze bezeichnet, die über einen höhenverstellbaren Arbeitstisch (mind. 0,8 m × 1,2 m) und einen Bürodrehstuhl sowie mindestens einen Bildschirm verfügen. 3 Arbeitsmöglichkeiten sind Plätze, an denen mit dem Notebook gearbeitet werden kann. Diese Plätze verfügen über eine Sitzmöglichkeit von mind. 42  cm Höhe und eine mind. 0,8  m × 0,6  m große Arbeitsfläche von ca. 72 cm Höhe (oder höhenverstellbar), ggf. mit Bildschirm ausgestattet.

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porär funktionieren kann. Für Mitarbeiter:innen resultiert diese Erfahrung u. a. im Wunsch, auch in Zukunft vermehrt von Zuhause aus zu arbeiten (z. B. Kunze et al., 2020). Mitarbeiter:innen erleben sich im Homeoffice oft als produktiv und engagiert, und die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben wird teilweise als besser wahrgenommen. Die Schattenseite des Homeoffice liegt in höherer emotionaler Erschöpfung und sozialer Isolation (Kunze et al., 2020). Dieser Situation wird im sog. „New Normal“ Rechnung zu tragen sein, und die neu zu konzipierende und zu gestaltende Integration von räumlich verteilter, virtueller, und ko-präsenter Arbeit hat Implikationen für Gestaltung und Betrieb von Arbeitsumwelten (siehe Fayard et al., 2021). Die physische Ko-Präsenz befriedigt das Bedürfnis nach Kontakt und unterstützt viele Funktionen von Organisationen. Sie ermöglicht und unterstützt unstrukturierte Kollaboration durch aufgabenbezogene oder soziale Ad-hoc-Interaktion und verbesserte Koordination. Das Mithören und beiläufige Beobachten von Arbeitskolleg:innen und Vorgesetzten spielt eine wichtige Rolle für Lernprozesse und Wissenstransfer, Sozialisation und Kultur. Ferner sind sowohl soziale Einbindung wie auch physische Ankerpunkte wichtig für die emotionale Bindung und Identifikation mit Teams und Organisation. Ein Verständnis über die Förderung von Ortsbindung („Place Attachment“, Inalhan et  al., 2021) und Ortsidentität („Place Identity“, Rooney et al., 2010; Peng et al., 2020) ist im Kontext der Covid-19-Pandemie von zunehmender Bedeutung und bietet aus Unternehmenssicht vielerlei Chancen. Ausgeprägte Ortsbindung und Ortsidentität stehen in Zusammenhang mit Vorteilen für das Unternehmen wie Mitarbeitendengewinnung, Mitarbeitendenbindung, Organisational Commitment oder Arbeitsleistung (Inalhan et al., 2021; Scrima et al., 2021), mit Vorteilen für Teams wie ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl oder Organizational Citizenship Behaviour sowie mit Vorteilen für Mitarbeiter:innen auf individueller Ebene wie Arbeitszufriedenheit, Wohlbefinden oder Gesundheit (Inalhan et al., 2021; Scrima et al., 2021). Die Qualität der Ortsbindung und Ortsidentität ist dabei nicht unbedingt an Zeitdauer gebunden (solange ein Minimum an Zeit vor Ort verbracht wird). Die genannten Vorteile lassen sich durch eine attraktive Gestaltung der physischen Arbeitsumgebung realisieren. Damit können die Arbeitsplätze für den Teil der Arbeit, der im Betrieb stattfindet, auch die Bindungskraft entfalten. Insofern ist es infolge der Covid-19-Pandemie wichtig, dass der physische Arbeitsort an persönlicher Bedeutung gewinnt, um flexible Arbeit sinnvoll unterstützen zu können. Im „New Normal“ müssen sich Unternehmen folglich überlegen, wie sie Ko-­ Präsenz gestalten und steuern wollen und welche räumlichen und organisatorischen Mittel sie nutzen wollen, um die Funktionen von Ko-Präsenz zu steuern und zu nutzen. Bei einem höheren zeitlichen Homeoffice-Anteil wird es notwendig, sich so zu organisieren, dass man im Büro die richtigen Kolleginnen und Kollegen antrifft. Dafür müssen räumliche Infrastruktur und organisatorische Dienstleistungen stärker verknüpft werden. Community Management als Funktion oder Führungsaufgabe kann sicherstellen, dass der effektive Austausch innerhalb und v. a. auch zwischen Teams stattfindet. Die Herausforderung wird darin liegen, die richtige Balance zwischen flexiblem, ortsunabhängigem Arbeiten und gemeinsamer, persönlicher Zusammenarbeit und informellem Austausch vor Ort zu erreichen.

255 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

13.1.4 

Virtuelle Räume und Kommunikationsräume

Die mehr oder weniger fixe Bindung von Arbeit an bestimme Arbeitsorte löst sich mit dem zunehmenden Einsatz von digitalen Technologien sowie einer digitalen Vernetzung zumindest in den Berufen der Dienstleistungs- und Wissensindustrien auf. Technologiefortschritte sowie Technologiekompetenzen tragen zu einer räumlichen Flexibilisierung der Arbeit maßgeblich bei. Und die Erfahrungen im Zuge der Covid-­ Pandemie seit Beginn des Jahres 2020 haben der Entwicklung massiven Vorschub geleistet. Gleichzeitig passen sich die Erwartungen an die Flexibilisierung von Arbeit den technischen Möglichkeiten an (vgl. Nassehi, 2019). Das gilt überall dort, wo immer weniger große und nichtflexible Infrastrukturen (Gebäude, Maschinen etc.) benötigt werden, und überall dort, wo Kontrolle über beobachtbare Anwesenheit nicht mehr zentrales Steuerungsmoment der Arbeit darstellt. Laut aktueller Befragungen werden Menschen künftig zu einem guten Teil im Homeoffice oder an anderen („dritten“) Orten arbeiten. Nach Erkenntnissen der Konstanzer Homeoffice-Studie (Kunze et al., 2021) liegt die Präferenz für den Anteil an Arbeit aus dem Homeoffice bei konstant knapp 3 Tagen pro Woche. Damit steigt die Bedeutung von anderen Arbeitsorten als denen des klassischen Büros, die Bedeutung von dritten Orten (Zug, Café etc.) (Oldenburg, 1999) sowie die Bedeutung der Nutzung virtueller Räume für die Arbeit. Noch vor Kurzem war es wichtig, möglichst einen guten Anschluss an den öffentlichen Verkehr zu haben, heute steht die Geschwindigkeit des Internets im Vordergrund. Die Flexibilisierung der Arbeit geht einher mit der Flexibilisierung von Lebensentwürfen, neuen Möglichkeiten des Lebens, Wohnens und Arbeitens. Der Arbeitstätigkeit fix zugewiesene und gemeinsam geteilte physische Räume verlieren damit einerseits an Bedeutung und erhalten andererseits eine neue Bedeutung, aufgrund der spezifischen Qualität des Zusammenkommens am selben Ort zur selben Zeit. Neben den technisch vermittelten ist eine zweite Form von virtuellen Räumen interessant, welche man als imaginäre Räume auffassen könnte, in denen die menschliche Phantasie und Kreativität eine zentrale Rolle spielt. Michel Foucault (2019) nennt sie „Gegenräume“ oder „lokalisierte Utopien“ (Foucault, 2019, S. 10). Heterotopien bringen „an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind. So bringt das Theater auf dem Rechteck der Bühne nacheinander eine ganze Reihe von Orten zur Darstellung, die sich gänzlich fremd sind“ (Foucault, 2019, S. 14). Heterotopien sind für die Gestaltung von Erlebnisräumen insofern von großer Bedeutung, als sie Möglichkeiten öffnen können, die gerade für persönlichkeitsbildende und entwicklungsorientierte Lernformate hilfreich sein können. Das macht z. B. die Durchführung von Workshops an solchen Orten interessant, weil die üblichen Standards und Erwartungen nicht oder nicht vollständig greifen und so Räume (Lücken) entstehen, die kreativ genutzt werden können (vgl. Zirkler & Schibli, 2012).

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In ähnlicher Weise könnte man die fiktionalen Räume begreifen, welche gewissermaßen „Probebühnen“ für die Realität sind, oder Labs, in denen die zukünftigen Wirkungen von Entscheidungen getestet werden können. So wird die Fiktion „zum Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigene Kontingenz reflektiert, die Normalität einer nicht mehr eindeutig festgelegten und bestimmbaren Welt“ (Esposito, 2007, S. 18). Ein psychologisch interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang sind die transliminalen Räume, also Übergangsräume (Winnicott, 2019) oder Zwischenräume. Dies wird besonders deutlich beim Reisen. Man ist nicht mehr am einen und noch nicht am anderen Ort, sondern bewegt sich dazwischen. Dieses „Dazwischen“ wird von Menschen häufig als mit besonderer Aufmerksamkeit versehen erlebt, mit einer äußeren Distanzierung bei gleichzeitiger innerer Fokussierung. Es gibt sogar Menschen, welche diesen Zustand bewusst suchen, sich beispielsweise zum Arbeiten in einen Zug setzen, nicht um von A nach B zu gelangen, sondern um diese spezielle räumliche (und zeitliche) Situation des Dazwischen kreativ zu nutzen. Andere berichten, dass sie in Flugzeugen besonders produktiv sind oder auch während der Wartezeiten in Abflughallen. Hintergrundinformation: Virtualität

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Virtualität ist begrifflich nicht einfach zu fassen. Virtualität bezieht sich einerseits auf etwas Reales in dem Sinne, dass Virtualität immer eine materielle Basis hat, so laufen z. B. virtuelle Spiele auf einem materiellen Computer. Virtualität ist in der digitalen Welt eine ambivalente Figur als einerseits konkreter physischer Ort (Server, Festplatten), an dem Informationen „liegen“, welche aber jederzeit und von überall her abrufbar sind (Holischka, 2016, S. 141 ff.). Gleichzeitig verweist Virtualität jedoch auch auf etwas Mögliches, das nicht oder noch nicht real sein muss. So sind in virtuellen Welten Dinge möglich, welche in der materiellen Realität erfahrungsgemäß nicht möglich sind, so müssen etwa die Gesetze der Physik in der Virtualität nicht zwingend gelten. Virtualität muss schließlich von der Fiktion unterschieden werden (Esposito, 2007), die auch rein Vorgestelltes oder Gedankliches umfasst. Jedoch gilt auch hier, dass das Fiktionale, wenn es mitgeteilt werden soll, immer ein materielles Medium erfordert (Buch, Sprache, Bildschirm). Virtuelle Räume können nach Holischka (2016) als „Möglichkeitsräume“ verstanden werden oder genauer als faktische Realisierungen möglicher Räume (Holischka, 2016, S. 63). Virtualität ist dabei kein Gegensatz zur Realität, sondern ein erweiterter Realitätsraum mit einer anderen Qualität. Mit Bezug zur Arbeit bedeutet Virtualität eine Verdopplung der Realitäten: Die Leute sitzen „real“ in ihren jeweiligen Arbeitsräumen und treffen sich „virtuell“ via Zoom oder in digitalen Räumen (u. a. mit Avataren), welche die reale Begegnungssituation im Sinne einer Emulation (Nachahmung) herstellen. Virtualität wird schließlich auch als Instrument der Arbeit eingesetzt, z. B. in der Architektur, in der Planung, überall dort, wo mithilfe virtueller Mittel Möglichkeiten erschaffen werden (Modelle, Simulationen, Pläne etc.), also im weiteren Sinn dort, wo Zukunft greifbar gemacht werden soll.

Kommunikationsräume Kommunikationsräume sind soziale Architekturen, innerhalb derer sich Menschen mitteilen und verständigen können. Insofern sind Kommunikationsräume virtuelle Räume, die auf Ermöglichung abzielen. Kommunikation findet dabei nie im luftleeren Raum (sic!) statt, sondern immer in räumlichen Realitäten. Diese werden einerseits durch die geografischen und physischen Eigenschaften des realen Ortes und Raumes beeinflusst, andererseits aber auch durch die gegenseitigen Erwartungen an das, was innerhalb des sozialen Raums geschehen kann.

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So kann beispielsweise eine Arztpraxis durchaus unterschiedlich ausgestattet sein, die soziale Situation ist jedoch vor allem dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Kommunikationen darin wahrscheinlicher sind als andere. In der Regel stehen Fragen und Antworten zu medizinischen Themen im Vordergrund. Dies gilt ganz allgemein im Alltag, wo sich an Kommunikationsräume gebundene Erwartungen zeigen, die sich in der Regel auch physisch manifestieren. In Produktionsräumen wird in der Regel produziert, in Meetingräumen werden Sitzungen abgehalten, in Kantinen wird der informelle Austausch gepflegt. Gregory Bateson hat diesen Umstand mit dem Begriff der Kontextmarkierung versehen (Bateson, 1985). Räume besitzen demnach eine Affordanz (Angebots- oder Aufforderungscharakter), indem sie bestimmte Tätigkeiten bzw. Kommunikationen nahelegen. Eine „Schule“ wird zum Ort des Lernens nicht zuletzt wegen ihrer spezifischen räumlichen Gestaltung. Klar ist dabei, dass „Schule“ auch an anderen Orten stattfinden kann, heute auch vielfach in virtuellen Klassenzimmern, die andere räumliche Ausstattungsmerkmale haben, jedoch auch Anleihen aus den analogen Welten machen, z. B. ist hier von virtuellen Whiteboards die Rede anstatt der Schreibtafeln, welche mit Kreide beschrieben werden. Ort und Raum teilen etwas mit, ganz im Sinne von McLuhans Diktum „The medium is the message“ (McLuhan, 1964/2001). Das jeweilige örtliche und räumliche Angebot wird als Teil einer Mitteilung verstanden und entfaltet Wirkung. Entsprechend suchen wir, häufig ganz intuitiv, die passenden Räume für die jeweilige soziale oder kommunikative Absicht aus. Nur in einer durch Funktionalität getriebenen Arbeitswelt wird dieser Umstand häufig sträflich vernachlässigt und geht es vor allem pragmatisch zu. Für besondere Gelegenheiten werden besondere Orte und Räume gewählt. So z. B. bei Führungskräfteentwicklungen, die man gerne „offsite“ in einem Tagungshotel stattfinden lässt, damit man sich „ungezwungen“, abseits der sozialen Imprägnierungen des Arbeitsortes austauschen und lernen kann (7 Abschn. 13.1.3). Die Wahl von Ort und Raum haben damit eine Interventionsabsicht, sie sollen etwas ermöglichen, anderes weniger wahrscheinlich machen. Örtliche und räumliche Angebote werden dabei oft als „Incentive“, als Belohnung aufgefasst, welche man den Teilnehmer:innen gewähren möchte. Die gemeinsamen „informellen“ Abende sollen ein besseres Kennlernen erleichtern, die Pausen zwischen den geplanten Einheiten nicht zuletzt eine psychologische Validierung des Geschehenen ermöglichen. Virtuelle Kommunikationsräume umfassen Werkzeuge für virtuelle Meetings mit Videofunktion, digitale Boards, Sharepoint-Systeme, Intranet etc. mit je entsprechenden Funktionsangeboten und einer zugehörigen Ästhetik.  

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Definition Unter der Hybridisierung von Arbeit versteht man die parallele Nutzung von physischen Arbeitsräumen und virtuellen Räumen (Mitchell & Brewer, 2021). Verschiedene Formen lassen sich unterscheiden: Die sequenzielle Hybridisierung erlaubt einen Wechsel von „vor Ort“ und digital vermittelter Arbeit. Die parallele Hybridisierung vereint „vor Ort“ mit digital, etwa durch das Hinzuschalten von Teilnehmer:innen per Videotools. Die Hybridisierung der Arbeit ist dabei schon länger ein Thema in der Arbeitswelt. So erfolgt die Softwareentwicklung bei den großen Techkonzernen schon lange global. Weltweit verteilte Teams arbeiten dann je nach Zeitzone an bestimmten Teilaufgaben, sodass die Entwicklungsarbeit losgelöst von den geografischen und zeitlichen Gegebenheiten erfolgen kann. Ein weiterer Aspekt der Globalisierung und damit einer „Enträumlichung“ ist darin zu sehen, dass Dienstleistungen oder Produktion an anderen Orten erfolgen, an denen die menschliche Arbeit günstiger ist. So ist es z. B. bei größeren Verlagshäusern schon längst Realität, dass Drucksachen aufgrund der vergleichsweise billigen Logistikkosten in China oder sonst wo produziert werden. Die Entwicklung findet an einem Ort (Europa) statt, die Produktion an einem anderen. Das Transportgeschäft überbrückt die räumliche Lücke.

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Für die Zukunft wird die intelligente Gestaltung hybrider Kommunikationsräume eine Herausforderung sein. Das Orts- und Raumangebot vervielfacht sich dabei nochmal. Es gilt dann zu unterscheiden, welche Orte und welche Räume für welche sozialen Situationen angemessen bzw. sinnvoll sein können. Konkret bedeutet das beispielsweise, welche Aufgaben virtuell erledigt werden können und wann es angezeigt ist, dass alle Beteiligten den Aufwand für ein persönliches Treffen leisten sollen. Eine besondere Aufgabe liegt hier in der „Kuratierung“ virtueller Kommuni­ kationsräume, d. h. der Vitalisierung, Strukturierung, Steuerung und Dokumentation virtueller, also digital vermittelter Kommunikation. Eine wesentliche Herausforderung liegt dabei in der Partizipation möglichst vieler Beteiligter, denn in virtuellen Kommunikationsräumen zeigen sich Tendenzen dazu, dass die Kommunikation in linearen Abfolgen verläuft.

Psychologische Nähe und Distanz Zygmunt Bauman (1995) schlägt eine Konzeption des sozialen, also menschengemachten Raums als komplexe Interaktion von drei miteinander verbundenen Prozessen vor, nämlich „Prozesse kognitiver, ästhetischer und moralischer Raumverteilung“ (Bauman, 1995, S. 217). Der kognitive Raum wird dabei intellektuell durch Wissen konstruiert, der ästhetische Raum affektiv aufgeladen durch eine „von Neugier und der Suche nach Erfahrungsintensität geleitete Aufmerksamkeit“ (Bauman, 1995, S. 218), der moralische Raum ist durch Verantwortung gekennzeichnet. Psychologische Nähe bzw. Distanz entsteht folglich über das Wissen, das ich über den oder die Anderen habe, wobei räumliche Nähe, insbesondere persönliche Begegnungen, Chancen bietet, sich kennenzulernen, sich einzuschätzen, sich zu mögen (oder zu meiden). Psychologische Nähe macht Fremde zu Kolleg:innen und mög-

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licherweise zu Freund:innen, verschiedene Grade der Vertrautheit entstehen. Die Beziehungsdefinition hat schließlich Einfluss auf die Weise, wie man sich innerhalb des Arbeitskontextes begegnet, was man zulässt, wie viel man sich verzeiht etc. Nähe und Distanz sind jedoch auch mit affektiven Erfahrungen verbunden. Manche soziale Situation sucht man auf, weil sie interessant zu sein scheint, zu bestimmten Gruppen möchte man dazugehören, mit spezifischen Menschen ist man an „mehr“ interessiert, anderen geht man aus dem Weg. Der ästhetische Raum bezeichnet die Phänomene der sozialen Verpflichtung, Fürsorglichkeit, Hilfsbereitschaft, Solidarität, aber auch jene der Ausgrenzung, Abwertung und Entfremdung. Psychologische Nähe wird einfacher durch räumliche Nähe hergestellt; je weiter die Menschen räumlich voneinander entfernt sind, desto anspruchsvoller ist die Pflege der psychologischen Nähe (Fernbeziehung; aus den Augen aus dem Sinn). Distanz ist „hilfreich“ dort, wo „rationale“ Entscheidungen umgesetzt werden sollen, die starke affektive Reaktionen und allenfalls moralische Bedenken nach sich ziehen, etwa bei größeren Umstrukturierungen, die Unsicherheiten auslösen, oder bei Entlassungen, bei denen Menschen aus dem sozialen Verband ausgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund schaffen virtuelle Räume zusätzliche Ambivalenzen. Zwar besteht die Möglichkeit, über die geografische Distanz psychologische Nähe herzustellen oder zu erhalten, jedoch sind gleichzeitig die Risiken der psychologischen Distanzierung und Entfremdung höher. Der wachsende Wunsch danach, zumindest einen Teil der Arbeit im Homeoffice zu verbringen (Kunze et al., 2020), lässt sich als Ausdruck einer Distanzierung verstehen, welche aufgrund von sozialem Dichtestress Erleichterung verschaffen soll. Unsere eigenen Untersuchungen (Zirkler et al., 2020; Zirkler, 2021) weisen darauf hin, dass die Beziehungsgefüge in der Distanzführungssituation in Bewegung kommen. Einerseits erleichtert die Digitalität den Zugang zu Personen und Positionen, die Kommunikation wird legerer und egalitärer. Das hat nicht zuletzt mit den „gleichen“ räumlichen Bedingungen zu tun, jeder hat im Videocall nur ein kleines Bild zu Verfügung, Positionsmacht kann sich nicht über Räumlichkeit ausdrücken. Andererseits wird jedoch die Sorge deutlich, vergessen oder wenigstens marginalisiert zu werden. Es entsteht ein Druck, sich an den Märkten der Aufmerksamkeit zu positionieren. Die Verunsicherungen steigen, den eigenen Wert zu eruieren fällt schwerer, das Bedürfnis nach Gesehenwerden und Geborgenheit nimmt zu (Cutenco, 2021). Auch eine Konzentration auf wenige Menschen lässt sich beobachten, mit denen man intensiveren Kontakt hält, während die Netzwerke über die Team- oder Abteilungsgrenzen hinweg schwächer werden. Diese Entwicklung hat deutliche Konsequenzen für die Phase des Onboardings neuer Mitarbeiter:innen.

Raumkompetenz Menschen haben in Bezug auf ihre Raumkompetenzen eine sehr lange kulturelle wie individuelle Erfahrung mit Blick auf physische Räume, Naturräume, Zwischenräume (Reisen). Der Umgang mit virtuellen Räumen ist vergleichsweise neu, die entsprechenden Kompetenzen sind noch eher gering ausgeprägt. Hinzu kommt, dass sich das Angebot an virtuellen Räumen rasch entwickelt und in naher Zukunft Möglichkeiten immersiver Technologien mit 3D-Werkzeugen zur Verfügung stehen

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werden. Momentan scheint es so zu sein, dass sich die Technologie rascher entwickelt als die menschliche Kompetenz im Umgang damit. Virtuelle Räume wie physische Räume bieten in Bezug auf die Arbeit unterschiedliche Möglichkeiten, Vor- und Nachteile. Mit den Möglichkeiten, virtuelle Räume für die Arbeit zu nutzen, steigen die Optionen der Flexibilisierung. Gleichzeitig mehren sich auch die Herausforderungen und Risiken. Insofern ist eine Professionalisierung der Raumkompetenzen, also die ­Zuordnung von Orten und Räumen für das Design bestimmter Arbeitsaufgaben, eine wichtige Aufgabe für Organisationen und dort insbesondere für das HR-Management. ► Beispiel

Im Rahmen unserer Forschungsarbeiten haben wir uns in einer Fallstudie intensiv mit einer Softwarefirma beschäftigt, welche mit virtuellen Arbeitsmethoden ausführlich experimentierte. Die Firma hatte vor längerer Zeit beschlossen, auf ein Büro zu verzichten und sich vollständig zu virtualisieren, weil es technisch möglich war und sich ökonomisch angeboten hatte. Sie erkannte jedoch nach einiger Zeit, dass die Qualität der Zusammenarbeit deutlich abnahm, insbesondere dann, wenn es um agiles Arbeiten ging. Folglich wurde wieder ein Büro angemietet, die Mitarbeiter:innen schätzen die direkten Möglichkeiten der Zusammenarbeit vor Ort, bei der man sich buchstäblich „die Bälle zuwerfen kann“. Im nächsten Schritt wurde außerdem darauf fokussiert, möglichst mit Kundinnen und Kunden zusammenzuarbeiten, die räumlich in der Nähe sind, weil bei agilen Arbeitsprozessen auch der direkte und unmittelbare Austausch als wichtiges Qualitätsmerkmal der Arbeit erkannt wurde. ◄

13

Neben allen planbaren Arbeitsaufgaben, für die dann auch Räume zur Verfügung gestellt werden müssen, kommen hier auch paradoxe Gestaltungsherausforderungen hinzu, insbesondere die Einrichtung von Räumen, welche „absichtslose“ Begegnungen ermöglichen. Während dies in physischen Arbeitswelten ganz besonders die Orte sind, an denen man sich aus anderen Gründen „zufällig“ über den Weg läuft (Pausenräume mit Kaffeemaschine, Toiletten, Aufzüge etc.) (siehe hierzu auch Ziemer, 2013), ist die Einrichtung solcher Gelegenheiten für Serendipity („Entdeckungen“, die man zufällig macht) in der Virtualität bislang noch weitgehend ungeklärt. Erste Versuche mit virtuellen Cafépausen oder gemeinsamem Feierabendbier sind wenig überzeugend und nachhaltig. Die Raumkompetenz verlangt eine Unterscheidbarkeit und Gestaltung verschiedener Raumangebote für die Arbeit: Welche Orte und Räume sollen und können für welche Form der Arbeit Verwendung finden, welche sind dafür eher günstig? Außerdem gilt es, die Möglichkeiten der jeweiligen Raumangebote professionell zu nutzen bzw. ein Bewusstsein für ihre Vor- und Nachteile zu entwickeln. In Zukunft werden gemischte („blended“) Möglichkeiten entwickelt werden, welche Digitales und Analoges verbinden. So werden auch bei persönlichen Treffen im selben physischen Raum digitale Mittel der Visualisierung Einzug halten, es werden mehr und mehr hybride Meetings stattfinden in wechselnder Besetzung, und es werden im Digitalen auch analoge Gestaltungmittel eingesetzt werden (z. B. „reales“ Flipchart).

261 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass es hier nicht nur um Funktionalität geht, sondern Orts- und Raumangebote auch eine wichtige ästhetische Seite beinhalten. In schönen Räumen und an schönen Orten trifft man sich lieber, arbeitet man besser. Für die frugale Ästhetik etwa von Klöstern oder anderen Orten der (inneren) Einkehr gibt es bislang noch kaum digitale Äquivalente. Praxistipp

Es wird künftige Aufgabe von entwicklungsorientierten Professionals auch im HR-­ Management sein, Raumkompetenzen aufzubauen und zu vermitteln sowie eine digitale Raumästhetik für die Arbeit zu formulieren.

13.2 

Flexibilisierung in der Dimension Zeit

Auch die Zeitstruktur des Arbeitslebens hat sich mit der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien in den letzten Jahrzehnten verändert. Mit der Entkoppelung von Arbeit und Betriebsstätte geht auch eine Entkoppelung von Arbeit und Standardbürozeiten einher. Das gilt allerdings nur für Beschäftigte in der informationsverarbeitenden Büroarbeit und Wissensarbeit. Anders sieht es bei ortsgebundener Produktions- oder Dienstleistungsarbeit aus, deren Charakteristikum das Arbeiten an der sogenannten Front, auf einem Shop­ floor, in der Produktionslinie, im Restaurant, am Krankenbett ist – eine Arbeit also, die vorwiegend fern des Schreibtischs stattfindet. Eine Entkoppelung vom Ort gibt es nicht. Die Entkoppelung von Standardarbeitszeiten  aber, organisiert in Schichtarbeitsmodellen, gehört seit jeher zur Norm. Abweichungen von berechenbaren Schicht-­Normzeiten allerdings sind mehrheitlich betriebsbedingt und selten mitarbeitendenorientiert. Wie groß die Menge dieser „Deskless Worker“ gegenüber der Menge von an Schreibtischen arbeitenden Personen ist, lässt sich schwer beziffern, da der tertiäre Sektor die ortsgebundene wie auch die ortsungebundene Dienstleistungsarbeit beinhaltet. Festzuhalten ist aber, dass der Diskurs über die neue Arbeitswelt mit ihrer mitarbeitendenorientierten zeitlich-räumlichen Flexibilität vor allem die Wissensarbeiter:innen im Blick hat. Attraktive Arbeitsgestaltungskonzepte für diese Beschäftigtengruppe sollten der Gerechtigkeit halber durch ebenso attraktive Konzeptionen für ortsgebunden arbeitende Personalgruppen ergänzt werden. Der Faktor Zeit spielt in allen Arbeitsmodellen eine wichtige Rolle, wenn es um die Verfügbarkeit und die Verfügungsinstanz über diese Lebensressource geht. 13.2.1 

Arbeitszeitmodelle und Definitionen

Gesamthaft ist schon länger eine Zunahme an flexiblen Arbeitszeiten festzustellen, die Abnahme hochregulierter Arbeitszeiten zwischen 2005–2015 ist für die EU inklusive Schweiz belegt (Eurofound, 2017, S. 59).

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Während Modelle wie Schichtarbeit primär einseitig betriebliche Interessen verfolgen, berücksichtigen die folgenden Arbeitsmodelle bei der Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes auch oder in sehr hohem Maß die Mitarbeitendeninteressen: Flexibilität auf Tagesbasis wird durch Gleitzeit (Flextime) unterstützt, die es erlaubt, Beginn und Ende des Arbeitstages um eine festgelegte Kernzeit herum selbstbestimmt zu wählen und Minus- und Plusstunden über eine meist mehrwöchige Phase auszugleichen. Teilzeitarbeit bedeutet ein vertraglich reduziertes Arbeitspensum bei ebenso reduzierter Entlohnung und ermöglicht Flexibilität im Tages- bis Wochenverlauf. Jobsharing ermöglicht durch die Aufteilung der Aufgaben eines Jobs auf zwei ­Personen ähnliche Freiheitsgrade, da diese Teilung meist durch Teilzeitpensen beider Personen erreicht wird. Das Jahresarbeitszeit-Modell als bekanntestes Beispiel von Langzeitkonten erlaubt über eine gegenüber der Gleitzeit deutlich verlängerte Zeitperspektive hinweg Phasen erhöhten und reduzierten Arbeitseinsatzes. Neuere Flexibilitätsmodelle bündeln die Arbeitszeitdauer auf eine Weise, dass z. B. eine 4-Tage-Woche resultiert (komprimierte Arbeitswoche), oder ermöglichen ein länger dauerndes Sabbatical bei Rückkehrgarantie auf der Basis zuvor angesparter Arbeitszeit oder unbezahlten Urlaubs. Bei der Vertrauensarbeitszeit wiederum handelt es sich um den Verzicht auf die betriebsseitige Erfassung und Kontrolle der Arbeitsstunden, für deren Einsatz im vertraglich vereinbarten Rahmen die Mitarbeiter:innen folglich selbst verantwortlich sind. Daraus resultiert, dass Arbeitseinsatz nun nicht mehr zeitbasiert, sondern ergebnisorientiert gesteuert wird. Diese ergebnisorientierte Leistungssteuerung (7 Kap. 7) wird als Indiz dafür diskutiert, dass in der neuen Arbeitswelt zunehmend unternehmerische Verantwortung an breite Arbeitnehmer:innenschichten übergeben wird; der Arbeitseinsatz in der Dimension Zeit zählt dazu. Am Beispiel der Vertrauensarbeitszeit lässt sich tatsächlich eine solche Ausdehnung am Beispiel der Schweiz nachzeichnen: So wurden 2016 Anpassungen vorgenommen, wonach die bis dato geltenden Bedingungen für eine Befreiung von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung angepasst und das vorausgesetzte Einkommensniveau gegenüber der vorherigen Regelung um ein Drittel gesenkt wurde.4 In Deutschland ist das Modell Vertrauensarbeitszeit vorwiegend bei außertariflich Beschäftigten verbreitet. Die Möglichkeit zu hoher Souveränität bzw. Autonomie im Einsatz der eigenen Arbeitszeit ist in den neueren Arbeitsmodellen angelegt, die im personalpsychologischen Bereich meist als „mobil-flexibel“ bezeichnet und unter einer Vielfalt an Benennungen gehandelt werden.  

13

4 Für eine Vertrauensarbeitszeitregelung müssen folgende Voraussetzungen in der Beschäftigung erfüllt sein: Verfügen über eine hohe Arbeitszeitsouveränität, ein Jahreseinkommen von > 120 Tsd. CHF und Unterzeichnung eines GAVs, in dem der Verzicht auf Arbeitszeiterfassung erklärt wird (Art. 73 a und 73 b zum ArGV 1).

263 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

Definition Mobile Arbeit ist „Arbeit, die weder an den Arbeitsplatz zu Hause noch an den im Betrieb gebunden ist, weil sie sich stark auf (mobile) Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) stützt“ (Robelski & Sommer, 2020, S. 15; eigene Übersetzung). Häufig wird unter Referenz auf den englischen Sprachraum auch von „Remote Work“ gesprochen, wobei sich hier bereits weitere Subkategorien auszudifferenzieren beginnen: Unter „remote only“ wird der umfassende Verzicht auf die Anwesenheit vor Ort im Betrieb ausgedrückt, während mit „remote first“ die Erwartung an gelegentliche Präsenz vor Ort in weiträumigen Zeitabständen bezeichnet wird. Inhaltsgleich wie mobile Arbeit sind die mobil-flexible Arbeit und ihr Synonym „Flexwork“ definiert (vgl. Weichbrodt et  al., 2020, S. 7), allerdings ergänzt durch einen expliziten Hinweis auf flexible Arbeitszeiten. Alternierende Telearbeit oder Telecommuting (Gajendran & Harrison, 2007) sind weitere, weniger gebräuchliche Synonyme. Gebräuchlich ist unterdessen auch die Bezeichnung hybrides Arbeiten (7 Abschn. 13.1.4, „Kommunikationsräume“, Hybridisierung der Arbeit), das die Kombination aus Arbeit in virtuellen wie auch in Büroräumen vor Ort beschreibt und sich auf den oder die einzelne Mitarbeiter:in (sukzessives hybrides Arbeiten) wie auch auf die zeitgleiche Zusammenarbeit von Kolleg:innen vor Ort und virtuell zugeschaltet (paralleles hybrides Arbeiten) beziehen kann. Aus der Zeit vor der Expansion der ICT-­Lösungen kennt man „Telearbeit“ als Arbeit, die ausschließlich zu Hause an einem vom Arbeitgeber ausgerüsteten Arbeitsplatz stattfindet. Arbeiten im Homeoffice (HO) bedeutet ebenso das gelegentliche Arbeiten von zu Hause, wobei die implizite Annahme darin besteht, dass es nur Arbeiten von zu Hause („Work from Home“, WFH) oder Arbeiten im Betrieb gibt („Work from Inside“, WFI). Dies grenzt die fürs Arbeiten zunehmend beliebteren dritten Orte aus und trifft daher in den meisten Fällen und streng definiert heute nicht mehr zu.  

Im Folgenden wird die Form des Arbeitens an verschiedenen Orten und zu Zeiten, die nicht immer innerhalb der 7- bis 19 Uhr-Werktagsnorm liegen, als mobil-­flexibles oder hier synonym als hybrides Arbeiten bezeichnet. Beide Begriffe beschreiben ein insofern entgrenztes Arbeiten, als die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit aufgrund der räumlichen Entkoppelung von Betriebsort und Arbeit aufgehoben sind, was in der Regel auch mit einer zeitlichen Entgrenzung und der Folgeaufgabe einhergeht, diese Grenze eigensinnig zu setzen, zu verschieben und final gegen fremde wie auch eigene Übergriffe zu behaupten.

13

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13.3 

 obil-flexibles Arbeiten aus personalpsychologischer M Perspektive

13.3.1 

Vorwiegend positive Effekte

Ob sich für Mitarbeiter:innen aus der zeitlichen Flexibilisierung Vorteile ergeben, hängt nicht unwesentlich davon ab, wer über die Lage und Dauer der Arbeitszeit und der Unterbrechungen bestimmt. So zeigt sich, dass einerseits gesundheitliche Beschwerden wie Erschöpfung und Schlaflosigkeit stärker ausgeprägt sind, wenn Beginn und Ende der Arbeitszeit nicht vom Individuum selbst festgelegt werden kann, und auch die Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance ist dann geringer (Wöhrmann et al., 2016, S. 58 ff.). Schmidt et al. (2013) konnten zeigen, dass die geringste Arbeitszufriedenheit, die geringste Bindung an die Organisation und die vergleichsweise geringste Leistung beim Arbeiten im rigiden Schichtmodell und in der einseitig betrieblich verfügten Arbeitszeitflexibilität feststellbar sind, wobei sich bei Letzterem noch eine hohe subjektive Arbeitsüberlastung dazu addierte. Diese Bedingungen, so steht zu befürchten, dürften sich im hochflexiblen Dienstleistungssektor mehr noch als in der Produktion vorfinden lassen; in der schreibtischgebundenen Büro- und Wissensarbeit sind sie untypisch. Was zeigen diese Befunde? Sie machen zunächst deutlich, dass nicht Flexibilität in der Arbeit per se zufrieden macht, sondern dass die Kombination mit hohen individuellen Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten wichtig ist. Dies steht in Einklang mit Motivationstheorien, die das Streben nach Selbstbestimmung der Menschen in ihrem Leben als zentral beschreiben (Ryan & Deci, 2000, vgl. 7 Kap. 14). Die Autonomie in der Wahl, Dinge so oder anders zu machen – also auch jetzt oder später, hier oder dort zu arbeiten  – trägt erheblich dazu bei. Auch innerhalb der Arbeit gilt Autonomie in der Arbeitsausführung seit dem Job-Characteristics-Modell (Hackman & Oldham, 1980) als ein wichtiger Faktor, der für die Gestaltung von zufrieden machender Arbeit berücksichtigt werden muss. Autonomie ist auch im New-Work-­ Paradigma als selbstverständlicher Anspruch verankert: Es geht nicht nur darum, über das „Wie“ in der Arbeit bestimmen zu können, sondern auch über jenes „Wo“ und „Wann“, wodurch die Bedingungen des Arbeitens und der Lebensführung ­entscheidend beeinflussbar sind. Kossek et al. (2006, S. 350) nennen die subjektive Erfahrung, innerhalb der Arbeit über Raum, Zeit und Arbeitsweise wählen zu können, „psychologische Job-Kontrolle“. Das individuelle Interesse an mobil-flexiblem Arbeiten leitet sich aus zwei primären Motiven ab (Shockley & Allen, 2012): 1. Produktivität: Menschen möchten in ihrer Arbeit produktiv sein. Dafür suchen sie Umgebungen, in denen sie möglichst effektiv ohne Unterbrechungen und Störungen arbeiten können, was der klassische Büroarbeitsplatz oft nicht liefern kann. 2. Work-Life-Balance: Die Anforderungen und Verpflichtungen der Arbeit sollen mit den Anforderungen und Bedürfnissen aus dem Privatleben besser verbunden werden können.  

13

265 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

Hintergrundinformation: Work-Life-Balance Da Zeit ein begrenztes Gut ist, muss über den Einsatz verfügbarer Zeit in Arbeit versus Nichtarbeit entschieden werden. Je mehr Investment in Arbeit getätigt werden kann und wird, desto weniger Zeit bleibt für andere Belange. Die Herausforderung, alle Anforderungen auf emotional und gesundheitlich zufriedenstellende Weise zu erfüllen, wird als „Work-Life-Balance“- bzw. als „Work-­Life-­Integration“-­ Aufgabe behandelt. In der Forschung wird das Balancieren konkurrierender Zeitbedürfnisse in den Kernbereichen Arbeit und Familie unter dem Begriff „Work-Family-Konflikt“ behandelt. Dass sich negative Emotionen aus dem einen Bereich in den anderen übertragen, wird als „negativer Spillover-Effekt“ bezeichnet. Er ist in beide Richtungen dokumentiert. Umgekehrt liegt ein positiver Spillover-Effekt oder „Enhancement“ vor, wenn positive Erlebnisse und die dadurch ausgelösten Emotionen, aber auch erworbene Fähigkeiten aus einem Bereich in den anderen Bereich übertragen werden und dort begünstigend wirken.

Wenn diese Interessen also in mobil-flexiblen Arbeitsarrangements bedient werden können, sind weitere positive Effekte zu erwarten und auch zu finden: Schon alleine beim Arbeiten in Gleitzeit und komprimierter Wochenarbeit ist der positive Zusammenhang zu Arbeitszufriedenheit sowie niedrigen Wechselabsichten belegt (McNall et al., 2010). Bei mobil-flexiblem Arbeiten sind per se das angenehme Autonomieerleben sowie das Wohlbefinden höher, der Rollenstress und die Work-­ Life-­Konflikt-Risiken sind geringer und die Wechselabsichten sind es auch (Kossek et al., 2006; Gajendran & Harrison, 2007; Backhaus et al., 2021). Was die Produktivität betrifft, finden sich Belege für erhöhte Produktivität und Zufriedenheit in einer vergleichenden Studie, in der eine Gruppe Call-Center-­ Mitarbeiter:innen für eine verlängerte Zeit ins Homeoffice wechselte, während die andere Gruppe weiterhin vor Ort arbeitete (Bloom et al., 2014). Auch in Erhebungen während des Arbeitens von zu Hause in der Covid-19-Pandemie finden sich stabile Hinweise auf hohe selbsteingeschätzte Arbeitsleistung und Engagement (Kunze et al., 2020). Solche Leistungsvorteile durch das Arbeiten von außerhalb des Betriebs zeigen sich nicht nur beim ausschließlichen Arbeiten von außerhalb des Betriebs wie in Blooms Studie, sie zeigen sich auch bei geringerem Anteil (Gajendran & Harrison, 2007). Allerdings profitieren diejenigen Personen deutlicher von ausgedehntem Arbeiten außerhalb des Büros, deren Job relativ unabhängig von Arbeitsergebnissen anderer ausgeübt werden kann; vergleichsweise höhere Leistungsvorteile wurden auch für komplexe gegenüber einfachen Jobs gefunden, während man in keinem Fall Leistungsverschlechterungen durch mobil-flexibles Arbeiten festgestellt hat (Golden & Gajendran, 2019). Die Begründungen für die positiven Effekte des mobil-flexiblen Arbeitens lassen sich reduzieren auf folgende Logik: Man arbeitet außerhalb des Betriebs oft unter ungestörteren Bedingungen, erlebt seltener Unterbrechungen, kann also produktiver leisten, und dies vor allem dann, wenn man relativ unabhängig von anderen arbeiten kann. So kann ein Gefühl von Befriedigung entstehen, das daraus resultiert, dass man Dinge durchdenken, Aufgaben abschließen, Ergebnisse erreichen und sich dadurch produktiv fühlen kann. Zusätzlich entstehen größere Freiräume durch eingesparte Pendelzeiten und durch flexible Zeiteinsätze, die es einem erlauben, den variablen Lebensführungserfordernissen und -interessen nachzukommen. Für diese Vorteile ist man bereit, etwas mehr und etwas intensiver zu arbeiten, denn auch in der Beziehung zwischen Individuum und Organisation gilt die Grundformel menschlichen Austauschs (Blau, 1964): Gibst du mir, so geb‘ ich dir.

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13.3.2 

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Herausforderungen

Die Herausforderungen mobil-flexiblen Arbeitens werden primär als Folge der bereits genannten Arbeitsextensivierung (langes Arbeiten) und -intensivierung (Arbeiten ohne Pausen, unter höherer Taktung) diskutiert, zu der sich die Arbeitsentgrenzung (die Ausbreitung von Arbeit über die Normarbeitszeit des einzelnen Tages und der Woche) gesellt. Beides geht mit der Loslösung der Arbeit von beegrenzten Arbeitsorten und -zeiten und der resultierenden Notwendigkeit zum Umgang mit fehlenden Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit einher. Eine weitere Herausforderung ist das Arbeiten an ergonomisch schlecht gestalteten Arbeitsplätzen außerhalb der Betriebe, das körperliche Probleme wie Haltungsschäden nach sich ziehen kann. Auch die technische Ausrüstung kann außerhalb des Betriebs suboptimal sein und das Arbeiten behindern. Die Gefahr der sozialen Isolation wird gelegentlich beschrieben (vgl. Zirkler & Herzog, 2021). Denn wenn die soziale Interaktion am Arbeitsplatz wegfällt und die informellen Austausche in den Pausen und am Arbeitsende fehlen, erhält das Bedürfnis, eingebunden zu sein, sich zugehörig zu fühlen, weniger Befriedigung. In der bereits zitierten Homeoffice-Studie war dies für einige Teilnehmende der Grund, trotz positiver Effekte einer ausschließlichen Homeoffice-Arbeitserfahrung nach der Experimentalphase freiwillig wieder zurück ins Firmenbüro zu gehen (Bloom et al., 2014). Ebenso wurde dort festgestellt, dass bei geringer Büropräsenz eine Unsichtbarkeit und in der Folge das Übergehen bei Beförderungen resultierte. Zunächst noch einmal zu den Befunden: Die Arbeitsextensivierung unter Homeoffice-Bedingungen kann als belegt betrachtet werden (Eurofound, 2020). Auch konnte festgestellt werden, dass es bei flexiblen Arbeitszeiten ohne obligatorische Zeiterfassung vermehrt zu Arbeiten in der Freizeit und zu langen Arbeitszeiten kommt (Krause et al., 2012) – ein Befund, der in einer Evaluation zu den gelockerten Vorschriften der Arbeitszeiterfassung in der Schweiz bestätigt wurde (Bonvin et al., 2019). Auch die Arbeitsintensivierung bei mobil-flexiblem Arbeiten ist feststellbar (Felstead & Henseke, 2017). Die negativen Auswirkungen der zeitlichen Entgrenzung für Gesundheit und Wohlbefinden sind wissenschaftlich gut belegt, ebenso wie die negativen Effekte langer Arbeitsstunden auf Produktivität und Effizienz (vgl. Beermann et al., 2017).

 sychologische Hintergründe: Erreichbarkeitserwartungen, P Boundary Management, Distanzierung von der Arbeit Zur Entgrenzung der Arbeit trägt auch bei, dass sich mit Verbreitung der ICT-­ Lösungen seit Anfang der 2000er-Jahre eine erweiterte Erreichbarkeit für Arbeitsangelegenheiten eingestellt hat. Das heißt, dass man nun, da die ICT-Lösungen es so einfach machen, als Führungskraft oder Kolleg:in möglicherweise die Erwartung hat, auch über die Normalarbeitszeit hinaus einmal eine dringende Angelegenheit sofort per Anruf oder Mail klären zu können, oder dass dies umgekehrt von einem selbst aktiv praktiziert wird. In einer Studienübersicht fanden Pangert et al. (2016) primär negative Effekte der erweiterten Erreichbarkeit auf Gesundheit und Privatleben, darunter – nur auf den ersten Blick widersprüchliche – Kombinationen von negativen Effekten wie Nichtabschaltenkönnen von der Arbeit und schlechtem

267 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

Schlaf mit positiven Arbeitseinstellungen wie hohem Commitment und Involvement (Barber & Santuzzi, 2015). Nun sind es nicht nur die ausgedehnten Kontakte, sondern auch Annahmen über die Erwartung der Organisation, erreichbar zu sein, die ein Verpflichtungsgefühl erzeugen und das Abschalten von der Arbeit erschweren können. Explizite Erwartungsklärungen und organisationale Regelungen über Erreichbarkeiten schaffen hier wirkungsvoll Abhilfe. Dennoch bleibt selbst bei geklärten organisationalen Erwartungen eine spezifische Herausforderung fürs Individuum bestehen, die dem mobil-flexiblen Arbeiten innewohnt: Man ist angesichts räumlich und zeitlich entgrenzter Arbeitsbedingungen selbst gefordert, eine aktive Grenzziehung zwischen den Lebensbereichen Arbeit und all den Domänen, die zur Nicht-Arbeit zählen, herzustellen (siehe dazu die Hintergrundinformation „Boundary Management“). Hierbei geht es darum, genügend Zeit für lebenspraktische Belange in den sozialen Rollen zu finden, die man als Elternteil, Kind, Partner:in, Freund:in etc. spielt. Findet man die gute Balance nicht, können in der sozialen Dimension Konflikte mit Familie, Partner:in, Freund:innen resultieren. Für den Erhalt von dauerhafter Leistungsfähigkeit und Lebensenergie ist aber auch die individuelle Regeneration nötig und muss in der Tages- und Wochenzeitstruktur genügend Raum erhalten. Erholung wird durch Schlaf und andere regenerierende Tätigkeiten erreicht, deren Gemeinsamkeit darin liegt, Zeiten frei von gefühlter Verantwortung zu erleben. Eine Schlüsselrolle für die Erholung und für psychisches Wohlbefinden spielt die psychologische Distanzierung von der Arbeit („Detachment“), die durch eine Abwesenheit von Arbeitshandeln und von gedanklicher Beschäftigung mit Arbeitsinhalten charakterisiert ist. Wenn es gelingt, sich in Gedanken und Gefühl von der Arbeit loszulösen, dann treten Erholung und verbessertes psychisches Wohlbefinden ein, was schließlich zum Erhalt von Gesundheit und dauerhafter Leistungsfähigkeit beiträgt (Sonnentag & Fritz, 2015). Das Abschalten von der Arbeit wird dann erschwert, wenn die Distanzierung von der Arbeit nicht gelingt – weil die Arbeitsintensität hoch ist und Ruhezeiten deshalb nicht eingehalten werden, weil die erweiterte Erreichbarkeit zu Unterbrechungen der Ruhezeiten durch Anrufe oder Mails führt oder weil eine Aufgabe nicht abgeschlossen werden konnte und gedanklich weiter beschäftigt (Sonnentag & Bayer, 2005).

 teuerungslogik und Verausgabungsdynamik im S mobil-flexiblen Arbeiten Wenn mobil-flexibel gearbeitet werden kann, ist starke Selbstführung aufgrund der zeitlich-räumlichen Entgrenzung von Arbeit besonders gefordert, um dem Risiko einer überbordenden Leistungsverausgabung und einer „interessierten Selbstgefährdung“ begegnen zu können. Unter letzterem Begriff werden eine Reihe potenziell schädlicher Verhaltensweisen beschrieben, die im Kontext flexibler Arbeitsformen beobachtbar sind (Krause et al., 2015). Dazu zählen z. B. neben dem bereits beschriebenen Ausdehnen und Intensivieren der Arbeitszeit auch das Arbeiten trotz Kranksein (Präsentismus), das Vortäuschen von Arbeitsergebnissen, die noch gar nicht vorliegen, oder das Verschweigen von Überlastung – Verhaltensweisen also, die dauerhaft nicht gesund und gefährlich sind und ohne Anordnung von Dritten selbstbestimmt – also interessiert – vom Individuum gewählt werden.

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Nun wäre es verkürzt, selbstgefährdendes Verhalten schlicht mangelhaften Selbstmanagementkompetenzen anzulasten. Vielmehr zeigt sich, dass selbstgefährdendes Verhalten ein Indikator für Gestaltungsmängel mobil-flexibler Arbeit ist (Krause et al., 2015). Dies ist wiederum nur unter Rückbezug auf die Dynamik zu erklären, die mit der indirekten Leistungssteuerung einhergeht. Darunter versteht man die Vorgabe bzw. Vereinbarung von Arbeitszielen bei gleichzeitiger Autonomie darüber, wie man seinen Arbeitseinsatz für die Erreichung dieser Ziele steuert. Es sagt einem also keiner auf täglicher Basis, was wann zu tun ist, sondern man steuert sich selbst, indem man indirekt über die Ziele gesteuert wird. Diese Praktik kann im Sinne des Empowerments sehr motivierend und fördernd wirken und ist nicht per se schädlich. Sie entfaltet schädliche Wirkung erst in Kombination mit einer hohen Arbeitslast, mit unrealistischen und immer höheren Zielsetzungen, die nicht kooperativ vereinbart, sondern top-down vorgegeben werden, und einer Delegation der Verantwortung für die Zielerreichung. Daraus kann eine Selbstverausgabungslogik der Art entstehen, dass man z. B. einen geringeren als den erhofften Output einer Tagesarbeit am nächsten Tag durch qualitativ optimierten oder quantitativ verlängerten Arbeitseinsatz kompensiert, und so weiter. Der Kern dieser Psycho-Logik ist nicht ortsabhängig. Er resultiert aus einer Loslösung der Messgröße Zeit für Leistung und ihren Ersatz durch das Ergebnis, dessen Zeitaufwand bestenfalls grob geschätzt werden kann. Man könnte sich ein selbstgefährdendes Verhalten auch bei ausschließlicher Büroarbeit vorstellen. Vermutlich würde aber dort die soziale Kontrolle schneller greifen, denn das extensive oder intensivierte Arbeiten würde bemerkt und adressiert werden. Schließlich aber spielt auch die Leistungskultur der Organisation hier eine wichtige Rolle. Wenn sehr ambitionierte bis überhöhte Zielsetzungen zum guten Ton gehören, wenn exzessives Arbeiten und wenig Erholung die Heldengeschichten der OrHERAUSFORDERUNGEN

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CHANCEN

Verausgabungsdynamik

Unrealistisch hohe Ziele (Ziel-

Arbeitsintensivierung

Arbeitsextensivierung

(Reduktion von Pausen, höhere Taktung usw.)

Flexibilität und Gestaltungsspielraum in der Wahl des Arbeitseinsatzes (Aufgabe-Zeit-Ort)

(lange Arbeitszeiten)

Selbstverausgabung bis interessierte Selbstgefährdung

Erweiterte Erreichbarkeit (über die Normarbeitszeiten hinaus)

Fehlende psychologische Distanzierung von der Arbeit (Abschalten, «Detachment») Gesundheitliche Folgen: Erschöpfung, Schlafmangel u.a.m.

 Beförderungschancen?

( Zeitersparnis)

Hohes Commitment

RessourcenImbalance)

Geringe Sichtbarkeit

Reduktion von Pendlerzeiten

Hohe Arbeitslast

Mobil-flexibles Arbeiten

Fehlende Erholung

- Erleben von Autonomie - psychologische JobKontrolle

Reduzierte Leistungsfähigkeit

Soziale Isolation

Technische Infrastruktur und Ergonomie ausserhalb des Büros

Work-Life Balance (WLB)

Produktivität Engagement

Wohlbefinden Arbeitszufriedenheit

..      Abb. 13.3  Mobil-flexibles Arbeiten: individuelle Chancen und Herausforderungen

Geringer Rollenstress und WLB-Konflikte

269 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

ganisation bestimmen, dann wird Selbstverausgabung zum Anforderungsmerkmal, und nachhaltige Leistungsfähigkeit ist schwer erreichbar. . Abb. 13.3 stellt die positiven und negativen Effekte als Chancen und Herausforderungen zusammenfassend dar. Vereinfacht lässt sich schlussfolgern, dass das Angebot zur mobil-flexiblen Arbeit für beide Seiten, Arbeitnehmende und Unternehmen, Vorteilsversprechen hervorbringt, die verkürzt in der Austauschformel „mehr Autonomie gegen mehr Einsatz und Leistung“ zusammengefasst werden können.  

13.4 

Gestaltungsempfehlungen auf verschiedenen Ebenen

Bei der Gestaltung mobil-flexibler Arbeit gilt es, auf verschiedenen Ebenen dazu beizutragen, die bereits skizzierten Risiken zu minimieren und innerhalb der Organisation Bedingungen und Prozesse für hybrides Arbeiten positiv zu gestalten. In . Abb. 13.4 werden Gestaltungskriterien und -hinweise für hybrides Arbeiten auf der Ebene der Organisation, der Aufgabe und der Person aufgeführt (vgl. Allen et al., 2015, S. 60).  

13.4.1 

Organisation

Für Organisationen ist die Attraktion und Bindung von talentierten Arbeitskräften in Zukunft ein gewichtiges Argument, hybride oder sogar Remote-Work-­ Arbeitsmodelle anzubieten. In Befragungen zeigt sich die Tendenz, dass Arbeitnehmer:innen im Schnitt 2–3 Tage von außerhalb des Betriebs arbeiten möchten (Kunze & Zimmermann, 2020; Bloom, 2021). Unter Umständen ist das mehr, als es für Or-

Organisation

Technologie (Infrastruktur, Tools) Unterstützung durch Top-Management Richtlinien für hybrides Arbeiten HRM – Führung - Teamarbeit Kulturentwicklung Gesundheitsschutz und Fürsorge Training & Beratung für Führungskräfte, Teams, Individuen

Aufgabe

Ausrichtung der Arbeit Abhängigkeit von Austausch & Ergebnissen anderer Personen Komplexität der Aufgabe

Person

Selbststeuerungskompetenzen

(Organisation der Arbeit, Selbstmotivation, Emotionsregulierung, Abgrenzung von Arbeit / Boundary Management)

Digitalkompetenzen Kommunikativ-kollaborative Kompetenzen

..      Abb. 13.4  Gestaltungsebenen und -faktoren bei hybriden Arbeitsmodellen

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ganisationen erstrebenswert erscheint. Denn je mehr Wahlfreiheit gegeben wird, desto größer ist der Koordinationsaufwand der Zusammenarbeit und desto schwerer sind Büro- und Infrastrukturauslastungen zu kalkulieren. Organisationen müssen also entscheiden, ob sie im Rahmen ihrer Richtlinien die Wahl der Firmenpräsenz jedem Mitarbeitenden offen lassen, sie auf der Teamebene verbindlich regeln lassen oder zentral definieren, wann wo gearbeitet wird. Wichtig ist auch, dass die Erwartungen an Erreichbarkeit und Antwortgeschwindigkeit geklärt und kommuniziert werden. Die Rahmensetzung erfolgt auf Organisationsebene, die Ausgestaltung innerhalb der kooperierenden Teams.

Technologie Das Vorhandensein geeigneter Technologie ist eine Grundvoraussetzung für reibungsloses hybrides Arbeiten. Dies beinhaltet IT-Infrastruktur, Hardware und Zugang für Mitarbeiter:innen, Auswahl unterstützender Softwaretools für Videokonferenzen, Chats, Dokumentenmanagement und informelle Kommunikation.

Unterstützung des Top-Managements für hybride Arbeit Die Unterstützung des Top-Managements für das hybride Arbeiten stellt ein unverzichtbares Signal für eine hybride Arbeitskultur an die Beschäftigten und Führungskräfte dar. Idealerweise wird das hybride Arbeiten selbst vorgelebt und darüber auch kommuniziert. Praxistipp: Gestaltung von Richtlinien für hybrides Arbeiten

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Folgende Fragen sollten in den Richtlinien beantwortet werden: 1. Welche Aufgaben/Arbeitsplätze eignen sich für mobil-flexibles Arbeiten? Wer entscheidet darüber? 2. In welchem Ausmaß ist es möglich? 3. Welche spezifischen Erwartungen werden gestellt, gibt es Erfolgsfaktoren (z. B. Zufriedenheitsmaße, Produktivitätsmaße)? 4. Welche Erreichbarkeitserwartungen und Antwortzeiten gelten? 5. Welche Regelung gilt bezüglich der Arbeitszeiterfassung? 6. Welche Geräte, Materialien werden zur Verfügung gestellt, welche finanziellen Entschädigungen sind vorgesehen? 7. Welche Regelungen gelten im Umgang mit sensiblen Daten? 8. Unter welchen Umständen wird mobil-flexibles Arbeiten beendet?

HR-Management Aus HRM-Perspektive ergibt sich ein Anpassungsbedarf in den HR-Kernprozessen: Im Performance Management ist eine Inputkontrolle bei Arbeit außerhalb des Betriebs nicht mehr möglich, weshalb eine Umstellung auf ergebnisorientierte Beurteilung zwingend ist, auch wenn damit eine für die gesunde Selbst- und Fremdführung herausfordernde Aufgabe einhergeht. Für die Entwicklungsfunktion des Performance Managements werden Rückmeldungen benötigt, die auch virtuell bzw. online gegeben werden, in Form häufigerer Feedback-Gespräche und vermehrt auch in 360°-Feedback-Formen.

271 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

Bei Honorierung und Beförderungen sollte darauf geachtet werden, dass die Leistungen aller Mitarbeitenden, auch derjenigen mit weniger Vor-Ort-Präsenz, fair beurteilt werden. Denn  es gibt Hinweise aus der Forschung, wonach die Beförderungschancen von Mitarbeitenden im Homeoffice signifikant niedriger sind (z.B. Bloom et al., 2014). Onboarding-Prozesse sind vor allem in Organisationen mit hohen Anteilen des Arbeitens von außerhalb eine größere Herausforderung. Kontakte fürs Kennenlernen und die Sozialisierung in der Kultur müssen bewusst geplant und auch in virtueller Form organisiert werden. Die Netzwerkbildung für neue Mitarbeitende untereinander und mit bestehenden Kolleg:innen sowie Paten/Buddy-Systeme sind hier besonders wichtig.

Führung Führungskräfte, deren eigene Work-Life-Balance als Vorbild erlebt wird, sind eine Gesundheitsressource für Mitarbeiter:innen in entgrenzten Arbeitskontexten (Rexroth et al., 2012), die ihrerseits dann selbst stärker zwischen Arbeits- und Privatleben segmentieren (Koch & Binnewies, 2015). Führungskräfte können neben ihrer Vorbildwirkung auch aktiv Mitarbeiter:innen in deren Grenzziehung unterstützen oder sie anregen. Führung auf Distanz, selbst wenn sie nur einen Teil der Zeit so erfolgt, bringt einen Zusatzaufwand für Planung, Koordination und Kontrolle von Zielerreichung mit sich (Hofmann et al., 2015). Grundsätzlich bedeutet Distanzführung mehr Planung und verlässliche Kommunikation und weniger Spontaneität und Zufälligkeit. Neue Routinen müssen aufgebaut werden, um Kontakt und Fürsorge auf Distanz aufrechtzuerhalten und Formen zu finden, neben regelmäßigen sachbezogenen Arbeitsgesprächen auch das Befinden in der Arbeit zu besprechen, Überforderung zu erkennen und Wertschätzung zu vermitteln.

Teamarbeit Unterstützende Arbeitskolleg:innen sind Gesundheitsressourcen in der entgrenzten Arbeitswelt (Rexroth et  al., 2012). Daher sind alle Interventionen für ein unterstützendes Teamklima sinnvolle Investitionen. Wenn der Anteil simultaner Präsenz abnimmt, sind Formen der Kommunikation und Kollaboration besonders betroffen und müssen neu geregelt und angepasst werden. Eine verringerte Vor-Ort-Präsenz muss nicht zum Verlust von Wissensaustausch und Innovation führen. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass eine gewisse Häufigkeit von Kontakten von Angesicht zu Angesicht wichtig für den Wissensaustausch ist und gerade anfänglich in Innovationsprojekten benötigt wird (Coenen & Kok, 2014). Das bedeutet, dass in der Konkretisierung der hybriden Arbeit eine Klärung der Zusammenarbeitsformen stattfinden muss, die hinreichend häufige synchrone Zusammenarbeitszeiten beinhalten sollte. Ob diese analog, virtuell oder hybrid gestaltet sind, muss in Abhängigkeit von der Policy der Organisation und der Art der Aufgabe der Einzelnen und Teams festgelegt werden. Eine Gestaltungsaufgabe liegt in der Diskussion der Zusammenarbeitsformen und -medien für synchronen und asynchronen Austausch (7 Abschn. 13.1.4, „Raumkompetenz“). Eine weitere Aufgabe liegt im Aufbau von Verbindlichkeit, der zunächst Absprachen über Erreichbarkeiten oder das Liefern individueller Beiträge oder Rückmeldungen voraussetzt. Wenn die  

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Erfahrung gemacht wird, dass Absprachen auf Distanz zuverlässig eingelöst werden, stärkt dies auch das gegenseitige Vertrauen. Praxistipp

Zur Klärung der Formen der Zusammenarbeit gehört in hybriden Arbeitskontexten auch die Klärung der Erreichbarkeitserwartungen. Idealerweise kann sich jedes Teammitglied zu seinen Präferenzen bezüglich Grenzziehung äußern, da sie den Hintergrund für Kommunikationsregeln bilden. Manche Teammitglieder möchten zu bestimmten Zeiten nur im Notfall angerufen oder angeschrieben werden, während es für andere keine Rolle spielt. Zwingend festzulegen sind die Antwortzeiten und Medien, die für die Kommunikation eingesetzt und bedient werden sollen, sowie die Form der Kommunikation in dringlichen undwichtigen Anliegen.

Kulturentwicklung

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Mobil-flexibles Arbeiten geht mit einer indirekten Leistungssteuerung einher, die zu einer ungesunden Selbstverausgabungsdynamik führen kann. Eine gesundheitssensitive Leistungskultur aufzubauen ist deshalb wichtig, stellt aber angesichts des Wettbewerbsdrucks für viele Organisationen eine Herausforderung dar. Eine Dysbalance zwischen Anforderungen und Ressourcen ist oft eher die Norm als die Ausnahme, sie auszugleichen wird zur individuellen Herausforderung. Kratzer (2016, S. 28) empfiehlt daher, als Gegenwert zu einer Erfolgskultur eine Kultur des Scheiterns zu setzen, in der über perfektionistische Erwartungen ebenso gesprochen werden kann wie über die Realität, dass mitunter doch nur pragmatische Lösungen zu erreichen sind. Wie Veränderungen in einer Hochleistungskultur möglich sind, in der exzessiver Arbeitseinsatz in der Dimension Zeit zum nicht hinterfragten Leistungsstandard zählt, konnten Perlow & Porter (2009) zeigen. Sie führten in einer Unternehmensberatung über mehrere Monate Experimente mit Time-off-Richtlinien durch, in denen Berater:innen zu festgelegten Zeiten nicht arbeiten sollten. Die Veränderungen gewohnter Arbeitspraktiken führten zu anfänglichem Widerstand, wurden aber mit konsequenter Managementunterstützung durchgesetzt. Final erwiesen sie sich als erfolgreich, weil klügere Arbeitspraktiken im Umgang mit begrenzter Zeit entwickelt wurden und die Vorteile für die Work-Life-Balance spürbar waren. Der gewählte Weg beinhaltete nicht nur eine überzeugte Managementunterstützung für die Veränderungsziele, sondern auch einen begleitenden Dialog zwischen den Berater:innen, was zum Erreichen kultureller Veränderungen eine Bedingung ist. In einer hybriden Arbeitswelt ist es auch wichtig, die Entwicklung der Organisationskultur zwischen virtueller und analoger Zusammenarbeit zu beobachten und zu begleiten. Das HRM kann hier eine Monitoringfunktion übernehmen, indem es z.B.  in Befragungen organisationsspezifische Werte und ihre Veränderung über die Zeit erhebt und die Auseinandersetzung damit auf die Agenda setzt.

273 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

Gesundheitsschutz und -fürsorge Die Ergonomie der Arbeitsplätze außerhalb des Firmenbüros stellt eine noch weitgehend ungelöste Herausforderung dar. Eine Firmenbeteiligung an ergonomischen Büromöbeln und Ergonomieberatungen ist ein hilfreicher Beitrag für diesen Aspekt der Gesundheit. Gegen die Gefahr der Selbstgefährdung durch Verausgabung ist ein unterstützendes Boundary Management hilfreich. Die Begrenzung der Organisation in puncto Erreichbarkeitszeiten ist hier zu nennen, sie wird über Richtlinien oder Werte verkündet und über die Führung umgesetzt. Weiter zählt die Sensibilisierung der Führungskräfte für die Wahrnehmung von Fürsorgeaufgaben auf Distanz zu den wichtigen Unterstützungselementen. Eine systematische Erfassung der Arbeitszeiten steht nachweislich mit weniger Arbeitszeitextensivierung in die Freizeit und Überzeit in Zusammenhang. Da die Erfassung der Zeit von Mitarbeiter:innen oft als Eingriff in die Autonomie erlebt wird, muss diese Praktik gut erläutert und quasi beworben werden. Dies gilt auch für die zweischneidige Dynamik der indirekten Leistungssteuerung, die mit Gesundheitshandeln oft im Widerspruch steht. Es ist wichtig, eine Leistungskultur zu entwickeln, in der Ziele und Ressourcen in Balance gehalten werden können. Das gestaltet sich vielerorts als schwieriges Unterfangen, da ambitionierte Ziele auf der einen Seite und Ressourcenknappheit auf der anderen Seite oft als unabänderliche und daher hinzunehmende Realität in dynamischen Märkten gelten und die Suche nach guten Lösungen im Umgang damit blockieren.

Training, Beratung, Erfahrungsaustausch Aufklärung, Information und Ausbildung von Kompetenzen für Führung, Kollaboration und Selbstführung in hybriden Arbeitswelten können durch ein gut abgestimmtes Angebot an Trainings, Beratungen, Workshopmoderationen, Erfahrungsaustausch in analoger und virtueller Form vermittelt werden. 13.4.2 

Aufgabe

Der Zuschnitt der Aufgaben innerhalb eines Jobs hilft dabei einzuschätzen, wie ortsungebunden Arbeit stattfinden kann. Rollen mit einer hohen Außenausrichtung zum Kunden hin eignen sich sehr gut für intensives mobil-flexibles Arbeiten, Rollen mit hoher Innenorientierung etwas eingeschränkter. Zur Abhängigkeit der eigenen Arbeit von der anderer gibt es unterschiedliche Befunde, Leistungsvorteile bei intensivem mobil-flexiblem Arbeiten werden bei wenig Aufgabenabhängigkeit und bei hoher Aufgabenkomplexität gefunden (Turetken et al., 2011; Allen et al., 2015; Golden & Gajendran, 2019). In der Schlussfolgerung sollten also Jobs, die nach innen gerichtet und hoch abhängig von anderen sind, stärker im Betrieb als außerhalb verankert werden. 13.4.3 

Individuum (Person)

Aus individueller Sicht sind beim mobil-flexiblen Arbeiten die Herausforderungen in der Selbststeuerung groß. Dabei geht es darum, Strategien zur Steuerung und Regu-

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lierung des eigenen Verhaltens so einzusetzen, dass man gewünschte Ziele auch erreichen kann (vgl. 7 Kap. 14). Diese Kompetenz ist vielschichtig; sie umfasst Selbstmotivation und Emotionsregulierung bis hin zu arbeitsorganisatorischen Handlungstaktiken der Ziel- und Prioritätensetzung. Speziell im Umgang mit der Arbeitszeit ergibt sich die Aufgabenstellung, der Arbeit einen Platz im Leben zuzuteilen, der mit den Werten, Notwendigkeiten und verschiedenen Rollenverpflichtungen in Übereinstimmung steht. Arbeit und Privatleben voneinander trennen zu können ist nachweislich wichtig für die Gesundheit (z. B. Rexroth et al., 2012). Daher kommt dem Boundary Management eine hohe Bedeutung zu (siehe Hintergrundinformation „Boundary Management“). Da die Arbeitsmittel zunehmend digital sind, ist die Entwicklung von Digitalkompetenzen erfolgskritisch. Die hybride Kommunikation erfordert zudem hohe Kommunikations- und Kollaborationsfähigkeiten, die den digitalen und den sozialen Kompetenzen zuzuordnen sind.  

Hintergrundinformation: Boundary Management

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Die wesentliche Aussage der Boundary-Theorie (Nippert-Eng, 1996) lautet, dass Individuen zwischen den Lebensbereichen Arbeit („Work“) und Privat („Home“) mentale Grenzen ziehen und somit Kategorien bilden, denen in Gedanken unterschiedliche Menschen, Objekte und Themen zugeordnet sind. Diese Kategorienbildung ist nie absolut, sie ist im Kontext der jeweiligen Kultur der Gesellschaft und der Familie erlernt und individuell geprägt. Die mentalen Grenzen helfen dabei, verschiedene Rollenerwartungen und -anforderungen im Leben leichter erfüllen zu können. So verhält man sich am Arbeitsplatz gewöhnlich formeller als im Privatleben und markiert dies mit symbolischen Handlungen wie der Wahl der Kleidung. So haben z.B. Zoomkonferenzen aus der frühen Pandemiezeit die Irritation greifbar gemacht, die sich aus dem Verschmelzen beider Lebenswelten im Homeoffice im Thema Kleiderwahl ausdrückte: Sollte man sich bei der Arbeit am Bildschirm formell gekleidet präsentieren und damit dem inhaltlichen Anlass und der Berufsrolle Rechnung tragen, oder sollte man sich der Umgebung angepasst privatweltlich leger zeigen? Jedes Individuum hat eigene Vorstellungen und Werthaltungen darüber, wie die Rollenanforderungen und -erwartungen in den Bereichen Arbeit und Privat organisiert sind und ergo das eigene Boundary Management gestaltet werden soll: Manche gestalten es durch eine Segmentierungsstrategie, in der starke Grenzen zwischen Menschen, Objekten und Themen der beiden Rollenwelten gesetzt werden. Andere verbinden die beiden Lebenswelten stärker, verfolgen also eine Integrationsstrategie. Die folgenden Fragen geben einen groben Anhaltspunkt über die eigene Präferenz (aus Kossek et al., 2006, S. 357): 1. Ich bevorzuge es, mit den meisten Arbeitskolleg:innen nicht über Privates zu sprechen. 2. Ich rede zu Hause nicht über meine Arbeit. 3. Wenn ich bei der Arbeit bin, kümmere ich mich nur in Pausen um meine persönlichen Bedürfnisse. 4. Es kommt selten vor, dass ich nicht arbeitsbezogene Informationen bei der Arbeit lese. 5. Ich trenne Arbeits- und Privatmails. 6. Ich versuche, bei der Arbeit nicht an Familie oder Freunde zu denken. 7. Ich versuche aktiv, mein Privat- und Arbeitsleben voneinander getrennt zu halten. Ja-Antworten verweisen auf die Präferenz zu segmentieren, Nein-Antworten auf die Präferenz zu integrieren. Boundary Management findet zwar unbewusst statt, kann aber bewusst gestaltet werden. Kreiner et al. (2009) haben vier verschiedene Taktiken beschrieben, die Grenzziehungen ermöglichen: Räumliche Grenzziehungstaktiken bestehen darin, der Arbeit einen anderen Raum zuzuteilen, in dem keine Privataktivitäten stattfinden. Zeitliche Grenzziehung ist das Arbeiten nur zu bestimmten Zeiten. Kommunikative Grenzziehung findet z.B.  über das Mitteilen von Erreichbarkeit statt. Verhaltensbasierte Taktiken beinhalten z. B. den Einsatz von Technologie zur Grenzziehung, indem Anrufbeantworter oder verschiedene Laptops eingesetzt werden. In der Forschung werden Vorteile durch das Segmentieren aufgrund der besseren Erholung von der Arbeit beschrieben. Die mobil-flexible Arbeitswelt hingegen lädt zum Integrieren ein, wenn Arbeit zu Hause oder zeitlich über den Tag verteilt stattfindet. Auch Organisationskulturen lassen sich nach Integrations- versus Segmentierungspräferenzen unterscheiden.

275 Flexibilisierung der Arbeit in Raum und Zeit

Im Arbeitskontext sollte das Ziel des Boundary Management im Ermöglichen der bevorzugten Grenzziehung liegen. Der Beitrag der/des Einzelnen liegt darin, ihre bzw. seine Präferenzen zu kennen und deren Umsetzung mit dem Arbeitsumfeld kommunikativ abzustimmen und auszuhandeln. Der Beitrag der Organisation liegt im Gewähren von möglichst viel Wahlfreiheit hinsichtlich Arbeitsort und -zeit, denn dies lässt Raum für beide Präferenzen. Auf Teamebene führt dies zu notwendigen Erreichbarkeitsabsprachen, die getroffen werden müssen. Der Beitrag der Führung oder eines HRM liegt darin, für Regelungen zu sorgen, die vor dem Hintergrund einer deklarierten Organisationspolicy genügend Spielraum und Klarheit geben. Technische Boundary-Lösungen wie das Abschalten von Servern über den Abend und die Nacht sind kritisch zu beurteilen, da dadurch die Autonomie der Integrierer:innen beeinträchtigt wird. Aus HRM-Perspektive kann es durchaus sinnvoll sein, bei Rekrutierungen auf die Passung der Anforderungen der Organisation bzw. Rolle und der Präferenzen der Person zu achten. Umgekehrt ist es für Einzelperson sinnvoll, sich bei der Suche neuer Jobs auch am Match zwischen eigenen und organisationskulturellen Boundary-Präferenzen zu orientieren.

Zusammenfassung und Fazit Die Flexibilisierung des Arbeitens in räumlicher und zeitlicher Dimension ist kennzeichnendes Merkmal der sich verändernden Arbeitswelten. Physische Büroräume müssen für verschiedene Bedürfnisse und Funktionalitäten gestaltet werden und dadurch ein attraktiver Ort für Ko-Präsenz sein. Daneben spielen virtuelle Räume eine zunehmende Rolle. Deren Nutzung und Gestaltung in der Kombination von physischen und virtuellen Räumen erfordert eine erhöhte Raumkompetenz. Für diese erweiterte Gestaltungsaufgabe liegen bislang noch wenige Erfahrungen vor, sie sind Lernfeld und erfolgskritische Gestaltungsaufgabe. Die mit der räumlichen einhergehende zeitliche Flexibilisierung führt zu Arbeitsmodellen, die den vielfältigen Lebensentwürfen von heutigen und zukünftigen Mitarbeiter:innen entsprechen sollten, um als Arbeitgeber:in attraktiv zu bleiben. Mit der Tendenz zur raum-zeitlichen Entgrenzung der Arbeit wächst gleichzeitig die Notwendigkeit, neue Grenzlinien festzulegen, etwa die Erholungsbedürfnisse individuell zu erkennen und durchzusetzen, was von der Organisation im Dienste einer nachhaltigen Leistungsfähigkeit in Verbindung mit dem Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen unterstützt werden muss.

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13

281

Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden Imke Knafla und Carmen Keller Inhaltsverzeichnis 14.1

Veränderungen in der Arbeitswelt – 282

14.1.1 14.1.2 14.1.3

 igitalisierung und Flexibilisierung – 282 D Wertewandel in der Arbeitswelt – 283 Herausforderung für Organisationen und Führungskräfte – 283

14.2

Selbstführung – 284

14.2.1 14.2.2 14.2.3

 as ist Selbstführung? – 284 W Selbstkonkordanztheorie und Motivation – 285 Wie hängen Selbstkonkordanz und Selbstführung zusammen? – 287 Die Bedeutung von Selbstkonkordanz und Selbstführung im Arbeitskontext – 288

14.2.4

14.3

Implikationen für die Praxis – 289

14.3.1

S trategien zur Verbesserung der Selbstführung und der Selbstkonkordanz – 289 Erhöhung der Selbstkonkordanz auf Ebene der Organisation – 291

14.3.2

Literatur – 292

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_14

14

282

I. Knafla und C. Keller

Die Veränderungen in der Arbeitswelt aufgrund der Flexibilisierung und Digitalisierung führen zu neuen Arbeitsprozessen und Formen der Zusammenarbeit. Für höher qualifizierte Mitarbeitende gehen die Veränderungen oftmals mit einer zunehmenden Eigenverantwortung und neuen Anforderungen einher, die eine gut ausgebildete Selbstführung erfordern. Im Sinne nachhaltiger Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeitenden ist es dabei von großer Relevanz, dass die Aufgaben sowie die Werte der Organisation den Interessen, Werten und Bedürfnissen der Mitarbeitenden entsprechen, da die wahrgenommene Übereinstimmung (Selbstkonkordanz) einen entscheidenden Einfluss auf die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden hat. Je größer diese ist, desto weniger Energie müssen Mitarbeitende für ihre Selbstführung aufwenden. Gleichzeitig erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, Ziele zu erreichen, was zu Verbundenheit, Autonomie- und Kompetenzerleben führt. Es werden evidenzbasierte Strategien für eine gelingende Selbstführung aufgezeigt.

14.1 

Veränderungen in der Arbeitswelt

Die Veränderungen in der Arbeitswelt sind aktuell so fundamental wie seit der Industrialisierung nicht mehr (Bischoff, 2019).  Sie sind geprägt von neuen Technologien und Arbeitsprozessen, mobil-flexiblen Arbeitsplätzen und neuen Anforderungen an Mitarbeitende und Führungspersonen. Es entstehen neue Arbeitsformen, die durch eine Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen geprägt sind und zu neuen Formen der Zusammenarbeit führen. 14.1.1 

14

Digitalisierung und Flexibilisierung

Insbesondere für höher qualifizierte Mitarbeitende führen die Veränderungen zu mehr Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten. Projektorientiertes Arbeiten nimmt zu und geht mit einer zunehmenden Eigenverantwortung einher. Arbeitsaufgaben werden mehr und mehr von den Mitarbeitenden selbst festgelegt und kontrolliert. Neue Technologien helfen, direkter und schneller Rückmeldungen zu den Arbeitsprozessen und -ergebnissen zu erhalten. Damit gehen Erwartungen an eine hohe Selbstständigkeit in der Planung und Umsetzung der Arbeitsziele einher (Janiesch et al., 2017). Diese zunehmende Verantwortung sowie das orts- und zeitunabhängige Arbeiten im Zuge der Digitalisierung führen zu mehr Autonomie und damit zu einem zentralen Faktor für die Motivation und Gesundheit der Arbeitnehmenden (Kubicek et al., 2017). Die Automatisierung und Vereinfachung vieler Prozesse führt gleichzeitig zu veränderten Anforderungen. Die abnehmende Halbwertszeit des beruflich relevanten Wissens führt zu einer höheren Bedeutung von  selbstgesteuerten Lernprozessen. Zu dem ist von einer Intensivierung der Arbeit die Rede, immer mehr Arbeitsaufgaben müssen in weniger Zeit bewältigt werden (Paškvan & Kubicek, 2017). Die Schnelligkeit der Informationen einerseits, die die Mitarbeitenden nicht selten über neue Tools parallel erreichen, sowie die ständige Erreichbarkeit und Ablenkungsmöglichkeiten durch diverse Kommunikationsmedien erfordern eine ­Anpassungsfähigkeit auf Seiten der Arbeitnehmenden, damit Produktivität und Arbeitszufriedenheit nicht beeinträchtigt werden (Flecker et al., 2017).

283 Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden

Die erhöhte Eigenverantwortung und die neu entstandenen Anforderungen fordern eine gut ausgebildete Selbstführung im Sinne einer guten Selbststeuerung auf Seiten der Arbeitnehmenden (Manz & Sims, 2001, 2007). 14.1.2 

Wertewandel in der Arbeitswelt

Auch die Bedeutung der Erwerbsarbeit sowie die Werte, die im Kontext des Arbeitslebens von Bedeutung sind, sind einem Wandel unterzogen. Neben der materiellen Existenzsicherung hat die Erwerbsarbeit eine psychisch stabilisierende Funktion, indem sie die Bildung der Identität unterstützt sowie zum Erleben von kollektivem Sinn und Prestige in der Gesellschaft beiträgt und eine Erweiterung der sozialen Kontakte sowie das Eingebundensein ermöglicht. Zudem bietet sie Tagesstruktur und hat eine aktivierende Wirkung (Kholin & Blickle, 2015). Passend dazu zeigt ein Überblick über den Forschungsstand zur Folge von Arbeitslosigkeit ein erhöhtes Risiko für körperliche und psychische Beeinträchtigungen (Kroll et al., 2015). Auch Arbeitswerte fluktuieren und verändern sich über Generationen. Kholin und Blickle (2015, S. 21–22) fassen hierzu empirische Ergebnisse zu Generationsunterschieden am Arbeitsplatz zusammen. Demnach unterscheiden sich die Arbeitswerte der „Generation der Veteranen" (geboren vor 1945), der Werte wie Loyalität und Akzeptanz von Autorität zugeschrieben werden, von denen der „Baby-­ Boomer-­ Generation" (geboren zwischen 1946 und 1964), bei der Leistung und Prestige genannt werden. Die Arbeit sei demnach der Mittelpunkt des Lebens, für den Erfolg seien Opfer und Anstrengung ausschlaggebend. Bei den ab 1965 geborenen Arbeitnehmenden nehme die Bedeutung der intrinsischen Werte zu, wie Anregung und Selbstverwirklichung bei der „Generation X" (1965–1980) bis hin zu autonomer und individueller Lebensgestaltung, Freizeit und Work-Life-Balance bei der „Generation Y“. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Studie, die der Frage nachgeht, ob Menschen weiterarbeiten würden, wenn sie bei einem Lotteriegewinn ausreichend Geld gewinnen würden, sodass sie damit komfortabel bis zu ihrem Tod leben könnten. Bei den befragten Personen handelte es sich größtenteils um akademisch ausgebildete Fach- und Führungskräfte. Knapp über 75 % von ihnen gaben an, dass sie unter veränderten Bedingungen (kreativ arbeiten und eigene Ideen einbringen zu können) weiterarbeiten würden. Lediglich knapp 6 % der Befragten würden aufhören zu arbeiten, 19 % würden ihrer Arbeit wie bisher nachgehen (Borchert & Landherr, 2009). Die Studie zeigt, dass Erwerbsarbeit intrinsisch motiviert sein kann (siehe auch Motivation und Gründe, warum Menschen Ziele verfolgen 7 Abschn. 14.2.2).  

14.1.3 

Herausforderung für Organisationen und Führungskräfte

Die veränderten Arbeitswerte konfrontieren Organisationen und Führungskräfte ihrerseits mit neuen Anforderungen, da die wahrgenommene Übereinstimmung der eigenen Werte mit denen der Organisation von großer Relevanz für das ­Wohlbefinden, die Zufriedenheit und nachhaltige Leistung(-sfähigkeit) der Mitarbeitenden ist (Downes et al., 2017). Je mehr die Werte der Organisation sowie die Aufgaben den Interessen, Werten und Bedürfnissen der Mitarbeitenden entsprechen, desto größer ist die intrinsische Motivation, die Aufgaben zu erledigen, und desto weniger Energie und An-

14

284

I. Knafla und C. Keller

strengung (Selbstführung) kostet es die Arbeitnehmenden. Somit führt eine hohe (wahrgenommene) Übereinstimmung (Selbstkonkordanz) zu einer höheren Wahrscheinlichkeit für die Zielerreichung und gleichzeitig zu mehr Kreativität, Wohlbefinden und nachhaltiger Leistung (siehe Selbstkonkordanztheorie, 7 Abschn. 14.2.2). Somit sind auch die Führungskräfte gefordert, mit ihrer Führung bzw. ihrem Führungsstil auf den Wertewandel der Mitarbeitenden zu reagieren (Bono & Judge, 2003), wollen sie die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden ihrer Mitarbeitenden erhöhen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Veränderungen in der Arbeitswelt sowie der Wertewandel im Kontext des Arbeitslebens auf der einen Seite zu einer zunehmenden Bedeutung von gut ausgebildeten Selbstführungskompetenzen vonseiten der Mitarbeitenden führen und gleichzeitig die Organisationen gefordert sind, auf den stattfindenden Wertewandel zu reagieren.  

14.2 

Selbstführung

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, was Selbstführung bedeutet und welche evidenzbasierten Strategien helfen, die Selbstführungskompetenzen zu verbessern. 14.2.1 

14

Was ist Selbstführung?

Eine gelingende Selbstführung meint, sich eigene Ziele zu setzen, diese zu verfolgen, laufend anzupassen und zu erreichen. Damit unterscheidet sich der Begriff von dem des Selbstmanagements, bei dem es zwar auch um selbstkontrollierende Aktivitäten für bereits gesetzte Ziele geht, diese Ziele aber nicht selbst definiert wurden, sondern von außen oder „oben“ vorgegeben sind, beispielsweise die Ziele einer Abteilung oder Organisation. Selbstmanagement meint also im engeren Sinn die Zielerreichung, umfasst aber nicht die Setzung des Ziels (Müller & Wiese, 2010). Wenn also Zielsetzungs- und Zielverfolgungsprozesse mitgemeint sind, werden die Begriffe Selbstführung und Selbstregulation verwendet. Der Begriff der Selbstführung wird vor allem im Arbeitskontext benutzt (Neck et  al., 2017). In der Grundlagenforschung sowie im Gesundheitskontext wird der Begriff der Selbstregulation benutzt (Mann et al., 2013). Inhaltlich handelt es sich also um Synonyme, die in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden (. Abb. 14.1).  

Definition Charles Manz führte den Begriff der Selbstführung in den 1980er-Jahren ein und definiert Selbstführung als

»» „comprehensive perspective that concerns leading oneself toward performance of naturally motivating tasks as well as managing oneself to do work that must be done but is not naturally motivating“ (Manz, 1986, S. 589, zit. von Müller & Wiese, 2010).

Eine hohe Selbstführung bedeutet, sich eigene Ziele zu setzen, die anfallenden Aufgaben zu erledigen und bei Aufgaben, die nicht per se intrinsisch motivierend sind, also Freude machen,

285 Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden

Selbstführung Ziele werden selbst gesetzt Synonym für Selbstregulation wird vor allem im Arbeitskontext verwendet Selbstmanagement Ziele werden vorgegeben Wird daher in der Fachliteratur inhaltlich von den Begriffen Selbstführung und Selbstregulation abgegrenzt wird vor allem im Arbeitskontext verwendet Selbstregulation Ziele werden selbst gesetzt Synonym für Selbstführung wird vor allem in der Grundlagenforschung sowie in der Gesundheit verwendet

..      Abb. 14.1  Abgrenzung der Begrifflichkeiten Selbstführung, Selbstmanagement und Selbstregulation

diejenigen Aspekte zu identifizieren, die intrinsisch motivierend sind. Es handelt sich dabei um eine Steuerung des Selbst und des Verhaltens sowie um eine Regulation von Gefühlen und Stimmungen, um langfristige Ziele zu erreichen und sich nicht von kurzfristigen Bedürfnissen oder Ablenkungen leiten zu lassen (Mann et al., 2013; Mischel, 2014).

Diese Steuerung, also die Selbstführung, gelingt umso einfacher, je größer die Übereinstimmung (Konkordanz) zwischen den Aufgaben auf der einen Seite und den Interessen und Bedürfnissen auf der anderen Seite wahrgenommen wird (Downes et al., 2017; Werner & Milyavskaya, 2018). Diese Wahrnehmung kann jedoch gezielt beeinflusst werden, wir sprechen dann von einer Erhöhung der Selbstkonkordanz (siehe auch 7 Abschn. 14.3 „Implikationen für die Praxis“).  

14.2.2 

Selbstkonkordanztheorie und Motivation

Die Gründe, warum Menschen Ziele verfolgen, beeinflussen, wie gut es Menschen gelingt, kurzfristigen Ablenkungen zu widerstehen und langfristige Ziele zu erreichen (Werner & Milyavskaya, 2018). Relevante Erkenntnisse wurden im Rahmen der Selbstdeterminationstheorie und der Selbstkonkordanztheorie gewonnen (Deci & Ryan, 2000; Ryan & Deci, 2017; Sheldon et al., 2020; Sheldon, 2014). Beide Theorien unterscheiden zwischen autonomen Zielen, die aus „Want-to-Reasons“ (wollen) und kontrollierten Zielen, die aus „Have-to-Reasons“ (müssen) verfolgt werden (Werner & Milyavskaya, 2018). Autonome Ziele werden verfolgt, weil sie Freude machen (intrinsisch), mit den persönlichen Werten übereinstimmen (integriert) oder persönlich bedeutsam (identifiziert) sind und Menschen sie deshalb von sich aus verfolgen wollen (Ryan & Deci, 2017; Sheldon et al., 2020; Sheldon, 2014). Kontrollierte Ziele sind

14

286

I. Knafla und C. Keller

im Unterschied dazu solche, die aufgrund von äußerem Druck (extrinsisch aufgrund gesellschaftlicher oder sozialer Anforderungen) oder innerem Druck (introjiziert, zur Vermeidung von Schuld- und Schamgefühlen) verfolgt werden (Deci & Ryan, 2000; Ryan & Deci, 2017; Sheldon et al., 2020; Werner & Milyavskaya, 2018). Die Selbstkonkordanztheorie ist eine Erweiterung der Selbstdeterminationstheorie. Sie betont die Wichtigkeit des Verfolgens von autonomen Zielen, d. h. von Zielen, deren Erreichung intrinsisch Freude macht und die darüber hinaus mit den Werten und Präferenzen einer Person übereinstimmen (Werner & Milyavskaya, 2018). Dabei werden die Begriffe „Want-to-Motivation“, „Autonomous ­Motivation“ und „Self-Concordance“ als Synonyme verwendet (Werner & Milyavskaya, 2018, S. 3). Definition Selbstkonkordanz ist also die Übereinstimmung des Ziels mit dem Selbst und damit eine Eigenschaft des Ziels (Sheldon & Elliot, 1999). Bei hoher Selbstkonkordanz stimmt ein Ziel mit den persönlichen Interessen und Werten überein, es wird ein autonomes Ziel verfolgt. Bei niedriger Selbstkonkordanz wird ein kontrolliertes Ziel aufgrund von äußerem oder innerem Druck verfolgt.

14

Die Selbstdeterminationstheorie nimmt an, dass Menschen sich ihrer Ziele bewusst sind und ihre Ziele bewusst auswählen können. Im Unterschied dazu geht die Selbstkonkordanztheorie davon aus, dass Menschen häufig nicht wissen, welche Ziele für sie gut sind. Menschen haben ungenügende Kenntnisse über ihre Ziele, Interessen, Bedürfnisse und Werte, die ihrer Persönlichkeit wirklich entsprechen. Die Ziele und Interessen sind ihnen oft nicht bewusst. Die Auswahl von bewussten, expliziten Zielen stimmt dann häufig nicht mit unbewussten, impliziten Zielen überein. Aufgrund von äußeren (z. B. vermeintlich gesellschaftlichen) Erwartungen verfolgen Menschen oft über eine lange Zeit Ziele, die ihnen eigentlich nicht entsprechen. Selbstkonkordante Ziele hingegen repräsentieren Kernwerte (Sheldon, 2014; Sheldon & Elliot, 1999). Sie stimmen mit den impliziten Werten, Interessen, Talenten, Bedürfnissen sowie Motiven einer Person überein und passen zu ihrer Persönlichkeit und ihrem Entwicklungspotenzial (Sheldon, 2014). Wie können Menschen nun erkennen, ob ein Ziel selbstkonkordant ist oder nicht? Die selbstkonkordante Zielauswahl erfordert gute Selbstwahrnehmung (Sheldon, 2014). Die affektive Evaluation der Ziele gibt Hinweise über die Qualität der Ziele, d. h., unsere Gefühle als Reaktion auf ein Ziel geben uns Hinweise, wie gut die Ziele mit unseren Werten übereinstimmen, und werden auch zur Erfassung von konkordanten und nichtkonkordanten Zielen verwendet. Konkordante Ziele fühlen sich intern begründet an, willentlich übernommen, weil sie für das Individuum wert- und bedeutungsvoll und interessant sind, und lösen positive Gefühle aus. Nichtkonkordante Ziele fühlen sich extern begründet an, sie werden durch Gefühle wie Schuld, durch Introjekte (Verinnerlichung von Werten und Normen im Rahmen der Sozialisation eines Menschen) oder durch externen Druck motiviert und sind erkennbar durch negative Gefühle oder Gefühle der Ambivalenz (Sheldon, 2014).

287 Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden

Das Verfolgen von selbstkonkordanten Zielen, d. h. eine hohe Selbstkonkordanz, führt zu nachhaltigem Engagement der Individuen für die Zielerreichung. Menschen, die selbstkonkordante Ziele verfolgen, zeigen nachhaltige Anstrengungen, um diese Ziele zu erreichen, und erreichen sie deshalb auch mit hoher Wahrscheinlichkeit (Sheldon, 2014; Sheldon & Elliot, 1999). Sie führen zu entsprechenden täglichen aktivitätsbasierten Erfahrungen von Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit und als Folge dieser Bedürfnisbefriedigung zu höherem Wohlbefinden (Sheldon, 2014; Sheldon & Elliot, 1999). Zahlreiche Studien bestätigen mittlerweile auch, dass eine erhöhte Selbstkonkordanz und damit einhergehende autonome Motivation zu höherem Wohlbefinden, besserer Gesundheit und besseren Leistungen und prosozialerem Verhalten führen. Autonome Ziele („Want-to-Goals“) werden eher erreicht als kontrollierte Ziele, wohingegen das Verfolgen von kontrollierten Zielen („Have-to-Goals“) mit einem negativeren Outcome verbunden ist (siehe Forschungsüberblick von Werner & Milyavskaya, 2018). Die Ergebnisse, dass selbstkonkordante Ziele einfacher zu verfolgen sind, stimmen auch mit neueren Modellen der Selbstregulation überein. Diese betrachten die Entscheidung zwischen kurz- und langfristigen Ziele zugunsten der langfristigen als Resultat einer Priorisierung von subjektiven Werten, die für die Identität und das Selbst relevant sind (vgl. Forschungsüberblick von Werner & Milyavskaya, 2018). Neueste Studien zeigen, dass Menschen, die selbstkonkordante Ziele wählen, die ihren Werten und Interessen entsprechen, vermehrt Ressourcen zur Verfügung und ein erhöhtes Wohlbefinden haben (Sheldon et al., 2020). Dies verbessert nachhaltig die Selbstregulation, Gesundheit und Leistungsfähigkeit (Downes et al., 2017; Unsworth & Mason, 2016; Werner & Milyavskaya, 2018).

 ie hängen Selbstkonkordanz und Selbstführung W zusammen?

14.2.3 

Auf welche Weise verbessert eine ausgeprägte Selbstkonkordanz die Selbstführung? Eine hohe Selbstkonkordanz und damit einhergehende autonome Motivation für ein Ziel erleichtert natürlicherweise und ohne großen Energieaufwand die Auswahl von zielkongruenten Optionen, weil diese mit den persönlichen Werten und Präferenzen übereinstimmen. So ist die Ablenkungsgefahr von einer Arbeit, die jemand gerne macht, kleiner als die von einer Arbeit, die jemand nicht gerne macht (Werner & Milyavskaya, 2018). Menschen mit kontrollierten (Have-to-) Zielen verspüren dabei eher innere Konflikte und müssen deutlich mehr Energie für die Selbstführung und die Zielerreichung aufwenden als Menschen mit autonomen Zielen (vgl. Forschungsüberblick Werner & Milyavskaya, 2018). Darüber hinaus zeigen zahlreiche Studien, dass Menschen mit größerer autonomer Motivation mehr Strategien anwenden, um ihre Umgebung so zu gestalten, dass sie mit weniger zielhinderlichen Ereignissen und Versuchungen konfrontiert sind (Werner & Milyavskaya, 2018). Dazu gibt es eine ganze Reihe von Selbst-, Aufmerksamkeits- und Emotionsregulationsstrategien wie Auswahl der Situation, Situationsveränderung, kognitive Umdeutung und Reaktionsmodulationen (siehe auch 7 Abschn. 14.3; z. B. Gross, 1998; Duckworth et al., 2016; Mann et al., 2013; vgl. auch Werner & Milyavskaya, 2018).  

14

288

I. Knafla und C. Keller

14.2.4 

 ie Bedeutung von Selbstkonkordanz D und Selbstführung im Arbeitskontext

Die genannten Ergebnisse wurden auch in Studien im Arbeitskontext bestätigt. Sie zeigen, dass die Auswahl von selbstkonkordanten Zielen die Selbstwirksamkeit der Mitarbeitenden und ihre Wahrnehmung der Passung ihrer eigenen Werte mit den Werten der Organisation erhöhte. Dies verbesserte wiederum die Leistung sowie die Zufriedenheit der Mitarbeitenden.

Ergebnisse einer Längsschnittstudie

14

Downes et al. (2017) konnten in einer Längsschnittstudie mit zwei Messzeitpunkten im Abstand von 4 Monaten bei Mitarbeitenden der Administration nachweisen, dass sich eine selbstkonkordante Zielverfolgung auf die arbeitsbezogene Zielerfüllung und Zufriedenheit auswirkte. Diese Effekte wurden über die zielbezogene ­Selbstwirksamkeit (Einschätzung, die Ziele erreichen zu können) und die Wahrnehmung der Übereinstimmung zwischen persönlichen Werten und den Werten der Organisation (Person-Organisations-Fit) vermittelt. Selbstkonkordanz wurde dabei in Bezug auf fünf Ziele untersucht, die die Mitarbeitenden selbst für sich festlegen konnten. Für jedes Ziel wurde erhoben, ob es ein kontrolliertes oder ein autonomes Ziel war. Ein kontrolliertes Ziel heißt, dass die Befragten das Ziel verfolgten, weil andere es von ihnen verlangten (extrinsisch) oder weil sie sich sonst schuldig oder ängstlich oder beschämt fühlten (introjiziert). Ein autonomes Ziel heißt, dass sie es verfolgten, weil sie es wichtig fanden (identifiziert) oder sie Freude und Vergnügen an der Tätigkeit hatten (intrinsisch). Die Ergebnisse zeigten, dass das Verfolgen von autonomen Zielen mit erhöhter wahrgenommener Übereinstimmung zwischen persönlichen Werten und den Werten der Organisation (Person-Organisations-Fit) einerseits und mit erhöhter zielspezifischer Selbstwirksamkeit (Wahrnehmung, die Ziele erreichen zu können) andererseits einherging. Dies wiederum beeinflusste die Zielerfüllung und die arbeitsbezogene Zufriedenheit. Kontrollierte Ziele hatten sowohl einen negativen Einfluss auf den Person-Organisations-Fit als auch auf die Selbstwirksamkeit und indirekt auf die arbeitsbezogene Zielerfüllung und Zufriedenheit. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass Mitarbeitende, die arbeitsbezogene Ziele in Übereinstimmung mit ihren Werten und Interessen festlegen und verfolgen können, einerseits mehr zielspezifische Selbstwirksamkeit erleben. Andererseits verändert sich die Wahrnehmung ihrer Organisation in der Weise, dass sie die Übereinstimmung der eigenen Werte mit denjenigen der Organisation als höher einschätzen (also eher wahrnehmen, dass die Organisation ähnliche Werte verfolgt wie sie selbst). Dies wirkt sich in der Folge auf die Zielerfüllung und Zufriedenheit der Mitarbeitenden aus (. Abb. 14.2). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine hohe Selbstkonkordanz eine wichtige Voraussetzung für die autonome Motivation ist, die für die Erfüllung von komplexen und kreativen Aufgaben erforderlich ist. Selbstkonkordanz ermöglicht gemäß der aktuellen Forschung die Anwendung von Selbstregulations- und Selbstführungsstrategien, die weniger Energie brauchen. Sie brauchen weniger Energie, da die Zielerreichung in Übereinstimmung mit den eigenen (impliziten) Werten und Interessen und damit in Übereinstimmung mit den Grundbedürfnissen nach Auto 

289 Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden

Übereinstimmung von Zielen und eigenen Werten

Autonome Motivation

Nachhaltiges und energieschonendes Investment

Höhere Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung

Wohlbefinden, Kreativität und nachhaltige Leistung

Erleben von Kompetenz, Autonomie und Verbundenheit

..      Abb. 14.2  Das Selbstkonkordanzmodell in Anlehnung an Sheldon, 2014; Sheldon & Elliot, 1999

nomie, Kompetenz und Verbundenheit gestaltet wird. Dies wiederum führt nachhaltig zu einer erhöhten Leistungsfähigkeit und Arbeitszufriedenheit. Wie können Mitarbeitende nun einen hohen Level an Selbstkonkordanz erreichen, wenn sie bereits an einer Arbeitsstelle sind? Hier zeigen Studienergebnisse in dieselbe Richtung. Die Anwendung von Selbstkonkordanzstrategien erhöht die Leistungsfähigkeit und Kreativität der Mitarbeitenden. Mitarbeitende, die ihre Arbeit nach Möglichkeit angenehm und ihren Interessen und Werten entsprechend gestalteten, zeigten eine höhere Leistungsfähigkeit, Kreativität und Zufriedenheit (Unsworth & Mason, 2016). Im Folgenden werden evidenzbasierte Strategien für eine effektive Selbstführung im Sinne der Selbstkonkordanz beschrieben.

14.3 

Implikationen für die Praxis

Was heißt dies für die Praxis? 14.3.1 

 trategien zur Verbesserung der Selbstführung S und der Selbstkonkordanz

Wie sehen nun erfolgreiche Strategien zur Selbstführung aus, die das Ziel haben, die Selbstkonkordanz zu erhöhen? Strategien der erfolgreichen Selbstführung wurden kürzlich in einer auf der aktuellen psychologischen Forschung basierenden Zusammenstellung beschrieben (siehe Keller & Knafla, 2019). Drei aus der Sozial- und Gesundheitspsychologie (vgl. Mann et al., 2013) abgeleitete Hauptstrategien wurden mit acht aus der Arbeits- und Organisationspsychologie abgeleiteten Selbstführungsstrategien (vgl. Neck et  al., 2017) ergänzt. Die Kernessenz dieser evidenzbasierten Selbstführungsstrategien ist das Grundprinzip erfolgreicher Selbstregulation von Walter Mischel (2014) „Cool the now, heat the later“. Dieses löst das Dilemma zwischen (ablenkender) kurz- und (weiterführender) langfristiger Zielverfolgung. Einerseits werden die Anforderungen und Konsequenzen des langfristigen Ziels ins unmittelbare Handeln im Hier und Jetzt übertragen. Andererseits wird eine zeitliche und räumliche Distanz zu zielhinderlichen Aktivitäten hergestellt. Werden bei der Übertragung der langfristigen Ziele ins unmittelbare Handeln im Hier und Jetzt die eigenen Werte und Interessen berücksichtigt, handelt es sich im eigentlichen Sinne um Strategien der Selbstführung, die die Selbstkonkordanz erhöhen. Sie sind generell dadurch gekennzeichnet, dass sie die natürlichen Belohnungsaspekte der Arbeit aufnehmen (Unsworth & Mason, 2016). Sie werden im Folgenden präsentiert.

14

290

I. Knafla und C. Keller

Ziele setzen und planen, die eigenen Werten entsprechen Das Setzen von Zielen und das Planen von zielförderlichen Aktivitäten spielt eine zentrale Rolle bei der erfolgreichen Selbstführung. Die Arbeitsziele können entsprechend den eigenen Bedürfnissen, Wertvorstellungen, Präferenzen und Kompetenzen gesetzt werden. Dies ist auch bei einfachen Routineabläufen möglich. Ist einem Verkäufer im Detailhandel z. B. Respekt gegenüber Menschen wichtig, kann er dies in die alltägliche Interaktionsgestaltung mit Kunden und Kundinnen einfließen lassen. Von Bedeutung dabei ist, dass sich Mitarbeitende und Führungskräfte über die inneren Präferenzen, Werte und Bedürfnisse im Klaren sind. Der Selbstwahrnehmung und dem Einblick in die eigenen inneren Werten und Präferenzen wird dementsprechend in der aktuellen Forschung zu Selbstkonkordanz eine wichtige Rolle zugesprochen (Grund et  al., 2018). Sie kann mit (mentalem) Training von Achtsamkeit gefördert werden. Einblick in die eigenen Werte und Präferenzen ist auch zentral, wenn es darum geht, Resistenzen gegenüber Ablenkungen aufzubauen. Indem Ereignisse antizipiert werden, die von der Zielerreichung ablenken, können alternative Handlungsmöglichkeiten eingeplant werden (vgl. Keller & Knafla, 2019). Je näher diese den eigenen Werten und Präferenzen sind, desto höher ist die Erfolgswahrscheinlichkeit der Umsetzung.

 reignisse neu betrachten und eigene Werte in Arbeitsaktivitäten E integrieren

14

Ereignisse können unterschiedlich interpretiert werden. Um sich insbesondere für anstrengende oder unattraktive Aktivitäten motivieren zu können, kann es hilfreich sein, sich auf die belohnenden Aspekte der Arbeit zu fokussieren. So kann es motivierend sein, Qualitäten der Tätigkeiten im Hier und Jetzt in den Vordergrund zu rücken, die den Grundbedürfnissen nach Autonomie, Kontrolle, Kompetenz und Sinnhaftigkeit entsprechen (vgl. Keller & Knafla, 2019). Auch die Emotionen können reguliert werden, indem die Aufmerksamkeit auf die Qualitäten der Arbeitsinhalte und -umgebung gerichtet wird, die mit den eigenen Werten übereinstimmen. So kann z. B. die direkte Arbeitsumgebung nach eigenen ästhetischen Präferenzen gestaltet werden, oder die Arbeitsabläufe können nach Möglichkeit an den Vorlieben orientiert werden. Auch können Gedanken oder Selbstinstruktionen bewusst aktiviert werden, um sich in eine Stimmung zu versetzen, die der eigenen Zielverfolgung dient. Ziele können also einfacher erreicht werden, wenn sie im Sinne der eigenen übergeordneten Ziele interpretiert oder gedeutet werden und dadurch im Hier und Jetzt sichtbar gemacht werden (vgl. Keller & Knafla, 2019).

Routine etablieren in Übereinstimmung mit eigenen Werten Mit Wenn-Dann-Plänen können zielförderliche Verhaltensänderungen in Form von Routinen gefördert werden, die wenig Energie erfordern und die Ausführung von Arbeitsaktivitäten erleichtern (vgl. Keller & Knafla, 2019). Werden Wenn-Dann-­ Pläne entsprechend den spezifischen Werten und Bedürfnissen der Personen formuliert, sind sie umso energieschonender. Während im „Wenn“ die genaue Situation spezifiziert wird, können im „Dann“ die alternativen Leitgedanken und Verhaltensweisen möglichst nahe an den Präferenzen der Person formuliert werden.

291 Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden

14.3.2 

 rhöhung der Selbstkonkordanz auf E Ebene der Organisation

Auch für die Perspektive der Organisation und Führungskräfte lassen sich aus der Selbstkonkordanztheorie Implikationen für die Praxis ableiten.

In der Führung die Werte der Mitarbeitenden berücksichtigen In Zeiten, da Selbstverwirklichung und autonomes Handeln zunehmend an Relevanz gewinnen, kann ein transformativer Führungsstil, der auf individualisierte Führung und intellektuelle Stimulierung setzt und dabei die Mitarbeitenden bei der Diskussion um Werte und Erwartungen unterstützt, die wahrgenommene Übereinstimmung fördern (Bono & Judge, 2003) und somit zu Zufriedenheit und ­nachhaltiger Leistungsfähigkeit führen. Fokussieren sich Führungspersonen auf die Entwicklung und Interessen ihrer Mitarbeitenden (Servant Leadership), können diese ihre Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und Kontrolle besser befriedigen (Chiniara & Bentein, 2016). Downes et  al. (2017) schlagen vor, diese Verbindung der Werte der Organisation mit denen der Mitarbeitenden in Führungsentwicklungsprogrammen zu thematisieren. Fördern Vorgesetzte die Formulierung von eigenen Zielen, erhöhen sie damit die wahrgenommene Passung.

Arbeitsorganisation und Belohnungssystem verändern Zudem empfehlen Borchert und Landherr (2009), langfristig die Arbeitsorganisation sowie das Belohnungssystem auf eine Weise zu verändern, die es Mitarbeitenden ermöglicht, kreative und sinnstiftende Arbeit auszuführen. Die Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit ist eine sowohl belohnende als auch motivierende Eigenschaft (Neck et al., 2017). In einer großen Längsschnittstudie konnte gezeigt werden, dass sich durch die Sinnhaftigkeit das Engagement und die Motivation für die Arbeit erhöhten (Vogt et al., 2016) und sich gesundheitsförderliche Auswirkungen ergaben (Meier Kernen & Kernen, 2013). Auch wenn die Organisation die Ziele für die Mitarbeitenden vorgibt, ist es an den Individuen, sich selbst zu regulieren, um die Ziele zu erreichen (Downes et al., 2017). Die Organisation kann jedoch den Mitarbeitenden aufzeigen, warum diese Ziele für die Organisation wichtig sind und wie die Erreichung der Ziele die Bedürfnisse und Werte der Mitarbeitenden erfüllen kann – und zudem die Mitarbeitenden überzeugen, dass sie fähig sind, die Ziele zu erreichen (Ryan & Deci, 2000, zit. nach Downes et al., 2017, S. 212).

Organisationale Rahmenbedingungen anpassen Nicht zuletzt braucht es auf der Ebene der Organisation ein Werte- und Diversity-­ Management, also einen bewussten Umgang mit Verschiedenheit und individuellen Bedürfnissen und Interessen, um diese Unterschiede nutzen zu können. Dazu gehört die Beachtung diverser kultureller und ethnischer Hintergründe, verschiedener Bedürfnisse über Generationen sowie des Arbeitswertewandels hin zu mehr  Berücksichtigung intrinsischer Werte. Die Aspekte der individuellen Lebensgestaltung und Work-Life-Balance gewinnen zunehmend, vor allem bei den jüngeren Generationen, an Relevanz. Dazu gehört auch das Ermöglichen von Teilzeitstellen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Kholin & Blickle, 2015).

14

292

I. Knafla und C. Keller

Strategien zur Verbesserung der Selbstführung und der Selbstkonkordanz Ziele setzen und planen, die eigenen Werten entsprechen Ereignisse neu betrachten und eigene Werte in Arbeitsaktivitäten integrieren Routine etablieren in Übereinstimmung mit eigenen Werten

Erhöhung der Selbstkonkordanz auf Ebene der Organisation In der Führung die Werte der Mitarbeitenden berücksichtigen Arbeitsorganisation und Belohnungssystem verändern Organisationale Rahmenbedingungen anpassen

..      Abb. 14.3  Strategien zur Verbesserung von Selbstführung und Selbstkonkordanz

Nehmen Organisationen die Bedürfnisse und Interessen der Mitarbeitenden wahr und gehen auf diese ein, ermöglicht dies eine persönlichkeitsfördernde Arbeitsgestaltung und damit letztendlich die Erhöhung der Selbstkonkordanz, die bei den Mitarbeitenden zu erhöhtem Wohlbefinden und nachhaltiger Leistungsfähigkeit führt und somit im Interesse sowohl der Organisation als auch des Individuums ist (. Abb. 14.3).  

Literatur

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293 Selbstführung, nachhaltige Leistung und Wohlbefinden

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14

295

Neue Formen der Führung Andres Claudius Pfister Inhaltsverzeichnis 15.1

Führung als Interaktionsprozess – 296

15.1.1 15.1.2

E ffektive Führungsverhalten – 296 Anforderungen an die Führungsrolle – 297

15.2

Wandel der Führungsrollen – 298

15.2.1 15.2.2

 isheriger Wandel der Führungsrollen – 298 B Neue Führungsrollen im Zuge der Agilität – 299

15.3

Plurale Führung – 300

15.3.1

Auswirkungen auf die klassische Linienführung – 302

15.4

Herausforderungen und Möglichkeiten des HRM – 302

15.4.1 15.4.2 15.4.3

 rganisationsprozesse – 303 O Ausbildung – 303 Organisationskultur – 304

Literatur – 304

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_15

15

296

A. C. Pfister

Führung wird weithin als ein Verhalten verstanden, welches von einer Person in einer Führungsfunktion ausgeübt wird. Viele Jahrzehnte der Forschung fokussierten hierbei auf die praktisch universell angetroffene Rolle der klassischen Linienführung mit der entsprechenden Personalverantwortung und Weisungsbefugnis. Die Forschung zeigt klar, dass gute Führung vielfältige positive Auswirkungen auf das Erleben und Handeln von Individuen und somit auch auf die Wirksamkeit von Organisationen (Lippmann et al., 2019) hat. Im Gegenzug hat schlechte Führung ebenso vielfältige negative Auswirkungen sowohl auf Individuen als auch auf Organisationen (Schyns & Schilling, 2013). Im Zuge vieler Entwicklungen in den letzten Jahren insbesondere durch das Aufkommen von agilen Arbeitsmethoden und Organisationsformen, durch die Zunahme an Wissensarbeit und Expertise der Mitarbeitenden, ebenso wie auch im Zuge der Digitalisierung und letztlich auch der Covid-Pandemie ab 2020 sind jedoch nachhaltige Veränderungen in der Führung zu beobachten. Diese Veränderungen sind nicht neu, haben aber mit den oben beschriebenen Entwicklungen an Dynamik gewonnen. Die klassische Linienführung als einzige Führungsrolle wird ergänzt und teilweise abgelöst von einer Vielzahl an neuen, spezialisierteren Führungsrollen, welche gemeinsam die Führungsaufgaben übernehmen. Entsprechend stellen sich folgende Fragen: Was heißt es heutzutage, in Organisationen wirksam zu führen, und wer übernimmt diese Führungsaufgaben im Zuge der Agilität und Selbstorganisation? Wo liegen für das HRM die Herausforderungen und Chancen dieser Entwicklung?

15.1 

15

Führung als Interaktionsprozess

Führung ist ein Interaktionsprozess zwischen Menschen, welcher dazu dient, das gemeinsame Handeln von Individuen und Gruppen auf die Verwirklichung von Zielen auszurichten (Springer-Gabler, 2022). Somit ist Führung per se nicht an eine Person oder Rolle gebunden, sondern wirkt über unterschiedlichste Verhaltensweisen, welche einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass zielorientierte und wirksame Zusammenarbeit zwischen Menschen in einer Organisation möglich wird. Führung entsteht somit als Resultat eines Interaktionsprozesses überall dort, wo Menschen zielgerichtet als Individuen oder als Kollektiv handeln. Der Entwicklung der Menschenbilder und Führungstheorien (Pfister, 2019) lag die generelle Annahme zugrunde, dass eine Person die dezidierte Führungsrolle übernimmt und dadurch maßgeblich den Interaktionsprozess gestaltet. Entsprechend hat sich die Forschung mit diesem Fokus über die Jahrzehnte intensiv mit der Frage befasst, welche Führungsverhalten effektiv sind (Pfister & Neumann, 2019). 15.1.1 

Effektive Führungsverhalten

Garry Yukl (2012) subsummiert diese effektiven Führungsverhalten in vier Gruppen: aufgabenorientiertes, beziehungsorientiertes, wandelorientiertes und nach außen orientiertes Führungsverhalten. 55 Aufgabenorientiertes Verhalten dient dazu, Ziele und Vorgehen zu klären, sich zu organisieren und zu planen, Probleme zu lösen und die Umsetzung sinnvoll zu überwachen. Es fokussiert somit darauf, was getan werden soll, und dadurch auf die inhaltlichen Themen, damit die gemeinsamen Ziele erreicht werden.

297 Neue Formen der Führung

Klären Aufgaben-Orientiert

Beziehungs-Orientiert

Planen Ausführung überwachen

Wahrnehmung steuern

Probleme lösen

Denken steuern

Unterstützen

Emotionen beachten

Entwickeln Beachten Befähigen

SelbstFührung

Für Wandel einstehen Wandel-Orientiert

Wandel vorstellen Innovation ermutigen Kollektives Lernen fördern

Aussen-Orientiert

Netzwerken

Entscheide treffen Motivation generieren Handlungen umsetzen Mit eigenen Ressourcen haushalten

Umwelt überwachen Repräsentieren

..      Abb. 15.1  Effektive Führungsverhalten. (Pfister & Neumann, 2019, ergänzt)

55 Beziehungsorientiertes Verhalten dient dazu, Fähigkeiten zu fördern, zu unterstützen, konstruktive Beziehungen zu etablieren wie auch Identifikation und Engagement zu generieren. Es fokussiert somit darauf, wie es gemeinsam getan werden soll, und dadurch auf die Gestaltung einer konstruktiven Zusammenarbeit. 55 Wandelorientiertes Verhalten dient dazu, Innovation wie auch kollektives Lernen zu fördern und sich externen Veränderungen anzupassen. Es fokussiert somit darauf, wie Veränderungen initiiert werden können und wie damit umgegangen werden kann sowie auch, wie Entwicklung gefördert werden kann. 55 Außenorientiertes Verhalten dient dazu, externe Veränderungen zu antizipieren wie auch zu beeinflussen. Es fokussiert somit darauf, wie Umweltveränderungen erkannt und günstige Umweltbedingungen geschaffen werden können. Pfister und Neumann (2019) definieren noch eine fünfte Gruppe von effektivem Führungsverhalten (. Abb. 15.1): 55 Selbstorientiertes Verhalten dient dazu, die eigene Wahrnehmung, das eigene Denken und Fühlen hilfreich zu steuern, um wirksam Handeln zu können. Ebenso ist es wichtig, mit den eigenen Ressourcen nachhaltig zu wirtschaften, um auch langfristig erfolgreich handeln zu können. Es fokussiert somit darauf, die individuelle Grundlage für wirkungsvolles Handeln im Rahmen von aufgaben-, beziehungs-, wandel- und außenorientiertem Verhalten zu ermöglichen.  

15.1.2 

Anforderungen an die Führungsrolle

Die Breite der effektiven Führungsverhalten lässt darauf schließen, dass die Anforderungen an eine Führungsperson in einer Führungsrolle sehr groß sind. Wirksame Führungskräfte müssten als logische Konsequenz in der Lage sein, die ganze Breite der effektiven Führungsverhalten situations- und personengerecht anzuwenden. Jedoch braucht die effektive Umsetzung solcher Verhalten Zeit, denn oft

15

298

A. C. Pfister

muss durch Beobachtung und Ausprobieren erst erkannt werden, welches Verhalten in einer spezifischen Situation mit den jeweiligen Personen wirksam ist. Oft sind in der Führung jedoch situative Zwänge anzutreffen, welche das Handlungsfeld der Führungspersonen und die zur Verfügung stehende Zeit einschränken. Nicht selten bestehen Anforderungen an Führungskräfte, welche sie zur Übernahme von operativen Tätigkeiten zwingen. Entsprechend können sie nur einen begrenzten Teil ihrer Arbeitszeit mit Führungsaufgaben verbringen. Als Folge wird die Führungstätigkeit häufig auf aufgabenorientierte und außenorientierte Tätigkeiten reduziert, um operative Wirksamkeit zu erzeugen. Für die komplexeren Themen wie Projektarbeit, Strategie- oder Mitarbeitendenentwicklung bleibt häufig keine Zeit mehr. Die Zunahme an Komplexität in der Arbeitswelt und die zunehmende Expertise der Mitarbeitenden führen ebenfalls dazu, dass eine hilfreiche Unterstützung und Weiterentwicklung der Mitarbeitenden im Sinne der beziehungsorientierten und wandelorientierten Führung mehr Zeit brauchen. Schon seit Längerem ist daher zu beobachten, dass spezialisierte Führungsrollen entstanden sind, die bestimmte Bereiche der Führungsarbeit übernehmen. 15.2 

Wandel der Führungsrollen

Über die Jahrzehnte haben sich neben der klassischen Linienführung weitere Führungsrollen etabliert, welche bisher Teilbereiche der Führung übernommen haben. Im Zuge der Einführung von Agilität oder selbstorganisierten Teams sind weitere spezialisierte Führungsrollen hinzugekommen. 15.2.1 

15

Bisheriger Wandel der Führungsrollen

Neben der klassischen Linienführung gibt es schon seit Jahren Projektführungs- wie auch Fachführungsrollen. Beide Rollen übernehmen Teilbereiche der Führung oder gewisse Führungsaufgaben und -verantwortungen. Projektführungsrollen übernehmen die Führungsaufgabe und -verantwortung für zeitlich begrenzte, thematisch eingegrenzte und auch oft überorganisationale Projekte. Sie entlasten dadurch die klassische Linienführung, indem sie für das Projekt die aufgaben- wie auch zu einem großen Teil die beziehungsorientierte Führung verantworten. Fachführungsrollen übernehmen die fachliche Unterstützung wie auch die fachliche Entwicklung der Mitarbeitenden und Teams. Sie übernehmen somit einen Teil der aufgabenorientierten Führung, indem sie bei der Problemlösung mitwirken, sowie auch einen Teil der beziehungsorientierten und wandelorientierten Führung, indem sie die Mitarbeitenden und Teams fach- und kompetenzbezogen weiterentwickeln. Die klassische Linienführung kann sich dadurch auf die operativen, personellen und strategischen Führungsaufgaben konzentrieren. Beiden spezialisierten Rollen ist jedoch gemein, dass sie nicht die Personalverantwortung und somit auch nicht die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten haben. Beide Rollen haben daher die Herausforderung, dass sie lateral führen, d. h., dass sie die Führung ohne Weisungsbefugnis durch Überzeugung, Motivation und Engagement gestalten müssen (Kühl et al., 2004).

299 Neue Formen der Führung

Neuere Entwicklungen haben aber zu weiteren spezialisierten Führungsrollen geführt, welche die Führungsarbeit und -verantwortung noch breiter in die Organisation verteilen. 15.2.2 

Neue Führungsrollen im Zuge der Agilität

Es gibt eine Vielzahl an Definitionen von Agilität (Zirkler & Werkmann-Karcher, 2020). Definition Rose (2018, S. 15) definiert Agilität als die Fähigkeit, Veränderung zu kreieren und darauf zu reagieren, um in einer unsicheren und turbulenten Umwelt erfolgreich zu sein.

Agiles Arbeiten fokussiert dabei auf die Etablierung von selbstorganisierten und zu einem großen Teil selbstgesteuerten Teams, welche schnell lernen und sich durch ihre Erkenntnisse den sich verändernden Anforderungen eigenständig anpassen können. Dadurch sollen die Organisationen insgesamt anpassungsfähiger für konstante Umweltveränderungen werden. Selbstorganisation und Selbststeuerung implizieren, dass Teams auch eine Vielzahl verschiedener Führungsaufgaben übernehmen. Konkret bedeutet dies, dass Teams einen großen Teil der aufgabenorientierten und beziehungsorientierten Aspekte der Führung selbst verantworten und gestalten, da sie Ziele selbst setzen und die Arbeitsprozesse wie auch die Zusammenarbeit eigenständig gestalten. Auch wandelorientiertes Verhalten wie kollektives Lernen und Innovation liegt nun in der Verantwortung der agilen Teams. Sie übernehmen somit einen zentralen Teil der Führungsarbeit einer klassischen Linienführung und müssen entsprechend die effektiven Führungsverhalten, die mit der aufgaben-, beziehungs- und wandelorientierten Führungsarbeit verbunden sind, selbstständig umsetzen. Dadurch wird die Rolle des Mitglieds eines agil arbeitenden Teams in Teilen auch eine Führungsrolle. Im Zuge der Einführung von selbstorganisierten Teams haben sich jedoch noch weitere spezialisierte Führungsrollen etabliert. Zielklärungsrollen wie die der Product Owners tragen wesentlich dazu bei, durch einen intensiven Austausch mit Kunden und Stakeholdern die übergeordneten Ziele für die agilen Teams zu fixieren, diese zu priorisieren, Ressourcen bereitzustellen, das Team nach außen zu repräsentieren wie auch Umweltentwicklungen zu erkennen und zu beeinflussen. Sie interagieren mit den Kunden und vertreten das eigene Team in übergeordneten Koordinationsgremien. Diese Rollen verantworten entsprechend aufgaben- und nach außen orientierte Führungsverhalten. Prozessführungsrollen wie Scrum Masters fokussieren primär auf die Unterstützung des Teams bei der gemeinsamen Gestaltung von aufgaben- und noch viel mehr von beziehungsorientierter Zusammenarbeit. Indem sie die Austauschprozesse der Teammitglieder strukturiert moderieren, ermöglichen sie dem selbstorganisierten Team, die wichtigen Fragen rund um die Themen effektive Zusammenarbeit auf Aufgaben- wie auch Beziehungsebene gemeinsam erfolgreich zu klären. Sie helfen dem Team dabei, gemeinsam Entscheidungen zu treffen wie auch verantwortungs-

15

300

A. C. Pfister

..      Tab. 15.1  Neue Führungsrollen und effektive Führungsverhalten. (Pfister & Neumann, 2019, ergänzt) Spezielle Führungsrolle

Aufgaben

Beziehung

Wandel

Team

X

X

X

Zielklärung (z. B. Product Owner)

X X

Veränderung (z. B. Agile Coach) Personalentwicklung (z. B. Tribe Chief)

X

Selbst X

X

Prozessführung (z. B. Scrum Master)

15

Außen

X

X

X

X

X

X

X

X

voll und wirksam umzusetzen. Scrum Masters unterstützen durch ihre Tätigkeit insbesondere auch den Lern- und Zusammenarbeitsprozess des Teams. Hierbei übernehmen diese Rollen beziehungs- wie auch wandelorientierte Führungsverhalten. Veränderungsrollen wie Agile Coaches unterstützen Teams und die Organisation dabei, agile Arbeitsweisen und entsprechende Strukturen zu implementieren. Sie begleiten daher die Individuen, Teams und die Organisation auf dem Veränderungsweg hin zur Agilität. Sie übernehmen somit in großem Maße das wandelorientierte Führungsverhalten bei der Einführung von Agilität. Personalentwicklungsrollen wie Tribe Chiefs und People Developers haben die Aufgabe, die individuelle Entwicklung der einzelnen Mitarbeitenden zu fördern wie auch die organisationsrelevanten Personalprozesse zu steuern. Sie verantworten einen nicht unerheblichen Anteil des wandel- wie auch zu einem kleineren Teil des beziehungsorientierten Führungsverhaltens. In gewissen Bereichen repräsentieren sie auch das Team nach außen. Sie übernehmen somit von der klassischen Führung die Verantwortung für die Personalentwicklung. Allen Rollen und allen Teammitgliedern ist gemein, dass sie selbst für ihre Selbstführung verantwortlich sind. Agile Arbeitsweisen und die damit eingeführten spezialisierten Führungsrollen führen somit dazu, dass Führungstätigkeit noch stärker zwischen den Organisationsmitgliedern aufgeteilt wird (. Tab.  15.1). Entsprechend können diese neuen ­Führungsrollen als eine strukturierte Form der pluralen Führung (Döös & Wilhelmson, 2021) betrachtet werden.  

15.3 

Plurale Führung

Döös und Wilhelmson (2021) beschreiben plurale Führung als Oberbegriff für unterschiedliche kollektive Führungsphänomene.

301 Neue Formen der Führung

Definition Plurale Führung wird von Denis et al. (2012, S. 212) definiert als „ein kollektives Phänomen, welches verteilt oder geteilt wird zwischen verschiedenen Personen, potenziell fluid und konstruiert in Interaktion ist“.

Die beiden aktuell wichtigsten Forschungszweige hierbei sind diejenigen der verteilten und geteilten Führung. Pearce und Conger (2003) beschreiben die geteilte Führung als einen dynamischen, interaktiven Prozess der gegenseitigen Beeinflussung zwischen Individuen und Gruppen mit dem Ziel, sich gegenseitig zu führen, um die Ziele der Gruppe und der Organisation zu erreichen. Nach Spillane (2005) kann die Führungstätigkeit zwischen zwei oder mehr Führungspersonen verteilt werden, was die verteilte Führung im Kern definiert. Döös und Wilhelmson (2021) betrachten die geteilte Management-Führung (Managerial Shared Leadership) als ein organisationales Phänomen, bei welchem einige Individuen gemeinsam Verantwortung für die Aufgaben, welche einer Führungsposition zugeordnet sind, haben oder übernehmen. Der Unterschied zwischen der geteilten Führung und der geteilten Management-­Führung wird von Döös und Wilhelmson so beschrieben, dass die Führung nicht zwischen normalen Teammitgliedern oder Individuen geteilt wird, sondern zwischen schon bestehenden Führungsverantwortlichen, was eine spezifische Führungsrolle impliziert. Betrachtet man die Entwicklung der Führungsrollen insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufkommen der agilen Arbeits- und Organisationsformen, so findet sich nun sowohl die geteilte Führung auf der Ebene der agilen Teams (Gren & Ralph, 2020) als auch die verteilte bzw. geteilte Management-Führung in der Form der unterschiedlichen spezialisierten Führungsrollen wieder. Gleichzeitig existieren die klassischen Formen der Linien-, Projekt- und Fachführung parallel in vielen Organisationen weiter. Organisationen werden somit immer stärker plural geführt, d. h., die Führungstätigkeiten verteilen sich auf immer mehr Personen. Betrachtet man die effektiven Führungsverhalten, so fällt zudem auf, dass die spezialisierten Führungsrollen nur bestimmte effektive Führungsverhalten als deren wesentlichen Kern beinhalten. Als Konsequenz findet Führung viel stärker in einem Netzwerk von Individuen anstatt konzentriert durch eine einzelne Person statt. Dies kann so weit gehen, dass die klassische Linienführung in dieser Form als Führungsrolle obsolet wird, da die Führungsaufgaben und -verantwortung in der pluralen Führung vollständig von den spezialisierten Führungsrollen und den Teammitgliedern übernommen werden. Wenn mit der Einführung von moderneren Organisationsformen die Führung auf viel mehr Personen in einer Organisation verteilt wird, hat dies Auswirkungen auf die Rolle der klassischen Linienführung wie auch auf die Organisationen als Ganze.

15

302

A. C. Pfister

15.3.1 

15

Auswirkungen auf die klassische Linienführung

Klassische Linienführungsrollen sind aktuell noch die dominierende Form der Führungsrollen. Jedoch verteilen sich die Führungsaufgaben mit der Einführung von selbstorganisierten Teams und spezialisierten Führungsrollen. Die Folge ist, dass ursprünglich zentrale Führungsaufgaben und -verhalten einer klassischen Führungsrolle nun von anderen Organisationsmitgliedern verantwortet werden. Dies betrifft im Besonderen die operative Führung bestehend aus aufgaben- und beziehungsorientiertem Führungsverhalten, welche den Kern der klassischen Führungsrolle ausmachen. Als Konsequenz rückt für die klassische Linienführungsrolle vermehrt wandelund außenorientiertes Verhalten in den Mittelpunkt der Führungstätigkeit. Die neue Führungsarbeit beinhaltet unter anderem strategische Führungs- und Visionsarbeit, Coaching, Entwicklung und Unterstützung von Individuen und Teams, Beeinflussung der Rahmenbedingungen und anstehenden Veränderungen durch Netzwerken sowie Repräsentieren. In diesem Sinne dient die Führung in dieser Rolle dem Team und der Organisation als Ganzer. Der Forschungszweig des Servant Leadership (Greenleaf, 1977) rückt eine Form dieser dienenden Führung ins Zentrum. Obwohl aktuell keine einheitliche Definition von Servant Leadership existiert (Van Dierendonck, 2011), beschreiben Luthans und Avolio (2003) diese als den Willen, innerhalb einer Organisation Möglichkeiten zu schaffen, das Wachstum der Mitarbeitenden zu fördern. Klassische Linienführung verändert sich aus dieser Perspektive nachhaltig. Wo früher die Arbeit im System in Form der operativen Gestaltung der Zusammenarbeit maßgeblich die Tätigkeit einer Führungsrolle ausmachte, tritt nun verstärkt die Arbeit am System in Form von wandelorientierten und nach außen orientierten Tätigkeiten in den Vordergrund. Das Ziel ist es, ein hilfreiches Umfeld für die Teamsysteme zu gestalten, die Teamsysteme dabei zu unterstützen, sich konstruktiv zu entwickeln, und gleichzeitig auch das Organisationswohl im Auge zu behalten, indem die Führung die Organisation dabei unterstützt, sich auf die Kundenbedürfnisse wie auch auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden auszurichten. Die breitere Nutzung von agilen Methodiken und entsprechend auch von agilen Teams, der daraus resultierende Zuwachs an spezialisierten Führungsrollen und die dadurch entstehende Veränderung der klassischen Führungsrollen haben weitreichende Auswirkungen auf Organisationen und deren Prozesse.

15.4 

Herausforderungen und Möglichkeiten des HRM

Diese Veränderung in der Führung stellt Organisationen und auch das Human Resource Management (HRM) vor einige nicht zu unterschätzende Herausforderungen. Gleichzeitig ergeben sich jedoch auch vielfältige Möglichkeiten, eine nachhaltige Organisation zu schaffen.

303 Neue Formen der Führung

15.4.1 

Organisationsprozesse

Eine Herausforderung besteht darin, dass die bisherigen organisationalen Prozesse nicht auf die Anforderung einer pluralen Führung zugeschnitten sind. Basierend auf der Grundannahme, dass eine Person die Weisungsbefugnis wie auch die Verantwortung hat, sind die entsprechenden Zielvereinbarungs-, Beurteilungs-, Lohnfindungs-, Entwicklungs-, Budget- und Rekrutierungsprozesse auf die Mitwirkung dieser klassischen Führungsrolle ausgerichtet. In einer plural geführten Organisation sind jedoch in vielen Prozessen mehrere Personen mit spezialisierten Führungsverantwortungen beteiligt. Besonders gut zeigt sich diese Herausforderung in den Zielvereinbarungs- und Lohnfindungsprozessen. Da ein selbstorganisiertes Team die Ziele im Verlauf eines Jahres anpassen kann und die Leistung als ganzes Team relevant ist, wirkt ein klassischer Jahreszielprozess mit individueller Fixierung von Jahreszielen kontraproduktiv. Gleichfalls lässt sich die Leistung einzelner Mitarbeitenden nicht mehr ohne Weiteres aus der Gesamtleistung eines Teams durch eine vorgesetzte Person extrahieren. Entsprechend ist der individuelle Lohnfindungsprozess durch eine vorgesetzte Person schwer umsetzbar. Als Folge lassen moderne Organisationen einen flexibleren Zielfindungsprozess zu, welcher von den Teams eigenständig entsprechend den Bedürfnissen gestaltet werden kann. Bewertungsund Lohnfindungsprozesse werden vermehrt in die Verantwortung der Teams gegeben. Dies bietet die Möglichkeit, dass Teams eigenständig Beurteilungs- und Lohnfindungsprozesse so gestalten, diese Prozesse so flexibel zu gestalten, dass sie vom Team wirksam gestaltet werden können. Dem HRM eröffnet sich die Option, wirksame Organisationsprozesse zu etablieren, welche Flexibilität ermöglichen. Da diese Prozesse dadurch viel stärker auf die Arbeitsrealitäten der Mitarbeitenden und Teams zugeschnitten sind, werden sie wirksamer. 15.4.2 

Ausbildung

Eine weitere Herausforderung liegt in der Ausbildung und Entwicklung der Mitarbeitenden und jener Personen, welche Führungsaufgaben übernehmen. Da in der pluralen Führung viel mehr Personen Führungsaufgaben übernehmen, bedeutet dies für das HRM, dass diese Mitarbeitenden auch entsprechend ausgebildet werden sollten. Das heißt, dass zentrale Führungsaufgaben ein fundamentaler Teil der Grundausbildung werden, sei es, Zielprozesse wirksam zu gestalten, wirkungsvolle Gesprächsführung zu erlernen oder Konflikte wie auch komplexe Probleme gemeinsam zu lösen. Auch die zentrale Thematik der Selbstführung bekommt für alle Mitarbeitenden einer Organisation eine hohe Relevanz, denn wenn sich die Führung verteilt, steigt die Verantwortung, selbst für einen gesunden Umgang mit der Arbeitsbelastung zu sorgen. Dies eröffnet dem HRM die Möglichkeit, Mitarbeitenden eine Vielzahl an wichtigen Grundkompetenzen mit auf den Weg zu geben, mit welchen sie eigenständig die Zusammenarbeit wie auch ihr Arbeitsumfeld konstruktiv gestalten können. Das HRM wird dadurch ein wichtiger Partner für alle Mitglieder einer Organisation, da es auf praktisch allen Ebenen wirksam bei der Gestaltung einer konstruktiven Zusammenarbeit unterstützen kann.

15

304

A. C. Pfister

15.4.3 

Organisationskultur

Eine weitere große Herausforderung liegt darin, eine Organisationskultur zu etablieren, in welcher die plurale Führung wirksam gelebt werden kann. Hierbei steht die Thematik der Verantwortungsübergabe und -übernahme im Zentrum. Klassische Führungsverantwortliche müssen Verantwortung an Teams und an weitere spezialisierte Führungsrollen abgeben. Gleichzeitig erfahren ihre Rollen einen Wandel hin zu einer vermehrt organisationsgestaltenden und dienenden Rolle, welche die Teamsysteme dabei unterstützt, sich gut zu entwickeln, und gleichzeitig versucht, ein für das Team und dessen Entwicklung günstiges Umfeld zu schaffen. Netzwerken, strategisches Denken und Handeln, Verhandeln und Coachingfähigkeiten werden in diesen Rollen zu zentralen Erfolgskompetenzen. In gleichem Maße, wie Verantwortung von den klassischen Führungsrollen abgegeben wird, muss diese Verantwortung jedoch auch von den spezialisierten Rollen und von den selbstorganisierten Teammitgliedern übernommen werden. Auch hier findet ein Kulturwandel statt, da nicht mehr eine Führungsperson die Gesamtverantwortung für das Handeln einzelner trägt, sondern jede einzelne Person für sich und für die wirksame Gestaltung der Zusammenarbeit die Verantwortung trägt. Dies bedingt auch, dass schwierige Entscheidungen gefällt und auch verantwortet werden müssen, seien dies Entscheidungen über Ziele, Lohn und Lohnkomponenten, Kündigungen oder andere Entscheidungen, welche früher die Aufgabe der Linienvorgesetzten waren. Gleichzeitig ergibt sich hier auch die Möglichkeit, eine Organisationskultur zu entwickeln, in welcher alle Mitglieder Verantwortung tragen, schwierige Probleme gemeinsam und eigenständig lösen, sich gegenseitig konstruktiv unterstützen und gemeinsam eine auf vielen Ebenen nachhaltige Organisation gestalten. Fazit: Ein großer Wandel braucht Unterstützung

15

Führung befindet sich im Wandel hin zu einer breiteren Verteilung der Führungsaufgaben und -verantwortungen in einer Organisation. Die plurale Führung mit unterschiedlichsten spezialisierten Führungsrollen und der Übernahme der operativen Führung durch selbstorganisierte Teams ist ein Wandel, der tief in die Funktionsweise und Kultur einer Organisation wirkt. Dem HRM kommt eine zentrale Bedeutung zu, diesen Wandel zu begleiten. Auch wenn eine Organisation in diesem Prozess erhebliche Herausforderungen zu meistern hat, so bietet der Wandel auch vielfältige M ­ öglichkeiten, langfristig eine nachhaltige, wirksame und für alle Mitarbeitenden passendere Organisation zu schaffen.

Literatur Denis, J.-L., Langley, A., & Sergi, V. (2012). Leadership in the plural. The Academy of Management Annals, 6(1), 211–283. Döös, M., & Wilhelmson, L. (2021). Fifty-five years of managerial shared leadership research: A review of an empirical field. Leadership, 17(6), 715–746. Greenleaf, R. K. (1977). Servant leadership: A journey into the nature of legitimate power and greatness. Paulist Press. Gren, L., & Ralph, P. (2020). What makes effective leadership in agile software development teams? In Proceedings of the 44th International Conference on Software Engineering (Technical Track ICSE2022), May 21–29, 2022. Pittsburgh. [preprint].

305 Neue Formen der Führung

Kühl, S., Schnelle, T., & Schnelle, W. (2004). Führen ohne Führung. Harvard Business Manager, 1, 70–79. Lippmann, E., Pfister, A., & Jörg, U. (2019). Handbuch Angewandte Psychologie. Springer-Gabler. Luthans, F., & Avolio, B. (2003). Authentic leadership development. In K. Cameron & S. & Dutton, J., E. (Hrsg.), Positive organizational scholarship (S. 241–254). Berrett-Koehler. Pearce, C. L., & Conger, J. A. (2003). Shared leadership – Reframing the hows and whys of leadership. SAGE. Pfister, A. (2019). Menschenbilder. In E. Lippmann, A. Pfister, & U. Jörg (Hrsg.), Handbuch Angewandte Psychologie für Führungskräfte (S. 3–17). Springer-Gabler. Pfister, A., & Neumann, U. (2019). Führungstheorien. In E. Lippmann, A. Pfister, & U. Jörg (Hrsg.), Handbuch Angewandte Psychologie für Führungskräfte (S. 39–73). Springer-Gabler. Rose, D. (Hrsg.). (2018). Enterprise agility for dummies (S. 15). Wiley. Schyns, B., & Schilling, J. (2013). How bad are the effects of bad leaders? A meta-analysis of destructive leadership and its outcomes. The Leadership Quarterly, 24, 138–158. Spillane, J. P. (2005). Distributed leadership. The Educational Forum, 69, 143–150. Springer-Gabler. (2022). Gabler Wirtschaftslexikon. https://wirtschaftslexikon.­gabler.­de/definition/fuehrung-­33168. Zugegriffen am 12.11.2021. Van Dierendonck, D. (2011). Servant leadership: A review and synthesis. Journal of Management, 37(4), 1228–1261. Yukl, G. (2012). Effective leadership behavior: What we know and what questions need more attention. Academy of Management Perspectives, 26(4), 66–85. Zirkler, M., & Werkmann-Karcher, B. (2020). Psychologie der Agilität: Lernwege für Individuen und Teams. Springer.

15

307

Agilität in Organisationen Michael Zirkler und Birgit Werkmann-Karcher Inhaltsverzeichnis 16.1

Organisation – 309

16.2

Das „magische Dreieck“ – 311

16.2.1 16.2.2 16.2.3

S trategie – 312 Struktur – 313 Kultur – 313

16.3

 eitrag des Human Resource Managements B zur Agilität in Organisationen – 314

16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.3.4

S trategie – 315 Strukturen – 320 Kultur – 323 Ethische Überlegungen – 324

Literatur – 326

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_16

16

308

M. Zirkler und B. Werkmann-Karcher

Agilität in und von Organisationen gilt heute als Erfolgsfaktor in dynamischen und komplexen Marktbedingungen. Dabei besteht ein Spannungsfeld zwischen Planung, Kontrolle, Routine einerseits und der raschen Beantwortung von Entscheidungsfragen andererseits. Agilität stellt einen Lösungsversuch dar, Komplexitäten in Organisationen sinnvoll zu begegnen. Für das Human Resource Management (HRM)  stellt sich die Frage, wie es sowohl selbst steigenden Erwartungen gerecht werden als auch die Organisation bei einer angemessenen Agilisierung unterstützen kann.

Agilität in Organisationen ist eine versuchte Lösung, um mit Komplexität umzugehen. Steigende Komplexität in der Umwelt von Organisationen (Technologien, Markt, Lieferant:innen, Kund:innen, Gesellschaft etc.) muss nach „innen“ auf geeignete Weise beantwortet werden (Ashby, 2011; Scott, 2004). Aber auch umgekehrt gilt: Je mehr eine Organisation beobachten kann, insbesondere mithilfe heutiger Informationstechnologien, je mehr Komplexität sie damit erfassen und „bespielen“ kann, desto mehr Komplexität mutet sie sich zu. So sind beispielsweise die heutigen internationalen Lieferketten bei Produkten und Dienstleistungen ohne entsprechende Informationstechnologien nicht denkbar. Hintergrundinformation: Komplexität Komplexität bedeutet zunächst Vielschichtigkeit. Diese Vielschichtigkeit bezieht sich auf die Interaktion von Elementen eines Systems, die in der Regel nicht exakt bestimmt oder berechnet werden kann. Komplexe Systeme weisen entsprechend Eigenschaften auf, die als emergent bezeichnet werden, das bedeutet, sie bringen Phänomene hervor, die sich aus den Elementen selbst nicht erklären lassen, sondern auf ihre spezifische Interaktion zurückgeführt werden müssen, die jedoch häufig nicht oder nicht vollständig verstanden wird. Die Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell beschreibt Komplexität wie folgt: „Organisation auf vielen Ebenen, kausale Wechselbeziehungen zahlreicher Komponenten, Wandelbarkeit im Verhältnis zu einem sich wandelnden Kontext und evolutionsbedingte Unwägbarkeiten“ (Mitchell, 2008, S. 31). Die Komplexitätsforschung „beschäftigt sich fachübergreifend mit der Frage, wie durch Wechselwirkung vieler Elemente eines komplexen Systems (z. B. Moleküle in Materialien, Zellen in Organismen oder Menschen in Märkten und Organisationen) Ordnungen und Strukturen entstehen können, aber auch Chaos und Zusammenbrüche“ (Mainzer, 2008, S. 10).

16

Das heißt aber nicht, dass jede Organisation in ihrem Umfeld notwendigerweise eine Steigerung der eigenen Komplexität (sog. Binnenkomplexitätssteigerung) erfahren muss. Dort, wo die Umwelt von Organisationen mehr oder weniger stabil ist bzw. sich nicht in einem sehr hohen Tempo entwickelt, ist Agilität keine sinnvolle Lösung, denn Agilität hat einen Preis. Es finden sich heute noch zahlreiche solche Bereiche in der Verwaltung, im Handwerk, in der Landwirtschaft, zum Teil auch in der Produktion. Sie werden sich jedoch auf längere Sicht kaum dem Druck zur Veränderung entziehen können, jedenfalls nicht in den Industriestaaten bzw. den sogenannten „entwickelten“ Ländern. Dafür sorgt der Druck ihrer Umwelten, also die Schnittstellen zu anderen Organisationen, Behörden, Lieferant:innen, Kund:innen etc. So könnte es sich heute kaum noch jemand leisten, die Kommunikation via E-Mail zu verweigern. Dort jedoch, wo Organisationen mit ihren Umwelten eng verkoppelt sind (Co-Evolution), führt die steigende Umweltkomplexität notwendigerweise zur Steigerung der Binnenkomplexität, wenn die Organisation erfolgreich bestehen bleiben will. Überall dort, wo Entscheidungen kurzfristiger gefällt werden sollten, sozusagen die „Rechenleistung“ verbessert werden soll, ist Agilität ein wichtiges Element erfolgreicher Organisationen.

309 Agilität in Organisationen

► Beispiel

Bei einer Basketballmannschaft ist Agilität erforderlich auf doppelte Weise. Einerseits müssen die Spieler:innen auf die Spielzüge der gegnerischen Mannschaft laufend und rasch reagieren, andererseits müssen sie auf die Potenziale (wer ist gerade anspielbar, wer hat Realisierungschancen auf den nächsten Korb) ihrer eigenen Leute achten. Würde eine Basketballmannschaft nur nach Routineprogrammen vorgehen, hätte sie kaum eine Chance, je ein Spiel zu gewinnen. Anders hingegen beim Rudern. Die Struktur des Wettkampfs beim Mannschaftsrudern macht Agilität weitgehend sinnlos. Die physische Fitness, das Material, die Kräfte bestimmen den Erfolg. Eine Strategie und entsprechende Anpassungen an die gegnerischen Ruder:innen ist sicher auch wichtig, aber wahrscheinlich nicht entscheidend. ◄

Dabei sind Organisationen jedoch selbst Treiber einer Dynamisierung von Umwelten, indem eine differenziertere Adressierung von Kund:innenerwartungen in der Regel höhere Erwartungen der Märkte sowie der Wettbewerber:innen nach sich ziehen. Dies ist dann wiederum nur mit mehr Eigenkomplexität zu bewältigen. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einer Komplexitätsfalle sprechen. Im Folgenden soll Agilität aus Sicht und mit Blick auf Organisationen dargestellt werden. Dabei soll im Vordergrund stehen, wie das HR-Management organisational zum Thema beitragen kann. Was Agilität für Individuen und Teams bedeutet, haben wir an anderer Stelle ausführlicher behandelt (Zirkler & Werkmann-Karcher, 2020).

16.1 

Organisation

Organisationen können als soziale Ordnungscluster verstanden werden, in denen menschliches Handeln koordiniert wird. Dabei lassen sich verschiedene Formen des Organisierens nach dem Grad der Entscheidungs- und Handlungsautonomie, welche Individuen darin besitzen, unterscheiden. Ein tiefer Autonomiegrad macht entsprechend große Vorgaben (wie in der Massenfertigung), ein hoher Autonomiegrad lässt viele Spielräume (wie in der Kreativindustrie). Darin liegt zunächst keine Wertung begründet. Hohe und tiefe Autonomiegrade lassen sich durchaus auch funktional mit der Art der Leistungserstellung erklären. So herrschen in Hochsicherheitsumgebungen (Operationssäle, Flugzeugcockpits) hohe Standardisierungen und Regelnotwendigkeiten, während in explorativen Umgebungen „Trial and Error“ für die Entwicklung von Neuem notwendige Voraussetzungen sind. Allerdings sind hohe und tiefe Autonomiegrade auch kulturell verankert. Organisationen mit hohem Kontrollbedürfnis der Akteur:innen sorgen in der Regel für einen tiefen Autonomiegrad, solche mit tiefem Kontrollbedürfnis für einen hohen. Baecker (1999) unterscheidet auf der Grundlage der neueren Systemtheorie „wohldefinierte“ und „schlecht definierte“ Systeme (Baecker, 1999, S. 15 ff.). Wohldefinierte Systeme sind insofern determinierende Systeme, als der Zusammenhang zwischen Input und Output festgelegt ist, wie z. B. bei einem Taschenrechner (2 plus 2 sollte dann immer 4 und nichts anderes ergeben). Schlecht definierte Systeme sind solche, deren Zusammenhang von Input und Output sich nicht aus ihrer Struktur ergibt und deren Antwort prinzipiell ungewiss (systemisch: kontingent) ist. Als Beispiel lassen sich hier Menschen anführen, die, wenn sie ehrlich antworten, auf die Frage „Wie geht es?“ jedes Mal prinzipiell eine andere Antwort geben.

16

310

M. Zirkler und B. Werkmann-Karcher

Baecker (1999) zur entsprechenden Motivationslage: „Das wohldefinierte System hat den Menschen nicht herausgefordert; der Mensch will aber herausgefordert sein. Also kann er mit dem schlecht definierten System besser umgehen als mit dem wohldefinierten. Er will nicht mit vollständigen Definitionen konfrontiert werden, sondern selbst definieren können. Weiter: Er will sich nur von einem System definieren lassen, das er selbst mitdefinieren kann“ (Baecker, 1999, S. 19). Agile Systeme sind schlecht definierte Systeme im Bereich des „being agile“ (agiles Mindset), wohldefinierte im Bereich des „doing agile“, also der Anwendung sogenannter agiler Methoden (vgl. Zirkler & Werkmann-Karcher, 2020). Agile Methoden setzen einen ganz klaren Rahmen und definieren möglichst eindeutige Prozesse, innerhalb derer „frei“ gespielt werden kann. Menschen leisten mit „doing agile“, aber insbesondere mit „being agile“ einen wesentlichen Beitrag dazu, Komplexität in Organisationen zu reduzieren, gleichzeitig erhöhen sie aber auch die Komplexität für andere, indem sie das tun. Der Zusammenhang zwischen Organisation, Team und Individuum muss als mehr oder weniger lose Kopplung begriffen werden. Das System (Organisation) determiniert nicht vollständig, was nach innen passiert, hat aber doch einen großen Einfluss im Sinne eines (sozialen) Ordnungsrahmens. Jede Regel, jede Weisung beinhaltet einen Auslegungs- und Interpretationsspielraum, den die Akteur:innen mehr oder weniger auf Basis ihrer Interessen und Motive nutzen (Ortmann, 2003). Im Zusammenhang mit Agilität ist der Organisationsbegriff nach Karl Weick (Weick, 2018) nützlich. Organisationen sind zunächst abstrakte Gebilde bzw. die Summe von abstrahierten Handlungen und Bezugnahmen, denen wir einen Namen geben. Mit der Organisationsbildung ziehen wir eine Grenze und markieren dann Handlungen, die innerhalb der Grenze ablaufen und solche, die außerhalb stattfinden (Markt, Kund:in, andere Organisationen, gesellschaftliche Akteur:innen). Definition Nach Karl Weick (Weick, 2018) lassen sich Organisationen besser verstehen, wenn man die darin ablaufenden Prozesse in den Blick nimmt und weniger ihre Substantivierung als „die“ Organisation. Dann ist „die Tätigkeit des Organisierens [definiert] durch Konsens gültig gemachte Grammatik für die Reduktion von Mehrdeutigkeit mittels bewusst ineinandergreifender Handlungen“ (Weick, 2018, S. 11).

16

Dabei beobachten wir zunehmend „blurring boundaries“ (vgl. Sauer, 2012), also unscharfe Grenzen, etwa wenn Lieferant:innen als erweitertes Netzwerk der Organisation fungieren, aber juristisch nicht Teil der Organisation sind. Mitgliedschaft und Funktionalität sind also paradox, die Kopplungsverhältnisse mehr oder weniger eng.

311 Agilität in Organisationen

Definition Das Verhältnis von Flexibilität und Agilität kann so verstanden werden, dass (strukturelle) Flexibilität eine notwendige Voraussetzung für Agilität ist. Flexibilität bezieht sich auf Strukturmerkmale, Agilität auf die Fähigkeit, innerhalb und mit bestimmten Strukturen „frei“ zu spielen. Flexibilität ist ein „passiver“ Begriff, Agilität ein „aktiver“. Bei der Agilität trifft ein System Entscheidungen und handelt aufgrund von Informationen. Flexibilität hingegen ist Ausdruck seiner Eigenschaften, eine kohärente Struktur beizubehalten (der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht; und verliert dann eben seine Funktion als Krug). Flexibilität finden wir häufig in der Natur (z. B. die Eigenschaft eines Baumes, sich im Wind zu biegen). Das gelingt jedoch nur in gewissen Grenzen, wie eindrücklich nach dem Jahrhundertsturm Lothar zu sehen war: Die strukturelle Anpassungsfähigkeit war in vielen Wäldern überstrapaziert, die Bäume brachen reihenweise. Wir finden sie aber auch als ­Materialeigenschaften. So braucht der Flügel eines Flugzeugs Flexibilität, damit er im Luftstrom schwingen kann. Im Bereich des HR-Managements lässt sich das Verhältnis an folgendem Beispiel illustrierten: Die Arbeitszeit kann bei der Jahresarbeitszeit flexibel eingesetzt werden, die Arbeit muss nicht einem „Normalarbeitstag“ folgen. Agilität herrscht dort, wo Entscheidungen über die Arbeitszeit (kurzfristig) getroffen werden können, je nachdem, was die Situation gerade sinnvollerweise erfordert oder ermöglicht.

Wenn von Organisation die Rede ist, muss man sich klar machen, dass es verschiedene Formen gibt, die zwar Gemeinsamkeiten haben (organisiertes Handeln), aber auch je unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. So bilden die hohe Regelorientierung und Prozesssicherheit einer Verwaltungsorganisation einen anderen Rahmen für Agilität als ein Berater:innennetzwerk oder ein mittelständischer inhaber:innengeführter Handwerksbetrieb.

Das „magische Dreieck“

16.2 

Definition Das „magische Dreieck“ aus Strategie, Struktur, Kultur (Königswieser et al., 2001, . Abb. 16.1) verweist auf den wechselseitigen Zusammenhang und Einfluss der drei organisationalen Dimensionen Strategie, Struktur, Kultur: „Eine Strategie ist nur so gut, wie sie (kulturell) umgesetzt wird, neue Strukturen nur so gut, wie sie mental gelebt werden, und Unternehmenskultur wiederum nur so funktional, wie sie strategisch und strukturell passt“ (Königswieser et al., 2001, S. 48). Die zeitlichen Faktoren sehen dabei wie folgt aus: Ausgehend von einer Vision lässt sich die Strategie innerhalb weniger Wochen anpassen, die Strukturen können innerhalb von Monaten umgestellt werden, die Veränderungen der Kultur hingegen dauern mehrere Jahre (vgl. Königswieser et al., 2013, S. 88).  

16

312

M. Zirkler und B. Werkmann-Karcher

VISION

STRATEGIE

STRUKTUR

KULTUR

..      Abb. 16.1  Das „magische Dreieck“. (Angelehnt an Königswieser et al., 2013)

16.2.1 

16

Strategie

Strategie kann als „Handlungsarchitektur“ (Pfister & Zirkler, 2019, S. 954 f.) aufgefasst werden. Eine Strategie antizipiert mögliche Antwortmöglichkeiten in komplexen und dynamischen Verhältnissen und schränkt so den potenziellen Handlungsrahmen für die Akteur:innen ein. Zur Strategie gehören neben den Fragen, wie ein Ziel erreicht werden kann, auch solche, welche die möglichen „Gegenmaßnahmen“ bzw. Realisierungsumstände aufwerfen. Organisationen haben grundsätzlich mehrere Möglichkeiten, sich mit Blick auf Agilität strategisch aufzustellen. Eine Option wäre es, die Organisation möglichst robust zu gestalten, sodass sie erforderlichen Anpassungsleistungen aus dem Weg gehen kann (sprichwörtliches „Mauern“). Der Erfolg einer solchen strategischen Wahl hängt ab davon, wie geschützt die Marktposition oder -„nische“ ist und kann dort, wo Umweltbedingungen selten neue Herausforderungen an die Organisation stellen, gut funktionieren (z. B. öffentliche Verwaltung, ­High-Reliability-­Organisationen). Eine andere Option wäre es, die Lern- und Entscheidungsfähigkeit, die Ambiguitätstoleranz, den Umgang mit Unsicherheit (VUCA) etc. als strategisches Moment zu inkludieren. Dadurch ließe sich ein Modus von Beobachtung, Entscheidung und Erneuerung etablieren, in dem kontinuierlich Umweltveränderungen wahrgenommen und verarbeitet werden und Erneuerungen in Prozessen, Produkten oder Geschäftsmodellen nicht nur und nicht erst spät aufgrund von Marktdruck stattfinden. In der Managementliteratur wird diese organisationale Fähigkeit als strategische Agilität beschrieben (vgl. Doz & Kosonen, 2010; Weber & Tarba, 2014), während sich die operationale Agilität auf inkrementelle, kontinuierliche Veränderungen im Kerngeschäft bezieht (Denning, 2018). Vor allem für Unternehmen, die in dynamischen Umfeldern agieren, steht strategische Agilität mit deren Leistungserfolg in Zusammenhang (Clauss et  al., 2021).

313 Agilität in Organisationen

Dass hier eine Schnittmenge zum Konzept der Innovation in Organisationen vorliegt, zeigt sich vor allem in den Aktivitäten zur Umweltbeobachtung, in die Organisationen in beiden Fällen investieren (7 Kap. 17). Dabei erfährt die Strategiearbeit in Organisationen heute selbst einen Agilisierungsprozess und verläuft dynamisch. Langfristige Strategieüberlegungen werden dabei durch mittel- und kurzfristige abgelöst. Strategische Initiativen betonen bestimmte Handlungsfelder innerhalb einer beschränkten Zeitspanne und versuchen, die Organisation nach innen fit zu halten, sodass sie ihre Aufgabe als Problemlösecluster auch in Zukunft wahrnehmen kann.  

16.2.2 

Struktur

Organisationen können ganz allgemein als soziale Ordnungscluster verstanden werden. Die Herstellung von Ordnung über Organisation ist eine Variante, Komplexität zu reduzieren, indem Regelprozesse eingerichtet werden, sodass für bestimmte Fragen nicht jedes Mal von Neuem Antworten entwickelt werden müssen. Dies führt zu Routinen, Regelungen, Programmen, Weisungen etc., welche notwendige ­Voraussetzung dafür sind, dass sich gleichzeitig kontingente Räume öffnen können, in denen die Dinge nicht vorausbestimmt sind. Organisationen operieren also stets zwischen Komplexitätsreduktion (Regelprozesse, Routinen) und Komplexitätssteigerung (Kontingenz, Innovation, Regelanpassung). Eine wichtige Quelle zur Komplexitätssteigerung sind Fehler bzw. Nichtbeachtungen von Regeln oder Routinen, welche mehr oder weniger aufwendig korrigiert, geahndet, bearbeitet werden müssen (Ortmann, 2003). Auf beiden Seiten lauern Risiken. Zu viel Organisation führt zur Erstarrung in Routineprogrammen, welche nicht in der Lage sind, sich anzupassen. Zu wenig Organisation führt zu hoher Spontaneität, welche Entscheidungen zufällig werden lassen. 16.2.3 

Kultur

Kultur ist der dritte Aspekt im „magischen Dreieck“. Die Anpassungsfähigkeit (Lernfähigkeit) des Systems hängt eng mit den Strukturen und Prozessen zusammen. Dort, wo „enge“ Strukturen herrschen, ist es schwieriger agil zu operieren, als dort, wo Strukturen und Prozesse fluider sind. Um den Kulturkern der Organisation differenzieren sich im Modell von Sackmann (2017) in Abhängigkeit von der Reifung der Organisation „Kulturblasen“, d. h., die Kultur wird verfeinert, zum Teil auch über Subkulturbildungen (. Abb. 16.2). In der Regel führen dann interne und/oder externe Krisen zu einer Rückbesinnung auf den Kulturkern bzw. zur Konzentration kultureller Merkmale und zur Abspaltung anderer (passt nicht mehr zu uns, bekommen wir kulturell nicht unter einen Hut). Neue „Kulturblasen“ bilden sich auch über die Mitgliedschaft neuer Personen, welche die Trends und gesellschaftlichen Entwicklungen repräsentieren und in die Organisation eintragen (Genderfragen, Work-Life-Fragen, Teilzeitarbeit, Familienmodelle, Kommunikationsstile etc.). Eine Herausforderung besteht darin, eine agilitätsförderliche Kultur zu entwickeln und zu pflegen, ohne das Risiko einzugehen, dass die beteiligten Menschen  

16

314

M. Zirkler und B. Werkmann-Karcher

Zeitgeist:

soziale politische ökonomische legale

Faktoren

externe Anforderungen

Gründer

Grundlegende Überzeugungen und Wertvorstellungen

Vision für

Organisation

Persönlichkeit Erfahrungen und Sozialisationseinflüsse

kollektive Verhaltensweisen

Geschichten Zeremonien

Kulturnetzwerk Mythen

Kulturkern:

Sagen

Mythen

(Mission)

Legenden

grundlegende Überzeugungen – kulturelles Wissen Legenden Sagen

Kulturnetzwerk Geschichten Zeremonien

kollektive Verhaltensweisen

Entwicklungsphase

Reifungsphase

Krise?

Verhalten in Organisation ist unterdeterminiert

Verhalten in Organisation ist überdeterminiert

OK ist eine abhängige Variable

OK ist eine unabhängige Variable

..      Abb. 16.2  Kulturmodell nach Sonja Sackmann (2017, S. 78)

„verbrennen“. Denn Agilität hat den Preis, dass sie eine erhöhte Aufmerksamkeit, Entscheidungsfreude und Handlungsaktivität verlangt. Es stellen sich auch weitere Fragen: Wenn man sich darüber klar ist, dass der Rahmen maßgeblich das bestimmt, was darin passiert, muss die Organisation die Voraussetzungen für agiles Arbeiten bereitstellen; sonst überlässt man das den Individuen, die sich in viele Widersprüche verstricken, die sich vielfach nicht lösen lassen. Das führt zu hohen Belastungen. 16.3 

16

 eitrag des Human Resource Managements zur Agilität B in Organisationen

Im Folgenden soll entlang der Dimensionen des „magischen Dreiecks“ beschrieben werden, worin der Beitrag des Human Resource Managements (HRM) zur Entwicklung der Agilität in Organisationen bestehen kann. Agilität in Organisationen wird hier nicht gleichgesetzt mit agilen Organisationsformen und -methoden. Wir gehen davon aus, dass eine Organisation nicht erst mit der Einführung selbstorganisierter, nach agilen Methoden arbeitender Teams oder holokratischer Organisationsmodelle Merkmale von Agilität (Flexibilität, Schnelligkeit in Entscheidungen, Kundenorientierung, Offenheit für Experimentieren und schnelles Lernen) realisieren kann, auch wenn sie oft eine logische Folge des Ziels sind, Agilität in die Organisation zu bringen. Die Covid-19-Pandemie hat aber gezeigt, dass viele durchaus traditionell strukturierte Organisationen in der Lage waren, agil durch die Krise zu navigieren. Dazu beigetragen haben gemeinsame Orientierungen, die sich auf veränderte Kundenbedürfnisse, veränderte Lieferbedingungen oder Arbeitsprozesse fokussiert und auf den Sinn für Notwendigkeit, im Unperfekten zu agieren, also zu experimentieren, bezogen haben. Schnelle Managemententscheidungen, größtmögliche operative Autonomie und die Überwindung bürokratischer Hürden haben auf der Prozessebene für die Umsetzung gesorgt.

315 Agilität in Organisationen

Welche Lektionen kann das HRM daraus ableiten, und wie kann es Agilität durch eigene Beiträge in Strategie, Struktur und Kultur fördern? 16.3.1 

Strategie

Üblicherweise wird die HR-Strategie aus der Unternehmensstrategie abgeleitet, ist ihr also nachgeordnet; in manchen Fällen ist sie eine Teilstrategie der Unternehmensstrategie. Sie wird mit HR-Professionswissen über Trends ergänzt und in strategische Ziele oder Prinzipien im Gestaltungsfeld der Humanressourcen übersetzt bzw. konkretisiert (vgl. 7 Kap. 3). Nun mag es selten vorkommen, dass der Begriff „Agilität“ explizit in der Strategie benannt wird; häufiger wird Agilität als Größe zu finden sein, die sich hinter den formulierten Strategiezielen verbirgt (siehe Beispiel).  

► Beispiel

Mercedes Benz benennt eine agile Kultur als explizites Strategieziel: „… in unserem Kerngeschäft weiter wachsen, das Kundenerlebnis noch stärker in den Vordergrund stellen, elektrisches Fahren mit Priorität umsetzen, … diese Transformation durch eine von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragene agile Kultur unterstützen, die unser Innovationstempo erhöht“ (Auszug von Mercedes-Benz AG, o. J.). In den Konzernzielen von Swisscom ist Agilität eine Größe, die nicht explizit benannt wird, aber hinter den Zielen durchscheint, so wenn z. B. die Rede ist von „innovativen Produkten und Dienstleistungen“, der „Entwicklung von Wachstumsfeldern“, aber auch „besten Kundenerlebnissen“ (Auszüge aus Swisscom Group, o. J.). ◄

So oder so spielt also Agilität als eine Art organisationale Metakompetenz in Unternehmen in bewegten Märkten eine große Rolle. Wenn von organisationaler Agilität die Rede ist, dann sind damit immer mehrere Aspekte gemeint: die strategische Agilität, also die Entscheidungen darüber, welche Märkte neu oder nicht mehr bespielt werden, mit welchen neuen Geschäftsmodellen Geld verdient werden soll. Dieser Aspekt ist auf der  Managementebene verortet. Die operationale Agilität, die sich in Optimierungen und Innovationen innerhalb der Kernprozesse zeigt, ist eng mit Organisationsformen und Arbeitsmethoden verknüpft, die Reflexion und Lernen fördern. Auf die personale Ebene bezieht sich der Aspekt der individuellen Agilität, die  Lernagilität, eine entwicklungsorientierte Haltung gegenüber Herausforderungen, eine lösungsorientierte Haltung in der Kooperation und deren Umsetzung in lösungsorientierten Verhaltensweisen umfasst.

HRM als strategischer Partner Die Rollendiskussion um eine wirkungsvolle Positionierung des HRM mit Einsitz in der Geschäftsleitung und etablierten Sparringpartnerschaften mit den Führungskräften der Geschäftseinheiten ist nicht neu (vgl. Ulrich, 1998). Sie hat -  auch im deutschsprachigen Raum  - Studien über die Wahrnehmung der strategischen HR-­ Rolle nach sich gezogen. Diese zeigen, dass Führungskräfte eine zentrale Erwartung an die Anerkennung einer strategischen HR-Partnerschaft knüpfen: Die HR-­ Business-­Partner:innen mögen bitte über ein sehr gutes Geschäftsverständnis verfügen (z. B.  Claßen & Kern, 2006, S. 52 f.). In einer weiteren Untersuchung zum

16

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Zusammenhang zwischen strategischer Agilität und der strategischen HR-Rolle zeigt sich dieses Motiv erneut (Ananthram & Nankervis, 2013, S. 463 f.): Dem HRM wird hier  zwar  eine große Bedeutung beigemessen; allerdings kann sie nur dann ausgespielt werden, wenn die erfahrenen Führungskräfte dem HRM auch eine strategische Rolle zuschreiben. Diese Zuschreibung wiederum ist nicht unerheblich an das geforderte Geschäftsverständnis gebunden. Damit sich eine HR-Strategie zur Förderung von Agilität in Organisationen entfalten kann, braucht es eine Vertretung des HRM in der Geschäftsleitung. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die HR-Abteilung - und darin besonders die strategischen und beratenden Rollen - das Kerngeschäft der Organisation sehr gut verstehen. Die Besetzung von HR-Rollen durch Linienmanager:innen ist eine der Möglichkeiten, Geschäftsverständnis ins HRM zu importieren; kürzere oder verlängerte Besuche der Kernbereiche (Stages), am besten integriert in das Onboarding-Programm, stellen eine weitere Möglichkeit dar.

HRM als agil handelnde Organisationseinheit Eine weitere Perspektive innerhalb der strategischen Ausrichtung im HRM selbst betrifft die eigene Agilität als Unternehmensfunktion und Organisationseinheit. Wenn die Arbeitsweisen und -haltungen der internen Kund:innen in den Geschäftsfeldern agiler werden, werden die internen Kund:innen dieselben Erwartungen an Arbeitsweise und -haltung des HRM richten. Der gesellschaftliche Wandel hin zur Individualisierung und Singularisierung (vgl. Reckwitz, 2017) bedeutet für  das HRM: 55 HR-Systeme und -Prozesse müssen an individuelle Bedürfnisse anpassbar sein, „One size fits all“-Prozesse und Instrumente müssen zu „One size is adaptable for all“ werden (7 Abschn. 16.3.2). 55 Bedürfnisse in verschiedenen Organisationsbereichen können unterschiedlich sein, weshalb das HRM dezentral und nahe beim Kunden sein muss. 55 Wie sich das HRM selbst konfiguriert, wie es also seine Aufgabenfelder zuschneidet und miteinander verschränkt und wie die HR-Rollen den Kund:innenbedürfnissen angepasst werden, muss in der HR-Strategie beantwortet werden. Für Hinweise zur Ausgestaltung von HR-Rollen und Organisationsmodellen sei auf 7 Kap. 2 und darüber hinaus auf Früh et al. (2020) verwiesen.  



Gestaltungsfelder einer HR-Strategie für organisationale Agilität

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In der HR-Literatur werden strategische HR-Beiträge für Agilität primär auf den Ebenen von Personalplanung und -einsatz, Kompetenzentwicklung, Job- und Organisationsdesign, organisationalem Lernen und Wissensmanagement und Belohnung verortet (vgl. Ulrich, 2018; Nijssen & Paauwe, 2012; Saha et al., 2017; Ananthram & Nankervis, 2013; Doz, 2020). z Personalplanung und flexible Workforce

Eine langfristige Personalplanung kann mit schnell veränderlichen Bedarfen in Konflikt geraten und wird dann herausgefordert, wenn sich der quantitative oder qualitative Personalbedarf stark verändert. Für schnelle Anpassungslösungen erscheint eine flexible Belegschaft („flexible workforce“) besonders attraktiv, denn Flexibilität auf dieser Ebene dient dem schnellen Einsatz oder Umplatzieren von Ressourcen

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entlang strategischer Weichenstellungen. Wenn man dem Modell der flexiblen Workforce folgt (vgl. 7 Kap. 3), dann liegt Beweglichkeitspotenzial im Einsatz variabler Bindungsformen, zum Beispiel durch den  Einsatz von Freelancern oder flexibel arbeitenden Teilzeitkräften. Gerade wenn Mitarbeiter:innen heute die Organisation verlassen und die Trennung voneinander in wertschätzender Weise stattfindet, kann es in beidseitigem Interesse liegen, die Bindung in variablen Formen der Weiterbeschäftigung jetzt oder auch später aufrechtzuerhalten. Eine weitere Ebene der Beweglichkeit bilden die Personaltransaktionen von außerhalb der Organisation nach innen und innerhalb der Organisation von hier nach dort. Hier stehen die Prozessgeschwindigkeit und -vereinfachung im Fokus, die häufig mit Digitalisierungslösungen gewonnen werden. Eine dritte Ebene sind die Kompetenzen: Je mehr in eine breite Kompetenzbasis der einzelnen Mitarbeiter:innen investiert wird, desto flexibler können sie eingesetzt werden. Wohlgemerkt wird hier Flexibilität beschrieben, die für sich allein genommen noch keine Agilität sicherstellt. Dennoch liegt in der beschriebenen Flexibilität ein Ansatz, der sich mit den Mitarbeitendenbedürfnissen nach Lernen und Entwicklung einerseits und mit den veränderten Laufbahn- und Bindungsorientierungen (7 Kap. 9) andererseits verbinden lässt. Denn erst wenn Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten über den Tellerrand hinaus möglich und damit nicht mehr ausschließlich funktionsorientiert sind, können auch  Kompetenzprofile interessensgeleitet und potenzialorientiert erweitert werden. Die psychologische Herausforderung in diesem Gestaltungsfeld ist dann groß, wenn die Unternehmens- und Individualinteressen nicht ausreichend übereinstimmen. Das kann z. B. der Fall sein, wenn Verträge nur aus Unternehmensinteresse befristet oder im Pensum reduziert sind, wenn Mobilität erforderlich wird und persönliche Umstände dies nicht zulassen oder wenn bestehende Tätigkeiten geschätzt und deshalb Veränderungen abgelehnt werden. In diesem Themenfeld die Ziele beider Seiten zu harmonisieren, setzt Transparenz, Fairness und gute Prozessgestaltung voraus. Dies gilt auch für Austauscherwartungen, die unter den Mitarbeiter:innen in Teilzeit, Befristung oder im Freelancer-Einsatz vorhanden sind. Organisationale Fairness herzustellen kann bedeuten, für diese Mitarbeiter:innen ebenso Zuständigkeiten für Entwicklungsfragen zu definieren und sie in Talentportfolios zu integrieren.   



z Jobdesign und Organisationsdesign

Dass psychologisches Empowerment ebenfalls zur Agilität beiträgt (Muduli & Pandya, 2018), sollte in die Gestaltung von Jobdesigns einfließen. Nur wenn möglichst viel organisatorische und inhaltliche Autonomie in guten Jobs geschaffen wird, ist Empowerment („Ich kann und ich darf selbstbestimmt handeln“) erlebbar. Attraktive Jobprofile beschreiben daher vielmehr die Wirkung, die erreicht werden soll, als die damit verbundenen Detailaufgaben. Die geringere Detaillierung wird kompensiert durch intensivere Verständigung und Aushandlung gegenseitiger Rollenerwartungen, sei es zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden oder innerhalb von Teams und gegen außen. Agilitätsfördernde Organisationsdesigns haben flache Hierarchien, geben Autonomie und Kontrolle möglichst nahe an die Ausführungsebene, setzen auf Teamorganisation und sorgen für Austausch und Vernetzung zwischen den Teams (vgl. Nijssen & Paauwe, 2012; Ulrich, 2018; Doz, 2020).

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Wenn Umstellungen auf selbstorganisierte Teams und übergreifende agile Organisationsformen beschlossen werden, wird das HRM diese Transformation begleiten. In der Konkretisierung bedeutet dies Beratung im Change-Management. Es bedeutet auch Training und Beratung für die Kompetenzentwicklung in agilen Arbeitsmethoden wie Design Thinking, Kanban, Scrum und Variationen davon. Es bedeutet weiter die Begleitung der Entwicklung selbstorganisierter Teams in veränderten Rollen. Es bedeutet schließlich auch die Anpassung der HR-Systeme und -Prozesse der Attraktion, Selektion, Entwicklung, Laufbahn und Leistungssteuerung. z Kompetenz- und Führungsentwicklung

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Wenn man Kompetenzentwicklung ausschließlich klassisch betrachtet, sind sie eine mögliche Folge strategischer Neupositionierungen: Anforderungsprofile werden angepasst,  in einer Gap-Analyse mit vorhandenen Profilen  verglichen und  dies führt  schließlich zu Make- oder Buy-Entscheiden. Das heißt, man plant Entwicklungsmaßnahmen mit dem Ziel der  Kompetenzerweiterung oder aber man plant Neurekrutierungen. Aus einer potenzialorientierten Perspektive wird man sich darauf ausrichten, proaktiv all die Kompetenzen zu fördern und zu entwickeln, die mit Agilität in Verbindung stehen. Auf individueller Ebene spielen hier die Zukunftskompetenzen („future skills“) eine große Rolle, die in verschiedenen Modellen (z. B. WEF, 2016; Inner Development Goals, o. J.) skizziert werden. Es gibt plausible Hinweise darauf, dass ein Cluster aus Selbstführungskompetenzen (Selbstkenntnis, Selbstmotivation, Selbstkontrolle), Empathie und sozialen Fähigkeiten (klare Kommunikation, Verhandeln und Konfliktlösungsfähigkeit) für Agilität eine Rolle spielen (vgl. Hosein & Yousefi, 2012). In jüngerer Zeit wird das Konstrukt der Lernagilität häufiger mit organisationaler Agilität in Zusammenhang gesetzt (Ulrich, 2018; Doz, 2020). Dabei handelt es sich um eine Einstellung und Fähigkeit zum schnellen und begeisterten Lernen, dessen Erkenntnisse auf neue Situationen transferiert werden, weshalb man an neuen Anforderungen wächst. Lernagilität lässt sich stimulieren und üben; viele Praktiken fokussieren auf Denk- und Fragemethoden, Stimulation von Neugier, Selbstreflexion und Feedback und des „Mindsets“, also der Einstellung gegenüber Lernen und Entwicklung (vgl. Zirkler & Werkmann-Karcher, 2020, S. 24 ff.: 60 ff.). Die Rolle der Führung ist hoch bedeutungsvoll für die Realisierung organisationaler Agilität, denn wie auch in anderen Themen wirken Führungskräfte in Organisationen aufgrund ihrer erhöhten Entscheidungskompetenzen und ihrer Modellwirkung als unterstützende oder verhindernde Kräfte von Veränderungen, eben auch von Agilität. Das betrifft operative Arbeitsweisen ebenso wie das übergeordnete Rollenverständnis, aus dem heraus Führung ausgeübt wird. Da sich mit veränderter Arbeitsweise – gemeint sind konkret die agilen Methoden – oft die Rollen und damit auch die Führungsrolle verändern, ist es wichtig, in die Führungsentwicklung zu investieren. Wenn agile Arbeitsformen eingeführt werden, wird sich Kompetenzentwicklung auf die Methoden der neuen Kooperationsformen beziehen und gleichermaßen Personal- wie auch Organisationsentwicklung fordern. Die klassischen Trainingsaktivitäten treten gegenüber einer kontinuierlichen individualisierten Entwicklungsbegleitung der Teams und  der Individuen in den Hintergrund, die in neuen Rollenformaten (z. B. Agile Coach) konfiguriert sind.

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Üblicherweise wurden Fach- und Führungslaufbahnen, mitunter Projektlaufbahnen definiert und Individuen dafür selektioniert und entwickelt. Ein großer Teil der internen Entwicklungsprogramme basiert auch heute noch auf dieser Logik. In eher stabilen und berechenbaren Umfeldern wie z. B. Institutionen der öffentlichen Hand dürfte sie weiterhin zu den Rahmenbedingungen passen. Wo dies aber nicht der Fall ist, müssen Laufbahnen anders konzipiert und stärker auf die Initiative der Einzelnen ausgerichtet werden, die sich aus einer individuellen Laufbahnplanung ergibt, die ihrerseits in die Lebensplanung eingebettet ist (vgl. 7 Kap. 9). Da sich in den strukturell agil aufgestellten Organisationen Führung anders – verteilter – gestaltet (7 Kap. 15), muss dort darüber hinaus auch die klassische Führungslaufbahn differenziert gedacht werden. Für die Entwicklung des Top-Management-Teams gilt die Empfehlung, dessen Commitment für gemeinsame strategische Entscheide zu stärken (Doz & Kosonen, 2010). Als Teil eines solchen Teams kann das HRM direkt darauf hinwirken oder für Teambildungs- oder Trainingsmaßnahmen sorgen, die sich auf optimale Entscheidungsqualität und Entscheidungsprozesse im Zusammenhang mit strategischen Optionen fokussieren. Überdies gilt: Wenn man den Teil der Agilität fördern möchte, der im Beobachten und Verstehen der Umwelt liegt, sind alle Programme wertvoll, die die Menschen explorierend in einen anderen Ausschnitt der Welt schicken, sei es für externe Erfahrungsaustausche und zum Netzwerken, für ein Shadowing, für eine Exkursion oder für einen längeren Einsatz in einem anderen Bereich, einer anderen Firma, einer anderen Branche (vgl. Doz, 2020). Hier liegt ein enger Zusammenhang zur Förderung der Neugier, deren Beitrag der Lernagilität zugeordnet werden kann und die Menschen dahin treibt, weiter zu explorieren und mehr zu erfahren.  



z Organisationales Lernen und Wissensmanagement

Um Trends zu erfassen, Bedürfnisse zu erkennen sowie Veränderungen früh kommen zu sehen, ist ein Anschluss an Informationen aus den relevanten Umwelten nötig (vgl. 7 Kap. 17). Die Systematisierung der Informationssuche und -weiterverarbeitung ist eine Managementaufgabe. Das Teilen und Verarbeiten von Informationen und Wissen setzt Verknüpfungen zwischen Wissensträger:innen voraus, die in analogen oder digitalen Formaten gefördert werden können. Die Ausgestaltung von Lernräumen, in denen soziales und informelles Lernen innerhalb der Organisation gestärkt wird, ist wichtig. Niedrigschwellige Formate wie Brown-Bag-Lunches zum Teilen von Best-Practice-Erfahrungen, Lektionen aus gescheiterten Projekten oder für themenbezogene Veranstaltungen sind hierfür bestens geeignet. Für den digitalen Austausch und die Dokumentation von Wissen müssen Wissens-, Kompetenz- und Kollaborationsplattformen eingesetzt werden, die in Projekten das Know-how von HRM benötigen. Es muss jedoch mit Skepsis oder Widerstand gegen das offene Teilen von Informationen gerechnet werden, wenn durch Plattformlösungen eine interne Konkurrenz um Aufträge zu entstehen droht oder das Teilen von Wissen als Kontrollverlust erlebt wird. (7 Abschn. 16.3.4).  



z Belohnungssystem

Wenn Agilität gefördert werden soll, müssten in der traditionellen Steuerungslogik diejenigen Fähigkeiten und Beiträge belohnt werden, die Veränderungs- und An-

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passungsleistungen in Produkten, Prozessen oder Verhalten anzeigen. Man könnte also Agilität als belohnungsrelevantes Beurteilungskriterium behandeln und müsste folglich innerhalb der Organisation klären, welche Indikatoren besondere Veränderungs- und Anpassungsleistungen anzeigen. Damit allerdings steht die Frage nach der grundsätzlichen Vergütungsstruktur im Raum: Gibt es neben dem Grundgehalt variable Boni, an welche Leistungsindikatoren sind sie gekoppelt und auf welcher Ebene werden sie an Leistung gebunden: Ist es der Erfolg der Organisation, des Bereichs, des Teams oder des Individuums? Eine individuelle Incentivierung wird gerade in agilen Arbeitskontexten als kontraindiziert betrachtet, da sie in Widerspruch zur Fokussierung auf Teamziele und Teamergebnisse steht. Folglich wird darauf entweder gänzlich verzichtet, sodass es keine variablen Boni gibt oder aber diese lediglich an den Erfolg des Unternehmens oder Bereichs gebunden sind (vgl. dazu das Fallbeispiel von Schirmer, 2020). Alternativ wird mitunter eine Incentivierung auf Teamebene gewählt, was erneut zu Verteilungsfragen führt, für die ein Prozess innerhalb des Teams entwickelt werden muss. Die Herstellung von subjektiver Belohnungsgerechtigkeit bleibt grundsätzlich herausfordernd, weil zwischen den widersprüchlichen Verteilungsprinzipien der Gleichheit (für jeden derselbe Anteil) oder des Beitrags (wer mehr beiträgt, bekommt auch mehr) entschieden werden muss. Was die Formen der Belohnung betrifft, stehen neben Boni weitere individuelle und teambasierte Varianten zur Verfügung: 55 In der Lernkultur agiler Arbeitskontexte sind vor allem Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten wertvoll, wie z. B. die Teilnahme an Programmen und Veranstaltungen, der Zugang zu interessanten Projekten, die Erhältlichkeit von Zeitressourcen für eigene Projekte. 55 Auch die Sichtbarmachung und Anerkennung von Leistungen ist eine wichtige und wirksame Form von Belohnung: das Präsentieren von Ergebnissen vor einer internen Öffentlichkeit, das Verteilen von Komplimenten auf internen Plattformen. 55 Da Zeit einen hohen Wert darstellt, sind auch Belohnungen in Form von Zeitgutschriften attraktiv: ein oder mehrere freie Tage, individuell oder fürs Team. 55 Fortlaufende Vergünstigungen wie Abos für Fitnessclubs oder Streamingdienste, Gratiskaffee, Unterstützung bei der Kinderbetreuung etc. können grundsätzlich belohnend wirken, solange sie nicht als Hygienefaktoren in der Arbeit betrachtet werden, deren Fehlen zwar unzufrieden macht, deren Vorhandensein aber keine Zufriedenheit zu steigern vermag.

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All diese strategischen Gestaltungsfelder sind mit dem Hinweis verbunden, dass Agilität zwar ein Produktivmoment ist, aber gleichzeitig verbunden werden muss mit einer humanen Arbeitsgestaltung und einer Haltung, in der die Entwicklung und Entfaltung von Potenzial von grundsätzlichem Wert ist. 16.3.2 

Strukturen

Organisationale Strukturen wie Organigramme, Prozesssteuerungen, aber auch Policies und Raumgestaltungen setzen Rahmenbedingungen, innerhalb derer Dinge auf eine bestimmte Weise geschehen sollen, d. h., sie sind verbunden mit Steuerungsabsichten.

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Aus Sicht des HR-Managements sind Strukturen also Interventionen, die einen Rahmen setzen, der das Verhalten von Akteur:innen steuern soll. Menschen gehen mit diesen Struktursetzungen immer um, nicht immer aber in der beabsichtigten Weise: Der Begriff „Workaround“ steht für kreative und nicht sanktionsfähige Umgehungswege, die Mitarbeiter:innen einsetzen, um subjektiv unzumutbare oder nachteilige Vorgehenszwänge auszuhebeln, womit auch die beabsichtigte Wirkung außer Kraft gesetzt oder reduziert wird. Von der beabsichtigten Wirkung ausgehend werden im Folgenden - über die Organisationsstruktur hinaus - alle Prozesse und Tools zu den Strukturen gezählt, die in HR-Systemen auf Verhaltenssteuerung abzielen und durch Verstetigung Teil der System- und Prozessstruktur einer Organisation geworden sind. Diese Interventionen werden einerseits durch die Organisation selbst gesetzt, aber auch von ihren Umwelten bestimmt, etwa gesetzliche Vorschriften zu Arbeitszeiten, zum Arbeitsschutz etc. Auch die Anpassungen der zeitlichen und räumlichen Möglichkeiten von Arbeit in einer digitalen bzw. hybriden Arbeitswelt (7 Kap. 13) gehören dazu.  

Prozesssteuerung Inhaltliche Überlegungen zu den folgenden Prozessen wurden in 7 Abschn. 16.3.1, „Gestaltungsfelder“ bereits ausführlich dargestellt. Im Folgenden wird auf die Anpassungsleistungen innerhalb dieser Prozesssteuerung fokussiert, die der Kundenorientierung dienen.  

z Talent-Management

Mit Talent-Management ist Attraktion und Selektion, Onboarding, Entwicklung und Bindung bis zum Austritt von Mitarbeiter:innen gemeint. Die Attraktion potenzieller Mitarbeiter:innen wird durch ein breit abgestütztes Employer Branding realisiert (7 Kap. 5). Darüber hinaus kann das HRM durch gezielte Beziehungsgestaltung und -pflege dafür sensibilisieren und dazu beitragen, dass eine möglichst große flexible Workforce zur Verfügung steht. Die Selektion von Mitarbeiter:innen findet verstärkt unter Einbezug der Teams statt, in denen die ausgewählte Person später Mitglied sein wird. In selbstgesteuerten Teams können Selektionsaufgaben weitgehend übernommen werden. Die Rolle des HRM wandelt sich in diesem Fall zu einer fachkundigen Beratungs- und Selektionsprozessbegleitung. Die Wirksamkeit liegt darin, dass professionelles Know-how in die Erstellung von Anforderungsprofilen in die Gestaltung der Selektionsverfahren und in die Bewertung der Kandidat:innen einfließt. Das Onboarding ist weiterhin eine zentrale HR-Aufgabe, die über das einzelne Team hinausreicht und wichtig ist, weil in ihr eine Chance liegt, erste Kontakte für eine spätere Netzwerkpflege über den designierten Einsatzort hinaus aufbauen zu helfen. Auch im Lernen wird die Individualisierung eine zunehmende Bedeutung erhalten, sodass Lerninhalte auf den Punkt abrufbar und so genau wie möglich zugeschnitten auf Qualifizierungsbedürfnisse der einzelnen Personen in ihren Rollen sein sollten. Dies verweist auf den Einsatz digitaler Lernplattformen, die von HRM in einer Kuratorrolle aufgebaut und betreut werden. Die individuelle Unterstützung von Lernen und Entwicklung wiederum wird im HRM oder außerhalb in den Geschäftseinheiten in einer Beratungsrolle (People Development) angelegt und realisiert. Hier, wie auch in Laufbahnfragen, dürfte die Unterstützung in Form von quali 

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fizierter Beratung für Individuen und für Teams eines der Wachstumsfelder der HR-Leistungen werden. Mit der Übergabe der Laufbahnentwicklung an die Verantwortung der einzelnen Mitarbeitenden haben sich viele  Organisationen bereits aus Langfristbindungsversprechungen verabschiedet. Aus einer organisationalen Perspektive bedeutet dies nicht nur größere Anpassungschancen durch Flexibilität, sondern auch beidseitig größere Unsicherheiten. Es ist deshalb nicht nur für Individuen wichtig, sich nach außen attraktiv darzustellen und das Kontaktnetzwerk auszubauen. Genauso ist es für Organisationen wichtig, in Außendarstellung, Kontakt- und Netzwerkpflege zu investieren. z Leistungssteuerungs- und Belohnungssysteme

Über die Notwendigkeit einer Flexibilisierung im System der Leistungssteuerung, des Performance Managements, scheint Einigkeit zu herrschen, seit dieses Thema vor einigen Jahren auf die HR-Agenda geriet (vgl. Werkmann-Karcher, 2019). In einer erhöhten Umweltdynamik liegt begründet, dass die traditionell langfristigen, oft auf ein Jahr zurückblickenden Beurteilungszyklen eine höhere Taktung und eine neue Ausrichtung erfahren sollen. Statt vorwiegend bilanzierend in eine nicht mehr zu verändernde Vergangenheit zu schauen, soll vielmehr das individuelle Lernen durch aktuelles Feedback gestärkt und die professionelle Entwicklung forciert werden. Anstelle von Individualzielen werden Teamziele fokussiert, statt langfristiger Jahresziele wird in bewegten Umfeldern mit dem flexibleren OKR-System (7 Kap. 7) gearbeitet und darin Beitragsziele formuliert. Statt individueller Incentivierung wird eine Incentivierung auf Teamebene empfohlen. Die Herausforderung allerdings liegt im Modus der Aufteilung von Belohnungen. Es empfiehlt sich, das Team in die Verteilungsentscheidung einzubeziehen bzw. sie dem Team zu übergeben. Wenn das Gleichheitsprinzip gewählt wird, muss man das Risiko von Motivationsverlusten der besonders beitragsstarken Mitglieder in Kauf nehmen (7 Kap. 10). Alternativ können im Team Wahlentscheidungen darüber stattfinden, welche Mitglieder besonders zum Teamerfolg beigetragen haben und wie sich dies in der Zuteilung der Belohnung ausdrücken soll. Dies ist allerdings ein heikler Entscheidungsprozess, der hohe Feedback- und Konfliktfähigkeit und/oder eine Begleitung von Teams in dieser Aufgabe voraussetzt. Eine insgesamt flexible Ausgestaltung des Leistungssteuerungssystems beinhaltet zunächst idealerweise die Trennung von Gesprächen zur Leistungsbeurteilung und Gesprächen zur Entwicklung. Für die Gespräche sollten Leitplanken als Empfehlungen aufgestellt und darin Variationsmöglichkeiten vorgesehen werden: in der Anzahl der Gespräche, der Zeitpunkte, der Schwerpunktthemen. Das HRM kann weiterhin das Controlling über durchgeführte Gespräche führen und sich auf deren Wirkung fokussieren, indem Rückmeldungen dazu erhoben und zurückgespielt werden. Ein wichtiger Beitrag liegt im Bereitstellen von Hilfsmitteln wie Gesprächsleitfäden, Dokumentationshilfen und weiteren Tools wie z. B. Kartensets, die einen Gesprächsfokus in Übereinstimmung mit Werten oder Kompetenzen ermöglichen. Individuelle vorbereitende Beratungen oder Moderationen von Teamgesprächen dienen als Umsetzungshilfe.  



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z Einsatz von Technologielösungen

Für agile Prozesssteuerung im HRM bieten sich zunehmend Technologielösungen für Selektionsprozesse, für Wissens- und Talentmanagement und für Leistungssteuerung an. Sie führen zu einer erhöhten Sichtbarkeit von Leistungen,

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Kompetenzen und Interaktionen und ziehen Fragen der Nutzung von Daten für Steuerungsentscheidungen nach sich. Die konzeptionellen Grundlagen von Auto­ma­ tisi­ erungslösungen in Selektions- und Promotionsthemen müssen gut geprüft, hinterfragt und verstanden werden, um die ethische Verantwortung tragen zu können, die mit dem Einsatz dieser Lösungen einhergeht und über deren soziale Akzeptanz entscheidet (vgl. 7 Abschn. 16.3.4).  

 estaltung der Arbeitsbedingungen: Arbeitsmodelle, G Arbeitsräume und Arbeitsrichtlinien/Policies Agile Arbeitsformen benötigen Kollaborationsräume im analogen und virtuellen Format, was in der Arbeitsplatzgestaltung berücksichtigt werden muss. Wichtig ist auch eine attraktive Ausgestaltung von Arbeitsumgebungen, die das Erfüllen individueller Bedürfnisse am Arbeitsort erleichtern – sei es durch eine zentrale Lage, durch Integration von Serviceangeboten im Betriebsgebäude oder durch eine atmosphärisch attraktive Einrichtung. Spätestens seit der Covid-19-Pandemie ist es eine Standarderwartung unter den Wissensarbeitenden, auch weiterhin mobil-flexibel arbeiten zu können. Diese Erwartung muss in Arbeitsmodellen und ausformulierten Policies aufgenommen werden (siehe dazu ausführlich 7 Kap. 13).  

16.3.3 

Kultur

Das HR-Management hat vielfältige Möglichkeiten, auf die Kultur einer Organisation einzuwirken. Dazu gehören einerseits die kulturellen Repräsentationen seiner eigenen Prozesse: Wie z. B. wird die Organisation dem Markt gegenüber präsentiert, welche Botschaften werden durch Faktoren wie Formulierung von Brieftexten, Geschwindigkeit der Antworten in den Bewerbungsprozessen vermittelt, in welchem Stil wird mit abgewiesenen Bewerber:innen kommuniziert? In allen HR-Prozessen begegnet zumindest formal gesehen die Organisation den einzelnen Mitarbeiter:innen. Deshalb ist eine Reflexion und Überprüfung sinnvoll: Welche Qualitäten sollen an diesen Kontaktpunkten vermittelt werden und welche werden tatsächlich vermittelt? Auch die vom HRM konzipierte Personal- und Führungsentwicklung ist Ausdruck der Kultur einer Organisation und gleichzeitig Möglichkeit, diese Kultur zu beeinflussen. Weichenstellungen liegen in der Zugänglichkeit zu Lernmöglichkeiten und in der Zusammensetzung der Lerngemeinschaften. Sie beeinflussen die Netzwerkbildung und den Austausch von Wissen: Wie einfach oder kompliziert und voraussetzungsvoll ist der Zugang zu Lernmöglichkeiten gestaltet, welche Themen werden von wem und wie exklusiv versus inklusiv vermittelt und diskutiert? Agilität wird auch daraus generiert, dass man Erfolge und Misserfolge reflektiert, analysiert und teilt: Wie genau ist ein Erfolg zustande gekommen und wie ist es passiert, dass er sich andernorts nicht eingestellt hat? Eine Fehlerkultur im Sinne der Agilität ist getragen von der Überzeugung, dass Fehler eine wertvolle Informationsquelle für Störungen oder Probleme im System und weniger bei der einzelnen Person sind. Deshalb können und sollen sie sachlich behandelt und nicht schamhaft versteckt werden. Das Ziel einer Fehlerkultur ist der maximal mögliche Lerngewinn durch die Fehleranalyse. Auf diese Weise sind Fehlerkultur und Lernkultur eng miteinander verknüpft, sie fokussieren beide auf Informationsaustausch und -teilhabe.

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Beide, Fehler- und Lernkultur, sind wiederum über die Themen gestaltbar, für die man in Workshops, Meetings oder Brown-Bag-Lunches zusammenkommt oder die man auf Plattformen teilt, und in der Zugänglichkeit zu diesen Austauschgefäßen. Da Lernen einen so hohen Wert in der agilen Organisation hat, verwundert es auch nicht, dass die kulturbildenden Austauschformate eine hohe Überschneidung mit den neuen Lernformaten in Organisationen aufweisen. Ihnen gemeinsam ist die Förderung der Netzwerkbildung und Anregung zum Ideen- und Wissensaustausch, für die sich auch Anlässe wie z. B. Onboarding und Trainingsprogramme in Gruppen oder organisationsinterne Community-Programme wie „Working Out Loud (WOL)“ sehr gut eignen (7 http://www.­workingoutloud.­com) (vgl. 7 Kap. 8). Gestalten also kann das HRM in diesen Kulturthemen, indem es Initiativen ergreift, Angebote lanciert oder berät. Die größten Stellhebel aber dürften HR-seitig darin liegen, diejenigen Personen in die Organisation zu holen bzw. auf wirkungsvolle und sichtbare Positionen zu befördern, die die agilen Kulturwerte repräsentieren und prägen. Rekrutierung, Selektion und Beförderung sind in diesem Sinne kulturprägende Prozesse, die HRM beratend oder mitentscheidend prägen kann.  

16.3.4 

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Ethische Überlegungen

Das Human Resource Management sieht sich mit seinen Bemühungen, Agilität in Organisationen zu ermöglichen und zu entwickeln, einigen Dilemmata gegenüber. Einerseits soll es die „Bewirtschaftung“ der Ressource Mensch möglichst optimal und zu ökonomisch angemessenen Preisen gestalten, andererseits hat es eine Fürsorgepflicht gegenüber den Risiken einer solchen Bewirtschaftung, insbesondere was die psychische und physische Gesundheit anbelangt. Agilität fordert einen Preis. Dieser besteht darin, dass agiles Arbeiten sehr hohe Aufmerksamkeit und Verfügbarkeit (Ansprechbarkeit) verlangt. Agiles Arbeiten bedeutet hochkonzentriertes Arbeiten. Das Verhältnis von Belastungen und Ressourcen ist dabei genau im Auge zu behalten. Entsprechende Sensibilisierungen für Führungskräfte sind genauso notwendig wie entsprechende Strukturen und Prozesse in der Organisation, welche einerseits Leistung ermöglichen, andererseits aber potenzielle Exzesse verhindern. Das Thema Resilienz wird in agilen Organisationen einen nochmal höheren Stellenwert einnehmen, und zwar auf individueller wie auf organisationaler Ebene (Hoffmann, 2017; Rolfe, 2019). Die Entwicklung agiler Organisationen verlangt eine laufende Energetisierung. Agilität ist mit Aktivität verbunden. Das bezieht sich auf Beobachtungen und Wahrnehmungen (durch Menschen und Technologien), ihre Kommunikation und Dokumentation, auf Entscheidungen mit entsprechenden Handlungsfolgen. Mit Blick auf eine alternde Gesellschaft sind auch Überlegungen zur sozialen Nachhaltigkeit anzustellen. Menschen werden in Zukunft aller Voraussicht nach länger arbeiten müssen oder auch wollen. Auch die Lern- und Produktivitätsphasen sehen am Anfang einer Berufstätigkeit anders aus als an ihrem Ende. Die Ressourcen älterer Mitarbeiter:innen brauchen entsprechend andere Bedingungen dafür, produktiv zu sein, als jene von jüngeren. Den damit verbundenen unterschiedlichen Agilitätspotenzialen müsste das HRM Rechnung tragen können.

325 Agilität in Organisationen

Aus einer humanistischen Perspektive stellt sich die Frage der Lebensdienlichkeit von Organisationen für alle Menschen, nicht nur für eine Elite. Diese Frage muss bei steigenden Ansprüchen an Individuen und Teams (lernen, performen) einerseits, aber auch bei zunehmender Automatisierung andererseits geklärt werden und wird damit Gegenstand strategischer Überlegungen aus Sicht des HRM. Digitalisierung und Automatisierung werden auch im Human Resource Management weitergehen. Diese können die notwendigen strukturellen Voraussetzungen für Agilität bei der Rekrutierung, Auswahl, Entwicklung etc. schaffen. Je mehr jedoch Algorithmen und künstliche Intelligenz bei der Bewältigung der Komplexitätsherausforderungen im HRM unterstützen, desto mehr werden auch die damit verbundenen Risiken virulent. Außer Datenschutz und Persönlichkeitsschutz liegen diese z. B. auch darin, dass das Training künstlicher Intelligenz notwendigerweise auch zu (implizitem) Bias führt und damit bei der Anwendung entsprechender Werkzeuge zu einer systematischen Diskriminierung bestimmter Personengruppen führen kann. Aus diesen Gründen muss sich das HRM in Zukunft mit grundsätzlichen ethischen Fragen der Personaldiagnostik, -auswahl, -entwicklung und -freisetzung verstärkter auseinandersetzen und auf Augenhöhe mit dem Management strategische Entscheidungen für die Organisation treffen. Zusammenfassung und Fazit 1. Lösungen im Sinne des „One size fits all“ sind nur noch bedingt zielführend, die HR-Arbeit wird selbst komplexer werden und das Verhältnis von Routineprozessen und agilen Lösungen besser unterscheiden können müssen. 2. Die Herausforderungen werden insofern lokaler, als Unterstützung bei anspruchsvollen Fragen im Alltag mehr an der Basis (z. B. den Führungskräften bzw. in den Teams) erfolgen muss. Damit steigt der quantitative und qualitative Aufwand, man braucht mehr Zeit und man braucht qualifizierte Leute, die diese Arbeit leisten können. 3. Agilität braucht entsprechende Strukturen (Flexibilität). Im Fokus steht dabei eher die Abschaffung oder Neuformatierung von Regelungen und Weisungen als die Erarbeitung von neuen. Je mehr Regeln herrschen, desto schwieriger wird es, agil zu arbeiten. 4. Der Fokus liegt auf Sense Making, Purpose, Zusammengehörigkeit, Solidarität etc., also auf kulturellen Aspekten der Organisation. HR muss hier zwischen den in der Regel eher funktionalistisch und ökonomisch orientierten Manager:innen und den sozialen Voraussetzungen für Agilität vermitteln. 5. Die Zusammenarbeit von HR, Unternehmensentwicklung, Strategie etc. wird enger werden müssen. Die an den Schnittstellen entstehenden Konflikte und Brüche müssen auf der oberen Steuerungsebene (Geschäftsleitung) gelöst werden, so gut es geht. HR muss dazu auf Augenhöhe mitreden können – eine alte Forderung, die sich einmal mehr wiederholen lässt. 6. HR muss sich mit den sich rasant entwickelnden neuen Technologien (Data Science, Big Data etc.) in ihrem Bereich beschäftigen und dort die Wissensvoraussetzungen, Qualifikationen, Technic Skills sowie die ethischen Abwägungen professionalisieren.

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7. HR muss mit einem veränderten Karriereverständnis arbeiten, in dem die unternehmensgesteuerte Laufbahnentwicklung nicht mehr oder nur noch selektiv für schwer aufbau- und auffindbare Funktionen stattfindet, hingegen die selbstgesteuerten Laufbahnplanungen und -entscheidungen entlang der Werte und Lebensführungsinteressen zunehmen. Das kann zu abnehmender Bindung und höherer Fluktuation führen, aber auch zu Arbeitsbeziehungen mit Rückkehrinteressen zu einem späteren Zeitpunkt. All dies muss flexibel gemanagt werden können, d. h. muss sich in Transaktionen wiederfinden. 8. Das Unternehmen muss als Arbeitgeber:in positioniert werden, welche attraktiv ist für den raschen Aufbau und Abbau bzw. Umbau von Humanressourcen, d. h., unterschiedliche Austauscherwartungen der verschiedenen Layers einer flexiblen Belegschaft (vgl. 7 Kap. 3) müssen beantwortet werden können.  

Literatur

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16

329

Organisationale Selbsterneuerung Peter Kels und Bojana Aleksic Inhaltsverzeichnis 17.1

Bedeutung organisationaler Adaptions- und Lernfähigkeit – 330

17.2

 om organisationalen Lernen zur kontinuierlichen V Selbsterneuerung – 330

17.2.1 17.2.2

 rganisationales Lernen – 331 O Organisationale Erneuerungsfähigkeit – 332

17.3

 rganisationale Selbsterneuerung anregen O und verankern: Handlungsfelder für Führungs-, HRM- und Organisationsentwicklung – 334

17.3.1 17.3.2 17.3.3

S tärkung der organisationalen Absorptionsfähigkeit – 334 Förderung von Erneuerungskompetenzen – 335 Gestaltung einer partizipativ-potenzialorientierten Führungskultur – 335 Etablierung einer Praxis reflexiven Erneuerns – 336

17.3.4

17.4

 ontinuierliche Selbsterneuerung in der Praxis: K Zwei Fallbeispiele – 337

17.4.1 17.4.2

F allbeispiel 1 – AMAG – 338 Fallbeispiel 2 – V-ZUG – 339

Literatur – 341

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_17

17

330

P. Kels und B. Aleksic

Der vorliegende Beitrag beleuchtet, wie Organisationen in Anbetracht einer steigenden Dynamik und Komplexität von Umweltveränderungen anpassungs-, lern- und innovationsfähig bleiben können. Ins Zentrum stellen wir die Erkenntnisse aus einer umfassenden Literaturanalyse und zwei explorative Unternehmensfallstudien zur Praxis organisationaler Selbsterneuerung und zeigen konkrete Handlungsfelder und Ansatzpunkte für die HRM-, Organisationsentwicklungs- und Führungspraxis auf.

17.1 

17

Bedeutung organisationaler Adaptions- und Lernfähigkeit

Folgend legen wir die Ausgangslage dar und erläutern, warum Unternehmen angesichts der steigenden Dynamik, Unvorhersehbarkeit und Komplexität der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen eine starke Anpassungs- und Lernfähigkeit entwickeln müssen. Unternehmen bewegen sich heute in einer komplexen Umwelt, die sich stetig und mit zunehmender Geschwindigkeit verändert (Gergs, 2016, S. 10). Neue Möglichkeiten der Informationstechnologie (Gergs, 2016, S. 18) und Megatrends wie Konnektivität, Globalisierung, Mobilität und Digitalisierung treiben Wandel voran und verändern die Wirtschaft und Gesellschaft stetig und tiefgreifend (Zukunftsinstitut, online; Gergs, 2016, S. 23). Auch Krisen wie die Covid-19-Pandemie stellen Unternehmen vor Herausforderungen (Zukunftsinstitut, 2020, S. 2). Zudem lassen sich Zukunftsbilder schlechter aus vergangenen Geschehnissen ableiten, was die Planbarkeit für Unternehmen erschwert und die Lebenszyklen von Geschäftsmodellen massiv verkürzt (Gergs, 2016, S. 10–11, S. 20, S. 81). Damit Unternehmen in Anbetracht dieser hohen Umweltdynamik und -komplexität wettbewerbsfähig bleiben, sollten sie ihre Umwelt fortlaufend beobachten, kontinuierlich innovieren, experimentieren und schnell wie tiefgreifend dazulernen (Nisula & Kianto, 2013, S. 59). Kontinuierliche Selbsterneuerung gilt hierbei als Schlüsselkompetenz für Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltigen Unternehmenserfolg (Kels et al., 2019, S. 125). Wie erneuerungsfähig ein Unternehmen ist, hängt entscheidend davon ab, wie effektiv es die eigenen Ressourcen für Lernen und Innovationen einsetzen kann, um Vorteile gegenüber konkurrierenden Unternehmen mit ähnlichen Ressourcen zu erlangen (Nisula & Kianto, 2013, S. 60). Letztendlich können mit dem Aufbau und der Stärkung von Ressourcen, Kompetenzen und Fähigkeiten sowie mit der vorausschauenden Einleitung von Veränderungsprozessen die Resilienz gegenüber unerwarteten externen Einflüssen wie auch die betriebliche Innovationsfähigkeit maßgeblich verbessert werden (Alfonso et  al., 2018; Gergs, 2016; Probst & Büchel, 1998; Reinhardt, 2014).

17.2 

 om organisationalen Lernen zur kontinuierlichen V Selbsterneuerung

Organisationales Lernen und Selbsterneuerung sind essenzielle Voraussetzungen für die Fähigkeit von Organisationen, sich in einem zunehmend volatileren und komplexeren Wettbewerbsumfeld erfolgreich zu behaupten. Im Folgenden skizzieren wir

331 Organisationale Selbsterneuerung

grundlegende Konzepte und Erkenntnisse zum Veränderungslernen und zur Erneuerungsfähigkeit von Organisationen. 17.2.1 

Organisationales Lernen

Prozesse des Lernens von und in Organisationen sind Gegenstand der empirischen Forschung in sehr unterschiedlichen Disziplinen (u. a. in der Erwachsenenpädagogik, Betriebswirtschaft, Psychologie oder Arbeits- und Organisationssoziologie) und werden hierbei aus vielfältigen Perspektiven beleuchtet (Kluge & Schilling, 2000; Schüßler & Thurnes, 2005). Disziplin- und forschungsfeldübergreifende Begriffsbestimmungen sind somit nicht möglich. Wir beleuchten hier das Themenfeld aus einerarbeits- und organisationssoziologischen Perspektive, die sich an einem sozialkonstruktivistischen und systemischen Organisations- und Führungsverständnis orientiert. Grundlegend kann unterschieden werden zwischen individuellem, kollektivem und organisationalem Lernen. Individuelles Lernen bezeichnet den Prozess der Entfaltung menschlicher Potenziale und Handlungskompetenzen, während organisationales Lernen die Veränderung und Anpassung der Organisation an die Umwelt als Beitrag zur Sicherung der unternehmerischen Wettbewerbs- und Überlebensfähigkeit beschreibt (Steckelberg, 2011). Kollektives Lernen von Praxisgemeinschaften und Teams schließlich kann verstanden werden als überindividuelles Experimentieren, Reflektieren, Teilen von Wissen und Erfahrungen sowie das Bearbeiten von Aufgaben und Problemen innerhalb eines sozialen Systems. Kollektives Lernen findet vor allem im alltäglichen interaktiven Arbeitshandeln (also eingebettet in das konkrete Organisationsgeschehen und den Arbeitsprozess) und zu geringeren Anteilen in formal organisierten Lernsettings statt (Lave & Wenger, 1991; Steckelberg, 2011). Organisationales Lernen verläuft idealtypisch als eine Art „Aufwärtsdiffusion“ vom Individuum zur Gruppe und dann zur Organisation, verändert die „Wissensbasis und Problemlösungs- sowie Handlungskompetenz von Mitarbeitenden und Führungskräften“ und kann unter Umständen auch zu einer „Veränderung des gemeinsamen Bezugsrahmens“ führen (Probst & Büchel, 1998, S. 307; Crossan et al., 1999). Generell betrachtet stellt sich hierbei weniger die Frage, ob eine Organisation lernt oder nicht, sondern vielmehr, inwieweit kollektive und organisationale Lernprozesse zur Entwicklung neuer Denk- und Verhaltensmuster oder Fähigkeiten führen (Kluge & Schilling, 2000; Steckelberg, 2011; Probst & Büchel, 1998, S. 35). Adaptives Lernen (auch als „Single-Loop-Learning“ bezeichnet) ermöglicht eine rasche Anpassung organisationaler Praktiken auf Gegebenheiten aus der Umwelt, ohne dass vorherrschende Denkmuster oder Handlungstheorien kritisch hinterfragt werden (Argyris, 2006; Argyris & Schön, 1996; Smith, 2001). Im Gegensatz dazu erweitern reflexive, explorative, schöpferische Lernprozesse („Double-Loop-Learning“ bei Argyris und Schön, 1996) die Denkmuster, Fähigkeiten und Handlungstheorien von Organisationsmitgliedern. Veränderungslernen ist also ein Lernmodus, der zum Hinterfragen und Korrigieren der dem Handeln zugrunde liegenden organisational eingebetteten Überzeugungen, Werte, Handlungstheorien und Annahmen beiträgt (Probst & Büchel, 1998, S. 37; Smith, 2001). Noch einen Schritt weiter gehen die Überlegungen zum Prozesslernen („Deutero-Learning“)  – hier steht das Lernen

17

332

P. Kels und B. Aleksic

selbst im Fokus mit dem Ziel, die Lernfähigkeit des Lernenden und der Organisation zu verbessern (Argyris, 2006; Argyris & Schön, 1996; Probst & Büchel, 1998; Smith, 2001). Inwieweit eine Organisation ihr Potenzial zum Veränderungs- und Prozesslernen entfalten kann, wird schließlich zu wesentlichen Anteilen von ihrer Lernkultur beeinflusst. Der Begriff "Lernkultur" bezeichnet ein komplexes Zusammenspiel aus kontextspezifischen Rahmenbedingungen wie z. B. bestimmten Effizienz- und Wirtschaftlichkeitszielen, betrieblichen Machtkonstellationen und Mikropolitiken, Formen der Aufgabenverteilung und -koordination, betrieblichen Lernarrangements und organisationskulturell verankerten Grundhaltungen und Interaktionsmustern. Konstitutiv ist hierbei ein Spannungsverhältnis zwischen den entwicklungs-, veränderungs- und erneuerungsförderlichen Potenzialen von Lernprozessen und den ermöglichenden wie limitierenden Einflüssen des Organisationsgeschehens (Arnold & Schüßler, 1998; Schüßler & Thurnes, 2005). 17.2.2 

Organisationale Erneuerungsfähigkeit

Das Konzept der „Organizational Renewal Capability“ (dt. „organisationale Erneuerungsfähigkeit“) verbindet Forschungserkenntnisse zum organisationalen Lernen, zur Organisationsentwicklung und zum Aufbau von Dynamic Capabilities zu einem holistischen Verständnis organisationaler Wandlungs- und Innovationsfähigkeit. Eine treffende Definition des Konzepts liefern Nisula und Kianto (2013, S. 61): Erneuerungsprozesse können entweder durch extern induzierte Turbulenzen und

„An organization with high renewal capability is able to develop, change, modify, and reorganise its resources, knowledge assets, and routines in a situational and appropriate manner, through which it can achieve competitive advantage.“

17

Krisen oder aber durch organisationsinternen Ressourcenreichtum angestoßen werden (Probst & Büchel, 1998, S. 49). Resultate organisationaler Erneuerung können neue Geschäftsmodelle, Dienstleistungen oder Produkte, aber auch veränderte Führungs-, Arbeits- und Organisationsprozesse oder HRM-Praktiken sein (Nisula & Kianto, 2013, S. 60). Wesentlich ist aber, dass Selbsterneuerung kein exklusives Arbeitsfeld des klassischen Innovationsmanagements ist, da potenziell alle Organisationsprozesse und -praktiken sowie kulturellen Voraussetzungen zum Gegenstand von Erneuerungshandeln werden können. Zweitens unterscheidet sich Selbsterneuerung sowohl von inkrementellen Prozessverbesserungen als auch von einem Turnaround-­Management als Form der Krisenbewältigung (vgl. Gergs, 2017; Kels et al., 2019). Gergs (2017, S. 318) erläutert entlang einer Vier-Felder-Matrix anschaulich, wie sich die kontinuierliche Selbsterneuerung von anderen Typen organisationalen Wandels unterscheidet. Der Autor unterscheidet hierbei zwischen dem Wandel erster und zweiter Ordnung und zwischen episodischem und kontinuierlichem Wandel. Beim Wandel erster Ordnung bleiben die grundsätzlichen Weltansichten, Orientierungen

333 Organisationale Selbsterneuerung

und Normen einer Organisation unverändert (analog zum Single-­Loop-­Learning). Organisationale Lernprozesse richten sich hier auf Verbesserungen, Effizienzsteigerungen und die Perfektionierung des Bestehenden. Im Gegensatz dazu erfolgt beim Wandel zweiter Ordnung (analog zum Double-Loop-Learning) eine grundlegende Veränderung der organisationalen Sinnesstrukturen und Denk- und Handlungsmuster. Die Organisationsmitglieder nehmen die Rolle von Beobachtenden ein und reflektieren, bewerten und verändern ihre bisherigen Praktiken, Denkmuster und Überzeugungen, was eine Transformation der Organisation ermöglicht (Gergs, 2016, S. 32). Episodischer Wandel zeichnet sich nach Gergs dadurch aus, dass dieser temporär, durch externe Umweltveränderungen wie z. B. sinkende Marktanteile oder Umsätze eingeleitet wird (S. 33). Kontinuierlicher Wandel hingegen wird proaktiv und stetig von der Organisation gestaltet und kann sich von inkrementellen Veränderungen hin zu einem tiefgreifenden Wandel aufschaukeln (S. 34). Aus diesen Unterscheidungskriterien ergeben sich vier Typen des Wandels (siehe . Abb. 17.1). Kontinuierliche Selbsterneuerung ist ein fortlaufender Wandel zweiter Ordnung (Gergs, 2016, S. 34). Er verbessert die Lernfähigkeit und -geschwindigkeit und trägt dazu bei, radikale Transformationen zu vermeiden, indem proaktiv und kontinuierlich gelernt und die Organisation stetig transformiert wird (S. 36). Erneuerungsfähige Unternehmen sind sich nach Gergs (2016) der Flüchtigkeit von Erfolg wie auch der Limitationen eigenen Wissens bewusst, hinterfragen regelmäßig das Erreichte und Bestehende und bewerten unerwartete Entwicklungen als Bereicherung. Experimentelles Lernen steht im Vordergrund – es wird ständig ausprobiert, reflektiert und iteriert (S. 13, S. 50–51). Halten wir fest: Die Fähigkeit zur kontinuierlichen Selbsterneuerung beruht maßgeblich darauf, dass Grundhaltungen, Kompetenzen und Praktiken der reflexiven Selbstbeobachtung, des explorativen-experimentierenden Lernens und Erneuerns eingeübt und verankert werden und sich die Organisation hierbei regelmäßig durch Impulse aus ihrer Umwelt „irritieren“ lässt (Crossan et al., 1999; Gergs, 2017; Kels et  al., 2019; Nisula & Kianto, 2013; Reinhardt, 2014; Wüthrich et  al., 2018). Erneuerungsstarke Unternehmen lernen somit nicht nur in Krisenzeiten, sondern proaktiv, permanent und evolutionär. Häufig gehen Impulse für organisationales Lernen und Erneuerung nicht vom Management, sondern von den Mitarbeitenden aus (vgl. u. a. Elkjaer & Wahlgren, 2005; Gergs, 2017; Schaller & Wüthrich, 2016).  

Wandel zweiter Ordnung

Radikale Transformation

Kontinuierliche Selbsterneuerung

Grundlegende Veränderung organisationaler Sinnesstrukturen, Denk- und Handlungsmuster

Wandel erster Ordnung

Operatives Krisenmanagement

Optimierung bisheriger Praxis

Gleichbleibende Weltansichten, Orientierungen und Normen

Episodischer Wandel

Kontinuierlicher Wandel

Hoher Zeitdruck

Zeit (noch) verfügbar

..      Abb. 17.1  Die vier Typen des Wandels. (In Anlehnung an Gergs, 2017, S. 319)

17

334

P. Kels und B. Aleksic

17.3 

 rganisationale Selbsterneuerung anregen und verankern: O Handlungsfelder für Führungs-, HRM- und Organisationsentwicklung

Auf Basis der Literatur haben wir den aktuellen Stand des Wissens zur Förderung organisationaler Selbsterneuerung zu einem Modell mit vier komplementären Handlungsfeldern für die Führungs-, HRM- und Organisationsentwicklungspraxis verdichtet (siehe . Abb. 17.2). Im Folgenden erläutern wir diese Handlungsfelder und zeigen dann am Gegenstand explorativer Unternehmensfallstudien exemplarisch auf, wie Unternehmen ihre Erneuerungspraxis gestalten können.  

17.3.1 

Stärkung der organisationalen Absorptionsfähigkeit

Die Fähigkeit einer Organisation, Chancen und Risiken ihrer Umwelt frühzeitig zu erkennen, neue Impulse aufzunehmen und zu verarbeiten, ist eine zentrale Ressource organisationaler Erneuerungs- und Innovationsfähigkeit und senkt die Anfälligkeit gegenüber Krisen. Diese in der Literatur als „Absorptive Capacity“ bezeichnete Fähigkeit kann definiert werden als Ensemble organisatorischer und strategischer Prozesse, mit denen Wissen und neue Impulse systematisch und fortlaufend ­aufgenommen, umgewandelt und verwertet werden (Flatten et  al., 2011; Zahra & George, 2002). ..      Abb. 17.2 Handlungsfelder für die Führungs-, HRM- und Organisationsentwicklungspraxis

(1) Stärkung der organisationalen Absorptionsfähigkeit

(2) Förderung von Erneuerungskompetenzen

(3) Gestaltung einer partizipativpotenzialorientierten Führungskultur

17

(4) Etablierung einer Praxis reflexiven Erneuerns

335 Organisationale Selbsterneuerung

Die Unternehmens- und Mitarbeiterführung kann die Absorptive Capacity der Organisation gezielt verbessern, indem sie relevante Funktionsträger:innen und Teams damit beauftragt, regelmässig Lern- und Veränderungsimpulse sowie neues Wissen aus Umweltbeobachtungen aufzunehmen und relevante Impulse innerhalb der Organisation zu teilen. Durch die Auseinandersetzung mit Branchen- und Technologietrends, neuen Führungs- und Organisationsmodellen, durch den Besuch von Fachkonferenzen, die Teilnahme an Learning Journeys oder aber den Dialog mit Stakeholdern lassen sich kontinuierlich neue Lernimpulse und Irritationen aufnehmen, insbesondere solche, die ein hohes Potenzial für ein „Double-Loop-­ Learning“ und die reflexive Erneuerung der Organisations-, Führungs- und HRMPraxis bieten (vgl. Flatten et  al., 2011; Kels et  al., 2019). Entscheidend ist, dass potenzialträchtige Ideen, Impulse und neues Wissen innerhalb der Organisation zirkulieren können und in einen Kreislauf der Exploration, des Experimentierens und der Umsetzung überführt werden (Reinhardt, 2014). 17.3.2 

Förderung von Erneuerungskompetenzen

Organisationen können ihre Fähigkeit zur Selbsterneuerung stärken, indem sie mitarbeiterbezogene Potenziale, Dispositionen und Kompetenzen vor dem Hintergrund umweltbezogener Entwicklungen wie auch der Organisationsziele analysieren  und  weiterentwickeln (Reinhardt, 2014, S. 239). Verfügen Mitarbeitende über fachlich-methodische und kommunikativ-kollaborative Kompetenzen hinaus über die grundlegende Fähigkeit und Bereitschaft zur kontinuierlichen Wissensaneignung, Reflexionsfähigkeit und ein von Neugierde und Experimentierfreude getragenes Mindset, liegen ausgezeichnete mitarbeiterbezogene Ressourcen für eine Praxis der kontinuierlichen Erneuerung und des reflexiven Lernens vor (Crossan et  al., 1999; Kaltenbrunner, 2018; Kels et  al., 2019). Genannte Dispositionen und Fähigkeiten können durch Maßnahmen der Kompetenzentwicklung sowie eine lernund kompetenzförderliche Arbeitsgestaltung wirksam entwickelt werden. Lernen am Arbeitsplatz und Gruppenlernen können durch eine umfassende Partizipation der Mitarbeitenden wirksam zur Entfaltung organisationaler Selbsterneuerungs- und Innovationspotenziale beitragen. Hierzu gehört etwa, dass Mitarbeitende eigenständig über Lernwege, Methoden und Lerninhalte nachdenken und entscheiden, ihr Wissen formell wie informell austauschen und ihre Handlungs- und Problemlösungskompetenzen weiterentwickeln können (Dehnbostel, 2018; Dombrowski & Wagner, 2014; Reinhardt, 2014). 17.3.3 

 estaltung einer partizipativ-potenzialorientierten G Führungskultur

Schaller und Wüthrich (2016) schlagen vor, die in den Natur-, Verhaltens- und Sozialwissenschaften etablierte Methodik des Experiments als bevorzugtes Instrument der Erkenntnisgewinnung und Organisationsentwicklung einzusetzen, um „überkommene Muster zu überwinden und sich neuen Lösungen anzunähern“ ­

17

336

P. Kels und B. Aleksic

(Schaller & Wüthrich, 2016, S. 309). Experimente vereinen eine Explorations- und Falsifikationsfunktion und bieten den Vorteil, die Tauglichkeit neuer Ansätze im realen Organisationskontext zu testen (Schaller & Wüthrich, 2016, S. 314):

»» „Mit Experimenten können Organisationen lokales und damit besonders valides Wis-

sen produzieren und auch kontraintuitive Hypothesen testen. Ideen werden so an der Realität erprobt und weiterentwickelt. Sie bilden den Nukleus jeder organisationalen Zukunft.“

Damit sich eine Erneuerungspraxis entfalten kann, sollten Führungskräfte Mitarbeitende zum regelmäßigen Explorieren und Experimentieren ermutigen und befähigen und auch selbst Führungsexperimente lancieren. Wüthrich (2020) beschreibt, wie Führungskräfte bewusst aus Common-Sense-Denkmustern und misstrauensund kontrollorientierten Führungspraktiken der alten Managementwelt ausbrechen können und mit der Haltung eines Aktionsforschers damit beginnen, Räume zu schaffen, in denen Führungsexperimente lanciert werden, welche die kollektive Intelligenz der Mitarbeitenden wie auch die Potenzialentfaltung umfassend aktivieren sollen (S. 63):

»» „Im Alltag machen viele Mitarbeitende also primär die Erfahrung, dass sie organi-

siert, verwaltet und bevormundet werden und nur selten die Möglichkeit erhalten, ihre Intelligenz und Leidenschaft einzubringen und als Gestalter, mit einem Leuchten in den Augen, Selbstwirksamkeit zu erleben. Wer Kompetenzen einschränkt, verringert den Anreiz für Mitarbeitende, zu fantasieren und sich einzubringen. Eine Organisation, die diesen dysfunktionalen Kontext nicht eliminiert, wird nie in der Lage sein, die potenzielle Drittintelligenz zu vergrößern und zu mobilisieren.“

Als Beispiel für ein gelungenes Führungsexperiment nennt Wüthrich (2020) unter anderem den „Führungsrollentausch“ innerhalb eines Führungsgremiums während mehrerer Monate. Das Experiment brachte die Erkenntnis, dass unterstellte Mitarbeitende aufgrund der fehlenden Fachkompetenz des temporären neuen Vorgesetzen nun stärker vertrauens- und beziehungsbasiert geführt wurden und so die Potenzialentfaltung der Mitarbeitenden gestärkt wurde. Die Rolle einer produktivitätsförderlichen und zugleich sinnstiftenden Führung sieht er darin, ausgehend vom Leitbild mündiger, überwiegend intrinsisch motivierter und urteilsfähiger Mitarbeitender eine wertebasierte Partizipations- und Potenzialentfaltungsgemeinschaft aufzubauen. Hier könnten Mitarbeitende Sinn, Vertrauen, Autonomie und echte Zugehörigkeit erleben (S. 61–62).

17

17.3.4 

Etablierung einer Praxis reflexiven Erneuerns

Gergs (2017) beschreibt acht Prinzipien, wie eine Praxis reflexiver Selbsterneuerung in Organisationen gefördert und verankert werden kann. Nach Gergs müssen Organisationen ein hohes Maß an Selbstreflexion aufweisen, laterale und hierarchieübergreifende Kommunikationsmöglichkeiten bieten und Spannungsfelder durch Widerspruch erzeugen. Eigene Erfolgs- und Denkmuster sollten stets hinterfragt und die

337 Organisationale Selbsterneuerung

Mitarbeitenden und Führungskräfte zum Erkunden, Experimentieren und Infragestellen etablierter Denkmuster, Traditionen und Praktiken eingeladen werden. Wichtig dabei sei, eine offene Fehlerkultur zu pflegen, iterativ vorzugehen und sich mit kleinen Schritten erprobend und explorierend ins Unbekannte zu wagen (S. 320– 323). Nach Gergs nimmt das Management in Veränderungsprozessen eine besondere Rolle ein. Es müsse den Mitarbeitenden attraktive Zukunftsbilder aufzeigen, Begeisterung wecken und sie zum Mitgestalten bewegen – denn die meisten Menschen wollten für fortschrittliche Unternehmen arbeiten, die Kreativität fördern und Freiräume zulassen (Gergs, 2016, S. 41). Die Einführung und Verankerung nichthierarchischer Organisationsstrukturen und -kulturen kann hierbei als Grundvoraussetzung für eine Praxis reflexiver Selbsterneuerung betrachtet werden (Gergs, 2017; Kels et al., 2019; Wüthrich, 2020). Basler et al. (2021) identifizieren vier Erfolgsfaktoren des internen Umbaus in Richtung nichthierarchischer Organisationsstrukturen und Führungskultur: 1. Einbindung und Zustimmung von Unternehmenseigentümer*innen und des Top-Managements zum Umbau in Richtung Selbstführung 2. Klärung der Rollenverständnisse von Mitarbeitenden in selbstorganisierten Teams 3. Verknüpfung neuer Rollen und Verantwortlichkeiten in einem neuen Lohnmodell 4. Konstruktiver Umgang mit entstehenden Spannungen und Konflikten Die Entwicklung neuer Rollenverständnisse ist insbesondere in traditionell stark hierarchisch geprägten Führungskulturen eine echte Herausforderung und fordert Mitarbeitenden wie Führungskräften einiges an Selbstreflexionsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft ab:

»» „Dies impliziert ebenfalls, dass sich Führungskräfte darauf einlassen, eigene Rollenverständnisse, Werte, Denk- und Verhaltensmuster zu reflektieren, (selbst-)kritisch zu hinterfragen und, wo es nötig ist, zu ‚entrümpeln‘“ (Kels et al., 2019, S. 127).

Mit Wüthrich (2020) ist die Vermittlung psychologischer Sicherheit gerade in sich stetig transformierenden und erneuernden Organisationskontexten von herausgehobener Bedeutung. Entscheidend sei, „nicht über Inhalte, sondern gemeinsame Werte, tragende Beziehungen, Verfahrenstransparenz und -gerechtigkeit sowie die Rahmung Vertrauen [zu] schaffen“ und durch Rituale und Werte für die benötigte Kontinuität und Verlässlichkeit im Wandel zu sorgen (S. 105). Im Folgenden illustrieren wir die organisationale Erneuerungspraxis am Gegenstand von zwei ausgewählten in der Schweiz ansässigen und innovationsstarken Unternehmen.

17.4 

 ontinuierliche Selbsterneuerung in der Praxis: Zwei K Fallbeispiele

Die folgenden praxisbezogenen Falldarstellungen umfassen wichtige Erkenntnisse sowie beispielhafte Praktiken, die aus Interviews mit Expertinnen und Experten der vorgestellten Unternehmen sowie einer ergänzenden Dokumentanalyse gewonnen

17

338

P. Kels und B. Aleksic

werden konnten. Pro Fallbeispiel wurden je zwei qualitative Experteninterviews mit Personal- und Organisationsentwickler:innen sowie Abteilungs- und Innovationsleiter:innen der Unternehmen AMAG und V-ZUG geführt. Die im Frühling 2021 geführten, jeweils ein- bis anderthalbstündigen Interviews wurden auf mp3 aufgezeichnet, transkribiert und themenanalytisch ausgewertet. 17.4.1 

Fallbeispiel 1 – AMAG

Die AMAG ist mit ihren rund 6500 Mitarbeitenden die größte Automobilhändlerin der Schweiz für Neuwagen, Lagerfahrzeuge und Occasionen der Marken Volkswagen (inklusive Nutzfahrzeuge), Audi, SEAT, ŠKODA und Bentley und ist bestrebt, die führende Anbieterin nachhaltiger, individueller Mobilität zu werden (AMAG (a), online; AMAG (b), online; AMAG (d), online). z (1) Stärkung der organisationalen Absorptionsfähigkeit

Die Erkenntnis, dass sich die Wirtschafts- und Arbeitswelt fortlaufend und mit zunehmender Dynamik verändert und sich Unternehmen in einem konstanten Wandel befinden, bildet die Grundlage für das Erneuerungsbestreben bei der AMAG. Neuste Entwicklungen in der Automobilbranche in Richtung nachhaltiger, elektrifizierter Mobilität stellen AMAG vor die Herausforderung, gegenwärtige Geschäftsmodelle und Strategien zu hinterfragen und neu auszurichten. Externe Impulse aus der Umwelt werden auf verschiedene Arten in die Organisation aufgenommen. Einerseits hat sich das hauseigene Innovation & Venture LAB der AMAG der Aufgabe gewidmet, Trends und Entwicklungen auf den Märkten laufend zu beobachten und in die Organisation zu tragen. Relevante Einflüsse werden in Wochen- und Quartalsberichten dem gesamten Unternehmen zur Verfügung gestellt. Zusätzlich werden für interessierte Mitarbeitende regelmäßig „What’s new?“-Events organisiert, bei denen Expertinnen und Experten diverse Trends und Zukunftsthemen vorstellen und sich im Anschluss bei einem Apéro mit den Teilnehmenden austauschen. Diese neuen Zukunftsthemen und Trends geben Anstoß für Lern- und Entwicklungsprozesse im Unternehmen. z (2) Förderung von Erneuerungskompetenzen

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Damit sich die AMAG inkrementell mit kleinen Experimenten und neuen Entdeckungen an die Zukunft herantasten kann, braucht es das passende lernorientierte und experimentierfreudige Mindset sowie die richtigen Methoden. Im hauseigenen Innovation & Venture LAB der AMAG wird beispielsweise ein vom Design-­ Thinking-­ Ansatz inspirierter Prozess verfolgt, um neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Die Grundprinzipien dieses Ansatzes zielen darauf ab, die Kundschaft mit ihren Bedürfnissen ins Zentrum zu stellen, Ideen frühzeitig zu testen, rasch Fehler zu begehen, daraus zu lernen und sich mit Iterationen und regelmäßigen Feedbackschleifen schrittweise der Lösung anzunähern (AMAG (c), online; Eschberger, 2020, online; Gergs, 2016, S. 137). AMAG arbeitet daran, dieses Trial-and-­ Error-Prinzip auch auf andere Unternehmensbereiche zu übertragen und eine unternehmensweite positive Fehlerkultur zu etablieren.

339 Organisationale Selbsterneuerung

z (3) Gestaltung einer partizipativ-potenzialorientierten Führungskultur

Mitarbeitende zum Experimentieren, Ausprobieren zu ermutigen und sie in diverse Arbeits- und Entscheidungsprozesse einzubinden bringt Vorteile für Mitarbeitende wie für die Gesamtunternehmung. Indem die gesamte Mitarbeiterschaft durch das Management umfassend in Veränderungsprozesse eingebunden wird, kann die Qualität von Ergebnissen und Entscheidungen deutlich verbessert werden. Häufig werden z. B. bei der Einführung von Neuem Test- und Pilotgruppen Mitarbeitende aus diversen Bereichen, Hierarchiestufen und Altersstufen einbezogen, um verschiedene Rückmeldungen und Meinungen zu sammeln und somit bessere Entscheidungen zu treffen. z (4) Etablierung einer Praxis reflexiven Erneuerns

Bestehende Strategien, Prozesse und Strukturen werden bei der AMAG in fest institutionalisierten Diskussionen reflektiert, hinterfragt und bei Bedarf angepasst. Diese Reflexions- und Erneuerungspraxis wird auch auf Teamebene angewendet, um aus dem regelmäßigen Austausch miteinander potenzielle Veränderungen oder Verbesserungen abzuleiten. Organisationale Lernstrategien und -maßnahmen werden ebenfalls kontinuierlich reflektiert. Die Personalentwicklung von AMAG setzt dafür das Kirkpatrick-Modell ein, um zu prüfen, ob die gewünschten Lerneffekte eintreten und Gelerntes in der Praxis angewandt wird. 17.4.2 

Fallbeispiel 2 – V-ZUG

V-ZUG ist ein produzierendes Zuger-Unternehmen und fertigt innovative Haushaltsgeräte für Küche und Waschraum im Premium-Segment an (V-ZUG, online). z (1) Stärkung der organisationalen Absorptionsfähigkeit

Trends wie Digitalisierung, Konnektivität, Modularisierung und das Thema Nachhaltigkeit beeinflussen zurzeit die Entwicklung von Haushaltsgeräten. V-ZUG holt sich externe Inputs in regelmäßigem Austausch mit Trendforschungsinstituten, Hochschulen und dem schweizerischen Verband der Maschinen-, Elektro- und Metall-­Industrie Swissmem, um auf dem Laufenden zu bleiben und keine wichtigen Entwicklungen zu verpassen. Kundenveranstaltungen werden aktiv genutzt, um aktuelle Bedürfnisse und Entwicklungen auf der Konsumentenseite aufzuspüren und gleichzeitig Rückmeldungen zum bestehenden Leistungsangebot des Unternehmens einzuholen. Zudem pflegt V-ZUG einen offenen Dialog mit anderen Unternehmen, um Einblicke zu erhalten, wie die eigenen Prozesse möglichst zeitgemäß, effizient und effektiv gestaltet werden können. z (2) Förderung von Erneuerungskompetenzen

Losgelöst vom operativen Tagesgeschäft hat V-ZUG ein Labor eingerichtet, welches sich mit zukunftsweisenden Themen und Fragestellungen beschäftigt, um die Geschäftstätigkeit weiterzuentwickeln. Dieses Labor bietet einen geschützten Raum zum Explorieren, Experimentieren und um sich mit kreativen Ideen auseinanderzusetzen. Neues Wissen können sich die Mitarbeitenden und Führungskräfte bei der „V-ZUG-Academy“ aneignen, wo eine große Auswahl an Trainings und Kursen zur

17

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P. Kels und B. Aleksic

Verfügung steht. Formen des Erfahrungsaustauschs oder kollegiale Fallberatungen werden genutzt, um Erfahrungen und Wissen zu teilen und sich gegenseitig kritische Fragen zu diversen Themen zu stellen. z (3) Gestaltung einer partizipativ-potenzialorientierten Führungskultur

Bei V-ZUG ist man sich darüber bewusst, dass tradierte Führungsdenken in der heutigen Arbeits- und Wirtschaftswelt nicht mehr  funktional ist. Daher nimmt das Unternehmen bewusst Abschied vom klassischen Leistungsmanagement und fördert ein transformierendes Umfeld, das Entwicklungsprozesse ins Zentrum stellt. Regelmäßige Standortbestimmungen zwischen Mitarbeitenden und der Führung in den sogenannten „V-ZUG Connect“-Gesprächen helfen dabei, das Entwicklungspotenzial aufzudecken und entsprechende Maßnahmen zur Stärkung der Kernkompetenzen und Ausschöpfung der individuellen Potenziale festzulegen. z (4) Etablierung einer Praxis reflexiven Erneuerns

Auf höchster Ebene werden die strategische Stoßrichtung und Zielauslegung der V-ZUG regelmäßig überprüft. Zusätzlich werden die Abteilungen und Teams auf Initiative der Qualitätsabteilung beauftragt, laufend ihre eigenen Prozesse zu überdenken. Im kleineren Rahmen setzen sich zudem täglich oder wöchentlich alle Teams in den sogenannten „Shopfloors“ zusammen und reflektieren, was im Tagesgeschäft gut läuft, was schlecht läuft, was mögliche Ursachen für Fehler sind und wo Verbesserungsbedarf besteht. Dieser Ansatz einer kontinuierlichen Verbesserung gibt dem Team die Gelegenheit, sich auszutauschen, kritisch zu sein und fortlaufend Verbesserungs- und Veränderungsprozesse einzuleiten. Allen Individuen wird die Möglichkeit gegeben, sich einzubringen und die eigene sowie kollektive Vorgehensweise zu reflektieren und dadurch allfällige Optimierungspotenziale zu identifizieren. Zusammenfassung und Fazit

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Kontinuierliche Selbsterneuerung senkt die Krisenanfälligkeit und stärkt die Veränderungs- und Innovationsfähigkeit einer Organisation, da neue Ideen und Impulse aus der Unternehmensumwelt und auch vonseiten der Mitarbeitenden proaktiv aufgenommen, geteilt, erprobt und evaluiert und zur reflexiven Transformation organisationaler Strukturen, Prozesse und Praktiken eingesetzt werden können. Organisationen, denen es gelingt, die für Selbsterneuerung essenziellen Dispositionen, Kompetenzen, Grundhaltungen und Praktiken zu entwickeln und geeignete Ressourcen und Prozesse bereitzustellen, stärken ihre Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit nachhaltig. Die Förderung der Fähigkeit zur kontinuierlichen Selbsterneuerung ist ein Gestaltungsfeld von herausgehobener unternehmensstrategischer Bedeutung. Es kann nicht an einzelne Fachfunktionen wie das Innovationsmanagement oder das HRM delegiert werden, sondern erfordert ein koordiniertes Zusammenspiel von Unternehmensleitung, HRM, Organisationsentwicklung, Führungskräften und den Mitarbeitenden und Teams. Zentrale Ansatzpunkte liegen  – wie im Beitrag erläutert  – in der Stärkung der Resonanz- und Absorptionsfähigkeit der Organisation, der Förderung des Explorierens und Experimentierens, einer partizipativ-potenzialorientierten Führungskultur wie auch in der Etablierung einer Praxis reflexiven Erneuerns.

341 Organisationale Selbsterneuerung

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17

343

People Analytics in der Praxis Silvan Winkler, Rafael Huber und Dirk U. Wulff Inhaltsverzeichnis 18.1

 egriffsdefinition und Abgrenzung zu verwandten B Disziplinen – 344

18.2

Ziele und Nutzen von People Analytics – 345

18.3

Adressaten von People Analytics – 346

18.4

Maturitätsmodel – 347

18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4 18.4.5

 escriptive Analytics – 347 D Benchmarking – 348 Diagnostic Analytics – 349 Predictive Analytics – 350 Prescriptive Analytics – 351

18.5

Kritische Betrachtung des People-Analytics-­Maturitätsmodells – 352

18.6

 chritte und Erfolgsfaktoren S bei People-Analytics-Projekten – 353 Literatur – 357

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1_18

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S. Winkler et al.

Frühwarnsysteme weisen automatisch auf Personalrisiken hin. Algorithmen filtern die passendsten Kandidat:innen präzise aus der Flut an Bewerbungen. Künstliche Intelligenz, eingebaut in Selektionsinstrumente, liefert den entscheidenden Hinweis für die perfekte Rekrutierungsentscheidung. Solche und ähnliche Bilder erscheinen vielen HR-­ Praktiker:innen beim Begriff "People Analytics" vor dem inneren Auge. Doch kann die wachsende Anzahl an Tools und Software-Anbietenden, die genau diese Versprechen auf ihren Internetseiten propagieren, diese hohen Erwartungen tatsächlich erfüllen? Sind diese neuen Methoden den althergebrachten Praktiken aus dem Bereich des klassischen Personalcontrollings tatsächlich überlegen? Können auch kleine und mittelgroße Unternehmen von diesen Methoden profitieren? Benötigt man für aussagekräftige Analysen „Big“ Data? Und wie soll die Reise ins verheißungsvolle Land von People Analytics tatsächlich gestartet werden? Antworten auf diese Fragen sowie konkrete und praktikable Herangehensweisen folgen in diesem Kapitel.

18.1 

18

Begriffsdefinition und Abgrenzung zu verwandten Disziplinen

Die Idee, die Arbeit im Human Resource Management (HRM) mit Daten zu untermauern, ist alles andere als neu. Und doch ergibt sich durch die fortschreitende Digitalisierung, die Weiterentwicklung von statistischen Verfahren sowie neuere Formen der Datengewinnung und -nutzung tatsächlich eine wachsende Anzahl von Methoden und Strategien, die die Möglichkeit eröffnen, Entscheidungen im HRM evidenzbasiert zu objektivieren und zu professionalisieren. People Analytics als interdisziplinäres Anwendungsfeld, in welchem Psychologie, Finance, Controlling, Legal, Data Science und viele weitere Fachrichtungen eine Schnittmenge finden, verspricht nicht nur, das Potenzial zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu werden, sondern gar die strategische Relevanz von HRM nachhaltig zu sichern. People Analytics (auch HR Analytics oder Human Capital Analytics genannt) bezeichnet im Allgemeinen die Analyse von Daten aus dem Personalwesen. Es hat den Anspruch, die Disziplin des klassischen operativen HR-Controllings stark zu erweitern. Einerseits, indem die etablierten HR-Kennzahlen in Kombination mit anderen Unternehmensdaten analysiert werden. Andererseits soll der Blick des HR-­ Controllings, der stark auf den Ist-Zustand fokussiert ist, um eine vorausschauende Perspektive erweitert werden („Predictive Analytics“). Das klassische HR-­Controlling liefert eine wichtige Grundlage für People-Analytics-Projekte, indem es in regelmäßigen Zeitintervallen vordefinierte Kennzahlen, sogenannte Key Performance Indicators (KPIs), produziert. People Analytics hat den Anspruch, hier einen Schritt weiterzugehen. Je nach Fragestellung und Komplexität sollen Wirkungsgefüge abgebildet oder eine Vorschau auf die künftige Entwicklung ausgewählter (Unternehmens-)Messwerte gegeben werden. People Analytics findet oftmals als einmalige Ad-hoc-Analyse statt und orientiert sich dabei an aktuellen, strategisch relevanten Fragestellungen (vgl. . Tab. 18.1). Personaldaten können grob in harte und weiche Daten unterteilt werden. Harte Daten sind das, was oftmals im Rahmen des klassischen (operativen) HR-­Controllings erhoben wird. Beispiele dafür sind Personalbestand, Personalkosten, Fluktuationsrate etc. Weiche Daten beziehen sich üblicherweise auf schwieriger zu beobachtende Phänomene, die zuerst operationalisiert (messbar gemacht) werden müssen. Bei 

345 People Analytics in der Praxis

..      Tab. 18.1  Abgrenzung HR-Controlling und People Analytics. (In Anlehnung an Birri, 2013) Operatives HR-­ Controlling

Strategisches HR-­ Controlling

People Analytics

Output

Regelmäßige Standardreports

Projektreports, KPIs in Balanced Scorecards

Explorative Studien, Ad-hoc-­ Anfragen, Entscheidungsunterstützung

Fokus

Ist-Zustand, Rückblick

Fortschritte in der Umsetzung, strategische Personalplanung

Effektivität und Einfluss von HR-Interventionen, Vorhersage von Wirkungsgefügen

Datenbasis

Personalbestand, Personalkosten, Personalfluss etc.

Definition und Messung der KPIs der Strategieumsetzung

HR-Messgrößen und -Prozessdaten, businessrelevante Kennzahlen

spiele dafür sind Mitarbeitendenengagement, Zufriedenheit der Mitarbeitenden oder Austrittsgründe, welche von Mitarbeitenden genannt werden. Gerade auch diese „weichen“ Daten gewinnen im Rahmen von People Analytics eine zentrale Bedeutung, wie wir später anhand zahlreicher Beispiele sehen werden. Zusätzlich zu diesen traditionellen Kennzahlen werden im Rahmen von People Analytics oft auch ergänzende harte und weiche Daten aus anderen Unternehmensbereichen herbeigezogen. Gängige Beispiele dafür sind Finanzkennzahlen (Umsatz, Gewinn, Rentabilität, Absatzzahlen, Zielerreichungsgrößen etc.), Produktivitätskennzahlen (z.  B.  Quantität, Qualität) oder Messgrößen aus der Marktforschung (z.  B.  Kundenzufriedenheit, Weiterempfehlungsraten wie der Net Promoter Score oder Zusatzverkäufe). Daraus wird erkennbar, wie breit gestreut die Kompetenzen sind, die für ein erfolgreiches People Analytics notwendig sind. Entsprechend sind People-Analytics-Projekte oftmals mit Vertreter:innen aus unterschiedlichen Fachbereichen besetzt und erfordern eine abteilungsübergreifende Zusammenarbeit.

18.2 

Ziele und Nutzen von People Analytics

People Analytics kann vielfältige Ziele verfolgen. Meistens stehen strategisch relevante Fragestellungen im Vordergrund. Diese haben für die Geschäftsleitung, einzelne Abteilungen oder Fachstellen eine besondere Bedeutung. Beispielhafte Fragestellungen aus Sicht der Geschäftsleitung sind: 55 Was ist der Einfluss des Engagements und der Zufriedenheit unserer Mitarbeitenden auf den Unternehmenserfolg? 55 Welche Kompetenzen sind in Zukunft besonders gefragt? 55 Mit welchen mitarbeitendenbezogenen Maßnahmen können wir die Zufriedenheit unserer Kund:innen steigern? 55 Wie kann die Produktivität von Mitarbeitenden im Homeoffice gesteigert werden?

18

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S. Winkler et al.

Beispielhafte Fragestellungen aus der Sicht von einzelnen HR-Fachstellen sind: 55 Employer Branding: Wie müssen wir unsere Stellenanzeigen formulieren und gestalten, um qualitativ möglichst hochwertige Bewerbungen zu erhalten? 55 Rekrutierung: Mit welchen Methoden wählen wir diejenigen Mitarbeitenden aus, die langfristig am erfolgreichsten sein werden? 55 Onboarding: Welches sind die wichtigsten Gründe, dass Neueintretende verfrüht das Unternehmen wieder verlassen? 55 Training: Welches Ausbildungsprogramm hat den größten Einfluss auf die Qualität unserer Führungskräfte? 55 Performance Management: Welches sind Eigenschaften, die besonders erfolgreiche Mitarbeitende auszeichnen? 55 Gesundheitsmanagement: Wie können wir Langzeitabsenzen effektiv entgegenwirken? 55 Trennung: Wie können wir die Fluktuation bei unseren Leistungsträger:innen senken? Das Ziel dieser und vieler anderer möglicher Fragestellungen (vgl. McBassi, 2013) ist es, eine Organisation erfolgreicher zu machen, wobei Erfolg hier sehr unterschiedlich definiert werden kann. Ziele von People-Analytics-Projekten können dementsprechend sein: 55 Personalkosten senken 55 Unfälle vermeiden 55 Mitarbeitendenengagement und -zufriedenheit steigern 55 Kundenzufriedenheit erhöhen 55 Wirksamkeit von Trainings erhöhen 55 Attraktivere Arbeitsplätze schaffen 55 Bindung von Mitarbeitenden an das Unternehmen erhöhen 55 Ungewollte Kündigungen vermeiden 55 Frühzeitiges Erkennen von Personalrisiken 18.3 

Adressaten von People Analytics

z HR-Management

Dem HR-Management kann People Analytics statistische Evidenz liefern und so bessere Entscheide zur Optimierung von HR-Instrumenten (z.  B.  Selektionsinstrumente) und HR-Prozessen (z.  B.  Talent-Management-Prozesse oder Leadership Development) ermöglichen. So lassen sich einerseits Kosten optimieren, andererseits liefert People Analytics auch wichtige Argumente für Investments in wirkungsvolle HR-Aktivitäten.

18

z Führungskräfte

Führungskräfte aller Stufen erhalten Informationen darüber, wie gut sie ihre Mitarbeiter:innen führen (z. B. via interne Benchmarks oder mittels Dashboards mit den wichtigsten personalbezogenen Kennzahlen).

347 People Analytics in der Praxis

z Externe Anspruchsgruppen

Regulatoren (z. B. die FINMA) oder externe Investoren/Shareholder erhalten verlässliche und aussagekräftige Daten zur Qualität des HR-Managements einer Unternehmung und können diese z. B. für Investment-Entscheide oder für die Ü ­ berprüfung von regulatorischen Vorschriften (z. B. begründete Bonus-Entscheide) nutzen. Entsprechende Normen sind an verschiedener Stelle beschrieben (z. B. Ulrich, 2015; die ISO-Norm 30414, vgl. Becker & Kothrade, 2019).

18.4 

Maturitätsmodel

Um einen Überblick über die Möglichkeiten und auch Grenzen von People Analytics zu geben, kann das Maturitätsmodell von Gartner hilfreich sein (vgl. Ambalavanan, 2017) (. Abb.  18.1). Ursprünglich entwickelt, um die Leistungsfähigkeit von IT-­ basierten Informationssystemen zu evaluieren, wenden wir es hier auf das Thema "People Analytics" an. Das Modell verbindet zwei zentrale Achsen: den Wertbeitrag („Value“) einer Analyse und die Komplexität bzw. Schwierigkeit („Difficulty“) einer Analyse. Nachfolgend sind verschiedene in der Praxis gebräuchliche People-­ Analytics-­Methoden entlang dieser Achsen beschrieben.  

18.4.1 

Descriptive Analytics

Auf dieser ersten Stufe finden oft Methoden des klassischen Personalcontrollings Anwendung. Beispielsweise kann mit der Variable Geburtsdatum eine Altersstrukturverteilung erstellt werden (. Abb. 18.2). Diese gibt einen Einblick in die Verteilung des Lebensalters der Belegschaft und kann relevant sein für Fragestellungen aus der  

..      Abb. 18.1  Modell der People-Analytics-Maturitätsstufen. (In Anlehnung an das Data Analytics Maturity Model von Gartner)

18

348

S. Winkler et al.

..      Abb. 18.2  Beispiel einer Altersstrukturverteilung

strategischen Personalplanung sowie für Personalrisiko-Analysen. Angereichert um Variablen der Führungsfunktion können strategisch relevante Fragestellungen visualisiert und für die Geschäftsleitung einfach zugänglich gemacht werden. Weitere Beispiele sind die Ermittlung von freiwilliger vs. unfreiwilliger Fluktuation, die Anzahl krankheitsbedingter Absenzen etc. Eine Übersicht über gängige verwendete HR Key Performance Indicators (KPIs) geben zahlreiche Fachbücher zum Thema (Hafner & Polanski, 2009; Klingler, 2009). Methodisch handelt es sich dabei oftmals um das Auszählen von Fällen oder die Verrechnung verschiedener Kennzahlen untereinander, indem die eine Auszählung durch eine andere dividiert wird (Beispiel: Anzahl ausgetretener Mitarbeiter:innen geteilt durch die Gesamtzahl der Mitarbeitenden ergibt die Fluktuation). Diese werden anschließend verdichtet und z. B. in Dashboards in einer für das Management ansprechenden Form präsentiert. Auch wenn diese Analysen weit von oft genannten Methoden wie maschinellem Lernen oder künstlicher Intelligenz entfernt sind, liefern die Kennzahlen der Stufe der Descriptive Analytics in vielen Fällen einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert (Kozyrkov, 2018). Da sie mehrheitlich dem Personalcontrolling zugeschrieben werden, vertiefen wir sie an dieser Stelle nicht weiter.

18

18.4.2 

Benchmarking

Zentral ist hier die Frage nach der Bewertung dieser Kennzahlen. Oft kommen sowohl interne als auch externe Benchmarkingstrategien zum Tragen: Während beim internen Benchmarking die Bewertung mit unternehmensinternen Kennwerten bewerkstelligt wird (z. B. der Vergleich desselben KPIs von verschiedenen Abteilungen untereinander), werden beim externen Benchmarking Bewertungs- bzw. Vergleichskennzahlen von einem externen Lieferanten bezogen. Beispiele dafür sind der Ein-

349 People Analytics in der Praxis

kauf von Kennzahlenmaterial von einem Beratungsunternehmen oder das Durchführen einer externen Benchmarkingstudie. Manchmal werden die Bewertungs- bzw. Vergleichskennzahlen auch als integraler Bestandteil eines mit externer Hilfe durchgeführten Projekts gleich mitgeliefert (dies ist z. B. gängige Praxis beim Durchführen einer Mitarbeitendenzufriedenheitsbefragung oder bei einem Gehaltsbenchmarking). 18.4.3 

Diagnostic Analytics

Auf der nächsten Stufe geht es um die Frage, wie und warum eine gewisse Situation entstanden ist. Ziel ist das Ermitteln möglicher Einflussfaktoren und der Klärung der Frage, was potenzielle Ursachen sind. Bei solchen Analysen werden oft Hypothesen getestet, die auf Erfahrungswerten aus der Vergangenheit beruhen oder als plausibel erachtet werden. Eine Fragestellung, die auf dieser Stufe angesiedelt werden kann, ist beispielsweise, was die Hauptaustrittsgründe für bestimmte Mitarbeitendengruppen im eigenen Unternehmen sind. Die vermuteten Gründe werden dazu in einem Austrittsfragebogen abgebildet (z. B. Unzufriedenheit mit Salär oder Vorgesetzten, berufliche Neuorientierung). Diese können im Anschluss systematisch analysiert und auf Muster hin geprüft werden. Methodisch kann mit Rangierungen oder einfachen Häufigkeitsauswertungen gearbeitet werden. Ein weiteres Beispiel, diesmal aus der Rekrutierung, ist der gleichzeitige Einsatz von verschiedenen Job-Annoncen für dieselbe Stelle mit dem Ziel, die jeweils performantere Annonce weiterhin im Einsatz zu behalten. Die andere wird im Sinne eines A-B-Vergleichs gezielt modifiziert, um ein noch besseres Resultat (noch mehr passende Bewerbende) zu erhalten. Der A/B-Test ist eine Testmethode zur Bewertung zweier Varianten, bei der die Originalversion gegen eine leicht veränderte Version getestet wird. So kann eruiert werden, ob beispielsweise die Formulierung im Text oder das verwendete Bildmaterial die Performance positiv oder negativ beeinflussen. Ein ähnliches Vorgehen im Bereich Training nutzen einige Firmen, in dem sie gewisse Schulungen (z. B. eine Verkaufsprozess-Schulung) bewusst nur einem Teil der Belegschaft zugänglich machen (oder gar verpflichtend verschreiben), um im Nachgang Unterschiede im intendierten Verhalten der beiden Gruppen messen zu können (z. B. zufriedenere Kund:innen). Ebenfalls zu den diagnostischen Analysen gezählt werden können Beispiele von Großunternehmen, wo Fragestellungen hinsichtlich der Attribute besonders erfolgreicher Führungskräfte (z. B. im Google-Projekt "Oxygen", vgl. Harrel & Barbato, 2018) oder ganzer Teams (z. B. Google-Projekt "Aristoteles", vgl. Schneider, 2017) im Zentrum standen. Beide Projekte hatten das Ziel, diese Attribute zu identifizieren, um sie anschließend z. B. durch Schulungen oder Prozessoptimierungen verbessern zu können. Sie beziehen sich dabei in erster Linie auf Daten aus Mitarbeitendenbefragungen (also weichen Daten), was ein Hinweis auf die große Bedeutung dieser Art von Datenquellen ist. Als Letztes möchten wir hier die ebenfalls auf Befragungsdaten beruhende Methode der Social Network Analysis erwähnen. Dabei werden die Mitarbeitenden nach der Interaktionsfrequenz, -qualität und weiteren Attributen befragt, worauf mit einer entsprechenden Software (ein frei verfügbares Beispiel findet sich unter 7 https://sn.­ethz.­ch/research/visone.­html) die Netzwerkverbindungen visualisiert  

18

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S. Winkler et al.

werden können. Diese Analysen liefern Antworten auf Fragen wie: Welche Abteilungen interagieren wie intensiv mit welchen anderen? Wo funktioniert die Zusammenarbeit reibungslos? Welche Teams könnten aufgrund ihrer Interaktionsintensität längerfristig zusammengelegt werden? 18.4.4 

Predictive Analytics

Prädiktive oder vorhersagende Analysen haben das Ziel, auf Basis eines mit Daten untermauerten Wirkungsgefüges akkurate Vorhersagen für zukünftige Situationen zu erstellen. Beispielweise kann es interessant sein, auf Basis von Veränderungen im Mitarbeitendenengagement (gemessen im Rahmen einer Mitarbeitendenbefragung) Vorhersagen für den Unternehmenserfolg zu treffen (Umsatz, Gewinn oder andere erfolgsrelevanten Messgrößen). Hier kommen in der Regel statistische Methoden wie die Regressionsanalyse oder auch Algorithmen des maschinellen Lernens zum Einsatz. Wichtig ist, dass eine erfolgreiche Anwendung niemals allein datengetrieben ist, sondern auf die Erkenntnisse der darunterliegenden Stufen oder der wissenschaftlichen Forschung aufbaut. Nachfolgend sind einige Beispiele für robuste Zusammenhänge aufgelistet, die in wissenschaftlichen Studien über verschiedene Industrien hinweg aufgezeigt werden konnten. Sie sind daher für prädiktive Vorhersagen von großem Nutzen. A. Mitarbeitendenengagement sagt Kundenzufriedenheit voraus (vgl. Winkler et al., 2012) B. Unternehmenskultur sagt Regeltreue voraus (vgl. Ehrhart & Raver, 2014) C. Selektionsinstrument sagt Leistung vorher (vgl. Sackett et al., 2022) D. Vernetztheit sagt Innovationskraft voraus (vgl. Leonardi & Contractor, 2018) E. Mitarbeitendenengagement sagt Finanzerfolg voraus (vgl. Winkler et al., 2012)

18

Als konkretes Beispiel aus der Praxis sei hier dasjenige einer Schweizer Großbank genannt (Winkler et al., 2012), bei der im nationalen Retailbanking die Frage im Raum stand, wie gut auf Basis des Engagements der Mitarbeitenden (erhoben in der jährlichen Mitarbeitendenumfrage) die finanzielle Zielerreichung (erhoben durch das finanzielle Controlling) und die Kundenzufriedenheit (erhoben durch die Marktforschungsabteilung) seiner Retailbanking-Filialen vorhergesagt werden kann. Zu diesem Zweck wurden die verschiedenen Variablen im Längsschnitt ausgewertet und variierende Zeitabstände miteinander verglichen. Dabei hat sich gezeigt, dass im ­Einjahresvergleich reziproke Effekte statistisch messbar sind (das Engagement der Mitarbeitenden, die finanzielle Zielerreichung und die Kundenzufriedenheit beeinflussen sich gegenseitig). Wurden längere Zeiträume miteinander verglichen, so verschwanden diese reziproken Effekte, während der Zusammenhang des Mitarbeitendenengagements aus Vorjahren weiterhin mit den Leistungsindikatoren (finanzieller Erfolg, Kundenzufriedenheit) der Folgejahre nachweisbar war. Diese Analyse gibt einen Hinweis darauf, dass Mitarbeitendenengagement tatsächlich ein wichtiger Prädiktor von organisationaler Leistungsfähigkeit sein könnte. Durch entsprechende statistische Methoden kann zudem eruiert werden, um wie viel sich die Leistungsfähigkeit verbessert oder verschlechtert, in Abhängigkeit von einer gegebenen Veränderung des Mitarbeitendenengagements.

351 People Analytics in der Praxis

Die Idee solcher Analysen ist jedoch nicht neu: Schon in den 1990er-Jahren untersuchte die US-amerikanische Kaufhauskette Sears die prädiktive Beziehung zwischen der Einstellung der Mitarbeitenden, der Kundenzufriedenheit und der finanziellen Zielerreichung (vgl. Rucci et al., 1998). Noch interessanter werden solche Verknüpfungsstudien, wenn viele Variablen zusammen analysiert werden, inklusive beispielsweise der Verwendung bestimmter HR-Praktiken (vgl. Gelade & Ivery, 2003; Patterson et al., 1997). Dies ermöglicht Aussagen dazu, welche HRM-Praktiken in direktem Zusammenhang mit dem Unternehmenserfolg stehen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass es kein Zufall ist, dass diese Analysen besonders im Retail-Bereich Verwendung finden. Sie eignen sich nämlich besonders dann, wenn möglichst viele Teams mit möglichst vergleichbaren Strukturen und Aufgaben vorhanden sind und einheitliche Messgrößen über alle Teams, Abteilungen oder Filialen verfügbar sind. Als ein neueres Beispiel sei an dieser Stelle die Ermittlung der Kündigungswahrscheinlichkeit auf Personenebene genannt (vgl. Silverman & Waller, 2015). Unternehmen wie Wal-Mart oder IBM ermitteln dabei, basierend auf großen Datensätzen und gestützt auf Machine-Learning-Algorithmen, die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Personen in absehbarer Zeit kündigen werden (vgl. Vulpen, 2018). Dabei werden unterschiedlichste Variablen wie Einstellungsdaten, Amtszeit, Beförderungsverlauf, Leistung, Funktion, Gehalt, Standort, Jobrolle etc. analysiert und hinsichtlich ihrer Vorhersagekraft bewertet. Die Resultate scheinen vielversprechend: Bei IBM konnten mit dieser Analysestrategie angeblich mehrere hundert Millionen Dollar eingespart werden (vgl. Rosenbaum, 2019). Jedoch stellen sich spätestens ab diesem Zeitpunkt verschiedene weitreichende Fragestellungen aus dem Bereich des Datenschutzes, der Datenethik und der praktischen Nutzung solcher Resultate. Und für kleinere Unternehmen scheinen diese Analysestrategien aufgrund kleinerer Datensätze kaum je erfolgsversprechende Resultate liefern zu können. Welche etablierten Instrumente aber trotzdem erfolgreiche Vorhersagen ermöglichen und auch für kleine Unternehmen verfügbar sind, beschreiben wir im folgenden Abschnitt. 18.4.5 

Prescriptive Analytics

Präskriptive oder handlungsleitende bzw. vorschreibende Analysen haben das Ziel, eine konkrete Handlungsempfehlung als Resultat zu liefern. Zum heutigen Zeitpunkt sind die für HR umsetzbaren und praktikablen Beispiele noch eher rar, und einige Experten rechnen damit, dass HR-Analysen dieser Komplexitätsstufe frühestens in 10–15 Jahren flächendeckend einsetzbar sein werden (vgl. Ferrar & Green, 2021). Trotzdem gibt es schon heute in HR gut etablierte Methoden, die man unter präskriptiven oder vorschreibenden Analysen subsummieren kann, da sie eine konkrete Handlungsempfehlung als Resultat haben. Ein konkreter Anwendungsfall stammt aus dem Gebiet der Selektion von Mitarbeitenden. Basierend auf den Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte aus der Arbeits- und Organisationspsychologie gibt es hinreichende Evidenz, dass gewisse Eigenschaften von Bewerbenden zum Zeitpunkt des Selektionsentscheides gemessen werden können und diese Variablen eine zuverlässige Vorhersage für die künftige Leistung in der Zielfunktion ermöglichen (vgl. Sacket et al., 2022). Allen voran ermöglichen demnach Attribute wie die kognitive Leistungs-

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S. Winkler et al.

fähigkeit, gewisse Persönlichkeitseigenschaften (wie z.  B.  Gewissenhaftigkeit) oder die Simulation von kritischen Führungsaufgaben im Rahmen von Assessment-Centern eine hochvalide Vorhersage der künftigen Leistung im Job. Anders gesagt: Werden verschiedene Kandidat:innen basierend auf den genannten Dimensionen assessiert und miteinander verglichen, so entsteht basierend auf den so gewonnenen Daten eine konkrete Empfehlung, welches der/die beste Kandidat:in sein könnte. Dieses Beispiel zeigt, dass selbst für Analysen und Methoden auf der vermeintlich höchsten Komplexitätsstufe nicht zwingend sehr große Datenmengen nötig sind. Vielmehr geht es um die konsequente Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und psychometrisch solide abgestützter Verfahren. So kann von Jahrzehnten von Forschung und (meta-)analytischen Befunden profitiert werden. In diesen Studien wurden ursprünglich große Datenmengen verarbeitet, um die zielführenden Erkenntnisse herbeizuführen. Im eigenen Unternehmen profitiert man von diesen Methoden und Erkenntnissen, ohne dass diese selbst nochmals neu gesammelt und ausgewertet werden müssen. Trotzdem erwarten wir auch in diesem Bereich in absehbarer Zeit Neuerungen, welche sich analytisch und methodisch von den heutigen Möglichkeiten unterscheiden. Ein Beispiel sind Selektionsentscheidungen, welche durch Algorithmen oder künstliche Intelligenz gestützt werden, wie sie beispielweise der multinationale Mischkonzern Amazon eingesetzt hatte. Nachdem jedoch bekannt wurde, dass das System sexistische Selektionsentscheidungen gefällt hatte, wurde es wieder abgeschafft (vgl. Dastin, 2018).

18.5 

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 ritische Betrachtung des People-Analytics-­ K Maturitätsmodells

Das Modell schlägt vor, dass mit zunehmender Wertigkeit einer Analyse auch deren Schwierigkeit proportional zunimmt. Dass dies nicht zwingend der Fall sein muss, zeigt das soeben besprochene Beispiel der präskriptiven Analysen anhand validierter Testverfahren in der Managementdiagnostik. Weiter schlägt das Modell von Gartner vor, dass die Stufen von deskriptiv bis präskriptiv aufeinander aufbauen. In der Tendenz scheint dies zu stimmen. Beispielsweise ist es unwahrscheinlich, dass ein Unternehmen sich mit diagnostischen Analysen (Stufe 2) auseinandersetzen wird, wenn es die Basisdaten, die bereits auf Stufe 1 Verwendung finden, nicht zur Hand hat. Jedoch zeigt sich auch hier, dass einzelne Methoden (z. B. Mitarbeitendenbefragung) losgelöst Anwendung finden könnten, ohne dass die vorhergeschalteten Stufen im Einsatz sein müssen. Trotzdem dienen die Erkenntnisse auf der vorhergehenden Stufe oftmals tatsächlich als Input für die darauffolgende Stufe. Beispielsweise hat Google basierend auf den Projekten "Oxygen" und "Aristoteles" jeweils Schulungsprogramme entwickelt mit der Absicht, die Leistungsfähigkeit von Führungskräften bzw. ganzen Teams zu verbessern und damit proaktiv die Zukunft zu steuern (vgl. Bock, 2016).

353 People Analytics in der Praxis

18.6 

Schritte und Erfolgsfaktoren bei People-Analytics-Projekten

HRM-Praktiker:innen, die gerne eigene People-Analytics-Projekte durchführen möchten, möchten wir im Folgenden möglichst viel praktisches Know-how mit auf den Weg geben. Zwar stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob People Analytics Projektarbeit ist oder ob schon zu Beginn ein eigenes Kompetenzzentrum für HR-­ Datenanalysen etabliert werden soll. Im Bewusstsein, dass viele Unternehmen aber noch ganz am Anfang der People-Analytics-Reise stehen und in vielen Fällen die Ressourcen für ein designiertes People-Analytics-Team noch fehlen (vgl. Bruch et al., 2019), skizzieren wir an dieser Stelle ein prototypisches People-Analytics-Projekt mit seinen wichtigsten Schritten. Wir strukturieren dabei einen idealtypischen Prozess und beschreiben mögliche Erfolgsfaktoren bzw. zu vermeidende Stolpersteine. z Schritt 1: Geschäftsrelevante Fragestellungen identifizieren

Soll ein People-Analytics-Projekt auf Akzeptanz innerhalb der Organisation stoßen, sollten als erstes das Erkenntnisziel und der daraus entspringende Nutzen geklärt werden. Daten und Erkenntnisse sind an sich oftmals wertneutral. Erst die darauf basierenden Entscheidungen können ethisch oder unethisch sein. Daher auch die wichtige Frage nach der Verwendung der Erkenntnisse. Fragen, die bei diesem initialen Schritt helfen können, sind: 55 Welches Problem versuchen wir zu lösen? 55 Welcher Nutzen wird im Idealfall entstehen? Für wen? 55 Gibt es Stakeholder, die allenfalls mit negativen Konsequenzen zu rechnen haben (z. B. Evaluation eines Trainings, das sich als wenig zielführend erweist und infolgedessen abgeschafft wird)? kStolpersteine und Erfolgsfaktoren

Viele Unternehmen schauen zuerst, welche Daten verfügbar sind, anstatt unternehmensrelevante Fragestellungen als Ausgangspunkt zu definieren. Der Gedanke, mit bereits verfügbaren Daten einen möglichen Quick Win zu erzeugen, ist sicher naheliegend. Jedoch haben People-Analytics-Projekte (wie viele andere Projekte auch) die Tendenz, mehr Ressourcen in Anspruch zu nehmen, als anfänglich geplant. Und ohne eine solide Argumentation, warum sich dieser Aufwand lohnt, werden People-­Analytics-­Projekte häufig vom Tagesgeschäft verdrängt  – unabhängig von der Nutzung bereits bestehender Daten. Tipp: Wer keinen expliziten Auftrag von der Linie oder der Geschäftsleitung erhalten hat, kann sich an der Unternehmensstrategie orientieren und sich fragen, welche Analysen bei deren Umsetzung hilfreich sein könnten. z Schritt 2: Geschäftsrelevanten Fragestellungen in Use Cases verdichten

Ist ein kritisches Problem identifiziert, sollte ein Use Case definiert werden, der das Problem aus verschiedenen Blickwinkeln beschreibt, in einfacher Sprache den Nutzen auf den Punkt bringt sowie eine grobe Kosten-Nutzen-Schätzung enthält. Der Use Case sollte die in Schritt 1 definierten Fragen beantworten können und darüber hinaus auf die folgenden Fragen eine Antwort geben können: 55 Welche Parteien sind involviert? 55 Welche Hypothesen gilt es zu bestätigen oder zu falsifizieren?

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S. Winkler et al.

55 Welche bereits vorhandenen Daten können für deren Beantwortung verwendet werden? 55 Wo besteht der Bedarf, zusätzliches Datenmaterial zu erheben? 55 Was ist der geschätzte benötigte Ressourcenaufwand (Zeit, Investitionen in Software, externe Expertise etc.)? 55 Zu welchem Zeitpunkt ist realistischerweise mit ersten Ergebnissen zu rechnen? kStolpersteine und Erfolgsfaktoren

In vielen People-Analytics-Projekten beansprucht die Phase der Datenerhebung, -validierung und -bereinigung die Mehrheit der zeitlichen und finanziellen Ressourcen. Sind Entscheidungsträger:innen nicht darauf vorbereitet, entstehen zu einem frühen Zeitpunkt unrealistisch hohe Erwartungen, die oft kaum erfüllt werden können. Zudem haben viele People-Analytics-Projekte, insbesondere wenn sie explorativen Charakter haben, einen schwer prognostizierbaren Verlauf, da während der verschiedenen Phasen des Projektes unerwartete Probleme auftauchen können – oder aber auf vermeintlichen Nebenschauplätzen plötzlich ein unverhoffter Nutzen entsteht. Über diesen Verlauf und die daraus gewonnen Erkenntnisse sollten die Sponsor:innen in regelmäßigen Abständen informiert werden. z Schritt 3: Das Commitment von wichtigen Entscheidungsträger: innen sicherstellen

Ist der Use Case klar umrissen (oder noch besser: mehrere Use Cases, die das Spektrum der möglichen Herangehensweisen veranschaulichen), sollte ein klares Commitment der Geschäftsleitung oder von anderen relevanten Entscheidungsträger:innen sichergestellt werden. Das gilt sowohl für die ersten Gehversuche in diesem Feld für Unternehmen mit wenig oder keiner People-Analytics-Erfahrung als auch für Unternehmen, die sich dafür entscheiden, eine eigentliche People-Analytics-­Funktion zu installieren. kStolpersteine und Erfolgsfaktoren

Viele People-Analytics-Projekte versanden, weil sie als Zusatzauftrag zum bestehenden Tagesgeschäft definiert werden. Einige People-Analytics-Projekte haben aber eine nicht zu unterschätzende Komplexität, erfordern einen langen Atem, vielfältiges Know-how und eine gute interne Vernetzung. Sind sie als eigenständiger Auftrag mit dezidierten Ressourcen definiert, steigt die Erfolgswahrscheinlichkeit deutlich. z Schritt 4: Die richtigen Personen an einem Tisch versammeln

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Oft sind in People-Analytics-Projekten Datenquellen aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen notwendig. Um schnell ans Ziel zu kommen, müssen mit den Datenlieferant:innen der Nutzen des Projekts, die genaue Verwendung der Daten und die Verantwortlichkeiten innerhalb des Projekts geklärt werden. Hier helfen der in Schritt 2 definierte Use Case und das in Schritt 3 gesicherte Commitment der Geschäftsleitung. kStolpersteine und Erfolgsfaktoren

Wenn die Datenlieferanten die Dringlichkeit und den Nutzen nicht einsehen, fehlen entscheidende Ressourcen für das Gelingen des People-Analytics-Projektes. Nie-

355 People Analytics in der Praxis

mand kennt die Daten so gut wie deren Verantwortliche. An dieser Stelle lohnt es sich, den Datenlieferant:innen einen möglichen Nutzen der Zusammenarbeit zu eröffnen (z. B. Zurverfügungstellen der Rohdaten in neu aufbereiteter Form oder finales Resultat für eigene Projekte). z Schritt 5: Bestehende Daten sammeln und validieren

Erst zu diesem Zeitpunkt – wenn die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Projekt geklärt sind – beginnt die eigentliche Arbeit mit Daten, wobei der erste Schritt darin besteht, die Verfügbarkeit (im Zeitverlauf), die Qualität und die Brauchbarkeit der bereits im Unternehmen vorhandenen Daten zu klären. Hier wird das in Schritt 4 aktivierte Team von Datenexpert:innen besonders relevant. Die benötigten Daten werden  – wenn nicht bereits in einem HRIS (Human Resource Information System) oder ERP (Enterprise Resource Planning) -System vorhanden – an einem zentralen Ort mittels einer geeigneten Datenverarbeitungs- und Auswertungsplattform verwaltet und gespeichert. kStolpersteine und Erfolgsfaktoren

In vielen Unternehmen liegen die benötigten Daten verteilt in Datensilos ohne einheitliche Struktur, können nicht eindeutig auf Personen oder Unternehmenseinheiten geschlüsselt werden, sind geschützt durch Vertraulichkeits- und Datenschutzabkommen oder sind entgegen der ursprünglichen Erwartung schlicht nicht vorhanden. Einige People-Analytics-Projekte enden an dieser Stelle. Trotzdem kann in vielen Fällen durch die Aggregation von Daten von der Personen- auf die TeamEbene oder mit geeigneten Anonymisierungsstrategien vermeintlich unzugängliches Datenmaterial nutzbar gemacht werden. Der frühzeitige Einbezug von Datenschutzverantwortlichen oder Jurist:innen mit Erfahrungen in diesem Bereich ist empfehlenswert. z Schritt 6: Neues Datenmaterial sammeln

Viele People-Analytics-Projekte können nicht vollständig mit bereits bestehendem Datenmaterial abgewickelt werden. Oft ist die Erhebung von zusätzlichen Datenpunkten notwendig. Insbesondere wenn es um die Sichtweisen der Mitarbeitenden geht, kommt man um Befragungsdaten kaum herum. kStolpersteine und Erfolgsfaktoren

Viele Mitarbeitende beklagen sich über Survey Fatigue (das Überdrüssig-Sein von zu vielen Befragungen von unterschiedlichen Seiten innerhalb und außerhalb des Unternehmens). Wann immer möglich sollte daher auf bereits bestehendes Datenmaterial zurückgegriffen werden oder es sollten eine bereits bestehende Befragungsinfrastruktur oder entsprechende Projekte genutzt werden, um die Anzahl der Befragungen für Mitarbeitende auf dem kleinstmöglichen Niveau zu halten. z Schritt 7: Daten analysieren

Die Analyse von strukturierten und unstrukturierten Daten ist ein enorm großes Feld, welches ständige Neuerungen und Weiterentwicklungen erlebt. Einen kleinen Einblick in verschiedene Methoden, die im Rahmen von People-Analytics-Projekten Anwendung finden können, haben wir im ersten Teil dieses Kapitels gegeben. Trotzdem können in vielen Fällen mit einfachen Methoden bereits eindrückliche Resultate

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erzielt werden. Häufigkeitsverteilungen und Streudiagramme sind nur zwei von unzähligen Möglichkeiten, Daten zu visualisieren, um einen Dialog mit den Auftraggebenden zu ermöglichen. Mehr Ideen und Inspiration dazu findet man in entsprechender Fachliteratur (vgl. Krämer, 2015). kStolpersteine und Erfolgsfaktoren

Ohne fundiertes Wissen aus dem Bereich der Psychologie, der Statistik und der Data Science ist insbesondere mit großen Datenmengen schnell ein gewisses Limit erreicht. Wer hier an Grenzen stößt, kann durch die Kooperation mit Hochschulen oder durch die punktuelle Zusammenarbeit mit externen Expert:innen trotzdem ans Ziel gelangen. z Schritt 8: Resultate bewerten

Damit das Resultat einer Analyse Wirkung erzeugen kann, kann es notwendig werden, eine passende Bewertungsstrategie zu wählen. In 7 Abschn. 18.4.2 haben wir entsprechende Strategien vorgestellt. Darüber hinaus können einfache Entscheidungsregeln (z.  B. welcher Wertebereich gilt in einem Ampelsystem als rot, orange, bzw. grün) und simple statistische Bewertungsmechanismen (z.  B. die isolierte Betrachtung einzelner Kompetenzen im Rahmen von Assessment-Centern über mehrere Übungen hinweg) oft schon einen deutlichen Mehrwert gegenüber rein intuitiver Bewertung „aus dem Bauch heraus“ liefern (vgl. Kahneman et al., 2021).  

z Schritt 9: Resultate präsentieren

Stehen am Ende eines Projekts interessante Resultate zur Verfügung, gilt es, diese auf ansprechende Art und Weise den verschiedenen Anspruchsgruppen zurückzumelden. Hier ist Fingerspitzengefühl gefordert, zumal unterschiedliche Anspruchsgruppen unterschiedliche Interessen, Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungspräferenzen haben. Tendenziell gilt: In der Kürze liegt die Würze. Das Verdichten und Visualisieren sind jedoch eigene Kompetenzen, die sich von den geforderten Kompetenzen der vorhergehenden Schritte unterscheiden. Auch hier gib es zahlreiche auf People Analytics zugeschnittene Ratgeber (vgl. Knaflic, 2017). kStolpersteine und Erfolgsfaktoren

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Vielfach erscheinen die Resultate aus People-Analytics-Projekten auf den ersten Blick unspektakulär, die erhofften Hypothesen können nicht klar beantwortet werden oder es gibt zum Schluss mehr offene Fragen als zum Startpunkt. Hier sollte kritisch geprüft werden, ob sich nicht in den vermeintlich enttäuschenden Resultaten gewinnbringende Erkenntnisse verstecken. Beispielsweise kann die Nichtmessbarkeit eines Zusammenhangs im Sinne einer statistisch signifikanten Korrelation ein Hinweis darauf sein, dass noch nicht alle relevanten Variablen in das Messmodell eingeflossen sind. Zusammenfassung und Fazit Viele HR-Organisationen erleben den Einstieg in die konsequente Nutzung von Daten und deren weiterführende Nutzung im Rahmen von People-Analytics-Projekten als anspruchsvoll. Dies dürfte mit ein Grund dafür sein, dass wirklich fortschrittliche Methoden hierzulande noch verhältnismäßig wenig verbreitet sind (vgl. Weibel et  al., 2019). Interdisziplinäre, datenaffine HR-Teams scheinen sich hier als wichtiger Erfolgs-

357 People Analytics in der Praxis

faktor zu etablieren (wie eine fortschrittliche HRM-Funktion aufgestellt werden könnte, wird z. B. bei Birri, 2013 oder Bock, 2016 beschrieben). Zudem sind wir heute mit folgenden Herausforderungen konfrontiert: 55 zunehmende Geschwindigkeit der Entwicklung von Datensammlungs- und Verarbeitungsstrategien, 55 erhöhtes Bewusstsein um die Sensibilität von vertraulichen Daten im Personalwesen, 55 datenethische Überlegungen, 55 verschärfte regulatorische Richtlinien im Umgang mit Personaldaten. Es lohnt sich, diese Kompetenzen innerhalb von HRM aufzubauen! Dass hier nämlich langfristig Exzellenz im Umgang mit Zahlen, Daten und Fakten unvermeidlich ist, geht aus verschiedenen Studien hervor (vgl. Bruch et al., 2019). Ziel sollte eine Integration von solidem HR-Fachwissen sein, bei dem Erfahrungswerte und evidenzbasierte Ansätze sich gegenseitig ergänzen. Zentral scheint zudem das Etablieren einer Data-­ Analytics-­Kultur innerhalb der HR-Funktion, sodass es künftig vermehrt zum Alltag einer professionell aufgestellten HR-Funktion gehört, Zahlen, Daten und Fakten in die businessrelevanten Entscheidungen mit einzubeziehen. Wenn HRM das Thema Daten und Analytics nicht mit der nötigen Priorität anpackt, läuft es als Funktion innerhalb der Organisation Gefahr, diese zukunftsweisende Kompetenz an verwandte Disziplinen zu verlieren.

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Serviceteil Stichwortverzeichnis – 361

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Werkmann-Karcher et al. (Hrsg.), Personalpsychologie für das Human Resource Management, https://doi.org/10.1007/978-3-662-65308-1

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Stichwortverzeichnis A adaptive Lernsysteme  149 agile Methoden  152 agiles Mindset  310 Agilität  296, 298–300, 308 –– doing vs. being agile  310 –– HR-Beiträge 316 –– individuelle 315 –– operationale 312 –– organisationale 315 –– strategische 312 –– und Grundbedürfnisse  152 aktives Experimentieren  198 Altersdiversität 61 Altersstruktur 58 Anforderungsanalyse  80, 81, 93 Anforderungs-Ermittlungs-Dialog (AED)  93 Anforderungsprofil 94 Anforderungs-Übungs-Matrix 99 Arbeit –– Abschalten von  267 –– Büroarbeit 261 –– Dienstleistungsarbeit 261 –– mobile 263 –– mobil-flexible 263 –– Remote Work  263 –– Schichtarbeit 262 –– Telearbeit 263 –– Wissensarbeit  248, 261 Arbeitgeberattraktivität  76, 81 Arbeitgebermarke  76, 79, 83, 84, 86 Arbeitsentgrenzung 266 Arbeitsextensivierung 266 Arbeitsintensivierung 266 Arbeitsmarkt  61, 78, 79, 85 Arbeitsmodelle 261 –– Gleitzeit 262 –– Jahresarbeitszeit 262 –– Jobsharing 262 –– Teilzeit 262 –– Vertrauensarbeitszeit 262 Arbeitsmotive 123 Arbeitsüberlastung 264 Arbeitsumgebung 249 –– kulturelle 24 –– physische 24 –– technologische 24 Arbeitswelt 4.0  6

Arbeitszeugnisse 101 Arbeitszufriedenheit  122, 127 Attraktor 218 Auffanggespräch 236 Aufmerksamkeit  121, 124 Austausch 224 Auswahlstrategie 95 autonome Systeme  223 Autonomie  216, 264, 309

B Basisrate 95 Bedarfsplanung  139, 140, 150 Beitragsdisziplinen 8 Belohnungssystem 320 Benchmarking 348 Beurteilungsverfahren  129, 130 Bewerbungsunterlagen 100 Biografiearbeit 168 Blended Learning  146 Boundary Management  267, 274 Bürogestaltung 251 Bürotypen 250

C Candidate Experience  82 Career Construction  158 Change-Agent 20 Common Good HRM  52 Community Management  254

D Datenethik 351 Day-to-Day-Feedback 128 Demografiemanagement 62 demografischer Wandel  44, 47, 58 Descriptive Analytics  348 Design Thinking  338 Diagnostic Analytics  349 Dienstleistungskreis 30 digitale Revolution  212 Digitalisierung 282 disruptiver Wandel  212 Diversity Management  66 dritte Orte  255

A–D

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Stichwortverzeichnis

E effektive Führungsverhalten  296 Einstellungsinterview 102 Einstufungsskalen 108 emotionale Ansteckung  194 Employee Experience  23, 46, 82 Employee Relationship Management  81, 82 Employee-Experience-Manager  23, 32, 42 Employer Branding  60, 75, 76, 83–86 Empowerment 317 Engagement 220 Entscheidungsfindung 109 Equity-Theorie 131 Experimente 336

F Fachkräfte 65 Fachkräftemangel 60 Faultlines 182 Feedback-Intervention-Theorie 124 Feel-Good-Manager  23, 32 Flexibilisierung 282 –– räumliche 248 Flexibilität 311 –– arbeitsplatzbezogene 246 Flexibilitätsmanager 22 flexible Workforce  22, 48, 317 Fluktuation 229 Frauen 67 Führung 271 –– als Interaktionsprozess  296 –– Distanzführung  259, 271 –– geteilte 301 –– plurale 300 –– verteilte 301 Führungsaufgaben  296, 298 –– in Teams  299 Führungskräfte  213, 222 Führungsrollen 298 –– Fachführung 298 –– Linienführung 298 –– Projektführung 298 –– Wandel 298 Fürsorgepflicht 324

G Gebot der Effizienz und Rationalität  213 Gebote und Verbote  228 Geflüchtete 68 Generationen 63 Gesundheit 63 Gesundheitsmanagement 63 Gesundheitsschutz 273

Green HRM  6, 50, 53 Grundbedürfnisse 152 gruppendynamischer Raum  188 Gütekriterien psychologischer Messmethoden  96

H Hard HRM  5 High Reliability  197 Holocracy 28 Homeoffice  254, 263 HR Analytics  31, 344 HR-Business-Partner  25, 32 HR-Business-Partner-Modell 21 HR-Organisationsformen 26 –– agile 27 –– klassische 26 HR-Rollen 20 HR Service Delivery Model  25 HR-Strategie  38, 42 –– und Agilität  315 Human Capital Analytics  344 Human Resource Management  4 hybrides Arbeiten  269 Hybridisierung von Arbeit  258

I Identität 217 Incentivierung 320 Individualisierung 247 Individualziele  201, 322 Ingroup-Outgroup 185 Inputfaktoren 179 Integration 68 interessierte Selbstgefährdung  267 Interviewführung 105

J Job-Characteristics-Modell  123, 183, 264 Jugendliche 66

K Karrierehomepage 80 Kohäsion 188 kollegial geführtes Unternehmen  29 Kompetenz 92 Kompetenzentwicklung 318 Komplexität 308 Komplexitätsreduktion 313 Komplexitätssteigerung 313 Konfliktmanagement 206 Konfliktprävention 207

363 Stichwortverzeichnis

Kontrollparameter  219, 228, 229 Kultur  212–214, 224, 313 –– Definition 215 –– Fehlerkultur 323 –– Hochleistungskultur 272 –– identitätsstiftende 219 –– Lernkultur 323 kulturbildende Momente  229 kulturelle Ordnung  227 Kulturentwicklung 272 Kündigung –– Begleitung der Betroffenen  240 –– betriebsbedingte 234 –– durch Arbeitnehmende  236 –– fristlose 235 –– Gesprächseröffnung 238 –– Gesprächsführung 238 –– individuelle 235 –– Reaktionen der Betroffenen  237, 239 Kündigungsgespräch 236 künstliche Intelligenz  325

L Laufbahnberatung  158, 160 Laufbahnen  158, 159 –– Fach-, Führungs-, Projektlaufbahnen  319 Laufbahnentwicklung  157, 158, 161, 165, 166, 322 lebende Systeme  212 lebenslanges Lernen  158, 160, 163, 166 Lebensthemen  160, 168 Leistungsmanagement  118, 125 Leistungssteuerung 322 –– indirekte 268 Lernagilität 318 Lernberatung 144 Lernen 64 –– adaptives 331 –– individuelles 331 –– kollektives 331 –– lebenslanges 64 –– organisationales  319, 331 –– sozialisiertes 338 Lernkultur  137, 140, 141, 144, 148, 320, 332 Lerntransfer  140, 144 Lerntransfer-System-Inventar 145 Life Design  158, 159 Linienführung  296, 298 Lokomotion 188

M magisches Dreieck  311 Maturitätsmodell von Gartner  347 Megatrends 9

Menschenbild 220 mentale Modelle  196 Mentoring 64 Micro Learning  149 Migration  60, 68 Mitarbeitendenausbildung 303 Mitarbeitendenbefragungen 82 Mitarbeitendenempfehlungen 81 Mitarbeitendenentwicklung 303 Mitarbeitendengespräche 169 Mitarbeiterbindung 126 Mobile Learning  149 mobil-flexibles Arbeiten –– Herausforderungen 266 –– positive Effekte  265 70-20-10-Modell 142

N Narrative  159, 161–163, 166, 167 Nearshoring  27, 30 neue Arbeitsweisen  247 New Learning  137, 138, 149, 152, 153 New Work  137, 138

O OKR  119, 120 Onboarding  259, 271, 316, 321 organisationale Fähigkeiten  53 Organisationen als soziale Systeme  212, 215 Organisationsdesign 317 Organisationskultur 304 Organisationsprozesse 303 organisatorische Fähigkeiten  43 Organizational Behavior  8 Organizational Renewal Capability  332 Ortsbindung 254 Ortsidentität 254 Output 179

P partizipative Führungskultur  335, 339, 340 People Analytics  344 –– Adressaten 346 –– Fragestellungen 345 –– Projektziele 346 –– prototypisches Projekt  353 Performance Management  118 Personalentscheidungen 229 Personalentwicklung  137, 138, 140, 142, 144, 148, 150 Personalforschung  78, 79 Personalmarketing  60, 75–77, 80, 82–84, 86

E–P

364

Stichwortverzeichnis

Personalplanung 316 –– strategische 166 Personalpsychologie 8 –– Bereiche und Ebenen  9 Personalstrategie  38, 41 Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion  158, 161 Persönlichkeits- und Motivpsychologie  163 positives HRM  125 Potenzialbeurteilung  111, 119, 128 Präsentismus 267 Predictive Analytics  344, 350 Prescriptive Analytics  351 Prozessgewinne 193 Prozesslernen  331, 332 Prozessverluste 193 psychologische Distanzierung  259 psychologische Job-Kontrolle  264 psychologische Nähe  258 psychologische Sicherheit  151, 195, 337 –– Tipps zur Entwicklung  151 psychologische Testverfahren  102

Q Q4TE  144, 145

R Rahmenbedingungen 227 –– äußere 228 –– innere 228 Räume –– Kommunikationsräume 256 –– transliminale 256 –– virtuelle 255 Raumkompetenz 259 reflektierenden Teams  226 reflexives Erneuern  336, 339, 340 Reflexivität 197 –– aufgabenbezogene 200 –– soziale 200 –– Teamtypen 199 Regelbeurteilung 128 Resilienz 324 Rollen 12 Ruhestand 68

S Selbstdeterminationstheorie 285 Selbsterneuerung 330 –– kontinuierliche 333 Selbstführung  284, 300, 303 –– Stratgien 289

selbstgeführte Teams  203 selbstgesteuertes Lernen  143, 151 Selbstkonkordanz  285, 286, 288 –– Erhöhung 289 Selbstkonkordanztheorie 285 Selbstorganisation  212, 213, 217, 219, 221, 227, 296, 299 Selbstregulation  163, 164 Selbststeuerung 273 Selbstwirksamkeit 122 Selektion  201, 321 Servant Leadership  302 Shared Service Centers  25, 26 Sharing Economy  47 Silver Work  69 Sinnhaftigkeit 291 Social Network Analysis  349 Soft HRM  5 soziale Isolation  266 soziale Kategorisierung  180 Spillover-Effekt 265 Standortbestimmung  236, 240, 340 Stärken  125, 126 Strategie  212–214, 312 Strategieentwicklung 38 Struktur  212, 214, 227, 313 Sustainable HRM  52 SWOT-Analyse 39 Synchronizität 186 Systeme –– schlecht definierte  310 –– wohldefinierte 309 systemisch-konstruktivistisches Denken  224

T Talente 58 Talent-Management 321 Task-Design 183 Task Performance  120 Team –– Arten 177 –– Definition 177 –– Entwicklungsphasen 189 –– High Reliability  197 –– hybrides 185 –– selbstgeführtes 203 –– selbstgesteuertes 187 –– Zusammensetzung 179 Teamarbeit  175, 271 –– aktives Experimentieren  198 –– Aufgabenstrategien 196 –– Faultlines 182 –– Gruppendynamik 188 –– Individualziele 201 –– Ingroup-Outgroup-Phänomen 185

365 Stichwortverzeichnis

–– Inputfaktoren 179 –– Modell 178 –– Output 179 –– Reflexivität 197 –– Synchronizität 186 –– Task-Design 183 –– Teamgröße 182 –– Teamziele 202 –– virtuelle Kommunikation  185 –– Wir-Gefühl 185 Team-Coaching 204 Team-Design 179 Teamdiversität 180 –– biodemografische 180 –– funktionale 180 –– psychologische 180 Teamentwicklung  203, 204 –– Anlässe 205 Teamerfolg 179 Teamführung 187 Teamgröße 182 Teamleistung, Beurteilung und Honorierung  201 Teamnormen 191 Teamrollen 191 Teamsitzungen 192 Teamtraining 203 Teamtypen 199 Teamziele  202, 322 teilautonome Arbeitsgruppen  175 transformativer Führungsstil  290 Trennungskultur 234 Trennungsprozess 240 Trial-and-Error-Prinzip 338

U Übungen in der Personalauswahl  107 umfeldbezogene Leistungen  120 Umweltdynamik 330

Unternehmensphilosophie  222, 225 Unternehmensstrategie  38, 41

V Veränderungslernen 331 Verordnung von Lernaktivitäten  139 Vielfalt 65 Virtualität 256 virtuelle Kommunikation  185 virtuelle Teamarbeit  185 Vorauswahl 101

W Wandel –– episodischer 333 –– erster Ordnung  332 –– kontinuierlicher 333 –– zweiter Ordnung  333 Werte  212, 213, 216 Wertewandel 283 Wertewandel in der Arbeitswelt  77 Wir-Gefühl 185 Wissensmanagement  65, 319 Workforce-Planning  37, 43, 53 Work-Life-Balance 264 Workplace Experience  252

Z Ziele –– autonome 285 –– kontrollierte 285 –– selbstkonkordante 286 Zielsetzungstheorie 121–123 Zielvereinbarung  118, 119, 130 Zugehörigkeit 217 Zuwanderung 68

P–Z