Parmenides – der Beginn der Aletheia: Untersuchungen zu B 2 - B 3 - B 6 [Reprint 2011 ed.] 9783110801545, 9783110145137


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German Pages 289 [292] Year 1996

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. Kapitel: Antithesen
A. Antithesen und Parallelführungen
B. B 6,1a und B 2,7–8
1. Überlieferter und konjizierter Text in B 6,1a
2. Die Konstruktionstypen von B 6,1a
3. Die Termini in der Antithese B 6,1a – B 2,7–8
Zusammenfassung und Ausblick
Exkurs: B 16 und der Bericht Theophrasts
(I) Haupttypen der Interpretation von B 16,2–4
(II) Der Bericht Theophrasts
(III) Die Zugehörigkeit von B 16 zum Doxateil
Zusammenfassung
C. B 6,1b und B 6,2a
1. Die Prädikate in B 6,1b–2a
2. Die Subjekte in B 6,1b–2a
3. Plädoyer für „Sein gibt es, Nichts aber gibt es nicht“
2. Kapitel: Argumentation
A. Das Problem des Bezugs von B 6,1b–2a auf die Wege der Forschung
1. B 6,2a als Charakteristik des ersten und zweiten Weges
2. B 6,1b–2a und der Anschlußtext B 6,3 sqq
3. Bestätigung des Bezugs von B 6,2a auf den zweiten Weg durch Simplikios
4. Neue Theorien zur Zahl der Wege bei Parmenides
5. Drei Wege, nicht zwei Wege im Aletheiateil
6. Zur sprachlichen Darstellung der Wege der Forschung
7. Die Position von B 7 in Parmenides’ Erörterung der drei Wege und der Beweisablauf in B 6–7
Zusammenfassung
B. Bedeutung und Funktion von B 3
1. Die grammatische Konstruktion
2. Die Aussage über Erkennen und Sein
Zusammenfassung
C. Parmenides’ Argumentation in B 2, B 3 und B 6,1–2
1. Der Gang der Beweisführung von B 6,1–2 nach B 2 und seine Bestätigung durch Gorgias
2. Kritische Durchsicht bisheriger Annahmen zum Vorgehen des Parmenides in B 2, B 3 und B 6,1–2
3. Die Bedeutungen von „sein“ im Beweis von B 6,1–2 nach B 2
Zusammenfassung
D. Schau und Argumentation bei Parmenides. Anmerkungen zur Funktion von B 4
Text und Übersetzung B 2–8,2
Bibliographie
Indizes
Parmenides
Antike Autoren
Griechische Termini
Neuere Autoren
Sachen und Begriffe
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Parmenides – der Beginn der Aletheia: Untersuchungen zu B 2 - B 3 - B 6 [Reprint 2011 ed.]
 9783110801545, 9783110145137

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Jürgen Wiesner Parmenides. Der Beginn der Aletheia

Jürgen Wiesner

Parmenides Der Beginn der Aletheia Untersuchungen z u B 2 - B 3 - B 6

w DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des FB Altertumswissenschaften der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wiesner, Jürgen: Parmenides - der Beginn der Aletheia : Untersuchungen zu Β 2 Β 3 - Β 6 / Jürgen Wiesner. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 Zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil.-Schr., 1992/93 ISBN 3-11-014513-8

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Die hier vorgelegte Studie zu Parmenides stellt die weitgehend unveränderte Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die 1992/93 dem Fachbereich Altertumswissenschaften der Freien Universität Berlin vorgelegen hat. Herrn Professor Ernst Heitsch (Regensburg), der mir mit seinen sorgfältigen, klaren Darlegungen zu Parmenides bei meiner Arbeit stets Vorbild gewesen ist, bin ich für verschiedene wertvolle Anregungen sehr verpflichtet. Sie haben zur Präzisierung meiner Position in Kapitel 2, A 3 beigetragen und zur Aufnahme einiger zusätzlicher Anmerkungen geführt, die als Nachträge (510 a, 731 a etc.) klar erkennbar sind. Bei der bekannten Schwierigkeit des Gegenstandes galt es, dem Leser die Benutzung dieses Buches, wo immer möglich, zu erleichtern. So sind am Schluß größerer Textkomplexe Zusammenfassungen des bisher argumentativ Erreichten gegeben (siehe S. 4 9 - 5 0 , 7 1 - 7 3 , 136-138, 160-162, 232-236). Der leichteren Benutzbarkeit sollen auch die ausführlichen Indizes dienen, wobei im Index der Parmenidesstellen die besonders eingehend behandelten fr. 2, 3, 4, 6, 7 DK für jeden Vers nach den jeweiligen Sachfragen aufgeschlüsselt sind. Die seit dem Abschluß der Habilitationsschrift erschienene Literatur ist nicht mehr eingearbeitet worden. Bei der Fülle des jährlich neu Hinzukommenden hätte dies die Drucklegung ungebührlich verzögert; vor allem erschien es sinnvoll, eine klare Abgrenzung der eigenen Ergebnisse vorzunehmen. Ein klärendes Wort zur Verwendung des Terminus ,Antithese' in meinen Darlegungen sei hier nachgetragen. Wenn am Beginn des Aletheiateils Β 2,3/ 2,5, Β 2 , 7 - 8/6,V sowie Β 6,lb/(5,2a m j t diesem Terminus gekennzeichnet sind, so soll damit das Gegenüber von einander entsprechenden positiven bzw. negativen Aussagen zum Ausdruck kommen, ohne daß es sich aber stets um einen kontradiktorischen Gegensatz handeln muß. Ein solcher liegt natürlich in Β 2,3 b /2,5 b und Β 2,7-8/6,1 a nicht vor, während Parmenides die dort verwendeten modalen Ausdrücke der Unmöglichkeit bzw. Notwendigkeit zweifellos im Sinne eines Gegenüber verstanden wissen wollte. Es ist mir eine angenehme Pflicht, allen, die meine Arbeit mit Rat und Hilfe förderten, meinen Dank zu sagen. Prof. Bernd Seidensticker bin ich für seine Bereitschaft verbunden, meine Unterrichtsverpflichtungen so zu verlagern, daß ich mich zeitweise intensiver Parmenides widmen konnte. Für

VI

Vorwort

ihren Einsatz in meinem Habilitationsverfahren danke ich dem damaligen Dekan des Fachbereichs, Prof. Widu-Wolfgang Ehlers, sowie meinen Gutachtern, den Professoren Ernst Heitsch, Hans Schwabl, Michael Theunissen und Ursula Wolf. Durch Hinweise von Frau Prof. Karin Alt und Dr. Jens Holzhausen konnte ich einige Versehen beseitigen. Hervorheben möchte ich weiter die gute Kooperation mit dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere mit Dr. Hans-Robert Cram als Leiter der Abt. Geisteswissenschaft und Frau Grit Müller als Herstellerin; dabei darf auch der Setzer, ein wahrer Meister seines Faches, nicht unerwähnt bleiben. Mein Dank gilt schließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch einen namhaften Druckkostenzuschuß die Publikation meiner Habilitationsschrift ermöglicht hat. In ganz besonderem Maße und Grade bin ich Prof. Tilman Krischer verpflichtet: ohne sein nicht nachlassendes Interesse, seine Ermutigung, seine freundschafdiche Ungeduld wäre dieses Werk vielleicht nicht vollendet worden. Berlin, im Juni 1996

Jürgen Wiesner

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Einleitung

1

1. Kapitel: Antithesen

4

A. Antithesen und Parallelführungen Β. Β 6,l a und Β 2,7 —8 1. Überlieferter und konjizierter Text in Β 6,l a 2. Die Konstruktionstypen von Β 6,1a Typ (i) Typ (Π) Typ (III) Typ (IV) Typ (V) . . . Vergleichende Überlegungen zu Typ (I) — (V) 3. Die Termini in der Antithese Β 6,1a - Β 2 , 7 - 8 (a) Zur Problematik von νοεΐν (b) Korrespondierende Termini des Erfassens und Mitteilens in negativen Aussagen: Β 2 , 7 - 8 ; Β 8 , 8 - 9 ; Β 8 , 1 6 - 1 8 . (c) Irrtum und Wahrheit bei voos und νοεΐν (α) Der schwankende Noos: Β 6,4—9 (β) Der konstitutionsbedingte Noos: Β 16 (y) Grade des Erfassens bei voos und νοεΐν (d) Die Bedeutungsbreite von νοεΐν und voos und das Modell der sinnlichen Wahrnehmung (e) Unmöglichkeit und Notwendigkeit: ού ... άνυστόν und χρή Zusammenfassung und Ausblick Exkurs: Β 16 und der Bericht Theophrasts (I) Haupttypen der Interpretation von Β 16,2 — 4 (II) Der Bericht Theophrasts 1. Absolutes oder überwiegendes Warmes 2. τό εναντίον καθ' αυτό 3. συμμετρία und κρασις

4 7 7 8 9 io 13 13 15 18 23 23 25 34 35 37 42 43 46 49 50 50 53 54 55 57

VIII

Inhaltsverzeichnis

4. Β 16,2b —4a und 16,4b bei Theophrast 5. Β 16,4b: „das Volle" oder „das Mehr" bei Parmenides? (III) Die Zugehörigkeit von Β 16 zum Doxateil Zusammenfassung C. Β 6,l b und Β 6,2a 1. Die Prädikate in Β 6,1 b - 2 a 2. Die Subjekte in Β 6 , l b - 2 a 3. Plädoyer für „Sein gibt es, Nichts aber gibt es nicht" 2. Kapitel: Argumentation A. Das Problem des Bezugs von Β 6,1b — 2 a auf die Wege der Forschung 1. Β 6,2a als Charakteristik des ersten und zweiten Weges . . . . 2. Β 6,l b —2a und der Anschlußtext Β 6,3 sqq 3. Bestätigung des Bezugs von Β 6,2a auf den zweiten Weg durch Simplikios 4. Neue Theorien zur Zahl der Wege bei Parmenides 5. Drei Wege, nicht zwei Wege im Aletheiateil 6. Zur sprachlichen Darstellung der Wege der Forschung . . . . 7. Die Position von Β 7 in Parmenides' Erörterung der drei Wege und der Beweisablauf in Β 6 —7 Zusammenfassung B. Bedeutung und Funktion von Β 3 1. Die grammatische Konstruktion 2. Die Aussage über Erkennen und Sein Zusammenfassung C. Parmenides' Argumentation in Β 2, Β 3 und Β 6,1 —2 1. Der Gang der Beweisführung von Β 6,1 — 2 nach Β 2 und seine Bestätigung durch Gorgias 2. Kritische Durchsicht bisheriger Annahmen zum Vorgehen des Parmenides in Β 2, Β 3 und Β 6,1 - 2 (a) Keine Annahme eines Beweises in Β 2, Β 3, Β 6 (1) Reinhardt (2) Heitsch (3) Schmitz (b) Annahme eines Beweises in Β 2, Β 3, Β 6 (1) Verdenius (2) Gigon

59 60 66 71 74 77 78 82 84 84 84 86 90 94 101 112 123 136 139 139 149 160 163 163 180 180 180 181 182 182 183 184

Inhaltsverzeichnis

(3) Owen und Gallop (4) Mansfeld und Klowski (5) Tarän (6) Kahn (7) Hölscher und Furley (8) Barnes (9) Cordero (10) Coxon 3. Die Bedeutungen von „sein" im Beweis von Β 6,1—2 nach Β2 (a) Existentiales Sein (b) Prädikatives Sein (c) Die Bedeutung von εστίν in ihrer Tragweite für Β 8 . . . Zusammenfassung D. Schau und Argumentation bei Parmenides. Anmerkungen zur Funktion von Β 4 Text und Ubersetzung Β 2 — 8,2

IX

185 186 188 189 192 195 198 200 205 209 218 228 232

237 251

Bibliographie

255

Indizes

262

Parmenides Antike Autoren Griechische Termini Neuere Autoren Sachen und Begriffe

262 269 272 273 276

Einleitung Die bisherige Parmenidesforschung geht im Hinblick auf den Beginn des Aletheiateils von einer prinzipiell falschen Voraussetzung aus. Die Abfolge des Textes entspricht m. E. nicht der Abfolge des Gedankenganges. Β 2, mit dem die Darlegung der Seinslehre einsetzt, ist auch als inhaltlicher Ausgangspunkt interpretiert worden; doch den eigentlichen gedanklichen Beginn bildet Β 6,1 —2. Die Argumentation verläuft von Β 6,1 —2 über Β 3 zu Β 2 und nicht, wie bisher allgemein angenommen, in umgekehrter Richtung. Das Statement von Karl Deichgräber 1 , Parmenides formuliere, mit der Aletheia einsetzend, sogleich ein Resultat, hat seine tiefe Berechtigung. Freilich in anderem Sinne, als der Verfasser es eigentlich meinte: der Philosoph begeht keinen logischen Kurzschluß, sondern entwickelt seinen Gedankengang, der auf die Formulierung der beiden Wege hinführt, von Β 6 her in kontinuierlicher Argumentation. Um dies aufzuzeigen, ist der Nachweis notwendig, daß die bisher als Einzelfragmente gezählten Textpartien Β 2, Β 3, Β 6 ein fortlaufendes, lückenloses Ganzes darstellen. Hierfür gibt es einmal Indizien grammatisch-sprachlicher und gedanklicher Art: Parmenides hat seinen Text höchst sorgfältig gestaltet und verwendet durchgehend Parallelführungen und Antithesen (auf manches ist bereits hingewiesen worden). Darüber hinaus führt der Gedankenablauf, wenn man die drei Fragmente zu einer Einheit zusammenschließt, zu einer Abfolge, deren Historizität beweisbar ist. Die drei Hauptpunkte, welche sich in diesem Falle für den Gedankengang ergeben, bilden nämlich gerade das positive Pendant zu den negativen Feststellungen, die am Beginn von Gorgias' Schrift Uber das Nichtseiende erscheinen: (1) Es gibt nichts. (2) Wenn es etwas gibt, ist es nicht erkennbar. (3) Wenn es erkennbar ist, kann es einem anderen nicht mitgeteilt werden. Die Reaktion des Gorgias auf Parmenides, auf die allgemein schon öfters hingewiesen worden ist, erweist sich als exakter Bezug auf den Beginn der Aletheia. Äußerungen wie diejenige von Barbara Cassin 2 , der Widerlegung des Gorgias läge das Produkt 1

2

K . Deichgräber, Parmenides' Auffahrt zur Göttin des Rechts (Abh. Akad. Mainz 1958, Nr. 11), Wiesbaden 1959, 676. B. Cassin, Si Parmenide, 44. Cassin kann der Vergleich Parmenides — Gorgias nicht gelingen, weil sie, der traditionellen Sichtweise verhaftet, für den Beginn von Gorgias von Β 2 ausgeht statt von Β 6.

2

Einleitung

einer schulmäßigen Ausformulierung parmenideischer Gedanken („Parmenide scolaire") zugrunde, verlieren damit ihre Berechtigung. Unsere Thesen sollen nun im einzelnen erläutert und begründet werden. Das Unternehmen, über den Beginn der Aletheia zu handeln, stellt freilich jeden Parmenidesinterpreten vor immense Schwierigkeiten. Wovon soll er ausgehen? Denn in den Fragmenten 2, 3 und 6 ist nahezu alles umstritten: Β 2,3 und 2,5, Β 3 und Β 6,1 a — 2 a werden in ihrer Syntax und ihrer Argumentationsform höchst unterschiedlich erklärt. Uber die Bedeutung der maßgeblichen Termini είναι, νοεΐν und άλήθεια gibt es erheblich abweichende Auffassungen. In der umfangreichen Literatur 3 , die auch in den letzten Jahren stark angewachsen ist 4 , besteht nicht von ungefähr eine so außerordentliche Vielfalt an Meinungen und Kombinationen. Für die Anfangsfragmente des Aletheiateils wird man in den neueren Ausgaben von Gallop, Coxon und O'Brien —Frere völlig divergierende Lösungen finden. Als symptomatisch für die Schwierigkeiten der Interpretation kann es gelten, daß in dem französischen Gemeinschaftswerk mehrfach keine Einigung erreicht werden konnte, sondern die einzelnen Forscher abweichende Standpunkte in ihre Beiträge eingebracht haben 5 . In dieser Situation scheint es am besten, von den Antithesen und Parallelführungen auszugehen, die Parmenides am Beginn der Aletheia wiederholt verwendet hat.

3

4

5

Die umfangreiche „Bibliographie parmenidienne", die Cordero seinem Buch Les deux chemins de Parmenide (1984) beigegeben hat, verzeichnet für den Zeitraum 1573 bis 1983 591 Titel (S. 240—272). Darüber hinaus ist noch eine Liste von „Ouvrages cites ne concernant pas exclusivement la pensee de Parmenide" erstellt (S. 277 — 281). Obwohl der Autor keinesfalls Vollständigkeit in Anspruch nimmt (siehe seine Vorbemerkung S. 2 3 9 - 2 4 0 ) , dürften in der Bibliographie die Forschungsberichte von H. Schwabl nicht fehlen. In der zweiten Liste sollten z. B. Barnes' Presocratic Philosophers und Stokes' Buch The One and the many aufgeführt sein, die ausführliche Parmenideskapitel enthalten. Seit der bei Cordero gegebenen Bibliographie (vgl. vorige Anm.) sind in fast jedem Jahr neue Editionen, Monographien und Aufsatzsammlungen erschienen. Textausgaben mit Erläuterungen und Essays haben Gallop (1984), Coxon (1986) und O'Brien-Frere (1987, Etudes sur Parmenide I) vorgelegt. Als monographische Behandlungen sind Austin, Parmenides. Being, Bounds and Logic (1986), Couloubaritsis, Mythe et philosophie chez Parmenide (1986) sowie die Darstellung bei Schmitz (1988, in: Der Ursprung des Gegenstandes, S. 1—219) zu nennen. Zahlreiche Beiträge vereinen der zweite Band der Etudes sur Parmenide, hrsg. von P. Aubenque (1987) und der Referatband zum Parmenideskongreß in Elea 1988, hrsg. von G. P. Caratelli (= La parola del passato 43, 1988). Das fortdauernde Interesse an Parmenides bekunden auch die für die Edition von E. Heitsch notwendig gewordenen Neuauflagen ( 2 1991, 3 1995). Vgl. ζ. Β. für Β 3 O'Brien-Frere, Etudes sur Parm. I 1 9 - 2 0 ; Aubenque, ibid. II 1 1 4 - 1 1 7 . Der spätere Passus Β 8,34sqq. ist gleich dreimal diskutiert: O'Brien —Frere I 40, 5 4 - 5 5 , 228; Aubenque, ibid. II 1 2 1 - 1 2 5 ; Wiesner, ibid. II 1 7 0 - 1 9 1 . Zum letztgenannten Aufsatz sieht Schmitz, Rez. zu Etudes sur Parm., in Gn 61, 1989, 1 9 3 - 1 9 8 , dort S. 197, nach einer

Einleitung

3

positiven Bemerkung folgende Schwierigkeit: Was soll in Β 8,34 ταύτόν δ' εστι νοεΐν τε και ούνεκεν εστι νόημα bei meiner Auffassung von ταύτόν als elliptisches part, coniunctum (ταύτόν sc. δν) der Rest des Satzes sinnvoll bedeuten, wenn man das Partizip als entbehrlichen Satzbestandteil fortläßt? Hier liegt offenbar ein Mißverständnis von Schmitz vor. Ich habe ausgeführt, daß der Vers zwei Gründe für die Erkennbarkeit des Seienden nennt: „Als Identisches (= weil es identisch ist) kann es erkannt werden und weil die Erkenntnis Bestand hat." Wenn man mit dem Partizip die erste Begründung herausnimmt, muß man dies auch im Falle der zweiten (και ούνεκεν εστι νόημα) tun, und dann ergibt der Rest des Satzes durchaus Sinn: „Es (sc. das Seiende) kann erkannt werden."

1. Kapitel: Antithesen Α. Antithesen und Parallelfiihrungen Am Beginn des Aletheiateils liegen drei gedankliche Antithesen vor: (a) Β 2,3 ~ Β 2,5. (b) Β 6 , l b ~ B 6 , 2 a . (c) Β 2 , 7 - 8 ~ Β 6,l a . Bei Pfeiffer, der die Antithese als von Hesiod herkommendes Mittel des Lehrgedichts betont und mit einer Auflistung ihre häufige Verwendung bei Parmenides belegt, sind nur die beiden ersten Bezüge aufgeführt 6 . Treten die drei Antithesen nicht mit gleicher Deutlichkeit hervor oder finden sie aus sachlichen Gründen nicht die Zustimmung aller Interpreten? Beides trifft durchaus zu. Allgemein akzeptiert ist nur die erste Antithese (a): das Gegenüber stellt sich in der Beschreibung der zwei Wege der Forschung ή μεν δπως εστίν (Β 2,3 a ) bzw. ή δ' ώς ουκ εστίν (Β 2,5") 7 ebenso augenfällig dar wie in der Strukturierung der zweiten Vershälften, welche die jeweils voraufgehenden Aussagen bekräftigen sollen: τε και ώς ουκ εστι μή είναι bzw. τε και ώς χρεών έστι μή είναι. Im Falle von (b) Β 6 , l b / 6 , 2 a εστι γάρ είναι, μηδέν δ' οϋκ εστίν legt die sprachliche Formulierung die Annahme einer Antithese von vornherein nahe. Doch ist in neuerer Zeit mehrfach versucht worden, Β 6,2 a als selbständigen Satz abzutrennen 8 oder aber als nicht mit Β 6,1 b , sondern vielmehr mit Β 6,l a zusammengehörig zu erweisen 9 . Auf diese Interpretationen, welche die Antithese aufheben bzw. verändern würden, muß später eingegangen werden. Schließlich (c) Β 2,7 —8/6,l a . Diese Antithese tritt nicht nur weniger augenfällig hervor; ihre Annahme setzt auch eine bestimmte Deutung von Β 6,1 a voraus. Hier lassen sich jedoch mindestens fünf Haupttypen der Erklärung feststellen, und die kontroverse Diskussion ist bis in die jüngsten Editionen und Monographien nicht zum Stillstand gekommen. Dies wird gleich ausführlicher zu betrachten sein; zuvor gilt es aber noch auf ein weiteres Darstellungsmittel des Parmenides das Augenmerk zu richten.

h 7

8 9

Pfeiffer Lehrgedicht 153. Zu der vieldiskutierten Frage, o b in den Versen ein Subjekt zu ergänzen sei und, falls ja, welches Subjekt, vgl. jüngst das Referat zu den verschiedenen Vorschlägen bei G. Kerferd, Rez. zu Etudes sur Parmenide, in: Phronesis 34, 1989, 228. So Hölscher ed. Parm. 17, 83. So Jantzen Parmenides 124, Graeser Sagen und Denken 150—151.

Α. Antithesen und Parallelführungen

5

Heitsch hat darauf verwiesen 10 , daß es in Β 2 — über die genannte Antithese hinaus — eine strenge Entsprechung im gedanklichen Ablauf gibt. Nach ihrer Beschreibung in Β 2,3 bzw. 2,5 sind die beiden Wege als Weg der Überzeugung oder Weg zur Überzeugung (ττειθοΰς έστι κέλευθος, Β 2,4 a ) n bzw. als völlig unerfahrbarer Weg (την δή τοι φ ρ ά ζ ω π α ν α π ε υ θ έ α εμμεν άταρττόν, Β 2,6) 1 2 charakterisiert. Dem folgt in beiden Fällen eine Begründung: άληθείη γ ά ρ όπηδεΐ (Β 2,4 b ) 1 3 bzw. ούτε y a p άυ γ ν ο ί η ς τ ό γ ε μή έόν (ού γ ά ρ ά ν υ σ τ ό ν ) ούτε φ ρ ά σ α ι ς (Β 2 , 7 - 8 ) . Solche „Parallelführungen" 14 sind ohne Zweifel bewußt angelegt und lassen gedankliche Bezüge erwarten. Heitsch vergleicht in diesem Sinne Β 2,4 b und Β 2,6, die den Weg des Seins bzw. Nichtseins als offen zutageliegend bzw. unerfahrbar charakterisierten 15 . Denn für den ersten Weg, den Weg der Überzeugung, heiße es, daß „Überzeugung die Evidenz (άληθείη) begleitet" 16 ; der zweite Weg sei „unerfahrbar" oder — nach einer späteren, sachlich mit π α ν α π ε υ θ ή ξ identischen Charakteristik — ούκ αληθής „nicht unverborgen", also „verborgen" (B 8,17) 1 7 . Einer solchen Zusammenstellung widerspricht Klowski zugunsten eines Bezugs von Β 2,4 b und Β 2,7 b οΰ γ ά ρ ά ν υ σ τ ό ν . Diese — von früheren Editoren zuweilen in Klammern gesetzten — Ausdrücke will er als „eine nachdrückliche Betonung des ersten Weges bzw. als eine emphatische Verwerfung des zweiten" 18 parallelisieren; danach würden Wahrheit des einen und Undurchführbarkeit des anderen Weges einander gegenüberstehen.

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Heitsch Gegenwart und Evidenz 15, ed. Parm. 140. Schmitz Ursprung 11 hält bei π ε ι θ ο ΰ ; nur den gen. obiectivus („der Weg, der zur Überzeugung führt") für möglich. Doch auch die Wiedergabe als gen. subiectivus („der Weg der Uberzeugung = der Weg, auf dem sich Uberzeugung einstellt", so Heitsch GuE 19) ist durchaus sinnvoll. Nur vereinzelt wird für die bei Proklos vorliegende Lesart παναττειθέα plädiert: Calogero Studien 18 Anm. 20, 36 Anm. 36 sowie Songe-Möller Zwiefältige Wahrheit 143 Anm. 27 und 29 geben ihr den Vorzug wegen der Antithese zu πειθοΰζ. So der bis in die jüngsten Editionen gebotene Text, όττηδεΐν („folgen, begleiten, zugegen sein, zusammen sein mit") ist nicht nur mit Dativ belegt, sondern steht — ebenfalls seit Homer — auch in Verbindung mit abstrakten Substantiven im Nominativ (Beispiele bei LSJ 1237, s. v. II). Daher sind Wiersma in: Mnem. 20, 1967, 406, Sider in: Η 113, 1985, 363 und Schmitz Ursprung 11 Anm. 20 gegen Bywaters Konjektur άληθείη und für das überlieferte άληθείη eingetreten. Terminus von Songe-Möller, die von einem Symmetriestreben des Parmenides bei seiner Darstellung spricht: Zwiefältige Wahrheit 4 4 - 4 5 . Heitsch Gegenwart und Evidenz 19. Vgl. ed. Parm. 97. Heitsch ed. Parm. 142. Vgl. S. 97 — 98: Evidenz als Einsichtigkeit, Zugänglichkeit, Unverborgenheit komme dem Grundbegriff und dem ihn bildlich repräsentierenden Weg zu. Heitsch GuE 17, ed. Parm. 141. Klowski Grundlegung 106.

6

1. Kapitel: Antithesen

Die Differenzen zwischen Heitsch und Klowski ergeben sich einmal aus der Wiedergabe von άλήθεια. Die hier vorliegende Wortbedeutung wird zu klären sein 19 . Darüber hinaus erhebt sich aber die Frage, welche Entsprechungen in Β 2 eigentlich bestehen. Heitsch rückt Β 2,4 b mit Β 2,6 zusammen, Klowski mit Β 2,7 b . Nach der oben genannten Parallelität in der Abfolge (α) Β 2,3 ~ Β 2,5 (β) Β 2,4 a ~ Β 2,6 (y) Β 2,4 b ~ Β 2 , 7 - 8 wäre es freilich am natürlichsten, wenn wie in (α) und (ß) auch die in (y) korrespondierenden Sätze, also die Begründungen Β 2,4 b und Β 2,7 - 8 sachlich aufeinander Bezug nähmen. Sollte sich dies als zutreffend erweisen und Β 2,7 — 8 überdies Antithese zu Β 6,1 a sein, würden sich zwei Bezüge sozusagen überlappen: Β 2,7 — 8 wäre damit gemeinsames Element mit Entsprechungen sowohl nach Β 2 als auch nach Β 6 hin. Heitsch hat von dieser Verzahnung, wenn ich recht sehe, keinen Gebrauch gemacht; sie könnte sich aber als wertvolles Bindeglied erweisen, wenn es um die Herstellung eines Beweiszusammenhanges von Β 6 nach Β 2 hin gehen wird. Beginnen wir mit der Untersuchung der höchst kontroversen Aussage von Β 6,1 a und einem Uberblick über die bisherigen Positionen. Dabei wird auch die Antithese Β 6 , l a - Β 2 , 7 - 8 zur Debatte stehen, die von Tarän und Heitsch eingebracht worden ist 2 0 . Sie setzt für Β 6,1 a die Auffassung voraus, daß es notwendigerweise Aussagen und Erkennen von Seiendem gebe. Dieser positiven Feststellung steht dann als negatives Pendant die Aussage von Β 2,7 — 8 gegenüber, daß man das Nichtseiende weder erkennen noch aufzeigen könne. Dieses Gegenüber stützen Tarän und Heitsch durch einen Hinweis auf die Entsprechungen in der Formulierung, in der von einem Verbpaar (yiyvcoaKeiv, φράζειν in Β 2 , 7 - 8 bzw. λέγειν, νοεΐν in Β 6,l a ) jeweils τό μή έόν bzw. έόν als Akkusativobjekt abhängen. Die Lösung von Tarän und Heitsch hat freilich — zu Unrecht, wie ich meine — bisher nur geringe Resonanz gefunden.

19

20

Zu αλήθεια vgl. vorläufig als neuere Stimmen Gallop ed. Parmenides 41, Coxon Fragments 168 (zu Parm. 1,29), Schmitz Ursprung 25 — 27. Coxon folgert auf Grund des jeweiligen Kontextes, in dem das Wort erscheint, „that it denotes not truth as an attribute o f thought or language but objective reality". Schmitz entscheidet sich für „Untrüglichkeit", was Wahrheit im Sinne von „wenn eine Sache so ist, wie sie scheint, so daß ihr Anblick nicht trügt" ausdrücken soll. Tarän Parmenides 58. Heitsch Gegenwart und Evidenz 46 - 47, vgl. ed. Parm. 1 2 1 - 1 2 3 .

Β. Β 6,l a und Β 2 , 7 - 8

Β. Β 6,1" und Β

7

2,7-8

1. Uberlieferter und konjizierter Text in Β 6,l a Taran hatte, als er Β 6,1a und Β 2 , 7 - 8 als gedankliche Antithese herausstellte, noch die vermeintlich in den Hss. vorliegende Textfassung χρή τό λέγειν τε νοεΐν τ ' zugrundegelegt. Die Simplikios-Kodizes haben jedoch, wie von ihm später festgestellt und durch Cordero zugänglich gemacht 21 , vielmehr χρή τ ό λέγειν τό νοεΐν τ'. Dagegen beruht der in den meisten Editionen gebotene Text mit zweimaligem τε auf einer Konjektur von Karsten. Dieser Befund ist in Diels' Apparat CAG IX, S. 86,27 ins Gegenteil verkehrt, und schon vorher haben, wie Cordero bei einer Durchsicht früherer Ausgaben bemerkt hat 22 , Riaux, Mullach und Stein tradierten und konjizierten Text verwechselt. Das Echo auf die Korrektur ist unterschiedlich ausgefallen. Während O'Brien — Frere 23 und Schmitz 24 zum überlieferten Text zurückkehren, hält Coxon 25 an der Konjektur Karstens fest. Auch Kahn äußert sich gegen die Lesart der Hss., wo das zweite τό aus einer irrtümlichen Dittographie hervorgegangen sei 26 . Ein zweimaliges τε würde sich bei Annahme der Antithese von Β 6,1a zu Β 2,7 — 8 natürlich insofern empfehlen, als es dem dort gegebenen ούτε — ούτε korrespondiert: οΰτε ... γνοίης ... ούτε φράσαις τό λέγειν τε νοεΐν τε. Doch soll sowohl bei diesem Erklärungstyp als auch bei den anderen, gleich zu betrachtenden Vorschlägen für Β 6,l a stets der handschriftliche Text berücksichtigt und gefragt werden, inwieweit auch mit ihm die betreffende Auffassung aufrechtzuerhalten ist. Diese Frage stellt sich nun sogleich für die von Tarän und ebenso von Heitsch vertretene Erklärung. Laut Schmitz 27 wäre nämlich nach Taräns Textkorrektur Taräns frühere Interpretation unhaltbar geworden: denn in der Fassung χρή τό λέγειν τό νοεΐν τ ' könne τε nicht die substantivierten Infinitive verbinden, sondern nur — wie Schmitz dagegen hält — die beiden τό, die als Demonstrativa im Sinne von τοϋτο gebraucht seien. Um eine Verbindung der Infinitive durch τε auszuschließen, verweist Schmitz auf eine An21 22 23 24 25 26 27

Cordero in: Phronesis 24, 1979, 24 Anm. 1 und Les deux chemins 1 1 0 Anm. 1. Cordero ibid. (MuUach ist nur im zweiten Zitat genannt). O'Brien-Frere, Etudes sur Parmenide I 24 mit Anm. 1. Schmitz Ursprung 9 4 - 9 7 . Coxon Fragments 55. Kahn Being 261. Schmitz Ursprung 9 5 - 9 6 .

8

1. Kapitel: Antithesen

gäbe bei Pape. Dieser zitiert für einmal gesetztes τε bei Dichtern II. A 4—5 αυτούς δέ έλώρια τεύχε κύνεσσιν οίωνοΐσί τε πασιν, wo in Gegensatz zu wiederholtem τε „eine weniger enge Verbindung und Gleichstellung bewirkt wird, und das Zweite mehr willkürlich hinzugenommen erscheint, so daß das Erste auch allein stehen könnte , . . " 2 8 . Danach hätte man τό λέγειν τό νοεΐν τ ' in dem Sinne aufzufassen, daß τό νοεΐν nur willkürlich hinzugenommen und unwesentlich sei. Dies weist Schmitz mit Recht zurück, da „die durch beide Infinitive ausgedrückten Gedanken eng zusammengehören müßten" 29 . Nun kann aber singuläres τε auch eine solche Verbindung herstellen, wie aus Smyth hervorgeht: „In poetry τέ alone (cp. -que) often connects single parallel nouns and pronouns so that the two connected ideas form a whole; as σκήπτρον τιμάς τε A. Pr. 171" 3 0 . Somit können auch τό λέγειν τό νοεΐν τ ' in dieser Verbindung als substantivierte Infinitive durchaus eine Einheit, ein Ganzes bilden. Der bei Pape genannte Fall bildet nur eine Seite der Verwendung von τε. Denniston's Hinweis „The units linked by τε (or by και) are not necessarily eiusdem generis" 3 1 besagt klar, daß diese nicht auf derselben Stufe stehen müssen, aber dies für andere Fälle durchaus zutrifft. Die Interpretation von Β 6,1 a , wie sie Tarän und Heitsch vertreten, bliebe also auch mit singulärem τε gültig.

2. Die Konstruktionstypen von Β 6,1 a Die anhaltende Diskussion über Β 6,1 a hat bisher keinen Konsens ergeben 32 . Die differierenden Vorschläge sind im folgenden unter fünf Lösungstypen zusammengefaßt 33 . Innerhalb eines Typus, der Erklärungen mit derselben grammatischen Konstruktion vereint, gibt es öfters noch Varianten im einen oder anderen Detail. Für eine Entscheidung unter diesen Vorschlägen ist die anschließende Begründung Β 6,1 b — 2 a leider wenig hilfreich, weil auch diese einer höchst kontroversen Beurteilung unterliegt 34 . So wird verständlich, daß

28 29 3n 31 32

33 34

Pape II, S. 1078 a unten. Schmitz Ursprung 96. Smyth Greek Grammar 666 Anm. zu Nr. 2968. Denniston Greek Particles 497 Anm. 2. Verweise auf frühere Literatur bei Tarän 5 4 - 5 9 , Bormann 73 —75, Jantzen 121—124. Die jüngste dieser drei Publikationen berücksichtigt Autoren bis 1970. Vgl. jüngst Kahn Being 2 6 0 - 2 6 1 . E s empfiehlt sich daher nicht, mit Jantzen a. a. O. diesen Kontext sogleich in die Erörterung miteinzubeziehen. Vgl. unter Abschnitt C.

Β. Β 6,1 a und Β 2 , 7 - 8

9

sich bei neueren Autoren zuweilen Resignation 35 oder aber Bereitschaft zu textlichen Eingriffen einstellt 30 . Da die ältere Literatur bei Tarän, Bormann und Jantzen aufgearbeitet ist, kann sich der folgende Conspectus darauf beschränken, an die wichtigsten früheren Vertreter der jeweiligen Position nur kurz zu erinnern und ansonsten auf neuere Stimmen zu verweisen. Zu Beginn eines jeden Erklärungstyps ist eine Ubersetzung vorangestellt, welche die dargestellte Position allgemein umreißt 37 . (I) „Es ist notwendig, daß das, was gesagt und gedacht werden kann, ist" 38 Bekanntlich ist dies die bei englischen und amerikanischen Interpreten lange fast ausnahmslos 39 vertretene Erklärung, die durch Hölscher auch im deutschsprachigen Raum Eingang gefunden hat 40 . Sie macht von χρή den ACI τό ... έόν (= Subjekt) εμμεναι abhängig, von τό έόν (in der Bedeutung von εστι mit Infinitiv „es ist möglich") wiederum die Infinitive λέγειν τε νοεΐν τ': „das, was zu sagen und zu denken möglich ist, muß sein". Barnes, einer der neueren Vertreter dieses Lösungstyps, konzediert „The grammar is horrid" 41 und erwägt, χρή τό λέγει τε νοεί τ ' zu lesen und, mit τό als Relativ, dann zu verstehen: It is necessary for what one says and thinks to be being. Zuletzt hat Gallop in seiner Ausgabe, in engem Anschluß an Owen, wieder für τό λέγειν τε νοεΐν τ ' έόν „what is there for speaking and thinking o f als Subjekt von Β 6,l a plädiert; es sei das einleuchtendste Subjekt, das bisher vorgeschlagen worden sei 42 .

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Mourelatos hat auf eine Interpretation ganz verzichtet. In Route, S. XV spricht er von „undeniable syntactic ambiguity in the case of Β 3 and Β 6 . 1 - 2 " . Barnes Presocr. Philos. 611 Anm. 5. Es versteht sich, daß den jeweiligen Ansichten in der Wiedergabe von νοεΐν Rechnung getragen werden muß und entsprechend „denken" und „erkennen" verwendet ist. Nahezu alle Vertreter dieses Typs übersetzen voelv mit „to think", „denken". Nur Furley Notes 11 hat „to know"; Bormann Parmenides 37 verwendet „denken", das er S. 75 als „Kennen der Realität" interpretiert. Burnet EGP 174. Cornford Plato and Parm. 31. K i r k - R a v e n 270; Kirk - Raven - Schofield 247. Owen Eleatic Questions 9 4 - 9 5 . Guthrie HGP II 20. Stokes One and many 120, 306 Anm. 44. Furley Notes 11. Zu Barnes und Gallop vgl. im nachfolgenden Text. Hölscher Grammatisches 394; Anfangliches Fragen 9 8 - 9 9 . (In ed. Parm. 17 gibt er dann freilich dem unter II referierten Erklärungstyp den Vorzug, vgl. auch die nächste Anm.). Bormann Parmenides 37, 7 4 - 7 5 . Diesem folgt Rod Gesch. d. Phil. I 116. Barnes Presocr. Philos. 611 Anm. 5. Vgl. Hölscher ed. Parm. 84 Anm. 49 („grammatisch möglich, aber etwas schwierig"). Gallop ed. Parmenides 8.

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1. Kapitel: Antithesen

Die sachlichen und sprachlichen Argumente, die für diesen Lösungstyp vorgebracht worden sind, hat O'Brien wohl mit Recht als nicht treffend zurückgewiesen 43 . Man wird zwar nicht so weit gehen wollen wie Verdenius, der die grammatische Konstruktion als völlig unmöglich bezeichnet 44 . Kahn hat denn auch ein ähnliches Urteil 45 jüngst abgeschwächt 46 , nachdem Hölscher und Furley 47 auf Simonides 4,13 D τό μή γενέσθαι δυνατόν und Demosth. 50,22 έκβήναι ουκ όν als vergleichbare Stellen verwiesen haben. Eine ganz genaue Parallele, in der ein partizipiales έόν mit Artikel und mit abhängigem Infinitiv potential gebraucht wäre, scheint indes nicht auffindbar. Insofern behält Taran mit seiner Bemerkung recht, t o ... έόν in dieser Verwendung sei „unexampled" 4 8 . Alle Vertreter dieses Lösungstyps haben den konjizierten Text τό λέγειν τε νοεΐν τ ' έόν zugrundegelegt. Mit dem handschriftlichen τό λέγειν τό νοείν τ ' έόν, in welchem τό zweimal als Artikel zu fungieren hätte, könnte diese Auffassung noch weniger überzeugen.

(II) „ E s ist notwendig zu sagen und zu denken, daß das Seiende ist" bzw. „ E s ist notwendig, dies zu sagen und zu denken, daß das Seiende ist" Von χρή τ ό λέγειν τό νοεΐν τ ' soll als ACI έόν ( - Subjekt) εμμεναι abhängen. Das τό vor λέγειν (oder, bei Annahme des überlieferten Textes, die beiden τό vor den Infinitiven) werden unterschiedlich erklärt: (a) als Artikel zu den Infinitiven („Nötig ist das Sagen und Denken, daß . . . " , „es ist notwendig zu sagen und zu denken, daß ..."). Dieser von Covotti 4 9 , Gigon 5 0 , Kranz 5 1 und zeitweise auch von Cordero 5 2 vertretenen

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O'Brien-Frere, Etudes sur Parmenide I 2 0 7 - 2 0 9 . Verdenius Comments 36 Anm. 2. Kahn Thesis 722 Anm. 26; The Verb Be 294 Anm. 57. Kahn Being 261. Hölscher Anfängliches Fragen 9 8 - 9 9 . Furley Notes 11 mit Anm. 3 6 - 3 7 . Tarän Parmenides 55. Covotti I presocratici 102 Anm. 3. Gigon Ursprung 257. Kranz in: Diels — Kranz VS I 1 0 232. Das abhängige εόν εμμεναι ist mit „daß nur das Seiende ist" übersetzt; ein „nur" schon bei Diels in früheren Auflagen (vgl. VS I 4 153, wo ansonsten Erldärungstyp I I b vorliegt, vgl. unten) und Kranz in: Sitz.-Ber. Preuß. Akad. Wiss., Berlin 1916, 1173; Vorsokrat. Denker 71. Unzutreffend die Angabe von Guthrie H G P II 21, auch Mansfeld Offenbarung 81 ergänze ein solches „nur". Einfügung eines „nur" zurückgewiesen von Owen Eleatic Questions 94 Anm. 3 und Tarän Parmenides 55, 57. Cordero in: Phronesis 24, 1979, 1 - 2 .

Β. Β 6,1" und Β 2 , 7 - 8

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Lösung schließen sich zuletzt Casertano53 und Aubenque an 54 . Die Frage, wie diese Interpreten χρή τό λέγειν τ ό (bzw. τε) νοεΐν τ ' grammatisch auffassen, ist nicht immer sicher zu beantworten; lediglich Cordero sagt klar, daß die Infinitive Subjekt zu χρή sein sollen, und so könnte man auch eine Bemerkung bei Kranz verstehen55. Für Covottis „e necessario il dire e il pensare che l'essere e" vermutet Taran, er habe nach χρή einen ACI τ ό λέγειν τε νοεΐν τ' (είναι) mit davon abhängigem έόν εμμεναι angenommen; in dieser Form scheint ihm die Lösung akzeptabel56. Zur Ubersetzung des ACI έόν εμμεναι stellt sich eine Frage, die auch die meisten Vertreter von (II b) betrifft: kann man έόν mit „das Seiende", „l'etre", „l'essere" übersetzen, als ob im Text der Artikel beim Partizip steht?57 (b) Öfter ist τ ό im Sinne eines Demonstrativs im Akkusativ gefaßt worden: „Nötig ist, dies zu sagen und zu denken, daß ...". So Diels (und offenbar ihm folgend Calogero)58, Hölscher, Klowski und Giannantoni59; auch Kranz, Cornford und Mansfeld haben sich zeitweilig für diese Position entschieden60. Bedenken hinsichtlich der Verwendung oder Stellung eines solchen pronominalen τ ό in Β 6,1 a haben Verdenius, Tarän, Jantzen und Kahn geäußert61. Doch ist die demonstrative Bedeutung des Artikels in epischer 53

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Casertano Parmenide 71—72. Gibt S. 228 Anm. 3 eine Zusammenstellung italienischer Ubersetzungen von Β 6,1 (vgl. jetzt Giannantoni Le due vie 211 Anm. 7, der auch Β 6,2* einbezieht und neuere Stimmen zitiert). Aubenque, Etudes sur Parm. II 111 Anm. 32 betont, daß gerade der überlieferte Text mit zweimaligem τ ό sein „II faut dire et penser que l'etant est" stütze. Cordero a. a. O. („Rien ne s'oppose ... ä ce que τ ό λ έ γ ε ι ν τ ό νοεΐν τε soient les sujets de χρή et ä ce que έόν εμμεναι soit une proposition completive qui depend des deux infinitifs"), Kranz VS I 232 App. er. (,,τό wird Nominativ sein"). Einwände gegen Kranz' Lösung: Tarän Parm. 57 — 58, Hölscher Anfangliches Fragen 98 Anm. 24. - An sich kommt nominativischer Infinitiv (mit Artikel seit dem 7. Jh.) auch bei unpersönlichen Ausdrücken vor: Schwyzer-Debrunner Gr. Gramm. II, 366.8, 370.1. Doch wird ibid. für χρή nur dessen Verbindung mit ursprünglich genitivischem Infinitiv belegt. Tarän Parmenides 57. Klowski Konstitution 414 Anm. 20 betrachtet den Artikel im Deutschen als unbedingt erforderlich, weil Neutra wie ,Vorhandenes', ,Seiendes' nicht anzeigen könnten, ob sie für griechischen Singular oder Plural stehen. Diels VS I 4 153. Calogero Studien 22 Anm. 24 (= Studi 20 Anm. 1) bringt zwar in seiner Ubersetzung das Demonstrativ nicht zum Ausdruck, beruft sich aber zustimmend auf Diels' endgültige Version in den VS. Hölscher ed. Parm. 17. Klowski Konstitution 414 (vgl. Grundlegung 132). Bei Giannantoni Le due vie 211 Anm. 7 „Questo bisogna dire e pensare, per ciö che e" bleibt mir die grammatische Auffassung für έόν unklar. Kranz in: Sitz.-Ber. Preuß. Akad. Wiss., Berlin 1916, 1173 (vertritt dann in Vorsokrat. Denker 71 und den späteren Aufl. der VS Typ IIa, vgl. Anm. 51). Cornford Parm. two ways 99 (vertritt zuletzt Typ I). Mansfeld Offenbarung 81, 90 (siehe jetzt Typ l i l a ) . Verdenius Comments 36. Tarän Parmenides 55. Jantzen Parmenides 121. Kahn Being 260.

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1. Kapitel: Antithesen

Sprache durchaus belegt, ζ. B. Od. δ 655 ά λ λ ά τό θαυμάζω. Taran hält ein Demonstrativum beim unpersönlichen χρή für unwahrscheinlich; dies hat schon Hölscher mit Recht zurückgewiesen 62 . Außerdem bemängelt Tarän die „weak position" des τό, verglichen mit ά π ό της ήν wenige Zeilen später (B 6,4). Aber dieser Einwand würde entfallen, sobald man den überlieferten Text zugrundelegt. O'Brien und Frere übersetzen entsprechend mit doppeltem Demonstrativ bei den Infinitiven: „II faut dire ceci et penser ceci: l'etre est" bzw. in englischer Fassung „It is necessary to say this, and to think this, < namely) that there is being" 63 . Ein Einwand, der sich gegen den Erklärungstyp (II) insgesamt richtet, betrifft die in έόν εμμεναι hergestellte tautologische Aussage. Dieser ACI, so formuliert jüngst wieder Kahn, sei „logically ... vacuous, since participle and infinitive will have the same strong ontological value, sc. being is" 64 . Die Annahme von Tautologien für Parmenides, gegen die sich bereits Owen, Stokes u. a. mit Entschiedenheit ausgesprochen hatten 65 , wird freilich von vielen nicht negativ bewertet 66 . Wir erinnern an die Äußerung Hölschers, die Feststellung einer Tautologie sei an sich kein Einwand, wenn es um die Entscheidung für das Verständnis einer Parmenidesstelle gehe; man müsse damit rechnen, daß der Eleat vom absolut Sicheren habe ausgehen wollen 67 . In diesem Sinne argumentiert zuletzt auch O'Brien, der Leser habe eine tautologische Wendung als Zeichen der πίστις empfunden und in einer so formulierten Aussage der Göttin „sa force, sa conviction, sa preuve" erblickt68. Einen anderen Einwand gegen (II) hat Hölscher, obwohl er diesen Typ selbst vertritt, zu bedenken gegeben 69 . Es sei doch merkwürdig, daß bei dieser Konstruktion in Β 6,1a mit ,Seiendes' ein Subjekt zu εμμεναι auftrete, das aber weder in Β 2 noch im Resume von Β 8,2 wiederkehre; am Beginn wie am Schluß setze Parmenides ganz offensichtlich ein subjektloses εστίν.

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Tarän 55. Hölscher Anfängliches Fragen 98 Anm. 24: „was hindert das, zu sagen: χρή τόδε λέγειν?" Auf eine Frage τ ί χρή π ο ι ε ΐ ν (Xen. Anab. II 1,16) könnte die Antwort in epischer Sprache lauten: χρή τ ό ποιεΐν. O'Brien—Frere, Etudes sur Parmenide I 24. Kahn Being 260. Owen Eleatic Questions 90: er weist daher S. 94 Anm. 3 Erklärungen des Typs (II) zurück. Stokes One and many 122. Vgl. Tarän Parmenides 37. Guthrie II 16. Klowski Grundlegung 133. Barnes Presocr. Philos. 162, der sich - hierin von Owen, Guthrie und Stokes abweichend — auch einen Beweis für Tautologien vorstellen könnte. Hölscher ed. Parm. 78. O'Brien-Frere, Etudes sur Parmenide I 2 2 9 - 2 3 1 (Zitat S. 230). Hölscher ed. Parm. 84.

Β. Β 6,1" und Β 2 , 7 - 8

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Dies wird sich in der Tat als entscheidender Mangel des Typs (II) herausstellen; über die „Einstelligkeit" von εστίν gilt es später Genaueres zu sagen. (III) „Man soll es aussagen und erkennen, daß es Seiendes ist" bzw. „Es ist notwendig zu sagen und zu erfassen, daß dies Seiendes ist" Dieser Interpretationstyp steht (II) in der Konstruktion nahe; jedoch ist im ACI έόν εμμεναι das Partizip nicht mehr als Subjekt („daß Seiendes ist") betrachtet, sondern wird als Attribut zu einem zu ergänzenden Subjekt verstanden („daß es seiend ist, daß es Seiendes ist"). Also nicht mehr wie in (II) eine ontologische Feststellung als notwendiger Inhalt des Sagens und Denkens, sondern die identifizierende Fixierung, daß ein in Rede stehendes Subjekt als „Seiendes" zu fassen ist. Wie bereits in (II) wird auch hier τό in unterschiedlicher Weise erklärt: (a) τό gehört als demonstratives Pronomen zu den Infinitiven λέγειν und νοεΐν. In diesem Sinne übersetzt Mansfeld: „Man soll es aussagen und erkennen, daß es Seiendes ist" 70 , (b) Nach Bollack und Wismann ist τό zwar proleptisch gestellt, gehört aber erst zu έόν εμμεναι: „II est besoin de dire et penser que cela est etant" 71 . Ebenso dann Coxon: „It is necessary to assert and conceive that this is Being" 72 . Das in Rede stehende Subjekt, auf welches τό sich beziehe, sei das vorher in Β 3 genannte τό ... αΰτό „the same thing" 73 . Es bleibt noch zu erwähnen, daß auch O'Brien neben seiner Wiedergabe von έόν als Substantiv (vgl. oben IIb) eine partizipiale Übersetzung nicht ausschließen will: „etant, μηδέν < είναι), wobei μηδέν im Sinne von μή έόν stehe. Untersteiner Parmenide C V I I I , 135. E r nimmt keine Änderung des μηδέν in Β 6,2" vor. Bröcker Gorgias 439. In Klammern sind die jeweils von Untersteiner abweichenden Formulierungen Jantzens verzeichnet.

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1. Kapitel: Antithesen

Β 6,1a und Β 2,7 — 8, und zwar bei genauen Entsprechungen dieser Verse, ergeben hat. Wenn sich diese Antithese aus Β 6,l a und 6,2a dagegen nur unter Aufgabe des Bezugs Β 6 , l b - 6 , 2 a und bei Annahme einer Brachylogie für Β 6,2a herstellen läßt, spricht alles dafür, der Lösung von Tarän und Heitsch den Vorzug zu geben.

Vergleichende Überlegungen zu Typ (I) — (V) Soweit ein Überblick über die Vorschläge für Β 6,l a . Ihre Vielfalt resultiert daraus, daß für nahezu jedes Wort abweichende Erklärungen vorgetragen worden sind. (a) χρή: verstanden als Gebot der Göttin, allgemeines Postulat oder Ausdruck logischer Zwangsläufigkeit. (b) τό: gefaßt als Artikel zu den Infinitiven λέγειν τε νοεΐν τ', als Artikel zum Partizip έόν oder aber im Sinne eines Demonstrativs, das dann als Objekt zu den Infinitiven fungiert. (c) νοεΐν: übersetzt mit „denken", „erkennen" oder „wissen"; dabei ist, ebenso wie für λέγειν, der Erfolgscharakter des Verbs kontrovers diskutiert worden. Grammatisch werden die Infinitive meist unmittelbar von χρή abhängig gesehen, nur in Typ (I) abhängig von τό ... έόν („was zu sagen ... möglich ist"). (d) έόν: interpretiert in ontologischem oder veritativem Sinn („seiend", „Seiendes" bzw. „wahr") oder aber als Ausdruck für die Möglichkeit („was ... möglich ist"). Die grammatische Funktion variiert nach den verschiedenen Auffassungen vielfältig: έόν ist entweder prädikative Bestimmung zu λέγειν τε νοεΐν τ ' („daß das Sagen etc. wahr ist") oder deren Akkusativobjekt („es ist nötig, Seiendes zu sagen"). Oder aber έόν ist Subjekt bzw. Prädikativum in einem von λέγειν τε νοεΐν τ ' abhängigen ACI („daß Seiendes ist, daß das Seiende ist" bzw. „daß es seiend ist"). Oder schließlich als Ausdruck der Möglichkeit wäre τό λέγειν ... έόν Subjekt eines von χρή abhängigen ACI. (e) έμμεναί: gefaßt in der Bedeutung der Existenz oder der Kopula. Grammatisch Infinitiv in einem ACI, in welchem τό λέγειν τε νοεΐν τ', τό λέγειν ... έόν, έόν oder ein als έόν charakterisiertes ,es' Subjekt sein können. Die grammatische Gesamtauffassung entscheidet darüber, was in Β 6,1a jeweils als notwendig bezeichnet wird. Nach Typ (I) ist dies die Existenz des

Β. Β 6,l a und Β 2 , 7 - 8

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Sagbaren und Denkbaren: das, was gesagt und gedacht werden kann, muß sein. In (II) wird ein Inhalt des Sagens und Denkens als notwendig herausgestellt, der da lautet, daß Seiendes ist (oder: daß nur Seiendes ist); notwendig führen Aussage und Denkprozeß auf diese ontologische Feststellung. (III) variiert den vorgenannten Typus: Aussage und Erkenntnis beinhalten notwendig eine identifizierende oder prädizierende Bestimmung, daß ein in Rede stehendes Subjekt („es" oder „dies") Seiendes oder seiend ist. Die Interpretationen von (IV) haben als gemeinsamen Nenner, daß das Sagen und Erkennen, welches Seiendes zum Objekt hat, mit Notwendigkeit erfolgt (nach einigen: daß man notwendigerweise Seiendes sagt und erkennt). Aus der in (V) vertretenen Konstruktion ist als Bedeutung für Β 6,1a abgelesen worden, daß notwendig Sagen und Denken selbst ein Seiendes darstellen oder daß in ihnen notwendig das Sein gegeben ist oder schließlich daß sie notwendig seiend im Sinne von „wirklich", „wahr" sind. Die Schwierigkeit einer Entscheidung angesichts dieser Vielfalt von Konstruktions- und Auffassungsmöglichkeiten liegt auf der Hand. Es ist kein Einzelfall, daß Forscher in der Auseinandersetzung mit dem Text den früheren Standpunkt revidiert und sich für eine andere Lösung entschieden haben. Wir haben bereits gesehen, daß Diels, Cornford, Mansfeld und Cordero ihre Position gewechselt haben 103 . Andere Interpreten halten nicht nur eine einzige Erklärung von Β 6,l a für möglich 104 . Angesichts dieser Situation wird die Skepsis von Mourelatos verständlich, ein gesichertes Resultat erreichen zu können 105 . Und dieser Eindruck verstärkt sich bei einem Blick auf einige Argumente, die zugunsten des einen oder anderen Erklärungstyps vorgetragen worden sind. Das öfter auftretende Argument, die eine oder andere Konstruktion von Β 6,l a sei „natürlicher" bzw. bei negativer Bewertung „schwieriger", „härter" o. ä., scheint nur im letzteren Falle, und zwar bei Typ (I), allgemeinen Konsens zu finden: denn hier meinen — wie bereits erwähnt — auch neuere Befürworter, daß die Grammatik kompliziert sei 106 . Für die positive Verwendung ist dagegen festzustellen, daß ganz unterschiedliche Erklärungen als „natürlich" oder „natürlicher" eingestuft werden: wir erinnern an Verdenius

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Zu Diels vgl. oben unter Typ V, II b. Cornford: II b, I. Mansfeld: II b, III a. Cordero: II a, IV b. Hölscher folgt ed. Parm. 84 Typ II b, will aber Typ I nicht ausschließen (ibid. Anm. 49), den er Anfangliches Fragen 9 8 - 9 9 favorisiert. O'Brien neigt prinzipiell I I b zu, läßt aber auch III gelten (Etudes sur Parm. I 24, I 170). Vgl. oben S. 9 Anm. 35. Hölscher ed. Parm. 84 Anm. 49. Barnes Presocr. Philos. 611 Anm. 5.

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1. Kapitel: Antithesen

und Kahn, welche die Konstruktion von Typ (V) als „ m o s t obvious" und „ m o s t natural" erachten 1 0 7 , und an Aubenque, der sich gegen (III) für (II) mit dem Urteil „plus naturelle" entscheidet, also offensichtlich die Syntax dieses von ihm vertretenen Typs als die plausibelste empfindet 1 0 8 . Damit erweist sich eine solche Einstufung eher als Sache des persönlichen Temperaments denn als eindeutiges Kriterium. Häufiger haben Vertreter ganz unterschiedlicher Lösungstypen das fr. Β 3 für ihre jeweilige Interpretation von Β 6,1 a ausgewertet. D i e Befürworter des Typs (I) etwa argumentieren, in der Konstruktion τ ό έόν λέγειν τε νοεΐν τ ' („das zu sagen ... Mögliche") liege derselbe dativische Infinitiv vor wie in Β 3: έόν ... νοεΐν wie vorher εστι νοεΐν. Dieser Verbindung begegne man auch in Β 2,2 είσι νοήσαι 1 0 9 . Der sprachlichen Parallele scheint dann auch eine sachliche zu entsprechen, die wir in der Erklärung von Furley wiedergeben: danach verläuft die Argumentation von Β 3 in der Bedeutung „Dasselbe ist für das Erkennen und das Sein, d. h. kann erkannt werden und kann sein" (νοεΐν εστίν τε και είναι) zu Β 6,1 a „Was gesagt und erkannt werden kann (τό ... νοεΐν ... έόν), muß sein". Die Begründung Β 6,1 b — 2 a bestätige dies insofern, als Parmenides hier ein Element aus Β 3 wiederaufgenommen und erweitert habe: „denn es kann sein (εστι γαρ είναι) und ist nicht N i c h t s " 1 1 0 . Eine Orientierung an Β 3 ist freilich aus mehreren Gründen problematisch: (a) D i e Interpretation des Fragments ist bekanntlich kontrovers; bis in die neueste Literatur finden sich als konkurrierende Ubersetzungen „ D a s selbe kann erkannt werden und sein" oder aber „Erkennen und Sein ist dasselbe" 1 1 1 . Wenn nun bei unterschiedlicher Auffassung von Β 3 auch Β 6,1 a verschieden erklärt wird, erstaunt dies nicht. Aber selbst bei Interpreten, die für Β 3 prinzipiell übereinstimmen, kommt es für Β 6 , l a zu divergierenden Resultaten. S o versteht ζ. B. C o x o n 1 1 2 die Konstruktion von Β 3 wie Furley und die von Burnet ausgehende englische Tradition, nämlich gemäß der erstgenannten Übersetzung; für Β 6,1 3 nehmen Furley und die englischen Philologen Typ (I), Coxon dagegen Typ (III a) an. Einen Beleg dafür, wie Β 3 eine Erklärung von Β 6,1 a im Sinne von Typ (V) stützen soll, bietet Verdenius 1 1 3 :

107 Verdenius Comments 37 Anm. 1. Kahn Thesis 722 Anm. 26, vgl. Being 260. Aubenque Etudes sur Parm. II 111 Anm. 32. Vgl. ζ. B. Guthrie II 21 zu V. 6,1 (die Angabe „2.1." natürlich ein Druckfehler). 1 1 0 Furley Notes 11. 1 1 1 Darauf wird später genauer einzugehen sein: 2. Kapitel, Abschnitt B. 1 1 2 Coxon Fragments 54 (B 3 D K = 4 Coxon, Β 6 D K = 5 G). H3 Verdenius Comments 37. 108

109

Β. Β 6,1" und Β 2 , 7 - 8

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er versteht Β 3 als Gleichung „Knowing is the same as Being" und konstruiert einen Syllogismus, der von Β 3 über Β 6,l b εστι y ä p είναι „Being is" auf Β 6,1a als Konklusion „Knowing is a thing which is" führen soll. Wenn bereits aus diesen wenigen Beispielen hervorgeht, daß Β 3 mit Deutungen von Β 6,l a im Sinne von Typ (I), von Typ (III) wie von Typ (V) verbunden wird, kann eine Orientierung an diesem Fragment kein sicheres Kriterium abgeben. (b) Hinsichtlich der Stellung von Β 3 wird heute allgemein angenommen, es gehöre zwischen Β 2 und Β 6; über die Form der Argumentation im einzelnen gehen die Meinungen aber beträchtlich auseinander. Vor einer späteren ausführlicheren Darstellung sei dies hier wieder nur anhand einzelner Beispiele illustriert. Furley 114 nimmt an, Β 6,1a bilde ein Glied in einem Ausschließungsbeweis gegen den zweiten Weg ούκ εστίν, der damit von Β 2,5 über Β 3 bis Β 6,2 reichen würde. Diese Lösung zählt zu den Versuchen, für Β 2, Β 3 und Β 6 eine durchgehende Demonstration zu rekonstruieren. Demgegenüber meinen z.B. Mansfeld und Klowski 115 , der von ihnen am Beginn der Aletheia angenommene disjunktive Syllogismus sei bereits vor Β 6 abgeschlossen, und daher komme Β 6,1—2 nurmehr rekapitulierende Funktion zu. Mehrere Syllogismen ergeben sich für Verdenius aus Β 2, Β 3 und Β 6,1—2; einen von ihnen, der aus Β 3, Β 6,l b und Β 6,l a gebildet ist, haben wir bereits kennengelernt 116 . Mit diesen knappen Andeutungen wird bereits deutlich, daß mehrere Stellen aus dem näheren Kontext nicht als Stütze bei der Entscheidung über Β 6,l a fungieren können: Dissens herrscht für ihre Deutung im einzelnen — wie für Β 3 gilt dies ebenso für Β 6,1b — 2a, über die später zu handeln sein wird —, aber auch für die Argumentations form des gesamten Passus, in welchem sie stehen. Die Mahnung von Tugendhat, solche kontroversen Stellen keine entscheidende Beweislast tragen zu lassen 117 , ist nur allzu berechtigt. Bleibt angesichts dieser Situation nur Skepsis und Resignation? Keiner der oben beschriebenen Lösungstypen ist ja frei von Schwierigkeiten teils sprachlicher, teils sachlicher Natur. Unter die erste Kategorie gehört Typ (I), der hinsichtlich der grammatischen Konstruktion, wie erwähnt, sogar bei seinen neueren Vertretern Bedenken erregt hat 118 . Sprachlich schwierig auch

114 115 116 117 118

Furley Notes 1 0 - 1 1 . Mansfeld Offenbarung 59, 81, 90. Klowski Grundlegung 131, 134. Verdenius Comments 41. Vgl. oben Anm. 113 und den korrespondierenden Text. Tugendhat Sein und Nichts 135. Vgl. oben S. 9.

22

1. Kapitel: Antithesen

(IV b), wenn man wie Tarän εμμεναι in kopulativem Sinn auffassen will 119 . Die Erklärung von (Vb), mit dem Sagen und Denken sei das Sein gegeben bzw. diese bestünden im Sein, ist mit dem Wordaut nur schwer in Einklang zu bringen 120 . Sachliche Einwände ergeben sich bei den übrigen Lösungstypen. Die Vertreter von (II) rechnen mit einer Entfaltung von Β 2 zu Β 6 hin: das εστίν von Β 2,3 würde danach zu der Feststellung έόυ εμμευαι in Β 6,l a erweitert („Konstitution des Seienden") 121 . Bei dieser Lösung will freilich nicht einleuchten, daß Parmenides abschließend in Β 8,1 —2 wieder εστίν in subjektloser Form für dasjenige sagt, was beim Ausscheidungsverfahren als einziger Weg verblieben ist. Auch gemäß (III) läge eine gedankliche Erweiterung insofern vor, als in Β 6,l a ein aus dem Kontext zu entnehmendes Subjekt als Seiendes bestimmt werde: laut Mansfeld „es" (aus Β 2,3), laut Coxon τό αϋτό „the same thing" (aus Β 3) 122 . Diese Varianz in der Angabe des Subjekts weist auf eine Schwachstelle: was in Β 6,1a als Seiendes bestimmt werden soll, läßt sich nicht sicher festmachen. Außerdem gilt auch hier das gegen Typ (II) geäußerte Bedenken. Denn eine Entwicklung von εστίν her zu dem Aussage- und Erkenntnisinhalt, daß dieses („es" oder „das Selbige") Seiendes sei, läßt wiederum eine wenig überzeugende Abfolge entstehen: εστίν (Β 2,3) - τό (qua τούτο: sc. „es" oder „das Selbige") έόν εμμεναι (Β 6,1a) - εστίν (Β 8,2).

Die Lösungstypen (IV a) und (V a), wonach das Sagen und Denken Seiendes sind, können bestenfalls als systemimmanente Behauptung Geltung haben. Die für Typ (V) ansprechendste Lösung im Sinne von (c), daß notwendig Sagen und Erkennen seiend, d. i. wahr sind, hat einen gravierenden Nachteil: sie bringt das Objekt von Sagen und Erkennen nicht zum Ausdruck 123 . Jantzens Versuch, in einer Verbindung von (IV) und (V) diesem Mangel abzuhelfen, hat sich als nicht plausibel erwiesen: er muß, wie oben gezeigt, die Antithese Β 6,l b —2a aufgeben und für Β 6,2a eine recht kühne Brachylogie ansetzen 124 . Bleibt nach alledem allein (IV b) übrig. Freilich wird man nicht mit Taran εμμεναι in kopulativem Sinn fassen und in der Ubersetzung einfach weglassen; vielmehr soll dieser Infinitiv in dem von χρή abhängigen ACI durchaus 119 120 121 122 123 124

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

oben oben oben oben oben oben

S. S. S. S. S. S.

14. 16. 12. 13. 16. 17.

Β. Β 6,1" und Β 2 , 7 - 8

23

seinen Stellenwert haben, wie es prinzipiell Kahn fordert 125 . Seiner Forderung entspricht es, wenn wir εμμεναι mit „stattfinden", „erfolgen" oder auch „der Fall sein" wiedergeben. In einer Feststellung „Mit Notwendigkeit erfolgt das Sagen und Erkennen von Seiendem" wäre das veritative Moment, das Kahn annimmt, mitenthalten: nur daß es nicht, wie in seiner Lösung, in έόν, sondern in εμμεναι zum Ausdruck kommt.

3. Die Termini in der Antithese Β 6,l a - Β 2 , 7 - 8 Tarän und Heitsch haben für das Vorliegen einer Antithese in Β 6,1a und Β 2,7 — 8 auf die Entsprechung der Verbpaare (ουτε y a p αν γνοίης ... οΰτε φράσαΐξ ~ τό λέγειν τε νοεΐν τ') und auf deren Konstruktion mit Akkusativobjekt (τό γε μή έόν bzw. έόν) hingewiesen 126 . Die Annahme einer Entsprechung der Verben setzt voraus, daß νοεΐν hier der Bedeutung von yiyvcoσκειν nahesteht, also ein Erkennen bezeichnet und somit Erfolgscharakter hat; ebenso muß ein mit φράζειν „aufzeigen" vergleichbares λέγειν Erfolgsverb im Sinne eines Mitteilens, eines „Kundtuns" sein. Dies ist keinesfalls unumstritten; insbesondere bedarf es der Prüfung, wie sich ein νοεΐν im Sinne von „erkennen" mit dem schwankenden und dem variablen Noos der fr. Β 6 und Β 16 verträgt. Weiterhin ist es wichtig, für νοεΐν das dahinterstehende Modell der sinnlichen Wahrnehmung zu betonen: denn dies spricht für die Konstruktion des Verbs mit einfachem Akkusativobjekt, nicht mit einem daßSatz, wie er bei der Verbindung έόν εμμεναι anzunehmen wäre. Man kann schließlich über Taran und Heitsch hinaus wohl noch eine zusätzliche Absicherung für die Antithese Β 6,1a — Β 2,7 — 8 gewinnen: das Gegenüber von oü ... άνυστόν und χρή ist bisher, soweit ich sehe, nicht herausgestellt worden.

(a) Zur Problematik von νοεΐν Hinsichtlich der Wiedergabe von νοεΐν finden sich bis in die jüngsten Editionen und Monographien „erkennen", „erfassen", „to conceive", „concevoir" neben „denken", „to think", „penser". 127 K. von Fritz hat in einer immer 125 126 127

Kahn Being 260. Tarän Parmenides 58. Heitsch Gegenwart und Evidenz 46, vgl. ed. Parmenides 121 — 123. Ein Blick auf Arbeiten der beiden letzten Jahrzehnte: „erkennen" haben prinzipiell für voeTv Heitsch und Mansfeld in ihren Editionen; „to conceive": Coxon; „to think": Barnes, Scho-

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1. Kapitel: Antithesen

wieder zitierten Studie über νόος und νοεΐν bei Homer und den Vorsokratikern 128 für den parmenideischen Gebrauch des Verbs zwei Bedeutungen unterschieden: die des intuitiven Schauens und die des diskursiven Denkens, das sich „in Urteilen, Beweisführungen und Schlüssen äußert" 129 . Dieses Resultat der Untersuchungen bei K. von Fritz ist in den neueren Diskussionen teilweise modifiziert worden: die eine oder andere der beiden Bedeutungen spiele für Parmenides eine nur untergeordnete Rolle oder treffe überhaupt nicht zu. Vor Eintritt in die Uberprüfung gilt es von vornherein dem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, die Ubersetzungstermini „erfassen", „to conceive" etc. einerseits und „denken", „to think" etc. andererseits entsprächen stets den bei K. von Fritz unterschiedenen Bedeutungen. Vor einer solchen Annahme kann schon die Beobachtung bewahren, daß zwei Interpreten, die äußerlich denselben Terminus verwenden, dennoch in ihrer Auffassung über νοεΐν bei Parmenides weit voneinander entfernt sein können: so Mourelatos und Barnes, die beide mit „to think" übersetzen. Mourelatos rückt die „epistemic-intuitional conception" und „cognitive awareness" in den Vordergrund und meint, daß für νοεΐν Wendungen wie etwa „to know", „to apprehend", „to comprehend", „to come to understand", „to realize fully the identity o f adäquat seien 130 . Dennoch bleibt er bei der Standardübersetzung „to think" 131 , weil damit auch für die Ableitungen νοήμα und νόος „thinking",

128

129 130

131

field (in: Kirk — Raven -Schofield), Gallop; „denken": Bormann, Songe-Möller; „penser": Cordero, Aubenque (in: Etudes sur Parm. II). O'Brien und Frere verwenden „to think" und „penser", gelegentlich auch „concevoir" (für Β 2,2: dazu Etudes sur Parm. I, S. 154 —156, bes. 154 Anm. 10; für Β 8 , 8 - 9 und Β 8,17 arbeitet die Übersetzung S. 37 mit „penser, pensable, sans la penser", die Erörterung S. 154 für dieselben Stellen mit „concevoir, inconcevable"). K. von Fritz, Die Rolle des νοΰς, dt. Übers, von P. Wilpert, in: U m die Begriffswelt der Vorsokratiker, hrsg. von H.-G. Gadamer, Darmstadt 1968 ( = Wege der Forschung 9), 246 — 363. Vereinigt die Arbeiten (1) Noüs and νοεΐν in the Homeric Poems, in: Class. Philology 38, 1943, 7 9 - 9 3 und (2) Noüs, νοεΐν and their Derivatives in Pre-Socraüc Philosophy (excluding Anaxagoras). Part I: From the Beginnings to Parmenides. Part II: T h e Post-Parmenidean Period, in: Class. Philology 40, 1945, 2 2 3 - 2 4 2 und 41, 1946, 1 2 - 3 4 . D e r deutschen Fassung ist ein „Nachtrag 1967" (S. 3 5 9 - 3 6 3 ) beigegeben. K. von Fritz, Die Rolle des νοΰξ 314. Mourelatos Route 69 — 70. Für „to know" plädieren ebenfalls Kahn Thesis 703 Anm. 4 und Furley Notes 11 Anm. 34 (νοεΐν is probably better translated as „knowing" than as „thinking"). E r betont Route 164, daß „to think" für ihn in dem Bedeutungsaspekt „reaching toward, or getting to, things" relevant sei. Gelegendich hat er in seinen Ubersetzungen neben „to think" auch in eckigen Klammern „to know" hinzugefügt, z. B. S. 55 für Β 2,2 und S. 166 für Β 8,34.

Β. Β 6,1» und Β 2 , 7 - 8

25

„thought" und „mind" zur Verfügung ständen, während sich bei anderen Ubersetzungen von νοεΐν hier Schwierigkeiten ergäben 1 3 2 . Ganz anders als Mourelatos lehnt Barnes, bei äußerlich gleicher Wiedergabe, jegliche Bedeutung eines intuitiven Sehens oder einer hohen kognitiven Fähigkeit, also „to intuit", „to grasp" oder „to know", fiir νοεΐν ab, da damit der gesamte Charakter der parmenideischen Lehre verändert werde 1 3 3 . Ein Vorliegen dieser vielleicht ursprünglichen und vor Parmenides auch belegten Bedeutung des Wortes würde implizieren, daß νόος stets das Richtige trifft. Für Parmenides wie schon für Homer und Hesiod müsse aber gelten: „you can noein that Ρ though Ρ is false" 1 3 4 . Barnes beruft sich für seine Übersetzung mit „to think (of)" auf die mehrfache Verbindung von νοεΐν mit λέγειν, φάσθαι etc. Da bei diesen Verben logisch stets dieselbe Beziehung zum Seienden vorauszusetzen sei, plädiert er für „to think that Ρ " und „to think o f X " parallel zu „to say that P " und „to mention X " . Die Verben des Sagens hießen ebensowenig „to say truly" oder „to say successfully" wie dies für νοεΤν richtig sein könne 1 3 5 . In dieser Ansicht trifft Barnes sich mit Tugendhat, der im Anschluß an das homerische „gewahr werden" für νοεΐν bei Parmenides „erfassen", „bemerken", „vorstellen" gelten lassen will, sich aber gegen „erkennen" wehrt: diese offenbar stets mit der Wahrheit verbundene Bedeutung des Verbs habe von Fritz keinesfalls erwiesen 136 .

(b) Korrespondierende Termini des Erfassens und Mitteilens in negativen Aussagen: Β 2 , 7 - 8 ; Β 8 , 8 - 9 ; Β 8 , 1 6 - 1 8 „Erkennen" ist der von Heitsch in seiner Ubersetzung für νοεΐν fast durchgehend angewandte Terminus: seine diesbezüglichen Erläuterungen müssen so von besonderem Interesse sein, νοεΐν gilt ihm als „eine Art γιγνώσκειν" 1 3 7 : bei dem Terminus gehe es primär nicht um Denken und schon gar nicht um ein aktives Ausdenken, sondern ein passiv rezeptives geistiges Sehen und Erfassen, ein intuitives Erkennen 1 3 8 . Zur Stütze seiner Interpretation verweist

132 133 134 135

136 137 138

Mourelatos Route 164. Barnes Presocr. Philos. 158. Ibid. 611 Anm. 6. Ibid. 1 5 8 - 1 5 9 . Entgegengesetzte Position bei Kahn Thesis 722 Anm. 26, der λέγειν in Β 6,1" und φάσθαι, φατόυ in Β 8,8 im Sinne von „true statement" fassen will. Tugendhat Sein und Nichts 137 Anm. 6. Heitsch ed. Parm. 104. Heitsch Gegenwart und Evidenz 1 7 - 1 8 , ed. Parm. 9 9 - 1 0 0 , 119.

26

1. Kapitel: Antithesen

er auf drei Aussagen über den zweiten Weg, die hinsichtlich ihrer Termini ganz ähnlich formuliert seien 1 3 9 : (1)

Β 2,7-8

ούτε γάρ άν γνοίης τό γε μή έόν (ού γαρ άνυστόν) ούτε

(2) (3)

Β 8,8 - 9 Β 8,17

φράσαις. ού γάρ φατόν ούδέ νοητόν / εστίν δττως ούκ εστίν. τήν μεν έαν άνόητον άνώνυμον

Die letzte Stelle weist auf die frühere Scheidung der zwei Wege εστίν und ουκ εστίν und den dabei erfolgten Ausschluß des zweiten, hier mit τήν μεν κτλ. beschriebenen Weges zurück. Dieser Ausschluß lautet in Β 2,7 — 8, daß man das Nichtseiende schlechthin 140 weder erkennen noch mitteilen (oder: aufzeigen) könne, in Β 8,8 — 9, daß nicht zu erfassen und nicht zu sagen sei, daß (es) nicht ist. Die Identität beider Aussagen unterstreicht Heitsch dadurch, daß er die Variadon in der Ausdrucksweise auf den gemeinsamen inhaltlichen Befund zurückführt: τό μή έόν und όπως ούκ εστί entsprechen sich, indem in Β 8,8 — 9 an die Stelle des in Β 2,7 gesetzten Substantivs ,das Nichtseiende' lediglich ein Substantivsatz getreten ist 1 4 1 . Die Aussage hat sich nicht geändert: ούδέ νοητόν εστίν steht hier für den Ausschluß desselben Vorgangs, der in Β 2,7 mit ούτε γνοίης gekennzeichnet wird. Dies weist auf eine sachliche Entsprechung beider Termini: „erfassen" ist im Sinne von „erkennen" verwendet. Was aber ist in Β 8,8 — 9 eigentlich damit gemeint, Nichtseiendes sei nicht zu sagen oder sei unsagbar? Denn es wird doch hier vom Nichtseienden gesprochen! „Unsagbar" muß also „nicht sachhaltig sagbar" oder „nicht mit Erfolg sagbar" meinen. Piaton hat sich über diesen Unterschied im ,Sophistes' geäußert: wir wagten zwar das Nichtseiende auszusprechen (φθέγγεσθαι, 237 Β 7 —8), aber eigentlich (oder: wahrhaft, mit Recht, όρθώς) könne man es an sich weder aussprechen noch benennen noch durch Denken erfassen (ούτε φθέγξασθαι δυνατόν όρθώς ούτ' ειπείν ούτε διανοηθήναι τό μή ον αύτό καθ' αύτό, 238 C 8 —9). Eine Bedeutung „nicht eigentlich sagbar", „nicht sachhaltig sagbar" wird an den genannten Parmenidesstellen daraus einsichtig, daß die Termini des Sagens hier stets mit γιγνώσκειν und νοεΐν verbunden sind. Die Annahme liegt nahe — und hierin ist Barnes voll zuzustimmen 1 4 2 —, daß angesichts ihrer ständig wiederkehrenden Verbindung 139 140

141 142

Heitsch Gegenwart und Evidenz 1 7 - 1 8 , ed. Parm. 1 2 1 - 1 2 2 . In τ ό γε μή έόν hebt die Partikel den absoluten Charakter des Nichts hervor, wie Klowski Grundlegung 112—113 mit Anm. 28 — 29 nach einem Hinweis von Schwabl betont. Heitsch ed. Parm. 122. Barnes Presocr. Philos. 1 5 8 - 1 5 9 .

Β. Β 6,1" und Β 2 , 7 - 8

27

„Sagen" und „Erfassen" auch Gleichartigkeit in der Struktur aufweisen. Die Verben des Erfassens sind nach dem Modell der sinnlichen Wahrnehmung konzipiert (siehe unten Kap. 1 Β 3 d) und haben daher den von Heitsch betonten rein rezeptiven Charakter; entsprechend wird es bei den Termini des Sagens um ein Mitteilen des geistig angeschauten oder erfaßten Objekts gehen. Dem geistigen Erfassen ist nun wie dem sinnlichen Wahrnehmen kein Erfolg beschieden, wenn sie kein Objekt vor sich haben 1 4 3 , wenn sozusagen auf der Objektseite ,Nichts' vorliegt; ebensowenig vermag ein reproduzierendes Sagen ,Nichts' mitzuteilen. Nichtseiendes kann man nicht sachhaltig oder mit Erfolg aussagen. Eine solche Bedeutung erklärt auch die Korrespondenz von οΰ φατόν έστιν und οΰτε φράσαις in den Verbindungen Β 2,7 - 8 und Β 8,8 — 9: was nicht mit Erfolg sagbar ist, kann man auch nicht mitteilen oder aufzeigen 144 . Die offensichtliche Identität der Aussagen von Β 2,7 - 8 und Β 8,8 — 9 hat eine Korrespondenz von νοεΐν und γιγνώσκειν und von φάναι und φράζειν gezeigt. Freilich geht es dabei zunächst um negative, auf das Nichtseiende bezügliche Aussagen; in welchem Fall auch bei positivem, auf Seiendes gerichtetem Bezug diese Verben mit Wahrheit verbundenes Erkennen und Sagen implizieren, bleibt noch zu erörtern. Doch zunächst müssen wir auf einige abweichende Vorschläge eingehen, die jüngst Schmitz zu den behandelten Stellen befürwortet hat. Wollte man ihm folgen, würde das bisher Gesagte in Frage gestellt. Bei der Diskussion der Vorschläge von Schmitz folgen wir der oben S. 26 verwendeten Numerierung und behandeln (1) Β 2,7 —8, (2) Β 8,8 —9, (3)

Β 8,16-18.

(Ad 1) Β 2,7 — 8 übersetzt Schmitz: „weder nämlich kennen lernen dürftest du wohl das recht eigentlich Nichtseiende ... noch aufzeigen" 1 4 5 . Der punktuelle Aspekt des Optativ Aorist wird ingressiv gedeutet: „das Kennenlernen auf der Reise, wenn man plötzlich auf etwas trifft" 1 4 6 . Doch ist ein Verständnis des punktuellen Aspekts in effektivem Sinn „du dürftest das eigentlich Nichtseiende wohl nicht erkennen" qua „darüber Erkenntnis erreichen" m. E. vorzuziehen. Für diesen effektiven Sinn spricht gerade auch der in der Verbindung folgende Optativ οΰτε φράσαις: „noch dürftest du (mit 143 144

145 146

Vorzügliche Darstellung bei Tugendhat Sein und Nichts 1 4 4 - 1 4 5 . Zur Bedeutung von φράζω vgl. Mourelatos φράζω, in: Class. Philol. 60, 1965, 2 6 1 - 2 6 2 . Mourelatos Route 20 Anm. 28; 22 Anm. 33. Kahn Thesis 713 Anm. 18. Newiger Untersuchungen 150—151. Schmitz Ursprung 155. Ibid. 158 Anm. 185.

28

1. Kapitel: Antithesen

Erfolg) aufzeigen." Ein Blick auf Gorgias räumt jegliche Zweifel aus: am Beginn seiner Schrift Περί τοΰ μή όντος hat er auf die Worte O U T E ... γνοίης ... ούτε φράσαΐξ mit ά γ ν ω σ τ ο ν und οΰ δ η λ ω τ ό ν άλλοις (MXG 979a 12 und 13) Bezug genommen. (Ad 2) Β 8,8 - 9 übersetzt Schmitz: „Nicht sagbar und nicht bemerkbar ist nämlich, daß Nichtseiendes nicht ist." 147 Er weicht damit von der üblichen Wiedergabe „that (it) is not"148, „daß «es nicht ist»" 1 4 9 , „daß (etwas) nicht ist" 150 , „that anything is not" 151 radikal ab. Denn „daß (es) nicht ist" sei bemerkbar und sagbar, wie es auch laut Rückverweis Β 8,16 — 17 als „entschieden" gelte, „den Weg, daß es nicht ist (impersonale Konstruktion), unbeachtet und namenlos zu lassen" (dazu im folgenden). Doch zwecks solcher Entscheidung muß dieser Weg, betont Schmitz, „mindestens bemerkt und besprochen worden sein." 152 Also sei in Β 8,8 — 9 als „verstecktes" Subjekt im όπως-Satz μή έόν aus Β 8,7b zu ergänzen: „daß Nichtseiendes nicht ist." Dies wird nun mit einer m. E. sehr künstlichen Argumentation aus dem Kontext zu erweisen versucht. Wenn in Β 8,7 — 8 die Göttin vor der Vorstellung warne, ,es' (das noch anonyme Subjekt) aus Nichtseiendem entstanden sein zu lassen, wäre zur Begründung in Β 8,8 - 9 der Gedanke „es ist unsagbar, daß es nicht ist" nicht geeignet: denn selbst in diesem Fall könnte das anonyme Subjekt noch aus Nichtseiendem entsprungen sein. Eine treffende Begründung leiste aber die Feststellung „es ist unsagbar, daß Nichtseiendes nicht ist." Die Interpretation von Schmitz arbeitet für νοεϊν mit „bemerken", für φάναι mit „sagen". Wenn, wie oben dargelegt, nun aber oü φατόν εστίν in Β 8 , 8 - 9 nicht einfach verbales Artikulieren, sondern sachhaltiges, erfolgreiches Aussagen bedeutet und wenn ού νοητόν εστίν im Sinne von ουτε γνοίης „nicht erfaßbar", „nicht erkennbar" steht, wird der Anstoß von Schmitz an der herkömmlichen Auffassung des δττως-Satzes hinfällig. Die Ablehnung der Göttin, das, was ist, aus Nichtseiendem entstanden sein zu lassen (zu Β 8 , 7 - 8 vgl. unten Kap. 1 Β 3d), hat laut Β 8 , 8 - 9 den Grund: Nichtseiendes ist nicht erkennbar und nicht sachhaltig aussagbar 153 .

147 148 149 150 151 152 153

Ibid. 163. Gallop ed. Parmenides 65. Bormann Parmenides 41. Hölscher ed. Parmenides 21. Coxon Fragments 64. Schmitz Ursprung 163, woraus auch weiterhin bis zum Ende des Absatzes referiert wird. Zur Konstruktion des Satzes vgl. oben S. 26.

Β. Β 6 , l a und Β 2 , 7 - 8

29

Schmitz' Vorschlag kann in zweifacher Hinsicht nicht überzeugen. Unstrittig ist, daß Β 8,8 — 9 als Begründung dafür dienen soll, daß das Nichtseiende als Ursprung für das, was ist, ausscheidet. Schmitz' Formulierung „daß Nichtseiendes nicht ist" soll also offenbar den zweiten Weg bzw. dessen ,Objekt' charakterisieren. Nun lautet der zweite Weg ούκ εστίν oder μή έόν 1 5 4 , kann aber nach ou φατόν εστίν όπως nicht selbst negiert sein, also μή έόν ούκ εστι lauten 1 5 5 . Doppelte Negation im όττως-Satz ergäbe dort ja als positive Aussage: „es ist unsagbar, daß Seiendes ist." Daß Seiendes ist, ist aber natürlich nicht unsagbar. Weiter widerspricht der von Schmitz für Β 8,8 — 9 postulierte Inhalt „Unsagbar ist, daß Nichtseiendes nicht ist" dem Statement μηδέν δ' ούκ εστίν, das die Göttin bzw. Parmenides innerhalb der Begründung Β 6,1 b — 2 a vortragen: „Nichts ist nicht" (oder nach anderen: „Nichts kann nicht sein") 1 5 6 . „Nichts ist nicht" ist also durchaus sagbar, da sich in Β 6,2 a nach allgemeiner Ansicht die Göttin mit diesem Statement identifiziert; darauf weist in der Tat die anschließende Aufforderung an Parmenides: „dies sollst du dir klarmachen", Β 6,2 b . Es bleibt also dabei, daß Β 8,8 — 9 denselben Gedanken ausdrücken wie Β 2,7 — 8: ou ... φατόν ούδέ νοητόν έστιν entsprechen sachlich οΰτε ... γνοίης ... ούτε φράσαις. (Ad 3) Schließlich zu Β 8,16 - 1 8 . Schmitz übersetzt: „Es ist nun aber, wie notwendig, entschieden worden: den einen (Weg) unbeachtet und unbenannt zu lassen, denn er ist kein untrügender Weg; in Bezug auf den anderen aber in dem Sinn, daß es stattfindet und reell ist." 1 5 7 Dies weicht in vielem von der üblichen Wiedergabe ab. άνόητον wird als „unbeachtet" gefaßt, denn es könne nicht „entschieden" sein, einen Weg „unbemerkbar" oder „unbemerkt" zu lassen 1 5 8 . Für Schmitz ist wichtig, daß die Göttin den zweiten Weg qua „unbeachtet" und „nicht untrügend" als „einen wirklichen Weg anerkannt" habe 1 5 9 . Diese Annahme zwingt ihn freilich dazu, den Anschluß

154

Z u r einstelligen F o r m u l i e r u n g der W e g e , s o d a ß ούκ εστίν, μή έόυ und μή είναι gleichwertig sind, vgl. u n t e n K a p . 2, A 6.

155

μή έόν ούκ εστι ist nicht B e s c h r e i b u n g des zweiten Weges, s o n d e r n v i e l m e h r a b l e h n e n d e s Urteil über den zweiten Weg. E i n s o l c h e s ist als u n a b h ä n g i g e s S t a t e m e n t d e n k b a r

(vgl.

Β 6,2") o d e r in e i n e m a b h ä n g i g e n Satz der F o r m „ m a n m u ß sagen, d a ß N i c h t s e i e n d e s n i c h t i s t " , p a ß t dagegen n a c h ο ύ φ α τ ό ν έ σ τ ι ν δπα>5 sachlich nicht. 156

Vgl. dazu u n t e n K a p . 1, C 1.

157

S c h m i t z U r s p r u n g 1 9 3 , vgl. 1 6 3 ( „ u n b e a c h t e t und n a m e n l o s " ) .

158

Ibid. 1 5 6 - 1 5 7 . verwiesen.

159

Ibid. 1 9 4 .

F ü r νοεΐν als „ b e a c h t e n " wird S. 6 5 a u f H o r n . II. I 5 3 7 u n d O d . λ 6 2

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1. Kapitel: Antithesen

Β 8,18b ganz anders zu verstehen als bisher. Der herkömmliche Bezug der Worte την δ' ώστε πέλειν και έτήτυμον είναι auf den ersten Weg in dem Sinne, daß er „ist und wirklich ist", erweist sich für Schmitz als nicht sinnvoll, weil ja für ihn auch der zweite Weg „ist". Diese Argumente gilt es nun genauer zu untersuchen. Ich werde dabei für die Auffassung „Es ist entschieden, den einen (sc. den zweiten Weg) als nicht erkennbar und namenlos (oder: nicht benennbar) beiseitezulassen ..., den anderen (sc. den ersten Weg) aber als von der Art anzunehmen, daß er ist und wirklich ist" plädieren. Ein Vergleich der beiden Ubersetzungen zeigt, daß der Ausdruck έαν άνόητον άνώνυμον unterschiedlich gefaßt wird: nach Schmitz „den einen Weg unbeachtet zu lassen", nach dem anderen Vorschlag „den einen Weg als nicht erkennbar beiseitezulassen". Beide Versionen für έαν sind möglich; es ist dann aber nicht von vornherein ausgeschlossen, wie Schmitz meint, daß άνόητον hier „unbemerkbar" oder, nach Heitsch, „unerkennbar" bedeutet. Welche Entscheidung soll man treffen? Da es sich in Β 8,16 — 18 um einen Rückverweis handelt, kommen als entsprechende Bezugsstellen Β 8,8 — 9 und Β 2,7 - 8 in Frage. So hat Heitsch άνόητον άνώνυμον in Korrespondenz zu ού ... φατόν ούδέ νοητόν und ούτε ... γνοίης · - - ούτε φράσαις gesehen. Was an den Bezugsstellen vom Nichts als ,Objekt' des zweiten Weges ausgesagt werde, sei hier vom Weg selbst prädiziert: „unerkennbar und unsagbar"160. Schmitz glaubt allerdings, die Attribute in Β 8,17.hätten mit Β 8,8 nichts zu tun; denn sonst hätte Parmenides gerade angesichts der Nähe beider Stellen in Β 8,17 schärfer άφατον statt άνώνυμον gesagt161, άνώνυμον kann nun aber die inhaltliche Funkdon, die ού φάναι und ού φράζειν an den korrespondierenden Stellen haben, von der Bedeutung her durchaus ausfüllen: ein „namenloser" Weg, der „nicht benannt" oder „nicht nennbar" ist, läßt sich nicht mitteilen oder mit Erfolg aussagen162. Die damit verbundene Frage nach der Bedeutung von Β 8,18 läßt sich ohne einen grammatischen Exkurs kaum beantworten. Der ώστε-Satz ist unterschiedlich konstruiert worden und läßt wohl auch mehr als eine Erklärung zu. Die vier neueren Vorschläge lauten163: (α) Von κέκριται hängt εάν ab, zu dem την μεν Objekt ist. Aus dem negativ gebrauchten έαν ist in der Antithese ein Verbum positiver Bedeutung zu Heitsch Gegenwart und Evidenz 17 — 18 [= 327 — 328] (dort auch: „unerkannt"), ed. Parm. 27. 1 6 1 Schmitz Ursprung 157. 162 V g l F r i s k Griech. etymol. Wörterbuch II 396. lf ' 3 Ubersicht über die früheren Vorschläge bei Klowski Grundlegung 101 — 105. 160

Β. Β 6,1" und Β 2 , 7 - 8

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ergänzen, zu dem dann την δέ das Objekt bildet; von diesem Verb hängt der ώστε-Satz ab. So die communis opinio, ζ. Β. bei Heitsch: „Den einen (Weg) beiseite lassen, den anderen aber als von der Art ansehen, daß . . . " 1 6 4 . (ß) Von κέκριται hängen direkt την μεν έαν und andererseits την δέ πέλειν ab; ώστε soll „daher" bedeuten. So Klowski: „Es ist entschieden, den einen Weg als unerkennbar und namenlos beiseitezulassen, und daß der andere daher wirklich und wahrhaft vorhanden ist" 1 6 5 , (y) Von κέκριται hängen wie in der vorigen Lösung die Infinitive ab; doch ώστε wird als „redundant" gefaßt, mit Verweis auf Eur. Hipp. 1327, Thuc. I 119 und V I I I 45,3. So Coxon: „Now it has been decided ... to leave the one way unconceived and nameless . . . and for the other to be a way and authentic" (oder für Β 8,18 b : „and that the other way is a way and is authentic", so im Kommentar) 1 6 6 , (δ) Von κέκριται hängt zunächst die Infinitivkonstruktion την μέν έαν ab, im zweiten-Teil der Entscheidung dagegen nur την δέ als Akkusativ der Beziehung, ώστε hat die Bedeutung „ea conditione ut", „in dem Sinne, daß" (wie K G II 5 0 4 - 5 0 5 ) ; der Konsekutivsatz „betrifft nicht den ersten Weg ..., daß es ist (8,16), sondern es, das demnach ist: Es findet statt und ist reell." 1 6 7 Schmitz' entsprechende Übersetzung ist oben zitiert. Lösung (ß) scheidet aus grammatischen wie inhaltlichen Gründen aus. In der Bedeutung „daher", „und so" leitet ώστε als unabhängig empfundene Sätze ein 1 6 8 . Bei einem Vorliegen dieses Falles — ώστε sollte dann freilich wie in den Parallelbelegen an erster Stelle erscheinen — ergäbe sich für Β 8,16—18: „Es ist entschieden, den einen Weg beiseitezulassen; daher ist der andere vorhanden und wirklich." Aber Klowski betont ja die Abhängigkeit auch dieses zweiten Teiles von κέκριται 169 . Inhaltlich glaubt er seine Auffassung dadurch gestützt, daß dann in Β 8,16 — 18 eine parallele Aussage zu Β 2 vorläge. Doch auch dies ist nicht tragfähig: die These von Mansfeld

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169

Heitsch ed. Parm. 170. Klowski Grundlegung 103. Coxon Fragments 64 und im Kommentar 201—202. Schmitz Ursprung 194. LSJ 2041 s. ν. ώστε Β II 2. Smyth 511 Nr. 2274 a, 2275. Kühner-Gerth II 513, § 3 gegen Ende; 514 Anm. 2. Meist steht eine finite Verbform (vor allem Indikativ und Imperativ), vereinzelt aber auch der Infinitiv (Plat. Αρ. 22 Ε). Klowski Grundlegung 103. Schmitz Ursprung 194 wendet gegen seinen Vorschlag ein, daß bei der Gegenüberstellung την μέν - την δέ das zweite Glied kaum konsekutiven Sinn haben könne.

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1. Kapitel: Antithesen

und Klowski, in Β 2 werde mit einem disjunktiven Syllogismus nach dem Schema „A oder B / N i c h t B / A l s o A " durch Ausschluß des zweiten Weges der erste Weg als wahr erwiesen 170 , hat keine Zustimmung gefunden. Zu (y). Von redundantem ώστε spricht Coxon unter Hinweis auf die genannten Stellen, die sich auch bei Kühner-Gerth finden 1 7 1 . Dort stehen sie unter den Belegen dafür, daß bei etlichen Verben des Bittens und Wollens sowie des Könnens und Lehrens statt der üblichen Infinitiv- oder ACI-Konstruktion zuweilen auch ώστε mit Infinitiv/ACI auftritt. Im Hinblick auf Parm. Β 8,16 — 18 schiene mir bei Annahme dieses Falles der Hinweis wichtig, daß auch Verben des Entscheidens und Beschließens diese doppelte Konstruktion haben können 1 7 2 . Entsprechend wäre hier für κέκριται eine Variation der Konstruktion gegeben, nämlich zunächst Infinitiv, dann ώστε mit ACI. Ein Bedenken bleibt freilich insofern, als in allen Belegen bei KühnerGerth und Smyth ώστε unmittelbar am Beginn des Satzes steht. Wenn dies generell gilt, haben die verbleibenden Lösungen (α) und (δ) den Vorzug, daß bei ihnen ώστε sinnvoll nach την 5' erscheint, wo der Folgesatz auch wirklich beginnt. (α) und (δ) sind m. E. grammatisch möglich. Heitsch als Vertreter der Lösung (α) wird allerdings von Schmitz kritisiert: Belege für einen zunächst negativen, dann positiven Gebrauch von έαν, wie er ihn hier annähme, gäbe es nicht 1 7 3 . Solche Kritik besteht freilich zu Unrecht, denn Heitsch sagt eindeutig zu der Brachylogie in den V. 17 — 18: „Dem negativen έαν muß ein affirmatives Verbum sentiendi oder dicendi entnommen werden; etwa: Den einen (Weg) beiseite lassen, den anderen aber als von der Art ansehen, daß . . . " 1 7 4 . In der positiven Hälfte soll also gar nicht έαν, sondern ein Verb wie Οττολαμβάνειν ο. ä. ergänzt werden, entsprechend einem öfters vorkommenden Gebrauch 1 7 5 . Die von Schmitz eingebrachte Konstruktion (δ) ist demnach keinesfalls die einzige, bei der „die Grammatik reibungslos funktioniert" 1 7 6 — im Gegenteil, es entbehrt nicht einer gewissen Härte, την δ' als Accusativus graecus 170 171 172

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Mansfeld Offenbarung 59. Klowski Entstehen log. Argum. 1 3 1 - 1 3 3 . Grundlegung 9 8 - 9 9 . Kühner-Gerth II 8 Anm. 6. II 12 Anm. 9. Kühner-Gerth II 8 Anm. 6 zitieren dafür Thuc. V 17 ψηφισαμένων ώστε. V I I I 79 δόξαν αύτοΤξ ώστε. Schmitz Ursprung 193. Heitsch ed. Parm. 170. Kühner-Gerth II 5 6 6 - 5 6 7 . Smyth 676 Nr. 3 0 1 8 m . Wie im dort zitierten άμελήσαξ ώυπερ oi πολλοί (Plat. Apol. 36 Β) als positives Verb επιμελούνται zu ergänzen ist, so hier nach „beiseitelassen" ein „akzeptieren", „annehmen". Schmitz Ursprung 194.

Β. Β 6 , l a und Β 2 , 7 - 8

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zu verstehen. Die weiter vorgenommene „Korrektur", nach der Β 8,18 b ώστε πέλειν και έτήτυμον είναι auf „es" statt auf den Weg „daß es ist" bezogen werden müsse, leuchtet nicht ein: denn die Charakteristik έτήτυμον είναι steht ganz offensichtlich dem voraufgehenden οΰ γάρ αληθής έστιν οδός gegenüber, was für ihren Bezug auf den ersten Weg spricht. Und zu sagen, daß dieser Weg „ist und wirklich ist", ergibt nicht, wie Schmitz meint, eine unzutreffende Gegenüberstellung zum zweiten Weg. Die Worte και έτήτυμον είναι in Verbindung mit ττέλειν unterstreichen, daß hier ein wahres, wirkliches „sein" prädiziert werden soll 1 7 7 : und dies kann für den zweiten Weg natürlich nicht gelten. Diesen zweiten Weg kann man zwar als Negation des ersten und als die eine Seite der Alternative έστιν ή ουκ έστιν durchaus „bemerken" und insofern auch von ihm sprechen; doch erkennen und mit Erfolg mitteilen läßt sich auf ihm nichts, da er nicht sachhaltig ist. Nichts als sein „Objekt" ist nicht erkennbar und mitteilbar — diese Attribute erhält hier in Β 8,17 auch der Weg selbst. Insofern hat ein „sein und wirklich sein" nur für den ersten Weg Geltung, auf dem allein — im Hinblick auf sein Objekt — Erkennen und Mitteilen zutreffend eintreten (dazu sogleich). Die Diskussion von Β 2,7 — 8; 8 , 8 - 9 und 8 , 1 6 - 1 8 hat die von Schmitz eingebrachten Vorschläge zu ihrem Verständnis nicht bestätigt. Der von Heitsch hergestellte Bezug dieser Stellen ist nicht aufzugeben. Β 8,8 — 9 handeln — wie auch Β 2,7 — 8 — von der Unmöglichkeit, das Nichtseiende zu erkennen und aufzuzeigen oder mitzuteilen, Β 8,17 —18 von dem zugehörigen sog. zweiten Weg in Gegenüberstellung zum ersten Weg. Die von Schmitz bei Β 8 , 8 - 9 und 8,17 — 18 empfundenen Schwierigkeiten heben sich gerade dann auf, wenn man mit Heitsch an den drei Stellen οϋτε . . . γνοίης, ουδέ νοητών έστιν und άνόητον als sachlich identisch faßt und mit „nicht erkennen" bzw. „nicht erkennbar" wiedergibt; und wenn man ούτε φράσαις, ού φατόν έστιν, άνώνυμον mit „nicht aufzeigen", „nicht mitteilbar" bzw. „nicht benennbar" im Sinne eines sachhaltigen, zutreffenden Kundtuns versteht und nicht bloß als „sprechen von" bzw. „sagbar". Wir haben bisher Stellen betrachtet, an denen die Termini γιγνώσκειν, νοεΐν und φράζειν, φάναι in den Bedeutungen „erkennen" und „zutreffend mitteilen" mit Bezug auf das Nichtseiende vorkommen. In der ,Aletheia' gilt nun der kontradiktorische Gegensatz: εστίν ή ουκ έστιν (so Β 8,16, mit dem 177

So ist seit jeher verstanden worden: vgl. bereits G. A. Mullach, Fragmenta Philosophorum Graecorum, Paris 1875, 121 („ut alterum sit ac vere exstet"). H. Stein, Die Fragmente des Parmenides περί φύσεως, in: Symbola philologorum Bonnensium, Leipzig 1864 — 67, 788 („alteram autem et esse et veram esse").

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1. Kapitel: Antithesen

ausschließenden „oder"; die zwei anderen Formulierungen der Grundalternative in Β 2,3/2,5 und in Β 8,11) 178 . Entsprechend ist anzunehmen, daß dann auch „nicht erkennen" und „nicht aufzeigen" in Bezug auf Nichtseiendes einem „erkennen" und „aufzeigen" in Bezug auf Seiendes gegenüberstehen. Wenn es in Β 2,7 — 8 heißt: „Erkennen und Aufzeigen des Nichtseienden sind unmöglich", so muß die gegensätzliche Behauptung besagen, daß diese Vorgänge für das, was ist, notwendig sind. Eben das besagt aber die von uns nach Tarän und Heitsch angenommene Antithese zu Β 2,7 - 8, nämlich Β 6,1a: Das Mitteilen und Erkennen dessen, was ist, ist notwendigerweise der Fall (oder: tritt notwendigerweise ein). Daß sich in der negativen bzw. positiven Aussage ov ... άνυστόυ und χρή als Ausdruck der Unmöglichkeit bzw. Notwendigkeit gegenüberstehen, wird später (Paragraph e) zu beleuchten sein. Zuvor muß die bisher erreichte Auffassung noch in zweifacher Hinsicht bekräftigt werden. Wie verträgt sich eine Bedeutung „erkennen" für νοεΐν mit dem schwankenden (B 6,6) oder konstitutionsbedingten νόος (Β 16,1—2), von denen Parmenides spricht? Anders gesagt: es gilt, die Annahmen bei von Fritz und Heitsch über den „Erfolgscharakter" des Verbs mit den Einwänden von Tugendhat und Barnes 179 in Einklang zu bringen (siehe dazu im folgenden Paragraphen unter y). In Ausführungen über die Bedeutungsbreite von νοεΐν bei Parmenides und das dahinterstehende Modell der sinnlichen Wahrnehmung (siehe unten Paragraph d) dürfte sich abschließend gerade diejenige grammatische Konstruktion für Β 6,l a bestätigen, welche hier vertreten worden ist.

(c) Irrtum und Wahrheit bei νόος und νοεΐν Schwankend (πλαγκτόξ Β 6,6) wird der νόος genannt, der den nichts wissenden Sterblichen in ihrem Umhertreiben eigen ist. Je nach Mischung der viel schwankenden ( π ο λ υ π λ ά γ κ τ ω ν , Β 16,1) Glieder tritt der vöos den Menschen zur Seite. Daß trotz der Berührung in den Termini beide Stellen nicht auf derselben Stufe stehen, hat schon Verdenius 180 mit Recht gesagt. Wir betrachten sie zunächst (α, β) einzeln unter einigen sprachlichen und inhaltlichen Gesichtspunkten, um sie sodann (γ) in die Hierarchie der Stufen oder Grade von νόος und νοεΐν einzuordnen. Vgl. die lichtvollen Ausführungen von Heitsch ed. Parm. 1 1 5 — 116. Vgl. oben S. 25 mit Anm. 1 3 4 - 1 3 6 . 180 Verdenius Comments 9.

178 179

Β. Β 6,l a und Β 2 , 7 - 8

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(α) Der schwankende Noos: Β 6,4 — 9 Den essentiellen Fehler, der den mit vielfachen Ausdrücken der Verachtung (darunter π λ α γ κ τ ό ν νόον) bedachten Menschen eignet, nennen V. 8 — 9: οίς τ ό πέλειν τε και ουκ είναι ταύτόν νενόμισται κού ταύτόν „denen Sein und Nicht-Sein als dasselbe gilt und nicht dasselbe ..." (Heitsch). Nachdem Reinhardt erwogen hatte, vor ταύτόν zu interpungieren 181 , will nun Pfeiffer in dieser Weise nach τ ό verfahren: denn substandvierte Infinitive kämen nicht in Frage, da dann die sonst übliche Negation μή zu erwarten wäre. Pfeiffer verweist darauf, daß an einer sachlich verwandten Stelle, die einige vermeintlich wahre Ansätze der Menschen aufführt, auch είναί τε και ουχί genannt sind (Β 8,40). Das Problem mit der Negation wird daher so gelöst, daß artikellose Infinitive ebenso in Β 6,8 vorliegen sollen; in diesem Sinne versteht Pfeiffer sie als erklärende Apposition zu τό, das er als Demonstrativ faßt. Seine Ubersetzung „denen folgendes, nämlich daß (es) ist und daß (es) nicht ist, als dasselbe gilt und nicht als dasselbe" stellt eine bewußte Reminiszenz an Β 2 her. Begründend führt Pfeiffer an, daß sich Β 6,8 in den Infinitiven die zwei aus Β 2 bekannten Wege der äußeren Form nach wiederfänden: die Aussagen εστίν und ουκ εστίν seien „lediglich in den Infinitiv getreten" 182 . Es gibt nun aber einen guten Grund dafür, daß das traditionelle τό πέλειν τε και ούκ είναι doch bewahrt werden sollte. Privatives ού steht ja zuweilen, wo die Konstruktion eigentlich μή erfordert: Eur. Ion 347 εϊ οΰκέτ' εστι. Plat. Apol. 25 Β εάν ού φήτε εάν τε φήτε. Xen. Anab. I 7,18 ει έν τ α ύ τ α ς ού μαχεΤται ταΤς ήμέραις, Andok. 1,33 εί ουδέν ήμάρτηταί μοι. Diese und ähnliche Beispiele 183 belegen hinreichend, daß das ού, wenn es als eng mit einem Wort zusammengehörig empfunden wird, auch in einer sonst üblicherweise durch μή verneinten Konstruktion bewahrt bleibt; oder auch, da diese Erklärung nicht für alle Fälle anwendbar ist 184 , daß ού steht, weil „der Gedanke dem Redenden schon als negierter Behauptungssatz vorschwebte, ehe er abhängig wurde" 185 . Beide Erklärungen würden für τό ... ούκ είναι zutreffen, weil ούκ είναι hier eben die Umsetzung des ούκ εστίν von Β 2,5 ist. Freilich hat Schmitz, der sich ansonsten Pfeiffers Erklärung zu eigen macht, ein Bedenken geäußert. Da die in Β 6,4 angesprochenen βροτοΐ είδό181

182 183 184 185

Reinhardt Parmenides 87 Anm. 1. Vgl. Hölscher Anfängliches Fragen 102 mit Anm. 31, ed. Parm. 87. Argumente gegen diese Interpunktion: Schwabl Sein und Doxa 67. Pfeiffer Lehrgedicht 166-167 (Zitate S. 167). Kühner-Gerth Griech. Gramm. II 188-191. Ibid. 191 Anm. 1 gegen Ende. Ibid. 188.

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1. Kapitel: Antithesen

τες ουδέν doch keine Ahnung vom parmenideischen εστίν und ουκ εστίν haben könnten, müsse in Β 6,8 von „sein" und „nicht sein" in ihrem alltäglichen Gebrauch, wie ebenso in Β 8,40, die Rede sein. Daß die „normale", bei den Menschen gängige Bedeutung vorliege, werde auch durch νενόμισται („gilt ihnen, ist bei ihnen Brauch") gestützt 1 8 6 . Dies trifft sicher zu. Wie mir aber scheint, sind der traditionelle Text, Pfeiffers Hinweis, daß die Infinitive von Β 6,8 die Wege von Β 2 ihrer äußeren (!) Form nach wiederaufnehmen, und die Forderung von Schmitz, es müsse um „sein" und „nicht sein" der alltäglichen Redeweise gehen, durchaus vereinbar. Eine entsprechende Wiedergabe würde lauten: „denen das ,sein' und ,nicht sein' (sc. wie es bei den Menschen gebraucht ist, analog zu den parmenideischen Wegen) als dasselbe gilt und nicht als dasselbe." Der Bezug von Β 6,8 — 9 auf Β 2 tritt insofern deutlich zutage, als die Kritik am Gebrauch von „sein und nicht sein" gerade auf Grund von Kriterien erfolgt, die an Β 2 orientiert sind. Ein doppelter Fehler der Menschen wird herausgestellt: (1) „sein" und „nicht sein" haben gemeinsam (τε και) Geltung, anstatt, wie es Parmenides mit seiner Grundalternative fordert, strikt für sich getrennt zu bleiben (B 2,3/2,5: μεν — δέ. Β 8,11: ή — ή. Β 8,16: ή). (2) „sein" und „nicht sein" gilt den Menschen als dasselbe und nicht als dasselbe (ταύτόν ... κού ταύτόν). Damit wird gegen die Identitätsforderung verstoßen, wie sie in den zweiten Hälften von Β 2,3 und 2,5 zum Ausdruck kommt. Also nicht genug damit, daß „ist" und „nicht ist" — gegen die in Β 2,3 a und 2,5 a verfügte Trennung — vermengt worden sind: darüber hinaus begehen die Menschen noch die Torheit, entgegen der Β 2,3 b und 2,5 b postulierten Wahrung der Identität („ist und kann nicht nicht sein" und „ist nicht und muß nicht sein") „sein" und „nicht sein" als dasselbe und als nicht dasselbe zu betrachten. Dies kann mit Heitsch 1 8 7 so illustriert werden, daß die Menschen zwar auf der einen Seite durchaus zwischen „ist" und „nicht ist" unterscheiden. Andererseits aber bringt es ihre an sinnliche Erfahrung gebundene und insofern eingeschränkte Sicht mit sich, daß Objekte, die nicht in den Bereich ihrer Wahrnehmung gelangen, für sie „nicht sind": womit ihnen in diesem Falle Seiendes als „nichtseiend" gilt. Der doppelte Fehler, „sein" und „nicht sein" zu vermengen und sie darüber hinaus als dasselbe und als nicht dasselbe zu betrachten, läßt die nichts wissenden Menschen als ακρίτα φΰλα, die nicht zu scheiden imstande sind, hin und her treiben. Ihr schwankender νόος ist von Hilflosigkeit gelenkt. Von

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Schmitz Ursprung 169—170. Daher seine Übersetzung: „denen dies, zu sein und nicht zu sein, als das Selbe gilt und nicht als das Selbe." Heitsch Parmenides 9 ( = Parm. und die Anfänge 23).

Β. Β 6 , l a und Β 2 , 7 - 8

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einem νοεΐν als „erkennen" sind sie, die „nicht sein" zulassen und es teilweise sogar mit „sein" auf eine Stufe stellen, nach dem Maßstab des Parmenides denkbar weit entfernt.

(ß) Der konstitutionsbedingte Noos: Β 16 Was hat es demgegenüber mit dem konstitutionsbedingten Noos auf sich, von dem am Beginn von Β 16 die Rede ist? Das Fragment ist bei Aristoteles (Metaph. Γ 5, 1009 b 2 1 - 2 5 ) , Theophrast (Sens. 3, Doxogr. Gr. 4 9 9 , 1 8 - 2 1 ) und Alexander (In Metaph. comm. 3 0 6 , 2 9 - 3 0 ; 3 0 6 , 3 5 - 3 0 7 , 1 ) zitiert. Aus ihren kommentierenden Bemerkungen ergibt sich für Intention und Kontext von Β 16 folgendes: geistiges Begreifen sei wie sinnliches Wahrnehmen aufgefaßt (Arist. 1009 b 1 2 - 1 3 ; Theophr. 499,22), als veränderlich betrachtet (Arist. 1009b 13; Theophr. 4 9 9 , 1 5 - 1 6 ; Alex. 3 0 6 , 3 2 - 3 3 ) und als Funktion der jeweiligen körperlichen Beschaffenheit des Menschen verstanden (so Arist. 1009 b 17 über Empedokles, sodann 1009 b 21 —22: „und in derselben Weise erklärt Parmenides . . . " ; Alex. 306,31 —32). Genaue Angaben über die jeweilige Ausprägung des geistigen Begreifens vermittelt allein Theophrast (Sens. 3 — 4). Danach ist die Mischung, wie sie sich je nach dem Vorwiegen der zwei Elemente Warm und Kalt 1 8 8 einstellt, für den Wechsel des Erfassens ausschlaggebend. Besser und reiner ist dieses auf Grund des Warmen. Neben den Fällen, in denen das warme bzw. kalte Element dominieren, gibt es als Grenzfall, daß das Erfassen durch ein Element für sich (καθ' αύτό Dox. 500,2) zustandekommt: für das absolute Kalte illustriert dies Theophrast mit einer Lehrmeinung des Parmenides, wonach der Tote Licht, Wärme und Stimme wegen des Fehlens des Feuers nicht aufnimmt, sondern allein Kälte, Schweigen und das (dem Warmen) Entgegengesetzte (Dox. 5 0 0 , 2 - 4 ) . Die Angaben von Aristoteles, Theophrast und Alexander sind freilich für die gesicherte Deutung von Β 16 keineswegs ausreichend. Die Fülle der sprachlichen und sachlichen Probleme sei wenigstens kurz skizziert. Für V. 1 — 2 a , die die Mischung in den viel schwankenden Gliedern und geistiges Erfassen bei den Menschen zueinander in Beziehung setzen, ergeben sich unterschiedliche Nuancen der Wiedergabe vor allem daraus, was als Subjekt

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Parmenides selbst spricht von Feuer und Nacht (B 8 , 5 6 - 5 9 ; Β 1 2 , 1 - 2 ) oder Licht und Nacht (B 9). „Warm" und „Kalt" ist peripatetische Wiedergabe. Vgl. Tarän Parmenides 231 Anm. 1, 254, 2 9 2 - 2 9 3 .

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1. Kapitel: Antithesen

in V. 1 angesehen wird: ein allgemeines τις 1 8 9 , έκαστος (das dann statt έκάστ ο τ ' gelesen wird) 190 , νόος 1 9 1 oder κρασις (das dann für das überlieferte κρασιν konjiziert ist) 192 . Im letzten Fall wäre εχει 1 9 3 nicht transitiv, sondern intransitiv zu fassen („wie sich jeweils die Mischung ... verhält"). Mit dieser Bedeutung arbeitet auch Schmitz, der eine impersonale Wiedergabe mit κρασ ι ν als acc. limitationis vorschlägt: „wie es sich jeweils verhält mit der Mischung ,.." 1 9 4 . Gegen έκαστος und κρασις macht C. W. Müller den Überlieferungsbefund geltend: κρασιν ist von sämtlichen Mss. überliefert, έκαστος eine in der Aristoteles-Hs. Ε erst von zweiter Hand aus dem Kommentar Alexanders vorgenommene Konjektur 195 . Daß das zumeist überlieferte 196 έκάστοτ' als lectio difficilior gehalten werden sollte, ist immer wieder unterstrichen worden 1 9 7 . 189

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„man", „einer" oder auch „der betreffende Mensch": Schwab! Sein und Doxa 70 (= WdF 416) Anm. 22. „einer": Hölscher ed. Parmenides 58 (mit Fragezeichen). Mansfeld ed. Parmenides 19 (Nr. 18), ed. Vorsokratiker 331 (Nr. 31) (jeweils in eckigen Klammern), „man": Heitsch ed. Parmenides 49. Die ursprüngliche Lesart Frankels (zurückgezogen Class. Philol. 41, 1946, 168), die Kranz in die VS (I 244, vgl. App. zu Z. 8 ff.) und aus diesem K i r k - R a v e n 282 übernahm, findet neuerdings wieder Anhänger: Casertano Parmenide 176, der S. 297 Anm. 2 weitere Stimmen für έκαστος zitiert. Cordero Les deux chemins 33, 41. Gallop ed. Parmenides 86 — 87. So Diels Lehrgedicht 45 sowie in den VS bis 4. Aufl.-Von Mansfeld Offenbarung 178 für möglich erachtet. Unter den Neueren bei Bormann Parmenides 53, 107 und Coxon Fragments 90 (Nr. 17), 248. κρασίξ, die Konjektur des Stephanus, war in der 1. Hälfte des Jh. sehr beliebt (Calogero, Verdenius, Vlastos, Frankel u. a.): siehe die Einzelnachweise bei Tarän Parmenides 169 — 170, der die Änderung auch selbst für erforderlich hält. Abgelehnt dagegen von Schwabl Sein und Doxa 70 (= WdF 416) und Mansfeld Offenbarung 176. Unter den Neueren vertreten von Mourelatos Route 253, 284, Kirk—Raven —Schofield 261 und O'Brien — Frere Emdes sur Parm. I 73. Den Konjunktiv Ιχτ) aus der Aristoteles-Hs. Ε legt Coxon seinem Text zugrunde (Fragments 91). Auch Homer Od. σ 1 3 6 - 1 3 7 und ArchUochos fr. 1 3 1 - 1 3 2 West (= 68 D.), die immer wieder als Vorstufen zu Β 16,1—2 zitiert worden sind, haben Konjunktiv im entsprechenden Vergleichssatz (οίον έττ' ήμαρ ά γ η σ ι bzw. όκοίην Ζεύς εφ' ήμέρην αγ-η). Andererseits setzt die in den Theophrast-Mss. vorliegende Korruptel εχειυ ursprünglichen Indikativ und nicht εχη voraus. Schmitz Ursprung 67 — 68. κρασιν als acc. limitationis schon bei Diels Lehrgedicht 45; erwogen auch bei Fränkel Wege und Formen 2 174. C. W Müller Gleiches zu Gleichem 1 8 - 1 9 Anm. 16. Wie Müller a. a. O. betont Coxon Fragments 248, daß auch die Korruptelen in älteren Mss. (ΕΚΑΣΤΩΙ, ΕΚΑΣΤΟΙ) auf ein genuines έ κ ά σ τ ο τ ' weisen. So Calogero Studi 45 Anm. 1, Verdenius Comments 6, Mansfeld Offenbarung 175 — 176 u. a. Daß die Wahl von εκάστοτε die Konjektur κρασις erforderlich macht (so Guthrie History II 67), überzeugt nicht (vgl. das oben im anschließenden Text Gesagte), εκάστοτε wird von der überwiegenden Mehrheit der Interpreten gelesen, wie die Auflistungen bei Tarän Parmenides 160 und Casertano Parmenide 297 Anm. 3 (mit Zitatfehler für Tarän) deutlich machen. Casertanos Liste könnte um Hölscher ed. Parm. 44, Bormann Parmenides

Β. Β 6 , Γ und Β 2 , 7 - 8

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Gegen das Bestreben, unbedingt expressis verbis ein Subjekt in V. 1 zu haben, ist das Argument von Schwabl zu bedenken, daß der Vers ja mit y a p an Früheres anschließt und das Subjekt durchaus im voraufgehenden Text gestanden haben kann 198 . Als Subjekte, die in V. 1 nur gedanklich zu ergänzen seien, hat man aus der Aussage von V. 2 νόος oder τις erschlossen. Daß ein „der νόος hat oder besitzt die ,Mischung'" 199 gelten soll, leuchtet mir nicht ein; Coxon fügt seinem Lob, Diels habe richtig νόος als Subjekt angenommen, leider keinerlei Erläuterung hinzu 200 . Für V. 1 ein τις „einer", „man" aus dem generellen άνθρώποισι V. 2 zu entnehmen, scheint gegen Schmitz' Einspruch 201 doch legitim, dessen eigener impersonaler Vorschlag natürlich auch möglich ist. In V. 2a setzt sich als Verbform in den Arbeiten der letzten Jahrzehnte immer mehr τταρέστηκεν durch 202 ; doch auch π α ρ ί σ τ α τ α ι (dann trotz Snells Einwand 203 als π α ρ ί σ τ α τ α ι oder π α ρ ί σ τ α τ α ι ) findet noch seine Anhänger 204 . Ein letzter Fragenkomplex zu V. 1 - 2 a betrifft κρασιν μελέων. Ob μέλεα die „Glieder" des Körpers oder des Kosmos meine, konnte früher für die Deutung von Β 16 als „relativ unerheblich" 205 insofern gelten, als die Elemente Feuer und Nacht als „Weltglieder" in der Doxa auch den Leib des Individuums konstituieren 206 . Wenn Parmenides den homerischen Ausdruck übernimmt und neu im Sinne der „mikro-makrokosmischen Entsprechung" (Schwabl) verwendet, kann der Einwand von Tarän 207 , in früheren Autoren gebe es allein Belege für μέλεα = γ υ ΐ α mit Bezug auf den menschlichen

198 199 200 201

202

203 204

205 206 207

52, Mansfeld ed. Parm. 18, Kirk — Raven — Schofield 261, Coxon Fragments 91, Couloubaritsis Mythe et philos. 373, 379 Anm. 12, Mansfeld ed. Vorsokr. 330, O'Brien — Frere Etudes I 73 und Schmitz Ursprung 67 ergänzt bzw. fortgeführt werden. Schwabl Sein und Doxa 70 (= WdF 416) Anm. 22. So Bormann Parmenides 216 Anm. 10. Coxon Fragments 248. Schmitz Ursprung 67. Seine Ablehnung von „man" (so Heitsch) mit dem Hinweis, in άνθρώττοισι sei genau gesagt, wer die Mischung hat, erstaunt: bezieht sich „man" etwa auf etwas anderes als die Menschen? So Hölscher ed. Parm. 44. Mourelatos Route 253, 284, Erläuterungen S. 2 5 5 - 2 5 6 . Heitsch ed. Parm. 48. Mansfeld ed. Parm. 18. K i r k - R a v e n - S c h o f i e l d 261. Gallop ed. Parm. 86. Coxon Fragments 91 und dazu im Kommentar S. 249. Mansfeld ed. Vorsokr. 330. O ' B r i e n Frere Etudes I 73. Β. Snell π α ρ ί σ τ α τ α ι ? , in: Glotta 37, 1958, 316. Bormann Parmenides 52, Erläuterungen S. 1 0 8 - 1 0 9 . Cordero Les deux chemins 33. Schmitz Ursprung 68. C. W. Müller Gleiches zu Gleichem 19 Anm. 16. Schwabl Sein und Doxa 70 (= WdF 4 1 6 - 4 1 7 ) . Tarän Parmenides 170.

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1. Kapitel: Antithesen

Körper, nicht bestehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß bei Empedokles, dessen enger Anschluß an den Eleaten immer wieder betont wird, μέλεα für beides, die Glieder des Körpers und die Glieder des Kosmos, Anwendung findet 2 0 8 . Anders wird die Situation nun freilich, wenn Β 16 gar nicht mehr zum Doxateil gehören soll (vgl. unten), womit Feuer und Nacht keine Rolle mehr spielen würden. In diesem Sinne behauptet Schmitz, bei μέλεα sei allein an die menschlichen Glieder zu denken, von deren „durchdringender Mischung" oder „Durchtränkung" (κρασις) zu sog. „Leibesinseln" hier gesprochen werde 2 0 9 . In den mit y a p anschließenden V. 2 b — 4 a ist höchst kontrovers, wie man die Worte zu arrangieren und wiederzugeben hat und was τό αυτό bedeutet. Lautet die Aussage, daß dieselbe Instanz, nämlich die Konstitution der Glieder, bei den Menschen allen und jedem für das Erfassen zuständig ist? Oder daß das Erfassen, das durch die Konstitution der Glieder bei den Menschen allen und jedem bestimmt wird, deren voos ausmacht und diesem insofern entspricht? Oder daß Instanz und Objekt des Erfassens aufeinander zugeordnet und insofern „dasselbe" sind? Oder daß die Konstitution der Glieder dasselbe je nach ihrer jeweiligen Zusammensetzung erfaßt? Bei dieser Erklärung ist allerdings die Tragweite von „dasselbe" umstritten: ist es auf die Gesamtheit der erkennenden Mischung zu beziehen oder auf das Mehr, das Uberwiegende der zwei Elemente, die laut Theophrast für die Erkenntnis konstitutiv sind? 2 1 0 Damit ist bereits die Problematik von V. 4 b berührt, wo die Bedeutung von τό πλέον und die Funktion der Aussage fraglich sind. Besagt V. 4 b , daß „das Volle" (d. i. je nach Standort des Interpreten die Intensität der Glieder, die Gesamtheit der Mischung oder auch das Objekt der Erkenntnis 2 1 1 ) das Erfassen bestimmt oder aber „das Mehr", das Uberwiegende der zwei für die Erkenntnis konstitutiven Elemente? Begründet die 208

209 210

211

Vgl. 31 Β 20,1 D K ( = 26,1 Wright) βροτέων μελέων. In 31 Β 30,1 ( = 23,1 Wright) bezeichnet ένί μελέεσσιν, wie im folgenden fr. Β 31 ( = 2 4 Wright) γυΐα, die Glieder des Kosmos. Ebenso 31 Β 35,11 ( = 47,11 Wright), μελέων φύσιζ, wie in Parm. Β 16,1, begegnet in Emped. Β 63 ( = 56 Wright) als ,Substanz der (menschlichen) Glieder'. Vgl. den Kommentar von Wright, S. 219. Schmitz Ursprung 7 4 - 8 0 . Analyse der verschiedenen Konstruktionsmöglichkeiten mit Belegen im folgenden Exkurs, Teil I. In der communis opinio meint „das Volle" die Mischung in ihrer Gesamtheit: der Mensch bzw. die Elemente bilden ein plenum, das je nach Zusammensetzung erkennt. Bei Schmitz (Ursprung 74 — 75, 78) ist „das Volle" der mehr oder weniger dicht gefügte „Gliederhaufen", wobei die Intensität seiner Mischung den Grad von Erkenntnis bestimmt. In Arbeiten, in denen Β 16 dem Aletheiateil zugewiesen wird (vgl. Anm. 213), fungiert τό πλέον qua das plenum des Seienden als Objekt der Erkenntnis (vgl. ζ. B. Gallop ed. Parmenides 87).

Β. Β 6,l a und Β 2 , 7 - 8

41

Aussage von V. 4 b die unmittelbar voraufgehenden V. 2 b —4a oder wie diese vielmehr V. l a - 2 a ? 2 1 2 Zu diesen schwierigen Problemen kommt nun noch eine neue Hypothese von Schmitz, der nach den früheren, nahezu ohne Resonanz gebliebenen Vorstößen von Loenen und Hershbell 213 mit anderen Argumenten erneut die Zugehörigkeit von Β 16 zum Doxateil bestreitet 214 . Damit würde sich ein Verständnis von τ ό πλέον als „das Mehr" natürlich von vornherein erledigen, weil das Fragment nicht mehr im Kontext der für die Doxa maßgeblichen Theorie von zwei Grundelementen zu interpretieren wäre. Nach Schmitz sollen die Verse bald nach dem Prooimion des Lehrgedichts gefolgt sein 215 . Theophrast habe ihre Aussage „gründlich mißverstanden": durch sein Zitat von Β 16 im Anschluß an einen Bericht über die parmenideische Wahrnehmungslehre, „offenbar aus verlorenen Partien des Doxateils", sind laut Schmitz die bisherigen Interpreten verleitet worden, das Fragment fälschlich der Doxa zuzuweisen 216 . Zum Theophrast-Bericht hat Laks in einem Aufsatz, der gleichzeitig mit Schmitz' Buch erschienen ist, eine genaue Analyse vorgelegt 217 : er folgt der traditionellen Zuordnung, stellt aber auch gewisse Unstimmigkeiten zwischen dem Referat und Β 16 fest. Es dürfte nach dieser Skizze zur Problematik von Β 16 klar sein, daß eine Aussage zum konstitutionsbedingten Noos vorerst nur ganz allgemein erfolgen kann. Immerhin wird auch nach den jüngsten Deutungen als kleinster gemeinsamer Nenner soviel akzeptiert sein, daß es hier um das Erfassen einer Pluralität von Seiendem durch den Noos geht, das je nach Konstitution der Glieder unterschiedlich ausfällt. Von είναι und οΰκ είναι wie beim schwankenden Noos ist in Β 16 offensichtlich nicht die Rede. Eine genauere Betrachtung des schwierigen fr. 218 muß einem Exkurs vorbehalten bleiben, wo dann über die Interpretation der umstrittenen V. 2 b — 4 b , die Zuverlässigkeit des Theophrast-Berichts und die Zugehörigkeit von Β 16 zum Doxateil

212

Bei letzterer Annahme würde es sich um den Fall „successive y ä p ' s have the same reference" (Denniston Greek Particles 64) handeln. 213 J. Η. Μ. Loenen, Parmenides, Melissus, Gorgias. A re-interpretation of Eleatic philosophy, Assen 1959, 5 5 - 5 9 . J. P. Hershbell, Parmenides' Way of Truth and Β 16, in: Apeiron 4, 1970, 1 - 2 3 . Positiv zu Hershbell äußert sich Gallop ed. Parmenides 22 mit Anm. 66. 214 Schmitz Ursprung 6 7 - 8 0 . 215 Ibid. 7 8 - 7 9 . 216 Ibid. 7 2 - 7 3 , die wörtlichen Zitate S. 73. 217 Laks, Parmenide dans Theophr. 2 6 2 - 2 8 0 . 218 Vgl. Gallop ed. Parmenides 87: „its meaning and position in the poem remain entirely problematic."

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1. Kapitel: Antithesen

zu handeln sein wird (unten S. 50 sqq.). Vorher aber sollen erst unsere Überlegungen über Irrtum und Wahrheit bei νόος und νοεΐν abgeschlossen werden.

(γ) Grade des Erfassens bei νόος und νοεΐν Β 6,4 —9 und Β 16,1—2 führen den νόος in zwei Formen vor Augen, in denen das Seiende nicht adäquat erfaßt wird. Demgegenüber bringt Β 6,1a in der hier vertretenen Auffassung, nämlich als Antithese zu Β 2,7 — 8, zum Ausdruck, daß mit Notwendigkeit das Mitteilen und Erkennen von Seiendem erfolgt219. Wie sich ein solches Erkennen vollzieht, erläutert Β 4: das Seiende wird, statt es in Aufsplitterung und Vereinzelung zu betrachten, als Ganzes in den Blick genommen. Die Zusammenschau der entfernten Dinge als fest gegenwärtig, wie sie Β 4 beschreibt, hat von Fritz mit Recht dem Verfahren von Β 16 gegenübergestellt220. Hier sei vorausgesetzt, daß Β 16 auch weiterhin dem Doxateil zuzurechnen ist221. Dann gilt, um eine wichdge Bemerkung von Schwabl zu den Ausführungen bei von Fritz zu zitieren, daß „der nous nicht an sich mit dem reinen Sein verbunden, sondern daß er der jeweiligen ,Realitätsform' verbunden ist, der er entspricht"222. Der νόος ist bei den nichts wissenden Sterblichen Β 6,4 sqq. in völligem Irrtum befangen, da sie die eine Realität nicht nur aufspalten, sondern darüber hinaus noch das Konzept des Nichtseins hineinbringen. Der νόος in der Doxa, der von der jeweiligen Mischung der Körperglieder und der sie konstituierenden Elemente abhängt, erfaßt die eine Realität in einer scheinhaften Weise, indem er sie in eine Pluralität von Seiendem aufspaltet. Allein wenn sich der νόος zum reinen Sein erhebt223, ist ein volles „Erkennen" gegeben: er sieht die eine Realität im Zusammenhang und in der Gegenwärtigkeit. νόος und νοεΐν sind demnach bei Parmenides auf vierfache Weise, in vier Aspekten ausgesagt:

219

220

221 222 223

Vgl. oben S. 6, 23. Diese Auffassung wird in den nachfolgenden Paragraphen d und e noch weiter erhärtet. von Fritz Die Rolle des voös 3 0 9 - 3 1 0 (B 4 noch nach der früheren Zählung der VS als Β 2 zitiert). Zu Β 4 im einzelnen siehe unten Kap. 2, Abschnitt D. Siehe dazu unten den Exkurs über Β 16, Teil III. Schwabl Anzeiger 1956, 1 3 7 - 1 3 8 . Ich zitiere noch einmal Schwabl a. a. O. 138 mit der entscheidenden Feststellung, „daß gerade der voüs-Begriff jenes dynamische Element enthielt, an dem .Aufstieg' zur reinen Realität und .Abstieg' zur Sonderexistenz darstellbar war."

Β. Β 6,1 a und Β 2 , 7 - 8

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(a) Die eine Realität wird voll in ihrem Zusammenhang „erkannt": όν. (b) Dieselbe Realität wird in der Doxa in δ ν τ α aufgespalten. (c) Sie wird bei den nichts wissenden Menschen des dritten Weges aufgespalten und qua οντα und μή δντα interpretiert. (d) Liegt gar keine Realität als Objekt vor, also im Falle des Nichts, kann ein Erkennen überhaupt nicht stattfinden (die Aussagen von Β 2,7 — 8; 8 , 8 - 9 etc., in denen νοεΐν oder γ ι γ ν ώ σ κ ε ι ν verwendet sind) 224 . Der mehrfache Aspekt, unter dem νόος und voeTv bei Parmenides auftreten können, löst die von Tugendhat und Barnes geäußerten Zweifel hinsichtlich νοεΐν als Erfolgsverb: es bestehen Grade bei νοεΐν und νόος, als deren idealer „Grenzfall" sich geistiges Erfassen als „Erkennen" des Seienden darstellt. (d) Die Bedeutungsbreite von νοεΐν und νόος und das Modell der sinnlichen Wahrnehmung Wenn „erkennen" der ideale Grenzfall des νοεΐν ist, so wird man, um allen Stellen mit νόος und νοεΐν gerecht zu werden, diese kognitive Bedeutung nicht durchgehend anwenden. Sie kann nur an Stellen des Aletheiateils sinnvoll sein: dort korrespondiert ja das positive νοεΐν von Β 6,1a denn auch einem negierten γ ι γ ν ώ σ κ ε ι ν (Β 2,7), und letzteres wird seinerseits durch άνόητον in Β 8,17 rekapituliert 225 . Als hauptsächliche Bedeutung des Verbs, die auch für andere Stellen passen würde, scheint „geistig erfassen" wohl am ehesten geeignet. Eine solche Bedeutung trägt dem Umstand Rechnung, daß „geistig erfassen" nur unter bestimmten Voraussetzungen ein mit Wahrheit verbundenes Erkennen ist. Sie bietet darüber hinaus auch den Vorteil, daß sie sowohl für geistiges Schauen oder Bemerken als auch für denkendes Erfassen oder Begreifen verwendet werden kann und damit die Bedeutungsskala von νοεΐν abdeckt. Die beiden gerade genannten Bedeutungen liegen in Β 8 , 7 b - 9 a nebeneinander vor. Dort folgen Verbindungen mit Termini des Sagens und Erfassens, wie sie auch in Β 2,7 — 8, Β 6,l a , Β 8,17 auftreten, in zwei Sätzen aufeinander, wobei der zweite den ersten begründen soll. Im Kontext 226 ist vorher die 224 225 226

Vgl. dazu oben S. 2 5 - 2 7 . Vgl. dazu oben S. 6, 23, 26. Analyse des gesamten Passus bei J. Wiesner, Die Negation der Entstehung des Seienden. Studien zu Parmenides Β 8 , 5 - 2 1 , in: Arch, für Gesch. der Philos. 52, 1970, 1 - 3 4 . Lösungsskizze S. 29.

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1. Kapitel: Antithesen

Frage nach dem Herkommen von Seiendem gestellt (B 8,6 —7a); die Göttin äußert nun gegenüber Parmenides: o u t ' έκ μή έόυτος έάσσω φάσθαι σ' ουδέ νοεΐν (Β 8,7 b - 8 a ) und untermauert dies mit den Worten: ού y ά ρ φατόν ούδέ νοητόν έστιν δπως ούκ εστί „denn weder mitteilbar noch erkennbar ist Nichtseiendes" (B 8 , 8 b - 9 a ) 2 2 7 . Im ersten dieser beiden Sätze übersetzen die meisten Interpreten νοεΐν mit „denken", „to think", „penser" 2 2 8 . Heitsch und Mansfeld, die das Verbum sonst durchgehend mit „erkennen" wiedergeben, verwenden hier „(erkennend) denken" 2 2 9 bzw. „verstehen" 2 3 0 . Es geht ganz offensichtlich nicht um ein intuitives Schauen oder Bemerken, sondern um ein denkendes Erfassen oder Begreifen. Sehr instruktiv ist in diesem Zusammenhang die Behandlung der Stelle bei Mansfeld in seinen beiden Editionen. E r übersetzt: „Ich werde nicht gutheißen, daß du sagst oder gar verstehst: ,aus Nichtseiendem'. Denn welche Verbindlichkeit könnte es [10] dazu veranlaßt haben, vom Nichts anfangend, sich an einem späteren oder früheren Zeitpunkt zu entwickeln?" 231 Nach Β 8,8 a fährt die Übersetzung also sogleich mit V. 9 b fort; Β 8 , 8 b - 9 a sind beide Male ausgelassen. Der Grund dafür dürfte sein, daß die Aussagen von V. 7 b —8a und V. 8 b —9a als tautologisch empfunden worden sind 2 3 2 . Diese Annahme erübrigt sich aber, sobald wir für diese Aussagen die beiden Aspekte von νοεΐν voraussetzen: „Ich werde dich ein Herkommen von Seiendem aus Nichtseiendem nicht aussprechen und nicht denken (begreifen) lassen, weil Nichtseiendes nicht (mit Erfolg oder sachhaltig) mitteilbar und erkennbar ist." Ausschluß des denkenden Erfassens oder Begreifens eines Entstehens aus Nichtseiendem, begründet durch die Unmöglichkeit eines Erkennens von Nichtseiendem: in beiden Bedeutungen bleibt für νοεΐν der passivrezeptive Charakter 233 noch gewahrt. Jedoch könnte ein „denkend erfassen" 227 v g i . d a 2 u oben S. 2 6 - 2 7 , bes. S. 26 zur Wiedergabe von δπωξ ούκ εστί. 228

Einige neuere Stimmen: „denken": Hölscher ed. Parm. 21, Bormann Parm. 41. „to think": Tarän Parm. 85, Mourelatos Route 98, Barnes Presocr. Philos. 178 (Nr. 156), Gallop ed. Parm. 65. „to think/penser": O'Brien — Frere Etudes I 35. „penser": Cordero Les deux chemins 38. Couloubaritsis Mythe et philos. 371.

Heitsch ed. Parmenides 27. Mansfeld ed. Parmenides 11, ed. Vorsokratiker 319 (Nr. 11). Vgl. Coxon Fragments 64: „to conceive". 2 3 1 Mansfeld ed. Parmenides, ed. Vorsokratiker a. a. Ο. 2 3 2 Diesen Eindruck vermitteln die meisten Anm. 228 genannten Übersetzer, die Β 8,8 φάσθαι, νοεΐν bzw. φατόν, νοητόν gleichwertig wiedergeben (beide Male mit demselben Verbum oder mit denken/denkbar, to think/thinkable, penser/pensable). Bei Hölscher ed. Parm. 21 und Coxon Fragments 64 ist eine Tautologie nur durch eitlen m. E. unberechtigten Zusatz in Β 8,9" vermieden: „daß (etwas) nicht ist", „that anything is not". Für δπωξ ούκ εστί sei nochmals auf das oben S. 26 Gesagte verwiesen. 233 Ygi ( j a z u 0 b e n s. 25. 229 230

Β. Β 6,1° und Β 2 , 7 - 8

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oder „erkennend denken" bereits den Übergang zu einem Bereich andeuten, den K. von Fritz als zweite Aufgabe des νόος bei Parmenides genannt hat: das diskursive Denken mit Urteilen und Schlüssen. Wir kommen später (unten S. 237 ff.) auf diese wichtige Feststellung zurück, um sie gegen neueren Einspruch zu verteidigen. Man hat immer wieder darauf hingewiesen, daß νοεΐν als geistiges Schauen und Erfassen analog zum sinnlichen Wahrnehmen konzipiert worden ist 234 . Daß bereits das homerische Epos die Funktion des νόος kennt, hinter dem sinnlich Erfaßten einen Tatbestand in seiner wahren Gegebenheit zu durchschauen', und damit eine Vorstufe für die bei Parmenides vorliegende Konzeption bietet, ist bei von Fritz dargelegt worden. „Jede volle Erkenntnis einer Situation" — so formuliert er für Homer — „schließt eine geistige Schau ein, die nicht nur tiefer dringt, sondern auch ,weiter sieht', sowohl räumlich wie zeitlich, als unsere Augen", um sogleich festzustellen, daß die Uberwindung der Enge und Beschränktheit, wie sie dem sinnlichen Wahrnehmungsakt eignet, ebenso für den νόος bei Parmenides gilt 235 . Daß das Modell der sinnlichen Wahrnehmung für υόος und νοεΐν als geistiges Erfassen maßgeblich gewesen ist, zeigen bei Parmenides und bei seinen unmittelbaren Vorgängern und Nachfolgern die wiederholten Verbindungen dieser Termini mit Verben der Sinnestätigkeit, vor allem des Sehens. Hierfür sei nur an Xenophanes Β 24 ούλος όρα, ούλος δέ νοεί, ούλος δ' άκούει 236 , an Parm. Β 4,1 λεϋσσε ... νόω 2 3 7 und Empedokles Β 17,21 νόω δέρκευ erinnert. Dieses Modell der sinnlichen Wahrnehmung ist wichtig im Hinblick auf die grammatische Konstruktion von νοεΐν. Das Objekt von νοεΐν wird in Parallelität zum Objekt von Wahrnehmung aufgefaßt: man schaut, erfaßt, erkennt etwas, wie man etwas sieht, etwas hört, etwas berührt. Anders gesagt, es geht nicht um Sachverhalte, die mit einem daß-Satz ausgedrückt würden, sondern eben um Erkennen von Seiendem, wie man eine Farbe sieht oder einen Ton hört. Dies erklärt, daß νοεΐν grammatisch üblicherweise den einfa-

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235 236

237

von Fritz Die Rolle des νοϋξ 265 sqq. Heitsch Gegenwart und Evidenz 25, 29. Heitsch ed. Parmenides 9 9 - 1 0 0 . Tugendhat Sein und Nichts 141 - 1 4 2 . Ricken Philosophie 38. von Fritz Die Rolle des υοΰς 272 (mit Verweis auf Β 4,1 in Anm. 92). Dies hier von dem einen Gott Ausgesagte kehrt in derselben Trias, freilich in negierter Form und auf die Menschen bezogen, bei Emped. Β 2,7 — 8 wieder: ο ύ τ ω ; οΰτ' έτπδερκτά τ ά δ ' άνδράσιυ οΰτ' έττακουστά ούτε νόω περιληπτά. Vgl. von Fritz Die Rolle des νοΟς 289 290, 322. Dieselbe Verbindung, wobei freilich νοεΐν durch ein anderes Verbum ersetzt ist, bei Melissos Β 8,2 vüv δέ φαμεν όρθώς όραν και άκούειν και συνιέναι (vgl. Β 8,3 συμβαίνει μήτε όραν μήτε τ ά δντα γινώσκειν). Die verschiedenen Deutungen des Verses werden im folgenden behandelt.

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1. Kapitel: Antithesen

chen Akkusativ bei sich hat 2 3 8 . Tugendhat, dessen Ausführungen wir hier folgen 2 3 9 , hat weiter betont, daß Parmenides die Termini des Sagens (λέγειν, φάναι etc.), die er mit νοεΐν verbindet, in ihrer Struktur an dieses Verbum angleicht und damit in ihrem Bedeutungsumfang einschränkt: ihre Parallelisierung mit νοεΐν qua „anschauen" im Sinne eines schlichten Vorsichhabens habe bewirkt, daß Strukturen des Sagens, die über ein bloßes Aussagen des Objekts („etwas aussagen") hinausgehen („etwas als etwas aussagen"), unberücksichtigt geblieben seien 2 4 0 . D a s Modell der sinnlichen Wahrnehmung, nach dem die Verben des Erfassens konzipiert sind, hat somit bei Parmenides nicht allein deren grammatische Konstruktion mit einfachem Akkusativobjekt bestimmt. E s hat darüber hinaus bei ihm dazu geführt, daß auch die mit νοεΐν verbundenen Verben des Sagens, unter Verfehlung ihrer Struktur, in dieser Weise konstruiert sind. Wir nehmen diese Einsichten von Tugendhat gern auf, bestätigen sie doch die hier vertretene Auffassung für Β 6,1 a : έόν als Akkusativobjekt zu λέγειν und νοεΐν, in Antithese zu τ ό γ ε μή έόν als Objekt von γνοίης und φράσαις in Β 2,7 — 8.

(e) Unmöglichkeit und Notwendigkeit: ού ... άνυστόν und χ ρ ή Ein letztes Argument für die gedankliche Antithese in Β 2 , 7 - 8 und Β 6,1 a lautet, daß sich dann — wie schon in Β 2,3 und 2,5 — Ausdrücke der Unmöglichkeit und Notwendigkeit gegenüberstehen. Wie in Β 2,3 und 2,5 ούκ εστι und χρεών έστι, korrespondieren hier oü ... άνυστόν und χ ρ ή miteinander. Diese Korrespondenz ist erstaunlicherweise bis heute unbemerkt geblieben. Ursache dafür dürfte sein, daß nahezu stets mindestens einer der Ausdrücke nicht in der Weise verstanden wurde, die der Erhellung des Bezugs förderlich gewesen wäre. Für οΰ γ ά ρ άνυστόν findet man zwei unterschiedliche Ubersetzungstypen vor. Die Mehrheit der Interpreten sucht dem zugrundeliegenden Verbum

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Von der Variante dieser Konstruktion in Β 8,9 a (Substantivsatz ötroos ούκ εστι anstelle von τ ό μή Ιόν, wie es in Β 2,7 Objekt zu „erkennen" ist) war schon mehrfach die Rede, vgl. zuerst o b e n S. 26. Tugendhat Sein und Nichts 140—143. Er macht darauf aufmerksam, daß Piaton Theaet. 188 D - 1 8 9 Β in diesem Sinne Vorstellen (δοξάζειυ) mit Sehen, Hören, Berühren parallelisiert - in einem Passus, der thematisch zu der auf Parmenides bezüglichen Stelle im Sophistes 237 A - E enge Berührungen aufweist. Tugendhat Sein und Nichts 141.

Β. Β 6,l a und Β 2 , 7 - 8

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ά ν ύ ω möglichst nahezubleiben und formuliert: „das ist ja unausführbar" 241 , „denn das ist unvollziehbar" 242 , „denn das läßt sich nicht verwirklichen" 243 , „for it cannot be consummated" 244 , „for it is not accomplishable" 245 , „for that is not feasible" 246 o. ä. Diese Wiedergabe läßt eine Korrespondenz zu χρή nicht hervortreten. Anders bei der Ubersetzung von oü y a p ά ν υ σ τ ό ν im Sinne von „denn das ist unmöglich" 247 . Für diesen Gebrauch lassen sich unter den Belegen, welche Kranz' Index aus anderen philosophischen Texten des 5. Jh. aufführt, drei Parallelen benennen: Melissos Β 2, Β 7,3 und Anaxagoras Β 5 2 4 8 . Die erste dieser Stellen muß in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse sein, denn 30 Β 2 und 3 bieten ebenfalls ο ύ γ ά ρ ... ά ν υ σ τ ό ν und χρή nebeneinander. Melissos folgert in Β 2 aus der zeitlichen auf die räumliche Unbegrenztheit des Seienden 249 . Er formuliert zunächst seine Position: (A) „Da es nicht geworden ist 250 , sondern ist und immer war und immer sein wird 2 5 1 , hat es auch keinen (räumlichen) Anfang und Abschluß, sondern ist unbegrenzt" (DK I 268,9 — 269,1). Diese Position wird nun, von deren Gegenteil ausgehend, wie folgt erwiesen: (Bj) „Denn wenn es geworden wäre, hätte es einen (räumlichen) Anfang und Abschluß, denn es hätte irgendwann angefangen bzw. aufgehört zu werden" (DK I 269,1—3). (B2) „Da es aber weder anfing noch aufhörte (sc. zu werden), sondern immer war und

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DK I 231. „denn es ist unausführbar" o. ä.: Klowski Entstehen 226. Bormann Parmenides 33. Mansfeld ed. Parmenides 7, ed. Vorsokratiker 317 (Nr. 6). An DK anschließend Schmitz Ursprung 155, der Anm. 182 mit Verweis auf Kühner-Gerth II 330 — 331 (adverbiales γ ά ρ zur nachdrücklichen Hervorhebung eines Gedankens als augenfällige, bekannte Tatsache) für „ja" statt „denn" plädiert. Bisherige Übersetzungen mit „denn" bedeuten nun freilich keineswegs, daß der Autor in oü γ ά ρ ά ν υ σ τ ό ν eine wirkliche Begründung gesehen hat: dies zeigt ζ. B. Klowski, der so übersetzt (vgl. oben), aber die Worte als „emphatische Nebenbemerkung" ohne „argumentative Kraft" des γ ά ρ versteht (Grundlegung 106). Hölscher ed. Parmenides 17. Heitsch ed. Parmenides 15. Mourelatos Route 75. Barnes Presocr. Philos. 157. Gallop ed. Parmenides 55. Cordero Les deux chemins 107 — 108 plädiert zwar richtig für die Wiedergabe „impossible"; doch mußte ihm der Bezug auf χρή von vornherein entgehen, weil er die Funktion von oü γ ά ρ ά ν υ σ τ ό ν nicht korrekt bestimmt hat (dazu gleich oben im Text). Kranz in: DK III 55 s. ν. ά ν ύ ω . Cordero a. a. O. zieht für ούκ ά ν υ σ τ ό ς qua „unmöglich" auch Diogenes von Apollonia Β 3 und Demokrit Β 279 heran, die aber m. E. keine zwingenden Parallelen sind: für sie würde auch die andere Ubersetzung „durchführbar" passen. Zu dem kontrovers diskutierten Fragment vgl. Wiesner Ps.-Aristoteles MXG 68 — 83. Wie in Β 1 gezeigt. Gegen die Übersetzung bei DK I 268 fasse ich ε σ τ ι te και άει ή ν και άει εσται noch als Teil des ότε-Satzes; mit και ά ρ χ ή ν ούκ εχει beginnt die Apodosis. Vgl. die folgende Anm.

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1. Kapitel: Antithesen

immer sein wird, hat es keinen (räumlichen) Anfang und Abschluß" ( D K I 269,3 —5) 2 5 2 . (B 3 ) „Denn unmöglich kann immerdar sein, was nicht ganz (allumfassend) ist" ( D K I 269,5 - 6) 2 5 3 . In dieser Argumentation spielt das Zusammenfallen des zeitlichen und räumlichen Anfangs und Abschlusses eine Rolle. Werdendes hätte demnach zeitliche und räumliche Grenzen, Ungewordenes kann sie nicht haben: denn ewig (άεί) und ganz, allumfassend (παν) bedingen sich wechselseitig, das eine ist ohne das andere unmöglich, παν deckt sich dabei mit άπειρον, wie schon die Paraphrase zu Melissos bei M X G 9 7 4 a 9—11 bezeugt: άίδιον δέ öv άπειρον είναι, δτι ουκ εχει άρχήν δθεν έγένετο, ούδέ τελευτήν εις δ γιγνόμενον έτελεύτησέ ποτε. παν δέ και άπειρον δν είναι κτλ. 2 5 4 Was nun im Schlußsatz von 30 Β 2 (ού γάρ άνυστόν άεί είναι ό τι μή παν εστί) negativ ausgedrückt ist, formuliert Β 3 (άλλ' ώσπερ εστίν άεί, ούτω και τό μέγεθος άπειρον άεί είναι) positiv: „Aber wie es immerdar ist" (d. h. keine zeitlichen Grenzen hat), „so muß es auch der Größe nach stets unbegrenzt sein." In negativer und positiver Entsprechung stehen sich hier ού . . . άνυστόν und χρή zum Ausdruck der Unmöglichkeit und der Notwendigkeit gegenüber. Ganz entsprechend das Gegenüber bei Parmenides Β 2,7 und Β 6,1*. Die Parallele bei Melissos spricht dafür, auch an diesen Stellen ού ... άνυστόν und χρή in der Bedeutung der Zwangsläufigkeit im negativen bzw. positiven Sinne zu fassen. Für χρή bestätigt dies die Interpretation von Heitsch 2 5 5 , der somit zu Recht Deutungen zurückgewiesen hat, die den Ausdruck in Β 6,1 a als Gebot der Göttin 2 5 6 oder als allgemeines Postulat 2 5 7 verstanden haben. Da wie die anderen aber auch Heitsch die Korrespondenz von ού . . . άνυ-

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S. 269,4 gehört άεί τε ήν και άεί εσται noch zum δτε-Satz. S. 269,5 ist nicht mit Kranz zu ergänzen. Bei dieser Interpretation wird die Struktur von Β 2 ganz durchsichtig. Die jeweilige Apodosis, nämlich in (Α) καϊ άρχήν οΰκ εχει bis άπειρον έστιν, (Β]) άρχήν άν είχεν . . . και τελευτήν, (Β 2 ) οΰκ εχει άρχήν καϊ τελευτήν enthält stets die räumliche Aussage. Alles übrige, was zur jeweiligen Apodosis als Begründung oder Bedingung erscheint, gibt die zeitlichen Aussagen wieder: (Α) ότε τοίνυν . . . bis άεί εσται, (Bj) εί μέν γ ά ρ έγένετο sowie ήρξατο γ ά ρ . . . bzw. έτελεύτησε γ ά ρ άν ποτέ γινόμενον, (Β 2 ) ότε δέ . . . bis άεϊ εσται. M X G spricht damit gegen gelegentliche Vorschläge (ζ. Β. bei Loenen Parmenides 149 — 150), die den Schritt von der zeitlichen zur räumlichen Unbegrenztheit erst in Β 3 sehen und für Β 2 eine rein zeitliche Argumentation voraussetzen: damit geriete Β 2 zu einer langatmig sich wiederholenden Darlegung. Heitsch Gegenwart und Evidenz 47. Mansfeld Offenbarung 90. Ebenso Songe-Möller Zwiefältige Wahrheit 50, 52, 144 Anm. 38. S. 52: lautet das Gebot der Göttin: Insofern Seiendes ist (εστίν γ ά ρ είναι), muß es (oder soll es: χρή) · · · wahrgenommen . . . werden." Frankel Dichtung und Philosophie 2 4 0 4 („es ist erforderlich").

Β. Β 6,1* und Β 2 , 7 - 8

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στόν und χρή nicht bemerkt hat, bleibt in seiner sonst vollständigen Liste 258 von positiven und negativen Ausdrücken der logischen Folgerichtigkeit ουκ άνυστόν nachzutragen. Die Parenthese ού γ ά ρ άνυστόν ist jüngst mehrfach allein mit dem Ausdruck τό ye μή έόν verbunden worden. Diese Auffassung von Β 2,7 — 8 vertritt Cordero, wie aus seiner Paraphrase „on ne peut penser ni mentionner ce qui n'est pas parce que ce qui n'est pas est impossible" und der dann folgenden Ubersetzung „tu ne connaitras pas ce qui n'est pas (ou le nonetre), car (ce qui n'est pas, ou le non-etre) est impossible, et tu ne le mentionneras non plus" eindeutig hervorgeht 259 . Auch O'Brien —Frere beziehen in ihren Ubersetzungen in dieser Weise: „En effet, le non-etre, tu ne saurais ni le connaitre — car il n'est pas accessible — ni le faire comprendre" bzw. „For you could hardly come to know what is not — for