Ostraum, Preussentum und Reichsgedanke: Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden [Reprint 2021 ed.] 9783112486900, 9783112486894

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Ostraum, Preussentum und Reichsgedanke: Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden [Reprint 2021 ed.]
 9783112486900, 9783112486894

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OSTRAUM, PREUSSENTUM UND REICHSGEDANKE

HISTORISCHE ABHANDLUNGEN, VORTRÄGE UND REDEN

VON

HANS ROTHFELS

H 19

3

5

LEIPZIG / J. C. HINRI CHS’ SCHE BUCHHANDLUNG

KÖNIGSBERGER

HISTORISCHE FORSCHUNGEN HERAUSGEGEBEN

VON FRIEDRICH BAETHGEN u. HANS ROTHFELS

BAND 7

PRINTED IN GERMANY

Meinen Schülern und Freunden im Reich und im Baltikum

Inhaltsübersicht Seite

Borwort................................................................................................................. V 1. Der Osten, Preußen und das Reich...................................................... 1 2. Friedrich der Große in den Krisen des Siebenjährigen Krieges. . . 15 3. Stein und der deutsche Staatsgedanke....................................................... 33 4. Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik...................................... 49 5. Bismarck und die Nationalitätenfragen des Ostens.................................. 65 6. Bismarck, das Ansiedlungsgesetz und die deutsch-polnische Gegen­ wartslage ............................................................................................................. 93 7. Reich, Staat und Nation im deutsch-baltischen Denken ...... 100 8. Das Auslandsdeutschtum des Ostens..........................................................121 9. Universität und Auslandsdeutschtum..........................................................124 10. Die Albertina als Grenzlanduniversität..................................................... 129 11. Ost- und Westpreußen zur Zeit der Reform und der Erhebung . . 146 12. Uber die Aufgaben Ostpreußens in Vergangenheit und Gegenwart 176 13. Das Problem des Nationalismus im Osten............................................. 183 14. Französischer Nationalismus in der Ostgeschichtsschreibung .... 195 15. Selbstbestimmungsrecht und Saarabstimmung.........................................207 16. Deutschland und der Donauraum..............................................................223 17. Das Werden des Mitteleuropa-Gedankens............................................. 228 Anmerkungen............................................................................................................249

Vorwort Der äußere Anstoß zur Herausgabe dieser Sammlung liegt in wiederholtem Drängen nahestehender Freunde, und der Wunsch, Ausführungen zusammengefaßt zu sehen, die z. T. zerstreut oder an entlegener Stelle erschienen, z. T. noch unveröffentlicht sind, ist mir auch sonst nicht selten entgegengetreten. Aber vor mir selbst würden weder persönliche noch praktische Gesichtspunkte die Notwendigkeit ausreichend begründen, der stattlichen Reihe kleiner historischer Schriften, die ein bestimmtes literarisches Genus der deutschen Geschichtswissen­ schaft bereits ausmachen, einen neuen Band hinzuzufügen. Was darüber hinaus den Anstoß für mich verpflichtend gemacht hat, ist zu­ nächst eine bestimmte Generationenlage, über deren Voraussetzungen man freilich nicht viel Worte machen mag. Wer wirklich im Kriege war, Pflegt wenig von „Erlebnissen" zu sprechen, er betrachtet sich als zufällig Übriggebliebenen, dessen individuelles Meinen und Handeln nicht so sehr wichtig ist. Aber er weiß auch, daß er für immer in „Reih und Glied" steht und ein Vermächtnis weiterzugeben hat. Die Schicht der älteren Studenten und jüngeren Doktoren, die mit einer schon geprägten historischen Anschauung 1914 hinauszogen, bildet eine schmal gewordene Brücke zwischen den Generationen, nur ein kleiner Teil kehrte aus dem Felde und aus den Lazaretten heim, nur wenige konnten die Fäden wissenschaftlicher Arbeit wieder aufnehmen, auch sie nur unter Voraussetzungen, die sich von der bürgerlichen Sekurität der Vorkriegszeit grundlegend unterschieden. Die Zurückführung auf die Elementarsragen der staatlichen und nationalen Existenz schloß jede Versuchung einer ästhetisierenden Geschichtsbetrachtung oder einer bloßen Flucht ins Geschichtliche aus, aber dieser positive Impuls der drängenden Gegenwartsaufgaben ließ auch im allgemeinen das jahre­ lange Sammeln und Reifen nicht zu. Das außen- und innenpolitische System von 1919 zwang alsbald die Feder in die Hand, und wer aus dieser Frontgeneration in ein verantwortliches Lehramt gelangte, der sah sich rasch vor pädagogische Aufgaben sehr ungewöhnlicher Art gestellt. Es galt äußerlich den Massenbetrieb durch eine Gestaltung des Unterrichts zu überwinden, die statt der beliebigen Stoffvermitt-

Vorwort

hing nebeneinanderstehender Fächer den Menschenbildungs-Ansprnch der „Universität wieder anfnahm, nnd es galt — was darin zu­ gleich schon ausgesprochen ist — innerlich an eine Jugend heranzu­ kommen, für die der Sinn wissenschaftlicher, insbesondere aber ge­ schichtlicher Erziehung weithin zweifelhaft geworden war. Von der Arbeit an diesen Aufgaben der Jahre nach 1919 darf und soll hier bis zu einem gewissen Grade und in einem bestimmten Ausschnitt Zeugnis abgelegt werden. Zeugnis insofern, als die wirksamste pädagogische und lebensmäßige Ausrichtung der akademischen Altersschicht, die ritt­ lings der Zeitenwende stand, nicht so sehr in zahlreichen und umfäng­ lichen literarischen Werken als in unmittelbareren Formen des wissen­ schaftlichen und menschlichen Einsatzes erkennbar sein wird, in einer „kämpfenden Wissenschaft", die sich von der zuchtlosen politisch-zweckhasten Publizistik jener Jahre ebenso abgesetzt hat wie von den mehr antiquarischen Interessen und die bei aller kritisch-methodischen Strenge frei geblieben ist von dem tendenziösen Irrglauben standpunkt­ loser Objektivität oder eines privaten Allverstehens. Wer selbst Mit­ träger geschichtlichen Schicksals gewesen war, für den konnten geistiges und politisches Bewußtsein nicht auseinander klaffen. Für eine solche Unmittelbarkeit, für ein solches Jneinssetzen von Wissenschaft und Leben bot das Lehramt der neueren Geschichte an der Universität Königsberg, das ich in kritischen Jahren habe verwalten dür­ fen, bevorzugte Möglichkeiten und exemplarischen Anlaß. Das ist der zweite Gesichtspunkt, den ich dieser Veröffentlichung in aller Kürze voran­ zustellen habe: sie steht über das generationsmäßig Gemeinsame hinaus unter der besonderen Verpflichtung — gewissermaßen eines Vor­ postenberichts. Was damit gemeint ist, braucht hier nicht im einzelnen begründet zu werden; in einem der nachfolgenden Aufsätze (Die Alber­ tina als Grenzlanduniversität) wird ausführlicher von diesem Thema gehandelt und der Umkreis der neuartigen Aufgaben umschrieben, in den die nordöstliche Hochschule des Reichs seit Versailles hineinge­ wachsen ist. Sie wurde nach Wesen und Haltung „Reichs"-Universität, lang ehe dieser Begriff juristisch und organisatorisch eine festere Ge­ stalt erhielt. Wer an ihr in einem der wissenschaftlichen Kernfächer tätig war, der konnte sich nicht in Hörsaal und Studierstube einschließen, er stand in einer umfassenden Schicksalsgemeinschaft, die seine Be­ rufsarbeit tiefer gründete und nach ihrer eigenen Wesensart in An­ spruch nahm. So verbot sich für Erziehertätigkeit und Forschung an und für sich schon der Irrweg privater Beliebigkeit und der alte Titel

Vorwort des „öffentlichen Professor" erhielt einen neuen inhaltsvollen Sinn. Den Sinn nicht nur des räumlichen Heraustretens aus dem akade­ mischen Bannkreis und aus dem provinziellen wie dem binnendeutschen Bereich, sondern damit zugleich den eines öffentlichen Dienstes, bei dem Erkenntnis und Bekenntnis die beiden notwendig zusammengehörigen und sich bedingenden Seiten der gleichen strengen Berufsforderung sind. Demgemäß bietet die vorliegende Sammlung keine beliebigen Nebenfrüchte oder disjecta membra gelehrter Tätigkeit dar, auch keine Essais, die ihren Wert in der anschaulichen Zurückmfung irgend­ welcher Vergangenheiten haben, sondern einen Ausschnitt aus der Grenzland- und Ostarbeit der Königsberger Universität, soweit ich in 814 Jahren an ihr teilnehmen konnte. Für die Anlage dieses Ausschnitts mußte der Gesichtspunkt der sachlichen Konzentrierung und einer straffen thematischen Linie entscheidend sein. Ich habe demgemäß vielerlei weggelassen, was nach Form und Haltung in einen solchen Sammelband an sich wohl hinein gehört hätte, insbesondere auch alle historischen Darlegungen zu rein außenpolitischen Fragen, die an sich meiner spezielleren Forschung nahestehen und durch das Kriegsschulddiktat der Frontgeneration besonders nahe gebracht worden sind. Auch sie haben ja eine sehr dringliche Beziehung zu den Schicksalsproblemen der Ostzone Mitteleuropas und sind daher in der Grenzlandarbeit des Historikers immer wieder behandelt worden. Für die vorliegende Auswahl galt es aber das Thema enger zu fassen und es abzustellen auf die Entwicklung eines durchgehenden gedank­ lichen Zusammenhangs, der aus Geschichte und Gegenwart ungesucht erwachsen ist und den der Dreiklang des Titels umschreiben soll: Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke. Von sehr verschiedenen Ausgangspunkten her hat sich diese Linie ergeben, und die Aufeinanderfolge der einzelnen Stücke, die einer sachlichen Ordnung aber auch annähemd (wenngleich nicht sche­ matisch) der Entstehungszeit entspricht spiegelt das bis zu einem gewissen Grade wieder. Der eine Wurzelbereich ist die Bismarcksche Politik und Staatsanschauung, deren grundsätzliche und verpflichtende 1 Es verstand sich nach der Anlage und dem Sinn dieser Sammlung von selbst, daß den einzelnen Stücken die Farbe des Moments erhalten ge­ blieben ist. Sie werden grundsätzlich unverändert wiederabgedruckt oder nach der ersten Mederschrift wiedergegeben. Neben einzelnen rein tatsäch­ lichen oder stilistischen Verbesserungen ist an den Text nur unter dem redak­ tionellen Gesichtspunkt gerührt worden, insbes. um Überschneidungen möglichst zu

Vorwort Gehalte über das Taktisch-Zeitgebundene hinaus ich früher schon dar­ zustellen versucht habe. Mit einer Skizze der Prinzipien seiner Außen­ politik und seiner Sozialpolitik — wie auch mit dem Vergleichsbild des Freiherrn vom Stein — reichen diese Studien in die vorliegende Sammlung hinein. Zwischen dem diplomatisch-geschichtlichen und dem sozialgeschichtlichen Thema, die beide eine besondere Ausrichtung auf den Osten haben und praktisch eng verbunden sind, erhob sich dann auf dieser Verbindungslinie und aus den östlichen Erfahrungen noch dazu immer dringender die Fragestellung nach dem Verhältnis von Volk und Staat, nach dem Nationalstaatsproblem in Mitteleuropa, insbe­ sondere nach Bismarcks Nationalitätenpolitik. Der Nachweis ihrer Andersartigkeit, gemessen an den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts und dem modernen demokratischen Nationalismus, führt einerseits zurück auf das „Preußentum" als friderizianisch geprägte Haltung und als ein Prinzip der Ordnung zwischen den Völkem. Er führt anderer­ seits und eben damit voraus zu einer Auffassung des „Reichs", dessen Ab­ stand von dem bürgerlichen Nationalstaatsideal, dessen Front gegen die Ideen von 1789 heute nicht mehr als reaktionäre Unvollkommenheit, sondern als bedeutsamer Ansatzpunkt zu Gedanken und Notwendigkeiten des 20. Jahrhunderts erscheint. So wird in zwei spezielleren Abhand­ lungen dieser Sammlung von der Bismarck-Position die Linie bis zur deutsch-polnischen Gegenwartslage gezogen und die Politik des Reichs­ gründers durch sein Verhältnis zum baltischen Deutschtum sowie durch die Eigenart und die Fortwirkung des baltischen Nationalbegriffs noch näher erläutert. Zusammenfassend darf man wohl sagen, daß Bis­ marcks Reichspolitik, die äußerste Härte der Selbstbehauptung mit einem durchaus positiven Verhältnis zu den mitwohnenden, den — in seiner Sprache — „vorsehungsmäßig durcheinandergeschobenen" Völkem verbindet, sehr lebendig in die Gegenwartsaufgaben des Ost­ raums hineinreicht und auf ihre Weise das Zueinandertreten der staatspolitischen und der volkspolitischen Linie verkörpert. Eine zweite Überliefemngsreihe ist die vom ostpreußischen Boden her, wie sie am stärksten in der großen Reform- und Erhebungs­ zeit geprägt worden ist und dem Historiker als eigenartig erneuerter vermeiden. — Die Anmerkungen am Schluß des Bandes geben darüber genaue Rechenschaft, ebenso über Anlaß, Entstehungszeit und etwaigen Druckort. — Auf die Beigabe eines wissenschaftlichen Apparats habe ich verzichtet, auch da, wo er beim 1. Abdruck hinzugefügt war. — Auf literarische Ausein­ andersetzungen ist in den Anm. nur an wichtigeren Punkten verwiesen.

Vorwort Impuls an Ort und Stelle recht spürbar wird. Davon suchen neben dem schon erwähnten Universitätsaufsatz noch zwei andere Stücke der Sammlung Rechenschaft zu geben. Ich habe das eine, einen Vortrag, der ausdrücklich von den Aufgaben Ostpreußens „in Vergangenheit und Gegenwart" handelt s. Zt. unter ein Königsberger Motto von 1851 gestellt, das seitdem ost und mit Recht in den gegenwärtigsten Zu­ sammenhängen zitiert worden ist: „Wir sind nicht bloß eine Provinz, wir sind ein Land." Man könnte mit diesem Zeugnis für das fort­ wirkende Bewußtsein eines altpreußisch-kolonialen Berufs und eines besonderen geistig-politischen Standorts das andere noch klangvollere Wort verbinden, das die Vertreter des letzten Hochmeisters dem Trierer Reichstag als Ehrennamen ihres Landes ins Gedächtnis riefen: „Nova Germania, das ist Neu Teutschland". — Auch dieser Anspruch greift sehr bezeichnend in die Gegenwartslage des Ostens hinein, in der Alt­ preußen wieder bedrohtes Grenzland und zugleich Brücke über die Grenzen hin geworden ist: eben deshalb an einer Neuordnung der Beziehungen von Staat und Volk, draußen und drinnen, aufs innerste beteiligt. Damit ist der dritte Ausgangspunkt dieser Gedankenreihe berührt: der preußisch-gesamtdeutsche und der ostdeutsch-mitteleuro­ päische. Von Königsberg aus schlägt sich für den Historiker leicht und mit innerer Notwendigkeit die Verbindung zu den benachbarten deut­ schen Volksgruppen, und das Erlebnis einer unerhört engen Schicksals­ gemeinschaft wird dem überkommenen Geschichtsbild tiefe Spuren einprägen. Wie dabei der koloniale Boden des Ordensstaates mit seinen durch den Heimatzusammenhang und die preußische Prägung befriedeten „Nationalitäten" den Übergang bildet, so wirkt vom Kampf der deutschen Auslandsgruppen um eigenständiges Volksleben und um Mitverantwortung in ihrem geschichtlichen Lebensraum der Anstoß fruchtbar auf die ganzen östlichen Grenzlandfragen zurück. Überall geht es gegenüber den Ideologien von 1919, gegenüber der abstrakten Nationalstaatsidee, die schon Bismarck bekämpfte, um neue Formen des Zusammenlebens der miteinander verzahnten Völker. Im Westen mit seiner eindeutigen Siedlungsgrenze liegen die Probleme vielfach anders, wie in einer Auseinandersetzung mit der französischen Ge­ schichtsschreibung und einem Überblick über die Saarfrage im Folgen­ den näher erläutert wird. Im Osten kann das Mittel der Volksab­ stimmung, das an der Saar eine endgültige Schlichtung geschaffen hat, nur begrenzte Abhilfe gewähren. Das eigentliche Problem greift hier

Vorwort

tiefer in das historische Gefüge hinein, in nachbarschaftliche Zusammen­ hänge von Jahrhunderten, die sich nicht reinlich auseinanderlegen lassen, in die Gegebenheiten eines Raumes, der Millionen von Men­ schen jeder Aussicht auf ein eigenes nationales Gemeinwesen beraubt und doch ihrer besten Kraft bedarf, um standfest zu bleiben oder erst wieder zu werden. Es ist die Gemeinsamkeit einer großen Aufgabe und der durchgehenden deutschen Beteiligung an ihr, was die Einheit der Front von Reval bis Bukarest mehr als alles andere sinnfällig macht, und die Brücke, die im Nordosten das deutsche Ordensland darstellt, bildet im Südosten Deutsch-Österreich: Der baltische und der Donauraum sind geschichtlich und gegenwärtig Flügelpositionen der gleichen Grundaufstellung. Von diesen Zusammenhängen und Antrieben handelt die Mehr­ zahl der im Folgenden wiedergegebenen Abhandlungen, Vorträge und Reden; sie münden in eine mitteleuropäische Fragestellung ein, die alle vorher angeschlagenen Motive aufnimmt. Und es wird nicht zu verkennen sein, daß trotz äußerlich lockerer Aneinanderreihung die ein­ zelnen geschichtlichen Themen eng miteinander verschränkt sind und zum gleichen Ziele streben. Nicht, daß der Historiker sich vermessen möchte, ein poliüsches Programm aufzustellen oder das Wort vom „rückwärts gewandten Propheten" zu verkehren. Wohl aber stand, wer in Königsberg Geschichte lehrte, unter der kategorischen Verpflichtung, in einer Krisis, die den ganzen Ostraum verstrickt hielt, aus seiner ge­ schichtlichen Überlieferung Funken zu schlagen und an der Klärung

der geistigen und politischen Kernfragen mitzuwirken, die eine sinn­ volle Neuordnung bedingen. Um die Aufnahme und Weiter­ gabe eines Appells aus Geschichte und Wirklichkeit handelte es sich dabei, — und handelt es sich letzten Endes auch auch bei dieser Veröffentlichung. Indem ich sie meinen Schülern und Freunden diesseits wie jen­ seits der ostpreußischen Grenze widme, möchte ich ein Doppeltes aus­ drücken: das dankbare Bekenntnis zu einer standfesten Gemeinschaft, die gleichfalls in Geschichte und Wirklichkeit sich gegründet und erprobt hat. Und das sichere Vertrauen aus den Sinn des Aufnehmens und Weitergebens, auf den Sinn eines Generationenzusammenhangs, der durch den Einsatz einer jungen und vom Osten ergriffenen Mann­ schaft sich bestätigt. Auch das ist „Nova Germania".

Königsberg i. Pr., Mai 1935.

H. R.

1. Der Osten, Preußen und das Reich (Rede auf dem „Preußentag“ der nationalen Verbände 1927) Wir haben uns hier zusammengefunden, um gemeinsam den Vor­ abend des 18. Januar zu begehen, den Vorabend zweier Gedenk­ tage, eines preußischen und eines preußisch-deutschen. Wir tun es in dankbarem Erinnern und in nachdenklichem Emst. Denn es ist ein eigentümliches Ding um das Zusammenfallen solcher Gedächtnis-

daten, und es gibt der Gegenbilder genug. So haben die Franzosen den 28. Juni 1914, da mit den Schüssen von Serajewo eine Welt in Brand gesetzt wurde, zu verdecken gesucht durch den anderen 28. Juni des Jahres 1919, der mit dem Riesenaufgebot einer fast all­ gemeinen Zustimmung der sogenannten zivilisierten Völker Deutsch­ land die „Schuld" an diesem Weltbrand auferlegt hat. Und sie haben die Unterzeichnung des schmachvollen Friedens in den gleichen Spiegel­ saal des Versailler Schlosses gelegt, in dem das Kaisertum des zweiten Deutschen Reiches ausgemfen worden ist. So hat sich vor dem 18. Ja­ nuar 1871 der andere Tag von Versailles finster aufgereckt. Jede natio­ nale Erinnemngsfeier, jede Besinnungsstunde, die es wirklich emst nimmt, stößt sofort auf diesen gewaltigen Block, der dem deutschen Entwicklungsgang in den Weg geräumt worden ist. Er ruft in einem entwaffneten Volke zuerst die Kräfte der geistigen Gegenwehr auf, und auch alle geschichtlichen Erinnerungen werden sich ausrichten an diesem einen Punkt, an dem äußeren Schicksalsereignis unserer Generation. Wir wissen es seit langem, und wir erfahren es erneut, daß die nationale Vergangenheit nichts Starres und an und für sich Gegebenes ist, sondem immer wieder erworben werden will, daß sie in ihrer zeugenden Kraft sich bewähren muß vor dem Antlitz der Gegenwart. So treten wir mit der Fragestellung des Heute an das doppelte geschichtliche Wahr-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Zeichen des morgigen Tages heran. Nicht in einer romantischen Verklärung einzelner historischer Momente, sondern in dem fortwirkenden Zusammenhang der beiden Ereignisse suchen wir den Sinn des Doppel­ vorgangs vom 18. Januar zu fassen. Dieser Sinn ist — für den Osten Deutschlands zumal — schon auf den ersten Blick handgreiflich genug. Von Osten her — in dem Krö­ nungstag von 1701 versinnbildlicht — stieg die Welle an, um 170 Jahre später im Westen, mitten im feindlichen Land, den äußeren und sicht­ baren Gipfelpunkt zu erreichen. Im Entscheidungskampf mit der west­ lichen Welt ist dann der Rückschlag erfolgt, der Osten — nicht allein — aber in besonders empfindlicher, in der unmittelbarsten Form hat ihn zu tragen gehabt. Der Pendelschlag zwischen Osten und Westen, in den das Ganze der deutschen Geschichte schicksalhaft eingespannt ist, der Weg von Königsberg nach Versailles und der von dem anderen Ver­ sailles nach Danzig und Memel, nach Posen und Kattowitz — die Ost­ mark und Preußen, Preußen und das Reich, das Reich und die Ostmark — das sind die fest ineinander geschlungenen Themen, die der morgige Tag uns mahnend vor Augen stellt. Er stellt uns vor Augen, daß eine Aufgabe höchsten Ranges von Osten her in den Hohenzollernstaat einst hineingetragen worden ist, daß hier eine entscheidende Metstelle seines preußischen mit seinem deutschen Bemfe gelegen hat und daß der Versuch sie auseinanderzusprengen, in die Herzkammern des Reiches zielt, daß er uns auf die Grundkräfte unseres geistigen und politischen Seins zurückwirst — so, wie zu Beginn der ostpreußischen Geschichte Kreuz und Schwert zusammengestanden haben. Es sind bald 700 Jahre jetzt her, daß die deutschen Ordensritter an der Weichsel erschienen. Wir haben allen Anlaß, mit Schärfe zu betonen, daß sie alten germanischen Siedlungsboden damals betraten, und wir dürfen hinzufügen, daß sie auf diesem Boden eine Aufgabe übernahmen, an der sich Polen wohl versucht hatte, die aber seinen Händen entglitten war. Durch einen polnischen Teilfürsten selbst wurde der Orden ja herbeigerufen, und überall, von Schlesien bis zum Kulmerland hinauf, zeigte sich damals das gleiche:Nur mit deutschenMenschen,mit deutschem Blut und deutscher Arbeit war die Aufgabe der Eindeichung des Ostens zu vollziehen, konnte er für die Gesinnungs- und Lebensgemeinschaft Europas gewonnen, das heißt christianisiert und kultiviert werden. Das Besondere des Nordostens war dabei, daß hier das Werk von einem eigenen geistlich-ritterlichen Staat übernommen wurde, einem Staat in den Ordensformen, die während der Kreuzzüge ausgebildet waren und

Staatliche Überlieferungen des Nordostens die der Mission auf vorgeschobenem Posten am dienlichsten schienen. So entstand ein Gemeinwesen eigentümlichster Art, mittelalterlich in der religiösen Zielsetzung und den genossenschaftlichen Lebensformen, aber doch durchaus abweichend von allem und über alles hinausgehend, was es an staatlichem Wesen im mittelalterlichen Deutschland gab. Da die Träger des Ordensstaates ritterliche Mönche waren, ehelos und besitzlos dem Prinzipe nach, so unterblieb die sonst übliche Feudalisierung der Ämter, es konnte sich ein Gemeinwesen von territorialer Geschlossenheit entwickeln, das in seinem inneren Aufbau überraschend moderne Züge zeigt: strenge Subordination und Kontrolle in der Verwaltung, eine förmliche Ämterhierarchie mit jährlicher Rechenschaftspflicht, Pflege von Kunst und Wissenschaft nach geistlich-staatlichen Zwecken, ständige mili­ tärische Bereitschaft, die auch Bürger und Bauern in einer Art von Wehrpflicht ergriff, dazu schließlich eine Wirtschaftspolitik, in mancher Einzelheit dem späteren Merkantilismus verwandt — in allem aber ein Geist der straffen Zucht und zweckhafter Planmäßigkeit. So war die Nordostmark im 13. und 14. Jahrhundert ein Vorposten Deutschlands nicht nur im äußeren, sondern auch im inneren, staats­ bildenden Sinne. Hier erwuchsen Traditionen, die vorausverweisen auf die brandenburgisch-preußische Monarchie und die den Ordensstaat wesenmäßig mit ihr verbinden. Dazwischen freilich liegen anderthalb Jahrhunderte des Verfalls. Auf sich allein gestellt, ohne den Schutz des Reiches und durch den Abschluß der Christianisierung am religiösen Lebensnerv angerührt, so konnte das Gemeinwesen der deutschen Ritter weder seinen inneren Aufbau, noch seine äußere Macht bewahren. Der Orden war sich dieser schwierigen Lage sehr wohl bewußt. Wie er nach Livland hinübergegriffen und den baltischen Raum in seiner natürlichen Einheit zusammengefaßt hat, so schlug er insbesondere die Brücke rück­ wärts über die Weichsel, die ja nicht weniger als der Rhein ein deutscher Schicksalsstrom ist. Er fügte Pomerellen mit seinen deutschen Städten und seinen Kolonien deutscher Mönche und deutscher Bauern nun auch der deutschen staatlichen Kultur ein. Aber beide Positionen gingen wieder verloren — nicht zum wenigsten deshalb, weil im Innern die Zusammen­ schweißung mißlang, weil der genossenschaftliche Geist, auf dem der Orden mit beruhte, in seinen Auswüchsen ihn selbst zersetzte und mit den Bünden der Städte wie mit der Opposition der Stände sich gegen ihn zu wenden begann. Diese „deutsche Libertät", die man im Jnyem des Reiches sich etwa leisten mochte, sie kam in der Grenzmark — am Rhein wie an der Weichsel—ganz eindeutig dem äußeren Feinde zugute.

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Sie hatte in Westpreußen den ersten polnischen Korridor zur Folge und brachte auch Ostpreußen unter die Lehnshoheit Polens. Wohl erhob sich nun hier das weltliche Herzogtum, begleitet von Taten wissenschaftlicher und künstlerischer Pflege, die den Anspruch, ein Vorposten deutscher Kultur zu sein, glanzvoll erneuerten. Wohl gründete die Reformation die geistige Einheit des deutschen Landes tiefer und legte mit dem Hin­ übergreifen auf die baltischen Provinzen ein Fundament der Gemein­ samkeit, das für die Aufgaben und Pflichten des deutschen Ostens noch heute, und heute erst recht, ein wichtiger Ausgangspunkt ist. Aber poli­ tisch zogen bald neue Wirren herauf. Nicht unmittelbar und leichthin also strömte der Geist des alten Ordensstaates in die werdende preußisch-brandenburgische Monarchie hinein. Ein fruchtbares geschichtliches Erbe muß immer wieder in harter Arbeit und bitteren Kämpfen neu errungen werden, es pflanzt sich nicht nach den Zufälligkeiten dynastischen Erbgangs, sondern nur durch eben­ bürtige Leistung fort. Daß das geschah, ist das Werk der drei großen Herrscherpersönlichkeiten des Hohenzollemhauses gewesen. Und es hat seinen tieferen Sinn, daß im Kampf gerade mit den ostpreußischen Ständen der „rocher de bronce“ etabliert worden ist: eine staatliche Hoheitsgewalt, die im deutschen 17. und 18. Jahrhundert ebensowenig ihresgleichen hatte wie die des Ordens im 13. und 14. Auch der genossen­ schaftliche und asketische Geist der deutschen Ritter erstand nach langer Erziehungsarbeit neugestaltet im Offizierkorps der Monarchie. Sein Schöpfer, der größte innere König Preußens, brachte zugleich den Zu­ strom deutscher Bürger und deutscher Sauern nach Osten wiederum in Fluß. So rückte der Großstaat in die alten Aufgaben des kolonialen Gemeinwesens ein. Die Brücke dazu, das symbolische Eingangstor der neueren preußi­ schen Geschichte, das ist die Königskrönung vom 18. Januar 1701 gewesen. Sie war an sich ein Vorgang ganz im Stil jener barocken Zeit, der das schmückende Beiwerk hoch im Kurse stand, und für den ersten König bedeutete in der Tat die Standeserhöhung fast einen Selbstzweck. Kein Geringerer als Friedrich der Große hat die Krönungspolitik seines Ahnen als leere persönliche Ehrsucht bitter getadelt, als ein sehr unpreußisches Leben über die eigenen Mttel hinaus. Und doch ist der äußere Rang, dem der Inhalt einer wahrhaft königlichen Macht noch fehlte, eine Trieb­ kraft des Aufstiegs gewesen für den schmächtigen, zerstückelten Leib des preußischen Staates, ein Anspruch und eine Verheißung, die den königlichen Enkel dann in ihren Bann gezogen haben: gewissermaßen

Königskrönung und preußische Großmacht die Fahne, die über den feindlichen Wall geworfen war. Und dieser Anspruch, diese Verheißung, ruhten auf der preußischen Stellung des Königs. Vom Herzogtum Preußen her empfing die Monarchie Namen und Begriff der Einheit. Das hat seinen besonderen, fortwirkenden Sinn, und zwar in doppelter Richtung. Zunächst: An der Königskrönung entzündete sich die preußische Idee, im Worte selbst klingt das Hinein­ ragen in die baltische Völkerwelt an. Deutsche und Pruzzen zusammen hatten das Preußentum gebildet. Zum andern aber war das Land am Rande der baltischen See die Grundlage, die einzige Grundlage für eine europäisch-souveräne Stellung der westwärts sich erstreckenden Monarchie. Die polnische Lehnshoheit über Ostpreußen hatte der Große Kurfürst abgeschüttelt, dem alten Reich waren die Ordenslande nie voll eingefügt gewesen. So wurde der brandenburgische Kurfürst als Herzog und dann als König in Preußen ein europäischer Souverän, er trat in Europa auf die gleiche Stufe mit den Habsburgern, deren Erblande ja auch über die Reichsgrenze hinausragten. Erst von hier aus hat der Hohenzollernstaat den Kampf um die Führung in Deutschland aufnehmen können. Den nächsten und dringendsten Anspruch, den auf europäische Gel­ tung, erfüllte, wie bekannt, Friedrich der Große mit wirklichem Leben. Das ist der Sinn des Heldenkampfes gewesen, in den er sich hinein­ geworfen und in dem er sich verzehrt hat. Er mußte das leicht Errungene bewahren mit dem vollen Einsatz des Staates und der Person sieben Jahre hindurch, mit einer grimmigen Unerschütterlichkeit, die kein Schick­ salsschlag beugen konnte und die den drei Nachbarmächten die Anerken­ nung der preußischen Großmachtstellung abrang. Der Osten hat ihm dabei wenig Hilfe leisten können. Hier, wie auch im Westen, mußten die Außenlande der Monarchie im Siebenjährigen Krieg preisgegeben werden. Und daß Ostpreußen sich der russischen Macht während der Okkupationszeit allzuwillig unterworfen habe, hat Friedrich der Große der Provinz aufs schwerste verdacht. Aber gleichwohl schrieb der König in seinem politischen Testament: „Die Gesetze müssen in diesem Lande milde sein, denn Strenge ist nur bei Völkem angezeigt, die sich durch ihre leidenschaftliche Art zu Maßlosigkeiten hinreißen lassen." Er wußte, daß er nirgends so widerspruchslos herrschte wie im äußersten Osten. Schon bei der Thronbesteigung hatte ihm der zur Vorbereitung der Hul­ digung entsandte Minister aus Königsberg berichtet, daß S. M.hier sou­ veräner über die Herzen seiner Untertanen regieren als in allen seinen übrigen Staaten. Und gerade Friedrich hat ja dann das Entscheidende ge-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke tan, um das Gesicht der Monarchie vollends nach Osten zu wenden. Er gab die Ansprüche seines Hauses auf Jülich und Berg auf und eroberte statt dessen Schlesien, den einen Grundpfeiler ostdeutscher Macht. Auch die an­ deren verstreuten rheinischen Besitzungen versuchte er wiederholt gegen Mecklenburg oder Sachsen einzutauschen. „Ein Dorf an der Grenze", so hat er geschrieben, „ist besser als ein 60 Meilen abliegendes Fürstentum". Über den Gedanken des wahllosen dynasttschen Erwerbs siegte der des zusammengefaßten Staates, der geographisch lebensfähigen, einen ein­ heitlichen historischen Raum ausfüllenden Gestaltung. Zu dieser Aus­ füllung war nach dem Erwerb von Schlesien der von Westpreußen und Ermland, von Danzig und Thom der zweite gmndlegende Schritt. Erst dadurch ist Ostpreußen fest mit dem Staat verklammert, ist der Staat als Staat des deutschen Ostens ein geschlossenes, verteidigungs­ fähiges Gebilde geworden. Dieser Rückerwerb der Weichsellande war eine Etappe auf dem Wege Preußens in den Osten und des deutschen Volkes zum Reich, deren Bedeutung uns heute erst ganz sinnfällig vor Augen steht, da sie zum zweiten Male verloren sind. Der erste Verlust geschah im Zusammenbmch der Ordensherrschaft, und, wie immer in Leidenszeiten unserer Geschichte, hatte innere Uneinigkeit ihr gerüttelt Teil daran. Die deut­ schen Städte des Weichseltales hatten geglaubt, durch Anschluß an Polen ihre alte deutsche Freiheit, die Stände ihre Sonderlandtage wahren zu können, sie sahen sich bitter enttäuscht. In der Mitte des 16. Jahrhun­ derts, im Zuge der Gegenreformation, wurde Westpreußen allen Zu­ sagen zum Trotz förmlich als polnische Provinz einverleibt. Seitdem begann die nationale Bedrückung bis zum Thomer Blutgericht hin. Noch hielt sich — nach polnischem Zeugnis — etwa die Hälfte der Bevölkemng deutsch, der Zustrom von Kolonisten versiegte nicht ganz, aber unter dem Druck nationaler und konfessioneller Fremdherrschaft siechte das Land dahin, es wurde in die innere Selbstauslösung des polnischen Staates mit hineingezogen. Von der Stadt Kulm wird berichtet, daß 1772 unter ihren 300 Häusem 80 einzustürzen drohten, ganze Straßen­ züge bestanden nur noch aus Kellerwohnungen, in denen eine armselige, verwahrloste Bevölkemng hauste. „Das Land ist wüst und leer", meldete der erste westpreußische Oberpräsident an Friedrich II., „die Viehrassen sind schlecht und entartet, das Ackergerät höchst unvollkommen, bis zur Pflugschar alles ohne Eisen, die Acker ausgesogen, die Wiesen versumpft." Und als der König die neu erworbene Provinz, sein „Kanada", wie er sie wohl nannte, besichtigt hatte, da faßte er den Eindruck in dem Worte

Die Weichsellande zusammen: „Schuster und Schneider sind in diesem Lande gesuchte Virtuosen, weil es keine gibt." Das waren die Resultate des ersten polnischen Korridors. Und nun kam die preußische Herrschaft. In den knappen 14 Jahren, die Friedrich dem Großen noch blieben, hat er die Grundlage für eine neue Blüte der Weichsellande geschaffen; deutsch-patriotische Absichten lagen dem aufgeklärten Monarchen dabei völlig fern. Von einer Austreibung des Polentums war keine Rede. Nicht als nationale Kampftruppen, son­ dern als Vorbilder und Lehrmeister, als „gute und fleißige Wirte" wurden deutsche Sauern und Handwerker ins Land gezogen; ein Nach­ klang der großen Kolonisationsbewegung des 13. Jahrhunderts, doch kein Zuzug, der die Zusammensetzung der Bevölkerung grundlegend ver­ änderte. Oft wurden die Pfälzer oder Württemberger zu zwei oder drei Familien in polnische Dörfer gesetzt, damit sie zur Nachahmung anreizten. Etwa 50 Dörfer sind neu gegründet worden. Die Leibeigen­ schaft der kaschubischen Bauern, die sich von Sklaverei kaum unterschied, wurde in das mildere Verhältnis der Erbuntertänigkeit verwandelt, auf den Domänen erhielten die Bauern mit dem Übergang an die preußische Krone erbliches Pesitzrecht. Kanalbauten und Stromreguliemngen, die Anlegung von Fabriken und die Einrichtung einer rationellen Forst­ wirtschaft folgten, über alle dem aber die Fürsorge für Schule und Recht als die eigentlichen Grundpfeiler einer aufgeklärten Regiemng. Das Land, schrieb Friedrich, das einen Kopernikus hervorgebracht habe, dürfe nicht in Barbarei versumpfen! Es war deutsche Kulturarbeit großen Stils: nicht dem deutschen Volke, so mag noch einmal gesagt werden, nicht einer nationalen ©in« heitsidee, sondern dem Staat und dem Land sollte sie dienen. Aber die Wirkung griff in die Breite des nationalen Lebens hinein. Aus Oberund Niederdeutschland, aus dem Blut der altdeutschen Stämme war der Osten gespeist worden, was in ihn hineinströmte und was in ihm an­ sässig war, das wuchs zusammen zu einer neuen preußischen Volksart, zu einem neuen Deutschland, einem kolonialen Staat von herber Strenge, straffer innerer Zucht und äußerer Wehrhaftigkeit. Der feste Block im Osten, dessen Errichtung der Orden versucht hatte, eine einheitliche, zu­ sammenhängende Macht von der Elbe bis zur Memel war nun begründet, im zurückspringenden Winkel wurde er durch das posensche Verschluß­ stück zusammengenietet; ein Neusiedelland, das aus gesamtdeutschem Bestände aufgefüllt dem zersplitterten gesamtdeutschen Raum staatlichen Rückhalt gewährte.

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Man pflegt mit Recht den deutschen Beruf Preußens darin vor­ gezeichnet zu finden, daß der Großstaat der norddeutschen Ebene zum Grenzhüter des Deutschtums im Osten wie im Westen wurde. Preußens Besitzungen am Rhein und in Westfalen machten seine Interessen mit denen Altdeutschlands solidarisch, aber sie waren nur haltbar durch den Nachdruck eines weit in den Osten verlängerten Hebels. Mochte immerhin dieser preußische Staat den Weltbürgern des 18. Jahrhunderts und ihren Nachfahren wenig liebenswert erscheinen mit seinem strengen Pflichtgebot, seinem Beamten- und Militärwesen, seinen hageren und scharfen Zügen: nur er konnte den Bereich der deutschen Bildung schützen, nur er dem Unwetter wehren, das von jenseits des Rheins drohte. Und indem nun Napoleon Deutschland und Preußen ausein­ anderriß, indem er den preußischen Staat ganz und ausschließlich nach Osten zu verweisen gedachte, hat er die beiden Geschlagenen — Preußen und Deutschland — in Wahrheit innerlichst zueinander getrieben. Es begann mit Jena und Tilsit jene große Verschmelzung preußischen und deutschen Geistes, in der alle Möglichkeit einer gesamtdeutschen Zukunft und die Gründung des Reichs beschlossen liegt. In zwei großen Symbolen hat sich dieses Bündnis auf ostpreußi­ schem Boden dargestellt. In den östlichsten Winkel war der Staat zurück­ gedrängt worden, ein polnischer Korridor damals hätte seine völlige Abtrennung, vermutlich die Vernichtung Preußens und Deutschlands zugleich bedeutet. Das hat selbst Napoleon nicht in die Tat umsetzen können. Und so strömten nun über die deutsche Weichsel in den äußersten Osten die Kräfte, die den ftiderizianischen Staat durch gesamtdeutsche Ideale, durch Selbstverwaltung und Freiwilligkeit, durch humane Bil­ dung und persönliche Kultur aufzulockern und umzuformen dachten. Den Führern der Reform, dem Rheinländer Stein, dem Hannoveraner Scharnhorst, dem Süddeutschen Gneisenau war der preußische Staat mehr oder weniger folgerichtig ein Mittel zum Zweck, zur Selbstdar­ stellung der Nation, zur Befteiung Deutschlands und Europas. Aber im Königsberger Reformerkreis glich sich mit diesem hinreißenden Willen zur Deutschheit der andere, der bodenständige politische Grundtrieb eines großen Staatswesens aus, der Wille, sich selbst zu behaupten, die herandrängenden Kräfte mit dem eigenen Geist zu durchtränken, sie sich nutzbar zu machen zur eigenen Macht. Es waren immer doch preußische Ein­ richtungen, die es umzubilden galt, das altpreußische Heer vor allem — in dem Vorrang der allgemeinen Wehrpflicht vor dem politischen Recht gewann ein Grundgedanke des preußischen Bodens Gestalt.

Preußisch-deutscher Zusammenhang Und nach diesem Zusammenklang von 1808 der zweite von 1813. Auch damals drohte, als der Altpreuße Iorck die Konvention von Tau­ roggen schloß, als Stein im Namen des Zaren nach Königsberg kam, auch damals drohte die Überflutung und Auslöschung des preußischen Staates, es drohte noch einmal die Weichsel zur Grenze zwischen Ruß­ land und Frankreich zu werden. Und aufs neue geschah es, daß ein festes staatliches Gefüge die revolutionären Antriebe in sich aufnahm, daß der unbedingte Wille einzelner großer Persönlichkeiten, der schranken­ lose nationale Idealismus sich verbanden mit den engeren, aber Wurzel­ haften Kräften der Heimatliebe und der dynastischen Anhänglichkeit, mit der aufflammenden und doch gezügelten Energie des friderizianischen Staates. Aber die Einheit zerbrach nach 1815 wieder, und schärfer als zuvor standen Westen und Osten, deutsches und preußisches Wesen gegen­ einander. Preußen schloß sich politisch von Deutschland ab und befestigte seinen alten staatlichen Aufbau. Wohl war es in Geisteskultur und Wissenschaft, in Wirtschaft und Verkehr zur unbestrittenen Führung in Deutschland gelangt. Aber die weitertreibenden politischen Forde­ rungen der Einheit und Freiheit kamen immer vernehmlicher aus Westund Süddeutschland. Hier hatten die Staatsgedanken vor allem Frank­ reichs tiefer eingewirkt: der Rechtsanspruch auf Selbstbestimmung des einzelnen und auf Selbstbestimmung der Nation. In Ost- und Nord­ deutschland hingegen trag die Freiheits- und Einheitsbewegung aus geschichtlichen, aus geographischen, aus sozialen Ursachen eine andere Farbe. Im Osten war der Staat die sittlich ordnende Kraft gegenüber einer ständisch abgestuften Gesellschaft und einer völkischen Gemenge­ lage, er blieb in Fühlung mit den natürlichen Gliederungen und mit bündischen Formen. Während in Frankreich Staat und Nation zu­ sammenfielen und auch an der Westgrenze im Prinzip eine klare Linie bestand, drohte in Mitteleuropa die nationale Selbstbestimmung als eine vom Raum gelöste Ideologie zur Selbstzerstörung dieses Raumes zu führen. Der übergreifende Wille von oben, der ein Bewußtsein der Verbundenheit, der Mitverantwortung weckt, und zugleich und vor allem die verteidigungsfähige Gestaltung nach außen, das war die dem preußischen Boden gemäße politische Form. Man könnte sie als sozialistische Staatsidee bezeichnen, insoweit hier die Interessen der Gemeinschaft denen der einzelnen Menschen und der nationalen Spitter vorangestellt wurden. So standen staatliche und volkliche Kräfte der deutschen Entwick9

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke hing im Kampf um die deutsche Einheit ebenso gegen- wie miteinander. Von der Nation, im wesentlichen von Westen und Süden her, über den Kopf Preußens hinweg, das große Werk einer gesamtdeutschen Zu­ sammenfassung zu vollbringen — die Paulskirche hat es versucht und ist daran gescheitert. Gescheitert wesentlich doch deshalb, weil sie Preußen nicht gewann und weil die Nationalbewegung allein weder den inneren noch den äußeren Machtkampf durchführen konnte. — Und dann kam der Gegenschlag von 1866 und 1871. Er war vorbereitet und ermöglicht durch ein neues Bündnis Preußens mit der Nation. Aber ungleich mehr als 1813 herrschte in diesem Bündnis jetzt der Staat. Seine Führung — politisch und militärisch — war ostdeutsch, die Mittel die des Koloniallandes: Blut und Eisen, das Ziel: ein deutscher Staat, kein Nationalstaat im Sinne des Westens. Wesentliche Teile des eigenen Volkes blieben außerhalb der Reichsgrenze, während umgekehrt fremdnationale Splitter in sie eingeschlossen waren. Auch der Rückerwerb Elsaß-Lothringens geschah mehr unter geographisch-militärischem als unter nationalem Vorzeichen. Vollends im Innern war den freien Kräften der Nation nur ein schmaler, abgegrenzter Spielraum ver­ stattet, sie durften den Weg des verantwortungsbewußten Führers nicht durchkreuzen. Auch im Innern entstand also ein dem Westen fremder Staatstypus: nicht unitarisch-demokratisch, sondern bündisch und monarchisch-konstitutionell — mit dem Übergewicht der Leitung von oben. Die autoritäre Gewalt, der Militärstaat des Ostens, ragte breit und bestimmend in das Neue Reich hinein. Und so war es im tiefsten sinnvoll, was in der Spiegelgalerie des Versailler Schlosses geschah: Die Kaiserwürde wurde ausgerufen vor dem deutschen Volk in Waffen, vor den Abordnungen aller deutschen Stämme und den deutschen Fürsten, vor einer Reichstagsdeputation unter dem alten Präsidenten der Paulskirche, dem Königsberger v. Simson, und zugleich am Krönungstag der preußischen Monarchie! So steht der 18. Januar 1871 heute vor unserem Gedächtnis: Nach langer Vorarbeit — einer unbewußten zuerst, dann einer bewußten — war endlich im glückhaften Augenblick eine Zusammenfassung aller geschicht­ lich wirkenden Kräfte erfolgt — aber freilich, ihre Spannungen be­ standen fort. Die deutsche Geschichte kennt wohl überhaupt keine glatten Resultate, sie kennt jedenfalls nicht die Endgültigkeit, die „Klassik, mit der etwa den westlichen Nationen das Haus bereitet worden ist. Als fortdauernde Aufgabe, so hat vor allem der Gründer des Reiches selbst sein Werk je und je angesehen. Es bedeutete ihm

Charakter des Bismarck-Reiches keinen fertigen Besitz, sondern ein Ziel gespanntester Arbeit. Aller Hurrastimmung und allem Vorschußlorbeer war er im tiefsten Feind; mit bitterer Sorge sah der Gestürzte auf das erst halbvollendete Werk, erschütternde Visionen umdüsterten seinen Lebensabend. Wir wissen alle, daß sie nur zu sehr sich erfüllt haben. Mit tiefem geschichtlichen Recht lebte Bismarck in der Erwartung dessen, was er bezeichnenderweise den dritten schlesischen Krieg zu nennen Pflegte. Wie Friedrich der Große Schlesien anfangs rasch ergriffen hatte, so war dem neuen Reich auch verhältnismäßig leicht in zwei kurzen Feld­ zügen seine Stellung zugefallen. Es mußte unter den eifersüchtigen Mächten die entscheidende Bewährungsprobe noch erbringen, die einst Friedrich in siebenjährigem Kampf für den Großstaat Preußen abgelegt hatte. Der Sinn der Bismarckschen Diplomatie war gewesen, für die kommende Auseinandersetzung, wenn sie denn unvermeidlich war, günstige äußere Vorbedingungen zu schaffen. Die Zeit nach 1890 hat diese stets gespannte und aufreibende Sorge mehr und mehr beiseite gesetzt. Sie freute sich des weltwirtschaftlichen Erfolges, der doch die Verletzlichkeit des deutschen Staats- und Volkskörpers verhängnisvoll vermehrte. Man vergaß das Wort von der Politik als Schicksal, man nahm die eingepreßte Lage letzten Endes friedfertig-fatalistisch als ge­ geben hin, bis Deutschland sich vereinzelt, ja, schlimmer noch, im Schlepptau seines einzigen Bundesgenossen befand. Die Spannung, unter der das Reich lebte, entfesselte so keine schöpferischen Gegenkräfte mehr. Und das gleiche gilt vom Inneren. Auch hier, wie nach außen hin, Spannungen über Spannungen. Die liberale, die nationale, die soziale Frage hatten sich durchkreuzt und verschlungen. Das konnte ein Reichtum sein, wenn es gelang, die gärenden Kräfte zu binden, sie in Formen zusammenzufassen, die zwischen Osten und Westen die vorbildliche Mitte hielten. Bedeutsame Ansätze dazu waren gemacht, der Staat hatte als ordnende Macht sich in die Gegensätze der Klassen tief hineingeschoben, auch hier jedoch blieb die Erfüllung aus. Und so bot das Reich ein Bild der Unfertigkeit, das den Angriff der äußeren Feinde nur ermutigen konnte. Daß der Staatsbau dennoch im Innersten gesund und von jugend­ lichen Kräften erfüllt war, das hat sich im August 1914 über alles Hoffen erwiesen. Während die Wilhelms-Straße vor einem zusammengebro­ chenen Kartenhaus stand, nahm das deutsche Volk im ganzen die Ent­ scheidung fteudig auf sich. Mag, wer nicht dabei gewesen ist, mit Be­ flissenheit von Massensuggestion und Massenpsychose sprechen, die

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Wahrheit jenes „August", die das Feuer von 4 Jahren erhärtet hat, wird dadurch nicht berührt. Deutsches und Preußisches, das Bewußt­ sein der tragenden Gemeinschaft und der tathafte Einsatz, Freiheits­ anspruch und Opfersinn, endlich einmal klang alles voll und rein zu­ sammen. „Man betrachte", so hat es einer der Kriegsfreiwilligen von Langemark unvergeßlich ausgedrückt, „das eigene Leben als verwirkt und lebe das eine unsterbliche Leben der Nation". Hatte diese Nation, in der Mitte Europas gelegen, nicht immer wieder die Stürme über sich hinwegbrausen sehen? War es ihr je beschieden gewesen, unangefochten in ihren eigenen Formen zu leben, war sie nicht der Kampfplatz der Waffen und der Geister seit alters her? Dieser Instinkt des ewigen Bedrohtseins und des Sichbehauptenmüssens, den die Wohlfahrt der wichelminischen Zeit überdeckt hatte, brach aus den Tiefen der deut­ schen Geschichte wieder hervor, er lebte in der unerhörten Kraft des Ausharrens gegen eine ganze Welt, die alle Schichten und Altersstufen erfüllte. Aber weder der Burgfriede noch die Abwehr wurden positiv hinausgeführt. Den demokratischen Kreuzzugsideen des Westens stand kein innerlich gegründetes Kriegsziel entgegen; der Osten blieb Nebenschauplatz. Und doch spricht Vieles und Gewichtiges dafür, daß hier militärisch 1915 und dann auch politisch die rechtzeitige Beend!gung des Krieges, der Entsatz der Riesenfestung Deutschland möglich war. Ganz sicher ist, daß die Aufrollung der Nationalitätenftagen im Osten, die nicht von einer tragenden Idee, sondern von taktischen Er­ wägungen her geschah, den Frieden mit dem alten Rußland unerreich­ bar gemacht hat. So wurden die Kräfte für den Endkampf im Westen erst frei, als die körperlichen und seelischen Reserven der Mittelmächte bereits aufs höchste angespannt waren. Nach dem heroischen Anlauf vom Frühjahr 1918 kam der äußere Rückschlag und dann das innere Versagen, das den schwersten Zusammenbruch der deutschen Geschichte heraufführen sollte. Vielleicht kein Zeugnis weist uns deutlicher auf die Heil- und Gegen­ kräfte hin als das Diktat unserer Feinde—der Friedensvertrag von Ver­ sailles. Er hat den in aller Geschichte unerhörten Versuch gemacht, die Entwicklung eines großen Volkes um zweieinhalb Jahrhunderte zurückzu­ schrauben, ja, seinWesen selbst abzuleiten und umzufälschen. Dem dienten zu den anderen militärischen und politischen Fesseln hinzu die moralische Hinrichtung durch denSchuldspruch sowie die Verfemung aller alten Tra­ ditionen, zuletzt der Kriegserlebnisse, an denen insgesamt das nationale Gemeinschaftsgefühl erwachsen ist. Dem diente insbesondere die Herab-

Versailles und der Osten Würdigung des Staates, der nur noch Fronvogt auswärtiger Inter­ essen sein soll. Aber dieses Dokument des Hasses verrät im Grunde nur die innere Angst einer rein negativen Politik. Und wie eine irre­ geleitete deutsche Regierung im November 1918 vergeblich aus der Geschichte gewissermaßen zu desertieren versucht hat, so wird uns auch kein Feindspruch geschichtslos machen. Einst konnte der Herold des Bismarck-Reiches, Heinrich von Treitschke, davon sprechen, daß allein dem deutschen Volke zweimal ein Zeitalter der Jugend beschieden ge­ wesen sei. Wenn jetzt die Linie zum dritten Male umgebrochen ist, so entnehmen wir daraus nicht die Lehre einer lähmenden Unabänderlich­ keit, nicht die Aufforderung zu einer müden Einpassung. Gerade die Bejahung der tiefen Verbundenheit mit dem Leben vergangener Gene­ rationen, mit dem Gesamtgang der deutschen Geschichte, gerade dies Eintauchen und Erfülltsein ist eine Kraftquelle im Kampf mit dem Schicksal. So angesehen und in den eigenen Willen ausgenommen sind die eigentümlichen Umbrüche und Rückläufe unserer nationalen Entwicklung ein Zeugnis der Jugend, ein Zeugnis, daß unsere Geschichte noch nicht zu Ende ist, wenn anders wir nicht selbst von ihr weichen. Hier hat nun, irren wir nicht, gerade das jüngere Deutschland, der Osten, seinen besonderen Standort in den kommenden Entschei­ dungen. An ihm haben sich die schärfsten und eingreifendsten Ampu­ tationen des Friedensvertrages vollzogen. Bon Elsaß-Lothringen ab­ gesehen, ist es überhaupt ausschließlich Preußen gewesen, das Land verloren hat, in erster Linie der preußische Osten. Das ist die feind­ liche Antwort auf die Entwicklung von 1701 zu 1871 hin, die wir zu überblicken hatten. Wenn der Aufstieg nicht von vornherein ein plan­ voller war, so ist der Versuch der Niederringung es um so mehr gewesen. Und wenn Frankreich im Westen mit den alten Methoden der Puffer­ staatsbildung und der separatistischen Lockung zu arbeiten sucht, so hat es im Osten das nicht weniger alte Ziel der Einkreisung durch einen Ring verbündeter Staaten verwirklicht. Zugunsten dieser Trabanten ist das Rad der Geschichte zurückgewälzt. Denn nicht das feierlich angerufene Recht der nationalen Selbstbesümmung, so zerstörend es viel­ fach an sich schon für die Lebensformen des Ostens ist, sondern Ge­ walt — nackte oder nur schlecht verkleidete Gewalt — hat die neuen Grenzen geschaffen, jede Erfahrung des Tages, jeder Blick auf die Karte zeigt die abgehauenen Glieder, jeder neue Monat reißt mit neuen Gewalttaten die Wunden klaffender auf. Dem wird die innerste Protestation sich entgegensetzen, aus dem

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke gesamtdeutschen Bewußtsein über die künstlichen und die wirklichen Scheidelinien hinweg, aus der geschichtlichen Gemeinschaft des Ostens und aus dem preußisch-deutschen Zusammenhang, der das Rückgrat dieser Selbstbehauptung bildet. Ihn zu zerstören, Preußen vornehm­ lich die Lebensadern abzuschneiden, das ist eine Hauptabsicht der Ver­ sailler Politik. Es gilt sie wie 1808 in ihr Gegenteil zu wenden. Gerade der Druck, der auf dem Osten liegt, muß Preußen und Deutschland neu zusammenpressen. Der Osten ist die Summe aller deutschen Stämme, nur wenn ganz Deutschland an ihm teil nimmt, kann er in der steigenden Flut sich halten, nur hier ist zugleich — statt einer starren Grenze — Bewegung und wirkliche Front. Im Osten lebt die Über­ lieferung des zähen, unnachgiebigen Kampfes um den Boden, der nun über das Deutschtum überhaupt verhängt worden ist. Der Osten hat die Formen staatlicher Zucht vorgebildet, die allein haltbare Ordnungen gegenüber allen Sonderinteressen verheißt. Er hat den wirklichen Die­ nern am Staat, denen, die nicht den Staat besitzen wollen, sondern von ihm besessen sind, jene Kraft überpersönlicher Hingabe eingebrannt, die als wertvolles Vermächtnis in die Gegenwart hineinragt. So ist das verketzerte Preußentum, das die Gegner uns entkräften und ent­ werten wollten, mit aller historischen Mächtigkeit wieder unter uns lebendig geworden, am sinnhaftesten in dem Manne, der als junger Offizier der Versailler Proklamation beigewohnt hat und heute an der Spitze des Reiches steht. Und so hat das feindselige Wort Dosto­ jewskis vom „ewigen Protestantismus" der deutschen Geschichte für uns einen sehr positiven Sinn erhalten. Nicht den des leeren Protestes, sondern den sehr altpreußischen der „verdammten Pflicht und Schul­ digkeit"—den Sinn eines Ja-Sagens zumJmmer-WiederaufnehmenMüssen der geschichtlichen Entscheidungen, der Entscheidungen vor allem im Osten, wo alles Feste in Fluß geraten ist. Nur die blasphemische Anmaßung der Versailler Baumeister hat ihr sehr diesseitiges Werk als Strafgericht des Himmels, als heilig und göttlich zu feiern gewagt. Gegen die Heiligkeit der Verträge hat sich das Recht des Lebens er­ hoben, an dem wir alle mitverantwortlich sind, gegen die pharisäische Werkgerechtigkeit und die Endgültigkeit menschlicher Satzungen steht der tiefe Strom des Geschehens, dessen Ziel nicht vorauszusagen ist, auf dem aber alle politische Willensbildung fahren und steuern muß, steht der Appell an die geschichtlich gestaltenden Kräfte, deren verpflich­ tende und aufbauende Linie uns diese Erinnemngsstunde vor die Seele rücken sollte: Vom Osten über Preußen zum Reichl

2. Friedrich der Große in den Krisen des Siebenjährigen Krieges (Vortrag im Reichswehrministerium am Friedrichstag 1926)

Große historische Persönlichkeiten wie der Mann, dem die Be­ trachtungen der heutigen Erinnerungsstunde gelten sollen, bewähren ihre mehr als zeitgeschichtliche Kraft, ihre Tragweite über die Jahr­ hunderte hin, durch nichts besser, als durch die Unausschöpfbarkeit ihres Wesens. Jede starke Erlebniswelle reißt sie in ihren Strudel hinein und läßt sie in veränderter Gestalt aus ihm erstehen, jeder Generation erscheinen sie unter neuem Blickpunkt, im unerbittlich scharfen, aber auch im belebenden und erwärmenden Licht der Probleme, vor die sie selbst sich gestellt sieht. Wir verkennen nicht die Gefahren, die in diesem Aktualisierungs­ bedürfnis aller Gegenwart gegenüber der in sie hineinwirkenden Ver­ gangenheit verborgen liegen. Wohl ist es ein echter, unabweislicher Drang, der von den Heroen der Geschichte Antwort auf die Schicksals­ fragen erwartet, die das Leben der Völker in der Tiefe bewegen, aber nur, wenn die Frage wirklich von der Tiefe her gestellt wird, wenn man sich der Grenzen des historischen Vergleichs bewußt bleibt, kann eine rechte Antwort erfolgen. Dann mögen wir, indem wir die historische Gestalt von einem Wesenhaften Standpunkt aus anschauen, uns selbst besser verstehen und die Lebensströme spüren, die dem Wandel der äußeren Bedingungen zum Trotz die Epochen verknüpfen. Aber wie nahe liegt die Gefahr, daß Fremdartiges in die Vergangenheit hinein­ getragen oder die Geschichte zum mißverstandenen Eideshelfer der Gegenwart gemacht wird! Keine Zeit hat mehr Anlaß, sich gegen eil­ fertige Urteile ex post, gegen vorschnelle Parallelisierungen zu ver­ wahren, als die unsere. Die Geschichte ist kein Arsenal, aus dem die

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Waffen des tagespolitischen Kampfes nach WilMr entnommen werden können. Für immer gilt das mahnende Wort Rankes: Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott. Auch die große geschichtliche Persönlichkeit will zunächst und vor allem aus den eigenen zeitgeschichtlichen Voraus­ setzungen heraus verstanden und beurteilt sein. „Die großen Individuen", so hat es Jakob Burckhardt ausgedrückt, „resümieren Staaten, Reli­ gionen, Kulturen und Krisen". Ein solches „Resümee", eine persönlichste Verkörpemng der in seinem Staat und seiner Epoche lebendigen Kräfte ist uns Friedrich der Große, „l’homme de Prusse“, wie ihn Lord Chesterfield genannt hat. Wir sehen ihn heute nicht mehr mit den Augen der kleindeutschen Historiker, der Vorkämpfer des norddeutsch-protestantischen Kaisertums in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Der Gedanke der Einigung Deutschlands durch Preußen war ihm fremd und mußte ihm fremd sein. Seine Politik an diesem Ziele messen, heißt, sie in ihrem innersten Antriebe verzerren. Friedrich war vielmehr der Gegner des Einheits­ bandes, das Österreichs Kaisertum vermöge seines tatsächlichen Über­ gewichtes noch bedeutete, er war der Totschläger des alten Reiches, der große, vom preußischen Staatsinteresse geleitete Revolutionär. Die deutsch-patriotischen Klänge, an denen es seiner Politik nicht fehlt, sind Nebentöne, wenngleich zu Zeiten stark empfundene Nebentöne in der Melodie dieses Lebens; im ganzen bedeuten sie doch kaum mehr als Aushilfen des gigantischen Kampfes um die Macht. So hat Friedrich den Zwiespalt tief in die Nation hineingetrieben, so hat er darüber ent­ schieden, daß sie hinfort zwei politische Mittelpunkte, Berlin und Wien, besitzen wird. Was die altdeutschen Heldensagen ahnungsvoll ver­ kündet hatten, den Kampf der Volksgenossen gegeneinander, das hat wie im geistigen Leben der konfessionelle Zwiespalt so im politischen der preußisch-österreichische Dualismus tragisch bestätigt. Wir empfinden heute kein Bedürfnis mehr, diesen Tatbestand zu verschleiem, denn wir sehen zugleich auch seine innere Notwendigkeit und seinen positiven Sinn mit größerer Klarheit. Es besteht kein An­ laß über den Emporkömmling zu schmähen, der nur vollzog, was das Lebensgesetz seines Staates befahl und der sein persönliches Glück als wahrhaftes „Königsopfer" diesem Zwang dargebracht hat. Ebenso unberechtigt aber wäre es, Maria Theresia einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie mit Frankeich und Rußland, also mit außerdeutschen Feinden, gegen Friedrich den Großen das Bündnis schloß. Wenn der Donaustaat als Großmacht im alten Herrschaftsbereich sich erhalten

Nordöstliche und südöstliche Achse wollte, dann mußte er den neu aufsteigenden norddeutschen Staat niederzuhalten, seinen gleichberechtigten Eintritt in das System der Mächte zu verhindern suchen. Es bedarf nicht des Rückgriffs auf die untergeordneten Motive weiblicher Sentimentalität, um das begreif­ lich und in seiner Weise groß zu finden. Schlesien, die umkämpfte Provinz, an der Maria Theresia mit solcher Treue hing, war nur das Symbol der Machtverschiebung in Mitteleuropa. Der Streit entbehrte der nationalen Zielsetzung. Und doch hat dieser Machtkampf der Rivalen in das erwachende nationale Bewußtsein des deutschen Volkes und in die deutsche Sendung der beiden Staaten tief hineingewirkt. Indent Friedrich der Große bei Roßbach wie gegen die deutschen Reichstruppen so vor allem doch gegen die Franzosen seinen glänzenden Sieg erfocht, wurde er zu einer über die preußischen Landesgrenzen hin ragenden Gestalt. Lessings,Minna von Barnhelm" und Goethes „Dichtung und Wahrheit" bezeugen es, wie der Fritzische Geist die deutsche Literatur und das deutsche Denken zu durchfärben und sie nach Westen selb­ ständig zu machen begann. Ebenso erhob 20 Jahre später nicht plan­ volle Absicht, sondem die Wucht der Tatsachen den friderizianischen Staat mit dem Erwerb des Weichsellandes zum Grenzhüter Deutsch­ lands im Osten. Die gleiche, ungewollte Verstärkung seiner deutschen Mission erfuhr aber auch eben im Kampf mit Preußen die österreichische Monarchie. Erst unter Maria Theresia und um den Verlust Schlesiens auszugleichen, wurde Ungarn fest herangezogen; nach 1763 setzte schlag­ artig eine Änderung der Sprachenpolitik in der Donaumonarchie ein im Sinne der Ausbreitung des Deutschen, und es wurde in großem Stil die Ansetzung deutscher Bauern im Banat und in der Batschka fortgeführt, der Donäuschwaben, deren Blut und Schweiß der deutschen Geschichte einen neuen, immer wieder umstrittenen, aber zukunftsvollen Lebensraum geöffnet hat. So sind mit der preußisch-österreichischen Spannung, die in der Zeit Friedrichs des Großen die alte Einheit endgültig zerriß, doch auch höchst fruchtbare historische Kräfte entbunden worden. Indem Friedrich den eigenen Staat zur Großmacht erhob, gehörte er nicht ausschließlich Preußen oder Kleindeutschland an: Er weckte die poli­ tischen Energien in Deutschland überhaupt, nicht zum wenigsten auch in dem historischen Gegner Österreich. Die nordöstliche und die süd­ östliche Achse unserer Geschichte prägten sich seitdem aus, die beiden deutschen Großmächte zusammen hatten jetzt die Führung in Mittel­ europa, gemeinsam haben sie trotz aller inneren Gegensätze den Frei-

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Königsb. hist. Forsch.

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke heitskrieg gegen Frankreich geführt, und noch Metternich wie der junge Bismarck haben ein friedliches Nebeneinander Preußens und Osterreichs, ihr „Kondominat", sich zum Ziel gesetzt. Erst die Verschärfung der Nationalbewegung seit 1848 und die gesteigerten Ansprüche des Schwarzenbergschen Österreichs haben das vereitelt und die Ent-

scheidung von neuem auf die Spitze des Schwertes gestellt. Gewiß hat Friedrich der Große diesen letzten wie den ersten preußisch-österreichischen Machtkampf mitgekämpft. Er gleichsam hef­ tete bei Königgrätz den Sieg an die preußischen Fahnen. Denn auf ihn, auf die von ihm gepflanzten Überlieferungen griff die Organisation und der politische Einsatz dieses preußischen Heeres zurück. Aber Friedrich der Große ist in einem tieferen Sinne zugleich auch der histo­ rische Kronzeuge des Kampfes, den — zwei Generationen später — Deutschland und Österreich gemeinsam gegen die Welt zu führen hatten.

An diesem Punkte spüren wir heute die Wechselströme zwischen der friderizianischen Zeit und unserer Gegenwart, zwischen dem preußi­ schen König und dem Schicksalsgang der deutschen Geschichte am un­ mittelbarsten, wir meinen, dem Helden ins Herz zu sehen und von ihm im Zentrum des eigenen Erlebens angesprochen zu werden. Die ent­ scheidende Frage, die unserer Generation von neuem gestellt wurde, die Frage, wie eine selbständige Machtbildung in Mitteleuropa mög­ lich sei und wie sie behauptet werden könne gegen den umfassenden Angriff aller benachbarten Staaten, sie ist von Friedrich dem Großen zuerst ausgenommen und siegreich beantwortet worden. Die geschäf­ tige Phantasie unserer Gegner hat so unrecht nicht, wenn sie auf der Suche nach dem „Schuldigen" gelegentlich bis auf ihn zurückgegangen ist. Er war der Emporkömmling im Kreise der alten Mächte, eine Er­ scheinung von unheimlich zusammengefaßter Energie, mit ihm ging — mindestens dem Anspruch nach — der bequeme Zustand zu Ende, daß die beati possidentes über das Land der Mitte nach Gutdünken ver­ fügen konnten. Was Friedrich im Ersten Schlesischen Krieg ehrgeizig, mit kecker Hand ergriffen, was er im Zweiten in kluger Nutzung der Konjunktur, mit gereifter strategischer Kunst sich gesichert hatte, das mußte er behaupten im erschöpfenden Lebenskampf der sieben Jahre. „Wenn es als der Begriff einer großen Macht aufgestellt werden könnte", sagt Ranke, „daß sie sich wider alle anderen, selbst zusammen­ genommen, zu halten vermögen müsse, so hatte Friedrich Preußen zu diesem Range erhoben. Seit den Zeiten der sächsischen Kaiser und Heinrichs des Löwen zum erstenmal sah man in Norddeutschland eine

Friedrich der Große und der Weltkrieg selbständige, keines Bundes bedürftige, auf sich selber angewiesene Macht." Eben diesen Prozeß rückgängig zu machen, den großen König zum Marquis von Brandenburg wieder herabzudrücken, die Macht­ losigkeit, das Gegeneinander partikularer Gewalten in Deutschland aufs neue zu stabilisieren, la „destruction totale de la Prasse“, das war das offene Ziel der Gegenkoalition. Die Parallelen, erhebende und schmerzliche zugleich, drängen sich auf, von allen Seiten und unabweislich. Wir greifen nur die sinn­ fälligste heraus: Auch das Bismarcksche Reich war eine Umwälzung des Gleichgewichtes, wie es sich aus dem Gegeneinander der großen Kolonialmächte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neu begründet hatte, es stellte eine waffenmäßige Großmacht hin, die durch ihr bloßes Dasein Rücksicht erzwang und die, so wie ehedem Preußen, einen in seiner Weise bequemen Zustand des Staatensystems beendete. Die „germanische Revolution", so hat der kluge und in weiten Perspektiven lebende Lord Beaconsfield die Reichsgründung genannt. Diese Um­ wälzung war geschehen in drei kurzen, isolierten Feldzügen, unter Aus­ schaltung der Neutralen, ohne das Placet eines allgemeinen Kon­ gresses, wie es sonst große Machtverschiebungen in Europa zu legiti­ mieren pflegt. Bismarck war im tiefsten überzeugt, daß diese Legiti­ mation einmal werde nachgeholt werden müssen, durch jahrzehntelange Eingewöhnung, oder — studentisch gesprochen — durch ein „Honorig­ werden", durch ein „Sich-Einpauken" in das System der neuzeitlichen Großstaaten. Er lebte in der Perspektive des „Dritten Schlesischen Krieges", wie er, bezeichnend genug, wiederholt betont hat. Den letzten Appell an die Waffen hinauszuschieben, zugleich aber für ihn, wenn er denn unvermeidlich sein sollte, die Bedingungen möglichst günstig zu gestalten, das war der Sinn seiner Diplomatie. Es handelte sich darum, so könnte man in entsprechender Abwandlung jenes Ranke­ schen Wortes sagen, ob Deutschland und das von ihm organisierte Mitteleuropa sich als Weltmacht, als gleichberechtigter Teilnehmer am Staaten-System der Zukunft, bewähren werde, indem es sich gegen alle anderen Weltmächte, selbst zusammengenommen, „zu erhalten vermöge". Um diese Schicksalsfrage ist letzten Endes im Weltkrieg gerungen, über sie ist in bitterster Form entschieden worden. Um so bedeutsamer steigt nunmehr die Figur des großen Königs vor uns auf, der in den Verhältnissen seiner Zeit den gleichen Kampf zu führen hatte und — siegreich bestand. In den Verhältnissen seiner Zeit. Denn daran ist mit Strenge festzuhalten: Rezepte, wie man es

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke hätte machen sollen, lassen sich aus keinem historischen Vorgang ab­ destillieren, und sei er noch so groß, noch so ergreifend in seiner Paral­ lelität. Weder strategische, noch politische Einzelmaßnahmen über­ dauern die Jahrhunderte; so wenig wir von ihnen unmittelbar zu lernen vermöchten, so sehr würden wir sie, mit unseren Maßstäben gemessen, mißverstehen. Nur der Geist bleibt durch die Epochen hin lebendig. Aber das meinen wir nun allerdings: Die Fragen, deren Erleben uns mit der friderizianischen Zeit so innerlich verbindet, führen auf letzte Grundkräfte des menschlichen und staatlichen Daseins zurück, sie tragen nichts Fremdartiges, nichts Beiläufiges in die Geschichte Friedrichs des Großen hinein, sie lassen den Helden anschauen von einer Seite, die für ihn ebenso wesenhaft war, wie sie es für uns ist: Wie hielt er sich und den Staat aufrecht in den Krisen des Sieben­ jährigen Krieges, wie überstand er den Kampf der 5 Millionen gegen die 90 Millionen, unterstützt nur von einem hessisch-braunschweigischhannoverschen Hilfskorps, sonst ganz auf sich gestellt, auf die knapp be­ messenen und immer knapper werdenden Kräfte des eigenen Militär­ staates, mit dem moralischen Fluch des Angreifers beladen, durch tiefen persönlichen Schmerz gebeugt — die Mutter starb nach Kolin, die Schwester Wilhelmine am Tage von Hochkirch —, zermürbt, ein Schatten nur seiner kraftgenialischen Anfänge — wie erzwang er den Hubertus­ burger Frieden, die Sanktion der preußischen Großmachtstellung? Die Außenpositionen Ostpreußen und Cleve, dann auch Mark und Pommem waren besetzt, die Kemlande bedroht und durch Streif­ züge heimgesucht, die Eroberungen Sachsen und Schlesien zum Teil verloren. Die Lage schien verzweifelt; wir kennen der Zeugnisse genug, daß der König sie wieder und wieder so anzusehen gezwungen war. Wir kennen den erschütternden Zusammenbruch nach Kunersdorf und die bittere Anklage nach Maxen, mit unbestechlicher Klarheit erkannte Friedrich, wie seine letzte und einzige Stütze, das Kriegsinstmment, unter seinen Händen sich wandle und zu zerbrechen drohe. Er glaubte in tiefer Depression, seine Truppen mehr fürchten zu müssen als den Feind. Auch Liegnitz und Torgau schafften nicht fühlbar Luft, sie waren dem König selbst „letzte Funken des verglimmenden Feuers". Die politische Korrespondenz der Jahre 1760 und 1761 ist erfüllt von der rücksichtlosen Anerkennung des „non possumus“, es geht nicht weiter. „Trifft mich noch ein Unglück, so ist es der Gnadenstoß", diese Äußerung zum Marquis d'Argens ist das Leitmotiv. „Trotz der ge­ wonnenen Schlacht", so spricht es der König im November 1760 aus.

Der Sieg der Selbstbehauptung „bin ich verloren, wenn der Krieg im nächsten Jahre fortdauert.... In diesem Feldzuge habe ich 90000 Mann gegen 232000 aufgestellt, und ich zweifle sehr, daß ich im nächsten auch nur diese Ziffer erreichen werde." Mit 55000 gegen 132000 hält er 1761 das Lager von Bunzelwitz, der Abzug der Russen läßt ihn aufatmen, da fallen Schweidnitz und Kolberg, da zerreißt England das Bündnis, die Hoffnung auf türkische Hilfe ist ein Phantom am femen Horizont. „Ich habe mich meinem Geschick nicht entziehen können", so schreibt Friedrich am 18. Januar 1762 aus dem Winterquartier in Breslau, „alles, was die menschliche Voraussicht an die Hand zu geben vermochte, ist angewandt worden und nichts ist geglückt. Wenn Fortuna fortfährt, mich so un­ barmherzig zu behandeln, werde ich unzweifelhaft unterliegen, nur sie kann mich aus meiner jetzigen Lage herausziehen." In der Tat hat, wenn man an das Äußerlichste sich hält, „For­ tuna", das „Mirakel des Hauses Brandenburg", die Rettung gebracht. Ein Spiel des Zufalls ließ, wenige Tage vor jenen verzweifelten Worten, am 5. Januar 1762 die Zarin Elisabeth sterben. Indem Peter III. auf die preußische Seite trat, zerbrach die Koalition, mit dem abermaligen Thronwechsel schied Rußland, bald auch Schweden aus dem Kriege aus. Der Zufall also als Preußens Retter? — Es würde zu der philosophischen Auffassung des großen Königs nicht übel passen, „St. Hazard", dem „König Zufall", den er so oft gescholten und angerufen, diese entscheidende Rolle zuzugestehen. Friedrich selbst spricht im Rückblick der „Geschichte des Siebenjährigen Krieges" von jener unbekannten Macht, die verächtlich mit den Plänen der Menschen zu spielen scheine. Der Historiker kann weder die brutale Gewalt des schlechthin Zufälligen leugnen, noch das Rätsel des Fatum lösen, aber das eine darf er mit Zuversicht sagen: Fortuna und Virtus waren hier auf das engste verbunden, dieser „Zufall" von 1762 hatte geschichtliche Wurzeln, die ihm den Charakter des Banalen und Launischen abnehmen. Entscheidend war doch, daß ein jahrelanges Aushalten, eine unerhörte Elastizität, ein grimmiges Auf-der-Stelle-Treten, dem Zufall — wenn man es denn so nennen will — Gelegenheit gab einzutreten. „Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige", so hat der ältere Moltke die Rolle der Fortuna weise umschrieben. Vom Glück ist Friedrich der Große während des Siebenjährigen Krieges im ganzen wahrlich nicht begünstigt gewesen, er hat es zum Ende hin gezwungen, ihm seinen Tribut zu entrichten. Man sieht zudem leicht ein, wie eng dieser erlösende Zwischenfall

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke mit besonderen zeitgeschichtlichen Voraussetzungen zusammenhängt und wie er auch dadurch den Charakter des Willkürlichen verliert. Es lag in der Natur des Staatensystems der absolutistischen Epoche, daß Kriege ebenso rasch abzustoppen wie zu entfesseln waren. Immer bedurfte es nur der Entschließung weniger. Wenn die Kriegfühmng des abso­ luten Staates kaum ernstlich durch revolutionäre Gefahren bedroht, wenn der Machtapparat nur durch enge Kanäle mit der heimischen Bevölkerung verbunden und daher von ihren Leiden relativ unabhängig war, so fehlte anderseits der Staatenwelt des 18. Jahrhunderts die in die Breite gehende elementare Kraft populärer Strömungen, die den Krieg aus irrationaler Tiefe nähren und über den Grenzpunkt der Staatsraison hinaustreiben konnte. Die Aufklärungsbewegung, so gewiß sie universal sein wollte, war doch viel zu schwach, um eine durchgehende Ideologie, eine Gesinnungsgemeinschaft auch nur der führenden Schichten zu schaffen, die Leidenschaften des konfessionellen Zeitalters zuckten wohl noch nach, aber sie prägten nicht den Charakter des großen Krieges, das wohlverstandene, vernunftgemäß zu errech­ nende Interesse der isolierten Einzelstaaten blieb der Meister über alle Strömungen der Tiefe. Daß daneben irrationale Kräfte anderer Art wirksam waren, Sympathien und Antipathien der Regierenden, Be­ stechung und Verrat der Minister, das hat Friedrich beim Beginn wie beim Ende des Krieges erfahren, im ganzen aber kam die rechenhafte Stimmung der Epoche ihm, der mit isolierten Kräften einer Koalition gegenüberstand, zu Hilfe. Die innere Schwäche jeder Koalitionspolitik, die Gegensätzlichkeit der miteinander verkoppelten Interessen, mußte in den Verhältnissen des 18. Jahrhunderts besonders scharf hervortreten. Frankreich genügte es, die rheinischen Gebietsteile Preußens zu be­ setzen und auf Hannover einen Druck auszuüben, die Passivität der Russen nach Kunersdorf und ihr Abzug von Bunzelwitz beruhten mit auf der Erwägung, daß es nicht in ihrem Interesse liege, für Österreich Schlesien zu erobem. Auch bei der Auflösung der Koalition ist neben den persönlichen Stimmungen Peters III. dieses Argument des rus­ sischen Staatsinteresses nicht zu übersehen. Friedrich konnte auf einen solchen Ausgang, auf die psychologische Krise der Koalitionspolitik, mit einer gewissen Zuversicht hoffen. Aber war er selbst nicht Teilnehmer und Nutznießer einer anderen, weltumfassenden Koalition? Zerbrechen ihr gegenüber nicht die Maß­ stäbe, die wir in kontinentaler Begriffsbildung anzulegen gewöhnt sind? Und wenn nach dem Worte des älteren Pitt Kanada in den

Im Kampf mit der Welt Schlachten des Siebenjährigen Krieges erobert worden ist, wurde dann nicht der preußische König seinerseits gerettet im Verfolg jenes großen weltpolitischen Umschwungs? — Es wird für die historische Be­ trachtung immer nützlich sein, diesen Gesichtspunkt mit im Auge zu behalten, er warnt vor Überschätzung des kontinentalen Geschehens. Auch ist der Kampf, den Pitt führte, nach seinen persönlichen Voraus­ setzungen nicht weniger großartig gewesen wie der Friedrichs. Er selbst aber konnte aus solchen Erwägungen nur Bitterkeit und keinen Trost schöpfen. Gewiß erleichterten die englischen Subsidien in Höhe von 16 Millionen Thaler und das Hilfskorps des Prinzen Ferdinand von Ende 1757 ab die Lage des preußischen Königs in etwas, im ganzen aber verstrickte der Rückschlag der großen kolonialen Gegensätze auf den Kontinent den preußischen Staat erst recht und machte ihn gleich­ sam zum stellvertretenden Opfer des englischen Aufstiegs. Die Ent­ stehungsgeschichte des Siebenjährigen Krieges bestätigt das, auch sie ist insoweit eine höchst nachdenkliche Parallele unseres Erlebens. Vol­ lends gegen das Ende hin entstand die Lage, daß der bisherige Ver­ bündete, England, sozusagen zum diplomatischen Führer der Gegen­ koalition wurde. Der Nachfolger Pitts seit Oktober 1761, Lord Bute, wollte Frankreich die überseeischen Verluste schmackhaft machen durch Preisgabe der preußischen Besitzungen im Westen, er drängte Friedrich zu einem Frieden mit Opfern, er ließ die Österreicher wissen, das „un­ sinnige" Betragen des preußischen Königs nötige zur Auflösung des Bündnisses, England stimme dem Rückfall Schlesiens an Maria Theresia zu. Schließlich nach der Thronbesteigung Peters III. spannte Bute alle Mittel an, um Rußland im Kriege gegen Preußen zu halten. Die Möglichkeit eines raschen Wandels der Konjunktur konnte ebenso leicht gegen Friedrich wie für ihn ausschlagen. Er nahm daher die Nach­ richt vom Tode der Elisabeth mit dem Mißtrauen eines vom Schicksal Verfolgten auf. Indem die Koalition auseinanderzufallen begann, bestand die Gefahr, daß sie als ein „Friedensbündnis" unter englischer Führung sich neu zusammenfand, daß die Einzelinteressen der großen Mächte, so sehr sie differierten, doch schließlich nebeneinander und mit­ einander ihre Befriedigung finden würden, wenn nur der unbequeme und halsstarrige Preußenkönig endlich darein willigte, das Opfer dieser „Pazifikation" zu sein. So sind es, wenn man tiefer in die Zusammenhänge hineinsieht, gewiß nicht zufällige Umstände und diplomatische Konstellationen gewesen, die Preußen gerettet haben. Was also war es sonst?

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke In eben jenen Jahren 1760/61, da Friedrich das Schicksal finsterer vor sich aufgereckt sah, als je, erlosch auch seinen Gegnern der Hoff« nungsstern. Im Dezember 1760 eröffnete Kaunitz der Kaiserin, er könne nur noch für einen Feldzug die Mittel schaffen, dann werde der Zeitpunkt erscheinen, in welchem man sich dem Gesetze des Feindes unterwerfen müsse. Daun selbst erklärte, das Kommando nur bei« zubehalten, wenn man ihm nicht zumute, Eroberungen zu machen. Im Herbst 1761 zwang die wachsende Finanznot Österreich, seine

Armee um 20000 Mann zu reduzieren. Friedrich aber gewann seinem Willen das unmöglich Scheinende ab, er brachte das Heer, dessen Feld­ truppen Ende 1761 auf 60000 zusammengeschmolzen waren, während des Winters wieder auf die doppelte Zahl, seine Kriegskasse enthielt die Kosten eines Feldzuges im voraus. Freilich, das eine wie das andere war, wie bekannt, das Ergebnis höchst zweischneidiger Mittel. Aber eben, daß sie angewandt wurden, daß der unbedingte Wille des Königs vor ihnen nicht zurückschreckte, daß Heer und Staat sie er­ trugen — das zeigt, wo die eigentlichen Wurzeln der Rettung lagen. Die Koalition der Gegner oder auch nur einen von ihnen mit be­ waffneter Hand völlig niederzuringen, durfte Friedrich kaum zu Beginn des Krieges hoffen, jedenfalls nicht mehr, seit der Feldzugsplan von 1757 gescheitert war. Ob er ein solches Ziel überhaupt ins Auge gefaßt, welches der Sinn seiner Strategie war, darüber ist bekanntlich viel und heftig gestritten worden. Wir meinen, daß dieser Sinn, wenn man vom Kampf der Schulen und der Terminologien absieht, klar genug zutage liegt. So oder so, durch die entscheidungsuchende Schlacht, durch eine Häufung von Teilerfolgen, durch Detachierungen und Manöver, immer galt es, den Gegner von der Aussichtslosigkeit seines politischen Zieles zu überzeugen, seinen Kriegswillen niederzuringen, den eigenen Willen durchzusetzen. „Der Krieg", so hat es Clausewitz mit klassischen Worten ausgedrückt, „ist ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Er­ füllung unseres Willens zu zwingen." Der Wille also ist das Kampf­ objekt, darin finden alle Einzelformen der Strategie ihre innere Einheit. Aber welches war dieser Wille, dieses Ziel der preußischen Poli­ tik? — Auch darüber ist häufig gestritten worden. Daß Friedrich, wenn das Glück ihm günstig gewesen wäre, Erwerbungen erstrebt hätte — Sachsen, Westpreußen und Schwedisch-Pommern —, daß er erfüllt war von dem Glauben, sein „Königreich der Grenzen" müsse wachsen, das steht außer Frage. Aber wie diese „rßveries politiques“ ihn nicht zum Kriege getrieben haben, so ist in den mannigfachen und behüt-

Strategisches und politisches Ziel samen Friedensfühlern, die das Spiel der eisernen Würfel begleiteten, von nichts anderem als dem Status quo die Rede. Der Wille zur Niederwerfung Preußens stand gegen den Willen zu seiner Erhaltung, darum ging der Kampf. Wie ist er entschieden worden? Weder Prag und Leuthen, noch Roßbach und Zorndorf haben dazu hingereicht. Im besten Falle gelang es, eines der drei bis vier Hauptheere aus dem Felde zu schlagen, die Köpfe der Hydra, so emp­ fand es Friedrich selbst, wuchsen indessen nach. Die Verluste auch der siegreichen Schlacht zu ersetzen, mußte Preußen—nach aller rationalen Rechnung—schwerer fallen als der überlegenen Koalition. Pyrrhus­ siege sind diese Schlachten dennoch nicht gewesen, sie haben das mora­ lische Kapital aufgehäuft, von dem der König in den bedrohtesten Zeiten zehren konnte. Nur so ist die zögernde Strategie seiner Gegner, denen doch der positive Kriegszweck oblag, zu erklären. Zu den persön­ lichen Unzulänglichkeiten, zu den Lasten eines komplizierteren Befehls­ ganges, zu den Rücksichten der Koalitionspolitik kam das als letztes hinzu: der Schrecken vor dem Namen des Königs, der so oft schon das Unerwartete getan, dessen Schwert wiederholt die kunstvollsten Pa­ raden der Nokokostrategie durchschlagen hatte. Der feindliche Wille bröckelte an dieser Erfahrung ab. Aber freilich — wieder und wieder gelang es doch, nicht nur preußische Unterfeldherrn, sondern den Fürsten des Krieges selbst zu schlagen. Wenn die preußischen Siege nicht zum letzten Ziele trafen, so stellte jede Niederlage den König unmittelbar vor den Abgrund. Sein oder Nichtsein des Staates selbst stand in jedem Augenblick auf dem Spiele. Das Bild mehr noch des ge­ schlagenen, als das des siegreichen Feldherrn ergreift uns heute im tiefsten. Wie hat er es vermieden, hinabgeschleudert zu werden, wie hat er die Krisen von Kolin und Breslau, von Hochkirch und Kunersdorf überwunden? Das sind die eigentlichen „Mirakel des Hauses Brandenburg", die den Kriegswillen der Gegner zerbrachen. Wir werden die Antwort finden, indem wir den König in den Krisen des Krieges selbst anzuschauen suchen. Nicht die tattischen und sttategischen Aushilfen, die er fand, sondern die seelische Haltung, von der sie getragen sind, fassen wir ins Auge. Als Kolin den Siegeszug zum ersten Male unterbrach, als die Belagemng von Prag aufgegeben werden mußte, da schrieb der König an Moritz von Anhalt: „Ich bin heute ohngeachtet des großen Unglücks... mit klingendem Spiel und der größten Fiettät aufgebrochen.... Bei unserem Unglück muß unsere gute Contenance die Sache so viel möglich reparieren.... Das Herz

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke ist mir zerrissen, alleine ich bin nicht niedergeschlagen und werde bei der ersten Gelegenheit suchen, diese Scharte auszuwetzen." — Statt dessen folgten Hastenbeck, Großjägersdorf und Moys. „Für mich gibt es nichts gutes mehr zu tun", bekennt der König seiner Schwester Wil­ helmine, „es sind der Feinde zu viel. Selbst, wenn ich so glücklich wäre, zwei Heere zu schlagen, das dritte würde mich zermalmen." Aber die illusionslose Einsicht in die Gefahr seiner Lage schmolz der König um zur unbedingten, durch keine irdische Rücksicht mehr gehemmten Ent­ schlossenheit. „Wäre ich nur meiner Neigung gefolgt", heißt es in dem gleichen Brief, „so hätte ich alsbald nach der unglücklichen Schlacht... mich davon gemacht, aber... meine Hingebung an den Staat ist wieder erwacht." Und vorher schon: „... nur Feiglinge entwürdigen sich unter dem Joche, schleppen geduldig ihre Ketten und ertragen ruhig die Unterdrückung." Den Blick auf die Vergänglichkeit alles irdischen Wesens gerichtet, in einer großartigen Anschauung der letzten Dinge, so führte der König von jetzt an den Krieg, Brutus und Cato, die beiden heroi­ schen Republikaner, begleiteten ihn fortan. „Man muß für sein Vater­ land kämpfen und für sein Vaterland fallen, wenn man es retten kann", so schrieb er an Voltaire, „und wenn man es nicht retten kann, so ist es schimpflich, es zu überleben." Wenige Wochen später, nachdem die Kapitulation von Breslau den Roßbacher Sieg wettgemacht hatte, setzte er jenes in seiner menschlichen Schlichtheit und seinem politischen Instinkt ergreifende Testament auf, hielt er jene Ansprache an seine Generale, in der es hieß: „Wir müssen den Feind schlagen oder uns alle vor seinen Batterien begraben lassen." Und so geht es die Jahre fort: es ist in einem mächtigen Crescendo immer das gleiche Bild. Als der Überfall von Hochkirch die Mehrzahl der preußischen Geschütze, ein volles Drittel der Infanterie weggerafft hatte, da stand der König wenige Stunden später mit den Resten der Armee auf den Höhen bei Bautzen — wie ein verwundeter Löwe, dem Jäger doppelt gefährlich. Wieder bewahrte er nach außen die „Conte­ nance", nur dem vertrauten Vorleser de Catt zeigte er das Gift, das er bei sich trug. „Ich kann die Tragödie enden, wenn ich will", sagte er ihm. Erst die Nachricht vom Tode der Markgräfin Wilhelmine er­ schütterte ihn bis in die Grundvesten seines Wesens. Aber auch jetzt hielt ihn der Gedanke, daß er keine Zeit habe, seine Schwester zu be­ weinen. — Noch furchtbarer war der Sturz des folgenden Jahres, nie hat der Stern Preußens tiefer gestanden, als an jenem Augustabend 1759, da der König knapp 3000 Mann seines Heeres an den Oderbrücken

Die Haltung des geschlagenen Feldherrn beiOetscher sammelte... „Es ist ein grausamer Schlag", schrieb er an Finckenstein, „ich werde ihn nicht überleben, die Folgen der Affäre werden schlimmer sein, als die Affäre selbst. Ich habe keine Hilfsmittel mehr, und, um nicht zu lügen, ich glaube alles verloren. Ich werde den Untergang meines Vaterlandes nicht überleben. Adieu für immer!" Er übertrug den Oberbefehl des geschlagenen Heeres dem General von Finck. Wenn Laudon an ihm vorbei auf Berlin marschiere, könne er ihn „unterwegens attaquieren"... „Diesses ist der eintzige Rat, den ich bei denen unglücklichen Umbständen im Stande zu geben bin, hette ich noch ressourssen So-wehre ich darbei gebliben." An der Emsthaftigkeit des Entschlusses, den diese Worte andeuten, ist nicht zu zweifeln. Entstammte er, wie zumeist geurteilt wird, mensch­ lichem Verzagen, war er ein Tribut des Helden an die Schwäche aller Kreatur, oder bot nicht vielmehr die Fähigkeit, so tief zu empfinden, das eigene Leben so mit der Ehre des Staates zu identifizieren, den Boden, aus dem die letzten Anforderungen an sich selbst und an den Staat ihre Kraft zogen? Zwei Tage später bereits schrieb der König dem Prinzen Heinrich, die Gefahr sei auch jetzt noch sehr groß, „aber rechnen Sie darauf, daß ich, solange ich die Augen offen habe, den Staat aufrecht erhalten werde, wie es meine Pflicht ist". Und wiederum drei Tage später an Finckenstein: „Ich habe mich hier auf ihren Weg gelegt... ich wage nicht für den Ausgang irgend etwas zu versprechen, das wäre zu verwegen; aber ich schwöre Ihnen, daß man nicht mehr aufs Spiel setzen kann, als ich tue." Wie konnten die Gegner hoffen, diesen Mann niederzuwerfen, der die härtesten Schicksalsschläge überdauerte, der alle Not und Gefahr mit seinen Soldaten teilte und doch nicht gebeugt wurde? Wie ein Rätsel stand er da, die zeitgeschichtlichen Kategorien des vernünftigen Denkens faßten sein Wesen nicht. Wenn die Russen, durch Kunersdorf, durch die Nähe einer vernichtenden Niederlage selber stark mitgenommen und von politischen Sonderinteressen abgelenkt, zurückgingen, so muß den Österreichern die Unerschütterlichkeit, die der König bewies, den eigenen Willen allmählich abgerungen haben. Auch die Niederlage Fincks bei Maxen, wie empfindlich immer für die preußische Waffen­ ehre, änderte daran nichts. „Das letzte Bund Stroh und der letzte Bissen Brot sollen darüber entscheiden, wer von uns beiden in Sachsen bleiben wird", erklärte der König mit verbissenem Trotz. Liegnitz und Torgau bewiesen den Österreichern, daß seine Entschlußkraft ungebrochen war. So kam der Winter 1760 und das Jahr 1761 heran. Beide Gegner,

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke so sahen wir, mußten sich gestehen, daß die realen Möglichkeiten der Kriegführung für sie erschöpft und höchstens noch ein Jahr aufrechtzuerhalten waren. Aber wenn der König in rücksichtsloser Anerkennung des Seienden sich das klar machte, so blieb ein Sollen in ihm lebendig, das dem widersprach. Er stärkte sich von neuem an dem Beispiel antiken Heldentums, einen ungünstigen Frieden, den er in trübsten Stunden für unvermeidlich hielt, war er nach wie vor entschlossen, nicht zu über­ leben. Solcher Perspektive gegenüber klammerte er sich an die Hoff­ nung auf türkische Hilfe. Und als Prinz Heinrich mit nur zu begrün­ deter Skepsis ihm diese Aussicht zertrümmerte, da warf er den Gedanken einer von allen Rücksichten gelösten Strategie der Verzweiflung hin, die unter Preisgabe des Landes eine der feindlichen Armeen nach der anderen aufsuchen und schlagen sollte. Ausführbar oder nicht, das eine sedenfalls zeigt dieser Plan: in dem Abringen der moralischen Kräfte verblieb der Sieg dem König, die Entschlossenheit des Charak­ ters, die aus jenem Entwurf hervorleuchtet, war eine Kraftquelle, die noch auf Jahre hinaus die Hinfälligkeit des politischen Körpers zu über­ winden vermocht hätte. „Wie ein Obelisk, auf den zu die Hauptstraßen eines Ortes geführt sind, steht in der Mitte der Kriegskunst gebieterisch hervorragend der feste Wille eines stolzen Geistes", so hat Clausewitz später das Resultat jahrelangen Nachdenkens zusammengefaßt. Er mochte den Siebenjährigen Krieg als ein Haupt- und Musterbeispiel dabei vor Augen haben. Der Wille der Erhaltung war der stärkere, der schlechthin unbedingte, er triumphierte über den Willen der Nieder­ werfung. Eben darin liegt, wie wir meinen, die einmalige und einzigartige Leistung des Königs: Siege, glänzendere, ergebnisreichere Siege als die seinen, sind wiederholt in der preußisch-deutschen Geschichte er­ rungen worden. Aber die ausharrende Kraft, die nie in der Passivität sich erschöpft, die Fähigkeit, unerschüttert fest zu bleiben durch Jahre gehäuften Unheils, diese von der Geschichte recht eigentlich dem deut­ schen Volke verhängte Aufgabe, hat er bewährt und erfüllt wie kein anderer. Er hat damit ein nationales Symbol ausgestellt von tief ergreifender Bedeutung. Vergessen wir nicht, wie wesentlich ihm dabei Staat und Heer, die vom Großen Kurfürsten und von Friedrich Wilhelm I. gelegten Grundlagen der preußischen Macht zu Hilfe kamen. Friedrich verfügte souverän über den schlagkräftigsten politischen Körper des damaligen Europa. Bei aller Zerrissenheit der Grenzgestaltung war der räum-

Friedrich als nationales Symbol liche Umfang des Staates nicht so groß, daß ihn der mächtige Wille und die Geisteskraft eines Mannes nicht umfassen konnte, die straffe Behördenorganisation bot die Handhabe, um diesen Willen in prak­ tische Erfolge umzusetzen. Alle störenden Zwischengewalten waren beseitigt oder doch so zurückgedrängt, daß sie als dienende Glieder dem Staatsbau sich einfügten, jeder Stand in dem Aufgabenkreis, den Tra­ dition und rationelle Arbeitsteilung ihm zuwiesen. Sie alle trugen das ihrige zum Siege bei. Der Adel und die kantonpflichtigen Bauern, indem sie mit ihrem Blut die Schlachtfelder tränkten. Schon im Alter von 14 und 15 Jahren zogen die Junker in den Krieg, als der König 1758 einen von ihnen fragte, ob seine Ohren auch trocken seien, da antwortete er: „Ich bin jung, Majestät, aber mein Mut ist alt." Die ererbten Tugenden eines Kriegerstandes lebten in diesen Milchbärten fort. — Unter ihnen bildeten die märkischen, pommerschen und preußi­ schen Bauernburschen — wenn auch dezimiert und in abnehmender Prozentzahl — den verläßlichen Kern der Armee. Selbst aus den nicht kantonpflichtigen schlesischen Gebirgskreisen und aus den besetzten Dör­ fern am Niederrhein fanden die Rekmten sich ein. Das Bürgertum schließlich trug die wirtschaftlichen Lasten und nahm besondere Opfer gelegentlich mit freier Hingabe auf sich. Der Zwangsmechanismus des Staates war innerlich lebendiger, als seine damaligen und seine spä­ teren Kritiker vermuten mochten. Aber daß dem so war, beruhte doch schon zum größten Teil auf der geschichtlichen Leistung des Königs selbst. In den Nöten der sieben Jahre erwuchs über die Gefühle pro­ vinzieller Gemeinschaft und dynastischer Verbundenheit hinaus ein spezifischer Staatspatriotismus, ein Bewußtsein preußischer „Nation". Nicht an einer abstrakten Idee, sondern an dem persönlich vorgelebten Heldentum hat es sich entzündet, an der siegreichen Standhaftigkeit des Mannes, der nicht aus dem Felde wich, mochten — nach seinen eigenen Worten — seine Zähne abbrechen und sein Gesicht Runzeln bekommen gleich den Falten eines Weiberrockes. Es ist ein Heldentum schlechthin persönlicher Art, das in der ent­ sagungsvollen Arbeit der täglichen Verwaltung, im diplomatischen Spiel, schließlich im Schicksalskampf der sieben Jahre diesem preußi­ schen Staat seine äußere Geltung und seinen inneren Zusammenhalt erschuf. Darin liegt der einzigartige Charakter der friderizianischen Ara, zugleich freilich auch ihre unvermeidliche Tragik. Das politische

Genie ist nicht wiederholbar, es spottet aller Regeln, keine Tradition, und sei sie noch so stark, vermag das Persönlichste geschichtlicher Leistung

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke zu vererben. Aber wie die Ausgabe, unter deren Last der König zum Gipfel stieg, eine durchgehende der deutschen Geschichte ist und sein mußte, so stammten die Kräfte, mit denen diese Aufgabe gemeistert wurde, doch sehr wesentlich auch aus überzeitlichem und überpersön­ lichem Wurzelgrund. Die genialischen Anlagen des Kronprinzen wiesen auf ganz andere Wege hin, als sie der Mann gegangen ist, sie wurden umgeschmolzen, in neue Legierungen gegossen durch Mächte außer­ halb seiner selbst. Wie der Jüngling vom Vater erzogen worden ist, so der Mann vom Staate. Der Epikuräer wandelte sich in den Stoiker, der genußfrohe Schwärmer, der Schöngeist, der vom Ehrgeiz Ent­ flammte in den politischen Asketen, den Kriegsmönch des Feldlagers. Immer blieben die spontanen und reizbaren Gegenkräfte im Innersten lebendig, immer wurden sie überwunden. Wozu ihn die freie Nei­ gung zog, philosophische Studien, dichterische Muse, das mußte sich gefallen lassen, Mittel zum Zweck zu werden, so wie im absoluten Staate selbst die autonomen Antriebe sich einzuordnen hatten. Die Herzensfreude, die der Vater an einem glücklichen Verwaltungsakt haben konnte, blieb dem Sohne weltenfremd, er verabscheute die Atmosphäre von Blut und Schweiß, in der er leben mußte. Aber — er verwaltete und führte Krieg — sein Leben lang — mit jener letzten Energie, die aus der Disziplinierung entgegengesetzter Neigungen, aus dem Anringen gegen den Dämon in der eigenen Brust erwächst. Was trieb ihn dazu und was hielt ihn dabei? — Noch einmal suchen wir den König in den Krisen des großen Krieges auf. Es sind drei Leitsterne, drei elementare Antriebe aller Politik, zu denen er sich immer aufs neue bekennt, die ihn dem Leben nicht unbedingt zurück­ gewinnen, die ihn aber, wenn er denn fortfahren soll zu leben, zum unbedingten Widerstand zwingen: Ehre, Pflicht und Schicksal. Sie alle drei sind nicht nur persönliche Imperative und Bindungen, sie sind zugleich Imperative und Bindungen einer überpersönlichen Macht, des Staates. Der „point d’honneur“ des Offiziers und die könig­ liche Berufspflicht gingen in das besondere Ethos des Großstaates ein, sie verschmolzen mit dessen stärksten Antrieben, dem Drang nach Gel­ tung und Behauptung. Der König als premier serviteur nahm sie in seinen Willen auf und formte sein Wesen nach ihnen. Das war sein Schicksal, und das war das Schicksal seines Staates. Denn auch der große Staat ist nicht frei; indem er die Gebunden­ heit des territorialen Stillebens verläßt, nimmt er Bindungen anderer Art auf sich, er ist fortan durch Generationen hin einer Aufgabe ver-

Der preußische Staatsgedanke pflichtet, von der er gleich dem einzelnen nicht ohne letzten Einsatz zurücktreten darf. Friedrich hatte dafür einen tiefen Instinkt. Mochte er noch so bitter über die willkürliche Planlosigkeit alles Geschehens urteilen, der Glaube an Sinn und Vorherbestimmung lebte unver­ tilgbar in ihm. Er war beeinflußt von calvinistischen Jugendeindrücken und ausgebildet mit den Maßstäben der zeitgeschichtlichen Philosophie. Er entsprach dem Bedürfnis der Epoche nach Ordnung und Klarheit und zugleich dem Bedürfnis des politischen Praktikers. Der König forderte geradezu ein System und eine Lehre der Politik, die aus einer genauen Beobachtung des Wirklichen, der Menschen und Staaten, der Charaktere und Interessen zu entwickeln wären. Dieser Glaube an feste, berechenbare Größen hat ihm schwere Nackenschläge eingetragen. Er konnte sie überwinden, weil hinter dem rationalistischen Dogma ein Irrationales, eine wirkliche Glaubenskraft lebendig war, — der Glaube, daß Preußen Großmacht sein solle. So hatte es der junge Prinz schon in einem Briefe an den Kammerjunker von Natzmer ausgesprochen, noch in der Hülle persönlicher Ruhmliebe, aber mit der Überzeugungs­ kraft des sachlich Notwendigen: „Ich wünsche dem preußischen Staate, daß er sich aus dem Staube, in dem er gelegen hat, völlig erhebe." Dieser Wunsch hat Friedrich fortan begleitet. Er meinte wohl später in kluger Maßhaltung, daß Preußen zu den Staaten ersten Ranges doch noch nicht gehöre. Aber der Glaube an den preußischen Beruf, nicht so sehr den nationalen als den Machtberuf Preußens, durch den die Lücke im Staatensystem sich schließen müsse, wurzelte fest in ihm. „Auch die Politik", so heißt es im Testament von 1752, „hat ihre Metaphysik"... Hier brach durch die Rechenhaftigkeit des zeitgeschicht­ lichen politischen Spieles ein Irrationales hindurch, ein Unbedingtes, das jeder Jnteressenpolitik sich überlegen zeigen mußte. Aus der Wirk­ lichkeit des über die norddeutsche Tiefebene verzettelten Staates war ein solcher Glaube nicht abzulesen, keine Politik des nur „Möglichen" konnte ihn realisieren, er mußte geglaubt und dem „Unmöglichen", oder dem, was dafür galt, abgerungen werden. Es ist vielleicht das Größte an Friedrichs politischem Charakter, daß er die Grenze, wo der Glaube zur Illusion wird, nie überschritt, daß eine rücksichtslose Klar­ heit des Denkens ihn davor bewahrte, der preußische KarlXII. zu werden, — und daß er doch der Wirklichkeit gegenüber ein Sollen behauptete, das er nicht im Opportunismus des Möglichen, sondern — in den Sternen geschrieben sah. Das Wort von der Politik als der „Kunst des Möglichen" ist immer nur eine halbe Wahrheit, es gilt dem.

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke alltäglichen Sinne nach weder von dem Mann, dem es mißverständ­ lich zugeschrieben worden ist, noch von den Führem des preußischen Befreiungskampfes, noch auch von Friedrich. So ordnet sich auch von hier aus der große König in den Gesamt­ gang der deutschen Geschichte, die in ihrem Auf und Ab immer wieder die überkommenen Bindungen von Grund auf in Frage gestellt und die persönlichsten Entscheidungen erfordert hat. Im Kampf mit sich selbst und der Welt war es das „Dennoch" des Staatswillens und des Staatsglaubens, was Friedrich als letzte Kraftreserve einzusetzen hatte. Dienst und Opfer bis ins privateste Leben hinein, die volle Einschmel­ zung in der Hingabe an eine geschichtliche Mission, deren Zielsetzung wohl von der politischen Vernunft geregelt, aber gespeist wird aus der Tiefe des Unbedingten, das ist uns heute das stärkste und das gesamt­ deutsche Vermächtnis im Preußentum Friedrichs des Großen.

3. Stein und der deutsche Staatsgedanke (Eine Universitätsrede am Verfassungstag 1931) Wenn die Universität von der Befugnis Gebrauch macht, die ihr äußere Pflicht und inneres Recht zugleich ist, von der Befugnis, an den Merktagen von Staat und Nation ihre Stimme zu erheben, so wird das immer in ihrer Weise und mit ihren Mitteln geschehen. Wir sagen ausdrücklich an den Merktagen, den Erinnerungstagen, denn zu anderem, zum Feiern und Jubilieren, steht uns wahrlich nicht der Sinn, heute weniger denn je in dem abgelaufenen Jahrzwölft. Aber eben damit wird die Aufgabe, vor die wir gestellt sind, erst recht drin­ gend und universitätsgemäß. Ja, es will uns scheinen, als ob das Hegelwort: „Die Eule der Minerva beginnt im Dunkel ihren Flug" für die Gegenwart eine neue, im Kern verwandelte Bedeutung erhält: Solange die Universitäten von der Sonne nationaler Wohlfahrt be­ schienen waren, durften sie gewiß sein, im allgemeinen Strom zu schwimmen und Wortführer eines großen Chores zu sein. Heute sind ihre Fittiche beschattet und beschwert, sie stellen Inseln dar, umbrandet von allen Gegensätzen, die unser nationales Leben zerreißen, und ihre Stimme trägt im Gewirr des Tages nicht eben weit. Indem wir das feststellen — nüchtern und ohne alle Illusionen —, meinen wir zugleich, daß diese Stimme nie notwendiger war, nie berechtigter und zukunftsträchtiger ihrem eigenen inneren Wesen nach. Denn es gibt keine andere Instanz, die aus ihrem beruflichen Ethos heraus in gleichem Maße verpflichtet wäre, allen leichten Wunschbildern zu ent­ sagen, und es sich innerlich so schwer zu machen, wie es ihr von außen auferlegt wird — keine, der es in gleicher Art obläge, Not umzusetzen in Erkenntnis und das auszusprechen, was ist, wie — die deutsche Uni­ versität. Darin liegt der tiefste Sinn ihrer Autonomie, danach gewissen-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke haft zu handeln, ist das beste Geschenk, das sie dem Staate darzubieten vermag — gerade in Zeiten tiefer Erschütterung. Und so denken wir von unserer Aufgabe bescheiden und stolz zugleich: Es sind stille und unauffällige Pflichten, die in den Mauern der Universität geübt werden: wissenschaftliche Besinnung, Zucht der Gedanken, Konzentrierung des Willens — sie haben ihren Lohn und ihre Bedeutung in sich, aber sie drängen mit Notwendigkeit dahin, auch vor der Öffentlichkeit Zeugnis zu leisten und Anspruch zu erheben. Denn jener Kodex akademischer Pflichten, jenes „Wächter"-Amt der Universität, hat seinen unersetzlichen und unabdingbaren Wert für die nationale Gemeinschaft heute mehr denn je. Und so liegt uns am Verfassungstage nicht ob, Begleitakkord irgendeiner offiziellen oder populären Melodie zu sein, sondern der Idee unseres Berufes zu gehorchen und damit erst recht dem Staate zu dienen. Dieser Dienst kann an jedem wissenschaftlichen Gegenstand sich entfalten, denn irgendwie hängen Erkenntnis und tätige Gesinnung immer in der Wurzel zusammen, aber es gibt allerdings der Themen genug, bei denen die Verbindung enger ist, Themen, die, auf unsere Art befragt, ausdrücklich und mit sehr deutlichen Worten hineinsprechen in die Sorgen und Hoffnungen des Tages. Gilt das auch vom Freiherrn vom Stein? Über ihn in dieser

Stunde zu reden, ergibt sich sehr ungesucht, aber es ergibt sich zunächst doch nur aus einer rein äußerlichen Konstellation, aus der zufälligen Tatsache eines hundertjährigen Todestages. Wie steht es um den inneren Zusammenhang? Was für inhaltliche Überlieferungen sind mit dem Namen und dem Werke Steins verbunden, was berechtigt und was verpflichtet uns, im Gedenken der Verfassung gerade seiner zu gedenken? Die Frage ist leicht gestellt, und es lebt ein Instinkt in ihr, den wir in seinem Recht nicht bestreiten möchten. Aber als Ant­ wort haben wir manches sehr Seltsame in den letzten Wochen gehört. Und so müssen wir auch hier mit einem Wort der Abwehr und der Abgrenzung beginnen. Wenn der Reichsfreiherr gewiß ein mahnendes und ein drohendes Antlitz uns zuwendet, so steht er doch allem, was zeitgeschichtliches Treiben und Getriebe ist, unendlich fern: durch tiefe Klüfte von uns geschieden. Seine Person und seine Lage können wohl historisch verstanden, aber nicht beliebig aktualisiert werden; ihn gar als Kronzeugen des demokratisch-unitarischen Staatsideals oder der sozialen Gleichmacherei zu bemühen, ist ein Versuch am untaug­ lichsten Objekt. Und selbst Steins meist gekanntes Verfassungsstück, die Städteordnung von 1808, sollte, man nur mit einiger Scheu heute

Stein und die Gegenwart nennen, wie denn überhaupt das Ideal der Reform, das Wunschbild des politisch tätigen Bürgers, mit dem Berufspolitiker von heute sehr wenig gemein hat. Vom aktuell Zuständlichen aus gesehen ist der Reichsfreiherr, man möchte fast sagen, so unmodern wie nur möglich, und auch sonst wirkt er in manchem Betracht altertümlicher als ältere Heroen der deutschen Geschichte, ein Luther oder ein Friedrich der Große. So begreift es sich auch, daß der Mann, der gewiß Züge eines Volkshelden hatte, der dem mütterlichen Erdboden nahestand, der Zartes und Schweres, tiefe Demut und aufbrausenden Stolz eigen­ tümlich verband, daß dieser sehr deutsche Mann nie eigentlich populär geworden ist. Er war der einfachsten und insoweit der volkstümlichsten Empfindungen fähig, einer abgründig-revolutionären Leidenschaft, und blieb doch ein halbfeudaler Aristokrat; er forderte ein Gemeinwesen deutscher Nation und umkleidete dieses Ziel mit dem Erinnerungs­ gehalt des alten übernationalen Reiches; er war ein Gegner fürstlicher Allmacht, und zeitweise der Dynastien überhaupt, aber was er Freiheit und „Bürgerrecht" nannte, war altfränkisch gefärbt, und mit einem Grundzug seines Wesens hing er dem historischen Rechte an; er hatte ein tiefes Verständnis für die sozialen Schäden seiner Zeit, das Heilmittel jedoch, das er empfahl, war wieder zu gutem Teile rückwärts gewandt, ein nordgermanisches Ideal des angesessenen Eigentümers, verbunden mit patriarchalischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts, — für die modemen Massen und ihre Probleme hätte der Reichsfteiherr nichts anderes wie strengste Ablehnung und entschiedenste Abneigung gehabt. So schrieb er, als die Julirevolution die neuen Kräfte der Gesellschaft ans Licht getrieben hatte: „Wir leben in einer Zeit, wo man weniger vom Despotismus der Fürsten als dem aufständiger Proletarier zu fürchten hat." Das war nicht die Skepsis oder die reaktionäre Stim­ mung des Alters, sondern entsprach dem gleichbleibenden Kern der geschichtlichen Gestalt, jenem Kern, der gegen alle egalitären und gewinnsüchtigen Tendenzen sich jeweils angestemmt hat, gegen alle Gleichmacherei und allen unsittlichen Egoismus, mochten sie von oben oder von unten kommen. Zu leichten Nutzanwendungen also gibt sich dieser Mann wahrlich nicht her. Keine Partei der Gegenwart kann ihn ohne weiteres rekla­ mieren, und jeder tendenziöse Zugriff scheitert an der durchaus eigen­ willigen Struktur der Gestalt. Der Reichsfteiherr selbst würde bei Lebzeiten mit Donner und Blitz geantwortet haben, wenn ihm Herr Jedermann vertraulich auf die Schulter geklopft hätte, er kann auch

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke als historischer Schatten fordern, daß der Wille zur Verehrung die „Distanz" wahrt. Und doch fühlen wir sehr deutlich, daß dies ehrwürdig­ eigenständige Gefüge nicht wegen seiner altertümlich-pittoresken Er­ scheinung, nicht wegen irgendwelcher ästhetischen Werte betrachtet sein will, sondern daß es geladen ist mit ethischen Impulsen. So wie aus dem physischen Antlitz Steins die gewaltige Nase sich vorwölbt, so sprechen aus seinem geistig-politischen Gesicht strenge Forderungen uns an. Darin liegt das innerste Recht jenes Instinkts, der bei dem Reichs­ freiherrn Anlehnungen und Antworten, eine tiefere Fundamentierung unserer Gegenwart, unserer aufgewühlten geistig-politischen Situation, zu gewinnen sucht. Machen wir aber auch hier uns klar, daß diese Forderungen — um im Bilde zu bleiben — nicht einfach von der Fläche des Gesichtes, von der Außenhaut abzulesen sind. Sie stecken zu gutem Teile in den Handlungen selbst darin: Stein war ein Mann der Wirk­ lichkeit und der praktischen Geschäfte, durchaus dem GegenwärtigGegenständlichen zugewandt, er besaß fachmännisches Wissen als Land­ wirt und als Montanist, er hatte 25 Jahre Beamtendasein in der west­ fälischen Verwaltung und im Berliner Ministerium hinter sich, als er für knapp 14 Monate zur Staatsmannschaft berufen wurde, und Zeit seines Lebens wetterte er gegen die deutsche Metaphysik und Meta­ politik, die das Herz leer ließen und mit ihren Gespinsten nur das Handeln lähmten. So war der Reichsfreiherr in einer redenden und schreibenden Zeit ein Mann primär vor allem der Tat. Schon darin ist etwas vom Innersten seiner Forderung lebendig. „In großen Situationen", schrieb er im Alter einmal, „entscheidet Charakter mehr als Geist und Wissen". Das war die Grundgesinnung seiner Staats­ mannschaft, die bestimmend wurde für den Geist der Reform. Denn Charakter, so erläuterte Stein, ruht auf den beiden Säulen: Reli­ giöse Sittlichkeit und Vaterlandsliebe. So war es ganz in seinem Sinne und recht eigentlich auf ihn abgezielt, was einer der jüngeren Weg­ genossen aussprach: „Nur in einem Gemüt voll Tatkraft kann sich die tatenreiche Zukunft verkündigen." — Aber Stein wäre kein Mann des 18. Jahrhunderts gewesen, wenn er nicht doch zugleich nach den Prin­ zipien des Handelns gefragt, wenn er nicht das Tun mit der Reflexion, die innere Spannung der Seele mit der Frage nach Grund und Ziel begleitet hätte. So durchdringen sich bei ihm Wille und Geist. Suchen wir aus beidem, aus dem Tun wie aus dem Denken das herauszuheben, was jenen Charatter des Fordernden und Verpflichtenden hat. Suchen wir im Zeitgeschichtlich-Zuständlichen das zu erkennen, was sich

Das Verpflichtende in Steins Staatsgedanken als Überzeitliches und Unbedingtes ablösen läßt: die Elemente eines spezifisch-deutschen Staatsgedankens. Das erste, was von dieser Fragestellung her zu sagen ist, betrifft diejenige Richtung der Tat wie des Gedankens, die bei den Gedächtnis­ feiern der letzten Monate am wenigsten Berücksichtigung gefunden hat: die Richtung nach außen. Und doch ist die äußere Lage, der Grad der Unabhängigkeit eines Staates aufs engste verflochten mit seinen inneren Einrichtungen, ist ihre Ursache oder ihre Folge, ist jedenfalls ein höchst wesentlicher, ein inhärenter Bestandteil der Staats-„Verfassung", wenn anders wir dieses Wort in einem tieferen Sinne gebrauchen. Stein jedenfalls sehen wir hier mitten ins Herz. Ein kraftvoll-sittliches Leben in den Adern des Staates war ihm undenkbar ohne Ehre und Würde nach außen. Er stand ganz unmittelbar zu dem Wort, das nach sehr viel komplizierterem Entwicklungsgang Wilhelm v. Humboldt im Jahre 1813 ausgesprochen hat: „Deutschland muß frei und stark sein, nicht bloß, damit es sich gegen diesen oder jenen Nachbarn verteidigen könne, sondern deswegen, weil nur eine auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahrt, aus dem auch alle Segnungen im Inneren strömen." Und wenn Stein nach Ressort und Neigung Verwaltungs­ mann war und blieb, so sollte seine große Reform in der entscheidenden Phase ausdrücklich der Widerstandskraft, der äußeren Unabhängigkeit des Staates, also der „Freiheit" der Nation im umfassendsten Sinne dienen. Das heißt nicht, daß der innere Neubau nach seinen Antrieben und Kräften etwas Heteronomes, etwas Zweitrangiges war, wohl aber, daß dieser innere Neubau nie Selbstzweck wurde, daß lebendige Ströme des Blutes und der Gesinnung Verwaltung und Außenpolitik verbanden. So sehen wir, wie der westfälische Kammerpräsident 1792 — bei dem französischen Einbruch ins Rheinland — ungefragt und un­ berufen, über alle amtlichen Kompetenzen und Ressortfragen hinweg die Abwehr organisiert, den einfachsten männlichen Empfindungen folgend. Und so läßt sich weiter sagen, daß in die Steinschen Gedanken humaner Reform, guter und sparsamer Regierung, daß in diese Ge­ danken, die der Reichsfreiherr mit vielen Zeitgenossen teilte, erst im Zusammenprall der Völker der politische Atem hineinfährt. Erst die Wochen vor Jena lassen ihn die Grundfragen staatlichen Lebens be­ rühren, und erst nach dem Zusammenbruch, in der unfreiwilligen Nassauer Muße, erwächst eine Art Programm. Der Durchbruch min­ destens der großen Reformgedanken geschah, wie das immer der Fall war und wohl immer der Fall sein wird, nicht aus überlegener Einsicht

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke und klügerem Räsonnement, sondern aus irrationalem Grunde und in tiefer nationalpatriotischer Erregung. Aber dieses Sichanstemmen nach außen, dieses Verflochtensein aller Verfassungsgedanken mit dem Gedanken der deutschen Selbständigkeit schlechthin, ist nun freilich durch mancherlei Querströmungen durchbrochen. Der Mann, der seine Fami­ lienkorrespondenz französisch führte, haftet auch sonst mit einigen Wurzelfäden noch im älteren Erdreich nationaler Freizügigkeit und besaß noch etliche Möglichkeiten halbprivater Existenz. Es fehlte nicht viel, so wäre er nach der brüsken Entlassung durch den preußischen König als Wortführer der Reichsritterschaft, als förmlicher Bittsteller in Paris erschienen. Wir wollen diese echten Farben des zeitgenössi­ schen Bildes nicht übersehen, und wir wollen ebensowenig verschweigen, daß nach dem Wiedereintritt als preußischer Minister der Freiherr vom Stein, in der Tributfrage von damals, während des Frühjahrs 1808 monatelang und mit allen Mitteln um Entgegenkommen Napoleons warb, um Fixierung der Endsumme, um leidliche Zahlungsbedingungen, ja um ein Bündnis mit dem Sieger. Er hat für dieses Ziel, das die bittere Not des Staates vorzuschreiben schien, schwere Demütigungen auf sich genommen, er gefährdete gegen sein inneres Gesetz die Strenge des eigenen ethischen Maßes, er zahlte Bestechungsgelder an französische Beamte, er mußte einen Erlaß widerrufen, der den Wucher mit preußischen Tresorscheinen im besetzten Gebiet unterband, er veran­ laßte die Berliner Akademie den General Daru zum Ehrenmitglied zu machen, u. dgl. m. Aber wenn man den Reichsfreiherrn darob einen Mann der „Erfüllungspolitik" genannt hat, so wäre zweierlei zu sagen. Zunächst, daß die Verständigungsversuche völligen Schiffbruch erlitten. Stein täuschte sich über die Absichten Napoleons in jeder Weise, der Boden des kläglichen Diplomatisierens und Temporisierens war nicht der seine, darauf verstand sich Hardenberg mit seinem leichteren mora­ lischen Gepäck unendlich viel besser. Man wird eben darum das persön­ liche Opfer doppelt hoch schätzen, das der Rcichsfreiherr den staatlichen Notwendigkeiten geglaubt hat bringen zu müssen. Aber, und das ist das zweite: recht zu seinem eigenen Selbst, zum innersten Aufbruch seines ethischen Willens kam er doch erst, als der Mißerfolg aller Be­ mühungen offen zutage lag, als nichts übrig zu bleiben schien als der Kampf um die nackte Existenz. Das ist ja eine Grundstimmung in den fruchtbarsten Monaten der Reform, die Überzeugung, daß Napoleon jeden Tag und mit einem Federstrich den Preußischen Staat von der Landkarte tilgen könne, daß nicht die Möglichkeit günstigen Ausgangs,

Der Kampf um die Unabhängigkeit

sondern die sittliche Pflicht den Widerstand gebiete. So hat Stein selbst in einer Königsberger Denkschrift vom 11. August 1808 es ausgeführt: Man müsse in der Nation das Gefühl des Unwillens erhalten, man müsse sie vertraut machen „mit dem Gedanken der Selbsthilfe, der Aufopferung des Lebens und des Eigentums, das ohnehin bald ein Mittel und ein Raub" des Feindes werde. Denn, so fährt er fort, man muß „wohl erwägen, daß die Macht, die man angreift, groß, und der Geist, der sie leitet, kräftig ist, daß der Kampf begonnen wird weniger in Hinsicht auf Wahrscheinlichkeit des Erfolges als auf die Gewißheit, -aß ohnehin eine Auflösung nicht zu vermeiden und daß es pflicht­ mäßiger gehandelt ist gegen die Zeitgenossen und die Nachkommen und ruhmvoller für den König und seine Nation mit den Waffen in der Hand unterzuliegen, als sich geduldig in Fesseln schlagen oder ge­ fangen halten zu lassen". So die Gesinnung, von der Stein im Sommer und Herbst 1808 getragen war und die ihn mit Gneisenau vor allem verband. Im Mittelpunkt ihrer Pläne stand derGedanke der nationalenJnsurrektion, mit oder ohne Anlehnung an Österreich und Rußland, mit oder schließ­ lich auch ohne Friedrich Wilhelm l l l. Denn wie der Reichsfreiherr es einmal ausgedrückt hat und wie es uns heute beziehungsreich in die Ohren klingt: „Deutschland kann nur durch Deutschland gerettet werden." Stein war für dies Ziel zu den revolutionärsten Mitteln entschlossen. „Nur indem man", so schreibt er, „den Geist der Nationen aufreizt und in Gärung bringt, kann man sie dahin führen, alle ihre moralischen und physischen Kräfte zu entwickeln." Aber war die Lage zu solchen Plänen angetan und konnten die polizierten Untertanen des Königs von Preußen, an strenge Zucht und obrigkeitliche Leitung gewöhnt, konnten sie einen Kampf führen wie die Spanier oder die Sauern der Vendee? Alles spricht dafür, daß hier der Überflieger Geist den Boden der Wirklichkeit verließ. Und wenn Stein nicht zum Erfüllungs­ politiker taugte, so lag ihm auch das Handwerk des Verschwörers wenig genug. In kaum begreiflicher Naivität sandte er offene Briefe zur Vorbereitung des Aufstandes durch das Land. Indem sie von den Franzosen aufgefangen wurden, bekam Napoleon das Mittel in die Hand, Preußen zur Kapitulation zu zwingen und den gefährlichen Minister zu ächten. Aber wenn die Berliner Literatenpresse nun über den Brandstifter am preußischen Königshofe herfiel und die Ruhselig-, feit des friedlichen Bürgers rühmte, so wird die historische Betrachtung die Gewichte doch sehr anders verteilen. Nicht aus romantischer Sym-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke pathie mit dem Heroischen an und für sich, sondern weil in jenen un­ wirklichen Plänen doch ein sehr realer Und unvergänglicher Kern steckt: Nur die Entschlossenheit zum Äußersten rettete den Glauben an die

Nation und den Willen zur Freiheit durch die Jahre der Einpassung hindurch. Hardenbergs geschmeidige Kunst der diplomatischen Taktik konnte wohl das bare Leben einigermaßen fristen und erwarb sich damit geschichtliches Verdienst, aber das Pathos der Erhebung stammte aus dem Geiste Steins und seiner Genossen. Er selbst warf jetzt als Verbannter alles Gepäck hinter sich. Die eigene Reformarbeit erschien ihm geradezu unwichtig geworden. Es habe keinen Sinn mehr, sich mit Verbesserung der inneren Verwaltung und Förderung des öffent­ lichen Wohlstandes abzugeben, so schrieb er einem Freund. Jetzt gelte nur noch der Spruch: „Wer Gott vertraut, brav um sich haut, dem muß es stets gelingen." Und so wuchs der Kampf vollends in die Sphäre des Moralisch-Religiösen empor, er wird zum Kampf gegen den Feind der „Menschheit und der Deutschheit": gegen Satanas. Aus solchem Bewußtsein heraus hat Stein um die Seele des Zaren gerungen, und es gelang ihm, den russischen Herrscher mit der Gesinnung einer gesamt­ europäischen, einer letztlich religiösen Entscheidung zu erfüllen. Aus solchem Bewußtsein, daß es zu wählen gelte zwischen Gott und dem Teufel, hat er das preußisch-französische Bündnis bitter verdammt. Mit schärfsten Worten sprach er jetzt von der schwunglosen Rasse der Norddeutschen. „Was kann man erwarten von den Einwohnern dieser sandigen Steppen, diesen pfiffigen, herzlosen, hölzernen, halbgebildeten Menschen — die doch eigentlich nur zu Corporals und Calculators gemacht sind"------------, denen „ein freudloses Hinstarren" jeden see­ lischen Auftrieb lähmt. Und als Stein dann im Gefolge der russischen Waffen wieder norddeutschen Boden betrat und Ostpreußen mitzu­ reißen suchte, da kam es zunächst zu schwerem Konflikt. In den Bedenken der Königsberger, in ihrer staatlichen Gebundenheit, konnte sein leiden­ schaftlicher Wille nur Mangel an Hingabe sehen. Die Lösung lag schließlich darin, daß der staatliche Körper selbst mit den Kräften der Freiwilligkeit und des Enthusiasmus sich erfüllte. So trat die Span­ nung zurück im vollen Klang der gemeinsamen Tat, im fortreißenden Schwung gemeinsamer Gesinnung. Denn auch für die Königsberger Führer verstand sich das Moralische des Krieges von selbst, auch für sie ging es um den Kampf gegen das Böse schlechthin. Dieses sittlich-religiöse Pathos ist ein spezifischer Zug der Er­ hebung von 1813 und doch wohl ein sehr deutscher. Aus Steins Außen-

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Sittlich-religiöses Pathos Politik wie aus dem Kern seiner Staatsanschauung überhaupt läßt er sich nicht löschen. Und wenn die Stein-Biographie Gerhard Ritters, die schönste Frucht des Jubiläumsjahres, ihrem Helden eben darum eine unklare Vermischung weltanschaulicher und politischer Dinge, ein Übermaß moralischer Entrüstung und moralischer Sympathien vor­ werfen will, zu dem man von der Nüchternheit des Bismarckschen Staatsethos nicht mehr zurückfinde, so möchten wir hier doch anders urteilen. Uns will scheinen, daß dies Bedürfnis, die Dinge der Welt ganz unmittelbar sub specie aeterni zu sehen, nicht nur zeitgeschicht­ licher Stil und zeitgeschichtliche Befangenheit, nicht nur gleichsam ein Spalier war, um überhaupt erst einmal politische Empfindungen emporzuranken, sondern der höchst Persönliche Ausdruck einer welt­ weiten Spannung, die wieder für Deutschland Heraufziehen kann und heraufgezogen ist. Es handelte sich damals um den Kampf gegen die Universalmonarchie, gegen das Böse in der Überspannung der Macht,

die alle europäischen Lebensformen einzuebnen suchte, es handelte sich demgegenüber um einen Widerstand, der allerdings im innersten see­ lischen Bezirk seinen Rückhalt finden muß. Und wir meinen, daß es heute im Prinzip nicht so sehr anders steht. Auch heute geht es ja um weit mehr, als um Ehre und Freiheit nur einer Nation, wird im Schicksal Deutschlands das Schicksal einer sinnvollen menschlichen Ord­ nung überhaupt durchkämpft: So rührt uns der Zusammenklang von Weltanschauung und Außenpolitik (an dem es übrigens auch bei Bismarck nicht fehlt) doch sehr eigentümlich wiederum an. Und wir wünsch­ ten uns statt vieler mißverstandener „Realpolitik" etwas von der mora­ lischen und gewiß auch moralisierenden Energie, die im Reichsgedanken Steins der französischen Weltherrschaft und jedem unsittlichen Despo­ tismus entgegengesetzt wurde. Was aber war — das wird unsere zweite Frage sein müssen — was war der Inhalt dieses Reichsgedankens? Für welches Ziel nationaler Zukunft kämpfte Stein, wen sah er als ihren Träger an, in welche Formen wünschte er sie zu gießen? — Man hat von jeher betont, wie stark der Reichsfreiherr nach Herkunft und Sinnesart in den Überlieferungen des alten Kaisertums lebte. Die Ritterschaft, aus den Gauen des Rheins zumal, war ja dessen treueste Stütze ge­ wesen, und noch immer bestand eine enge Verflechtung der Interessen mit der österreichischen Monarchie. Auch Stein wird mehr als einmal seinen Blick auf Wien richten. Aber er brach doch aus dieser Welt der Familien- und Standesbeziehungen grundsätzlich aus, als er in den

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke preußischen Staatsdienst trat, er kehrte damit der Kleinstaaterei des „Reichs" im engeren Sinne, d. h. der südwestlichen Lande, den Rücken. Worauf für ihn fortan die Zukunft Deutschlands beruhte, das hat er in einem der berühmtesten Dokumente seiner Feder im Jahre 1804 ausgesprochen. Es ist der Brief an den Herzog von Nassau-Usingen, der durch die unerhört männliche Sprache, wie sie hier erklang, Stein zuerst vor die Augen der Nation gestellt hat. Er protestierte mit einem offenen Schreiben gegen die WilMr des kleinen Regenten, gegen die Einziehung zweier Dörfer des Familiengutes, er hielt an allen seinen Titeln als Jmmediatherr fest. Aber er gab der stolzen Rechtsverwah­ rung eine ebenso stolze Wendung in die Zukunft. Und so hieß es in dem Briefe: „Deutschlands Unabhängigkeit und Selbständigkeit wird durch die Konsolidation der wenigen reichsritterschaftlichen Besitzungen mit denen sie umgebenden kleinen Territorien wenig gewinnen; sollen diese für die Nation so wohltätigen großen Zwecke erreicht werden, so müssen diese kleinen Staaten mit den beiden großen Monarchien, von deren Existenz die Fortdauer des deutschen Namens abhängt, vereinigt werden, und die Vorsehung gebe, daß ich dieses glückliche Ereignis erlebe." Ein Dualismus der beiden deutschen Großmächte also schwebte Stein als nächste nationale Lebensform vor, unterbaut durch eine gewisse Erneuerung der alten Kreisverfassung. Bald wird er dazu übergehen, für Preußen eine förmliche Unions- und Annexionspolitik zu fordern; auch über die Welt der nordwestdeutschen Mittelstaaten wuchs er damit empor. Hannover sollte einverleibt werden, und es sei die „deutsche Veredelung und Kultur... innig an das Glück der preußischen Monarchie gekettet". Die Blüte des geistigen Lebens und der norddeutsch-protestantische Staat als ihr schützender Hort, Weimar und Potsdam, das ist ja die Gleichung des Jahrzehnts vor Jena. Aber auch in diese Welt bricht der Krieg hinein. Und nun erhebt sich Stein, indem er den Egoismus der Rheinbundfürsten und die Schlaffheit des preußischen Königs erlebt, indem er sich selbst von allen Staatsgrenzen, ja von der Heimaterde löst, nun erhebt er sich — durch all das hindurch­ gehend — zum umfassendsten Ausblick, er wird der erste schlechthin nationale Staatsmann unserer Geschichte. So fließen denn im De­ zember 1812, als das Strafgericht über die große Armee entschieden ist, aus seiner Feder jene vielberufenen Worte, die den Weg von einer Zeitwende zur anderen weisen: „Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland, und da ich nach alter Verfassung nur ihm und keinem besonderen Teil desselben angehörte, so bin ich auch nur ihm und nicht

Entwicklung des Reichsgedankens einem Teil desselben von ganzem Herzen ergeben. Mir sind die Dyna­ stien in diesem Augenblick großer Entwicklung vollkommen gleichgültig, es sind bloße Werkzeuge; mein Wunsch ist, daß Deutschland groß und stark werde, um seine Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Nationalität wieder zu erlangen." In der Tat: ein Vorausgriff in die Zukunft von wahrhaft prophetischer Wucht. Um so charakteristischer jedoch, wie selbst in diesem revolutionärsten Moment alte Traditionen in Steins Gedankengut mit einschießen. Es ist der Reichspatriotismus der Reichs­ ritterschaft, der aus der „alten Verfassung" hinüberschlägt in das Wunsch­ bild umfassendster nationaler Gemeinschaft. Den Neubau zu errichten auf den Quadern des historischen Gefüges, aber mit Beseitigung des Nurhistorischen, das ist recht eigentlich die Grundtendenz. Und als es im Frühjahr 1813 Deutschland aufzurufen gilt, da schreibt Steins Freund Rehdiger aus dem Geiste des Reichsfreiherrn die Worte nieder, die das Programm einer neuen und doch alten Nationalverfassung, einer spezifisch deutschen Verfassung, enthalten: „Sie müsse hervor­ gehen", so heißt es bedeutsam genug, „aus dem ureigenen Geiste des deutschen Volkes." Je besser das gelingt, „desto verjüngter, lebenskräftiger und in Einheit gehaltener wird Deutschland unter den Völkern Europas erscheinen können". Wir verfolgen nicht im einzelnen den Kampf, den Stein um dieses Ziel geführt hat. Es war wieder so, daß der rückwärts gewandte Blick, der Wille, anzuknüpfen an die eigengewachsene Art, zugleich doch weit in die Zukunft griff, über alle Möglichkeiten der Gegenwart hin­ aus. In zahlreichen Vorschlägen aus Steins Feder wurden die Auf­ gaben kommender Jahrzehnte gleichsam durchgeprobt, die Frage der Organisation eines deutschen Bundesstaates wie die Frage seiner Ein­ passung in das europäische System. Nicht die vielfach mühsamen Einzel­ heiten dieser Denkschriften, sondern nur die Grundgesinnuug interessiert uns hier. Das Gemeinsame war, daß die Unabhängigkeit, die eigene machtvolle Lebensform der deutschen Nation von Stein in enge Ver­ bindung gesetzt wurde mit dem Eigenbedürfnis der anderen euro­ päischen Völker. Auch das war „realpolitisch" genommen gewiß eine Illusion. Aber wiederum steckt in ihr ein Kern höchst zukunftsvoller Forderungen, man darf wohl sagen, ein konstitutives Element deut­ scher Staatsanschauung. Lösen wir auch hier die zeitgeschichtlichen Bedingnisse ab, so setzt sich der alte Gedanke der res publica Christiana, der Nachklang der universalen Kulturgemeinschaft des 18. Jahrhunderts, in den tief gefaßten und sehr aktuellen Anspruch um, daß Solidarität

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke der Völker kein kleinliches Jnteressenspiel sei und daß ihre Verwirk­ lichung abhänge von der Verwirklichung eines Reiches der Mitte — eines deutschen „Reiches", das, in sich zuchtvoll gebunden, die Vor­ mauer ist gegen jede Überflutung. So suchte es Stein noch Anfang 1815 dem Zaren nahezubringen: „Die großen Interessen Europas fordern, daß Deutschland unabhängig vom Ausland und ruhig im Innern sei." Von da aus rühren wir die dritte und letzte Frage an, die Frage — im engeren Sinne — der staatlichen Verfassung. Worauf beruhte für Stein diese innere Bindung, die Hoffnung, so hörten wir, aus dem „ureigenen Geiste des deutschen Volkes" eine lebenskräftige, eine von sittlichen Antrieben erfüllte Form deutscher Staatlichkeit zu gründen? Man weiß, daß in der inneren Ausgestaltung des staat­ lichen Lebens der Schwerpunkt seiner praktischen Tätigkeit lag, und man kennt die Einzelstücke des Werks: Behördenorganisation an der Zentrale und in der Provipz, Abbau der sozialen Schranken und der wirtschaftspolitischen Bindungen, Bauernbefreiung und Städteordnung, dazu die Pläne ländlicher Selbstverwaltung und einer „Nationalreprä­ sentation". Wir können wiederum nicht die Einzelheiten betrachten, und wir brauchen es in unserem Zusammenhänge nicht, denn sehr vieles ist hier doch rein zeitgeschichtlicher Art. Nur an dem Prinzipiellen wird uns wiederum gelegen sein. Und da ist die entscheidende Frage: Woher stammen die Gedanken politischer Freiheit und politischer Ver­ antwortung, welche Wendung haben sie unter Stein genommen, was ist ihr Ziel und, um unser Thema zum Ende hin noch einmal aufzu­ nehmen, was ist ihr fordernder, ihr mahnender Sinn? Auch hier wäre zunächst zu sagen, daß die Wurzel der Reform tief im altdeutschen Boden liegt, in den Vorstellungen germanischer Unabhängigkeit und im Recht der Stände auf Mitregiment. Noch im reifsten Jahr seiner Staatsmannschaft wird Stein den eigentüm­ lichen und sehr bezeichnenden Versuch machen, in die Regierungskollegien Vertreter des „Landes" einzufügen, die Stände also an der Exekutive zu beteiligen. Ein Rest dualistischer Staatsauffassung ist immer in ihm lebendig geblieben. Diese altständischen Ideen haben sich in seiner westfälischen Zeit gekräftigt. Hier, auf der roten Erde, fand Stein noch Formen genossenschaftlichen Zusammenhangs am Leben, die in den mittleren und östlichen Provinzen Preußens schon eingeebnet waren, die Amts- und Erbentage der westfälischen Bauern zumal. Mit diesen Eindrücken berührte sich dann der Zustrom angel­ sächsischer Elemente, durch Steins hannoversche Freunde vermittelt.

Pläne „deutscher“ Verfassung Was der Westfale Justus Möser in seiner kleinstaatlich-patriarchalischen Welt gepredigt hatte: der Grundeigentümer als politisch tragender und am Gemeinwesen interessierter Stand, das war jenseits des Kanals große Wirklichkeit. Dieser aristokratische Liberalismus englischer Prä­ gung bleibt gleichfalls ein dauernder Bestand in der Ideenwelt Steins, er spielt seine Rolle bei der Bauernbefreiung wie bei allen Plänen der Selbstverwaltung, und er führt zum Gedanken der Adelsreform — nach dem Muster der englischen gentry. Das alles waren alte, histo­ risch gewachsene Elemente staatlichen, vor allem nordgermanischen Lebens. Wie aber stand es mit der neuen, von Westen herüberflutenden Ideenwelt? Es ist über diese Frage viel gestritten worden, und Stein selbst hat dazu das Wort genommen. Er sprach in den Jahren der Ver­ bannung mit größter Schärfe über den schwindelhaften Geist der fran­ zösischen Revolution, er bestritt jede Sympathie, jedes Gefühl der Ge­ meinschaft mit der westlichen Nation, deren tief eingefressener Egoismus im kosmopolitischen Gewände gehe. Er zeichnete mit Beifall den Satz Herders sich auf: „Das verschwammte Herz eines Kosmopoliten ist eine Hütte für niemand." Aber es wäre sehr falsch deshalb anzunehmen, daß Stein vom französischen Einfluß unberührt geblieben ist. Autoch­ thon schlechthin, in nationaler Inzucht, wächst keine europäische Ver­ fassung, und auch Steins Wort vom „ureigenen Geist" hat nicht diesen engen Sinn. Er wäre kein Mann der staatlichen Wirklichkeit gewesen, wenn er sich nicht von dem großen französischen Vorgang nationaler Kraftentfaltung hätte ergreifen lassen; er selbst ist mit daran zum Staatsmann gereift. Und indem er nun seinen Kampf um die preu­ ßische Verfassung 1806 mit der Forderung eines einheitlichen Staats­ ministeriums beginnt, ist gleich bei diesem ersten Schritt der Einfluß u. a. der französisch-zentralistischen Ideen nicht zu verkennen. Aber aufs deutlichste zeichnet sich auch das Eigene ab: Der Kampf gegen das Kabinett stammt aus der Feindschaft gegen das Regieren im Dunkeln, gegen alles Höflingswesen, stammt aus dem männlichen Bedürfnis nach klarer Verantwortung. Und weiter wird es dann ja gerade Stein sein, der am entschiedensten den französischen Zentralis­ mus bekämpft, das verhaßte Schreiberregiment, den „Buralismns" in seiner Sprache. Er verhindert die Einführung des Präfektursystems, die kollegiale Ordnung der Regierungsbehörden soll wiederum das Gefühl für Verantwortung steigern, und wo der Reichsfreiherr Einzel­ beamte schafft, die Oberpräsidenten, da ist die Absicht einer halb patri-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke archalischen Vertrauensstellung für seine innerste Gesinnung bezeich­ nend und atmet deutschen Geist. Das gleiche gilt nun ins Große gesehen. Stein hat von der natio­ nalen Schwungkraft der französischen Revolution gelernt, und er hat von ihr technische Einzelheiten übernommen, aber der Geist seiner Reform ist ein höchst eigentümlicher und deutscher. Man kann das am klarsten aus der Städteordnung ersehen, bei der mitunter von be­ sonders starken Entlehnungen gesprochen worden ist. Tatsächlich sind sie sehr beiläufig, und vor allem: die tragenden Gedanken weichen toto coelo von der Idee des französischen Munizipalgesetzes ab. Wäh­ rend in Frankreich die Stadt ein beliebiger, bloß arithmetischer Aus­ schnitt der „Nation une et indivisible“ war, knüpfte Stein bewußt an das geschichtliche Wesen der deutschen Städte an, sie blieben oder wurden erst wieder eigenberechtigte Korporationen, ihre genossenschaft­ liche Überlieferung sollte in neue Formen gegossen werden. So traten an Stelle der Zünfte die örtlichen Bezirke mit ihrem Geist nachbarlicher Solidarität. Es kam für Stein und für seinen Königsberger Helfer, den Stadtdirektor Frey, schlechthin alles darauf an, durch ehrenamt­ liche Tätigkeit in einem überschaubaren Kreis das individuelle Eigen­ leben zu wecken und, wie es in der Städteordnung selber heißt, „durch Teilnahme Gemeinsinn zu erregen und zu erhalten". Damit stehen wir endlich vor der innersten Zitadelle dieses deut­ schen Staatsgedankens. In ihr lebt der ethisch-pädagogische Wille des Freiherrn vom Stein, der Wille, der aus allen seinen Handlungen und aus den körnigsten Worten seiner Sprache spricht. Wie er Pesta­ lozzis Erziehungsmethode lobte, weil sie „den religiösen Sinn... erregt, das Leben in der Idee befördert und dem Hang zum Leben im Genuß entgegenwirkt", so war seine Reform und seine Staats­ leitung im ganzen Pädagogik höchsten Stils. Er stand der öffentlichen Meinung stets in der Haltung des Erziehers, nicht des Dieners gegen­ über, auch das unterschied ihn von Hardenberg und seinem geschmei­ digen Glauben an den„Geist derZeit". Der Reichsfreiherr war indiesem wie in so vielen andern Punkten altertümlicher und zukunftsträchtiger zugleich. Es lebte in ihm ein handfester patriarchalischer Moralismus und dahinter der Begriff der lutherischen Obrigkeit, die verantwortlich ist für den gottseligen Wandel der Untertanen—das alles aber ausge­ richtet auf das Ziel der Vaterlandsliebe, die es erst durch Teilnahme am öffentlichen Leben zu erzeugen gilt. Und so heißt es in einer Aufzeich­ nung über „Selbstverwaltung": „Das zudringliche Eingreifen der

Steins ethisch-pädagogischer Wille Staatsbehörden in Privat- und Gemeindeangelegenheiten muß auf­ hören, und dessen Stelle nimmt die Tätigkeit des Bürgers ein, der nicht in Formen und Papier lebt, sondern kräftig handelt, weil ihn seine Verhältnisse in das wirkliche Leben hinrufen und zur Teilnahme an dem Gewirre der menschlichen Angelegenheiten nötigen." Geschehe das nicht, so würden die arbeitenden und mittleren Stände „verunedelt", indem ihre Tätigkeit auf Erwerb und Genuß sich beschränkt, die oberen Stände sinken in der öffentlichen Achtung, die spekulativen Wissenschaften erhalten einen „usurpierten Wert" und — „das Sonder­ bare, Unverständliche zieht die Aufmerksamkeit des menschlichen Geistes an sich..." Worte, in der Tat, von wahrhaft prophetischem Klang. Erst von ihnen aus wird vollends deutlich, wie eng die innere und die äußere Staatspädagogik Zusammenhängen. Erziehung durch Selbst­ verwaltung und'Kampf um die Unabhängigkeit der Nation, sie haben das gleiche Ziel der Hinleitung zum höheren Leben. Das ist der tiefste Anlaß der Schärfe, mit der Stein über den Egoismus der Dynastien wie über die Passivität des Volkes geurteilt hat. Wir sehen in dieser Haltung nichts von unklarem Idealismus. Stein stand fest genug im Boden der Wirklichkeit, um das Recht des Kreatürlichen anzuerkennen. Man müsse, hat er einmal gesagt, „Stillung der sinnlichen Lebensbedürfnisse als notwendige Stütze haben, um das eigentliche Leben, das geistige, sittliche zu leben." Aber eben hier setzte die Aufgabe des Staates an: die Überwindung der Schlaffheit und Sinnlichkeit, die

Erziehung zur Arbeit für das gemeine Beste, zur Hingabe für die Nation. Das also ist Ziel und Sinn des Steinschen Werkes, hier sprechen uns die dringendsten seiner Forderungen an, und wenn wir offen sind, die beschämendsten zugleich. Wie die ganze Reform, so predigt der Reichsfreiherr insbesondere den Vorrang der Pflichten vor dem Recht, des Opfers vor der Wohlfahrt. Wir verkennen auch hier nicht den Unterschied der Lage, wir wissen, was alles zwischen damals und heute liegt. Aber wenn man Stein wirklich lebendig machen will, wenn man fragt, was für ihn den Wert von Verfassungseinrichtungen ent­ schied, so ist es die Grundkraft des Sittlichen, der Wille zur persön­ lichen Bereitschaft. Nur Tätigkeit im Staat und Liebe zum eigenen Volk, nur die Ausrichtung auf überegoistische Ziele entbindet das höhere Leben im geistigen wie im moralischen Bereich. Von diesem innersten Zusammenhang zeugt das Denken wie das Handeln Steins. Das ist sein Vermächtnis, von allen Bedingnissen losgelöst; nicht tech--

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke nische Einzelheiten seines Werks, sondern die einfachen Grundgedanken, die schlichten Forderungen wirken mit erneuter Lebendigkeit auf uns. Sie haben auch den Universitäten etwas Besonderes zu sagen. Und damit kehren wir zum Ausgang unserer Betrachtungen zurück. Wollten wir uns isolieren vom „Gewirre der menschlichen Angelegenheiten" und uns in einer akademischen Bannmeile bergen, bewegte sich die Wissenschaft im selbstgenügsamen Kreis, dann hätte sie in der Tat nur „usurpierten" Wert. Und so dürfen wir schließen mit einem Worte, das Stein selbst für den Sinn wissenschaftlicher Arbeit geprägt hat, das aber zugleich die Summe seines politischen Wollens zieht. Wir meinen den Satz, den der Reichsfreiherr der Sammlung von Quellen zur älteren deutschen Geschichte, den Monumenta Germaniae, zur Losung gab:

„Sanctus amor patriae dat animum.“

4. Prinzipienfragen der Bismarcksdien Sozialpolitik (Eine Universitätsrede am Reichsgründungstag 1929) Am 27. Januar 1871, zehn Tage nach dem Gründungsakt des Deutschen Reiches, schrieb der Historiker Heinrich von Sybel einem Freunde: „Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben? Was 20 Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt! Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?" Es ist in diesen Worten ausgesprochen das Bewußtsein einer Generation, die im Zenith ihres Daseins stand, ein Gefühl der Erfüllung, beseeligend und lähmend zugleich. Schien der Weg, der von dem einen 18. Januar zum anderen, von der Verkündung des preußischen Anspruchs auf den Rang als Großmacht, von der Krönung in Königsberg zur Einigung Deutschlands durch Preußen und zur Kaiserproklamation von Versailles führte, — schien dieser Weg nicht zum endlichen Ziele gelangt? Und wenn die Erfüllung mit Mit­ teln geschehen war, die von den ursprünglichen Wünschen des nationalen Liberalismus weit ablagen, wenn sie einem Manne verdankt wurde, den man einst bitter bekämpft hatte, mußte nicht die Wucht der vollzogenen Tatsachen alle Proteste und Spannungen einebnen? Was blieb den Besten anderes übrig als die dankbare Aneignung der neuen Lebensformen und die laudatio temporis acti? Wir begehen heute den 18. Januar in anderem Sinne. Wir sind gleich weit entfernt von der vorbehaltlosen Verklärung der Vergangen­ heit wie von der einfachen Hinnahme der Gegenwart, und wir sind es aus guten Gründen. Aufs neue ist ja — zum dritten Male in der 4

«ö-IgSb. hist. Forsch. T

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke deutschen Geschichte — die Linie der nationalen Entwicklung in einer Katastrophe umgebrochen worden. Man hatte sie allzusehr als gesichert, als gradläufig zu sehen sich gewöhnt: nun hat es uns getroffen, daß jener 18. Januar der Versailler Kaiserproklamation durch den anderen Tag von Versailles düster überschattet wurde. So kann es sich nicht um ein froh beschwingtes Feiern handeln, wo immer heute von Deut­ schen ihrer Geschichte gedacht wird. Aber ebensowenig wäre die gei­ stige Kapitulation, wäre das Gefühl, am Ende zu sein, oder gar die Sorge vor einem Mangel neuer Aufgaben und Inhalte unserer heu­ tigen Lage gemäß. Nichts würde vielmehr tiefer gegen den Sinn gerade dieses preußisch-deutschen Gedenktages verstoßen, als wenn die liebevolle Ausmalung, die romantische Erhöhung der nationalen Ver­ gangenheit, die Neigung verstärkte, an der Not der Gegenwart sich vorbeizustehlen. Hart und nüchtern ist der Grundcharakter des Weges von 1701—1871, nur wenn man die eigene Geschichte zum Rauschgift verfälscht, zaubert sie dem Betrachter eine Traumlandschaft vor, in deren Reizen das Auge sich ersättigen möchte. Solch leichte Ent­ zückungen sind denen verwehrt, die im Wellental leben, dafür spürt man hier stärker als auf geglätteter See die ringenden Kräfte, den ge­ waltigen Rhythmus des „Stirb und werde", die Dynamik des Rück­ falls und Anstiegs, die wie ein geheimes Lebensgesetz den Verlauf der deutschen Geschichte zu durchwalten scheint. Es hängt aufs engste mit dieser Verschiebung des Standorts, mit den aufwühlenden Erlebnissen der letzten Generation zusammen, daß auch das Bild des ersten Reichskanzlers sich in wesentlichen Zügen gewandelt hat. Es ist uns ferner und zugleich näher gerückt. Wir sehen Bismarck heute ganz gewiß bedingter als seine Gefolgschaft in der Zeit der Reichsgründung es tat, wir sehen ihn stärker abhängig von persönlichen und sachlichen Umständen. Weit über den Kreis der prin­ zipiellen Gegner hinaus ist man heute bereit, Fehler und Mißgriffe des Genius einzuräumen. Wir wissen, daß so manches, was er schuf, das Gepräge des Provisorischen, der „Aushilfe", des Notstands ge­ tragen hat. Das Werk der Reichsgründung selbst hat im ganzen wie in seinen Teilen den Charakter der Endgültigkeit längst verloren. Aber eben mit dieser Feststellung, mit dieser Kritik und Distanzierung glauben wir die Gestalt Bismarcks uns näher anzueignen, in eine tiefere Schicht seines Wesens einzudringen. Denn er selbst war es, der wie kaum ein anderer die Unfertigkeit und Unsicherheit, die fortwährende Proble­ matik des neuen Reiches, seine Gefährdung im Innern wie nach außen

Das Reich von 1871 als „Aufgabe“ mit Schärfe betont hat. Er ist ein gewichtigster Kronzeuge gegen das illusionäre Selbstgefühl der Epigonen, gegen alle Scheinbilder Herrkicher Zeiten, gegen jede deutsche Neigung zu satter Behaglichkeit. Und zwar gilt das nicht nur von den Zorn» und Scheltreden des Alten im Sachsenwalde, von den düsteren Prophezeiungen, in denen die Erbitterung des gestürzten Titanen sich entlud. Auch der handelnde Staatsmann hat in Worten und in Taten von der gleichen Grund­ anschauung Zeugnis abgelegt. Bereits ein Jahr nach der Reichsgrün­ dung klagte er im vertrauten Kreise: „Mein Schlaf ist keine Erholung, ich träume weiter, was ich wachend denke. Neulich sah ich die Karte von Deutschland vor mir, darin tauchte ein fauler Flecken nach dem anderen auf und blätterte sich ab." So lebte Bismarck tief im Gesamt­ strom der deutschen Überlieferung, er wußte, daß das Schicksal einem

Volke keine Geschenke in den Schoß wirft — und dem deutschen am allerwenigsten. Was in den sechziger Jahren von einer höchst beweg­ lichen Diplomatie in raschen, genialen Zügen errungen worden war, das mußte durch Bewährung verdient, durch neue Leistungen erst recht eingewurzelt werden, in jahrelangem Ringen nach innen wie nach außen. Unter diesem Bewußtsein stehen für Bismarck die siebziger und achtziger Jahre. Wenn sie heute dem Historiker besonders vertraut sind, so liegt das nicht nur an Zufällen des Quellenbefundes. Viel­ mehr spricht der gedankliche Inhalt selbst uns in den eigenen Drang­ salen überzeugend an, jener Untergrund verzehrender und aufrüttelnder Sorge, der damals in die Fundamente des Bauwerks eingelassen wurde. Diese Substruktionen pflegen weniger bekannt zu sein, als der glänzende äußere Aufriß, sie sind durch das Gefühl der Sekurität, durch den Glauben an eine Politik ohne Risiko späterhin zugedeckt worden. Es bedurfte erst einer tiefen Erschütterung, um sie wieder bloßzulegen, um jenem Antlitz zu seinem vollen Rechte zu verhelfen, das nichts von heiterer Glätte weiß, in das der Alpdruck schlafloser Nächte seine Furchen gegraben hat, aus dem ein Wille spricht, der von der Sorge selbst vor­ wärts getrieben wird. Noch wenige Wochen vor seinem Sturz hat der Kanzler dem jungen Kaiser jenes ergreifend-hellsichtige Wort zuge­ rufen: no surrender! Eine Mahnung zur Selbstbehauptung des staat­ lichen Willens, die über den besonderen Anlaß hinaus von prinzipieller Bedeutung ist und uns heute aufs innerlichste anrührt. Man könnte die Wirksamkeit dieser Leitgedanken am Gesamtgang der Bismarckschen Politik aufweisen, ich wähle statt dessen ein Teil­ gebiet heraus, das verhältnismäßig weniger bekannt ist und über das

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke auf Grund noch unveröffentlichter Quellen einiges Neue sich sagen läßt: die Sozialpolitik. Es ist ein Teilgebiet, das zugleich seinen be­ sonderen Bezug hat zu dem problematischen Charakter des Werkes von 1871 und zu der auffordernden Kraft, die noch heute in ihm steckt. Nicht zufällig hat gerade ein sozialpolitischer Mitarbeiter des Kanzlers in den siebziger Jahren einmal das Wort gesprochen, die eigentliche innere Reichsgründung stehe noch aus. Das war polemisch gegen Bismarck gemeint — im gleichen Sinn wie Lagarde den Vorwurf einer bloß „negativen Einheit" der Deutschen erhob. „Nur der Schutz", meinte er, „ist jetzt da, hinter dem eine Nation sich aufbauen möchte. Diejenigen Staatsmänner sind keine Realpolitiker, welche Wiegen und Windeln für ein Kind ansehen." Beide Kritiker wußten nicht, wie sehr sie mit Empfindungen des Staatsmannes zusammentrafen, gegen den sie sich wandten. Auch für Bismarck blieb nach 1871 das Reich eine Aufgabe, und diese Aufgabe fand eben in dem, was man gemeinhin Sozialpolitik nennt, einen entscheidenden inneren Programmpunkt. Auch für Bismarck kam es darauf an, das äußerlich Errungene tiefer zu fundamentieren und durch die Ausbildung eines neuen Staats­ typus erst recht zu „gründen". Alle Einzecheiten der inneren Politik, die diesem Zweck dienten, berührten sich oder gipfelten in der Sozial­ politik im engeren Sinne, d. h. in der Behandlung der Arbeiterfrage. Auch Bismarcks Diplomatie hatte einen bestimmten gesellschaftspoliti­ schen Sinn, mindestens stand seine äußere Politik zur sozialen Frage in einem Verhältnis enger Wechselseitigkeit. Damit sind entscheidende Charakterzüge der Bismarckschen SozialPolitik angedeutet. Sie war ihrem Wesen nach Staatspolitik, sie stand nicht unter einer spezifisch sozialen Zielsetzung, sie war ein Teilgebiet aber keine Ressortangelegenheit. Gewiß hat Bismarck sein eigenes soziales Interesse, wenn man will, sein soziales Herz, oft und mit gutem Recht betont. Er sprach gerne davon, daß er die Sorgen und Nöte seiner Varziner Arbeiter auf das genaueste kenne, besser als jeder Gewerkschaftsführer oder Berufspolitiker die seiner Mandanten. Was Bismarck hier als Vorzug betonte, ist die Form der Anteilnahme am persönlichen Schicksal der Arbeiter und Gutsinsassen, die in den patri­ archalischen Verhältnissen des deutschen Ostens erwachsen war. Etwas von diesem „Ostelbiertum" ist in Bismarcks Sozialpolitik immer lebendig gewesen. Auch die lutherische Gesellschaftsauffassung und Stahls Lehre vom christlichen Staate wirkten in ihr nach. Diese Antriebe gingen auf eine konservative, ja auf eine „reaktionäre" Sozialpolitik, auf die Er-

Sozialpolitik als innere Reichsgründung Haltung der gottverordneten Abhängigkeiten, der überkommenen Schichtungen, auf die Wiederbelebung der Zünfte und anderer Privi­ legien, auf das handwerkerliche Wunschbild sicherer und auskömmlicher Nahrung, sie gingen auf die Abwehr der heidnischen Lehre vom Segen der Gewerbefreiheit und der kapitalistischen Konkurrenz. Bismarck hat diese spezifischen Idealbilder einer agrarisch-mittelständischen Sozial­ politik zurückgedrängt — um des Staates willen. Er sah, wie unver­ meidlich die fundamentale Umwälzung der deutschen Wirtschaftsstruktur mit der Großmachtbildung Preußen-Deutschlands zusammenhing, wie notwendig die Industrialisierung zur Verankerung des neuen Reiches sei. Aber immer blieb ihm doch der Staat als eigentümlicher und selbstgesetzlicher Zweckzusammenhang in den göttlichen Weltplan ein­ gefügt, und gerade die staatliche Fürsorge für die Armen und Schwachen empfing von hier aus eine spezifisch-christliche Färbung. Es war daher subjektiv durchaus ehrlich, wenn Bismarck den Eingriff zugunsten der Schichten, die bei der angeblich harmonischen Entfaltung aller Interessen unter die Räder kamen, mit der Gesinnung des „praktischen Christentums" begründete, wenn er an das herkömmliche Pflichtgefühl der Hohenzollern gegenüber den niederen Klassen, an die Mission des „sozialen Königtums" appellierte. Aber man muß es mit scharfer Zu­ spitzung aussprechen: In der praktischen Zielsetzung ist Bismarcks Sozialpolitik weder vom religiösen noch vom fürsorgerischen Interesse bestimmt, sie gilt weder der Seele noch der Wohlfahrt des einzelnen oder einer Summe von einzelnen, sie ist vielmehr prinzipiell gedacht vom Staate und sie zielt auf das Wohl der staatlich geeinten Gemein­ schaft. So hat Bismarck der christlich-sozialen Bewegung protestan­ tischer und katholischer Farbe feindlich entgegengestanden. Allein schon die Konkurrenz der Kirchen mit dem Staate und die Vermischung des priesterlichen mit dem politischen Element zwang ihn dazu. Auch der eigentlich karitative Zug fehlte seiner amtlichen Sozialpolitik durchaus. Ich will dafür ein charakteristisches Zeugnis aus den Akten anführen. Im Jahre 1885 suchte der bekannte Philantrop v. Bodelschwingh durch einen Mittelsmann sich Sicherheit zu verschaffen, daß der Reichskanzler seine Ziele billige. Bismarcks vertrauter Mitarbeiter, Herr von Rotten­ burg, antwortete darauf mit dem Hinweis, daß „eine individuelle Kraft oder auch eine Verbindung mehrerer individueller Kräfte" die sich durchkreuzenden Ansprüche der verschiedenen Gesellschaftsklassen kaum schlichten könne, das vermöge nur eine darüberstehende Macht. „Der Glaube", so schrieb er, „an die Harmonie der Interessen... hat in der

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Geschichte Bankerott gemacht. Gewiß kann der Einzelne viel Gutes tun, aber die soziale Frage lösen kann nur der Staat." Diesem staatlichen Grundcharakter gemäß trug die Bismarcksche Sozialpolitik keine Ressortfarbe. Ihre Wege wurden nicht in erster Linie von spezialistisch-technischen Gesichtspunkten bestimmt, sie mußten vielmehr jeweils nach dem Ganzen der Politik sich richten. Natürlich heißt das keineswegs, daß damit die Sachkenntnis des Spezialisten, der Einfluß des fachlich geschulten Beamtentums, fruchtlos blieben. Es sind zahllose Anregungen, die von außen, von Experten der ver­ schiedensten Art stammten, durchaus wirkungsvoll gewesen, insbesondere hat die Preußische Bürokratie in der Vorbereitung der sozialen Gesetz­ gebung Leistungen vollbracht, die mit zu den bedeutendsten ihrer Ge­ schichte gehören. Auch Bismarck selbst bemühte sich um die Gewinnung sehr spezialistischer Kenntnisse, und er hat schließlich in eigener Person die Leitung eines Fachministeriums, des preußischen Handelsmini­ steriums, übernommen. Von hier wanderte die Initiative dann in das Reichsamt des Innern hinüber, indem dort eine Abteilung für wirtschaftliche Gesetzgebung errichtet wurde. Aber eben diese äußeren Vorgänge sind zugleich für den gesamtpolitischen Charakter der sozialen Initiative bezeichnend. Sie kam erst in Fluß, als das preußische Fach­ ressort dem leitenden Staatsmann selbst unterstellt wurde und um­ gekehrt: die innere Reichszentralbehörde hat erst durch Übernahme der Sozialpolitik den stärksten Anstoß zur Ausbildung einer eigenen Reichsbürokratie empfangen. Für Bismarcks Auffassung war diese Materie an den Kern der Gesamtpolitik angeschmiedet. Eben hiermit hängen wie die Leistung und die Stärke, so auch gewisse Schwächen des Werkes zusammen. Der Primat des politischen Willens ließ die soziale Gesetzgebung nicht Glied um Glied, nicht in organischem Aufbau sich entfalten. Es war nötig zu lavieren, die An­ griffspunkte zu wechseln, um dann unter stärkstem Druck, in sprung­ haftem Vorgehen durchzubrechen. So ist mancher pflegebedürftige Ansatz steckengeblieben, anderes in Überstürzung, in einem Arbeits­ tempo, das die Berwaltungsmaschinerie kaum ertrug, erzwungen wor­ den. Die Folge davon war, daß die drei Hauptstücke der sozialen Ver­ sicherungsgesetzgebung einigermaßen unverbunden nebeneinander stan­ den, und daß sie auch in den Einzelheiten keineswegs Bismarcks Wün­ schen voll entsprachen. Und weiter: Da diese staatliche Sozialpolitik primär politische Aktion war, so mußte sie im ganzen Verlauf von tak­ tischen Erwägungen durchzogen sein. Man kann das verfolgen von den

Taktisches und Grundsätzliches

Anfängen, von Bismarcks Bündnis mit Lassalle, dem eine bestimmte parlamentarische und außenpolitische Lage den Weg bereitete, — über das liberale Jahrzehnt, das mit Königgrätz einsetzte und das sozial­ politisch im wesentlichen fruchtlos blieb, — bis hin zu dem neuen An­ stieg seit 1877. Wieder war der Ausgangspunkt ein taktisch-parlamen­ tarischer, der Gegensatz Bismarcks gegen die unbequem gewordenen Nationalliberalen, die an den wirtschaftlichen und sozialen Problemen zersprengt werden konnten. Und dann bot sich eine weitere taktische Möglichkeit durch die beiden Attentate auf den alten Kaiser. Sofort nach dem ersten forderte Bismarck telegraphisch ein Sozialistengesetz. Die Vorlage scheiterte im Reichstag, es folgte das zweite Attentat. Als Bismarck die Nachricht davon auf einem Spaziergang in Friedrichsruh erhielt, stieß er tief aufatmend seinen Eichenstock in den Boden und sagte: „Jetzt lösen wir den Reichstag auf." Auch hier also, in diesem bewegenden Moment, standen tattische Überlegungen voran. Das Sozialistengesetz wurde Wahlparole, ein Kampfmittel gegen den Reichs­ tag und die Nationalliberalen, die dann in der Tat unter dem mit der Zollpolitik kombinierten Angriff zerbrachen. Und schließlich die Arbeiterversicherung, die das repressive Vorgehen begleitete, auch sie hatte durchaus einen tattisch-parlamentarischen Sinn. Während die alten Parteien in Fluß gerieten, sollten die Massen durch Wohltaten mit der Regierung verbunden und dem Einfluß der Agitation entzogen werden, es sollte eine Schicht kleiner Staatsrentner entstehen. Das waren Erwägungen, die, wie andere Züge der Bismarckschen Politik, durch das Beispiel Napoleons III. beeinflußt worden sind, und die das opportunistische Element in der sozialen Jnittative scharf belichten. Man hat daher wohl gemeint, das Vorgehen des Kanzlers in seinem letzten Jahrzehnt als einen bloßen Versuch des Stimmenfanges, der persönlichen Machtpolitik charatterisieren zu können. Wer freilich so urteilt, wer nur das Tattische sieht, geht an dem Entscheidenden notwendig vorbei. Zunächst hat schon — so paradox es klingen mag — das Taktische einen grundsätzlichen Sinn. Eben weil die sozialpolitischen Einzelmaßnahmen ständig in Relation zu anderen Einzelmaßnahmen gesetzt, weil sie ständig auf die politische Gesamtlage bezogen werden, spricht sich darin ein grundsätzlicher Standpunkt aus. Man kann ihn zur theoretischen Verdeutlichung etwa so formulieren: Es gibt kein absolutes Ziel der Sozialpolitik, kein Optimum, wie denn Bismarck gegen alle „Patentlösungen" immer sehr skeptisch gewesen ist. Der Maßstab des Erreichbaren ebenso wie des Wünschbaren lag für

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke ihn bei dem Sachverwalter der salus publica, dem Staate. Sein Weg kann durch kein Idealbild religiöser, sozialer oder irgendwie anderer Art vorgezeichnet werden, durch kein Gesetz, das von außen her an ihn herantritt. Der Staatsmann, der sich einem solchen Diktat beugen wollte, würde aus theoretischer Liebhaberei gegen Pflicht und Gewissen handeln. Das sind die Grundgedanken, die hinter Bismarcks sozial­ politischem „Relativismus" stehen. Für das, was an verpflichtender Kraft in ihnen lebt, wird man vielleicht heute auf besonderes Verständnis rechnen dürfen. Haben wir es doch erlebt, wie die Welle des Doktrinarismus sich zu überschlagen drohte und wie daher ehrliche, erprobte Vorkämpfer der Sozialpolitik warnend auf ihre Grenzen Hinweisen mußten, d. h. auf ihre gesamtpolitische Bedingtheit und Ab­ hängigkeit. So war der Relativismus an sich kein Schwächemoment der Bismarckschen Sozialpolitik. Gleichwohl wird niemand bestreiten, daß sie der Aussicht auf momentane Erfolge, der Hoffnung auf Wahl­ beeinflussung und ähnlichem manches leidige Zugeständnis gemacht hat. Aber ebensowenig läßt sich übersehen, wie hinter vielem, was zunächst nur als taktische Maßnahme erscheint, wie hinter allem überraschendem Wechsel doch grundsätzliche und im Kern gleichbleibende Anschauungen stehen, denen es an programmatischer Bedeutung nicht fehlt. So war es schon bei dem Bündnis Bismarcks mit Lassalle. Beide Männer einte der Widerspruch gegen den sozialen Fortschrittsglauben des Liberalis­ mus, sie einte die gemeinsame Auffassung des Staates, wie sie Lassalle von Hegel übernommen hatte und wie sie in Bismarck naiv lebendig war. Man findet in den Akten dieser Jahre der Zeugnisse dafür genug. So ließ Bismarck die Gewährung der Koalitionsfreiheit an die Arbeiter nicht nur begründen aus dem Gesichtspunkt der formalen Gleichheit, er erwartete daneben eine Wirkung erziehlicher Art und eine maßvolle Zurückschneidung der sich überstürzenden kapitalistischen Expansion. Der Staat also als Erzieher, als eine die Wirtschaft regulierende In­ stanz, das waren Gedanken aus der Welt des aufgeklärten Absolutismus, die von der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft einen neuen Auf­ trag erhielten. Ein Entwurf vom Juni 1863 betonte, die Regierung dürfe das Genossenschaftswesen nicht der Agitation der Parteien über­ lassen. Bismarck selbst hat bekanntlich an der Begründung von Pro­ duktivassoziationen sich versucht, und er hat angesichts der Not der schlesischen Weber im Mai 1865, also noch nach Lassalles Tode, über die Unparteilichkeit der Regierungsorgane und die soziale Aufgabe des

Der Staat als Erzieher Staates Worte niedergeschrieben, die stärksten programmatischen Klang haben. Diese ersten Ansätze wurden seit 1866 überschattet durch die pri­ mären Notwendigkeiten des Kampfes um die deutsche Einheit. Das ist ja ein Stück Schicksal des Bismarckschen Reiches gewesen, daß mit den neuen sozialen Problemen sich die nationale Daseinsfrage kreuzte, die bei den westeuropäischen Völkern bereits auf sehr viel früherer gesellschaftlicher Entwicklungsstufe zum Abschluß gelangt war. Diese Frage der äußeren Einheit hatte jetzt den Vorrang, und demgemäß stieg auch im Innern die liberale Welle; in raschem Zuge wurden die Reste kleinstaatlicher Enge durch die bürgerliche Rechts- und Wirt­ schaftsordnung überwölbt. Aber Bismarcks Grundauffassung von Staat und Gesellschaft ging darüber nicht verloren. Er hat sich niemals zu dem sozialpolitischen Optimismus und Quietismus bekehrt, wie ihn in klassischer Reinheit die Manchesterschule vertrat. Neben vielem anderen hinderte ihn eines daran: Er besaß von vornherein ein Gefühl dafür, daß der Boden des neuen Reiches zitterte. Schon während des deutsch-französischen Krieges hatten sich die ersten Symptome der Komplikationen gezeigt, die dem Nationalstaat bei großen Belastungs­ proben aus der modernen sozialen Schichtung einmal erwachsen konnten. Noch aus dem Felde ergingen mehrere Erlasse Bismarcks, die bei den europäischen Mächten ein gemeinsames Vorgehen gegen die kommunistische Internationale anregten. So ordnete sich das Reich in einen „konservativen" Zusammenhang, d. h. nach dem nächsten Wortsinn: es sollte mit seiner eigenen „Erhaltung" den Frieden und die soziale Ordnung erhalten, es sollte die Atomisierung Europas und die Atomi­ sierung der Gesellschaft verhindern. Mit diesem Abwehrprogramm war von Anfang an das positive Programm verbunden: der Eingriff zugunsten der Arbeiterklasse. Auch das nach Möglichkeit auf inter­ nationaler Grundlage. So haben 1872 zwischen Osterreich-Ungarn und

Deutschland Konferenzen stattgefunden über die obligatorische Fabrik­ inspektion, über Einigungsämter und Schiedsgerichte, über Jnvalidenund Alterskassen. Von der Begründung des Reiches an waren die beiden Linien der späteren Aktion eng miteinander verbunden. Frei­ lich Erfolg hatte weder die eine noch die andere. Wie die äußere Sicherstellung des Reiches in der Bündnispolitik noch keine festeren Formen annahm, so entzogen sich die europäischen Mächte dem Appell zu gemeinsamem sozialem Handeln. Auch im engeren deutschen Rahmen geschahen nur einzelne Ansätze. Es kam darüber zu wiederholten Zu-

Ostraum, Preußentum und Reiohsgedanke sammenstößen des Kanzlers mit der liberalen Bürokratie und ins­ besondere mit dem preußischen Handelsminister von Jtzenplitz. Dieser erhob gegen Bismarck den später geläufig gewordenen Vorwurf, Ein­ griffe des Staates in die Lohn- und Preisregulierung seien gleich­ bedeutend mit einem Sieg des sozialistischen Prinzips. Jtzenplitz mußte sich darauf belehren lassen, der Sozialismus negiere ja gerade den bestehenden Staat, daher erscheine die sozialpolitische Aktion der herr­ schenden Staatsgewalt als das einzige Mittel, „der sozialistischen Be­ wegung ... Halt zu gebieten und dieselbe insbesondere dadurch in heil­ same Wege zu leiten, daß man realisiert, was in den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und im Rahmen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann..." Im Gedanklichen und Programmatischen also blieb der Impuls durchaus lebendig. Er ist nicht erst durch die Anlässe vom Ende der siebziger Jahre geweckt worden. Und auch diese Anlässe selbst sind weit mehr als bloße Taktik gewesen, sie waren Symptome einer durch­ gehenden Staats- und Gesellschaftskrise. Der Liberalismus hatte auf allen Gebieten Rückschläge erfahren, die Doktrin der wirtschaftlichen Freiheit war durch den großen Krach diskreditiert, der auf die Gründer­ jahre folgte, der Liberalismus als geistige Macht durch den „Kultur­ kampf", die soziale Unruhe zeigte sich in Arbeitskämpfen und einer zügellosen Agitation an, gegen beides gewährte der liberale „Rechts­ staat im wesentlichen nur polizeiliche Auskunftsmittel; die politischen Ansprüche des Bürgertums schließlich, sie mußten mit der Waffe des Budgetsrechtes kämpfen, sie sperrten damit dem Reich die Quellen eigener Finanzkraft ab, sie rührten durch die Forderung parlamentari­ schen Mitregiments an die bundesstaatliche Struktur des Reiches und die eigentümlichen Klammern seines Zusammenhaltes. Dennoch hat Bismarck sich schwer von den bisherigen Helfern getrennt. Erst die Umbildung der äußeren Lage gab die Möglichkeit dazu: die Aussicht auf Beendung des Kulturkampfes, die Beseitigung der außenpolitischen Gefahr von feiten der katholischen Mächte. Die Perspektive des „konser­ vativen" Bündnissystems stieg herauf. Damit wurde der Wille zum Ausbau der inneren Staatsbildung frei. Und so begann die Politik der sozialen Intervention. Ich brauche die Einzelpunkte nur zu streifen: Statt der freien Verkehrswirtschaft das Ziel möglichst weitgehender nationaler Autarkie, Schutz der heimischen Produktion, deren Ausbau allein der wachsenden Menschenmasse Nahrung geben konnte, als Mittel dazu die Zölle, die zugleich das Reich finanziell zu gründen und die

Absage an den Liberalismus Machtansprüche des Parlaments zu beschneiden versprachen. Das Tak­ tische und das Grundsätzliche hängt hier aufs engste zusammen. Wenn die Zollpolitik die Nationalliberalen am schwersten traf, so galt der Angriff gegen die stärkste Partei dem parlamentarischen Prinzip und den Parteien überhaupt. Die „Interessenten" wurden aufgerufen gegen die Berufspolitiker, um mit Bismarck zu sprechen, gegen die „Drohnen der Parlamentsbürokratie". Als ein Besucher in Friedrichsruh einmal auf die Bemerkung des „Rembrandt-Deutschen" hinwies, daß jeder Baum, auch der am Abhang stehende, senkrecht zum Erd­ mittelpunkt Hinwachse, da griff der Kanzler dies Bild, das seinem eigensten Empfinden entsprach, bereitwillig auf. „Nur die Fraktions­ politiker", fügte er hinzu, „stehen immer senkrecht zu ihrem Programm­ boden." Dieses Mittelpunktsgefühl, dieses Denken aus dem Zentrum heraus ist für Bismarcks Sozialpolitik entscheidend. Der Staat und die Gesellschaft sollten nicht partikularen Gewalten preisgegeben sein, den Parteien dort, den Aktiengesellschaften hier, sie sollten in ein intensives Wechselverhältnis treten: die Gesellschaft vom Staate ge­ formt und der Rahmen des Staates ausgefüllt durch einen wohlgeglie­ derten sozialen Körper. Das sind die Grundgedanken des sogenannten „Staatssozialismus". Von diesem Prinzip staatlich-gesellschaftlicher Solidarität ging der Kampf gegen die Sozialdemokratie aus. Die Attentate bildeten nur den äußeren Anlaß, und sie waren, was die unmittelbare Teilnahme sozialistischer Agitatoren betrifft, keineswegs ein überzeugender Rechtstitel des Ausnahmegesetzes. Das, was ge­ troffen werden sollte, war vielmehr die mittelbare Schuld, die Nega­ tion, die Verächtlichmachung des Staates und seiner Ordnung. Wäh­ rend zu Beginn der siebziger Jahre der Gedanke eines Ausnahme­ gesetzes verworfen worden war, wurde das gerade jetzt das Entschei­ dende. Wer sich der Rechtsgemeinschaft entziehe, wer die Autorität des Staates ablehne, habe kein Schutzrecht, so argumentierte Bismarck. Er sah die Lage mit der gleichen harten Energie, die in der Geschichts­ auffassung von Karl Marx lebte, beide Männer sind einander zugeord­ nete geschichtliche Erscheinungen. Wie der sozialistische Theoretiker hinter der demokratischen Form den Machtcharakter der sozialen Be­ wegung aufwies, so wollte auch der Kanzler, wie er einmal schrieb, keine „schüchterne Verdeckung der Tatsachen". Nicht um Recht, sondern um Kampf handelte es sich für ihn. „Parlamentarische Fraktionen", so hieß es in einem Votum von 1888, „mögen sich weichlichen Unklar-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke heilen darüber hingeben, Regierungen sollten es nicht." Bismarck plante daher, das Sozialistengesetz eher noch zu verschärfen. Er wollte die volle Konsequenz: „Wer nicht will deichen, der muß weichen." Nicht zufällig tauchen hier Gedanken aus dem altdeutschen Genossen­ schaftsrecht auf, aus dem gleichen Bereich, dem auch das Lieblingswort der Sozialdemokratie entstammte: es hieß ja nicht wie in der franzö­ sischen Revolution „Bürger", sondern „Genosse". Gemeinschaft des Ganzen und Gemeinschaft eines Teiles standen gegeneinander. Und so hat Bismarck über die Ausweisung der Agitatoren aus einzelnen Großstädten hinaus ihre Verbannung gewünscht, er hat daran gedacht, das altdeutsche Prinzip der „Reichsacht" zu erneuern. Hier wird der unbedingte Kampfwille deutlich, der im Kern der Bismarckschen Sozialpolitik lebt. Ohne Zweifel hat er eine schwere Belastung der deutschen Zukunft im Gefolge gehabt: Es wird niemand bestreiten wollen, daß die erbitternde Praxis des Ausnahmegesetzes tiefe Wunden im Volkskörper hinterließ, und wie sie zeitgeschichtlich mit einem Mißerfolg endete, so auch in allen Auseinandersetzungen der nächsten Jahrzehnte verschärfend mitschwang. Aber man wird dieser schicksalsvollen Frage nicht mit der Unterstellung irgendwelcher noch so erwünschter Harmonien beikommen dürfen, man wird daran erinnern müssen, daß in der englischen wie vor allem in der franzö­ sischen Geschichte die Erringung der nationalen Einheit als eines selbst­ verständlichen Besitzes gleichfalls und sehr viel radikaler an die Aus­ merzung grundsätzlich unverträglicher Elemente geknüpft worden ist. Es wäre daher sehr voreilig, hier nur die Schatten zu sehen, die über der Bismarckschen Sozialpolitik liegen. Der Kampf des Kanzlers gegen den Agitator entspricht seinem letzten Endes religiös begründeten Wider­ stand gegen die Anarchie menschlicher Willkür überhaupt, gegen den Versucher, der sein subjektives Meinen über die objektiven Ordnungen stellt und das Paradies auf Erden verheißt. Und wie Bismarck, jeder optimistischen Weltdeutung fern, im Kampf von jeher den Vater der Dinge sah, so schließt die Politik des Sozialistengesetzes im Grunde eine tiefere Achtung der sozialen Probleme ein, als wenn ihr Gewicht und ihre Gefahren durch liberales Billigkeitsempfinden verhüllt worden wären. Der intolerante Zug entband die stärksten Antriebe aufbauender Leistung. So hängt mit dieser Kampfpolitik Art und Ziel des positiven Vorgehens untrennbar zusammen. Es hat, wie bekannt, vor allem in den drei großen Arbeiterversicherungsgesetzen Gestalt gewonnen. Auch

Preußische und altdeutsche Züge diese Seite der Aktion geschah mit heftig vorstoßendem Willen und von Staats wegen. Daß der Staat sich an den Lasten der Versicherung finanziell beteiligte, war für Bismarck eine conditio sine qua non. Der Staat sollte in das soziale Grundverhältnis von Angebot und Nach­ frage eindringen und dem schwächeren Teil das Gefühl des Preis­ gegebenseins nehmen. Wie der Staat den politischen Willen seiner grundsätzlichen Gegner bekämpfte, so nahm er den sozialen Gehalt dieses Willens nach einer wesentlichen Richtung in sich auf. Daß dabei der Versicherungsgedanke voranstand, hatte mancherlei Gründe. Ich hebe den wichtigsten heraus, der von den Einzelheiten zum Ganzen führt. Man wußte bisher schon, daß mit diesem Gesetzgebungswerk gewisse Versuche Bismarcks parallel gingen, dem Parlament des all­ gemeinen Stimmrechts berufsständische Vertretungen an die Seite zu stellen. Bismarck selbst hat im Rückblick beides miteinander verknüpft. Aber daß wirklich und fast von Anfang an der Wille auf diese Ver­ bindung ging und damit auf die Ausprägung eines neuen staatlichen Typus, das belegen erst greifbar die Äußerungen, die Bismarck 1883 zu einem Mitarbeiter tat: Die Unfallversicherung an sich sei ihm Neben­ sache, die Hauptsache sei ihm, bei dieser Gelegenheit zu korporativen Genossenschaften zu gelangen, welche nach und nach für alle produk­ tiven Volksklassen durchgeführt werden müßten. Ich habe hier nicht von den komplizierten Begleitumständen dieses Planes zu sprechen, im Prinzip ging er auf eine Durchdringung von sozialem Gehalt und staatlicher Form, auf einen energischen Versuch, das Deutsche Reich in eigener Weise innerlich zu „gründen". Erst von da aus bekommt die Politik der achtziger Jahre ihre volle Perspektive, und insbesondere ordnet sich die Versicherungsgesetzgebung als spezifisches Mittel in weite Zusammenhänge ein. Andere und geläufigere Materien der Sozialpolitik standen dahinter zurück. Vor allem gilt das von der vielbeklagten Lücke auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes, also der Fabrikgesetzgebung und der Fabrik­ inspektion. Das sind die Formen des staatlichen Eingriffs, die nament­ lich in England zu vorbildlichem Ausbau gelangt waren. Bismarck selbst hat noch 1868 auf dieses Beispiel hingewiesen und die Gewerbe­ aufsicht weiter zu bilden empfohlen. Wenn er in den siebziger Jahren zurücklenkte, wenn er den Arbeiterschutz ablehnte, im Widerspruch zu starken Strömungen im Beamtentum und der öffentlichen Meinung, im Widerspruch zur sozialpolitischen Theorie und zum Wunsch der Reichstagsmehrheit, im Widerspruch schließlich zu dem Willen des

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke jungen Kaisers, so liegt darin eines der auffallendsten Phänomene seiner Sozialpolitik. Man kann zur Erklärung mancherlei anführen. In England war die Fabrikinspektion ein Beamtenkörper innerhalb des reich entfalteten Netzes der Selbstverwaltung, in Deutschland bedeutete sie eine Verstärkung der Tendenz zur Bürokratisierung des Lebens. Auch Bismarcks Versicherungsgesetzgebung ist von solchen Wirkungen nicht frei geblieben, das geschah indessen sehr wider seinen eigenen Willen. Er war als Mann von Ar und Halm ein Gegner des Regierens aus der Schreibstube und vom grünen Tische aus. Die in Preußen und Deutschland an sich schon weit gediehene Verbeamtung des Da­ seins werde, so glaubte er, durch die Fabrikinspektion verhängnisvoll gesteigert, und zugleich fürchtete er für die Integrität der Bürokratie, wenn sie die Vollmacht erhalte, unmittelbar in die Fabriken hinein­ zuregieren. Aus diesen Erwägungen legte Bismarck 1877 Protest ein. Aber wie die Jahreszahl schon andeutet: es ist der Zeitpunkt der all­ gemeinen inneren Wende, und auch hier hängt das Einzelne mit dem Ganzen zusammen. Der Arbeiterschutz ist ein sozialpolitisches Mittel wesentlich aus dem Jdeenkreis des Liberalismus, er denkt an die ein­ zelnen Kategorien der Arbeiter: Jugendliche, Frauen und Erwachsene, sowie an die einzelnen Kategorien von Fabriken, er ist gerichtet auf die Verkürzung der Arbeitszeit, auf menschenwürdigere Formen des Lebens, auf eine Erhöhung seines „Standard". Das waren Gedanken, die Bismarck ferner lagen, er sah darin die Gefahr der „Schraube ohne Ende", sein Wille ging eher auf Steigerung der Leistung, auf eine Anspannung, die größer sein mußte als die der reichen Nationen des Westens, wenn Deutschland endgültig in ihren Kreis eintreten wollte. So klingt auch in der Abneigung gegen den Arbeiterschutz die sorgen­ volle Stimmung an, mit der Bismarck auf den Reichsbau blickte. Man kann das hervorheben und wird doch sagen müssen, daß dem Kanzler hier die Kenntnis des konkreten Lebens, die immer der stärkste Hebel seiner Praxis war, fehlte, daß er von der auszehrenden Wirkung der modernen Industrie keine zureichende Vorstellung besaß. So versteifte sich an dieser Stelle sein Standpunkt fast zu manchesterlicher Befangen­ heit. Vielleicht wäre diese Schranke zu überwinden gewesen, wenn der berufsständische Aufbau zu einer Art Selbstverwaltung der Industrie führte. Dann schwand das Bedenken der Uferlosigkeit und des Büro­ kratismus, dann konnte der Arbeiterschutz durchaus von Bismarckschen Gedankengängen und vom Ganzen her gefordert werden. Gingen doch

Umbaupläne für das Reich die Anfänge der preußischen Fabrikgesetzgebung in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts bezeichnenderweise auf militärische Gut­ achten zurück, also auf das Interesse der Landesverteidigung an der Erhaltung der Volkskraft. Auch das Bedenken vor einer zu starken Fesselung Deutschlands konnte behoben werden, wenn es zu inter­ nationalen Verabredungen kam. Es findet sich ein Aktenstück aus dem Jahr 1885 über den Normalarbeitstag, das diese Absicht andeutet. Als Beleg wird dabei, was ein Unikum innerhalb des deutschen behörd­ lichen Verkehrs sein dürfte, auf die entsprechenden Stellen in der dritten Auflage des „Kapitals" von Karl Marx hingewiesen. Der Kon­ zipient dieses Schriftstückes, v. Rottenburg, hat rückblickend betont, es sei keineswegs unmöglich gewesen, Bismarck für den Arbeiterschutz zu gewinnen. Die Art freilich, wie dieses Ziel dann vom jungen Kaiser ausgegriffen wurde, mußte Bismarck erst recht in den Widerstand hineintreiben. So sind es nicht zufällig Arbeiterschutz und Sozialistenpolitik ge­ wesen, über die der Konflikt von 1890 entbrannte. Es handelt sich dabei um weit mehr als um persönlichen Machtkampf oder um sozialpolitische Einzelheiten. Es standen dahinter Gegensätze, die durch die ganze Breite des staatlichen und letzten Endes auch des geistigen Lebens sich hindurchzogen. Ich kann das Problem, das damit angerührt wird, hier nicht mehr von allen Seiten umschreiben; ich hebe nur hervor, wie Bismarck es sah. Für ihn handelte es sich um den Einbruch von Stimmungen und Sentiments in den Bereich verantwortungsbewußten Handelns, um das Erweichen des staatlichen Willens, um eine Ab­ hängigkeit vom Bedürfnis der Popularität, um die Wahl des Ange­ nehmen statt des Notwendigen, oder wie es in den „Gedanken und Erinnerungen" immer wieder heißt, um ein „Rechnung tragen", d. h. um das Ausbiegen in die Zickzacklinie des geringsten Widerstandes. Der Kämpfer, der diese Anklage erhob, würde nicht zugegeben haben, daß von seiner eigenen Politik manche Verbindungslinien zu dieser neuen Haltung hinüberführten, daß er selbst Lücken gelassen und Schwierigkeiten geschaffen hatte, die den Gegenstoß ermutigten. Er fühlte sich noch keineswegs am Ende, es gingen neue politische Kampf­ pläne in ihm um, der Gedanke geradezu einer Neugründung des Reiches. Auch die sozialpolitische Intervention stand noch vor weit­ gesteckten Zielen, wie denn die Verstaatlichung der Kohlengruben erwogen wurde. Das alles ist uns hier nur von symptomatischer Bedeutung, es blieb in der Seele des Staatsmannes verschlossen, es

Ostraum, Preußentum und Reiohsgedanke hat den Bruch nicht bewirkt, und ob es ohne den Bruch Aussicht auf Erfolg haben konnte, das entzieht sich dem geschichtlichen Urteil. Als Bmchstück also steht Bismarcks Sozialpolitik vor uns, mit Spannungen belastet, unharmonisch und unvollendet. Aber von diesem Bruchstück geht eine eigentümlich erregende Wirkung aus. Wenn der Torso einer antiken Statue im Teil die Anmut oder Strenge des Ganzen ahnen läßt, so ist der Torso der Bismarckschen Sozialpolitik von Kampf und Leidenschaft umwittert. Aber ein Stück Künstlertum ist auch in ihm verwirklicht, eine Bändigung des Subjektiven zum Objektiven, eine Kraft der Überzeugung und der Hingabe, die allein aus dem großen Könner den wirklichen Staatsmann macht. Und so treten mit Recht die Einzelzüge und die technischen Ergebnisse in der Betrach­ tung der Bismarckschen Sozialpolitik zurück, ihr verpflichtender Cha­ rakter liegt in der Energie, mit der um große Probleme gerungen worden ist und in der Auffassung des Mittels, das an ihre Lösung gesetzt wurde. Dieses Mittel war der Staat als gestaltende Kraft, als Organisator der sich kreuzenden gesellschaftlichen Elemente, als Bürge der Kontinuität, die in allem äußeren Wechsel die Generationen mit­ einander verbindet. Als es bei der Unfallversicherung sich darum han­ delte, den gegenwärtig Beteiligten Lasten aufzuerlegen zugunsten künftiger Genossen, da hat Bismarck die Bedenken, die der kurzfristige geschichtlose Individualismus erheben mochte, mit einem Worte ab­ gewehrt, das in den Mittelpunkt seiner Anschauungswelt trifft und auch für uns den Abgrund der Zeiten überwölbt. „Der Staat und seine Einrichtungen", so sagte er, „sind nur möglich, wenn sie als per­ manent identische Persönlichkeiten gedacht werden."

5. Bismarck und die Nationalitätenfragen des Ostens Ein Beitrag zur geschichtlichen Auffassung des Reichs (Vortrag auf dem deutschen Historikertag 1932) Auf dem internationalen Historikerkongreß in Oslo hat der Fran­ zose Louis Eisenmann Thesen zur Idee der Nationalität ausgestellt, die zwar nicht der Ansatzpunkt für die nachfolgenden Erörterungen gewesen sind, von denen auszugehen aber gerade im Rahmen des dies­ jährigen deutschen Historikertages empfehlenswert sein dürfte. Denn es handelt sich bei jenen Aufstellungen fraglos um eines der Leit­ motive, das die nächste internationale Zusammenkunft der Historiker, die in Warschau, beherrschen wird; es handelt sich, kurz gesagt, um die Verherrlichung der Idee des Nationalstaats in ihrer Wanderung von den großen Völkern Mitteleuropas zu ihren kleineren östlichen Nach­ barn. Das sei ein Übergang gewesen, so meint der französische Histo­ riker, der den Nationalstaat geistiger gemacht, der das politische Mo­ ment zugunsten des kulturellen zurückgedrängt habe, ein Übergang von der Macht der Zahl, die sich in der Einigung Deutschlands und Italiens offenbarte, zu einer Rechtfertigung der Eigenstaatlichkeit im Dienst an der Menschheit. Wenn nach einem bekannten Leitwort die deutsche Entwicklung vom „Weltbürgertum zum Nationalstaat" verläuft, so soll demnach im Osten die Linie sich gewissermaßen umgekehrt haben. „Die kleine Nation kann ihren Unabhängigkeitsanspruch nur auf die Dienste stützen, die sie der Humanität geleistet hat und leisten wird." Ihr Recht ruht nicht mehr in sich selbst, sondern im Urteil der andern. Die großen Staaten legitimieren sich durch ihre eigene Kraft, die kleinen, die aus einem universalen Krieg hervorgegangen sind, be-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke dürfen des Beifalls einer universalen Instanz, sie verkörpern ins» besondere vermöge des „Minderheitenschutzes" einen neuen Sieg der Gewissensfreiheit, die Synthese von Nationalität und Jnternationalität. Es wird nicht nötig sein, über den ideologischen Unterbau dieser Konstruktion viel Worte zu machen, er ist schon 1918 von Masaryk in seinem „Neuen Europa" systematisch entwickelt worden, er ist rein­ ster Import von 1789. Aber die großen Ideen der französischen Be­ wegung haben ihren unverwechselbaren Standort. Sie sind historisch der Willensausdmck einer souverän gewordenen, einer zentralistisch zusammengefaßten, einer überwiegend bürgerlichen Nation, sie waren die Waffe ihres Hegemonischen Anspruchs, einer spezifisch französischen Missionsidee. Und französisch-hegemonisch war ja auch die Errichtung der „Trabantenstaaten" im Osten dem Ursprung nach gedacht, die alte Barrierenpolitik des französischen Königtums erlebte ihre Auf­ erstehung in der zeitgemäßeren Form des Selbstbestimmungsrechts. Indessen: die Realität der östlichen Randzone läßt sich von dem Staats­ und Nationalgedanken, die hier aufgerufen wurde, nicht überdecken. Sie hat — dem Grad nach verschieden, im Prinzip durchgehend — zur Entstehung völkisch gemischter Gemeinwesen geführt, und auch eine technisch bessere Grenzführung würde daran nichts Grundsätzliches ändern. Die sachlichen Gegebenheiten selbst widersprechen der Prokla­ mierung der „Nation une et indivisible“ in allen ihren Elementen, in den geographischen und wirtschaftlichen, den ethnischen und sozialen Voraussetzungen aufs entschiedenste. So wird nunmehr mit einer gewissen Umbiegung des Grundgedankens die messianische Sendung der östlichen Demokratien in der Auflockerung des autonomen National­ staats gesucht, in seiner Spiritualisierung, in seinem Übergang aus der Sphäre der Macht in die Sphäre der Kultur. Aber auch durch diese Konstruktion bricht die geschichtliche Wirk­ lichkeit unaufhaltsam durch. Das demokratische Prinzip hat ganz gewiß dem Osten keine Vergeistigung der nationalen Kämpfe zu bringen ver­ mocht. Die Zerschlagung der alten Staaten hat vielmehr die bisherigen Reibungen verschärft und vervielfacht. Es sind durchweg Nationali­ tätenstaaten entstanden, aber behaftet mit der nationalstaatlichen Men­ talität. So geht seit 1919 hinter dem offiziellen Staatsfrieden ein bitteres Ringen der Völker einher, ein Verdrängungs- und Vernich­ tungskrieg, vor allem — aber keineswegs allein — zu Lasten der 7,2 Millionen Deutschen, die in die Randzone Mitteleuropas einge­ sprengt sind. Im ganzen gehören von den 90 Millionen, die zwischen

Der Nationalstaat und der Osten deutscher und russischer Grenze leben, 30 Millionen nicht zum „Staats­ volk. An ihnen hat sich das parlamentarische Mehrheitsprinzip durch­ aus als Hebelkraft des Chauvinismus erwiesen, und man kann sagen, daß ein wesensmäßiger Widerspruch besteht zwischen dem Prinzip der bürgerlichen Demokratie und dem der nationalen Duldung oder gar der Kooperation. Die „Minderheitenschutzverträge" der Versailler Ord­ nung sind daher in aller Regel widerwillig übernommene Hypotheken, und schon das Wort „Minorität" zeigt deutlich den Ursprung aus west­ lichem Denken an, es stammt aus einer rein zahlenmäßigen Auffassung und enthält ein unverkennbares Werturteil. Dieses Urteil zu vollstrecken, d. h. die lästigen Abweichungen vom „Normaltypus" zu be­ seitigen, haben sich denn auch die meisten der jungen Staaten mit allen Mitteln bemüht. Und es ist eine sehr ernste Frage, ob sie damit nicht selbst in eine Art Nessushemd gezwängt worden sind. Dem nachzu­ gehen ist hier jedoch nicht der Ort. Wohl aber fällt von da aus ein besonders scharfes Licht auf die Tragweite, man darf wohl sagen, auf die Verantwortlichkeit der deut­ schen Geschichts- und Staatsanschauungen, die sich an den Ereignissen von 1866 und 1870 gebildet haben. Die Tatsache und die Problematik der Bismarckschen Reichsgründung, die Entstehung eines Nationalstaates von spezifischem Gepräge in der europäischen Mitte, das war in der Tat in jener Bewegung von Westen nach Osten eine entscheidungs­ schwere Etappe, ein Ereignis, von dessen Vollzug wie von dessen gei­ stiger Bewältigung geschichtsbildende und wirklichkeitsformende Kräfte erster Ordnung ausstrahlen mußten. Vor Herder und die Romantik, deren Einfluß auf den Osten Hermann Oncken in Oslo nachgegangen ist, trat die Wirklichkeit eines großen deutschen Staates, der zwar Millionen von Volksgenossen außerhalb der Grenzen ließ und keinen Versuch machte, sie hereinzuziehen, der aber als Nationalstaat wenn­ gleich unvollkommener Art weithin vorgestellt wurde. Wir übersehen heute einigermaßen, welches die Wirkungen dieses Vorganges und des von ihm abgezogenen Bildes gewesen sind, wie die Einigung des engeren Deutschland, um nur das in unserem Zusammenhang Nächst­ liegende zu nennen, dem Deutschtum draußen auf den Nacken gefallen ist. Denn überall regte die Nationalisierung Mitteleuropas, wenn­ gleich in verschiedenem Grade und auf verschiedenen Wegen, die öst­ lichen Nationalismen an. Und auch die Nationalitätenprobleme der deutschen Grenzmarken traten durch die Gründung des Reiches in ein neues akuteres Stadium. Mit alledem hat Bismarck bewußt oder 5*

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke unbewußt gerungen. Und es gehört zu den stärksten, jedenfalls zu den heute ergreifendsten Gehalten und Ideen seiner Politik, wie er dabei den Lebenszusammenhang zwischen Mittel- und Osteuropa auf seine Weise in „Form" zu bringen versucht hat: Durch verantwortliches Handeln wie durch Absage an unverantwortliche Experimente, durch nothaften Eingriff wie durch äußerste Enthaltung, durch Mittel und durch Ziele, die allerdings abweichen von der Gedankenwelt der west­ lichen Nationen und die doch mehr und anderes bedeuten als bloß opportunistische oder, wie man zu sagen liebt, „realpolitische" An­ passungen an eine Lage, die das „Vollkommene" eben nicht zuließ, die nicht erlaubte, das Ideal des bürgerlich-demokratischen Einheitsstaates oder das Ideal der Deckung von Staat und Volk in den Formen der Nation zu verwirklichen. Weder die Leitgedanken der Reichsverfassung noch der Kampf um die Ordnung der Gesellschaft, weder die klein­ deutsche Lösung noch die Ansiedlungspolitik stammen aus der Welt des Nationalliberalismus, so sehr sie teil- und zeitweise mit ihr ver­ bündet sind. Anders ausgedrückt: Es gibt eine autonome Ostseite des Reiches, dessen Schöpfer Anleihen bei dem Ideengut seiner Zeit nie verschmäht, aber auch sein Ostelbiertum nie verleugnet hat. Bismarcks Handeln und Denken enthält in merkwürdiger Verbindung überlieferte und zukunftsträchtige Tendenzen des deutsch-kolonialen Raumes. So gewiß der Liberalismus und die Nationalpolitik westlichen Stils not­ wendige Etappen der Reichsgründung waren, so gewiß stehen daneben wesentliche Züge, die altertümlich wirken und doch keine bloßen Rück­ stände sind, „Unvollkommenheiten" im Sinne des 19. Jahrhunderts, aber Ahnungen „kommender Dinge", fruchtbare Ansätze, ja Vorbild­ lichkeiten, wenn man sie nicht am Westen mißt, sondern in den Osten hineindenkt. Und hier erhebt sich allerdings für unsere Wissenschaft die an sie selbst gerichtete Frage, ob sie dieser Zweiseitigkeit, die als Gesetz über allen großen deutschen Entscheidungen liegt, gerecht ge­ worden ist, ob sie in ihrem geistigen Bereich das Bild geborgen und bewahrt hat, das in der Wirklichkeit seit 1890 durch die weltpolitische Konjunktur und durch die Erfolgsanbetung der Epigonen zunehmend überdeckt worden ist. Oder ob sie, je mehr die liberale Zeitstimmung und das bürgerliche Sekuritätsbewußtsein wuchsen, je mehr der soziale und wirtschaftliche Schwerpunkt des Reiches nach Westen wanderte, ob sie sich nicht auch ihrerseits gewöhnt hat, das Reich zu ausschließ­ lich von Westen zu sehen. Es mag einstweilen genügen, diese Frage zu stellen, sie wird zum

Die Ostseite des Bismarck-Reichs Schluß erst wieder ausdrücklich aufzunehmen sein. Zuvor aber gilt es, den konkreten Gegenstand ins Auge zu fassen, an dem die geschichtliche Auffassung des Reichs einer besonderen Überprüfung zu unterziehen

ist: die Stellung Bismarcks zu den Nationalitätenfragen des Ostens. Der außenpolitische Hintergrund dieses Problems wird nur einer kurzen Skizzierung bedürfen. Wie Bismarcks Bündnispolitik ihre Spitze gegen Westen richtete, wie sie Frankreich der möglichen An­ lehnung berauben und damit die Kriegsgefahr von Europa ableiten wollte, so war der Osten, so war die Beziehung insbesondere zu Ruß­ land Ausgangspunkt und Rückhalt, Regulierungsort und Barometer der erstrebten „Gesamtsituation". Nur die deutsch-russische Solidarität von 1863 hatte die Reichsgründung ermöglicht, nur der Zutritt Ruß­ lands zur Revanchepartei konnte die Entscheidungen von 1866 und 1871 rückgängig zu machen ermutigen. Über den russischen Draht am ehesten waren die zerstörerischen Kräfte abzuleiten, Rußland in erster Linie hatte Krieg oder Frieden in seiner Hand. Die Gefahr der Abhängig­ keit Deutschlands von seinem östlichen Nachbarn, die darin lag, wurde überwunden durch den mitteleuropäischen Bündnisblock. Aber das gleiche galt auch umgekehrt: Bismarcks Dreibund und Bismarcks Rußlandpolitik bedingten einander. Wie der Abschluß mit Andrüssy von 1879 keine „Option" gegen Rußland war, sondern die gewollte Wirkung hatte, das Zarenreich an Mitteleuropa heranzuziehen, so bewahrten Dreikaiserverhältnis und Rückversicherung Deutschland vor dem „Leitseil, aus bulgarischem oder anderem Hanf gesponnen". Das „Verbrennen der Schiffe in russischer Richtung" war für Bismarck Preisgabe der deutschen Autonomie, war Botmäßigkeit an OsterreichUngarn und an den Westen zugleich. Denn hier rundet sich und voll­ endet sich schließlich der dynamische Zusammenhang, in den alle Einzel­ züge dieser Politik verwoben sind. Wie die Beziehung zu Rußland Frankreich isolierte, so zog sie England auf die Seite der Mittelmächte herüber; in dem Maße, wie das deutsch-russische Verhältnis Bestand hatte, mußte die Jnselmacht um ihrer eigenen Interessen willen ein Stück „europäischer Verantwortlichkeit" übernehmen. Das sind, aufs knappste zusammengedrängt, die Grundzüge dieser außenpolitischen Kombination, sie hatte gewiß und grade im Verhältnis zu Rußland ihre inneren Schwierigkeiten, und sie beanspruchte nichts Endgültiges zu sein. Aber ebenso falsch wäre es, hier nur taktische Aus­ hilfen, nur das technische Virtuosentum oder gar die schwunglose Hal­ tung einer reaktionären Spätzeit zu sehen. Schon in den sechziger

Oatraum, Preußentum und Reiohagedanke Jahren, schon in der Phase, da es das Reich erst zu gründen galt, tauchten bereits die Grundzüge des gleichen Systems mit aller Deutlich« feit auf. Es beruhte nicht auf diplomatischen Tricks, sondern auf der Grundanschauung an sich vorhandener Tendenzen, die es nur produktiv zu gestalten galt. Diese Tendenzen wiesen im Osten auf primär-staat­ liche, nicht auf rein völkische Grenzen, sie wiesen auf eine deutsch­ russische Gemeinsamkeit, sie wiesen auf die Solidarität der großen Monarchien, die für Bismarck mehr war als ein klug benutztes Leit­ wort der Bündnispolitik und doch nicht der Selbsttäuschung eines monarchischen Internationalismus verfiel. Denn in alledem handelte es sich um einen europäischen Ordnungsgedanken, um das Ethos der Macht, die sich selber Grenzen setzt, die nichts Missionarisches und Agi­ tatorisches hat, sondern aus eigenem deutschen Interesse zugleich zum Garanten der Staatengesellschaft wird, es handelte sich um ein konser­ vatives Prinzip der Objektivität und der Autorität, gerichtet gegen sub­ jektive Willkür und liberale Kreuzzugsideen, gegen die sprengenden Kräfte, letzten Endes gegen den Westen auch hier, gegen die Verbindüng von Demokratie und Nationalismus. Man wird berechtigt sein, zu sagen, daß diese Grundanschauungen der Abwehr wie der Ordnung in den Tatsachen der Aufspaltung, die in der Ostzone Mitteleuropas geschehen ist, und der gleichzeitigen Niederlage, die Deutschland und Rußland getroffen hat, eine erschütternde geschichtliche Bestätigung gefunden haben. Vor diesem Hintergrund also steht Bismarcks Distanzierung vom nationalstaatlichen Prinzip, steht insbesondere seine östliche Natio­ nalitätenpolitik. Es sei aus ihrem Bereich zunächst dasjenige Pro­ blem herausgegriffen, das am engsten mit der russischen Bündnisfrage verwoben ist, das Verhältnis des Bismarckschen Reiches zum baltischen Deutschtum. Die Hauptlinie ist bekannt, es ist die strengster Ent­ haltung. In zahlreichen Aussprüchen, in unverbindlichem Gespräch, aber auch in amtlichen Zeugnissen hat Bismarck die Absage, ja die Preisgabe der ältesten deutschen Kolonie mit einer Schärfe vollzogen, die gegen alles heutige Empfinden geht. Die Äußerungen brauchen hier nicht im einzelnen angeführt zu werden. Im ganzen unterlag die reichsdeutsche Politik in diesem Punkte Bindungen, die für den preu­ ßischen Staat bezeichnenderweise noch nicht in gleicher Stärke bestanden hatten. Als preußischer Außenminister hatte es Bismarck im März 1865 unternommen, einen — in der Form freilich schon damals sehr vor­ sichtigen — Schritt zugunsten der bedrohten baltisch-lutherischen Kirche

Bismarcks Stellung zum baltischen Deutschtum zu tun. Es kam ihm dabei sicher mindestens so sehr auf die Verteidi­ gung seiner Rußlandpolitik gegen innerdeutsche liberale Angriffe wie auf die Linderung der kirchlichen Nöte des Baltentums an. Immerhin: es war eine „Intervention", die nach einiger Verstimmung zum Er­ folge mindestens beitrug. — Der Kanzler des Reichs, belastet gleichsam mit der Führerschaft des nationalen Deutschland, mußte es strikte ab­ lehnen, eine solche Haltung auch nur anzudeuten. Gerade indem das innere Deutschland national geeinigt wurde, galt es um so mehr, selbst den Schein einer pangermanistischen Politik zu vermeiden, deren Wirk­ lichkeit Bismarck fern lag und die doch eine einleuchtende Folge der Nationalstaatsbildung zu sein schien. So ist denn trotz aller Bemühungen Bismarcks die Rückwirkung nicht ausgeblieben, und es war kein Zufall, wenn unmittelbar nach Königgrätz die Welle der Russifizierung mit dem Sprachukas von 1867 begann. Es dürften fortan, so schrieb die Moskauer Zeitung, keinerlei „Vorposten" einer fremden Nationalität mehr geduldet werden. Und ein Freund Katkows sagte 1869 zum preußischen Militärbevollmächtigten in Petersburg: „Wir müssen unsere Arbeit in den baltischen Provinzen vollenden, ehe Deutschland völlig konstituiert ist." Der gewaltige Umschwung in Mitteleuropa, wie er durch die deutsche Einigung auch schon in ihrer beschränkten Form geschah, bot den Anreiz, an dem der Nationalismus in Rußland zur vollen Entfaltung kam. Bismarck hat das sehr wohl gesehen, er hat diesen Zusammenhang zwar zeitweise zu dämpfen und vor unnötigen Verschärfungen zu bewahren, aber letzten Endes nicht wirklich zu ver­ hindern vermocht. Insoweit war die „Preisgabe" des baltischen Deutsch­ tums ein vergebliches Opfer. Das ist die nächste und die schmerzlichste Seite des Problems. Sieht man näher zu, so zeigen sich indessen noch wesentlich andere Aspekte. Zunächst war die Enthaltung keineswegs nur ein taktischer Schachzug, der mit der Feststellung des Mißerfolges abzutun wäre, sie ruhte vielmehr auf der klaren Erkenntnis der geographischen und ethno­ graphischen Unmöglichkeit nordöstlicher Annexionspolitik, die den räumlichen wie den völkischen Verhältnissen widersprach. Sie ruhte auf der Ablehnung erst recht der imperialistischen Ausdehnung um der Ausdehnung willen, und nicht zuletzt auf einem Bewußtsein staats­ männischer Verantwortung, das noch heute für alle Grenzlandarbeit einen Zug des Vorbildlichen hat. Als im Dezember 1867 der national­ liberale Abgeordnete Loewe unter starken Ausfällen gegen die ruß­ landfreundliche Regienmgspolitik eine Interpellation zugunsten des

Ost raum, Preußentum und Reichsgedanke baltischen Deutschtums begründete, da antwortete ihm Bismarck: „Der Herr Vorredner sitzt hier in voller Sicherheit und spricht ganz ungeniert. Was aber die Folgen seiner Worte für diejenigen sein werden, die er hat beschützen wollen, das wollen wir abwarten." Mit aller Schärfe betonte der Minister im Abgeordnetenhaus, daß man durch stimmungsmäßige Aufwallungen dem bedrohten baltischen Deutschtum „keinen guten Dienst" erweise. Hier wie bei anderen Gelegenheiten nahm er in Anspruch, mit seiner Enthaltung „grade im Interesse der Beteiligten" zu handeln. Er hat das immer wieder betont und durch Zeugnisse aus baltischem Munde bekräftigen können. Und in der Tat deutet sich schon hier das tatsächliche Zusammenfallen der Interessen an, das hinter der „harten" Enthaltungspolitik steht. Sie ist um so eindrücklicher, als Bismarck gerade am baltischen Zweig des Auslandsdeutschtums ohne Zweifel persönlich besonderen Anteil nahm. Sein „gemütliches Interesse" und seine Sympathien waren fraglos echter, als die manches Liberalen, für den das Baltikum ein potenziertes „Ostelbien" blieb und dem es bei der Interventions­ frage mehr darauf ankam, die Beziehungen zu Rußland zu stören. Kein anderer deutscher Staatsmann jedenfalls hat durch persönliche Verbindung und sachliche Gemeinsamkeit der baltischen Aristokratie näher gestanden als der erste Kanzler des neuen Reiches. Er wußte aus genauer Kenntnis, was dieses Element für Rußland bedeutete; es sei, so hat er mit gesprächsweiser Zuspitzung gesagt, der „Guano" auf der russischen Steppe. Was Bismarck besonders schätzenswert fand, das waren Züge im Charakter der altdeutschen Kolonie, die bei dem ost­ elbischen Junker selbst natürlichen Widerhall fanden: Der Sinn für lokale Unabhängigkeit und der ständische Geist im baltischen Adel wie im baltischen Bürgertum, die durchgehende Abneigung gegen alles bürokratisch-zentralistische Wesen, statt dessen Selbstverwaltung und patriarchalisches Regiment, die Gewöhnung an ehrenamtlichen Landes­ dienst und an genossenschaftlichen Zusammenhalt, endlich die Über­ wölbung der ethnischen und rassenmäßigen Gegensätze durch den Reichs­ gedanken auf der einen Seite, durch den Heimatgedanken auf der anderen. Von hier aus öffnet sich noch ein weiterer Horizont. Im Grunde entsprach Bismarcks Politik der Struktur des baltischen Deutschtums selbst, sie entsprach der Tatsache, daß der deutschen Oberschicht Germanisierung nach Innen ebenso fern lag wie Jrredenta nach außen. Deutsches Volkstum und deutsche Kultur konnten nur dann in den

Latent gesamtdeutscher Zug Ostseeprovinzen sich erhalten, wenn die Naturkräfte von Nationalität und Rasse in den staatlich-geschichtlichen Rahmen eingeordnet blieben. Das gleiche aber war eine Lebensbedingung für die Sicherheit Deutsch, lands im Osten, insbesondere für Preußen mit seinen slawisch unter­ mischten Provinzen, wie auch schließlich für das Zarenreich. Bismarck und das baltische Deutschtum zusammen suchten den Zaren bei der russischen Reichsidee festzuhalten, sie standen gemeinsam gegen die Sprengkraft von Nationalismus und Demokratie, gegen die pansla­ wistische Revolution — eben deshalb mußten sie sich fernbleiben. Dieser tragischen Dissonanz fehlt es nicht an bedeutsamem ge­ schichtlichem Gsshalt. Und trotz aller äußeren Zusammenbrüche wird man gerade an diesem Punkt den positiven Ertrag der Bismarckschen Ostpolitik sehr deutlich heute feststellen können, ihren latent gesamt­ deutschen Zug. Die Reichsgründung ließ den alten Kolonistenstamm draußen stehen, sie führte durch ihre nationalstaatlichen Züge seine Bedrängnis mit herauf, ohne doch selbst die Folgerungen der National­ staatsidee für den Osten zu ziehen. Das war ebenso „unlogisch", wenn man will, wie die heute noch wurzelechte Verehrung der Balten für Bismarck „unlogisch" ist. Beides zusammen aber ergibt einen tiefen geschichtlichen Sinn. Denn eben das Ereignis der deutschen Einigung und die Bedrängnis, die sie zur Folge hatte, schmiedete das Deutsch­ bewußtsein des Baltentums zu einem harten Metall, losgelöst von den Schranken des provinziellen Partikularismus und von den Schlacken nur historischer Lebensformen. Zugleich jedoch blieb das Prinzip dieser Lebensformen eben durch das Draußenstehen, durch das Auf-sich-selbstgestellt-sein in Kraft. Es erhielt sich ein kolonisatorisches Bewußtsein, in Leistung und Wagnis dem Binnendeutschtum fremd, es erhielt sich der ständische Geist, nur jetzt noch deutlicher auf die Güter des Volks­ tums, auf Sprache und Recht, auf Kirche und Schule bezogen, es schmolz also die Überlieferung der ständischen Autonomie in ein Pro­ gramm der nationalen Autonomie um, das seine Herkunft aus germa­ nischem Boden nicht verleugnete. Und es erhielt sich von da aus die Bereitschaft, unter opferwilligem Festhalten der Eigenart mit anderen Nationalitäten zusammenzuarbeiten am gleichen Staat, so wie es das Schicksal gefügt hat, zusammenzuarbeiten nicht nach dem demokratischen Maßstab der Zahl, sondern als körperschaftlicher Partner in organischem Nebeneinander, in nationalständischen Formen. Bismarcks negative Haltung und das, was an Grundsätzlichem in ihr lebt, hat demnach mitgeholfen, eine positive Haltung hindurchzuretten, die für das schick-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke salhafte Zusammenwohnen von Völkern, wie es in der ganzen Ost­ zone Mitteleuropas schlechthin Gegebenheit ist, programmatische Be­ deutung besitzt. Das tragische Erleben der Reichsgründungszeit hat eine „Mission" reifen lassen, die der kolonisatorischen Aufgabe früherer Jahrhunderte nichts nachgibt. Von diesem nordöstlichen Nationalitätenproblem begrenzter aber symptomatischer Art wenden wir den Blick zu den sehr viel umfassen­ deren Fragen des Südostens. Wie stand Bismarck zum österreichischungarischenVölkerstaat und insbesondere zu denjenigen Teilen des Deutschtums, die ihm angehörten? Auch hier war die Hauptlinie die der Enthaltung, auch hier galt der Leitsatz der Staatsraison: Quieta non movere! Aber auch hier war im Widerspruch dazu allein schon die Tat­ sache derEntwicklung zum„kleindeutschen Reich"und vollends dann seine Wirklichkeit ein Ansatz zu weitgehenden Umbildungen. Die Zusammen­ hänge im großen sind bekannt und sie zeigen wiederum als nächstes und schmerzlichstes Bild die Kehrseite des nationalen Geschehens. Bekannt ist insbesondere die verhängnisvolle Rückwirkung, die der dualistische Ausgleich von 1867 auf die Stellung des Deutschtums diesseits wie jenseits der Leitha gehabt hat. Eine förmliche Inter­ vention kam auch hier für Bismarck nicht in Frage. Schon deshalb nicht, weil das neue Reich die Ungarn brauchte, so unbequem ihre Politik mitunter war. Sie bildeten das Gegengewicht gegen Revanche­ pläne Beust'scher Art und später die eine Stütze des Bündnissystems. Die preußisch-ungarische Interessengemeinschaft läuft der preußisch­ russischen parallel, sie geht ebenso wie diese bereits auf Traditionen des ancien r6gime zurück. Aber hat Bismarck nicht 1866 gerade den magy­ arischen Nationalismus zum Hebelpunkt nehmen wollen, um die natio­ nalstaatliche Entwicklung des Südosten auf demokratisch-revolutionärem Wege vorwärts zu treiben? Und ging er nicht gegen Ende seiner amt­ lichen Wirksamkeit, nach den Erfahrungen der großen Balkankrise, mit dem Gedanken der Preisgabe des alten Völkerstaates um? — Was zunächst das Letztere betrifft, so haben wir allerdings mancherlei kri­ tische Äußerungen des Altkanzlers und auch ein ausdrückliches Zeugnis des Grafen Hatzfeld in Richtung des „lächez l’Autriche“, ein Zeugnis, das aber nichts anderes besagt als Preisgabe der orientalischen Inter­ essen der Doppelmonarchie, wenn damit die russische Neutralität zu erkaufen ist. Von einem autonomen Willen zu großdeutscher Ziel­ setzung, von einer, wie man gemeint hat, „realpolitischen Synthese zwischen den vorwärtstreibenden Ideen der Zeit und den Kräften des

Nationalitätenfragen des Südostens Beharrens" ist in solchen Erwägungen nichts zu spüren und nichts zu vermuten. Ein ernsthafterer Kern steckte ohne Zweifel in der national-revo­ lutionären Möglichkeit kurz vor und kurz nach Königgrätz. Es ist heute ein Teil jedenfalls der Unterlagen bekannt für die Beziehungen, die Bismarck damals zur ungarischen Aufstandsbewegung wie zu Serbien und Rumänien unterhalten hat. Ebenso gehören die militärischen Proklamationen beim Einmarsch in Böhmen hierher. Aber auch diese Vorgänge sind weit übertrieben worden. Weder hat Bismarck damals, wie Hermann Wendel uns glauben machen will, „die Sprache von 1792" geführt, noch teilte er je die Auffassung Usedoms, des „angenehmen Feuilletonisten", vom Charakter Österreichs als einer „künstlich konstru­ ierten Macht". Er hat sich nie darauf festgelegt, daß „naturgemäße" Staaten in „nationaler Einheit" beruhen müßten. Was er geschehen ließ oder veranlaßte, trägt vielmehr den Charakter einer in kleinem Maßstab gehaltenen, im besonderen auf Italien berechneten militäri­ schen Diversion, die übrigens wesentliche Bedeutung nicht erhielt und sofort den Gegensatz der ungarischen und südslawischen Interessen hervortreten ließ. Aber richtig ist, daß bei dringender Gefahr, beim Doppeleingriff Frankreichs und Rußlands, wie er nach Königgrätz zu drohen schien, Bismarck allerdings zu revolutionärem Handeln bereit war. Er wünschte diese Situation nicht, und seine diplomatischen Drohungen haben vornehmlich einen präventiven Sinn. Indessen steht hinter ihnen doch unverkennbar tiefer Ernst. So gehört denn der Satz, den Bismarck am 11. August 1866 nach Petersburg telegraphierte: „Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden", so gehört dieser Satz allerdings auch zu den Traditionen seiner Ost­ politik. Bismarck würde nicht gezögert haben, den „Acheron" in Be­ wegung zu setzen, wie für die innere, so für die äußere Gründung des Reiches, wie im Westen zur Abwehr, so im Osten zum Angriff. Kam es so, dann gerieten allerdings die Nationalitätenprobleme auf der ganzen östlichen Front in Bewegung, und es trat der nothafte Zwang zur Bindung und Gestaltung der revolutionären Kräfte ein. Man kann sich in Vermutungen ergehen, ob das Bismarck im Verhältnis zu den kleineren Nachbarvölkern ebenso gelungen sein würde, wie es im Innern mit der nationaldeutschen Revolution geschah. Indessen zielen solche hypothetischen Erörterungen an dem Eigensten der Bismarckschen Haltung vorbei, an dem Bewußtsein der Verantwortung vor Aufgaben, die gestellt, aber nicht gemacht werden. Er hat in einer

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke eigenhändigen Aufzeichnung von 1868 sich aufs entschiedenste und mit Recht gegen die Annahme verwahrt, schon seit dem dänischen Krieg mit den Ungarn „conspirirt" und im deutschen Krieg das Ziel verfolgt zu haben, „die österreichische Monarchie absolut zu zertrümmern". Im gleichen Jahr berührte er selbst in einem Gespräch mit Karl Schurz — eher übertreibend als verhüllend — die revolutionären Minengänge von 1866. Er erkannte an, wenn man eine solche Zündmasse in Be­ wegung setze, dann sei ein Zurückweichen nicht mehr möglich: „Es entstand ein großer leerer Fleck zwischen Deutschland und der Türkei, und darauf mußte etwas geschaffen werden." Aber, so fügte Bismarck hinzu, derartig exzentrische Mittel ergreife man nur, wenn man am Untergehen sei. Selbst dem Ausländsdeutschen und Demokraten wurde die Perspektive eines großdeutschen Wunschbildes nicht irgendwie angedeutet. Erst recht hat Bismarck nach 1870 jede solche Möglichkeit demen­ tiert, und auch der Zweibund ist ja von der einen Seite gesehen eine Bestätigung des Nationalitätenstaates. Die Argumente für diese Ent­ haltungspolitik — wiederum vor allem geographischer und ethno­ graphischer Art — häufen und wiederholen sich, insbesondere die Argu­ mente für die Unmöglichkeit, das „sogenannte Deutschösterreich", wie es einmal heißt (mit seinen Tschechen und Slowenen), ins Reich zu ziehen. Bismarck hat das gesprächsweise sogar dahin zugespitzt, er sei imstande, „wenn die österreichischen Provinzen sich mit Gewalt uns anschließen wollten, deshalb Krieg anzufangen — gegen sie!" Diese Ablehnung bezog sich zunächst auf die dem Reiche unmittelbar benach­ barten und geschlossen wohnenden Deutschen; vollends die Sieben­ bürger Sachsen und die Donauschwaben hat Bismarck ausdrücklich der Magyarisierung preisgegeben. Sich für diese entlegenen Volkstums­ gruppen interessieren zu wollen, sei eine „Taktlosigkeit deutscher Pro­ fessoren", so sagte er 1883 zum Kronprinzen Rudolf. Man wird in all solchen Äußerungen das Diplomatisch-Zweckhafte nie übersehen dürfen, aber sie haben ohne Frage ihren prinzipiellen Kern. Bismarck wünschte nicht nur aus Gründen der außenpolitischen Anlehnung, nicht nur aus Sorge vor dem leeren Flecken und der Unabsehbarkeit revolutionärer Bildungen die Großmacht Osterreich-Ungarn zu erhalten, sondern er sah ihr Wesen positiv. Mit einer theoretischen Schärfe, wie sie bei ihm selten, aber um so eindrücklicher ist, sagte er 1874 zu dem Ungarn J6kay: „Die Errichtung von kleinen Nationalstaaten im Osten Europas ist unmöglich, es sind bloß historische Staaten möglich."

Konservativ-geschichtliche Grundansicht Ein solcher historischer Staat im spezifisch-östlichem Sinne war ihm die Doppelmonarchie. Bismarck sah sie als ein Erzeugnis deutscher Geschichte und auch für die Zukunft von deutschen Kräften mitbestimmt. Er hat nachweislich vom Ausgleich mit Ungarn eine Stärkung des Mechanischen Deutschtums erwartet. Und es wäre sehr einseitig zu sagen, daß der Fehlschlag dieser Erwartungen nur aus der Tatsache der Reichsgründung oder aus der konservativen Enthaltungspolitik Bismarcks stammt. Auch auf die Deutschen in Österreich selbst kam es dabei doch wesentlich an, ohne daß diese Entwicklungslinie hier verfolgt werden kann. Bismarck jedenfalls hat immer wieder bedauert, daß die Deut­ schen des Südostens in sich gespalten und im ganzen eine Partei unter anderen, daß sie nicht Vertreter des Staatsgedankens schlechthin seien. Und wenn er sich jedes offiziellen Eingriffs enthielt (der, wie im bal­ tischen Falle, die Lage des Deutschtums nur erschwert hätte), so ist es nach den heute vorliegenden Zeugnissen doch überraschend, in welchem Maße sich Bismarck mit den innerösterreichischen Verfassungskämpfen beschäftigt hat und wie er im einzelnen zu helfen oder zu raten ver­ suchte. Er hat den Widerspruch Andrässys gegen die „trialistischen" Pläne des Kabinetts Hohenwart-Schäffle mindestens moralisch unter­ stützt; er hat nach 1880 — durch das Bündnis vor Mißdeutung ge­ schützt — sich immerhin stärker eingesetzt und den slawenfreundlichen Kurs des Grafen Taafe außenpolitisch desavouiert. „Es dürfe nicht dazu kommen", so schrieb er damals, „daß die deutsche Opposition in Österreich durch den deutschen Kaiser widerlegt werde". Schon um des Bündnisses willen konnte er sich am österreichischen Deutschtum nicht wirklich desinteressieren. Als „Bindeglied zwischen uns" hat er es bereits 1870 bezeichnet. Und es ist keineswegs nur Taktik gewesen, wenn Bismarck in den Denkschriften, durch die er beim alten Kaiser für den Abschluß mit Osterreich-Ungarn warb, immer wieder das deutsche

Element, die Bedürfnisse der Nation und die jahrhundertelange Ge­ meinsamkeit ausspielte. Er selbst empfand es 1879 auf seiner Fahrt von Gastein über Salzburg und Linz nach Wien mit nachhaltigem Eindruck, daß man „das deutsche Vaterland" hier finde, in Rußland aber nicht. Der gleiche Klang tönt noch aus den „Gedanken und Er­ innerungen" wie aus den Altersreden des Kanzlers. Das Wieder­ zusammenfinden in „Zentraleuropa", so heißt es 1895 geradezu, sei ein Beweis von „imponderablen Verbänden". Das Bewußtsein eines deutsch-mitteleuropäischen Gesamtraumes, das hinter Bismarcks Öster­ reich-Politik steht, spricht sich hier aufs deutlichste aus.

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Freilich wird man diese Bekundungen des inneren Zusammen­ hangs weder als das eigentliche Motiv der Bündnispolitik auffassen, noch irgendwie großdeutsch in einem noch so versteckten nationalstaat­ lichen Sinn ausdeuten dürfen. Die Voraussetzung war vielmehr das Getrenntstehen. Bismarck sah den gesamtdeutschen Lebensraum gleich­ sam im Bilde der Ellipse, wobei der österreichische Kaiserstaat seiner­ seits wieder um zwei Brennpunkte kreiste und doch durch deutsche Men­ schen und deutsche Kultur dem neuen Reich aufs engste verbunden war. Er rief gelegentlich den „uralten Dualismus", ja das Beispiel der Welfen und Ghibelinen an, wobei er ebenso an den Reichtum des Gegensatzes wie an den Reibungsverlust gedacht haben wird. Wir hätten beiderseits zu viel Schmerzens- und Lehrgeld bezahlt, äußerte Bismarck 1877, um neue Vermischungen zu wünschen. Was er selbst statt dessen empfahl, war eine dauernde „organische Verbindung", die dem Völkerstaat, dem „Mosaikbild", dessen Stifte sich leicht stoßen oder schieben, den Rückhalt „an einer dauerhaften Wand" gewährte. Dann mochten, wie er ausdrücklich hinzusetzte, auch seine inneren Fragen ihren Ausgleich finden, dann mochte das österreichische Deutschtum im eigenen geschichtlichen Raum die Aufgaben erfüllen, die der Kanzler ihm allerdings zugeschrieben glaubte. Wenn die Entwicklung andere Wegeging, so sah Bismarck—unzureichend gewiß aber doch mildem Blick auf einen entscheidenden Punkt — im Hineintragen der parla­ mentarischen Methode in den Nationalitätenstaat, in der Gleichsetzung von Partei und Nation das Grundübel. Sein innerdeutscher Kampf gegen demokratische Gleichmacherei und gegen unverantwortliche Frak­ tionspolitik setzte sich hier nach außen bedeutsam fort. So hat Bismarck schon 1870 ein unitarisch-konstitutionelles Zisleithanien für lebensunfähig erklärt. Es bleibe, schrieb er nach Wien, nur die Alternative: Absolutismus oder Föderativverfassung. Bismarcks eigene geschichtlich verwurzelte Neigung galt der monarchisch-absolutistischen Lösung des Bölkerstaatsproblems, aber man spürt aus dem genannten Aktenstück sehr deutlich, daß er den föderalistischen Weg empfehlen und ihn ins­ besondere den Ungarn, bei denen ja der Hauptwiderstand liegen mußte, schmackhaft machen wollte. Freilich fügte er hinzu, er sei froh, daß diese Lösung nicht ihm obliege. So steht Bismarcks Haltung zum österreich-ungarischen Nationa­ litätenstaat im einzelnen unter einem ungewöhnlich akademischen Vorzeichen. Das Problem drängte sich ihm auf und lag doch außerhalb jener Verantwortung, die allein das schöpferische Denken und Handeln

Der Völkerstaat als deutsche Aufgabe empfindet. Es waren Urteile von jenseits der Grenzen. So wird man durchaus fragen können, ob die Hoffnung auf dynastische (oder patriarchalische) Bindungen als Erziehungsmittel zu einem Osterreichertum nicht schon damals zeitgeschichtlich überfällig war. Aber weder ist mit dem Fortfall des dynastischen Moments die Ansicht von den spezi­ fischen Aufgaben des Deutschtums in Österreich widerlegt, noch wird

man die grundsätzlichen und bleibenden Momente übersehen dürfen, die immer wieder an die Lebensbedingungen anknüpfen, wie sie im ganzen Raum der Ostkolonisation sich entwickelt haben, an die Un­ möglichkeit eines rein vom Volkstum aufgebauten staatlichen Gefüges, an die Bedeutung der geschichtlichen und landschaftlichen Zusammen­ hänge, an die Notwendigkeit eines geordneten Miteinanderlebens von Völkern verschieden abgestufter nationaler Kultur im gleichen histo­ rischen Raum, insbesondere an die deutsch-slawische Gemeinschaft, die für Bismarck selbsterlebte Wirklichkeit war und über die er sich geradezu eine Theorie der günstigsten Verbindung gemacht hatte. Am deutlichsten tritt dieser Zusammenhang der Motive in den Altersreden des Kanzlers hervor. Er bekräftigte in der Ansprache vom 15. April 1895 zunächst seinen österreichischen Besuchern gegen­ über das Bewußtsein der Einheit mit ihnen trotz der Trennung in zwei Reiche. Er hielt ihnen dann — und noch einmal zum Schluß — mit bewußter Absicht vor, sie könnten ihr Wohlwollen für die Stammes­ genossen „im Westreiche" nicht wirksamer betätigen, als durch Pflege der Beziehungen zur Dynastie, die deutsch sei, aber nicht einer Natio­ nalität gehöre. „Sie haben", so hieß es in einer Rede von 1894, „ihr eigenes Leben im Donaubecken, wo nicht ausschließlich das Deutsch­ tum in Frage kommt und das kann nicht von Berlin abhängen." Aber wieder ging mit dieser Absage an die großdeutsche Idee die Betonung der eigenen erzieherischen und kämpferischen Mission im Südosten parallel. Die Deutschen sollten „als historisch berechtigte Nationalität" den anderen Völkern mit „christlichem Wohlwollen" begegnen, Ger­ manen und Slawen zusammen gäben erst den rechten staatlichen Klang, wie in der Ehe das Miteinander des männlichen und des weiblichen Prinzips. Ja, es wird in der Rede an die Steiermärker das „Durch­ einandergeschobensein" der Völker im Osten und der Kampf der Natio­ nalitäten geradezu als vorsehungsmäßige Aufgabe und gottgewollter Reichtum, als Steigerung der völkischen Möglichkeiten, gepriesen. Das sind gewiß Anschauungen, die im Vergleich mit den wirk­ lichen Kämpfen, wie sie das Habsburger Reich durchschüttelten, und

Os träum, Preußentum und Reichsgedanke mit dem tatsächlichen Rückgang des Deutschtums einigermaßen idyllisch und optimistisch erscheinen. Aber wenn man daran erinnert, welch reiche Gedankenarbeit zum Problem des Völkerstaates in OsterreichUngarn unter dem Druck eben dieser Kämpfe geleistet worden ist und wie in ersten Ansätzen die Idee eines neuartigen Volksgruppenrechts Verwirklichung fand, so deutet sich auch darin eine bedeutsame Per­ spektive an. Das Deutschtum in Österreich hat — widerstrebend und in einem sehr schmerzlichen Prozeß aber ganz wesentlich — mit seinen Leistungen und seinen Opfern zu einer Aufgabe beigetragen, die schon einmal in der „Nationsuniversität" der Siebenbürger Sachsen ange­ nähert war, die seit 1919 ein Problem der ganzen östlichen Randzone geworden ist und die man wohl als „vorsehungsmäßig" in Bismarcks Sinn bezeichnen mag. Sieht man auf seine Anschauungen zurück, so lagen konkrete Ziele dieser Art im einzelnen ihm noch fern, aber im Gmndsätzlichen ist der Abstand geringer als gemeinhin vorgestellt wird, von Bismarcks vielberufenem „Etatismus", besser von seiner dynamischen Auffassung staatlichen Lebens, der die Einheit nie Ideal an sich war, zu einer Anerkenntnis gegebener Vielfalt, wie sie Max Hildebert Böhm in spitzer Formulierung von einem weitsichtigen euro­ päischen Staat einmal gefordert hat: „Nationalitäten für seinen größten Reichtum zu erachten." Dieser Ausblick und insbesondere die Beziehung auf den deutsch­ slawischen Raum führt uns zu dem dritten Nationalitätenpro­ blem, zu dem polnischen. Es liegt in der Mitte zwischen den Flügel­ positionen und ist mit ihnen durch zahlreiche Fäden verwoben. Man wird das zunächst so ausdrücken dürfen, daß an der Weichsel gleichsam die baltische und die österreichische Fragestellung auf das Innere des kleindeutschen Reiches zurückschlugen. Hier im Gebiet eigenster Inter­ essen wird gewissermaßen eine Echtheitsprobe für die Stellung Bis­ marcks zum Nationalstaatsprinzip zu erbringen sein. — Weiter aber ist ja sehr deutlich der außenpolitische Zusammenhang. Seit 1772 war die polnische Frage ein durchgreifendes, nur verschieden abgestuftes Moment der Solidarität zwischen den drei östlichen Monarchien. Es galt am wenigsten zwischen Deutschland und Österreich, wie Bismarck immer wieder betont hat. Der Donaustaat besaß größere Freiheit in der polnischen Frage; darin liege, so schrieb der Kanzler 1886 an den Wiener Botschafter, „die einzige Schwierigkeit in den Konsequenzen unseres Bündnisses". Österreich könne im Falle eines Krieges mit Rußland auf die Waffe der polnischen Erhebung nicht verzichten, die

Die polnische Frage in der Außenpolitik doch zugleich die preußische Grenze bedrohte. Die eigentümliche Fol­ gerung, die Bismarck aus diesem Sachverhalt zog, lief indessen nicht auf liberalen Wetteifer mit den freier gestellten Partner hinaus, son­ dern betonte umgekehrt: „In der Abschwächung des polnischen Ele­ ments bei uns liegt die Verstärkung unserer Bündnisfähigkeit mit Österreich." Das war der außenpolitische Gesichtspunkt, mit dem Bis­ marck damals die Ausweisung fremdländischer, vor allem galizischer Polen aus den preußischen Ostprovinzen Österreich gegenüber begrün­ dete.— Erst recht und unbedingter galt dieser Zusammenhang im Verhältnis zu Rußland. Es war in der Tat so, daß die gemeinsame Abwehr des nationalstaatlichen Prinzips in Polen Rußland und Preußen immer wieder zusammengeführt hat, daß sie ein Mittel war, den Zaren festzuhalten und eine Voraussetzung für die Begründung des deutschen nationalen Staates. Auch die polnische Seite des preu­ ßischen Kulturkampfes hatte ihre russische Parallele, das gleiche gilt für die scharfen antipolnischen Maßnahmen in der Mitte der achtziger Jahre. Das Ausweisungsverfahren und das Ansiedlungsgesetz hatten ebenso einen bündnispolitischen Nebensinn wie etwa Bismarcks Sozia­ listenpolitik. Das Echo von russischer Seite war der Zarenukas vom Frühjahr 1887 über die Beschränkungen im Erwerb von Grundbesitz durch Ausländer in den westlichen Provinzen. Man könnte von einer Art Gegenseitigkeit der Grenzmarkenpolitik sprechen, die in Rußland freilich neben Polen auch Deutsche erheblich geschädigt hat. Über solche Rückwirkungen ging Bismarck hinweg, nicht aus „Unterwürfigkeit" und „Liebedienerei" gegen Rußland, sondern weil die Bündnisrücksicht eben nur einen Nebensinn all dieser Abwehr­ maßnahmen traf. Entscheidend war vielmehr die Erkenntnis, daß ein polnischer Nationalstaat, der sofort über diesen Rahmen hinausstreben mußte, eine lebensgefährliche Bedrohung für Preußen-Deutschland bedeute. Dann würden, so schrieb Bismarck schon 1848, „Preußens beste Sehnen durchschnitten und Millionen Deutscher der polnischen Willkür überliefert sein". Das ist er in immer neuen Formulierungen und durch die Jahrzehnte hindurch nicht müde geworden, harmloseren Auffassungen entgegenzuhalten, und so wird die Hauptlinie feinet Polenpolitik zunächst als eine „konservative" im unmittelbaren Wort­ sinn, als eine schlechthin bewahrende zu bezeichnen sein. Jedoch auch hier gab es für Bismarck einen Grenz- und Aus­ nahmefall, der — wie im Südosten — im Kampf um die Existenz ein­ treten mochte. Seit dem Krisenjahr von 1879 taucht der Gedanke auf,

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke bei akuter Gefahr Polen zeit- oder teilweise wiederherzustellen — „unter einem österreichischen Erzherzog". Gegenüber Waldersee, der wesentlich vom militärischen Blickpunkt aus für eine solche Lösung ein­ trat, hat Bismarck 1883 geäußert, die „Wiederherstellung Polens sei allerdings ein zweischneidiges Schwert, indes würde sie ein geringeres Übel sein als eine russische Invasion". Am gleichen Tage hörte auch Hohenlohe von der Möglichkeit, einen Erzherzog zum König von Polen auszurufen, wobei Bismarck freilich noch stärkere Vorbehalte machte und das Unerwünschte eines Krieges mit Rußland gerade um dieser Perspektive willen besonders betonte. Weitere Zeugnisse liegen für 1887/89 vor. Man hat sich auf diese Spuren Bismarckscher Überliefe­ rung gerne berufen, als die Mittelmächte im Weltkrieg den Entschluß faßten, einen selbständigen polnischen Staat zu errichten. Indessen doch mit sehr zweifelhaftem Recht. An dem Prinzip der konservativen Solidarität hielt Bismarck im Grunde immer fest. Was er für den Fall panslawistischer Revolution als notwendige Aushilfe erwogen haben mag, war nicht eine „Randstaatenpolitik" liberal-imperialistischen Gepräges, die der Westen jederzeit übertrumpfen konnte, sondern lief auf eine Abriegelung des „Aufstands der Nationen", auf eine öster­ reichische Sekundogenitur, eine dynastisch-föderalistische Lösung mit starken Vorbehalten hinaus. Beachtenswerter aber als diese schwebende Erwägung für den Ausnahmefall ist die Tatsache, daß es in Bismarcks Auffassung der polnischen Frage auch einen direkten Ansatzpunkt zu solchen föderativen Möglichkeiten gab, der das Problem in den grundsätzlichen Rahmen preußischer Nationalitätenpolitik stellt. Waren die ethnischen Span­ nungen des deutschen Ostens nicht durch gemeinsame Institutionen wie das Heer und durch gemeinsame materielle Interessen, durch den Staatsgedanken und durch den Heimatzusammenhang zu über­ winden? War Preußen mit seinen Litauern und Masuren, seinen Kaschuben und Wasserpollacken nicht das glückliche Beispiel eines „Nationalitätenstaates"? Auf diese Linie ist das Buch gestellt, das Friedrich Schinkel kürzlich über das Thema „Polen, Preußen und Deutschland" veröffentlicht hat. Es enthält bei starken Über­ treibungen einen fruchtbaren Kern, der sich aus Bismarckschem Gedankengut bezeugen läßt. Der Ostelbier, der in der Schön­ hausener Einsamkeit polnische Sprachstudien getrieben hatte, ging mehr von der räumlichen als von der völkischen Einheit aus. Und so hat er 1863, als Rußland mit der Preisgabe Polens umzugehen

Föderalistische Ansatzpunkte schien, die Angliederung der Landschaften bis zum Narew und zur Weichsel in der Form der Personalunion ernsthaft erwogen. Polen sei wie Ungarn auf Anlehnung angewiesen, sagte er 1868 zu Blunschli, und er sprach mit Stolz von der bäuerlich-soldatischen Anhänglichkeit an den König in den preußischen Teilungsgebieten. Noch deutlicher sind gewisse Äußerungen aus dem Jahre 1870, die Busch überliefert hat. Danach betonte Bismarck wiederholt namentlich dem Kronprinzen gegenüber, wie ausgezeichnet sich die Polen in den Einheitskämpfen geschlagen hätten, die Sauern seien unbedingt loyal, man müsse sich nur in ihrer Sprache mit ihnen verständigen, wie er es selbst kürzlich bei einem Lazarettbesuch getan habe. So riet der preußische Minister­ präsident dem Kronprinzen dringend an, „seinen Sohn die polnische Sprache lernen zu lassen", die preußischen Könige bis zu Friedrich dem Großen hin hätten alle polnisch verstanden. Und noch merkwürdiger: Als das Tischgespräch in Versailles einmal auf die guten Aussichten des Großen Kurfürsten im Osten kam, und als Rudolf Delbrück ein­ wandte, dann wäre Preußen ja kein deutscher Staat geblieben, da erwiderte Bismarck: „Nun, so schlimm wäre es doch nicht geworden. Übrigens hätte es nicht soviel geschadet, es hätte dann etwas im Norden gegeben, wie Österreich im Süden. Was dort die Ungarn, das wäre

für uns Polen geworden." Man wird solche lockeren Zeugnisse gewiß nicht überwerten wollen. Aber daß sie eine Wurzelhafte Meinung spiegeln, dürfte sicher sein, eine Unterströmung des Denkens, die nicht zufällig in der österreichi­ schen und der ungarischen Parallele sich ergeht und die auch hier— wiederum unter dynastisch-patriarchalischem Vorzeichen — die gleiche Grundanschauung eines notwendigen und fruchtbaren Zusammen­ lebens im deutsch-slawischen Raume belegt. Vielleicht wäre ein solcher Weg im Beginn des 19. Jahrhunderts noch gangbar gewesen, damals, als Stein in der Nassauer Denkschrift den Gedanken einer aristokratischdezentralistischen Verfassung entwickelte, die ja auch für das weite pol­ nische Hinterland von 1795 gedacht war. Für die sechziger Jahre wird man skeptischer urteilen müssen. Und vollends bedeutete dann die Reichsgründung eine Zäsur. So erweist sich auch hier der innere Zu­ sammenhang der verschiedenen Seiten unseres Problems. Die Liberali­ sierung und die Eindeutschung Preußens mußte das Polentum natio­ nalisieren und sozial emanzipieren. Indem Preußen die liberal ver­ faßte Hegemonialmacht eines Nationalstaates wurde, indem die preu­ ßischen Ostprovinzen, die bisher außerhalb des Reiches gestanden hatten,

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Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke in den Norddeutschen Bund inkorporiert wurden, geschah ein Einbruch in die geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen jenes landschaft­ lich gebundenen Zusammenlebens, wie es für die fünfziger Jahre und für den Netzedistrikt Wilamowitz in seinen Jugenderinnerungen so anschaulich geschildert hat. Jetzt ging es nicht mehr um Staat und Volks­ tum, sondern es rieb sich das eine nationalstaatliche Prinzip am andern. Und was noch schlimmer war: auch der Blick der Deutschen in den Ost­ provinzen selbst wandte sich nach Westen, die industrielle Hochkon­ junktur, die soziale Freiheit, aber auch das geringere Risiko und die größere Annehmlichkeit des Lebens zogen die Menschen ab, am Ende der sechziger Jahre beginnt jener Rückgang, der die Entstehung des „polnischen Gemeinwesens" auf preußischem Boden möglich machte. War nun Bismarck dieser Situation gegenüber, so wird die Frage noch einmal mit Schärfe zu stellen sein, ein Vertreter des national­ staatlichen Prinzips? Mancher Zug aus der Kulturkampfzeit und aus der Ansiedlungspolitik der achtziger Jahre spricht dafür, aber das Problem liegt keineswegs so einfach. Zunächst war der Kampf Ver­ teidigung des Reichs gegen die Front der innerpolitischen Gegner (gegen die Koalition von Windthorst bis Grillenberger) wie auch gegen die außenpolitische Koalitionsgefahr. So hieß es in einem Briefe an den Minister Eulenburg vom Februar 1872: „Ich habe das Gefühl, daß auf dem Gebiete unserer polnischen Provinzen der Boden unter uns, wenn er heute noch nicht auffällig wankt, so doch unterhöhlt wird, daß er einbrechen kann, sobald sich auswärts eine polnisch-katholischösterreichische Politik entwickelt." Schon damals forderte Bismarck die Ausweisung aller nicht heimatberechtigten Polen. Einen Monat später sagte er zu Hohenlohe: „Die Papiere bei den Jesuiten in Posen haben dem Faß den Boden ausgeschlagen." Das war in der Tat die Ursache zum Kampf der siebziger Jahre: Die Verbindung von partei­ politischer und konfessioneller, von partikularistischer und national­ separatistischer Gegnerschaft, und zwar ganz wesentlich in ihrer außen­ politischen Bedrohlichkeit. Aber diese auch nun im Gegenschlag so verhängnisvolle Verbindung, die Tatsache, daß die Abwehr Katholi­ zismus und Polentum zusammenwarf, war von Bismarck primär nicht gewollt und brachte seine Politik zum Scheitern. Ihm lag von Haus aus wie die kulturkämpferische, so auch die nationalstaatliche Seite der Aktion fern. Das waren Züge einer Zielsetzung des weltlichen und des unitarischen Staates, die wesentlich aus liberalem Geiste stammten, aus dem zeitbedingten Bündnis des Kanzlers mit der führenden Partei

Bismarck und die Germanisierungsfrage der Reichsgründung. Dieser Ansicht wird freilich entgegenzuhalten sein, daß Bismarck die germanisierende Richtung des Schulregulativs beibehielt, auch als der Kulturkampf abgebaut war, und daß er sie durch die Aufhebung des adligen Schulpatronats noch ergänzte. Aber hier greift nun eine andere Motivenreihe ein. Wie der Kampf der siebziger Jahre gegen die polonisierende Geistlichkeit, so war der der achtziger noch ausdrücklicher gegen den Adel gerichtet, gegen die Schlachta, die Bismarck vom eigentlichen „Volk" getrennt, ja als dessen Feind und als „anderen Stammes" ansah. Sein Gedanke ging gewissermaßen auf eine Verstaatlichung zuerst der Schule, dann der sozialen Herrschaftsstellung auf dem Lande hinaus — in naher Beziehung mit der staatsozialistischen Gesamtpolitik jener Jahre. Bis­ marck wollte demgemäß das Ansiedlungsgesetz benutzen, um polnischen Großgrundbesitz, der sub hasta kam, zu erwerben, und ihn dann in Form der Domänenpacht an sichere Leute auszutun, unter ständigem Einfluß des Staates. Indessen auch diese Politik erhielt durch parla­ mentarische Rücksichtnahme ein zwieschlächtiges Gesicht. Die Nationalliberalen ergriffen „mit Feuer und Flamme" den Gedanken des Renten­ guts und der deutschen bäuerlichen Siedlung, sie machten das zur Be­ dingung für die Annahme des Etats. Bismarck hat diese Umstellung des Gesetzes widerwillig geschehen lassen, er brauchte, wie er gelegent­ lich gesagt hat, aus außenpolitischen Gründen im Abgeordnetenhaus die Genugtuung einer starken Majorität. Er selbst wollte den Rück­ gang des Deutschtums aufhalten, aber sein Ziel war nicht volksmäßig zu germanisieren. Er schwärme „für überseeische Kolonialpolitik so wenig wie für diese", äußerte er 1886 zu Lucius. In der Tat war er weder Imperialist noch Nationalist im Sinne einer Volks- und stammesmäßigen Feindschaft gegen das Polentum. Und es trifft durchaus mit seiner gleichzeitigen Ansicht überein, wenn er im Rückblick feststellte, die deutsche Kleinsiedlung sei ein Fehler gewesen, wie sie denn mit der Parzellierung und Mobilisierung des Landes die Preise hochgetrieben und auch den deutschen Großgrundbesitz vielfach zum Verkauf in pol­ nische Hand angereizt hat. Bismarck beklagte die Güterzerschneidung „am grünen Tisch". Es wäre richtiger gewesen, die Ländereien zu­ nächst als Domänen in königliches Eigentum überzuführen, so heißt es von neuem in einem Gespräch von 1896. Und noch deutlicher in der Altersrede an die Deutschen aus Westpreußen und Posen: „Es ist nicht mein Programm gewesen, daß bei der Ansiedlungskommission vorzugsweise auf die Ansiedlung kleiner Leute deutscher Zunge Be-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke dacht genommen wurde. Die polnischen Bauern sind nicht gefährlich, und es ist nicht entscheidend, ob die Arbeiter Polnisch oder deutsch sprechen." Man wird diese Haltung nicht mit der junkerlichen Vorliebe für den Großbetrieb verwechseln dürfen. Max Weber weist einmal darauf hin, wie energisch der Junker Bismarck in der Frage der polnischen Saisonarbeiter gegen das großagrarische Interesse gehandelt habe, während Caprivis liberale Polenpolitik mit der Öffnung der Grenzen seinem inneren Gegner, dem Bund der Landwirte, einen Liebesdienst tat. Für Bismarck war entscheidend das staatliche und das konserva­ tive Prinzip, die Führung durch einen ausgewählten, wirtschaftlich fortschreitenden Pächterstand und die Erhaltung des eingesessenen Volkstums beider Nationalität.—Aber auch noch eine andere Irrtums­ möglichkeit gilt es auszuschließen. Bismarcks Grundansicht vom not­ wendigen und fruchtbaren Zusammenleben der Völker im östlichen Raum, die auch an dieser Stelle durchbricht, war frei von jeglicher Sentimentalität. Er wußte, daß Verständigung vor allem darauf be­ ruht, daß man selbst zur Behauptung mit äußerster Schärfe entschlossen ist, im Kampf sah er von jeher den „Vater der Dinge". Und wie er die Ausländsdeutschen zu einer besonderen Rolle aufgefordert sah, so nicht weniger die Grenzdeutschen. Auch das klingt in den Reden an die Posener und Westpreußen sehr deutlich an und wird heute von jedem nachempfunden werden, der erfahren hat, wie im Osten Volk auch ohne Staat zu handeln Berufen ist. Die Ansiedlungspolitik der achtziger Jahre jedoch und erst recht die der Folgezeit hielt sich wesent­ lich im Rahmen einer bürokratisch organisierten Landversorgung. Man betont mit Recht, daß darin einer der Gründe ihres Scheiterns lag, man wird hinzufügen dürfen, daß um so dringender heute die Mah­ nung, sich nicht unterwandern zu lassen und die Mahnung zum zähen Festhalten aus Bismarcks Polenpolitik spricht. Noch einmal aber ist der begrenzte Charakter ihres Kampfwillens zu betonen. Er galt — bei aller Härte der Abwehr — nie dem pol­ nischen Volkstum als solchem. Immer wieder war Bismarcks Vor­ stellung, wie es in der Rede vom 28.1.1886 heißt, die Sprache des polnischen Bauern und Landarbeiters nicht „anzufeinden", sondern ihm nur das Verständnis des Deutschen zu lehren, ihn damit unabhängiger zu machen von einseitiger Agitation und — soweit diese schon Platz gegriffen — ihn durch kulturelle Hebung wieder dem Staate zu ge­ winnen. Ausdrücklich hat Bismarck einmal u. a. auf Ostpreußen hin-

Preußentum als Ordnung zwischen den Völkern gewiesen, „wo die polnischen Masuren, Litauer und die Deutschen friedlich zusammenarbeiten" und ebenso wiederholt auf Oberschlesien. Aber für den engeren polnischen Bereich verwirklichte sich diese Hoff­ nung nicht. Gerade durch die fürsorgende Verwaltung des Staates erwuchs in den preußischen Teilgebieten der eigentliche nationalistische Stand, das Bürgertum, was Bismarck nicht mehr voll zur Anschauung kam, und auch das Bauerntum entzog sich, seit dem Kulturkampf und der Ausbildung des ländlichen Genossenschaftswesens, mehr und mehr den Vorstellungen, an denen er es maß. Die überkommenen Schranken der dynastisch-patriarchalischen Sicht konnte auch der Genius nicht über­ springen, aber die verhältnismäßige Freiheit gegenüber der liberalen und nationalstaatlichen Ideenwelt, die dies „Zurückbleiben" veran­ laßte, ging mit einem Hinausgreifen Hand in Hand. Vom monarchischen Obrigkeitsgedanken wurde das Prinzip des „roi des gueux“ in den Osten getragen, von der kolonialen Tradition der Gedanke einer Ordnung zwischen den Völkern im gemeinsam verhängten Raum, der mit der Ordnung zwischen den Gesellschaftsklassen eine genaue Parallele zeigt. Diese Berührung bietet die Brücke, über die wir für einen Augenblick wenigstens noch das Gebiet der reinen Innenpolitik betreten. Die Nationalitätenfragen stehen in der Mitte zwischen innerer und äußerer Politik, sie finden, von innen her gesehen, eine weitgehende Entsprechung in der Behandlung der sozialen Frage. Im Grunde ist Bismarck immer der Mann geblieben, der 1848 seine Bauern gegen Berlin führen wollte. Das wahre preußische Volk, sagte er 1852 im Abgeordnetenhaus, werde, wenn sich die großen Städte wieder einmal erheben wollten, sie zum Gehorsam zu bringen wissen und sollte es sie vom Erdboden tilgen. Das Land, so heißt es noch im Alter, ist das Volk. Der Bauernstand ist „der Felsen, an dem das Gespensterschiff der Sozialdemokratie zerschellen wird". — Solche Äußerungen mußten in der liberalen Epoche als reaktionärer Utopismus erscheinen. Ein Blick auf die östliche Gegenwart von Ruß­ land über die Bauerndemokratien der Zwischenzone bis nach Ost­ deutschland stellt sie in den Zusammenhang weltgeschichtlicher Ent­ scheidung und ist wiederum geeignet, die Doppelseite des in sie ver­ flochtenen Reiches aufs deutlichste herauszustellen. Mit Recht hat Giselher Wirsing jüngst betont, daß die Mittellage Deutschlands auch von innen her durch nichts klarer bezeichnet werde als durch die Tatsache, daß die Grenze zwischen den vorwiegend industriellen Lebensformen

Ost raum, Preußentum und Reichsgedanke des europäischen Westens und den vorwiegend agrarischen Lebensformen des europäischen Ostens mitten durch das Reich hindurchläuft. In diese Doppelseitigkeit ist auch Bismarcks Sozialpolitik ein­ geordnet, sie hat ihren spezifisch ostelbischen Ausgangspunkt vom Erfahrungsbereich der patriarchalischen Gutsherrschaft und des luthe­ rischen Obrigkeitsbegriffes her, sie ist charakterisiert ebenso wie die Nationalitätenpolitik durch das Vertrauen auf den gesunden Sinn des einfachen Mannes und durch den Kampf gegen die Agitatoren, durch die Ablehnung aller westlichen Harmonielehren und das Be­ kenntnis zum produktiven Prinzip des Gegensatzes, durch das Betonen des monarchischen Ordnungsgedankens, der von hier aus wiederum in die Bündnispolitik des Ostens mündet: Ordnung der Gesellschaft im Staat und Ordnung der zwischenstaatlichen Gesellschaft stammen ja aus der gleichen Wurzel und haben in ihrer politischen Spitze die antidemokratische Richtung gemeinsam. — Auch hier stehen Klasse und Nationalität in deutlichster Parallele. Nicht die Spannung zwi­ schen ihnen an und für sich ist das Übel, sondern die Verlagerung auf die Ebene des Parlamentarismus, die Verbindung zwischen Natio­ nalität bzw. Klasse und Partei. Wo es sich um prinzipielle Gegensätze, um wesensmäßige Spannungen in der sozialen oder völkischen Struktur handelt, da ist die bürgerliche Demokratie kein Moment des Ausgleichs, schon deshalb nicht, weil das parlamentarische Korrektiv des Mehr­ heitswechsels dem Kampf der Klassen wie der Nationalitäten fehlt. So tauchen hier für Bismarck Gedanken aus altdeutscher Vergangenheit wieder auf, die hündischen Gedanken, die Einungsgedanken aus dem ständischen Staatsrecht und das Prinzip der jura singulorum aus der alten Reichsverfassung. Das alles hat bei ihm nichts mit Romantik zu tun, sondern ist auf gegenständliche Zwecke bezogen, auf Zurückdrängung des Parlaments durch föderative Instanzen, auf die Anreizung und die Bindung der realen körperschaftlichen Interessen, auf ihre Ver­ schränkung untereinander. So war es schon im Bundesrat mit den Staaten geschehen, und so ist es eingestandenermaßen ein Hauptziel von Bismarcks sozialer Gesetzgebung gewesen, in die zur Summe von Individuen sich auflösende bürgerliche Gesellschaft neue Ordnungen, berufsständische Genossenschaften einzulassen. Diese Pläne sind Stückwerk geblieben. Aber auch in der Gestalt, wie Bismarcks Reichsverfassung historisch vor uns steht, zeigt sie mit ihrem monarchisch-konstitutionellen wie mit ihrem bundesstaatlichen Charakter den eigenständigen Übergangstypus aufs deutlichste an. Und

Parallele in der Sozial- und Verfassungspolitik wenn sie von den einheitlichen bürgerlichen Nationalstaaten des Westens abwich, so wußte Bismarck selbst jedenfalls sehr wohl, daß ihr offener, zukunftweisender Charakter sich nach Osten wandte. So heißt es einmal in den „Gedanken und Erinnerungen": „Es ist natürlich, daß die Be­ wohner des Donaubeckens Bedürfnisse und Pläne haben, die über die heutigen Grenzen der Monarchie hinausgehen und die deutsche Reichs­ verfassung zeigt den Weg an, auf dem Österreich eine Versöhnung der politischen und materiellen Interessen erreichen kann, die zwischen der Ostgrenze des rumänischen Volksstammes und der Bucht von Cattaro vorhanden sind." So münden die äußeren und die inneren Motive, die Bismarcks Haltung zu den Nationalitätenfragen des Ostens umschließt, in einen „föderalistischen" Ausblick, dessen Bedeutung für Geschichte und Gegen­ wart hier nicht mehr in vollem Umfang zu erörtern ist. Mit nur zu gutem Recht hat Möller van den Bruck geurteilt: „Wir dachten unsere eigensten Gedanken nicht zu Ende und bereiteten dafür den uns Frem­ desten eine Stätte." — Auf der einen Seite wurde Bismarcks dyna­ mische Ansicht des staatlichen und volklichen Daseins verkannt, man glaubte seiner Sorgen ledig zu sein, der wirtschaftliche Erfolg über­ deckte die Spannungen. Auf der anderen Seite hielt man sich an die Einzelheiten seiner Politik, und es wurden eben deshalb die zeitweiligen Lösungen, zu denen Bismarck gekommen war, dogmatisiert. Davon kann für uns keine Rede sein. Allein schon die ungeheure Tatsache des Weltkrieges als solche, die im Fronterlebnis geschehene Öffnung

der Klassengrenzen wie der Staatsgrenzen, der Durchbruch einer gesamtdeutschen Volkstumsbewegung über sie hinweg, — all das steht einer schematisch-inhaltlichen Wiederbelebung Bismarckscher Gedanken im Wege. Aber allerdings richten sie sich in ihrem grundsätzlichen Be­ stand auf eine immer wieder aufgegebene Situation, und jeder Um­ bruch entlockt ihnen neue Funken. So hat das Zurückbleiben hinter dem nationalstaatlichen Ideal gerade unserer Gegenwart wohl ganz Wesentliches zu sagen, es liegt, wenn man vom Negativen zum Posi­ tiven vordringt, die Aufforderung darin, die Prinzipien des Zusammenwohnens mit anderen Völkern im Osten neu zu überdenken. Bismarcks Reich setzte sich selbst eine Schranke auf dem Weg zur „Nation", als abschließender Einheit, aber es ließ den Weg zum „Volke" offen — als einer den Gesamtraum der östlichenZwischenzone aufschließenden Kraft. Es mag genügen, die Tragweite dieser Erbschaft noch mit einem Beispiel aus dem Bereich der auslandsdeutschen Fragen zu verbeut-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke lichen. Nicht zufällig liegen sie heute in zwei getrennten Fronten. Im Westen und Süden des Reiches handelt es sich um echte Irredenten, d. h. um die Möglichkeit von Grenzziehungen nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, hier handelt es sich nicht um Fragen grundsätzlicher Neugestaltung, sondern um eine Machtfrage der be­ teiligten Staaten. Völlig anders im Osten. Hier gilt weder ein poli­ tisches noch ein geistiges Locarno, hier liegt das Schlachtfeld zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, und der Kampf geht nicht so sehr um die territorialen Grenzen, als vielmehr um die Grenzen von Staat und Kultur, um das Verhältnis von Staat und Volk. Hier ist der Nationalstaat bloße Ideologie, ist das Nicht-zusammenfallen, das not­ hafte Draußenstehen von Millionen Deutscher zumal (nicht nach den heutigen Grenzen, wie sich versteht, sondern dem Wesen nach), natur­ gegebene Lage und fruchtbares Prinzip zugleich, wenn anders diese Situation geistig angeeignet wird. In der gleichen Reihe, in der in Oslo der Franzose Eisenmann den erwähnten Vortrag hielt, hat Harald Steinacker über „Volk, Staat und Heimat in ihrem Verhältnis bei den romanisch-germanischen Völkern" höchst eindrucksvoll gehandelt. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß der Kampf zwischen den Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts im nahen Osten sehr stark auf die Lösung zurückwirken müsse, welche Deutschland bei sich zu wählen hat. Der Zusammenhang der inneren und der äußeren Lebensformen ist hier mit aller Deutlichkeit gegeben, aber es wird nötig sein, die Spitze dieser Feststellung umzukehren: Nicht Nachtreter, sonder Vorbildner zu sein, ruft uns die eigene Geschichte des deutschen Ostens auf, und die deut­ schen Historiker sollten sich der Mitwirkung daran nicht entziehen. Damit taucht die am Schluß der Einleitung gestellte Frage wiederum auf, und in einigen Andeutungen wenigstens sei zu ihr noch Stellung genommen. Es wird nicht nötig sein zu belegen, daß Heinrich von Treitschke, der Prophet des neuen Kaiserreiches, seiner spezifischen Ost­ seite fremd geblieben ist. Für den liberalen Unitarier verengerte sich aus den Kämpfen seiner Zeit der nationale Lebensbereich, für ihn mußten Großstaat und Sittlichkeit zusammenfallen, er konnte keinen Sinn haben für das eigene Nhos, das sich in fremdnationaler Um­ welt entfaltet und für die übergreifenden Zusammenhänge des kolonialen Raums. — Auch der breite Einbruch liberal-imperialisüschen Geistes in die Auffassung des Bismarckschen Reiches braucht nur eben erwähnt zu werden. Diese Zeittendenzen haben ihre Wirkung gehabt bis zu Naumann und Rohrbach hin. Sie stehen Bismarck ebenso fern wie

Geschichtsschreibung und Reichsgedanke die alldeutsche Opposition, die trotz einer betont konservativen Innen­ politik auch ihrerseits das Reich an westlichen Einheitsvorstellungen maß. Selbst von dem Historiker, der fachlich vielleicht am meisten dem Osten zugewandt war, von Dietrich Schäfer, würde das mit Recht sich sagen lassen. Und wenn ein Mann wie Max Weber, in dessen Ent­ wicklung sich die beiden Ströme, der alldeutsche und der liberale, kreuzen, in seiner Freiburger Antrittsvorlesung den schneidenden Wider­ spruch zwischen dem Optimismus der Wirtschaftstheorie und der Wirk­ lichkeit des ökonomischen Kampfes im Osten zum Thema nahm, so konnte er zu keiner anderen Forderung kommen als zu der des konse­ quenten Nationalstaats demokratischer Prägung. Er erklärte die Reichs­ gründung geradezu für einen törichten Jugendstreich, wenn man diese Folgerung nicht ziehe. — In der gleichen Südwestecke des Reiches ent­ stand ein Jahrzehnt später Meineckes Buch von „Weltbürgertum und Nationalstaat". Ohne eine unmittelbare These zu vertreten, hat es doch wie in einem feinsten Extrakt die politischen Grundstimmungen der letzten Vorkriegszeit herausgestellt, soweit sie das Reich betrafen. Es lehrte einer ganzen Generation, hinter der äußeren Tatsächlichkeit, die allein wahrhaftig nicht den „Realisten" Bismarck zu fassen erlaubt, die Zusammenhänge von Weltanschauung und Politik zu sehen, den lockenden Goldgrund der Ideen, und es zeigte zugleich, wie diese Ideen mit dem Staatsbefreier Ranke bis auf einen letzten Anhauch des Uni­ versalen zurückgedrängt wurden und wie endlich in Bismarck der auto­ nome Nationalstaat sich entband. Das war eine Entwicklungslinie geistig-politischer Erfüllung, damals noch optimistisch gesehen, einer Erfüllung, mit der das preußisch-deutsche Reich die partidilaristische Enge des Einzelstaates ebenso wie die verfließende Weite einer un­ staatlichen Gedankenwelt zu überwinden schien, ohne sich ganz von diesen Quellen zu lösen. Die beiden Bewußtseinsinhalte, die das liberale Bürgertum in die Reichsgründung eingebracht hatte, sein Einheitswille und sein Kulturwille, durften so als versöhnt gelten. Staat und Kultur, „Staatsnation" und „Kulturnation" traten in der nationalstaatlichen Synthese zueinander. Das war eine Wegbe­ schreibung aus dem 18. ins 19. Jahrhundert, die sich sichtlich aus­ richtete an den Spannungen der älteren Reichsgeschichte und ins­ besondere an Elsaß-Lothringen, in dessen Oberschicht die kulturnationale Prägung von Deutschland und die staatsnationale von Frankreich her miteinander rangen. Aber diese am Westen gebildeten Begriffe faßten weder die tieferen Volksbewegungen, noch hatte ihre Synthese für die

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Aufgaben des Ostens Gültigkeit. Hier sind sie heute vollends eine Waffe gegen uns geworden. Kulturnation heißt hier im besten Falle Abdrängung vom Staate, Beschränkung auf eine „unpolitische" Pflege kultureller Güter, heißt „Kulturschutzpark", wie das selbst von sehr unbemfenen und sehr binnendeutschen Vertretern der deutschen amt­ lichen Politik gelegentlich formuliert worden ist. Staatsnation auf der anderen Seite besagt demgegenüber Herrschaft des Mehrheitsvolkes, das eben die Staatsnation ist. Hier klingt nichts von der Überwölbung an, wie sie im Südwesten des Reiches das benachbarte Beispiel des Viervölketstaats, der Schweizer „Nation", zu geben vermochte und wie sie — nicht neutralistisch, sondern aktiv gewandt—als Aufgabe im Osten besteht. So steht hinter der Frage nach den Begriffen ein tieferes sachliches Bedenken. Die konservativen Züge des deutschen Nationalstaats­ gedankens, die Meinecke mit feinstem Spürsinn entwickelte, seine anti­ demokratischen und antiunitarischen Elemente waren auch für ihn Reichtum und Vorzug einer komplizierteren geschichtlichen Entwicklung, aber sie waren bloße Rückzugspositionen. Über ihnen lag der Hauch des Unfaßbaren und der ganze Reiz des Historisch-Singulären, der politische Nerv indessen wies auf das Endziel des immer reiner heraus­ tretenden Nationalstaats hin, er wurde im Entwicklungsgang großer Denker gleichsam geistesgeschichtlich legitimiert. Heute sind diese ideen­ geschichtlichen Probleme Kampfmittel und Kampfobjekt elementarer Bewegungen wieder geworden, der Dunst und Brodem der Wirklich­ keit umwölkt sie. Um so mehr treten die Prinzipien heraus, die dem drohenden Chaos Ordnungsgedanken entgegenstellen. Hinter dem Endziel des Nationalstaats westeuropäischer Prägung haben sich der bündische Gedanke und der Reichsgedanke erhoben, sie knüpfen nicht zum wenigsten an diejenigen Bestandteile der Bismarck-Überlieferung an, die dem nationalstaatlichen Ideal sich entziehen. Keineswegs ganz zu Unrecht hat Johannes Ziekursch die These vertreten, das Reich sei eine Gründung „gegen die Tendenzen der Zeit" gewesen. Es stand in der Tat gegen den Mythos des 19. Jahrhunderts. Man wird hinzu­ fügen dürfen, daß es auch gegen einen neuen Mythos steht, der allein in der Volkstumsbewegüng die geschichtsbildenden Kräfte sehen will und der mit einer gewissen Notwendigkeit, wenngleich in gefährlichem Widerspruch zu den Bedingungen der deutschen Lage, gerade von Osten herandrängt. So erhebt sich auf doppelter Front für den deut­ schen Historiker die Gewissensfrage, die Frage, wo er Posto zu fassen hat, bei den „Tendenzen der Zeit" oder — „beim Reiche".

6. Bismarck, das Ansiedlungsgesetz und die deutsch-polnische Gegenwartslage In Zeiten, da das Jahrhunderte alte Verhältnis zweier Völker durch die Gewalt der Geschicke und einen neuen Anbruch auf ver­ änderten Grundlagen sich einzurichten beginnt, ist es mit der Kraft historischer Erinnerung ein zwiespältig Ding. Sie enthält ganz gewiß unvergängliche Züge, auf der Lage und dem Charakter des einen oder des anderen Volkes beruhend, Überlieferungen, die nur eine gesinnungs­ lose Schwärmerei sich vermessen könnte, von heute auf morgen aus­ zulöschen, die vielmehr, wie alle echte Geschichte, an der Gestaltung der Gegenwart, auch einer revolutionären Gegenwart, entscheidend mitwirken. Aber sie speichert auch Konventionen auf, deren zeitweise Gültigkeit in unzureichender Kenntnis oder in anderen Bedingungen einer bestimmten Epoche begründet ist, die sich aber zähe halten und das Bild der Wirklichkeit nur zu leicht verhüllen. Auch widersprechende Zeugnisse werden dabei häufig genug nicht durchzudringen vermögen, bis aus der Wirklichkeit selbst, aus den Aufgaben, die sie dem lebenden Geschlechte stellt, ein kräftigerer Luftzug sich erhebt. Zu diesen Konventionen gehört im Bereich der deutschen Ge­ schichte die Vorstellung von dem „Pangermanisten" und „Hakatisten" Bismarck als dem typischen Vertreter der Zentralisation, der Assimi­ lation und des „Drangs nach dem Osten". Von beiden Seiten ist dies Bild ausgemalt worden — naturgemäß mit entgegengesetzten Vor­ zeichen —, der Nationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts sah die Spiegelung seines eigenen Wesens darin. Eine solche Auffassung berief sich mit Vorliebe auf das „drakonische" Ansiedlungsgesetz von 1886 als ihren Hauptstützpunkt. Von hier aus am ehesten wird daher die konventionelle Ansicht einer Überprüfung zu unterziehen sein, zumal gerade zu diesem Punkte seit dem Erscheinen der Erinnerungen eines

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke besonders vertrauten Mitarbeiters von Bismarck, des Landwirtschafts­ ministers v. Lucius, sehr aufschlußreiche Zeugnisse persönlicher Art vorliegen. Sieht man zunächst auf den Wortlaut des endgültigen Gesetzes, wie es in den parlamentarischen Verhandlungen gestaltet und am 26. April verkündet wurde, so stellte es der Staatsregierung 100 Mil­ lionen zur Verfügung „zur Stärkung des Deutschen Elements in den Provinzen Westpreußen und Posen gegen polonisierende Bestrebungen durch Ansiedlung deutscher Bauern und Arbeiter". Es regelte weiter die Rechtsformen für den Erwerb von Grundstücken und die Begrün­ dung von Bauemstellen, insbesondere gegen Übernahme einer festen Geldrente (Rentengut); die nähere Ausfühmng wurde einer be­ sonderen Kommission (der Ansiedlungskommission) übertragen. Es ist nun sehr merkwürdig, daß Bismarck, der Ende Januar 1886 in zwei großen Reden vor dem Abgeordnetenhaus und noch einmal am 15. April vor dem Herrenhaus für diesen gesetzgeberischen Akt eintrat, gleichwohl seinem Inhalt wie auch der Art der Ausfühmng sehr reserviert, ja fast ablehnend gegenüberstand. Die deutsche bäuerliche Siedlung, so betonte er in einem Gespräch mit dem Freikonservativen v. Kardorff, sei von den Nationalliberalen als „Vorbedingung für ihre Zustimmung zu der Etatsfordemng" hingestellt worden. In der Tat wissen wir auch aus anderer Quelle, daß der nationalliberale Führer Miquel „mit Feuer und Flamme" für den Gedanken des Rentengutes ein­ trat. Er bevorzugte ihn aus seiner agrarpolitischen Einstellung, die dem Großbetrieb feindlich war, und übertmg ihn auf den Nationali­ tätenkampf. Bismarck hat diese Umstellung des Gmndgedankens ge­ schehen lassen; es kam ihm, wie er zu Kardorff äußerte, darauf an, durch eine starke Mehrheit, wie sie sonst nicht erreichbar war, die deutsche Stellung gegenüber den auswärtigen Mächten zu verbessem. Aber seine eigene Absicht ging in anderer Richtung, er wollte ursprünglich den (freihändig) anzukaufenden polnischen Großgmndbesitz nicht für Bauernstellen, sondern für Domänen nutzen. Die Aufzeichnungen von Lucius bestätigen das auf unzweideutige Weise. Unter dem 7. Febmar heißt es da vom Kanzler, er wolle „weniger große Bauerngüter als große Domänen und ganz kleine Arbeiterstellen etablieren". 14 Tage später betonte Bismarck in der Staatsministerialsitzung wiederholt, „daß ihm an der Schaffung bäuer­ licher Stellen wenig gelegen sei, das sei nur dekorativ, um die Sache populär zu machen, die Hauptsache sei, möglichst viel Grundbesitz in

Bismarck und das Ansiedlungsgesetz die Hand des Staates zu bekommen, welchen man als Domänen an Deutsche verpachten müsse... Er schwärme für die überseeische Kolo­ nialpolitik so wenig wie für diese." — Der so bezeugten Grundhaltung widersprechen auch die gleichzeitigen öffentlichen Reden Bismarcks keineswegs. Nur wer — sie nicht gelesen hat, kann aus ihnen so etwas wie eine „Ausrottungs"-Absicht zu Lasten des polnischen Volkstums herausdeuten. Sie treten wohl ein, und zwar in der entschiedensten Form, für eine Befestigung der staatlichen Macht und eine Verteidi­ gung des deutschen Besitzstandes gegenüber polonisierenden Tendenzen, aber mit keiner Silbe für eine Verdrängung des polnischen Bauern und Landarbeiters oder für eine planmäßige und gewaltsame Germanisation in den preußischen Ostprovinzen. In der gleichen Linie endlich liegen — nur mit verschärftem Akzent — die Reserve und die Kritik, die Bismarck in späteren Äußerungen gegenüber der Praxis

des Ansiedlungsgesetzes bekundet hat. In Tischgesprächen von 1896 betonte er neuerdings: Es wäre richtiger gewesen, die Ländereien zu­ nächst als Domänen in königliches Eigentum zu überführen. „Die politische Tendenz sei nicht sowohl auf die Ersetzung polnischer Bauern durch deutsche Bauern gerichtet gewesen, sondern auf die möglichste Beschränkung des polnischen Großgrundbesitzes in seiner durch die Geistlichkeit geförderten Deutschfeindlichkeit und nationalpolnischen Aspiration." Er beklagte die Güterzerschneidung „am grünen Tisch" und die Eile, mit der man in der Sache vorgegangen sei. Noch deut­ licher sind die Worte, in denen der Fürst im September 1894 bei einer Ansprache vor einer deutschen Abordnung aus der Provinz Posen seinen Standpunkt zusammenfaßte. „Es ist nicht mein Programm gewesen", heißt es da, „daß bei der Ansiedlungskommission vorzugs­ weise auf die Ansiedlung kleiner Leute deutscher Zunge Bedacht ge­ nommen würde. Die polnischen Bauern sind nicht gefährlich, und es ist nicht entscheidend, ob die Arbeiter polnisch oder deutsch sind. Das Bedürfnis, rasch zu verkaufen und zu kolonisieren, ist von anderer kompetenter Stelle ausgegangen, aber nicht von mir." Nach all solchen Zeugnissen kann kein Zweifel darüber sein, was Bismarck nicht wollte, er wollte nicht den Kampf der beiden Völker mit wirtschaftlichen Mitteln entfesseln, er wollte das eingesessene Polentum weder vertreiben noch entnationalisieren, er unterschied sich also sehr wesentlich von der Anschauungsweise, die das Schlagwort des „Hakatismus" meint, wie überhaupt von allen spezifisch modemen Formen nationalistischer Politik. Das ist auch von einem polnischen

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Historiker, I. Feldmann, neuerdings mit aller wünschenswerten Deut­ lichkeit betont worden. Man darf in seinen eingehenden Studien ein sehr erfreuliches Symptom erblicken für den eingangs berührten Pro­ zeß eines Durchbruchs der Wirklichkeit: die beiderseitigen Erfahrungen, was Nationalismus eigentlich ist, haben den Blick geschärft für die so andersartige Erscheinung Bismarcks. Aber in der Bewertung seiner Gesamtpolitik und seiner Haltung, wie sie in der Ansiedlungsfrage am deutlichsten wird, bleiben doch Meinungsverschiedenheiten bestehen, deren Klärung nützlich sein dürfte. Für den polnischen Historiker, der selbst von dem konventionellen Bild stärkste Abstriche macht, bleibt Bismarck gleichwohl ein großer Kämpfer im Dienst des „Drang nach Osten", seine Methode des Anringens gegen das polnische Element sei, so meint er, der der Nationalliberalen überlegen gewesen. Mit dem Prinzip des „divide et impera“, mit der Abstellung des Kampfes auf Adel und Geistlichkeit, mit dem Versuch, die polnischen Bauern zu gewinnen, mit dem Rückgriff auf Friedrich den Großen, Flottwell und Grolman habe Bismarck seinen Sinn für Realitäten bewiesen, er war deshalb für die Polen nur „ein noch entschlossenerer und gefährlicherer Feind". Das starke Korn Wahrheit, das in diesen Sätzen steckt, ist ohne weiteres einleuchtend, und es hieße offene Türen einrennen, wenn man Belege häufen wollte für die äußerste Schärfe des Widerstandes, den Bismarck den politischen Selbständigkeitsbestrebungen des Polentums entgegengesetzt hat. Für ihn war das polnische Problem in mannigfacher aber entscheidender Weise eingebunden in die Aufgabe der Erhaltung äußerer und innerer Stabilität, der Abwehr von Revo­ lution und Krieg, der Wahrnehmung vor allem der preußischen Staats­ interessen in ihrem geschichtlich gewordenen Territorialbestand. Und gerade der preußische Boden zeigte ihm, daß völkische Gruppen ver­ schiedener Abstammung in gleicher staatlicher und heimatlicher Ver­ bundenheit miteinander zu leben vermochten. Sogar in der Provinz Posen hatte 1848 ein Teil der polnischen Bauern zwar nicht deutsch werden, aber schwarz-weiß bleiben wollen. Indessen ist es doch sehr fraglich, ob diese wesentlich am Staat ausgerichteten Gedanken nicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon veraltet waren und immer mehr antiquierten. So sieht auch Feldmann Bismarcks Politik scheitern, vor allem an den demokratischen Tendenzen des slavischen Völkerlebens. Man wird das in anderer Weise von deutscher Seite nur bestätigen und eben deshalb Bismarcks Politik nicht so unein-

Absage an den Nationalismus geschränkt „gefährlich" finden können. Sie hatte ihre bestimmte Grenze auch in der Abwehr, und ihre rein staatlichen Mittel, die Möglichkeiten des Eingreifens von oben her mußten mindestens von dieser Grenze ab — so werden wir es rein sachlich heute anzusehen haben — der pol­ nischen Nationalbewegung unterlegen sein. Da eine solche nun einmal vorhanden war und durch den Kulturkampf wie das Ansiedlungsgesetz verschärft wurde, da sie gerade damals auch das Bauerntum ergriff, hätte sie, wenn überhaupt, wohl nur aufgehalten werden können von einer ebenso tief greifenden, an Wucht und Masse überlegenen Volks­ deutschen Gegenbewegung. Das wäre hinausgekommen auf einen wirklichen nationaldeutschen „Drang nach dem Osten". Aber den wollte Bismarck aus noch zu berührenden Gründen gerade nicht. Und so ist es — von dieser Perspektive aus gesehen — fraglos eine Schwäche der Ansiedlungspolitik gewesen, daß hier der preußische Staat handelte und nicht eigentlich das deutsche Volk. Indessen — das trifft alles nur die eine Seite der Bismarckschen Politik, ihre Fremdartigkeit, gemessen an den Maßstäben des aus­ gehenden 19. Jahrhunderts, vielleicht ihr zeitgeschichtliches Zurückbleiben in einer Welt des aufsteigenden Nationalismus. Aber es ist nicht ganz selten in der Geschichte, daß ein solches Zurückbleiben zugleich ein ge­ wisses Vorausgreifen bedeutet. Und wenn mit Recht von Viktor Kauder deutscherseits die „gänzlich unchauvinistische Formulierung des Volkstumsgedankens" als das bahnbrechende Prinzip der deutsch­ polnischen Gegenwartslage bezeichnet worden ist, so führt von der Bismarckschen Ostpolitik schon eine deutliche Brücke zu diesem Stand­ ort. Das zeigt u. a. seine Haltung in den auslanddeutschen Fragen, die gewiß auf ihren eigenen, uns heute fragwürdig gewordenen Vor­ aussetzungen des „Etatismus" beruhte, die aber einerseits doch einen wesentlich stärkeren Anteil nahm an den Geschicken der Diaspora, als man gewöhnlich vermutet, und andererseits aufs unbedingteste die staatlichen Grenzen achtete. So hat Bismarck die außenstehenden deutschen Volksgruppen immer wieder und unter Absage an jedwedes Jrredentaprogramm auf die besonderen Aufgaben, auf die Verant­ wortungen gerade des Draußenstehens verwiesen, die ihnen in dem schicksalsmäßig gegebenen landschaftlichen Rahmen und in Gemeinschaft mit den mitwohnenden Völkern oblägen. Was man üblicherweise „Drang nach dem Osten" nennt und in französischen und polnischen Büchern in deutscher Sprache zu zitieren liebt, ist für eine solche Politik jedenfalls nicht bezeichnend, sie übte in ganz bestimmter und bewußter

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Weise Enthaltung, die vom Gefühl der Verantwortung für den Frieden Europas bestimmt war. Und wie der Pangermanismus als politischer Expansionswille über die Grenzen hinweg Bismarck fern lag, so auch innerhalb des Reiches jedes Bestreben nach mechanischer Gleichförmig­ keit, nach planmäßiger Assimilation, also jede grundsätzliche Feindschaft gegenüber dem fremden Volkstum als solchem. Der Kanzler war viel­ mehr überzeugt, daß das „Durcheinandergeschobensein" von Völkern in der östlichen Zone einen „vorsehungsmäßigen Reichtum" darstelle und daß insbesondere Germanen und Slaven sich wechselseitig Ent­ scheidendes zu geben hätten. Von einer solchen Grundauffassung her bestimmte sich wie seine Haltung zum österreichisch-ungarischen Nationalitätenstaat so auch Bismarcks preußische Polenpolitik. Sie war durchaus nicht nur Realistik sondem hatte eine weltanschauliche Wurzel. Und wenn der Kanzler sich weigerte, das bodenständige polnische Bauerntum zu bekämpfen, das er nur vom Adel und der Geistlichkeit gegen den Staat aufgehetzt glaubte, so verband sich dabei mit der taktischen Absicht des „divide“ aufs engste seine geschichtlich erwachsene, konkrete Anschauung des Volkslebens im Osten. Wir sehen auch da sehr wohl heute die zeit­ geschichtliche Grenze dieser Position, den Ausgangspunkt von der sozialen Machtstellung des ostelbischen Gutsherrn, die in der Art, wie Bismarck das Ansiedlungsgesetz hatte gestalten wollen, für West­ preußen und Posen gewissermaßen verstaatlicht wurde. Durch die „sicheren Leute", die auf den neu zu schaffenden Domänen angesetzt werden sollten, wäre der Staat in den völkisch umstrittenen Gebieten bis unten hin als obrigkeitliche Instanz durchgedrungen. Eine gewisse Parallele zu der staatssozialistischen Intervention int Klassenkampf deutet sich hier an, die ja auch den Staat in die Natur­ tatsachen des gesellschaftlichen Lebens ordnend eingreifen ließ und ebenfalls vom ostelbischen Erfahrungsbereich ihre besondere Farbe erhielt. Beide Male war im Staatsgedanken die Vorstellung der unab­ hängigen und unparteiischen Monarchie miteinbegriffen, die zwischen Nationalitäten und Klassen das „Suum cuique“ verwalte. Aber nicht diese zeitgeschichtlichen Bedingtheiten der Bismarckschen Haltung, son­ dern ihre vorwärtsweisenden Züge werden heute vor allem die Auf­ merksamkeit fesseln dürfen. Sie liegen in der Absage an das westeuropäisch-zentralistische Einheitsideal der nationalen Demokratie, an ihre nivellierenden Tendenzen, und im Jasagen zum Sinn nationaler wie auch ständischer Verschiedenheit, abgestufter Vielfalt, in der dynamischen

Bismarck und die deutsch-polnische Gegenwartslage Ansicht des staatlichen und völkischen Lebens. Und wenn eine ganze Zone Europas sich heute sichtlich den Ideen von 1789 entzieht, so ist die Erinnerung an Bismarck, von konventionellen Vorurteilen befreit, kein Hindernis, sondern eine Hebelkraft auf solchem Wege. Seine Ost­ politik führt in Ansätzen mindestens an die Aufgabe einer grundsätz­ lichen Neuordnung heran, die vor allem im Geistigen liegt, in der inneren Überwindung des liberal-demokratischen „Nationalstaats", im Ausgleich nicht nur, sondern in der Fruchtbarmachung der Spannungen, die zwischen Staatszugehörigkeit und Volkszugehörigkeit in einem national gemischten Raum nun einmal schicksalsmäßig bestehen.

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7. Reich, Staat und Nation im deutsch­ baltischen Denken Graf Peter Schuwalow, ehedem Generalgouverneur der Ostsee­ provinzen, hat im März 1870, als die livländische Ritterschaft mit einer großen Beschwerdeaktion an den Zaren herantrat, zu einem ihrer Vertreter geäußert: „Sie können den historischen Ruhm ihrer Provinzen konservieren, in Fragen der höchsten Politik das Schlachtfeld gewesen zu sein." Das Schlachtfeld in Fragen der höchsten Politik — in der Tat kann man dieses zugleich anspruchsvolle und tragisch um­ witterte Wort auf die Geschichte der baltischen Provinzen in mehr als einem Sinne anwenden. Es gilt zunächst von den großen äußeren Vorgängen im Wetterwinkel der Ostsee. Wie der livländische Ordens­ staat der preußischen Kolonisation die Flanke gedeckt hat, so scheitert an ihm der russische Ansturm von 1502, so bricht weiter auf livländischem Boden die Welle der Gegenreformation, die von Polen nach Schweden hinüberschlägt, zusammen. Das selbständige Staatswesen Livland hat als Sperrblock seine germanisch-protestantische Mission erfüllt — eine Entscheidung wahrlich in Fragen der höchsten Politik. Indem dieses Staatswesen dann um 1560 unter dem Zugriff vornehmlich Polens und Schwedens zerbricht, erhebt sich eine andere bedeutsame Perspektive: Es zeigt sich im Schicksal beider Mächte, daß am Besitz der baltischen Winkelstellung die Vorherrschaft im nordöst­ lichen Raume hängt. So steigt Gustav Adolf erst, als er den Polen Livland abgenommen hat, zu weltgeschichtlicher Höhe empor, erst dann kann er den Eingriff in die deutschen Dinge wagen. Und wiederum: mit dem Verlust Livlands ist recht eigentlich der Niedergang Schwe­ dens besiegelt. Sein Erbe tritt Rußland an, und auch für die Stellung des russischen Reiches wird die Eroberung Livlands nicht ein beliebiger Machtgewinn unter anderen, sondern ein Ereignis von grundsätzlicher

„Mission“ des baltischen Deutschtums Bedeutung sein: Rußland tritt damit in den „vollen Horizont der abendländischen Welt". So sind die baltischen Provinzen durch andert­ halb Jahrhunderte im wörtlichsten Sinn die Schlachtfelder der großen Politik im Nordosten gewesen — die Schlachtfelder, auf denen endlich ein weltgeschichtlicher Vorgang großen Stiles sich entschied: Die Euro­ päisierung des russischen Reiches. In den baltischen Provinzen selbst ist das Bewußtsein der passiven wie der aktiven Beteiligung an diesem Vorgang immer lebendig ge­ wesen: Auf Kosten ihrer Selbständigkeit war jenes vielberufene „Fen­ ster" nach dem Westen gebrochen worden, dafür durften sie ihrerseits sich als Eingangstor europäischer Gesittung, als Kulturbrücke emp­ finden. Das ist die zweite Form des baltischen Missionsgefühls, die neben dem Bewußtsein einer Abwehraufgabe in der politischen Ideo­ logie der Ostseeprovinzen aufs stärkste nachgewirkt hat. Und so besteht bis heute das alte Problem der Doppelseitigkeit fort: Sperrblock oder Verbindungsstück, so lautet auch in der Gegenwart letzten Endes die Alternative. Man kann mit gutem Grunde sagen, daß der Ausgang dieser Alternative, die freilich jetzt mehr von draußen als von drinnen umkämpft wird, die für das Schicksal der neuen baltischen Staaten bestimmend ist, die ihre Atmosphäre mit einem unverhältnismäßigen Grad politischer Spannung lädt, daß dieser Ausgang wiederum ein beherrschendes Problem, das Verhältnis zwischen Rußland und Europa insgesamt an einem kritischen Punkte berührt. So etwa wäre die Rolle der Ostseeprovinzen in den großen äußeren Entscheidungen zu umreißen. Aber ihr schmerzlicher Ruhmes­ titel, „Schlachtfeld in Fragen der höchsten Politik" zu sein, hat zugleich eine sehr innerliche Seite. Es sind dort oben Jdeenkämpfe durch­ geführt, es sind Niederlagen erlitten und trotz aller Einbußen wieder und wieder überstanden worden, die nicht nur ein hohes Maß mensch­ licher Teilnahme verdienen, sondern auch sachlich-politisch sehr bedeut­ sam sind, ja über ihre zeitgeschichtliche und lokale Bedingtheit hinaus in allgemeinere Fragen von stärkster Gegenwartsbedeutung münden. Die Voraussetzungen dieser Kämpfe liegen — kurz gesagt — im Zu­ sammenprall staatlicher Macht und nationaler Kultur, einem Zu­ sammenprall, der kompliziert wird durch die Beschaffenheit der Kräfte, um die es sich dabei auf beiden Seiten handelt, kompliziert weiter durch das Beieinanderwohnen von jeweils mindestens drei Völkern, durch die Verschiedenheit ihrer sozialen Struktur und durch die Schicksalslage am östlichen Rande des mitteleuropäischen Raumes. Die Ereignisse,

Ostraum, Preußentum und Reiohsgedanke die aus diesen Voraussetzungen folgten, stellen sich äußerlich als Kampf um und gegen die Russifizierung der Ostseeprovinzen dar, als Ver­ fassungskampf, als Kampf um Sprache, Schule und Glauben, bis dann diese zweiseitige Auseinandersetzung mit der junglettischen und der jungesthnischen Bewegung, schließlich mit dem Auftakt der Revo­ lution von 1905 gewissermaßen eine dritte Dimension erhält, eine Be­ gleitung und Durchkreuzung aus der Tiefe. Von Deutschland her ist der deutsche Teil dieses Kampfes mit gemischten Empfindungen be­ trachtet worden, mit ausgesprochener und Praktisch betätigter Sym­ pathie nur von positiv-evangelischer Seite — die evangelische Allianz intervenierte gegen den Glaubenszwang der orthodoxen Kirche —; gleichgültiger oder durch die dynastische Loyalität gelähmt war die Stimmung in konservativen Kreisen und unter den Standesgenossen der baltischen „Barone"; bei den Bürgerlichen endlich und bei den Liberalen dämpfte naturgemäß die politische und soziale Opposition gegen alles Privilegienwesen, gegen das „potenzierte Ostelbiertum" die Teilnahme am Abwehrkampf der Deutschen; mindestens aber herrschte ein starkes Gefühl der Fremdheit, ja der Befremdung vor. So hat Heinrich v. Treitschke, als er seinen berühmten Aufsatz über das preu­ ßische Ordensland schrieb, die Kolonie Livland, ihre staatlichen wie ihre kulturellen Leistungen mit scharfem Verdikt belegt. Ihm trat in dem Publizisten Julius Eckardt ein Mann entgegen, der selbst im Partei­ kampf gegen die livländische Ritterschaft gestanden hatte, der ganz ge­ wiß nicht kritiklos die Daseinsformen seiner Heimat pries, der aber aus tieferen Schichten des Erkennens und Erlebens wußte, warum es zu ihnen gekommen war und worin ihr hoher menschlich-politischer Wert lag. Er ging von Treitschkes eigenem Kampf gegen liberale Schuld­ doktrinen aus und hob den Gesichtspunkt einer unter härteren Schick­ salen behaupteten Kultur hervor, der noch heute für den Binnen­ deutschen sehr lehrreich ist. Treiychke hat seinerzeit vor diesen Ein­ wänden manches zurückgenommen, aber er beharrte darauf, daß unter dreihundertjähriger Fremdherrschaft nationale Politik unmög­ lich sei, daß in der Doppelheit von Kultur und Staat ein unver­ schuldetes aber alles vergiftendes Ferment der Unsittlichkeit liege. Wir sehen den Zusammenhang dieser Fragen heute anders. Für uns ist ein Stück der Naivität, mit der Treitschke nationale Einheit und ethische Zucht als schlechthin gleichbedeutend annahm, unwiderbring­ lich dahin. Gerade im geordneten Nebeneinanderleben von Völkern kann ein sittliches Prinzip sich aussprechen — weit überlegen der bloßen

Ideenkampf gegen Osten Naturkraft des Nationalismus oder der Zwangsgewalt staatlicher Omnipotenz. So ist der Zusammenfall von Staat und Kultur, von Staat und Volk wohl ein mögliches Ideal, aber kein letztes Wort der Geschichte, kein allgemeinverbindliches Ziel — am wenigsten im mittel­ europäischen Raum und seiner östlichen Randzone. Hier führt die Überspannung sowohl des Volksprinzips wie des Staatsprinzips mit Notwendigkeit zum Chaos, hier wird immer um Zwischenformen einer irgendwie föderativen Art gerungen werden müssen, hier ist das Problem der Völkergemeinschaft, des übernationalen Staates wie des überstaatlichen Volkes, dessen Lösung ein Fernziel der europäischen Geschichte sein mag, gewissermaßen eine „endemische" Angelegenheit, eine Aufgabe des täglichen Daseins. So hat sich das Blickfeld wesentlich verschoben. Die Doppelheit der baltischen geschichtlichen Lebensform, das Nebeneinander kultureller Besonderheit und staatlicher Loyalität, die zwiefache Tat­ sache der Treue zum deutschen Volkstum und zum russischen Reich, sie enthält nicht nur nichts prinzipiell Befremdendes, sondern in thesi ein Programm von stärkstem allgemeingeschichtlichem Interesse. Woran es in praxi gescheitert ist und was dennoch von ihm fortlebt, das wird uns nachdrücklicher als früher beschäftigen müssen, wir werden dabei nie vergessen dürfen, daß es sich um Ideologien handelt, die aus der besonderen Lage einer (damals) privilegierten deutschen Volks­ gruppe erwachsen sind, wir können die Eigenart dieser Vorstellungen mit unseren Begriffen vielleicht schärfer bestimmen, wir können sie in ihrem Anspruch auf Verbindlichkeit enger begrenzen, als es ihren Trägern bewußt war und ihren Erben mitunter bewußt ist. Wir lehnen jede Romantisierung des nur Historischen ab; und doch haben wir allen Anlaß, das politische Gedankengut ernst zu nehmen, das in der Bruchzone des Nordostens sich ausgebildet hat, es loszulösen von über­ kommenen Vorurteilen und den Eindrücken zufälliger Begegnungen. So liegt hier eine große und dankbare Forschungsaufgabe vor. Sie möge im folgenden — nicht gelöst — aber näher bezeichnet, anschaulicher gemacht und in ihrer Tragweite skizziert werden am Bei­ spiel der politischen Vorstellungen, die um die drei Zentralbegriffe Reich, Staat und Nation sich bewegen. Von diesen Begriffen ist der mittlere, der nach beiden Seiten hin die Verbindung schlägt, für das deutsch-baltische Denken bis zu einem gewissen Grade grundlegend, er steht jedenfalls zeitlich voran, und er empfängt aus der Unterbauung durch den heimatlichen, den korporativen, den patriarchalisch-familien-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke haften Zusammenhang eine besondere Wertfarbe, Damit ist schon angedeutet, daß dieser Staatsbegriff sehr eigentümliche Züge trägt, er geht zurück in ungebrochener Überlieferung auf das 15. und 16. Jahr» hundert, auf den selbständigen livländischen „Föderativstaat" und seine Verfassungseinrichtungen. Diese tragen ein Gepräge, das im Spät­ mittelalter gemeineuropäisch ist, sie gehören zum Typus der land­ ständischen Verfassung, jener Vorform der modernen Verfassungen, die sich dadurch charakterisiert, daß die Politisch und wirtschaftlich lei­ stungsfähigsten Schichten das Land vertreten oder gar „das Land sind", daß der Staat einen dualistischen Aufbau zeigt, daß er förmlich in Fürst und Land, in eine fürstliche und eine ständische Hälfte zerfällt. Aber diese gemeinsame Durchgangsform der abendländischen StaatenWelt teilt sich in zwei speziellere Typen; die dualistische Verfassung gravitiert entweder zum herrschaftlichen oder zum genossenschaftlichen Pol, sie ist je nachdem Vorstufe des Absolutismus oder des Parla­ mentarismus. In sehr nachdrücklicher Weise hat neuerdings Otto Hintze gezeigt, daß diese begriffliche Scheidung bis ins einzelne der staatlichen Einrichtungen geht und einen bestimmten zeitlichen und örtlichen Charakter trägt. Geographisch gesehen, findet sich der genossen­ schaftliche Spezialtypus im wesentlichen außerhalb der Grenzen des alten Karolingerreiches: in England, in Skandinavien, im ostelbischen Deutschland und in der östlichen Randzone, in Böhmen, Polen und Ungarn. Auch der livländische Föderativstaat gehört hierher, aber er zeigt mehrere bezeichnende Abweichungen. Die eine liegt darin, daß es keine eigentlichen Landesherrn gibt, diese werden vielmehr gegen Ende des 15. Jahrhunderts selbst zu „Ständen": Der Erzbischof und die Bischöfe, der Ordensmeister und die Gebietiger bilden die beiden ersten der vier Kurien des gemeinen Landtags. Die Stände sind dem­ nach nicht nur das „Land", sie sind in Livland der „Staat". Der andere Unterschied liegt in der schroffen Trennung zwischen der eingewan­ derten Herrenschicht und den Unterworfenen, den „Jndigenen". So konnte der Vertretungsgedanke sich nicht fortbilden, es fehlte für die Entwicklung zum Parlamentarismus der Anstoß sowohl von oben wie von unten. Wohl hat diese livländische Verfassung vom 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. einen erheblichen Umbau erfahren, aber keinen, der an die Wurzeln rührte, keinen, der im Prinzip die Bedingungen staatlichen Denkens antastete. Was erwähnt werden muß, ist zunächst die Auflösung der Konföderation und der Verlust der politischen Selb-

Die deutsch-baltische Staatsidee Müdigkeit. Es fielen damit die beiden ersten Kurien fort, und es hörte der gemeine Landtag auf. Die staatliche Entwicklung verläuft seitdem provinzial. Die Folge davon war, daß der deutsch-baltische Gemein­ schaftsgedanke im Keime stecken blieb. Der wesentliche Gehalt politi­ scher Empfindungen war an den engeren Heimatboden verhaftet. So scheiterte 1862 ein Versuch, die vier Ritterschaften zu einem Vereinig­ ten Landtag zusammenzurufen, auch der schwächere Vorschlag einer „baltischen Konferenz" wurde innerlich abgelehnt. Bei der estländischen Ritterschaft rief schon das Beiwort „baltisch", weil Verdacht erregend, Bedenken hervor. Es kam zu keiner engeren Verbindung. Dieser pro­ vinziale Partikularismus hat in Kurland und Livland, in Estland und auf Osel, den ständischen Institutionen und der geistig-politischen Hal­ tung verschiedenartige Nuancen ausgeprägt. Wir beziehen uns für das Folgende im wesentlichen auf die Kernprovinz, auf Livland. Der polnische König erkannte hier prinzipiell die Rechte des Landtags an, indessen schrumpfte die Standschaft auf die dritte Kurie zusammen. Allein die Stadt Riga bewahrte sich das Recht, zwei Deputierte zu entsenden, beide zusammen jedoch mit nur einer Stimme begabt, es waren, wie man wohl sagte, „zwei Männer in einem Rock". So wurde die Ritterschaft, d. h. die Korporation aller Besitzer von Rittergütern, der eigentliche und der einzige politische Stand, der Inhaber und der Verteidiger des Status provincialis. Dieser Status ist in polnischer wie in schwedischer Zeit mehrfach durchbrochen, aber immer wieder konfirmiert worden, er wurde zuletzt im russischen Provinzialrecht von 1845 noch einmal anerkannt. So ragte hier ein höchst seltsamer, verfassungsmäßiger und staat­ lich-sozialer Zustand tief ins 19. Jahrhundert hinein, ein Stück Mittel­ alter, noch dazu verengert und konzentriert. Aber in den scheinbar fossilen Formen wirkten Anschauungen des staatlichen Lebens sich aus, die rückwärts gewandt und vorwärtstreibend zugleich waren. Zu den Momenten der Schwäche, zu den altertümlichen Belastungen gehörte ohne Frage die Schroffheit der ständischen Sonderung. Um 1750 schloß die livländische Ritterschaft ihre Matrikel, von 1710 bis 1866 bestand praktisch das adlige Güterprivileg; ein Rittergutsbesitzer von 21 Jahren hatte ebensoviel Stimmrecht auf dem Landtag wie der ganze Bürgerstand. Auf der anderen Seite wehrte sich das patrizische Bürgertum gegen den Stand der Literaten, d. h. der akademisch Gebil­ deten, die jedoch zu ihrem Teil nicht weniger exklusiv waren. Als im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts der Neffe eines kurländischen

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke Pastoren sich mit der Tochter eines Barons verlobte, da notierte der alte Herr in seinem Tagebuch: „Der Kerl, der Kerl! Wie kann er unserer Familie die Schmach antun, sich mit einer Adligen zu verbinden!" — Aber gerade die Schärfe dieses Gegensatzes zeigt das Gemeinsame, zeigt die Strukturverwandtschaft des korporativen Geistes. Auch das Bürgertum war ja genossenschaftlich organisiert, es verwaltete sich selbst durch den Rat, es stellte ihm als Vertretungskörperschaft die große und die kleine Gilde zur Seite, es überzog Arbeitstag und Feier­ tag mit einem Netz von Vereinen. Dieser germanisch-korporative Geist ist der eigentliche Grundpfeiler der deutsch-baltischen Staatsidee, nir­ gend sonst auf deutschem Boden haben sich die Formen des genossen­ schaftlichen Eigenlebens so zäh erhalten und wirken sie so kräftig in die Gegenwart hinein. Auch heute, wo die Privilegien gefallen sind, ist das ausgeprägte ständische Bewußtsein und der ständische Stolz, ist die Jahrhunderte währende Gewohnheit solidarischen Handelns ein starkes inneres Rüstzeug für die Reste des baltischen Deutschtums. Dieser Rückhalt sehr wesentlich hat es vor dem Schicksal bewahrt, das den sogenannten „Kleindeutschen" getroffen hat, vor der Atomisierung, vor dem Zerfließen in der fremdnationalen Masse. Darüber hinaus bietet die genossenschaftliche Überlieferung einen Kristallisationskern für neue staatliche Formen dar. Im übrigen war auch im 19. Jahrhundert der ständische Partikularismus kein absoluter. Es gab wohl einen Ständekampf zwischen Adel und Bürgertum in den sechziger Jahren, aber es gab doch auch verbindende Glieder. Unter diesen Mitteln der Überbrückung ist vor allem das studentische Korporationswesen zu nennen, das bis heute noch Züge der „Urburschenschaft" zeigt. In den alten Landsmann­ schaften Dorpats wurde der soziale Kitt eingelassen, wurde der mensch­ liche Zusammenhalt geschaffen zwischen dem künftigen Gutsherrn, dem künftigen Pastor und den Söhnen des städtischen Patriziats. Endlich hat dann der russische Druck das Seine getan, die Front zu schlie­ ßen. Die verfassungsrechtliche Abnormität und die soziale Exklusivität sind so schließlich doch durch ein Gemeinschaftsbewußtsein überwunden worden. Die schmale Spitze des allein-berechtigten politischen Standes, in die der Status provincialis mündete, war als kämpfende Vorhut repräsentativ, sie stellte wirklich den Extrakt dar aus dem Geiste des livländischen Landesstaats. Fassen wir den Staatsbegriff dieser Aristokratie noch näher ins Auge, so zeigt er als seine Schattenseite die bequeme Möglichkeit, das 106

Ständischer Aufbau und Selbstverwaltung Eigeninteresse mit dem Interesse des Gemeinwesens gleichzusetzen, er zeigt eine Tendenz zur Läßlichkeit, für die auch einmal fünf gerade sein kann. Diese Läßlichkeit gehört an sich durchaus zum ständischen Staatstypus, Regierung und Verwaltung durch Honoratioren und Dilettanten ist immer eine „extensive staatliche Betriebsform" (Hintze), der Staat tritt nur zeitweise in Erscheinung, wie das ja in England über die ständische Periode hinaus nationale Lebensform geworden ist: Der Staat soll den einzelnen in seinem rechtlich oder tatsächlich „freien" Bereich, im gröberen oder feineren Daseinsgenuß möglichst wenig genieren.—Alle diese Züge finden sich fraglos in den staatlichen Anschauungen der livländischen Ritterschaft, sie werden verstärkt durch bestimmte Eigenheiten des kolonialen Typus und durch die Breite des östlichen Lebens. So sah man auf den preußischen „Dienstadel" einiger­ maßen verächtlich herab, und man kann diesen Robinson-Stolz noch heute in seltsamen Resten studieren. Aber wenn der läßlich-patriarchalische Freiheitsgedanke ein Moment der Schwäche war, so lag in ihm doch auch eine Quelle der Kraft: Das Landtagsprivileg bedeutete zugleich die Landtagspflicht, die soziale Herrenstellung hatte ihr selbstverständliches Gegengewicht in dem freiwilligen, unbesoldeten aber verbindlichen Landesdienst. So baute sich das staatliche Leben auf der adligen Selbst­ verwaltung auf. In der Autonomie des Kirchspiels und des Kreises formte sich ein „baltischer" Staatsbegriff vor, der nicht auf Antrieb von oben und außen sondern auf Selbstverantwortung gestellt war. Auch das legt den Vergleich mit der politisch-sozialen Struktur Alt­ englands nahe.. Der Stolz auf die zahlreichen Parallelen zum Typus des englischen selfgovernement gehört ebenso zum Denken des liv­ ländischen Adels wie zu dem der ungarischen „gentry“. Und in der Tat ist die Stufenfolge lokaler Autonomien eine höchst wirksame Erziehungs­ schule gewesen, sie wiederholt sich in der Selbstverwaltung des städti­ schen Patriziats, sie hat insgesamt jenen Geist des common spirit erzeugt, der Herder an der livländischen Gesellschaft, unter den Bürgern des „nordischen Genf" so wohltätig auffiel, der sie für ihn vorteil­ haft abhob von der „verjochten" Bevölkerung der östlichen Provinzen Preußens. Ich habe die Art politischen Denkens und politischer Begabung nicht im einzelnen zu schildern, wie sie auf dem Boden dieser Autonomie, in ihrer männlichen Luft, erwachsen konnte. Es ist gewiß kein Zufall, daß eine erhebliche Zahl höchst talentierter und willenskräftiger Publi­ zisten den Ostseeprovinzen entstammt: Männer, die auf die Meinungs-

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke bildung auch des inneren Deutschland einen unverhältnismäßig großen Einfluß ausgeübt haben. Das Aufsichgestelltsein half zu einer kantigen Ausprägung der Individualität, zu einer größeren Originalität des Einzelnen. Sie mochte oft genug ins Gesuchte und bewußt Paradoxe abgleiten, sie bedurfte der Berührung mit dem Westen, die in den alten Formen der „Bildungsreise" üblich blieb, aber sie konnte dann auch die eingeborenen Züge zum wirklichen Führertypus steigern. Das gilt etwa von Hamilkar Fölkersahm, dem Haupt der livländischen Ritter­ schaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er hat, befruchtet durch die Hegelsche Philosophie, die bisherigen Ansätze der Agrarreform zur Synthese gebracht. Aus der Initiative der Privilegierten selbst ist diese wichtige Aktion im wesentlichen hervorgegangen. Auch sonst fehlte es nicht an Versuchen, die Versteinerung der Verfassung abzuwenden, der Landtag hat schließlich von sich aus das adlige Güterprivileg auf­ gehoben, in den siebziger und achtziger Jahren waren in jüngeren Kreisen der Ritterschaft Tendenzen lebendig, die auf stärkere Einbe­ ziehung des Bürgertums in den Landtag sowie der Letten und Esten in die kommunale und kirchliche Selbstverwaltung gingen. Das alles scheiterte in der Hauptsache am russischen Widerstand. Die Wirkung der Selbstverwaltung auf die fremdnationale Unterschicht war dem­ gemäß mehr eine indirekte; der genossenschaftliche Aufbau, das deutsche Bereinswesen u. ä. wurde von Letten und Esten nachgebildet. An der Zugehörigkeit zum Reiche und an den nationalen Gegensätzen fand die Ausweitung und die Fruchtbarmachung des ständischen Prinzips ihre Grenze. So führen die Probleme des livländischen Landesstaates zu denen des Reichs und der Nation hinüber. Wir fragen zunächst, wie die Brücke vom Staatsgedanken zum Reichsgedanken geschlagen wurde. Ein Stützpfeiler war, so paradox es zunächst klingen mag, eben die Sonderart der verfassungsrechtlichen Struktur. Alle Staaten des landständischen Typus beruhen der Idee nach auf Vertrag, beide Partner, Fürst und Stände, gelten ja theoretisch als gleichberechtigt, und so bildet die bunte Reihe der Rezesse und Reverse, der gravamina und cofirmationen den Grundbestand öffent­ lichen Rechts. In Livland hat sich diese Vorstellung nicht nur besonders zäh, sondern auch in besonderer Färbung erhalten. Die Privilegien waren durch die Krisen der polnischen und der schwedischen Zeit schließ­ lich doch hindurchgerettet worden, und eine noch glänzendere Genug­ tuung wurde ihnen beim Übergang an Rußland zuteil. Als Zar Peter

Rechtsgedanke und Reichsgedanke 1710 das verwüstete und entvölkerte Land sich zu Füßen sah, da hat er den tatsächlichen Besitz in die Form des Rechtes hinübergeführt. Er schloß die vielberufenen Kapitulationen, d. h. förmliche zweiseitige Ver­ träge, an die ein wichtiges Stück baltischer Ideologie sich knüpft. Karl Schirren in seiner livländischen Antwort hat dafür die klassischen Worte gefunden. „Wer ein baltisches Land sein nennen wollte", so heißt es bei ihm, „der hatte es zweimal zu erobern: durch Macht und durch Recht. Dauernd besitzen konnte es nur, wer in die sittlich-politische Gemeinschaft der Staaten des Weltteils eintrat..., wer ein Zeugnis vorwies, daß er sich zu demselben Völkerrecht bekenne." So hat hier die west-östliche Berührung das ständische Prinzip charakteristisch unter­ baut: Rußland wurde europäisch, es wurde aus einer asiatischen Groß­ macht zu einem europäischen „Reich", indem es den Rechtsgedanken anerkannte. Das ist geradezu als ein Stück Mitgift der Ostseeprovinzen empfunden worden, als ein wichtiger Bestandteil ihrer zivilisatorischen Mission. Wie verbreitet die Vorstellung von Recht und Vertrag im deutsch­ baltischen Denken war, das zeigt selbst das an sich auf eine ganz andere Beweisführung eingestellte Lettenbuch Gabriel Merkels. Für ihn ist die Geschichte der Kolonisation eine Reihe von Gewalttaten brutalster Art. Wenn er trotzdem das Verhältnis des Erbherren zum Leibeigenen auf stillschweigenden Vertrag gegründet sieht, so spricht aus ihm nicht nur der wiederholt angerufene contrat social, sondern auch die spezi­ fisch-baltische Rechtsidee. Das also war die eine Brücke zum Reiche: Recht und Vertrag, die materiell eine Grenzsetzung bildeten, konstituierten zugleich den Zusammenhang, ja sie konstituierten in einem spezifischen Sinne das „Reich". Die zweite Verbindung lag im persönlichen Verhältnis zum Zaren. Es ist bekannt, welch starken Anteil das deutsch-baltische Ele­ ment am Hofdienst, am Dienst in der Verwaltung und in der kaiser­ lichen Armee gehabt hat. Ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz des militärisch-politischen Personals, auf dem der Reichszusammenhang beruhte, rekrutierte sich aus den Ostseeprovinzen, und zwar aus ihrem Bürgertum nicht minder als aus ihrem Adel: der Verteidiger von Sebastopol ist ein Rigenser Kind gewesen. Fragen wir, was diese Verbindungslinien für die Auffassung vom Reiche bedeuteten, so handelt es sich zunächst fraglos um einen sehr primitiven Tatbestand: die Zugehörigkeit zu Rußland bot der baltischen Oberschicht höchst erfreuliche Perspektiven. Wenn sie ihre Privilegien

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke in der engeren Heimat garantiert erhielt und sich zugleich in den weiten Gefilden des Reiches bevorzugt sah, so konnte das allerdings das Ge­ fühl wecken, in der besten aller Welten zu leben. Man wird nicht bestreiten können, daß Wunschbilder solcher Art an der Ausbildung der baltischen Ideologie beteiligt waren und als Reminiszenzen auf lange hinaus nachwirkten, aber allein von da aus das Verhältnis zu Rußland auszudeuten, wäre eine grobe Verzeichnung. Sie widerlegt sich schon aus der Tatsache, daß die Loyalität die schwersten Belastungen des Eigeninteresses überdauert hat. Indem der baltische Adel für seine Privilegien, für das livländische Verfassungsrecht kämpfte, indem er darum kämpfte, Provinz mit eigenem Landesstaat zu sein und nicht russisches Gouvernement zu werden, focht er zugleich für eine bestimmte Idee des „Reiches", für den Gedanken, kurz gesagt, daß es „Reich" blieb und nicht „Staat" wurde, oder, wie es Schirren umschrieben hat, für das „Vaterland" gegen das „Großfürstentum Moskau". Und die Vorstellung war, daß man mit diesem Kampfe auch dem richtig ver­ standenen Interesse des Zaren diene. So fügen sich die beiden Motive, die Rechtsidee und der Petrinische Reichsgedanke, innerlich ineinander, und es wird nicht zu leugnen sein, daß dieser Zusammenhang von der Geschichte mit einem ehernen Stempel bekräftigt worden ist. Der Zar und das Reich, beide unter dem Recht stehend und vom Rechte geschützt, das war die Zuordnung, wie sie hier vollzogen wurde. Ihr steht als historischer Gegner ein anderer großer Zusammenhang gegenüber: die in sich Widerspruchsvolle und doch tief begründete Blutsverwandtschaft von Absolutismus und Demokratie. Sie hat sich in Rußland nicht wie sonst in Europa nacheinander, sondern in hohem Maße gleichzeitig entfaltet. Gegen diesen nexus vitiosus wehrte sich die baltische Reichsidee. Das Reich nicht zum Staat werden lassen, das hieß Erhaltung des lockeren Ge­ füges, in dem man selbst zum Reiche stand, Abwehr der Zentralisation, der Einerleiheit, die mit dem Bruch der korporativen Rechte die Massen mobilisierte. So galt der livländische „Ständekampf" — anders wie es im Westen während des 17. und 18. Jahrhunderts gewesen war — der monarchischen und der demokratischen Selbstherrschaft zugleich. Von hier aus gesehen war die Mischung von staatlicher Omnipotenz, von Liberalismus und Slawophilentum, wie sie unter Alexander II. sich vollzog, Vorfrucht der Revolution, war die Russifizierung ein Schlag gegen das Reich und gegen den Zaren selbst. Er sollte Völker­ kaiser sein, „megas basileus“, wie es Viktor Hehn in einer sehr be-

Gegen Zentralismus und Demokratie zeichnenden historischen Anspielung formuliert hat. Statt dessen wurde er zum ausführenden Organ eines herrschenden Volkstums, zum „Pre­ mier serviteur“ des „g6nie national“ (Samarin), er mußte fürchten, von den Bewegungen aus der Tiefe verschlungen zu werden. In der Tat fand auf dieser Linie mehrfach noch eine Annäherung zwischen dem Zaren und der livländischen Ritterschaft statt, es tauchten Trümmer des alten Status provincialis wieder empor, zuletzt nach der Revolution von 1905. Sie hat die nationale Demokratie als den gemein­ samen Gegner enthüllt. So war der Kampf um die Russifizierung der Ostseeprovinzen zugleich ein Kampf um die Herrschaft im russischen Staat, em Ringen der innerrussischen Parteien; in ihm ist das Schicksal des Reiches und des Zaren sowie zugleich ein Stück europäischen Schick­ sals mitentschieden worden. Das hatte Schuwalow im Auge, als er die eingangs erwähnten Worte sprach: „Unter der Form der baltischen Frage", so erläuterte er jenen Gedanken eines stellvertretenden Schlacht­ felds, „spielt sich in Rußland ein äußerst heftiger Kampf ab von einer Tragweite viel größer als Ihre Krähwinkelinteressen." Mit diesen Worten ist die Perspektive durchaus zutreffend bezeichnet und auch ein Stück berechtigter Kritik geübt. Denn wie sollten von der Winkelstellung her Ereignisse von so großen Ausmaßen wirksam beeinflußt werden? Das baltische Deutschtum ist im wesentlichen zu einer passiven Teilnahme an dieser Entscheidung verurteilt worden. Das Hinübertragen der baltischen Staatsidee in die Reichsidee, das Einimpfen, das Inokulieren des germanischen Prinzips der Autono­ mie, die Fortbildung des korporativen Gedankens im Sinne der histo­ rischen (der „ostseeprovinziellen") Individualität, all das scheiterte letzten Endes doch gerade an der Zugehörigkeit zum Reiche, die Pläne der eigenen Verfassungsreform trafen auf russisches Veto, das Privi­ legienrecht wurde Gegenstand der russischen Gesetzgebung, je mehr es das aber wurde, um so mehr prägte sich die rein abwehrende Hal­ tung der livländischen Ritterschaft aus. So hat sich an ihr schließlich doch das alte Wort erfüllt: sint ut sunt aut non sint! Jedes Refor­ mieren im einzelnen bedrohte den Rechtsboden, auf dem man stand, man hatte den Anfang in der Hand, aber nicht den Ausgang. Das Nützlichkeitsprinzip ruiniere das Wesen der „Stände", so hat ein kon­ servativer Führer der livländischen Ritterschaft einmal charakteristisch vor aller Reform gewarnt. Und doch steckte in diesem ständischen und provinzialen Protest ein vorwärtsweisender und zukunftskräftiger Ge­ danke, der Ansatzpunkt für ein Programm spezifischer „Reichs"-Reform

Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke In einem ungedruckten Briefe von Professor Arthur v. Oettingen aus dem Dezember 1892 heißt es: „Es gibt nur ein Mittel, das wahrhaft helfen kann, daß statt des krankhaften Nationalismus ein liberaler Freiheitssinn Raum fände, das große Reich wieder Vertrauen wecke in den Untertanen aller Nationen, daß es sich als Staatenbund gerire." Hier wird mit aller Deutlichkeit ausgesprochen, was als Hinter­ grund dieser Ideologie schon mehrfach sich angedeutet hat: Das Ziel kultureller und nationaler Dezentralisation. Mit anderen Worten: Staatsidee und Reichsidee sind durch einen bestimmten Begriff von Kultur und Nation zusammengehalten, durch einen Begriff der „Kultur­ nation". Er erwächst aus den ständischen Formen und macht das Ver­ hältnis zum Reich erst voll begreiflich. So wird nunmehr von dem nationalen Problem und seiner Auffassung im deutsch-baltischen Denken zu sprechen sein. Was zunächst das Terminologische betrifft, so pflegen wir den Begriff der Kulturnation nach zwei Seiten abzugrenzen, gegen den Begriff der Staatsnation wie gegen den des nationalen Staates, gegen die Schaffung der Nation durch den Staat wie gegen die Schaffung des Staates durch die Nation. In der Tat steht das deutsch-baltische Denken in dieser doppelten Front. Abwehr der Zen­ tralisation und der Russifikation, das hieß zugleich Abwehr der staats­ nationalen Tendenz, des Versuchs, durch Gleichheit der staatlichen Institutionen ein einheitliches Staatsvolk zu schaffen. Die Privilegien, um die gekämpft wurde, hatten zum Inhalt nicht nur provinzialen und ständischen Partikularismus, sondern vor allem den Kernbestand nationaler Kultur, die deutsche Sprache in Schule, Gericht und Ver­ waltung sowie die deutsch-lutherische Kirche. Damit erhielt der Stände­ kampf der Ritterschaft zugleich nationalen Charakter, er war Kampf für das Volkstum, für seine geistigen Ausdrucksformen, seine vor allem in der Sprache wirksamen Bildungskräfte. Man wird sich hier eines parallelen Beispiels erinnern: um 1800 hat die holsteinsche Ritterschaft einen ähnlichen Kampf geführt, den im einzelnen mit den baltischen Vorgängen zu vergleichen sehr lehrreich sein würde. Auch hier provin­ ziale und ständische Privilegien, deren Inhaber zugleich die Idee eines dezentralisierten übervölkischen Reiches vertraten. Diese übervölkische Lebensform, der „Gesamtstaat", der Dänemark, Norwegen und die Elbherzogtümer vereinigt, zerbricht unter den Einwirkungen des Abso­ lutismus und der Danisierungspolitik. Nun wird die Ritterschaft, die

Absage an den Nationalstaat das Provinzialrecht und die alte Gesamtstaatsidee vertritt, im Kampf um die deutsche Sprache nationalisiert. Bürgertum und Bauerntum springen ihr bei, aus dem Ständekampf wird der Kampf um die Natio­ nalität, der dann in den Kampf um die gesamtdeutsche Idee, um den deutschen Nationalstaat mündet. Dieser zweite Schritt ist im Baltikum nicht getan worden und konnte nicht getan werden. Indem man gegen die staatsnationale Tendenz sich wehrte, war man weit von dem Wunsche entfernt, selbst Nationalstaat zu werden oder einem Nationalstaat anzugehören. Man lehnte den Pangermanismus ebenso wie den Panslawismus ab, ja man fühlte sich — wovon noch zu sprechen sein wird — durch den neuen deutschen Nationalstaat, durch das Bismarcksche Reich im eigenen Lebensprinzip bedroht. Man wurde also weder Nationalist noch Irre­ dentist; wer nicht auswanderte, verharrte in strenger Loyalität. Das ist die maßgebliche Haltung des Deutsch-Baltentums bis in die schwere Krise des Weltkrieges gewesen. Einer der Gründe für dieses Abweichen von der schleswig-holsteinischen Parallele ist mit Händen zu greifen: es fehlte die nationale Unterschicht, auch das Bürgertum war ja seiner Struktur nach Patriziat. Ein etwaiger Appell an den Nationalismus hätte daher die Selbständigkeit der nationalen Kultur wie von oben und außen, so auch von unten und innen bedroht, er hätte Massenkräfte aufgerufen, die dem eigenen Kulturbewußtsein fremdartig waren. Für diese Distanzierung vom Elementaren und Jnstinkthaften im Begriff der Nationalität ist schon der Gebrauch des Wortes national sehr bezeichnend. Die „Nationalen", das war in Westeuropa ein Ehren­ name aktivistischer Gruppen. Im Baltikum hingegen hießen so die Jndigenen, die Bauern und Landarbeiter, die wegen des mangel­ haften Grades ihrer Zivilisation, wie gelegentlich ausgeführt wird, die höheren ethischen Güter nicht recht zu schätzen wissen und sich darum in „Naturbestimmtheiten wie Rasse und Sprache" Herumtreiben. Man wird sagen können, daß in diesem Begriff des „Nationalen" etwas von der Empfindung lebte, mit der die Griechen auf den Barbaren herabsahen. „National" zu sein war an sich noch kein Ruhmestitel, war bloße naturhafte Form, zu der erst ein edleres Licht hinzutreten mußte. Aber es wäre wiederum sehr falsch, diese Absage an Nativismus und Nationalismus nur aus ständischem Hochmut und sozialer Angst erklären zu wollen. Sie liegt vielmehr begründet in der Struktur des baltischen Nationalbegriffes selbst. Er ist wesentlich ein Bildungs8

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