Ovid. Dichter und Mensch [Reprint 2021 ed.]
 9783112582107, 9783112582091

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D E U T S C H E A K A D E M I E D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N SCHRIFTEN

DER

SEKTION

FÜR

ALTERTUMSWISSENSCHAFT

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OVID DICHTER UND M E N S C H

VON

FRANZ STOESSL

AKADEMIE-VERLAG-BERLIN 1959

Gutachter dieses Bandes: Franz Dornseiff und Johannes Irmscher

Redaktor der Reihe: Johannes Irmscher Redaktor dieses Bandes: Gudrun Gomolka

Alle Rechte vorbehalten Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 1, Leipziger Str. 3 — 4 Copyright 1959 by Akademie -Verlag GmbH, Berlin W 1 Lizenz-Nr. : 202 . 100/184/59 Bestellnummer: 2067/20 Gesamtheratellung: Druckhaus , .Maxim Gorki". Altenburg Printed in Germany ES 7 M

Am 20. März 43 v. Chr. wurdeP. Ovidius Naso geboren. 1958, im Jahre der zweitausendsten Wiederkehr dieses Geburtstages, feiert seine Heimat Italien und mit ihr die ganze gebildete Welt Ovid als einen der vielseitigsten und vielschichtigsten, aber auch der wirkungsreichsten Dichter der römischen Antike. Im folgenden soll — als ein Beitrag zum Gedenken in diesem Jahr 1 — weniger eine Interpretation einzelner Gedichte denn eine Betrachtung des Gesamtwerkes und des Lebensganges versucht werden, der eine solche bunte Vielfalt zeitigte.2 Den ersten Blick auf den noch sehr jugendlichen, auf den Rhetorenschüler Ovid gewähren uns die — viel später aufgezeichneten —Erinnerungen eines jüngeren Zeitgenossen, des M. Annaeus Seneca, Vaters des berühmten Philosophen.3 Noch dem 90jährigen Rhetor war die Behandlung eines bestimmten rhetorischen Themas durch den nachmals so berühmten Dichter im Gedächtnis. Schon das Thema charakterisiert Ovid: „Gatte und Gattin schworen einander, wenn einem von ihnen etwas zustieße, würde der andere 1

Nach einem Vortrag. An Literatur seien dankbar vor allem die in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten allgemeinen Charakters genannt: W. KRAUS, Art. Ovidius Naso,. R E 18, 2, 1942; L. P. WILKINSON, Ovid recalled, Cambridge, Univ. Press 1955; H. FRANKEL, Ovid, a poet between two worlds, 2. Aufl., Univ. of California Press 1956. 2

Erst nach Vollendung der vorliegenden Arbeit gelangte S. MARIOTTI, La carriera poetica di Ovidio, Belfagor XII, 1957, 609—635 zu meiner Kenntnis. Trotz Ähnlichkeiten der Zielsetzung bleiben die Berührungspunkte gering an Zahl. 3

Sen. Rhet. Contr. II 2.

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seinem Leben ein Ende machen. Der Mann reist ins Ausland und schickt einen Boten an die Frau mit der Meldung, er sei dahingegangen. Die Gattin stürzt sich in die Tiefe. Sie erholt sich aber und erhält von ihrem Vater den Befehl, sich von ihrem Gatten zu trennen. Da sie nicht will, wird sie verstoßen und enterbt." 4 Ovid sprach in der fingierten Gerichtsverhandlung zur Verstoßung und Enterbung in der Rolle des jungen Ehegatten. Seneca teilt die Glanzpartien dieser Rede wörtlich mit und stellt die Leistung Ovids viel höher denn die des „Professors" Arellius Fuscus über den gleichen Fall. Schon die Übung des Schülers läßt wie in der Knospe die spätere Blüte Ovid erkennen: Das menschliche Urphänomen Liebe beherrscht sein Denken so vollständig, daß es ihm alle anderen Blickrichtungen zu verschließen scheint; an dem konkreten Fall interessieren ihn nicht etwa juristische Fragen, sondern ausschließlich das rein Menschliche; während ihm dazu Gedanken, Beziehungen, Sentenzen, Antithesen, Pointen in schier unerschöpflicher Fülle zufliegen, scheint sich das gedankenstrenge Gerüst eines scharfen und folgerichtigen Aufbaues zu verdünnen, ja ganz zu verschwimmen. Was uns aber für diese Altersstufe Ovids als das wesentliche erscheint: Die rhetorische Aufgabe, sich in eine andere Person zu versetzen, zu sprechen aus einem Anderen heraus, gewissermaßen durch eine vorgenommene Maske, scheint ihm durchaus kongenial; mit sichtlicher innerer Freude und Anteilnahme agiert er den liebenden jungen Gatten vor Gericht. Der hinreißende Schwung seiner Deklamation machte auf den Zuhörer Seneca einen so gewaltigen Eindruck, daß sich noch der 90jährige dieser Rede erinnerte. Diese Schule, von deren Methoden und Zielen das gehörte Beispiel einen Begriff geben kann, bedeutete für Ovid unendlich viel, wahrscheinlich mehr als für irgendeinen anderen Dichter der 4

Das Thema basiert auf griechischem, nicht römischem Recht (W. K U N K E L

bei H. FRÄNKEL, a. O . 172, A n m . 1 1 ) , muß also aus dem Betrieb der griechischen Rhetorenschule in den der römischen übergegangen sein.

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antiken Welt: In ihr fand sein Igenium die ihm adaequate und kongeniale Ausbildung, durch die es zur reichsten, ja raffiniertesten Blüte entwickelt wurde. Sie ließ ihm als Ausdrucksmittel eine Sprache von höchster Wendigkeit und Musikalität erwachsen, und sie lehrte ihn das Sprechen oder Schreiben aus fremder Person heraus: Das sich einerseits vollkommene Einfühlen, anderseits doch frei, ja Uberlegenbleiben, die Fähigkeit, sich in seinen Figuren einerseits ausdrücken, anderseits hinter ihnen verbergen zu können. Gleichzeitig mit dem Rhetor wuchs in Ovid der Dichter heran; rückschauend schildert der Alternde dieses Doppelantlitz seiner Knabenjahre in seiner Selbstbiographie.6 Kein jäher Bruch in seiner Entwicklung, sondern beide geistigen Kräfte bestehen nebeneinander. In allmählichem, organischem Wachstum erstarkt die dichterische immer mehr, bis sie die rhetorische ganz überdeckt und in sich aufgenommen hat. Die Rhetorenschule sollte — auch nach dem Wunsche von Ovids Vater — zur Staatskarriere führen. Inzwischen aber war der Rhetor zum Dichter geworden. Ovid ging zwar noch die ersten Schritte der niederen Ämterlaufbahn, aber innerlich war seine Entscheidung schon anders gefallen. Er trat aus dem Staatsdienst zurück, um sich ganz dem Dichterberuf zu widmen.6 Zittert in diesen Versen überhaupt die Schwere eines inneren Ringens nach, das der Jüngling in seiner Lebensentscheidung zu bestehen hatte, oder war ihm sein Schritt als natürliche Konsequenz seines Wachstums schon selbstverständlich? Ein Bedauern über die Entscheidung läßt sich weder hier noch je in seinen Gedichten vernehmen. Das Phänomen Liebe blieb das große, zentrale Thema Ovids, auch als sich aus dem deklamierenden Knaben der Dichter entwickelt hatte, ja dieses sein Hauptinteresse hat vielleicht die Hinwendung 5 6

T r i s t . I V io, 15—26.

Trist. I V 10, 3 5 ff. Die weit über das Persönliche hinausgehende Bedeutung dieses Entschlusses zeigt E . T . SALMON, S. M . P. E . , Ovidiana, hrsg. von N . S. Herescu, Paris 1958, 3 ff.

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zur Dichtung wesentlich mitbestimmt. Früh stand er in Beziehung zu M. Valerius Messalla und seinem Kreis von Dichtern erotischer Elegien: Tibull, Lygdamus, Sulpicia. Auch die Elegienbücher des S. Propertius, mit dem ihn persönliche Freundschaft verband, entstanden und erschienen in der Zeit der Lebenswahl Ovids.7 Er nahm regen Anteil am allgemeinen literarischen Betrieb der Zeit, fühlte sich aber im besonderen als Glied jener Dichterreihe, die die erotische Elegie zu ihrer Höhe geführt hatte: Cornelius Gallus, Tibull, Properz.8 Seine eigene Produktion von erotischen Elegien, Amores, 9 wuchs schnell auf den Umfang von fünf Büchern10 an und brachte ihm großen Erfolg. Ovid steht zwar in der Tradition der erotischen Elegie und setzt sie fort, entfaltet aber gleichwohl in der überkommenen Form seine durchaus eigenwillige Dichterindividualität.11 Uns scheint seine Arbeitsweise am besten etwa aus einem Gedicht wie Am. I 6 zu erhellen. Die Tradition: Der Liebhaber, der in Nacht und Kälte vergeblich vor der Tür des geliebten Wesens um Einlaß fleht, war längst auch Gegenstand kunstmäßiger Dichtung geworden. Wir können die Geschichte des Paraklausithyrons an einer Reihe von Beispielen von Alkaios an (Fr. 65 D) über Aristophanes, Eccles. 9 5 2 Ì F . TheokritlII, Ps. Theokrit XXIII, Tebtunis Pap. 18 ff., An Alexandrian erotic fragment, ed.B. P.GRENFELL, Oxford 1 8 9 6 , einer 7

Trist. I V 10, 45 f.

8

Trist. I V 10, 51 ff.

9

D e r Titel ist bezeugt: Ars III 343.

10

A m . I I,I ff. (Überschrift der 2. Ausgabe.)

u

E . REITZENSTEIN hat das Neuartige der ovidschen ,Amores' an der

Interpretation vor allem der programmatischen Einleitungsgedichte zu den einzelnen Büchern dargelegt (Das neue Kunstwollen in den ,Amores' Ovids, R h M u s 84, 1935, 6 2 f f ) , E . B U R C K , die Traditions- und Genosverbundenheit der .Amores' in den Blickpunkt seiner Betrachtung gerückt (Römische Wesenszüge in der augusteischen Liebeselegie, Hermes 80, 1952, 163—200). Das rhetorische Element der Amores beleuchtet besonders P. T R E M O L I (Influssi retorici e ispirazione poetica negli „Amores di O v i d i o " . Università die Trieste, Fac. di Lettere, Ist. di Filologia Class. 1, 1955).

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Reihe hellenistischer Epigramme, Plaut. Curculio i ff., Horaz III 10, Tib. I 2, Prop. I 16 bis auf Ovid und noch spätere griechische Epigrammatiker verfolgen.12 Der Situation haftet naturnotwendig ein komischer Zug an; und doch haben die Dichter gerade in ihr meist wahres und tiefes Gefühl gestaltet, ja sie wohl oft als halb lachende, halb schmerzliche Maske zur Aussage ihres Eigenen verwendet. Zuletzt, wohl kurz vor Ovid, hatten Tibull (I 2) und Properz (I 16) mit der Form gespielt; ihnen stellte Ovid sein Paraklausithyron gegenüber. Wie einst der Rhetorenschüler das Thema seiner Deklamation bekam und bearbeitete, so macht sich jetzt der Dichter an ein fertiges dichterisches Thema: Paraklausithyron. Anders als seine Vorgänger hebt Ovid das Lächerliche der Situation gerade durch die unmittelbare Gegenwärtigkeit der Ich-Rede hervor. Tibull hatte erzählt, daß seinem Mädchen strenge Bewachung gesetzt worden sei (I 2,5); das konkretisiert Ovid zu einem Ianitor, der hinter der Türe gedacht wird und an den sich die Rede des Liebhabers richtet (Am. I 6, 1 ff.). Ist so die Szene gegeben, stellen sich die heiteren Gedanken wie von selbst ein. Nur etwas Winziges verlangt er von dem Ianitor (I 6, 3 quodprecor, exiguum est): Nur einen Spalt weit soll die Türe geöffnet werden, um ihn so, seitlich durchgedrückt, aufzunehmen; die lange Liebe hat seinen Körper schon zu solcher Übung dünn gemacht (I j). Tibull hatte von dem Schutz gesprochen, den Venus dem Liebenden in den Gefahren der Nacht angedeihen läßt (12,25ff.); das konkretisiert Ovid mit witziger Wirkung: Einst habe er sich in der Nacht gefürchtet, dann aber habe er gehört, wie Venus und Amor über ihn gelacht hätten, wie Amor auch ihm Mut prophezeit habe — und als dann wirklich die Liebe über ihn gekommen sei, habe er nichts mehr gefürchtet (I 6, 9 ff). 12

Vgl. E . BüRCK, Das Paraklausithyron, Gymnasium 43,19 3 2,186 ff.; P. M a a s , Paraklausithyron, R E ; zu Ovid I 6: T r e m o l i a. O. 24fr.; K . VRETSKA, Über das Paraklausithyron Tibulls (unter Verarbeitung älterer Literatur), Wiener Studien 68, 1955, 2off.

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So fürchtet der Verliebte nur mehr die Langsamkeit des Ianitor: Tu, me quo possis per dere, fulmen habes (15 f.). Der Türhüter möge öffnen, nur um zu sehen, wie naß schon die Türe von den Tränen des Flehenden geworden sei (17L). Alles Bitten bleibt vergeblich, da wird dem Liebhaber plötzlich klar: vielleicht hat der Ianitor selbst eine Freundin bei sich; Dummodo sie, in me durae transite catenae (47). Noch schwankt die Handlung eine Zeit lang zwischen Hoffen und Enttäuschung, zwischen Zorn und Ergebung hin und her (49 ff), bis der Liebhaber am Morgen den Kranz von seinem Haupte nimmt und auf die Schwelle wirft und sich unverrichteter Dinge von Türhüter und Türe verabschiedet (65 ff.). Ovid übersteigert hergebrachte Motive: offenkundig geht es ihm viel mehr um den Humor und die Ironie als um das Leid der Situation. Natürlich ist auch das „Ich", das hier den Ianitor vergeblich anfleht, nicht Ovid selbst, sondern bloß Fiktion — so wie der junge Ehemann in der Schuldeklamation: Maske, hinter der sich der Dichter verbirgt, nicht Symbol, in dem er sich ausspricht. Was in der Schuldeklamation höchstens vorbereitend angelegt war, ist hier offenkundig geworden: Ovid spottet, indem er Leidenschaft mimt. Maske wie das „Ich" dieser Elegien ist auch die Geliebte, der so viele von ihnen gelten: Corinna. Ein kontrapostisch aufeinander bezogenes Elegienpaar beweist es zur Genüge: (II 7 und II 8.) Wehrt sich in dem ersten der beiden Gedichte das „Ich" mit überzeugenden Gründen gegen den eifersüchtigen Verdacht Corinnas auf ihre Zofe Cypassis, so lädt, ja zwingt es in dem zweiten dieselbe Cypassis, mit der es sich natürlich schon vorher eingelassen hat, zu neuem Stelldichein. In den beiden Reden komponiert Ovid ein humorvolles Ganzes, zwei heitere Szenen, lebhaft und gegenständlich. „Der Ungetreue leugnet seinen Seitensprung mit der Zofe" und: „Der Ungetreue überredet die Zofe aufs neue." Es ist wieder, als behandle der Dichter gestellte Themen, wie es einst der Dekla-

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mator in der Schule getan hatte.13 Ovid stellt sich selbst in diesem Gedichtpaar ebensowenig dar wie in dem Paraklausithyron. Fiktion wie die Personen sind auch die Situationen. Einmal behandelt O v i d das erotischer Poesie so oft gestellte Thema: Die Liebesstunde (I 5). Catull hatte mit genialer Frische und Unmittelbarkeit aus der überwältigenden Macht seines Erlebens heraus gestaltet (c. 5 u. 7), Properz die rixae einer Liebesnacht dunkel angedeutet (II 15); O v i d schildert genießerisch-konkret, gleichsam hüllenlos die Szene am heißen Mittag, bei halbgeschlossenen Fensterläden, in einem Halbdunkel wie dem des sommerlichen Waldes (I 5).14 Der Dichter hat, wie einst derDeklamator, seineAufgabe glänzend gelöst. W i r konnten das menschliche und künstlerische Wachstum Ovids v o m Rhetorenschüler zum Dichter, von der Stilgewandtheit feingedrechselter Tiraden zu lächelnder Ironie und Humor verfolgen. A b e r der Dichter der ,Amores' entwickelte sich weiter, sein eigenes poetisches Wachstum über die erotische Elegie hinaus wurde ihm zum Problem und zeitigte Gedichte, die nicht mehr von außen gestellte Themen neu und geistreich abhandelten, sondern Neues, Eigenes unmittelbar gestalteten: Die Einleitungsgedichte der auf uns gekommenen zweiten, auf drei Bücher reduzierten Ausgabe 1 1 , II 1, III 1, 15 oder etwa das erste für die zweite Ausgabe gedichtete II 18. A m charakteristischsten erscheint uns wohl eines der letzten Gedichte der ersten Ausgabe. 16 Idyllische Landschaft als Szenerie: Hochwald, eine heilige Quelle, eine Höhle, V ö g e l singen rings. Dort spaziert Ovid — das e g o bedeutet nicht Maske, sondern den Dichter selbst (I 5)! — und sucht zu ergründen, wohin ihn Zur Interpretation des Gedichtpaares vgl. TREMOLI a. O . 32fr. Zur Interpretation dieser Gedichte vgl. F. STOESSL, Die Kußgedichte des Catull und ihre Nachwirkung bei den Elegikern, Wiener Studien 63, 1948, 13

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102 ff. Diese drei Gedichte legt E. REITZENSTEIN seiner schon genannten Untersuchung zugrunde. 1 8 Zur Chronologie vgl. KRAUS a. O. 1922. Zur Interpretation vgl. auch 15

REITZENSTEIN a. O . 8 1 ff.

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seine Muse treibe. Zunächst erscheint ihm die Elegia als Person17 (7 ff.), gepflegtes Äußere, Schönheit, hauchdünnes Gewand, Antlitz einer Liebenden — aber eines ihrer Beine war länger (so wie die beiden Verse des Distichons ungleich sind); selbst dieser Mangel war ein Vorzug (10). Es kommt aber auch die Tragödia als Person ( u f f ) ; gewaltigen Schrittes, das Haar in der wilden Stirn, der Mantel bis zum Boden, Königsszepter in der Linken, lydischer Kothurn an den Füßen. So sieht sich Ovid, der Dichter, als eine Art heiteren Herakles am Scheidewege, von zwei kontrastierenden Dichtungsarten umworben, wie Heraides von Tugend und Laster. In dem Streitgespräch der Göttinnen (15—60) zieht die Tragödia mit ihrer Strenge und ihrem feierlichen Ernst, mit ihrem großartigen Anspruch eigentlich den kürzeren, lächelnd und siegreich stellt ihr die Elegia ihre eigenen Verdienste um den Dichter gegenüber. Dies ist der Schluß der Rede an Ovid ( j y i ) : Prima tuae movi felicia semina mentis: Munus habes, quod te iam petit ista, meum. Der Dichter verspricht, sich künftig der tragischen Dichtung zuwenden zu wollen, erbittet und erhält aber von der Tragödia vorläufig noch Aufschub zu weiterer Elegiendichtung (61 ff). In diesem Gedicht wird Ovid seine eigene Lebenssituation, sein eigenes künstlerisches Wachstum, Gestalt, Bild, Szene. Wie einst der Rhetor allmählich zum Dichter wurde, so wandelte sich nun allmählich und organisch der Elegiker der Amores zum Tragiker. Künstler und Mensch reifen zu immer größerer Form heran. Die erotische Elegie, die mit Tibull und Properz ihren Höhepunkt erreicht hatte, scheint in der humorvollen, überlegenspöttischen Form der ovidischen Amores zu enden und sich aufzulösen; ein Weitergehen auf diesem Wege war — wenigstens für einen Geist wie Ovid — kaum noch möglich. Nur in dem Lebens17

Dichtungsarten als Personen auftretend waren gewiß häufiger, als wir

noch erkennen können. V g l . Antiphanes Fr. 191 K .

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gefühl seiner noch unbeschwerten Jugend konnte Ovid sein Eigenstes und Tiefstes so sehen: Sich selbst in so vergnüglichem Auftritt, seine spöttische, überlegene, unbeschwerte Elegiendichtung als hinkende Schöne mit ungleich langen Beinen; die Tragödia, zu der er schon herangereift war, als etwas gestelzte und von ihrer leichteren Gegnerin nicht allzu ernst genommene Tugend.18 Meint hier sogar das „Ich" den Dichter selbst, so legt sich doch die phantastisch-traumhafte Szenerie und Handlung wie eine Maske über die Realität des Lebens. Ovids Ubergang von der Elegie zur Tragödie bedeutet organisches Wachstum: Waren die Amores eine Sammlung einzelner Elegien, so bot ihm die Tragödie die quantitativ größere Form. Hatte er in der Elegie — wie schon seinerzeit als Rhetorenschüler — aus fremder Person wie aus einer Maske gesprochen, so fühlte er sich nun zu noch größerer Kunstform dieses Heraustretens aus dem eigenen in ein anderes, fremdes „Ich" herangereift; zu seiner Zeit und in seiner Hand blieb übrigens selbst die Tragödie Rhetorik, neue Behandlung eines gestellten Themas in dramatischer Form.19 War ihm bisher Mythos bloß Beispiel zur Verdeutlichung und Veranschaulichung von Diesseitig-Menschlichem, so wird er ihm nun unmittelbarer Gegenstand, wird ihm direkte Ausdrucksform und Maske. Mit seiner Medea wächst er in einen ganz neuen Bereich dichterischen Schaffens. Während er in den Amores mit seinem Grundthema Liebe nur ironisch gespielt hatte, war es ihm inzwischen zu tragischem Ernst erwachsen; dichtete er doch die Tragödie jener Medea, die Euripides zu einem der großartigsten Symbole des menschlichen Erliegens unter der Gewalt der Leidenschaft gemacht hatte. Die Amores galten dem männlichen Gefühls- und Liebeserleben, die Daß mit der Allegorie „Tragoedia" nicht eigentlich die Tragödie, sondern überhaupt ernste, große, v o r allem epische Dichtung gemeint sei, können wir U. FLEISCHER, Zur Zweitausendjahrfeier des Ovid, Antike und Abendland 1956, 27—61, nicht zugeben. Auch mit Elegia ist ja eben konkret die ovidische Elegiendichtung bezeichnet. 18

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V g l . KRAUS a. 0 . 1 9 2 5 .

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Medea aber erschloß der ovidischen Dichtung die ganz neue Sphäre der weiblichen Leidenschaft. So ergänzt und rundet die Tragödie sein bisheriges Werk zu neuer, größerer Ganzheit und Geschlossenheit auf. Sowohl sein Grundthema Liebe als auch das —möglicherweise gar nicht voll bewußte — Bedürfnis solcher Auffüllung und Aufhöhung des bisher Geleisteten mag Ovid bei seinen Tragödienstudien gerade auf das Frauendrama Medea geführt haben. Tragödie blieb — trotz des anscheinend großen Erfolges der Medea — nicht Ovids adaequater künstlerischer Ausdruck. Aus seiner Beschäftigung mit griechischer Heldensage und Heldendichtung, vornehmlich der Tragödie, erwuchs aber ein anderes und typisch ovidischesWerk, eine Sammlung poetischer Briefe berühmter liebender Heldinnen der Sage an ihre Gatten oder Geliebten: Die H e r o i d e s . Ovid ringt um eine neue elegische Form zum Ausdruck dessen, was er als künstlerischen und menschlichen Inhalt seit seinen Amores hinzugewonnen hat: Das Liebeserlebnis des Weibes; die Amores besangen die Lust der Liebe, die Heroides formen ihr Leid und ihren Kummer. Wie in allen seinen Werken, so knüpfte Ovid auch hier an Tradition an. Der fingierte Brief gehörte schon in der Rhetorenschule zum Programm der Übungen — Ovid höhte ihn zur Dichtung auf. Einmal ließ auch Properz in einer Elegie eine Gattin an den im Felde kämpfenden Gatten schreiben (IV 3) — der alleinstehende poetische Einfall wurde bei Ovid zu einem ganzen Buch, einer eigenen Kunstgattung. Wählte Properz ein selbsterfundenes Paar Arethusa und Lycotas als Personen, so stammt Ovids Stoff aus der großen Dichtung, der Tragödie und dem Epos. 20 Aber diese Sagendichtung gibt ihm nur den Raum und Verlauf. Die Situation, den einzelnen Brief als solchen gestaltet er vollkommen frei. Die Heroides sind nach Form und Gehalt ein durchaus eigenartiges und originelles Werk, das in der antiken Literatur nicht seinesgleichen hat. 20

Über das Zeitverhältnis Prop. IV 3 und Ovids Heroiden vgl. KRAUS a. O. 1 9 2 6 f.

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So schuf sich Ovid eine neue poetische Form zum Ausdruck der neuen, menschlichen und künstlerischen Tiefe, zu der er herangereift war: Alle diese Heroidenbriefe sind in tragischen Augenblicken tiefster Not des weiblichen Herzens geschrieben gedacht. In ihnen gestaltet sich als flehende Bitte, als Klage und Anklage die Qual der Verlassenen und Einsamen, der Schmerz gekränkter und verratener Liebe. Ovid ist die Kraft erwachsen, menschliche Ursituation, menschliches Urleid im dichterischen Bild zu formen. Der Brief Hypsipyles an Iason (Her. VI) — um nur ein Beispiel zu nennen — erinnert den längst fernen, treulosen Geliebten an die Zeit des Liebesbundes in Lemnos, den tränenschweren Abschied, an die Versprechungen des Helden; im Augenblick der Trennung mag die Liebende noch auf eine Wiedervereinigung hoffen und fühlt doch tief innen, daß sie den Geliebten für immer verloren hat; Iason hatte als letzter das Schiff bestiegen, Hypsipyle steht am Ufer und blickt dem Absegelnden nach, der sich weiter und weiter entfernt (Her. VI 67f.): Caerula propulsae subducitur unda carinae: Terra tibi, nobis adspiciuntur aquae. „Blau zieht unter dem vorwärtstreibenden Kiele die Woge, Du blickst her auf das Land, ich auf die Wasser hinaus." Alles in dieser Szene, diesem Bild, ist Symbol der menschlichen Ursituation geworden: Abschied für immer. Wenn auch' beherrscht vom Leid der Liebe als Grundthema, so bedeuten doch die Heroides einen Schritt weg von der Tragödie und zurück zu dem Ovid, der die Amores geschaffen hatte. Schon durch die Stoffwahl erscheint Heldensage und heroisches Geschehen in einem eigenartigen Licht: Der trojanische Krieg etwa und seine Helden, wie ihn die zurückgebliebenen Gattinnen in ihren einsamen Nächten sehen (Penelope I, Laodamia XIII) oder der Streit Agamemnons und Achills, betrachtet aus dem Gesichtswinkel der Briseis (III). Wenn Briseis dem Achill Vorwürfe macht,

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daß sie Agamemnons Abgesandten so ohne Widerstand übergeben, daß ihre Rückführung nicht energisch genug betrieben worden sei — klingt nicht in dieser Studie weiblichen Leides schon das Lächeln ovidischen Humors mit? 21 Als Ovid später für eine Neuausgabe der Heroides sechs Briefpaare hinzufügte, scheint der Humor wieder endgültig die Tragik zu überwiegen.22 In den Heroides hat Ovids Grundproblem: Liebe eine ganz neue Dimension und unendlich viel an menschlicher Tiefe gewonnen. Geblieben ist immer noch die wesentlich rhetorische Haltung in Konzeption und Ausführung: Jeder Brief behandelt gleichsam ein gestelltes Thema; der Dichter hat sich in eine fremde Person zu versetzen und aus ihr heraus wie durch eine Maske zu sprechen. Ovids Drängen zu größerer Form führte ihn in jenen Jahren vom Einzelgedicht zu buchmäßiger Gesamtkomposition. Es entstanden Lehrgedichte ganz eigener Art: Zunächst, wohl als Vorstudie für die Arbeit in dieser Gattung23, ein Werkchen über weibliche Schönheitspflege: Medicamina faciei 2 4 . Es folgten, als gereifte Frucht, eine Kunst der Liebe und eine Kunst, sich von der Liebe zu befreien (Ars amatoria; Remedia amoris). Ovid verläßt wieder den griechischen Mythos als Gegenstand seiner Dichtung und kehrt zur römischen Gegenwart zurück: Ars am I i—2

Si quis in hoc artem populo non novit amandi, Hoc legat et lecto carmine doctus amet. Es ist, als müsse er sich die Großkomposition erst in diesem näheren Bereich erwerben, von dem er in der Elegiendichtung ausgegangen 21

Andere Beispiele für Humor in den Heroides bei E . K . RAN D, Ovid and his influence, London 1925, 20 ff. 22 In der Frage der Briefpaare glauben wir, uns W. KRAUS anschließen zu dürfen: Die Briefpaare in Ovids Heroiden, Wiener Studien. 65, 1950/51, 54—77. 23 Vgl. KRAUS a. 0 . 1 9 3 2 . 24 Ganz natürlich wendet sich das Einleitungsdistichon an die puellae ( V i ) und fügt so das Gedicht in den durch die Heroides eröffneten Dichtungsbereich ein.

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war. In heiterer Ironie wandte er die alte poetische Form mit ihrer notwendig pedantisch-trockenen Dispostion auf den lustig ausgelassenen Stoff an, der ihn wie eh und je beschäftigte: Die Liebe.25 Schon der Titel mit seinem witzigen Anklang an ernste Lehrbücher (etwa De arte oratoria) zeigt den Schalk. Die Ars amatoria lehrt junge Lebemänner, wo sie Mädchen finden, wie gewinnen, wie festhalten können. Zunächst umfaßte das Werkchen zwei Bücher. Aber bald war eine Neuauflage nötig; Ovid fügte den zwei Büchern Lehren an die jungen Männer ein drittes mit parallelen Lehren an die Mädchen hinzu. Buch III wächst also zu I und II ähnlich hinzu wie die Heroides zu den Amores.26 Schließlich trat in den Remedia nochmals ergänzend und aufrundend ein witziges Gegenstück als drittes hinzu. Ovid hat zwar an literarische Tradition angeknüpft, aber durchaus Neues und Originales geschaffen: ,Arsc und ,Remedia' als Ganzes sind zuletzt nur Scherz und Ironie, Geschöpfe einer entzückend heiteren Laune. Kein anderer Dichter der Antike hätte je solche Lehrbücher der Liebe, solche Lehrbücher der Liebe schreiben können.27 In den auf die Zeitenwende folgenden Jahren seiner größten Reife und Produktivität vollzog sich Ovids Wachstum wieder in so mächtiger Entfaltung, daß sich seine Entwicklungsphasen überschichteten, daß sich in ihm, während er noch an einem Werk schuf, schon das nächste gestaltete. Wie früher der Rhetor zum Elegiker, der Elegiker zum Tragiker, der Tragiker zum Dichter der Heroides und dieser wieder zum Verfasser der Liebeslehre herangereift war, so entstanden in den Jahren x —8 n. Chr. zwei 25

Die Tradition des Lehrgedichtes, die er doch einerseits befolgte, hätte als Versmaß den Hexameter verlangt; höchstens für kleinere Rezeptbücher wie die Medicamina gab es Vorbilder im Distichon (KRAUS a. O . ) ; aber unbekümmert wandte Ovid für ,Ars' und .Remedia' die Versform seiner Elegien an. 26

Wir schließen uns KRAUS a. O. 1933 an. Sehr instruktiv über die in Ovids Lehrbüchern verwertete und ausgebaute Tradition der Liebeslehre, KRAUS a. O. i 9 3 i f . 27

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große Kompositionen, deren zeitliche Abfolge sich bei dem Fehlen äußerer Zeugnisse nicht mehr unzweifelhaft erkennen läßt. Die Fasten 2 8 und die M e t a m o r p h o s e n . 2 9 Nach den Lehrbüchern der Liebe scheint Ovids erster Vorstoß in neue Weite in der Konzeption eines größeren Lehrgedichtes ganz anderer Art bestanden zu haben: In der poetischen Darstellung des römischen Jahres im Ablauf seiner Tage, seiner Bräuche und Feste und der oft in graue Vorzeit zurückreichenden Aitien. Wie in aller lehrhaften Dichtung seit Hesiod tritt der Dichter selbst fortwährend persönlich hervor, spricht den Leser an, berichtet aus eigenem Erleben, fingiert persönliche Information bei Göttern und außerirdischen Wesen. Ovid selbst hatte schon einmal in einem Einzelgedicht die bunte Gegenwart seiner Welt, das Treiben eines festlichen Zuges dargestellt und auf seine Ursprünge zurückgeführt, als er das Junofest in Falerii beschrieb.30 Jetzt setzte er im Großen die Tradition fort, deren vornehmste Vertreter Kallimachos und Properz waren. Kallimachos hatte vier Bücher im elegischen Versmaß erzählte Aitien recht disparaten Charakters zusammengestellt; Properz, der sich den römischen Kallimachos nannte, 31 in vier einzelnen Elegien Aitien berichtet, die sich an örtlichkeiten in Rom anschlössen.32 Ovid konzipierte durch zeitliche Anordnung innerhalb des römischen Jahres von vornherein ein Großgedicht ganz neuer Art, das seine Vorgänger weit überragte: Jedem Monat sollte ein eigenes Buch gewidmet sein, das Werk also zwölf Bücher umfassen. 28

Vgl. F. BÖMER, Die Fasten, herausgeg., übersetzt und kommentiert

Heidelberg, Bd. I, 1957, 15. (Bd. II 1958.) 29

Die hier von uns entwickelte Hypothese über Ovids Arbeit an den beiden Werken ist vielleicht geeignet, die literarhistorischen Tatsachen 2u erklären. 30 A m . III. 13. 31 32

IV 1,64.

I V 2; 4; 9; 10. Über anderes, sicher weniger Bedeutendes der Art vgl. KRAUS a. O. 1953, dazu vielleicht noch L. A c c i U S ' Annales (BÖMER a. O. Bd. I 12).

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Die Fasten mußten schon einige Gestalt gewonnen haben, als Ovid das Prooemium mit der Widmung an Augustus dichtete, das wir jetzt am Anfang des zweiten Buches lesen.33 Noch bleibt er Elegiker, aber die Kunstform seiner Liebesdichtung, seines exiguum opus geht jetzt mit größeren Segeln und hat sich ein neues Gebiet eröffnet: Sacra und signata tempora fastis.Zi Das chronologische Grundgefühl aller Aitiologie wächst bei Ovid noch nach einer neuen, zweiten Dimension. Zur Vertikalreihe: Ursprung bis heute, tritt die Horizontalteilung: Jahr, Monat, Tag. Erst aus der Verbindung von Aitiendichtung und astronomischer Dichtung ersteht Ovids Werk: Der Kalender schafft Prinzip und festen Rahmen der Komposition. Zu diesem ersten Gerippe des Aufbaues gehören die zahllosen, ganz knappen Angaben über Auf- und Untergang von Sternbildern.35 Nun haben Sternbilder oft selbst ihr Aition, sofern die Sage sie durch Versetzung an den Himmel, durch Verwandlung irdischer Wesen in Himmelskörper entstanden sein läßt. Was hat es etwa mit dem Sternbild der Ziege auf sich, das am 1. Mai sichtbar wird? 36 Die Naiade Amalthea hatte Juppiter als Knäblein im kretischen Idagebirge verborgen, ihre Ziege das Kind gesäugt; sie brach aber ein Horn an einem Baume, Amalthea brachte es, bekränzt und mit Früchten gefüllt, zu Juppiter. Als dieser dann auf dem Himmelsthron saß, machte er die Ziege und das Horn der Amalthea zu Sternen. Jeder Katasterismos ist im Grunde eine Metamorphose.37 Die eigentlichen Aitien von Festen, Bräuchen, Kulttatsachen, die Ovid berichtet, haben tausenderlei Gestalt. Ganz einfach im aitiologischen Charakter ist etwa die Erzählung, wie es zur Er33

V g l . KRAUS a. O . i 9 5 i f . ; BOEMER a. O . B d . II, 1958, 79.

34

Fast. II 3 - 7 . Z. B. III 711 f.; I 653f. Grundsätzlich: I 2 9 5 f f . 36 V 111-128. 37 Über Benützung griechischer Phainomena- und Katasterismenliteratur durch Ovid BOEMER a. O. Einleitung 2 8 f. 35

2 Stoessl

i8

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richtung eines Altars des Juppiter Pistor kam.38 Während der Belagerung des Capitols durch die Gallier drohte den Verteidigern die Nahrung auszugehen; in einer Götterversammlung läßt Juppiter eine List als Hilfsmaßnahme beschließen: Er erscheint den römischen Feldherrn im Traume und befiehlt ihnen, diejenige Fülle unter die Feinde zu werfen, die sie am wenigsten ausliefern wollten. Man erkannte, daß es sich um das Brot handeln müsse und warf es von der Burg herab, daß es über die Schilde und Helme der Belagerer tönte. Die Hoffnung der Feinde, die Burg durch Hunger nehmen zu können, schwand. 393f.:

Candida

hoste repulso Pistori ponitur ara Iovi.

Man könnte diese Erzählung ein Aition in Reinkultur nennen. Fast alle ovidischen Aitien zeigen aber noch einen zweiten Wesenszug. Am 9. Juni, dem Tag des Vestafestes, so erzählt Ovid,39 habe er auf der Nova Via eine Matrone getroffen, die nackten Fußes einherging. Eine alte Frau der dortigen Gegend bemerkte seine Verwunderung und erklärte ihm das Aition für diesen Kultbrauch : wo jetzt die Fora sind, war einst Fluß- und Sumpflandschaft, die nur mit nackten Füßen betreten werden konnte; noch hatte der Gott Vertumnus seinen Namen, der zu den Gestaltwandlungen des Gottes paßt,40 nicht von der Ableitung des Flusses bekommen; jetzt gibt es zwar hier kein Wasser mehr, aber der alte Brauch ist geblieben. Die Erwähnung des Gottes Vertumnus, in dessen Namen das Verbum wertere klingt, macht deutlich: Das Aition ist eine Metamorphose; welche Verwandlung der alten Flußlandschaft zur gegenwärtigen Pracht der römischen Fora! Noch klarer tritt der metamorphosische Zug des Aitions etwa in der Behandlung des Festes der Anna Perenna am 15. März 38 39 40

VI 349—394. VI 395 ff. Vgl. Met. X V 623 fr.

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zutage.41 Zunächst das bunte und ausgelassene Treiben der Volksmenge, das Ovid als persönlicher Beobachter in satten und üppigen Bildern schildert; das letzte dieser Reihe: occurrit nuper — visa est mihi digna relatu — pompa: senem potum pota trahebat anus.42 Dieser Gegenwart fügt er als Aition die Geschichte Annas, der Schwester Didos hinzu: Ihre Ankunft in Latium, ihre Flucht aus Aeneas' Haus und ihre Verbindung mit dem Flußgott Numicius: amne perenne latens Anna Perenna vocor.43 Plätschernder Wellenschlag des Flusses und Worte der Anna klingen in eins. Der Schar derer, die die Entflohene suchten, schien es, als spreche die Göttin selbst. So ist die Verwandlung der Didoschwester Anna in die Göttin Anna Perenna vollendet, das Aition für das frohe Fest gefunden. Außer dem aitiologischen und dem metamorphosischen klingt in dieser Erzählung noch ein drittes Grundmotiv auf: Das erotische. Erotik eignet einer sehr großen Zahl dieser Aitien als bestimmender Wesenszug. Vielleicht am deutlichsten, weil am unerwartetsten, tritt sie am Beginn des dritten, dem Monat März gewidmeten, Buches zu Tage. Statt eines feierlichen Hymnus an den Gott Mars, dessen Monat beschrieben werden soll, fordert Ovid den Gott zu allererst auf, Schild und Lanze abzulegen, seine zierlichen Locken aus dem Helm zu lösen.44 Der römische Kriegsgott soll sich also zunächst in einen waffenlosen, eleganten, friedlichen Jüngling verwandeln. Aber Ovid plaudert weiter und noch vorlauter mit dem Gott: „Auch damals warst du ja waffenlos, als dich die römische Priesterin empfing, damit du den großen 41

III 523 ff. III 541 ff. Der ganze Abschnitt gemahnt an die Fülle eines BauemBreughel. Der ovidischen Schilderung des Junofestes in Falerii (Am. III 13) als eines früheren Beispiels solcher Darstellungskunst wurde schon gedacht. 43 44 III 654. III 1 - 4 0 . 42

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Ursprung und Samen für diese Stadt gäbest." Einst — so wird die Zeugung des Romulus und Remus erzählt — kam die Vestalin Silvia am Morgen zum Ufer des Flusses, um Wasser zu holen; sie stellte das irdene Gefäß von ihrem Haupte, setzte sich müde nieder, ihre Brust fühlt den Windhauch durch das geöffnete Gewand, und sie ordnet ihre windverwirrten Locken; die schattigen Weiden, die singenden Vögel, das leichte Rauschen des Wassers machen ihr Schlaf, verstohlen schleicht schmeichelnd die Ruhe in die überwundenen Augen, müde geworden fällt ihr die Hand vom Kinn.45 Da sieht sie Mars, begehrt, die er gesehen, bemächtigt sich der Begehrten; mit göttlicher Macht täuschte er über sein verstohlenes Lieben hinweg. Der Schlaf geht weg, schwer und schwanger liegt sie da, schon war der Gründer der römischen Stadt in ihrem Leibe. Schlaff erhebt sie sich und weiß nicht, warum sie sich schlaff erhebt. Sie lehnt sich an einen Baum und fleht, gute Vorbedeutung möge der Traum haben, den sie eben gesehen — oder war. es deutlicher als dem Schlaf zukommt?46 Der Traum, den sie nun erzählt,47 deutet offenkundig auf die Zwillinge und ihre Schicksale voraus. Während der Erzählung füllt sie den Wasserkrug und hebt ihn dann wieder aufs Haupt. Ovid hat eine.Liebesgeschichte gewagtester Art mit den zartesten und raffiniertesten Farben seiner Erotik gemalt. In ihr sind alle drei Grundzüge kenntlich: Der a i t i o l o g i s c h e — wie Mars zum Ahnherrn Roms wurde; der metamorphosische bloß angedeutet — wie sich die Vestalin zur Ahnmutter Roms wandelte; und, alles beherrschend, der erotische. Erzählungen, in denen die Liebe eine Hauptrolle spielt oder wenigstens am Rande mitwirkt, gibt es die Fülle. Als Ovid am Anfang des vierten Buches ein Gespräch zwischen sich selbst und der Göttin Venus berichtet, der bekanntlich der Monat April heilig 45

Die Lyrik dieses Stimmungsbildes gemahnt etwa an Sappho Fr. j , 6 D mit Supplementum: Das berühmte Gedicht auf der Scherbe. 46

III 2 5

ff.

47

III 29 ff.

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ist, weist er den Vorwurf der Gekränkten, die sich von ihrem Dichter verlassen fühlt, so zurück :48 Saucius an sanus numquid tua signa reliqui? Tu mihi propositum, tu mihi Semper opus. Seine Dichtung bleibt immer noch wesentlich Liebesdichtung, nur bewegt sie sich jetzt in größerem Felde. Sie behandelt jetzt römischen Kult und Brauch, römische Vergangenheit und Sage, Ursprünge und Gründe der Gegenwart mit.49 Der Zustand der römischen Religion, ja des gesamten Geisteslebens machte eine Einbeziehung griechischen Materials, griechischer Sage und Dichtung in das römische Kalendergedicht notwendig und selbstverständlich. Ein Fall aus den Katasterismen ist uns schon begegnet; nur einer aus unzähligen Aitien griechischer Herkunft sei noch erwähnt: Die griechische Ino-Leukothea (Metamorphose!) wird mit der römischen Mater Matuta60 gleichgesetzt, der griechische Mythus also Mythus der Mater Matuta, auch die Aitien ihres Kultes stammen aus der Ino-Sage. Bisweilen drängt sich zeitliches Rückgreifen selbst über die Welt der Sage und des Mythos hinaus in einen Urzustand der Menschheit auf: Etwa in den Erklärungen des Gottes Ianus, wo mehrmals der Weltaltergedanke aufklingt,51 oder in der Aitiologie des Ceresfestes, wo die Menschheit im Urzustände vor den Segnungen des Landbaues geschildert wird.52 Es scheint, als verlange das Zeitgefühl, das die Konzeption und den kompositorischen Grundgedanken des Kalendergedichtes hervorbrachte, nach Ausweitung in die Urgeschichte der Welt, 48

I V 7 f.

49

Die extreme Bewertung der Fasten bei Fr. ALTHEIM, Römische Religionsgeschichte 2, 1953, 254fr., scheint doch den erotischen Z u g innerhalb des Gesamtbildes zu überschätzen: Schon rein mengenmäßig steht neben E r o tischem sehr viel, ja mehr anderes Material. V g l . auch BoEMER a. O. I 14. 50

V I 473ff.

51

I 189-254.

52

I V 393ff.

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nach zusammenhängender Darstellung eines größeren Ablaufes. Gerade dafür aber erwies sich die kalendermäßigeOrdnungdes Materials eher als Hemmnis: Der Rahmen des römischen Kalenders konnte zwar eine Unzahl einzelner Aitien-Erzählungen zu einem mosaikartigen Ganzenzusammendrängen, aber keine innere Einheit schaffen; ja seine trennende Funktion war ebenso stark wie seine zusammenfassende. Die Starrheit des Schemas mußte vom Dichter um so härter empfunden werden^ je mehr er selbst zu wahrer Großkomposition herangereift war. Die größeren Einheiten, die sich etwa durch das Zusammenfallen mehrerer Feste an einem Tage, oder durch mehrere Aitien für eine Tatsache, oder — vor allem an den Monatsanfängen — durch längere Gespräche des Dichters mit der Gottheit des Monats ergaben, zeigen zwar Ovids Drang nach durchgehender Komposition, aber auch die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung in diesem Gedicht. Gerade die Arbeit an den Fasten hatte aber auchOvid das Material, die Ingredienzien und wohl auch den Plan zur Fügung eines wahreren Großwerkes heranreifen lassen. Während die Fasten entstanden, mag sich allmählich eine ähnliche geistige Situation herausgebildet haben, wie in seiner Jugendzeit, als er zwischen Elegiendichtung und Tragödie schwankte.63 — Aber jetzt konnte er sich nicht mehr spielerisch von seiner neuen Muse, von seinem neuen Werk zu Gunsten der bisherigen Göttin und des bisherigen Werkes für eine Zeit beurlauben lassen. Wir vermuten, daß er die Fasten mit Buch VI, mit der ersten Hälfte des Ganzen, zu einem vorläufigen Abschluß brachte und sich dann der Arbeit an den Metamorphosen widmete, wohl mit der Absichtj nachher die zweite Hälfte der Fasten zu vollenden. Als er 8 n. Chr. in die Verbannung gehen mußte, waren die Metamorphosen im wesentlichen fertig, wenn sie auch noch der letzten Feile entbehrten,64 die Fasten eben nur bis Buch VI gediehen; sie wurden zwar nach Tomi mitgenommen, teilweise überarbeitet, aber nicht mehr vollendet.65 Wie in allen seinen Werken setzte Ovid auch in den Metamor53

A m . III i .

54

K R A U S a . O . 1948 f .

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phosen56 alte dichterische Tradition fort: Seit Homer spielten allerlei Verwandlungssagen in der Dichtung ihre Rolle, die hellenistische Zeit hatte sie in Sammelwerken nach verschiedenen Gesichtspunkten zusammengestellt, auch Ovids Freund Aemilius Macer war ihm mit einer Ornithogonia, einem Gedicht über Verwandlungen von Menschen in Vögel, vorangegangen.57 Aber 55

Die übliche chronologische Reihung : a) Metamorphosen, b) Fasten, von H. FRÄNKEL, Ovid, a poet between two worlds. 103, i42f., 238, Anm. 2 u. 3 so modifiziert und praezisiert: a. Metam. I—XII; b. Metam. X I I I — X V und Fasten gleichzeitig, gibt keine ausreichende Erklärung für den Stand der Arbeiten im Moment der Verbannung. Nur ein recht unwahrscheinlicher Zufall hätte es fügen können, daß die Strafe Ovid gerade im dem Augenblick traf, als er beide Werke zu einem gewissen Abschluß gebracht hatte: Die Metamorphosen ganz und die Fasten genau bis zur Hälfte. Die umgekehrte Anordnung, die sich uns aus der Betrachtung von Ovids Entwicklungsgang ergeben hat, nämlich a. F a s t e n I—VI b. M e t a m o r p h o s e n scheint uns folgende Vorteile der Erklärung zu bieten : 1. Der Zustand beider Werke im Augenblick der Verbannung scheint kein Problem mehr zu bieten. 2. Ovids Wachstum zur großen Form hin vollzieht sich geradlinig : An die Lehrbücher Ars und Remedia schließt sich das Lehrbuch Fasti an. 3. Erst nach den Fasten, als Ovid sich die epische Form erarbeitet hatte, geht er auch vom elegischen zum epischen Versmaß über. 4. Die Metamorphosen, nach wohl übereinstimmender Ansicht aller Beurteiler die größte Leistung in Ovids Schaffen, steht am Ende der kontinuierlichen Entwicklungsreihe. 5. Die Fasten lassen sich sehr wohl als Vorstufe zu den Metamorphosen erklären, kaum aber die Metamorphosen als Vorstufe der Fasten. 6. Daß das Buch V I der Fasten einen noch weniger durchgearbeiteten Eindruck macht als Buch I—V, erklärt sich aus der Eile, mit der Ovid diesen ersten Abschluß zu erreichen suchen mochte, um freie Hand für sein Epos zu bekommen. 7. Auch der etwas gequälte Ausdruck Trist. II 5 49 sex ego Fastorumscripsi totidemque libellos erklärt sich vielleicht aus diesem Tatbestand. 8. Als Ovid in die Verbannung mußte, warf er ein Exemplar der Metamorphosen, offenbar als seines letzten Werkes, ins Feuer (Trist. I 7, 13 ff.). 56

Zu Ovids Met. im Ganzen vgl. auch K . BÜCHNER, Ovids Metamorphosen, Humanitas Romana, Heidelberg 1957. W. H. FRIEDRICH, Der Kosmos Ovids, Festschrift Dornseiff, 1953, 94—110. 57 Zusammenfassend über Ovids Vorgänger KRAUS a. O. 1938 fr. L. P. WiLKINSON, The poetry of Ovid, Entretiens sur l'Antiquité Classique, Tome II, Genève 1953, 235 ff.

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Ovid baute das übernommene Gut großartig aus, so daß sein Werk das seiner Vorläufer mächtig überragte. Erst er schuf ein Großepos von Verwandlungen. Innerlich zur Großkomposition und zum Epiker herangereift, ging er auch von seinem bisherigen elegischen Versmaß zum epischen Hexameter über. Das fünfzehn Bücher umfassende Gedicht, etwa zwei Drittel des Umfanges der Ilias, gleich viel wie die Odyssee, enthält rund zweihundertundfünfzig Sagen58 in einem großen Ganzen. Der Grundgedanke, der diese gewaltige Masse ordnet und gliedert, hat sich, so scheint es, bei der Arbeit an den Fasten ergeben: Auch er beruht auf der Chronologie. Ovid will die Verwandlung vom Ursprung der Welt bis in die Gegenwart „sagen". 69 Aber nun hat er die kompositorischen Fesseln der Monats- und Tageseinteilung abgestreift und kann in der so gewonnenen Freiheit sein Dichterisches organisch entfalten. Die einfachen Mittel der Komposition und Zusammenordnung, die in den Fasten angewandt waren, sind bis zur höchsten Vervollkommnung entwickelt. Das Werk beginnt mit der Entstehung der Welt aus dem Chaos und endet mit der Apotheose Caesars 42 v.Chr. und dem Ausblick auf Augustus, reicht also tatsächlich bis in die Zeit des Dichters. Das chronologische System, das die Großkomposition ermöglichte, fügt sich nun zwar dem Anfang und dem Schluß tadellos, läßt sich aber für die große Masse recht disparaten Materials doch nicht restlos anwenden. Aber Ovid weiß diesen Mangel durch vielerlei Künste der Gruppierung, der Verknüpfung, der Einschaltung und Umrahmung zu verdecken und seine Erzählung stets so spannend weiterzuführen, daß kaum eine Fuge fühlbar wird. Ja, selbst der Ubergang von Hellas auf Italien und schließlich vom Mythos zu Geschichte und Gegenwart vollzieht sich als organisches Weiterwachsen. 58

Weder erfordert noch verträgt die Natur des Gewebes eine genaue Zäh-

lung; wir geben die Ziffer nach KRAUS a. O. 1942. 59

I 1 —4. Viel Material zur Interpretation des Prooemiums bei U. F L E I -

SCHER, Epische Tradition und persönliche Aussage in den Metamorphosen Ovids, Antike u. Abendland 6, 1956, 31 ff.

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An das Prooemium schließt sich eine philosophisch fundierte Schilderung der Weltschöpfung (15—75): Aus der gestalt- und formlosen, dunklen, in sich widerstreitenden Masse des Chaos (5—20) schied ein Gott die vier Elemente: Himmel, Erde, Wasser, Luft (21 —31), gab jedem einzelnen dieser Teile seinen Ort und seine spezifische Gestalt (32—68), die Gestirne leuchteten auf (69—71), der Weltschöpfer bevölkerte Himmel, Wasser, Erde, Luft mit den Ihnen jeweils angemessenen Lebewesen (72—75). Nur im Zusammenhang mit dem Prooemium läßt sich in dieser Schöpfungsgeschichte eine Metamorphose erkennen. Noch bleibt selbst der Metamorphosencharakter des Gedichtes latent. Es folgt die Geburt des Menschen (I 76—88): Sei es, daß ihn der Schöpfergott aus göttlichem Samen machte, sei es, daß die eben erst vom Äther geschiedene Erde noch den Samen des Himmels in sich enthielt; diese Erde mischte Prometheus mit Wasser und schuf daraus den Menschen nach dem Ebenbild der Götter (87^): sie, modo quae fuerat rudis et sine magine, tellus induit ignotas hominum conversa üguras. Erst hier beginnt sich der grundlegende Wesenszug des Werkes zu enthüllen: in den Worten conversa und induitfiguras deutet sich der Metamorphosencharakter des Schöpfungsvorganges an. Der Zeitaltermythos (I89—150) führt die stufenweise Verwandlung und Verschlechterung dieser nach dem Ebenbild der Götter geschaffenen Menschheit und ihrer Welt vom goldenen Urzustand bis zur Verworfenheit der gegenwärtigen eisernen Lebensperiode vor. Noch immer bleibt selbst der Metamorphosencharakter der Erzählung bloß angedeutet, bloß im Zusammenhang mitverstanden, nicht hell beleuchtet und belebt.60 Die Giganten sollen versucht haben, den Himmel zu stürmen 60

aurea prima saia aetas 89; subiit argentea proles 114; proles 125 ; de duro est ultima ferro 1 2 7 .

tertia successit aenea

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(I I 5 I—162); als sie von Juppiter zerschmettert dalagen, soll die Erde von ihrem Blute feucht geworden sein und dieses warme Blut belebt und in Menschengestalt verwandelt haben. (160: in faciem vertisse hominum)-, aber auch dieses Geschlecht war ruchlos und blutgierig: scires e sanguine natos (162). Neben dem metamorphosischen beginnt sich ein zweiter Wesenszug der Erzählung abzuzeichnen: Der aitiologische. Die Verwandlungsgeschichte erklärt, warum das Menschengeschlecht so ruchlos ist. Die Abstammung der gegenwärtigen Menschen aus dem Gigantenblut widerspricht im Grunde der Angehörigkeit zum eisernen Geschlecht in der Abfolge der Weltalter. Die Erzählungen scheinen einander zwar auszuschließen, erklären aber beide, jede auf ihre Weise die Ruchlosigkeit unserer gegenwärtigen Welt.61 Es scheint, als habe Ovid den aitiológischen Charakter der Erzählung im Weltaltermythos absichtlich noch latent gelassen, um die Grundzüge seines Gedichtes in allmählicher Steigerung langsam zu enthüllen. Eine Götterversammlung tritt zusammen und beschließt die Vernichtung des verbrecherischen Menschengeschlechtes und die Neuschöpfung eines anderen, besseren, aus wunderbarem Ursprung (1162—261). Zur Begründung seines Vorschlages erzählt Juppiter, wie er einen von den unzähligen Ruchlosen durch Verwandlung bestraft habe (209—239): Der arkadische König Lykaon hatte es gewagt, Juppiter selbst zu versuchen, indem er ihn töten wollte. Darauf ließ Juppiter den brennenden Palast einstürzen. Erschreckt flieht Lykaon in die Stille des Landes, heult auf und trachtet vergeblich zu sprechen — ganz von selbst (ab ipso) bekommt das Antlitz die Wildheit. Seine gewohnte Mordlust wendet er nun gegen das Vieh, auch jetzt noch freut er sich am Blute; sein Kleid wird zum 61

Zwei disparate und ursprünglich selbstständige Sagen sind zu einem neuen Ganzen verwoben; bei solchem Vorgang müssen sich Diskrepanzen ergeben, bei Ovid nicht anders als schon bei Hesiod, wo der Weltaltermythos anscheinend zuerst literarisch verwertet wurde (Erga 106ff.). 62

I 361 f.

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Fell, seine Arme zu Läufen ; der Mensch wird zum Wolf und bewahrt doch noch die Spuren der alten Gestalt : Die Grauheit, die Gewaltsamkeit im Antlitz, dasselbe Funkeln der Augen, das gleiche Bild der Wildheit. Der Metamorphosencharakter der Erzählung, bisher bloß schwach abgezeichnet, enthüllt sich hier zuerst vollständig und tritt ins helle Licht. Zug um Zug — selbst der Name — findet sich der Mensch im Tier wieder, ursprüngliches und neues Wesen wachsen in eins. Wie die Götter beschlossen, vernichtet eine große Flut die Menschheit (I 260—415). Nur ein gerechtes und gottesfürchtiges Ehepaar bleibt übrig: Deucalion und Pyrrha; ihre Liebe ist unzertrennlich. Von Themis erhalten sie orakelhaft dunkle Weisung : Ihre Kleider zu entgürten, ihr Haupt zu verhüllen und die Gebeine der Mutter hinter sich zu werfen (3 81 ff.). Sie befolgen den Spruch, indem sie, so deuten sie die Gebeine der Mutter Erde, Steine hinter sich werfen. Die von dem Manne geworfenen verwandeln sich in Männer, die Pyrrhas in Frauen: „Inde genus durum sumus experiensque laborum et documenta damus, qua simus orìgine nati" (14i4f.). Neben den beiden voll beleuchteten Grundzügen, dem metamorphosischen (Verwandlung der Erde in See 291 ff., der Steine in Menschen 400 ff.) und dem aitiologischen (Warum die Menschheit ein so hartes Geschlecht ist 4i4f.), beginnt sich ein dritter, der erotische, allmählich abzuzeichnen: Sind nicht Deucalion und Pyrrha das erste Liebespaar und endet nicht ihre Geschichte mit der wunderbaren Zeugung eines Menschengeschlechtes? Von hier aus fällt auch neues Licht auf die früheren Erzählungen zurück. Lag nicht in der Schöpfung der Welt durch den 'deus' (20), in der Bildung der Menschen aus Erde und Wasser durch Prometheus (76 fr.), in der Entstehung und Abfolge der Welt und Menschenalter (89 fr.), in der Erschaffung der Menschen aus dem Blute durch die feucht gewordene Erde (15 6 ff.) dieser selbe erotische Grundzug verhalten und latent, der nun manifest ans Licht tritt? Die Erzählung von Deucalion und Pyrrha beschreibt nochmals die Entstehung der

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Menschheit, erklärt nochmals die Härte der Gegenwart, steht also im Grunde als Dublette neben dem Weltalter- und dem Gigantenblutmythos. Aber diesmal leistet die chronologische Kompositionsweise die fugenlose Einordnung der an sich selbständigen Erzählung.63 Nach dem Menschen bringt die Erde Getier verschiedener Gestalt hervor (1416ff.): Die alte Feuchtigkeit war vom Feuer der Sonne erwärmt, Schlamm und Sumpf von der Hitze aufgequollen. Fruchtbare Samen der Dinge im lebendigen Boden wie im Schöße der Mutter waren ernährt und erwachsen und hatten irgendeine Gestalt gewonnen. Eines dieser Geschöpfe war der Pythondrache (438). Der große Abschnitt vom Anfang bis zur Sintflut und Neuschöpfung des Menschen scheidet sich wie ein langsam anschwellendes Präludium von dem Rest des Werkes ab: In allmählicher Enthüllung läßt der Dichter Stück um Stück die drei wesentlichen Grundzüge seines Werkes sich abzeichnen und immer klarer sichtbar werden, so wie die von ihm geschilderte Welt aus dem Chaos erwächst. Das reizvolle Wechselspiel des jeweils stärkeren oder schwächeren Hervortretens, ja der gelegentlichen Latenz des einen oder anderen dieser Grundzüge, das sich in diesem Präludium entwickelt, gibt dem ganzen Werk seine Buntheit und seine Abwechslung. Gleichzeitig klingt auch ein schmerzlich pessimistischer Grundton auf, der diesen ganzen Weltlauf, diese ganze Kette von Verwandlungen durchzieht.64 In der nun folgenden Erzählung von Daphne, dem Lorbeerbaum (I 434—567) stehen erstmals alle drei Grundwesenszüge des Werkes 63

Die Geschichte als solche verdankt Ovid gewiß schon früheren Dichtungen; vgl. HÄUPT-EHWALD zur Stelle. 64 Vom anderen, vom stofflichen Gesichtspunkte aus erscheint dieser erste Abschnitt als Einleitung in dem großen Dreiklang des Gesamtwerkes: Weltwerdung — Weltenlauf als bunte Abfolge von Metamorphosen — Apotheose Caesars bei W. KLIMMER, Die Anordnung des Stoffes in den ersten vier Büchern von Ovids Metamorphosen, Diss. Erlangen 1932, izff.

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im klarsten und schärfsten Licht, in ihr tönt die Dichtung im vollen Akkord ihrer Stimmen. Der Gott Apollo, der eben die Pythonschlange getötet hat, sieht den kleinen Liebesgott Cupido mit Pfeil und Bogen hantieren und verweist dem Kind solches Spiel mit Waffen; da wird Cupido zornig und will zeigen, daß er noch mächtiger ist als der große Gott von Delphi. Er nimmt zwei Pfeile aus seinem Köcher, einen, der Liebe erzeugt, einen anderen, der Liebe vertreibt; den einen schießt er auf Apollon, den anderen auf die Nymphe Daphne. Apollon sieht die Nymphe, liebt sie, sie flieht vor ihm und, als er sie schon eingeholt hat, fleht sie ihren Vater, den Flußgott Peneios, an, sie durch Verwandlung zu retten (548 fr.): Schwere Erstarrung befällt ihre Glieder, ihre weiche Brust wird von zartem Bast umschlossen, ihre Haare verwachsen zu Laub, ihre Arme zu Ästen. Ihr eben noch so schneller Fuß hängt in zähen Wurzeln, die Baumkrone nimmt ihr Haupt in sich auf — das gleiche Leuchten bleibt dem Baum erhalten. Phoebus liebt noch den Baum. Er legt seine Hand an den Stamm und fühlt noch unter der neuen Rinde die Brust erzittern, mit seinen Armen umfaßt er die Äste wie Glieder und küßt das Holz. Aber selbst das Holz flieht seine Küsse. Da macht sie der Gott, weil sie nicht sein Weib sein kann, zu seinem heiligen Baum (566): „mit den eben gewordenen Zweigen nickte der Lorbeer „ J a " und wie ein Haupt schien sie ihre Krone zu neigen." Ovids schon in seinen frühesten Werken deutliche Kunst der bildhaften Naturschilderung ist bis zur letzten Reife gediehen: Der Baum und sein Zittern und Neigen im Winde wird zum Gleichnis eines Menschlichen, ja wird dieses Menschliche selbst.65 Die Metamorphose ist noch voller und reicher erblüht als die des Lykaon. So reif wie der metamorphosische sind auch die beiden anderen Grundzüge entwickelt: Der aitiologische 65

Vgl. W. H. FRIEDRICH a. O. 96f. Ein Vergleich etwa mit Kallimachos, Hymn. 2,1 ff mag wenigstens ungefähr den Bereich andeuten, in dem sich Ovids Kunst heranbildete.



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(wie der Lorbeer entstand und zum heiligen Baum Apollons wurde) und der erotische (wie der Liebesgott Cupido selbst Apollon besiegte — mit den Worten primus amor beginnt die eigentliche Daphnegeschichte 452 — und wie die Liebe Apollons doch nicht ihr Ziel erreichte). Voll tönt die düstere Grausamkeit dieser Welt: Nicht in Liebe zu vereinen, sondern ewig zu trennen sendet der rachsüchtige Cupido seine Pfeile; welche Pein in Apollons vergeblicher Werbung, welche Verzweiflung in Daphnes auswegloser Flucht. Bedeutet nicht Daphnes Verwandlung statt Rettung Untergang, ihre Erhebung zum heiligen Baum statt sanfte Tröstung letzte Gewaltanwendung? So endet der Streit der Götter, so endet Apollons erste Liebe in der Enttäuschung für den Gott, im Tod für die Nymphe. Als Gegenstück, etwa aus der Mitte des Ganzen, sei noch die Erzählung von Philemon und Baucis erwähnt (VIII 621—724).66 In den Hügeln Phrygiens steht eine Eiche neben einer Linde, beide Bäume von einem Steinmäuerchen umgeben. Was hat es mit diesem uralten Baumheiligtum für eine Bewandtnis? Einst wanderten Juppiter und Mercurius in Menschengestalt über die Erde und klopften vergeblich an tausend Türen um Einlaß. Nur eine kleine, armselige Hütte öffnete sich den Göttern. Dort wohnt ein greises Paar: Philemon und Baucis. Von Jugend an vereint, sind sie in dieser Hütte alt geworden und haben sich die Armut durch Gleichmut leicht gemacht. Die Götter müssen ihr Haupt neigen, um die niedere Tür zu durchschreiten. Aber sie werden als Gäste freundlich aufgenommen und mit allen einfachen Speisen bewirtet, die das ärmliche Haus bieten kann. Ein Wunder offenbart sie endlich: Der Weinkrug, wieder geleert, füllt sich immer aufs neue. So erkennen die alten Leute in ihren Gästen Götter. Das Land, das die Gäste so schnöde abgewiesen hat, wird durch eine Flut vernichtet. 66

Dazu vgl. besonders L. MALTEN, Motivgeschichtliche Untersuchungen zur Sagenforschung; 1. Philemon und Baukis, Herrn. 1939,176 ff. und Motivgeschichtliche Untersuchungen zur Sagengeschichte II, Herrn. 1940, 168 ff.

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Philemon und Baucis allein steigen mit den Göttern den Berg hinan und werden so gerettet. Von oben sehen sie das Land in einen Sumpf versunken, nur ihre Hütte steht noch. Vor ihren Augen verwandelt sie sich in einen Tempel. Juppiter fordert die beiden Alten auf, einen Wunsch zu äußern; da rücken sie nach kurzer Beratung heraus: Sie möchten Priester in jenem neuen Tempel sein und, da sie ihr Leben lang einträchtig gewesen, auch zusammen sterben. Ihr Wunsch ging in Erfüllung (713 ff.). Als sie einmal vor den Stufen des Tempels standen und die Geschichte des Platzes erzählten, sah Baucis, wie sich Philemon belaubte und Philemon sah, wie sich Baucis belaubte; und als schon der Wipfel über die beiden Antlitze wuchs, sagten sie, solange sie noch konnten, zueinander „Leb wohl, mein Gemahl" und schon verdeckte die Rinde ihren Mund. 717fr.: „vale" que O coniunx dixere simul, simul abdita texit Ora frutex Das Flüstern des Abschieds sowohl wie das dunkle Rauschen der Bäume klingt in den Lauten dieser Verse — beides ist eins geworden. Wieder liegen die drei Grundzüge der Erzählung deutlich zu Tage: Der metamorphosische: Verkleidung der Götter, Verwandlung des Landes, Verwandlung der Hütte, Verwandlung der Greise; der aitiologische: Ursprung des Baumheiligtums; der erotische, um so reizvoller als unerwartet und halbversteckt: haben wir nicht in den beiden Greisen ein Liebespaar, in ihrer Geschichte eine Liebesgeschichte von unbeschreiblicher Zartheit und Wärme? Kaum jemals sonst wird das menschliche Wachstum so deutlich, das Ovid von der Ironie und dem Witz der Amores zu dem milden und weisen, zu dem schmerzlichen Lächeln dieser Idylle von der unzertrennlichen Liebe der Greise geführt hat. Die des erotischen Zuges entbehrenden Geschichten sind er-

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staunlich klein an Zahl und überall so eng mit erotischen Partien verwoben, daß sie kaum ins Gewicht fallen.67 67

Von Liebe ist in der Lykaonmetamorphose keine Rede (I 163—239); aber diese selbst ist als Erzählung Juppiters nur in die Götterversammlung eingelegt, die zur Sintflut und zur Neuzeugung des Menschengeschlechts durch das Liebespaar Deukalion und Pyrrha führt. Zwar hat Ocyrhoes Verwandlung in eine Stute (II 633—65 5) an sich mit Liebe nichts zu tun — aber die Chirontochter Ocyrhoe wird in die Erzählung eingeführt als Seherin, die Asklepios, dem Kind der Liebe Apollons und der Coronis, sein Schicksal kündet. Battus wird zur Strafe für seinen Wortbruch in einen Kiesel verwandelt (II 685—707) — als Apollon gerade durch seine Liebe (dumque amor est curae 683) an der Bewachung seiner Rinder gehindert wird. Die Verwandlung der Minyastöchter in Fledermäuse (IV 1—445) umschließt als Rahmen eine ganze Serie von Liebesgeschichten (IV 55—388). In dem erotischen Perseus-Andromedakomplex (IV 607 —V 249) steht neben anderen, deutlicher auf die Liebe bezogenen Geschichten, die an sich unerotische Verwandlung des Atlas in einen Berg (IV 621—662). Arachne, die von Minerva in einem Wettkampf der Webkunst besiegt und in eine Spinne verwandelt wird (VI 1 —145) hat in ihrem Gewebe eine Reihe von Liebesgeschichten dargestellt. Mißt sich nicht Niobe mit Latona (VI 146—312) zuletzt nicht nur im Mutterstolz, sondern auch in der Mutterliebe? Die Geschichte der großen Liebenden und Rächenden, Medeas, (VII 7—452) teilt ihr erotisches Licht auch den von ihr umschlossenen nichterotischen Sagen mit. Die Sage von Daedalus und Icarus (VIII 183—235) folgt auf die erotischen kretischen Erzählungen und berichtet selbst eine Tragödie zwar nicht der Geschlechts- wohl aber der Vaterliebe. Die Groteske Erysichthongeschichte (VIII 738—878) enthält in sich die Liebesburleske der Mnestra (VIII 832—870) und steht selbst im Rahmen der so vielfach erotisch aufleuchtenden Teseusreihe. Das lächerliche Schicksal des Midas (XI 85 — 193) wird wenigstens durch die Person des Bacchus mit dem vorhergehenden so stark erotischen Orpheuskomplex verbunden. Die Geschichte des Ceyx (XI 266—748), erotisch durch den Schluß (410—748) und durch die in sie eingebettete Chione-Erzählung (291—345) teilt ihr Licht auch der von ihr umrahmten Verwandlung des Wolfes in ein Standbild mit (346—407). Der ganze Ablauf der troischen Sagen (XI 749—XIII 622) wird von Aesacus' unglücklicher Liebe und Verwandlung eingeleitet (XI 749—795) und steht ständig unter dem Zeichen des Raubes der Helena (XII 5 —7), wenn auch die meisten seiner Episoden keine direkte erotische Beziehung haben: Etwa die CycnusVerwandlung (XII 64—144), der Tod Achills (XII 580—627), das Schiedsge-

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Des aitiologischen Zuges entbehrt im Grunde keine der Metamorphosen ganz; nur wird er gelegentlich stark hervorgehoben, wie etwa — nur Beispiele aus der unendlichen Fülle können genannt werden — beiNiobe (VI 310fr.) oder Icarus (VIII235), oft stillschweigend vorausgesetzt. Den zahllosen Pflanzen- und Tiermetamorphosen fehlt er nur scheinbar: Als Daphne in den Lorbeer verwandelt wird, sagt Ovid ausdrücklich (1450): nondum laurus ira/und gibt damit den Fingerzeig zum Verständnis auch der übrigen Fabeln: Die so entstandenen Tiere undPflanzen sind die erstenihrer Art. Die Metamorphose erzählt ihre Erschaffung, ist das Aition für die Existenz ihrer Gattung. Der metamorphosische Zug endlich gibt dem Ganzen wie dem Einzelnen Sinn und Bedeutung. Selbst bloßes Geschehen, bloßer Verlauf wird als Wandlung, als Metamorphose interpretiert. Die Größe des menschlichen und künstlerischen Wachstums, das den Dichter seit seinen Lehrbüchern gereift hat, läßt sich kaum ermessen, höchstens in einigen Zügen andeuten. Die Ansätze zu größeren Kompositionen in ,Ars' und ,Remedia' sind über die rieht um Achills Waffen (XIII 1—383), der Tod des Aias (XIII 384—398), der Troerinnen — Polydorus — Polyxena — Hecuba-Komplex (XIII 399 — 575)» die Entrückung Memnons (XIII 576—622). Auch als die Handlung mit der Fahrt des Aeneas aus dem Gebiet der griechischen in das der römischen Sage hinüberschreitet, bleibt zunächst das gleiche Bild; Cjthereius heros nennt Ovid den Helden (XIII 625) und stellt so seine Fahrt von Anfang an ins Zeichen der Venus; seine göttliche Mutter ist es auch, die ihm am Schluß die Apotheose erwirkt (XIV 5 81 — 608); bis auf die Erzählung von Anius und seinen Töchtern (XIII 623—684) und von Achaemenides (XIV 154—222) umgreift dieser Komplex eine ganze Reihe offenkundiger Liebessagen. Erst in dem geschichtlicher Zeit geltenden letzten Teil des Werkes (von X I V 609 an) scheint sich das Verhältnis zwischen erotischen und nichterotischen Erzählungen umgekehrt zu haben; aber selbst hier steht das reizvolle Liebessagenpaar von Pomona — Vertumnus und Iphis — Anaxarete (XIV 623—771) am Anfang und die von Venus dominierte Apotheose Caesars (XV 746—870) am Schluß; sonst herrscht in dieser Partie, abgesehen etwa von der Apotheose des Romulus, der durch Hersilias Nachfolge in den Bereich der Liebe übergreift (XIV 805—851) und der Verwandlung des Hippolytus in Virbius (XV 497—546), Nichterotisches deutlich vor. j Stoessl

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Fasten hinweg zu den Metamorphosen voll ausgereift. Hatte er in ,Ars' und ,Remedia' noch das heitere Diesseits gestaltet, so gewann er nun mit den ,Fasten' und noch mehr mit den ,Metamorphosen' das Mythische als Gegenstand des Großwerkes. Erst mit den Metamorphosen scheint er den ganzen Bereich hellenistischer Sagenauswahl und Sagenbehandlung seiner eigenen Gestaltungskunst hinzuerworben zu haben. Ja, es ist charakteristisch für ihn, daß er gleich noch über dieses nun Erreichte hinauswächst, indem er den griechischen Bereich durch den römischen und sogar durch den geschichtlich-gegenwärtigen aufrundet und ergänzt. Er hat nicht nur den epischen Vers und die epische Form, sondern auch die künstlerische Haltung des Epikers gewonnen: Die des Erzählers; jetzt endlich vermag er eine schier unendliche Stoffmasse als fortlaufende Geschichte zu organisieren und bis in den kleinsten Teil zu beleben. Hatte er als Elegiker sich in seine Figuren hineinversetzt und aus ihnen wie durch eine Maske gesprochen, so stellt er nun unmittelbar dar; aus dem Rhetor, der sich hinter fremder Gestalt verbarg, ist der Dichter erwachsen, der sich in seinen Schöpfungen ausdrückt. Sein Leben und sein Weltbild, das so unbeschwert heiter, so überlegen ironisch begonnen hatte, scheint bitter und schwermütig, ja verzweifelt geworden. Was für Götter, die das Lachen eines Kindes durch Verwandlung in eine Eidechse strafen,68 die Herausforderung zu einem Kunstwettkampf durch Verwandlung in eine Spinne69 oder durch Abziehen der Haut70 rächen, die die stolze Überheblichkeit einer Mutter brechen, indem sie sieben Söhne und sieben Töchter mit ihrem unfehlbaren Pfeil hinwegraffen, daß die Mutter im Schmerz zum weinenden Felsen wird, 71 die Mädchen für ihren Unglauben in Fledermäuse verwandeln,72 die ihre Geliebten verfolgen, bis 68

V 451fr.

69

VI 5-145.

70

V I 3 80 ff.

71

VI 146-312.

72

IV iff.

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sie sich nur mehr in die Metamorphose retten können73 oder sie durch Trug gewinnen und dann der Strafe preisgeben,74 ja sie gar der Peinigung durch eine andere Gottheit überlassen?75 Und was für eine Menschheit ist nach dem Abstieg der Zeitalter verblieben76 oder aus Steinen erwachsen?77 Sie verwehren der Verschmachtenden den Trunk aus dem Teich,78 verraten den eigenen Vater an den Feind,79 suchen den Incest mit dem Bruder,80 dem Vater,81 tun der Schwester der Gattin Gewalt an82 und verstümmeln sie aufs grausamste, um nicht verraten zu werden.83 Der Usurpator herrscht84, und die Jungfrau läßt gegen Lohn die Feinde in die belagerte Burg ein.85 Was für ein Leben, da die Liebe nicht in der Seligkeit der Erfüllung, sondern im Untergang der Metamorphose endet.86 Was für eine Welt, deren Lauf sich alseine unendliche Kette grausamer Katastrophen darstellt? Erst jetzt hat Ovids Humor die letzte menschliche Tiefe und Weisheit gewonnen, der all dies Leid zu heiterem Gedicht formen, der im Schmerz und Grauen noch lächeln, der das Unerträgliche erträglich machen kann. Wird ihm nicht die Verwandlung zum Euphemismus für den Untergang, die Metamorphose zur Maske des Todes?87 73

I 452ff.; I 689ff. II 401 ff. 75 I 583 ff. 76 1 1 2 8 ff. 74

7 7 1 4 I 4 ff. 78

VI 3 1 7 f r . VIII iff. 80 I X 447 ff. 81 X 298 fr. 82 IV 525. 83 V I 556. 84 772 fr. XIV. 85 X I V 776 fr. 86 Kaum je führt eine Werbung zum heiteren Sieg: X I V 623fr. 87 Ausnahmen wie etwa die frivole Tiresiasgeschichte (III 316—338) ändern nichts an dem Gesamtbild. 79

3

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Als die Metamorphosen im wesentlichen — bis auf eine letzte Durcharbeitung —• beendet waren, traf Ovid der Schicksalsschlag, der seine Weiterentwicklung in den bisherigen Bahnen jäh beendete: Im Jahre 8 n. Chr. wurde er durch kaiserliches Edikt nach Tomis in der Dobrudscha verbannt. Wir können das Entsetzliche dieser Maßnahme für den Römer der damaligen Zeit und für Ovid im besonderen kaum noch mitfühlen.88 Die künstlerische Existenz schien ebenso vernichtet wie die bürgerliche. Nur in Rom konnte Ovid schaffen, wie es ihm gemäß war; nur das große Kulturzentrum bot ihm den nötigen bibliothekarischen Apparat; 89 hier gab es das Publikum, für das zu arbeiten lohnte, nur hier lebendigen Kontakt mit literarischen und kritischen Freunden, Arbeit am wachsenden Werk in stetem Austausch von Gedanken. Die Verbannung trennte ihn auch von Gattin und Familie, von Hauswesen und Vermögen. So entzog sie ihm die Grundlage und den Sinn seines Schaffens. Und doch hat dieser Schlag nicht das letzte und höchste vernichtet, was der Mensch Ovid geworden war: Den Dichter. Ein neuer Inhalt rang in seiner Seele um Ausdruck: Sein persönliches Leid, sein eigenes Ich. Von nun an meint jedes Gedicht unmittelbar ihn selbst, jedes dichterische Bild, jede Schilderung der Natur, jedes mythologische Beispiel soll ihn selbst, soll sein leidgezeichnetes Antlitz enthüllen und offenbaren. So stand Ovid vor einer ganz neuen künstlerischen Aufgabe: Darstellung des Ich in dieser seiner besonderen und persönlichen Not. Wie es dieses eine Schicksal nie gegeben hatte, so fehlte auch das literarische Vorbild. Am ehesten möchte an die monodische Lyrik der Griechen angeknüpft werden — aber wie anders war die politische Leidenschaft des kämpfenden, des verbannten und zurückkehrenden Alkaios, die 88

Es

ist H . FRANKELS Verdienst, die Gefahren und Schrecken eines

solchen Exils, die auch für die Beurteilung von Ovids Haltung wichtig sind, gebührend hervorgehoben zu haben: a. O. 1 1 7 f r . 89

Trist. III 14, 37.

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weibliche Welt der Sappho, die Aggressivität des Archilochos. Ovid war übrigens die Form solcher Lyrik durch die Dichtung des Horaz vorweggenommen. Vielleicht regten Övid Epigramme des Archilochos —etwa Fr. i oder Fr. 7D —an, den Ausdruck wieder in der Elegie zu suchen, die er sich in so langer Übung zum Instrument gebildet und die wiederum ihn geformt hatte.90 Catull hatte seiner Trauer um den Tod des Bruders in einer am Grabe gesprochenen Elegie Ausdruck gegeben. Ovid hat jedoch als erster Elegien dieser Art zu Kränzen ganzer Bücher zusammengeordnet. Schon auf der Seereise in die Verbannung entstanden die ersten Trauerelegien, die er Tristien nannte. Aus wenigen Beispielen möge das vollständig Neue und Persönliche, das Veristische dieses Stils erhellen. In Trist. I 3 schildert Ovid die letzte Nacht, die er in Rom verbrachte. Er spricht zum letzten Male die wenigen Freunde an, die ihm geblieben waren. Die Gattin hält ihn liebend fest, noch heftiger weinend als er selbst (15 ff.). Schon schwiegen die Stimmen der Menschen und Hunde, der Mond trieb sein Gespann am Himmel (27ff.); indem er zum Mond aufblickt, sieht er auch das seinem Haupte so nahe Capitol und betet zu den Göttern, die dort ihre Tempel haben, ihn mit dem Gott auf Erden, mit Augustus zu versöhnen. Immer wieder versuchte er den Aufbruch zu verzögern. Dreimal stand er an der Schwelle, dreimal ließ er sich zurückrufen (5off.). Immer von neuem nimmt er Abschied. Endlich scheint der Morgenstern auf, die Trennung muß vollzogen werden; da umschlingt ihn die Gattin und empfindet die Unmöglichkeit der Trennung. Sie will ihn ins Exil begleiten (79 ff.) — aber ein Begleiten war ja ausgeschlossen. So riß er sich los, als gehe seine eigene Leiche zum Begräbnis. Wie die Gattin ohnmächtig zusammenstürzte und dann, endlich wiedererwacht, um ihn klagte, erfuhr er nur aus Berichten (91 ff). 90

Vielleicht war auch hierin die Tradition etwas reicher, als das uns Erhaltene noch erkennen läßt: Man vergleiche z. B. die Elegie Andromaches bei Eurip. Androm. 103 fr.

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Alle Kunst, die Ovid erworben hat — man denke an die Abschiedsszene der Hypsipyle im sechsten Heroidenbrief, an die plastische Lebendigkeit der Festschilderungen in den Fasten — gilt nun der Darstellung seiner persönlichen, grausamen Wirklichkeit. Gerade durch ihr ziel- ja ordnungsloses Dahinfließen gestaltet die Elegie die bittere Abschiedsnacht mit letzter Wahrheit. Die Natur, die ihm so oft ein Menschliches bedeutet hatte, wird ihm nun zum Bild und Ausdruck seiner selbst: Der Sturm auf dem Meere, da das Schiff zu scheitern droht (Trist. I 2); der kalte Winter der Dobrudscha, da man den Wein nicht flüssig schöpft, sondern in Stücken bricht (Trist. III 10). Schon das erste Tristienbuch zeigt Ovid im vollen Besitz der neuen künstlerischen Form. Und wieder — auch unter den nun so bedrückenden äußeren Verhältnissen — wächst und reift ihm das Gewonnene zu größerem Ganzen heran. Neben die Gedichte von Buch I trat die große poetische Apologie (Trist. II), die wenigstens die offizielle Begründung seiner Verbannung entkräften sollte. Nur Ovids neuer, so ganz auf sein Ich bezogener Kunstwille konnte der elegischen Form ein so neues, nie vorher betretenes Gebiet erschließen. Die buchfüllende elegische Apologie (578 Verse) zeigt noch immer den lebendigen Drang Ovids zur Großform. Aufrundend und ergänzend wie in allen Perioden seines Dichtens, schuf Ovid zu seiner Apologie das ergänzende Gegenstück: Das Fluchgedicht gegen den Feind, Ibis. 9 1 Auch hier erwächst ihm in seiner ganz besonderen Situation die elegische Kunstform zu ganz neuer Funktion.92 Wie in allen seinen Werken, so schloß sich Ovid auch hier zwar an Vorbilder an, formte sie aber grundlegend um und wuchs weit über sie hinaus.93 Ovids ganz neuer Stil der Unmittelbarkeit, Direktheit, des Ausdrucks vom Persönlichsten und Eigensten brachte als bedeut91

KRAUS a. O. 1966, neuerdings A. LA PENNA in seiner 1957 als 35. Band der Biblioteca di Studi Superiori erschienenen kommentierten Ausgabe. 92

Ibis 45f.; 644.

93

KRAUS a. O. 1968,

44fr.

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samste Frucht ein Gedicht wie Trist. IV 10 hervor: Eine Selbstbiographie, die wie ein Testament an die Nachwelt das Buch beschließt, das, so fühlt der Dichter, sein letztes sein mochte. Nie vor ihm konnte ein Dichter eine solche. Selbstbiographie schreiben. Den fünf Büchern Trauerelegien, die Ovid in den ersten Jahren seiner Verbannung schrieb und nach Rom sandte, folgten als Ergänzung und Aufrundung des geschaffenen Werkes drei Bücher poetischer Briefe an Freunde und Gönner in Rom; in seinem Nachlaß fanden sich noch sechzehn weitere solcher Briefe, die postum als Epistulae IV ediert wurden.94 Blieb der Adressat in den Tristien mit wenigen Ausnahmen unbenannt, so fällt in den Epistulae ex Ponto auch diese letzte Hülle: Nun schreibt unmittelbar das Ich des Dichters an das Du des Empfängers. Die Epistulae ex Ponto stehen neben den ,Tristien' wie seinerzeit in der Jugend die ,Heroides' neben den ,Amores'. Aber welchen Weg hat das Leben und der Dichter inzwischen durchmessen: Aus dem Spiel der Phantasie mit fingierten Personen ist persönliche Wirklichkeit, düsteres Ich, Jetzt und Hier geworden. Die Bitterkeit der Katastrophe hat Ovid einen neuen, letzten Bereich seines Mensch- und Dichterseins erschlossen. Sein Selbst. Und so weiß er von sich, ungebrochen in allem Leid: Si quid habent igitur vatum praesagia veri, Protinus utmoriar, non ero, terra,'tum. (Trist. IV 10, 129 f.) 94

V g l . KRAUS a. O . 1 9 6 4 fr.