Orte der Shoah in Polen: Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum 9783412504618, 9783412503161, 9783412507527


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German Pages [360] Year 2016

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Orte der Shoah in Polen: Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum
 9783412504618, 9783412503161, 9783412507527

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Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller Volkhard Knigge Christiane Kuller in Verbindung mit Karl Schmitt Peter Maser Rainer Eckert Robert Traba

Orte der Shoah in Polen Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum

Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller · Raphael Utz Redaktion Manuel Leppert

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gefördert durch die Thüringer Staatskanzlei

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Staatliches Museum Majdanek (Foto: © Christian Jänsch)

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Datenkonvertierung: Lumina, Griesheim Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-50316-1 | eISBN 978-3-412-50752-7

Inhalt

Jörg Ganzenmüller · Raphael Utz

Orte der Shoah: Überlegungen zu einem auratischen Missverständnis  ............................................................. 

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Raphael Utz

Die Sprache der Shoah: Verschleierung – Pragmatismus – Euphemismus  .........................................  25 Philipp Weigel

Schrecken erzieht nicht: Zum Einsatz von Fotografien in den Ausstellungen polnischer Shoah-Gedenkstätten  . . ..........................  49 Christian Jänsch · Alexander Walther

Kulmhof/Chełmno nad Nerem  .............................................................................  67 Jörg Ganzenmüller · Raphael Utz

Bełżec: Vom Tatort ohne Zeugen zum Ort des Lernens und Gedenkens  ...............................................................  99 Julia Matthes · Felix Roth

Die Gedenkstätte Treblinka – Totengedenken als würdevoller Umgang mit einem Tötungsort  ...........  133 Klara Muhle

Der historische Ort der ehemaligen Tötungsstätte Sobibór  .....................  147 Sarah Kunte

Das Staatliche Museum Majdanek und die Frage nach dem Umgang mit baulichen Überresten des KZ Lublin  ...................  167 Christina Heiduck

Das Lager Płaszów in Krakau und seine dislozierte Erinnerung  ..............  199 Linda Ferchland

Auschwitz: Plädoyer für die Entmystifizierung eines Un-Ortes  .. ..............  219

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Sven Urban

»Schöne Landschaft mit schrecklicher Vergangenheit« – Eine empirische Untersuchung zur Wirkung des Ortes Auschwitz auf das Wissen und die Emotionen jugendlicher Schüler  ..........................  243 Konstantin Heinisch-Fritzsche

Individuelle Formen der Sinnstiftung nach dem Zivilisationsbruch: Die Darstellung des »jüdischen Widerstands« in Sobibór und Treblinka in den Zeugnissen von drei Überlebenden  . . .......................  277 Cornelia Bruhn · Samuel Kunze

Zwischen Pilgerfahrt und Bildungsreise – Israelisches Gedenken an den ehemaligen nationalsozialistischen Tötungsorten der Shoah  ..  303 Christian Jänsch · Alexander Walther

Zur Würde von Menschen an Orten nationalsozialistischer Massenverbrechen  .. ....................................................  329 Autorinnen und Autoren  ........................................................................................  349 Abbildungsverzeichnis und Bildnachweis  .......................................................  351 Personenregister  .......................................................................................................  353

Jörg Ganzenmüller · Raphael Utz

Orte der Shoah: Überlegungen zu einem auratischen Missverständnis

Orte der Shoah sind besondere Orte, die denen, die sie betreuen oder besuchen, viel abverlangen. Die in ­­diesem Band vorgestellten und diskutierten Gedenkstät­ ten befinden sich an den historischen Orten selbst – in Chełmno nad Nerem, in Treblinka, Sobibór, Bełżec, in Majdanek, in Krakau und in Auschwitz. Dabei handelt es sich um eine Auswahl, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhe­ ben kann: Die deutsche Politik, die gesamte als jüdisch definierte Bevölkerung in ihrem Machtbereich zu töten, wurde im besetzten Osteuropa durchgeführt, und ihr besonderer geografischer Schwerpunkt war das seit 1939 besetzte Polen. Die Shoah vollzog sich dort als ein mehrstufiger, komplexer und sich radikalisie­ render Prozess im Rahmen des Zweiten Weltkriegs. Umsiedlungen, Ghettoisie­ rungen, Zwangsarbeit, Gefangenschaft, Deporta­­tionen und Massentötungen durch Erschießen oder durch Giftgas konzentrierten sich zunächst auf den Teil Polens, der bis 1941 vom Deutschen Reich besetzt oder annektiert war, und wei­ teten sich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion aus: zunächst auf den öst­­lichen Teil Polens und entsprechend dem Vorrücken der Wehrmacht in die west­­lichen Sowjet­republiken, die Ukraine und Zentralrussland. Insbesondere das von Deutschland besetzte Polen war überzogen mit allen mög­­lichen Arten von sogenannten Lagern: Der Komplex in Auschwitz bestand zum Beispiel aus einem Lager in erster Linie für polnische politische Gefangene und zwei Zwangs­ arbeitslagern, von denen das in Birkenau auch über Massentötungsanlagen ver­ fügte. Zusätz­­lich jedoch hatte der Auschwitz-­­Komplex knapp fünfzig sogenannte Außenlager, die in erster Linie für die Unterbringung von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen gedacht waren.1 Unabhängig von den großen Lagern im besetzten Polen wie etwa Groß-­­Rosen oder Stutthof gab es überall Zwangsarbeits­ lager, die direkt den Industriebetrieben beigestellt waren, in denen Zwangsarbeit geleistet wurde.2 Grundsätz­­lich muss man davon ausgehen, dass es im besetzten 1 Siehe hierzu Sybille Steinbacher: Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte. München 3 2015, S. 21 – 76. 2 Zu einem solchen Lager in Starachowice-­­Wierzbnik siehe die herausragende Studie von ­Christopher R. Browning: Remembering Survival. Inside a Nazi Slave-­­Labor Camp. New York 2011.

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Polen viele hundert, wenn nicht tausende von den Deutschen eingerichtete Ghettos und Lager aller Art gab, und zwar in einer verwirrenden Unterschied­­lichkeit von Größe und Funk­­tion. Bereits 1946 sprach deshalb der bedeutende Historiker der Shoah und Überlebende Philip Friedman davon, dass die Deutschen eine neue Wissenschaft notwendig gemacht hätten – näm­­lich die »Lagerologie« (poln.: obozologia).3 Alle diese Lager waren Teil eines kolonialen Ausbeutungsregimes, das die Deutschen im besetzten Polen errichteten, und alle diese Orte spielten eine Rolle in der Durchführung der Shoah. An vielen Orten der Shoah unterhält der polnische Staat mit großem Auf­ wand und Engagement Gedenkstätten für die Opfer der deutschen Verbrechen. Diese haben sich über das Vierteljahrhundert seit dem Ende des Kommu­ nismus zu Anziehungspunkten für eine stetig wachsende Zahl an Besuchern ent­wickelt. Dabei wurden diese Orte über lange Zeit wenig beachtet. Auch zu Zeiten der Volksrepublik war die Erinnerung an die deutsche Besatzung ­na­­tio­nal verfasst. Im Zentrum standen das Leid der polnischen Zivilbevölke­ rung, der antifaschistische Widerstand gegen die Besatzer, die Befreiung durch die Rote Armee und die Wiedergeburt Polens als kommunistische Volksrepu­ blik. Das spezifische Leid der jüdischen Bevölkerung wurde nicht anerkannt, sondern in eine polnische Opfererzählung eingefügt und pauschal von Opfern des Faschismus gesprochen. Der weiterhin virulente Antisemitismus in Tei­ len der polnischen Bevölkerung und das Misstrauen der kommunistischen Machthaber gegen autonome jüdische Organisa­­tionen erschwerten ein Geden­ ken zusätz­­lich. Auschwitz wurde fortan als Ort des polnischen Martyriums inszeniert. Jene Orte, an denen in erster Linie von den Na­­tionalsozia­listen als Juden definierte Menschen getötet wurden, fanden in der Nachkriegserinne­ rung zunächst keinen Platz.4

3 Filip Friedman: Einleitung. In: Nachman Blumental: Dokumenty i Materialy z czasów okupacji niemieckiej w Polsce [Dokumente und Materialien aus der Zeit der deutschen Beset­ zung Polens], Bd. 1: Obozy [Lager]. Łodz 1946, S. I–V, hier S. I. 4 Zum politischen Kontext des frühen Nachkriegspolen siehe Michael Fleming: Minori­ ties, Violence and the Establishment of Communist Rule in Poland. In: David Cesarini u. a. (Hrsg.): Survivors of Nazi Persecu­­tion in Europe after the Second World War. London/ Portland 2010, S. 71 – 90. – Einen Überblick zur polnischen Erinnerung an Krieg und Shoah bietet Beate Kosmala: Polen – Lange Schatten der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis. In: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Na­­tionen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Mainz 2004, S. 509 – 540. – Zu den frühen Deutungskämpfen in Auschwitz und zur Marginalisierung der jüdischen Erinnerung ab Ende der 1940er Jahre siehe grundlegend Zofia Wóycicka: Arrested Mourning. Memory of the Nazi Camps in Poland 1944 – 1950. Frankfurt a. M. 2013.

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Diese besonderen Umstände erklären zumindest zu einem Teil, warum die in ­­ diesem Band vorgestellten Orte so unterschied­­lich präsent in der allgemeinen Wahrnehmung und im Vorstellungsfundus der Shoah sind. Auschwitz war für das neue Regime in Polen ein Ort von höchster Symbolkraft, um die na­­tionale Leidens- und Heldengeschichte der Polen zu erzählen, und die verbliebenen jüdi­ schen Organisa­­tionen konzentrierten ihre Bemühungen und knappen Ressour­ cen auf Treblinka, sicher auch wegen der engen Verbindung zu Warschau. Noch wichtiger aber ist ein anderer Umstand, um die Unterschied­­lichkeit des Umgangs mit Orten der Shoah zu erklären: Die Deutschen selbst zerstörten ihre Einrich­ tungen in Chełmno nad Nerem, in Treblinka, in Sobibór und in Bełżec, bevor die Rote Armee diese Orte erreichte. In Auschwitz und in Majdanek gelang dies den Deutschen nur sehr unvollständig. Die materiellen Ausgangslagen für ein Gedenken waren also ganz unterschied­­liche. Während in Auschwitz und Majdanek mit den bau­­lichen Hinterlassenschaften der Deutschen gearbeitet wurde – was nicht heißt, dass sie nicht in bedeuten­ dem Umfang verändert wurden –, konnte dies in Chełmno und an den Standor­ ten der drei Massentötungsanlagen der sogenannten Ak­­tion Reinhard gar nicht geschehen.5 In Sobibór, Treblinka und Bełżec war das drängendste Problem die Sicherung der Aschegräber, die erst Anfang der 1960er Jahre erreicht wurde, wenn auch in Sobibór und Bełżec nur unzureichend. Insofern ist es von Bedeutung, dass die Anlage und Gestaltung der Tötungsorte der sogenannten Ak­­tion Reinhard einen reinen Friedhofscharakter trugen und ohne ein Museum oder Informa­­ tionsangebot realisiert wurden. Erst nach 1989 wurden kleinere Museumsprojekte in Chełmno, Treblinka und Sobibór verwirk­­licht. Sobibór befindet sich gerade in einer Umbruchphase, dort soll eine völlig neue Anlage das Gelände neu gestalten, und ein Museum ist ebenfalls in Planung. Bisher wurde nur in Bełżec 2004 ein neues Museum in unmittelbarem räum­­lichem Zusammenhang zu der ebenfalls neuen Gestaltung des Terrains selbst errichtet. Die Gedenkstätten befinden sich in ganz unterschied­­licher Trägerschaft. ­Auschwitz ist ein staat­­licher Museumskomplex, ebenso wie Majdanek, das auch die beiden Zweigstellen in Bełżec und Sobibór unterhält. Das kleine Museum in Treblinka gehört zum Regionalmuseum in Siedlce, Chełmno zum Kreismuseum in Konin. Es ist keine Überraschung, dass Auschwitz die höchsten Besucherzah­ len vorweisen kann, aber auch die kleineren und häufig schwierig zu erreichenden Gedenkstätten ziehen viele tausend Besucher im Jahr an. Es wird vermutet, dass 5 Zur frühen Nachkriegsgeschichte von Auschwitz siehe Imke Hansen: »Nie wieder ­Auschwitz!« – Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945 – 1955. Göttingen 2015.

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hinter dieser Anerkennung eine Vielzahl von individuellen Motiven steht, die aber alle auf ein Bedürfnis zurückgehen, dem historischen Geschehen nahe zu sein, einen »unmittelbaren Kontakt mit der Vergangenheit« aufzunehmen und mittels eines solchen Besuches die historische Distanz zur Shoah zu verringern.6 Daraus ergeben sich folgende Fragen: Was findet man heute an diesen Orten vor? Um ­welche Art von Orten handelt es sich eigent­­lich? Und: Wie wollen wir uns diesen Orten annähern und mit ihnen umgehen?

Aura und Spur Die Anziehungskraft historischer Orte wird häufig mit einer besonderen Aura zu erklären versucht, die diesen Orten eingeschrieben sei.7 Aura und Spur sind Schlüsselbegriffe in der Begegnung und Auseinandersetzung mit Orten der Shoah. Walter Benjamin, auf den die moderne Bedeutung der Begriffe zurückgeht, hat Aura als eine Erfahrung der Ferne beschrieben, die Spur jedoch als eine der Gegen­ wärtigkeit.8 Insofern ist es unmög­­lich, in der Begegnung mit einem konkreten Ort Nähe zum historischen Geschehen zu erfahren. Im Gegenteil: Es ist die Differenz ­zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die sich gerade an historischen Orten als unüberbrückbare Distanz darstellt. So wenig sich die Erfahrungen von Betroffenen in das Gedächtnis der Nach­ lebenden übertragen lassen, so wenig können historische Orte ein authentisches Zeugnis von der Vergangenheit ablegen. Historische Zeugnisse gelten dann als authentisch, wenn sie in ihrer ursprüng­­lichen Form, also unverändert in die Gegenwart gelangt sind. Aus ihrer Ursprüng­­lichkeit und Echtheit im Sinne von Unverfälschtheit gewinnen sie ihre besondere Glaubwürdigkeit. Die Vorstellung, ein Ort sei »authentisch«, suggeriert, dieser sei unverändert durch die Zeiten hindurchgelangt oder gar durch eine heutige Maßnahme wieder so herzustellen, wie er einmal war.9 Die Orte der Shoah sind jedoch alles andere als unveränderte 6 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächt­ nisses. München 2011, S. 337. 7 Cornelia Siebeck: »Im Raume lesen wir die Zeit«? Zum komplexen Verhältnis von Geschichte, Ort und Gedächtnis (nicht nur) in KZ-Gedenkstätten. In: Alexandra Klei/ Katrin Stoll/Annika Wienert (Hrsg.): Die Transforma­­tion der Lager. Annäherungen an die Orte na­­tionalsozia­listischer Verbrechen. Bielefeld 2011, S. 69 – 97, hier S. 71. 8 Walter Benjamin: Das Passagen-­­Werk. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V-1. Frankfurt a. M. 1983, S. 560 (M 16 a, 4). 9 Detlef Hoffmann: »Authentische Orte«. Zur Konjunktur eines problematischen Begriffs in der Gedenkstättenarbeit. In: Gedenkstättenrundbrief 110 (2002), S. 3 – 17.

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Zeugnisse der Vergangenheit. Die Täter haben versucht, die Spuren ihrer Verbre­ chen zu verwischen, die Natur hat die Orte in den letzten siebzig Jahren verändert, und auch die entstandenen Gedenkstätten haben in die Topografie der Orte ein­ gegriffen. Wer diese Orte in der Erwartung aufsucht, am »authentischen« Ort dem historischen Geschehen selbst nahe zu sein, der wird entweder enttäuscht oder er unterliegt einer Selbsttäuschung. Dies ist auch eine der prägnantesten Erfahrungen, von der Überlebende spre­ chen, wenn sie an Orte der Shoah zurückkehren und mit der Differenz z­ wischen Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert sind. Ihrem mitgereisten Enkel erklärte etwa Kitty Hart-­­Moxon 1978 beim Besuch Auschwitz-­­Birkenaus: »Du siehst Gras. Aber ich sehe kein Gras. Ich sehe Schlamm, nur ein Meer von Schlamm.« 10 Auch für Éva Fahidi-­­Pusztai war die Alteritätserfahrung bei ihrer erstmaligen Rückkehr nach Auschwitz-­­Birkenau 2003 beinahe unerträg­­lich: Birkenau empfing mich mit einer klaren, reinen Luft, mit einem lauen, leichten Wind. Die Landschaft war mir vollkommen fremd geworden. Die frische, mit dichtem grünem Gras bewachsene Wiese vermittelte ein angenehmes Gefühl von Ruhe. Wiesenblumen lachten mich an. Überall herrschten Frieden und Schönheit. Meine Augen suchten eine Schafherde, einen Hirten mit seiner Flöte, sie hätten in das idyl­­lische Bilde gepasst. Stattdessen fanden sie einen bizarren Wald von Schornsteinen, Überreste der Heizung, deren Rohre an den Baracken ent­ langliefen und in diese Schornsteine mündeten. Wo war die Lagerstraße? Wo war der Appellplatz? Am Rande dieser Landschaft, exakt angeordnet wie in einem Barockgarten, standen die R ­ uinen der gesprengten Krematorien. Hier bin ich nie in meinem Leben gewesen.11

Etwas anders akzentuiert Otto Dov Kulka seine Erfahrung der Rückkehr 1978 nach Auschwitz-­­Birkenau.12 Auch er war irritiert vom Gras, das z­ wischen den Schienen wuchs, die er entlangging: »Zum zweiten Mal, aber diesmal zu Fuß. Selbstständig.« Auch er sah den »Wald von gemauerten Schornsteinen« und

10 Kitty Hart-­­Moxon: Return to Auschwitz. Laxton 1997, S. 211, zit. nach Esther Jilovsky: Remembering the Holocaust. Genera­­tions, Witnessing and Place. London/New York 2015. 11 Éva Fahidi: Die Seele der Dinge. Berlin 2011, S. 22. – Siehe auch Éva Pusztai im Gespräch mit Philipp Neumann-­­Thein und Raphael Utz am 8. November 2014 im Stadtmuseum Weimar. In: Andreas Braune u. a. (Hrsg.): Umbrüche. Festivalband zum 6. Weimarer Rendez-­­vous mit der Geschichte. Bad Berka 2015, S. 124 – 133, hier S. 132 f. 12 Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft. München 2013.

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hörte ein »unglaub­­liches Schweigen«.13 Diese Landschaften, die er als von unzäh­ ligen Menschen dicht bevölkert in Erinnerung hatte, erlebte er fassungslos als Landschaften der Stille: Es war eine verödete Landschaft. Aber alles war noch da, nur in einer Art Distanz der Verödung. Und dennoch brennend. Brennend wie an jenem Tag. Nein, diesmal nicht so unschuldig wie damals. Das war jetzt keine Kindheitslandschaft mehr, es war vielmehr eine Landschaft von – ich möchte das Wort nicht benutzen – aber es war eine Gräberlandschaft. Auschwitz begrub sich vor meinen Augen. Auschwitz war begraben, aber es erstreckte sich noch immer, wie ein riesiges Grab, von einem Horizont zum andern. Aber alles war da. Ich zumindest konnte alles erkennen.14

Bei aller fundamentalen Unterschied­­lichkeit der historischen Erfahrungen Über­ lebender einerseits und Nachgeborener andererseits teilen beide doch als Besu­ cher der Gedenkstätten an Orten der Shoah ein ähn­­liches Erlebnis: Diese Orte erklären sich nicht selbst, und es ist Wissen vonnöten, um sie lesen zu können. Für die Rückkehrer ist dies häufig ein Schock, wahrschein­­lich auch, weil er mit der Erkenntnis einhergeht, dass sich die eigene, konkrete und erlebte Erfahrung von niemandem nacherleben lässt. Für die Besucher späterer Genera­­tionen kann sich diese Erfahrung als Enttäuschung äußern – weil man eben durch die Betrach­ tung von verfallenen Schornsteinen nichts über die Shoah lernt, das Gesehene nicht ohne weiteres einordnen kann und sich ein wie auch immer geartetes Nach­ empfinden auch nicht ohne weiteres einstellt. Der Blick auf die Reak­­tionen der Überlebenden in ihrer Wiederbegegnung mit Orten der Shoah ist erhellend: Die Voraussetzung für die gedank­­liche Vermessung der Strecke ­zwischen Nähe und Ferne, also die Wirkungsmacht der Aura, kann nur durch Wissen gelingen. Das Wissen um die Tat bewirkt die Aura. Die Überlebenden verfügen über d­ ieses Wis­ sen aus eigener Erfahrung, und deshalb konnte Otto Dov Kulka »alles erkennen«. Ganz anders stellt sich die Situa­­tion an Orten dar, wo es keine bau­­lichen Über­ reste mehr gibt, an denen persön­­liche Erinnerung oder erworbenes Wissen Halt finden können. Als Gitta Sereny, bekannt durch ihr faszinierendes Interviewbuch mit Franz Stangl, dem Kommandanten von Treblinka, 1972 Sobibór besuchte, verwechselte sie die polnische Gedenkstättenarchitektur mit den von ihr zweifellos erwarteten bau­­lichen Überresten der deutschen Massentötungsanlage.15 So sah 13 Ebd., S. 20. 14 Ebd., S. 21 f. 15 Gitta Sereny: Am Abgrund. Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka. München 1997, S. 133 f.

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sie deshalb die zentrale Gedenkallee als eine »noch gut erhaltene Straße«, die während der deutschen Besatzung für die Massentötungsanlage gebaut worden sei, und hielt sie für identisch mit dem eingezäunten Weg, durch den die Opfer zum Tötungsgebäude gezwungen worden waren. Sereny weiter: Ich ging die Straße entlang, die sie gehen mußten – jetzt herrschte dort Einsamkeit und Stille. Nach ungefähr 800 Metern endete sie in einem großen offenen Gelände. In der Mitte ­dieses Geländes […] befindet sich ein großer künst­­licher Hügel, ungefähr zehn Meter hoch, dessen unteres Drittel mit Millionen von winzigen Kieselsteinen ausgelegt, eingerahmt und mit Glas bedeckt ist. […] Dieser Hügel, jetzt mit Gras und Büschen bewachsen, markiert die Stelle, an der die drei Gaskammern standen, und symbolisiert das Grab derer, die hier starben. […] Heute noch ist die Erde auf und um den Hügel herum […] dunkelgrau und sehr fein und weich. Und jede Bemühung, irgendeine Objektivität zu bewahren, scheitert, wenn man mit Entsetzen erkennt, dass man heute, Jahrzehnte ­später, immer noch auf Asche steht.16

Tatsäch­­lich wurde die Gedenkallee im Zuge der ersten Gestaltung des Geländes in Sobibór ­zwischen 1962 und 1965 gebaut, wie auch der Grabhügel, der aber nicht anstelle des Tötungsgebäudes angelegt wurde, sondern mitten in einem großen Gräberfeld.17 Obwohl Sereny keineswegs als naive Touristin Sobibór besuchte, war es ihr unmög­­lich, das, was sie sah, richtig zu deuten. Ihr Bericht ist insofern ein Dokument der umgekehrten Wirkung der Aura, also wie ihr Wissen um die an ­­diesem Ort begangenen Taten die Interpreta­­tion dessen bestimmte, was sie sah und erlebte. Immerhin gab es 1972 in Sobibór bereits eine Gestaltung des Gelän­ des und auch eine Gedenktafel an der Landstraße, sodass sich Besucher sicher sein konnten, am richtigen Ort zu sein. Bis heute jedoch gibt es in Deutschland, in allen von Deutschland im Krieg besetzten Staaten und vor allem im öst­­lichen Europa hunderte, wenn nicht tausende von Orten, die nicht markiert oder einer Öffent­­lichkeit über die lokale Bevölkerung hinaus bekannt sind. Womit Sereny in Sobibór jedoch am eindrück­­lichsten konfrontiert wurde, waren die Spuren der Tat – ihr wurde plötz­­lich klar, dass sie inmitten eines gro­ ßen Feldes von Aschegräbern stand. Zwar sind die bau­­lichen Überreste etwa in Auschwitz-­­Birkenau genau genommen ebenfalls Spuren, aber Spuren sind an den Standorten der deutschen Massentötungsanlagen in Sobibór, Bełżec und Treblinka von noch größerer Bedeutung – weil die Täter alles versuchten, genau diese Spuren 16 Ebd., S. 134. 17 Siehe hierzu Marek Bem/Wojciech Mazurek: Archaeological Research Conducted on the Site of the Former German Extermina­­tion Centre in Sobibor. Warschau/Włodawa 2012, S. 30, 41 – 52, mit vielen Lageplänen und zeitgenös­­sischen Fotografien.

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zu verwischen, und die Spuren deshalb auch wesent­­lich schwieriger zu finden und zu interpretieren sind. Dabei sind menschliche Überreste zweifellos die wichtigste Spur, gerade wegen ihrer beklemmenden und erschreckenden Gegenwärtigkeit. Am Anfang ging es darum, die Spuren zu sichern, um die Verbrechen zu doku­ mentieren. Doch bei weitem nicht alle Spuren wurden sichergestellt. Im Laufe der Zeit veränderten sich diese. Besucher der 1963 eingeweihten, ersten Gedenkstätte in Bełżec erinnern sich etwa, wie schmerzhaft und schockierend es gewesen sei, auf dem Gelände menschliche Skelettteile zu finden. Wohl aus d­­ iesem Grund war an der Rückseite des damaligen zentralen Denkmals, das die Form eines Kubus besaß, eine kleine schwarze Tür aus Metall angebracht, durch die man aufgefun­ dene menschliche Überreste in das Innere des Denkmals legen konnte.18 Heute, nach der Neugestaltung und Wiedereröffnung der Gedenkstätte in Bełżec 2004, sind die Gräber der etwa 500.000 Opfer geschützt.19 Spuren finden sich jedoch keinesfalls nur an der Erdoberfläche. Im Rahmen der Neugestaltungen der Gedenkstätten in Bełżec und Sobibór gab es aus d­­ iesem Grund umfangreiche archäolo­­gische Untersuchungen, die oft mehrere Jahre andauerten. Viele Jahrzehnte nach der Tat muss also eigens nach Spuren gesucht werden, die man sonst auch nicht finden würde. Über beide Untersuchungen liegen ausführ­­liche Berichte vor.20 In beiden Fällen sind die Ausgrabungen in erster Linie eine Reak­­tion auf die damaligen Versuche der Deutschen, die Spu­ ren ihrer Verbrechen zu verwischen, und die Ergebnisse der Untersuchungen ermög­­lichen nun erstmals eine genaue Lokalisa­­tion der Gräberfelder. In Sobibór kam es im August 2014 zu einer besonderen Entdeckung: Unter der Asphalt­ decke der zentralen Allee der Gedenkstätte von 1963 fand man die Fundamente des Tötungsgebäudes.21 Dies stellt frei­­lich auch die noch im Entstehen begrif­ fene neue Gedenkstättengestaltung vor Herausforderungen. So wichtig die ent­ deckten Fundamente als Spuren zweifellos sind, handelt es sich doch nur um das, was übrig geblieben ist und viele Jahrzehnte gänz­­lich verborgen war. Eine Art Grundriss aus Ziegelsteinen im sandigen Boden kann man erkennen, und auch, wie sich die Druckwellen der Sprengladungen, mit denen die Deutschen das Gebäude zerstörten, ins Erdreich eingezeichnet haben. Diese Gegenwärtig­ keit hinter Absperrbändern verdeut­­licht in besonderem Maße, dass man an den 18 Interview der Verfasser mit Ewa Koper, Bełżec, 18. September 2015. 19 Siehe hierzu den Beitrag der Verfasser zu Bełżec: Vom Tatort ohne Zeugen im vorliegenden Band. 20 Vgl. Andrzej Kola: Bełżec – The Nazi Camp for Jews in the Light of Archaeological Sour­ ces. Excava­­tions 1997 – 1999. Warschau 2000; Bem/Mazurek: Sobibór (wie Anm. 17). 21 Die offizielle Nachricht und Bilder online unter der URL: http://sobibor.info.pl/?page_id=1524, letzter Zugriff: 30. 04. 2016.

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Orten des historischen Geschehens zwar die Spuren der Ereignisse erleben kann, aber niemals das historische Geschehen selbst. Dies ist immer ein Vorstellungs­ akt, der in erster Linie von demjenigen beeinflusst und gestaltet wird, der den Versuch macht, sich historisches Geschehen vorzustellen. Der Besucher mag ein authentisches Erleben der Vergangenheit imaginieren, tatsäch­­lich verknüpft er die sichtbaren Überreste mit seinen bereits bestehenden Vorstellungen zu einem selbst produzierten Konstrukt der Vergangenheit. Historische Orte lassen sich somit als materielles Gedächtnis verstehen, das Spuren der Vergangenheit speichert, die wir wiederum entziffern können. Da diese Spuren aus unterschied­­lichen Zeiten stammen, lassen sich historische Orte auch als Palimpseste mit unterschied­­lichen Schichten begreifen, die es mitunter freizu­ legen gilt.22 Die freigelegten Spuren sprechen aber nicht von selbst, sie bedürfen der Deutung. Die Deutung der Spuren wiederum wirkt der Autosugges­­tion, wir würden durch räum­­liche Nähe auch die Distanz zur Vergangenheit verringern, entgegen. Deutung und Rekonstruk­­tion von Vergangenheit schaffen Distanz und ein Bewusstsein für die eigene Standortgebundenheit.23

Tatorte und Friedhöfe Die in ­­diesem Band vorgestellten Orte sind Tatorte. Zusammengerechnet wurden an diesen Orten etwa drei Millionen Menschen ermordet. Ganz im Sinne einer foren­­sischen Betrachtung können hier bis heute Spuren der Tat sichergestellt wer­ den, die auch erheb­­liche Rückschlüsse auf den Tathergang liefern. Insbesondere an den Standorten der deutschen Massentötungsanlagen in Sobibór, Bełżec und Treblinka wurden von polnischen Behörden deshalb nach Kriegsende auch erste und unterschied­­lich gründ­­liche archäolo­­gische Untersuchungen durchgeführt. Diese waren vor allem deshalb notwendig, weil die Deutschen an allen drei Orten die von ihnen errichtete Infrastruktur wieder hatten abreißen und die Leichen verbrennen lassen. Diese Einheit von Tat- und Fundort der menschlichen Über­ reste verkomplizierte einen Umgang mit diesen Orten jedoch erheb­­lich. Entschei­ dend ist dabei zunächst die Ausgangslage nach dem Abzug der Deutschen: Es handelte sich eben nicht um Friedhöfe, sondern ledig­­lich um Verscharrungsorte. Dem Gedanken des Friedhofs wohnt eine immanente Würde inne, den riesigen 22 Vgl. Winfried Schenk: Historische Geographie. Darmstadt 2011, S. 25. 23 Vgl. Detlef Hoffmann: Das Gedächtnis der Dinge. In: ders. (Hrsg.): Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945 – 1995. Frankfurt a. M./New York 1998, S. 6 – 35, hier S. 10.

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Aschegräbern war sie völlig fremd – ihre Beschaffenheit war von den Zielen der Täter bestimmt, das Verbrechen zu verschleiern. Dies bedeutete zunächst frei­­lich auch, dass die Gräber völlig ungeschützt waren. Rachel Auerbach besuchte im Oktober 1945 Treblinka und beschrieb in bedrü­ ckender Anschau­­lichkeit die Notwendigkeit, die Gräber zu s­ chützen. Unter der Überschrift »Das polnische Colorado oder ›Der Goldrausch von Treblinka‹« ist zu lesen: Alle Arten von Plünderern und Marodeuren kommen in Scharen mit Schaufeln in der Hand hierher. Sie graben, suchen und plündern; sie sieben den Sand, ziehen Teile von halb verfaul­ ten Leichen und verstreuten Knochen aus der Erde in der Hoffnung, dass sie wenigstens auf eine Münze oder einen Goldzahn stoßen. Diese menschlichen Schakale und Hyänen bringen echte Granaten und Blindgänger mit. Sie bringen mehrere von ihnen auf einmal zur Explo­ sion und reißen riesige Krater in die geschändete, blutgetränkte Erde, die mit der Asche von Juden vermischt ist.24

Auch nach den ersten Denkmalsgestaltungen blieb die Friedhofsarchitektur unpersön­­lich. Aus Bełżec ist die Geschichte überliefert, dass diese Leerstelle als so schmerzhaft empfunden wurde, dass es zu einer privaten Initiative kam. Am zentralen Gedenkkubus war in den 1980er Jahren ein einziges, auf Porzellan gebranntes Foto einer jungen Frau angebracht – Gusta Weitzner.25 Sie war am 5. September 1942 in Bełżec ermordet worden, und ihre Tochter Łucja hatte das kleine Portrait anfertigen lassen. 2013 gelang es der Mitarbeiterin der Gedenk­ stätte, Ewa Koper, die Tochter ausfindig zu machen und nach den Gründen für diese einzigartige Initiative zu befragen. Koper berichtet: Sie konnte nicht ertragen, dass es für ihre ­Mutter kein Gedenken gab. Sie sagte mir, ihre ­Mutter habe sie angefleht, aus dem Zug zu springen. Die letzten Worte der ­Mutter an die Tochter waren: »Wenn du überlebst, dann erzähle nicht zu vielen Menschen von deinen Erfahrungen. Man wird dir nicht glauben.« Für die Tochter war dieser Ort hier ungeheuer wichtig – denn hier ist die Asche.26 24 Rachel Auerbach: Auf den Feldern von Treblinka. In: Frank Beer/Wolfgang Benz/ Barbara Distel (Hrsg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944 – 1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Dachau/Berlin 2014, S. 393 – 455, hier S. 447, 449. 25 Ewa Koper: Każda ofiara ma imię/Every Victim has a Name. Lublin 2014, S. 108 f.; Richard Z. Chesnoff: Pack of Thieves. How Hitler and Europe Plundered the Jews and Committed the Greatest Theft in History. London 2001, S. 208 ff. 26 Interview der Verfasser mit Ewa Koper, Bełżec, 18. September 2015.

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Volkhard Knigge hat in ­­diesem Zusammenhang von »realen und symbo­­lischen Friedhöfen« gesprochen, denen man an Orten wie Bełżec begegne.27 Dies bezieht sich aber erst auf die Anmutung nach einer entsprechenden Gestaltung. Die Geschichte der in diesem ­­ Band vorgestellten Orte beschreibt auch den langen Weg vom Tatort zum Friedhof. In der Regel sind es die ehemaligen Gefangenen oder die Angehörigen der Getöteten, ­welche die Tatorte zu Friedhöfen umwid­ men, indem sie dort einen Gedenkort schaffen, an dem sie sich zum Gedächtnis an ihre toten Kameraden oder Familien versammeln können. So wird aus der in der Erde versteckten Asche ein Aschegrab, ein Ort des Totengedenkens. Die Gestaltung macht allerdings Spuren auch unsichtbar oder verändert sie – der Besucher erlebt eine andere Form von Gegenwärtigkeit: Es sind nicht mehr die Knochensplitter, wie man sie bis heute in Sobibór offen an der Erdoberfläche sehen kann, sondern Denkmalsarchitekturen, die den zentralen Eindruck des Ortes vermitteln. Dabei müssen diese Gestaltungen immer zwei Aspekte in ihrer Repräsenta­­tion miteinander verbinden: die Geschichte des Ortes als Tatort und die Funk­­tion des Ortes als Friedhof. Es geht also darum, die konkreten histori­ schen Orte als Tat- und Leidensorte wiedererkennbar zu machen und zugleich ein würdevolles Trauern zu ermög­­lichen.28 Dies ist keine leichte Aufgabe, und es steht außer Zweifel, dass in dieser dop­ pelten Notwendigkeit auch Konfliktpotential liegt – Aufklärung und Informa­­tion über das Verbrechen einerseits und andererseits die Bemühung um eine würdige Ruhestätte der Überreste der Opfer lassen sich nicht ohne weiteres in Überein­ stimmung bringen. In verschiedenen politischen und ästhetischen Kontexten wurden denn auch ganz unterschied­­liche Lösungen vorgeschlagen. So zeigt etwa die Gedenkstätte Majdanek ein mehr oder weniger offenes Aschegrab unter einer großen, freistehenden Kuppel – die Besucher und der Hügel aus Asche, Sand und Knochensplittern sind dem Wetter ausgesetzt. Noch immer sind in Auschwitz menschliche Überreste Teil der Dauerausstellung: Das abgeschnittene Frauen­ haar hinter Glas gehört zu den großen Ikonen des Schreckens in der Musealisie­ rungsgeschichte der Shoah. Beide Praktiken verstoßen dabei in eklatanter Art und Weise gegen die Gebote des Judentums zur Totenruhe. Insofern sind diese beiden Beispiele als Versuch zu lesen, durch eine spezifische Ausstellungsstrate­ gie den Konflikt ­zwischen Würde und Informa­­tion aufzulösen. Die unmittelbare 27 Volkhard Knigge: Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland. In: ders./Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, S. 423 – 4 40, hier S. 430. 28 Vgl. ebd., S. 445 f.

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Gegenwärtigkeit der Asche der Opfer, so wie sie Gitta Sereny 1972 in Sobibór erlebte und wie dies bis heute jeder Besucher in Sobibór erfahren kann, ist in Treblinka, Bełżec, Chełmno oder Auschwitz nicht mög­­lich. Man kann dies als Verlust interpretieren und museal dagegen arbeiten – so wie dies in Auschwitz als Teil einer Überwältigungsstrategie geschieht. Das Beispiel Majdanek zeigt etwas anderes: Hier verschließt die Gestaltung des Geländes, trotz aller Monumenta­ lität, die Gräber nicht und schließt die Unmittelbarkeit der Erfahrung nicht aus. Der Preis allerdings ist hoch, denn die Mahnmalsarchitektur in Majdanek nimmt keine Rücksicht auf die Würde der Opfer.

Gedenken und Lernen Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die nicht bald in hohle Erin­ nerungsrituale verfallen will, benötigt Wissen. Neben der Sichtbarmachung der Spuren der historischen Tatorte und dem würdevollen Totengedenken an diesen Friedhöfen vermitteln Gedenkstätten deshalb auch Wissen über die Vergangen­ heit dieser Orte. Indem sich Gedenkstätten als diskursive Orte der Dokumenta­­ tion und Bildung verstehen, verbinden sie Andenken und Bildung.29 In Chełmno, Treblinka und Bełżec befinden sich Museen auf dem Gelände der Gedenkstätte, für Sobibór ist im Rahmen der Neugestaltung eine ähn­­liche Anordnung geplant. In Auschwitz und Majdanek wurden Ausstellungen in den verbliebenen Bau­ ten der Konzentra­­tionslager bereits unmittelbar nach Kriegsende gezeigt, und die Museen der beiden Gedenkstätten sind bis heute integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts. Es wäre also ein Leichtes, die kognitive Dimension eines Gedenk­ stättenbesuchs nun ausschließ­­lich ihren musealen Bereichen zuzuordnen: Lernen findet im Museum statt, das Gedenken auf dem Friedhof. Wie wir gesehen haben, lässt sich diese einfache Trennung an historischen Orten, die Tatorte sind und Friedhöfe wurden, überhaupt nicht aufrechterhalten, allein schon, weil sich die Bedeutung der Orte nicht ihren Ausstellungen verdankt, sondern dem, was an diesen Orten geschehen ist. Sicher­­lich käme niemand auf die Idee, zum Beispiel in Sobibór, also mitten im Wald und unmittelbar an der ukrainischen Grenze, ein großes historisches Museum zur euro­päischen Zeitgeschichte zu errichten. Die in ­­diesem Band vorgestellten Museen gibt es aber in erster Linie deshalb, weil die historischen Orte, denen sie gewidmet sind, sich nicht selbst erklären können. Insofern sind die musealen Dimensionen der Gedenkstätten auch eine Antwort

29 Ebd., S. 450.

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auf das auratische Missverständnis, Bedeutung oder gar Identität sei diesen Orten durch Geschichte gleichsam eingeschrieben.30 Es wäre jedoch eine irrige Annahme, dass sich der Besucherstrom allein dem Bedürfnis nach Informa­­tion und insofern den Ausstellungen der Gedenkstät­ ten verdankte. Und genauso abwegig wäre die Vermutung, man könne an den historischen Orten selbst nichts lernen. Nur: Was kann man durch den Besuch eines Ortes der Shoah eigent­­lich lernen, was nicht auch in der Fachliteratur, in Filmdokumenta­­tionen oder Ausstellungen angeboten wird? Die Erfahrungen, die Besucher in der Auseinandersetzung mit dem Ort und den historischen Überresten machen, mögen eine intensiv erlebte Erfahrung sein, sind jedoch kein authentisches Erleben der Vergangenheit. Vielmehr stehen sie in einem unmittelbaren Bezug zu den bereits bestehenden Vorstellungen von der Vergangenheit und sind somit selbst produzierte Konstrukte. Dennoch haben die historischen Orte eine wichtige Funk­­tion allein durch den Umstand, dass sie aufgrund ihrer Materialität eine ­solche Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auslösen. Zugleich sind die Assozia­­­tionen, Interpreta­­tionen und Emo­­tionen vom Einzelnen nicht steuerbar, sodass die unbeherrschbare Materia­ lität der Orte zu neuen Einsichten und Lerneffekten führen kann. Die Begegnung mit einem Ort der Shoah ist eine vielschichtige und intensive Erfahrung, wie Detlef Hoffmann schreibt: Das Territorium, auf dem die Menschen vor mehr als 50 Jahren zusammengetrieben, gequält und ermordet wurden, setzt den gesamten Körper der Besuchenden der Erfahrung eines Gebie­ tes aus, fordert ihm im Umgang mit den Relikten Distanz und Nähe ab, konfrontiert ihn mit seinen Phantasien.31

Diese kinästhetische Wahrnehmung des Ortes selbst konkretisiert dabei bereits vorhandenes Wissen auf sehr spezifische Weise. Dabei ist das Vorwissen immer der Ausgangspunkt und die stärkste Motiva­­tion für den Besuch, oder besser: das Aufsuchen der Gedenkstätte. Wieder ist als Ausgangspunkt der Begriff des Tat­ orts hilfreich: Durch die unmittelbare Anschauung kann der Tathergang plausi­ bel und intellektuell nachvollziehbar werden. Dazu sind zum Beispiel geo- und topografische Kontexte von Bedeutung – die Anbindung an das Schienennetz, die Abgeschiedenheit, die räum­­liche Anordnung der von den Deutschen errich­ teten Infrastrukturen machen Entfernungen und Abläufe konkret. Diese in erster

30 Siehe hierzu Siebeck: »Im Raume« (wie Anm. 7), S. 89. 31 Hoffmann: Gedächtnis der Dinge (wie Anm. 23), S. 10.

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Linie phy­­sische Erfahrung schafft ein bedeutendes Gegengewicht zur medial pro­ duzierten Virtualität der Orte, und sie leistet auch eine gewisse Entmystifizierung. Dabei kann es zu einem Moment der produktiven Überraschung kommen: Die ungeheure räum­­liche Ausdehnung von Auschwitz-­­Birkenau wird häufig in ­­diesem Zusammenhang genannt oder wie klein das Terrain der Massentötungsanlagen in Bełżec oder Sobibór war – und eben auch heute noch ist. Der Gewinn dabei ist ein doppelter: Zum einen kann so das distanzierende Diktum von der Unvorstellbarkeit der Verbrechen überwunden und zum anderen gleichzeitig an der heutigen und gegenwärtigen Anschauung der Orte Vorstellungsarbeit kritisch reflektiert werden. Gerade weil der Vorstellungsakt immer ein heutiger und naturgemäß subjektiver ist, kann hier der Schritt hin zu einer abstrakteren Nachvollziehung getan werden. Zur Antivirtualität der konkreten Orte gehört auch die Erkenntnis, dass diese keineswegs isoliert waren. Dies ist besonders augenfällig in Auschwitz oder M ­ ajdanek, da der urbane Zusammenhang besonders deut­­lich ist. Aber auch Chełmno und Bełżec sind Dörfer, die unmittelbar an die Tötungsanlagen heran­ reichten, und selbst in Treblinka und Sobibór gab es Nachbarn. Vor allem aber gab es überall eine Infrastruktur – Straßen, Wege, Gleise, Felder, Forstwirtschaft. Nichts könnte besser klarstellen, dass die Shoah kein Ereignis außerhalb unserer Kultur, sondern ganz im Gegenteil eines ihrer Produkte war. Eine weitere Lernerfahrung dreht sich um die Zeit. Wie bereits angedeutet, kann die eigene Nachvollziehung von Entfernungen und räum­­lichen Dimensio­ nen das Verständnis für zeit­­liche Abläufe und Funk­­tionsweisen der deutschen Massentötungsanlagen fördern, insbesondere für die ungeheure Geschwindigkeit, in der sich der Tötungsprozess vollzog. Auf einer anderen Ebene ist die Erfah­ rung von Zeit ebenfalls ein zentrales Erlebnis des Ortes selbst. Als Beispiel mag die Gedenkstätte in Sobibór dienen, deren Gelände heute durchgängig bewaldet ist – bis auf eine auffällige Ausnahme: die große Lichtung rund um den Grabkegel, den Gitta Sereny 1972 für den Standort des Tötungsgebäudes hielt. Zeugen berich­ teten in den 1960er und 1970er Jahren von den Geschehnissen im Winter 1943: Im Spätherbst 1943, nach dem Aufstand im Lager, trafen zwei bis drei Waggons mit Juden ein, die unter Aufsicht der Deutschen und der »Wachmänner« das Lager auflösten. Sie schlugen die Gebäude ab und brachten sie fort. Der Lagerzaun blieb erhalten, aber die Gaskammern wurden gesprengt und das Geröll weggefahren. Das Lagergelände wurde umgepflügt und geharkt, und ein Kiefernwald wurde gepflanzt.32

32 Zeugenaussage Jan Krzowski, Włodawa, 15. Januar 1968, zit. nach Bem/Mazurek: Sobibór (wie Anm. 17), S. 20 f.

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Dieser Wald, der heute das dominierende Merkmal des Gedenkstättengeländes ist und ganz wesent­­lich die Atmosphäre prägt, wurde also zur Tarnung und Ver­ schleierung des Tatorts angelegt und ist insofern eine wichtige Spur. Bestimmen damit also noch immer die Deutschen die Anmutung des Geländes? Ein weiterer Zeugenbericht differenziert das Bild: Die bei der Auflösung des Lagers eingesetzten Juden mussten in dem Bereich Bäume pflanzen, den sie zuvor planiert hatten. Ich weiß auch, dass die Juden die Löcher, die nach der Sprengung der Betonbauten im Lager im Boden zurückgeblieben waren, auffüllen und abdecken mussten. Ich weiß nicht, was mit den Juden geschehen ist, die das Lager auflösten, aber ich weiß, dass nie­ mand einen von ihnen das Lager hat verlassen sehen. Ich habe gehört, dass alle getötet wurden. 33

Der Kiefernwald ist also nicht nur ein Tarnwald, sondern auch ein sichtbares Denkmal für den Einsatz der letzten als Juden definierten Zwangsarbeiter, bevor sie getötet wurden. Wie lässt sich aber die Lichtung um die Aschegräber erklären, auf der, wie die archäolo­­gischen Arbeiten der letzten Jahre ergeben haben, nie ein Wald gewachsen ist? Auch hier waren nach dem Krieg Grabräuber am Werk, wie ein Zeuge berichtet: Ich war 15, und wir waren zu dritt, die dorthin gingen. Alle redeten davon, dass man dort nach Gold grub. […] Wir gingen vielleicht hundert Mal dorthin. Es waren ungefähr hun­ dert Leute da. Sie hatten auch Siebe […]. Sie schütteten Erde auf diese Siebe. Der Sand fiel durch, und Dinge aus Gold blieben auf dem Sieb zurück. Nicht weit von dort, wo heute das Museumsgebäude steht, etwas weiter nörd­­lich, war ein Loch […], zwei Meter tief. In ­­diesem Loch sitzt ein Mann. Er saß auf einer Art Kübel. Er hatte eine Schaufel, einen Löffel und einen Sack. Er benutzte den Löffel, um die Wände abzukratzen, so dass die Erde nach unten fiel und er sehen konnte, was dort war. Er kratzte und kratzte mit ­­diesem Löffel. Ich sah, wie eine Münze herunterfiel, aber sie war nicht aus Gold. Er grub sich durch zu einem Topf. Er nahm den Topf, klopfte auf den Boden. Es war ein Kupfertopf. Er wusste, wieviel Wert er war und steckte ihn in seinen Sack. […] Alles wurde mitgenommen. Und all dies geschah nach der Befreiung.34

Zusammen mit dem oben zitierten Bericht Rachel Auerbachs über den Zustand des Geländes in Treblinka im Herbst 1945 ergibt sich die Vermutung, dass auf den Aschegräbern in Sobibór keine Bäume gedeihen konnten, weil sie alle ausgerissen

33 Zeugenaussage Jan Piwoński, Lublin, 29. April 1975, zit. nach ebd., S. 21 f. 34 Interview Marek Bem mit Jan Doliński, Zbereże, 20. April 2011, zit. nach ebd., S. 24 f.

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und entfernt wurden – von den vielen Grabräubern nach Kriegsende. Im Rah­ men der Erstgestaltung als Gedenkstätte wurde die Lichtung dann frei gelassen und bis heute auch frei gehalten. Der Baumbestand in Sobibór macht also ganz unterschied­­liche Zeitschichten sichtbar, und er verdeut­­licht durch sein Wachs­ tum das Vergehen der Zeit selbst. Ebenfalls als zeitgebunden werden die verschiedenen Gestaltungen der Orte der Shoah erlebt. Die Unterschiede z­ wischen der monumentalen Architektur des Denkmals in Majdanek aus den späten 1960er Jahren und der Neugestal­ tung der Gedenkstätte in Bełżec vom Beginn des 21. Jahrhunderts sind auffällig und regen zu Vergleich und Reflexion der eigenen Erwartungen an. Insbeson­ dere herausgefordert ist hierbei die Sehnsucht des Besuchers nach Sinn: Bei der künstlerischen Gestaltung der Gedenkstätten kann es jedoch gerade nicht um Sinnstiftung gehen, sondern vielmehr darum, die Sinnlosigkeit d­ ieses monströsen Verbrechens vor Augen zu führen. Dies schafft keine Entlastung, und dennoch sind ästhetische Formen des Erinnerns mög­­lich, wenn sie die Unlösbarkeit eines sinnspendenden Gedenkens selbst zum ästhetischen Thema machen.35 Gedenk­ stätten repräsentieren gesellschaft­­liche Vorstellungen von der Vergangenheit und sind zugleich als geschichtskulturelle Akteure an der Produk­­tion von gesellschaft­­ lichen Geschichtsbildern beteiligt.36 Die Begegnung mit Orten der Shoah ist durch ihre Intensität, Vielschich­ tigkeit, Materialität und Konkretheit aber vor allem anderen die Gelegenheit, eigene Erwartungen, Wissensstände und Haltungen zu überprüfen. Die in ­­diesem Band vorgestellten Orte sind deshalb Lernorte für ein selbstreflexives Geschichts­ bewusstsein und eben keine Erlebnisräume für auratische Identitätserfahrungen. Gerade der Anstoß zur kritischen und gegenwartsbezogenen Selbstreflexion aber stellt wiederum neue Fragen: Wie können Gedenkstätten die Geschichte von Massentötungen und das Bedürfnis nach individuellem Gedenken in Einklang bringen? Wie kann den Angehörigen und Nachfahren der Opfer besondere Rücksicht erwiesen werden? Wie soll man sich zu den schmerzhaften Fragen der Kollabora­­tion und der Nachgeschichte der Orte verhalten, ohne die deutsche Ver­ antwortung damit zu relativieren? Wie kann angemessen auf die Tätergeschichte eingegangen werden? Und: Kann es angesichts der so unterschied­­lichen Perspek­ tiven und Erfahrungen die eine Erinnerung an die Shoah geben, die auch noch Basis für eine universelle Demokratie- und Menschenrechtsbildung ist? Daniel 35 Reinhart Koselleck: Formen und Tradi­­tionen des negativen Gedächtnisses. In: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, S. 21 – 32, hier S. 31 f. 36 Siebeck: »Im Raume« (wie Anm. 7), S. 91.

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Levy und Natan Sznaider etwa haben 2002 diese Frage bejaht und ihre affirma­ tive Antwort mit der Diagnose einer »Entterritorialisierung« der Erinnerung an den Holocaust im Z ­­ eichen einer Globalisierung euro­päischer Werte verbunden.37 Unverkennbar ebenfalls zeitgebunden war eine ­solche Erwartung um die Jahr­ tausendwende weniger befremd­­lich, als sie heute wirken mag. Dennoch waren bereits damals Gedenkstätten der Shoah Räume ganz unterschied­­licher Praktiken des Gedenkens und sehr verschiedener geschichtspolitischer und pädago­­gischer Konzepte. Vor allem aber waren sie nie entterritorialisiert – im Gegenteil: Orte der Shoah sind konkret und als geografische Orte Brennpunkte des Erinnerns, Trauerns, Gedenkens und Lernens. Der vorliegende Band verfolgt das Ziel, die unterschied­­lichen Zeitschich­ ten an ausgewählten Orten der Shoah in Polen sichtbar zu machen, und er will zum Nachdenken über den heutigen Umgang mit diesen Orten anregen. Die Beiträge zu Chełmno, Bełżec, Treblinka, Sobibór, Majdanek, Płaszów und ­Auschwitz folgen deshalb einer einheit­­lichen Konzep­­tion: Sie stellen zunächst die Geschichte der Tatorte und der dort begangenen Verbrechen dar, beleuch­ ten dann die unmittelbare Nachgeschichte und stellen schließ­­lich die heutigen Formen des Trauerns und Erinnerns an den jeweiligen Orten vor. Dabei wird deut­­lich: Die Geschichte dieser Orte weist in allen drei Phasen große Unter­ schiede auf. Der Band erhält darüber hinaus einige systematische Zugänge zu Th ­ emen, die sich in den Beiträgen zu den Orten wiederfinden, dort aber häufig nur kursorisch behandelt werden konnten. So widmet sich ein Beitrag dem Problem, wie wir über die Shoah heute sprechen und wie wir über sie – auch in d­­ iesem Band – sprechen wollen. Der Beitrag greift dabei das Unbehagen aller Autoren und Autorinnen auf, dass die Historiografie bis heute allzu leichtfertig die Begriffe der Täter benutzt und dabei unfreiwillig Perspektiven und Exkulpa­­tionsstrategien der Täter über­ nimmt. In ganz ähn­­licher Weise stellt sich das Problem bei der Verwendung von Fotografien in Ausstellungen zur Shoah: Auch hier hat der Rückgriff auf die Überlieferung der Täter den hohen Preis, die Sicht der Peiniger auf ihre Opfer zu reproduzieren. Nicht zuletzt deshalb widmet sich dem Thema »Widerstand« ein eigener Beitrag: Der wirkmächtigen Darstellung der Täter, die Massentötungen ­seien durch hinterhältige Täuschung angeb­­lich geordnet und reibungslos voll­ zogen worden, wird in den Einzelbeiträgen und hier an dieser Stelle noch einmal explizit widersprochen. 37 Daniel Levy/Natan Sznaider: Memory Unbound. The Holocaust and the Forma­­tion of Cosmopolitan Memory. In: European Journal of Social Theory 5 (2002) 1, S. 87 – 106, hier S. 100.

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Zwei Beiträge widmen sich den Besuchern der Gedenkstätten, da die heuti­ gen Gedenkstätten nicht nur entlang ihrer ästhetischen Gestaltung und musealen Wissensvermittlung beschrieben werden sollten. Eine empirische Untersuchung zur Wirkung eines Auschwitz-­­Besuchs auf deutsche Schüler und eine Studie zu den spezifischen Formen der israe­­lischen Erinnerungspraxis nähern sich auf zwei unterschied­­lichen Wegen der sozia­len Praxis an den Orten der Shoah. Der Band schließt mit einem Beitrag zu einem Problem, das sich allen Auto­ ren und Autorinnen als Schlüsselfrage gestellt hat: Auf ­welche Weise können wir uns heute den Orten der Shoah nähern und diese gestalten, ohne die Würde der Opfer abermals zu verletzen und zugleich unsere eigene Würde zu bewahren?

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Die Sprache der Shoah: Verschleierung – Pragmatismus – Euphemismus

Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Geschichtsschreibung selbst eine Geschichte besitzt. Eine bedeutende Rolle in dieser Geschichte der Geschichte spielt die Frage der Sprache, in der sich Historiker über den gewählten Gegenstand verständigen – auch sie ist zeitgebunden und spiegelt als sein zentrales Werkzeug Persön­­lichkeit, Interessen und wissenschaft­­liches Vorgehen des Historikers wider, der sie einsetzt, um Geschichte zu erzählen. Die Sprache der Historiografie ist also keine Frage des Stils, sondern eine substan­tielle Frage nach der Deutung der Vergangenheit selbst.1 Die Frage der Sprache stellt sich frei­­lich in besonderer Dring­­lichkeit beim Umgang mit der Geschichte der Shoah, die besondere Sensibilität und Respekt verlangt – nicht zuletzt als Ausdruck einer Würdigung der Opfer, ihrer Nachkommen und der vom Deutschen Reich besetzten Gebiete, in denen die Shoah von deutschen Dienst­ stellen in Gang gesetzt und durchgeführt wurde.2 Dieses Bewusstsein äußert sich in einem sehr produktiven und grundsätz­­lichen Reflexionsprozess über Fragen der Darstellbarkeit der Shoah, der allerdings den Akzent eher auf Erzählbarkei­ ten und narrative Strategien denn auf Begriffsgeschichte legt.3 Um Worte dagegen geht es in einem der bekanntesten Beispiele öffent­­licher Nachlässigkeit im sprach­­lichen Umgang mit der Shoah in jüngerer Zeit. Es ereig­ nete sich am 29. Mai 2012 im Weißen Haus in Washington. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Barack Obama, verlieh dem zwölf Jahre zuvor verstorbenen Jan Karski, dem berühmten Kurier z­ wischen dem Untergrundstaat im besetzten Polen und der Exilregierung in London, posthum die Presidential Medal of Freedom für seinen Bericht über den Genozid an der als jüdisch definier­ ten Bevölkerung in Polen, der die Regierung von General Władysław Sikorski im 1 Siehe hierzu Peter Burke: Die drei Sprachen der Metapher. In: Historische Anthropologie 14 (2006) 1, S. 1 – 10. – Zum Begriff Holocaust siehe etwa Ulrich Wyrwa: »Holocaust«. Notizen zur Begriffsgeschichte. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 8 (1999), S. 300 – 311. 2 Vgl. Saul Friedländer (Hrsg.): Probing the Limits of Representa­­tion. Nazism and the »Final Solu­­tion«. Cambridge/London 1992. 3 Siehe hierzu grundlegend die Beiträge in Norbert Frei/Wulf Kansteiner (Hrsg.): Den Holocaust erzählen. Historiographie z­ wischen wissenschaft­­licher Empirie und narrativer Krea­ tivität. Göttingen 2013.

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Sommer 1942 erreicht hatte.4 Der Präsident würdigte Karski als einen Helden, er verwies auf dessen gefähr­­liche Tätigkeit als Kurier und fuhr fort: »Before one trip across enemy lines, resistance fighters told him that Jews were being murdered on a massive scale, and smuggled him into the Warsaw Ghetto and a Polish death camp to see for himself.« 5 Die Empörung und Enttäuschung auf polnischer Seite waren groß: »Polnische Todeslager« hatte es im besetzen Polen nicht gegeben. Der damalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk erklärte mit großer Schärfe, die Verwendung die­ ser Worte lasse »Ignoranz, Mangel an Wissen und böse Absichten« erkennen.6 Diese Reak­­tion lässt sich nur im Kontext der sehr komplexen, langwierigen und schmerzhaften innerpolnischen Debatten über Formen und Ausmaß der Koopera­­ tion der polnischen Bevölkerung mit den deutschen Besatzern erklären und gewiss nicht mit einer bösen Absicht Obamas.7 Die Episode verdeut­­licht allerdings sehr genau, ­welche Gefahren sprach­­licher Pragmatismus und das angenommene Ein­ verständnis von Sprecher und Zuhörern, alle wüssten schließ­­lich, was gemeint sei, in sich birgt. Wäre es so viel umständ­­licher gewesen, etwa von »deutschen Todeslagern im besetzten Polen« zu sprechen?8 Regelrecht zum Opfer seiner eigenen Sprache wurde Philipp Jenninger, der als Präsident des Deutschen Bundestags 1988 nach einer als missglückt empfundenen Rede zum 9. November zurücktreten musste. Als Redner nur mittelmäßig begabt, zitierte er ausführ­­lich Begriffe und Formulierungen der Tätersprache, ohne dies

4 Zu Karski (1914 – 2000) siehe in erster Linie dessen eigenen, teilweise fik­­tionalen und erst­ mals 1944 in den Vereinigten Staaten veröffent­­lichten Bericht: Jan Karski: Story of a Secret State. My Report to the World. London 2012. – Eine wertvolle Ergänzung, die manche Fik­­ tionalisierung korrigiert und auch unvermeid­­liche Erinnerungslücken Karskis schließt, ist Stanisław M. Jankowski/E. Thomas Wood: Karski. How One Man Tried to Stop the Holocaust. Lubbock/East Stroudsburg 2014. – Die Person Karski mehr in den Vordergrund stellend: Marta Kijowska: Das Leben des Jan Karski. Kurier der Erinnerung. München 2014. 5 Zit. nach Jankowski/Wood: Karski (wie Anm. 4), S. 243. 6 Mark Landler: Polish Premier Denounces Obama for Referring to a »Polish Death Camp«. In: The New York Times vom 30. Mai 2012, URL: http://www.nytimes.com/2012/05/31/ world/europe/poland-­­bristles-­­as-­­obama-­­says-­­polish-­­death-­­camps.html?_r=0, letzter Zugriff: 20. 05. 2016. 7 Siehe hierzu John Connelly: The Noble and the Base. Poland and the Holocaust. In: Cultures of History Forum vom 24. November 2012, URL: http://www.thena­­tion.com/article/ noble-­­and-­­base-­­poland-­­and-­­holocaust/, letzter Zugriff: 23. 05. 2016. 8 Das polnische Außenministerium weist regelmäßig auf ähn­­liche Begriffsbildungen vor allem in nichtpolnischen Medien hin, fordert Korrekturen und dokumentiert diese auf seiner Web­ site, URL: http://www.msz.gov.pl/en/foreign_policy/against_polish_camps/, letzter Zugriff 12. 05. 2016.

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und seine entlarvende Sprechabsicht rhetorisch kennzeichnen zu können.9 Die gute Absicht allein und das angenommene Einverständnis über den Gegenstand der Rede sind also keine hinreichende Grundlage für ein sicheres Navigieren durch die sprach­­lichen Konven­­tionen, die sich seit mehr als siebzig Jahren im Umgang mit der Shoah herausgebildet haben. Aber: Obama und Jenninger sind Politiker und keine Historiker. Beide Beispiele zeigen zwar, dass die Frage des sprach­­lichen Umgangs mit der Shoah keineswegs nur eine Schwierigkeit für die Geschichts­ wissenschaft ist. Ihr kommt jedoch als Schrittmacher für eine gesellschaft­­liche Verständigung über die Shoah eine besondere Verantwortung zu, gerade weil das Thema medial allgegenwärtig ist. Dieser Aufsatz nähert sich dem Problem des sprach­­lichen Umgangs mit der Shoah auf zwei Ebenen: Zum einen soll die Begriffsbildung der Historiografie mittels ausgewählter Beispiele zumindest in Ansätzen rekonstruiert und zum anderen die Mög­­lichkeit einer alternativen Terminologie wenigstens angedeutet werden. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird ganz ausdrück­­lich nicht erhoben. Vielmehr geht es darum, ein verbreitetes Unwohlsein an der sprach­­lichen Ausein­ andersetzung mit der Shoah im Sinne einer Befragung unserer Gewohnheiten produktiv zu machen.

Die Defini­tion des Anderen: »Juden« Sprache ist nicht nur ein Mittel, sich heute über die Shoah zu verständigen, son­ dern sie spielte auch eine bedeutende Rolle in deren Vorbereitung, Ingangsetzung und Durchführung. Dies geschah zunächst in der politisch gezielten, institu­­tionell über Propagandaministerium und Reichssippenamt betriebenen und über die Massenmedien verbreiteten Veränderung des Sprachgebrauchs im Deutschen Reich: Ziel war die Konstruk­­tion einer Differenz ­zwischen »den Deutschen« einerseits und »den Juden« andererseits.10 Hatte es 1928 noch »deutsch-­­jüdische Beamte« oder ein »deutsches Judentum« gegeben, sprach bereits im April 1933 – also nur zwei Monate nach der Machtübertragung an die Na­­tionalsozia­ listen – die Nachrichtenagentur Wolffsches Telegraphen-­­Büro nur noch von »jüdischen Beamten« und dem »Judentum in Deutschland«. Impliziert war 9 Siehe hierzu Wolfgang Benz: Missglücktes Gedenken. Die Rede Philipp Jenningers im Deut­ schen Bundestag am 10. November 1988. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013) 11, S. 906 – 919. 10 Thomas Pegelow Kaplan: The Language of Nazi Genocide. Linguistic Violence and the Struggle of Germans of Jewish Ancestry. Cambridge/New York 2011, S. 5 f., 59.

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in dieser Sprachregelung, dass jüdische Bürger des Deutschen Reiches zu einer anderen, nichtdeutschen Gemeinschaft gehörten, sich aber in Deutschland auf­ hielten, ohne jedoch Teil der von den Na­­tionalsozia­listen rassistisch definierten Volksgemeinschaft zu sein.11 Bereits Victor Klemperer hat 1946 auf die fundamental ausgrenzende Funk­­tion der Sprache hingewiesen. Unter dem Begriff »Juden« würden sie »als Volk der Juden, als die jüdische Rasse« oder als »die Weltjuden oder das interna­­tionale Judentum« beschrieben, wichtig daran aber sei vor allem die dahinter stehende Absicht, »sie ganz und unüberbrückbar vom Deutschtum abzusondern«.12 Ohne diese Ausgrenzung hätte auch ein zweiter, entscheidender Schritt in Richtung Shoah keinen Erfolg haben können – näm­­lich die Konstruk­­tion einer Bedrohung »der Deutschen« durch »die Juden«, mit der in atemberaubender Umkehrung der wirk­­lichen Verhältnisse sogar der Zweite Weltkrieg als Verteidigung gegen »die Juden« dargestellt wurde.13 Klemperer rekonstruiert die ideolo­­gischen Denkmuster so: Geboren aber ist diese jüdische Mordgier im tiefsten […] aus eingeborenem Instinkt, aus »abgrundtiefem Haß« der jüdischen Rasse gegen die nordischgermanische. […] Gegen ein­ geborenen Haß gibt es keine andere Sicherheit als die Beseitigung des Hassenden: also gelangt man folgerichtig von der Stabilisierung des Rassenantisemitismus zur Notwendigkeit der Judenausrottung.14

Es lässt sich demnach leicht nachvollziehen, was die Na­­tionalsozia­listen unter dem Begriff »Jude« verstanden und zu welchem Zweck sie ihn einsetzten. Verschärft wird diese Problemlage zusätz­­lich durch die rassistische Gesetzgebung von 1935, die sogenannten Nürnberger Gesetze, da durch sie der Antisemitismus besonders nachhaltig in das Normengerüst und damit die Herrschaftsabläufe eines modernen Staates integriert wurde.15 Bei dieser normativen Begriffsbildung durch die Täter handelte es sich eindeutig um eine Zuschreibung, wie Dirk Rupnow angemerkt hat:

11 Ebd., S. 63 f. – Siehe hierzu Frank Bajohr/Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Na­­tionalsozia­lismus. Frankfurt a. M. 2009; Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und na­­tionaler Sozia­lismus. Frankfurt a. M. 2005. 12 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Stuttgart 2007, S. 239. 13 Ebd., S. 237. 14 Ebd., S. 236. 15 Siehe hierzu Karl A. Schleunes (Hrsg.): Legislating the Holocaust. Boulder 2001; ­Cornelia Essner: Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933 – 1945. Paderborn 2002.

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Die Täter definierten als »jüdisch«, wen und was sie ausschließen und auslöschen wollten. Das Selbstverständnis ihrer Opfer war in ­­diesem Zusammenhang nicht entscheidend, sie konnten sich durch andere Identitäten weder der Verfolgung, noch der Ermordung entziehen.16

Umso problematischer ist aus diesem ­­ Grund auch die Verwendung des Begriffs »Jude« in der Forschungsliteratur. Sie selbst liefert gelegent­­lich unfreiwillig und unabsicht­­lich den Beweis für die ungeheure Wirkungsmacht der von den Na­­tionalsozia­listen gesetzten Begriffe und Konzepte, die einem unbefangenen Blick nach wie vor im Wege stehen können. Ein Beispiel dafür findet sich etwa in Patrick Montagues verdienstvoller Pio­ nierleistung der ersten Gesamtdarstellung der Geschichte der Massentötungen in Chełmno nad Nerem, von den Deutschen Kulmhof genannt. Als dort im April 1943 die erste Phase der Tötungen endete und das dafür genutzte Gutshaus im Ort gesprengt und abgerissen wurde, fanden die Anwohner nach dem Abrücken der Deutschen in den Ruinen Gegenstände mit einer christ­­lichen Bedeutung: »Bilder, Kruzifixe, Rosenkränze und Medaillons«.17 Montague interpretiert diese Funde als Beweis dafür, dass auch Polen in Chełmno getötet wurden. Sicher ist dies nicht falsch, aber dennoch ein eingeengter Blick auf den Befund, denn er lässt eine alternative Interpreta­­tionsmög­­lichkeit außer Acht: Die Gegenstände hätten genauso gut Menschen gehört haben können, die ledig­­lich von den Deutschen als »Juden« gesehen wurden, sich selbst aber als »Christen« verstanden. Genau an dieser Stelle wird auch der Unterschied ­zwischen der Fremdzuschreibung einer jüdischen Identität und der mög­­licherweise vollkommen davon abweichenden Selbstbeschreibung der Opfer sichtbar. Anders verhält es sich in der Begriffsbildung zweier neuerer Werke zur Shoah. Sara Berger wendet sich auf den letzten zwei Seiten der Einleitung ihrer Unter­ suchung Experten der Vernichtung explizit den Schwierigkeiten einer angemesse­ nen sprach­­lichen Darstellung zu.18 Dem Problem ist sie sich dabei vollkommen bewusst, näm­­lich dass »die Nutzung der Begriffe aus der Tätersprache immer die Gefahr einer Legitima­­tion in sich birgt«.19 Dennoch tut sie genau dies, und zwar mit der Begründung, ihre Arbeit befasse sich in erster Linie mit den Tätern,

16 Dirk Rupnow: Aporien des Gedenkens. Reflexionen über »Holocaust« und Erinnerung. Freiburg/Berlin 2006, S. 117. 17 Patrick Montague: Chełmno and the Holocaust. The History of Hitler’s First Death Camp. Chapel Hill 2012, S. 145. 18 Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-­­Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg 2013, S. 22 f. 19 Ebd., S. 22.

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sodass auch die Übernahme ihrer Begriff­­lichkeiten unvermeid­­lich sei.20 Als Mit­ tel der Distanzierung wählt sie die Anführungszeichen, etwa bei den Begriffen »Arbeitsjuden, Ak­­tion Reinhardt, Euthanasie«.21 Berger weiß auch um die Pro­ blematik der kontrastierenden Selbst- und Fremdzuschreibungen beim Begriff »Juden«, versieht diesen jedoch nicht mit Anführungszeichen und übernimmt damit letzt­­lich die na­­tionalsozia­listische Defini­­tion. Insgesamt handelt es sich also um einen inkonsequenten Ansatz, der keinen Versuch unternimmt, geeignetere Formen des sprach­­lichen Umgangs mit der Shoah zu erkunden. Äußerst kritisch setzt sich auch Annika Wienert in ihrem Buch Das Lager vorstellen mit Bergers Haltung zum sprach­­lichen Umgang mit der Shoah auseinander, denn sie erklärt sie schlicht für »unzulässig«, weil die funk­­tionale Behandlung etwa von Zwangsarbeitern durch die Täter damit in Forschungsliteratur und Gegenwart fortgeschrieben werde.22 Eine Distanzierung von der na­­tionalsozia­ listischen Defini­­tion der »Juden« vollzieht Wienert jedoch nicht. Stattdessen lehnt sie das generische Maskulinum ab und spricht konsequent von »Juden und Jüdinnen«, sofern keine eindeutige Zugehörigkeit nachweisbar ist.23 Ungeachtet der grundsätz­­lichen Richtigkeit, die häufig missachtete weib­­liche Erfahrung auch der Shoah sprach­­lich ins Bewusstsein zu rufen, stellt sich an dieser Stelle den­ noch die Frage, was für die Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand dadurch eigent­­lich gewonnen ist. Wäre es nicht ausreichend und treffender, von »Männern, Frauen und Kindern« zu sprechen? Polemisch gesagt werden durch die Formulierung »Juden und Jüdinnen« ledig­­lich die Nürnberger Gesetze gegendert, ihr rassistischer Kern sprach­­lich jedoch nicht angetastet.

»Vernichtungslager« Ein weit verbreiteter und bei näherer Betrachtung verstörender Zentralbegriff in der sprach­­lichen Auseinandersetzung mit der Shoah ist das Wort »Vernichtungs­ lager«. Erst in den letzten Jahren ist eine gewisse Distanz zu diesem ­­ Begriff zu beobachten, der Einrichtungen beschreibt, die in der Formulierung des Handbuch des Antisemitismus von Wolfgang Benz und Barbara Distel »ausschließ­­lich den Zweck [hatten], Juden aus den besetzten Ländern Europas unmittelbar nach 20 Ebd. 21 Ebd., S. 9. 22 Annika Wienert: Das Lager vorstellen. Die Architektur der na­­tionalsozia­listischen Ver­ nichtungslager. Berlin 2015, S. 19. 23 Ebd., S. 7.

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ihrer Deporta­­tion zu ermorden«.24 Zumindest eine Dimension des terminolo­­ gischen Problems wird an gleicher Stelle ebenso lakonisch wie klar benannt: »Ihr Zweck war zu keinem Zeitpunkt Aufenthalt, weshalb der Begriff ›Lager‹ ein Euphemismus ist.« 25 Wie etwa auch Wienert diagnostiziert, bleibt diese Ein­ sicht jedoch folgenlos.26 Letzt­­lich ist die eingenommene Perspektive entscheidend: Aus Sicht der Deutschen waren etwa Bełżec, Sobibór und Treblinka tatsäch­­lich Lager. Auf kurze Dauer angelegt und zum Zweck der genozidalen Massentötung genutzt, schlugen deutsche Einheiten an diesen Orten tatsäch­­lich so etwas wie ihre Lager auf. Nach Durchführung der Massentötungen wurden die Lager wieder abge­ baut.27 Grundlage der Verwendung des Begriffes ist aber die Etabliertheit und Gebräuch­­lichkeit des Begriffs an sich.28 Festhalten lässt sich, dass »Lager« zu einer Art Universalbegriff geworden ist, der viele verschiedene Einrichtungen des deutschen Repressions-, Ausbeutungs- und Tötungssystems in Deutsch­ land und im besetzen Europa recht ungenau benennt. Dabei ist die Erfor­ schung der verzweigten Verästelungen von Lagertypen und -zwecken jenseits der sogenannten Konzentra­­tionslager noch nicht abgeschlossen.29 Problematisch ist dies insbesondere dann, wenn im Falle des Begriffs »Vernichtungslager« dadurch auch eine historische Entwicklungslinie suggeriert wird, die einen engen Zusammenhang ­zwischen den Konzentra­­tionslagern in Deutschland und den Orten der Massentötungen im von Deutschland besetzten Polen nahelegt. Dabei hat die Forschung herausgearbeitet, dass die Kontinuitätsbeziehungen

24 Angelika Königseder: Vernichtungslager. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3: Begriffe, Theo­ rien, Ideologien. Berlin 2010, S. 332 – 334, hier S. 332. – Siehe auch Detlef Hoffmann: Fotografierte Lager. Überlegungen zu einer Fotogeschichte deutscher Konzentra­­tionslager. In: Fotogeschichte 14 (1994) 54, S. 3 – 20, hier S. 11; Karin Orth: Das System der na­­tionalsozia­ listischen Konzentra­­tionslager. Eine politische Organisa­­tionsgeschichte. Hamburg 1999, S. 199, Fn. 133. 25 Königseder: Vernichtungslager (wie Anm. 24). 26 Wienert: Lager vorstellen (wie Anm. 22), S. 15 f. 27 Nur für Sobibór ist das Projekt einer Umnutzung des Geländes überliefert, das jedoch nicht realisiert wurde. Siehe hierzu Berger: Experten (wie Anm. 18), S. 277. 28 Dies räumt auch Wienert: Lager vorstellen (wie Anm. 22), S. 16 ein. 29 Wolfgang Benz: NS-Zwangslager und KZ-System. Eine Einführung. In: ders./Barbara Distel/Angelika Königseder (Hrsg.): Na­­tionalsozia­listische Zwangslager. Strukturen und Regionen, Täter und Opfer. Dachau/Berlin 2011, S. 13 – 19, hier S. 13. – Siehe die vollständige Erfassung des KZ-Systems und die Beschreibung auch der sogenannten Vernichtungslager unter d­­ iesem Gesamtbegriff in ders./Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, 9 Bde. München 2005  –  2009.

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von den NS -Krankenmorden durch Giftgas hin zur vollständigen Ausrottung der als jüdisch definierten Bevölkerung im gesamten deutschen Machtbereich verliefen.30 Diese Forschungsergebnisse werden im Begriff »Vernichtungs­lager« nicht berücksichtigt. Schwieriger ist die zweite Dimension des Begriffs: Vernichtung. Hier handelt es sich nicht um eine Beschreibung, sondern um eine Deutung. Auch der deutsche Wikipedia-­­Eintrag Vernichtungslager und damit für die breitere Öffent­­lichkeit eine wichtige Informa­­tionsquelle erkennt diesen Zusammenhang: Die Benennung von Lagern als Vernichtungslager geschah ­später in Strafprozessen und in der Geschichtswissenschaft und dient der Beschreibung der Bestimmung. Um den untrennbaren Zusammenhang dieser speziellen Lager mit der Endlösung der Judenfrage hervorzuheben, wird dafür bereits seit mehreren Jahren der Begriff Vernichtungslager verwendet.31

Richtig ist zwar, dass »Vernichtungslager« keine Vokabel der Tätersprache war, die Annahme jedoch, es handele sich um eine Begriffsbildung der Nach­ kriegszeit, ist unzutreffend. Bereits im Dezember 1942, also auf dem Höhepunkt der Massentötungen von als Juden definierten Menschen im besetzten Polen, veröffent­­lichte die polnische Exilregierung eine eng­­lischsprachige Broschüre mit dem Titel The Mass Extermina­­tion of Jews in German Occupied Poland.32 Über die Strukturen des Untergrundstaats in Polen und unter anderem durch Kuriere wie Jan Karski 33 informiert, stellte der polnische Außenminister Graf Edward Raczyński bereits in den ersten Absätzen seiner Note klar, was mit »extermina­­tion« gemeint sei: 30 Siehe hierzu den Beitrag von Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz zu Bełżec in diesem ­­ Band, mit weiterer Literatur. 31 Art. »Vernichtungslager«. In: Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Vernichtungs­ lager, letzter Zugriff: 08. 10. 2015. 32 Polish Ministry of Foreign Affairs: The Mass Extermina­­tion of Jews in German Occupied Poland. Note Addressed to the Governments of the United Na­­tions on December 10th, 1942, and other Documents. London 1942. – Zum Handlungsspielraum der polnischen Exilregierung, der Bedeutung und der Rolle Polens in der Anti-­­Hitler-­­Koali­­tion während des Zweiten Weltkriegs siehe Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 234 – 252. 33 Zu Karski siehe Anm. 4. – Im Sommer 1942 erreichten nicht nur die polnische Exilregierung, sondern auch die schwedische Regierung Berichte über die Shoah im besetzten Polen, die ebenfalls die Ausrottungsabsicht hervorhoben. Siehe hierzu Józef Lewandowski: Early Swedish Informa­­tion about the Nazis’ Mass Murder of the Jews. In: Antony Polonsky (Hrsg.): Focusing on the Holocaust and its Aftermath (= Polin: Studies in Polish Jewry, 13). London/Portland 2000, S. 113 – 127.

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The new methods of mass slaughter applied during the last few months confirm the fact that the German authorities aim with systematic delibera­­tion at the total extermina­­tion of the Jewish popula­­tion of Poland and of the many thousands of Jews whom the German autho­ rities have deported to Poland from Western and Central European countries and from the German Reich itself.34

Die neuen Methoden des Massenmords, so Raczyński, s­ eien ledig­­lich der Beweis für die systematisch geplante und vollständige Vernichtung der als jüdisch defi­ nierten Bevölkerung nicht nur Polens – also nicht Massenmorde s­ eien das eigent­­ lich Neuartige, sondern die dahinterstehende Absicht, eine Bevölkerungsgruppe in ihrer Gesamtheit mittels einer Serie von solchen Massentötungen phy­­sisch auszulöschen. Die euro­päische Dimension der rassistischen deutschen Tötungs­ politik wird in ­­diesem Dokument klar benannt, wie auch der Radikalisierungs­ zusammenhang mit dem Kriegsverlauf: The outbreak of war between Germany and Soviet Russia and the occupa­­tion of the Eastern areas of Poland by German troops considerably increased the number of Jews in Germany’s power. At the same time the mass murders of Jews reached such dimensions that, at first, people refused to give credence to the reports reaching Warsaw from the Eastern provinces. The reports, however, were confirmed again and again by reliable witnesses. […] At first, the execu­­tions were carried out by shooting; subsequently, however, it is reported that the Germans applied new methods, such as poison gas […].35

Vollkommen zutreffend wird hier seitens der Exilregierung festgestellt, dass die Mas­ senerschießungen von anderen Tötungsmethoden ergänzt und abgelöst wurden – unter anderem durch Giftgas. Die entscheidende Passage benennt nun Treblinka, Bełżec und Sobibór als Standorte für »Vernichtungslager« explizit: The actual process of deporta­­tion was carried out with appalling brutality. […] Wives were torn from their husbands and children from their parents. […] After the contingent was assembled, the people were packed forcibly into cattle trucks to the number of 120 in each truck which had room for forty. The trucks were then locked and sealed. The Jews were suffocating for lack of air. The floors of the trucks were covered with quicklime and chlorine. As far as is known, the trains were despatched [sic] to three localities – Tremblinka [sic], Belzec [sic] and Sobibor [sic], to what the reports describe as »Extermina­­tion camps.« The very method of transport

34 Polish Ministry of Foreign Affairs: Mass Extermina­­tion (wie Anm. 32), S. 4. 35 Ebd., S. 6.

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was deliberately calculated to cause the largest possible number of casualties among the con­ demned Jews. It is reported that on arrival in camp the survivors were stripped naked and kil­ led by various means, including poison gas and electrocu­­tion. The dead were interred in mass graves dug by machinery.36

An diesem ­­ Abschnitt sind gleich mehrere Aspekte bemerkenswert. Zum einen fällt die Beschreibung der Deporta­­tionen als extrem gewalthaft auf und zum anderen bezieht sich der polnische Außenminister explizit auf »Berichte«, die Treblinka (in interessanter Falschschreibung »Tremblinka«), Bełżec und Sobibór selbst als »Vernichtungslager« beschrieben. Es ist frei­­lich keine Überraschung, dass ausgerechnet der polnischen Exilregierung die Aufgabe zufiel, die ihr vorlie­ genden Berichte über die Shoah der Weltöffent­­lichkeit bekanntzugeben – fand das Verbrechen doch in dem Land statt, das sie, bis zum Sommer 1945 von den Alliierten anerkannt, völkerrecht­­lich vertrat. Die in der Broschüre des Außenministeriums versammelten Texte sind bis­ her aber vor allem im Kontext der Frage diskutiert worden, wer wann Kenntnis von der Ermordung der euro­päischen Juden hatte.37 Ebenfalls Gegenstand histo­ riografischen Interesses sind der Ort dieser Dokumente und die Rolle der Exil­ regierung in der Beziehungsgeschichte ­zwischen Christen und Juden in Polen. Einzelne Formulierungen in den verschiedenen Texten der Broschüre lassen die Schwierigkeiten dieser Beziehung durchaus erahnen. Ungeachtet der auch in der Exilregierung unabweisbar vorhandenen antisemitischen Überzeugungen ist die eigent­­liche Leistung, insbesondere der Note an die alliierten Regierungen, jedoch eine ganz andere: Die Darstellung der Shoah erschöpft sich hier eben nicht in einer quantitativen Beschreibung, sondern sie deutet das Geschehen. Diese Deutung am Ende des Jahres 1942 ist nicht nur verblüffend zutreffend, sondern schlägt sich auch in der Begriffsbildung nieder. Es ist im Rückblick wohl eines der größ­ ten Verdienste der polnischen Exilregierung und des Untergrunds im besetzten Land selbst, das Morden in seiner politischen Prozesshaftigkeit verstanden und begriff­­lich gefasst zu haben. Weder die Täter, die ihren Taten keine Namen geben wollten, noch ihre Opfer, die dies nicht aus einer übergreifenden Perspektive tun konnten, kamen dafür in Frage. Hier liegt das Potential des zeitgenös­­sischen Beobachters, des Zeugen.

36 Ebd., S. 8 f. 37 Siehe etwa Michael Fleming: Auschwitz, the Allies and Censorship of the Holocaust. Cam­ bridge 2014, S. 113; Frank Bajohr/Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten. München 2006, S. 93.

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Einen anderen Weg schlug die sowjetische Seite ein, deren Bemühungen um eine Begriffsbildung in ganz besonderem Maße von politischen Erwägungen geprägt waren. Bereits kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion hatte Stalin den besonderen, näm­­lich den Vernichtungscharakter d­ ieses Krieges erkannt und auch öffent­­lich benannt. Er sagte am 6. November 1941: »Die deutschen Invaso­ ren wollen einen Vernichtungskrieg mit den Völkern der UdSSR. Nun, wenn die Deutschen einen Vernichtungskrieg wollen, dann werden sie einen Vernichtungs­ krieg bekommen.« 38 An dieser Grundformel hielt die sowjetische Führung weit über das Kriegsende oder auch den Tod Stalins 1953 fest. Zwischen August 1941 und August 1943 allerdings war die antisemitische deutsche Tötungspolitik in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten der Sowjetunion durchaus Thema in der sowjetischen Presse.39 Dies ist jedoch eher als ein bewusst gewährter Frei­ raum zu interpretieren, denn die offiziellen Verlautbarungen der sowjetischen Regierung bemühten sich auch während dieser etwas liberaleren Periode, den Genozid an der als jüdisch definierten Bevölkerung in eine breitere, sowjetische Kriegserzählung zu integrieren und dementsprechend herunterzuspielen.40 Dies galt auch für die Arbeit der zahlreichen Untersuchungskommissionen zu deut­ schen Kriegsverbrechen, deren Berichte alle in Moskau massiv in ­­diesem Sinne redigiert wurden.41 Am 19. Dezember 1942 reagierte denn auch das sowjetische Außenministerium auf die oben zitierte Note der polnischen Exilregierung. Dort hieß es, die »überwältigende Mehrheit der Opfer« ­seien Russen, Ukrainer und Weißrussen, wobei die Verluste der »jüdischen Minderheit« angesichts deren 38 Iosif Vissarionovič Stalin: War Speeches, Orders of the Day and Answers to Foreign Press Correspondents During the Great Patriotic War: July 3rd, 1941–June 22nd, 1945. London u. a. 1945, S. 20; Timothy Snyder: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. London 2011, S. 226. 39 Heinz-­­Dietrich Löwe: The Holocaust in the Soviet Press. In: Frank Grüner/Urs ­Heftrich/Heinz-­­Dietrich Löwe (Hrsg.): »Zerstörer des Schweigens«. Formen künstle­ rischer Erinnerung an die na­­tionalsozia­listische Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 33 – 55, hier S. 38 ff. – In eine ähn­­liche Richtung argumentiert Karel C. Berkhoff: »Total Annihila­­tion of the Jewish Popula­­tion«. The Holocaust in the Soviet Media. In: Michael David-­­Fox/Peter Holquist/Alexander M. Martin (Hrsg.): The Holocaust in the East. Local Perpetrators and Soviet Responses. Pittsburgh 2014, S. 83 – 117. 40 Andreas Hilger: »Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf ?« Die Bestrafung deutscher Kriegs- und Gewaltverbrecher in der Sowjetunion und der SBZ/DDR. In: Norbert Frei (Hrsg.): Transna­­tionale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006, S. 180 – 246, hier S. 184. 41 Marina Sorokina: People and Procedures. Toward a History of the Investiga­­tion of Nazi Crimes in the USSR. In: Michael David-­­Fox/Peter Holquist/Alexander M. ­M artin (Hrsg.): The Holocaust in the East. Local Perpetrators and Soviet Responses. Pittsburgh 2014, S. 118 – 141, hier S. 140.

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geringen Anteils an der sowjetischen Bevölkerung insgesamt besonders schwer s­ eien.42 Auch in den weltweit ersten Prozessen um deutsche Kriegsverbrechen in Krasnodar 1943 waren Massentötungen zwar ein zentrales Thema, deren antisemi­ tische Zielrichtung jedoch nicht.43 Ähn­­lich verhielt es sich mit einem zweiten Pro­ zess im selben Jahr in Charkow.44 Als die sowjetischen Truppen am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichten, gab der sowjetische Außenminister Vjačeslav ­Michajlovič Molotov selbst die Sprachregelung vor: »Fried­­liche sowjetische Bürger« ­seien Ziel der deutschen Tötungspolitik gewesen. Obwohl die Truppeneinheit vor Ort in der Meldung an das Hauptquartier der 60. Armee durchgab, die Aufgabe von Auschwitz sei gewesen, »sieben Millionen Polen und alle Juden Europas zu ver­ nichten«, wurde die Formulierung für den Bericht nach Moskau geändert. Jetzt hieß es: »Auschwitz ist ein Todeslager für alle slawischen Völker.« 45 Die deutschen Massentötungsanlagen werden in sowjetischen Veröffent­­ lichungen Todeslager genannt, wie etwa in einer k­ urzen sowjetischen Doku­ mentensammlung zu deutschen Verbrechen auf dem Gebiet der weißrus­­sischen Unionsrepublik, die bereits 1944 in Moskau erschien und den Titel Lageri smerti trägt – wört­­lich übersetzt: Lager des Todes.46 Ebenso eindeutig ist die Begriffs­ bildung der gemischten polnisch-­­sowjetischen Kommission, die das Konzentra­­ tionslager Majdanek in Lublin nach der Eroberung der Stadt durch die Rote Armee am 4. Juli 1944 untersuchte und sich bereits im September 1944 über die sowjetische Zeitung Izvestija (Nachrichten) an die Öffent­­lichkeit wandte: Hier wird explizit von »Vernichtungslager« gesprochen und mittels phonetischer 42 Löwe: Soviet Press (wie Anm. 39), S. 39. 43 Siehe hierzu mit weiterer Literatur George Ginsburgs: Moscow’s Road to Nuremberg. The Soviet Background to the Trial. Den Haag/Boston/London 1996, S. 46 – 48; Tanja Penter: »Das Urteil des Volkes«. Der Kriegsverbrecherprozess von Krasnodar 1943. In: Osteuropa 60 (2010) 12, S. 117 – 131; Ilya Bourtman: »Blood for Blood, Death for Death«. The Soviet Military Tribunal in Krasnodar 1943. In: Holocaust and Genocide Studies 22 (2008) 2, S. 246 – 265; Arieh J. Kochavi: The Moscow Declara­­tion, the Kharkov Trial, and the Ques­­tion of a Policy on Major War Criminals in the Second World War. In: History 79 (1991), S. 401 – 417; ­Alexander Victor Prusin: »Fascist Criminals to the Gallows!« The Holocaust and Soviet War Crimes Trials, December 1945–February 1946. In: Holocaust and Genocide Studies 17 (2003) 1, S. 1 – 30; Francine Hirsch: The Soviets at Nuremberg. Interna­­tional Law, Propaganda, and the Making of the Postwar Order. In: American Historical Review 113 (2008) 3, S. 701 – 730. 44 Hilger: »Gerechtigkeit« (wie Anm. 40), S. 218 – 221, mit weiterer Literatur. 45 Löwe: Soviet Press (wie Anm. 39), S. 38. 46 Črezv. Gos. Komis. (ČGK) po ustanovleniju i rassledovaniju zlodejanij nemecko-­­fašistskich zachvatčikov i ich soobščnikov (Hrsg.): Lageri smerti. Sbornik dokumentov о zlodejanijach nemecko-­­fašistskich zachvatčikov v Belorussii [Todeslager. Eine Dokumentensammlung über die Verbrechen der deutsch-­­faschistischen Eindringlinge in Weißrussland]. Moskau 1944.

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Umschrift sogar auf einen angeb­­lich etablierten deutschen Begriff verwiesen, den auch die Wachmannschaften benutzt hätten.47 Insbesondere diese letzte Behauptung wird durch zwei sehr unglaubwürdige Zitate zweier angeb­­lich gefangen genommener SS-Wachleute untermauert: »Die­ ses Lager erhielt die Bezeichnung ›Vernichtungslager‹ genau deshalb, weil hier eine kolossale Menge an Menschen vernichtet wurde.« Und: »Das einzige Ziel ­dieses Lagers war die Vernichtung der größtmög­­lichen Menge an Menschen. Des­ halb erhielt es die Bezeichnung ›Vernichtungslager‹«.48 Die sowjetische Posi­­tion, die Shoah nicht als ein explizit antisemitisches Verbrechen zu deuten, sollte lange Bestand haben.49 Neben den ideolo­­gischen Schwierigkeiten, einen Völkermord in die Logik des Klassenkampfs zu integrieren, ohne dabei den eigenen, tradi­­tionellen Antisemitismus preiszugeben, hat die Motiva­­tion, die Unterscheidung ­zwischen Lagern im allgemeineren Sinne und Vernichtungslagern besonders deut­­lich zu ziehen, noch eine weitere Ursache: Es lag keinesfalls im Interesse der sowjetischen Führung, Verwechslungen mit dem eigenen Lagersystem zu befördern.50 Sowohl die sowjetische als auch die Begriffsbildung der polnischen Exilregierung sind also zeitgenös­­sische Interpreta­­tionen des Geschehens, die jedoch nicht auf eige­ ner Anschauung beruhen. Eine interessante Alternative bieten daher die als GersteinB ­­ ericht bekannt gewordenen und bereits 1953 veröffent­­lichten und wissenschaft­­lich kommentierten Aufzeichnungen des SS-Offiziers Kurt Gerstein, der 1942 Augen­ zeuge des Tötungsprozesses in Bełżec wurde und seine Erinnerungen daran Anfang Mai 1945 niederschrieb.51 47 Izvestija vom 16. September 1944. – Die Dokumentensammlung ist auch zugäng­­lich unter der URL: http://samlib.ru/b/borisow_aleksej_wiktorowich/materialychgk.shtml# TOC_ id20303287, letzter Zugriff: 30. 09. 2015. – Zur ebenso bedeutenden wie ambivalenten Rolle des sowjetischen Films siehe Jeremy Hicks: From Atrocity to Ac­­tion. How Soviet Cinema Initiated the Holocaust Film – Imagining the Unimaginable in a Soviet Context. In: Suzanne Bardgett u. a. (Hrsg.): Justice, Politics and Memory in Europe after the Second World War. London/Portland 2011, S. 249 – 266. 48 Izvestija (wie Anm. 47). 49 Siehe hierzu Olga Baranova: Early Historiography of the Holocaust. The Example of the Soviet Union. In: Regina Fritz/Éva Kovács/Béla Rásky (Hrsg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden/ Before the Holocaust Had Its Name. Early Confronta­­tions of the Nazi Mass Murder of the Jews. Wien 2016, S. 185 – 198. 50 Zum fundamentalen Unterschied z­ wischen GuLag und den deutschen Massentötungsanlagen der Shoah siehe Jörg Ganzenmüller: Gulag und Konzentra­­tionslager. Sowjetische und deutsche Lagersysteme im Vergleich. In: Julia Landau/Irina Scherbakowa (Hrsg.): GULAG. Texte und Dokumente 1929 – 1956. Göttingen 2014, S. 50 – 58, hier S. 56. 51 Kurt Gerstein, hrsg. v. Hans Rothfels: Augenzeugenbericht zu den Massenvergasungen. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953) 2, S. 177 – 194.

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Als Leiter der Abteilung Gesundheitstechnik des Hygiene-­­Instituts der Waffen-­ S­ S war Gerstein unter anderem zuständig für Desinfek­­tionen, für die Zyklon B zunächst vorrangig eingesetzt wurde. Offenbar im Zusammenhang mit Überle­ gungen, für die Massentötungen der sogenannten Ak­­tion Reinhard nicht mehr länger Motorenabgase, sondern Zyklon B zu verwenden, reiste er nach Lublin, wo er am 17. August 1942 mit Odilo Globocnik zusammentraf.52 Am 18. August 1942 traf Gerstein in Bełżec ein und in seinem Bericht fällt in ­­diesem Zusammen­ hang eher beiläufig der Begriff, mit dem er selbst den Tötungsort charakterisiert: »Da der eigent­­liche Chef der gesamten Tötungsanlagen, der Polizeihauptmann Wirth, noch nicht da war, stellte Globocnek [sic] mich dem SS-Hauptsturm­ führer Obermeyer (aus Pirmasens) vor.« 53 Es handelt sich in Gersteins Text um den einzigen Begriff, den er auf Bełżec, Treblinka und Sobibór anwendet, über deren Existenz ihn ­Globocnik am Vortag in Lublin informiert hatte. Den Termi­ nus »Vernichtungs­lager« benutzt Gerstein nicht, sehr wohl aber »Konzentra­­ tionslager« und »Gefangenenlager«.54 Selbst als Anhänger der Bekennenden ­­Kirche 1938 im Gestapo­gefängnis Welzheim inhaftiert, verwendet Gerstein an dieser Stelle den allgemein gebräuch­­lichen Begriff »Konzentra­­tionslager«; mit »Gefangenenlagern« für Kriegsgefangene war er im Rahmen seiner Tätigkeit als Desinfek­­tionsfachmann vertraut.55 Bemerkenswert ist also, dass Gerstein für die Markierung des kategorialen Unterschieds z­ wischen den ihm bekannten Lager­ typen und den Tötungsorten Bełżec, Treblinka und Sobibór nicht auf das Wort »Lager« zurückgreift. Offensicht­­lich handelt es sich um Gersteins eigene Wortschöpfung. In seiner Zusammenfassung des Gesprächs mit Globocnik in Lublin berichtet er näm­­lich, dieser habe gesagt, es ­seien zur Zeit »drei Anstalten in Betrieb«.56 Unmittelbar nach der Wiedergabe der Äußerungen Globocniks übernimmt Gerstein dessen Begriffsbildung »Anstalten« ein einziges Mal, bevor er im Zusammenhang seiner konkreten Beobachtungen in Bełżec von »Tötungsanlagen« spricht. Hans Rothfels kommentiert als Herausgeber des Berichts die Begriffsbildung Gersteins nicht, und er greift sie auch nicht auf. Tatsäch­­lich vermeidet Rothfels

52 Ebd., S. 189. 53 Ebd. [Hervorhebung R. U.]. – Gerstein traf höchstwahrschein­­lich in Bełżec auf Josef ­Oberhauser, der die Funk­­tion eines Adjutanten bei Wirth ausübte. Josef Obermeyer war in Lublin sta­­tioniert, wo er Gerstein wahrschein­­lich auch begegnet ist. 54 Gerstein/Rothfels: Augenzeugenbericht (wie Anm. 51), S. 186 f. 55 Ebd. – Die Wortwahl Globocniks ist ein wichtiger Hinweis darauf, wie stark die Kontinuitäten zu den NS-Krankenmorden gewirkt haben, an denen er selbst nicht beteiligt war. 56 Ebd., S. 188.

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es überhaupt, Bełżec in einen systematischeren Zusammenhang einzuordnen, und insofern fallen weder in seinem Kommentar noch in den Anmerkungen zu Gersteins Text die Wörter »Vernichtungslager« oder »Holocaust«. Rothfels spricht zwar von »Massenvergasungen« und auch von »Massenvernichtung«, »Liquidierungen«.57 Die Identifika­­tion der Verbrechen als spezifisch antisemi­ tisch leistet Rothfels’ Kommentar ebenfalls nicht, ledig­­lich in den Anmerkun­ gen wird dies explizit erwähnt.58 Gerstein ist also durchgängig konkreter als der von den Na­­tionalsozia­listen als Jude definierte und zur Emigra­­tion gezwungene Historiker Rothfels, und dies zeigt sich besonders deut­­lich in der Begriffsbildung »Tötungsanlage«. Festhalten lässt sich daher, dass Gerstein seine Beobachtungen interpretiert – Rothfels die Aufzeichnungen Gersteins jedoch nicht. Die mög­­licherweise entscheidenden Worte in Hans Rothfels’ Kommentierung des Gerstein-­­Berichts finden sich jedoch bereits auf der ersten Seite. Keine »ange­ nehme Aufgabe«, so Rothfels, sei es, »sich mit diesen grauenhaften Vorgängen zu beschäftigen«.59 Es dennoch zu tun, geschehe »nicht, um Haß zu pflanzen oder lebendig zu erhalten«.60 Gemeint sein kann hier nur ein Hass der Opfer auf die Täter. Die Grundhaltung der 1950er Jahre, die Täter zu s­ chützen, wird vom nach Deutschland zurückgekehrten Emigranten Rothfels gleichsam beglaubigt. Ein ganz wesent­­liches Element ­dieses Täterschutzes war ein euphemistischer und verschleiernder Sprachgebrauch. Dieser konnte am besten durch eine Verwendung von Tätersprache erreicht werden.

Das Weiterleben der Tätersprache in Gerichtsprozessen und Historiografie Die frühe Historiografie der Shoah sah keine Schwierigkeiten, die Tätersprache zu benutzen – ganz im Gegenteil, die maßgeb­­lichen Autoren begriffen deren Entlarvung und Dekodierung als einen Teil des historischen Erkenntnisprozes­ ses. Besonders einflussreich und lang nachwirkend ist gewiss das bereits 1953 auf Eng­­lisch und 1956 in deutscher Übersetzung erschienene Werk des britischen

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Ebd., S. 177 f., 184. Ebd., S. 180, Anm. 6. Ebd., S. 177. Ebd. – Zur Kontroverse um Rothfels siehe Jan Eckel: Hans Rothfels. Eine intellektuelle Bio­ graphie im 20. Jahrhundert. Göttingen 2005; Nicolas Berg: Hidden Memory and Unspo­ ken History. Hans Rothfels and the Postwar Restora­­tion of Contemporary German History. In: Leo Baeck Institute Year Book 49 (2004), S. 195 – 220, mit weiterer Literatur.

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Historikers Gerald R. Reitlinger Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939 – 1945.61 Auch durch die weite Verbreitung des Buches etablierte sich damit zum einen der zentrale Täterbegriff der »Endlösung« im Sprachgebrauch, zum anderen wurde der antisemitische Kern der Shoah bereits im Titel hervorgehoben – in dieser Verknüpfung fand der Begriff denn auch rasch Eingang in den allgemeinen Wortschatz und Niederschlag etwa in Lexika oder Enzyklopädien.62 Dennoch bleibt der Befund, dass die Tätersprache grundsätz­­lich der Verschleie­rung diente und deshalb euphemistisch ist. Insofern ist die Verwen­ dung insbesondere des Begriffes »Endlösung der Judenfrage« immer auch eine Tradierung der dahinterstehenden antisemitischen Gedankenwelt: Nur wenn überhaupt eine »Judenfrage« gesehen wird, muss sie auch »gelöst« werden. Frei­­lich war dies nicht die Absicht Reitlingers und auch nicht die anderer Histo­ riker, die ebenfalls das Ziel verfolgten, die Täter anhand ihrer eigenen Aussagen zu entlarven und zu überführen.63 Dies ging allerdings Hand in Hand mit der methodischen Grundüberzeugung der meisten Historiker, dass Zeugenberichte der Opfer im Vergleich zu behörd­­licher Aktenüberlieferung Quellen nur einer zweiten und in ihrem Wert nachgeordneten Kategorie darstellten. Am Primat deutscher Quellen hielt auch der Historiker Philip Friedman fest, der als Überlebender der Shoah und Protagonist der Zentralen Jüdischen Histo­ rischen Kommission in Polen bereits während des Krieges dafür eintrat, die Zeug­ nisse der Opfer aufzunehmen, zu sammeln und zu veröffent­­lichen.64 Bereits 1944, unmittelbar nach seiner Befreiung in Lemberg 1944 schrieb Friedman, es brauche »a grand synthetic work which would present the German issue from multiple per­ spectives«.65 Diese Forderung nach einer integrierten Geschichte der Shoah, die in gewisser Weise die Haltung Saul Friedländers um mehrere Jahrzehnte vorwegnimmt, 61 Gerald R. Reitlinger: The Final Solu­­tion. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939 – 1945. London 1953; ders.: Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939 – 1945. Berlin 1956. – Die unterschied­­lichen Untertitel sind bemerkenswert. 62 Siehe hierzu Gabriele von Glasenapp: Von der »Endlösung der Judenfrage« zum Holocaust. Über den sprach­­lichen Umgang mit der deutschen Vergangenheit. In: Ekkehard Felder (Hrsg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/ New York 2006, S. 127 – 156, hier S. 131 f. 63 Zum Beispiel Joseph Wulf: Aus dem Lexikon der Mörder. »Sonderbehandlung« und ver­ wandte Worte in na­­tionalsozia­listischen Dokumenten. Gütersloh 1963. 64 Natalia Aleksiun: An Invisible Web. Philip Friedman and the Network of Holocaust Research. In: Regina Fritz/Éva Kovács/Béla Rásky (Hrsg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden/Before the Holocaust Had Its Name. Early Confronta­­tions of the Nazi Mass Murder of the Jews. Wien 2016, S. 149 – 165, hier S. 152 f. 65 Zit. nach Aleksiun: Invisible Web (wie Anm. 64), S. 157.

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erfüllte sich jedoch nicht – auch weil außerhalb des Netzwerks an jüdischen His­ torikern, die gleichzeitig auch Überlebende der Shoah waren, nur wenig Interesse an der Perspektive der Opfer bestand.66 Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Zeugenberichte der Überlebenden sich in ihrer Terminologie radikal unterschei­ den würden. Eine umfassende sprach­­lich-­­begriff­­liche Analyse der frühen Zeugen­ berichte der Shoah ist nach wie vor ein Desiderat. Die existentielle Schwierigkeit, Worte zu finden, ist dennoch besonders in den frühen Opferzeugnissen der Shoah auf schmerzhafte Art und Weise präsent und Teil des Traumas selbst.67 Rudolf Reder war einer der sehr wenigen Zwangsarbeiter, die aus Bełżec ent­ kommen konnten, den Krieg überlebten und Zeugnis ablegten – Reder tat dies in unterschied­­lichen Zusammenhängen z­ wischen 1944 und 1960 neun Mal.68 Im August 1944 sagte Reder erstmals aus, und zwar vor der sowjetischen Staatsanwalt­ schaft in Lemberg.69 In dieser ersten Aussage benutzte Reder in erster Linie das Wort »Bełżec«, also den Namen des Dorfes, um zu beschreiben, an welchem Ort er war. Der erste Satz lautet: »Ich wurde im Juli 1942 nach Bełżec gebracht.« 70 Im weiteren Verlauf seiner Aussage fällt das Wort »Lager« an verschiedenen Stellen, allerdings immer in einem besonderen perspektivischen Zusammenhang – dem derjenigen Menschen, die sich dort tatsäch­­lich für eine gewisse Zeit aufhielten und nicht sofort nach ihrer Ankunft getötet wurden. Ein Lager in ­­diesem Sinne war Bełżec in der Beschreibung Reders nur für die deutsche Besatzung und für die Menschen, die den Deporta­­tionszügen entnommen und für die Verrichtung von Zwangsarbeit zunächst am Leben gelassen wurden.71 Von einem »Vernich­ tungslager« spricht Reder an keiner Stelle. Reder sagte 1945, wahrschein­­lich noch vor Dezember, vor der Jüdischen Zen­ tralen Historischen Kommission in Krakau aus.72 Auch in dieser protokollierten 66 Siehe hierzu grundlegend Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung. Göttingen 2003. 67 Ernst van Alphen: Caught by History. Holocaust Effects in Contemporary Art, Literature and Theory. Stanford 1997, S. 44. 68 Dariusz Libionka (Hrsg.): Obóz zagłady w Bełżcu w relacjach ocalonych i zeznaniach ­polskich świadków [Das Vernichtungslager Bełżec in den Berichten Überlebender und pol­ nischer Zeugenaussagen]. Lublin 2013, S. 13 – 81. – Für biografische Informa­­tionen zu Reder siehe ebd., S. 13 – 25. 69 Ebd., S. 14. 70 Zit. nach ebd., S. 26. 71 Ebd., S. 26, 28, 29. 72 Zur Problematik der genauen Datierung siehe ebd., S. 15, Anm. 11. – Zur Arbeit der Kommission siehe grundlegend Laura Jockusch: Collect and Record! Jewish Holocaust Documenta­­tion in Early Postwar Europe. Oxford 2012, S. 84 – 120; dies.: Early Chroniclers of the Holocaust. Jewish Historical Commissions and Documenta­­tion Centres in the Aftermath of the Second

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Aussage verwendet Reder den Terminus »Vernichtungslager« nicht. Stattdessen aber wird der Begriff »Lager« sehr häufig benutzt, und nicht nur in Bezug auf Bełżec.73 Auch in seiner Aussage vor der Staat­­lichen Untersuchungskommission der deut­ schen Kriegsverbrechen am 29. Dezember 1945 in Krakau blieb Reder bei ­­diesem Sprachgebrauch.74 Aufschlussreich ist allerdings seine Wiedergabe des in Lemberg bereits kursierenden Gerüchtes, Bełżec sei »ein Lager ohne Menschen«.75 Erst in Reders in der Schriftenreihe der Zentralen Jüdischen Kommission veröffent­­lichtem Bericht Bełżec von 1946 kommt es zu einer signifikanten begriff­­lichen Verände­ rung.76 Zusammengestellt, aufgezeichnet und bearbeitet wurde der Text von Nelli Rost, einer Mitarbeiterin der Kommission in Krakau. Erstmals wird nun der Begriff »Todeslager« (poln.: obóz śmierci) verwendet, und es ist nicht auszuschließen, dass Rost an dieser Begriffsbildung beteiligt war.77 Im Zuge der deutschen Ermittlungen zu den Verbrechen in Bełżec sagte Reder 1954 erneut aus. Inzwischen war er nach Kanada emigriert und hatte seinen Namen in Roman Robak geändert. Hier formu­ liert er nun, er sei »in das Vernichtungslager in Bełżec« (poln.: do obozu zagłady w Bełżcu) gebracht worden.78 Zwar bezeichnet Reder in einer weiteren Aussage 1956 in ­Toronto Bełżec als »KZ«, aber im Rahmen des Prozesses gegen Josef Oberhauser vor dem Münchner Landgericht verwendete er in zwei Aussagen im August 1960 die Formulierung »Vernichtungslager«.79 Diese langsame Entwicklung sprach­­licher Konven­­tionen, die an den über 18 Jahre hinweg wiederholten Aussagen Reders abzu­ lesen ist, verdeut­­licht die Schwierigkeiten, vor denen auch die Opfer standen, wenn es darum ging, das zu benennen, was ihnen angetan worden war. Ebenfalls auffällig an Reders Zeugnissen ist die Präsenz des sogenannten Lagerjargons. Er spricht also von »Zahnärzten« oder »Friseuren«, wenn er

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World War. In: Regina Fritz/Éva Kovács/Béla Rásky: Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden/Before the Holocaust Had Its Name. Early Confronta­­tions of the Nazi Mass Murder of the Jews. Wien 2016, S. 23 – 4 4. Libionka: Obóz zagłady (wie Anm. 68), S. 33 ff. Ebd., S. 36 – 42. – Zur Hauptkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen (Główna Komisja Badania Zbrodni Niemieckich w Polsce, GKBZNwP) siehe mit wei­ terer Literatur Włodzimierz Borodziej: »Hitleristische Verbrechen«. Die Ahndung deutscher Kriegs- und Besatzungsverbrechen in Polen. In: Norbert Frei (Hrsg.): Transna­­ tionale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006, S. 399 – 437, hier S. 412. Zit. nach Libionka: Obóz zagłady (wie Anm. 68), S. 37. Rudolf Reder: Bełżec. Krakau 1946. – Kommentierter Neudruck in Libionka: Obóz zagłady (wie Anm. 68), S. 43 – 61. Libionka: Obóz zagłady (wie Anm. 68), S. 55. Ebd., S. 63. Ebd., S. 69, 73, 79.

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die Zwangsarbeiter und deren Funk­­tionen im Rahmen des Tötungsprozesses beschreibt.80 Dies gilt auch für andere Zeugnisse von Überlebenden, etwa den Bericht von Chil Rajchman über Treblinka.81 Reiht man die Begriffe aneinan­ der, wird die Funk­­tionalität der Zwangsarbeiter für die Täter besonders deut­­lich: »Schlauchkolonne« oder »Schlauchkommando«, »Goldjude«, »Sortierkom­ mando«, »Maschinentrupp«, »Totengräberkolonne«, »Aschekolonne«, »Feuer­ kolonne«.82 Was sich etwa hinter der Funk­­tionszuschreibung »Friseur« verbirgt, berichtet Rajchman auch: Wir sind wie zu Stein erstarrt. Nach ein paar Minuten hören wir verzweifelte Schreie. Nackte Frauen erscheinen. Im Korridor weist ein Mörder sie an, zu uns zu laufen. Er peitscht gnaden­ los auf sie ein und schreit: »Schneller, schneller!« Ich schaue die Opfer an und traue meinen Augen nicht. Jede setzt sich vor einen Friseur. Eine junge Frau kommt auf mich zu. Meine Hände sind wie gelähmt, ich kann die Finger nicht mehr bewegen. […] Mein Freund neben mir schreit: »Denk dran: Wenn du zu langsam arbeitest, wird es ein Mörder merken, und du bist verloren.« […] Die Opfer setzen sich eins nach dem anderen, und die Scheren schneiden, schneiden ununterbrochen. Weinen und Schreien. Die Frauen sind verstört. […] Eine andere Frau setzt sich vor mich. Sie löst die Nadeln aus ihrem Haar und schreit mich an: »Schnell! Tun Sie, was Sie tun wollen! Sie können mir auch ein Stück Fleisch aus meinem Kopf schnei­ den. Ich weiß, dass ich verloren bin …« Ja, wir sind alle verloren.83

Durch diese beispielhafte Entlarvung der Tätersprache ist ihre Verwendung ein elementarer Bestandteil der Zeugenschaft und von unmittelbarem Wert, und sie reproduziert eindrück­­lich die Machtverhältnisse, unter denen sie entstand. Gleichzeitig bemühen sich viele Überlebende auch um eine Charakterisierung der Orte, über die sie berichten. Rajchman: Wir fangen end­­lich an zu begreifen, wie dieser Ort funk­­tioniert. Es ist eine Fabrik, die durch Menschenopfer am Laufen gehalten wird: gestern zwölftausend, heute fünfzehntausend, und so geht es ununterbrochen weiter.84

80 Zum Beispiel ebd., S. 34. – Für den deutschen Fall siehe Nicole Warmbold: Lagersprache. Zur Sprache der Opfer in den Konzentra­­tionslagern Sachsenhausen, Dachau, Buchenwald. Bremen 2008. 81 Chil Rajchman: Ich bin der letzte Jude – Treblinka 1942/43. Aufzeichnungen für die Nach­ welt. München 2009. 82 Ebd., S. 39, 81, 44, 54, 80, 91, 100, 115. 83 Ebd., S. 56 – 59. – Vgl. Claude Lanzmann: Shoah. Reinbek 2011, S. 157 – 164. 84 Rajchman: Ich bin (wie Anm. 81), S. 65.

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Dieses Bild der Fabrik ist eines der am wirkmächtigsten in der Auseinanderset­ zung mit der Shoah. Auch Rachel Auerbach, eine Überlebende des Warschauer Ghettos, Historikerin und Journalistin greift in ihrem Bericht über einen Besuch in Treblinka im Oktober 1945 mit einer Delega­­tion der Jüdischen Zentralen Historischen Kommission darauf zurück.85 Treblinka ist bei ihr »die moderne, organisierte Fabrik von Leichen, die deutsche Mordanlage, in der von über einer Million jüdischer Leben nur Asche, Goldzähne, Matratzen-­­Haar und alte Klei­ der übrig blieben«.86 Das Industrievokabular durchzieht Auerbachs Text wie ein Leitmotiv. Von den in den Erstickungszellen zusammengepferchten Menschen spricht sie etwa als »Schicht«, die mit dem Zuschlagen der Türen bereit gewe­ sen sei zu sterben. Und danach: »Diese Schicht war fertig; eine neue Schicht konnte eingelassen werden.« 87 Grundsätz­­lich dient die Charakterisierung als Industrie bei Auerbach zwei Zwecken: Zum einen ist sie eine Erklärung dafür, dass nur verhältnismäßig wenig deutsches Wachpersonal anwesend sein musste.88 Zum anderen war sie ein Versuch, die Singularität der Verbrechen sprach­­lich und bildhaft zu fassen und so eben auch zu begründen. Für Auerbach geht es um »die deutsche Leichenindustrie«.89 Gleichzeitig bezieht Auerbach, die Sozia­listin, Ende 1945 mit dem Bild der Fabrik jedoch auch politisch Stellung. Seit der Befreiung Majdaneks in Lublin am 23. Juli 1944 durch die sowjetische Armee war insbesondere das Wort »Todes­ fabrik« zu einem zentralen Element der Versuche geworden, das Vorgefundene und Gesehene zu beschreiben. Das Wort selbst geht wohl auf den sowjetischen Journalisten und Kriegsberichterstatter Konstantin Simonov zurück, und es fand vielfältigste Verbreitung in Deutschland, Österreich, Polen, der Sowjetunion und unter emigrierten deutschen Kommunisten etwa in Mexiko, aber auch in den USA.90 Die Fabrik jedoch und das mit ­­diesem Bild verbundene Assozia­­­tionsfeld 85 Rachel Auerbach: Auf den Feldern von Treblinka. In: Frank Beer/Wolfgang Benz/ Barbara Distel (Hrsg): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944 – 1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Berlin/Dachau 2015, S. 393 – 455 [Erstveröffent­­lichung: Oyf die Felder fun Treblinke. Łodź 1947]. – Siehe hierzu auch Alf Lüdtke: Der Bann der Wörter. »Todesfabriken«. In: Werkstatt Geschichte 15 (1996) 13, S. 5 – 18. – Zur Bedeutung Auerbachs siehe Boaz Cohen: Rachel Auerbach, Yad Vashem, and Israeli Holocaust Memory. In: Gabriel N. Finder u. a. (Hrsg.): Making Holocaust Memory (= Polin: Studies in Polish Jewry, 20). Oxford/Portland 2008, S. 197 – 221. 86 Auerbach: Treblinka (wie Anm. 85), S. 404. 87 Ebd., S. 415 f. 88 Ebd., S. 420. 89 Ebd., S. 417. 90 Katrin Hartewig: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 436 – 4 42, mit weiterer Literatur und Quellenangaben.

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industrieller Produk­­tion im weitesten Sinne machte diese Darstellung der Singu­ larität auch anschlussfähig im kommunistischen Diskurs über den Faschismus, der in ­­diesem die höchste Stufe des Kapitalismus zu sehen glaubte.91 Gleichzeitig deutet nichts darauf hin, dass der Akt der Wortschöpfung nicht aus genuinem Entsetzen und dem Versuch, das Verbrechen zu verstehen, entstanden war. Durch die Ver­ wendung industrieller Sprachbilder konnte sich Auerbach jedoch relativ mühelos ­­diesem Diskurs zuschalten und so die Mög­­lichkeit offenhalten, den antisemiti­ schen Kern der deutschen Tötungspolitik im öffent­­lichen Bewusstsein zu halten. Weil Täter und Opfer mit dem »Lagerjargon« vertraut waren, war er auch in höchstem Maße präsent in den Gerichtsprozessen der Nachkriegszeit und spielte dort eine ambivalente Rolle.92 Von den Tätern wurden alle genannten Beispiele nach wie vor euphemistisch und verschleiernd benutzt, von den Zeugen auf Opferseite als Anklage. Gleichzeitig aber diente der Jargon der Täter auch als ein pragmati­ sches Medium zur Verständigung über Sachverhalte und kam insofern den Inter­ essen von Ermittlungsbehörden, Gerichten und Anwälten entgegen. Keinem der Prozessbeteiligten ging es vorrangig um begriff­­liche Innova­­tionen, sondern um die Feststellung von Taten und deren juristische Beurteilung. Allerdings wurde diese Sprach­­lichkeit durch die juristische Verwendung gleichsam gerichtsfest gemacht und erlangte auf d­­ iesem Wege eine normative Dominanz, auch in der öffent­­lichen Debatte – so sie denn stattfand.93 In d­­ iesem Zusammenhang ist von nicht unerheb­­ licher Bedeutung, dass es nicht die deutsche Geschichtswissenschaft war, die bis in die 1960er Jahre hinein die Auseinandersetzung mit der Shoah vorantrieb, son­ dern in erster Linie die Zentralstelle Ludwigsburg und die von ihr angestrengten Prozesse.94 Dies ist mög­­licherweise ein Grund dafür, dass sich bis heute Begriffe der Tätersprache auch in der einschlägigen Forschungsliteratur finden. Diese Fortschreibung der Machtverhältnisse reproduziert allerdings den Täterblick, auch wenn dies sicher nicht beabsichtigt ist. Es ist also immer noch von »Arbeitsjuden« die Rede, gelegent­­lich sogar ohne die entlastenden und 91 Ebd., S. 441. 92 Wie ein Täter seinen Prozess begriff­­lich und konzep­­tionell geradezu beherrschen konnte, zeigt eindrück­­lich am Beispiel Otto Ohlendorfs Hilary Earl: Beweise, Zeugen, Narrative. Der Einsatzgruppen-­­Prozess und die historische Forschung zur Genese der »Endlösung«. In: Kim C. Priemel/Alexa Stiller (Hrsg.): NMT . Die Nürnberger Militärtribunale ­zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtsschöpfung. Hamburg 2013, S. 127 – 157. 93 Veronika Zangl: Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen, Tatsachen, Geschichten. München 2009, S. 145 f. 94 Zu den Arbeitsbedingungen und dem gesellschaft­­lichen Umfeld der deutschen Historiografie nach 1945 siehe Caroline Sharples: Postwar Germany and the Holocaust. London/New York 2016, S. 51 – 54.

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pragmatischen Anführungszeichen.95 Nach wie vor wird überwiegend nicht von »Gefangenen«, sondern von »Häftlingen« gesprochen – ein Begriff, der eine Rechtsförmigkeit suggeriert, gegen alles Wissen um den verbrecherischen Charak­ ter von Konzentra­­tionslagern und Massentötungsanlagen. Besonders abstoßend ist frei­­lich der Begriff »Probe-­­Vergasung«.96 An dieser Stelle wird sichtbar: Der objektivierende Blick auf die Opfer ist das zentrale Problem der Tätersprache, und genau aus ­­diesem Grund ist sie zu diskutieren und zu vermeiden.

Fazit und Ausblick Das Verstecken hinter Wörtern, die allgemein gebräuch­­lich sind und bei denen vermeint­­lich alle wissen, was gemeint ist, wird dem Gegenstand Shoah nicht gerecht. Begriffe wie »Endlösung« werden aus verschiedenen Motiven heraus gebraucht: Zum einen ist es ein Quellenbegriff, zum anderen eben eine Chiffre und als s­ olche eine praktische, zeitsparende und gänz­­lich pragmatische sprach­­liche Lösung für ein sprach­­liches Problem im Verlaufe einer historiografischen Erzählung. Hinter dieser Chiffre verschwindet allerdings das Geschehen, dessen Umrisse immer undeut­­licher werden. Dass nun »Endlösung« ausgerechnet ein zentraler Täterbegriff ist, dessen vornehm­­liche Absicht die Verschleierung des Geschehens war, macht ihn gänz­­lich ungeeignet für historische Reflexion – zumal »Endlösung« zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Dinge während der na­­tionalsozia­listischen Diktatur meinte und beschrieb. Insofern ist ein gänz­­lich pragmatischer Sprach­gebrauch keine Lösung eines Problems, sondern der Ursprung einer weiteren und ausgesprochen tiefgreifenden Schwierigkeit. Die resignative Befürwortung einer weiteren Nutzung der Tätersprache, an der man »nicht vorbei« komme, wie sie etwa Matthias Heyl vertritt, ist insofern ledig­­lich ein Eingeständnis der Hilflosigkeit.97 Diese Einsicht kann auch im vorliegenden Beitrag nicht folgenlos bleiben. An zwei konkreten Begriffen soll der Versuch unternommen werden, zu ihnen eine alter­ native Terminologie vorzuschlagen, näm­­lich zu »Jude« und »Vernichtungslager«. 95 Zum Beispiel Angelika Benz: Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-­­Männer im Holocaust. Berlin 2015, S. 56. 96 Zum Beispiel Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Gedenkstätten für die Opfer des Na­­tionalsozia­lismus. Eine Dokumenta­­tion, Bd. 2: Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-­­Vorpommern, Sachsen-­­Anhalt, Sachsen, Thüringen. Bonn 2000, S. 247. 97 Matthias Heyl: Von den Metaphern und der geteilten Erinnerung – Auschwitz, Holocaust, Schoah, Churban, »Endlösung«. In: Helmut Schreier/Matthias Heyl (Hrsg.): Die Gegenwart der Schoah. Zur Aktualität des Moders an den euro­päischen Juden. Hamburg 1994, S. 11 – 32, hier S. 30.

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Um die Fortschreibung des antisemitischen Rassismus der na­­tionalsozia­lis­ tischen Ideologie und Politik zu vermeiden, ist es notwendig, den Charakter der Zuschreibung in die Begriffsbildung aufzunehmen. Opfer dieser Politik ist dem­ nach also die »als jüdisch definierte Bevölkerung«. Eine ­solche Formulierung löst zwar das Problem der Objektivierung sprach­­lich nicht und verleiht den Opfern keine Individualität, betont aber genau den Ursprung der Verfolgung durch diese Objektivierung. Dies wäre immerhin ein Fortschritt. Zugegebenermaßen ist es umständ­­lich und ungewohnt, von »der als jüdisch definierten Bevölkerung« zu sprechen. Ein vergleichender Blick auf eine andere, über viele Jahre äußerst populäre Formulierung ist an dieser Stelle vielleicht hilfreich: Lange Zeit wurde von »in deutschem Namen begangenen Verbrechen« gesprochen.98 Es lässt sich kaum eine umständ­­lichere Wendung ausdenken – Verwendung fand sie aber, weil sie den euphemistischen und verschleiernden Interessen der Sprecher diente. Es wäre korrekter und deut­­lich weniger umständ­­lich gewesen, einfach von »deut­ schen Verbrechen« zu sprechen. »Vernichtungslager« ist, wie wir gesehen haben, zwar kein Begriff der Täter­ sprache, sondern einer der interpretierenden Zeugenschaft. Dennoch ist er, wie ebenfalls gezeigt wurde, in sich problematisch und deshalb auch von verschie­ denen Seiten kritisiert worden. Grundsätz­­lich böte sich an, alle Orte, an denen Menschen im Zuge der Shoah getötet wurden, als »Tötungsorte« zu beschrei­ ben. Dies schlösse dann auch die vielen hundert Orte ein, an denen die mobilen Tötungseinheiten der Deutschen im besetzten Osteuropa Massenerschießungen durchführten und die Opfer an Ort und Stelle verscharrten. Etwa die Hälfte der Opfer der Shoah ist so getötet worden. Diese Tötungsorte kamen ohne jede Infra­struktur aus, was den Unterschied zu Bełżec, Treblinka oder Sobibór her­ vortreten lässt. Hier wurden dagegen Strukturen errichtet, auch wenn sie primitiv und nur temporär waren. Insofern ist die von Gerstein gewählte Begriff­­lichkeit eigent­­lich die genaueste: Es handelte sich um »Tötungsanlagen«. Um den Unter­ schied zum Beispiel zu den Genickschussvorrichtungen in deutschen Konzentra­­ tionslagern zu verdeut­­lichen, wird vorgeschlagen, von »Massentötungsanlagen« zu sprechen. Ähn­­liche Massentötungsanlagen wurden auch an anderen Orten errichtet, zusätz­­lich zu bereits bestehenden Strukturen. Dies gilt insbesondere für M ­ ajdanek, das in erster Linie ein Zwangsarbeitslager war, aber seit Mitte 98 Vgl. die ganz unterschied­­lichen Deutungen von Michael Brenner: 1984: Helmut Kohl in Israel. In: Jüdische Allgemeine vom 1. August 2013, URL : http://www.juedische-­­allgemeine. de/article/view/id/16628, letzter Zugriff: 23. 05. 2016; Gerd Bucerius: In deutschem Namen? Antwort auf eine Textkritik. In: Die Zeit vom 16. Februar 1990, URL : http:// www.zeit.de/1990/08/im-­­deutschen-­­namen/komplettansicht, letzter Zugriff: 23. 05. 2016.

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1942 über eine Massentötungsanlage verfügte, die ebenfalls mit Giftgas operierte. Ähn­­lich verhält es sich mit dem Komplex Auschwitz, in dem an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten Massentötungsanlagen errichtet wurden. In Auschwitz I, dem sogenannten Stammlager, einem Konzentra­­tionslager vor allem für polnische politische Gefangene, wurde zu diesem ­­ Zweck erst ein Kel­ ler und dann eine Garage umgebaut. In Auschwitz  II, dem Zwangsarbeitslager Birkenau, gab es mehrere Massentötungsanlagen, in denen diejenigen Menschen durch Giftgas erstickt wurden, die aus Sicht der Täter für eine Ausbeutung durch Zwangsarbeit nicht in Frage kamen. Eine ­solche Wortwahl würde den Blick schärfen für die tatsäch­­lichen Vor­ gänge der Shoah und die Differenz etwa zu den Konzentra­­tionslagern im Deutschen Reich klar markieren. Es ist kein Zufall, dass diese Unterschiede sprach­­lich zunehmend eingeebnet werden und etwa die Tagesschau im deut­ schen Fernsehen im November 2014 von Dachau als »Vernichtungslager« sprach.99 Der genaue Blick muss sich deshalb konsequenterweise auch auf den Tötungsprozess selbst richten. Timothy Snyder spricht zum Beispiel sehr konkret von »ersticken« anstelle von »vergasen«, und tatsäch­­lich sind die Opfer ja durch den Einsatz von Giftgas erstickt und nicht etwa in einen ande­ ren Aggregat­zustand überführt worden.100 Zunächst scheint damit nur wenig gewonnen. Und dennoch ist dies ein Schritt fort von der Sicht auf die Opfer als puren Objekten eines Verbrechens und ein Schritt in Richtung auch einer sprach­­lichen Anerkennung ihres Leidens und Sterbens. Dies ist die Vorausset­ zung für eine Wahrung ihrer und unserer Würde.

99 KZ-Gedenkstätte Dachau: Unbekannte stehlen Tür mit Schriftzug »Arbeit macht frei«. In: Tagesschau vom 2. November 2014, URL : http://www.tagesschau.de/multimedia/video/ video-36935.html, letzter Zugriff: 19. 04. 2016. – Auch in den frühen DDR -Prozessen zu NS-Krankenmorden wurden die Kliniken als »Vernichtungslager« bezeichnet. Siehe hierzu ­M artin Kiechle: Ein »unseren gesellschaft­­lichen Verhältnissen widersprechendes Ergeb­ nis«. Das Ministerium für Staatssicherheit und die »Euthanasie«-Verbrechen in Stadtroda. In: Jörg Ganzenmüller (Hrsg.): Recht und Gerechtigkeit. Die strafrecht­­liche Aufarbei­ tung von Diktaturen in Europa (= Euro­päische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, 23). Köln/Weimar/Wien 2017 [in Vorbereitung]. 100 Timothy Snyder: Bloodlands (wie Anm. 38), S. 257; ders.: Black Earth. The Holocaust as History and Warning. New York 2015, S. 209.

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Schrecken erzieht nicht: Zum Einsatz von Fotografien in den Ausstellungen polnischer Shoah-­Gedenkstätten Gedenkstätten an Orten ehemaliger deutscher Konzentra­­tions- und Vernich­ tungslager sind mit vielfältigen Funk­­tionen belegt. Sie sind Tatorte, Orte des Leidens, symbo­­lische und konkrete Friedhöfe und somit Orte des Totenge­ denkens, politische Denkmale, historische Museen und Lernorte. Sie sind ­Palimpseste und nicht zuletzt Orte von individuellen wie kollektiven Projek­­ tionen.1 Eine Gewichtung dieser Aufgaben lässt sich in den Konzepten und Inhalten der Ausstellungen einzelner Gedenkstätten ablesen. Eine starke Opfer­ fixierung bei gleichzeitiger Marginalisierung der Täter konstatiert Tomasz Kranz, Direktor der Gedenkstätte Majdanek, für die präsentierten Ausstel­ lungen der sich in ­­diesem Sammelband im Fokus befind­­lichen polnischen Gedenkstätten.2 Diese schlage sich in empathischem Opfergedenken und dokumentierendem Darstellen der Gewaltverbrechen zu Beweiszwecken nie­ der. Angesichts des Ausmaßes der na­­tionalsozia­listischen Verbrechen scheint diese empathische Darstellung der Opfer nicht nur politisch, sondern vor allem mora­­lisch geboten, manifestiert sich in ihr doch ein Perspektivwechsel im Vergleich zur Verfolgungszeit.3

1 Vgl. Volkhard Knigge: Museum oder Schädelstätte? Gedenkstätten als multiple Institu­­ tionen. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Museumsfragen. Gedenkstätten und Besucherforschung. Bonn 2004, S. 17 – 33, hier S. 26 f. – Der Titel des Beitrags bezieht sich auf ein Interview mit Volkhard Knigge in der Sendung »Zeitfragen« vom 17. Juni 2015 auf Deutschlandradio Kultur. Die Bezeichnung Vernichtungslager ist in ihrem Bedeutungsgehalt irreführend und reproduziert ­darüber hinaus den objektivierenden Blick der Täter auf die Opfer. Zur Begriffsgeschichte und zu einer kritischen Beurteilung der Wortverwendung vgl. den Beitrag von Raphael Utz in ­­diesem Sammelband. 2 Vgl. Tomasz Kranz: NS-Täter als Thema der Dauerausstellungen am Ort ehemaliger Ver­ nichtungslager: Das Beispiel der Gedenkstätten Majdanek und Bełżec. In: Gedenkstättenrundbrief 141 (2008), S. 31 – 35, hier S. 34. 3 Vgl. Thomas Lutz: Zwischen Vermittlungsanspruch und emo­­tionaler Wahrnehmung. Die Gestaltung neuer Dauerausstellungen in Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland und deren Bildungsanspruch. Berlin 2009, S. 185, 199.

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Ein zentrales Mittel d­ ieses Ausstellungskonzeptes sind Fotografien über die Shoah, deren Zahl trotz der nur teilweisen Überlieferung gewaltig ist. So kons­ tatiert Sybil Milton: »Es gibt über zwei Millionen Bilder auf mehreren Konti­ nenten in den öffent­­lichen Archiven von mehr als 20 Ländern.« 4 Der Einsatz der Fotografien in den Ausstellungen allerdings, und das ist der Kern der folgen­ den Überlegungen, läuft in einigen Fällen der empathischen Darstellungsabsicht zuwider. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, den Einsatz von Bildern in den Gedenkstätten zu problematisieren und drei als bedenk­­lich wahrgenommene Verwendungszusammenhänge von Fotografien zu benennen. Dabei handelt es sich um den unreflektierten, meist nur illustrativen Einsatz von Bildern als foto­ grafische Belege, um das Entstehen eines Bilderkanons und durch die Verwen­ dung von Bildern deutscher Herkunft um die Reproduk­­tion des Täterblicks. Über diese Aspekte sollen abschließend anhand eines erweiterten Bildverständnisses die Chancen des Einsatzes von Fotografien als historische Quellen beleuchtet werden. Die folgenden Beobachtungen erheben nicht den Anspruch, umfassend über den Gebrauch von Fotografien in Ausstellungen zur Geschichte der Shoah zu berichten oder gar deren Analyse vorzunehmen. Vielmehr sind die hier vor­ gestellten Gedanken als Anregungen zur Diskussion zu lesen.

Fotografien als authentische Zeugnisse? Das Einfahrtstor des Lagerkomplexes Auschwitz-­­Birkenau, »Selek­­tionen« am Bahngleis, zusammengetriebene Menschenmengen, Massenerschießungen und Fotografien der gerade befreiten na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager mit völlig entkräfteten Gefangenen hinter Stacheldraht oder in den Baracken sowie Fotos von Massengräbern und Leichenhaufen 5 – geschichtskulturelle ­Repräsenta­­tionen

4 Sybil Milton: Argument oder Illustra­­tion. Die Bedeutung von Fotodokumenten als Quelle. In: Fotogeschichte 8 (1988) 28, S. 61 – 90, hier S. 62. 5 Die Fotografien aus Auschwitz-­­Birkenau stammen aus dem zum Teil erst mit großer Verzö­ gerung nach der Befreiung des Lagers gedrehten Film Chronik der Befreiung. Zur Entstehung der Bilder vgl. Detlef Hoffmann: Menschen hinter Stacheldraht. In: Yasmin Doosry (Hrsg.): Representa­­tions of Auschwitz. 50 Years of Photographs, Paintings and Graphics. Oświe̜cim 1995, S. 87 – 94, hier S. 91 f. – Gleichwohl wurden sie eher als allgemeine Symbole der Massentötung denn als konkrete Dokumente der nach der Befreiung der Lager vorgefundenen Situa­­tion verwendet. Vgl. Habbo Knoch: Bilder der Macht. Deutsche Fotografien von Orten des Terrors. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel/Angelika K ­ önigseder (Hrsg.): Na­­tionalsozia­listische Zwangslager. Strukturen und Regionen. Täter und Opfer. Dachau 2011, S. 319 – 348, hier S. 321.

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scheinen in Bezug auf ihre Bildauswahl zur Shoah auf einige wenige Bildmotive begrenzt. Jene »Ikonen der Vernichtung« 6 oder »Symbolbilder« 7 wirken dabei in ihrer Verwendung eigenartig zeitlos und ohne räum­­lichen Bezug. Sie stehen für die Verbrechen des Na­­tionalsozia­lismus im Allgemeinen, erzählen von Auschwitz als dem »Äußersten«, dem Kern der na­­tionalsozia­listischen Vernichtungspraxis.8 Ihre Allgegenwärtigkeit aber hat zur Folge, dass alternative Erinnerungen verhin­ dert werden und die Fotografien zu Stereotypen verkommen,9 die vom Betrach­ ter unreflektiert und somit ohne Mehrwert konsumiert werden, denn die Bilder suggerieren Eindeutigkeit, und ihr Wiedererkennen führt dazu, »dass man meint, mit dem Wiedererkennen hätte man schon verstanden, was sie abbilden«.10 Schon Ende der 1980er Jahre ergab eine Studie, dass deutsche Schüler sich meist nicht auf die ihnen vorliegenden Fotos bezögen, sondern ledig­­lich jene Inhalte wiedergäben, von denen sie dächten, dass sie diese auf den Bildern sehen sollten.11 Unmittelbar kausal verbunden mit der Etablierung eines Bilderkanons ist die Verwendungsabsicht der Fotografien in den Ausstellungen. Diese werden zum Teil noch immer ledig­­lich als bloße Illustra­­tion oder Blickfang verwendet, sie nehmen die Funk­­tion von Belegen der im Text transportierten Aussagen ein 12 oder sollen gänz­­lich unkommentiert »für sich sprechen«. Fotos gelten dabei gemeinhin als authentisch, als evidentes Abbild der Wirk­­lichkeit, die keiner Analyse bedürften 6 Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffent­­licher Gebrauch von Fotografien aus ­na­­tio­nalsozia­listischen Konzentra­­tionslagern nach 1945. Berlin 1998, S. 237. 7 Habbo Knoch wendet sich gegen Brink und spricht sich für die Verwendung des Terminus der »Symbolbilder« aus. Bezüg­­lich seiner Kritik an Brink vgl. Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2001, S. 33 f. 8 Vgl. Brink: Ikonen (wie Anm. 6), S. 9. 9 Vgl. Detlef Hoffmann/Timm Starl: Editorial zum Themenheft »Lager, Gefängnis, Museum«. In: Fotogeschichte 14 (1994) 54, S. 2. 10 Brink: Ikonen (wie Anm. 6), S. 238. – Einer ähn­­lichen Analyse wie Brink hat sich Barbie Z ­ elizer gewidmet. Vgl. Barbie Zelizer: Remembering to Forget. Holocaust Memory Through the Camera’s Eye. Chicago 1998. 11 Vgl. Christoph Kreutzmüller/Julia Werner: Fixiert. Fotografische Quellen zur Ver­ folgung und Ermordung der Juden in Europa. Eine pädago­­gische Handreichung. Berlin 2012, S. 3; Christoph Hamann: »Die Wendung aufs Subjekt«. Zum Foto des Jungen aus dem Warschauer Ghetto 1943. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000) 12, S. 727 – 741, hier S. 732 f. – Beide beziehen sich auf Untersuchungen Bodo von Borriesʼ über das historische Lernen von Schülern und Studenten an Bildern. Vgl. Bodo von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie. Stuttgart 1988, S. 107. 12 Vgl. Detlef Hoffmann: Zeitgeschichte aus Spuren ermitteln. Ein Plädoyer für ein Denken vom Objekt aus. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 200 – 210, hier S. 200.

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und die man deshalb nicht mit den Maßstäben einer historischen Quellenkritik behandeln müsse. Der Betrachter begegnet den Fotografien in einer Erwartung von Referenzgewissheit, das heißt, er geht von einer direkten Übereinstimmung ­zwischen Aufnahme und Geschehen aus.13 Die von Yad Vashem im Block 27 des Staat­­lichen Museums Auschwitz-­­Birkenau konzipierte neue Dauerausstellung bedient diese dem Besucher bekannten Sehgewohnheiten. Im zweiten Stock der Ausstellung, nach einer Konfronta­­tion mit den »wichtigsten Grundsätzen der Nazi-­­Ideologie, die den Holocaust konzipierten und motivierten, […] setzen die Besucher ihren Weg fort in einen Raum, der die Ermordung der Juden zum Thema hat«.14 Neben den Bildern des bereits vielfach ausgestellten »Auschwitz­­Albums« werden dem Besucher auf digitalen Bildschirmen die »Ikonen der Vernichtung« präsentiert. Bilder von Leichenbergen, Menschen hinter Stachel­ draht, Massen­gräber, verängstigte Kinder und Berge von Kleidung stehen hierbei systematisch für die präsenta­­tionsleitende Absicht einer entindividualisierten, entkontextualisierten Darstellung der Opfer, eines verschleißenden Gebrauches der immer selben Fotos, einer Reduk­­tion der Auseinandersetzung mit der NS -­ Vergangenheit auf Erschrecken und Abscheu und für die Überzeugung des »Für-­ ­sich-­­Sprechens« der Bilder.15 Fotos jedoch sind keinesfalls authentische »Fens­ ter zur Vergangenheit«, sondern perspektivische Quellen aus der Vergangenheit, subjektiv wahrgenommene Realität, die den Betrachtern erst ermög­­lichen, eine Interpreta­­tion der Vergangenheit, eine Geschichte zu konstruieren.16 Diese Ein­ sicht ist in den letzten zwei Jahrzehnten im Zuge der Überlegungen zum visual turn in den Fokus der Geschichtswissenschaft gerückt.17 Jener Paradigmenwech­ sel in Bezug auf den Einsatz von Fotografien in Ausstellungen besteht in einem 13 Vgl. Christine Eckel: Fotografien in den »Täterausstellungen« der KZ-Gedenkstätten. In: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung (= Neuengammer Kolloquien, 1). Berlin 2010, S. 199 – 216, hier S. 208. 14 Yad Vashem: Shoah. Die neue Dauerausstellung im Block 27 im Staat­­lichen Museum Auschwitz-­­Birkenau. URL: http://www.yadvashem.org/yv/de/exhibi­­tions/pavilion_­auschwitz/ exhibi­­tion_tour.asp, letzter Zugriff: 08. 06. 2015. 15 Vgl. Knigge: Schädelstätte (wie Anm. 1), S. 24 f. 16 Vgl. Christoph Hamann: Bildquellen im Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 108 – 125, hier S. 112. 17 Vgl. ebd., S. 110 ff.; Gerhard Paul: Von der historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung. In: ders. (Hrsg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, S. 7 – 38. – Einen ­kurzen Überblick über die Entwicklung einer quellenkritischen Erschlie­ ßung der fotografischen Überlieferungen des Na­­tionalsozia­lismus bietet Knoch. Vgl. Knoch: Bilder der Macht (wie Anm. 5), S. 322 f.

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Abbau der Bildergläubigkeit und beinhaltet eine »gezielte Dekonstruk­­tion von Bildern in ihrer scheinbar unmittelbaren Evidenz, Präsenz und Abbildfunk­­tion«.18 Die Chancen ­dieses erweiterten Bildverständnisses sollen im letzten Abschnitt anhand einiger Beispiele genauer erläutert werden.

Reproduk­tion des Täterblicks Die in den Ausstellungskonzep­­tionen häufig noch immer vorherrschende Über­ zeugung der Folgerichtigkeit der in den Bildern transportierten Aussage birgt darüber hinaus die Gefahr, die Bildsprache der Täter zu reproduzieren: Die zeitgenös­­sischen offiziellen und ein großer Teil der privaten Fotografien dokumentieren nicht die Tat als s­ olche, sondern Haltungen ihr gegenüber: mörderische Absicht, Effizienz­ bewusstsein, Ordnungsstreben und Erfolgswille, Überlebenstriumph, emo­­tionale Distan­ ziertheit […]. Indem der ihnen innewohnende Modus […] nicht hinterfragt wurde und andere Bildquellen ausgeschlossen blieben, übertrug sich […] die Bildsprache der Täter in die späteren Bildhaushalte der NS-Verbrechen.19

Die unkommentierte Verwendung von Bildmaterial, das von SS -Männern ange­ fertigt wurde, wird häufig damit begründet, das Mitleid des Betrachters zu wecken und eben nicht den diffamierenden Blick auf die Opfer zu reproduzieren.20 Eine ähn­­liche Erklärung auf die Kritik der Reproduk­­tion der NS -Propaganda gab die Leitung der zweiten Wehrmachts-­­Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht – Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944 des Hamburger Instituts für Sozia­lforschung. Ihrer Meinung nach gebe es keine Propagandafotos, sondern nur eine propagandistische Nutzung der Fotografien. Eine Darstellung der Bil­ der außerhalb des NS -Propagandakontexts mit dem Ziel historisch-­­politischer Aufklärung setze die Aufnahmen in eine neutrale Posi­­tion, in der sie keine propagandistische Funk­­tion erfüllen könnten.21 Diesen Überlegungen stehen 18 Doris Bachmann-­­Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaf­ ten. Hamburg 2014, S. 351. 19 Knoch: Die Tat als Bild (wie Anm. 7), S. 917. 20 Vgl. Brink: Ikonen (wie Anm. 6), S. 149. – Brink bezieht sich hier auf Gerhard Schoenberners Bildband Der Gelbe Stern aus dem Jahre 1960. 21 Vgl. Christoph Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik. Beiträge zur Bildkom­ petenz in der historisch-­­politischen Bildung. Herbolzheim 2007, S. 27; Ulrike Jureit: »Zeigen heißt Verschweigen«. Die Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht. In: Mittelweg 36 (2004) 1, S. 1 – 27, hier S. 16 ff.

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Abb. 1  Staat­­liches Museum Auschwitz-­­Birkenau: Ausstellungsraum zum Gedenken an die Kinder

empirische Studien gegenüber, die belegen, dass NS -Fotografien unabhängig vom Zeitpunkt und vom Kontext ihrer Präsenta­­tion eine Wirkkraft auf den Betrachter entfalten können.22 Ein konkretes Beispiel der Übernahme na­­tionalsozia­listischer Bildsprache ist die Ausstellung fotografischer Hinterlassenschaften der Erkennungsdiens­ te.23 In Block 6 der Dauerausstellung in Auschwitz-­­Birkenau werden im Raum zum »Gedenken an die Kinder« neben großformatigen Bildern von gefange­ nen Kindern hinter Stacheldraht auch die aus je drei verschiedenen Perspekti­ ven aufgenommenen Portraits präsentiert, die bei der erkennungsdienst­­lichen Behandlung entstanden waren (Abb. 1).24 Die Verwendung dieser Bilder ist wohl der simplen Tatsache geschuldet, dass sie mit Namen und Gefangenennummer versehen und damit die einzigen fotografischen Zeugnisse sind, die den Opfern ein Gesicht zuordnen lassen. Doch gerade der Versuch, den Opfern Individuali­ tät zu verleihen, schlägt dahingehend völlig fehl, dass die Kinder nach ihrer Auf­ nahme ins Lager – kahlgeschoren und in Gefangenenkleidung – entscheidende individuelle Merkmale verloren und von ­­diesem Zeitpunkt an vollkommen der 22 Vgl. Hamann: Visual History (wie Anm. 21), S. 28. 23 Für einen Überblick über die Fotografen und deren Tätigkeit im Erkennungsdienst vgl. Janina Struk: Photographing the Holocaust. Interpreta­­tions of the Evidence. London 2011, S. 102 ff. 24 Eine analoge Verwendung gibt es in den Gängen des Block 6, wo die Fotografien der ­registrierten Inhaftierten in schier endloser Zahl an den Wänden präsentiert werden.

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menschenverachtenden Lagerordnung unterworfen waren. Ihre Stigmatisierung als »unwerte Lebewesen« wird eingefroren und dem Betrachter konserviert präsentiert. Der Anspruch eines emphatischen Opfergedenkens wird durch eine zum Teil unzuläng­­liche Bildauswahl und eine ungünstige Bildpräsenta­­tion in den Ausstellungen unterlaufen. Ein individuelles Opfergedenken anhand von foto­ grafischen Hinterlassenschaften der Na­­tionalsozia­listen muss fehlgehen, da der Blick der Täter auf die Opfer reproduziert wird und der zwingend nötige Pers­ pektivwechsel auf die Shoah von den Tätern zu den Opfern nicht vollzogen wird.

Opfergedenken UND Täterdiskurs – Chancen eines erweiterten Bildverständnisses Eine gegenläufige Entwicklung ist mit der Einbeziehung privater Fotografien wie Familien- oder Urlaubsfotos der Opfer in die Ausstellungen eingetreten. Sowohl in den Dauerausstellungen in Majdanek als auch in Auschwitz-­­Birkenau und in Bełżec finden sich entsprechende Fotografien. In Bełżec sind die an der Decke befestigten privaten Familienfotos einiger jüdischer Opfer die ersten Bil­ der, die der Betrachter auf dem Weg durch die Ausstellung zu Gesicht bekommt (Abb. 2).25 In Majdanek widmet sich die neue Ausstellung »den Gefangenen von Majdanek« und präsentiert eine Zusammenstellung aus den oben kritisierten großformatigen Fotografien na­­tionalsozia­listischer Herkunft, aber eben auch von privaten Fotos der Opfer.26 In Auschwitz-­­Birkenau befindet sich im zweiten Raum der von Yad Vashem entwickelten Dauerausstellung Shoah eine 360-Grad-­­Filmmontage, die jüdisches Leben ­zwischen den Weltkriegen zeigt. Darüber hinaus bearbeiteten die Mitar­ beiter der Gedenkstätte 2400 Fotografien aus den 1920er und 1930er Jahren, die aus dem Besitz der deportierten und in Birkenau ermordeten Menschen stammen (Abb. 3).27 Ziel der Mitarbeiter des Frankfurter Fritz Bauer Instituts, des Washing­ toner United States Holocaust Memorial Museum und des Staat­­lichen Museums

25 Das Museum Bełżec gedenkt in einer Publika­­tion 750 Personen aus 114 Familien. Teile dieser Fotografien finden sich in der Dauerausstellung. Vgl. Ewa Koper: Każda ofiara ma imię/Every Victim Has a Name. Lublin 2014. 26 Vgl. die Webseite der Gedenkstätte, URL: http://majdanek.eu/articles.php?acid=147, letzter Zugriff: 11. 06. 2015. 27 Vgl. Hanno Loewy: 2400 Fotografien, gefunden in Birkenau. In: Fotogeschichte 15 (1995) 55, S. 11 – 18, hier S. 12.

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Abb. 2  Museum-­­Gedenkstätte in Bełżec: Eingangsbereich der Dauerausstellung

Auschwitz-­­Birkenau sei es dabei gewesen, vom Fotobestand auszugehen und nicht von einer historischen Fragestellung.28 Die Fotografien sollten also nicht nur zu Belegzwecken, sondern als Ausgangspunkt der Repräsenta­­tion verwendet werden. Man wolle die Menschen ihrer »Anonymität entreißen, um etwas über deren Schicksal und die Lebensumstände zu erfahren«.29 Die Fotografien zeigen, wie diese vor ihrem gewaltsamen Tod ausgesehen hatten: Sie zeigen Menschen, die sich nicht von anderen Menschen unterscheiden.30 Die Grenzen dieser Absicht sind an einigen Stellen hervorgehoben worden. Cornelia Brink konstatiert bei­ spielsweise, dass die privaten Fotografien den Opfern eben nicht ihre Identität zurückgeben könnten, da die Besucher Aufnahmen von Unbekannten betrachten würden. Ledig­­lich das Zeittypische, die Kleidung, die Frisuren blieben von den Personen, das Individuelle dagegen verschwinde.31 Gleichzeitig aber liegen die 28 Vgl. Cornelia Brink: Foto/Kontext. Kontinuitäten und Transforma­­tionen fotografischer Erinnerung an die na­­tionalsozia­listischen Verbrechen. In: Heidemarie Uhl (Hrsg.): Zivilisa­­ tionsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts. Innsbruck 2003, S. 67 – 86, hier S. 73. 29 Hanno Loewy: Privatfotos der Ermordeten von Auschwitz. In: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Newsletter 14 (1998), S. 13. 30 Vgl. Brink: Foto/Kontext (wie Anm. 28), S. 74. 31 Dies.: Ikonen (wie Anm. 6), S. 216 f. – Hanno Loewy konstatiert über die privaten Fotos: »Wir versuchen, Lebensgeschichte, die Kontinuität von Erfahrung zu rekonstruieren, wo uns nur technisch reproduzierte Momentaufnahmen, also gerade die zerrissene Zeit anstarrt. […] Die Diskontinuität des Mediums steht keiner realen (und wie auch immer gebrochenen) Kontinuität

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Abb. 3  Yad-­­Vashem-­­Dauerausstellung Shoah in Block 27 des Staat­­lichen Museums Auschwitz-­­ Birkenau: Wechselnde Fotografien von Überlebenden und deren Familien

Vorzüge einer solchen Darstellung der Opfer auf der Hand. Die Besucher kennen das individuelle Schicksal der Abgebildeten nicht, nur ihr kollektives. Sie kennen vielleicht auch die Namen nicht, aber sie beginnen, sich für diese zu interessieren.32 Sie versuchen, das Schicksal der Ermordeten nachzuvollziehen und sich mit den Folgen der na­­tionalsozia­listischen Vernichtungspolitik auseinanderzusetzen.33 Die Fotografien evozieren bei den Betrachtern Fragen und erfüllen somit ein zent­ rales Anliegen der Gedenkstättenpädagogik, näm­­lich eine Auseinandersetzung mit den schreck­­lichen Taten, die an diesen Orten verübt wurden. Darüber hinaus manifestieren sie den Perspektivwechsel hin zu den Opfern und ermög­­lichen ein würdiges Opfergedenken.

von Lebensgeschichte und familiärer Tradierung mehr gegenüber. […] Die Bilder, die uns die in Birkenau vergasten und verbrannten Menschen hinterlassen haben, sind abgeschnitten von ihrer eigenen Zeit und dem Leben, das sie hervorbrachte. Der Wunsch nach Kontinuität und Sinn­erfüllung, mit dem wir sie betrachten und hoffen, daß den Namenlosen Namen gegeben werden, daß wenigstens ein paar der Verstummten ihre Sprache wiederfinden und erzählen, was ihnen geschah, ist so radikal wie ohnmächtig.« Loewy: 2.400 Fotografien (wie Anm. 27), S. 14 f. 32 Vgl. Hanno Loewy: »Der Skandal ihres Schweigens«. Zu den Privatfotos der Ermordeten von Auschwitz-­­Birkenau. In: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Auschwitz: Geschichte, Rezep­­ tion und Wirkung. Frankfurt a. M. 1996, S. 259 – 297, hier S. 268. 33 Diesen Aspekt kritisiert Cornelia Brink, indem sie anführt, dass die Geschichte der Opfer in diesem ­­ Fall stets vom Ende, vom Tod der Menschen betrachtet wird. Dabei bezieht sie sich auf Dan Diners Überlegungen zur »gestauten Zeit«. Vgl. Brink: Foto/Kontext (wie Anm. 28), S. 74.

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Die im ersten Teil des Beitrags vorgenommene Problematisierung der Ver­ wendung von Täterbildern und das Plädoyer zum Einsatz privater Fotos der Opfer darf an dieser Stelle nicht als Appell zur Beseitigung von Fotografien na­­tionalsozia­listischer Herkunft aus den Ausstellungen gelesen werden. Diese wäre aus verschiedenen Gründen unmög­­lich. Zum einen bieten die privaten Fotos der Opfer Anlass für solidarisches, emphatisches Gedenken. Rückschlüsse, zum Beispiel über Herkunft und s­ ozia­le Zusammensetzung der Opfer, lassen sich aber nur mit großem historischen Spürsinn ziehen, wobei stets zu beach­ ten ist, dass die aufgefundenen Fotos nicht immer die am jeweiligen Ort getö­ teten Personen darstellen müssen. Zum anderen würden sich die Kuratoren einem Quellenproblem ausgesetzt sehen, denn es gibt von den Opfern so gut wie keine fotografischen Hinterlassenschaften ihrer Verfolgung.34 Eine visuelle Darstellung der Lager ist oft nur durch Fotografien mög­­lich. Gleichzeitig aber ist der Umgang mit Fotografien aus methodischer Sicht problembehaftet, da Bilder häufig mehr über die Befind­­lichkeit der Person hinter der Kamera aus­ sagen als über Sachverhalte vor dem Objektiv.35 Der Fluchtpunkt d­ ieses Dilem­ mas liegt im oben dargelegten erweiterten Bildverständnis, das die Fotografien als Quellen behandelt und ihre Bearbeitung und Ausstellung der historischen Methodik unterwirft. Für die Fotografien der Täter ergibt sich somit ein ganz neuer Verwendungszusammenhang. Aufgrund der dem Medium inhärenten Subjektivität und Mehrdeutigkeit ist es notwendig, die unmittelbaren Entste­ hungskontexte der Bilder erst zu dechiffrieren und sie dann in ihren historischen Kontext zu setzen und somit in ihrem Entstehungsraum neu lesbar zu machen.36 Dieser Entstehungsraum der Bilder ermög­­licht dem Betrachter Rückschlüsse über die Fotografen, in ­­diesem Fall die Täter, und trägt folg­­lich zum histori­ schen Verständnis der Ereignisse an den jeweiligen Orten bei. Gerade Fotos bieten Einblicke in die Perspektive der SS -Täter, ihre Sichtweise auf die Orte sowie auf die Verfolgten, sie spiegeln letzt­­lich die rassistische Weltanschauung der Na­­tionalsozia­listen wider.37 34 Auf den Wert künstlerischer Hinterlassenschaften der Opfer soll an dieser Stelle nicht einge­ gangen werden. Über die wenigen Bilder, die darüber hinaus unter Lebensgefahr im Inneren der Orte gemacht wurden, vgl. Georges Didi-­­Huberman: Bilder trotz allem. München 2007. 35 Vgl. Detlef Hoffmann: Fotografierte Lager. Überlegungen zu einer Fotogeschichte deut­ scher Konzentra­­tionslager. In: Fotogeschichte 14 (1994) 54, S. 3 – 20, hier S. 15. 36 Vgl. Didi-­­Hubermann: Bilder (wie Anm. 34); hier griffig zusammengefasst bei Ute ­Wrocklage: KZ-Fotografien als historische Quellen. In: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bil­ dung (= Neuengammer Kolloquien, 1). Berlin 2010, S. 244 – 261, hier S. 246. 37 Vgl. Wrocklage: KZ-Fotografien (wie Anm. 36), S. 247.

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Anregungen zur praktischen Umsetzung Der fehlende geschichtswissenschaft­­liche Täterdiskurs in Polen hat zur Folge, dass die sich im Kontext dieser Problematik ergebenden Fragestellungen auf die Konzep­­tionen der Ausstellungen keinen Einfluss haben, urteilt Tamasz Kranz.38 Die Täter kommen in den Ausstellungen nur am Rande vor. Die Gedenkstätte Bełżec beispielsweise verfügt über Bildmaterial zu den Tätern, was für einen derartigen Tötungsort sehr erstaun­­lich ist, sind doch von diesen Orten kaum zeitgenös­­sische Dokumente überliefert. In der im Jahr 2004 eröffneten Aus­ stellung werden zwei Tätergruppen in das Narrativ der Geschichte des Ortes integriert: die Architekten des Massenmords sowie die Direkttäter vor Ort. Die letztgenannte Gruppe der Vollstrecker umfasst neben den Kommandanten die SS - sowie die »Trawniki-­­Männer« (diese allerdings in ihrer Gesamtheit ohne Einzelbiografien). Um eine ungewollte Ikonisierung zu vermeiden, werden die Täter in separaten Flipbooks mittels eines biografischen Zugangs und eines Bildes präsentiert. Fragen der Charakterbeschaffenheit, der Handlungsspielräume oder Motive werden dabei nicht angesprochen, was der Leitidee der Ausstellung, dem Opfergedenken, geschuldet ist. Jener durchaus erfreu­­liche Umstand der Integra­­tion des Täterdiskurses in die Ausstellungen schöpft allerdings nicht alle Potentiale aus, verschwimmen die Täter doch in »einem stereotypen Täterbild […], in dem sie als einheit­­liches und zugleich exzep­­tionelles Kollektiv erscheinen«.39 Im Folgenden soll daher anhand von zwei Beispielen erläutert werden, inwieweit mittels der Dekonstruk­­tion von Täterfotografien Aufschlüsse über die Denk- und Motiva­­tionsstruktur einzelner SS-Männer erlangt werden können. Das bereits angesprochene, im Frühjahr 1945 im Zwangsarbeitslager Mittelbau­­Dora von Lili Jacob gefundene Auschwitz-­­Album  40 wird noch immer häufig nicht als zu entschlüsselndes Bildzeugnis verwendet, sondern als Ikone.41 Die nach 38 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Kranz: NS-Täter (wie Anm. 2), S. 31 ff. 39 Ebd., S. 34. 40 Das Album ist in digitalisierter Form abrufbar auf der Webseite von Yad Vashem, URL: http://www.yadvashem.org/yv/en/exhibi­­tions/album_auschwitz/index.asp, letzter Zugriff: 16. 06. 2015. – Für weitere Informa­­tionen zur Entstehung und Zusammenstellung vgl. Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller/Tal Bruttmann: Auschwitz im Bild. Zur kri­ tischen Analyse der Auschwitz-­­Alben. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015) 7 – 8, S. 609 – 632. 41 Vgl. Yasmin Doosry: Vom Dokument zur Ikone. Zur Rezep­­tion des Auschwitz-­­Albums. In: dies. (Hrsg.): Representa­­tions of Auschwitz. 50 Years of Photographs, Paintings and Graphics. Oświe̜cim 1995, S. 95 – 103, hier S. 103.

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­ emen wie »Ankunft eines Transportzuges«, »Aussortierung«, »Nicht mehr Th einsatzfähige Frauen und Kinder«, »Nach der Entlausung« betitelten Kapitel des Albums werden in den Ausstellungen weder in ihrem kompletten Umfang noch in ihrer bewusst vom Autor gewählten Reihenfolge und Bildauswahl wie­ dergegeben. Liest man das Album aber als fortlaufenden Bericht, so offenbart sich deut­­lich das Bemühen der Fotografen Ernst Hofmann und Bernhard ­Walter,42 ein ganz bestimmtes Bild des Lagersystems und der dort agierenden SS zu ent­ werfen: ein Bild der Leistungsfähigkeit, der Effektivität, des Ordnungssinns und des Selbstlobs dafür, ein funk­­tionsfähiges Lager für Hunderttausende aufzubau­ en.43 Auffallend ist nicht nur die hohe technische Qualität der Fotos, sondern auch die große Sorgfalt und die Aufmerksamkeit, w ­ elche der Bildkomposi­­tion gewidmet sind. Die Aufnahmen sind nicht in Eile entstanden, sondern mit gro­ ßer Akribie komponiert.44 Die genaue Entstehungsabsicht des Albums ist nicht geklärt.45 Dennoch lassen die angedeuteten Interpreta­­tionen der Fotografen und die zum Teil offen antisemitische Bildsprache einen exemplarischen Einblick in die Denkstrukturen der Täter zu. Jener Einblick kehrt sich von einem Verwen­ dungszusammenhang der Bilder als Beweis der Massenverbrechen ab und rückt sie in einen neuen, erweiterten Kontext. Dieser Blick ist umso wichtiger, da das Album eine nach ideolo­­gischen, rassistischen und auch künstlerischen Gesichts­ punkten zusammengestellte, verzerrte Wiedergabe einer Teilwirk­­lichkeit ist, die Ordnung und Fügsamkeit anstelle von Chaos und Panik zeigen sollte.46 Die Täter konstruierten ein »eigenes Bildgedächtnis, […] in dem sie sich eben nicht als Exzesstäter, voyeuristische Monster oder Gewaltsadisten darstellten, sondern als Protagonisten einer neuen Ordnung«.47 Zugleich zeigen die Fotos nur einen kleinen Zeitraum, näm­­lich die Monate ­zwischen Mai und Juli 1944. Die meisten 42 Bernhard Walter hatte in Auschwitz I, dem Stammlager, den Erkennungsdienst aufgebaut und geleitet. Ernst Hofmann war sein Mitarbeiter. Vgl. ebd., S. 98 f. 43 Vgl. ebd., S. 98, 102. 44 Vgl. Israel Gutman/Bella Gutterman (Hrsg.): Das Auschwitz Album. Geschichte eines Transports. Göttingen 2005, S. 94 f. 45 Höchstwahrschein­­lich ist das überlieferte Exemplar eine Zweitausfertigung des als Bild­ beilage für den – zweifelsohne erwarteten, aber nicht überlieferten – Endbericht der »Ungarn-­­­Ak­­tion«. Vgl. Hördler/Kreutzmüller/Bruttmann: Auschwitz im Bild (wie Anm. 40), S. 621. 46 Vgl. ebd., S. 630. – Till Hilmar schreibt diesen Bildern eine »problematische ZeugInnenschaft [zu], da die Täterperspektive […] ihre visuelle Ordnung zu einem rechnerischen, am Ablauf orientierten Blick macht«. Till Hilmar: »Storyboards« der Erinnerung. Eine empirische Fallstudie zu Geschichtsbildern und ästhetischer Wahrnehmung beim Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-­­Birkenau. Wien 2014, S. 58. 47 Knoch: Bilder der Macht (wie Anm. 5), S. 324.

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Menschen, die in Birkenau den Tod fanden, kamen eben nicht an dieser erst im Mai 1944 fertiggestellten Rampe an, sondern am Güterbahnhof.48 Die kanoni­ sierte Verwendung der Bilder ohne zeit­­liche und inhalt­­liche Einordnung lässt diesen Aspekt zumeist außer Acht. Um einen gänz­­lich anders gelagerten Fall handelt es sich bei den Fotogra­ fien, ­welche die Baugeschichte der Lager dokumentieren. Solche Fotografien sind vor allem aus den Jahren der Aufbauarbeiten der Lager erhalten geblie­ ben und unter anderem für Majdanek und Auschwitz-­­Birkenau überliefert.49 Auftrag­geber des Bauleitungs-­­Albums von Auschwitz ist vermut­­lich die Zentral­ bauleitung des Konzentra­­tionslagers, die mit zunehmender Auslastung des Erkennungsdienstes gar eine eigene Bildstelle erhielt und regelmäßig Bilder für Statusberichte zur Übersendung nach Berlin anfertigen ließ.50 Die Fotos dieser Bildstelle wurden nicht nur für die Jahresabschlussberichte des SS -Wirtschafts­ verwaltungshauptamtes angefertigt, sondern auch an hochrangige SS -Besucher zur Erinnerung überreicht und zur Eigendokumenta­­tion angefertigt. Im Januar 1944 wurden gar dreißig Fotos in der Eingangshalle des Hauptgebäudes der Zen­ tralbauleitung öffent­­lich ausgestellt:51 Pery Broad erklärte sich diesen Umstand nach dem Krieg wie folgt: Die Zentral-­­Bauleitung […] war so stolz auf ihre Leistung, [dass man] vollkommen außer acht [ließ], daß die Zivilisten, die dort aus- und eingingen, durch eine Großaufnahme von fünfzehn säuber­­lich nebeneinander liegenden Verbrennungsöfen wohl weniger zu Betrachtungen über das technische Können der Bauleitung als vielmehr zum Nachdenken über die doch sehr zwei­ felhaften Einrichtungen des Dritten Reiches angeregt werden würden.52

Diese Tatsache lässt bereits erkennen, in w ­ elchen Denkstrukturen sich der Fotograf, der SS-Unterscharführer Dietrich Kamann bewegte. Die Bilder sind fotografische

48 Vgl. Hördler/Kreutzmüller/Bruttmann: Auschwitz im Bild (wie Anm. 40), S. 630. 49 Vgl. Ute Wrocklage: Architektur zur »Vernichtung durch Arbeit«. Das Album der »Bau­ leitung d. Waffen-­­S S u. Polizei K. L. Auschwitz«. In: Fotogeschichte 14 (1994) 54, S. 31 – 43, hier S. 31. 50 Vgl. Dies.: KZ-Fotografien (wie Anm. 36), S. 258. 51 Vgl. Dies.: Architektur (wie Anm. 49), S. 34, 41. 52 Pery Broad: Bericht. In: Staat­­liches Museum Auschwitz-­­Birkenau (Hrsg.): ­Auschwitz in den Augen der SS. Rudolf Höß, Pery Broad, Johann Paul Kremer. Oświe̜cim 1998, S. 129. – Die Schilderungen Broads sind eine hochproblematische Quelle, handelt es sich doch um einen Versuch der Exkulpa­­tion seiner eigenen Person. Gleichwohl kann man ihm in ­­diesem Punkt wohl folgen, da er nicht seine eigene Person betrifft, w ­ elche er im Bericht ansonsten ganz einfach übergeht oder verfälscht darstellt.

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Inszenierungen einer »heilen Welt«, mit Tannenbäumen zur Vorweihnachts­ zeit, Aufnahmen akzeptabler sanitärer Anlagen, Fotografien eines harmonischen Arbeitsablaufes und des Einsatzes großer technischer Maschinen. All diese Foto­ grafien dienen zur Selbstdarstellung: Sie postulieren eine hohe Leistungsfähigkeit, repräsentieren einen umfassenden Gestaltungsanspruch und suggerieren einen reibungslosen Ablauf des Betriebes.53 Mit ­­diesem Beispiel der Fotografien der Bauarbeiten im Konzentra­­tionslager Auschwitz-­­Birkenau kann gezeigt werden, dass die Fotos nicht nur – großforma­ tig in den Ausstellungen verwendet – über die Größe und die Gestalt des Lagers Auskunft geben. Vielmehr sind sie in erster Linie eine Quelle für Ereignisse, die darauf gar nicht zu sehen sind. Denn der Zweck all dieser Bauunternehmungen, Massentötungen und Vernichtung durch Arbeit, erschließt sich nur demjenigen, der über das auf den Bildern Sichtbare hinausblickt.54 Obendrein lassen sich auch aus diesen Bildern Rückschlüsse auf die Täter ziehen, wenn man deren Entstehungshintergrund einbezieht und nicht ledig­­lich eine gestörte Psyche der Fotografen als Grund für die »leeren« Bilder anführt.55 Hinter dem sach­­lich beschreibenden Blick der Fotografien steigt näm­­lich ein Verwaltungsapparat mit einem geregelten Arbeitsalltag hervor.56 Gleichwohl darf dabei der Fotograf nicht exkulpiert werden, war ihm doch bewusst, dass er die Lagerwirk­­lichkeit in seinen Bildern verschleierte. Die Zentralbauleitung wird damit als »williges und weitgehend reibungslos funk­­tionierendes Organ« des na­­tionalsozia­listischen Massenmords sichtbar.57

Schlussbetrachtung »Für diejenigen Besucher von Gedenkstätten […], die den Nachkriegsgenera­­ tionen angehören und keinen persön­­lichen Bezug zu den Opfern haben, ist Gedenken nur noch in Form von Empathie und Solidarität mit den Opfern mög­­ lich«, konstatiert die Pädagogin Heike Kuhls.58 Welche Rückschlüsse müssen

53 Vgl. Wrocklage: Architektur (wie Anm. 49), S. 40. 54 Ebd., S. 41 f. 55 Vgl. Dies.: KZ-Fotografien (wie Anm. 36), S. 261. 56 Vgl. ebd. 57 Rainer Fröbe: Bauen und Vernichten. die Zentralbauleitung Auschwitz und die »End­ lösung«. In: Christian Gerlach (Hrsg.): Durchschnittstäter. Berlin 2000, S. 155 – 210, hier S. 174. 58 Heike Kuhls: Erinnern lernen? Pädago­­gische Arbeit in Gedenkstätten. Münster 1996, S. 31.

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aus ­dieser Tatsache für das Gedenken an den Orten der ehemaligen Vernich­ tungslager gezogen werden? Der vorliegende Beitrag hat sich diesem ­­ Problem mittels einiger Überlegungen zum Einsatz von Fotografien in Ausstellungen genähert. Zentrales Anliegen war es hierbei, Anregungen für einen Umgang mit Fotografien zu geben, der mit alten Sehgewohnheiten bricht und Bilder in neue Verwendungszusammenhänge stellt. Empatisch und solidarisch kann der Opfer nicht gedacht werden, wenn man die »Ikonen der Vernichtung« unkommentiert reproduziert. »Betroffenheitspädagogik«,59 die mit Überwältigung, Furcht und Mitleid arbeitet, trägt nicht zur Auseinandersetzung mit dem Thema bei, da sie ledig­­lich das Gefühl anspricht und das Verhältnis zur Vergangenheit unbestimmt lässt.60 Schlimmstenfalls kann die Konfronta­­tion mit Furcht, Grausamkeit und Schrecken gar zu gänz­­lich unintendierten, konträren Reak­­tionen führen. Denn was Alfons Söllner über die literarische Aufbereitung von Folterungen schrieb, trifft auch für Fotografien zu: Die Schockwirkung, die sie intendier[en] und zweifelsohne auch auslös[en], kann näm­­lich, gerade weil sie einen unmittelbaren Kontakt mit der asymmetrischen Konstella­­tion von Täter und Opfer herstellt, statt eines kritischen ein identifikatorisches Resultat herbeiführen […], wobei die[ses …], eher zur Identifika­­tion mit den Tätern als zur Partei­­lichkeit für die Opfer führt.61

Aus ­­diesem Grund wurde im vorherigen Abschnitt auf die erfreu­­liche Entwicklung der Integra­­tion von privaten Fotos der Opfer in die Ausstellungskonzep­­tionen eingegangen. Jene Fotografien evozieren Fragen und regen zur Auseinanderset­ zung mit der Vergangenheit an. Und auch wenn diese Bilder keine abschließen­ den Antworten auf die Fragen zulassen, ist es essentiell, sie einzusetzen. »Es gibt Fragen, auf die Antwort zu geben unmög­­lich ist, doch ebenso unmög­­lich ist es, sie nicht zu stellen«, schrieb Imre Kertész.62 In einem zweiten Aspekt wurde für einen kritischeren Umgang mit Foto­ grafien aus der Zeit des Na­­tionalsozia­lismus plädiert. Dies erfolgte anhand eines erweiterten Bildverständnisses, das Fotografien als Quellenmaterial für die historische Forschung betrachtet und somit ihre unreflektierte Verwen­ dung ledig­­lich zu Belegzwecken oder zur Illustra­­tion kritisch hinterfragt. Erst 59 Eckel: »Täterausstellungen« (wie Anm. 13), S. 202. 60 Vgl. Doosry: Vom Dokument zur Ikone (wie Anm. 41), S. 103. 61 Alfons Söllner: Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstandes«, gelesen von einem Sozia­l­ wissenschaftler. In: Leviathan 12 (1984) 3, S. 368 – 4 04, hier S. 400, zit. nach Brink: Ikonen (wie Anm. 6), S. 149. 62 Imre Kertész: Galeerentagebuch. Berlin 1993, S. 58.

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wenn die Fotos in Zusammenhang mit ihrem Gebrauch und ihren Entstehungs­ bedingungen kontextualisiert und dekonstruiert sind, sprechen die Bilder zu uns.63 Ein solcher Umgang mit fotografischen Zeugnissen stellt auch keine die Entwicklung von Medienkompetenz verhindernde »Überpädagogisierung« dar, die als »aggressive Fürsorge« gegenüber dem Besucher bezeichnet werden kann.64 Vielmehr fördert sie erst die Entwicklung von Medienkompetenz und verhindert die unreflektierte Reproduk­­tion des Täterblicks und die Entstehung eines Bilderkanons. Die hier angestellten Überlegungen sind als Anregungen zur Diskussion gedacht. Entwicklungen deutscher Gedenkstättenkonzep­­tionen mit einer Abkehr von der präsenta­­tionsleitenden Idee des »Für-­­sich-­­Sprechens« von Bildern und der unreflektierten Übernahme und Reproduk­­tion der Täterpers­ pektive, verbunden mit einer Emo­­tionalisierung durch Erschrecken und Abscheu haben in Deutschland bereits Anfang der 1990er Jahre begonnen sich durch­ zusetzen.65 Diese Entwicklung ist allerdings nicht zeitgebunden und kein Aus­ druck von Fortschritt­­lichkeit. Vielmehr zeigt der argumentative Verwendungs­ zusammenhang der Bilder in den hier betrachteten polnischen Gedenkstätten, dass der Fotografie eine starke Beweiskraft zugeschrieben wird.66 Im Falle der neuen von Yad Vashem konzipierten Dauerausstellung im Staat­­lichen Museum Auschwitz-­­Birkenau lässt sich diese Tatsache am Quellenwert ablesen, den man dem Auschwitz-­­Album zumisst. Jenes Album sei »the only surviving visual evidence of the process leading to the mass murder at Auschwitz-­­Birkenau«.67 Ferner darf bei all diesen Überlegungen der na­­tionale Kontext nicht außer Acht gelassen werden. Gedenkstätten erinnern an Opfer verschiedener ethnischer Herkunft und sind somit sowohl Räume der Begegnung als auch der Rivalität von Vergangenheitsbildern.68 Fotos von Gefangenen hinter Stacheldraht ­können 63 Vgl. Milton: Argument (wie Anm. 4), S. 87. – Umso erfreu­­licher ist das interna­­tionale ­Forschungsprojekt der École des Haute Études en Sciences Sociales, der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-­­Dora und der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-­­Konferenz zu wer­ ten, dessen Anliegen die kritische Analyse und sequenzielle Rekonstruk­­tion der überlieferten Fotos aus dem KZ Auschwitz-­­Birkenau ist. 64 Rolf Schmölling: Tagungsbericht »Präsenta­­tion von SS-Personal in KZ-Gedenkstätten – Quellen und Überlieferungen« der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und der Stiftung Brandenbur­­gische Gedenkstätten. In: Gedenkstättenrundbrief 118 (2004), S. 35 – 38, hier S. 37. 65 Vgl. Knigge: Schädelstätte (wie Anm. 1), S. 24 f. 66 Vgl. Hoffmann: Fotografierte Lager (wie Anm. 35), S. 10. 67 Yad Vashem: The Auschwitz Album. Digitalisiert abrufbar unter der URL: http://www. yadvashem.org/yv/en/exhibi­­tions/album_auschwitz/intro.asp, letzter Zugriff: 17. 06. 2015. 68 Vgl. Wiesław Wysok: Das vielfältige Gedächtnis an die Shoah und den Zweiten Weltkrieg als Herausforderung für Euro­päische Bildung. Erfahrungen aus einer pädago­­gischen Arbeit im

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als Dokumente der Anklage, der Illustra­­tion, als historische Quelle oder des Memento mori gelesen werden. Das ­g leiche Motiv kann jeweils in Israel, Polen, Deutschland oder den USA unterschied­­lich gedeutet werden.69 Gerade aus Sicht der Überlebenden oder Angehörigen sind Empathie, Würdigung und Gedenken in dieser Sicht von größerer Bedeutung als kognitiv orientierte Informa­­tions- oder Lernangebote.70 Dieses Ansinnen wird gerade in den Gedenkstätten Majdanek und Auschwitz, die den Anspruch verfolgen, das Lagergelände als »authentisch« zu konservieren, mit den Sehgewohnheiten vor allem westeuro­päischer Besucher konfrontiert. Für große Teile derer »schrumpft die Geschichte des Lagers auf ste­ reotyp gewordene Metaphern des Grauens zusammen. Die Ausein­andersetzung mit der Vergangenheit beschränkt sich darauf, d­ ieses Grauen sehen zu wollen, um sich rhetorisch von ihm zu distanzieren.« 71 Erschreckende Fotos von Lei­ chenbergen in Großformat gehören ebenso zu dieser Erwartung wie Berge von Schuhen und Menschenhaar. Es gibt keinen Königsweg eines »richtigen« Umgangs mit Fotografien. Gleichwohl wollen die hier gegebenen Anregungen wesent­­liche Ziele der Gedenkstättenpädagogik miteinander verbinden: die Vermittlung von Wissen über die Ereignis- und Rezep­­tionsgeschichte der na­­tionalsozia­listischen Ver­ brechen,72 die Entwicklung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichts­ bewusstseins sowie eines emphatischen und solidarischen Opfergedenkens. Einige der hier angestellten Überlegungen lassen sich in den neuen Ausstellun­ gen der Gedenkstätten bereits wiederfinden. Durch großes persön­­liches Engage­ ment versuchen deren pädago­­gische Abteilungen jenen Spagat ­zwischen den unterschied­­lichen Haltungen und Erwartungen der Besucher zu vollbringen. Dabei sind sie häufig nicht nur in ihrer finanziellen Ausstattung eingeschränkt, sondern vor allem durch die Tatsache, dass die historischen und geschichts­ kulturellen Kompetenzen der Besucher naturgemäß nicht mit dem Stand der Forschung Schritt halten.

Statt­­lichen Museum Majdanek. In: Paul Ciupke/Guido Hitze (Hrsg.): Gedenkstätten­ arbeit und Erinnerungskultur. Ein deutsch-­­polnischer Austausch. Essen 2014, S. 153 – 163, hier S. 154. 69 Vgl. Brink: Foto/Kontext (wie Anm. 28), S. 76. 70 Vgl. Knigge: Schädelstätte (wie Anm. 1), S. 26. 71 Ebd., S. 29. 72 Vgl. Jana Jelitzki/Mirko Wetzel: Über Täter und Täterinnen sprechen. Na­­tionalsozia­ listische Täterschaft in der pädago­­gischen Arbeit in KZ-Gedenkstätten. Berlin 2010, S. 122.

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Kulmhof/Chełmno nad Nerem Der historische Ort Chełmno nad Nerem 1 ist ein Dorf wie viele andere. Bestehend aus etwa fünf­ zig Häusern mit einer katho­­lischen ­­Kirche, liegt der Ort an der Straße Nr. 473 ­zwischen Dąbie und Koło, wenige hundert Meter nordöst­­lich der polnischen Autobahn A2 (E30) auf halbem Weg ­zwischen Poznań und Łódź. Die obere Hälfte der markanten weißen ­­Kirche ist von der Autobahn aus sichtbar, der Rest des Dorfes liegt hinter Bäumen versteckt. Wer die Autobahn bei Dąbie verlässt und etwa neun Kilometer Richtung Koło fährt, findet in Chełmno nad Nerem bis auf ein kleines weißes Schild, das auf ein Museum verweist, kaum Beunruhigendes oder Bemerkenswertes und könnte so den Ort alsbald wieder vergessen haben. Kulmhof, wie das Dorf z­ wischen 1939 und 1945 unter deutscher Besatzung hieß, war zunächst ein Experiment und das Ergebnis der Entscheidungen regionaler NS -Machthaber, der keineswegs von seiner Umgebung und den dort lebenden Menschen abgeschirmte Schauplatz einer sogenannten geheimen Reichssache. Für mindestens 152.000 verfolgte und verschleppte Menschen war Kulmhof jedoch weder ein Experiment noch ein unscheinbares Dorf, sondern ein Tötungsort.2 Dabei fungierte Kulmhof weder als eigenständiges Konzentra­­tionslager wie ­Auschwitz oder Majdanek noch war es Teil der sogenannten Ak­­tion Reinhard und unterstand somit nicht, wie die Tötungsorte Sobibór, Treblinka und Bełżec, deren Organisator Odilo Globocnik. Auf neu annektiertem deutschem Reichs­ gebiet gelegen, war es zunächst Bindeglied bereits bestehender Tötungspraktiken und dem erst ­später formulierten Ziel, mög­­lichst alle von den Na­­tionalsozia­listen als »Juden«, »Zigeuner«, »lebensunwert« oder nach anderen rassistischen Zuschreibungen definierte Menschen zu töten. Die Entscheidung zur Tötung der vor allem als »jüdisch« begriffenen Bevölke­ rung Europas fiel nicht durch einen expliziten Befehl Hitlers.3 Vielmehr resultierte

1 Der Ort ist nicht zu verwechseln mit der etwa 170 Kilometer weiter nörd­­lich am Fluss Wisła (Weichsel) gelegenen Stadt Chełmno. 2 Vgl. Patrick Montague: Chełmno and the Holocaust. The History of Hitler’s First Death Camp. Chapel Hill 2012, S. 183 – 188. 3 Vgl. Christopher Browning: Die Entfesselung der »Endlösung«. Na­­tionalsozia­ listische Judenpolitik 1939 – 1942. Berlin 2006, S. 604 – 610; Peter Longerich: Der

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sie aus einem Zusammenspiel von ideolo­­gischen Rahmenbedingungen, praktischen Erfahrungswerten, Kompetenzstreitigkeiten der zahlreichen involvierten Stellen und nicht zuletzt der Eigeninitiative einzelner Personen. Am 16. Juli 1941 sandte Rolf-­­Heinz Höppner, Chef der Stelle des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD ) in Posen, eine Zusammenfassung der damals geführten Diskussionen über Vorschläge, wie mit der jüdischen Bevölkerung im »Wartheland« umzu­ gehen sei, an das Referat  IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unter Leitung Adolf Eichmanns. In Bezug auf die Überlegung zur Errichtung eines Zwangs­arbeits- und Internierungslagers für 300.000 Personen merkte Höppner an, dass die Versorgung mit Lebensmitteln dieser Menge an Personen im folgen­ den Winter nicht mehr zu gewährleisten sei: Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.4

Ob Höppner bei dieser »humansten« Lösung an die zu ­­diesem Zeitpunkt schon vielfach praktizierte und als »Euthanasie« verklärte Massentötung von Menschen, die »als verrückt, lästig oder pein­­lich empfunden wurden, weil sie unnormal, gemeingefähr­­lich, arbeitsunfähig oder dauernd pflegebedürftig waren«,5 dachte, kann hier nicht geklärt werden. Doch dürfte auch dem SD bekannt gewesen sein, dass das sogenannte Sonderkommando Lange, benannt nach seinem Lei­ ter ­Herbert Lange, auf Befehl des Höheren SS - und Polizeiführers im »Wart­ heland«, Wilhelm Koppe, bereits seit Ende 1939 Menschen in psychiatrischen Einrichtungen mittels Kohlenmonoxyd aus Gasflaschen tötete. Damit führte das »Sonderkommando« eine Praxis fort, die in den von den Na­­tionalsozia­listen so benannten »Heil- und Pflegeanstalten« auf deutschem Reichsgebiet bereits ausgeführt worden war, größtenteils mit demselben Personal.6 ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur »Endlösung«. München 2001, S. 185 – 192; Nikolaus Wachsmann: KL . A History of the Nazi Concentra­­tion Camps. New York/ London 2015, S. 292. 4 Zit. nach Josef Wulf (sic!): Lodz. Das letzte Ghetto auf polnischem Boden (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, 59). Bonn 1962, S. 81. 5 Götz Aly: Die Belasteten. »Euthanasie« 1939 – 1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frank­ furt a. M. 22013, S. 9. 6 Vgl. Peter Klein: Kulmhof/Chełmno. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, Bd. 8: Riga-­­Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płaszów, Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München 2008, S. 301 – 328, hier S. 303 f.; Montague: Chełmno (wie

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Auch höhere Stellen wurden in Eigeninitiative aktiv. Arthur Greiser, Reichs­ statthalter und Gauleiter im »Wartheland« und damit Bindeglied ­zwischen Staat und Partei, traf sich nur zwei Tage nach dem Schreiben Höppners mit Hitler. Obgleich der Inhalt der Unterredung nicht überliefert ist, schien Greiser sich von höchster Stelle sein Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung bestätigen zu lassen. Kurz darauf folgte die generelle Entscheidung, sie aus dem neuen Reichs­ gebiet in einen Zwangswohnbezirk im eroberten Łódź, dem sogenannten Ghetto Litzmannstadt zu deportieren.7 Zeitgleich suchte das »Sonderkommando Lange« selbst schon nach einem geeigneten Ort, um die mobile Tötung an einer Stelle zu zentrieren. Im Herbst 1941 erschien Lange persön­­lich in Kulmhof und besprach mit dem zuständigen Amtskommissar Konrad Schulz die Mög­­lichkeiten der Nutzung einiger Gebäude des Dorfes und schien dabei klar darzulegen, ­welchen Zweck das Gebäude zu erfüllen habe.8 Am 1. Oktober erfolgte schließ­­lich der Abschluss des Pachtver­ trags über einen Teil des Geländes der Kreisgärtnerei z­ wischen dem Landrat­ samt Warthbrücken (Koło) und dem »Sonderkommando«, vertreten durch die Staatspolizeistelle Litzmannstadt. Das Gelände umfasste das sogenannte Schloss, ein verfallenes und unbewohntes Gutshaus, das zur Dorfstraße hin von einem größeren Hof begrenzt wurde. An der west­­lichen Seite befanden sich ein Kornspeicher und dahinter das Gelände der Gärtnerei. Wie heute führte damals hinter dem Haus ein steiler, bewachsener Hang zum Fluss Nehr (Ner). Auf der öst­­lichen Seite fiel das Gelände ebenfalls ab, und etwa einhundert Meter Anm. 2), S. 9 – 47; Volker Riess: Die Anfänge der Vernichtung »lebensunwerten Lebens« in den Reichsgauen Danzig-­­Westpreußen und Wartheland 1939/40. Frankfurt a. M. 1995, S. 243 – 353. 7 Vgl. Catherine Epstein: Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupa­­tion of Western Poland. New York 2010, S. 183 – 192; Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 304; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 39. 8 Diese Sicht bei Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 51. – Montague stützt sich hier auf Zeugenaussagen, die eine polnische Kommission bereits 1945 von Ansässigen in Chełmno nad Nerem gesammelt hatte und die im Archiv der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung Na­­tionalsozia­listischer Verbrechen in Ludwigsburg liegen. Darin finden sich auch Aussagen ehemaliger in Kulmhof ansässiger Deutscher, wie etwa Erhard Michelsohn, einer der damals neu angesiedelten Deutschen im Ort. Ein Ausschnitt findet sich bei Łucja Pawlicka-­­Nowak (Hrsg.): Chełmno Witnesses Speak. Konin 2004, S. 201. – Seine Frau, Martha Michelsohn, wurde ­später von Claude Lanzmann in dessen Dokumentarfilm Shoah interviewt. Vgl. Claude Lanzmann (R.): Shoah, 2. Teil. F 1985. TC: 00:50:05 – 00:55:04 und 01:16:23 – 01:19:34. – Die von Lanzmann nicht verwendeten Szenen finden sich in der Claude Lanzmann Shoah Collec­­tion des United States Holocaust Memorial Museum: Film ID: 3352 – 3354, Auszüge abrufbar unter der URL: http://collec­­tions.ushmm.org/search/catalog/ fv5134, letzter Zugriff: 06. 04. 2016.

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weiter öst­­lich befand sich schon damals die markante K ­­ irche mit einem kleinen Friedhof.9 Bis November 1941 wurden etwa viertausend als »arbeitsunfähig« eingestufte Menschen aus den zuvor eingerichteten »offenen« Landghettos für die als jüdisch definierte Bevölkerung vom »Sonderkommando« getötet. Ab Dezember blieb das Kommando dann fest in Kulmhof sta­­tioniert und wurde durch Beamte der Schutzpolizei verstärkt.10 Die Verwaltung Kulmhofs lief wie das »Sonderkommando« über die »Reichs­ statthalterei« in Posen. Die finanzielle Organisa­­tion wurde über die Abteilung I abgewickelt, geleitet von Herbert Mehlhorn, einem promovierten Juristen und frühen Mitglied der SA .11 Auf das neu eingerichtete Sonderkonto bei der Stadt­ sparkasse Litzmannstadt wurden bis Ende 1943 1,9 Millionen Reichsmark an geraubtem Bargeld eingezahlt. Weitere 460.000 Reichsmark wurden mit der Plünderung der aufgelösten Ghettos erzielt und eine weitere Million mit der Verwertung der gestohlenen Wertsachen. Mit Devisen ergab sich so eine Summe von etwa 3,5 Millionen Reichsmark. Angesichts der etwa 145.000 Menschen jedoch, die bis zur zeitweiligen Auflösung des Tötungsorts im Frühjahr 1943 umgebracht worden waren, ergaben sich dadurch ledig­­lich etwa 24 Reichsmark pro Person, die die NS -Propaganda der vermeint­­lichen jüdischen Reichtümer eindrück­­lich widerlegen.12 Doch zeigt sich auch, dass die gezielte Beraubung der Menschen für die Täter von Bedeutung war, auch um den Tötungsprozess selbst finanzieren zu können.13

9 Vgl. das Kartenmaterial in: The Council for the Protec­­tion of Memory of Combat and Martyrdom in Warsaw (Hrsg.): The Extermina­­tion Center for Jews in Chełmno­­on-­­Ner in the Light of Latest Research. Symposium Proceedings, September 6 – 7, 2004. Konin 2004, Beil. 1; Weiterhin Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 305 f.; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 49 f. 10 Vgl. Peter Klein: Massentötung durch Giftgas im Vernichtungslager Chełmno. In: G ­ ünter Morsch/Bertrand Perz (Hrsg.): Neue Studien zu na­­tionalsozia­listischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung (= Schriftenreihe der Stiftung Brandenbur­­gische Gedenkstätten, 29). Berlin 2011, S. 176 – 184, hier S. 178; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 39 – 41. 11 Vgl. Michael Alberti: Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Warthe­ land 1939 – 1945. Wiesbaden 2006, S. 59. 12 Vgl. die Angaben bei Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 310 – 314. 13 Vgl. Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und na­­tionaler Sozia­lismus. Bonn 2007, S. 311 – 318; Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-­­Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka (= Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts). Hamburg 2013, S. 177 – 187; Raul Hilberg: Die Vernichtung der euro­päischen Juden, Bd. 2. Frankfurt a. M. 91999, S. 1013 – 1027.

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Mit der Etablierung eines festen Ortes veränderte das »Sonderkommando Lange« seine einstudierte Tötungsweise. Im Rahmen der s­ päter so bezeichneten Ak­­tion T4 wurden Menschen in abgeschlossenen Räumen mit Kohlenmonoxyd aus eigens dafür gelieferten Flaschen getötet. Die ersten Gaswagen 14 wurden vermut­­lich nach dem Überfall auf Polen bei der Räumung der psychiatrischen Einrichtungen eingesetzt und fungierten als mobile Erstickungsräume, in denen die Menschen ebenfalls mittels Kohlenmonoxyds aus Flaschen getötet wurden. Erst im Herbst 1941 wurden in Minsk erstmals Menschen mittels Automotor­ abgasen erstickt. Hierbei wirkten das Kriminaltechnische Institut des RSHA, das einem Befehl Himmlers folgte, mit der Einsatzgruppe B zusammen. Gemeinsam mit einer Berliner Firma für Kastenaufbauten wurden anschließend die Gaswa­ gen entwickelt und wohl erstmals von der Einsatzgruppe C im November 1941 benutzt.15 Neben der personellen Kontinuität der »Ak­­tion T4« zu Beginn der Massentötungen durch das »Sonderkommando Lange« lässt sich hier also auch eine technische Fortschreibung erkennen.16 Der Ablauf der Tötungen in der ersten Phase von Kulmhof von 1941 bis 1943 war von der stetigen Fortentwicklung durch die Täter geprägt. Die Taten folgten etwa folgendem Muster: Die zusammengetriebenen Menschen wur­ den anfangs auf Lastkraftwagen nach Kulmhof gebracht. Nach der Errich­ tung einer Schmalspurbahn z­ wischen Warthbrücken und Kulmhof fungierte dann ein kleiner Bahnhof im Ort selbst als hauptsäch­­licher Ankunftsort, bevor sie dann wenige hundert Meter zum »Schloss«-Gelände laufen muss­ ten. Ein Angehöriger des »Sonderkommandos« erklärte den ankommenden Menschen daraufhin, dass man sie nach Kulmhof gebracht habe, um sie zum Arbeitseinsatz weiterzutransportieren. Zunächst aber müsse man sie duschen 14 Die Bezeichnung »Gaswagen« ist eine nachträg­­liche. In den Dokumenten der Täter wird zumeist von Sonderwagen, Sonderfahrzeugen, Spezialwagen und S-Wagen gesprochen. Vgl. Mathias Beer: Die Entwicklung der Gaswagen beim Mord an den Juden. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35 (1987) 3, S. 403 – 417, hier S. 403; ders.: Gaswagen. Von der »Eutha­ nasie« zum Genozid. In: Günter Morsch/Bertrand Perz (Hrsg.): Neue Studien zu na­­tionalsozia­listischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung (= Schriftenreihe der Stiftung Brandenbur­­gische Gedenkstätten, 29). Berlin 2011, S. 153 – 164. 15 Vgl. ders.: Entwicklung (wie Anm. 14), S. 408 – 412; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 199 – 211. 16 Vgl. Sascha Topp: Krankentötungen in Ostpreußen. Ein Vergleich der »Ak­­tion Lange« und der »Ak­­tion T4«. In: Maike Rotzoll u. a. (Hrsg.): Die na­­tionalsozia­listische »Euthanasie«Ak­­tion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart. Paderborn 2010, S. 169 – 174; Witold Kulesza: »Euthanasie«-Morde an polnischen Psychia­ triepatient/innen während des Zweiten Weltkriegs. In: ebd., S. 175 – 178.

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und desinfizieren, was in dem Gebäude vor ihnen – dem »Schloss« – gesche­ hen werde. Im Vorhof mussten sie sich zunächst entkleiden und ihre Wert­ sachen abgeben. Anfangs wurden hierfür noch Wertmarken ausgegeben, um die verängstigten Menschen im Glauben zu lassen, dass sie tatsäch­­lich weiter­ transportiert werden würden. Diese Praxis verwarfen die Täter jedoch relativ schnell aufgrund des für sie zu großen Aufwands. Anschließend trieb sie das »Sonderkommando« in den Keller des »Schlosses«. Am Ende des dunklen Kellerkorridors schien Tages­­licht, sodass das »Sonderkommando« mitunter darauf verzichtete, den Gang der Gruppe zu beeinflussen, weil die Menschen von selbst zum hellen Ende des Korridors drängten. Oftmals aber trieben sie die Menschen auch unter Schlägen und mit Peitschen in diese Richtung.17 Um die Tarnung aufrechtzuerhalten, waren im Keller Schilder mit der Aufschrift »Zum Bad« angebracht.18 Am Ende des Korridors gelangten die Menschen auf eine hölzerne Rampe, an deren Ende einer der drei eingesetzten Gaswagen mit geöffneten Türen stand. In Panik und unter Schlägen wurden in die beiden kleineren Wagen etwa 60 bis 80, in den größeren etwa 100 bis 120 Personen gezwängt. Der größte Wagen war, zumindest in der frühen Phase, mit »­Kaisers ­Kaffee Geschäft« beschriftet, eine weitere Parallele zur »Ak­­tion T4«.19 Nach­ dem die Türen verschlossen worden waren, kroch ein Mitglied des »Sonder­ kommandos« zur Unterseite des Wagens und befestigte ein Rohrstück an einer Mündung, über das die Abgase des Motors direkt in den Kastenaufsatz geleitet wurden. Der Fahrer startete den Wagen, und nach einigen Minuten verstummten die letzten Schreie. Die Menschen wurden durch das Kohlenmo­ noxyd noch auf dem Hofgelände erstickt, es gibt aber auch Zeugenaussagen, dass einige diesen Vorgang zunächst überlebten. Der Tod trat meist nach etwa zehn Minuten ein, der Motor wurde nach insgesamt etwa fünfzehn Minuten abgestellt. Anschließend wurde das Rohr wieder abgeschraubt und der Wagen fuhr zum etwa fünf Kilometer entfernten Verscharrungsort, von den Tätern »Waldlager« genannt, einer erweiterten Lichtung im sonst dichtbewachsenen 17 Vgl. Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 306 f.; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 76 – 79. 18 Dieses Detail findet sich sowohl in Täter- als auch in Überlebendenaussagen. Vgl. die Aussage von Kurt Möbius, der häufig bei den Ankünften am »Schloss« eingesetzt war, zu finden bei Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 77, und die Aussage Mordka Żiurawskis, zit. nach Pawlicka-­­Nowak: Chełmno Witnesses Speak (wie Anm. 8), S. 131. 19 Ein Wagen mit luftdichtem Kastenaufsatz und der Aufschrift »Kaisers ­Kaffee Geschäft«, einer bekannten Kaffeerösterei, wurde schon bei den ersten Tötungen mit Motorabgasen eingesetzt. Vgl. Beer: Entwicklung (wie Anm. 14), S. 405; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 64, 203 f.

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Wald von Rzuchów, die von Schutzpolizisten bewacht wurde. Später wurden zwei weitere nahegelegene Lichtungen für zusätz­­liche Gräber durch Zwangs­ arbeiter gerodet.20 Dort angelangt, fuhr der Wagen an langgezogene Gräben heran, die zuvor durch jüdische Gefangene, das sogenannte Waldkommando, ausgehoben w ­ orden waren. Die Gefangenen mussten die Leichen aus dem Wageninneren ziehen und in die Gruben legen oder werfen. Wenn Einzelne den Tötungsprozess überlebt hatten, wurden sie von SS-Angehörigen erschossen.21 Der Überlebende »­Szlamek« berichtet es so: Aus dem Lastauto wurden die Vergasten wie Abfall auf einen Haufen geworfen. Sie wurden an den Beinen oder an den Haaren geschleppt. Oben standen zwei Männer, die die Leichen in die Grube hinunterwarfen, und in der Grube standen zwei andere Männer, die sie aufschichteten und die Leichen mit dem Gesicht zur Erde legten, so dass beim Kopf der einen die Füße der nächsten lagen. Diese Arbeit leitete ein besonderer SS-Mann, der befahl, was man tun sollte. Wenn irgendwo ein Stück freier Platz blieb, wurde dort die Leiche eines Kindes hineingepresst. Das alles verlief sehr brutal. Der, der mit einem Kiefernzweig in der Hand oben stand, diri­ gierte, wo der Kopf, wo die Beine, wo die Kinder und wo die Sachen hinkommen sollten. All das begleiteten Schläge und wütende Schreie: »Du Sakrament!« Eine Schicht umfasste 180 bis 200 Leichen. Nach jeweils drei Autos wurden ungefähr zwanzig Totengräber eingesetzt, die die Leichen zuschütteten. Anfangs mussten jeweils zwei Gruben zugeschüttet werden. Später, als die Zahl der Autos auf neun wuchs (neunmal jeweils 60 Leichen), mußten wir pro Tag drei Gruben zuschütten.22

20 Vgl. Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 307; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 78 – 81, 91. 21 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 163. 22 »Szlamek«, ein Überlebender des »Waldkommandos«, hieß vermut­­lich Szlama Winer. Nach sei­ ner Flucht aus Kulmhof schlug er sich unter falschem Namen, oft als Jakub Grojanowski, bis nach Warschau durch. Dort angekommen, wurden seine Erfahrungen aufgezeichnet, im Ringelblum­­Archiv verwahrt und nach dem Krieg wiederentdeckt. Winer ging anschließend nach Zamość und berichtete dem Archiv von der Existenz eines weiteren Tötungsortes: Bełżec. Wenige Tage darauf wurde er erneut gefangen genommen und auf dem Weg oder direkt in Bełżec getötet. Vgl. Andrzej Grzegorczyk/Piotr Wąsowicz: Kulmhof Death Camp in Chełmno-­­on-­­Ner. A Guide to a Place of Rememberance. Luboń 2015, S. 32; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 241; Shmuel Krakowski: Das Todeslager Chełmno/Kulmhof. Der Beginn der »End­ lösung«. Göttingen 2007, S. 61 – 69; Zitat bei Manfred Struck (Hrsg.): Chelmno/Kulmhof. Ein vergessener Ort des Holocaust? Bonn/Berlin 2001, S. 59 f. – Winers Bericht und sein letzter Brief an Hersz Wasser sowie eine Postkarte Abram Bajlers, Winers Neffen, in der er Hersz W ­ asser von Winers Deporta­­tion berichtet, finden sich in: Ruta Sakowska: Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer.

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Zuvor musste das jüdische Zwangsarbeitskommando die Toten nach Wertsachen durchsuchen und Goldzähne herausbrechen.23 Der Gaswagen wurde abschließend gereinigt und fuhr zurück zum »Schloss«. Zur selben Zeit sortierten jüdische Gefangene des »Hauskommandos« in Kulmhof die Kleidung und Gepäckstücke der zuvor Getöteten und legten sie im Kornspeicher ab. Mit Einsetzen des Som­ mers mussten zunächst provisorische, s­ päter festinstallierte Erdverbrennungsöfen im »Waldlager« von den Gefangenen errichtet werden, in denen die exhumierten Leichen und auch die soeben Getöteten verbrannt wurden. Die Schornsteine der Verbrennungsöfen überragten den Wald und waren, ebenso wie der Rauch, weithin sichtbar. Die Verbrennungen geschahen unter Anleitung des SS-Standartenführers Paul Blobel, der sich den Ruf eines »Experten« für die Beseitigung von Leichen »erarbeitet« hatte, die »Sonderak­­tion 1005« zur Verwischung von Spuren der Massentötungen leitete und sogar mit Hans Bothmann bezüg­­lich des effizientesten Vorgehens im Wettstreit stand.24 Die Reste der Leichen wurden mittels einer aus einer Mühle im nahegelegenen Zawadka entwendeten Knochenmühle zermahlen und gemeinsam mit der Asche der Toten vergraben oder in den Ner geschüttet.25 Auf diese Weise wurden z­ wischen Januar und April 1942 etwa 44.000 Men­ schen aus dem Ghetto Litzmannstadt und ab Mai 1942 weitere 11.000 aus dem Reichsgebiet getötet. Andere Verfolgte stammten aus den Landghettos des Regie­ rungsbezirkes und aus Krankenhäusern. Mehrere hundert als »Zigeuner« Ver­ folgte sowie rus­­sische und polnische Kriegsgefangene wurden in Kulmhof getötet, wobei wohl vor allem die polnischen Gefangenen direkt im Wald erschossen und nicht in den Gaswagen erstickt wurden. Im Durchschnitt töteten die Deutschen so etwa 1000 Menschen pro Tag.26 Am Ende der ersten Tötungsperiode in Kulm­ hof war die Zahl auf etwa 145.000 Menschen angewachsen.27 Ein historischer Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-­­Archiv 1941 – 1943 (= Publika­­tionen der Gedenkstätte Haus der Wannsee-­­Konferenz, 3). Berlin 1993, S. 159 – 195. 23 Vgl. die Aussagen Mordechaï Podchlebniks und Szymon Srebrniks in: Pawlicka-­­Nowak: Chełmno Witnesses Speak (wie Anm. 8), S. 122, 127. 24 Vgl. Andrej Angrick: Opera­­tion 1005. The Nazi Regime’s Attempt to Erase Traces of Mass Murder. In: Interna­­tional Holocaust Rememberance Alliance (Hrsg.): Killing Sites. Research and Remembrance (= IHRA Series, 1). Berlin 2015, S. 47 – 59, hier S. 49. 25 Vgl. Jens Hoffmann: »Das kann man nicht erzählen«. »Ak­­tion 1005« – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten. Hamburg 2008; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 114 ff., 165; Adalbert Rückerl (Hrsg.): Na­­tionalsozia­listische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno. München 1978, S. 273 f. 26 Unter den Verantwort­­lichen soll es den Spruch »Ein Tag, ein Tausend« gegeben haben. Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 184. 27 Vgl. die Angaben im »Lagebericht der Gestapo in Łódź über die Massendeporta­­tion der Juden aus dem Regierungsbezirk Łódź ins Vernichtungslager Kulmhof«, in: Jüdisches Historisches

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Da Kulmhof der erste Ort war, an dem eine große Zahl an Menschen in kur­ zer Zeit getötet und ihre Körper verbrannt und verscharrt wurden, nutzten die Täter ihr erlangtes Wissen um die notwendigen technischen Abläufe und teilten es mit den entscheidenden Stellen im RSHA. Im September 1942 besuchte Rudolf Höß, seit Mai 1940 Lagerkommandant in Auschwitz, Kulmhof und besichtigte die Verbrennungsanlagen.28 Bereits im Juni desselben Jahres, nur sieben Monate nach Beginn der Tötungen in Kulmhof, lobte Walther Rauff, Gruppenleiter im RSHA und zuständig für die Weiterentwicklung der Gaswagen, in einem Schrei­ ben die Funk­­tionsweise der Wagen und fasste die aus seiner Sicht notwendigen Veränderungen folgendermaßen zusammen: Seit Dezember 1941 wurden beispielsweise mit 3 eingesetzten Wagen 97.000 verarbeitet, ohne daß Mängel an den Fahrzeugen auftraten. […] Die Beschickung der Wagen beträgt normalerweise 9 – 10 pro m². […] Eine Verkleinerung der Ladefläche erscheint notwendig. Sie wird erreicht durch Verkürzung des Aufbaues um circa 1 m. Vorstehende Schwierigkeit ist nicht, wie bisher, dadurch abzustellen, daß man die Stück­ zahl bei der Beschickung vermindert. Bei einer Verminderung der Stückzahl wird ­näm­­lich eine längere Betriebsdauer notwendig, weil die freien Räume auch mit CO angefüllt werden müssen. Dagegen reicht bei einer verkleinerten Ladefläche und vollständig ausgefülltem Laderaum eine erheb­­lich kürzere Betriebsdauer aus, weil freie Räume fehlen. In einer Besprechung mit der Herstellerfirma wurde von dieser Seite darauf hingewiesen, daß eine Verkürzung des Kastenaufbaues eine ungünstige Gewichtsverlagerung nach sich zieht. Es wurde betont, daß eine Überlastung der Vorderachse eintritt. Tatsäch­­lich findet aber ungewollt ein Ausgleich in der Gewichtsverteilung dadurch statt, daß das Ladegut beim Betrieb in dem Streben nach der hinteren Tür immer vorwiegend dort liegt. Hierdurch tritt eine zusätz­­liche Belastung der Vorderachse nicht ein. […] Um eine hand­­liche Säuberung des Fahrzeuges vornehmen zu können, ist der Boden in der Mitte mit einer dicht verschließbaren Abflußöffnung zu versehen. Der Abflußdeckel mit etwa 200 bis 300 mm Ø erhält einen Syphonkrümmer, sodaß dünne Flüssigkeit auch während des Betriebes ablaufen kann. Zur Vermeidung von Verstopfungen ist der Krümmer oben mit einem Sieb zu versehen. Dicker Schmutz kann bei der Reinigung des Wagens durch die große Abflußöffnung fortgespült werden. Der Boden des Fahrzeuges ist zur Abflußöffnung leicht zu

Institut Warschau (Hrsg.): Faschismus – Getto – Massenmord: Dokumenta­­tion über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des 2. Weltkrieges. Berlin (Ost) 1960, S. 285 f.; weiterhin Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 308 ff.; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 119 – 127. 28 Vgl. Wachsmann: KL (wie Anm. 3), S. 315.

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neigen. Hierdurch soll erreicht werden, daß alle Flüssigkeiten unmittelbar zur Mitte abfliessen. Ein Eindringen der Flüssigkeiten in die Röhren wird somit weitgehendst unterbunden. […] Aus der Praxis wurde vorgeschlagen, die Lampen entfallen zu lassen, da sie angeb­­lich nie gebraucht werden. Es wurde aber in Erfahrung gebracht, daß beim Schließen der hinteren Tür und somit bei eintretender Dunkelheit immer ein starkes Drängen der Ladung nach der Tür erfolgte. Dieses ist darauf zurückzuführen, daß die Ladung bei eintretender Dunkelheit sich nach dem Licht drängt. Es erschwert das Einklinken der Tür. Ferner wurde festgestellt, daß der auftretende Lärm wohl mit Bezug auf die Unheim­­lichkeit des Dunkels immer dann ein­ setzt, wenn sich die Türen schließen. Es ist deshalb zweckmäßig, daß die Beleuchtung vor und während der ersten Minuten des Betriebes eingeschaltet wird. Auch ist die Beleuchtung bei Nachtbetrieb und beim Reinigen des Wageninnern von Vorteil.29

Dieses Schreiben illustriert, wie selbst im internen Schriftverkehr die Tarnung der Verbrechen durch entsprechende Sprachwahl aufrechtzuerhalten versucht wurde. Gleichwohl lassen Begriffe wie »verarbeitet«, »Stückzahl« und »Ladegut« in Verbindung mit der expliziten Nennung Kulmhofs keinen Zweifel am Inhalt des Briefes. Die Formulierungen sind aber auch Ergebnis eines Prozesses, Handlun­ gen, die noch wenige Monate zuvor weder durchführbar noch benennbar schie­ nen, zu beschreiben.30 Darüber hinaus verweist die Quelle auf etwas entgegen ihrer Inten­­tion. Sie beschreibt eindrück­­lich einen Teil des Tötungsprozesses, der sich in keinem Bericht eines Überlebenden findet und der durch die Täterquelle nur unangemessen beschrieben werden kann: den Moment des Erstickens selbst. In der selbstständigen Weiterentwicklung der Gaswagen zu noch effizienteren Tötungsinstrumenten zeigt die Einrichtung des Tötungsortes Kulmhof, wie 29 Zit. nach Eugen Kogon/Hermann Langbein/Adalbert Rückerl (Hrsg.): Na­­tional­ sozia­listische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumenta­­tion. Frankfurt a. M. 1983, S. 333 – 337. 30 Vgl. dazu die Sicht Raul Hilbergs, die er in Shoah gegenüber Lanzmann (kursiv) äußert: »Alles ergibt sich aus allgemeinen Formulierungen. Allgemeine Formulierungen? Ja, die Termini End­ lösung, totale Lösung oder territoriale Lösung überlassen dem Bürokraten, etwas daraus zu fol­ gern. Man kann sich auf kein eindeutiges Dokument beziehen, nicht einmal auf Görings Brief an Heydrich (Sommer 1941), der diesen in zwei Absätzen beauftragt, zur Endlösung überzu­ geben. Man kann nach der Lektüre ­dieses Papiers nicht denken, alles sei geklärt – weit gefehlt. Weit gefehlt? Ja. Das war eine Vollmacht, etwas zu erfinden, mit einer Sache zu beginnen, die bis dahin nicht in Worte gefaßt werden konnte. So sehe ich die Dinge. Und das trifft für alle Bereiche zu? Absolut. In jeder Phase des Unternehmens mußte etwas erfunden werden. Vor allem zu ­­diesem Zeitpunkt. Denn jedes Problem war neu: nicht allein, wie die Juden getötet werden sollten, sondern auch, was man mit ihrem Eigentum machen sollte und wie man ver­ hindern konnte, daß die Welt davon erfuhr. Eine Vielzahl von Problemen … Und alle waren neue.« – Das Transkript findet sich bei Claude Lanzmann: Shoah. Reinbek 2011, S. 105 f.

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regionale Entscheidungsträger unausgesprochene, aber intendierte Absichten der zentralen Verwaltung interpretierten, umsetzten, eigenverantwort­­lich weiter­ entwickelten und so »dem Führer entgegenarbeiteten«.31 Trotz aller Geheimhaltungsmaßnahmen wurden die Ereignisse in Kulmhof oder zumindest Andeutungen darüber bekannt. Schon drei Wochen nach Beginn der Tötungen hieß es in einer Postkarte, die über verschiedene Sta­­tionen auch das »Ghetto Litzmannstadt« durchlaufen hatte: Lieber Cousin Mote Altszul, wie du von Koło, Dąbie und anderen Orten weißt, sind Juden nach Chełmno in ein Schloß gebracht worden. Zwei Wochen sind bereits vergangen, und es ist nicht bekannt, wie viele Tausende zugrundegegangen sind. Sie sind fort, und du sollst wissen, daß sie keine Adresse mehr haben. Man hat sie in den Wald gebracht und begraben. […] Achte diese Sache nicht gering, sie haben beschlossen, uns auszulöschen, umzubringen, zu vernichten.32

Bereits im Januar 1942 schrieb der Rabbiner von Grabów ebenfalls nach Litz­ mannstadt: Ein Augenzeuge, der rein zufällig überlebte und es fertigbrachte, der Hölle zu entkommen, hat mich besucht. […] Alles weiß ich von ihm. Der Ort, wo alle zugrunde gehen, heißt Chełmno und liegt nicht weit von Dąbie entfernt; alle Toten werden im angrenzenden Wald von Lochów vergraben. Die Menschen werden auf zweierlei Art umgebracht: von Erschießungs­ kommandos oder mit Giftgas. So geschah es in den Orten Dąbie, Izbica Kujawska, Kłodawa und anderen. Kürz­­lich sind Tausende von Zigeunern aus dem sogenannten Zigeunerlager von Łódź dorthin gebracht worden, und das ­g leiche wird ihnen angetan. Denke nicht, daß ich verrückt bin. Wehe, es ist die tra­­gische, grausame Wahrheit. […] O Schöpfer der Welt, hilf uns! Jakob Schulman 33

Auch die neu angesiedelten Deutschen im »Warthegau« erfuhren von den Tötun­ gen und konnten die Deporta­­tionen mit eigenen Augen beobachten. Hildegard Grabe, die im Kreis Kutno nahe Zichlin (Żychlin), etwa siebzig Kilometer von Kulmhof entfernt, als Lehrerin zur »Germanisierung« eingesetzt war, schrieb in

31 Vgl. Ian Kershaw: Hitler. 1936 – 1945. Stuttgart 2000, S. 663 – 744. 32 Zit. nach Walter Laqueur: Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrich­ ten über Hitlers »Endlösung«. Frankfurt a. M. 1981, S. 163. 33 Zit. nach ebd., S. 163 f. – Den Brief verliest auch Claude Lanzmann in seinem Film. L ­ anzmann: Shoah (wie Anm. 8), TC: 00:55:03 – 00:56:56. – Der Überlebende war vermut­­lich der bereits erwähnte Szlama »Szlamek« Winer. Vgl. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Gesamtausgabe. München 2008, S. 700.

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einem späteren Bericht von Gerüchten, die sie gehört habe: »Sie wären in Autos geladen und vergast, wurde genuschelt.« 34 Den Bericht Szlama Winers verschrift­­lichte Hersz Wasser, ein Mitarbeiter des Ringelblum-­­Archivs, und übergab ­später die Informa­­tionen der polnischen Unter­ grundpresse.35 In einem Artikel vom 30. April 1942 in der konspirativen Zeitung Biuletyn Informacyjny (Informa­­tionsbulletin) erschien erstmals ein Bericht über Kulmhof.36 Die Informa­­tionen fanden dadurch auch Eingang in die Presse der west­­lichen Alliierten. Am 25. und 30. Juni 1942 erschienen Artikel in britischen Tageszeitungen, zunächst im Daily Telegraph, ­später im Evening Standard und in The Times, am 2. Juli schließ­­lich auch in der New York Times.37 Am 11. September 1942, nur zehn Monate nach der Einrichtung des Tötungs­ ortes, wurden die Aktivitäten offiziell gestoppt. Von wenigen Transporten, die danach noch eintrafen, abgesehen, wurden ab d­­ iesem Zeitpunkt bis zur erneuten Aufnahme der Tötungen 1944 keine Menschen mehr in Kulmhof systematisch umgebracht. Die Verschleierungsarbeiten im »Waldlager« hielten jedoch bis zum Frühjahr 1943 an. Das vorläufige Ende Kulmhofs wurde Anfang März 1943 auf Einladung Arthur Greisers vom »Sonderkommando« gefeiert. Kurz danach schrieb Greiser an Himmler und betonte, die Mitglieder des Kommandos hätten »nicht nur treu und brav und in jeder Beziehung konsequent die ihnen übertra­ gene schwere Pflicht erfüllt, sondern darüber hinaus auch noch haltungsmäßig bestes Soldatentum repräsentiert«. Zudem hätten sie den Wunsch geäußert, unter »ihrem Hauptsturmführer« Hans Bothmann »mög­­lichst geschlossen weiterhin eingesetzt zu werden«.38 Die Gefangenen der »Arbeitskommandos« wurden erschossen, und mit der Sprengung des »Schlosses« Anfang April 1943 endete die erste Tötungsphase in Kulmhof.39 34 Zit. nach Elizabeth Harvey: Women and the Nazi East. Agents and Witnesses of Germaniza­­ tion. New Haven 2003, S. 216. 35 Vgl. den Brief von Hersz Wasser an Aleksander Kamiński, Chefredakteur des Biuletyn Informacyjny. In: Sakowska: Etappe (wie Anm. 22), S. 186 – 189. 36 Vgl. Andrzej Krzysztof Kunert (Hrsg.): Polacy – Żydzi, Polen – Juden, Poles – Jews, 1939 – 1945. Quellenauswahl. Warschau 22006, S. 200 – 206. 37 Vgl. David Cesarani: Great Britain. In: David S. Wyman (Hrsg.): The World Reacts to the Holocaust. London 1996, S. 599 – 6 41, hier S. 606; Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 301, 321; Krakowski: Todeslager (wie Anm. 22), S. 67 f. 38 Schreiben Greisers an Himmler vom 19. 3. 1943, zit. nach Ernst Klee (Hrsg.): »Schöne Zei­ ten«. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer. Frankfurt a. M. 1988, S. 351. – Herbert Lange war im März 1942 zum RSHA abkommandiert worden. Das »Sonderkommando« wurde daraufhin der SS-Divison »Prinz Eugen« zugeteilt und setzte seine Aktivitäten im besetzten Jugoslawien fort. 39 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 144 f.

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Nur ein Jahr ­später kehrte das »Sonderkommando« zurück. Nach zahlrei­ chen militärischen Niederlagen und unter dem Eindruck des Warschauer Ghetto­ aufstands hatte Himmler die weitgehende Beendigung des Einsatzes jüdischer Zwangsarbeiter im »Wartheland«, die außerhalb der SS, also unter »ziviler«, das heißt Greisers Verwaltung standen, befohlen. In Kulmhof angekommen, errich­ tete das »Sonderkommando« ab März 1944 mehrere Zelte und Holzbaracken sowohl auf dem Gelände des gesprengten »Schlosses« als auch im »Waldlager«. Dort wurden außerdem zwei Verbrennungsöfen in die Erde gebaut, die mit Zwei­ gen getarnt werden konnten.40 Der Ablauf der Tötungen in dieser zweiten Phase Kulmhofs unterschied sich von der ersten in der Verwendung der Gebäude. Nachdem die Menschen wiede­ rum über die Schmalspurbahn im Ort angekommen waren, mussten sie zur K ­­ irche laufen und wurden dort für meistens eine Nacht eingesperrt. Das Gepäck wurde von Gefangenen auf das Gelände des »Schlosses« getragen und sortiert. Nach­ dem ein Mitglied des »Sonderkommandos« den Menschen in der K ­­ irche erklärt hatte, sie würden zu Arbeitseinsätzen fahren, müssten aber zunächst geduscht und desinfiziert werden, fuhr ein Gaswagen vor die K ­­ irche. Ein Teil der Gruppe wurde so in das »Waldlager« gebracht, der Rest verblieb zunächst im Ort. Die Größe der Transporte nach Kulmhof richtete sich nach dem Fassungsvermögen der ­­Kirche und betrug etwa siebenhundert Personen pro Transport. Im Wald angelangt, wurde das Versprechen des Arbeitseinsatzes in Deutschland wiederholt und eine gute Behandlung und Unterbringung in Aussicht gestellt. Die Menschen mussten sich entkleiden und wurden in die erste Baracke geführt, in der eine zur Aufrechterhaltung der Tarnung durchgeführte »ärzt­­liche Untersu­ chung« stattfand, bei der alle Anwesenden als »arbeitsfähig« eingestuft wurden. Daraufhin mussten die so Getäuschten in die zweite Baracke gehen, an der – wie im Keller des »Schlosses« in der ersten Phase Kulmhofs – ein Schild »Zum Bad« angebracht war. Am Ende der Baracke schloss sich, den unterschied­­lichen Angaben folgend, eine Rampe oder ein Korridor an, wo ein Gaswagen bereits wartete. Auch hier wurden diejenigen, die zögerten, unter Schlägen hineingetrie­ ben. Der Tötungsprozess erfolgte wie in der ersten Phase durch das Einleiten von Auspuffgasen in das Wageninnere. Der Wagen fuhr die Toten dann die wenigen hundert Meter zu den Verbrennungsöfen. Die Knochen wurden erneut in einer Knochenmühle zerstoßen und gemeinsam mit der Asche der Getöteten in Säcken verstaut und vergraben oder nachts in den Ner geschüttet. In dieser Phase waren zwei Gaswagen im »Waldlager« im Einsatz, während ein dritter in Kulmhof selbst

40 Vgl. ebd., S. 149 – 157.

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verblieb und zur Desinfek­­tion der Kleidung der Toten genutzt wurde, die ­später wiederum unter neu angesiedelten Deutschen verteilt oder, bei minderer Qualität, an die polnische Bevölkerung weitergegeben wurde. Zwischen dem 23. Juni und 14. Juli 1944 erreichten zehn große Transporte mit insgesamt mehr als siebentau­ send Personen aus dem »Ghetto Litzmannstadt« Kulmhof. Daneben wurden noch in mehreren kleinen Transporten, meist per Lkw, Menschen deportiert.41 Der Vorstoß der sowjetischen Streitkräfte gab letzt­­lich den Ausschlag zum Abbau der Einrichtungen. Allerdings hielten die Sortierung der geraubten Güter und die Verbrennung der Leichen bis Jahresende an. Die zweite Verbrennungs­ einrichtung wurde erst im Winter 1944/45 abgebaut. Am 1. Dezember verfass­ ten die verbliebenen Gefangenen der »Arbeitskommandos« einen Bericht an die Nachwelt: Erklärung an unsere zukünftige Na­­tion: Ich beschreibe Ihnen das Leben der jüdischen Na­­tion in der Zeit vom 1. September 1939 bis zum 1. Dezember 1944 und wie sie uns unterdrückten. Wir, Junge und Alte, wurden in die Gegend z­ wischen Koło und Dąbie gebracht. Wir wurden zum Wald gebracht, wo wir ver­ gast, erschossen und verbrannt wurden. Und daher erbitten wir, dass unsere künftigen Brüder [unleser­­lich] für unsere Deutschen Mörder. Zeugen unserer Unterdrückung sind die Polen, die in dieser Gegend leben. Erneut fordern wir, dass dieser Mord der ganzen Welt und der gesamten Presse mitgeteilt wird. Die letzten Juden, die [unleser­­lich] hier schrieben dies. Wir überlebten bis zum 1. Dezember 1944.42

Am 17. Januar 1945 befanden sich noch 45 Gefangene in Kulmhof, die im Korn­ speicher, der zuvor zur Lagerung und Sortierung des Gepäcks gedient hatte, ein­ gesperrt waren. In der Nacht zum 18. Januar informierte Hans Bothmann das »Sonderkommando«, dass die sowjetischen Streitkräfte in Litzmannstadt stün­ den und der Abzug der eigenen Truppen nun eingeleitet werden müsse. Nach­ dem ein Teil der Angehörigen des »Arbeitskommandos« vor dem Kornspeicher erschossen worden war, konnte ein Gefangener, Mieczysław Żurawski, entkom­ men. Als die SS die rest­­lichen Gefangenen holen wollte, wurden zwei Mitglieder des »Sonderkommandos«, Lenz und Haase, in das Gebäude befohlen und von den Gefangenen überwältigt und getötet. Żurawski hatte sich zuvor ein Messer organisiert, beim Eintreten der Wachen um sich geschlagen und konnte dadurch 41 Vgl. Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 317; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 157 – 168. 42 Zit. nach Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 172 [aus dem Polnischen, deutsche Über­ setzung der Verfasser; Hervorhebung im Original].

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letzt­­lich fliehen.43 Bothmann ordnete nach ­­diesem Vorfall an, das Gebäude mitsamt den Menschen darin in Brand zu stecken. Die Leichen der zuvor Erschossenen wurden in die Flammen geworfen. Am Ende zog sich das »Sonderkommando« in Richtung Posen zurück. Szymon Srebrnik, der als Dreizehnjähriger aus Litzmannstadt verschleppt worden war und in Kulmhof für das »Sonderkommando« arbeiten musste, war unter denen, die erschossen wurden. Die Kugel durchschlug seinen Hals und trat am Mund wieder aus, ohne ihn zu töten. In den Wirren um das brennende Gebäude gelang es ihm, sich totzustellen, davonzukriechen und sich in einer Scheune bis zur Ankunft der sowjetischen Soldaten zu verstecken. Srebrnik, der als »singender Junge« in Claude Lanzmanns Film Shoah – die Deutschen hatten ihm während seiner Gefangenschaft immer wieder befohlen, für sie zu singen – bekannt werden sollte, war der letzte der sechs Überlebenden von Kulmhof, fast so, wie er es Lanzmann – und uns – in Shoah erzählt: In die Getto hab ich gesehen, auch wenn in … in Łódź in die Getto ist auch jeden … ist einer gegangen, toit, toit, gefallen, gefallen. Hab ich gedenkt: Das … das muß so sein. Das ist normal, so ist es. Ich bin gegangen in die Straße in Łódź, ich bin gegangen, sagen wir, hundert Meter, waren zweihundert Tote. Menschen haben ja Hunger gehabt. Und die sind gegangen in die Straße und gefallen, gefal­ len … A Sohn hat ein Vater zugenehmen das Brot, und der Vater bei dem Sohn hat zugeneh­ men das Brot, jeder hat sich gewollt bleiben leben. Jetzt, wenn ich bin ja hiergekommen nach Chełmno, dann war ich schon so … es war mir schon ganz egal, wieso das ist. Ich hab auch gedachtet, wenn ich bleib leben, dann wollte ich nur eine Sache: fünf Brot soll man mir geben zu essen, mehr darf ich gar nicht. Das hab ich gedacht, ich hab gar nicht anders gedacht, und ich hab noch geträumt, wenn ich bleib leben, dann bin ich einer auf der Welt. Mehr keine Menschen ist nicht da, nur ich, einer. Der einzige auf der Welt bleibe ich, wenn ich geh los von hier.44

Nachgeschichte des Ortes Nachdem der dreigeschossige Getreidespeicher abgebrannt war, befanden sich im Innern die sterb­­lichen Überreste der 45 jüdischen Gefangenen und der Polizei­ männer Lenz und Haase. Die 47 Toten wurden von Ortsansässigen öst­­lich des

43 Vgl. ebd., S. 172 f. 44 Zit. nach Lanzmann: Shoah (wie Anm. 30), S. 142 f.

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Abb. 1  Das Mahnmal in Chełmno nad Nerem auf dem Grab der letzten 45 jüdischen Gefangenen und der 2 Polizeimänner Lenz und Haase

»Schlosses« zusammen beerdigt. Bis heute sind sie nicht exhumiert und die jüdi­ schen Männer getrennt von den Tätern Lenz und Haase beigesetzt worden. Ein Mahnmal wurde 1957 auf dem Grab errichtet. Die Inschriften sind auf Polnisch und Jiddisch verfasst und unterscheiden sich. Der polnische Text lautet: »Ein Ort, durch das Blut tausender Opfer des NS-Völkermords geheiligt. Ehre ihrer Erinnerung.« Anders als der polnische, geht der jiddische Text explizit darauf ein, dass unter dem Mahnmal Menschen begraben liegen (Abb. 1). Einige weitere Gebäude auf dem Gelände des »Schlosses«, in denen man die Habseligkeiten der Getöteten verstaut hatte, waren nach dem Ende der Ereig­ nisse in Kulmhof noch intakt.45 Auch im Wald von Rzuchów gab es nach der Flucht der Täter mehrere Hinweise auf die begangenen Verbrechen: die sich lang erstreckenden Gräber, Zäune zur Absperrung, Geäst, das Teile des Ortes verdecken sollte, sowie Fundamente, Ziegel und Eisenbahnschienen der zerstör­ ten Verbrennungsöfen.46 45 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 175. 46 Die Ziegel und Eisenbahnschienen, die als Beweismaterial hätten dienen können, verschwan­ den jedoch kurz darauf und wurden vermut­­lich von der umliegenden Bevölkerung genutzt. Vgl. ebd., S. 176.

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Bereits am 1. Februar 1945 legten zuständige Angehörige der sowjetischen Streit­ kräfte einen Bericht über ihre Untersuchungen in Chełmno nad Nerem vor. Mit unweiger­­lichen Fehlern versehen, können die knappen Aufzeichnungen jedoch als erste Beweissammlung aufgefasst werden. Der erste Versuch, eine umfangrei­ chere Untersuchung durchzuführen, wurde von einem Überlebenden der Shoah initiiert: Jakub Waldman hatte seine Familie in Kulmhof verloren und sammelte nun Aussagen der ortsansässigen Bevölkerung und der drei in der Umgebung woh­ nenden Überlebenden der Tötungsak­­tionen, Mordechaï ­Podchlebnik, Szymon Srebrnik und Mieczysław Żurawski. Waldman war auch Teil der Hauptkommis­ sion zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen und der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission,47 die den Ort im Mai 1945 besichtigten und untersuchten. Am 1. September desselben Jahres starb Jakub Waldman. Die Umstände seines Todes sind bis heute nicht geklärt.48 Am 6. Juni 1945 beauftragte das polnische Justizministerium Richter Władysław Bednarz mit offiziellen Untersuchungen in Chełmno nad Nerem und im Wald von Rzuchów. Ähn­­lich wie Waldman sammelte auch Bednarz Zeugenaussagen der einheimischen Bevölkerung und arbeitete mit den drei in der Nähe wohnen­ den Überlebenden zusammen. Auf dem Gelände des ehemaligen »Schlosses« fanden die Ermittler zugeschüttete Gruben mit persön­­lichen Gegenständen der Getöteten. Neben etwa 24.200 Löffeln, 4500 Messern, 2500 Gabeln sowie wei­ teren Mengen an Töpfen, Pfannen, Brillen, Ringen, Ohrringen, Halsketten und Geld (US -amerikanische Dollar, sowjetische Rubel, Reichsmark),49 fand man ein 31-seitiges Notizbuch, das wahrschein­­lich einem Mitglied des »Waldkom­ mandos« gehört hatte. Darin schildert der unbekannte Autor unter anderem, dass er und weitere Gefangene des »Waldkommandos« eines Morgens in das 47 Główna Komisja Badania Zbrodni Niemieckich w Polsce und Żydowska Komisja Historyczna. 48 Nach dem Historiker Martin Gilbert etwa habe Jakub Waldman Selbstmord begangen. Vgl. Martin Gilbert: The Holocaust. A History of the Jews of Europe during the Second World War. New York 1987, S. 816. 49 Montague vermutet hinter der Vielzahl der aufgefundenen Dinge, dass die Angehörigen des sogenannten Hauskommandos in Chełmno, ­welche die ankommenden und zur Tötung bestimmten Menschen auf Wertgegenstände hin zu durchsuchen hatten, in einem Akt stillen Protests zumindest einige ihrer Habseligkeiten wegwarfen und nicht der SS übergaben. Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 177. – Für eine (unvollständige) Übersicht aufgefun­ dener Dinge, auch von späteren Ausgrabungen, vgl. Łucja Pawlicka-­­Nowak: Archeological Research in the Grounds of the Chełmno-­­on-­­Ner Extermina­­tion Center. In: The District Museum of Konin (Hrsg.): The Extermina­­tion Center for Jews in Chełmno-­­on-­­Ner in the Light of the Latest Research, Konin 2004, S. 15 – 29. – Eine aktuelle und die Vielfalt der aus­ gegrabenen Realien aufzeigende Übersicht findet sich bei Andrzej Grzegorczyk: Rzeczy zagłady [Dinge des Holocaust]. Luboń 2014.

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»Waldlager« gefahren worden ­seien, wo sie die Errichtung der Verbrennungs­ öfen gesehen hätten.50 Im Wald von Rzuchów versuchte Bednarz vergeb­­lich, das Areal und die ver­ bliebenen Bau­­lichkeiten, die von den vormaligen Verbrechen zeugten, vor den Zugriffen Einheimischer zu s­ chützen. Der Wald von Rzuchów, in dem die Asche und die Überreste von mehr als 150.000 Menschen lagen, wurde immer wieder von Grabräubern aufgesucht. Die teilweise Öffnung der Gräber durch Bednarz’ Ermittler bestätigte die Aussage von Mordechaï Podchlebnik – er war bis zu seiner Flucht Zwangsarbeiter des »Arbeitskommandos« gewesen und hatte die Leichen aus den Gaswagen in die Gruben zu werfen –, dass die Getöteten so in die trichterförmigen Gruben gelegt werden mussten, dass mög­­lichst viele nebeneinander passten. Nicht nur in Chełmno nad Nerem und im Wald von Rzuchów, sondern unter anderem im etwa 13 Kilometer entfernten Koło suchte Bednarz mit seinen Mitar­ beiterinnen und Mitarbeitern nach Spuren der einstigen jüdischen Bevölkerung. In den Räum­­lichkeiten der hiesigen Synagoge, die von den Deutschen nicht zer­ stört worden war, fanden sie sechstausend Paar Schuhe und Inschriften an den Wänden, die von der Angst der verfolgten Menschen und bei mindestens einer Inschrift vom offensicht­­lichen Wissen um ihr Schicksal zeugten.51 Die Synagoge wurde nach dem Krieg abgerissen. Im Park gegenüber erinnert ein Denkmal an die damalige jüdische Gemeinde von Koło. Im selben Ort fanden die Ermittler einen der präparierten Wagen, der vermut­­lich nicht für die Tötungen, sondern für die Desinfek­­tion der Kleidungsstücke genutzt worden war.52 Am 30. Juli 1945 entdeckten die Ermittler im Wald von Rzuchów und unweit der Zufahrtsstraße Massengräber mit den Überresten von 56 nichtjüdischen Polen, die bereits 1939 von der SS erschossen worden waren und somit nicht im Zusammenhang mit den Ereignissen der Massentötungen ab Winter 1941 stan­ den. Wenige Tage s­ päter, am 5. August 1945, wurden die Leichen während einer christ­­lichen Zeremonie in Anwesenheit hoher Regierungsvertreter beigesetzt. Die Namen der Toten wurden auf einer Platte eingraviert und ein großes Holzkreuz am Grab errichtet.53 Am 7. August 1991 wurde dieser Teil des Erinnerungsortes erneuert und zusätz­­lich ein Obelisk zum Gedenken an Stanisław Kaszyński errichtet, ein 50 Obgleich das Notizbuch heute als verschollen gilt, gibt es drei abfotografierte Seiten, die das Institut für Na­­tionales Gedenken in Warschau aufbewahrt. Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 250, Fn. 5. 51 Vgl. Grzegorczyk/Wąsowicz: Kulmhof Death Camp (wie Anm. 22), S. 77 ff. 52 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 178, 211. 53 Vgl. ebd., S. 178.

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nichtjüdischer Pole, der in der Verwaltung der Gemeinde Chełmnos nad Nerem seit 1928 gearbeitet hatte und 1942 von der SS getötet wurde, weil er Berichte über die Massentötungen in Kulmhof an Vertreter des polnischen Untergrundstaats und an das Interna­­tionale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in der Schweiz ver­ schickt hatte. Auch seine schwangere Frau wurde festgenommen, von der Gestapo verhört und getötet.54 Stanisław Kaszyńskis Leiche wurde womög­­lich verbrannt und seine Asche in einem der Massengräber im Wald von Rzuchów verscharrt. Das ehemalige »Schloss«-Gelände wurde mehrere Jahre als Fußballplatz der ortsansässigen Jugend genutzt, bis eine Landwirtschaftsgenossenschaft das Areal 1956 übernahm. Der zum Ende der Tötungsak­­tionen ausgebrannte Getreidespeicher wurde saniert und vergrößert und ab dann als Futtersilo genutzt.55 Wie bereits kurz erwähnt, errichteten Überlebende der jüdischen Gemeinden von Łódź und ­Włocławek 1957 ein kleines Mahnmal auf dem Grab der letzten Angehörigen des jüdischen »Arbeits­ kommandos«, die in den Morgenstunden des 18. Januar 1945 getötet worden waren. Mehrere Jahrzehnte lang war d­ ieses kleine Mahnmal der einzige Hinweis auf die Ver­ brechen auf dem Gelände des ehemaligen »Schlosses«.56 Am 27. September 1964 wurde auf dem Areal des einstigen »Waldlagers« das etwa 35 mal 36 Meter große und mehr als 7 Meter hohe, aus massivem Beton bestehende Mahnmal eingeweiht, das entfernt an die Umrisse eines deformierten Davidsterns erinnert.57 Am 9. Juli 1946 wurde Arthur Greiser, NSDAP-Gauleiter und Reichsstatt­ halter des Reichsgaus Wartheland von 1939 bis 1945, nach 14 Verhandlungstagen zum Tode verurteilt und am 21. Juli vor hunderten Zuschauern in Poznań öffent­­ lich erhängt.58 Mit Etablierung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung na­­tionalsozia­listischer Verbrechen in Ludwigsburg wurden ab 1959 auch in der Bundesrepublik Vorermittlungen zu den Verbrechen in Kulmhof auf­ genommen.59 Der darauf basierende Prozess begann am 26. November 1962 vor

54 Vgl. ebd., S. 213 – 218; Grzegorczyk/Wąsowicz (wie Anm. 22), S. 83. 55 Wie der Ort während der Nutzung durch die Genossenschaft aussah, lässt sich in den Aufnah­ men Lanzmanns sehen, der hier um 1978 mit Szymon Srebrnik drehte. Neben dem Fehlen jeg­­ licher Schilder oder Tafeln, die Informa­­tionen zu ­­diesem Ort bieten könnten, fällt in Shoah vor allem die Verwahrlosung der historischen Bausubstanzen auf. Die Überreste des »Schlosses« sind überwachsen und mit einem kleinen Gebäude bebaut. Am Eingang zum Gelände steht ein Kiosk, und nichts lässt auf die besondere Geschichte des Ortes schließen. Vgl. Lanzmann: Shoah (wie Anm. 8), TC: 00:42:41 – 00:48:00. 56 Vgl. Grzegorczyk/Wąsowicz: Kulmhof Death Camp (wie Anm. 22), S. 83. 57 Vgl. ebd., S. 90 f.; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 179. 58 Vgl. Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 321 f. 59 Bezüg­­lich der Vorermittlungen zu Chełmno vgl. Rückerl: Na­­tionalsozia­listische Vernichtungs­ lager (wie Anm. 25), S. 243 – 253; ders.: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945 – 1978.

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dem Landgericht Bonn und am 30. März 1963 wurden folgende Urteile verkündet: Gustav Laabs, Fahrer eines Gaswagens, 15 Jahre Haft und Verlust der Bürgerrechte für 10 Jahre; Walter Burmeister, Adjutant des Kommandanten ­Bothmann in der zweiten Tötungsphase, 13 Jahre Haft und Verlust der Bürgerrechte für 10 Jahre; Alois Häfele, Aufseher über die jüdischen »Arbeitskommandos«, 15 Jahre Haft und Verlust der Bürgerrechte für 10 Jahre; Kurt Möbius, Überwacher der ankommen­ den Transporte, 8 Jahre Haft und Verlust der Bürgerrechte für 6 Jahre; Karl Heinl, Kommandant des »Hauskommandos« in Kulmhof, 7 Jahre Haft und Verlust der Bürgerrechte für 5 Jahre; Ernst Burmeister, Kommandant des Polizeiwachkom­ mandos, 3,5 Jahre Haft. Die Verfahren gegen die anderen sechs Angeklagten endeten mit Freisprüchen. Im Revisionsverfahren wurden die Haftstrafen von Laabs und Häfele schließ­­lich auf 13 Jahre reduziert. Ein weiterer Prozess wurde 1965 gegen Gustav Fiedler geführt, den man für seine Beteiligung an den Verbrechen zu 13 Monaten und 2 Wochen Haft verurteilte.60 Die Zentrale Stelle der Landesjustiz­ verwaltungen erstellte eine Liste mit den Namen von insgesamt 160 Personen, die – zu verschiedenen Zeitpunkten und in verschiedenen Posi­­tionen – an den Verbrechen in Kulmhof beteiligt gewesen sein mussten.61 Es ist davon auszugehen, dass diese Liste unvollständig ist. Nur ein Bruchteil der Verantwort­­lichen und Beteiligten wurde vor Gericht angeklagt.62 Das Bezirksmuseum in Konin führte 1986 und 1987 Ausgrabungen im Wald von Rzuchów durch, um das Projekt einer Museumsgründung voranzubringen. Bei den archäolo­­gischen Arbeiten konnten unter anderem Bruchstücke der ehe­ maligen Verbrennungsöfen freigelegt werden. Am 17. Juni 1990 schließ­­lich wurde ein erstes Museumsgebäude eröffnet.63 Im hinteren Teil des Areals im Wald von Rzuchów wurde im Zuge dessen unmittelbar neben den Überresten des ersten freigelegten Verbrennungsofens eine 37,5 Meter lange und mehr als 2 Meter hohe Mauer errichtet, an die Gedenktafeln für die getöteten Menschen angebracht werden können.64 In den Jahren seit der Errichtung der Mauer wurden durch verschiedene Ini­ tiativen weitere Mahnmale erschaffen und Erinnerungstafeln installiert, etwa Eine Dokumenta­­tion. Heidelberg/Karlsruhe 1979, S. 50 – 53; ders.: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheits­bewältigung. Heidelberg 1982, S. 192 ff. 60 Vgl. Klein: Kulmhof/Chełmno (wie Anm. 6), S. 322; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 180. – Für eine breitere Überblicksdarstellung der Lebenswege der für die Verbrechen in Kulmhof Verantwort­­lichen nach 1945 vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 221 – 227. 61 Vgl. Krakowski: Todeslager (wie Anm. 22), S. 176. 62 Vgl. Grzegorczyk/Wąsowicz: Kulmhof Death Camp (wie Anm. 22), S. 35 ff. 63 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 180. 64 Vgl. Grzegorczyk/Wąsowicz: Kulmhof Death Camp (wie Anm. 22), S. 104 f.

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durch die jüdischen Gemeinden von Bełchatów, Brzeziny, Gąbin und Łódź. Am 22. August 1994 wurde im Wald von Rzuchów circa 80 Meter süd­­lich des aus massivem Beton bestehenden Mahnmals von der Compatriots’ Associa­­tion of Turek Residents in Israel ein Lapidarium aus Grabsteinen des zerstörten jüdischen Friedhofs von Turek angelegt.65 Nach einer zehnjährigen Unterbrechung folgten weitere wichtige Ausgrabungen 1997.66 1998 konnten beide für die Verbrechen relevanten Orte vom damals für Chełmno nad Nerem zuständigen Bezirksmuseum in Konin aufgekauft werden. Zwischen 1997 und 2001 wurden erneut umfangreiche Ausgrabungen durchge­ führt, bei denen neben vielfältigen Gebrauchsgegenständen auch die Kellerfun­ damente des »Schlosses« freigelegt wurden. Besucherinnen und Besucher der Gedenkstätte können seitdem die Umrisse des Kellerflurs sehen, durch den tau­ sende Menschen in die Gaswagen getrieben wurden. In den Jahren 2003 und 2004 lokalisierten archäolo­­gische Arbeiten dann auch die genauen Ausmaße womög­­ lich aller Massengräber sowie weitere Überreste ehemaliger Verbrennungsöfen im Wald von Rzuchów.67

Lebenswege der Überlebenden Heute geht man davon aus, dass sechs Personen die Tötungsak­­tionen in Kulmhof und den Krieg überlebt haben. Ihre Namen sind: Yitzhak Justmann, ­Mordechaï Podchlebnik, Abram Rój, Szymon Srebrnik, Yerachmiel Widawski und ­Mieczysław Żurawski.68 Yitzhak Justmann konnte während der ersten Tötungsperiode aus Kulmhof zusammen mit Yerachmiel Widawski erfolgreich fliehen. Nur wenig aber ist von ihm nach seiner Flucht bekannt.69 Verschiedenen münd­­lichen Quellen zufolge soll er sich im Jahr 1955 in Israel aufgehalten haben, wo er noch einmal mit W ­ idawski zusammentraf,70 und anschließend in die Vereinigten Staaten, nach Chicago, emigriert sein, wo er Anfang/Mitte der 1980er Jahre verstorben sei.71

65 Vgl. ebd., S. 92 – 103; Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 181. 66 Vgl. Pawlicka-­­Nowak: Archeological Research (wie Anm. 49), S. 16. 67 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 181. 68 Die Schreibweisen der Namen variieren in verschiedenen Quellen. 69 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 140. 70 Vgl. Grzegorczyk/Wąsowicz: Kulmhof Death Camp (wie Anm. 22), S. 33. 71 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 219.

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Nachdem Mordechaï Podchlebnik die Untersuchung von Władysław ­Bednarz als Zeuge maßgeb­­lich unterstützt hatte, nahm er im benachbarten Koło sei­ nen bereits vor seiner Verfolgung ausgeübten Beruf als Viehhändler wieder auf. Wenig s­ päter aber verließ er Polen und lebte in Frankfurt-­­Zeilsheim, bevor er 1949 nach Israel auswanderte. Er heiratete eine Überlebende von Auschwitz, mit der er zwei Söhne hatte. 1961 sagte er als Zeuge der Anklage beim Prozess gegen Adolf ­Eichmann aus, ein zweites Mal 1963 beim Bonner Gerichtsverfahren gegen Verantwort­­liche der begangenen Verbrechen in Kulmhof. Die Erfahrung, die Leichen seiner ersten Frau und der gemeinsamen Kinder im ehemaligen »Wald­ lager« aus einem der Gaswagen ziehen und in die Gruben werfen zu müssen, las­ tete zeitlebens schwer auf ihm. In Claude Lanzmanns Shoah ist Podchlebnik zu sehen, wie er von diesen Erlebnissen unter Tränen berichtet. Podchlebnik starb an einer Herzkrankheit im September 1985. Abram Rój kehrte nach seiner Befreiung in seine Heimatstadt Izbica Kujawska zurück und lernte Taube Pakin, die die Shoah ebenfalls überlebt hatte, kennen. Nachdem er erfahren hatte, dass ein Freund aus der Kindheit, auch er ein Über­ lebender der Shoah, von ortsansässigen Polen nach seiner Heimkehr getötet wor­ den war, entschieden sich Rój und Pakin, nach West-­­Berlin auszuwandern. Am 26. Oktober 1945 heirateten sie. In den folgenden Jahren wurde Rój Miteigentü­ mer eines Berliner Casinos. Nach verschiedenen beruf­­lichen und persön­­lichen Schwierigkeiten siedelte das Ehepaar in die Vereinigten Staaten über, wo sie am 11. Juli 1951 ankamen und ihren Familiennamen in Roy änderten. In Hartford (Connecticut) gestalteten sich die anfäng­­lichen Jahre in einer völlig neuen kul­ turellen Umgebung schwierig. Sie lernten Eng­­lisch in Abendkursen, und Abram arbeitete für eine größere Schneiderei; das Handwerk hatte er vor dem Zwei­ ten Weltkrieg gelernt. Nach einiger Zeit konnte er seine eigene Schneiderei und Textil­reinigung eröffnen, während seine Frau in einer Kartonagenfabrik arbeitete. Am 10. Juni 1975 starb Abram Roy an den Folgen eines Herzinfarkts.72 Seine 1955 geborene Tochter Sara Roy ist die Verfasserin von mehreren bedeutenden Büchern zum israe­­lisch-­­palästinen­­sischen Konflikt. Szymon Srebrnik erholte sich einige Zeit in Chełmno nad Nerem, ging dann zurück nach Łódź und entschied sich schließ­­lich, Polen zu verlassen. Während er 1947 in Mailand auf seine Ausreise nach Palästina wartete, lernte er seine spä­ tere Frau Hava in einem Kibbuz kennen.73 Sie heirateten 1949, ließen sich in 72 Vgl. ebd., S. 219 ff. 73 Eine etwas andere Darstellung als bei Montague findet sich in einem Interview, das Lanzmann mit Srebrnik und seiner Frau im Vorfeld von Shoah führte. Da sagt Frau Srebrnik, dass sie Szymon in einem Kibbuz in Polen (sic!) 1946 oder 1947 kennengelernt habe. Vgl. das aufgezeichnete

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Nes Ziona nieder und bekamen Anfang der 1950er Jahre zwei Töchter. Srebrnik arbeitete zwölf Jahre auf Baustellen, bevor er eine Festanstellung als Elektriker in der Rüstungsindustrie fand. Mit zunehmenden Jahren erarbeitete er sich leitende Posi­­tionen. Wie Podchlebnik war auch Srebrnik Zeuge der Anklage im Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 sowie 1963 beim Bonner Gerichtsverfahren gegen zwölf Hauptbeteiligte an den Verbrechen in Chełmno. Srebrnik spielte zudem eine maßgeb­­liche Rolle in Claude Lanzmanns Film Shoah. Lanzmann konnte S­ rebrnik davon überzeugen, im Sommer 1978 gemeinsam noch einmal an die Orte der Ver­ brechen in Chełmno nad Nerem und im Wald von Rzuchów zurückzukehren. Aus den Filmaufnahmen entstanden die unverkennbaren Anfangsszenen von Shoah, in denen Srebrnik auf einem Floß auf dem Fluss Ner nahe Chełmno das Lied singt, das er zur Unterhaltung der SS hatte singen müssen.74 Als er am 15. August 2006 starb, war er der letzte Überlebende ­dieses ehemaligen Tötungsortes.75 Yerachmiel Widawski gehört wie Yitzhak Justmann zu den weniger bekannten Namen der Überlebenden von Kulmhof. Er floh während der ersten Periode der Massentötungen zusammen mit Justmann nach etwa einer Woche als Zwangs­arbeiter aus dem »Waldlager«, wo er Gruben für die Leichen hatte ausheben müssen. Wäh­ rend seiner Flucht konnte er sich mehrmals mit der Hilfe anderer verstecken, so etwa bei Meir Jacob Grünfeld in Žilina, Slowakei.76 Anders aber als bei Justmann lassen sich Widawskis Wege nach 1945 aufzeigen. 1947 ließ er sich in Berlin nieder und heiratete Malke Tauber, eine Überlebende von Auschwitz. Sie wurden Eltern von drei Kindern und erlangten einigen Wohlstand als Besitzer einer Spirituosen­ brennerei, s­ päter einer Fabrik für Nylonstrümpfe. 1953 verkauften sie ihr Gewerbe in Berlin und zogen nach Antwerpen. Zu dieser Zeit bekamen sie ein weiteres Kind, auch konnten sie im Antwerpener Edelsteinhandel ihren Wohlstand festigen. Montague beschreibt Widawski als einen Eckpfeiler der jüdischen Gemeinde Ant­ werpens und großzügigen Mann. Er kümmerte sich um jüdische Waisenkinder, die ihre Eltern in der Shoah verloren hatten, und nach dem Sechstagekrieg 1967 unter­ stützte er hilfebedürftige israe­­lische Familien. In den 1960er Jahren traf Widawski mit Meir Jacob Grünfeld zusammen, der ihn nach seiner Flucht aus Kulmhof für viele Monate versteckt gehalten hatte. Und 1972 traf er sich mit Naphtali Lau-­­Lavie, Interview sowie S. 1 des Transkripts ­dieses Interviews in der Claude Lanzmann Shoah Collec­­ tion des Archivs des United States Holocaust Memorial Museum, einsehbar unter der URL: http://collec­­tions.ushmm.org/search/catalog/fv5040, letzter Zugriff: 06. 04. 2016. 74 »Ein kleines weißes Haus / bleibt in meiner Erinnerung. / Von diesem ­­ kleinen weißen Haus / träum ich jede Nacht.« Szymon Srebrnik zit. nach Lanzmann: Shoah (wie Anm. 30), S. 25. 75 Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 220. 76 Vgl. ebd., S. 139.

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der ihm kurz nach der Flucht in Piotrków Trybunalski das Leben gerettet hatte. Im April 1986 starb Widawski an den Folgen eines Herzinfarkts. Mieczysław Żurawski schließ­­lich kehrte 1945 nach Włocławek zurück, wo er schon vor dem Krieg gewohnt hatte. Żurawski war an der Untersuchung von Rich­ ter Bednarz beteiligt und Zeuge der Anklage bei den Strafverfahren gegen Arthur Greiser 1946 und Hermann Gielow 1949/50. In den 1950er Jahren emigrierte er nach Israel und war wiederum Zeuge der Anklage im Prozess gegen Adolf E ­ ichmann 1961. Auch beim Bonner Gerichtsverfahren 1963 sagte er aus. ­Żurawski starb am 5. März 1989.77

Der Ort und die Gedenkstätte heute Kulmhof/Chełmno nad Nerem schien lange ein »vergessener Ort des Holocaust« 78 zu sein. Im Schatten größerer und prominenterer Gedenkstätten wie Auschwitz oder Majdanek dauerte es bis Ende der 1990er Jahre, ehe man von einem auf die hier getöteten Menschen ausgerichteten Erinnerungsort sprechen konnte. In den letzten Jahren hat sich die Gedenkstättenstruktur in Chełmno nad Nerem und im Wald von Rzuchów deut­­lich weiterentwickelt. 2013 wurde die Verwaltung der Gedenkstätte vom nahe Poznań gelegenen Museum der Märtyrer in Żabikowo (Muzeum Martyrologicznego w Żabikowie) übernommen. Viele Jahre wurde ein kleines Gebäude kurz nach der Einfahrt zum ehemaligen »Schloss«-­Gelände als Verwaltungsgebäude genutzt. Ein Neubau auf der nörd­­lichen Seite des Areals, der Anfang 2015 fertiggestellt wurde, bietet deut­­lich mehr Raum für die Mitar­ beiterinnen und Mitarbeiter und ein Archiv. Nur wenige Meter südöst­­lich des kleinen Gebäudes befindet sich das Grab der letzten 45 jüdischen Gefangenen von Kulmhof und der 2 Polizeimänner Lenz und Haase, auf dem das bereits ange­ sprochene Mahnmal 1957 errichtet wurde. Vom Eingangstor gelangt man über einen Plattenweg nach etwa einhundert Metern zu den Fundamenten des »Schlosses«, deren Ausmaße angesichts der Zahl von 152.000 Getöteten geradezu irritierend klein wirken. Direkt daneben befindet sich der einstige Getreidespeicher (Abb. 2), der erst vor wenigen Jahren grundlegend saniert wurde und seitdem eine Dauerausstellung beherbergt, in der in etwa zwei Dutzend Vitrinen hauptsäch­­lich mitgebrachte Gegenstände der getöteten Men­ schen ausgestellt werden. Die Dinge stammen mehrheit­­lich von Ausgrabungen auf

77 Vgl. ebd., S. 221; Grzegorczyk/Wąsowicz: Kulmhof Death Camp (wie Anm. 22), S. 31 – 34. 78 Vgl. den Titel bei Struck: Chelmno/Kulmhof (wie Anm. 22).

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Abb. 2  Einstiger Getreidespeicher mit Fundamenten des »Schlosses«

dem Gelände in Chełmno nad Nerem. Die Täter hatten damals Gruben ausheben lassen, in denen von den »Arbeitskommandos« alles verbrannt oder verscharrt werden musste, was für die Täter als unverwertbar oder nicht wertvoll erachtet wurde. Wandtafeln über den Vitrinen informieren mit Texten und Bildern über Verantwort­­liche und Getötete sowie Überlebende von Kulmhof und geben einen knappen Überblick über die Geschichte des einstigen Tötungsortes. Zwischen ­­diesem Ausstellungsgebäude und den offengelegten Fundamenten des »Schlosses« erzählen mehrere arrangierte Tafeln die Verschleppung und Tötung der Menschen aus dem »Ghetto Litzmannstadt«. Kleinere und größere Tafeln auf den Gedenk­ stättenarealen in Chełmno nad Nerem und im Wald von Rzuchów informieren in wenigen Sätzen über die verschiedenen Bereiche und einstigen Gebäude, die von den Tätern genutzt wurden. Kurz hinter dem Eingangstor sowie vor dem Eingang zum Grundstück der K ­­ irche ist jeweils ein großer Stein mit angebrachten Platten zu finden, auf denen in verschiedenen Sprachen an die Verschleppung jüdischer Menschen nach Kulmhof und an ihre Tötung vor Ort erinnert wird. Die Steine wurden von einem »Mäzen aus Hamburg« gestiftet und die Texte auf den Platten von der Deutsch-­­Jüdischen Gesellschaft Hamburg 1995 verfasst.

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Abb. 3  Vorplatz der Gedenkstätte im Wald von Rzuchów mit Gedenkstein für das Massengrab

Abb. 4  Im Hintergrund süd­­liche Ansicht des größten Mahnmals, im Vordergrund das arrangierte Lapidarium aus Grabsteinen des jüdischen Friedhofs von Turek

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Von Chełmno nad Nerem aus führt die Straße Richtung Koło nach fünf Kilometern in die Mitte des Waldes von Rzuchów, wo sich das zweite Areal der Gedenkstätte befindet. Eine große Informa­­tionstafel direkt neben der Straße erklärt die (Nach)Geschichte des Ortes in groben Zügen, eine wei­ tere, an einem Stein befestigte Tafel weist den Ort als Friedhof aus, auf dem neben »über 200.000 Juden« und »mehr als 4000 Roma« auch eine unbe­ stimmte Anzahl Polen und sowjetischer Kriegsgefangener ruhten. In einem flachen Gebäude am nörd­­lichen Rand des Vorplatzes befindet sich eine zweite, ältere Ausstellung, die unter anderem Bilder, Kartenmaterial und Deporta­­ tionslisten zeigt. Vom Vorplatz (Abb. 3) aus ist das monumentale, 1964 errichtete Mahnmal bereits gut zu sehen. In der Sichtachse liegt das Massengrab der 56 nichtjüdi­ schen Polen, an die durch ein Passionskreuz und die Nennung ihrer Namen auf einer Marmorplatte am west­­lichen Ende der Grabfläche erinnert wird; direkt daneben befindet sich der Obelisk in Gedenken an Stanisław Kaszyński. Auf der öst­­lichen, diesem ­­ Massengrab zugewandten Seite des größten Mahnmals sind in einem Relief Menschen, die den Leidensweg der verfolgten Menschen symbolisieren, und die Umrisse eines Gaswagens dargestellt. Daneben steht das Wort »PAMIETAMY « (Wir erinnern). An der südwest­­lichen Seite sind Teile der letzten Nachricht eingelassen, die das »Arbeitskommando« im Win­ ter 1944/45 hinterlassen hatte. Süd­­lich davon befindet sich das 1994 errichtete Lapidarium aus Grabsteinen des ehemaligen jüdischen Friedhofs von Turek (Abb. 4), einer etwa zwanzig Kilometer südwest­­lich von Chełmno nad Nerem gelegenen Kleinstadt. Von den ersten Gedenksteinen und dem zentralen Denkmal bis zur größten Lichtung führt ein Weg über etwa dreihundert Meter Länge entlang mehrerer Grabstellen zum ehemaligen »Waldlager«. Das größte, auch im Sommer 2014 schon eingerahmte Massengrab (Abb. 5) misst allein über einhundert Meter. Die schieren Ausmaße ­dieses Verschleierungsortes zeigen, dass es zwar relativ wenig Raum brauchte, um eine große Zahl an Menschen zu töten. Um aber deren Lei­ chen und Überreste zu verbrennen und zu verscharren, benötigten die Täter eben doch eine immense Fläche. Die Zahl der 152.000 getöteten Menschen wird an d­­ iesem Ort greifbar. Auf dem Gehweg zum hinteren Waldgelände der Gedenkstätte erinnern Grabsteinen nachempfundene Steinplatten an in Kulmhof getötete Menschen aus verschiedenen Ortschaften (Abb. 6). Eine dieser Steinplatten verweist auf die durch das »Sonderkommando Lange« durchgeführte Tötung von Menschen mittels Kalk und Wasser in einem Wald nahe Kazimierz Biskupi und Kleczew. Ein Informa­­tionsschild am Wegesrand greift diese auch in der Forschung relativ

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Abb. 5  Der hintere Teil im Wald von Rzuchów mit Massengräbern und Informa­­tionstafel

unbekannte Tötungsmethode auf, die ganz im Zeichen ­­ der pragmatischen Suche der Täter nach immer effizienteren Tötungsmethoden zu sehen ist.79 Wie auch im Kartenmaterial der Ausgrabungen zu erkennen, führte der Geh­ weg zum hinteren Waldgelände bis Dezember 2014 über eines der Massengräber.80 Besucherinnen und Besucher können zwar einen anderen Weg zum hinteren Waldgelände einschlagen. Dort, am süd­­lichen Ende des hinteren Waldgeländes, befindet sich ein weiteres Massengrab unterhalb des Weges. Generell müssen Besucherinnen und Besucher davon ausgehen, dass weite Teile der Oberfläche

79 Die Täter schütteten ungelöschten Kalk (Branntkalk) in eine Grube und trieben die Menschen anschließend hinein (oder umgekehrt). Dann übergoss man sie mit Wasser. Durch die Reak­­ tion mit dem Branntkalk wurden sie verätzt und starben an den schweren Verwundungen. Auf diese Weise verloren schätzungsweise 4500 Menschen ihr Leben. Aufgrund des in den Augen der Täter zu hohen Aufwands wurde ­dieses Vorgehen allerdings nicht flächendeckend durch­ geführt. Das Schild an dieser Stelle erinnert an jene Ereignisse nahe Kazimierz Biskupi, da das »Sonderkommando« im Dezember 1941 oder Januar 1942 auch im »Waldlager« versuchte, die in Kulmhof Getöteten mittels dieser chemischen Reak­­tion zu zersetzen. Vgl. Montague: Chełmno (wie Anm. 2), S. 44 – 47; Grzegorczyk/Wąsowicz: Kulmhof Death Camp (wie Anm. 22), S. 95. 80 Das mit »Plot II« markierte Areal in: The District Museum of Konin (Hrsg.): The Extermina­­tion Center for Jews in Chełmno-­­on-­­Ner in the Light of the Latest Research. Konin 2004, Beil. 3.

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Abb. 6  Weg mit Grabsteinen nachempfundenen Steintafeln zum hinteren Waldgelände mit den Massengräbern

im hinteren Gedenkstättenareal im Wald von Rzuchów mit Knochensplittern übersät sind; mit dem gleichen Problem ist die Gedenkstätte Sobibór beschäftigt.81 Mithilfe eines von der Euro­päischen Union geförderten Projekts konnten im Sommer 2013 bereits erste Schutzmaßnahmen an den Massengräbern begonnen und bis zum Einreichen des vorliegenden Artikels erfolgreich durchgeführt wer­ den. Das lange sichtbare Grab an der öst­­lichen Seite des hinteren Waldgeländes (die linke Bildhälfte in Abb. 5) und weitere Massengräber wurden inzwischen mit Steinen umrandet und mit hellem Kies bedeckt, jedoch nicht vollständig. Die Fundstellen der Verbrennungsöfen und Knochenmühlen sind mit Informa­­ tionsschildern gekennzeichnet, die über die archäolo­­gischen Arbeiten berichten. Kleinere Denkmäler erinnern an jüdische Gemeinden und einzelne Menschen (Abb. 7). Stellenweise führt der Weg zur Gedenkmauer (Abb. 8) im südwest­­ lichsten Teil über Holzstege, um einen direkten Kontakt mit den Gräbern und den Knochensplittern an der Oberfläche zu unterbinden. Eine Verlegung des Weges ist geplant. In den Abbildungen sind verschiedene Abdeckplatten und -planen zu erkennen, ­welche die über das gesamte Gebiet verstreuten Knochen­ fragmente vor Witterungseinflüssen s­ chützen sollten. Mittlerweile wurden diese

81 Vgl. dazu den Beitrag von Klara Muhle in ­­diesem Band.

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Abb. 7  Gedenkstein für die aus dem »Ghetto Litzmannstadt« verschleppten und in Kulmhof getöteten Menschen

Abb. 8  Gedenkmauer im südwest­­lichsten Teil der Gedenkstätte im Wald von Rzuchów

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durch beständigere Schutzmaßnahmen ersetzt. An der Gedenkmauer im hinteren Teil des Geländes wurden seit der Erbauung mehrere Gedenktafeln angebracht, die an jüdische Gemeinden, Familien oder auch Einzelpersonen erinnern. Meist wurden und werden diese von Nachkommen installiert.

Fazit Die Gestaltung der heutigen Gedenkstätte in Chełmno nad Nerem beinhaltet mehr als die Sichtbarmachung der Spuren der Verbrechen und die Erhaltung der bau­­lichen Überreste. Sie wirkt sich auch unmittelbar darauf aus, wie diese Orte von Besucherinnen und Besuchern wahrgenommen und verarbeitet werden. Eine ganze Reihe von Tötungsorten der Shoah liegt etwas abgelegen in Wäldern. Aber während ein tiefgrüner Mischwald in Kombina­­tion mit einer abgeschlosse­ nen Grabstättenarchitektur wie etwa in Treblinka oder der Neukonzep­­tion der Gedenkstätte Sobibór auf Besucherinnen und Besucher harmonisch, fried­­lich und damit angemessen würdevoll wirken und einen andächtigen Friedhofscharakter entfalten kann, bietet sich im Wald von Rzuchów ein anderes Bild. Die Maßnahmen zur Kennzeichnung und zum Schutz der Gräber haben 2014 begonnen. In den heißen Sommern ist der Boden des Waldes kaum bewach­ sen und wirkte staubig, leblos, teils gar aschebehaftet. Die archäolo­­gischen ­Grabungen im hinteren Teil des Waldgeländes erweckten den irritierenden Anschein einer Baustelle. Der Ort wirkte durch die unfertig markierten Grä­ ber rau und unwillkür­­lich frisch, die Gräber dadurch offen, unruhig und einem würdevollen Umgang mit den getöteten Menschen nicht angemessen. Der die Massengräber umgebende Wald von Rzúchow verstärkte das Entrückte des Ortes. Die besänftigende Schönheit der Natur, die an anderen Orten zwar ebenso wenig zu den begangenen Verbrechen passt, den Besuch dort allerdings in seiner emo­­ tionalen Wirkung um einiges abschwächt und den Ort selbst, zumindest aber die ihm von uns zugeschriebene Aura, damit beinahe antithetisch zu widerlegen scheint, ist im Wald von Rzúchow so nicht gegeben. Noch zu offen bzw. wenig geschützt ist das weitläufige Areal der Massengräber vor uns Besuchenden, auch wenn die guten Ansätze der Gedenkstätte erkennen lassen, dass dem Gedenken an die Getöteten mit Würde begegnet wird. Die Areale der Gedenkstätte sind zurzeit nur in Teilen ein »guter Ort«,82 ein würdevoller Friedhof. Während 82 Zur Bedeutung des »guten Ortes« in der jüdischen Tradi­­tion vgl. unseren ebenfalls in ­­diesem Sammelband abgedruckten Artikel Zur Würde von Menschen an Orten na­­tionalsozia­ listischer Massenverbrechen.

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anderswo das Geschehene allein durch die Abgeschlossenheit der Architektur tatsäch­­lich vergangen und bewahrt wirkt, scheinen die Ereignisse ­dieses Wal­ des nur allzu nah. Vieles deutet darauf hin, dass die angestrebte Neuausrichtung der Gedenk­ stätte – weg vom Monumentalen, hin zum individuelleren Gedenken an die Getöteten und Überlebenden von Kulmhof – in den kommenden Jahren gelin­ gen wird.83 Allein ­zwischen dem Besuch der Gedenkstätte und der Veröffent­­ lichung d ­ ieses Sammelbandes haben sich weitere Areale und Bau­­lichkeiten maßgeb­­lich verändert. Die Gedenkstätte des ehemaligen Tötungsortes Kulm­ hof ist mehr als siebzig Jahre nach den Ereignissen dennoch kein »kalter« oder abgeschlossener Erinnerungsort. Neben Sobibór gehört die Gedenkstätte in Chełmno nad Nerem zu den sich gegenwärtig grundlegend verändernden Orten der Shoah in Polen.

83 Die Informa­­tionen stammen aus einem Telefonat am 29. Juli 2015 mit Andrzej Grzegorczyk, einem wissenschaft­­lichen Mitarbeiter des für die Gedenkstätte in Chełmno nad Nerem zustän­ digen Museums der Märtyrer in Żabikowo (Muzeum Martyrologicznego w Żabikowie).

Jörg Ganzenmüller · Raphael Utz

Bełżec: Vom Tatort ohne Zeugen zum Ort des Lernens und Gedenkens

Bełżec ist ein kleiner Ort im öst­­lichsten Polen, nur wenige Kilometer von der heutigen ukrainischen Grenze entfernt. Großen Raum im langgezogenen Dorf nehmen der Bahnhof und dessen Gleisanlagen ein, die Teil der Eisenbahnverbin­ dung ­zwischen Lublin und Lemberg waren und somit zwei bedeutende urbane Zentren jüdischen Lebens im Zwischenkriegspolen miteinander verbanden. In unmittelbarem räum­­lichen Zusammenhang zu den Gleisanlagen befindet sich auf einem Hügel der Ort der ersten deutschen Massentötungsanlage im besetz­ ten Polen, die im Zuge der von den Tätern verschleiernd »Ak­­tion Reinhard« genannten Tötungspolitik gegen die als jüdisch definierte Bevölkerung errichtet wurde. Diese Massentötungsanlage diente ausschließ­­lich dem Zweck, innerhalb kürzester Zeit die größtmög­­liche Zahl an Menschen zu berauben und zu töten und wurde allein dafür errichtet. Alle Vorgänge, Abläufe und Strukturen in Bełżec waren auf d­ ieses Ziel hin ausgerichtet, um ein wie auch immer geartetes »Lager« handelte es sich nicht. Bełżec ist in zweierlei Hinsicht besonders bedeutend: Zum einen war es eine Art Prototyp für die ­später errichteten Massentötungsanlagen in ­Sobibór und Treblinka, die sich aufgrund von Wissenstransfer, Personalaustausch und gemeinsamer Verwaltung an den in Bełżec gemachten Erfahrungen orien­ tierten. Zum anderen war es, gemessen an den Zielvorgaben der Täter, am effektivsten, und zwar sowohl kurz- als auch langfristig : Im Vergleich zu ­Sobibór und Treblinka wurden in Bełżec trotz seines experimentellen Charak­ ters gemessen am Zeitraum seiner Nutzung die meisten Menschen ermordet. Weit über das Kriegsende hinaus und bis in die Gegenwart hinein sollte sich außerdem der Umstand als schwerwiegend erweisen, dass Bełżec auch die geringste Zahl an Überlebenden aufwies – anders als in Sobibór und ­Treblinka hatte es hier keinen Aufstand gegeben, im Zuge dessen einigen wenigen die Flucht hätte gelingen können. Wie alle Massentötungsanlagen der sogenannten Ak­­tion Reinhard steht auch Bełżec nicht in der Tradi­­tionslinie deutscher Konzentra­­tionslager wie Buchenwald oder Dachau. Stattdessen gibt es personelle sowie tötungspraktische Kontinuitä­ ten mit den na­­tionalsozia­listischen Krankenmorden, denen ­zwischen 1939 und 1945 im von Deutschland besetzten Europa etwa 300.000 Menschen zum Opfer

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fielen.1 In Deutschland und Österreich wurden die vom Regime als psychisch oder körper­­lich lebensunwürdig definierten Menschen, zentral gesteuert und überwacht, in einzelnen dafür umgebauten Kliniken getötet. War die Tötungsme­ thode hier zunächst Lebensmittelentzug oder Medikamentenüberdosis gewesen, wurden die Opfer ­später in eigens dafür hergerichteten Erstickungsräumen durch eingeleitetes Giftgas getötet. Bis Ende 1941 wurden allein auf dem Gebiet des Deutschen Reiches etwa 70.000 Menschen auf diese Weise ermordet.2 Im Zuge der Annexion von Teilen des nach 1939 besetzten polnischen Territoriums kam es auch dort zu einer ähn­­lichen Praxis in den psychiatrischen Einrichtungen der Region. Um diese Krankenmorde effizienter durchführen zu können, wurde das Töten in der Ortschaft Chełmno nad Nerem zentralisiert und institu­­tionalisiert. Schon bald wurden auch die Bewohner der von den Deutschen eingerichteten Ghettos in der Umgebung für die als jüdisch definierte Bevölkerung nach Chełmno deportiert und in sogenannten Gaswagen getötet.3 Sowohl die gezielte Ermor­ dung der Patienten psychiatrischer Krankenhäuser im annektierten Teil Polens als auch die Einrichtung eines Tötungsortes in Chełmno geschahen bereits vor Beginn der sogenannten Ak­­tion Reinhard, und zwar auf Initiative des lokalen Gauleiters ­Arthur Greiser hin.4 Personelle Kontinuitäten oder andere Verbindun­ gen ­zwischen Chełmno und der »Ak­­tion Reinhard« sind nicht nachgewiesen. Umso auffälliger ist der enge Konnex z­ wischen den NS-Krankenmorden im Deutschen Reich und der »Ak­­tion Reinhard«. Öffent­­liche Proteste in Deutsch­ land hatten 1941 zu einem offiziellen Ende der von der Berliner Tiergartenstraße 4 aus gesteuerten Klinikmordkampagne mit dem Tarnnamen »T4« geführt.5 Ver­ gleichsweise unbekannt ist allerdings, dass ein Teil des »T4«-Personals auch einge­ setzt wurde, um schwache, kranke und als jüdische definierte Gefangene deutscher Konzentra­­tionslager in die Tötungskliniken auf Reichsgebiet zu verbringen und dort 1 Vgl. hierzu Hans-­­Walter Schmuhl: »Euthanasie« und Krankenmord«. In: Robert Jütte u. a. (Hrsg.): Medizin und Na­­tionalsozia­lismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 2011, S. 214 – 255; Götz Aly: Die Belasteten. »Euthanasie« 1939 – 1945 – eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 2013; Sara Berger: Experten der Vernichtung: Das T4-Reinhardt-­­Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg 2013. 2 Vgl. Ernst Klee (Hrsg.): Dokumente zur »Euthanasie«. Frankfurt a. M. 1985, S. 232. – Allge­ meiner und auch die Entwicklung hin zum Völkermord betonend vgl. Henry ­Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin 2002. 3 Zu Kulmhof vgl. den Beitrag von Christian Jänsch und Alexander Walther, Kulmhof/Chełmno nad Nerem im vorliegenden Band mit weiterer Literatur. 4 Vgl. hierzu Catherine Epstein: Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupa­­tion of Wes­ tern Poland. Oxford 2010. 5 Die Patientenmorde gingen jedoch bis Kriegsende dezentral und in Verantwortung der jewei­ ligen Klinik weiter. Vgl. hierzu Aly: Die Belasteten (wie Anm. 1).

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zu ermorden. Diesen Maßnahmen unter der Tarnbezeichnung »Ak­­tion 14f13« fielen bis Kriegsende etwa 30.000 Menschen zum Opfer. Ende 1941 wurde das »T4«-Per­ sonal schrittweise nach Polen versetzt, um die nunmehr beschlossene Ermordung der dortigen als jüdisch definierten Bevölkerung durch Giftgas in die Tat umzuset­ zen.6 Gleichzeitig hatten im Zuge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 deutsche mobile Einheiten im besetzten Polen und der Sowjetunion bis Ende des Jahres etwa 1,5 Millionen Menschen durch Massenerschießungen hinter der Front getötet – eine Praxis, die sich nur schwer verbergen ließ und nicht zuletzt auch eine psychische Belastung für die Täter darstellte, an der das Regime kein Interesse haben konnte.7 Die beiden zentralen Motiva­­tionen für die Einrichtung der Massentötungsanlagen in Bełżec, Sobibór und Treblinka, in denen Giftgas ein­ gesetzt werden sollte, waren also die Geheimhaltungsabsicht und der Täterschutz. Innerhalb weniger Monate, von März bis Dezember 1942, wurden so allein in Bełżec mindestens 430.000 Menschen getötet. Berücksichtigt man dabei eine dreimona­ tige Umbaupause, lässt sich eine durchschnitt­­liche Zahl von etwa 2600 Menschen errechnen, die während der Deporta­­tionen pro Tag in Bełżec ermordet wurden. Nach dem Krieg geriet Bełżec weitgehend in Vergessenheit. Auch in Claude Lanzmanns epochemachender Filmdokumenta­­tion Shoah spielt der Tötungsort nur eine untergeordnete Rolle: Ein einziger Kameraschwenk zeigt mit einem san­ digen Hügel den Standort der Massentötungsanlage. Auch das in einem Münch­ ner Gasthof mit versteckter Kamera geführte Interview mit Josef Oberhauser, der dem Lagerkommandanten Christian Wirth persön­­lich unterstellt war, kann – bei aller Entlarvung eines Täters – kein Gesamtbild herstellen. Bis heute steht Bełżec nicht nur im Schatten von Auschwitz, sondern ist auch weit weniger bekannt als Sobibór oder Treblinka, obwohl die Geschichte aller drei Orte aufs Engste mit­ einander verflochten ist. Dies ist auch an der verfügbaren Fachliteratur erkennbar, deren Umfang übersicht­­lich ist. Lange Zeit war die Studie von Yitzhak Arad zu den drei Tötungs­ orten der sogenannten Ak­­tion Reinhard zentrales Referenzwerk für die Geschichte von Bełżec.8 Erst im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte veröffent­­lichte 6 Für die Zwischenphase vgl. Patricia Heberer: Von der Ak­­tion T4 zum Massenmord an den euro­päischen Juden. Der Transfer des Tötungspersonals. In: Günter Morsch/Bertrand Perz (Hrsg.): Neue Studien zu den na­­tionalsozia­listischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung (= Schriftenreihe der Stiftung Brandenbur­­gische Gedenkstätten, 29). Berlin 2012, S. 165 – 175, hier S. 166 f. 7 Vgl. Dieter Pohl: Holocaust. Die Ursachen, das Geschehen, die Folgen. Freiburg/Basel/ Wien 2000, S. 61. 8 Vgl. Yitzhak Arad: Belzec, Sobibor, Treblinka. The Opera­­tion Reinhard Death Camps, Bloomington/Indianapolis 1987.

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Robert Kuwałek im Jahr 2005 sein Grundlagenwerk, das wiederum erst acht Jahre ­später in deutscher Übersetzung erschien.9 Nach wie vor von der deutschen und eng­­lischsprachigen Forschung weitestgehend vernachlässigt, sind die äußerst umfangreichen Ermittlungsprotokolle zweier Untersuchungskommissionen in Polen: zum einen die Zentrale Jüdische Historische Kommission (Centralna Żydowska Komisja Historyczna), deren Papiere bis heute im Jüdischen Histori­ schen Institut (Żydowski Instytut Historyczny, ŻIH) in Warschau aufbewahrt werden, und zum anderen die staat­­liche Hauptkommission für die Erforschung deutscher Verbrechen in Polen (Główna Komisja Badania Zbrodni Niemieckich w Polsce), deren Akten im polnischen Institut für na­­tionales Gedächtnis in War­ schau und dessen zahlreichen Zweigstellen im ganzen Land archiviert sind. Der vorliegende Aufsatz will einen Beitrag dazu leisten, das lange Zeit verges­ sene Bełżec als einen zentralen Ort der Shoah stärker ins Bewusstsein zu rücken. Dazu wird in drei Schritten vorgegangen: Zuerst soll die Geschichte der deutschen Massentötungsanlage von ihrer Errichtung bis zum Kriegsende im Sommer 1944 knapp erläutert werden. Der Umgang mit dem historischen Ort nach 1944 steht im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts, der die Nachgeschichte und verschiedene Etappen einer schließ­­lich 2004 erfolgreich abgeschlossenen Memorialisierung erzählt. Der dritte Teil stellt den heutigen Gedenkkomplex als Beispiel für einen würdigen Umgang mit den Opfern und der Geschichte des Ortes vor.

Die deutsche Massentötungsanlage in Bełżec 1941 – 1944 Errichtung, Personal und Struktur Im Winter 1941/42 fiel auf deutscher Seite die Entscheidung, die als jüdisch definierte Bevölkerung im gesamten deutschen Machtbereich in Europa zu töten. Bereits drei Monate vor der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 hatte H ­ immler am 13. Oktober 1941 die Anweisung gegeben, die Region Lublin für Germanisierungsmaßnahmen vorzubereiten, wofür die phy­­sische Entfernung der als jüdisch definierten Bevölkerung zwingende Voraussetzung war.10 Adressat ­dieses Befehls war Odilo Globocnik, seit November 1939 SS - und Polizeiführer 9 Vgl. Robert Kuwałek: Das Vernichtungslager Bełżec. Berlin 2013 (poln. Original: Obóz zagłady w Bełżcu. Lublin 2005). 10 Vgl. Dieter Pohl: Znaczenie dystryktu lubelskiego w »ostatecznym rozwiązaniu kwestii żydowskiej« [Die Bedeutung des Distrikts Lublin in der »Endlösung der Judenfrage«]. In: Dariusz Libionka (Hrsg.): Akcja Reinhardt. Zagłada Żydów w Generalnym Gubernatorstwie

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des Distrikts Lublin und ab Anfang 1942 Leiter der sogenannten Ak­­tion Rein­ hard.11 Zwei Wochen s­ päter, am 1. November 1941, begannen die Bauarbeiten in Bełżec.12 Geleitet wurden diese zunächst von einer Gruppe aus drei SS -Angehö­ rigen, ­darunter Josef Oberhauser, der bei den Krankenmorden im Reich für die Leichenverbrennung zuständig gewesen war. Die Gruppe verpflichtete sofort pol­ nische Handwerker für die notwendigen Arbeiten, für die es etwa ausgebildete Tischler, Schlosser oder Maurer brauchte, in erster Linie für die Errichtung ver­ schiedener Baracken und des von vornherein geplanten Tötungsgebäudes.13 Am 18. November traf zusätz­­lich das erste Kontingent von 14 sogenannten Trawniki-­ ­Männern in Bełżec ein – es handelte sich um sowjetische Kriegsgefangene, die sich angesichts der Hungerpolitik der Wehrmacht gegenüber gefangen genom­ menen Soldaten der Roten Armee mehr oder weniger freiwillig bereitgefunden hatten, der SS als Wachmannschaften an verschiedenen Orten zu dienen.14 Diese Gruppe nichtdeutscher Wachmänner führte Rodungsarbeiten durch, hob Grä­ ben – und mög­­licherweise auch die ersten Massengräber – aus und tarnte den Ort vor Blicken aus Richtung der Bahnstrecke.15 Kurz vor Weihnachten 1941 stieß Christian Wirth als erster Kommandant zur ersten Gruppe dazu. Wirth blieb Kommandant in Bełżec bis August 1942 und stieg dann zum Inspektor aller drei Massentötungsanlagen der sogenann­ ten Ak­­tion Reinhard auf. Er war bereits im Rahmen der NS-Krankenmorde in Brandenburg mit der Tötung von Menschen betraut gewesen und hatte sich als Inspekteur aller Tötungskliniken um einen reibungslosen Ablauf der Kranken­ morde bemüht. Wirth umgab sich nun in Polen gezielt mit weiteren Männern, [Ak­­tion Reinhardt. Die Vernichtung der Juden im Generalgouvernement]. Warschau 2004, S. 45. 11 Vgl. ausführ­­lich hierzu Jan Erik Schulte: Initiative der Peripherie. Globocniks Siedlungs­ stützpunkte und die Entscheidung zum Bau des Vernichtungslagers Belzec. In: ders. (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg. Paderborn 2009, S. 118 – 137. 12 Vgl. Zeugenaussage Stanisław Kozak, 14. 10. 1945. In: Dariusz Libionka (Red.): Obóz zagłady w Bełżcu w relacjach ocalonych i zeznaniach polskich świadków [Das Vernichtungs­ lager Bełżec in den Berichten Überlebender und polnischer Zeugenaussagen]. Lublin 2013, S. 146 – 150, hier S. 146. 13 Vgl. Annika Wienert: Das Lager vorstellen. Die Architektur der na­­tionalsozia­listischen Vernichtungslager. Berlin 2015, S. 93 f. 14 Vgl. hierzu Dieter Pohl: Die Trawniki-­­Männer im Vernichtungslager Bełżec. In: Alfred Gottwaldt/Norbert Kampe/Peter Klein (Hrsg.): NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung. Berlin 2005, S. 278 – 289, zur Frage der Freiwilligkeit insbes. ebd. S. 279. – Allgemein zur Geschichte der nicht deutschen Wach­ mannschaften vgl. Angelika Benz: Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-­­Männer im Holocaust. Berlin 2015. 15 Vgl. Wienert: Das Lager vorstellen (wie Anm. 13), S. 93.

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die ebenfalls in den Tötungskliniken zum Einsatz gekommen waren. Trotz dieser starken Kontinuität gab es allerdings auch Unterschiede zur Zusammensetzung des ursprüng­­lichen Krankenmordpersonals: Bis auf eine Ausnahme wurden im Rahmen der »Ak­­tion Reinhard« keine Ärzte und überhaupt kein weib­­liches Personal eingesetzt. Männer, die Krankenpfleger zum Beruf hatten, fanden sich aber sehr wohl im deutschen Personal der »Ak­­tion Reinhard«. Grundsätz­­lich lässt sich festhalten, dass es sich um eine Gruppe von Männern handelte, die durch ihre Mitwirkung an den Krankenmorden mit der Tötung von Menschen durch Giftgas vertraut war. Konnten die Täter hierfür noch eine scheinbare Rechtferti­ gung durch den Umstand konstruieren, dass es sich bei den Opfern angeb­­lich um unheilbar kranke Menschen gehandelt habe, deren Gnadentod auch für sie selbst eine Erlösung darstelle, traf dies auf die Opfer der bereits erwähnten sogenannten Ak­­tion 14f13 nicht zu – deren Opfer waren durch Zwangsarbeit und Gefangen­ schaft in einem Konzentra­­tionslager ledig­­lich geschwächt oder wurden aus rein rassistischen Gründen zur Tötung ausgewählt.16 Das deutsche Personal in Bełżec (und ­später auch in Sobibór und Treblinka) stand also einer genozidalen Politik gegen die als jüdisch definierte Bevölkerung Europas nicht nur ideolo­­gisch posi­ tiv gegenüber, sondern verfügte bereits vor seinem Eintreffen in Polen auch über konkrete Erfahrungen bei der Umsetzung einer solchen Politik.17 Bis Mitte Dezember 1941 waren die zentralen Bauten in Bełżec errichtet, und der neue Kommandant Wirth entließ unmittelbar nach seiner Ankunft die meis­ ten polnischen Arbeitskräfte. Sie wurden durch etwa 150 bis 200 Zwangsarbeiter aus der etwa 7 Kilometer entfernten jüdischen Gemeinde Lubycza Królewska ersetzt. Gemeinsam mit den nichtdeutschen Wachmannschaften schlossen die Zwangsarbeiter bis Anfang Januar die Bauarbeiten ab, Mitte Februar war auch das Tötungsgebäude im Innenausbau fertiggestellt.18 Bis zum Beginn der Massendeporta­­tionen am 17. März 1942 führten Wirth und die deutschen Mann­ schaften, die bis dahin auf etwa zwanzig Personen angewachsen waren, zusätz­­ lich Tötungen durch Giftgas in einem zu ­­diesem Zweck umgebauten Lastwagen durch, dessen Motorabgase in den hermetisch abgeschlossenen Kastenaufsatz umgeleitet wurden. Opfer dieser Morde wurden zunächst körper­­lich oder geistig

16 Vgl. hierzu etwa Astrid Ley: Vom Krankenmord zum Genozid. Die »Ak­­tion 14f13« in den Konzentra­­tionslagern. In: Dachauer Hefte 25 (2009), S. 36 – 49; Stanislaw Klodzinski: Die »Ak­­tion 14f13«. Der Transport von 575 Häftlingen von Auschwitz in das »Sanatorium Dresden«. In: Götz Aly (Hrsg.): Ak­­tion T4 1939 – 1945. Die »Euthanasie«-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin 1987, S. 136 – 146. 17 Vgl. Berger: Experten der Vernichtung (wie Anm. 1), S. 31 – 36. 18 Vgl. Wienert: Das Lager vorstellen (wie Anm. 13), S. 94.

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behinderte Menschen aus der Umgebung von Bełżec sowie politische Gefangene des Gestapogefängnisses in der Kreishauptstadt Zamość – ganz dem Muster der bisherigen »T4«-Taten folgend.19 Ebenfalls der Praxis der Krankenmorde entsprechend wurde für die ersten Tötungen auch nach Beginn der großen Deporta­­tionen in den fertigen Erstickungsräumen Giftgas (Kohlenmonoxid oder Kohlendioxid) aus Flaschen eingesetzt. 1971 wurden 36 dieser Behälter auf dem Gelände gefunden.20 Zuständig für die Etablierung der am besten geeig­ neten Tötungsmethode durch Giftgas war Lorenz Hackenholt, der gemeinsam mit Wirth nach Bełżec gekommen war und wohl auch die Entscheidung traf, nicht weiter Gasflaschen zu benutzen, sondern einen Motor an das Tötungs­ gebäude anzuschließen und dessen Abgase in die Erstickungsräume zu leiten.21 Dass aber von Beginn an ein Tötungsgebäude mit Erstickungsräumen geplant war und ­dieses keineswegs nur eine Art Zufallsprodukt verschiedener Versuche war, steht außer Zweifel.22 In Bełżec wurden die wesent­­lichen Strukturelemente einer Massentötungs­ anlage entwickelt, die auch in Sobibór und Treblinka Verwendung finden sollten. Es handelte sich nicht um eine komplexe bau­­liche Struktur, und die Vorstellung einer »Todesfabrik« entspricht nicht den Gegebenheiten. Grundsätz­­lich lassen sich fünf Elemente benennen: Gleisanschluss, Tötungsgebäude, Massengräber, Sortier- und Verwertungsgebäude und schließ­­lich Unterkünfte für SS-Personal, nichtdeutsche Wachmannschaften und Zwangsarbeiter. Es ist allerdings auf­ schlussreich, wie diese fünf Elemente in Bełżec konfiguriert waren und wie sich die räum­­liche Anordnung dort im Laufe der Zeit änderte. In der ersten Tötungsphase vom 17. März bis Mitte April 1942 wirkt die Gesamt­ struktur improvisiert – ein Eindruck, der durch den Umstand verstärkt wird, dass einige Komponenten außerhalb des eingezäunten Kerngeländes lagen. Dies betraf nicht nur die Kommandantur und die Unterkünfte für die SS-Besatzung, sondern auch eine Reihe von Eisenbahngebäuden, die als Magazine und Lager verwendet wurden. Vor allem aber befand sich das Tötungsgebäude unmittelbar neben der Ankunftszone und war von ihr nur durch einen mit Zweigen getarnten Zaun getrennt. Die Leichen der getöteten Menschen wurden über eine Schmal­ spurbahn in Loren zu den Massengräbern transportiert, die in dieser ersten Phase noch verhältnismäßig geringen Raum im Gesamtgelände einnahmen. 19 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 179 f. 20 Vgl. ebd., S. 181 f. 21 Vgl. ebd., S. 182; Berger: Experten der Vernichtung (wie Anm. 1), S. 47 – 51; Benz: Hand­ langer (wie Anm. 14), S. 149. 22 Vgl. Zeugenaussage Stanisław Kozak (wie Anm. 12), S. 146 – 150.

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Wohl aufgrund der gemachten Erfahrungen in der ersten Phase wurde die Tötungsanlage in Bełżec umgebaut und ihre Fläche vergrößert. Die wichtigste Veränderung war dabei die Errichtung eines neuen und größeren Tötungsgebäudes, das nun nicht mehr drei, sondern sechs Erstickungsräume umfasste. Dementspre­ chend war in der zweiten Phase von Juli 1942 bis zum Ende der Deporta­­tionen am 11. Dezember 1942 die Tötungszone auch um ein Vielfaches größer – in erster Linie um den Bedarf an Massengräbern für mehrere hunderttausend Leichen zu decken. Der Akzent lag also eindeutig auf der Erweiterung der Mordkapazität. Ebenfalls auffällig ist die klarer gezogene Grenze ­zwischen der Tötungszone einer­ seits und dem Rest des Geländes andererseits. Auch von erheb­­licher Bedeutung waren die größere Entfernung des Tötungsgebäudes von der Ankunftszone und beider Verbindung durch einen längeren, blickdicht umzäunten Gang – von den Tätern euphemistisch »Schleuse« genannt – und die Inbetriebnahme eines zwei­ ten Bahngleises für eingehende Deporta­­tionszüge. Wie lassen sich diese hier nur skizzenhaft angedeuteten Veränderungen inter­ pretieren? Neben den rein technischen Erkenntnissen, die sich aus der Notwendig­ keit ergaben, enorme Massengräber bereitzuhalten, müssen auch weitere Faktoren in Betracht gezogen werden. Zum einen könnte der Ausbau der Tötungskapa­ zitäten bedeuten, dass sich erst im Verlauf der ersten Phase klärte, in welchem Ausmaß hier Menschen umgebracht wurden und die Strukturen entsprechend angepasst werden mussten. Die Erweiterung des umzäunten Gesamtgeländes könnte – neben dem Platzbedarf für Massengräber – auch darauf hindeuten, dass die Geheimhaltung des Mordgeschehens ein beständiges Problem für die Täter darstellte und neugierige Blicke ins Innere besser verhindert werden sollten. Auch die Errichtung des Ganges ­zwischen Ankunftszone und Tötungsgebäude kann in d­­ iesem Zusammenhang gelesen werden. Noch während der ersten Phase hatte sich in der Region herumgesprochen, was in Bełżec geschah, sodass eine Perfek­­tionierung der Täuschung der Deportierten über ihr weiteres Schicksal von enormer Bedeutung war, um eine große Menschenmenge relativ ruhig zu halten und Widerstand durch Irreleiten, Desorientierung und den Appell an die Hoffnung der Menschen zu verhindern. Diesen Zweck erfüllte ein solcher Gang, wobei auffällig ist, dass er in Bełżec gerade verlief, während s­ päter in Sobibór und Treblinka ein Knick eingebaut wurde, sodass die Deportierten das Ziel des Weges nicht erkennen konnten. Von Beginn der Planungen und der Bauarbeiten am 1. November 1941 an aber lässt sich an den bau­­lichen Strukturen in Bełżec ein konstitutives Element für die Umsetzung der geplanten Morde benennen – näm­­lich der Einsatz von Zwangs­arbeitern. Der polnische Handwerker Stanisław Kozak, der gemeinsam mit anderen die ersten Gebäude auf dem Gelände errichtete, sagte 1945 aus: »Eine

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Baracke befand sich direkt neben dem Gleis und war 50 Meter lang und 12,5 Meter breit. Das sollte der Wartesaal für die Juden sein, die im Lager beschäftigt werden sollten.« 23 Es war also von vornherein geplant und wurde auch so kommuniziert, dass es zu Zwangsarbeit ausgewählter Deportierter kommen würde, die sich im »Wartesaal« aufhalten würden, während die anderen in die Baracke getrieben wurden, die Kozak als »Bad« beschrieb. Es gehört zu den perfidesten Grausam­ keiten, dass die den Deporta­­tionszügen entnommenen und vorübergehend am Leben gelassenen Menschen ein entscheidender Faktor in der konkreten Durch­ führung der Tötung und Beraubung der anderen Deportierten waren. Diese wohl entsetz­­lichste Form der Zwangsarbeit bedeutete nicht nur das Sortieren und Umarbeiten des geraubten Besitzes der Opfer, sondern auch die Leerung der Erstickungsräume, das Öffnen der Leichen auf der Suche nach Gold und Wert­ sachen und die Verscharrung der Getöteten in Massengräbern – darunter auch Angehörige oder Freunde und Nachbarn. Der Aufenthalt der Zwangsarbeiter war nicht mit einer Überlebensperspektive verbunden; sie wurden in regelmäßigen Abständen getötet. Auf diese Weise ließen sich die beiden Grundbedürfnisse der SS am besten verwirk­­lichen: Ihnen selbst blieben die furchtbarsten Arbeiten im Sinne des psychischen Täterschutzes erspart, und der Massenmord in Bełżec wurde weitgehend geheim gehalten, indem die unmittelbaren Augenzeugen der Verbrechen auch ermordet wurden. Für diese Menschen wurden Unterkunfts­ baracken innerhalb des Geländes errichtet, und zwar an zwei Stellen: zum einen innerhalb der Tötungszone für die durchschnitt­­lich wohl fünfhundert Zwangs­ arbeiter, die gezwungen waren, unmittelbar am Tötungsprozess teilzunehmen; zum anderen neben der Ankunftszone für etwa fünfzig Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die gezwungen wurden, die Beraubung und Verwertung, auch im Bahnbetriebswerk, durchzuführen. Einige wenige Zwangsarbeiterinnen waren zusätz­­lich außerhalb des Geländes untergebracht, von wo aus sie Haushalts­ dienstleistungen für die SS-Besatzung zu erbringen hatten. Die Lebenserwartung der Zwangs­arbeiter in der Tötungszone war am kürzesten.24 Der großen Zahl an jüdischen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen stand eine überraschend kleine Gruppe von nichtdeutschen Wachmannschaften gegenüber. Zu Beginn zählte das Kontingent wohl nicht mehr als 100 Wachmän­ ner, es wurde im Sommer und Herbst 1942 auf 120 aufgestockt und während der Auflösungsphase auf etwa 60 bis 70 Männer reduziert. Unter dem Kommando der SS dienten insgesamt etwa 400 Männer in den Wachmannschaften in Bełżec.25 23 Ebd., S. 146. 24 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 211 – 228. 25 Vgl. ebd., S. 111.

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Häufig sind die Angehörigen der Wachmannschaften als »Ukrainer« bezeichnet worden, die sich den Deutschen angeb­­lich »freiwillig« angeschlossen hätten. Beide pauschalen Aussagen bedürfen jedoch der Differenzierung. Zwar stell­ ten die Ukrainer mit knapp der Hälfte aller Wachmänner die deut­­lich größte Gruppe, aber etwas mehr als ein Viertel bezeichneten sich als Russen und etwa 15 Prozent als deutschstämmige Bürger der Sowjetunion. Diese Angaben sind allerdings mit einem gewissen Misstrauen zu betrachten, da es sich schnell herum­ sprach, dass »Ukrainer« bei den Deutschen als vertrauenswürdiger galten als andere ethnische Gruppen der Sowjetunion.26 Alle Wachmänner stammten aus Kriegsgefangenenlagern, in denen sie unter mörderischen Bedingungen von den Deutschen gehalten wurden – man schätzt, dass etwa 3 der insgesamt 5,7 Millio­ nen sowjetischen Soldaten, die sich in deutscher Gewalt befanden, durch eine gezielte Unterversorgung mit Nahrungsmitteln und durch katastrophale hygie­ nische Bedingungen ums Leben kamen.27 Die Bereitschaft, für die Deutschen zu arbeiten, lässt sich demnach zu einem guten Teil aus der Hoffnung erklären, so das eigene Leben retten zu können. Dies schließt eine ideolo­­gische Nähe zum Na­­tionalsozia­lismus und dessen Antisemitismus nicht aus.28 In allen ihren Tätig­ keiten unterstanden die Wachmänner der Befehlsgewalt der SS und waren deren »Helfer und Untergebene«.29 Zu ihren Aufgaben gehörten etwa die Bewachung des Geländes nach außen, die Beaufsichtigung der Zwangsarbeiter und Zwangs­ arbeiterinnen und die Mitwirkung beim Tötungsprozess von der Ankunft eines Deporta­­tionszuges bis hin zur Verscharrung der Opfer.30 Besonders bedeutend ist dabei, dass die Wachmannschaften rotierend für alle Aufgaben eingesetzt wurden, wie ein Wachmann 1965 aussagte: Als ich bei dem Kommando der SS bei der Bewachung des Vernichtungslagers Bełżec tätig war, mußte ich, so wie alle anderen Wachleute, die den Dienst in ­­diesem Lager taten, mich unmittelbar an der Vernichtung von Juden beteiligen. Unsere Beteiligung an der Vernichtung der Juden bestand darin, daß wir die Opfer aus den Eisenbahnwaggons herausholten und unter Gewaltanwendung sie in die Baracken hineinjagten, wo sie sich entkleiden mußten. Wir zwangen sie, sich nackt zu entkleiden und jagten sie sodann in einen Durchgang, der durch den Stacheldraht abgezäunt war und der in den »Seelentöter« führte. Wir jagten sie und stießen

26 Vgl. Benz: Handlanger (wie Anm. 14), S. 49. 27 Vgl. dazu Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941 – 1945. Bonn 1997. 28 Vgl. Benz: Handlanger (wie Anm. 14), S. 62 ff., mit weiterer Literatur. 29 Ebd., S. 184. 30 Vgl. ebd., S. 184 f.

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sie auch in die Zellen des »Seelentöters«. Ich möchte bemerken, daß alle Wachleute, die in dem Vernichtungslager Bełżec ihren Dienst taten, das ­gleiche verrichteten. Wenn ein Teil der Wachleute an einem Tag die Bewachung des Lagers besorgte, mußten die gleichen Wachleute am andern Tag sich ablösen. Diejenigen, die zuvor die Wache besorgten, mußten sich an der Vernichtung der Leute beteiligen.31

Diese Einbindung aller Wachmänner in den Tötungsprozess begrenzte naturge­ mäß deren individuellen Handlungsspielraum erheb­­lich, ohne ihn jedoch gänz­­lich verschwinden zu lassen. So zeigte sich im Verhalten der Wachleute denn auch das gesamte Spektrum an Mög­­lichkeiten von begeisterter, brutaler Mittäterschaft über das erzwungene Erfüllen der angewiesenen Aufgaben bis hin zu Flucht (etwa ein Drittel aller Wachmänner in Bełżec, Sobibór und Treblinka flüchteten) oder gar Widerstand.32 Davon abgesehen sind die Wachmänner wichtige Zeugen und ihre Aussagen vor Ermittlungsbehörden unterschied­­licher Staaten nach dem Krieg sind zentrale Quellen zu den Vorgängen in den drei Massentötungsanlagen der sogenannten Ak­­tion Reinhard. Wie alle Berichte und insbesondere Aussagen vor Gericht müssen sie frei­­lich mit Vorsicht und der nötigen kritischen Distanz inter­ pretiert werden. Die kleinste ­sozia­le Gruppe in Bełżec war die SS-Besatzung, denn es hielten sich nie mehr als etwa zwanzig Deutsche zum selben Zeitpunkt dort auf. Es gelang den Deutschen also, ihre Opfer zur Mitwirkung an deren Tötung zu zwingen, und dies ist mög­­licherweise ein Alleinstellungsmerkmal der Shoah.33 Tötungsprozess Der in Bełżec durchgeführte Tötungsprozess war von extremer Gewaltanwendung und größter Grausamkeit geprägt. Es liegen zwei bedeutende Augenzeugenbe­ richte vor, die nicht im Rahmen eines Gerichtsverfahrens entstanden sind und insofern auch nicht deren typische Defensivhaltung aufweisen: der Bericht des Überlebenden Rudolf Reder, der 1946 in Krakau veröffent­­licht wurde, und die Aufzeichnungen Kurt Gersteins, eines Chemikers, der für die SS arbeitete und Bełżec im August 1942 besucht hatte.34 Reder hatte vier Monate als ­Zwangsarbeiter 31 Aussage Petr Petrovič Brovcev, 2. August 1965, zit. nach Benz: Handlanger (wie Anm. 14), S. 185 f. 32 Vgl. Benz: Handlanger (wie Anm. 14), S. 230 – 248. 33 Vgl. ebd., S. 55, mit weiterer Literatur. 34 Vgl. Rudolf Reder: Bericht über Bełżec. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel/ Angelika Königseder (Hrsg.): Na­­tionalsozia­listische Zwangslager. Strukturen und

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in Bełżec überlebt, bevor ihm die Flucht gelang. Nach dem Krieg emigrierte er nach Kanada.35 Gerstein überlebte als SS -Offizier den Krieg, schrieb seinen Augenzeugenbericht über Bełżec im Mai 1945 nieder und beging ­später in einem Pariser Gefängnis wahrschein­­lich Selbstmord. Reder wurde im August 1942 von Lemberg nach Bełżec deportiert, wo bereits zwei Wochen zuvor Augenzeugenberichte über das wahre Geschehen kursierten, sodass die Menschen genau wussten, was ihnen bevorstand, nachdem sie in die Güterwaggons gezwungen worden waren: Wir fuhren weiter und niemand sprach – völlig apathisch und stumm. Wir wussten, dass wir unserem Tod entgegenfuhren und dass wir überhaupt nichts daran ändern konnten. […] Keiner sprach ein Wort zum anderen; niemand versuchte, jammernde Frauen zu trösten oder schluch­ zende Kinder zu beruhigen. Wir alle wussten eines: dass wir einem sicheren und schreck­­lichen Tod entgegengingen. Was wir uns alle wünschten war, dass es schnell gehen würde.36

Nach dieser extremen see­­lischen Notlage während der Deporta­­tion, die meist von Hunger, Durst, körper­­licher Entwürdigung und einer großen Zahl an Todesfällen begleitet war, setzte sich die Gewalt nach Ankunft in Bełżec fort:37 Einige Dutzend SS-Männer brüllten: »los!«, öffneten die Waggons und jagten die Leute mit Peitschen und Gewehrkolben heraus. Die Waggontüren befanden sich etwa einen Meter über dem Boden, und die Menschen, junge wie alte gleichermaßen, mussten herunterspringen, wobei sie sich oft Arme oder Beine brachen. Kinder wurden verletzt und alle stürzten erschöpft, erschrocken und schmutzig hinunter.38

Nach dieser von Panik und Brutalität bestimmten Ankunft schildert Reder den in seiner Wahrnehmung entscheidenden Moment, der aus einer Täuschung bestand.

Regionen – Täter und Opfer. Dachau/Berlin 2011, S. 351 – 373. – Vgl. unbedingt die Dokumenta­­ tion der verschiedenen Aussagen und Berichte Reders in Libionka: Obóz zagłady (wie Anm. 12), S. 13 – 81 und die neue eng­­lische Übersetzung des 1946 veröffent­­lichten Originals: Rudolf Reder: Bełżec. In: Antony Polonsky (Hrsg.): Focusing on the Holocaust and its Aftermath (= Polin: Studies in Polish Jewry, 13). London/Portland 2000, S. 268 – 289; Kurt Gerstein: Augenzeugenbericht zu den Massenvergasungen. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953) 2, S. 177 – 194. 35 Vgl. Reder: Bericht (wie Anm. 34), S. 356. 36 Ebd., S. 355. 37 Vgl. Gerstein: Augenzeugenbericht (wie Anm. 34), S. 190. – Er spricht von 45 Waggons mit 6700 Menschen, von denen bereits 1.450 tot in Bełżec ankamen. 38 Reder: Bericht (wie Anm. 34), S. 356.

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In einer Ansprache an die Deportierten erklärte ein SS-Mann, die Menschen wür­ den zuerst baden und dann zur Arbeit eingeteilt: »Die Menge freute sich; die Menschen waren beruhigt, dass sie eine Arbeit aufnehmen würden. Sie applau­ dierten. […] Es war ein Moment der Hoffnung, der Illusion.« 39 Auch Gerstein erwähnte die Täuschung und den Augenblick der Hoffnung, ging allerdings auch davon aus, dass die Mehrheit der Menschen wegen des starken Leichengeruchs Bescheid wusste.40 Unmittelbar danach wurde die Menge nach Geschlechtern geteilt und die Männer direkt in Richtung Tötungsgebäude geführt, während die Frauen in eine Baracke gebracht und ihnen die Haare abgeschnitten wurden: Als ihnen Holzhocker gereicht und sie angewiesen wurden, sich zunächst in einer Reihe aufzu­ stellen und dann hinzusetzen und acht jüdische Friseure mit eisigem Schweigen hereinkamen, um ihnen die Haare bis zur Kopfhaut abzuschneiden, da sah ich, dass sie in d­­ iesem Augenblick die ganze Wahrheit erkannten. Von da an konnten weder die Frauen noch die Männer, die sich schon auf dem Weg ins Gas befanden, irgendwelche Illusionen über ihr Schicksal gehabt haben. […] Und mit einem Mal, jäh von Hoffnung verlassen, wurden sie von Verzweiflung gepackt. Es ertönten Geheul und schrille Schreie. Einige Frauen verloren den Verstand. Andere gingen jedoch gefasst in den Tod, im Besonderen jugend­­liche Mädchen. […] Die Männer waren bereits am Sterben, während die Frauen mit Peitschen, nackt und geschoren, wie Vieh zum Schlachten zusammengetrieben wurden, ohne überhaupt gezählt zu werden.41

Der Weg durch den abgezäunten Gang zum Tötungsgebäude war ebenfalls von brutalem Gewalteinsatz begleitet. Reder schreibt von einem Dutzend SS-Män­ nern, die mit Peitschen und aufgesetzten Bajonetten die Frauen zum Eingang des Gebäudes und in die Erstickungsräume hineintrieben: »Diejenigen Frauen, die versuchten, sich zu widersetzen, wurden mit dem Bajonett traktiert, bis Blut floss.« 42 Reder und Gerstein berichten übereinstimmend von der immens hohen Zahl an Menschen, die in die Erstickungsräume gepresst wurden, näm­­lich jeweils um die 700 Personen pro Zelle, also auf etwa 25 Quadratmeter.43 Bis alle sechs Erstickungsräume gefüllt waren, vergingen insgesamt zwei Stunden.44 Auch den tatsäch­­lichen Tötungsvorgang überliefert Reder als Ohrenzeuge und berich­ tet von Schreien, Weinen und Hilferufen auf Polnisch sowie Jiddisch und dem 39 Ebd., S. 357. 40 Vgl. Gerstein: Augenzeugenbericht (wie Anm. 34), S. 190. 41 Reder: Bericht (wie Anm. 34), S. 356. 42 Ebd., S. 358. 43 Vgl. ebd.; Gerstein: Augenzeugenbericht (wie Anm. 34), S. 191. 44 Vgl. Reder: Bericht (wie Anm. 34), S. 360.

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»Kreischen der Kinder, aus dem bald darauf ein einziger, langer entsetz­­licher Schrei wurde«, der 15 Minuten andauerte. Nach 20 Minuten wurde der Motor abgestellt, und es herrschte Stille.45 Für die Vorgänge in den Erstickungsräumen selbst gibt es naturgemäß keine Zeugen. Von außen allerdings wurde durch ein kleines Fenster der Fortschritt des Tötungsprozesses überprüft.46 Bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft sagte der SS-Mann Karl Schluch in den frühen 1960er Jahren: Nach meiner Auffassung hat wohl jeder einmal durch das Guckloch gesehen. […] Schon aus Neugierde haben es sich alle Angehörigen der Besatzung des Lagers Belzec [sic] angesehen. Es dürfte wohl natür­­lich sein, dass man sich so etwas anschaut, wenn man in einem solchen Betrieb tätig ist.47

Aus medizinischer Sicht lässt sich zumindest teilweise nachvollziehen, wie sich ein Tod durch Giftgas physiolo­­gisch vollzieht. Auch hier gilt es zu betonen, dass insbesondere der Einsatz von Motorabgasen Qual und Leid der Opfer um ein Vielfaches vergrößerte als bei einer Tötung durch reines Kohlenmonoxid.48 Die Türen der Erstickungsräume wurden nach dem Ende des Tötungsvor­ gangs von außen geöffnet, die Leichen von Zwangsarbeitern herausgezogen, das Zahngold herausgebrochen, die Körperöffnungen auf Wertgegenstände hin untersucht und anschließend in die Massengräber geschichtet.49 Von der Ankunft am Bahnhof Bełżec bis zur Verscharrung waren z­ wischen zwei und drei Stunden vergangen.50 Allerdings ließen sich die hunderttausenden Leichen nicht ohne weiteres vergraben, denn durch den Verwesungsprozess und die dabei entstehen­ den Gase und Flüssigkeiten hob sich die sie bedeckende Erdschicht. Der Geruch war im Frühjahr 1942 bereits von weitem kaum zu ignorieren, und die Schaffner der durch Bełżec kommenden Personenzüge achteten darauf, dass die Fenster

45 Ebd. 46 Vgl. Gerstein: Augenzeugenbericht (wie Anm. 34), S. 191. 47 Zit. nach Jan Henrik Fahlbusch: Im Zentrum des Massenmords. Ernst Zierke im Ver­ nichtungslager Bełżec. In: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hrsg.): KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager und ihrer Erinnerung. Berlin 2007, S. 53 – 72, hier S. 69. 48 Vgl. hierzu Achim Trunk: Die todbringenden Gase. In: Günter Morsch/Bertrand Perz (Hrsg.): Neue Studien zu den na­­tionalsozia­listischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung. Berlin 2012, S. 23 – 49. 49 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 191. 50 Vgl. ebd., S. 193.

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geschlossen waren. Den gesamten Sommer und Herbst 1942 wurden verschie­ dene Methoden angewandt, um ein Überlaufen der Massengräber zu verhindern, aber meist ohne Erfolg.51 Opfer und Widerstand In wiederholten und extrem gewalthaften Deporta­­tionswellen wurde etwa eine halbe Million Menschen aus ihren Heimat- oder Aufenthaltsorten nach Bełżec verschleppt und dort getötet. Die meisten Opfer kamen aus den polnischen Dis­ trikten Lublin, Galizien und Krakau. Auch von Opfern aus Deutschland, Öster­ reich, der Tschechoslowakei und Ungarn wird berichtet, die sich zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung nach Bełżec meist in von den Deutschen errichteten Ghettos im besetzten Polen aufhielten – wohin sie vorher aus ihrer Heimat zwangsumge­ siedelt worden waren, und zwar von der Jahreswende 1941/42 an und durchaus mit dem Ziel ihrer späteren Ermordung. Ebenfalls geplant war die Deporta­­tion und Ermordung der als jüdisch definierten Bevölkerung des mit Deutschland verbündeten Rumänien nach Bełżec, zu der es allerdings nicht kam.52 Die Berechnung einer Opferzahl war viele Jahrzehnte lang sehr problematisch und produzierte Schätzwerte, die weit auseinanderlagen. Der entscheidende Grund für diese Schwierigkeiten war das Fehlen deutscher Dokumente, da die Täter sämt­­liche Unterlagen noch vor Kriegsende vernichteten. Erst die Entde­ ckung eines vom britischen Geheimdienst abgefangenen Telegramms, in dem Hermann Höfle, ein Mitarbeiter Globocniks in Lublin, die Tötungszahlen der sogenannten Ak­­tion Reinhard mit Stand von Januar 1943 nach Berlin meldete, lieferte belastbare Zahlen, die nun mit den bisherigen Berechnungen abgeg­­lichen werden konnten.53 Die Gedenkstätte in Bełżec geht heute von einer maximalen Opferzahl von 500.000 Menschen aus, die ­zwischen März und Dezember 1942 hier getötet wurden.54 Es wäre naiv anzunehmen, dass ein so gewaltiges Mordprogramm keinen Widerstand bei denen auslöste, die seine Opfer werden sollten. Die Fokussierung der Forschung auf die Motive und das Handeln der Täter hat widerständiges 51 Vgl. ebd., S. 230 f. 52 Zu den Deporta­­tionen vgl. das ausführ­­liche Kapitel in: ebd., S. 129 – 178. 53 Vgl. hierzu Peter Witte/Stephen Tyas: A New Document on the Deporta­­tion and ­Murder of Jews during »Einsatz Reinhard« 1942. In: Holocaust and Genocide Studies 15 (Winter 2001) 3, S. 468 – 486. 54 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 242 – 246.

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Verhalten jedoch lange aus dem Blick geraten lassen. Neuere Untersuchungen zeigen aber, dass bereits an den Orten, von denen die Deporta­­tionen ausgingen, verbreitet Widerstand geleistet wurde – etwa durch Flucht zu verschiedenen Parti­sanengruppen, die in den jeweiligen Regionen operierten.55 Widerstand äußerte sich auch in Versuchen, Wertgegenstände nicht in die Hände der Deut­ schen fallen zu lassen, wie eine Augenzeugin der Deporta­­tion aus Przemyśl vom dortigen Sammelplatz berichtete: Die Leute saßen, es war nicht erlaubt, sich zu erheben, sich zu bewegen oder auch nur sich zu unterhalten. […] Es wurde angeordnet, Juwelen und Dollars herauszugeben. Die Leute zerris­ sen ihr Geld, sitzend vergruben sie ihre Juwelen in der Erde. Nachdem eine Gruppe den Platz verlassen hatte, wurde befohlen, den Platz umzugraben, und sofort fand man Wertgegenstände, obwohl es mit einer Kugel bestraft wurde, sie zu vergraben oder sich auch nur zu bewegen.56

Aus den bereits fahrenden Zügen kam es zu sehr vielen verzweifelten Fluchtversu­ chen.57 Unzählige Menschen kamen durch den Sturz selbst ums Leben oder wur­ den von den Begleitmannschaften der weiterfahrenden Züge erschossen, sodass die Bahnstrecke übersät von Leichen war. In Bełżec selbst kam es wiederholt zu Akten des Widerstands. So weigerten sich Deportierte etwa, die Waggons zu verlassen oder sich zu entkleiden; vereinzelt kam es auch zu Angriffen auf die SS-Besatzung oder die Wachmannschaften.58 Die häufigste Form widerständigen Verhaltens war jedoch die Flucht von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, die nicht sofort nach ihrer Ankunft getötet wurden und etwas länger am Leben blieben. Dies war auch mit der Absicht verbunden, andere über Bełżec zu informieren, zu warnen oder Zeugnis abzu­ legen. Die wenigen Berichte von Überlebenden kommen aus der Gruppe der Zwangsarbeiter.59 Daneben gibt es auch vereinzelte Berichte über Aufstandsver­ suche der Zwangsarbeiter, über die allerdings nur sehr wenig bekannt ist.60 Ein 55 Vgl. hierzu Yehuda Bauer: Ostpolnische Shtetlach während der Shoah. In: Alfred ­G ottwaldt/Norbert Kampe/Peter Klein (Hrsg.): NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung. Berlin 2005, S. 290 – 306, hier S. 304 f. 56 Bericht von Krystina Królik, zit. nach Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 200 f. 57 Vgl. etwa Ruta Wermuth: Im Mahlstrom der Zeit: Die ungewöhn­­liche Geschichte eines jüdischen Geschwisterpaares, hrsg. v. Alois Bauer u. Stefan Heitzmann. Berlin 2005, S. 11 – 16. 58 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 147, 156 f., 162, 164 f., 174, 193 f. 59 Vgl. ebd., S. 225 – 228. 60 Vgl. ebd., S. 224.

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bedeutender Sabotageakt wird für Bełżec als wahrschein­­lich angenommen, da er durch die Erinnerungen eines Überlebenden für Treblinka nachgewiesen ist: die bewusste und absicht­­liche Nichtverbrennung einiger Leichen, um für die Nach­ welt einen eindeutigen Beweis des Geschehens zu erhalten.61 Der folgenreichste Akt des Widerstands aber war ganz sicher das Verhalten der letzten Gruppe von Zwangsarbeitern, die von den Deutschen nach der Schließung und Auflösung der Massentötungsanlage in Bełżec nach Sobibór gebracht wurde, um sie dort töten zu lassen. Die Gefangenen weigerten sich, von der Rampe zum Tötungs­ gebäude zu gehen, liefen stattdessen auseinander und wurden an Ort und Stelle erschossen. Den Zwangsarbeitern in Sobibór hatten sie schrift­­lich eine Nachricht hinterlassen, die Deutschen hätten ihnen das Leben versprochen und die Ver­ legung in ein Zwangsarbeitslager in Aussicht gestellt. Da den Zwangsarbeitern in Sobibór nunmehr klar wurde, dass den Versprechungen der Deutschen nicht zu trauen war, spielte dies eine wichtige Rolle für ihre Entscheidung, in Sobibór einen Aufstand zu wagen.62 Beraubung Mit der Ermordung einer halben Million Menschen ging auch deren systemati­ sche Beraubung einher. Die meisten Deportierten waren aufgefordert worden, Kleidung bis zu einer bestimmten Menge, Geld und Wertsachen mitzunehmen – auch weil so die Täuschungsstrategie, es handle sich um eine Umsiedlung mit dem Zweck der Zwangsarbeit, glaubwürdiger wirkte. Diese Werte wurden von den Deutschen erfasst und von Staats wegen geraubt. Dabei handelte es sich frei­­lich nur um die letzte Habe – Immobilienbesitz, Bankkonten und Hausrat waren bereits vorher zwangsweise entwendet worden. Über den Umfang dieser größeren Werte liegen keine zuverlässigen Angaben vor, sie wurden allerdings dem Deutschen Reich übertragen.63 Laut einer Abrechnung von Globocnik von Anfang 1944, die von erheb­­licher Vagheit geprägt ist, gingen die Deutschen von einem Gesamtwert der geraubten letzten Habe von entweder 180 Millionen 61 Vgl. ebd., S. 234. – Für Treblinka vgl. Chil Rajchman: Ich bin der letzte Jude. Treblinka 1942/43 – Aufzeichnungen für die Nachwelt. München 2009, S. 102. 62 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 228. 63 Vgl. Informa­­tionsschreiben des Wirtschaftsverwaltungs-­­Hauptamts der SS vom 15. Januar 1944 über die Nutzung von Immobilien aus jüdischem Besitz im Generalgouvernement. In: Susanne Heim u. a. (Hrsg): Die Verfolgung und Ermordung der euro­päischen Juden durch das na­­tionalsozia­listische Deutschland 1933 – 1945, Bd. 9: Polen. Generalgouvernement August 1941 – 1945, bearb. v. Klaus-­­Peter Friedrich. München 2014, S. 780 f.

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Reichsmark oder der doppelten Summe aus.64 Setzt man die Gesamtzahl der Opfer der sogenannten Ak­­tion Reinhard mit etwa 1,78 Millionen Menschen an, so ergibt sich demnach ein durchschnitt­­licher Wert von 100 bis 200 Reichsmark pro Person. Aus allen geraubten Werten – Bargeld, Goldmünzen, Schmuck, Edel­ steinen – wurde unter anderem auch die Deporta­­tion der Opfer selbst bezahlt: Die Generaldirek­­tion der Deutschen Ostbahn stellte die Nutzung ihrer Züge dem Reichssicherheitshauptamt in Rechnung, das wiederum die entsprechenden Mittel dem Raubgut entnahm.65 Fragen der Restitu­­tion des geraubten Eigentums der Ermordeten sind bis heute weitgehend ungeklärt und in Polen durch die Enteignungs- und Verstaat­­lichungspolitik im Staatssozia­lismus nach dem Krieg besonders kompliziert. Verschleierung Im Dezember 1942 endeten die Massentötungen in Bełżec. Auf Befehl Himmlers wurden nun die etwa 500.000 Leichen ausgegraben und unter freiem Himmel verbrannt, um die Spuren des Mordgeschehens zu verwischen.66 Mit Baggern exhumiert, wurden die Leichen auf mindestens zwei Roste aus Eisenbahnschienen und Betonschwellen geschichtet, mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und in Brand gesteckt. Etwa zweitausend Leichen konnten so pro Tag verbrannt werden. Die Asche wurde danach ein zweites Mal nach Edelmetallen durchsucht, und die Knochen wurden mit Mühlen zerkleinert, um alles danach zurück in die geöffneten Massengräber zu geben.67 Ausgeführt wurde diese grauen­volle Arbeit von nach Bełżec deportierten dreihundert Zwangs­arbeitern, die man für diese Aufgabe am Leben gelassen hatte und deren Angehörige, Freunde und Nachbarn in Bełżec ermordet worden waren. Bis Ende März dauerten die Leichenverbrennungen an: Tag und Nacht lag über dem Ort und seiner 64 Vgl. Bericht Globocniks vom 5. Januar 1944 über Umfang und Wert des geraubten Besitzes der ermordeten Juden. In: ebd., S. 773 – 780, hier S. 780. – Für die Anlage mit Globocniks detail­ lierter Auflistung vgl. Dokument 4024-PS. In: Interna­­tionaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hrsg.): Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Interna­­tionalen Militärgerichtshof, Nürnberg, 14. Nov. 1945 – 1. Okt. 1946, Bd. 34. Nürnberg 1947, S. 70 – 76, hier S. 72. 65 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 148; Claude Lanzmann: Shoah. Reinbek 2011, S. 193 – 201 (Interview Raul Hilberg). 66 Vgl. hierzu Jens Hoffmann: »Das kann man nicht erzählen«. ›Ak­­tion 1005‹ – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten. Hamburg 2008. 67 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 231 ff.

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Umgebung ein beißender Gestank und die Flammen waren weithin zu sehen.68 Nach Abschluss der Verbrennungen und der Verscharrung der Asche wurden die bau­­lichen Strukturen in Bełżec beseitigt: Die Baracken nahm man auseinander und schaffte sie vermut­­lich nach Majdanek, die Umzäunung wurde abgerissen, das Terrain planiert und ein Kiefernwald angepflanzt.69 Danach verließen die Deutschen und die Wachmannschaften Bełżec. Unmittelbar danach begannen Grabräuber aus der Umgebung, das Gelände umzugraben, um Wertsachen zu suchen, die man in den Massengräbern vermutete. Daraufhin kehrte eine kleine Gruppe der SS -Besatzung nach Bełżec zurück und errichtete auf dem Gelände der Massentötungsanlage einen Bauernhof, der einem sogenannten »Volksdeut­ schen« übergeben wurde, verbunden mit der Aufgabe, den Ort zu bewachen. Diesem Wachmann wurde eine Rente gezahlt.70 Im Juli 1944 flüchtete er vor der Roten Armee.71

Wüste und Friedhof: Bełżec nach 1945 Der vergessene Ort Während des Krieges und unmittelbar danach war Bełżec kein unbekannter Ort – die Anwohner, der polnische Untergrundstaat mit seinem Geheimdienst, die Exilregierung Polens in London, die Regierungen der Anti-­­Hitler-­­Koali­­tion und neutraler Staaten, der Vatikan, der Jüdische Weltkongress und die Medien in Großbritannien und den Vereinigten Staaten wussten vom Massenmord, auch an d­­ iesem Ort.72 Nach dem Ende der Ermittlungen der Behörden zu den deutschen Verbrechen in Bełżec 1946 wurden der Ort und seine Geschichte allerdings von einer breiteren Öffent­­lichkeit für viele Jahrzehnte nicht mehr oder nur noch sporadisch wahrgenommen. Für diese Vergessenheit sind drei Faktoren ausschlaggebend: Erstens gab es sehr handfeste Interessen, die einer genaueren Beschäftigung mit dem Ort entgegenstanden. Bis Mitte der 1950er Jahre war das Gelände Grabräubern aus der näheren und ferneren Umgebung schutzlos ausgeliefert, außerdem wurde das Terrain durch ein Sägewerk und die staat­­lichen Forstbetriebe wirtschaft­­lich 68 Vgl. ebd., S. 232 f. 69 Vgl. ebd., S. 235. 70 Vgl. Globocnik berichtet (wie Anm. 64), S. 774. 71 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 236. 72 Vgl. hierzu den Überblick in ebd., S. 255 – 288.

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genutzt – unter anderem mit der Folge, dass schwere Lastwagen über die Massen­ gräber fuhren.73 Zweitens waren die politischen Rahmenbedingungen ausgespro­ chen ungünstig. Die zunehmende Stalinisierung der polnischen Nachkriegsgesell­ schaft bedeutete auch eine diskursive Beschränkung in der A ­ useinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg auf heroische, antifaschistische Leitmotive, in denen kommunistischer Widerstand die Hauptrolle spielte. Der Völkermord an den euro­päischen Juden passte nicht in diese legitimierende Gründungs­ legende eines sozia­listischen Staates, worunter auch die Aktivitäten der jüdi­ schen Organisa­­tionen im Nachkriegspolen zu leiden hatten und es nach deren Auflösung durch den Staat keine institu­­tionellen Fürsprecher für ein würdiges Gedenken an den Orten des Mordens mehr gab. Drittens lebten nach dem Tod von Chaim Hirszman 1946 und der Auswanderung Rudolf Reders keine Über­ lebenden von Bełżec mehr in Polen, die wirksam an die Öffent­­lichkeit hätten treten können.74 Einen Eindruck vom verheerenden Zustand des Geländes gab ein 1956 in der Wochenzeitschrift Świat (Die Welt) erschienener Bericht von Andrzej Mularczyk: Rundherum ist leeres Feld. Ruhe. Nichts passiert. Hier gibt es niemanden. Es ist niemand hier? Hier sind alle. Von hier ging niemand mehr weg. Tausende, Hunderttausende waren hiergeblieben. […] Hier gibt es kein Denkmal – außer das der menschlichen Erinnerung. Erinnerung kann man nicht auslöschen. Erinnerung liegt in der Natur der Menschen. Die aber nur gemeinsam mit Menschen lebt. Und damit sie länger lebt, muss man sie auf­ zeichnen […].75

Die Tatsache, dass dieser Text veröffent­­licht werden konnte, markiert auch eine vorsichtige Liberalisierung der polnischen Gesellschaft nach dem Ende des Stali­ nismus. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurden immer wieder Forderun­ gen erhoben, die Gelände der na­­tionalsozia­listischen Tötungsanlagen würdig zu gestalten, und zwar meist von Aktivisten in Vereinen, die nun wieder zugelassen waren. Stets wurde dabei auf den beklagenswerten Zustand der Orte verwiesen, und über Bełżec wurde etwa berichtet, auf dem Gelände lägen »Steine, mensch­ liche Knochen, Schädel herum«.76

73 Vgl. ebd., S. 318. 74 Vgl. ebd., S. 317. 75 Andrzej Mularczyk: Bełżec – kopalnia złota. Reportaż z pustego pola [Bełżec – eine Goldgrube. Reportage über ein leeres Feld]. In: Świat 17 (1956), S. 4 f., zit. nach: ebd., S. 318. 76 Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 320.

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Der gescheiterte Prozess Eine bedeutende Rolle für die weitere Entwicklung in Bełżec spielte der Prozess gegen acht Angehörige der SS-Besatzung 1964 bis 1965 in München.77 Die Zen­ trale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung na­­tionalsozia­listischer Verbrechen in Ludwigsburg nahm die Ermittlungen zu den na­­tionalsozia­listischen Verbrechen in Bełżec Ende Juli 1959 auf. Weil es über die Geschehnisse dort kaum Informa­­tionen gab, die auch die damals verfügbare Fachliteratur nicht lieferte, arbeitete der leitende Staatsanwalt, Dietrich Zeug, eng mit Yad Vashem und der Generalstaatsanwaltschaft der DDR zusammen.78 Das Ermittlungsverfahren leis­ tete Grundlagenforschung: Noch zu Beginn der 1960er Jahre war den westdeut­ schen Behörden nicht klar, wer zum Täterkreis gehörte und wer davon noch am Leben war.79 Es kam schließ­­lich 1963 zur Anklage gegen Josef Oberhauser und sieben weitere Mitglieder der SS-Besatzung in Bełżec. Zu einem Schuldspruch allerdings kam es nur gegen Oberhauser. Die Staatsanwaltschaft hatte Rudolf Reder, den einzigen Überlebenden, in Kanada ausfindig gemacht, wo er unter dem Namen Roman Robak lebte und im August 1960 in München aussagte. Bei einer Gegenüberstellung konnte er aller­ dings Oberhauser nicht identifizieren, weil er zu ­­diesem Zeitpunkt weitgehend erblindet war.80 Entscheidend für die Verhaftung und Verurteilung Oberhausers waren nicht die Aussagen eines Zeugen der Opferseite, sondern die Einlassun­ gen der anderen Angeklagten.81 Sie hatten Oberhauser schwer belastet, indem sie glaubhaft machen konnten, er habe eine Leitungsfunk­­tion innegehabt – was insofern Teil ihrer eigenen Verteidigungsstrategie wurde, als sie eine s­ olche für sich selbst strikt verneinten. Grundsätz­­lich ging die bundesdeutsche Justiz zu dieser Zeit davon aus, dass ledig­­lich die höchsten Repräsentanten des na­­tionalsozia­listischen Deutschland, etwa Hitler, Himmler oder Heydrich die »Haupttäter« waren. Alle anderen, auch die acht Beschuldigten des Münchner Verfahrens, wurden nur der Beihilfe zum Mord angeklagt. Als Angehörigen der SS wurde den Angeklagten gleich­ zeitig zugebilligt, den Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuchs zu unterliegen und die Beihilfe zum Mord auf Befehl ausgeführt zu haben. Eigeninitiative sah 77 Vgl. grundlegend hierzu Michael S. Bryant: Eyewitness to Genocide. The Opera­­tion ­Reinhard Death Camp Trials 1955 – 1966. Knoxville 2014. 78 Vgl. ebd., S. 38, 64. 79 Vgl. ebd., S. 46. 80 Vgl. ebd., S. 44; Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 320. 81 Vgl. Bryant: Eyewitness (wie Anm. 77), S. 52.

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die Staatsanwaltschaft bei den Angeklagten nicht.82 Ledig­­lich beim Hauptange­ klagten Oberhauser sah das Gericht eigenen Antrieb, zum Beispiel aus ideolo­­ gischen Motiven. Die Behauptungen der anderen Angeklagten, nur auf Befehl und gegen innere Überzeugung gehandelt zu haben, konnte man nicht widerlegen und musste sie deswegen freisprechen.83 Wegen Beihilfe zum Mord wurde Ober­ hauser am 12. April 1965 zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Ergebnis der Ermittlungsarbeit war unbefriedigend und widerspricht bis heute dem natür­­lichen Gerechtigkeitsempfinden – schließ­­lich hatte keiner der Angeklagten geleugnet, in Bełżec gewesen zu sein und Menschen getötet zu haben. Wichtiger aber scheint die Einsicht zu sein, welch bedeutende Rolle Überlebenden in solchen Prozessen zukam. Ohne deren Aussagen war es damals beinahe unmög­­lich, insbesondere die niederrangigen SS-Männer zu verurteilen, die keine Befehlsgewalt innerhalb der SS-Hierarchie ausübten.84 Für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen in Bełżec bedeutete dies auch, dass die mörderische Effizienz der Deutschen die zentralen Zeugen getötet hatte und das Verbrechen selbst seine Aufklärung verhinderte.85 Der Friedhof Der Münchner Prozess hatte allerdings auch positive Auswirkungen. Der Zusam­ menhang mit der zeitgleichen erstmaligen Gestaltung des Geländes in Bełżec als Gedenkort ist offensicht­­lich.86 Am 1. Dezember 1963 wurde das Denkmal enthüllt, das vierzig Jahre Bestand haben sollte: Das Gelände wurde umfriedet und mit einer binären Denkmalsstruktur überbaut. Im Zentrum stand auf Stufen erhöht ein Kubus, der mit Steinplatten verklei­ det war. Unmittelbar davor befand sich eine halbabstrakte Skulptur, die zwei ausgemergelte Menschen zeigte – eine stehend, die andere kriechend, wobei die aufrechte Figur die andere stützte, aufhob oder schleppte.87 Bemerkenswert erscheint vor allem der gestalterische Verzicht auf Heroismus. Stattdessen stand

82 Vgl. ebd. 83 Vgl. ebd., S. 62. 84 Vgl. ebd., S. 69. 85 Vgl. ebd., S. 68. 86 Vgl. Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 320 f. 87 Bilder des alten Denkmals in: ebd., S. 322 f.; Andrzej Kola: Bełżec. The Nazi Camp for Jews in the Light of Archaeological Sources – Excava­­tions 1997 – 1999. Warschau/Washing­ ton 2000, S. 8 – 13.

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für den Künstler das menschliche Leid im Vordergrund. Unmittelbar neben die­ ser Skulptur war der Kubus mit einer Inschrift versehen: »Zur Erinnerung an die Opfer des Hitlerterrors, die in den Jahren 1941 – 1943 ermordet wurden«.88 Auf diesen Kubus bezogen war das Denkmalsgelände von flachen, funda­ mentartigen Mauern überzogen, die jeweils verschiedene Felder umschlossen. Vier Pylone aus Beton symbolisierten am nörd­­lichen Rand die Massengräber, und eine Allee aus ewigen Feuern (ebenfalls als Betonskulptur) beschlossen das Denkmalsvokabular der Zeit.89 Bemerkenswert an ­­diesem Denkmal sind in erster Linie drei Aspekte: Ers­ tens handelt es sich um eine reine Friedhofsgestaltung. An die Errichtung eines ­Museums war nicht gedacht worden, sodass man am Ort selbst keinerlei Informa­­ tionen über das historische Geschehen erhielt. Zweitens lagen große und wichtige Teile des ursprüng­­lichen Geländes außerhalb des umfriedeten Bereichs, etwa das Gebiet der Bahnrampe.90 Und drittens stellten weder die Inschrift auf dem Kubus noch die Gestaltung an sich klar, dass in Bełżec vor allem Menschen ermordet worden waren, weil sie von den Deutschen als Juden verfolgt wurden. Ohne Vor­ wissen war der Ort also nicht zu entschlüsseln.

Ort des Lernens und Gedenkens: Die neue Gedenkstätte des Jahres 2004 Die Neugestaltung der Gedenkstätte Miles Lerman, der aus Tomaszów Lubelski stammte und seine ganze Familie in Bełżec verloren hatte, machte ein würdiges Gedenken an die in Bełżec Getö­ teten zu seinem Anliegen und initiierte im Jahr 1987 eine Neugestaltung der Gedenkstätte. Lerman hatte den Krieg überlebt, da er aus einem Zwangsarbeits­ lager geflohen war und sich den Partisanen angeschlossen hatte. Nach dem Krieg emigrierte er in die Vereinigten Staaten und gehörte zu den Gründungsvätern des United ­States Holocaust Memorial Museum in Washington. Im Zuge seines hart­ näckigen Engagements kamen 1995 der polnische Staat, das Holocaust Memorial Museum und das American Jewish Comittee (AJC) überein, eine gänz­­lich neue Gedenkstätte in Bełżec zu errichten. Ohne Lermans Engagement, Erfahrung und Kontakte wäre es dazu kaum gekommen. Einmal mehr waren es die Initiativen 88 Kuwałek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 323. 89 Vgl. Kola: Bełżec (wie Anm. 87), S. 8 – 13. 90 Vgl. ebd., S. 8.

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und die Ausdauer von Überlebenden der Shoah, die das Geschehen in ein allge­ meines Bewusstsein rückten. Den folgenden na­­tionalen Wettbewerb zur Neugestaltung der Gedenkstätte gewann der Entwurf der polnischen Künstler und Bildhauer Andrzej Sołyga, Zdizław Pidek und Marcin Roszczyk. Ihr Konzept bezog das gesamte Gelände des ehemaligen Tötungsortes ein und machte zugleich jenen Teil des Areals, auf dem sich die Massengräber befinden, zum sichtbaren Zentrum der Gedenkstätte. Zugleich sollte ein Museum die Ereignisse darstellen und die Geschichte des Ortes weiter erforschen. Die Kosten in Höhe von zehn Millionen Dollar über­ nahm zur Hälfte der polnische Staat, die andere Hälfte wurde mit Spenden aus den USA finanziert. Bevor die Bauarbeiten in Bełżec begannen, wurde das Gelände von Archäologen untersucht. Man fand die Fundamente der noch von den Deutschen zerstörten Bauten und lokalisierte 33 Massengräber. Die Ausgrabungen fanden unter Auf­ sicht der Rabbinatskommission für jüdische Friedhöfe beim Oberrabbiner Polens statt, um eine Entehrung der Toten zu vermeiden. Die Archäologen sicherten auch zahlreiche Alltagsgegenstände, die den Getöteten gehört hatten und teilweise in die neue Dauerausstellung Eingang fanden, zum Beispiel Kämme, Zahnbürsten, Zigarettenetuis und Wohnungsschlüssel.91 Am 3. Juni 2004 eröffnete der polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski die neue Gedenkstätte. Ihr Direktor war bis 2007 der renommierte Historiker Robert Kuwałek. Die Gedenkstätte ist dem Staat­­lichen Museum Majdanek in Lublin unterstellt und hat heute zwölf Mitarbeiter – einschließ­­lich des techni­ schen Personals. Zeitweise hatte es Überlegungen gegeben, die Gedenkstätte an das Stadtmuseums des Nachbarorts Tomaszów anzugliedern. Das Betreiben einer Gedenkstätte von interna­­tionaler Bedeutung hätte allerdings die Kapazitäten eines städtischen Museums überfordert. Deshalb wurde Bełżec in die Obhut des Staatlichen Museums Majdanek gegeben, das über eine reichhaltige Erfahrung in der Gedenkstättenarbeit verfügt und interna­­tional gut vernetzt ist. Die pädago­­ gischen Konzepte für Bełżec werden in Koopera­­tion und mit Unterstützung des Staatlichen Museums Majdanek ausgearbeitet. Gleichzeitig arbeitet die Gedenk­ stätte eng mit dem US Holocaust Memorial Museum in Washington zusammen, das über die Urheberrechte der Gedenkstätte verfügt. Ohne deren Zustimmung können weder die Außenanlagen noch die Ausstellung verändert werden.92 91 Vgl. ebd., S. 8. 92 Zur Geschichte der Gedenkstätte vgl. Kuławek: Bełżec (wie Anm. 9), S. 327 f.; Tanja ­Kinzel: Über 60 Jahre danach. Bełżec – eine Gedenkstätte für die Opfer der Shoah. In: haGalil vom 28. Oktober 2004, URL: http://www.hagalil.com/or/200xxxxx4/10/belzec.htm, letzter

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Die Besucherzahlen der Gedenkstätte steigen seit ihrer Eröffnung kontinuier­­lich an. Kamen anfangs rund 10.000 Besucher pro Jahr, so sind es inzwischen 30.000. Mehr als die Hälfte der Besucher kommen aus Polen, ins­ besondere aus der Lubliner Region. In Koopera­­tionsprojekten mit Schulen aus der Umgebung versucht die Gedenkstätte, den Tötungsort Bełżec auch als Bestandteil des regionalen Gedächtnisses zu verankern. Die andere Hälfte der Besucher kommt aus ganz unterschied­­lichen Ländern, nicht zuletzt aus Israel und den USA . Deutsche Besucher finden vergleichsweise selten den Weg nach Bełżec. Der 2014 verstorbene Gedenkstättendirektor Robert Kuwałek bedauerte dies 2004: Es ist schade, dass dieser Ort in Deutschland immer noch nahezu unbekannt ist. Es ist ein vergessener Ort, obwohl es das drittgrößte Vernichtungslager nach Auschwitz-­­Birkenau und Treblinka war und obwohl so viele deutsche Staatsbürger hier ermordet wurden. […] A ­ uschwitz Birkenau ist bekannt in Deutschland, es ist ein Symbol für die Vernichtung und auch ­Treblinka ist vielen bekannt, aber Belzec oder Sobibor [sic]? Es sollte wichtig sein auch für die deutsche Erinnerung.93

Das Außengelände Die Gedenkstätte in Bełżec ist der bislang letzte neu gestaltete Tötungsort der Shoah in Polen und zugleich die einzige, die nach dem Ende der Volksrepublik errichtet wurde.94 In der Abgeschiedenheit der ostpolnischen Provinz wurde ein Konzept verwirk­­licht, das sich auf der Höhe moderner Gedenkstätten­architektur bewegt. Der Gedenkkomplex macht die zerstörten Strukturen der deutschen Massentötungsanlage sichtbar und ist zugleich eine Begräbnisstätte. Totenge­ denken und historisches Lernen sind klar voneinander getrennt, und es wird auch nicht versucht, dem Geschehen einen nachträg­­lichen Sinn zu geben. Im Gegenteil: Indem die Sinnlosigkeit des Tötens deut­­lich wird, ist ein würdiges Opfergedenken erst mög­­lich.95

Zugriff: 11. 05. 2016. – Wichtige Hintergrundinforma­­tionen erhielten die Autoren in einem Interview mit der leitenden Pädagogin Ewa Koper am 18. September 2015 in Bełżec. 93 Zit. nach Kinzel: Bełżec (wie Anm. 92). 94 In Sobibór ist zurzeit eine völlige Neugestaltung der Gedenkstätte geplant. Vgl. den Beitrag von Klara Muhle in ­­diesem Band. 95 Zur Würde der Opfer vgl. den Beitrag von Christian Jänsch und Alexander Walther, Zur Würde in ­­diesem Band.

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Abb. 1  Ein Denkmal aus Eisenbahnschienen erinnert an die Deporta­­tionen nach Bełżec

Vom Eingang der Gedenkstätte führt ein Weg den Besucher auf eine symbo­­ lische Rampe. Auf dieser befindet sich ein Stapel mit Eisenbahnschienen, die mit ­Schlacke überhäuft sind. Dieses Denkmal symbolisiert einerseits die Deporta­­ tionen, andererseits steht es für die Schienen, auf denen die Deutschen 1943 die Leichen der Ermordeten verbrannten (Abb. 1). Die Rampe geht in ein flaches, modern gestaltetes Museumsgebäude über, das nach dem Entwurf des Krakauer Architekten Piotr Uherek die Form eines Zuges aufnimmt. Das Außengelände macht die Topografie des Tötungsortes sichtbar, wo zuvor nur planierte Erde zu sehen war. Blickfang ist ein weites Feld aus schwarzer Schlacke (Abb. 2). Sie bedeckt das gesamte Gelände und insbesondere die Massengräber, die man bei den archäolo­­gischen Ausgrabungen gefunden hat. Die Lage der Massen­ gräber ist sichtbar, da sie mit dunklerer Schlacke bedeckt sind und sich vom übri­ gen Terrain abheben (Abb. 3). Einen farb­­lichen Kontrast bildet das Grün einiger alter Bäume, die am Rand des Schlackefelds stehen und als Zeugen des Geschehens bewusst erhalten wurden. Anders als der Aschehügel in Majdanek verwendet die Gedenkstätte nicht die Überreste der verbrannten Leichen, sondern eine Repräsenta­­ tion der Asche. Auf diese Weise werden die Gräber versiegelt und geschützt. Die Schlacke ist allerdings porös und füllt sich mit Regenwasser. Im Winter gefriert das Wasser und sprengt die Steine, die Schlacke explodiert förm­­lich. Dieses unbe­ absichtigte Wechselwirkung mit der Natur lässt sich auch symbo­­lisch lesen: Die Versiegelung des Ortes scheitert, seine Geschichte kann nicht verdeckt werden.

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Abb. 2  Dunkle Schlacke versiegelt den Tötungsort und schützt die Aschegräber der Ermordeten

Abb. 3  Die dunkleren Stellen markieren die Lage der Massengräber

In das Schlackefeld hinein führt ein mit Pflastersteinen gedeckter Pfad, der an einem Ort des Gedenkens endet (Abb. 4). Es wurde darauf geachtet, dass der Weg nicht über die Gräber führt und sich ungefähr mit jenem von den Tätern »Schleuse« genannten Verlauf deckt, der einst von den Entkleidungsbaracken in die Erstickungskammern führte. Der Weg ist leicht abschüssig, sodass bei des­ sen Beschreiten die Betonwände, die den Weg an beiden Seiten begrenzen, dem Besucher langsam über den Kopf zu wachsen scheinen (Abb. 5). Ein Gefühl der

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Abb. 4  Ein Weg führt mitten durch das Schlackefeld

Abb. 5  Der Weg mündet vor einer hohen Wand aus Granit

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Abb. 6  Die Umrandung des Schlackefelds mit den Herkunftsorten der nach Bełżec Deportierten

Ausweglosigkeit und Verlorenheit stellt sich ein. Auch hier arbeitet die Gedenk­ stätte mit einer Repräsenta­­tion der »Schleuse«: Zwar ist der Weg mit dem dama­ ligen Gang zu den Erstickungsräumen nicht deckungsgleich, doch beim Besu­ cher stellt sich gerade durch die sinn­­liche Wahrnehmung einer über seinen Kopf hinauswachsenden Mauer leicht der Eindruck ein, diesen letzten Weg der Opfer nachzuschreiten. An dieser Stelle ist Kritik an einem insgesamt beeindrucken­ den Gedenkstättenkonzept angebracht, denn durch die Sugges­­tion, den Weg der Getöteten in die Erstickungskammern nachzuvollziehen, findet eine emo­­tionale Überwältigung der Besucher statt. Am Ende des Weges befindet sich eine hohe Wand, in die die Vornamen der Opfer eingemeißelt wurden. Gegenüber wurde ein Auszug aus dem Buch Hiob in Granit gemeißelt: »O Erde, decke mein Blut nicht zu, und dein Geschrei komme nicht zur Ruhe.« Manche Nachfahren wünschen sich Namensplaketten, um ihrer Angehörigen individuell zu gedenken. Da es jedoch keine Transportlisten gab, ­welche die aus den polnischen Gemeinden Deportierten verzeichnete, wäre ein solches Vorgehen von großen Schwierigkeiten und Unsicherheiten geprägt. Die Vornamen aller Einwohner dieser Gemeinden repräsentieren aber alle Depor­ tierten und versuchen zugleich, dem Bedürfnis nach individueller Erinnerung wenigstens partiell zu entsprechen. Das gesamte Areal wird von einem zweiten Weg eingerahmt, entlang dessen die Herkunftsorte der Deportierten genannt werden: insgesamt vierhundert

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jüdische Gemeinden in Polen sowie 40 Gemeinden aus Deutschland, Öster­ reich und der Tschechoslowakei. Die polnischen Orte sind chronolo­­gisch nach den Monaten angeordnet, in denen die Transporte in Bełżec ankamen. Da die deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Deportierten zunächst in Ghettos des Generalgouvernements eingepfercht worden waren und von dort nach Bełżec gebracht wurden, ließ sich für diese Gemeinden kein eindeutiges Datum ihres Eintreffens in Bełżec bestimmen, sie sind deshalb alphabetisch angeordnet (Abb. 6). Das Museum Die Gedenkstätte will nicht nur ein würdiges Opfergedenken ermög­­lichen, sie will zugleich Lernort sein. Das Museum beherbergt eine modern gestaltete Aus­ stellung, in der sich die Besucher über die historischen Ereignisse und deren Hintergründe informieren können. Da es nur wenige Überreste gibt, zeigt die Ausstellung vorwiegend Fotografien. Anders als in Auschwitz wird hier nicht auf die Schockwirkung von massenhaft ausgestellten Überresten der Getöteten gesetzt. Es dominieren die leisen Töne, wenn etwa eine Handvoll Haustürschlüs­ sel bezeugen, dass die Deportierten glaubten, sie würden von hier wieder nach Hause zurückkehren. Wie die Gestaltung des Außengeländes, so verfolgt auch die Ausstellung die Inten­­tion, den Opfern ihre Würde wieder zurückzugeben. Dies gelingt ihr auf zweier­lei Weise: Sie macht Individuen sichtbar, die hinter der Zahl von rund 500.000 Toten stehen, und sie zeigt die getöteten Menschen nicht nur aus der Perspektive der Täter. Vielmehr erzählt die Ausstellung auch von deren Leben vor der Shoah und zeigt Fotografien aus der Vorkriegszeit.96 Bereits der Eingangs­ bereich ist den Opfern gewidmet und rückt diese mit Hilfe übergroßer Foto­ grafien, die von der Decke herabhängen, in den Blick der Besucher. Diese Fotos zeigen Menschen in Alltagssitua­­tionen und könnten aus jedem Familienalbum der Zeit stammen. In ihrer Normalität bedienen sie keine k­­lischeehaften Vor­ stellungen vom Judentum und reduzieren die Menschen auch nicht zu Opfern, die noch dazu von ihren Tätern in unwürdigen Situa­­tionen abge­­lichtet wurden. Stattdessen wird dem Besucher von Beginn an vor Augen geführt, was die Shoah zerstört hat: Menschen, die im Leben standen und eine Zukunft vor sich hatten.97

96 Vgl. auch Ewa Koper: Każda ofiara ma imię/Every victim has a name. Lublin 2014. 97 Vgl. die Abbildungen im Beitrag von Philipp Weigel in ­­diesem Band.

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Anschließend ordnet die Ausstellung die Ereignisse in größere Kontexte ein und erklärt, wie es zur Shoah kam. Zu Beginn wird die Ausgrenzung und Vertreibung der von den Na­­tionalsozia­listen als Juden definierten Menschen aus Deutschland erzählt. Anschließend wird verdeut­­licht, wie diese Politik nach der deutschen Besetzung auch in Polen implementiert wurde und sich dort zunehmend radikalisierte. Die Ermordung von Kranken im Zuge der »­T4-­Ak­­tion« und die Massenerschießungen der Einsatzgruppen nach dem Überfall auf die Sowjetunion werden als weitere Etappen ­dieses Radikalisie­ rungsprozesses geschildert, der schließ­­lich im Völkermord mündete und in Polen zur »­Ak­­tion Reinhard« führte. Die Massentötungen werden nicht als anonymer Prozess geschildert. Viel­ mehr zeigt die Ausstellung Täter und Opfer, die darin involviert waren. Auch die Beteiligung der nichtdeutschen Helfer – der »Trawniki-­­Männer« und der Zwangsarbeiter der »Sonderkommandos« – wird benannt. Weder werden die Täter zu menschlichen Ungeheuern stilisiert noch findet eine Sakralisierung der Opfer statt. Vielmehr schildert die Ausstellung in einem nüchternen Ton das Geschehene auf der Basis des wissenschaft­­lichen Forschungsstandes und weckt Empathie für die Ermordeten. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Auslöschung jüdischen Lebens in Galizien gelegt. Auf diese Weise wird die Ermordung der euro­päischen Juden mit der regionalen Geschichte verbunden und als spürbarer Verlust einer einst reichen Kultur dargestellt. Der Bezug auf die Region bedient zum einen die Erwartun­ gen der Besucher, die in großer Zahl aus der unmittelbaren Umgebung kommen. Zum anderen wird jüdisches Leben nicht als etwas Fremdes dargestellt, sondern als ein selbstverständ­­licher Bestandteil der eigenen Kultur, der durch die Shoah zerstört wurde. Am Ende der Ausstellung gelangt der Besucher zu einem Gang, der ihn zu einem Kontempla­­tionsraum führt, der durch eine schwere Tür vom Ausstellungs­ bereich abgetrennt ist. Hier erhält der Besucher die Mög­­lichkeit zum Innehalten oder zum Beten. Der große, dunkle und kalte Raum ist eine Halle, deren Wände, Boden und Decke aus Beton sind. Als einziges Objekt befindet sich dort die Tafel des Denkmals von 1963 (Abb. 7). Ansonsten ist der Besucher allein mit seinem Schatten und auf sich selbst zurückgeworfen. Manche Besucher haben beim Betreten des Raumes zunächst die Assozia­­­tion, es handle sich hier um die Rekonstruk­­tion einer Gaskammer. Dies ist allerdings nicht intendiert, und die Halle ist auch um ein Vielfaches größer, als es die Erstickungskammern in Bełżec waren. Vielmehr erhält der Besucher hier die Mög­­lichkeit des Meditierens und Nachdenkens. Befindet sich kein anderer in dem Raum, so ist man dort allein mit seinem Schatten und dem Hall der eigenen Schritte. Unwillkür­­lich stellt sich auch

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Abb. 7  Der Kontempla­­tionsraum im Museum der Gedenkstätte

hier – wie schon beim Gang durch das Schlackefeld – ein Gefühl der Verlorenheit und Ausweglosigkeit ein. Sind weitere Personen anwesend, die mitunter mitein­ ander sprechen, verflüchtigt sich diese bedrückende Atmosphäre. Auf eine ganz eigene Art nutzen ­­ israe­­lische Reisegruppen diesen Medita­­ tionsraum. Sie spielen Musik vom Band ab, singen und tanzen. Die Anmutung des Dunklen und das Bedrückende des Raumes weichen in ­­diesem Moment, er wird zu einem Ort des Lebens und der Trauer zugleich. Die Rituale der israe­­ lischen Gruppen ähneln den Ritualen, die diese auch an den historischen Orten der einstigen Erstickungsräume oder Verbrennungsanlagen begehen. Die Sugges­­ tion der Gaskammer scheint hier aktiv heraufbeschworen zu werden. Eingehüllt in israe­­lische Fahnen ­­nutzen sie den Raum als eine Art na­­tionalen Schrein. Es kommt vor, dass Gruppen von bis zu zweihundert Menschen den Raum für der­ artige rituelle Praktiken ­­nutzen.98 Der Raum der Kontempla­­tion entzieht sich einer eindeutigen Symbolik und einer eindeutigen Nutzung. Er ist leer, und man hört nur das eigene Echo. Damit gibt der Raum hörbar das wieder, was die Besucher in den Raum mit­ bringen. Für denjenigen, der darin eine Gaskammer sehen will, ist es das. Für

98 Zum israe­­lischen Gedenken an den Orten der Shoah vgl. den Beitrag von Cornelia Bruhn und Samuel Kunze in ­­diesem Band.

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denjenigen, der darin die Leerstelle, w ­ elche die Ermordeten hinterlassen haben, sehen will, ist es das. Für denjenigen, der in der Geschlossenheit der Beton­ wände die Ausweglosigkeit der Opfer sehen will, ist es das. Eines leistet der Kontempla­­tionsraum in jedem Fall: Wer sich auf ihn einlässt, wird sich dort mit sich selbst auseinandersetzen. Ein weiterer historischer Überrest steht außerhalb des einstigen Tötungs­ ortes und der heutigen Gedenkstätte. Auf der anderen Seite der Landstraße, die zur Gedenkstätte führt, liegt in wenigen hundert Metern Entfernung ein altes Bauernhaus. Hier hatte sich Christian Wirth, der erste SS -Kommandant von Bełżec, einquartiert. Das Haus steht heute leer. Es ist baufällig und darf nicht mehr betreten werden. Im Garten scharren die Hühner der Nachbarn. Eigen­ tümer war die polnische Eisenbahn (PKP ), die das Gebäude 2015 meistbietend versteigern wollte. Aufgrund interna­­tionaler Proteste wurde davon abgesehen und das Gebäude befindet sich inzwischen im Besitz der Gedenkstätte. Die Gedenkstättenmitarbeiterin Ewa Koper sieht in dem Objekt einen geeigne­ ten Ort, um die Geschichte der Täter zu erzählen.99 Hier könnte die Bundes­ republik Deutschland mit geringem finanziellen Aufwand zu einem würdi­ gen Umgang mit den historischen Überresten beitragen und einen sichtbaren Lern­ort schaffen. Bislang hat sich der deutsche Staat hier nicht engagiert. Es ist an der Zeit, dass Bełżec auch in Deutschland als Teil der eigenen Geschichte wahrgenommen wird.

99 Interview der Autoren mit Ewa Koper am 18. September 2015 in Bełżec.

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Die Gedenkstätte Treblinka – Totengedenken als würdevoller Umgang mit einem Tötungsort

»Das Denkmal in Treblinka, wo von den Tätern alle Spuren des Judenmords getilgt wurden, ist in seiner Zurückhaltung bei gleichzeitiger Monumentalität das eindrucksvollste Erinnerungszeichen an den Holocaust überhaupt.« 1 Mit dieser Beschreibung würdigte der Historiker Wolfgang Benz die Gestaltung des Geländes der Massentötungsanlage in Treblinka, in der – nach Auschwitz – die meisten Menschen von den Na­­tionalsozia­listen durch Giftgas ermordet wurden. In seiner heutigen Rezep­­tion, in der Forschung 2 wie auch in der öffent­­lichen Wahrnehmung und im Besucherinteresse, steht Treblinka jedoch im Schatten des größten ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz. Der folgende Artikel will deshalb den Blick auf die heutige Gedenkstätte ­Treblinka und ihre Genese richten, um den scheinbaren Widerspruch ­zwischen der Aussage von Wolfgang Benz und der öffent­­lichen Wahrnehmung zu ergründen. Dabei wird in drei Schritten vorgegangen: Im ersten Abschnitt soll die Geschichte des Ortes während des Krieges knapp skizziert werden. Anschließend werden Ent­ stehung und Entwicklung der Gedenkstätte Treblinka bis 1990 betrachtet, denn die in dieser Zeit entstandenen Denkmäler prägen noch heute den Eindruck am Ort selbst. Im letzten Teil des Artikels wird schließ­­lich die heutige Gedenkstätte in den Mittelpunkt einer kritischen Betrachtung gestellt.

Der Tötungsort Treblinka (1942 – 1943) Am 23. Juli 1942 begann die SS im nordöst­­lichen Teil des Generalgouvernements, in einem abgelegenen Waldgebiet nahe der Siedlung Wólka Okrąglik und circa vier Kilometer von der Bahnsta­­tion Treblinka entfernt, mit der Ermordung von etwa 900.000 als jüdisch und tausenden als Sinti und Roma definierten Menschen. 1 Wolfgang Benz: Treblinka. In: ders./Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, Bd. 8: Riga-­­Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Plaszow, Kulmhof/Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka. München 2008, S. 435. 2 Bis heute gibt es keine Monografie zur Geschichte des Vernichtungslagers Treblinka.

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Treblinka war neben den bereits in Betrieb genommenen Vernichtungsstätten Bełżec und Sobibór die dritte und letzte Massentötungsanlage, die im Kontext der von den Deutschen verschleiernd »Ak­­tion Reinhard« genannten Tötungs­ kampagne errichtet wurde und der vor allem die als jüdisch definierte Bevölke­ rung Polens zum Opfer fiel. Vermut­­lich auf Initiative Heinrich Himmlers ging im April 1942 der Entschluss zum Bau d­ ieses dritten Vernichtungsortes für die »­Ak­­tion Reinhard« zurück. Dessen späterer Standort eignete sich sowohl auf­ grund seiner Abgeschiedenheit und natür­­lichen Tarnung durch einen Kiefernwald als auch durch seine gute Verkehrsanbindung, denn die wichtige Bahnstrecke von Warschau nach Białystok lag nur wenige Kilometer entfernt und konnte schnell an die Vernichtungsstätte angeschlossen werden. Zudem befand sich in der Nähe des neuen Standorts bereits seit 1941 das Straf- und Zwangsarbeitslager Treblinka I.3 Wie schon beim Bau der Tötungsanlagen in Bełżec und Sobibór griff die SS dabei auf die Experten der von den Tätern verschleiernd »Ak­­tion T4« genannten Krankenmorde und deren Erfahrung im Massentöten durch Giftgas zurück. So setzte die SS den Euthanasie-­­Arzt und Leiter der Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg, Irmfried Eberl, als ersten Kommandanten Treblinkas ein. Ferner rekrutierten sich fast alle der späteren deutschen und österreichischen Wachmann­ schaften aus dem Kreis des Personals des Krankenmordprogramms.4 Zusätz­­lich sollten für den Bau Treblinkas die Erfahrungen aus den anderen Vernichtungslagern einfließen. So leitete und überwachte etwa SS-Obersturmführer Richard Thomalla, der zuvor schon die beiden anderen Vernichtungslager der »Ak­­tion Reinhard« errichtet hatte, die Bauarbeiten. Treblinka g­­lich deshalb in Größe und Struktur sehr stark der Anlage in Sobibór.5 Das 17 Hektar große Areal wurde von zwei Stacheldrahtzäunen und mehreren Wachtürmen begrenzt; aus Tarnungszwecken war der innere Zaun mit Zweigen durchflochten. Das Innere untergliederte sich in drei Zonen: Der Auffang­ bereich umfasste die Bahnhofsrampe, neben der die Deportierten ihr Gepäck zurücklassen mussten und anschließend in die Entkleidungsbaracken getrieben wurden. Von dort aus führte ein enger Korridor aus mit Zweigen umflochtenen Stacheldrahtzäunen, auch »Schlauch« oder von den Tätern zynisch »Him­ melspforte« genannt, direkt in den Tötungsbereich. Im Auffangbereich befand

3 Vgl. Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-­­Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg 2013, S. 72. 4 Vgl. ebd., S. 73 ff. 5 Vgl. Eugen Kogon (Hrsg.): Na­­tionalsozia­listische Massentötung durch Giftgas. Eine Dokumenta­­tion. Frankfurt a. M. 1995, S. 161 ff. – Zu Sobibór vgl. den Beitrag von Klara Muhle in ­­diesem Band.

Die Gedenkstätte Treblinka  | 135

sich zudem der Sortierplatz mit zwei dazugehörigen Baracken, wo jüdische Zwangsarbeiter sämt­­liches Hab und Gut der ermordeten Menschen sammelten, sortierten und verwerteten. Außerdem errichtete die SS am Rand des Auffang­ bereichs, sichtgeschützt durch einen Zaun, eine kleinere Tötungsstätte, die als »Lazarett« getarnt wurde. Hier erschoss die SS täg­­lich kranke und schwache Menschen aus den neuankommenden Transporten sowie nicht mehr arbeits­ fähige Zwangsarbeiter.6 Der »Schlauch« mündete direkt in den zentralen Ort des Tötungsbereiches, in das Gebäude mit den Erstickungsräumen. Nach dem Muster von Bełżec und Sobibór befanden sich in dem Gebäude drei Tötungszellen, für die ein Diesel­ motor das töd­­liche Kohlenmonoxyd erzeugte. Auch in Treblinka waren die Ersti­ ckungsräume als Duschräume getarnt und zu ­­diesem Zweck mit Duschköpfen, Wasserleitungen und weißen Kacheln versehen worden. Öst­­lich des Tötungs­ gebäudes gab es vier große Gruben, zu denen ein Schmalspurgleis verlegt worden war. Ein Zwangsarbeitskommando hatte mithilfe von Loren, s­ päter per Hand die Leichen der getöteten Menschen zu diesen Massengräbern zu schleppen. Mittels eines hohen Erdwalls sollte das Geschehen vor den Blicken neuankommender Gefangener geheim gehalten werden.7 Im Wohnbereich lebten die Zwangsarbeiter. Für die bis zu eintausend Männer gab es hier mehrere »Unterkunftsbaracken, Waschräume, eine Küche, Werkstätten und Magazine, einen Latrinenkomplex sowie den Appellplatz«.8 Wolfgang Benz charakterisiert diesen extra abgezäunten Bereich deshalb als Konzentra­­tionslager innerhalb des Vernichtungslagers.9 In einem eigenen Abschnitt des Wohnlagers befanden sich die Mannschaftsunterkünfte der fremdländischen, vorwiegend ukrainischen Wachkommandos (»Trawniki-­­Männer«), die Kommandantur, eine Revierbaracke, Wohnbaracken der SS -Wachmannschaften sowie weitere Funk­­tions- und Freizeiteinrichtungen der SS.10 Die erste Vernichtungsphase in Treblinka dauerte zwar ledig­­lich vom 23. Juli bis zum 28. August 1942, hatte aber gleichwohl den Tod von bis zu 320.000 Menschen, überwiegend aus den jüdischen Ghettos der Distrikte Warschau und Radom, zur Folge.11 Die neuere Forschung hat gezeigt, dass trotz dieser ungeheuren Zahl von

6 Vgl. Benz: Treblinka (wie Anm. 1), S. 411. 7 Vgl. Kogon: Na­­tionalsozia­listische Massentötung (wie Anm. 5), S. 162 f. 8 Benz: Treblinka (wie Anm. 1), S. 413. 9 Vgl. ebd., S. 413. 10 Vgl. Berger: Experten (wie Anm. 3), S. 124 f. 11 Vgl. Jacek Andrezej Młynarczyk: Treblinka – Ein Todeslager der »Ak­­tion Reinhard«. In: Bogdan Musial (Hrsg.): »Ak­­tion Reinhardt«. Der Völkermord an den Juden im

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Toten häufig gebrauchte Charakterisierungen wie »Todesfabrik« oder »Fließ­ band des Todes« unpassend und irreführend sind.12 Diese Begriffe suggerieren einen reibungslosen, mechanischen Mordprozess, der fast ohne das Eingreifen der Wachmannschaften funk­­tionierte – doch genau das Gegenteil war der Fall. Vor allem die erste Phase der Massenvernichtung in Treblinka war durch enorme Brutalität und zahllose Exzessmorde geprägt. Wie Katharina Schmitten treffend feststellt, prägte nicht »Täuschung und Irreführung, sondern offene Gewaltan­ wendung […] im August [1942] die Ankunft in Treblinka«.13 Nach dieser ersten Phase wurden die Abläufe in Treblinka umstrukturiert und mit Franz Stangl ein neuer Kommandant eingesetzt. Auch der Einsatz der bis zu eintausend Zwangsarbeiter wurde neu organisiert. Hatten die Wachmannschaften bislang die Zwangsarbeiter in regelmäßigen Abständen ermordet, sodass sich in den Arbeitsprozessen kaum Routinen einstellen konnten, änderte sich dies nun. Die SS erkannte, dass Kommandos, die auf einen Arbeitsschritt spezialisiert waren und in ihrer Tätigkeit eine Routine entwickeln konnten, wesent­­lich effektiver arbeiteten und letzt­­lich einen reibungsloseren Tötungs- und Beraubungsprozess ermög­­lichten. Dementsprechend teilte die SS die bislang unorganisierten Zwangs­ arbeiter aus dem Auffangbereich in spezielle Kommandos ein.14 Parallel zu diesen Veränderungen wurde die Wachtruppe massiv aufgestockt, um die Kontrolle über das Lager weiterhin gewährleisten zu können. Das deut­ sche Lagerpersonal wuchs bis zum Oktober 1942 mit 43 Mann auf über das Dop­ pelte im Vergleich zur ersten Vernichtungsphase an. Damit besaß Treblinka den größten Personalbestand aller Vernichtungslager der »Ak­­tion Reinhard«. Ferner verstärkte die SS auch die Gruppe der fremdländischen Wachmannschaften, die vorwiegend aus sowjetischen Kriegsgefangenen bestanden, und achtete bei ihnen auf eine strengere Disziplin.15 Ab September 1942 nahm die SS die Transporte nach Treblinka wieder auf. Zwar wurden bis zur Fertigstellung der neuen und größeren Giftgaszellen im Oktober 1942 im Vergleich zum August weniger Menschen getötet, um den sich im Umbruch befind­­lichen Tötungsort nicht wie unter Stangls Vorgänger Generalgouvernement 1941 – 1944. Osnabrück 2004, S. 265. – Kogon nennt 268.000 Tote für denselben Zeitraum. Vgl. Kogon: Na­­tionalsozia­listische Massentötung (wie Anm. 5), S. 182. 12 Katharina Schmitten: »Eine Hölle voller Teufel«. Täuschung und Gewalt im Vernich­ tungslager Treblinka. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014) 9, S. 726 – 746, hier S. 747. 13 Ebd., S. 730. 14 Vgl. Berger: Experten (wie Anm. 3), S. 139 f.; Młynarczyk: Treblinka (wie Anm. 11), S. 272 ff. 15 Vgl. Berger: Experten (wie Anm. 3), S. 138.

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zu überlasten. Doch ermordete die SS allein im September mindestens 180.000 Menschen aus den Distrikten Warschau, Radom und Lublin.16 Im Oktober 1942 erreichte die Massenvernichtung in Treblinka ihren Höhepunkt, täg­­lich wurden bis zu vier Transporte – also durchschnitt­­lich siebentausend Menschen – in den Giftgaszellen umgebracht.17 Ab dem Frühjahr 1943 begann die SS in Treblinka einen Beschluss Himmlers aus dem Vorjahr umzusetzen. Dieser besagte, dass in den Vernichtungslagern sämt­­ liche Spuren des Massenmords zu beseitigen s­ eien. Deshalb ließ die SS ab ­­diesem Zeitpunkt durch ein Zwangsarbeiterkommando die hunderttausenden Leichen aus den Massengräbern exhumieren und nach dem Vorbild der Praxis in Bełżec und Sobibór auf offenen Rosten, bestehend aus Eisenbahngleisen, verbrennen. Gleichermaßen wurde ab d­­ iesem Zeitpunkt mit den Opfern der weiterlaufenden Tötungen verfahren.18 Nach der Verbrennung musste das Zwangsarbeiterkom­ mando unverbrannte Knochenreste zermahlen oder abermals einäschern, bevor die Asche mit Sand vermischt und zurück in die leeren Leichengruben gekippt wurde. Abschließend bedeckten die Zwangsarbeiter die Gräber mit einer dicken Schicht Erde und pflanzten Gras und Lupinen darauf an.19 Da zum Jahresende 1942 das Ziel der »Ak­­tion Reinhard«, alle Juden des Generalgouvernements zu töten, fast erreicht war, gingen die Transporte im Frühjahr 1943 stark zurück. Im März 1943 stellte Bełżec als erstes der drei Lager den Betrieb ein. In Treblinka waren hingegen noch Exhumierung und Leichen­ verbrennung in vollem Gange, zudem trafen noch letzte Transporte aus dem Warschauer Ghetto sowie aus Jugoslawien, Griechenland und Bulgarien im Lager ein. Doch den Zwangsarbeiterkommandos musste spätestens ab dem Frühjahr 1943 im Zuge der abnehmenden Transporte klar geworden sein, dass sie bei der zu erwartenden Auflösung des Lagers als Augenzeugen von ihren Bewachern umgebracht werden würden. Daraufhin bildete sich im Lager eine Widerstands­ gruppe, die einen Massenausbruch und die Zerstörung des Lagers anstrebte – die Planungen und die Waffenbeschaffung zogen sich über mehrere Monate hin.20 Der konkrete Aufstandsplan sah schließ­­lich vor, die ukrainischen Wachmänner mit Gold von ihren Türmen zu locken und heim­­lich zu töten sowie die verblie­ benen deutschen SS -Männer durch Beschuss auszuschalten. Eine vorzeitige Kontrolle der SS zwang die Widerständler jedoch zum verfrühten Beginn der 16 Vgl. ebd, S. 140. 17 Vgl. Młynarczyk: Treblinka (wie Anm. 11), S. 272. 18 Vgl. Kogon: Na­­tionalsozia­listische Massentötung (wie Anm. 5), S. 187. 19 Vgl. Berger: Experten (wie Anm. 3), S. 210 – 213. 20 Vgl. Benz: Treblinka (wie Anm. 1), S. 427.

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Revolte – am 2. August 1943 gegen 16 Uhr begann schließ­­lich der Aufstand der Gefangenen. Da es nicht gelungen war, die Wachmänner von ihren Aufsicht­ stürmen zu locken, gerieten die Aufständischen unter starkes Gewehrfeuer der Wachmannschaften. Trotzdem gelang etwa 400 von 840 Männern zunächst die Flucht sowie die Zerstörung et­­licher Lagerbaracken. Insgesamt erlebten aber nur etwa siebzig von ihnen das Kriegsende, ein Großteil wurde bereits nach wenigen Stunden von den Deutschen wieder ergriffen und ermordet.21 Ungeachtet der Massenflucht und der partiellen Zerstörung des Lagers nahm die SS die Vernichtungsarbeit wieder auf. Erst Mitte August 1943 wurde der Tötungs­ betrieb in den Giftgaszellen gänz­­lich eingestellt. Als Konsequenz aus der Revolte wurde Lagerkommandant Stangl durch seinen Stellvertreter SS-Untersturmfüh­ rer Kurt Franz ersetzt und nach Italien versetzt. Die Hauptaufgabe von Franz war es, nach dem Ende der Tötungen durch Giftgas die Spurenbeseitigung auf dem Gelände abzuschließen. Mithilfe von Zwangsarbeitskommandos sowie einer Rumpfbesatzung aus SS-Männern und ukrainischen Wachleuten ließ er sämt­­liche Gebäude beseitigen, die letzten Leichengruben verfüllen und das Gelände bepflan­ zen. Ferner wurde zur Tarnung und weiteren Bewachung ein Bauernhof errichtet. Am 17. November ermordeten die deutschen und ukrainischen Wachmänner die letzten Angehörigen des jüdischen Abbruchkommandos und verbrannten anschlie­ ßend deren Leichen. Die Mordstätte von bis zu 900.000 Menschen und damit das »effektivste aller Vernichtungslager der Ak­­tion Reinhardt«, wie es Jacek Andrzej Młynarczyk bezeichnet, war somit innerhalb weniger Wochen fast gänz­­lich von der Erdoberfläche verschwunden.22

Die Genese des Gedenkorts Dass die Spuren der Ermordung von nahezu 900.000 Menschen nicht vollständig beseitigt werden konnten, zeigte eine offizielle Inspek­­tion am 7. November 1945 auf Initiative der Staat­­lichen Kommission zur Erforschung der deutschen Ver­ brechen in Polen. Die jüdische Historikerin und Holocaust-­­Überlebende Rachel Auerbach, die dieser Gruppe angehörte, berichtete von zahlreichen Alltagsgegen­ ständen und Knochenresten der Ermordeten, auf w ­ elche die Kommission über­ all auf dem Gelände gestoßen war, da seit Kriegsende Leichenfledderer auf den

21 Vgl. Młynarczyk: Treblinka (wie Anm. 11), S. 277 f.; Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. 1933 – 1945. München 2013, S. 403 f. 22 Vgl. Młynarczyk: Treblinka (wie Anm. 11), S. 278 f.

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Gräberfeldern nach Wertgegenständen der Toten gesucht und dabei dutzende Löcher ausgehoben hatten.23 Nach dieser Inspek­­tion dauerte es jedoch noch zwei weitere Jahre, bis von offi­ zieller Seite die Umgestaltung Treblinkas zum Gedenkort und damit ein würdiger Umgang mit den Überresten der Ermordeten vollzogen wurde. Im Herbst 1947 wurde durch die Abteilung für Kriegsgräber des Ministeriums für Wiederaufbau und das Komitee zur Ehrung der Opfer von Treblinka ein Gestaltungswettbewerb für eine Gedenkstätte am Standort des ehemaligen Vernichtungslagers ausge­ schrieben. Hierbei erhielt der Entwurf der beiden relativ unbekannten polnischen Architekten Władysław Niemiec und Alfons Zielonko den ersten Preis der Jury. Das Projekt wurde jedoch nie realisiert.24 Der Entwurf der beiden Architekten sah vor, das Gebiet der Gräberfelder mit einer Steinmauer in Form eines riesigen Davidsterns zu umgeben. In ­dieses Areal hinein sollte ein Hauptweg führen, flankiert durch eine Reihe großer Pylone. Im Zentrum der Anlage sollte der Weg über eine ansteigende Treppe in einen Platz münden, für den ein Opfertisch, ein Wasserbecken und eine 25 Meter hohe Dekalog­tafel in Form eines Obelisken mit der polnischen Inschrift »Du sollst nicht töten« vorgesehen waren. Daran anschließen sollte sich ein Gebäude mit einer Modellrekonstruk­­tion des Vernichtungslagers. Vom zentralen Platz aus sollten zudem mehrere Wege zu neugestalteten Grabhügeln mit der Asche der Ermor­ deten führen. Das Zentrum des Gedenkorts in den Plänen der beiden Architek­ ten bildete ein kreisförmiges, mit einer Kuppel bedecktes Mausoleum, das etwas erhöht gelegen war, sodass der Hauptweg hierhin ansteigend verlief. Während die Außenseite des Mausoleums stark durch jüdische Symbolik beherrscht sein sollte, etwa war der Eingang in Form einer Menora geplant, war der Innenraum durch religiös neutrale Formen des Totengedenkens geprägt. Die zurückhaltende Beleuchtung, die Aufreihung von Urnen mit der Asche ermordeter Kinder in den Wandapsiden sowie eine Pyramide aus aufgeschütteten Schädeln unter einer Glasplatte im Zentrum des Mausoleums sollten, so Niemiec und Zielonko in ihrer Entwurfsbeschreibung, »tiefen Eindruck bei den Besuchern erwecken«.25

23 Vgl. Rachel Auerbach: Auf den Feldern von Treblinka. In: Frank Beer/Wolfgang Benz/ Barbara Distel (Hrsg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944 – 1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Berlin 2014, S. 450. 24 Vgl. Benz: Treblinka (wie Anm. 1), S. 435; Zofia Wóycicka: Die Gedenkstätte Treblinka im Entwurf von Władysław Niemiec und Alfons Zielonko. Eine ikonografische Analyse. In: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hrsg.): KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der na­­tio­ nalsozia­listischen Konzentra­­tionslager und ihrer Erinnerung. Berlin 2007, S. 119 ff. 25 Wóycicka: Die Gedenkstätte Treblinka (wie Anm. 24), S. 124.

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Der Entwurf verband bewusst jüdische mit christ­­licher Symbolik und war insgesamt stark religiös geprägt. Abweichend von der typischen Ikonografie für das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs in den 1940er Jahren in Polen sollte den Besuchern Treblinka dezidiert als Ort der massenhaften Ermor­ dung jüdischer Menschen gezeigt werden. Dabei richtete sich der Entwurf wohl hauptsäch­­lich an die polnische Bevölkerung und nicht an die überlebenden Juden. Deut­­liche Indizien dafür sind die Inschrift des sechsten Gebotes auf Polnisch sowie die Ausstellung etwa von Schädeln und Asche der Ermordeten, da die jüdische Tradi­­tion die Exhumierung menschlicher Überreste verbietet. Bemerkenswert an dem Denkmalentwurf ist jedoch, dass einerseits die Getöteten als Märtyrer dargestellt werden, der Entwurf andererseits aber kaum heroisiert. Hinweise auf den Aufstand vom 2. August 1943 fehlen sogar gänz­­ lich. Niemiec und Zielonko betonten mit ihrer Formensprache vielmehr, wie Zofia Wóycicka feststellt, die »Unschuld [der Opfer] und die Grausamkeit der Henker«.26 Es ist davon auszugehen, dass neben finanziellen Aspekten vor allem ideolo­­ gische Überlegungen dazu führten, dass der Entwurf nie umgesetzt wurde. So machte eine ab Ende der 1940er Jahre in Polen und der UdSSR einsetzende Tabui­ sierung der Shoah eine Realisierung des Entwurfes immer unwahrschein­­licher. Zudem führte die zunehmende Stalinisierung des Landes zur Verdrängung einer religiös geprägten Erinnerungskultur an die Opfer des Zweiten Weltkriegs. Letzt­­ lich verhinderten wohl auch der fehlende Heroismus sowie die Ausklammerung des Lageraufstands im Entwurf der beiden Künstler eine Verwirk­­lichung, da ins­ besondere der heroische und antifaschistische Widerstandskampf zum zentralen Bestandteil der kommunistischen Erinnerungskultur wurde.27 Im Vergleich zum ersten Gedenkstättenentwurf folgt die aktuelle Gestal­ tung, die aus einer Ausschreibung des Jahres 1955 hervorging und am 10. Mai 1964 eingeweiht werden konnte, weniger sakralen Formen. Der Architekt Adam Haupt gestaltete hier gemeinsam mit dem polnischen Bildhauer und ehemaligen Gefangenen der Konzentra­­tionslager Groß-­­Rosen und Sachsenhausen, Franciszek ­Duszeńko, ein friedvolles Gelände in einer Mischung aus jüdischer und katho­­ lischer Friedhofskultur.28 In der gesamten Gedenkstätte verzichteten sie gänz­­lich auf Nachbildungen von ehemaligen Lagergebäuden und integrierten die Natur in ihr Konzept, die inzwischen fast das gesamte Lagergelände zurückerobert hatte. 26 Ebd., S. 131. 27 Vgl. ebd., S. 131. 28 Vgl. James E. Young: The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning. New Haven 2000, S. 186.

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Die zurückhaltende und eher abstrakt gehaltene Formensprache des Entwurfes soll ganz bewusst den Besuchern Interpreta­­tionsspielräume eröffnen. Auffallend ist, dass der Aufstand, der im August 1943 stattfand, in der neuen Ausstellung im Museumsgebäude zwar erwähnt wird, ihm auf dem Gedenkstät­ tengelände aber kein eigenes Denkmal gewidmet ist. Ledig­­lich am Standort des einstigen Lagereingangs erinnert eine in Granit gehauene Inschrift 29 in mehre­ ren Sprachen an den mutigen Widerstand der Gefangenen gegen ihre Peiniger. Um den Entwurf realisieren zu können, waren im Vorfeld große finanzielle Mittel in die Hand zu nehmen. Die Wälder und Flächen auf und neben dem ehemaligen Lagergelände mussten den Bauern, denen sie gehörten, abgekauft werden. Etwa 50 Millionen Złoty waren nötig, um das heutige Gedenkstätten­ gelände freizulegen und die Gestaltung zu verwirk­­lichen. Ein Betrag von fast einer Million Złoty kam dabei durch Spenden der polnischen Bevölkerung zusammen. Schließ­­lich sprang bei der Finanzierung der Gedenkstätte das Polnische Kultur­ ministerium ein. Die Regierung verfolgte dabei die geschichtspolitische Inten­­tion, den drei Millionen in Treblinka als Juden ermordeten Menschen stellvertretend für das polnische Martyrium während des Zweiten Weltkriegs zu gedenken.30 Das ehemalige Haupttor und damit der Eingang zum Lager Treblinka  II ist heute durch zwei Betonwände gekennzeichnet, auf denen die Worte »obóz zagłady« (dt.: Vernichtungslager) zu lesen sind. Vom Eingang bis zur Bahnhofs­ rampe, an der die Deportierten mit den Zügen ankamen, führt ein grob gepflas­ terter Weg. Neben ­­diesem sind die Eisenbahnschwellen des Nebengleises der Strecke Małkinia–Siedlce, das zur Rampe führte, mit Beton nachgebildet worden. Mit der Gestaltung der Trasse durch große Betonpfeiler wird deut­­lich, dass es sich hierbei um eine Nachbildung handeln muss, sodass dem Besucher die Illusion der Vorstellbarkeit der Lagerrealität genommen wird (Abb. 1). Trotzdem ist es mög­­ lich, sich anhand der Modellhaftigkeit eine Vorstellung davon zu bilden, w ­ elche Dimensionen das Vernichtungslager Treblinka annahm. Von der ehemaligen Rampe führt heute ein Weg vorbei an einer Reihe unbehaue­ ner Granitsteine, ­welche die verschiedenen Opferna­­tionen symbolisieren sollen: Österreich, Belgien, Bulgarien, die Tschechoslowakei, Frankreich, Griechenland,

29 »Hier bestand von Juli 1942 bis August 1943 ein Nazivernichtungslager, in dem über 800.000 Juden aus Polen, der Sowjetunion, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Österreich, Frankreich, Deutschland und Griechenland umgebracht worden sind. Am 2. August des Jahres 1943 erhoben sich die Häftlinge zum Aufstand, der von den Nazihenkern blutig niedergeschla­ gen wurde. Zwei Kilometer von hier entfernt, errichteten die Nazis 1941 ein Strafarbeitslager in dem bis 1944 annährend 10.000 Polen ermordet wurden.« 30 Vgl. Young: Texture of Memory (wie Anm. 28), S. 187.

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Abb. 1  Gestaltung der ehemaligen Rampe

Jugoslawien, Deutschland, Polen und die Sowjetunion.31 Wie in einigen Darstel­ lungen zu erkennen, könnte es sich bei ­­diesem Aufgang zum Zentrum der Gedenk­ stätte um den Weg von der Rampe zum Hof vor dem Tötungsgebäude handeln.32 Dort angekommen, öffnet sich dem Betrachter eine Freifläche von Wald umrandet. Imposant erscheint ein etwa acht Meter hoher Obelisk, der nur wenige Meter neben dem Standort des Tötungsgebäudes platziert wurde und in seiner Gestaltung an die Klagemauer in Jerusalem erinnert.33 Scheinbar in der Mitte und durch einen deut­­lich sichtbaren Spalt geteilt, sind im oberen Teil des mächtigen Steinblocks menschliche Körper und segnende Hände in den Stein gemeißelt, während auf der Rückseite die Menora thront. Mit dieser Gestaltung könnte bewusst der Weg der Opfer – vom Leben und Leiden in den Tod – nachgezeichnet worden sein. Schließ­­lich befindet sich direkt hinter ­­diesem Monument die Stelle, an der die Leichen der Opfer verbrannt wurden. Heute ist die Verbrennungsstelle mit

31 Vgl. Chris Webb/Michal Chocholatý: The Treblinka Death Camp. History, Biogra­ phies, Remembrance. Stuttgart 2014, S. 121 f. 32 Vgl. N. N.: Treblinka. Revealing the Hidden Graves of the Holocaust, URL: http://www.bbc. com/news/magazine-16657363, letzter Zugriff: 29. 08. 2015. 33 Vgl. Zofia Wóycicka: Treblinka – Museum für Kampf und Martyrium, URL : http:// www.erinnerungsorte.org/lager/mpc/Memorial/mpa/pdf/mp-­­place/treblinka-­­muzeum-­ ­walki-­­i-­­meczenstwa/, letzter Zugriff: 24. 08. 2015.

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Abb. 2  Gräberfeld mit Blick auf den Obelisken

einer schwarzen Schlackeschicht gekennzeichnet, sodass der Ort, an dem die SS versuchte, sämt­­liche Beweise des Massenmords in Treblinka zu vernichten, auch heute noch sichtbar ist. Auffallend ist, dass auch d­ ieses riesige Monument ganz ohne na­­tionale Motive auskommt. Die Opfer sind unterschiedslos dargestellt, sodass die Erinnerung den Opfern der na­­tionalsozia­listischen Verbrechen in ihrer Gesamtheit gilt, obgleich Juden aufgrund ihrer immensen Opferzahl als Gruppe – etwa durch die Menora – herausgehoben werden.34 Noch imposanter erscheint, wenn auch mit zurückhaltenderen Mitteln gestal­ tet, was sich hinter dem beschriebenen Monument auftut: Auf den als Massen­ gräbern gekennzeichneten Flächen ragen 17.000 unbehauene Granitsteine ver­ schiedenster Größe heraus. Auf 216 von ihnen wurden die Namen der jüdischen Gemeinden eingemeißelt, aus denen die Opfer stammten. Die Gestaltung ist angelehnt an einen jüdischen Friedhof, wobei die Steine Grabsteine nachempfin­ den sollen (Abb. 2). Nur einer von ihnen trägt den Namen einer Person: Janusz 34 Vgl. Jan Gryta: Gedenkstätten in den na­­tionalsozia­listischen Vernichtungslagern in den von Deutschland besetzten polnischen Gebieten. Die Geschichte der Erinnerung bis zum Jahr 1968. In: Bogusław Dybaś u. a. (Hrsg): Gedenkstätten für die Opfer des Na­­tionalsozia­lismus in Polen und Österreich. Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven. Frankfurt a. M. 2013, S. 71 – 93, hier S. 75.

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Korczak, der die jüdischen Kinder des von ihm geleiteten Waisenhauses selbst auf dem Weg in den sicheren Tod nicht im Stich lassen wollte. Er wurde gemein­ sam mit zweihundert von ihnen wohl am 5. August 1942 nach Treblinka depor­ tiert und dort wenige Tage s­ päter getötet. Auf dem Stein, der ihm zu seinem 100. Geburtstag 197835 gewidmet wurde, erinnern die Worte: »Janusz Korczak – Henryk ­Goldszmit  36 – i dzieci« (dt.: … und Kinder).

Die heutige Gedenkstätte Treblinka Die heutige Gedenkstätte hat weitestgehend die Gestalt, die dem Gelände in den 1960er Jahren gegeben wurde. Zusätz­­lich gibt es seit 2006 ein kleines Museum mit einer Dauerausstellung, die im Verwaltungsgebäude der Gedenkstätte unterge­ bracht ist. Dabei handelt es um eine Zweigstelle des Regionalmuseums, es befin­ det sich also nicht in der Trägerschaft des polnischen Staates oder einer eigens errichteten Stiftung.37 Die Ausstellung selbst ist zum Großteil zwei- bzw. drei­ sprachig angelegt (Polnisch, Eng­­lisch und Deutsch) und somit auf interna­­tionale Besucher­gruppen eingestellt. In den ersten beiden Museumsräumen beschäftigt sich die Ausstellung mit der deutschen Besatzung Polens und dem Straf- und Zwangsarbeitslager Treblinka I. Neben stark bebilderten Informa­­tionstafeln mit wenigen Autorentexten werden hier vor allem Fundstücke aus Treblinka I präsen­ tiert. Der dritte Raum zeigt einige originale Bruchstücke jüdischer Grabsteine, die von den Na­­tionalsozia­listen als Baumaterial auf der Verbindungsstraße z­ wischen Treblinka I und II verwendet wurden. Der letzte und größte Ausstellungsraum bietet einige kontextualisierende Informa­­tionen zur »Ak­­tion Reinhard«, zu Janusz Korczak sowie zum Vernichtungslager Treblinka II. Hierbei arbeitet die Ausstellung insbesondere mit spär­­lich kommentierten Originalfotografien aus dem Lager. Auffällig in d­­ iesem letzten Raum sind zudem ein großes Lagermodell sowie der mit Musik unterlegte Anima­­tionsfilm, der den Weg der Deportierten von der Rampe bis zum Tötungsgebäude in einer virtuellen Kamerafahrt durch das animierte Lagermodell nachvollzieht. Das Besondere an der Gestaltung des Außengeländes ist, dass sich jeder Besu­ cher seine eigene Haltung zum historischen Geschehen in ganz eigenem Tempo und selbst gewählter Intensität erarbeiten kann. Adam Haupt und Franciszek 35 Vgl. Young: Texture of Memory (wie Anm. 28), S. 188 f. 36 So lautete Korczaks eigent­­licher Name. 37 Unter folgendem Link findet sich der offizielle Internetauftritt der Gedenkstätte Treblinka, URL: http://www.treblinka-­­muzeum.eu/index.php/muzeum, letzter Zugriff: 11. 01. 2016.

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Duszeńko setzen niemanden der emo­­tionalen Überwältigung durch einen nach­ gebildeten Erstickungsraum oder Sammlung von menschlichen Überresten der Opfer aus. Der hohe Grad an Abstrak­­tion, die in ihrer Gestaltung zwar eng an Friedhofstradi­­tionen anknüpft, jedoch nur an wenigen Stellen direkte Hinweise auf die Geschichte d­ ieses Ortes gibt, führt zu verschiedensten Arten des Umgangs mit ­­diesem Gedenkort. Der Weg von der ehemaligen Rampe zu den Massengrä­ bern und dem Standort des Tötungsgebäudes ist heute – anders als in Bełżec oder Sobibór – nicht als »Schlauch« gekennzeichnet. Dies verhindert, dass beim Besucher der Eindruck entsteht, er müsse den Weg der Opfer in den Tod nach­ schreiten. Allerdings stellt sich die Frage, ob eine Kennzeichnung in Anbetracht der Markierung von Bahnstrecke, Rampe und Verbrennungsstelle der Vollstän­ digkeit halber nicht doch sinnvoll gewesen wäre. Das Meer an Granitsteinen, die stellvertretend für die untergegangenen jüdi­ schen Gemeinden stehen, lassen Raum für eigene Reflexion. Das weite Feld mit der kaum zu überblickenden Fülle an Steinen vermittelt einen sinn­­lichen Eindruck von der Zahl der Ermordeten sowie der ausgelöschten jüdischen Gemeinden. Gleichzeitig ermög­­licht die Friedhofsatmosphäre des Ortes ein Innehalten und Gedenken an die Toten. Besucher legen dort Steine und Blumen nieder, andere entzünden Kerzen. Gruppen aus Israel breiten auch israe­­lische Flaggen auf den Boden aus, gedenken dort in Gruppen und singen dabei Lieder.38 Der Ort lässt diese unterschied­­lichen Formen des Gedenkens zu. Die Ruhe und auch die Schön­ heit der Natur an d­­ iesem Ort ermög­­lichen ein würdevolles Gedenken und geben gerade dadurch den hier Ermordeten ihre genommene Würde zurück.39 Einzig einige am Rand des Gräberfelds angebrachte Informa­­tionstafeln, versehen mit ­kurzen konzeptualisierenden Erläuterungen zum Ort und zu den historischen Fotografien brechen diesen Friedhofscharakter der Anlage auf und sind ein Ver­ such der Gedenkstättenleitung, das Gelände für den Besucher besser lesbar und historisch erschließbar zu machen. Die »Schwarze Straße«, w ­ elche die Lager Treblinka I und II verband, führt auf einer etwa zwei Kilometer langen Strecke durch den Wald. Eine unnatür­­liche Schneise z­ wischen den Bäumen, wo einst die Bahnschienen verlegt waren, ist nur bei genauem Hinsehen erkennbar. Die Natur hat sich das Gelände des ehemali­ gen Arbeitslagers zurückerobert. Der Steinbruch erscheint heute als eine grasbe­ wachsene Mulde in der Landschaft, selbst die noch erhaltenen Fundamente der 38 Zu den Formen des Gedenkens israe­­lischer Gruppen vgl. den Beitrag von Cornelia Bruhn und Samuel Kunze in ­­diesem Band. 39 Zum würdevollen Umgang mit den Opfern an den Orten der Shoah vgl. den Beitrag von Christian Jänsch und Alexander Walther, Zur Würde in ­­diesem Band.

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Abb. 3  Gedenkzeichen im ehemaligen Arbeitslager Treblinka I

Baracken sind mit Moos bedeckt. Ledig­­lich kleine Hinweisschilder zeigen dem Besucher, dass dieser Ort als Haftstätte genutzt wurde. Da im Arbeitslager Treblinka I vorrangig nichtjüdische Polen interniert waren, ist das Gedenken hier auch viel stärker katho­­lisch geprägt. Das Monument ist um einiges kleiner gestaltet als jenes im Vernichtungslager. Daneben wurden Kreuze mit Namen der überwiegend polnischen Gefangenen aufgestellt. Das Gedenken ist hier durch die nament­­liche Nennung von Opfern individualisiert (Abb. 3). Insgesamt ist der dominierende und von der Schönheit der Landschaft noch verstärkte Eindruck des Gedenkorts Treblinka der von Friede und Würde. Auch wenn der Besucher nur wenig über die Geschichte des Ortes und die historischen Hintergründe der Shoah lernt, ist dessen Gestaltung aus den 1960er Jahren ein eindrucksvolles Beispiel für ein würdevolles Gedenken an die Opfer, das sich einer nachträg­­lichen Sinnstiftung entzieht und den Besucher nicht der Illusion hin­ gibt, am Schauplatz des Verbrechens die damaligen Schrecken nachempfinden zu können. Das Areal ist ein großer Friedhof, und es ist mit Respekt gegenüber den Toten gestaltet worden. Es lädt den Besucher zum Innehalten und Nachdenken ein. Auch darin wird dieser Ort der Würde seiner Opfer gerecht.

Klara Muhle

Der historische Ort der ehemaligen Tötungsstätte Sobibór Doch Museen und Gedenkstätten erzeugen Vergessen ebenso sehr wie Erinnerung. Claude Lanzmann 1

Claude Lanzmann bezieht diese Aussage in der Anfangssequenz seines Filmes Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr 2 auf das 1993 erstmals in Sobibór errichtete Museum am Ort des ehemaligen Tötungskomplexes der na­­tionalsozia­listischen »Judenvernichtung«. Lanzmann zufolge dienen Gedenkstätten einerseits der institu­­tionalisierten Erinnerung, andererseits verdrängen sie dasjenige ins Ver­ gessen, das nicht thematisiert wird. Ein nicht eindeutig erkennbarer Ort benötigt die Zeugenschaft als Brücke für das Erinnern.3 Der Ort, von dem Lanzmann spricht, liegt im heutigen Osten Polens nahe der ukrainischen Grenze, etwa einhundert Kilometer öst­­lich von Lublin. Im Zuge der sogenannten Ak­­tion Reinhard 4 wurden dort im Zeitraum von April 1942 bis

1 Claude Lanzmann (R.): Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr. F 2001. TC: 00:06:19 – 00:06:39. 2 Für Lanzmanns filmisches Epos Shoah, das 1985 veröffent­­licht wurde, hatte er Interviews mit einem Überlebenden des Aufstands in Sobibór, Yehuda Lerner, geführt. Dieses Material wurde in Shoah jedoch nicht verwendet. Lanzmann wollte die Geschehnisse um den Auf­ stand in Sobibór nicht als einen Aspekt unter vielen in dem neunstündigen Film an den Rand treten lassen, sondern in einem eigenen Film ins Zentrum stellen. So wurde das ­Material 16 Jahre ­später zu einem Film verarbeitet, der auf ­g leiche Weise wie Shoah die Orte, die mit den Tötungen durch die Na­­tionalsozia­listen in direktem Zusammenhang stehen, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten Lanzmanns mit den Interviewten zeigt, während der Zeuge von seinen Erinnerungen erzählt. 3 Vgl. Manuel Köppen: Erinnerungslandschaften. Claude Lanzmanns Sobibór (2001) und Romuald Karmakars Land der Vernichtung (2004). In: Inge Stephan/Alexandra Tacke: NachBilder des Holocaust. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 77 – 90, hier S. 77. 4 Unter dem Tarnbegriff »Ak­­tion Reinhard« verbirgt sich der Plan der Na­­tionalsozia­listen, alle von ihnen als »Juden« bezeichnete Menschen im Gebiet des Generalgouvernements zu töten. Dieser Beschluss hatte sich erst schrittweise entwickelt aus der Frage heraus, wie mit der hohen Anzahl an »Juden« auf dem neu erlangten polnischen Gebiet umzugehen sei. Einen detaillierten Überblick zur Thematik geben etwa Yitzak Arad: Bełżec, Sobibór, ­Treblinka. The Opera­­ tion Reinhard Death Camps. Bloomington 1987, S. 14 – 19 und Bogdan Musiał: Ursprünge der »Ak­­tion Reinhardt«. Planung des Massenmordes an den Juden im Generalgouvernement.

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Herbst 1943 z­ wischen 150.000 und 250.000 Menschen ermordet. Die Tötungs­ stätte 5 wurde ausschließ­­lich für diesen Zweck erbaut und nach Beendigung der massenhaften Ermordungen von den Na­­tionalsozia­listen wieder zerstört, um mög­­lichst keine Spuren ihrer Taten zu hinterlassen. Eine erste Gedenkstätte wurde 1965 in Sobibór errichtet, die zwar den Ort des Massenmordens markierte, jedoch zugleich falsche Annahmen über die Topografie des einstigen Tötungsortes zementierte. Dort, wo Forscher die Erstickungskam­ mern und ein Massengrab vermuteten, wurden etwa Denkmäler gesetzt, ohne dies durch archäolo­­gische Funde belegen zu können. So stand das Denkmal für die Erstickungsräume einige Meter von der Stelle entfernt, an der im Zuge archäolo­­gischer Grabungen im Jahre 2014 die Überreste der Erstickungskam­ mern gefunden wurden. Neben den Erstickungskammern haben die Archäologen auch den Weg in die Erstickungsräume, die Sonderkommando-­­Baracken mit einem Fluchttunnel und Massengräber gefunden. Eine Neugestaltung der Gedenkstätte wurde 2013 initiiert. Da zu d­­ iesem Zeitpunkt die außerordent­­lichen archäolo­­gischen Funde noch nicht vorlagen, bezog die ursprüng­­liche Konzep­­tion der neuen Gedenk­ stätte diese nicht mit ein. Sie zu integrieren stellt eine enorme Herausforderung für die Gestalter der Gedenkstätte dar.

Der Tötungskomplex Sobibór Der Tötungskomplex Sobibór wurde als zweiter von drei Orten des Mordens der »Ak­­tion Reinhard« errichtet, ­später als Bełżec (Baubeginn November 1941) und früher als Treblinka (Baubeginn April 1942). In Sobibór sollten die nach Defini­­ tion der Na­­tionalsozia­listen als »Juden« bezeichneten Menschen aus dem Distrikt Lublin getötet werden, nachdem sich abzeichnete, dass Bełżec nicht dafür aus­ reichen würde, alle »Juden« aus dem gesamten Generalgouvernement zu töten.6 Der Ort schien sich anzubieten, da dort genügend Platz zur Verfügung stand, er In: ders.: »Ak­­tion Reinhardt«. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941 – 1944. Osnabrück 2004, S. 49 – 85. 5 Es wird in ­­diesem Artikel bewusst auf die entpersonalisierte Bezeichnung des »Vernichtungs­ lagers« verzichtet. Dieser Ort hatte keinen Lagercharakter, sondern war nur dafür angelegt, in wenigen Stunden die ankommenden Gefangenen zu ermorden und ihre Leichen zu verschar­ ren. Vgl. dazu auch den Beitrag von Raphael Utz zur Tätersprache in ­­diesem Band. 6 Vgl. Wolfgang Scheffler: Chelmno, Sobibór, Bełżec, Majdanek. In: Eberhard Jäckel: Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg: Entschlußbildung und Verwirk­­lichung. Frank­ furt a. M. 1987, S. 145 – 161, hier S. 149.

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an das bereits existierende Bahnnetz angebunden war und sich das wenig bevöl­ kerte, bewaldete und sumpfige Gelände gut zur Tarnung eignete. Ein Nebengleis führte direkt vom Bahnhof Sobibór in den Tötungskomplex. Im März 1942, als in Bełżec die ersten Menschen ermordet wurden, began­ nen in Sobibór die Bauarbeiten. Personell und strukturell eng verknüpft mit den Vorgängen in Bełżec, stellt Sobibór eine optimierte und größere Version dieser Tötungseinrichtung dar.7 Wie bereits in Bełżec war SS-Hauptsturmführer Richard Thomalla auch für den Bau in Sobibór verantwort­­lich und somit der erste Kom­ mandant. Der Hauptverantwort­­liche für die »Ak­­tion Reinhard«, SS-Brigade­ führer Odilo Globocnik, schickte den damaligen Oberleutnant der Schutzpolizei Franz Stangl 8 Anfang April nach Sobibór, um die Posi­­tion des Lagerkomman­ danten einzunehmen und die Bauarbeiten zu beschleunigen.9 Diese konnten im April 1942 beendet und von da an der Tötungskomplex in Betrieb genommen werden. SS-Unterscharführer Erich Fuchs schildert ausführ­­lich die Vorbereitung und Durchführung einer der ersten Tötungen: Wir stellten den Motor auf einen Betonsockel und errichteten die Verbindung ­zwischen Auspuff und Rohrleitung. Alsdann probierte ich den Motor aus. Er funk­­tionierte zunächst nicht. Ich reparierte die Zündung und die Ventile mit dem Erfolg, dass der Motor schließ­­lich ansprang. Der Chemiker, den ich schon aus Bełżec kannte, begab sich mit einem Messgerät in die Gas­ kammer, um die Gaskonzentra­­tion zu prüfen. Im Anschluss daran wurde eine Probevergasung durchgeführt. Ich glaube mich zu entsinnen, dass 30 – 40 Frauen in einer Gaskammer vergast worden sind.10

Franz Stangl trug bis Ende August 1942 die Hauptverantwortung für die Vorgänge in Sobibór.11 Während der Aufbauarbeiten waren teilweise 30 Männer in Sobibór,

7 Vgl. Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-­­Netzwerk in den Lagern Bełżec, Sobibór und Treblinka. Hamburg 2013, S. 62. 8 Er wurde 1943 zum SS-Hauptsturmführer befördert. 9 Stangl gibt dies in einem ausführ­­lichen Interview aus den frühen 1970er Jahren als Grund an. Die Journalistin Gitta Sereny hat insgesamt siebzig Stunden lang Gespräche mit Franz Stangl geführt, als dieser sich nach seiner Verurteilung im Gefängnis befand, und sie hat diese in einem Buch zusammengefasst. Vgl. Gitta Sereny: Am Abgrund. Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka. München 1995, S. 118. 10 StA Dortmund AZ: 45 Js 27/61, abgedr. in: Eugen Kogon u. a. (Hrsg.): Na­­tionalsozia­listische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumenta­­tion. Frankfurt a. M. 1995, S. 158. 11 Eine detaillierte Auflistung der Verantwort­­lichen lieferte der ehemalige Wachmann Michail Afanas’evič Razgonjaev im Verhör vom 20. September 1948 in Dnipropetrovsʼk. Vgl. Interroga­­tion of Mikhail Affanaseivitch Razgonayev. Sobibor Death Camp Wachman,

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die zuvor Teil der sogenannten Ak­­tion T412 gewesen waren. Das Gelände umfasste von Mai 1942 bis Winter 1942/43 eine Fläche von 400 mal 600 Metern, bevor es auf die Größe von 58 Hektar erweitert wurde. Der Komplex in Sobibór war in drei klar voneinander getrennte Bereiche unterteilt: Der erste Abschnitt war der Verwaltungsbereich. Neben dem Ein­ gangsbereich befanden sich hier auch die Wohnhäuser für die SS -Männer und ukrainischen Wachmänner 13 sowie die Baracken für die für den Betrieb der Tötungsanlage zunächst am Leben gelassenen Arbeitsgefangenen. Der Überle­ bende Thomas Blatt spricht von einer Anzahl z­ wischen 550 und 650 Arbeits­ gefangenen, die in Sobibór untergebracht waren.14 Die ankommenden Züge transportierten bis zu 2500 Menschen. Nach Öffnung der Waggontüren wurden diese von den »Trawniki-­­Männern« umstellt und unter Aufsicht der SS -Männer aus den Zügen getrieben. Danach wurden sie gezwungen, sich nach Geschlecht getrennt aufzustellen.15 Menschen, die auf dem Weg nach Sobibór in den Waggons verstarben, und ­solche, die nicht mehr in der Lage waren, aus eigener Kraft zu gehen, wurden direkt aus den Zügen auf Wagen verladen. Diese wurden anfäng­­lich noch von

URL : http://www.holocaustresearchproject.org/trials/sobiborwachman.html, letzter

Zugriff: 17. 11. 2015. 12 Die nachträg­­lich so betitelte »Ak­­tion T4« bezeichnet die Ermordung von Menschen mit Behinderung im na­­tionalsozia­listischen Deutschland seit 1940. Bereits dort wurden Opfer in Erstickungskammern getötet. Fast alle der circa 120 s­ päter im Zuge der »Ak­­tion Reinhard« eingesetzten SS-Männer hatten zuvor Erfahrungen bei der »Ak­­tion T4« gesammelt. Ausgiebig auf diesen Zusammenhang geht Berger: Experten (wie Anm. 7) ein. 13 Diese Wachmänner wurden auch als »Trawniki-­­Männer« bezeichnet und waren zumeist ukrai­ nischer Na­­tionalität. Ihr Name geht zurück auf ihre Ausbildungsstätte nahe der Kleinstadt Trawniki im Distrikt Lublin. Vgl. hierzu ausführ­­lich Peter Black: Die Trawniki-­­Männer und die »Ak­­tion Reinhardt«. In: Bogdan Musiał (Hrsg.): »Ak­­tion Reinhardt«. Der Völker­mord an den Juden im Generalgouvernement 1941 – 1944. Osnabrück 2004, hier S. 311; Arad: Bełżec (wie Anm. 4), S. 19 – 22. 14 Vgl. Thomas Toivi Blatt: Sobibór – der vergessene Aufstand. Hamburg/Münster 2004, S. 69. 15 Eine detaillierte Beschreibung der Abläufe bei Ankunft eines Zuges liefert Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibór. Hamburg/Münster 2012, S. 69 ff. – Zahlreiche Quellen beschrei­ ben übereinstimmend die Vorgänge bei der Ankunft, so etwa Razgonjaev. Vgl. Interroga­­tion (wie Anm. 11); Erich Bauer: Vernehmung vom 10. 1. 1962. In: Peter Longerich (Hrsg.): Die Ermordung der Europäischen Juden. Eine umfassende Dokumenta­­tion des Holocaust 1941 – 1945. München/Zürich 1990, S. 369 f.; Berek Freiberg: Sobibór. In: Frank Beer/ Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.):Nach dem Untergang: Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944 – 1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Berlin 2014, S. 619 – 652, hier S. 621.

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Pferden oder Menschen gezogen und zu den Massengräbern gefahren, vor denen die noch Lebenden schließ­­lich erschossen wurden. Ab Sommer 1942 führte eine Kleinbahn mit bis zu sechs Loren, angetrieben von einer Diesel­ lokomotive, vom Eingangsareal zu den Massengräbern. Die Gruben sollen ­zwischen 300 und 400 Meter lang gewesen sein.16 Eine derartige Bahn gab es in Bełżec oder Treblinka nicht. Die rest­­lichen Gefangenen wurden aus den Waggons tiefer in die Anlage des Bereiches  II getrieben, wo sie ihre Wert­ gegenstände abgeben und sich entkleiden mussten.17 Entkleidungsbaracken und Lagerräume für Wertgegenstände waren eigens für diesen Zweck einge­ richtet worden. Von hier führte ein circa 3 bis 4 Meter breiter und 150 Meter langer Weg direkt in die Erstickungsräume in Bereich  III . Dieser Weg war rechts und links von hohen Stacheldrahtzäunen gesäumt, in die zur Tarnung Zweige verwoben waren.18 Am weitesten vom Bahnhof entfernt befand sich der dritte Bereich, in dem die Erstickungsräume und Massengräber lagen. Die Gefangenen wurden getrennt nach Geschlecht durch den eingezäunten Weg aus Bereich  II in die Erstickungsräume getrieben. Die Kinder blieben bei den Frauen, denen auf halbem Weg in einer kleinen Baracke die Haare abgeschnitten wurden. In den drei 4 mal 4 Meter großen Erstickungsräumen konnten jeweils circa 150 bis 200 Menschen gleichzeitig ermordet werden. In die hermetisch abgeriegelten Räume wurden Abgase eines Dieselmotors eingeleitet, der an der Außenwand der Kammern befestigt war. Die Opfer erstickten qualvoll nach einem zwanzigbis dreißigminütigen Todeskampf. Die Arbeitsgefangenen trugen die Leichen aus den Kammern heraus und brachten sie in die Massengräber. Zwei bis drei Stunden nach ihrer Ankunft waren die Neuankömmlinge ermordet und ihre Leichen im Boden verscharrt.19 Die Funk­­tionsgefangenen lebten strikt getrennt

16 Oberscharführer Hubert Gomerski behauptet dies. Vgl. StA Dortmund AZ: 45 Js 27/61 (AZ. ZSL: 208 AR-Z 251/59, Bd. 7, Bl. 1308), abgedr. in Kogon u. a. (Hrsg.): Na­­tionalsozia­listische Massentötungen (wie Anm. 10), S. 186. 17 Die Überlebende Ada Lichtmann berichtet, dass den Neuankömmlingen bei Ankunft gesagt worden sei, sie befänden sich in Sobibór nur in einem Zwischenlager. Sie würden ihre Hab­ seligkeiten zurückbekommen und zum Leben und Arbeiten in die Ukraine weiterfahren. Vgl. Yad Vashem-­­Archiv 0 – 3/1291, S. 18, abgedr. in: ebd., S. 175. 18 Die Täter bezeichneten diesen Weg euphemistisch als »Schlauch« oder sarkastisch als »Him­ melfahrtsstraße«. 19 Vgl. Barbara Distel: Sobibór. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, Bd. 8: Riga-­­Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płaszów, Kulmhof/ Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München 2008, S. 373 – 4 04, hier S. 381.

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von Bereich I und II in Wohnbaracken in Bereich  III ebenso wie ihre Bewa­ cher. In regelmäßigen Abständen wurden Gruppen von ihnen umgebracht und durch neue ersetzt. Von April bis Ende August 1942 war Franz Stangl als Kommandant für Sobibór verantwort­­lich. Danach wurde er nach Treblinka versetzt. Sein Stellvertreter war SS -Oberscharführer Hermann Michel. Stangl unterstand dem Hauptverantwort­­ lichen für die »Ak­­tion Reinhard«, SS -Brigadeführer Odilo Globocnik und sei­ nem Inspekteur Christian Wirth. Am 1. September 1942 löste SS -Obersturm­ führer Franz Reichleitner Stangl in seiner Funk­­tion als Lagerkommandant in Sobibór ab. Mit ihm traten auch ein neuer Stellvertreter, Gustav Wagner, und dessen Stellvertreter, Karl Frenzel, ihren Dienst an. Für die einzelnen Bereiche in Sobibór waren jeweils eigene Kommandanten eingeteilt, die Stangl bzw. ­später Reichleitner unterstanden. Für Bereich I war zunächst Oberscharführer Otto Weiss verantwort­­lich, der von Oberscharführer Karl Frenzel abgelöst wurde. Für den Bereich, in dem sich die Erstickungsräume befanden, war von April bis Herbst 1942 Oberscharführer Kurt Bolender, ab Herbst 1942 Oberscharführer Erich Bauer zuständig.20 Die Tötungen in Sobibór verliefen in zwei Phasen. In der ersten Phase von Mai bis Ende Juli 1942 wurden z­ wischen 90.000 und 100.000 Menschen in Sobibór ermordet. In dieser Zeit wurden vor allem Menschen aus dem Distrikt Lublin getötet.21 Am 19. Juli 1942 befahl Heinrich Himmler, alle »Juden des General­ gouvernements« bis Ende des Jahres zu ermorden. Dies führte dazu, dass in Bełżec, Sobibór und Treblinka weitere Erstickungsräume gebaut wurden. Während der Baumaßnahmen stoppten die Tötungen. Zusätz­­lich führte das Einsinken von Bahngleisen auf der Strecke nach Sobibór dazu, dass von Juli bis Oktober 1942 keine Züge zum Tötungsort fahren konnten und somit das Massenmorden für einige Monate pausierte. Die Zeit wurde genutzt, um neben den bereits existierenden Erstickungsräumen, in denen sechshundert Menschen gleichzeitig getötet werden konnten, vier weitere anzubauen. Dies verdoppelte die Kapazität. Ein Mittelgang führte zu jeweils vier Erstickungsräumen pro Seite. In diese Zeit fiel ebenfalls der bereits erwähnte Bau der Loren direkt von den Gleisen zu den Massengräbern. Die zweite Phase des Tötens erstreckte sich in Sobibór von Anfang 1943 bis zu sei­ ner Auflösung im Herbst desselben Jahres. In ­­diesem Zeitraum wurden vor allem 20 Eine ausführ­­liche Übersicht und Erklärung des Personals in Sobibór und seiner Funk­­tion gibt Berger: Experten (wie Anm. 7), S. 67 ff. – Jules Schelvis liefert eine alphabetische Aufzäh­ lung der in Sobibór eingesetzten Täter mit jeweiligen Kurzbiografien. Vgl. Schelvis: Ver­ nichtungslager Sobibór (wie Anm. 15), S. 287 – 314. 21 Vgl. Gudrun Schwarz: Die na­­tionalsozia­listischen Lager. Frankfurt a. M. 1990, S. 215.

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Menschen getötet, die aus den Niederlanden, Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich, der Slowakei und der UdSSR deportiert worden waren.22 Der Verwesungsprozess der im Boden verscharrten Leichen erzeugte einen starken Geruch, der sich über die gesamte Gegend verbreitete. Außerdem ent­ standen Bewegungen des Erdreichs. Zudem bestand die Gefahr, dass die verwe­ senden Körper zur Verseuchung des Grundwassers führen würden. So ordne­ ten Ende 1942 SS -Männer an, die bisher etwa 100.000 Leichen zu exhumieren und sie zu verbrennen. Gefangene erstellten einen riesigen Rost, indem sie über die Gruben Eisenbahnschienen legten, auf denen sie bis zu eintausend Leichen gleichzeitig verbrennen konnten.23 Von da an wurden alle Ermordeten in ­Sobibór verbrannt. Ein anderer Aspekt dieser Einäscherung lag in der bereits früh inten­ dierten Spurenvernichtung.24 Im Frühsommer 1943 fand sich in Sobibór eine Gruppe Gefangener aus Bereich I und II um Leon Feldhendler ein, die sich regelmäßig traf und zahlreiche mög­­ liche Aufstandsszenarien durchspielte.25 Ihre Pläne wurden konkreter, als sowje­ tische Kriegsgefangene am 23. September 1943 in Sobibór eintrafen. Mithilfe ihrer militärischen Kenntnisse unterstützten sie unter der Führung ihres Ältesten, des 34-jährigen Leutnants der Roten Armee Aleksandr Pečërskij die bereits bestehende Gruppe um Feldhendler.26 Pečërskij entwarf den Plan, alle SS-Männer in kurzer Zeit an unterschied­­lichen Orten auf dem Gelände zu töten. Sie sollten in Baracken, Werkstätten oder Büros gelockt und dort umgebracht werden. Dieser minutiös vor­ bereitete Aufstand wurde am 14. Oktober 1943 durchgeführt.27 ­Nachdem zunächst

22 Vgl. ebd. – Die Ergebnisse der Recherchen für die Strafprozesse sind beschrieben in ­A dalbert Rückerl: Na­­tionalsozia­listische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Bełżec, Sobibór, Treblinka, Chelmno. München 1978, S. 146 ff. – Eine detail­ lierte Auflistung der bekannten Transporte nach Sobibór liefert Berger: Experten (wie Anm. 7), S. 422 – 431. 23 Vgl. Distel: Sobibór (wie Anm. 19), S. 384. 24 Der Entschluss, Spuren zu zerstören, kam bereits im Frühjahr 1942 auf in Verbindung mit den Ermordeten auf dem besetzten Gebiet der Sowjetunion. Vgl. Kogon: Na­­tionalsozia­listische Massentötungen (wie Anm. 10), S. 187. 25 Vgl. ausführ­­lich dazu Arad: Bełżec (wie Anm. 4), S. 299 ff. 26 Pečërskij gab 1974 an, dass sein Alter der Grund gewesen sei, warum er als Anführer ausge­ wählt worden sei. Vgl. Zeugenbefragung vom 17. Juli 1974, Moskau, Archiv Jules Schelvis, StA ­Dortmund, Prot. Band III-Gomerski-­­Verfahren, Bl. 1071, abgedr. in: Franziska Bruder: »Hunderte solcher Helden«. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Berichte, Recherchen und Analysen. Münster 2013, S. 121. 27 Detailliert erzählt zum Beispiel der Überlebende Thomas Blatt von seinen Erlebnissen wäh­ rend des Aufstands. Vgl. Thomas Toivi Blatt: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór. Berlin 2001, S. 194 ff.

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alles nach Plan verlaufen war, wurde der Aufstand entdeckt und das Feuer von SS-Oberscharführer Erich Bauer eröffnet. Die ukrainischen Wachmänner began­ nen daraufhin ebenfalls zu schießen. Ungefähr 600 Gefangene befanden sich zum Zeitpunkt des Aufstands auf dem Gelände von Sobibór.28 Etwa 200 von ihnen flo­ hen in den anliegenden Wald.29 Die meisten wurden jedoch entdeckt und getötet, das Kriegsende erlebten nur ­zwischen 46 und 53 von ihnen,30 darunter 8 oder 9 Frauen.31 12 der 29 zu dieser Zeit in Sobibór sta­­tionierten SS-Männer wurden im Zuge des Aufstands getötet, 5 überlebten und 12 von ihnen waren während der Revolte nicht in Sobibór anwesend gewesen. Die rund 150 Gefangenen, die nicht vom Gelände entkommen konnten, wurden erschossen. Als Reak­­tion auf den Aufstand in Sobibór verordnete Heinrich Himmler die Schließung des Komplexes sowie dessen Zerstörung und die Beseitigung aller Spuren. Zu ­­diesem Zweck wurden dreihundert Gefangene aus Treblinka nach Sobibór gebracht, die nach Beendigung ihrer Arbeiten im November 1943 ermordet wurden. Sie hatten sämt­­liche Gebäude abgerissen, die menschliche Asche vergraben und darüber Bäume gepflanzt.32 Der Boden war geebnet worden und zur weiteren Tarnung hatten »Trawniki-­­Männer« ein Bauernhaus auf dem Gelände errichtet. Bereits kurz nach dem Aufstand entstanden die ersten dokumentierten Berichte von Überlebenden.33 Der Aufstand von Sobibór spielt eine besondere Rolle in der Erinnerung an die Shoah. Claude Lanzmann lässt in seinem Film Shoah einen weniger bekannten Überlebenden der Revolte zu Wort kommen, um die Geschehnisse nachwirken zu

28 Vgl. Distel: Sobibór (wie Anm. 19), S. 397. 29 Vgl. ebd., S. 398. 30 Den Überlebenskampf der aus Sobibór Geflohenen in Polen bis Kriegsende beschreibt etwa Thomas Toivi Blatt in seinen Erinnerungen im Kapitel »Die Illusion der Freiheit«. Vgl. Blatt: Schatten (wie Anm. 27), S. 206 ff. 31 Die Angaben über die Anzahl der Überlebenden gehen in der Forschung auseinander. Laut Toivi Blatt überlebten circa 53 Menschen, davon 8 Frauen (von 6 Frauen sind Schil­ derungen der Geschehnisse überliefert). Vgl. Bruder: »Hunderte solcher Helden« (wie Anm. 26), S. 125. – Barbara Distel spricht von 46 Überlebenden, davon 9 Frauen. Vgl. Distel: Sobibór (wie Anm. 19), S. 376. – Yitzhak Arad spricht von 50 bis 70 Überle­ benden. Vgl. Arad: Bełżec (wie Anm. 4), S. 364. – Eine ausführ­­liche Aufzählung mit Kurzbiografie der ihm bekannten Überlebenden präsentiert Jules Schelvis in seinem Buch Vernichtungslager Sobibór. Darin benennt er 47 Namen, ohne sich selbst mitzuzählen. Somit geht er von 48 Überlebenden aus. Vgl. Schelvis: Vernichtungslager Sobibór (wie Anm. 15), S. 273 – 286. 32 Vgl. Annika Wienert: Das Lager vorstellen. Die Architektur der na­­tionalsozia­listischen Vernichtungslager. Berlin 2015, S. 120; Arad: Bełżec (wie Anm. 4), S. 171. 33 Vgl. Bruder: »Hunderte solcher Helden« (wie Anm. 26), S. 147 f.

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lassen, und nicht etwa den während der Dreharbeiten 1979 noch lebenden Anführer Aleksandr Pečërskij. Die vom Protagonisten des Films, Yehuda Lerner, detailliert geschilderte eigenhändige Ermordung eines SS-Mannes und die damit verbun­ dene Wehrhaftigkeit kommt einem israe­­lisch-­­jüdischen Gründungsmythos gleich.34 Wie eingangs erwähnt wurden in Sobibór insgesamt ­zwischen 150.000 und 250.000 Menschen ermordet. Diese Zahl leitet sich aus der Rekonstruk­­tion der Transporte und aus Berichten von polnischen Bahnarbeitern ab. Es sind keine Zeugnisse überliefert, die eine genauere Schätzung erlauben würden. Die meis­ ten Opfer waren polnische, daneben auch holländische, deutsche, franzö­­sische, tschechische, slowakische und sowjetische »Juden«.35 Die Zahl der Opfer in Sobibór macht circa ein Zehntel der während eines Zeitraums von 21 Monaten insgesamt 1,6 bis 2 Millionen im Zuge der sogenannten Ak­­tion Reinhard getöte­ ten Menschen in Bełżec, Sobibór und Treblinka aus. Die vergleichsweise hohe Zahl an Überlebenden eines Tötungsortes führte dazu, dass die Geschehnisse in Sobibór besser als etwa in Bełżec dokumentiert sind. Aus Bereich III, in dem die Tötungen durchgeführt wurden, entkam aller­ dings niemand. Für diesen Komplex existieren nur die Aussagen der Täter. Die Zeugenaussagen der ehemaligen Gefangenen von Sobibór führten im Sobibór-­ ­Hauptprozess, der vom 6. September 1965 bis zur Urteilsverkündung am 20. Dezem­ ber 1966 in Hagen stattfand, zur Verurteilung von sechs Tätern. Nur einer wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die Haftstrafe der anderen bewegte sich z­ wischen drei und acht Jahren.36 Von den zwölf Angeklagten wurden fünf aufgrund man­ gelnder Beweise freigesprochen. Einer verübte vor der Urteilsverkündung Suizid. Für den Prozess wurden 127 Zeugen befragt. Die Ermittlungen wurden dadurch erschwert, dass einer der beiden Anführer des Aufstands, Aleksandr Pečërskij, keine Ausreisegenehmigung aus der Sowjetunion erhielt. Es war ledig­­lich gestattet, Protokolle in den Prozess einzubeziehen, die von sowjetischen Behörden durch­ geführte Vernehmungen festhielten.37 34 Vgl. Köppen: Erinnerungslandschaften (wie Anm. 3), S. 81. 35 Michail Razgonjaev behauptet, dass ausschließ­­lich »Juden« in Sobibór ermordet worden ­seien. Vgl. Interroga­­tion (wie Anm. 11). – Höchstwahrschein­­lich wurden ausnahmslos von den Na­­tionalsozia­listen als »Juden« bezeichnete Menschen in Sobibór getötet. Vgl. Distel: Sobibór (wie Anm. 19), S. 375. – Eine Tabelle über die vermuteten Todeszahlen eingeteilt nach Länderzugehörigkeit bietet Schelvis: Vernichtungslager Sobibór (wie Anm. 15), S. 272. 36 Die detaillierte Auflistung der Verurteilungen finden sich in Rückerl: Strafprozesse (wie Anm. 22), S. 85 f. 37 Aleksandr Pečërskij war Hauptbelastungszeuge bei einem 1962/63 in Kiew stattfindenden Prozess gegen einen »Trawniki-­­Mann«. Vgl. Bruder: »Hunderte solcher Helden« (wie

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Der Umgang mit dem Ort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Bereits 1945/46 fand ein erster Sobibór-­­Prozess in Polen statt.38 Für ihn wurde eine polnische Untersuchungskommission zum Gelände des einstigen Tötungsortes gesandt, um Spuren zu sichern. Trotz der Zerstörungen und der Tarnung durch die SS fand sie vor Ort noch Überreste einiger stark beschädigter Gebäude vor. Unter­ halb eines circa zwei Jahre alten Kiefernwalds entdeckte sie in nur etwa einem halben Meter Tiefe Asche und Knochenteile. Menschliche Überreste waren auf dem gesam­ ten Gelände zu finden. Außerdem stieß die Kommission auf eine Grube voll Chlor.39 In den folgenden Jahren wurde der Ort nicht weiter beachtet. Bis in die 1960er Jahre kamen ausschließ­­lich Grabräuber nach Sobibór. Anders als etwa in Auschwitz, wo bereits 1946 das polnische Ministerium für Kultur und Kunst (Ministerstwo Kul­ tury i Sztuki) den Schutz des Ortes und die Errichtung eines Museums in Auftrag gegeben hatte, wurde in Sobibór erst 1965 die erste Gedenkstätte eröffnet. Die Eröff­ nung fand im Zusammenhang mit den parallel verlaufenden Sobibór-­­Strafprozessen in Hagen und Krasnodar (UdSSR) statt.40 Auf Grundlage der Erkenntnisse des ers­ ten Sobibór-­­Prozesses von 1945/46 und mithilfe weiterer Zeugenaussagen fertigte man Skizzen des einstigen Vernichtungsortes an. Basierend auf diesen Entwürfen konzipierte Romuald Dylewski die erste Gedenkstätte in Sobibór.41 Er markierte den Ort mit drei Elementen: dem noch vorhandenen Bahnsteig, der den Eingangs­ bereich bildete, die durch Zeugenaussagen grob lokalisierten Erstickungskammern und die Aschegräber. Eine asphaltierte Straße (10 Meter breit und 550 Meter lang) verband diese drei Elemente miteinander. Sie repräsentierten die Sta­­tionen, ­welche die in Sobibór getöteten Menschen hatten durchlaufen müssen. Im Bereich der ­Erstickungskammern befand sich ein 30 mal 30 Meter großer asphaltierter Platz, über den die Straße verlief. Hierfür wurde symbo­­lisch ein steinerner Quader (4 mal 4 Meter Grundfläche und 8 Meter Höhe) gesetzt. Direkt neben ­­diesem Quader befand sich die Statue einer sterbenden Frau mit einem Kind (Abb. 1).42 Das Gesicht Anm. 26), S. 169. 38 Vgl. Marek Bem/Wojciech Mazurek: Sobibór. Archaeological Research Conducted on the Site of the Former German Extermina­­tion Centre in Sobibór 2000 – 2011. Warschau/ Włodawa 2012, S. 27 ff. 39 Vgl. Wienert: Das Lager (wie Anm. 32), S. 120. 40 In Bełċez wurden 1963 und in Treblinka 1964 die ersten Gedenkstätten errichtet. 41 Eine ausführ­­liche Beschreibung des Konzepts der ersten Gedenkstätte in Sobibór und die büro­ kratischen Vorgänge im Vorfeld sind ausführ­­lich nachzulesen bei Bem/Mazurek: Sobibór (wie Anm. 38), S. 42 ff. 42 Diese Statue wurde von Mieczysław Welter entworfen.

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Abb. 1  Frauenstatue mit Kind

der Frau beruhte auf der Totenmaske einer in Majdanek getöteten Frau.43 Auf dem Sockel stand: »In Gedenken an die von den Deutschen [Hitleristen] z­ wischen den Jahren 1942 und 1943 Ermordeten«.44 Von diesem ­­ Platz verlief die Straße neunzig Meter weiter und endete auf einer Lichtung. Hier wurden die Massengräber ver­ mutet.45 Der Fokus der Gedenkstätte lag auf dieser Stelle. Die dort zur Tarnung gepflanzten Bäume waren gefällt und ein Hügel als symbo­­lisches Massengrab erbaut 43 Vgl. Sabrina Lausen: Die Gedenkstätte Sobibór im Spannungsfeld ­zwischen polnischer und euro­päischer Erinnerungspolitik. In: Ekaterina Makhotina u. a. (Hrsg.): Krieg im Museum: Präsenta­­tionen des Zweiten Weltkriegs in Museen und Gedenkstätten des öst­­lichen Europa. Göttingen 2015, S. 313 – 333, hier S. 318. 44 Zit. nach Bem/Mazurek: Sobibór (wie Anm. 38), S. 42. – Polnische Übersetzung: »W hołdzie pomordowanym przez hitlerowców w latach 1942 – 1943«. 45 Im Konzept von Romuald Dylewski war angedacht, beim Eingang zur Lichtung und gut ver­ steckt hinter Bäumen eine öffent­­liche Toilette zu errichten. Vgl. ebd., S. 45.

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Abb. 2 

Das symbo­­lische Massengrab

worden, der aus eigens gesammelter Asche der Opfer angehäuft worden war (Abb. 2). Er war von einer runden Steinmauer mit einem Durchmesser von fünfzig Metern umrandet. Die Asche wurde mit Kies bedeckt. Ein Fenster ermög­­lichte den Blick in das Innere des Hügels.46 Zu sehen waren Knochen und ein Schädelfragment. Die­ ses Fenster wurde 1993 verschlossen, da es wiederholt Vandalismus zum Opfer fiel.47 Die Gedenkstätte befindet sich zurzeit in einem stetigen Wandel. So stehen noch Elemente der alten Gedenkstätte an ihrem ursprüng­­lichen Ort, andere sind für die archäolo­­gischen Grabungen versetzt oder zerstört worden. Teile der Asphaltdecke wurden aufgebrochen. So befindet sich etwa die Frauenstatue zurzeit im Eingangs­ bereich der Gedenkstätte. Am 27. Juni 1965 fand die feier­­liche Eröffnung der ersten Gedenkstätte statt, die vom Regionalkomitee für den Schutz der Denkmäler des Kampfes und des Martyriums (Wojewódzki Komitet Ochrony Pomników Walki i Męczeństwa w

46 Vgl. Jan Gryta: Gedenkstätten in den na­­tionalsozia­listischen Vernichtungslagern in den von Deutschland besetzten polnischen Gebieten. Die Geschichte der Erinnerung bis 1968. In: Bogusław Dybaś u. a. (Hrsg.): Gedenkstätten für die Zeit des Na­­tionalsozia­lismus in Polen und Österreich. Bestandaufnahme und Entwicklungsperspektiven. Frankfurt a. M. 2013, S. 71 – 90, hier S. 84. 47 Vgl. Lausen: Gedenkstätte Sobibór (wie Anm. 43), S. 319.

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Abb. 3  Die 2005 errichtete Gedenkallee

Lublinie) in Lublin organisiert worden war. Zum 50. Jahrestag des Aufstands in Sobibór 1993 wurde das erste Museum am Ort (Muzeum Byłego Hitlerowskiego Obozu Zagłady w Sobibórze) unter Leitung des Heimatmuseums von Włodawa (Muzeum Pojezierza Łęczyńsko-­­Włodawskiego) eröffnet. Das Bildungswerk Stanisław Hantz aus Hessen, die Stiftung Sobibór (Stichting Sobibór) aus den Niederlanden und die Gesellschaft für das Gedenken an Sobibór (Stowarzysze­ nia Upamiętniania Sobiboru) aus Polen legten 2005 einen Gedenkweg an, der zu beiden Seiten von Steinen mit Gedenktafeln gesäumt wurde (Abb. 3). Sie pflanz­ ten Nadelbäume, vor denen die Tafeln zum ersten Mal vor Ort den anonymen Opfern Namen gaben. Dieser Weg soll den einstigen Gang in die Erstickungsräume nachzeichnen. Seit Mai 2012 untersteht das Museum in Sobibór der Leitung des Staat­­lichen Museums Majdanek. Bei Bauarbeiten auf dem Gelände in Sobibór waren wiederholt Relikte aus der Zeit der massenhaften Tötungen gefunden worden. Es erschien deshalb drin­ gend notwendig, das Gebiet systematisch archäolo­­gisch zu untersuchen. Im Mai 2000 erfolgte die Genehmigung für Grabungen und im Oktober 2000 kamen die ersten Archäologen nach Sobibór. Ihr wichtigstes Ziel war es, die Überreste des Weges in die Erstickungsräume, die Erstickungskammern selbst und bislang unbekannte Massengräber aufzuspüren. Erst elf Jahre s­ päter, im Frühjahr 2011, konnten Archäologen Teile des dritten Bereiches ausfindig machen. Im Herbst

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desselben Jahres entdeckten sie Spuren des Weges in die Erstickungsräume. Im September 2014 wurden die bau­­lichen Überreste der Erstickungskammern frei­ gelegt. Sie befanden sich unterhalb der Asphaltdecke des Platzes, auf dem die Frauenstatue und der Quader zum Gedenken der Toten errichtet worden waren. Die vermutete Lage der Erstickungskammern, die dem Bau der ersten Gedenk­ stätte zugrunde lag, kam dem tatsäch­­lichen Ort zwar nahe, stimmte jedoch nicht genau damit überein. Der Turm, der den einstigen Standort der Erstickungs­ kammern markieren sollte, steht bis heute an seiner ursprüng­­lichen Stelle und musste für die Ausgrabungen der Kammern nicht bewegt werden. Im Anschluss an die Entdeckungen der Erstickungskammern wurden außerdem Überreste der ­Baracken des Sonderkommandos entdeckt und ein von den Gefangenen gegrabener Fluchttunnel. Diesen hatten sie jedoch nicht für einen Ausbruch ­­nutzen können, da ihr Vorhaben entdeckt und sie erschossen worden waren. Die Archäologen legten immer wieder Massengräber während ihrer Grabungen frei. Zahlreiche Aspekte erschwerten die Arbeit der Forscher: So überdeckte die Gedenkstätte aus dem Jahre 1965 Teile des Geländes, die für die Archäologen von besonderer Bedeutung waren. Die Asphaltschicht und die Denkmäler mussten zunächst abgetragen werden, um den Untergrund untersuchen zu können. Ein Teil der Bäume, die heute stille Zeugen der Tarnung durch die Na­­tionalsozia­ listen sind, mussten bei Grabungen weichen. Hinzu kommt, dass es nach jüdi­ schem Gesetz strengstens untersagt ist, Gräber zu bewegen und die Totenruhe zu stören.48 Weitere Probleme für die archäolo­­gische Arbeit ergaben sich daraus, dass das Areal des ehemaligen Tötungsortes nur teilweise dem Museum gehört. Andere Bereiche sind Eigentum eines Forstbetriebs sowie der polnischen Bahn, und wieder andere sind Privatgelände, auf denen teilweise Wohnhäuser stehen. So wohnt in der ehemaligen Villa des Lagerkommandanten der Bürgermeister von Sobibór mit seiner Familie. Die Gedenkstätte strebt an, diese Grundstücke zu erwerben und in den Gedenkkomplex zu integrieren. Die Archäologen stießen bei ihren Ausgrabungen auf zahlreiche andersartig gefärbte Strukturen im Boden. Diese sind die einstigen Löcher der Zaunpfähle, die nach ihrer Entfernung meist mit Erde gefüllt wurden. Dadurch entstand eine Art Negativ der einstigen Befestigungen. Es lässt sich erkennen, wie viele Zaunpfähle es gab und in welchem Abstand sie zueinander angeordnet waren. Die Überreste 48 Ein Beauftragter des Holocaust-­­Museums in Washington, Rabbi Schudrich, formulierte bei einer Begehung von Bełżec die für ihn wichtigen Richtlinien, w ­ elche bei den Ausgrabungen zu beachten sind: »No human remains are to be disturbed during the excava­­tions and it is unac­ ceptable for visitors to walk over the mass graves.« Zit. nach Bem/Mazurek: Sobibór (wie Anm. 38), S. 91.

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zeigen, dass der einstige Weg in die Erstickungskammern 4 Meter breit war und an beiden Seiten von 50 Zentimeter starken Zäunen aus Holz und Stacheldraht gesäumt war. Diese Erdfunde sind wichtige Zeugnisse, bedürfen aufgrund ihrer Witterungsempfind­­lichkeit jedoch einer Konservierung. Die Archäologen konnten bislang keine Überreste von den Friseurbaracken entlang des Weges der Frauen in die Erstickungskammern finden. Sie stießen allerdings auf die Fundamente der Erstickungskammern. An den Ecken der rechteckig angelegten Mauern sind Sprengungskreise in Form von schwarzen Rändern zu erkennen. Es sind jeweils rechts und links vier Kammern pro Seite durch einen Mittelgang verbunden. Die Erstickungsräume, die bereits ab April 1942 genutzt wurden, waren aus Stein; die im Sommer 1943 angebauten Kammern aus Ziegeln. Die Außenwände der einzelnen Kammern waren nach innen gewölbt, und abschüssiger Betonboden erleichterte die Reinigung. Das Tötungsareal erstreckte sich maximal auf eine Fläche von 15 mal 15 Meter. Erst die Ausgrabungen erlauben eine Rekonstruk­­tion der bau­­lichen Struktur des Tötungsortes. Nun ist nicht mehr der zur Tarnung angelegte Wald die wichtigste Hinterlassenschaft der Täter.

Die Neugestaltung der Gedenkstätte Im Januar 2013 wurde ein Wettbewerb zur Neugestaltung der Gedenkstätte ausge­ schrieben und im Juli desselben Jahres die eingegangenen Entwürfe prämiert.49 Es gewann das Konzept der Architekten Marcin Urbanek, Piotr Michalewicz sowie des Historikers und Künstlers Łukasz Mieszkowski. Für sie ist der wichtigste Gedanke hinter der Gestaltung der neuen Gedenkstätte der Schutz der Opfer.50 Im Judentum haben die Lebenden die Pflicht, die Toten zu begraben und deren sterb­­liche Überreste zu beschützen. Dabei müssen die Welten der Toten und Lebenden strikt getrennt bleiben. Die Toten zu exhumieren und zu kremieren, wird als eine Schändung empfunden. In Sobibór hat demnach die Kränkung der Opfer nicht mit ihrem Tod aufgehört. Die Täter exhumierten bereits zahlreiche 49 Der Wettbewerb ging aus von einem Komitee, das aus Vertretern der polnischen, israe­­lischen, slowakischen und niederländischen Regierungen bestand. Organisiert wurde dieser Wettbe­ werb vom Staat­­lichen Museum Majdanek und der Stiftung Polnisch-­­Deutscher Versöhnung. Vgl. Zuzanna Dziuban: Polish Landscapes of Memory at the Sites of Extermina­­tion. The Politics of Framing. In: Estela Schindel/Pamela Colombo (Hrsg.): Space and the Memories of Violence. Landscapes of Erasure, Disappearance and Excep­­tion. London/New York 2014, S. 34 – 47, hier S. 41. 50 Die folgenden Ausführungen beruhen auf mehreren Interviews der Autorin mit Łukasz ­Mieszkowski, dem an dieser Stelle für seine Gesprächsbereitschaft gedankt sei.

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Opfer, kremierten sie und beerdigten sie im Anschluss ein zweites Mal. Die erste Gedenkstätte von 1965 lud die Besucher geradezu ein, über die menschlichen Überreste der Verstorbenen zu gehen. Der Weg auf der Lichtung hin zum aufge­ schütteten Aschehügel führte selbst mitten über ein Massengrab. Ein zweiter Aspekt, der für die Neukonzep­­tion der Gedenkstätte von großer Bedeutung ist, stellt der Umgang mit den Besuchern dar. Bisher sind sie zumindest symbo­­lisch entlang der 2005 errichteten Gedenkallee den letzten Weg der Opfer nachgegangen. Dem Vorsatz folgend, den Toten einen eigenen Bereich zuzusprechen und den Ort der Toten von dem der Lebenden zu separieren, war die erste Idee der Gestalter, das Massengrab komplett von den Besuchern abzutrennen. Es sollte nicht betreten und auch nicht gesehen werden. Gegen diesen Entwurf wurde allerdings ein­ gewandt, dass seine Radikalität bei den Besuchern Unverständnis hervorrufen könne. Ein Kompromiss sah die Kennzeichnung des einstigen Weges in die Erstickungs­ räume durch zwei Mauern vor. Diese sollten sich erhöht auf einem Kiesgrund erstrecken. Der Weg dorthin wäre also nicht völlig unmög­­lich, aber deut­­lich erschwert gewesen. Der Zwischenraum beider Mauern entlang des einstigen Weges in die Erstickungskammern hätte sich kontinuier­­lich verengt, und zwar so, dass beide Mauern schließ­­lich aufeinander gestoßen wären. Durch diese Art der Verengung sollte den Opfern symbo­­lisch auf ihrem Gang der letzte Ausweg ver­ sperrt werden, wie es auch tatsäch­­lich für sie der Fall gewesen war. Dieser Weg der Totgeweihten sollte von den Besuchern aus Distanz betrachtet, jedoch nicht selbst nachgegangen werden. Für die Besucher hätte es den Ausweg gegeben. Gleichzei­ tig wären die Sterbenden nicht alleingelassen worden, da die Besucher ihnen aus der Entfernung hätten gedenken können. Auf diese Weise sollten die getöteten Menschen ihre geraubte Würde wiedererlangen. Die Installa­­tion der zwei Mauern hätte sich nicht entlang jener Gedenkallee vollzogen, die 2005 angelegt wurde, weil es sich bei ihr nicht um den historischen Weg in die Erstickungsräume han­ delt. Das Schicksal der Gedenkallee von 2005 ist noch ungewiss. In der Zwischenzeit wurde allerdings die Idee der zwei Mauern, die sich zu einer Mauer vereinen, wieder verworfen. Aktuell sehen die Pläne nur den Bau einer Mauer vor. Außerdem wurde der Besucherweg sehr nahe an die Mauer verlegt. Das sumpfige Gebiet erlaubt keine andere Variante. Es kann vielmehr als glück­­licher Umstand bezeichnet werden, dass der Untergrund den Bau der Mauer überhaupt oberhalb des einstigen Weges in die Erstickungskammern ermög­­licht. Die Mauer stellt eine sichtbare Barriere z­ wischen Leben und Tod dar, kann angefasst und sinn­­lich erfahren werden. Dies entspricht zwar nicht der eigent­­lichen Inten­­tion der Gestalter, wird aber von den Auftraggebern befürwortet. Für lange Zeit waren die Bäume die wichtigsten sichtbaren Überreste der Ver­ brechen der Na­­tionalsozia­listen in Sobibór. Sie sollen auch in der neu gestalteten

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Gedenkstätte eine wichtige Rolle spielen. Allerdings versuchen die Gestalter ihnen etwas von ihrer idyl­­lischen Anmutung zu nehmen. So wird die weiße Mauer dem dunklen Holz der Nadelbäume gegenübergestellt. Der Weg führt den Besucher bis zu einem Spalt in der Mauer, durch den er die Grabstelle sehen, aber nicht betreten kann. Die Mauer wird um die Lichtung herum fortgeführt und schützt diesen Ort vor unbedachtem Betreten. Der Sichtspalt sollte ursprüng­­lich so schmal sein, dass nur eine Person hätte hindurchschauen können und alleine mit dem Anblick des Massengrabs konfrontiert worden wäre. Die Jury des Wettbewerbs für die Neuge­ staltung würdigte zwar die Symbolkraft ­dieses Elementes, bat aber dennoch um Änderungen. Der gefundene Kompromiss sieht nun vor, dass die Öffnung deut­­lich größer (32 Meter)51 sein wird. Dem Besucher wird somit ein freier und ungestörter Blick auf die Massengräber ermög­­licht. Die Trennung z­ wischen Gedenkplatz und Massengrab soll durch einen leichten Farbunterschied des Untergrunds deut­­lich werden. Der Aschehügel auf der Lichtung aus der Gedenkstätte von 1965 wird an seinem ursprüng­­lichen Ort in das neue Projekt integriert. Beide werden mit weißen Steinen bedeckt sein. Dies geschieht in Anlehnung an die fast weiße Farbe der Mauer. Bei Ankunft an der Gedenkstätte sollen die Besucher als erstes das Museums­ gebäude erblicken. Am Platz vor dem Gebäude soll auf der einen Seite nur wenige Meter vom Museum entfernt die Mauer beginnen. Das einfach gehaltene einstöckige Gebäude, dessen Fassade eine Holzoptik hat, wird niedriger als die Mauer sein. Es soll der Eindruck entstehen, dass die Mauer wichtiger sei und das Museum in deren Schatten stehe. Diese Idee, dass das Gedenken wichtiger sei als das Lernen über den Ort, gilt im übertragenen Sinne für die gesamte Gedenkstättengestaltung. Von einer nörd­­lichen Glaswand des Museums eröffnet sich für Besucher der Blick auf die Mauer und die Lichtung. Während sie im Gebäude eine Ausstellung über die Shoah betrachten, wird im Hintergrund der historische Tötungsort sicht­ bar sein. Durch die gegenüberliegende größere süd­­liche Glasfront des Museums wird sich der Blick auf das Areal des ehemaligen Bereiches II richten, in dem der Aufstand begann, und auf den Wald, in dem sich die Gefangenen auf ihrer Flucht versteckten. Die Besucher werden auf diese Weise im Museum mit zwei gegensätz­­ lichen Erfahrungen der Gefangenen konfrontiert: auf der einen Seite der durch die Mauer symbolisierte Weg in die Erstickungsräume und der damit verbundene Tod, auf der anderen Seite der Ort des Widerstands und der Weg in die Freiheit. Die Gestalter der Gedenkstätte erhielten nach Beendigung des Wettbewerbs den Auftrag, zusätz­­lich einen Lehrpfad in ihr Konzept zu integrieren. Hier sol­ len Informa­­tionen zur Topografie des Ortes für Besucher bereitgestellt werden.

51 Vgl. Dziuban: Polish Landscapes (wie Anm. 49), S. 43.

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Die Gedenktafeln sollen sich entlang der Mauer befinden. Auch hier zeigt sich, dass der Fokus bei der Neugestaltung der Gedenkstätte auf dem Gedenken und weniger auf den Lernorten liegt. Das Museum ist als Ergänzung zur Gedenkstätte gedacht. Ganz in der Nähe des Museums erinnert ein kleiner Platz daran, dass an ­­diesem Ort die Frauen und Kinder von ihren Männern getrennt wurden. Hier wird die Frauenstatue aus den 1960er Jahren ihren Platz erhalten. Die ursprüng­­liche Neukonzep­­tionierung der Gedenkstätte musste aufgrund der außerordent­­lichen archäolo­­gischen Funde seit Planungsbeginn grundlegend überarbeitet werden. Die Gewinner der Ausschreibung haben sich durch ihre Teil­ nahme am Wettbewerb dazu verpflichtet, ihr Konzept an mög­­liche neue Funde anzupassen. Sie sind in ihrer Gestaltung somit nicht frei, sondern müssen mit diversen politischen Stellen kooperieren. Die Lichtung mit den Massengräbern ist durch die Entdeckungen bau­­licher Überreste der Erstickungskammern aus dem Fokus gerückt. Den Gestaltern ist allerdings die Stimmigkeit des gesamten Projekts wichtig. So werden die Überreste mit der bisherigen Konzep­­tion in Einklang gebracht, indem zum Beispiel mit dem gleichen Material gearbeitet wird. Eine erste Idee war es, das gesamte Areal mit Erde und darüber Kies zu bedecken, um damit die Funde zu s­ chützen. Auf dem Kies soll­ ten Platten verlegt werden, um die Lage und Größe der Erstickungs­kammern zu verdeut­­lichen. An nur wenigen Stellen sollten Glasboxen den Blick auf die bau­­lichen Überreste ermög­­lichen. Das Verdecken und die partielle Öffnung, w ­ elche die Sicht auf die Rudimente ermög­­licht, lassen sich mit der Mauer um die Lichtung und der dortigen Öffnung vergleichen. Die Glasboxen sind allerdings technisch schwer zu realisieren. Bei Sonnenschein können Reflexionen den Blick auf die Überreste ver­ hindern. In den Boxen würde sich Kondenswasser bilden, sodass sie klimatisiert sein müssten. Besonders von israe­­lischer Seite wurde gefordert, einen mög­­lichst großen Teil der Überreste im Original als sichtbare Beweise auszustellen. Die israe­­lischen Verhandlungspartner für die Gedenkstättengestalter sind Vertreter von Yad Vashem unter der Führung von Avner Shalev. Sie äußerten den Wunsch nach einer einzi­ gen großen Glasabdeckung. In Absprache mit Denkmalschützern präferieren die Gestalter allerdings einige kleinere Glasboxen, die den Blick auf einzelne Rudimente ermög­­lichen. Für sie steht der Schutz der Opfer im Fokus und nicht der Beweis. Der Kies oberhalb der zugeschütteten Bereiche der Erstickungskammern sollte der g­ leiche sein wie der auf der Lichtung. Er symbolisiert den Bereich der Toten. Die Funde der Tötungsräume befinden sich unterhalb des im ersten Konzept angedachten Gedenkplatzes, von dem aus die Besucher auf die Lichtung schauen könnten. Dieser Platz kann folg­­lich nicht realisiert werden. Hinter den Über­ resten der Erstickungsräume eröffnet sich den Besuchern der Blick auf die Lich­ tung. Es ist den Gestaltern wichtig, die geringe Größe der Tötungskammern im

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Abb. 4  Entwurf der neuen Gedenkstätte

Verhältnis zu den riesigen Massengräbern aufzuzeigen. Durch die Integra­­tion der Erstickungsräume in das Konzept würde der Blick vom nörd­­lich ausgerichteten Fenster im Museum nicht direkt auf die Lichtung zeigen, sondern die Gestaltung über den ehemaligen Erstickungskammern zu sehen sein. Der Weg der Besucher führt vom Blick auf die Massengräber zurück vor das Museum. Abbildung 4 zeigt links den Weg an den Fundamenten der Erstickungsräume vorbei zum Ausblick auf die Massengräber und rechts den Weg zurück. Die Zeichnung wurde über eine alte Skizze gelegt. Die im Zentrum des Bildes versetzte Andeutung eines Quaders gehört nicht zum Entwurf. Das Konzept der neuen Gedenkstätte berücksichtigt nicht alle neuen archäolo­­ gischen Funde. Die Reste der Sonderkommando-­­Baracken und des Fluchttunnels werden nicht in die Gedenkstätte integriert. Dieser Teil war zu keinem Zeitpunkt in der Gedenkstättenkonzep­­tion vorgesehen. Auf dem gesamten Areal wurde Asche der Getöteten entdeckt. Es ist unmög­­lich, all diese Funde in das Konzept einzuarbeiten.

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In Koopera­­tion mit Archäologen, Politikern und Historikern aus verschie­ denen Ländern wird weiterhin an einem neuen Konzept für Sobibór gearbeitet. Infolge der Wahlen, die im Herbst 2015 in Polen stattfanden, wurde Jarosław Sellin zum neuen Staatssekretär im Kulturministerium berufen und ist somit für die Verhandlungen mit den Gedenkstättengestaltern als Vertreter der polnischen Regierung verantwort­­lich. Wie er der Gedenkstättenkonzep­­tion gegenübersteht, ist noch offen, und bisher gibt es keinen neuen Termin zur Fertigstellung des Pro­ jekts. Ursprüng­­lich sollte die Gedenkstätte 2015 eröffnet werden. Die archäolo­­ gischen Funde führten aber dazu, dass sich die Realisierung deut­­lich verzögern wird. Zurzeit steht im Raum, dass Ende 2016 mit den Bauarbeiten des Museums begonnen werden könne, da dieser Teil der Neukonzep­­tion bereits beschlossen sei. Seit Ende 2015 sind die archäolo­­gischen Grabungen abgeschlossen, da die finanziellen Mittel erschöpft sind und die vorgesehenen Grabungen durchge­ führt wurden. Mit weiteren Neuentdeckungen auf dem Gebiet des geplanten Museumsgebäudes ist somit nicht zu rechnen. Der Umgang mit dem Ort des ehemaligen Tötungskomplexes in Sobibór verdeut­­licht, wie stark die Gestaltung einer Gedenkstätte Einfluss auf die Wahr­ nehmung des Areals nimmt. Die Gestaltung des Ortes hängt sowohl von den phy­­sischen Gegebenheiten vor Ort als auch von Aushandlungsprozessen von Künstlern, Politikern und Interessenverbänden ab. Der Kontrast z­ wischen dem neuen Konzept, der 1965 errichteten Gedenkstätte und der gänz­­lich fehlenden Gedenkstruktur in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten unterstreicht die zu Beginn angeführten Worte Claude Lanzmanns: Gedenkstätten können Erinnerung ebenso wie Vergessen erzeugen. Grundlegendes Wissen, wie der Verlauf des Weges in die Erstickungskammern oder deren Lage selbst wurden lange Zeit als bekannt präsentiert und in die ersten Gedenkstrukturen aufgenommen. Der Gedenkstätte von 1965 fehlten jeg­­liche Erläuterungen, und es war dem Besucher kaum mög­­lich, sich den Ort zu erschließen. Der Aschehügel täuschte vor, das Massengrab aus der Nähe und von sicherem Terrain aus betrachten zu können. Dass der Besucher auf dem Weg dorthin bereits über einen Teil des Massengrabs gegangen sein musste, war für ihn nicht ersicht­­lich. Der Fokus der neuen Gedenkstätte liegt deshalb auf der Wiederherstellung der Würde der Opfer, deren Totenruhe nicht gestört werden darf. Aber auch ­dieses Konzept trifft eine Auswahl der Orte, die erinnert werden sollen. Die ehemaligen Sonderkommando-­­Baracken und der Fluchttunnel sind beispielsweise nicht integriert. So verdeut­­licht die Neukonzep­­tionierung der Gedenkstätte von Sobibór nicht zuletzt, welch große Verantwortung die Gestalter von Gedenkstätten tragen.

Sarah Kunte

Das Staat­liche Museum Majdanek und die Frage nach dem Umgang mit bau­lichen Überresten des KZ Lublin Ich betrat ein Terrain, auf dem ich genau wusste, wohin ich gehen würde: in eines der Lager, das dort sein musste. Doch statt des Lagers erstreckten sich – von einem Horizont zum andern – ­Reihen, ein ganzer Wald von gemauerten Schornsteinen, die von den ­abgerissenen und verschwundenen Baracken übrig geblieben waren, und Betonpfosten, die einzustürzen drohten […] und ­Stücke ­rostiger Stacheldraht […]. [D]ies war nicht mehr die ­Metropole des Todes von früher. Es war eine verödete Landschaft. Aber alles war noch da, nur in einer Art Distanz der Verödung.1

Otto Dov Kulka, Historiker und Überlebender der Shoah, schildert mit diesen Worten die Eindrücke seiner ersten Rückkehr nach Auschwitz-­­Birkenau im Jahr 1978. Er habe als Überlebender für sich beschlossen, nach diesem ­­ einen Besuch nicht mehr an den Ort zurückzukehren, den er selbst als »verödete Landschaft« beschreibt. Denn dieser sei nun ein völlig veränderter, ein anderer als noch zur Zeit des Lagers. Allerdings ­seien Kulka das Betreten und die Auseinandersetzung mit dem Terrain durch dessen äußer­­lichen Verfall emo­­tional deut­­lich leichtergefallen. Als Historiker wolle und könne er jedoch kein allgemeingültiges Urteil über die grundlegende Veränderung des Geländes fällen, da die Wahrnehmung dessen in höchstem Maße subjektiven Wahrnehmungen unterliege.2 Mit dieser Äußerung befindet sich Otto Dov Kulka inmitten der Debatte um Erhalt, Rekonstruk­­tion, Sanierung und bau­­liche Veränderung von Überresten 3 auf dem Gelände ehemaliger na­­tionalsozia­listischer Lager und Tötungsstätten – einer Debatte, die vor allem durch den immer größeren Stellenwert bedingt ist, den die 1 Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft. München 2013, S. 20 f. 2  So Otto Dov Kulka während der Präsenta­­tion seines Buches Landschaften der Metropole des Todes an der Friedrich-­­Schiller-­­Universität Jena am 6. Mai 2015. 3 Der Begriff »Überreste« wird im Droysen’schen Sinn verstanden als »[h]istorisches Mate­ rial […], was aus jenen Gegenwarten, deren Verständniss [sic!] wir suchen, noch unmittelbar vorhanden ist«. Er bezieht sich auf alle nach der Lagerauflösung noch vollständig oder fragmen­ tarisch in ihrer originalen Bausubstanz vorhandenen Objekte. Johann Gustav ­Droysen: Grundriss der Historik. Leipzig 31882, S. 14.

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Präsenta­­tion von Relikten in heutigen Gedenkstätten einnimmt. Den Grund für diese Bedeutungszunahme sieht Olaf Mußmann hauptsäch­­lich im »Mangel […] an authentischer KZ-Architektur«, der dem Verfall oder Abriss von nur spär­­lich vorhandener, historischer Bausubstanz geschuldet sei.4 Insbesondere im Rahmen von Neueröffnungen oder Neukonzep­­tionen von Gedenkorten werden deshalb immer wieder verschiedene Mög­­lichkeiten des Umgangs mit den bau­­lichen Über­ resten diskutiert,5 wobei sich unterschied­­liche Posi­­tionen abzeichnen. So spre­ chen sich deutsche Wissenschaftler größtenteils gegen (Teil-)Rekonstruk­­tionen von historischen Gebäuden auf dem Gelände ehemaliger Konzentra­­tionslager und Tötungsorte aus: In seiner Dokumenta­­tion über die Außengestaltung des

4 Olaf Mussmann: Die Gestaltung von Gedenkstätten im historischen Wandel. In: KZGedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): Museale und mediale Präsenta­­tionen in KZ-Gedenk­ stätten (= Beiträge zur Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Verfolgung in Norddeutsch­ land, 6). Bremen 2001, S. 14 – 33, hier S. 23. – Unter Berücksichtigung der jüngeren Forschung wird im vorliegenden Beitrag von einer Benennung der noch vorhandenen Lagerzeit-­­Objekte als »authentische Bebauung« abgesehen; sie werden stattdessen als »historisch« bezeichnet. Vgl. zur Problematisierung des Begriffes der »Authentizität« in Bezug auf Überreste ehemaliger na­­tionalsozia­listischer Konzentra­­tionslager und Tötungsorte insbesondere Insa Eschebach/ Andreas Ehresmann: »Zeitschaften«. Zum Umgang mit bau­­lichen Relikten ehemaliger Konzentra­­tionslager. In: Petra Fank/Stefan Hördler: Der Na­­tionalsozia­lismus im Spiegel des öffent­­lichen Gedächtnisses. Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens. Berlin 2005, S. 111 – 120 sowie Aleida Assmann: Das Gedächtnis der Orte – Authentizität und Gedenken. In: dies./Frank Hiddemann/Eckhard Schwarzenberger (Hrsg.): Firma Topf & Söhne – Hersteller der Öfen für Auschwitz. Ein Fabrikgelände als Erinnerungsort? Frankfurt a. M. 2002, S. 197 – 212. – Mit dem Problem der »Authentizität« hat sich ebenfalls Detlef Hoffmann umfassend auseinandergesetzt. Vgl. Detlef Hoffmann: Authentische Erinnerungsorte oder: Von der Sehnsucht nach Echtheit und Erlebnis. In: Hans-­­Rudolf Meier/Marion Wohlleben (Hrsg.): Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege. Zürich 2000, S. 31 – 45; Detlef Hoffmann: Das Gedächtnis der Dinge. In: ders. (Hrsg.): Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945 – 1995. Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 6 – 35. – Zur Differenzierung von »authentischen« und »historischen« Orten vgl. Volkhard Knigge: Gedenkstätten und Museen. In: Norbert Frei/Volkhard Knigge (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Aus­ einandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, S. 378 – 389, hier S. 387. 5 Exemplarisch sei auf die Tagungen »Sanierung – Rekonstruk­­tion – Neugestaltung. Zum Umgang mit historischen Bauten in Gedenkstätten« sowie »Neue Ansätze zur Präsenta­­tion regionaler NS-Geschichte in Museen, Dokumenta­­tions- und Gedenkstätten« verwiesen. Vgl. zu den genauen Inhalten Gabriele Hammermann/Dirk Riedel (Hrsg.): Sanierung – Rekonstruk­­tion – Neugestaltung. Zum Umgang mit historischen Bauten in Gedenkstätten. Göttingen 2014; Wolfgang Brandes: Tagungsbericht: Neue Ansätze zur Präsenta­­tion regionaler NS-Geschichte in Museen, Dokumenta­­tions- und Gedenkstätten, 05. 05. 2012 Han­ nover. In: H-Soz-­­u-­­Kult vom 13. Oktober 2012, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-­­berlin. de/tagungsberichte/id=4410, letzter Zugriff: 07. 03. 2015.

Das Staat­liche Museum Majdanek  | 169

ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Sandbostel weist Andreas Ehresmann etwa darauf hin, dass der Verzicht auf Rekonstruk­­tionen eine Prämisse im Umgang mit den historischen Objekten gewesen sei. Stattdessen stellt er mit der »Schaffung von ahistorischen Situa­­tionen« und dem »kontrollierten Verfall« zwei alter­ native Konzepte für bau­­liche Überreste vor und empfiehlt darüber hinaus das Aufzeigen und Erläutern von Spuren der unterschied­­lichen Nutzungsschichten.6 Eine ähn­­liche Posi­­tion vertrat bereits 1995 der wissenschaft­­liche Fachbeirat zur Neukonzep­­tion der KZ-Gedenkstätte Dachau, der für eine Sichtbarmachung des Ortes mithilfe von Informa­­tionstafeln eintrat, gleichzeitig aber auch für einen »Verzicht auf Rekonstruk­­tionen und Inszenierungen« plädierte.7 Der US-amerikanische Historiker Harold Marcuse hingegen sieht sich selbst in einer Gegenposi­­tion zu seinen deutschen Kollegen, indem er für ein Rekons­ truieren als Mittel zum Kennt­­lichmachen bewusst zerstörter Zeugnisse eintritt. Natür­­lich müssten »künst­­liche Nervenkitzel nach Disney- oder Hollywood-­ ­Art« vermieden werden, dies stehe jedoch nicht im Widerspruch zu »vorsich­ tigen Rekonstruk­­tionen«, die helfen könnten, die Geschichte des Ortes besser zu erfassen.8 Gleichzeitig schlägt aber auch er eine genaue Dokumenta­­tion und Präsenta­­tion der Spuren von Zwischennutzungen und Verfall vor, »um die jet­ zige Gestaltung als eine Mög­­lichkeit unter vielen darzustellen«.9 Darüber ­hinaus weist Marcuse auf die höchst heterogene Gruppe der Rezipienten hin und gibt zu bedenken, dass sich eine realitätsnahe, teils rekonstruierte Gestaltung des Gedenkstättengeländes für unbefangene Besucher eigne.10 6 Vgl. Andreas Ehresmann: Rekonstruk­­tion oder Sanierung des Bestandes? Der Umgang mit den historischen Gebäuden des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Sandbostel. In: ­Gabriele Hammermann/Dirk Riedel (Hrsg.): Sanierung – Rekonstruk­­tion – Neu­ gestaltung. Zum Umgang mit historischen Bauten in Gedenkstätten. Göttingen 2014, S. 134 – 150, hier S. 146 – 150. – Als »Schaffung von ahistorischen Situa­­tionen« bezeichnet Ehresmann die Wiederherstellung einer Situa­­tion bzw. Konstella­­tion, die es in dieser Weise nie in ein und derselben Bauphase gegeben hat. Dem »kontrollierten Verfall« wurden in Sandbostel zwei Baracken preisgegeben, wobei der Prozess durch einige eingreifende Maß­ nahmen verzögert und somit gleichzeitig »kontrolliert« werde. Der Verfall der Objekte werde dabei fotografisch dokumentiert. 7 KZ-Gedenkstätte Dachau: Empfehlungen für eine Neukonzep­­tion, vorgelegt vom wissen­ schaft­­lichen Fachbeirat. München 23. 5. 1996, S. 2, zit. nach: Ludwig Eiber: Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Dachau. In: Gedenkstättenrundbrief 114 (2003), S. 14 – 22, hier S. 14. 8 Harold Marcuse: Nicht Rekonstruieren, sondern Rezep­­tionsspuren sichtbar werden lassen. Thesen zur Gestaltung der Überreste des »Kräutergartens«. In: Gabriele H ­ ammermann/ Dirk Riedel (Hrsg.): Sanierung – Rekonstruk­­tion – Neugestaltung. Zum Umgang mit his­ torischen Bauten in Gedenkstätten. Göttingen 2014, S. 50 – 6 4, hier S. 59. 9 Ebd., S. 64. 10 Vgl. ebd., S. 50.

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Im folgenden Beitrag wird eben diese Frage des Umgangs mit bau­­lichen Über­ resten auf dem Gelände ehemaliger na­­tionalsozia­listischer Konzentra­­tionslager und Tötungsorte am Beispiel des Staat­­lichen Museums Majdanek diskutiert. Wie wurde in den mehr als siebzig Jahren seit der Auflösung des KZ Lublin mit den Objekten verfahren und wie ist die aktuelle Handhabe? Werden Veränderun­ gen von Gebäuden transparent gemacht, und gibt es darüber eine (öffent­­liche) Auseinandersetzung? Anhand dieser Fragestellungen erfolgt die Betrachtung der Gedenkstätte seit ihrer Einrichtung im Herbst 1944, wobei zuvor ein skiz­ zenhafter Abriss über die Geschichte des Lagerkomplexes Lublin-­­Majdanek prä­ sentiert wird. Bereits hier liegt der Fokus auf der Topografie und der Bebauung des Geländes. Den Gegenstand der zentralen Analyse bilden drei verschiedene Konzepte zur Gestaltung der Museumslandschaft aus den Jahren 1949, 1961 und 2008 sowie die Auswertung museumseigener Publika­­tionen und der offiziellen Internetpräsenz der Gedenkstätte. Auch hier steht der Informa­­tionsgehalt zum Umgang mit Überresten aus der Lagerzeit im Vordergrund. Letzt­­lich sollte eine Posi­­tionsbestimmung des Staat­­lichen Museums Majdanek innerhalb der eingangs vorgestellten Rekonstruk­­tionsdebatte mög­­lich sein. Mit der bewussten Veränderung bau­­licher Überreste am konkreten Beispiel Majdanek haben sich bislang zumeist die Mitarbeiter des Staat­­lichen Museums selbst auseinandergesetzt. Dabei sind vor allem die Arbeiten von Tomasz Kranz und Danuta Olesiuk hervorzuheben, die innerhalb der letzten zehn Jahre publi­ ziert wurden.11 Diese liefern detaillierte Einblicke in bisherige Umgestaltungspläne und die Vorhaben zur aktuellen Neukonzep­­tion, woran die vorliegende Studie anknüpft. Eine Vielzahl von Beiträgen findet sich außerdem in den seit 1965 in unregelmäßigen Abständen herausgegebenen Zeszyty Majdanka (MajdanekH ­­ eften).12 Auch zum KZ Lublin im Zeitraum seines Bestehens von 1941 bis 1944 gibt es mittlerweile zahlreiche Arbeiten, die unterschied­­liche Schwerpunkte setzen.

11 Vgl. Tomasz Kranz: Zur Neukonzep­­tion der Außengestaltung der Gedenkstätte Majdanek. In: Bogusław Dybaś u. a. (Hrsg.): Gedenkstätten für die Zeit des Na­­tionalsozia­lismus in Polen und Österreich. Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven. Frankfurt a. M. 2013, S. 199 – 216; Danuta Olesiuk: Zwischen Konservierung und Rekonstruk­­tion: Die Gestal­ tung der Kulturlandschaft am Beispiel des Staat­­lichen Museums Majdanek. In: ebd., S. 93 – 113; Tomasz Kranz/Danuta Olesiuk: The Shaping of the Majdanek Historic Landscape and Making it into a Museum. In: Wilfried Wiedemann/Joachim Wolschke-­­Bulmahn (Hrsg.): Landschaft und Gedächtnis. Bergen-­­Belsen, Esterwegen, Falstad, Majdanek. München 2011, S. 211 – 227. 12 Eine Auflistung aller Hefte mit den entsprechenden Inhaltsverzeichnissen findet sich auf der offiziellen Webseite der Gedenkstätte, URL: http://www.majdanek.eu/articles.php?acid=25, letzter Zugriff: 20. 11. 2015.

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Zur Gesamtgeschichte des Lagerkomplexes sei vor allem auf Józef M ­ arszałeks Monografie Majdanek 13 und Tomasz Kranz’ Beitrag Lublin-­­Majdanek – Stammlager 14 im mehrteiligen Sammelband Der Ort des Terrors verwiesen. Kranz setzt sich darüber hinaus in Das KL  Lublin – z­ wischen Planung und Realisierung 15 explizit mit der Vorgeschichte und der Entstehung des Lagers auseinander. Mit dem Funk­­tionswandel des Komplexes seit 1942 beschäftigt sich Barbara Schwindt intensiv.16 Auch erschienen einzelne Arbeiten, die sich besonders mit den SS-Auf­ seherinnen 17 oder dem Massenmord an den euro­päischen Juden beschäftigen.18

KZ Lublin-­Majdanek 1941 – 1944 Der Befehl zum Bau eines Lagers in unmittelbarer Nähe zur Stadt Lublin wurde am 20. Juli 1941 bei einem Ortsbesuch Heinrich Himmlers gegeben. Geplant war zunächst eine Belegstärke von 25.000 bis 50.000 Gefangenen »zum Einsatz für Werkstätten und Bauten der SS«.19 Seit Ende des Polenfeldzugs kam dem Distrikt Lublin innerhalb des Generalgouvernements eine zentrale Bedeutung für die na­­tio­ nalsozia­listische Judenverfolgung sowie die rassistische Umstrukturierungspolitik

13 Józef Marszałek: Majdanek. Konzentra­­tionslager Lublin. Warschau 1984. 14 Tomasz Kranz: Lublin-­­Majdanek – Stammlager. In: Wolfgang Benz/Barbara ­Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, Bd. 7: Niederhagen/Wewelsburg, Lublin-­­Majdanek, Arbeitsdorf, Herzogenbusch (Vught), Bergen-­­ Belsen, Mittelbau-­­Dora. München 2008, S. 33 – 84. 15 Ders.: Das KL Lublin – z­ wischen Planung und Realisierung. In: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hrsg.): Die na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager – Entwicklung und Struktur, Bd. 1. Göttingen 1998, S. 363 – 389. 16 Vgl. Barbara Schwindt: Das Konzentra­­tions- und Vernichtungslager Majdanek. Funk­­ tionswandel im Kontext der »Endlösung«. Würzburg 2005. 17 Vgl. Elissa Mailänder Koslov: Gewalt im Dienstalltag. Die SS-Aufseherinnen des Konzentra­­tions- und Vernichtungslagers Majdanek. Hamburg 2009. 18 Vgl. Tomasz Kranz: Die Vernichtung der Juden im Konzentra­­tionslager Majdanek. Lublin 2007. – Die Bezeichnungen »Jude« und »Jüdin« werden in diesem ­­ Text in dem Bewusst­ sein gebraucht, dass diese Angaben im Einzelfall oftmals nicht dem Selbstverständnis der so Benannten entsprachen. Häufig handelte es sich um eine Zuschreibung der Na­­tionalsozia­listen nach rassistischen Kriterien – festgelegt etwa durch die »Nürnberger Gesetze« von 1935. Vgl. zur Begriffsproblematik ausführ­­lich den Beitrag von Raphael Utz in ­­diesem Band. 19 Himmlers Vermerk vom 21. Juli 1941 über die am 20. Juli 1941 ausgesprochenen Befehle. Bundesarchiv Berlin, Bestand ehemaliges Berlin Document Center (BAB/BDC), Personal­ akte Odilo Globocnik, zit. nach: Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung. Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts- Verwaltungshauptamt 1933 – 1945. Paderborn u. a. 2001, S. 366.

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zu.20 Das neu errichtete Lager sollte nun als »Arbeitskräftereservoir« der SS die­ nen. In den am 22. und 27. September 1941 von Hans Kammler, Chef des mit der Baudurchführung beauftragten Amtes II im SS-Hauptamt Haushalt und Bauten, erteilten Befehlen wurde die Zahl der Inhaftierten auf 50.000 festgesetzt. Die Umsetzung begann am 7. Oktober 1941;21 bereits am 1. September waren die ersten SS-Männer aus dem Konzentra­­tionslager Buchenwald in Majdanek eingetroffen.22 Die Pläne wurden im folgenden halben Jahr erneuert und die vorgesehene Kapazität vergrößert, bis am 23. März 1942 der erste Lagerkommandant Karl Otto Koch eine Stärke von 250.000 Gefangenen genehmigte. Bereits einen Monat s­ päter wurde die Belegstärke wieder auf 50.000 korrigiert.23 Letzt­­lich wurde keiner der Pläne vollständig umgesetzt – 1944 existierten sechs sogenannte Häftlingsfelder; mit etwa 25.000 erreichte die Zahl der Inhaftierten im Mai 1943 die Endkapazität und ihren Höchststand.24 Bereits hier zeigt sich der instabile und durch Improvisa­­tion geprägte Charakter des KZ Lublin, der darüber hinaus anhand der ständigen Funk­­tionsänderung und -erweiterung zu erkennen ist: Insgesamt kamen dem Lagerkomplex Aufgabenberei­ che eines Kriegsgefangenen, Straf, Auffang, Zwangsarbeits- und Tötungs­lagers zu.25 20 Vgl. Mailänder Koslov: Gewalt (wie Anm. 17), S. 54. – Zur Rolle des Distrikts Lublin innerhalb des Generalgouvernements vgl. Dieter Pohl: Von der »Judenpolitik« zum Juden­ mord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939 – 1944. Frankfurt a. M. u. a. 1993; Bogdan Musiał: Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939 – 1944. Wiesbaden 1999. 21 Vgl. Kranz: KL Lublin (wie Anm. 15), S. 367. 22 Vgl. Tomasz Kranz: Majdanek 1941 – 1944. Chronolo­­gische Übersicht der Geschichte des Lagers. In: ders. (Hrsg.): Unser Schicksal – eine Mahnung für euch. Berichte und Erinnerun­ gen der Häftlinge von Majdanek. Lublin 1994, S. 209 – 214, hier S. 205. 23 Vgl. ders.: KL Lublin (wie Anm. 15), S. 368 f. – Himmler teilte die Festsetzung der Gesamtkapa­ zität auf 50.000 Inhaftierte am 14. April 1942 dem Reichsverkehrsminister Julius ­Dorpmüller mit; am 14. Mai 1942 wurde die Gesamtgröße des Lagers auf acht Felder beschränkt. 24 Vgl. ders.: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 50. 25 Vgl. ders.: KL Lublin (wie Anm. 15), S. 381. – Die erstgenannte Funk­­tion hat dabei einen besonderen Stellenwert: Majdanek trug zunächst die offizielle Bezeichnung »Kriegsgefange­ nenlager der Waffen-­­S S in Lublin« und wurde erst am 16. Februar 1943 auf Befehl Himmlers in »Konzentra­­tionslager« umbenannt. Vgl. ders.: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 42. – Die anfäng­­liche Bezeichnung wird heute jedoch als »Tarnung« (Edward Dziadosz) bzw. »Verschleierung« (Tomasz Kranz) für die Entstehung eines weiteren Konzentra­­tionslagers im Generalgouvernement verstanden. Diese Annahme bestätigen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1942 des Leiters der Zentralbauleitung in Lublin, Karl Naumann, der von einer »Tarnbezeich­ nung« spricht. Vgl. im Einzelnen Edward Dziadosz: Majdanek. Lublin 1964, o. P.; Kranz: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 35; Wolfgang Scheffler: Historisches Gutachten »Zur Judenverfolgung des na­­tionalsozia­listischen Staats – unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Generalgouvernement – und zur Geschichte des Lagers Majdanek im System

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Resümierend stellt Tomasz Kranz fest, dass es sich bei Majdanek um ein »multifunk­­ tionales Provisorium ohne eindeutige Bestimmung und klare Zielsetzung« gehandelt habe, das nie gänz­­lich aus einem Aufbaustadium herausgekommen sei.26 Anhand der einzelnen Entwicklungsstufen und Funk­­tionen werden heute ins­ gesamt fünf Phasen unterschieden:27 Der Aufbau erster Strukturen des Komplexes dauerte von Oktober 1941 bis Mitte 1942. Baupläne wurden in diesen Monaten wiederholt korrigiert und verworfen. In ­­diesem Zeitraum wurden Objekte errich­ tet und ausgerüstet – das Lager hatte jedoch noch keine konkreten Aufgaben. Den Großteil der Gefangenen bildeten jüdische und polnische Männer sowie sowjetische Kriegsgefangene, die unter katastrophalen hygienischen Bedingun­ gen lebten und permanent mit Unterernährung und Epidemien kämpften.28 Wie sämt­­liche der Inspek­­tion der Konzentra­­tionslager (IKL) unterstehenden Lager wurde auch Majdanek nach dem sogenannten Dachauer Modell geplant und aufgebaut. Als wesent­­liche Merkmale galten die formale Trennung der Lager-­ ­S S in Kommandantur und Wachtruppe sowie die Untergliederung Ersterer in verschiedene Abteilungen.29 In Majdanek bedeutete dies die Einteilung in: I. Kommandantur, II. Politische Abteilung, III. Schutzhaftlager, IV. Verwaltung, V. Lagerarzt und VI. Ideolo­­gische Schulung. Die Leitung oblag dem Komman­ danten.30 Erster Lagerkommandant des KZ Lublin wurde Karl Otto Koch, der zuvor in gleicher Posi­­tion im KZ Buchenwald tätig gewesen war. Koch wurde am 1. August 1942 abgesetzt.31 Auch in der zweiten Phase – Juli bis Ende 1942 – machten die genannten Gefangenengruppen die Mehrheit der Lagerinsassen aus. Ihre Zahl nahm mit den Deporta­­tionen aus dem Bezirk Lublin und den Ghettos Białystok und Warschau weiter zu; das Lager erreichte in dieser Phase erstmals eine Belegstärke von über eintausend Menschen.32 In diesen Zeitraum fiel auch die Errichtung eines eigenen na­­tionalsozia­listischer Vernichtungs- und Konzentra­­tionslager«, 1976, HStA Düsseldorf, Ger. Rep. 432 Nr. 278, S. 116, zit. nach: Mailänder Koslov: Gewalt (wie Anm. 17), S. 59. 26 Kranz: KL Lublin (wie Anm. 15), S. 381. 27 Vgl. ebd., S. 369 f. – Andere Einteilungen finden sich etwa bei Barbara Schwindt (drei Pha­ sen) oder Karin Orth (vier Phasen). Vgl. Schwindt: Majdanek (wie Anm. 16), S. 73 – 286; Karin Orth: Das System der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager. Eine politische Ordnungsgeschichte. Hamburg 1999, S. 205 – 213. 28 Vgl. Mailänder Koslov: Gewalt (wie Anm. 17), S. 62. 29 Vgl. Karin Orth: Die Konzentra­­tionslager-­­S S. Sozia­lstrukturelle Analysen und biographi­ sche Studien. Göttingen 2000, S. 34. 30 Vgl. Kranz: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 43. 31 Vgl. ebd., S. 76. 32 Vgl. Orth: System (wie Anm. 27). – Als Grundlage der Deporta­­tionen diente der Befehl ­Heinrich Himmlers vom 19. Juli 1942, in dem er mit dem 31. Dezember 1942 ein Datum

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Frauenlagers innerhalb des Gesamtkomplexes. Die Entscheidung dafür wird heute auf einen münd­­lichen Befehl Himmlers an Odilo Globocnik im Sommer 1942 zurückgeführt.33 Die dort Internierten mussten Zwangsarbeit im Bekleidungswerk der Deutschen Ausrüstungswerke (DAW ) im »Flugplatz«-Lager leisten. Der DAW-Betrieb wurde ­später auf das Gelände des KZ Lublin verlegt. Hierin zeige sich, so Barbara Schwindt, die enge Verbindung Majdaneks mit den Globocnik unterstehenden Zwangsarbeitslagern, aber auch mit den Morden der sogenann­ ten Ak­­tion Reinhard: Ab März 1942 wurde in den DAW-Betrieben primär Klei­ dung der in Sobibór, Treblinka und Bełżec Getöteten sortiert.34 Im Herbst 1942 begannen außerdem Tötungen von Gefangenen durch Giftgas. Bereits seit 1941 hatte es Erschießungen gegeben.35 Am 20. August 1942 übernahm Max Koegel, Kommandant des Konzentra­­tionslagers Ravensbrück, kurzzeitig die Leitung des KZ Lublin. Er wurde am 25. November 1942 durch Hermann Florstedt, der wie Koch aus Buchenwald kam, ersetzt.36 Das gesamte Jahr 1943 bildet die dritte Phase der Lagerzeit. Diese ist sowohl durch die höchste Gefangenenzahl als auch den größten Massenmord charakte­ risiert. Das KZ Lublin entwickelte sich bis Anfang des Jahres offiziell zu einem Konzentra­­tions- und Arbeitslager für polnische politische Gefangene und als Juden verfolgte Menschen sowie zu einem Sammellager für die deportierte Land­ bevölkerung aus Polen und der Sowjetunion.37 Die Tötungen durch Giftgas und Erschießen wurden fortgesetzt. Bei der sogenannten Ak­­tion Erntefest wurden festlegte, bis zu dem fast die gesamte jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements »umge­ siedelt« – also faktisch getötet – werden sollte. Nur wenige Zwangsarbeiter sollten für die Rüs­ tungsindustrie am Leben bleiben und in den fünf Sammellagern Warschau, Krakau, Radom, Częstochowa und Lublin konzentriert werden. 33 Vgl. den Beschluss über die Einrichtung eines Frauenlagers im KGL Lublin vom 15. Juli 1942. In: Marszałek: Majdanek (wie Anm. 13), o. P. 34 Vgl. Schwindt: Majdanek (wie Anm. 16), S. 153 ff. 35 Vgl. Kranz: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 51. – Kranz datiert den Beginn der Erstickun­ gen hier auf September 1942. An anderer Stelle konkretisiert er die Angabe auf den 14. Sep­ tember, merkt aber auch an, dass Tötungen durch Giftgas vermut­­lich bereits Anfang August begonnen hätten. Vor der Fertigstellung der Giftgaszellen aus Beton hätten diese »in zwei in einer Holzbaracke eingerichteten Gaskammern« stattgefunden. Vgl. ders.: Übersicht (wie Anm. 22), S. 213. – Laut Kranz sei über die Tötungen durch Giftgas bis heute wenig bekannt. Immer wieder habe es in früheren Publika­­tionen Ungenauigkeiten vor allem bezüg­­lich der Anzahl der Kammern gegeben. Eine detaillierte Betrachtung des Massenmords durch Giftgas in Majdanek sowie die äußeren Gegebenheiten findet sich in ders.: Vernichtung (wie Anm. 18), S. 40 – 72. 36 Vgl. Mailänder Koslov: Gewalt (wie Anm. 17), S. 76; Orth: System (wie Anm. 27), S. 206. 37 Vgl. Kranz: KL Lublin (wie Anm. 15), S. 370.

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am 3. November 1943 etwa 18.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus dem KZ Lublin, den Zwangsarbeitslagern »Flugplatz« und »Lipowa-­­Straße« sowie weiteren Außenlagern in eigens zu ­­diesem Zweck ausgehobenen Gräben hinter Feld V erschossen. Insgesamt starben an d­­ iesem Tag 43.000 Menschen in M ­ ajdanek und den Zwangsarbeitslagern Trawniki und Poniatowa. Diese Massentötung gilt als Schlussakt der »Ak­­tion Reinhard«.38 Nach einer Korrup­­tionsaffäre um Florstedt übernahm der ehemalige Kommandeur des KZ Neuengamme, Martin Weiß, im September 1943 dessen Posten in Majdanek.39 Seit der Jahreswende 1943/44 vollzog sich ein Funk­­tionswandel des KZ Lublin, das von da an hauptsäch­­lich zu einer Mordstätte für kranke Gefangene aus ande­ ren Lagern wurde. Mit der Einrichtung eines Lazaretts für schwerkranke Zwangs­ arbeiter auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) kamen stetig neue Transporte, hauptsäch­­lich aus den Rüstungsbetrieben der Konzentra­­tionslager Dachau, Neuengamme, Flossenbürg, Groß-­­Rosen und Mittelbau-­­Dora nach Majdanek. Somit änderte sich auch die Lagergesellschaft, da durch die Transporte der Anteil westeuro­päischer Inhaftierter rapide anstieg.40 Obwohl systematische Massentötungen in dieser Phase bereits eingestellt waren, wurden weiterhin schwerkranke sowie als »arbeitsunfähig« eingestufte Menschen in Majdanek ermordet. Dasselbe Schicksal traf zunehmend polnische Zivilisten, die im Rah­ men sogenannter Vergeltungsak­­tionen für »Partisanenangriffe« getötet wurden.41 Die letzte Phase des KZ Lublin dauerte von April bis Juli 1944. Sie war primär durch die Auflösung des Lagers gekennzeichnet. Als letzter Kommandant in diesen Monaten fungierte Arthur Liebehenschel.42 Die SS verließ Majdanek am 22. Juli 1944, am Tag darauf erreichten Truppen der Roten Armee das Gelände. Insge­ samt starben im KZ Lublin etwa 78.000 Menschen an den Folgen der Zwangs­ arbeit, den katastrophalen Lebensbedingungen, Misshandlungen, Unterernäh­ rung, Krankheiten oder wurden im Rahmen des systematischen Massenmords erschossen oder durch Giftgas getötet.43 Die in Majdanek begangenen Verbrechen 38 Vgl. ebd., S. 377 f.; ders.: Vernichtung (wie Anm. 18), S. 65 – 72. – Zur »Ak­­tion Reinhard« vgl. Bogdan Musiał (Hrsg.): »Ak­­tion Reinhardt«. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941 – 1944. Osnabrück 2004. – Zur Bedeutung Majdaneks innerhalb der »Ak­­tion Reinhard« vgl. Tomasz Kranz: Das Konzentra­­tionslager Majdanek und die »Ak­­tion Reinhardt«. In: ebd., S. 233 – 256. 39 Vgl. Mailänder Koslov: Gewalt (wie Anm. 17), S. 77. 40 Vgl. Kranz: KL Lublin (wie Anm. 15), S. 370, 376. 41 Vgl. Mailänder Koslov: Gewalt (wie Anm. 17), S. 72; Orth: System (wie Anm. 27), S. 212. 42 Vgl. Kranz: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 43. 43 Vgl. ebd., S. 73.

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wurden erst Jahrzehnte s­ päter vor deutschen Gerichten verhandelt. Von 1975 bis 1981 fand vor dem Düsseldorfer Landgericht der sogenannte Majdanek-­­Prozess gegen 16 ehemalige Mitglieder des Lagerpersonals statt. Weitere Verhandlungen folgten bis in die 1990er Jahre.44

Topografie des Ortes Das Gelände befindet sich am südöst­­lichen Rand der Stadt Lublin, direkt an der Straße in Richtung Chełm und Zamość gelegen. Aufgrund seiner Nähe zum gleichnamigen Stadtteil war das Lager bereits während des Krieges als »Majdanek« bekannt.45 Insgesamt wurden 270 Hektar Fläche für das Hauptlager genutzt; der Grenzumfang betrug 7300 Meter.46 Das Lagerareal war formal in Sektoren einge­ teilt, ­welche die verschiedenen Funk­­tionen widerspiegelten und unterschied­­lich zugäng­­lich und bewacht waren: den Bereich des sogenannten Schutzhaftlagers, der sich aus den »Häftlingsfeldern« und zwei Zwischenfeldern zusammensetzte, den SS-Standort mit Kommandantur sowie den Wirtschaftssektor. Auf dem gesamten Gelände befanden sich ­zwischen Oktober 1941 und Juli 1944 bis zu 280 verschie­ dene Objekte, von denen die insgesamt 131 hölzernen Baracken für Gefangene den Großteil ausmachten. 87 dieser Gebäude hatten tatsäch­­lich den Charakter einer Unterkunft und befanden sich auf den Feldern I, II, V und VI. Die anderen 44 Baracken auf den Feldern III und IV besaßen Stallcharakter und wurden daher als »Pferdeställe« bezeichnet.47 Dies ist insofern relevant, da das einzige, ­später teilrekonstruierte und erhaltene »Häftlingsfeld« (Feld III) demnach keineswegs mit jenem Barackentyp bebaut war, den zwei Drittel dieser Gebäude während der Lagerzeit kennzeichneten. Die heute zu besichtigenden Holzbaracken auf dem Gedenkstättengelände können demzufolge nicht als exemplarisch oder repräsen­ tativ für den Großteil der Lagerbaracken angesehen werden. Im Bereich des sogenannten Schutzhaftlagers befanden sich neben den in zwei parallelen Reihen angeordneten hölzernen Unterkünften für die Gefangenen auf 44 Vgl. auch Dieter Ambach/Thomas Köhler: (Hrsg.): Lublin-­­Majdanek. Das Konzentra­­ tions- und Vernichtungslager im Spiegel von Zeugenaussagen. Düsseldorf 2003; Elissa ­M ailänder Koslov: Der Düsseldorfer Majdanek-­­Prozess (1975 – 1981). Ein Wettlauf mit der Zeit? In: Christl Wickert/Claus Füllberg-­­Stolberg/Jens-­­Christian ­Wagner (Hrsg.): Schuldig. NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten (= Beiträge zur Geschichte der ­na­­tionalsozia­listischen Verfolgung in Norddeutschland, 9). Bremen 2005, S. 74 – 88. 45 Vgl. Kranz/Olesiuk: Shaping (wie Anm. 11), S. 211. 46 Vgl. Dziadosz: Majdanek (wie Anm. 25). 47 Vgl. Olesiuk: Konservierung (wie Anm. 11), S. 94.

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jedem der Felder eine Sanitäranlage und eine Küche. Die freien Bereiche ­zwischen den »Häftlingsfeldern« wurden als »Zwischenfelder« bezeichnet und hauptsäch­­ lich als Appellplätze genutzt. Auf Zwischenfeld I befanden sich eine Leichenhalle, die Verbrennungsanlage 48 und die Lagerwäscherei. Zwischenfeld II diente außer­ dem der Holz- und Kohlelagerung sowie zwischenzeit­­lich der Unterbringung von Zwangsarbeitern des sogenannten Sonderkommandos.49 Der »Häftlingssektor« war von einem 5600 Meter langen, doppelten Stacheldrahtzaun mit 18 Wachtür­ men umgeben. Zusätz­­lich gab es Wachstuben an den Eingängen der Felder.50 Der SS -Bereich umfasste 14 Baracken der Kommandantur, 21 Kasernen der Wach­ mannschaften, 4 separate Baracken bei Feld IV, ein Kasino und Wohnräume für höhere Funk­­tionäre.51 Im Wirtschaftsbereich waren Werkstätten und Magazine sowie Gewächshäuser und Hundezwinger zu finden.52 Im selben Sektor befanden sich zwei Baracken, die als Entlausungssta­­tionen mit Bädern dienten und an die sich ein Ziegelgebäude, der sogenannte Bunker, mit den Erstickungskammern anschloss.53 Als weitere markante Objekte sind die zwei Verbrennungsanlagen – eine auf dem Zwischenfeld I, die zweite hinter Feld V gelegen – sowie drei aus der Vorkriegszeit erhalten gebliebene Ziegelgebäude zu nennen.54 48 Im vorliegenden Beitrag wird der noch immer in der Forschung verbreitete Begriff »Krema­ torium« durch »Verbrennungsanlage« ersetzt, da die Anlagen in den na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslagern nie den gesetz­­lichen Vorgaben für Krematorien entsprachen. So gab die »Betriebsordnung für Feuerbestattungsanlagen« vom 5. November 1935 u. a. vor, dass in solchen auf eine würdige Einäscherung zu achten sei. In der »Verordnung zur Durchführung des Feuerbestattungsgesetzes« vom 10. August 1938 heißt es zudem, in jeder Kammer sei nur je ein Leichnam einzuäschern, die Asche müsse ­später eindeutig einem Verstorbenen zugeord­ net werden können. All diese Punkte konnten die Vorrichtungen in den Lagern nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass es sich nicht um eine Einäscherung im eigent­­lichen Sinne (Entzündung des Sarges durch die im Ofen herrschende Hitze) handelte, sondern um eine Verbrennung durch Kontakt zu offenem Feuer; vgl. Betriebsordnung für Feuerbestattungsanlagen (05. 11. 1935) und Verordnung zur Durchführung des Feuerbestattungsgesetzes (10. 08. 1938). In: Annegret Schüle: Industrie und Holocaust. Topf & Söhne – die Ofenbauer von Auschwitz. Göttingen 2010, S. 84 f. 49 Vgl. Kranz: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 38. 50 Vgl. Olesiuk: Konservierung (wie Anm. 11), S. 94 ff. 51 Vgl. ebd. S. 95. 52 Vgl. Kranz: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 38. 53 Der sogenannte Bunker maß eine Fläche von 10,7 mal 8,8 Meter und war 2,4 Meter hoch. Er war von einem hölzernen Zaun mit Stacheldraht umgeben und von einer 60 mal 18 Meter großen Überdachung verdeckt. Diese ursprüng­­lich als Schutz für die in den Kammern desinfizierte Kleidung vorgesehene Überdachung erfüllte s­ päter jedoch hauptsäch­­lich eine Tarnfunk­­tion. Vgl. ders.: Vernichtung (wie Anm. 18), S. 47 f. 54 Vgl. ders.: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 38. – Bei den drei Ziegelgebäuden ­handelt es sich um die Villa des Kommandanten, die Wohnräume des Lagerarztes bzw. des Schutzhaftlagerführers

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Lublin-­Majdanek 1944 – Entstehung der Gedenkstätte Der entscheidende Aspekt bei der Entstehung des Staat­­lichen Museums Majdanek ist, dass keine Vorbilder für Einrichtungen solcher Art existierten, an denen sich die Planer hätten orientieren können. Im Herbst 1944 eröffnet, wurde Majdanek zur ersten Gedenkstätte für die Opfer na­­tionalsozia­listischer Verbrechen über­ haupt.55 Dieses Alleinstellungsmerkmal der Gedenkstätte gilt es bei Betrachtung und Bewertung seiner Entwicklungsgeschichte stets zu beachten. Ein bereits Anfang November 1943 ausgearbeiteter Plan zur Auflösung Maj­ daneks, dessen Umsetzung Mitte März 1944 begann, sah neben der Räumung des Lagers auch die Zerstörung der wichtigen Gebäude mittels Zeitbomben sowie das Niederbrennen der gesamten Anlage vor.56 Dies gelang jedoch nur partiell: Das von der Lager-­­S S während ihrer Flucht gelegte Feuer vernichtete ausschließ­­lich Teile des sogenannten Großen Krematoriums (Abb. 1).57 Deut­­lich tritt bei ­­diesem Vorgehen aber der Wunsch nach Zerstörung der Lagerstrukturen und der damit verbundenen geplanten Spurenbeseitigung hervor. Kurz nach der Auflösung des KZ Lublin am 23. Juli 1944 setzten sowjetische Militärbehörden und das Polnische Komitee für Na­­tionale Befreiung eine Kom­ mission zur Untersuchung des ehemaligen Lagergeländes ein, deren Aufgaben im Einzelnen die Dokumenta­­tion noch bestehender Gebäude, die Begutachtung des Areals und die Anfertigung eines detaillierten Geländeplans umfassten. In ihrem Abschlussbericht vermerkte die Kommission die gute Beschaffenheit der Lager­ strukturen – weniger als zwanzig Baracken waren zu diesem ­­ Zeitpunkt zerstört oder abgebrannt.58 Der Zustand änderte sich jedoch in den darauffolgenden Monaten ­drastisch: Sowjetische Militäreinheiten, vor Ort sta­­tionierte polnische Verbände, aber auch Anwohner beschädigten die Gebäude und plünderten die Einrichtungen.

und ein Haus, das bis Ende 1942 von der Politischen Abteilung und ­später als Funkzentrale genutzt wurde. 55 Vgl. ders.: 50 Jahre Gedenkstätte Majdanek. In: Gedenkstättenrundbrief 61 (1994), S. 3 – 7, hier S. 3. 56 Vgl. ders.: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 67. 57 Vgl. ebd., S. 68. – Als »Großes-« oder »Neues Krematorium« wird primär in museums­eigenen Publika­­tionen die Verbrennungsanlage hinter Feld V bezeichnet, die aufgrund ihrer Zerstörung am 22. Juli 1944 und dem späteren Wiederaufbau des Öfteren exemplarisch in Texten über Neu- und Umgestaltungen Erwähnung findet. 58 Der Bericht ist abgedruckt in: Janina Kiełboń/Edward Balawejder (Hrsg.): Państwowe Muzeum na Majdanku w latach 1944 – 1947. Wybór dokumentów. [Das Staat­­liche Museum Majdanek in den Jahren 1944 – 1947. Ausgewählte Dokumente]. Lublin 2004, S. 29 – 35.

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Abb. 1  Teilweise zerstörte Verbrennungsanlage hinter Feld V nach Auflösung des Lagers 1944

Außerdem wurden Objekte zur Gewinnung von Baumaterial oder Feuerholz demontiert.59 Daran änderte sich auch nach der Eröffnung des Staat­­lichen Muse­ ums Majdanek im Herbst 194460 für mehr als zwei Jahre nichts, obwohl seit ­­diesem Zeitpunkt auch Wachpersonal zur Beaufsichtigung des Geländes ein­ gesetzt wurde. Zusätz­­lich forcierten staat­­liche wie auch militärische Behörden weiterhin die Abgabe von Holz oder ganzer Baracken. Eine erneut eingesetzte spezielle Kommission zur Bestandsaufnahme der Lagerobjekte in der Gedenk­ stätte Majdanek stellte im August 1946 fest, dass die Gebäude auf dem Gelände des ehemaligen »Schutzhaftlagers« zu 80 Prozent und die SS-Standortbaracken 59 Vgl. Grzegorz Plewik/Johannes Schwartz/Lavern Wolfram: Zur Zukunft der Gedenkstätte Majdanek. Die aktuellen Ausstellungen und Empfehlungen für ihre Neugestal­ tung. In: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hrsg.): KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager und ihrer Erinnerung. Berlin 2007, S. 245 – 264, hier S. 245. 60 Der stellvertretende Stabschef des polnischen Heeres, Generalmajor Bronisław Półturzycki, ordnete am 10. Oktober 1944 an, »das Gelände des ehemaligen Konzentra­­tionslagers als Gebiet des Na­­tionalen Museums anzusehen«. Alle Lagerrelikte ­seien zu sichern und zu ­schützen. Einige Tage ­später nahm die Gedenkstätte ihre Arbeit auf. Zit. nach Edward Balawejder: Das Staat­­liche Museum – die Gedenkstätte Majdanek. In: Barbara Rommé (Hrsg.): Mitten in Europa. Konzentra­­tionslager Majdanek. Münster 2002, o. P.

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Abb. 2  Sogenannter Bunker mit massiv beschädigter Holzüberdachung nach einem Sturm im März 1946

zu 60 Prozent zerstört s­ eien. Ledig­­lich der frühere Wirtschaftssektor befinde sich in einem guten Zustand.61 Innerhalb von gut zwei Jahren hatte sich die Beschaffenheit der Objekte auf dem Gelände demzufolge massiv verändert. Aus nahezu vollständigen, gut erhal­ tenen Originalstrukturen wurde aufgrund finanzieller und technischer Schwierig­ keiten, äußerer Einflüsse und ungenügender Sicherheitsmaßnahmen eine völlig modifizierte Landschaft, die geprägt war von entweder grob veränderten oder vollkommen zerstörten Objekten. Ledig­­lich einer der drei Bereiche des ehema­ ligen Konzentra­­tionslagers verblieb in einem guten Zustand. An dieser Stelle ist jedoch festzuhalten, dass hier bereits erste Teilrekonstruk­­tionen erfolgt waren, da bestimmte Gebäude für Museumszwecke genutzt werden sollten. So wurde etwa nach Zerstörungen infolge mehrerer Unwetter im Sommer 1945 und Früh­ jahr 1946 das Ziegelsteingebäude mit den Erstickungskammern überdacht und über Holzwände mit der Männer-»Badebaracke« (Baracke Nr. 45) verbunden (Abb. 2 und Abb. 3). Eine großflächige Holzüberdachung war nach massiver Beschädigung durch einen Sturm im Mai 1946 zunächst abgetragen worden. Für

61 Der Bericht ist abgedr. in Kiełboń/Balawejder (Hrsg.): Państwowe Muzeum (wie Anm. 58), S. 21 – 24.

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Abb. 3  Heutige Außenansicht des »Bunkers« mit dem erst in der Nachkriegszeit ergänzten Holzdach

Abb. 4  Heutige teilrekonstruierte Verbrennungsanlage hinter Feld V

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die Rekonstruk­­tionen wurde das Holz anderer Baracken verwendet.62 Auch die 1944 durch die abrückende Lager-­­S S teilweise zerstörte Verbrennungsanlage in der Nähe des Feldes V wurde im Rahmen der Maßnahmen wieder aufgebaut, dabei allerdings teilweise in ihrer Außenansicht verändert (Abb. 4).63

Erster Gestaltungsplan (1949) Einen ersten vorläufigen Gestaltungsplan für das Gedenkstättengelände legten die Warschauer Architekten Romuald Gutt und Alina Scholtz bereits 1946 vor; drei Jahre ­später wurde dieser durch das Komitee zum Schutz und Erhalt der Denkmäler für Kriegsopfer offiziell bestätigt.64 Per Gesetz vom 2. Juli 1947 war in Polen in der Zwischenzeit die recht­­liche Grundlage geschaffen worden, durch die »das Gelände des ehemaligen Konzentra­­tionslagers samt allen darauf befind­­lichen Bauten und Einrichtungen ein Denkmal des Martyriums der polnischen Na­­tion und anderer Na­­tionen«  65 werden sollte. Zu den grundsätz­­lichen Aufgaben der neuen Institu­­tion zählte auch die räum­­liche Gestaltung des Areals.66 Aufgrund der massiven Zerstörung von ehemaligen Lagerstrukturen wurde aus der zuvor 270 Hektar großen Fläche ledig­­lich »ein Teil von besonderer historischer Bedeu­ tung« 67 für weitere Museumszwecke ausgewählt. Das Gedenkstättengelände umfasste schließ­­lich mit etwa 90 Hektar ein Drittel der vorherigen Gesamtfläche. Die Auswahl eines begrenzten Bereichs des Gebietes markierte einen bedeut­ samen Punkt in der Geschichte der Gedenkstätte: In d­­ iesem Augenblick wurde festgelegt, w ­ elche Objekte auch zukünftig bestehen bleiben und w ­ elche aus der historischen Landschaft entfernt werden sollten. Folg­­lich hat sich zu diesem ­­ Zeitpunkt auch entschieden, wodurch das Gelände bis heute charakterisiert wird und welcher Narra­­tion die Gestaltung der Außenanlage folgt. Immer wie­ der fand in ­­diesem Zusammenhang eine Bewertung der bestehenden Elemente statt, die in der Literatur als die »wichtigsten Objekte« 68 oder im Gesetz vom 2. Juli 1947 »ein Teil von besonderer historischer Bedeutung« 69 bezeichnet 62 Vgl. Olesiuk: Konservierung (wie Anm. 11), S. 99 f.; Kranz: Vernichtung (wie Anm. 18), S. 48. 63 Vgl. Plewik/Schwartz/Wolfram: Zukunft (wie Anm. 59), S. 247. 64 Vgl. Kranz/Olesiuk: Shaping (wie Anm. 11), S. 214. 65 Zit. nach: Balawejder: Museum (wie Anm. 60). 66 Vgl. ebd. 67 Ebd. 68 Kranz: Lublin-­­Majdanek (wie Anm. 14), S. 67. 69 Zit. nach: Balawejder: Museum (wie Anm. 60).

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werden. Erhalten blieben letzt­­lich die beiden Verbrennungsanlagen sowie die sogenannten Badebaracken mit dem sich daran anschließenden Ziegelgebäude, in dem die Erstickungskammern untergebracht waren. Außerdem bestanden 15 Baracken des ehemaligen Wirtschaftssektors, die als Ausstellungsräume dienen sollten, und ein Teil des früheren SS -Bereiches für Verwaltungs- und Museums­ einrichtungen weiter.70 Andere Objekte wurden als Lagerräume, Tischlerei, Cafeteria und Unterkünfte für die Angestellten des Museums genutzt.71 Das Konzept beinhaltete weiterhin, das ehemalige Feld  III als einziges der frühe­ ren »Häftlingsfelder« zu erhalten und zu renovieren. Für Restaura­­tionen und Rekonstruk­­tionen wurde das Holz demontierter Baracken genutzt. Ein Teil der abgebauten Baracken wurde außerdem verkauft.72 Im Rahmen des Umbaus fanden zudem eine Reparatur der beschädigten Umzäunung sowie die Rekonstruk­­tion der fast gänz­­lich zerstörten Wachtürme und -stuben statt. Insgesamt verblieben auf dem Gelände nach der Umsetzung der Neukonzep­­tion 85 der bis dahin noch bestehenden 104 Gebäude.73 Das Konzept von Romuald Gutt und Alina Scholtz wurde innerhalb der Gestaltungsphase noch um einen Wald ergänzt, der als symbo­­lischer Friedhof und somit als Gedenkelement vorgesehen war.74 Die ­zwischen 1948 und 1949 durchge­ führte Aufforstung umfasste einen Eichenwald in Form eines Rechtecks auf den »Häftlingsfeldern« (Abb. 5). Davon ausgenommen waren die Appellplätze der Felder I, II und IV, das gesamte Feld III und ein Teil des Feldes V, wobei sicher­ gestellt wurde, dass der Wald nicht die Verbrennungsanlage verdecken würde. Zusätz­­lich sollten die Exeku­­tionsgräben der sogenannten Ak­­tion Erntefest durch eine Schlehdornhecke hervorgehoben werden.75 Eine s­ olche Hecke war auch zur Darstellung der Stacheldrahtumzäunung vorgesehen. Neben ihrer Funk­­tion als Denkmalselement diente die Bepflanzung weiterhin der Veranschau­­lichung von nicht mehr vorhandenen Lagerstrukturen.76 Der Plan wirft allerdings die Frage auf, warum mit der Bepflanzung die nicht mehr erkennbaren Ausmaße des Lagers sichtbar gemacht werden sollten, letzt­­lich aber nur ein Drittel der Fläche des ehe­ maligen Konzentra­­tionslagers tatsäch­­lich aufgeforstet wurde. Somit gelang mit ­­diesem Konzept ledig­­lich eine Andeutung des früheren Territoriums, nicht aber

70 Vgl. ebd. 71 Vgl. Kranz/Olesiuk: Shaping (wie Anm. 11), S. 214. 72 Vgl. ebd. 73 Vgl. Olesiuk: Konservierung (wie Anm. 11), S. 101 f. 74 Vgl. ebd., S. 102. 75 Vgl. ebd., S. 103. 76 Vgl. ebd.

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Abb. 5  Blick auf das sogenannte Vorfeld des Lagers mit einem Teil des aufgeforsteten ehemaligen »Häftlingsfeldes« I (1957/58)

die Darstellung seiner tatsäch­­lichen Ausmaße. Laut Danuta Olesiuk wurden etwa 70 Prozent ­dieses Vorhabens umgesetzt.77 Schnell verdeckte die Bepflanzung einen Großteil des Geländes und fügte darüber hinaus den noch bestehenden Objekten weitere Schäden zu. Außerdem hielten Besucher die Gewächse oftmals für originale Bestandteile des ehemaligen Konzentra­­tionslagers, wodurch eine erneute Überarbeitung des Konzeptes für die Außengestaltung der Gedenkstätte erforder­­lich wurde.78

Zweiter Gestaltungsplan (1961) Schon Ende der 1940er Jahre hatte sich die staat­­liche Politik bezüg­­lich der Konzentra­­tionslager deut­­lich verändert: Das Gedenken an die Opfer der na­­tio­ nalsozia­listischen Konzentra­­tionslager und Tötungsstätten geriet immer stärker in den Hintergrund, sodass die »Martyriumsmuseen« sukzessive an Bedeutung verloren und finanzielle Schwierigkeiten bekamen. Infolgedessen wurden in den 77 Vgl. ebd. 78 Vgl. Agnieszka Kowalczyk (Hrsg.): Majdanek – Memorial and Museum. A Guide. Lublin 2013, S. 12.

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1950er Jahren in Majdanek »nur die unbedingt notwendigen provisorischen Res­ taurierungs- und Sicherungsarbeiten bei den wichtigsten Objekten« 79 durchge­ führt, die rest­­lichen Baustrukturen begannen endgültig zu verfallen. Zwar liefert die zitierte Textstelle selbst keine spezifizierte Benennung der »wichtigsten Objekte«, auf Grundlage der ersten Konzep­­tion und des weiteren Vorgehens ist jedoch auch hier anzunehmen, dass es sich um die »Badebaracken«, das angeschlossene Zie­ gelgebäude mit den Erstickungskammern, die Baracken auf dem früheren Feld III sowie die Verbrennungsanlage hinter dem ehemaligen »Häftlingsfeld« V handelte. Parallel setzte in den 1950er Jahren ein verstärktes behörd­­liches, aber auch gesellschaft­­liches Interesse an der Sicherung der Orte ein. Institu­­tionell ist dabei das Komitee zum Schutz und Erhalt der Denkmäler für Kriegsopfer hervorzu­ heben, das sich die »Erhaltung der Relikte des ehemaligen Konzentra­­tionslagers Majdanek« zum Ziel gesetzt hatte.80 Auf Anregung des Komitees wurde schließ­­ lich eine Restaurierungskommission unter der Leitung des polnischen Archi­ tekten Jan Zachwatowicz gebildet, die Richtlinien und Empfehlungen für einen neuen Gestaltungsplan ausarbeitete. Die Kommission forderte in ihrem Bericht die Entfernung der Bewaldung, eine Befestigung der Überreste der Baracken auf den ehemaligen »Häftlingsfeldern« I, II, IV und V, die Einbeziehung der frü­ heren Kommandanturbaracke in den Konservierungsplan, außerdem den Erhalt des Schutzgebiets rund um das Museum – also eine klare Trennung des Gedenk­ stättengeländes vom Stadtgebiet.81 Anhand der Empfehlung lässt sich bereits die Ausdehnung von Instandhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen erkennen, die nun neben den »wichtigsten« auch andere Gebäude einbezog. Auf Grundlage der Kommissionsempfehlungen arbeitete Romuald Dylewski den nunmehr zweiten offiziellen Gestaltungsplan für das Staat­­liche Museum Majdanek aus, der 1961 bewilligt wurde. Im Vordergrund der Neukonzep­­tion stand die »Erhal­ tung eines Maximums an Authentizität des ehemaligen Lagers«,82 die mithilfe einer generellen Konservierung der Objekte und der bereits längere Zeit intendierten Besei­ tigung des Waldes erreicht werden sollte. Der Plan zielte demnach ab auf ein neuer­­ liches Sichtbarmachen der bau­­lichen Strukturen des vormaligen Konzentra­­tionslagers, 79 Olesiuk: Konservierung (wie Anm. 11), S. 104. – Zur Entwicklung der polnischen Erinne­ rungskultur und der Gedenkstätten vgl. auch ausführ­­lich Jan Gryta: Gedenkstätten in den na­­tionalsozia­listischen Vernichtungslagern in den von Deutschland besetzten polnischen Gebie­ ten. Die Geschichte der Erinnerung bis 1968. In: Bogusław Dybaś u. a. (Hrsg.): Gedenk­ stätten für die Zeit des Na­­tionalsozia­lismus in Polen und Österreich. Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven. Frankfurt a. M. 2013, S. 71 – 90. 80 Vgl. Olesiuk: Konservierung (wie Anm. 11), S. 104 f. 81 Vgl. ebd., S. 106. 82 Ebd.

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ohne dass deren Wahrnehmung durch nachträg­­lich eingefügte Elemente gestört würde. Die Präsenta­­tion der Überreste von Objekten zur Veranschau­­lichung der ehemaligen Lagerbebauung sollte folg­­lich in den Vordergrund der gesamten Außen­ ausstellung treten (Abb. 6). Wie bereits aus den früheren Konzepten ersicht­­lich ist, wies auch Dylewskis Plan eine Akzentuierung – und darüber hinaus eine Einzäun­ ung – der »wertvollsten Objekte« 83 des Geländes auf. Der sogenannte Bunker mit den Erstickungskammern sowie die angeschlossenen »Badebaracken« waren zu ­­diesem Zeitpunkt bereits wegen starker Feuchtigkeit angegriffen, sodass im Rahmen ihrer Restaura­­tion das Fundament untermauert und der Gebäudekomplex von einem Betongraben umgeben werden musste, der den ausreichenden Wasserabfluss garan­ tieren und weitere Beschädigungen durch Feuchtigkeit eindämmen sollte.84 Ebenfalls wurden bereits sanierte oder rekonstruierte Elemente einbezogen: Die schon 1949 restaurierte Stacheldrahtumzäunung wurde gänz­­lich rekonstruiert, und auch eine erneute Restaurierung der verbliebenen Wachtürme und -stuben band der Plan ein. Zusätz­­lich bildete die Erhaltung von noch bestehenden Wegen und Straßen einen separaten Aspekt des Konzepts.85 Hervorzuheben ist an dieser Stelle außerdem die spezielle Konservierungsmaßnahme der Baracken auf dem ehemaligen Feld III, bei der die Gebäude angehoben und auf Pfähle gesetzt wurden, um die Fundamente zu entlasten.86 Auch die übrigen Bereiche des früheren »Schutzhaftlagers« fanden Beachtung in Dylewskis Konzept, indem ihre bau­­lichen Strukturen und die weiter­ hin bestehenden Sanitäranlagen umfangreiche Konservierungsmaßnahmen erfuhren. Zudem wurden die Überreste der abgetragenen Gefangenenunterkünfte befestigt und mithilfe kleinerer Begrenzungen sichtbar gemacht. Um diese visuell noch stärker zu präsentieren, füllten die Architekten ihren Innenraum vollständig mit Schutt auf, sodass sich ihre Grundflächen deut­­lich vom sonstigen Untergrund abhoben.87 Die Gebäude der vormaligen Kommandantur waren aufgrund ihrer fortgeschrittenen Zerstörung oder der zu umfassenden Veränderungen nicht mehr tragbar und wurden infolgedessen demontiert. Bei ihnen handelte es sich um die letzten vorsätz­­lich abge­ tragenen Baracken auf dem ehemaligen Lagergelände.88 Die Maßnahmen dauerten von 1961 bis 1967 und wurden von Edward Balawejder als »komplexe professionelle Sanierungs- und Konservierungsarbeiten« 89 bewertet.

83 Ebd. 84 Vgl. ebd., S. 107. 85 Vgl. ebd., S. 106 86 Vgl. Kranz/Olesiuk: Shaping (wie Anm. 11), S. 216. 87 Vgl. ebd., S. 217. 88 Vgl. Olesiuk: Konservierung (wie Anm. 11), S. 112. 89 Balawejder: Museum (wie Anm. 60).

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Abb. 6  Die im Rahmen des zweiten Gestaltungsplans wieder sichtbar gemachten Überreste ehemaliger Unterkunftsbaracken auf den »Häftlingsfeldern« I und II (1964)

Dylewski selbst wies darauf hin, dass sowohl die Erhaltungskosten als auch die Anzahl der sekundären, nachträg­­lich durch Austausch defekter Teile ein­ gefügten Elemente in Zukunft kontinuier­­lich ansteigen würden. Als ein­ zige Chance, dem entgegenzuwirken, sah der Architekt die mög­­lichst lange Erhaltung der einzelnen Elemente »unter Einsatz modernster, kostspieliger und komplizierter Methoden«.90 Aufgrund ihrer Komplexität wurden diese allerdings einzig für die Erstickungskammern und die Verbrennungsanlage bei Feld V gestattet. Alle anderen Objekte sollten weiterhin nach der »alten Methode« – schrittweiser Austausch von Elementen durch Originalteile bereits demontierter Objekte – saniert werden, was letzt­­lich zu vollkommen rekonstruierten Gebäuden führte.91 Insbesondere für die hölzernen Objekte bewahrheitete sich Dylewskis Prognose, da diese nicht vor der Zerstörung, vor allem durch äußere Faktoren wie Witterungsverhältnisse, bewahrt werden konnten.92 Auch wenn nicht im Rahmen der Umgestaltung des ehemaligen Lagergeländes entstanden, sei an dieser Stelle dennoch auf ein wichtiges Ele­ ment hingewiesen, das die Außenwahrnehmung der Gedenkstätte seit Ende 90 Olesiuk: Konservierung (wie Anm. 11), S. 112. 91 Vgl. ebd. 92 Vgl. ebd., S. 112.

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der 1960er Jahre entscheidend bestimmt: ein 1969 nach einem Entwurf W ­ iktor Tołkins und Janusz Dembeks errichteter Denkmalkomplex, der sich aus dem »Ehrenmal des Kampfes und Martyriums«, einem Mausoleum mit der Asche von Getöteten und dem die beiden Komponenten verbindenden »Weg der Ehre und des Martyriums« zusammensetzt.93

Neukonzep­tion (seit 2008) Mit dem fortschreitenden Sterben der Zeitzeugen gewinnen Gedenkstätten an Orten na­­tionalsozia­listischer Verbrechen immer weiter an Bedeutung. Eine zentrale Rolle bei dieser aktuellen Entwicklung spielen laut Thomas Lutz die verbliebenen Objekte und Relikte als »steinerne Zeugen«.94 In dieser Funk­­ tion dokumentieren sie, dass die Geschichte und die Ereignisse, für ­welche sie verding­­licht stehen, tatsäch­­lich stattfanden, und sie helfen den Rezipienten bei der Wahrnehmung der Wichtigkeit des Ortes. Vor d­­ iesem Hintergrund wurde das neue Konzept für das Staat­­liche Museum Majdanek angefertigt, dessen Haupt­ ziel Tomasz Kranz als »Dechiffrierbarkeit« des Geländes und der ehemaligen Lagerbebauung benennt.95 Unter »Dechiffrierbarkeit« versteht er, dass Besucher durch »das Kennenlernen und die ›Erfahrung‹ der materiellen Spuren der Ver­ gangenheit« 96 die Bedeutung des historischen Ortes nachvollziehen könnten. Maßgeb­­lich sei dabei die Betrachtung der Überreste nicht etwa als reine Meta­ phern des Geschehenen, sondern als Beweise für eine frühere Realität.97 Auch für die bau­­lichen Relikte in Majdanek kristallisiert sich demzufolge eine vorrangige »Zeugnis«- oder »Beweis«-Funk­­tion heraus. Der von Kranz beschriebenen Inten­­tion folgend, wurden die Bestandteile der neuen Außengestaltung so angeordnet, dass sie zwei verschiedene Narra­­tionen kre­ ieren: zum einen die Erinnerung des Ortes selbst und zum anderen die Erinnerung der Zeitzeugen. Erstere soll primär die Geschichte des KZ Lublin-­­Majdanek, aber auch die Nachnutzung des Gebietes veranschau­­lichen. Als Vermittlungselemente dienen Informa­­tionstafeln innerhalb der begehbaren Gebäude: der »Historische

93 Vgl. ebd., S. 109; Plewik/Schwartz/Wolfram: Zukunft (wie Anm. 59), S. 246. 94 Thomas Lutz: Gedenkstätten für die Opfer des NS-Regimes. Geschichte – Arbeitsweisen – gesellschaft­­liche Wirkungsmög­­lichkeiten. In: Annegret Ehmann u. a. (Hrsg.): Praxis der Gedenkstättenpädagogik. Erfahrungen und Perspektiven. Opladen 1995, S. 37 – 47, hier S. 43. 95 Vgl. Kranz: Neukonzep­­tion (wie Anm. 11), S. 208. 96 Ebd. 97 Vgl. ebd.

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Abb. 7  Eine der 17 Informa­­tionstafeln im Außengelände der Gedenkstätte als Teil des »Historischen Weges Konzentra­­tionslager Lublin 1941  –  1944« (2010)

Weg Konzentra­­tionslager Lublin 1941  –  1944« 98 sowie ein maßstabgetreues Modell des ehemaligen Lagers und die Präsenta­­tion von archivierten Fotografien (Abb. 7). Die ausgewählten Zeitzeugenberichte, die den zweiten narrativen Strang bilden, werden auf über insgesamt 17 Tafeln präsentiert. Sie befinden sich an den jewei­ ligen Orten, auf die sie sich auch inhalt­­lich beziehen.99 Auch die Frage nach dem Umgang mit Gebäuden und bau­­lichen Relikten aus der Lagerzeit bildet einen wesent­­lichen Bestandteil der neuesten Konzep­­tion, wie der Leiter der Gedenkstätte in einem 2013 publizierten Artikel verdeut­­licht hat: Der »kreative Umgang mit dem Gelände und den Gebäuden des ehemaligen Lagers« 100 ermög­­liche eine ihren Mitteln nach zurückhaltende Anordnung und schließe dabei jeg­­liche Inszenierung und Rekonstruk­­tion aus. Aus d­­ iesem Grund könne sich in Majdanek die Entfernung einiger älterer Teile der Ausstellung, die 98 Der »Historische Weg Konzentra­­tionslager Lublin 1941  –  1944« dokumentiert die wich­ tigsten Strukturen und Plätze des Ortes, die mit der Geschichte des ehemaligen Konzentra­­ tionslagers verknüpft sind. Sie umfasst insgesamt 17 Glastafeln mit Informa­­tionen und Archiv­ fotografien. Die Texte sind auf Polnisch, Eng­­lisch und Hebräisch verfasst. Vgl. Staat­­liches Museum Majdanek: Outdoor Exhibi­­tion, URL: http://www.majdanek.eu/articles.php? acid=248&lng=1, letzter Zugriff: 20. 01. 2016. 99 Vgl. ebd. 100 Kranz: Neukonzep­­tion (wie Anm. 11), S. 208 f.

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auf Rekonstruk­­tion beruhen, als notwendig herausstellen. Blieben sie jedoch Teil der Ausstellung, etwa aufgrund des Wertes ihrer Visualisierung, müsse in der Legende festgehalten werden, dass es sich um Rekonstruk­­tionen handle.101 Kranz schließt demzufolge erneute Rekonstruk­­tionen auf dem Gelände des Staat­­lichen Museums Majdanek aus und grenzt sich damit klar von vorangegan­ genen Praktiken ab. Überdies zieht er die Entfernung früherer nachgebildeter Ele­ mente in Betracht, um die Landschaft in einer »zurückhaltenden Anordnung« zu gestalten und zu definieren. Das Konzept rückt folg­­lich ab von der Idee einer mög­­lichst umfangreichen Darstellung ehemaliger Lagerstrukturen und wid­ met sich einer durchdachten, einem Narrativ folgenden Auswahl an Objekten. Des Weiteren liefert das Zitat Rückschlüsse auf die angestrebte Transparenz im Umgang mit den Relikten, indem Kranz explizit darauf verweist, dass bestehende Rekonstruk­­tionen oder Umbauten unbedingt in Form einer angebrachten Legende gekennzeichnet werden müssten. Allein in diesem ­­ Punkt differenziert sich die Neugestaltung entscheidend von den vorhergehenden Konzepten und fügt sich somit ein in den eingangs vorgestellten Forschungskonsens. Die 2008 begonnenen Umbauarbeiten gestalteten sich zunächst als Aufräum­ arbeiten, sodass die erhaltene Lagerarchitektur und die Ruinen von zerstörten bzw. abgetragenen Baracken wieder sichtbar wurden. Außerdem konzentrierten sich erste Maßnahmen auf die Reparatur von Wegen und Straßen, um das Gebiet leichter zugäng­­lich machen zu können. Dabei entdeckten die Architekten, dass einige Wege des ehemaligen Konzentra­­tionslagers mithilfe von Grabsteinen jüdischer Friedhöfe befestigt waren und bestätigten so frühere Annahmen von Historikern.102 Auf Grundlage dieser Entdeckung entwickelten die Planer die Idee, im einstigen Wirtschaftsbereich ein »Zeitfenster« in den Boden zu instal­ lieren, das partiell Einblick auf einen in dieser Form angelegten Weg gewähren sollte. Die Umsetzung des Vorhabens konnte im Frühjahr 2015 schließ­­lich voll­ zogen werden.103 Auch umfasste diese Phase den Austausch sogenannter klein­ architektonischer Elemente, wodurch die Ästhetik des Geländes verbessert wer­ den sollte.104 Insgesamt wurden ­zwischen 2008 und 2010 14.678 Quadratmeter Straßen, Wege und Parkplätze erneuert, wobei diese Arbeiten damit noch nicht vollständig abgeschlossen waren; auch im 2010 begonnenen zweiten Abschnitt 101 Vgl. ebd. 102 Vgl. ebd., S. 209. 103 Vgl. den Eintrag des Staat­­lichen Museums Majdanek vom 31. März 2015: New Elements of the Museum Exhibi­­tion, URL: http://www.majdanek.eu/en/news/new_elements_of_the_ museum_exhibi­­tion/589, letzter Zugriff: 26. 04. 2016. 104 Vgl. Kranz: Neukonzep­­tion (wie Anm. 11), S. 209.

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der Renovierungsarbeiten waren diese Bereiche betroffen. Insbesondere stand dabei die Modernisierung des Komplexes im Vordergrund.105 Die Fertigstellung aller bau­­lichen Maßnahmen, die Wege, Straßen oder Parkplätze betrafen, wurde erst im November 2013 vermeldet.106 Neben infrastrukturellen Neuerungen muss auch auf die Renovierung ver­ schiedener bedeutsamer Objekte auf dem Gedenkstättengelände als Bestandteil der aktuellen Umbauten verwiesen werden: etwa auf die Renovierung des soge­ nannten Alten Krematoriums auf dem früheren Zwischenfeld I. Nach Angaben der Gedenkstätte handelte es sich um die erste groß angelegte Renovierung d­ ieses Gebäudes überhaupt. Im Einzelnen wurden die hölzernen Bauelemente saniert und das Dach neu gedeckt. Außerdem fanden Rekonstruk­­tionen von zerstörten Teilen der Wände und der hölzernen Bodenelemente statt.107 Auch die noch beste­ henden Baracken und die bereits in den 1960er Jahren rekonstruierten Wachtürme waren in die Renovierungsarbeiten einbezogen.108

Öffent­liche Auseinandersetzung mit rekonstruierten und bau­lich veränderten Objekten Für eine Betrachtung des Umgangs des Staat­­lichen Museums Majdanek mit rekonstruierten oder bau­­lich veränderten Objekten aus der Lagerzeit ist ein Blick auf die Selbstdarstellung der Gedenkstätte unerläss­­lich. Hierzu werden im Fol­ genden sowohl das museumseigene Informa­­tionsmaterial als auch die offizielle Internetpräsenz betrachtet. Aus dem Bestand der Publika­­tionen liegen Broschüren der Jahre 1966 und 1971 sowie 2013 und 2014 vor. Für die Analyse vor allem der 105 Vgl. den Eintrag des Staat­­lichen Museums Majdanek vom 10. Dezember 2010: The Next Stage of Renovating Roads and Pathways Is Over, URL: http://www.majdanek.home.pl/news.php? nid=252, letzter Zugriff: 26. 04. 2016. 106 Vgl. den Eintrag des Staat­­lichen Museums Majdanek vom 21. November 2013: All Roads and Pavements on the Museum Grounds Have Already Been Renovated, URL: http://www. majdanek.­eu/en/news/all_roads_and_pavements_on_the_museum_grounds_have_already_ been_renovated/458, letzter Zugriff: 26. 04. 2016. 107 Vgl. den Eintrag des Staat­­lichen Museums Majdanek vom 27. Juli 2012: Renova­­tion of the Old Crema­ torium, URL: http://www.majdanek.eu/en/news/renova­­tion_of_the_old_­crematorium/­326, letzter Zugriff: 26. 04. 2016. 108 Exemplarisch zu den Renovierungsarbeiten vgl. den Eintrag des Staat­­lichen Museums Majdanek vom 19. Dezember 2013: Renova­­tion of Post-­­Camp Buildings, URL: http://www.majdanek. eu/en/news/renova­­tion_of_post-­­camp_buildings/463, letzter Zugriff: 26. 04. 2016. – Darin werden die Hauptarbeiten in der Baracke Nr. 47 ausführ­­lich beschrieben und auf kleinere Arbeiten in acht weiteren Baracken hingewiesen.

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gegenwärtigen Vorgänge werden die aktuellen Einträge der Webseite 109 ausgewer­ tet. Mit 402 Einträgen 110 seit dem 13. Januar 2010 bilden diese eine außergewöhn­­ lich umfangreiche und darüber hinaus stets aktuelle Quelle zu den Arbeiten und Veränderungen auf dem Gelände des Staat­­lichen Museums. In ihrer 1966 erschienenen Broschüre Das Konzentra­­tionslager Majdanek  111 stellen Edward Gryń und Zofia Murawska die Geschichte des KZ Lublin und verschiedene Aspekte des »Lageralltags« in den Mittelpunkt. Einzig auf den letzten Seiten findet sich ein kurzer Abschnitt zur Gedenkstätte und zu ihren Angeboten: Besucher könnten dort vor allem etwas zur Geschichte des Ortes erfahren, wobei ihnen neben der Ausstellung auch »die von dem ehemaligen Lager erhalten gebliebenen Objekte« 112 behilf­­lich wären. Die sichtbaren Hinterlassen­ schaften des Lagers werden hier also explizit angesprochen und als Besonderheit des Museums hervorgehoben; gleichzeitig suggeriert die Formulierung »erhal­ ten geblieben« jedoch, dass sich diese noch immer im Originalzustand befänden. Hinweise auf eine (teilweise) Rekonstruk­­tion oder anderweitige Veränderung der meisten dieser Objekte seit 1944 finden sich nicht. Ein ähn­­liches Vorgehen zeigt sich in der 1971 herausgegebenen Broschüre Majdanek 113 von Józef Marszałek und Anna Wiśniewska. Auch sie legen den Schwerpunkt auf die Geschichte des historischen Ortes und die Lebensbedin­ gungen der Gefangenen. Die Autoren widmen sich eingangs der Gedenkstätte, wobei sie insbesondere auf den 1969 neu errichteten Denkmalskomplex und seine Dreiteilung in Monument, Mausoleum und die verbindende Straße eingehen. Die einzelnen Objekte in der Gedenkstättenlandschaft werden von ihnen nur par­ tiell angesprochen, etwa in Form des Hinweises, dass die Ausstellungen sich in elf Baracken des ehemaligen Lagers befänden.114 Auch sei »the whole of field  III« Teil der Präsenta­­tion auf dem Außengelände.115 Einzelne Gebäude werden dem­ nach auch hier als Elemente der Gedenkstättenlandschaft erwähnt, jedoch ohne deren Geschichte zu problematisieren. Die Autoren vermerken weder die massive Umgestaltung der Innenräume ehemaliger Wirtschaftsbaracken, die zwangsläufig mit dem Funk­­tionswandel zu einem Ausstellungsraum verbunden war, noch die

109 Offizielle Webseite des Staat­­lichen Museums Majdanek unter der URL: http://www.majdanek.eu. 110 Stand: 11. Juni 2015. 111 Edward Gryń/Zofia Murawska: Das Konzentra­­tionslager Majdanek. Lublin 1966. 112 Ebd., S. 69. 113 Józef Marszałek/Anna Wiśniewska: Majdanek, hrsg. v. Staat­­lichen Museum Majdanek. Lublin 1971. 114 Vgl. ebd., S. 3. 115 Ebd.

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vollständige Rekonstruk­­tion ehemaliger hölzerner Wohnbaracken auf Feld III, das umgekehrt aufgrund seiner Vollständigkeit sogar besonders hervorgehoben wird.116 In der seit 2013 herausgegebenen Literatur ist ein deut­­licher Wandel im Umgang mit bau­­lichen Veränderungen an den Objekten zu erkennen. In der Publika­­ tion Majdanek – Memorial and Museum. A Guide widmet sich die Verfasserin A ­ gnieszka Kowalczyk auf 60 Seiten verschiedenen Bereichen der Gedenkstättenund Museumsarbeit sowie der Geschichte der Gedenkstätte und den unterschied­­ lichen Formen des Gedenkens vor Ort. In drei Kapiteln findet nun auch eine direkte Auseinandersetzung mit der diskutierten Thematik statt: Zunächst verweist Kowalczyk auf die schwierige Ausgangssitua­­tion, da zum Zeitpunkt der Entschei­ dung für eine Gedenkstätte die meisten der originalen Gebäude zerstört gewe­ sen ­seien und es auch nach der Einrichtung des Museums massive Plünderungen gegeben habe. Auch auf die Demontage der hölzernen Baracken weist die Autorin hin.117 Während der Vorstellung verschiedener Konzepte für die Gestaltung des Gedenkstättengeländes spricht Kowalczyk immer wieder die vorgenommenen bau­­lichen Veränderungen an den Objekten an, etwa die Umgestaltung in den 1960er Jahren. Sie benennt verschiedene Maßnahmen, die für deren Erhaltung und Einbindung in das Außengelände notwendig gewesen ­seien: die Konservie­ rung von Gebäuden und die Rekonstruk­­tion eines Teils des Zauns.118 Nachfolgend geht Kowalczyk wiederholt auf die Einzigartigkeit der Objekte ein. Diese s­ eien »[a] structure of excep­­tional historical value«.119 Hervorgehoben wird zum einen der sogenannte Bunker mit den Erstickungskammern als eines von wenigen noch bestehenden Objekten dieser Art in Europa, zum anderen das sogenannte Neue Krematorium mit den noch heute sichtbaren Verbrennungsöfen und dem »Seziertisch«.120 Obwohl in der Publika­­tion bereits zuvor an verschie­ denen Stellen auf Rekonstruk­­tionen hingewiesen wurde, fehlt hier ein expliziter Vermerk. In den Ausführungen zur Verbrennungsanlage lässt einzig die Bemer­ kung »the building […] originally had 12 rooms« 121 auf eine zwischenzeit­­liche Veränderung des Objekts schließen. Zusätz­­lich bietet dieser Guide auch ein Kapitel mit dem Titel »The Conserva­­ tion of Original Camp Objects«. In ­­diesem wird eingangs darauf hingewiesen, dass Konservierungsmaßnahmen auch Monumente auf dem Gedenkstättengelände 116 Vgl. ebd. 117 Vgl. Kowalczyk: Majdanek (wie Anm. 78), S. 10. 118 Vgl. ebd., S. 12. 119 Ebd., S. 13. 120 Vgl. ebd. 121 Ebd.

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sowie Gebäude des früheren Lagers betrafen. Diese werden speziell aufgelistet: 22 Wohnbaracken, 15 Wirtschaftsbaracken, 17 Wachtürme, 2 »Badehaus-­­Baracken«, die ehemaligen Unterkünfte weib­­licher Aufseherinnen im Frauenlager, die Ver­ brennungsanlage hinter Feld V (»Neues Krematorium«) sowie das sogenannte Alte Krematorium auf Zwischenfeld I.122 Zuletzt ein Blick auf ein Faltblatt,123 das 2014 als aktuelles Informa­­tionsmaterial in der Gedenkstätte erhält­­lich war: Darin werden einzelne Gebäude vorgestellt, die Verfasser gehen jedoch erneut nicht auf die Geschichte der Objekte nach der Lagerauflösung ein. Dies zeigt sich etwa in Formulierungen wie: »Das Häft­ lingslager war in so genannte Felder eingeteilt. Erhalten blieben die Gebäude des Feldes III, auf dem man das Innere von drei Wohnbaracken besichtigen kann.« 124 Vor allem der aktuelle öffent­­liche Umgang der Gedenkstätte mit den verblie­ benen Objekten aus der Lagerzeit lässt sich anhand ihrer offiziellen Internetprä­ senz noch detaillierter nachvollziehen: Der erste Eintrag wurde am 13. Januar 2010 veröffent­­licht, zu einem Zeitpunkt, an dem die zweite Phase des zuvor besproche­ nen neuen Gestaltungskonzepts begann. Dies wird am 24. August 2010 in dem Eintrag Repair Works in the State Museum at Majdanek durch die Formulierung bestätigt: »The State Museum at Majdanek is currently carrying out the second stage of the largest investment program within the last thirty years«.125 Damit ist für die Öffent­­lichkeit die Mög­­lichkeit gegeben, die Umsetzung der geplanten Gestaltungs- und Renovierungsmaßnahmen schrittweise nachzuvollziehen und den gegenwärtigen Bauzustand zu erfahren. Im Eintrag vom 24. August 2010 wer­ den im Anschluss an die zitierte Passage die Arbeiten als Renovierung der Straßen und Wege im gesamten Gedenkstättengelände genauer definiert. Die Eintragung ist dahingehend aufschlussreich, als sie nicht nur den aktuellen Stand der Arbei­ ten 126 dokumentiert, sondern detailliert die noch geplanten Maßnahmen vorstellt: This year the road and pavement leading from the car park to the crossroads with the Road of Homage and Remembrance will be covered with a new surface. The road across Prisoner Field III, which is a part of the visiting route, will also be repaired. Other important undertakings 122 Vgl. ebd., S. 42. 123 Kamila Czuryszkiewicz/Tomasz Kranz: Staat­­liches Museum Majdanek. Faltblatt, hrsg. v. Staat­­lichen Museum Majdanek. Lublin o. J., o. P. 124 Ebd. 125 Eintrag des Staat­­lichen Museums Majdanek vom 24. August 2010: Repair Works in the State Museum at Majdanek, URL: http://www.majdanek.eu/news.php?nid=220, letzter Zugriff: 26. 04. 2016. 126 Bis zum August 2010 s­ eien die Straße bei den Ausstellungsgebäuden, der Weg, welcher durch das ehemalige »Häftlingsfeld« III führt sowie der Parkplatz renoviert worden. Vgl. ebd.

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include the installa­­tion of the vision monitoring system, moderniza­­tion of archive collec­­ tion warehouse, organiza­­tion of the modern carpenter’s shop, reconstruc­­tion of the Museum Informa­­tion Centre and replacement of the glass front of the Visitor Service Centre pavilion. The other planned activities include the comple­­tion of the repair works of pavements and car parks, replacement of the water supply system, installa­­tion of the security systems like detec­­tion devices and fire alarms, extension of the collec­­tions warehouse, organiza­­tion of the restora­­tion workshop, and complex moderniza­­tion of the Visitor Service Centre building, where educa­­ tional rooms are going to be set up.127

Demzufolge handele es sich bei den Neuerungen einerseits um die Renovierung der Infrastruktur, andererseits aber auch um eine Verbesserung der pädago­­gischen Angebote und der Besuchsbedingungen. Bereits diese Stelle verdeut­­licht, wie umfassend über Gestaltungsmaßnahmen berichtet wird. Dieses Vorgehen setzt sich in weiteren Einträgen fort. Jeder Abschluss von Umbauten wird durch einen entsprechenden Hinweis auf der Webseite des Museums dokumentiert, etwa die Fertigstellung von Renovie­ rungsarbeiten an Straßen und Gehwegen am 10. Dezember 2010.128 Gleichzeitig wird an dieser Stelle ein Zwischenfazit über die bisherigen Baumaßnahmen gezo­ gen: »In the years 2008 – 2010, we have modernized 14.678 m2 of roads, pathways and carparks, 5048 m2 of which have been repaired this year.« 129 Auch die Wieder­ aufnahme vergleichbarer Arbeiten in einem anderen Bereich des Geländes findet zwei Jahre s­ päter Erwähnung in der Mitteilung: »On September 16, the next stage of renovating roads and pavements starts at the State Museum at Majdanek.« 130 Doch nicht nur Nachrichten über die Reparatur von Straßen werden auf der Webseite aufgeführt, sondern auch Verweise auf Renovierungsarbeiten an ver­ schiedenen Gebäuden. Beispiele hierfür sind die bereits genannte Sanierung der Verbrennungsanlage auf dem früheren Zwischenfeld I 131 sowie die Renovierung von neun Baracken und zehn Wachtürmen im Dezember 2013.132 Dabei wurden die Hauptarbeiten an der Baracke Nr. 47 im ehemaligen Wirtschaftsbereich durch­ geführt, in den acht weiteren kam es zu kleineren Ausbesserungen. Zudem lassen

127 Ebd. 128 Vgl. Next Stage (wie Anm. 105). 129 Ebd. 130 Eintrag des Staat­­lichen Museums Majdanek vom 24. Oktober 2013: Renova­­tion of Roads on the Grounds of the Museum, URL: http://www.majdanek.eu/en/news/renova­­tion_of_roads_ on_the_grounds_of_the_museum/444, letzter Zugriff: 26. 04. 2016. 131 Vgl. Renova­­tion of the Old Crematorium (wie Anm. 107). 132 Vgl. Renova­­tion of Post-­­Camp Buildings (wie Anm. 108).

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sich aus den Eintragungen Rückschlüsse auf Baumaßnahmen an Gebäuden aus der Nachkriegszeit ziehen, wie etwa den Umbau der ehemaligen Schuhmacher­ werkstatt (Baracke 62) für Ausstellungszwecke im Jahr 2012.133 Die aktuellen Meldungen auf der Webseite des Staat­­lichen Museums Majdanek beschränken sich nicht nur auf diesen Ort, sondern schließen Informa­­tionen zu den der Institu­­tion angeschlossenen Gedenkstätten Sobibór und Bełżec mit ein.

Schlussbetrachtung Die bau­­liche Struktur des KZ Lublin war unmittelbar nach seiner Auflösung am 23. Juli 1944 noch in einem außergewöhn­­lich hohen Maß intakt, wurde allerdings innerhalb nur weniger Monate aufgrund zumeist äußerer Einflüsse beschädigt oder zerstört. Zum Zeitpunkt der Gründung des Staat­­lichen Museums Majda­ nek waren der Bereich des ehemaligen »Schutzhaftlagers« zu 80 Prozent und die früheren SS-Standortbaracken zu 60 Prozent zerstört. Ledig­­lich der frühere Wirtschaftssektor befand sich in einem guten Zustand. Auf Grundlage dieser Bebauungssitua­­tion aus dem Jahr 1944 entwickelten sich seit der Auflösung des KZ  Lublin verschiedene Gestaltungskonzepte für die Nachnutzung des Ortes als Gedenkstätte. Die drei zentralen Pläne aus den Jahren 1949, 1961 und 2008 spiegeln den sichtbaren Wandel des Umgangs mit den bau­­lichen Überresten aus der Zeit des Konzentra­­tionslagers wider, wobei die Unterschiede ­zwischen der ersten und der aktuellen Konzep­­tion am markantesten sind. Hervorzuheben ist etwa die Verwendung nachgebildeter Objekte, die im Konzept von 1949 noch eine zentrale Rolle spielte – wie etwa die Rekonstruk­­ tion eines Teils des früheren »Häftlingsfeldes III« –, auf die in den Planungen von 2008 hingegen fast vollständig verzichtet wurde. Aber nicht nur die schritt­ weise Abkehr von Rekonstruk­­tionen lässt sich beobachten, auch das Streben nach einem höheren Maß an Transparenz über die bau­­lichen Veränderungen ist deut­­lich erkennbar. So äußerte sich der Leiter des Staat­­lichen Museums Maj­ daneks, Tomasz Kranz, kritisch über den Nachbau von Elementen und betonte stattdessen die Relevanz, solch modifizierte Objekte etwa durch Legenden am Ort sichtbar zu machen – ein Vorgehen, das sich nicht nur in Majdanek durch­ setzt, wie eingangs gezeigt werden konnte.

133 Vgl. den Eintrag des Staat­­lichen Museums Majdanek vom 5. August 2011: New Exhibi­­tion Space Thanks to the EU Grants, URL: http://www.majdanek.home.pl/news.php?nid=321, letzter Zugriff: 26. 04. 2016.

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Ein Trend hin zu mehr Transparenz kann insgesamt als eine der deut­­lichsten Erkenntnisse der vorliegenden Studie gelten. Das Kennt­­lichmachen der entspre­ chenden Elemente auf dem Gedenkstättengelände ist dabei wohl der entschei­ dendste Aspekt, aber auch mediale Informa­­tionsangebote gewinnen zunehmend an Bedeutung. Wo die ohnehin kaum verzeichneten Veränderungen in den museumseigenen Broschüren der 1960er Jahre keinerlei Erwähnung fanden und die Gebäude vielmehr als »erhalten geblieben« 134 dargestellt wurden, finden sich in den neueren Publika­­tionen explizit Hinweise auf Modifika­­tionen. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass die ständig aktualisierte Dokumenta­­ tion auf der offiziellen Webseite des Museums zusätz­­liche Einblicke in aktuelle Arbeiten bietet. Und trotz zunehmender – auch öffent­­licher – Auseinandersetzung mit nach­ gebauten Objekten aus dem ehemaligen Konzentra­­tionslager muss bemerkt wer­ den, dass heute noch immer Gebäude, die in den ersten Nachkriegsjahren meist ohne jeg­­liche Orientierung an den historischen Vorbildern rekonstruiert oder bau­­lich verändert wurden, Teil der Gedenkstättenlandschaft bleiben und weiter­ hin umfassende Sanierungs- und Renovierungsmaßnahmen erfahren. Von einem Großteil der noch existierenden 71 Objekte auf dem Gelände des Staat­­lichen Museums Majdanek kann behauptet werden, dass sie zumindest teilweise rekon­ struiert worden sind. Die Problematik ergibt sich dabei aufgrund der Tatsache, dass nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, w ­ elche Gebäude in welchem Umfang umgestaltet wurden und in welchem Grad überhaupt noch historische Bausubstanz vorhanden ist. Detaillierte Verzeichnisse über frühe Modifika­­tionen sind nicht überliefert. Als entscheidender Faktor bei der Betrachtung des Umgangs mit diesen Objekten muss ein Punkt angeführt werden, der sich immer wieder in den Publika­­tionen über die noch vorhandene Lagerbebauung und ihre Nutzung findet: die Bedeutung dieser Elemente als »phy­­sische Beweise« für die na­­tio­ nalsozia­listischen Verbrechen – eine Funk­­tion, die mit dem voranschreitenden Sterben der Zeitzeugen noch mehr an Wert zunimmt und die sich in Majda­ nek nicht nur im Nachbau der Gebäude oder dem Versuch, diese mit allen Mitteln zu erhalten, ausdrückt,135 sondern auch im Sammeln und Ausstellen der Asche von an ­­diesem Ort getöteten Menschen. Und es ist primär eben die­ ser Beweis­charakter, der dem vollkommen gegensätz­­lichen Umgang mit der 134 Gryń/Murawska: Konzentra­­tionslager (wie Anm. 111), S. 69. 135 Vgl. hierzu primär die Ausführungen von James E. Young: Formen des Erinnerns. Gedenk­ stätten des Holocaust. Wien 1997 (engl. EA: The Texture of Memory. Yale 1993), S. 178 f. und die sich daran anschließende Debatte mit Kranz: Neukonzep­­tion (wie Anm. 11), S. 213.

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ehemaligen Lagerbebauung in Polen einerseits und in Deutschland andererseits zugrunde liegt, was vor allem auffällt, wenn die Entwicklung von Gedenkstät­ ten in den Jahren bis 1990 vergleichend untersucht wird. Hiermit ließe sich nun abschließend der Rückbezug zur anfangs vorgestellten Debatte um die Rekonstruk­­tionsthematik herstellen. Die Frage, ob ehemalige Lagerobjekte unter Zuhilfe­nahme abweichender Methoden erhalten oder gar nachgebaut werden ­sollen, wird immer aus verschiedenen Perspektiven und unter Berücksichtigung unterschied­­lichster Inten­­tionen diskutiert werden. Dienen diese Bauten noch als Beweise, wenngleich sie zu einem hohen Anteil nicht mehr aus Originalsubstanz bestehen? Oder sind sie vielmehr Kulissen im Sinne einer »Disneyfica­­tion«, die den Besuchern letzt­­lich nicht mehr vermitteln können als die Illusion einer Vergangenheit, die auch mithilfe umständ­­lichster Praktiken niemals auch nur ansatzweise erfahr- oder nachvollziehbar sein kann? Die Problematik wird stets von Institu­­tion zu Institu­­tion anders gehandhabt werden. Ein Faktor, der in den Überlegungen aber immer Beachtung finden muss, ist die Sicht derer, die diese Orte besuchen; eine Sichtweise, die viel zu sel­ ten im Mittelpunkt empirischer Erhebungen steht.136 Eine Aufklärung über die Umgestaltungen – etwa in Form einer Legende am Objekt – und das Nachvoll­ ziehen der Nachnutzungsgeschichte von Gebäuden, wie sie in Majdanek und in vielen weiteren, zum Teil eingangs vorgestellten Konzepten forciert werden, sind hier sicher erste positive Tendenzen und Abbild eines sich herausbildenden wissenschaft­­lichen Konsenses in der Rekonstruk­­tionsfrage.

136 Als Ausnahme ist hier unbedingt die 2007 publizierte Arbeit Bert Pampels hervorzuhe­ ben. Vgl. Bert Pampel: »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist«. Zur ­Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher (= Campus Forschung, 4). Frankfurt a. M./ New York 2007.

Christina Heiduck

Das Lager Płaszów in Krakau und seine dislozierte Erinnerung Die Geschichte des Zwangsarbeits- und Konzentra­tionslagers während der deutschen Okkupa­tion Erste Bauarbeiten und die Entstehung des Lagers Auf Befehl des SS- und Polizeiführers im Distrikt Krakau, Julian Scherner, began­ nen gegen Ende des Jahres 1942 im Krakauer Stadtteil Płaszów die Bauarbeiten für ein Zwangsarbeitslager. Süd­­lich der Altstadt sowie des ehemaligen jüdischen Viertels Kazimierz gelegen, war es nur 2,5 Kilometer vom seit März 1941 beste­ henden Ghetto in Podgórze entfernt. Ab Oktober 1942 wurden dafür verstärkt jüdische Menschen aus dem Ghetto in sogenannten Barackenbau-­­Kommandos zum Bau der Gebäude auf dem künftigen Lagergelände gezwungen.1 Auf dem Terrain befanden sich zu Beginn der Bauarbeiten neben Wohnhäusern zwei jüdi­ sche Friedhöfe: der alte Friedhof an der Jerozolimska-­­Straße und der neue an der Abraham-­­Straße. Trotzdem wurde das Gebiet als Lagerort ausgewählt.2 In der Entstehungsphase des Lagers gestalteten sich die Bauarbeiten chaotisch, es gab wenig Infrastruktur, und die Bauprojekte schritten nur langsam voran.3 Bis zum März 1943 war das »Barackenbau-­­Kommando« bereits auf 15004 bis 2000 als Juden definierte Menschen angewachsen, die auf dem Lagergelände lebten.5 In den ersten Monaten mussten die Zwangsarbeiter die oft wertvollen Grabsteine des alten Friedhofs zerschlagen, sie dienten als Pflastersteine für die Straße, die an 1 Vgl. Angelina Oster: Im Schatten von Auschwitz. Das KZ Krakau-­­Plaszow – Geschichte und Erinnerung. In: Dachauer Hefte 19 (2003), S. 170 – 179, hier S. 170. 2 Vgl. Edyta Gawron: The Płaszów Camp: A Part of the Nazi Plan of Exploita­­tion and ­Genocide. In: Monika Bednarek u. a. (Hrsg.): Kraków under Nazi Occupa­­tion 1939 – 1945. Krakau 2011, S. 396 – 423, hier S. 396. 3 Vgl. Angelina Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager. In: Wolfgang Benz/ Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, Bd. 8: Riga-­­Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płaszów, Kulmhof/Chełmo, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München 2008, S. 235 – 287, hier S. 274. 4 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 397. 5 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), S. 274.

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den Unterbringungen der SS-Belegschaft vorbeiführte. Diese Arbeit war körper­­ lich nicht nur ausgesprochen anstrengend und demütigend, sondern verletzte zudem die religiösen Gefühle der jüdischen Gefangenen. Das Gelände des alten Friedhofs wurde mit Hilfe von Baggern eingeebnet. Ständig stieß man dabei auf Särge und Knochen. Die sich noch in den Gräbern befindenden Leichen mussten von den jüdischen Männern geborgen werden, bevor an derselben Stelle Baracken errichtet wurden. Erst ab Ende des Jahres 1943 waren die Arbeiten zur Wegbar­ machung in dem unebenen Gelände größtenteils vollendet.6 Der Amtsantritt Amon Göths und die Auflösung des Ghettos Im Februar 1943 wurde der österreichische SS-Untersturmführer Amon Göth zum Lagerkommandanten berufen. Bald nach seiner Ankunft wurden die schrittweise Auflösung des Krakauer Ghettos und die Übersiedlung seiner Bewohner nach Płaszów veranlasst. Diese Vorgehensweise dauerte Göth allerdings zu lange. Am 13. März 1943 befahl er deshalb die vollständige Auflösung des Ghettos. Die als arbeitsfähig eingestuften Menschen wurden in das Zwangsarbeitslager Płaszów umgesiedelt. Personen ohne Arbeitsnachweise sowie Kinder und Jugend­­liche unter 14 Jahren wurden von ihnen getrennt. Alte, schwach aussehende und nur einge­ schränkt gehfähige Menschen wurden direkt auf der Straße erschossen. Gleiches galt für die Patienten in den Krankenhäusern innerhalb des Ghettos. Am Morgen nach der Auflösung waren die Plätze und Straßen des Ghettogeländes mit Blut und Leichen übersät und die verbliebenen Kinder des Kinderheims nach Auschwitz deportiert worden. Während der nächsten drei Tage brachten Pferdefuhrwerke etwa zweitausend Tote aus dem ehemaligen Ghetto nach P ­ łaszów, dort wurden sie in einem Massengrab verscharrt.7 Ursprüng­­lich war das Lager Płaszów für viertausend Zwangsarbeiter geplant worden, nach dem Massaker im Ghetto kamen allerdings z­ wischen sechs- und achttausend Personen dazu. Die neu angekommenen Gefangenen wurden gezwungen, ihre Wertsachen abzugeben. Männer wurden von Frauen und den ins Lager geschmuggelten Kindern getrennt untergebracht.8 Das Lager befand sich allerdings noch immer im Aufbau. Die Baracken auf dem vormaligen Fried­ hofsgelände hatten noch keine Dächer, und die blanken Pritschen waren noch

6 Vgl. ebd., S. 240 ff. 7 Vgl. ebd., S. 240 f. 8 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 397.

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nicht einmal mit einfachen Strohmatten ausgestattet.9 Auch Tische, Bänke und Regale zur Aufbewahrung der Metallschüsseln der Gefangenen wurden erst ­später herbeigeschafft.10 Die Zahl der Gefangenen stieg trotz der unzureichenden Infrastruktur weiter an. Zum Jahreswechsel 1943/44 kann bereits von etwa 11.500 jüdischen Gefange­ nen in Płaszów ausgegangen werden. Ab März 1944 kamen zusätz­­lich ­zwischen ein- und zweihundert polnische Gefangene hinzu. Anfang Juni wurden weitere 5000 bis 6000 ungarische jüdische Frauen in das Lager gebracht und noch im sel­ ben Monat 3700 jüdische Zwangsarbeiter aus dem Außenlager Wieliczka. Damit erreichte die Belegung des Lagers mit über 20.000 Gefangenen ihren Höhepunkt.11 Polnische Gefangene Ab Juli 1943 wurden auch nichtjüdische Polen in Płaszów inhaftiert. Für sie diente das Lager als sogenanntes Arbeitserziehungslager, das heißt, sie wurden für besonders harte Arbeit, meist im Steinbruch, eingeteilt. Die Zahl der polnischen Gefangenen stieg schnell an und betrug im Durchschnitt circa eintausend Perso­ nen. Polnische Strafgefangene waren größtenteils aufgrund von Vergehen gegen die Anordnungen der deutschen Besatzungsmacht verhaftet oder aus einem Kra­ kauer Gefängnis in das Lager überstellt worden. Ihre Strafdauer variierte z­ wischen wenigen Wochen und mehreren Monaten, konnte aber vom Lagerkommandanten verlängert werden. Zunächst mussten die polnischen Gefangenen getrennt von den jüdischen leben, im Januar 1944 wurde der Stacheldraht zum jüdischen Teil des Lagers allerdings abgerissen.12 Nach und nach wurden auch Staatsgefangene oder Personen, denen Kontakte zum polnischen Untergrund vorgeworfen wurden, in das Lager gebracht und dort häufig sofort exekutiert.13 Als Reak­­tion auf den Beginn des Warschauer Aufstands im August 1944 wurden bei Straßen­razzien in Krakau rund siebentausend junge Polen festgenommen und nach P ­ łaszów gebracht. Nach zwei Tagen ohne Essen und Trinken wurden viele von ihnen wie­ der freigelassen, andere mussten mehrere Wochen im Lager bleiben, wurden in ein Gefängnis gebracht oder zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportiert.14 9 Vgl. Oster: Im Schatten von Auschwitz (wie Anm. 1), S. 171. 10 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), hier S. 416. 11 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), S. 275. 12 Vgl. ebd., S. 251. 13 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 411. 14 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), S. 253 f.

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Formen der Zwangsarbeit, Bestrafungen und Deporta­tionen Die Bauarbeiten im Lager endeten nicht, solange ­dieses bestand. Um den Abtransport von Steinen und Erde zu beschleunigen, erfand Göth den soge­ nannten Mannschaftszug. Dazu mussten siebzig Frauen in zwei Reihen an einem einhundert Meter langen Seil mit Abraum befüllte Waggons ziehen. Die ein­ zelnen Bauvorhaben konnten nicht verwirk­­licht werden, da die Lagerleitung utopische Zeitvorgaben setzte, es an Material mangelte und der schlammige Boden die Arbeiten erschwerte. Im Winter 1943/44 wurde mit dem Bau von Nebengleisen des Bahnhofs Płaszów, die direkt in das Lager führen sollten, begonnen. Dafür wurde die ehemalige Aussegnungshalle des neuen jüdischen Friedhofs gesprengt.15 Das Lager Płaszów lag direkt am Rand der Großstadt Krakau, von wo aus viele der Gefangenen unter Bewachung und in Marschkolonnen zu ihren Arbeitsstellen in der Stadt marschieren mussten. Es entstanden zwei Außenlager bei privaten Firmen, die kriegswichtige Aufträge bearbeiteten – bei den Krakauer Kabelwerken und der Deutschen Emaillewaren-­­Fabrik Oskar Schindlers.16 Im Lager selbst fer­ tigten die Gefangenen Uniformen für die Wehrmacht in der Kleiderfabrik Julius Madritsch.17 Die Posi­­tionen im Verwaltungsbereich des Lagers, von der Schreib­ stube bis hin zur Küche, besetzten ebenso jüdische Personen.18 Die häufigsten Strafen im Lager waren Prügel. Die Gefangenen mussten die Zahl der Peitschenhiebe, die für sie bestimmt war, mitzählen. Wenn die Kraft zum Zählen versagte, wurde von Neuem begonnen.19 Außerdem wurden Steh­ bunker gebaut – Gefängniszellen mit einer Grundfläche von 70 mal 70 Zentime­ ter, in denen die Gefangenen meist über Nacht oder 24 Stunden ohne Nahrung, Wasser oder Toilette stehen mussten. Eine andere Mög­­lichkeit zur Bestrafung stellte die Zuweisung in das sogenannte Strafkommando dar, dessen Angehörige besonders harte Zwangsarbeit im angrenzenden Steinbruch der Firma Liban & Ehrenpreis verrichteten.20 Am Anfang, als Płaszów noch Zwangsarbeits- und kein Konzentra­­tionslager war, waren willkür­­liche Morde alltäg­­lich. Göth erschoss Gefangene für jede Art von Vergehen. Er hatte außerdem zwei Hunde, die darauf abgerichtet waren, 15 Vgl. ebd., S. 244 f. 16 Vgl. ebd., S. 235. 17 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 396. 18 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), hier S. 248 f. 19 Vgl. Oster: Im Schatten von Auschwitz (wie Anm. 1), S. 172. 20 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), S. 261 f.

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Menschen auf sein Kommando hin anzugreifen. Göth zwang die Gefangenen dazu, die Dogge »Rolf« mit »Herr Hund« anzusprechen. Auf seine Komman­ dos hin: »Rolf, friss!« oder »Rolf, Jude!« fiel der Hund Gefangene an und ver­ letzte seine Opfer schwer.21 Es gab drei Haupttötungsorte innerhalb des Lagers, an denen Massenexeku­­ tionen stattfanden. Die Männer der SS erschossen dort hauptsäch­­lich Polen, die von außerhalb des Lagers zur Ermordung an diese Orte gebracht worden waren. Zu ihnen zählten etwa Inhaftierte aus dem Krakauer Gestapo-­­Gefängnis. Auch jüdische Menschen aus kleineren Ghettos der unmittelbaren Umgebung wurden dort gruppenweise erschossen.22 Die jüdischen Internierten des Lagers, die nicht mehr arbeiten konnten, deportierte man hingegen in den meisten Fällen nach Auschwitz. Am 7. Mai 1944 führte die Lagerleitung in Płaszów einen sogenannten Gesundheitsappell durch. Der SS-Arzt Maximilian Blancke ließ die Gefangenen bei vier Grad Außentemperatur nackt an seinem Tisch vorbeimarschieren und trennte dabei diejenigen, die eine Woche ­später nach Auschwitz deportiert wur­ den, von denen, die weiter in Płaszów arbeiten sollten. Bei dieser Ak­­tion wurden auch fast alle noch in Płaszów verbliebenen Kinder registriert und am 14. Mai ebenfalls nach Auschwitz deportiert.23 Lebensbedingungen Der Tagesablauf im Lager folgte dem immer gleichen Muster: Wecken war um 4:30 Uhr, kurz danach begann der Morgenappell, der bis 6 Uhr dauerte, danach mussten die Gefangenen zur Arbeit marschieren. Normalerweise dauerte der Arbeitstag elf Stunden und schloss mit dem Abendappell. Geschlafen wurde auf dreistöckigen Pritschen in den Baracken, die für jeweils zweihundert Personen ausgelegt 24 und 10 mal 40 Meter groß waren.25 Die Verpflegung im Lager war mangelhaft. Der größte Teil der für die Gefangenen nach Płaszów gelieferten Nahrungsmittel verließ das Lager wieder, um auf dem Schwarzmarkt verkauft und gegen Luxuswaren wie Wein und Delikatessen für den Lagerkommandanten eingetauscht zu werden. Göth brauchte die Waren für gesellschaft­­liche Anlässe in seiner Villa. Die Gefangenen hingegen bekamen anfäng­­lich 180 Gramm Brot am 21 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 403. 22 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), S. 266 f. 23 Vgl. ebd., S. 267 f. 24 Vgl. ebd., S. 260. 25 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 416.

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Tag. Weil viele Gefangene für ihre täg­­liche Arbeit in den Außenkommandos das Lager verlassen mussten, hatten sie Kontakt zu Menschen außerhalb des Lagers und konnten mit deren Hilfe Nahrungsmittel schmuggeln. Auch polnische Fahrer, die das Lager etwa mit Baumaterialien belieferten, brachten illegal Lebensmittel auf das Gelände. Nach Aussagen von Überlebenden waren selbst SS-Wachmänner an den Tauschgeschäften beteiligt und billigten deshalb den Handel.26 Wie schon im Ghetto nahm auch im Lager der jüdische Ordnungsdienst eine privilegierte Stellung ein. Die Männer des sogenannten Jüdischen Ordnungsdiens­ tes waren bereits maßgeb­­lich an der Auflösung des Ghettos beteiligt gewesen und dienten im Lager als Blockälteste oder Kapos. Sie hatten dadurch Einfluss auf die Arbeitszuteilung, einige durften sogar zeitweise das Lagergelände verlassen, nicht zuletzt um die Schwarzmarktgeschäfte für Göth zu erledigen.27 Ab Januar 1944 wurde das Arbeitslager in ein selbstständiges Konzentra­­tions­ lager umgewandelt. Das bedeutete nicht nur für die Gefangenen, sondern auch für Amon Göth grundlegende Veränderungen, denn als Kommandant eines Zwangsarbeitslagers hatte er sich bisher kaum an Vorschriften halten müssen. Das Lager musste ab ­­diesem Zeitpunkt nach den allgemeinen Vorschriften für Konzentra­­tionslager geführt werden. Die Gefangenen wurden deshalb neu regis­ triert, mussten Gefangenenkleidung tragen, und die willkür­­lichen Tötungen hör­ ten auf. Außerdem wurde die täg­­liche Brotra­­tion verdoppelt, dazu gab es K ­ affee und eine dünne Suppe ohne Fett.28 Vor seiner Schließung betrug die Größe des Lagers rund 80 Hektar und erstreckte sich von der Wielicka-­­Straße im Nordosten bis zur Swoszowicka-­ ­Straße im Westen, im Süden bis zur Grenze des Stadtgebiets Wola Duchacka und im Norden bis zum Steinbruch. Das Lager war von einem vier Kilometer langen Stacheldrahtzaun umgeben, der ab 1944 unter elektrischer Spannung stand. An ihm reihten sich zwölf Wachtürme auf, ausgestattet mit Suchscheinwerfern und Maschinengewehren.29 Das Lager selbst war in drei Bereiche aufgeteilt: in einen Wohntrakt für die Gefangenen, in ein Verwaltungsgebäude einschließ­­lich eines Wachblocks mit Kaserne und in das Industriegelände. Innerhalb dieser Bereiche gab es weitere Unterteilungen, zum Beispiel getrennte Schlafbereiche für Frauen und Männer. Die Küche, das Magazin, die Bäckerei und das Krankenrevier waren ebenfalls separiert. All diese Bereiche waren durch Zäune, Gräben und bewachte Tore 26 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), S. 262 f. 27 Vgl. ebd., S. 261. 28 Vgl. ebd., S. 248 – 263. 29 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 396.

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voneinander getrennt.30 Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung gehörten rund zweihundert Gebäude zum Lagerkomplex, zudem einige Nebenlager und Objekte im Stadtgebiet von Krakau.31 Die Verhaftung Göths Amon Göth wurde am 13. September 1944 während seines Urlaubs in Wien verhaftet, unter anderem wegen Unterschlagung jüdischen Vermögens. Göths Willkürherrschaft, seine Schwarzmarktgeschäfte und das undisziplinierte Ver­ halten der Wachleute in Płaszów waren stadtbekannt geworden. Sogar Heinrich Himmler hatte von seinem alten Schulfreund Hans Stauber, Oberzahlmeister der Heeresstandortverwaltung in Krakau, einen Beschwerdebrief über Göth erhal­ ten, in dem er darüber informierte wurde, welch schlechten Ruf Płaszów mittler­ weile habe. Göth wurde daraufhin wegen Korrup­­tion, Amtsmissbrauchs und der Ermordung von Gefangenen in das Gefängnis München-­­Stadelheim eingewiesen, jedoch nicht verurteilt und im April 1945 wegen des nahenden Kriegsendes zu einem Flak-­­Ersatzregiment überstellt. Im Mai 1945 spürten ihn amerikanische Ermittler auf und lieferten ihn s­ päter an die polnische Justiz aus. Göth musste sich vor dem Obersten Na­­tionalen Gerichtshof in Krakau verantworten, das öffent­­liche Interesse der lokalen Bevölkerung an d­­ iesem Prozess war enorm. Am 13. September 1946, genau ein Jahr nach seiner Verhaftung, wurde das Todesurteil gegen ihn vollstreckt: Amon Göth wurde in Krakau gehängt.32 Die letzten Monate des Lagers Göths Nachfolger und letzter Kommandant Płaszóws war Arnold Büscher. Unter ihm wurde das Lager wegen der näher rückenden Ostfront zurückgebaut, viele Gefangene waren bereits deportiert worden. Im August 1944 verließen große Transporte mit männ­­lichen Gefangenen das Lager in Richtung Mauthausen. Die Belegung sank daraufhin erstmals seit dem Frühjahr 1943 deut­­lich unter die Marke von zehntausend. In der Folge wurden Maschinen abgebaut und die Baracken auseinandergenommen, die Barackenteile nach Bergen-­­Belsen und Neuengamme geschickt. Zur gleichen Zeit begann man damit, die Leichen aus 30 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), S. 248 f. 31 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 396. 32 Vgl. Awtuszewska-­­Ettrich: Płaszów – Stammlager (wie Anm. 3), S. 272.

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den Massengräbern auszugraben und zu verbrennen. Bis zum 14. Januar 1945 sank die Zahl der Gefangenen auf 625, die an diesem ­­ Tag nach Auschwitz mar­ schieren mussten.33 Schätzungen zufolge durchliefen insgesamt rund 100.000 Personen das Lager Płaszów, jedoch waren nie mehr als 25.000 Gefangene gleichzeitig im Lager. Auch die exakte Anzahl derer, die vergraben oder ermordet wurden, ist nur schwer festzustellen. Die meisten Schätzungen belaufen sich auf circa 10.000 Tote.34 Am 18. Januar 1945 erreichte die Erste Ukrainische Front der Roten Armee das bereits demontierte und menschenleere Lager Płaszów und nutzte die verbliebe­ nen Gebäude als Muni­­tionsmagazine.35

Eingeschränktes Gedenken im Brachland nach dem Krieg Erstes Erinnern Nur wenige Tage, nachdem die sowjetischen Truppen das Lager verlassen hatten, organisierte die Stadt Krakau am 28. Oktober 1945 eine Gedenkfeier für die Opfer der na­­tionalsozia­listischen Okkupa­­tion. Dabei gedachte man unter anderem auch der Menschen, die im Lager Płaszów umgebracht worden waren. Vom Lager selbst blieben in der Folge allerdings nur die Gebäude erhalten, die auch schon vor der Zeit des Krieges existiert hatten. Dazu gehört das sogenannte Graue Haus an der Ecke der Abraham-­­Straße und der Jerozolimska-­­Straße, das während der Lager­ zeit für administrative Zwecke genutzt wurde und in dessen Keller die Stehbunker eingebaut worden waren. Nur wenige Meter davon entfernt ist der Grundriss des Appellplatzes erkennbar. Nörd­­lich vom Appellplatz sind noch die wenigen Über­ reste eines der zerstörten jüdischen Friedhöfe zu sehen. Außerdem blieb die ehema­ lige Villa des Lagerkommandanten Amon Göth in der Heltman-­­Straße erhalten.36 Nach dem Ende des Krieges war das Gelände des ehemaligen Lagers förm­­ lich verwaist. Während der 1950er Jahre wurde die polnische Aufarbeitung der als weniger wichtig angesehenen Gedenkorte, zu denen Płaszów gehörte, vonseiten der sozia­listischen Regierung regelrecht eingedämmt. Sie hatte die Entscheidungsgewalt ­darüber, was von wissenschaft­­licher Relevanz war und was nicht.37 So überwucherten 33 Vgl. ebd., S. 273 f. 34 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 421. 35 Vgl. Oster: Im Schatten von Auschwitz (wie Anm. 1), S. 173. 36 Vgl. ebd., S. 176 ff. 37 Vgl. ebd., S. 176 ff.

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zwar viele der alten Straßen, doch die Überreste der gesprengten Aussegnungs­ halle blieben weiterhin sichtbar und wurden nicht beräumt, ebenso wie die bereits erwähnten Reste eines der jüdischen Friedhöfe. Nur ein einziger jüdischer Grabstein überstand weitgehend unbeschädigt die Lagerzeit. Es ist der Grabstein von Chaim Jakób Abraham, mit Inschriften auf Polnisch und Hebräisch versehen, der bis heute auf dem ehemaligen Lagergelände liegt.38 Unmittelbar nach dem Krieg wurde auf dem im Jargon der Gefangenen »Hujowa Górka« genannten Hügel ein großes hölzernes Gedenkkreuz für die im Lager ermordeten Polen aufgestellt. Es befindet sich im Nordosten des Geländes. »Hujowa Górka« war während der Lagerzeit einer der drei Orte für Massenexeku­­tionen, an dem die Angehörigen der SS auch christ­­liche Polen erschossen hatten, die nur für ihre Ermordung ins Lager gebracht wurden.39 Im nörd­­lichen Teil des Geländes steht außerdem ein Gedenkstein für die Opfer des 10. September 1939. Es ist ein Obelisk mit einer schwarzen Gedenktafel zur »Erinnerung an die Opfer des Verbrechens«. Er wurde 1984 enthüllt und auf einem kleinen gepflasterten Podest, das von einer Kette umgeben ist, platziert. Am 10. September 1939 hatten Beamte der deutschen Sicherheitspolizei als Abschreckungsmaßnahme 13 polnische Einheimische in der Nähe des neuen jüdischen Friedhofs erschossen. Diese Ak­­tion wird als die erste Massenexeku­­ tion in Krakau nach dem deutschen Überfall gewertet.40 Wie auch andernorts in Polen dominiert in Płaszów das christ­­liche Opfergedenken und negiert auf diese Weise den Umstand, dass hier in erster Linie Menschen als Juden gequält und getötet wurden. Das sozia­listische Monument von 1964 Das größte Denkmal zur Erinnerung an das Konzentra­­tionslager Płaszów ist ein Monument, das in der südwest­­lichen Ecke des Geländes für »die Opfer des Faschismus« errichtet wurde (Abb. 1). Der Entwurf aus dem Jahr 1962 stammt von Witold Cęckiewicz und wurde ein Jahr s­ päter vom Bildhauer Ryszard ­Szczypczyński realisiert. Zum 25. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Welt­ kriegs wurde es als Teil der Feier­­lichkeiten der Stadt Krakau am 3. September 38 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 421. 39 Vgl. Ryszard Kotarba: Niemiecki obóz w Płaszowie 1942 – 1945. Przewodnik Historyczny [Das Deutsche Lager in Płaszów 1942 – 1945. Ein historischer Wegweiser]. Warschau 2014, S. 78. 40 Vgl. ebd., S. 67.

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Abb. 1  Monument für »die Opfer des Faschismus«

1964 enthüllt. Das Denkmal befindet sich am äußersten Rand des früheren Lagers auf einem Hügel, der sich über den Rest des Geländes erhebt. Diese hexagonförmige Anhöhe stammt aus den Jahren 1855/56 und ist der Überrest einer österreichischen Festungsanlage. Während der Lagerzeit diente sie als Ort für Massenexeku­­tionen.41 Auf beiden Seiten führen mehrere steinerne Trep­ penabschnitte den Hügel hinauf. Teile des Weges sind zusätz­­lich mit Beton­ platten ausgelegt. Das Denkmal von Cęckiewicz und Szczypczyński ist neun Meter hoch und besteht aus Kalkstein. Es zeigt in tiefem Relief fünf gemeißelte Figuren im Moment ihrer Erschießung. Sie stehen dicht gedrängt mit nach unten hängen­ den Armen, ihre Gesichter sind dem Boden zugewandt. Ungefähr auf Brusthöhe werden sie von einem horizontalen Riss durchbrochen, der sich rundherum um das Monument zieht. Den oberen Teil des Denkmals bildet eine glatte Fläche, ­welche die gesenkten Häupter der Figuren abschließt und deren Gewicht die Köpfe nach unten zu drücken scheint. Cęckiewicz selbst hat gesagt, das Bild 41 Vgl. Wojciech Szymański: A Place of Memory – Monument – Counter-­­Monument. ­Artistic Strategies of Commemora­­tion in Krakow’s District Podgórsze. In: RIHA Journal Nr. 0123 vom 17. Juni 2015, URL: http://www.riha-­­journal.org/articles/2015/2015-apr-­­jun/ special-­­issue-­­contemporary-­­art-­­and-­­memory-­­part-2/szymanski-­­podgorze-­­en/@@metaview, letzter Zugriff: 01. 08. 2015.

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eines zerrissenen Blattes Papier und eines Menschen, der durch eine Maschi­ nengewehrsalve erschossen wurde, hätten ihn inspiriert. Ihm zufolge sollte das Denkmal von der Seite betrachtet an einen riesigen weißen Knochen erinnern, der aus dem Boden rage. Die Zahl der Figuren stellt die verschiedenen Na­­tio­ nalitäten derer dar, die nach damaligem Wissensstand im Lager ums Leben kamen.42 Die Rückseite des Denkmals ist glatt, wird aber ebenfalls von dem Riss, der auch auf der Vorderseite die Figuren durchtrennt, geteilt. Sie trägt auf Pol­ nisch und in riesigen Buchstaben die Inschrift: »Zu Ehren der Märtyrer, ermordet als Resultat des Nazigenozids in den Jahren 1943 – 1945«. Cęckiewicz zufolge stammt der Text von der Kommission, die das Denkmal in den 1960er Jahren in Auftrag gegeben hatte. Der Text existierte also bereits vor dem Entwurf des eigent­­lichen Denkmals. Durch ihr großes Format passte die Schrift allerdings gut zur Idee des Architekten.43 Die Gesichter der Figuren sind dem gegenüber­ liegenden Einkaufszentrum zugewandt und der vielbefahrenen Kamieńskiego-­ ­Straße, auf der jeden Tag scharenweise Touristen aus der Krakauer Innenstadt in das Salzbergwerk Wieliczka fahren. Weil die solide und monumentale Gestaltung des Denkmals an dasjenige in Treblinka erinnert, welches ebenfalls 1964 enthüllt wurde, bietet James E. Young hingegen eine andere Interpreta­­tion an. Das zeitgenös­­sische Gedenkmotiv war in Polen stark von dem Eindruck zerbrochener jüdischer Grabsteine inspiriert. Sowohl der Gedenkstein in Treblinka als auch derjenige in Płaszów scheinen ­dieses Motiv aufzugreifen.44 Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass ­dieses sozia­ listische Denkmal nichts Heroisches oder Widerständiges zum Ausdruck bringt, sondern den Tod und das Leiden in den Vordergrund stellt. Zudem trägt es der na­­tionalen Heterogenität der Opfer Rechnung, ebnet dabei allerdings das jüdi­ sche Leid in eine allgemeine Leidensgeschichte ein. Mit dem hölzernen Kreuz und dem Monument von Cęckiewicz und ­Szczypczyński sind zwei der drei Orte von Massenerschießungen in Płaszów markiert, allerdings geht weder aus einer Inschrift hervor, dass es sich um Exeku­­ tionsorte handelt, noch sind andere Informa­­tionen zum konkreten historischen Geschehen auf dem Gelände des ehemaligen Lagers vorhanden. Der dritte Ort im Norden des ehemaligen Lagergebiets blieb hingegen ohne Markierung.

42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd. 44 Youngs Bericht über das Monument in Płaszów ist fehlerhaft. Es besteht aus fünf Figuren, nicht wie von Young beschrieben aus sechs. Zudem schreibt er den Namen des beteiligten Bildhauers falsch. Vgl.: James E. Young: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust. Wien 1997, S. 264 f.

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Die Veränderung des Lagergeländes und seiner Repräsenta­tionen seit den 1990er Jahren Ein neues Płaszów von Steven Spielberg Direkt neben einem beliebten Ausflugsziel in Krakau, dem Kopiec Krakusa, einem künst­­lich angelegten Hügel, von dem man die ganze Stadt überblicken kann, liegt der ehemalige Liban-­­Steinbruch. Ein rostiger Maschendrahtzaun trennt die Wiese am Fuße des Hügels von dem riesigen Loch, das der Stein­ bruch in die Erde gerissen hat. Von dort aus sind deut­­lich die Überreste von schwerer Maschinerie zu erkennen sowie ein riesiges Förderband und die typi­ schen, nach unten spitz zulaufenden Silos eines Kieswerks. Von der Seite des Kopiec Krakusa aus benötigt es ein wenig Mut und festes Schuhwerk, um den steilen Weg in den Steinbruch hinabzusteigen. Von Norden führen Trampel­ pfade durch ein kleines Waldstück zum Steinbruch. Am Boden finden sich schnell vermeint­­liche Hinweise auf die Geschichtsträchtigkeit des Ortes: Ein Weg aus zerschlagenen jüdischen Grabsteinen ist zu sehen, manche mit einge­ meißelten Mustern und hebräischen Inschriften, und auch die Überreste eines doppelreihigen Stacheldrahtzauns. Am oberen Rand des Steinbruchs, nahe den Silos sind halbzugewachsene Schienen zu finden und stehen verwitterte Backsteingebäude. Der ganze Ort ist von jungen Büschen und Bäumen über­ wuchert, die im Frühling und Sommer die Sicht auf den Boden des Steinbruchs und den Weg aus Grabsteinen fast völlig verdecken. Kein Hinweisschild hilft bei der Erkundung des Ortes oder warnt vor dem Erklettern der riesigen und sehr rostigen Stahlbauten. Stattdessen nutzen ­­ zufällig dorthin gelangte Wan­ derer die Kulisse für Fotoaufnahmen, Teenager klettern auf die Silos und das alte Laufband, Ortsansässige gehen mit ihrem Hund spazieren. Vom Kopiec Krakusa aus sind die Menschen im Steinbruch zu sehen und locken weitere Abenteuerlustige an (Abb. 2). Aber die Grabsteine am Boden sind Duplikate, der Zaun und die Maschinen Teil einer Filmkulisse. Am 1. März 1993 begannen in Krakau die Dreharbeiten für Steven Spielbergs Film Schindlers Liste. Spielberg verfolgte das Ziel, seinen Film so originalgetreu wie mög­­lich aussehen zu lassen. Płaszów ist und war jedoch hügelig und uneben sowie durch die Erhebungen der alten österreichischen Fes­ tungsanlagen unterbrochen. Płaszów entspricht in seiner Unübersicht­­lichkeit nicht den stereotypen Vorstellungen eines Konzentra­­tionslagers und den Anfor­ derungen an ein Filmset. Deshalb ließ Spielberg das Lager im Liban-­­Steinbruch nachbauen, also ein Duplikat des Konzentra­­tionslagers an einem originalen Ort der Zwangsarbeit anfertigen. Dafür entwarf der Ausstatter Allan Starski die

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Abb. 2  Blick vom Boden des Steinbruchs auf die Überreste der Kulisse des Films Schindlers Liste (2015)

Kulisse nach Zeichnungen des ursprüng­­lichen Lagers. Es wurden 34 Barracken, 7 Wachtürme und die Anfahrtsstraße, gepflastert mit Grabsteinen, errichtet. Außer­ dem wurde die Villa von Göth rekonstruiert. Die Filmvilla lag deut­­lich weiter oberhalb des Lagers als das originale Haus, denn so konnte der Lagerkomman­ dant im Film effektvoll von seinem Balkon aus auf Gefangene im Lager schie­ ßen. Die originale Villa, die seit dem Frühjahr 2016 wieder zu einem Wohnhaus ausgebaut wird, befindet sich in der Heltman-­­Straße hinter einem Hügel, sodass Göth unmög­­lich von seinem Balkon aus Ziele außerhalb seines eigenen Gartens treffen konnte. Nach dem Ende der Dreharbeiten wurde der Großteil der Kulisse, wie die Villa des Kommandanten, wieder abgebaut, die besonders eindrucksvol­ len Teile, darunter der Weg aus Grabsteinen und der Stacheldrahtzaun, wurden jedoch zurückgelassen.45 Der Film Schindlers Liste rückte Płaszów kurzzeitig ins Licht der Öffent­­ lichkeit, trotzdem blieb das Lagergelände auch in den 1990er Jahren weiter unverändert. Nach der Jahrtausendwende entstanden auf dem Gelände nach und nach weitere Bestandteile einer Gedenkstruktur, die allerdings uneinheit­­ lich bleiben sollte.

45 Vgl. Johannes-­­Michael Noack: »Schindlers Liste« – Authentizität und Fik­­tion in ­Spielbergs Film (= Media Studien, 4). Leipzig 1998, S. 81 ff.

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Neue Denkmäler und Raum für Unklarheiten Als Resultat der schnell voranschreitenden Urbanisierung seit 1989 liegt das Gelände des ehemaligen Konzentra­­tionslagers nicht mehr am Rand Krakaus, sondern mitten im Stadtgebiet, neben einer Schnellstraße und gegenüber von einem Einkaufszentrum, dessen riesige Werbetafeln das Panorama des Ortes dominieren. Auf Satellitenaufnahmen ist nicht weit entfernt von der touristischen Altstadt sehr deut­­lich die große, grüne Fläche zu sehen, auf der sich früher das Konzentra­­tionslager befand.46 Einige Überreste aus der Zeit vor und während des Lagers können mit Kenntnis des Ortes noch gefunden werden, wie das erwähnte »Graue Haus«, der Appellplatz oder die Reste der jüdischen Friedhöfe.47 Im Oktober 2002 entschied der Dienst für die Erhaltung Historischer Monu­ mente in Krakau, das Gebiet des früheren Lagers sowie das »Graue Haus« in das Register für historische Monumente als Kulturerbe aufzunehmen. Daraufhin ent­ standen 2003 an einigen Zugangswegen zum Lagergelände große, graue Hinweis­ schilder.48 Sie machen auf Polnisch und auf Eng­­lisch auf den besonderen Ort auf­ merksam: »Liebe Besucher! Sie betreten das Gelände des früheren Nazideutschen-­ ­Konzentra­­tionslagers ›Płaszów‹. Bitte respektieren Sie die schmerz­­liche Geschichte ­dieses Ortes.« Diese Schilder sind die einzigen eng­­lischsprachigen Hinweise auf den historischen Ort, an dem sich der Besucher befindet. Zudem sind sie relativ unauffällig gestaltet und vorwiegend am von Büschen oder Bäumen bewachsenen Wegesrand aufgestellt, sodass sie leicht übersehen werden können. Am Zugangsweg, der vom »Grauen Haus« zum Gelände führt, befindet sich eine kleine Tafel, die auf Polnisch kurz die Lagergeschichte umreißt und eine Karte des Konzentra­­tionslagers zeigt. Auf dem Gebiet des ehemaligen Lagers gibt es hingegen keine Kennzeichnungen, die es erleichtern würden, die Orte der Massenexeku­­tionen und -gräber zu finden oder andere Überreste von Lagerbauten zu identifizieren. Auch fehlen Hinweise darauf, dass sich das sozia­listische Denkmal und das hölzerne Kreuz an Orten von Massenexeku­­tionen und gräbern befinden. Der dritte Ort, der während der Lagerzeit für Erschießungen und als Grab genutzt wurde, ist, wie bereits erwähnt, überhaupt nicht gekennzeichnet. Da das Gelände uneben ist und sich der Verlauf der Wege im Gegensatz zum früheren Konzentra­­tionslager verändert hat, ist die überblicksartige Karte von der Informa­­tionstafel nur bedingt nütz­­lich. Deshalb 46 Vgl. Roma Sendyka: Prism. Understanding Non-­­Sites of Memory. In: John W. Boyer/ Berthold Molden (Hrsg.): EUtROPEs: The Paradox of European Empire. Paris 2014, S. 183 – 201, hier S. 188. 47 Vgl. Kotarba: Niemiecki obóz w Płaszowie (wie Anm. 39), S. 57 – 65. 48 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 421.

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bleibt unklar, wo sich etwa Überreste von Baracken befinden oder ob die Reste der Backsteingebäude am Rand der Straße, die vom Lager in Richtung Steinbruch führt, während der Zeit des Konzentra­­tionslagers genutzt wurden. Abgesehen davon existiert in Płaszów eine kleinteilige Gedenkstruktur. Zwei kleinere Gedenksteine sind im direkten Umkreis des großen Monuments von 1964 errichtet worden. Einer davon wurde im Jahr 2000 enthüllt und gedenkt der ungarischen Jüdinnen, die im Lager einen Zwischenhalt hatten einlegen müssen. Die schwarze Tafel auf dem flachen dunklen Stein trägt die Worte: In Gedenken an die tausenden ungarischen jüdischen Frauen, Opfer Nazi-­­Deutschlands, die, unwissend ihrer Zukunft, unvorstellbares Leid aushaltend, provisorisch inhaftiert im KL ­Płaszów, auf ihrem Weg in die Gaskammern vom KL Auschwitz-­­Birkenau waren, wo der einzige Weg in die Freiheit der durch die Schornsteine der Krematorien war.

Die Gedenkplakette wurde gestiftet von der jüdischen Gemeinde Krakaus, von Überlebenden des Konzentra­­tionslagers Płaszów, dem Generalkonsulat Ungarns und von den Bürgern der Stadt Krakau.49 Wenige Meter davon entfernt befindet sich das Monument zur Erinnerung an die ermordeten Juden. Es steht auf einer kleinen gepflasterten Anhöhe umgeben von einem Geländer. Über wenige Betonstufen erreicht man einen steinernen Obelisken, dessen Form stark an einen Grabstein erinnert. Er besteht aus einem hellgrauen, porösen Material, an dem auf gegenüberliegenden Seiten zwei schwarze, glatte Platten angebracht wurden. Sie tragen Inschriften in Hebräisch und Polnisch: Hier an ­­diesem Ort, in den Jahren 1943 – 1945, wurden mehrere zehntausend Juden gequält, ermordet und in Asche verwandelt, hierher gebracht aus ganz Polen und Ungarn. Wir kennen die Namen der Ermordeten nicht. Lasst sie uns ersetzen mit einem Namen – Juden. Hier, an ­­diesem Ort, wurden et­­liche Verbrechen begangen. Die menschliche Sprache hat keine Worte, um diese Grausamkeit, Brutalität, Unbarmherzigkeit und Unmenschlichkeit zu beschreiben. Lasst uns sie durch ein Wort ersetzen – Nazismus. Zum Gedenken an die Ermordeten, deren letzter Verzweiflungsschrei die Ruhe des Płaszów’schen Friedhofs ist – die Ehre erweisen die überlebenden Juden des faschistischen Genozids.

Gestiftet wurde dieser Stein von der jüdischen Gemeinde Krakaus.50 So sind seit dem Jahr 2000 immerhin zwei Denkmäler entstanden, die an die Ermordung

49 Vgl. ebd. 50 Vgl. ebd.

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der Juden in Płaszów erinnern. In beiden Fällen gingen die Initiativen nicht vom polnischen Staat, sondern von jüdischen Einrichtungen aus. Im postsozia­listischen Polen war hingegen das Gedenken an eine andere Opfergruppe wichtig, an die zu Zeiten der Volksrepublik nicht erinnert werden durfte. Nur wenige Schritte von den beiden erwähnten Denkmälern entfernt wurde im November 2012 ein weiterer Obelisk errichtet. Er besteht aus glattem grauen Granit und hat ebenfalls die Form eines Grabsteins. Eingemeißelt sind die Symbole des polnischen Adlers, ein christ­­liches Kreuz und das ­­Zeichen des polnischen Widerstands während des Zweiten Weltkriegs.51 Die Inschrift des Monuments soll an die im Lager ermordeten Mitglieder der polnischen Heimat­ armee, der Armia Krajowa erinnern, die sogar nament­­lich aufgeführt werden.52 Auf diese Weise hat sich die Erinnerungslandschaft in Płaszów ausdifferenziert. Der Preis ist eine Verinselung des Gedenkens, der den historischen Ort als einen Schauplatz unterschied­­licher Verbrechen erscheinen lässt, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten. Ein alle Opfergruppen integrierendes, gemeinsames Gedenken findet hingegen nicht statt. Płaszów und das Museum in der Fabrik Oskar Schindlers In der Lipowa-­­Straße in Krakau steht die ehemalige Emaillewarenfabrik Oskar Schindlers, in der Insassen des Lagers Płaszów Zwangsarbeit leisten mussten. Die Fabrik wurde zu einem modernen Museum umgebaut und öffnete seine Tore im Jahr 2010 als Teil des Historischen Museums der Stadt Krakau. Die Ausstellung behandelt die Zeit der deutschen Besatzung Krakaus während des Zweiten Welt­ kriegs. In einem Raum wird die Geschichte des Konzentra­­tionslagers Płaszów dargestellt. Dies ist die einzige museale Repräsenta­­tion des ehemaligen Lagers. Man betritt den Raum durch einen dunklen Gang mit einer Karte, die die geo­ grafische Lage Płaszóws in Krakau im Verhältnis zum Ghetto und der Schindler­­Fabrik zeigt. Tonspuren mit schnellen Schritten, Hundegebell und deutschen Befehlen wie »Schneller!« und »Dalli!« sind in einer Endlosschleife zu hören. Dieser Gang symbolisiert die Ghettoauflösung. Die nächste Sta­­tion ist der Raum zum Thema Zwangsarbeits- und Konzentra­­ tionslager Płaszów. Der Raum selbst ist sehr hell und von einem indirekten, war­ men, weißen Licht erfüllt. Der Boden ist mit weißem Schotter bedeckt, der bei 51 Das ­­Zeichen setzt sich aus einem P und einem W zusammen, die eine Art Anker bilden. Die Buchstaben stehen für die Worte »Polska Walcząca« – Kämpfendes Polen. 52 Vgl. Kotarba: Niemiecki obóz w Płaszowie (wie Anm. 39), S. 75.

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jedem Schritt Geräusche macht. Der Schotter ist ein einzigartiges Gestaltungs­ mittel im Museum, obwohl auch andere Räume ihre Wirkung durch bestimmte Bodenstrukturen verstärken. In der Mitte stehen ein Stück Stacheldrahtzaun und eine Lore. Das Lager wird also ganz deut­­lich mit der Zwangsarbeit im Liban-­­Steinbruch in Verbindung gebracht. Die runden Wände sind mit einer von hinten beleuchteten Panoramaaufnahme des Lagers bedeckt, beschriftet mit historischen Informa­­tionen zu Płaszów. Die Decke besteht aus Bildern von jüdischen Grabsteinen, die im Lager zur Wegbefestigung benutzt wurden. Sie vermitteln den Eindruck, die Toten der geschändeten jüdischen Friedhöfe s­ eien in Form ihrer Grabsteine nun im Himmel – fraglos eine christ­­liche Assozia­­­tion. Der Raum wirkt durch die helle Gestaltung insgesamt sehr beruhigend. Durch die Steine am Boden bekommt der Besucher einen haptischen Eindruck vom Lager.53 Es folgt ein kleiner, mit Holz getäfelter Raum, in dem eine Art Klappern zu hören ist, das an Geräusche von körper­­licher Arbeit mit Werkzeugen erinnert. Dort hängen gerahmte Fotografien von Männern in SS-Uniformen an den Wän­ den, die offenbar gerade ihre Freizeit verbringen. Diese Bilder sind nicht näher beschriftet, sie geben einen allein illustrativen Blick auf die Täter wieder.54 Einem kundigen Publikum sind die Fotos vertraut, da sie in der Literatur zu Płaszów bereits häufig abgedruckt worden sind.55 Insgesamt setzt das Museum in der Fabrik Oskar Schindlers weniger auf Informa­­tionen als auf sinn­­liche Eindrücke. Der erklärende Inhalt der Schau­ tafeln wird überlagert von der scheinbar erlebbaren Geschichte. Frag­­lich ist, ob die interaktive Gestaltung des Museums zu mehr Interesse der Besucher am Ver­ gangenen führt oder eher ablenkt. Architekturwettbewerb Nach vielen Versuchen, eine Gedenkstruktur für den Ort des früheren Konzentra­­tionslagers zu entwickeln, wurde 2006 von der Gemeinde Krakau ein Architekturwettbewerb ins Leben gerufen, um ein Konzept zur räum­­lichen Gestaltung des Ortes zu entwickeln. Der erste Preis ging an die Proxima Group

53 Vgl. Monika Bednarek u. a. (Hrsg.): Kraków under Nazi Occupa­­tion 1939 – 1945. Krakau 2011, S. 15. 54 Zur Verwendung von Fotografien in Ausstellungen zur Shoah vgl. auch den Beitrag von P ­ hilipp Weigel in ­­diesem Band. 55 Vgl. Ryszard Kotarba: Niemiecki obóz w Płaszowie 1942 – 1945 [Das Deutsche Lager in Płaszów 1942 – 1945]. Warschau/Krakau 2009, S. 194 ff.

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für ein, laut Jury, »hoch sensibles räum­­liches Arrangement mit minimalem Eingriff in das existierende Gelände«.56 Die achtköpfige Proxima Group unter dem Krakauer Architekten Borysław Czarakcziew präsentierte die Ergebnisse ihrer Nachforschungen anhand von zehn Grafiken in Form unterschied­­licher Geländekarten. Sie stellen die verschiedenen Besitzverhältnisse, historisch wichtige Punkte und topografische Eigenheiten, die sich auf dem Gelände des ehemaligen Lagers überlappen, dar. Sie zeigen unter anderem die geolo­­ gische Beschaffenheit des Geländes, den gegenwärtigen Zustand des Ortes, die Überreste aus der Zeit der österreichischen Nutzung, eine Rekonstruk­­tion der Grenzen der jüdischen Friedhöfe, die Aufteilung der Gebäude zu Zeiten des Konzentra­­tionslagers, die Wege und Straßen, die nach 1945 angelegt wurden, moderne technische Installa­­tionen wie Wasser- und Elektroleitungen, die das Lagergelände durchlaufen, sowie die Aufteilung der aktuellen Besitzverhält­ nisse des Geländes ­zwischen der Stadt, privaten Besitzern und der jüdischen Gemeinde. Die letzte Grafik zeigt die vorgeschlagene architektonische Umge­ staltung des Ortes. Durch diese Karten, deren einzelne Elemente verschwim­ men, je mehr von ihnen übereinander geschichtet werden, wird deut­­lich, auf wie vielen Ebenen die Umwandlung des Geländes in eine Gedenkstätte Poten­ tial für Diskussionen bietet. Hinzu kommen die verschiedenen Denkmäler auf dem Gelände, sie müss­ ten ebenfalls in den Entwurf eingebunden werden. Das Gelände befindet sich außerdem an einer stark befahrenen Straße. Das ermög­­licht einerseits eine gute Verkehrsanbindung des Ortes, kann für den optischen Gesamteindruck allerdings störend wirken.57 Bisher wurde die geplante Gedenkstätte nicht gebaut, obwohl laut C ­ zarakcziew bereits seit 2014 eine Baugenehmigung vorliegt. Wann genau der Bau beginnen soll, steht noch nicht fest, genauso wenig ob der historische Ort des Lagers Płaszów die ­gleiche Faszina­­tion ausüben kann, wie es die Ruinen der Kulisse von Steven Spielbergs Film tun. Viele der Touristen, die Krakau besuchen, fahren außerdem in das circa eine Stunde entfernte Oświęcim, um das Staat­­liche Museum Auschwitz-­ ­Birkenau zu besuchen. Eine Gedenkstätte für ein Konzentra­­tionslager direkt in Krakau würde den Eindruck der allgegenwärtigen Geschichte deutscher Okkupa­­ tion intensivieren. Außerdem könnte dieser Ort der extremen Fokussierung auf Auschwitz in der historischen Bildung und der Erinnerungskultur der Krakauer Touristen eine neue Facette hinzufügen.

56 Vgl. Gawron: The Płaszów Camp (wie Anm. 2), S. 421. 57 Vgl. Sendyka: Prism (wie Anm. 46), S. 192.

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Resümee Das Lager Płaszów existiert im Grunde drei Mal im Stadtgebiet von Krakau. Es gibt den historischen Ort, seine verfallene Teilnachbildung im Liban-­­Steinbruch und den ihm gewidmeten Raum im Museum der einstigen Schindler-­­Fabrik. Diese drei Orte unterscheiden sich grundlegend voneinander. Das Bild des historischen Ortes ist geprägt von Natur, es ist ein offener Raum mitten in der Großstadt. Auf dem ehemaligen Lagergelände wachsen dichtes Gras und Büsche, die im Frühling in Blüte stehen und die Anwohner der umliegenden Neubausiedlungen zum Spazierengehen, Sport oder sogar zum Sonnenbaden einladen. Es ist ein schöner, fast fried­­licher Ort, sofern die benachbarte Schnell­ straße gerade nicht zu stark befahren ist und die ausgeführten Hunde nicht zu laut bellen. Der Ort ist außerdem unübersicht­­lich, hügelig und vor allem weitläufig. Ohne genaue Ortskenntnisse ist es schwierig, alle Gedenksteine zu finden, ohne Polnischkenntnisse unmög­­lich, sie den Personen zuzuordnen, an die sie erinnern sollen. Im Zentrum des Gedenkens stehen drei Gruppen: Polen, Juden und unga­ rische Jüdinnen. Die idyl­­lische Natur stellt den Besucher vor kaum lösbare Fragen: Wo begann das Lager und wo endete es? Welche der Ruinen wurden während der deutschen Okkupa­­tion genutzt? Was ist an diesem ­­ Ort überhaupt passiert? Erklärende Elemente zur Lagergeschichte fehlen, auch Hinweise darauf, dass es sie an anderer Stelle geben könnte. Gefunden werden kann es nur von demjeni­ gen, der von dessen Existenz weiß und es gezielt sucht. Die alte Kulisse im Steinbruch hingegen, der auch ein realer Ort der Zwangs­ arbeit war, besticht durch seine schaurige Atmosphäre. Spielbergs Drang nach Authentizität (ursprüng­­lich wollte er Schindlers Liste in Auschwitz drehen)58 lädt den Zuschauer des Films dazu ein, die Shoah zu imaginieren. Auch der Besucher der Filmkulisse wird durch die Reste des Nachbaus im Steinbruch dazu animiert.59 So koppelt sich die Erinnerung an das eigent­­liche Płaszów, an den Ort des Lagers und der Zwangsarbeit, vom ursprüng­­lichen Gelände ab und überträgt sich auf Spielbergs Filmkulisse. Im Gegensatz zum wirk­­lichen Lagergelände erscheinen die Reste der Filmkulisse mysteriös und unheim­­lich. Der Boden ist flach, an den mor­ schen Zaunpfählen hängt noch Stacheldraht, und die Inschriften auf den am Boden liegenden Grabsteinen sind erkennbar. Płaszów wird als Park genutzt, Spielbergs Kulisse wirkt hingegen wie ein authentisches Zeugnis des Konzentra­­tionslagers. 58 Vgl. Noack: »Schindlers Liste« (wie Anm. 45), S. 81. 59 Vgl. Andrew Charlesworth: A Corner of a Foreign Field That Is Forever Spielberg’s: Understanding the Moral Landscapes of the Site of the Former KL Płaszow, Kraków, Poland. In: Cultural Geographies 11 (2004) 3, S. 291 – 312, hier S. 298 ff.

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Das Museum in der früheren Fabrik Oskar Schindlers ist die einzige Quelle, die historische Informa­­tionen zum Lager für den Besucher bereithält. Dazu wartet es mit einer multimedialen Ausstattung auf und lädt durch seine künst­ lerische Gestaltung zum Innehalten ein. Trotzdem ist der eine Raum nur ein kleiner Teil des riesigen Museums, das mit Unmengen an gestalterischen Fein­ heiten die Aufmerksamkeit des Besuchers fesseln will. Dass besagter Museums­ abschnitt explizit das Lager Płaszów darstellt und nicht stellvertretend für die während der deutschen Okkupa­­tion gebauten Lager steht, kann bei der allge­ meinen Reizüberflutung im Museum schnell verloren gehen. Ein Hinweis auf die reale Existenz ­dieses Ortes, nur wenige Kilometer vom Museum entfernt, findet sich nur in einem Menüunterpunkt auf einem Informa­­tionsbildschirm im nachfolgenden Raum. Vielleicht macht die Suche nach dem wirk­­lichen ehemaligen Konzentra­­tions­ lager die derzeitige Attraktivität von Płaszów aus. Diejenigen, die den Ort des einstigen Lagers finden wollen, erleben die Suche nach den historischen Spuren als Abenteuer. Diese Art der Anziehungskraft würde der Bau einer Gedenkstätte frei­­lich unterbinden, doch würde er auch einen würdevolleren Umgang mit den Opfern ermög­­lichen.60 Die Gedenkstätte könnte die Erinnerung an das Lager und seine Opfer an den Ort des historischen Geschehens zurückholen.

60 Vgl. den Beitrag von Christian Jänsch und Alexander Walther, Zur Würde in ­­diesem Band.

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Auschwitz: Plädoyer für die Entmystifizierung eines Un-­Ortes

Polens damaliger Präsident Bronisław Komorowski bezeichnete zum 70. Jahres­ tag der Befreiung Auschwitz als »Hölle von Hass und Gewalt«.1 Das Audito­ rium, bestehend aus dreihundert Überlebenden und weiteren Staatsgästen aus fünfzig Ländern, blickte während der Rede des polnischen Präsidenten auf das ehemalige Torgebäude Auschwitz-­­Birkenaus. In einem Beitrag der ARD-Tagesschau beschrieb die Korrespondentin Griet von Petersdorff-­­Campen vor Ort die Gedenkfeier wie folgt: Ich stehe erstmal hier am Rand des ehemaligen Vernichtungs- und Konzentra­­tionslagers von Auschwitz […]. Die Baracken sind allerdings Nachbauten, aber im Original sahen sie auch so aus: Dort wurde gestorben, massenhaft gestorben vor Hunger, vor Krankheit. Die eigent­­liche Gedenkfeier, die findet in einem Zelt statt. Das Tor, das berühmte Tor, das Synonym für Massen­ mord – ist im Zelt. Es sieht ein bisschen so aus wie eine Theaterkulisse. So verliert es ein bisschen an Schrecken, aber der Schrecken kam schnell wieder, als die Holocaust-­­Überlebende Halina Birenbaum das Wort ergriff.2

Tatsäch­­lich hatte von Petersdorff-­­Campen Recht, als sie sagte, dass viele der Bara­ cken in dem ehemaligen Vernichtungsort mittels originaler Bauteile rekonstruiert worden sind. Das Torgebäude ist hingegen noch »im Originalzustand«. Den­ noch versuchte die Korrespondentin den Rekonstruk­­tionen mit dem Nachsatz »aber im Original sahen sie auch so aus« Authentizität zuzusprechen. Damit fügt sich ihr Beitrag nahtlos in die Konzep­­tion der Gedenkstätte Auschwitz ein. Diese Fokussierung auf die Originalität, die Echtheit des Ortes ist ein wesent­­ licher Bestandteil der Ausstellung und der Gedenkstättenpädagogik. Deren Ziel ist es, durch Emo­­tionalisierung ein »historisches Wissen« zu evozieren. So soll

1 Zit. nach: Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. In: Süddeutsche Zeitung vom 27. Januar 2015, URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/zum-­­jahrestag-­­der-­­befreiung-­­von-­ ­auschwitz-­­gedenken-­­an-­­die-­­opfer-­­des-­­holocausts-1.2323770  –  6, letzter Zugriff: 07. 09. 2015. 2 Griet von Petersdorff-­­Campen: Beitrag zur Gedenkveranstaltung der Befreiung ­Auschwitz. In: Tagesschau vom 27. Januar 2015, URL: https://www.tagesschau.de/­multimedia/ video/video-57965.html, letzter Zugriff: 07. 09. 2015.

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Abb. 1  Eine Besuchergruppe bei der Begehung des »Alten Krematoriums«

das scheinbare »Nachlaufen« der Via Dolorosa 3 Erkenntnisse liefern über die Shoah und »wie sie gewesen ist«. Geschichte wird dabei nicht erzählt, sondern »durchlebt« (Abb. 1). Diesem Konzept widersprechend urteilte die Überlebende Éva Fahidi im Rahmen einer Podiumsdiskussion des Erinnerungsortes Topf & Söhne erschütternd wie mahnend: Auschwitz sei selbst durch seine vermeint­­liche Rekonstruk­­tion nicht vorstellbar.4 Dieser Aufsatz wird in einem ersten Teil in die Geschichte des Ortes vor und nach 1945 einführen. Vor allem der historische Abriss zur Geschichte der Gedenkstätte soll Aufschluss über die Konzep­­tion der Ausstellung und Debat­ ten in und um das Museum geben. Im zweiten Teil steht die Gedenkstättenpä­ dagogik im Mittelpunkt einer kritischen Reflexion der häufig kritisierten Ent­ wicklung der Gedenkstätte Auschwitz hin zu einem »Disneyland des Todes«.5 3 Gemeint ist hier der Weg der Opfer in die Erstickungsräume. Zu finden ist dieser Begriff bei Manuel Fröh­­lich: Buchenwald – der Un-­­Ort bei Weimar. In: Klaus Dicke/Michael Dreyer (Hrsg.): Weimar als politische Kulturhauptstadt. Ein historisch-­­politischer Stadtfüh­ rer. Jena/Berlin 2006, S. 167 – 177. 4 Éva Fahidi bei der Podiumsdiskussion am 9. November 2012 in Erfurt im Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz. 5 Henryk M. Broder: Auschwitz ist heute ein Disneyland des Todes. In: Die Welt vom 27. Januar 2014, URL: http://www.welt.de/kultur/article124251623/Auschwitz-­­ist-­­heute-­­einD ­­ isneyland-­­des-­­Todes.html, letzter Zugriff: 07. 09. 2015.

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In einer S­ chlussbetrachtung sollen schließ­­lich Alternativen zur Praxis der Emo­­ tionalisierung und Mystifizierung ausgelotet werden. Die Bezeichnung Un-­­Ort, also ein Transitraum ohne menschliche Interak­­tion, lässt sich in diesem ­­ Zusammen­ hang auf die Defini­­tion der »Nicht-­­Orte« (Non-­­lieux) nach Marc Augé beziehen: So wie ein Ort durch Identität, Rela­­tion und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als rela­­tional noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-­­Ort. Unsere Hypothese lautet nun, daß die Übermoderne Nicht-­­Orte hervor­ bringt, also Räume, die keine anthropolo­­gischen Orte sind und, anders als die Baudelairesche Moderne, die alten Orte nicht integrieren; registriert, klassifiziert und zu »Orten der Erinne­ rung« erhoben, nehmen die alten Orte darin einen speziellen, festumschriebenen Platz ein.6

Der historische Ort Was heute unter der »Chiffre Auschwitz« verstanden wird, ist in einem mehrjäh­ rigen Prozess entstanden – ein komplexes System mit drei H ­ auptkomponenten: Auschwitz I, das sogenannte Stammlager; Auschwitz  II , auch als Auschwitz-­ ­Birkenau bekannt; und Auschwitz  III , auch Monowitz genannt. Alle drei Ein­ richtungen hatten unterschied­­liche Bestimmungen und Funk­­tionen innerhalb des Lagerkomplexes Auschwitz. Diese sollen im Folgenden skizziert werden. Auschwitz I Bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in Oświęcim »ein besonderes Lager […]: Das Emigra­­tionslager für Saisonarbeiter mit einem Landesbüro zur Arbeitsvermittlung«.7 Jene galizischen Saisonarbeiter erhofften, im nahegelegenen Preußen Arbeit und materielle Absicherung zu finden. Während des ­Ersten Welt­ kriegs diente die Infrastruktur als militärischer Stützpunkt der österreichischen Armee. Mit Kriegsende entstand dort ein Barackenarsenal, bestehend aus 22 Stein­ häusern und 90 Holzbaracken, gedacht für etwa 12.000 Arbeits­suchende. Jenes Areal funk­­tionierten die Na­­tionalsozia­listen im Jahr 1940 zu einem Konzentra­­ tionslager um: Zunächst für politische Gegner erbaut, entwickelte es sich pro­ zesshaft zu einem Ort des Massenmords an den euro­päischen Juden. 6 Marc Augé: Orte und Nicht-­­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, aus d. Frz. v. Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1994, S. 92 f. 7 Sybille Steinbacher: Auschwitz – Geschichte und Nachgeschichte. München 2004, S. 13.

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Auch wenn Oświęcim nicht als idealer Standort galt, entschied man sich im Frühjahr 1940 nach einer Reihe von Kommissionsbesichtigungen zum Bau eines Konzentra­­tionslagers auf dem Barackenarsenal. Ein Baubefehl ist zwar nicht über­ liefert, die weit vorangetriebenen Planungen auf infrastrukturell gut erschlosse­ nem Gebiet nahe eines Eisenbahnknotenpunkts in der Grenzregion hatten die Entscheidung für den Standort allerdings maßgeb­­lich vorgeprägt.8 Erster Kommandant des Konzentra­­tionslagers Auschwitz wurde Rudolf Höß, der die SS-Wachtruppen befehligte und für die Sicherheit des Lagers verantwort­­ lich war. Bereits Ende 1940 war die Lagerbaustelle so groß, dass sich das Interessen­ gebiet der SS um Oświęcim auf rund vierzig Quadratkilometer belief. Die ersten Transporte von Gefangenen bestanden vor allem aus polnischen Gefängnisinsassen aus Tarnów bei Krakau und dem Gefängnis Nowy Wiśnicz aus dem Generalgou­ vernement. Hervorzuheben ist hierbei, dass in der Gründungs- und Aufbauphase des Konzentra­­tionslagers Auschwitz dort vor allem Polen interniert wurden.9 Fungierte Auschwitz zunächst als Durchgangslager, so wurde es nun zu einer dauerhaften Zwangseinrichtung zur Isolierung und »Disziplinierung« politischer und weltanschau­­licher Gegner. Die Aufnahmeprozedur verlief ähn­­lich wie in anderen Konzentra­­tionslagern: Die Gefangenen kamen mit den Zügen im Ort Oświęcim an, Lastwagen transportierten sie bis zum Lagertor mit der Aufschrift »Arbeit macht frei«, jener zynischen Parole, die auch in anderen Konzentra­­ tionslagern zu Zwecken der Erniedrigung verwendet wurde. Beim genaueren Blick auf diese Parole (Abb. 2) fällt auf, dass der Buchstabe b in »Arbeit« umgedreht ist – dies wurde von den anderen Lagerinsassen als Protest seitens des Künstlers glorifiziert. Derzeit findet sich nur eine Rekonstruk­­tion des Schriftzugs am Ein­ gang. Im Jahr 2009 wurde das Original gestohlen; seit seinem Wiederfund wenige Tage ­später wird es nun im Museum aufbewahrt. Alle Gefangenen erhielten bei ihrer Registrierung im Lager eine Nummer, die fortan ihre Namen ersetzte. Nach der Desinfek­­tion folgte aus Gründen der ­Hygiene und der erneuten Demütigung eine Ganzkörperrasur. Statt ihrer Zivilkleidung mussten die Internierten nun grau-­­weiß gestreifte Anzüge aus Dril­­lich tragen.10 8 Vgl. ebd., S. 21. 9 Vgl. ebd., S. 24 ff. 10 Hannah Arendt geht in ihrer Monografie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft weniger auf den tatsäch­­lichen Ablauf der »Entmenschlichung« als vielmehr auf die Strukturen und Zweckmäßigkeiten dieser Prozedur ein, so schreibt sie: »Totale Herrschaft, die darauf ausgeht, alle Menschen in ihrer unend­­lichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen einen einzigen Menschen darstellten, ist nur mög­­lich, wenn es gelingt, jeden Menschen auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reak­­tionen zu reduzieren, so

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Abb. 2  Lagertor mit der von Jan Lawicz 1940 angefertigten und rekonstruierten Aufschrift »Arbeit macht frei«

Ebenso wie in anderen Konzentra­­tionslagern wurden im Stammlager Auschwitz die Gefangenen genötigt, sogenannte Winkel 11 zu tragen, deren Farbe die Inter­ nierungsgründe signalisierten, und einen Buchstaben, der auf die Staatszugehö­ rigkeit verwies (eine Ausnahme waren als Juden Inhaftierte, die unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit eine eigene Gruppe bildeten). Mit dem Einzug in das Stammlager wurde sofort eine Quarantänezeit verhängt, ­welche die Gefangenen isolierte und der rohen Willkür der Wachmannschaften aussetzte. Wer die dra­ konischen Strafen bei Verstößen gegen die »Lagerordnung« überstand,12 hegte Hoffnung, in die Arbeitskolonnen zu gelangen, die morgens nach dem Appell unter musika­­lischer Begleitung des Lagerorchesters aus dem Lager ausrückten.13 Trotz der systemischen Organisa­­tion des Lagers war Auschwitz das Lager, aus dem die meisten Gefangenen, vor allem Polen, fliehen konnten.14 Obschon die SS

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daß jedes dieser Reak­­tionsbündel mit jedem anderen vertauschbar ist.« Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986, S. 676 ff. Diese waren ab 1937/38 in allen Lagern einheit­­lich. Sybille Steinbacher führt unter anderem an, dass es sich hierbei um banale Sachverhalte gehandelt habe wie das Fehlen eines Knopfes oder unzureichend gesäubertes Geschirr. Vgl. S­ teinbacher: Auschwitz (wie Anm. 7), S. 29. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 31.

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der umliegenden polnischen Bevölkerung mit rigiden Strafen bis hin zur Inhaftie­ rung in das Stammlager drohte, kam es immer wieder zu waghalsigen Fluchthilfen. Auch konspirative Widerstandsgruppen formierten sich bis 1942 im Lager. Im Mai 1943 konsolidierten sich diese in der sogenannten Kampfgruppe Auschwitz, die von dem österreichischen Spanienkämpfer Hermann Langbein zusammen­ gehalten wurde und politische, religiöse sowie na­­tionale Kleingruppen unter sich vereinte.15 Sie übte vor allem Formen des passiven Widerstands aus, indem sie verschiedene Sabotageak­­tionen durchführte, Fluchtversuche unterstützte und Kontakte außerhalb des Lagers zur Informa­­tionsbeschaffung herstellte. Einen organisierten Aufstandsversuch gab es nicht. Gewaltsame Revolten erfolgten spontan und resultierten aus Situa­­tionen unmittelbarer Todesgefahr.16 Das Stammlager Auschwitz besaß ab Sommer 1940 eine Einäscherungsanlage, das sogenannte Krematorium I bzw. »Alte Krematorium«. Dieses war zunächst für die Verbrennung von Leichen vorgesehen, die eines natür­­lichen Todes gestorben waren. Die Erfurter Firma Topf & Söhne belieferte unter anderem das Konzentra­­ tionslager Auschwitz mit eigens angefertigten Verbrennungsanlagen, die eine schnelle und effektive Leichenverbrennung garantierten.17 Das Krematorium I befand sich am öst­­lichen Rand des Stammlagers, außerhalb des elektrisch gelade­ nen doppelten Stacheldrahtzauns und direkt neben der Gestapostelle.18 Vermut­­ lich wurde die Leichenhalle direkt neben dem Raum mit den Verbrennungsöfen im September 1941 zu einem Erstickungsraum umfunk­­tioniert. Dieser Keller fungierte bis einschließ­­lich Dezember 1942 als Tötungsanlage.19 Auschwitz II Ab Herbst 1941 wurde mit dem Bau Auschwitz-­­Birkenaus begonnen. Zunächst war Auschwitz-­­Birkenau als Lager für sowjetische Kriegsgefangene mit einer Kapazität von bis zu 200.000 Menschen vorgesehen. Die Lebensbedingungen waren noch 15 Vgl. ebd., S. 33. 16 Vgl. ebd., S. 34. 17 Die Firma Topf & Söhne entwickelte sich im Laufe des Zweiten Weltkriegs zum Hauptlieferanten von Verbrennungsöfen für die Konzentra­­tionslager und Vernichtungsstätten. Zuweilen installierte und optimierte sie die Entlüftungsanlagen und gasdichte Türen in den Erstickungsräumen. Vgl. Annegret Schüle: Topf & Söhne – die Ofenbauer von Auschwitz. Göttingen 2010. 18 Vgl. Abb. 2. bei Steinbacher: Auschwitz (wie Anm. 7), S. 22 f. 19 Vgl. Franciszek Piper: Die Vernichtungsmethoden. In: Wacław Długoborski/­ Franciszek Piper (Hrsg.): Auschwitz 1940 – 1945. Studien zur Geschichte des Konzentra­­ tions- und Vernichtungslagers Auschwitz, Bd. 3. Oświęcim 1999, S. 144 – 169, hier S. 149.

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schlimmer als im Stammlager: So gab es zwar Ziegelsteinbaracken, jedoch keine Elektrizität, keine Heizmög­­lichkeiten und bis 1943 auch keine sanitären Anlagen. Zuvor hatten sich auf dem circa vierzig Quadratkilometer großen Areal kleinere polnische Dörfer befunden, unter anderem Brzezinka, das ins Deutsche übersetzt Birkenau heißt und dem größten Vernichtungsort der euro­päischen Juden letzt­­ lich seinen Namen gab. Die polnische Bevölkerung wurde vertrieben, sodass ein hermetisch abgeschlossener Lagerkomplex entstehen konnte. Birkenau gliederte sich in drei Abschnitte und neun Untereinheiten, die mit­ tels eines elektrisch aufgeladenen Zaunes voneinander getrennt wurden.20 Die erste Abteilung B I bildete die voneinander getrennten Männer- und Frauenlager (ab 1943 wurde das Männerlager zum Frauenlager umfunk­­tioniert), innerhalb der zweiten Abteilung B II befanden sich die Quarantäneabteilung, das sogenannte Zigeunerlager, das Hauptmännerlager und ein Barackenkomplex speziell für die deportierten Familien aus Theresienstadt.21 Die Bauarbeiten zu B  III wurden im April 1944 eingestellt. Dieser Lagerabschnitt wurde auch als »Mexiko« bezeichnet: Dem ehemaligen Internierten Hermann Langbein zufolge verband man das Bild der dort inhaftierten Menschen, die ledig­­lich bunte Decken trugen, mit Mexiko, woraus sich jene Kurzform ableitete. Dieser Abschnitt sollte zur Lagererweiterung genutzt werden.22 Auschwitz-­­Birkenau war der geografisch größte Teil des Auschwitz-­ ­Komplexes. Dort wurden die meisten Menschen interniert. Fälschlicherweise wird Auschwitz-­­Birkenau oft als reiner Vernichtungsort bezeichnet, was jedoch der pro­ zesshaften Entwicklung der Vernichtung nicht gerecht wird. Auschwitz-­­Birkenau wurde erst 1943 zum Zentrum der Ermordung der euro­päischen Juden, also nach der Stilllegung der Tötungsanstalten in Bełżec, Sobibór und Treblinka.23 Auschwitz-­­Birkenau besaß 1941 weder fest installierte Erstickungs- noch Ver­ brennungsanlagen. Die ersten Mordak­­tionen mittels Zyklon B fanden vermut­­lich ab Mai 1942 im sogenannten Bunker I und Bunker II statt.24 Diese waren leerste­ hende Bauernhäuser, etwa zweieinhalb Kilometer von dem Torgebäude entfernt. 20 Vgl. Israel Gutman u. a.: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der euro­päischen Juden, Bd. 1. München 21998, S. 110. 21 Das sogenannte Familienlager wurde zur Täuschung des Interna­­tionalen Roten Kreuzes und zur Inszenierung nach außen eingerichtet. Nachdem ­dieses Trugbild nicht mehr aufrechterhal­ ten werden konnte, wurde das gesamte Lager geräumt und die Menschen in den Erstickungs­ räumen ermordet. 22 Vgl. Gutman u. a.: Enzyklopädie des Holocaust (wie Anm. 20), S. 111. 23 In Majdanek wurde die massenhafte Vernichtung erst mit der Erschießung der verbliebenen 8000 Juden im November 1943 beendet. Vgl. dazu Steinbacher: Auschwitz (wie Anm. 7), S. 77. 24 Vgl. ebd., S. 87.

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Ähn­­lich wie in den anderen Vernichtungsstätten wurde auch hier versucht, den Akt der Tötung zu verschleiern: So befand sich über dem Eingang des Gebäudes »Bunker I« ein Schild mit der Aufschrift »Zur Desinfek­­tion«,25 um die Mord­opfer zu täuschen. Ebenso berichtet Szlama Dragon, ein Gefangener, der während der Mordak­­tionen im »Bunker II« im »Sonderkommando« 26 eingesetzt war, dass im Innern des Erstickungsraums oberhalb der Tür ein Schild mit der Aufschrift »Zum Baden« angebracht war. Gleichzeitig wurde den Menschen vor Eintritt in die Bun­ ker versichert, dass die bevorstehende Prozedur der Desinfek­­tion obligatorisch für die Aufnahme im Konzentra­­tionslager sei. Vermut­­lich wurde die Vergiftung durch Gas im »Bunker I« Anfang des Jahres 1943, spätestens aber im Frühjahr desselben Jahres eingestellt. Die ersten Massengräber bzw. s­ päter auch Verbrennungsgruben befanden sich mehrere hundert Meter entfernt von den »Bunkern«. Ledig­­lich »Bunker II« kam für die Ermordung der ungarischen Juden wieder zum Einsatz.27 Im Sommer 1944 wurden innerhalb weniger Wochen rund 400.000 ungarische Juden ermordet, die bis dahin von der Shoah verschont geblieben waren.28 In dieser Zeit erreichte die Massenvernichtung ihren Höhepunkt. Bis zu zehntausend Menschen wurden täg­­lich an der dafür neu errichteten Rampe selektiert und zum überwiegenden Teil sofort getötet. Die Fertigstellung der Krematorien II und III im Frühjahr und Sommer 1943 schufen die infrastrukturellen Voraussetzungen für diese Massentötungen mittels Giftgas. Die Kapazitäten aller Verbrennungsanlagen der Firma Topf & Söhne im Stammlager und in Auschwitz-­­Birkenau betrugen zu dieser Zeit 4756 Leichen pro Tag. Nach Aussagen von Gefangenen jedoch wurde die Anzahl der Menschen, die gleichzeitig in den sogenannten Muffeln verbrannt werden sollten, verdop­ pelt, sodass innerhalb von 24 Stunden bis zu achttausend Leichen verbrannt werden konnten.29 Insgesamt wurden in den Erstickungsanlagen rund 900.000 Menschen ermordet.

25 Vgl. Piper: Vernichtungsmethoden (wie Anm. 19), S. 159. 26 Das »Sonderkommando« war eine von der SS zwangsverpflichtete Gruppe von Gefangenen, die in den Erstickungsräumen und Verbrennungsanlagen arbeiteten. Weil sie somit unmittelbar zu Zeugen der Ermordung von Menschen wurden, wurden sie zumeist alle drei Monate ersetzt. Ihre Rolle war vor allem in der Nachkriegszeit umstritten; so wurden sie oft zu Tätern oder Kollaborateuren degradiert. 27 Vgl. Piper: Vernichtungsmethoden (wie Anm. 19), S. 158 ff. 28 Vgl. Götz Aly/Christian Gerlach: Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/45. Stuttgart 2002; Jörg Ganzenmüller: Die Motiva­­tion zur Vernichtung der ungarischen Juden. Zwischen konstruierten Sachzwängen und euro­päischen Neuordnungsplänen. In: Ungarn-­­Jahrbuch 25 (2000/2001), S. 117 – 138. 29 Vgl. Piper: Vernichtungsmethoden (wie Anm. 19), S. 183.

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Auschwitz III Mit dem teuersten Investi­­tionsprojekt des Deutschen Reiches, dem Bau der IG   ­Auschwitz  30 im Jahr 1941 entstand nicht nur ein deutscher Chemiegigant, sondern auch der dritte Lagerteil des Auschwitz-­­Komplexes in Monowitz.31 Fast ein Drittel der dort eingesetzten Arbeiter kam aus dem etwa sechs Kilometer entfernten Stammlager Auschwitz. Die anderen zwei Drittel bestanden aus soge­ nannten Fremdarbeitern, die aus dem euro­päischen Ausland zum Arbeitsdienst zwangsverpflichtet wurden. So beschäftigte die IG Auschwitz bis 1944 etwa 35.000 Menschen. Nur etwa 10.000 von ihnen überlebten den Zwangsarbeitseinsatz.32 Steinbacher betont in d­­ iesem Zusammenhang, dass weder die Aussicht auf billige Arbeitskräfte noch geografische und ökonomische Standortfaktoren allein den Ausschlag für den Bau des Chemiewerks gaben, sondern dass alle diese Faktoren zusammenspielten: So war das NS -Osthilfeprogramm zur Stärkung im Osten ansässiger deutscher Konzerne ebenso ein Beweggrund für diese Entscheidung wie die sehr gute infrastrukturelle Erschließung des Ortes Oświęcim und die Überzahl an billigen Arbeitskräften in der Umgebung.33 Angesichts immenser Kosten und der hohen Sterberate im Lager war der Einsatz von Gefangenen keineswegs profitabel. Vielmehr kann aufgrund der hohen Aus- und Umbaukosten des Lagers zu einem Konzentra­­tionslager, das den Sicherheitsvorkehrungen der SS entsprechen musste, des Materialdiebstahls durch Gefangene, des durch Krankheiten bedingten Ausfalls von Inhaftierten und der stetigen Wiedereinarbeitung von Neuankömmlingen im Lager und dem damit einhergehenden Zeitverlust von einem kostspieligen Unternehmen gesprochen werden: Der Mehraufwand, der für den Einsatz von Gefangenen betrieben wurde, zahlte sich nicht aus, wie auch Bernd Wagner betont: 30 Die offizielle Bezeichnung lautete I. G. Farbenindustrie A.-G. Werk Auschwitz; im weite­ ren Verlauf wird aber die Kurz- und in der Forschungsliteratur vorrangig verwendete Form IG ­Auschwitz Verwendung finden. 31 Das Lager wurde zunächst »Lager Buna« und s­ päter dann »Lager Monowitz« genannt; ab November 1943 etablierte sich die Bezeichnung »Konzentra­­tionslager Auschwitz III«. Erst Ende 1944 setzte sich innerhalb der SS-Verwaltung die Etikette »Konzentra­­tionslager Mono­ witz« durch. Vgl. auch Bernd C. Wagner: IG Auschwitz – Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941 – 1945. In: Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.): Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz, Bd. 3. München 2000, S. 186 ff. 32 Vgl. ebd., S. 187. 33 Steinbacher legt in ihrer Monografie die Debatte um den zukünftigen Standort der IG Farben offen. Unter anderem nennt die Autorin Rattwitz bei Breslau, aber auch Standorte in Frank­ reich (nach dessen Niederlage 1940). Vgl. Steinbacher: Auschwitz (wie Anm. 7), S. 38.

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Obwohl ökonomische Überlegungen beim Einsatz der Häftlinge oberfläch­­lich häufig eine Rolle spielten, lagen der weitgehenden Beteiligung der IG Auschwitz an der »Vernichtung durch Arbeit« wider die ökonomische Ratio andere Motive zugrunde.34

Der IG -Farben-­­Konzern spielte eine »aktive Rolle an der Politik der ›Endlö­ sung‹«,35 insbesondere durch die Selek­­tion der vorwiegend jüdischen Gefangenen in »Arbeitstaug­­liche« und »Arbeitsuntaug­­liche«.36 Aufgrund der desaströsen Lebensbedingungen in Monowitz überlebte ein Gefangener die Zwangsarbeit im Durchschnitt nicht länger als drei Monate.37 Je nach »Qualifika­­tion« und »Refe­ renz« des Gefangenen wurde er einem »Arbeitskommando« zugewiesen. Jene Einteilung hatte direkten Einfluss auf die Überlebenschancen im Lager. Bernd Wagner spricht in ­­diesem Zusammenhang von »Erschöpfungskommandos […], bei denen der Aspekt der Wirtschaft­­lichkeit noch stärker in den Hintergrund getreten war«.38 Zumeist wurden die Neuankömmlinge aus größeren »Juden­ transporten« diesen Kommandos zugeteilt. Aber auch Kriegsgefangene oder jene, die gegen die Lagerordnung verstoßen hatten, kamen zur »Erziehung« in jene »Erschöpfungskommandos«. Obwohl die Betriebsleitung der IG Auschwitz an dem Konzept »Vernichtung durch Arbeit« maßgeb­­lich beteiligt war und auch um die Arbeits- und Lebensbedingungen und die damit einhergehenden Opferzahlen wusste, widersetzte sie sich zunächst erfolgreich dem Bau eines »Sek­­tionsraums« und einer Verbrennungsanlage. Womög­­lich diente diese Abwehrhaltung zur Abgrenzung gegenüber den anderen beiden Lagerteilen Auschwitz I und II. Vor allem aber wollte die Betriebsleitung verhindern, sich in noch größerem Maße auf die SS einzulassen.39 Obwohl die Alliierten durch Luftaufnahmen und Informa­­tionen der polni­ schen Exilregierung sowie diverser jüdischer Organisa­­tionen von Auschwitz als Vernichtungszentrum wussten, wurden die Forderungen nach einer Interven­­tion zur Beendigung des Mordens nicht erfüllt. Auschwitz I und II galten nicht als militärische oder kriegswirtschaft­­lich wichtige Objekte, weshalb die amerikani­ schen und britischen Streitkräfte von einer Bombardierung absahen. Auschwitz III dagegen wurde 1944/45 fünf Mal Ziel alliierter Angriffe.40

34 Wagner: IG Auschwitz (wie Anm. 31), S. 275. 35 Steinbacher: Auschwitz (wie Anm. 7), S. 46. 36 Vgl. Wagner: IG Auschwitz (wie Anm. 31), S. 180 ff. 37 Vgl. ebd., S. 267. 38 Ebd., S. 158. 39 Vgl. ebd., S. 167. 40 Vgl. ebd., S. 100 ff.

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Auflösung des Auschwitz-­Komplexes Angesichts des Vormarschs der Roten Armee begann im Sommer 1944 die syste­ matische Auflösung des Lagers. Viele Gefangene wurden in Konzentra­­tionslager auf deutschem Boden deportiert. Für die zurückgebliebenen Inhaftierten änderte sich der menschunwürdige Lageralltag nicht. Ein von der SS beauftragtes Son­ derkommando musste die Spuren der deutschen Verbrechen beseitigen und die Tötungsanlagen demontieren, die als Baumaterial in die geplante Vernichtungs­ stätte Mauthausen überführt wurden.41 Am 7. Oktober 1944 versuchten Mitglie­ der des Sonderkommandos einen Aufstand, um aus dem Lager zu entkommen. Sie wurden unweit von Birkenau gestellt und ermordet.42 Am 17. Januar 1945 begann die Evakuierung des Lagers. Zu dieser Zeit waren bereits etwa 58.000 Menschen aus dem Lagerkomplex Auschwitz auf »Todesmär­ schen« Richtung Westen geschickt worden. Am 20. Januar wurden die Krema­ torien II und III durch die SS gesprengt. Krematorium V wurde bis drei Tage vor der Befreiung des Lagers genutzt: Erst in der Nacht zum 26. Januar wurde auch ­dieses gesprengt. Die Effektenkammer, von den Gefangenen »Kanada« genannt, wurde angezündet und nur sechs der dreißig Baracken blieben stehen. Trotz des peniblen Vorgehens der SS-Wachmannschaften, die Spuren der Ver­ brechen beseitigen zu wollen, fanden die sowjetischen Streitkräfte in den Maga­ zinen Unmengen an Kleidung, Schuhen, Zahnbürsten und Hausrat, vor allem aber bereits für den Transport abgepacktes menschliches Haar, das Berechnungen zufolge von circa 140.000 Frauen stammen musste.43 Die Zahl der im Konzentra­­tionslager Auschwitz ermordeten Menschen war lange Zeit ungewiss: Eine sowjetisch-­­polnische Kommission schätzte sie 1945 auf annähernd vier Millionen Menschen. Während der Nürnberger Kriegsverbre­ cherprozesse 1946 taxierte Rudolf Höß die Zahl der Ermordeten auf 2,2 Millio­ nen; erst Franciszek Piper bezifferte in den 1970er Jahren die Zahl der Opfer auf 1,1 Millionen – womit Auschwitz-­­Birkenau als der Vernichtungsort mit der größten Opferzahl der Shoah bezeichnet werden kann.

41 Vgl. Aleida Assmann: Firma Topf & Söhne – Hersteller der Öfen für Auschwitz. Ein Fabrik­ gelände als Erinnerungsort? Frankfurt a. M. 2002, S. 91. 42 Vgl. Gideon Greif/Itamar Levin: Aufstand in Auschwitz. Die Revolte des jüdischen »Sonderkommandos« am 7. Oktober 1944. Köln 2015. 43 Vgl. Steinbacher: Auschwitz (wie Anm. 7), S. 101.

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Auschwitz als Gedenkstätte in der Volksrepublik Polen Bereits 1944 wurden erste Überlegungen angestellt, wie nach der nunmehr abseh­ baren Befreiung des Lagers Auschwitz an die Opfer gedacht werden könne.44 Mit dem Einzug der Roten Armee wurden allerdings Teile des Stammlagers und auch weite Teile von Auschwitz-­­Birkenau zunächst zur Internierung von Kriegsgefan­ genen genutzt. Ihre Arbeitskraft wurde für Aufräumarbeiten und Reparaturen an den Baracken und ab Mitte 1945 auch zum Bau der ersten Ausstellung ein­ gesetzt.45 Viele ehemalige Gefangene des Lagers stellten nun das Wachpersonal. Jene waren es auch, die sich in mahnenden Zuschriften zum Erhalt des Ortes Auschwitz an den späteren Staatspräsidenten Bolesław Bierut wandten. Sie lie­ ßen keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Konzentra­­tionslager und Ver­ nichtungsort Auschwitz in erster Linie um einen polnischen Leidensort handle, wie Imke Hansen konstatiert: Rhetorisch banden die Autoren die Geschichte des Ortes in das romantische Narrativ des pol­ nischen Kampfes und Martyriums ein, welches die polnische Selbstwahrnehmung seit dem späten 18. Jahrhundert prägte.46

Der ehemalige Gefangene Alfred Fiderkiewicz beantragte 1945 erfolgreich die Aufnahme von Auschwitz in die Abteilung Museen und Denkmäler des polni­ schen Martyriums, einem Ressort des Ministeriums für Kunst und Kultur. In den frühen Jahren der Volksrepublik Polen wurde vor allem den eigenen Familienangehörigen gedacht. Viele Polen bangten in der ohnehin schwierigen, wirtschaft­­lich desolaten Situa­­tion im Nachkriegspolen um ihren Besitz, was auch eine Furcht vor einer mög­­lichen Rückkehr jüdischer Überlebender hervorrief. Zudem hatte die na­­tionalsozia­listische Separa­­tions- und Verfolgungspolitik tiefe Einschnitte in der ehemals so heterogenen polnischen Gesellschaft hinterlas­ sen und das konfliktreiche polnisch-­­jüdische Verhältnis weiter belastet. Michał B ­ orwicz schlussfolgert, dass die jüdischen Überlebenden vom kommunistischen Regime weniger als »tatsäch­­liche Menschen« betrachtet denn als »Konzepte«

44 Vgl. Irena Grzesiuk-­­Olszewska: Polska rzeźba pomnikowa w latach 1945 – 1995.[Polnisch-­ ­monumentale Skulpturen in den Jahren 1945 – 1995] Warschau 1995, S. 44. – Der ehemalige Gefangene Jacek Marecki erinnerte sich 1946 an das Vorhaben, aus dem ehemaligen Konzentra­­ tionslager Auschwitz eine Berufsschule für Waisen entstehen zu lassen. 45 Vgl. Imke Hansen: »Nie wieder Auschwitz!« Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945 – 1955. Göttingen 2015, S. 80. 46 Ebd., S. 81.

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begriffen worden ­seien. Diese Wahrnehmung erleichterte in der Nachkriegszeit einen demago­­gischen Umgang mit der »jüdischen Frage«, weil jene fingierten »Konzepte« beherrschbarer schienen.47 Für polnische Antisemiten bestätigte der Umstand, dass auch Juden Ämter im kommunistischen System innehatten, das landläufige Vorurteil vom »JudäoB ­­ olschewismus«.48 Zusammen mit dem Fortwirken der radikalen antisemitischen Propaganda der Deutschen während der Besatzung entstand so eine ausgesprochen explosive Situa­­tion. Zwischen 1944 und 1947 kamen annähernd eintausend Juden durch pogromartige Gewalttaten ums Leben.49 Hinzu kommt, dass die Shoah seit den späten 1940er Jahren marginalisiert und schließ­­lich tabuisiert wurde.50 Nach der Gründung der Volksrepublik Polen kam es immer wieder zu politisch gesteuerten antisemitischen Kampagnen, die das polnisch-­­jüdische Verhältnis stark belasteten und spätestens mit der Antisemitismus-­­Kampagne 1968 vollends erkal­ ten ließen. Jitzhak Zuckerman, führendes Mitglied der zionistischen Bewegung in Polen, betrachtet den Antisemitismus als ein zentrales Element der polnischen Nachkriegsgesellschaft, da die polnische Bevölkerung noch in der Nachkriegszeit von der Aneignung jüdischen Eigentums während des Krieges profitiert habe.51 In dieser komplexen Situa­­tion wurde denn auch zunächst mit den Resten des Lagerkomplexes Auschwitz sehr pragmatisch, aber keineswegs konfliktfrei umge­ gangen. Ähn­­lich wie nach der Befreiung anderer Konzentra­­tionslager wurden auch hier die Baumaterialien der ehemaligen Baracken verkauft oder zweckentfremdet. So wurde der Marktplatz von Oświęcim teilweise mit Material vom ehemaligen Konzentra­­tionslager und Vernichtungsort Auschwitz-­­Birkenau wiederhergestellt.52 Daraus ergab sich ein Konflikt ­zwischen dem gerade im Entstehen begriffenen Staat­­ lichen Museum Auschwitz-­­Birkenau und dem Kreisliquida­­tionsamt, das die Entschei­ dungshoheit über die Reste des Auschwitz-­­Komplexes besaß. Ersteres war vehement darum bemüht, jene Objekte, also Bausubstanz und mög­­liche Exponate für die spätere Ausstellung sicherzustellen, während für die lokalen Behörden ganz andere 47 Vgl. Michał Borwicz: Polish-­­Jewish Rela­­tions 1944  –  1947. In: Chimen Abramsky/ Maciej Jachimczyk /Antony Polonsky (Hrsg.): The Jews in Poland. Oxford 1988, S. 191. 48 Vgl. Agnieszka Pufelska: Die »Judäo-­­Kommune« – ein Feindbild in Polen. Das polni­ sche Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939 – 1948. Paderborn u. a. 2007. 49 Vgl. Hansen: »Nie wieder Auschwitz!« (wie Anm. 45), S. 37 ff. 50 Vgl. Zofia Wóycicka: Arrested Mourning. Memory of the Nazi Camps in Poland, 1944 – 1950. Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 71 – 79. 51 Vgl. Yitzhak Zuckerman: A Surplus of Memory. Chronicle of the Warsaw Ghetto Upri­ sing. Los Angles 1993, S. 581. 52 Vgl. Hansen: »Nie wieder Auschwitz!« (wie Anm. 45), S. 85.

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Probleme im Vordergrund standen. Auch Diebstähle und Raubbau durch die ansäs­ sige Bevölkerung auf dem Gelände erschwerten die Konstituierung eines Museums.53 Am 2. Juli 1947 eröffnete das Staat­­liche Museum Auschwitz-­­Birkenau. Das Amt des Direktors bekleidete der ehemalige Gefangene Tadeusz Wąsowicz. Bis zur Eröffnung des Museums hatte es immer wieder Diskussionen um die Ausstellung gegeben. Dabei ging es vor allem um die ehemaligen Steinbaracken im Stamm­ lager, die als Ausstellungsräume dienten. Wesent­­licher Bestandteil damals und heute ist die Präsenta­­tion und Ausstellung von Gegenständen, die den Opfern des Stammlagers Auschwitz und des Vernichtungsortes Auschwitz-­­Birkenau geraubt worden waren. Zahnprothesen, Schuhe und Kleidung, Zahnbürsten und Brillen neben zurückgebliebenen, konservierten Koffern, mehreren Tonnen Haaren, Knöpfen und Puderdosen wurden in Glasvitrinen dem Betrachter als Überreste menschlichen Lebens präsentiert. Neben den Habseligkeiten der Opfer wurden auch Zyklon B-Dosen hinter Stacheldraht aufgetürmt. Die Ausstellung verfolgte zwei Ziele: Erstens sollte sie den Massenmord dokumentieren und zweitens die menschlichen Schicksale hinter den Opfern herausstellen.54 Auf die Tatsache, dass es sich mehrheit­­lich um jüdische Opfer handelte, wurde in der Ausstellung nicht hingewiesen. Ganz im Gegenteil: Jene Exponate, die hinter Stacheldraht präsentiert wurden, versinnbild­­lichten die länger andauernde Lager­ haft, die das Gros der jüdischen Opfer aufgrund ihrer sofortigen Ermordung in den Erstickungsräumen gar nicht erst durchlebte. So kam es zu einer repräsentativen Verschmelzung der Funk­­tionen der verschiedenen Lager sowie der verschiedenen Gefangenenkategorien zu einem mehr oder weniger einheit­­lichen Opferbild. Im Krematorium I erinnerten christ­­liche Symbole wie der Dornenkranz 55 an die dort ermordeten »politischen«, zumeist polnischen Gefangenen und ein jüdisches Symbol an die jüdischen Gefangenen. Am Krematorium II und III gab es nichts Vergleichbares. Das Zentralkomitee der Juden in Polen (CKŻP) und die Zentrale Jüdische Historische Kommission (CŻKH) erhielten allerdings 1947 einen Raum zur Gestaltung jüdischen Gedenkens.56 Die Ausstellung stellte die Ermordung zahlloser Menschen in den Vorder­ grund, betonte jedoch die planmäßige Tötung von Menschen jüdischer Herkunft nicht. Man konzentrierte sich nicht auf Einzelschicksale, diese gingen vielmehr in der Masse der Ermordeten auf. Durch die besondere Hervorhebung »politi­ scher«, meist polnischer Gefangener geriet das jüdische Schicksal vollends in den 53 Vgl. ebd., S. 88 ff. 54 Vgl. ebd., S. 116 ff. 55 Symbol für die Demütigung und das Leiden Jesu Christi vor seiner Hinrichtung. 56 Vgl. Hansen: »Nie wieder Auschwitz!« (wie Anm. 45), S. 122.

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Hintergrund. Marek Kucia, wissenschaft­­licher Mitarbeiter des Soziolo­­gischen Instituts der Jagiellonen-­­Universität Krakau, offenbart in einem Interview mit Michał Olszewski, Chefredakteur der Tygodnik Powszechny (Allgemeinen Wochen­ zeitung), dass ihm in der Oberschule der Völkermord an den euro­päischen Juden nicht vermittelt worden sei: »Bis Anfang der neunziger Jahre hieß es, im ›Lager Auschwitz‹ s­ eien vier Millionen unterschied­­licher Na­­tionalität umgekommen.« 57 Die Idee, das Gelände Auschwitz-­­Birkenau als Ausstellungsort zu nutzen, ­­ war zwar früh im Gespräch, wurde aber trotz jüdischer Forderungen zunächst aufgrund seines desolaten Zustands 58 sowie aus finanziellen Gründen wieder verworfen. Diese Entscheidung begünstigte zusätz­­lich eine museale Konzep­­tion des Stammlagers, die das polnische Leiden in den Vordergrund stellte. Da im Stammlager mehrheit­­lich polnische Gefangene gequält und ermordet wurden, bestätigte diese Selbstbeschränkung das Bild vom polnischen Martyrium.59 Robert Traba sieht die »Lebendigkeit« als ein charakteristisches Merkmal für die Anfänge des Museums.60 Die Vielzahl der Akteure und Institu­­tionen vertrat verschiedene Lesarten der Lagergeschichte und somit auch ganz unterschied­­liche Interessen: Das Kreisliquida­­tionsamt hatte etwa rein materielle Interessen, die Vereinigung für Museen und Denkmäler des polnischen Martyriums verfolgte geschichtspolitische Ziele, und die ab 1947 in die Gestaltung des Museums partiell involvierten jüdischen Organisa­­tionen verfolgten das Anliegen, ihre Perspektive zur Geltung zu bringen. Neben staat­­lichen und politischen Akteuren gab es auch Einzelpersonen, die aufgrund ihrer Lagervergangenheit ein Interesse daran hatten, bei der Gestaltung des Museums mitzuwirken. Hansen spricht in diesem ­­ Zusam­ menhang von einem »dialektischen Gestaltungsprozess«,61 der es ermög­­licht habe, die Inhalte im Museum so differenziert und detailliert wie nur mög­­lich darzustellen. Die Tatsache, dass in den Gründungsjahren vor allem die ehemaligen aus politi­ schen Gründen Inhaftierten an der Gestaltung und Ausformung der Gedenkstätte

57 Marek Kucia/Michał Olszewski: Auschwitz im polnischen Gedächtnis. In: Barbara Engelking/Helga Hirsch (Hrsg.): Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden. Frankfurt a. M. 2008, S. 110 – 114, hier S. 111. 58 Die Sprengung der Verbrennungsanlagen durch die Deutschen, die zahlreichen Plünderungen der hiesigen Bevölkerung und der Verkauf von Baumaterial durch das Kreisliquida­­tionsamt verschlechterten immens den Zustand des ehemaligen Vernichtungsorts. 59 Vgl. Wóycicka: Arrested Mourning (wie Anm. 50), S. 176 – 181. 60 Vgl. Robert Traba: Symbole Pamięci. II wojna światowa w świadomości zbiorowej Polaków [Symbole der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis der Polen]. In: ders. (Hrsg.): Kraina tysiąca granic. Szkice o historii i pamięci [Land der tausend Grenzen. Skizzen der Geschichte und Erinnerung]. Olsztyn 2003, S. 181. 61 Hansen: »Nie wieder Auschwitz!« (wie Anm. 45), S. 138 ff.

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beteiligt waren, führte zu einem vorwiegend tradi­­tionell katho­­lisch geprägten Opfergedenken. Mit dem geschichtspolitischem Paradigmenwechsel von 1948/49, bei dem die kommunistische Führung mehr und mehr Einfluss auf die inhalt­­ liche Gestaltung der Gedenkstätte nahm, veränderte sich auch die Präsenta­­tion jüdischer Opfer in Auschwitz. Das staat­­liche Gedenken wurde nunmehr auf den »Kampf der Na­­tion« gelenkt, da dieser immer auch zu einem »Kampf um den Frieden« stilisiert wurde. Die Dauerausstellung betonte nun die »Freundschaft zur UdSSR« und machte Auschwitz so zu einem Schauplatz des Systemkonflikts. 1952 gründete sich das Interna­­tionale Auschwitz-­­Komitee, das sich vornehm­­lich aus Überlebenden des Konzentra­­tionslagers zusammensetzte. Im Jahr 1960 wurden als Ergänzung zur Dauerausstellung im Stammlager die sogenannten Na­­tionalen Ausstellungen in den ehemaligen »Häftlingsblöcken« installiert. Die 13 Länderausstellungen 62 fokussierten die spezifische Geschichte der Gefangenen im Hinblick auf deren Na­­tionalität und Herkunft und betonten den »antifaschistischen Kampf« des jeweiligen Landes und den anschließenden Aufbau des Sozia­lismus. Hermann Langbein hat die Länderausstellungen als »eindeutig kommunis­ tische Propagandaschauen« 63 aufgefasst. Infolge der Kriegsverbrecherprozesse Anfang der 1960er Jahre, die interna­­tional auf großes Interesse stießen, offenbarte auch Israel ein erhöhtes Interesse an den ehemaligen deutschen Vernichtungs­ stätten in Osteuropa. Die israe­­lische Regierung bemängelte hierbei den margi­ nalen Umgang mit der Erinnerung an die Ermordung der euro­päischen Juden und forderte die Einrichtung einer israe­­lischen Länderausstellung im ehemali­ gen Stammlager Auschwitz. Die Gedenkstätte lehnte diese Forderung zunächst mit der Begründung ab, dass die in Auschwitz ermordeten Juden keine israe­­ lischen Staatsbürger gewesen s­ eien.64 Um kein interna­­tionales Aufsehen zu erregen, erklärte sich schließ­­lich das Staat­­liche Museum Auschwitz-­­Birkenau in direkter Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau, dem Interna­­tionalen Auschwitz-­­Komitee und dem Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie 65 zu einer Errichtung eines Ausstellungsraumes bereit, der den 62 Unter anderem bei den Länderausstellungen vertreten waren: die Tschechoslowakei, Ungarn, die UdSSR und die DDR. Die Bundesrepublik erhielt keinen Ausstellungsraum. Ende der 1960er Jahre erhielten auch Belgien und Dänemark Ausstellungsräume. In den Folgejahren entstanden zahlreiche na­­tionale Ausstellungen – gerade auch mithilfe westeuro­päischer Länder. 63 Katharina Stengel: Hermann Langbein. Ein Auschwitz-­­Überlebender in den erinne­ rungspolitischen Konflikten der Nachkriegszeit. Frankfurt a. M. 2012, S. 211. 64 Vgl. ebd., S. 212. 65 Dabei handelte es sich um die von staat­­licher Seite kontrollierte offizielle polnische Kriegs­ veteranenvereinigung der Volksrepublik Polen.

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jüdischen Opfern gewidmet sein sollte. Die Gedenkstätte Yad Vashem setzte sich im besonderen Maße für diese Ausstellung ein. Doch mit dem Sieg Israels im Sechs-­­Tage-­­Krieg brachen 1967 die ohnehin schon labilen Beziehungen Polens zu Israel ab. Obwohl das Vorhaben dessen ungeachtet umgesetzt wurde, stand mit der Eröffnung des Ausstellungsraumes im ehemaligen Block 27 im Jahr 1968, einhergehend mit dem ohnehin antisemitischen Klima durch die März-­­Unruhen in Polen weniger das Opfergedenken als eine Würdigung polnischer Judenretter im Mittelpunkt der Konzep­­tion.66 Ende der 1960er Jahre begann die Restaurierung der gesprengten Kremato­ rien II und III, des ehemaligen »Quarantänelagers« und der Rampe in Auschwitz-­ ­Birkenau. Im Zuge dieser Arbeiten wurden 35.000 Zahnbürsten, 642 Brillenetuis, 119 Gefangenenuniformen und 500 andere Objekte geborgen.67 In den 1970er und 1980er Jahren geriet indessen die konzep­­tionelle Konzentra­­tion auf ein pol­ nisches Martyrium verstärkt unter Druck. Die Na­­tionalisierung der Denkmäler und die Geringschätzung der jüdischen Opfer konnte der interna­­tionalen Kritik nicht mehr standhalten. Mit dem Ende des Schweigens über die Shoah entwi­ ckelte sich eine Opferrivalität ­zwischen Polen und Juden, die sich im Aufstellen von Kruzifixen und einer heftigen öffent­­lichen Debatte Ende der 1990er Jahre entlud. In diesem ­­ Zusammenhang wurde dem Staat­­lichen Museum Auschwitz-­ ­Birkenau vorgeworfen, die erinnerungskulturelle Praxis in der Gedenkstätte diene vor allem dem polnischen Na­­tionalinteresse.68 Zwischen überkommener Schockpädagogik und einem »Disneyland des Todes« Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Polen stand auch die Gedenkstättenkonzep­­tion des Staat­­lichen Museums Auschwitz-­­Birkenau infrage. Verschiedene Komitees befassten sich nun mit der Zukunft der Gedenkstätte und dem Bildungsauftrag des Museums. Hatte sich das Museum in den 1950er und 1960er 66 Vgl. Stengel: Hermann Langbein (wie Anm. 63), S. 212 ff. 67 Vgl. Staat­­liches Museum Auschwitz-­­Birkenau: Memorial Timeline. 1960 – 1969, URL: http://auschwitz.org/en/museum/history-­­of-­­the-­­memorial/memorial-­­timeline/years-1960 – 1969, letzter Zugriff: 15. 09. 2015. 68 Die Aufstellung von mehreren Kruzifixen am Gelände des ehemaligen Stammlagers führte Ende der 1990er Jahre zu öffent­­lichen Diskussionen um den katho­­lisch dominierenden Gedenkritus in Auschwitz. Vgl. hierzu auch die Presseerklärung von Kardinal Józef Glemp zum Problem der Kreuze am KZ Auschwitz, in: Barbara Engelking/Helga Hirsch (Hrsg.): Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden. Frankfurt a. M. 2008, S. 109 f.

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Jahren noch auf die Ausstellung von Exponaten konzentriert, so wendet man sich seit zwanzig Jahren der Erforschung und Vermittlung der Shoah auf dem Gelände zu.69 In dem Sammelband Lasst uns über Auschwitz sprechen von Bettina Schäfer,70 in dem sie Gedenkstättenmitarbeitern und Besuchern des Museums Auschwitz mittels Interviews die Mög­­lichkeit einer persön­­lichen Rezep­­tion des Ortes ein­ räumt, wird auch Ewa Pasterak zu ihren Führungen und Erfahrungen befragt. Hierbei nimmt sie insbesondere zur Methode der Emo­­tionalisierung Stellung. Pasterak, die in einem kleinen Ort bei Oświęcim geboren wurde und seit 25 Jah­ ren Gruppen durch das Staat­­liche Museum Auschwitz-­­Birkenau führt, sieht in der Emo­­tionalisierung eine Chance: Diese schaffe einen anderen Zugang zu dem Thema und überfordere den Besucher nicht mit überbordenden Informa­­tionen.71 Ebenso, und dabei stützt sie sich auf ihre langjährige Erfahrung als Museums­ pädagogin, gelangt sie zur folgenden vermeint­­lich schmerzhaften Einsicht: »Was hier, in Auschwitz, menschlich passiert sei, das könne man nur mit dem Herzen verstehen. Und wenn man es versteht, dann tut es weh.« 72 Doch nicht nur die Museumspädagogik, sondern auch die Ausstellung des Museums Auschwitz setzt auf eine emo­­tionale Überwältigung der Besucher. Dies geschieht zum Beispiel durch die Betonung von Kinderschicksalen. So ist etwa im Block 4 eine 3 mal 5 Meter große Fotografie eines Gefangenentransportes zu sehen, die vor allem Frauen und Kinder zeigt, ­welche vermut­­lich auf dem Weg in die Erstickungsräume waren. Auch die massenweise ausgestellten Schuhe sind so drapiert, dass Kinder- und Frauenschuhe im Vordergrund stehen und somit den Blick des Besuchers auf sich ziehen. Zugleich entfalteten menschliche Überreste, wie die Berge von Haaren, die hinter riesigen Vitrinen zur Schau gestellt werden, eine schockierende Wirkung. Wie Ewa Pasterak bestätigt, ergänzen und kontu­ rieren die pädago­­gischen Konzep­­tionen das Gesehene im Museum: Ich berichte darüber, was das Schreck­­lichste war. […] Vielleicht würde ich all das Schreck­­liche nicht hören und nicht sehen und gar nichts darüber wissen wollen. Ich würde es nicht fühlen wollen, weil es einfach zuviel wäre.73 69 Vgl. Staat­­liches Museum Auschwitz-­­Birkenau: Memorial Timeline. 1990 – 1999, URL: http://auschwitz.org/en/museum/history-­­of-­­the-­­memorial/memorial-­­timeline/years1990 – 1999, letzter Zugriff: 15. 09. 2015. 70 Bettina Schäfer (Hrsg.): Lass uns über Auschwitz sprechen. Gedenkstätte – Museum –­ Friedhof. Begegnungen mit dem Weltkulturerbe Auschwitz. Frankfurt a. M. 2009. 71 Vgl. Ewa Pasterak: Dieser Platz ist für Deutsche sehr schwer. In: ebd., S. 189 – 201, hier S. 193 ff. 72 Ebd., S. 193. 73 Ebd., S. 195 f.

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Die Würde der Opfer scheint in der Gedenkstätte nach wie vor keine zu berück­ sichtigende Kategorie zu sein. Dies wird nicht nur an der Zurschaustellung mensch­ licher Überreste deut­­lich, sondern auch bei dem leider missglückten Versuch, den Opfern wenigstens an anderer Stelle ihre Individualität wiederzugeben. In Block 6 werden die von den Polizeiwachmannschaften 1940 angefertigten Fotografien der polnischen Gefangenen ausgestellt. An den Wänden des etwa fünfzig Meter langen kahlen Korridors hängen auf beiden Seiten die zu erkennungsdienst­­lichen Zwe­ cken gemachten Schwarz-­­weiß-­­Fotos. Unter jedem Portrait finden sich der Name und das Inhaftierungsjahr des Gefangenen. Diese nahtlose Aneinanderreihung von entwürdigenden Fotografien reproduzieren den voyeuristischen Täterblick, der auch nicht durch eine Kommentierung gebrochen wird. Gleichzeitig sind Kurzbiografien auf die Zeit der Verfolgung reduziert. Die individuellen Schick­ sale vor der Deporta­­tion sind nicht dargestellt. Hier wie durch das haufenweise Ausstellen privater Habseligkeiten der Opfer in Form von Zahnbürsten und mit Namen versehenen Koffern erlangen die Ermordeten ihre Individualität nicht wieder. Die Masse der Opfer bleibt anonym und entzieht sich jeg­­licher Vorstel­ lungskraft. Stattdessen wird das Verschwinden des Einzelnen in der Masse der Gefangenen visuell manifestiert. Eine besondere Hervorhebung erfährt im Block 11 allein Maximilian Kolbe,74 der aufgrund seines vermeint­­lichen Hungertods 75 für einen anderen Gefangenen starb und als christ­­licher Märtyrer dargestellt wird. Konzep­­tionell hat sich die Gedenkstätte Auschwitz in den letzten 25 Jahren kaum weiterentwickelt, ja im Grunde basiert sie noch immer auf dem Entwurf und der Umsetzung des Museums aus dem Jahr 1947. Neben der Konzentra­­tion auf den massenhaften Charakter der Ermordung von Menschen galt die Ausstellung der Überreste Ende der 1940er Jahre als Beweis für die Verbrechen, die damals ja noch von vielen geleugnet wurden. Heute wirkt dieser Ansatz überholt. Weder wird der Massenmord durch das Vorführen der Überreste »vorstellbar« noch müssen heute Beweise für die Shoah zusammengetragen und ausgestellt werden. Vielmehr wirken die schockierenden Überreste als Sensa­­tion und entfalten auf Voyeure des Völkermords eine Anziehungskraft wie ein Magnet. Die Besucher kommen in Scharen und nehmen jeg­­lichen Raum zum Innehalten, zum Nach­ denken und zur Verarbeitung von Informa­­tionen für sich ein. Die Na­­tionalen Ausstellungen sind zwar modernisiert worden, kleiden häufig jedoch die alte Konzep­­tion nur in eine neue Form. Die neu gestaltete slowakische 74 Maximilian Kolbe war ein polnischer Minorit und Publizist. Er wurde 1982 von Papst ­Johannes Paul II. heiliggesprochen. In Polen wird er als Märtyrer verehrt. 75 Die Geschichtswissenschaft geht davon aus, dass Kolbe nach einer langen Hungerperiode mit einer Giftspritze getötet wurde. Sein »Todesurteil« lautete allerdings Tod durch Verhungern.

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Länderausstellung stellt die einzelnen Phasen der Verfolgung von Juden bis hin zu deren Vernichtung mithilfe verschiedener Installa­­tionen dar.76 Der Besucher bekommt so die Mög­­lichkeit, die unterschied­­lichen Sta­­tionen der Opfer zu durch­ laufen. Auch hier steht nicht Erkenntnis durch historisches Lernen im Fokus, son­ dern das »Hineinfühlen in die Opfer«, was explizit in Betroffenheit münden soll. Auch die israe­­lische Ausstellung Shoah zeichnet das »Martyrium« der Opfer mittels zahlreicher Installa­­tionen nach. Anders als in der Hauptausstellung des Museums Auschwitz beleuchtet diese Ausstellung anhand von Videoaufnahmen aus den 1920er und 1930er Jahren explizit das Leben der Opfer vor der Verfol­ gung. Allerdings wird auch hier durch die musika­­lische Untermalung der Bilder gezielt emo­­tionalisiert. Im weiteren Verlauf werden die Opfer zudem nackt und erniedrigt zur Schau gestellt. Erst am Ende konturiert die Ausstellung die Masse der Opfer mit einem überdimensional großen Buch, das den Titel Every Person Has a Name trägt (Abb. 3). Durch seine spezielle Hängung ist jeder Besucher dazu aufgerufen, in dem Buch zu blättern. Das Ausmaß der Ermordung der euro­ päischen Juden wird mit dieser Installa­­tion offenbar. Auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungsortes Auschwitz-­­Birkenau findet hingegen keine Überformung statt. Hier helfen allein die historischen Spuren zur Imagina­­tion des Geschehens. Wie bereits dargestellt, wurden die Krematorien II, III und V nach der Evakuierung des Lagers gesprengt. Die umstehenden Baracken wurden angezündet, wobei die unversehrt gebliebenen Schornsteine ihre ehema­ ligen Standorte bis heute markieren. Auschwitz-­­Birkenau ist ein brachliegendes Gelände; nur das symbo­­lische Lagereingangstor und die zahlreichen, zum Teil rekonstruierten Stacheldrahtzäune machen die Dimension des Ortes deut­­lich. Auf dem Gelände selbst wurde kein Museum erbaut. Am Ende der »neuen Rampe«, wo seit Sommer 1944 die Selek­­tionen stattge­ funden hatten, und z­ wischen Krematorium II und III wurde 1967 ein Denkmal für die in Auschwitz ermordeten Menschen errichtet. Es ist erst aus der Nähe sichtbar. Die Steinplastik greift keine bestimmten, dem Besucher womög­­lich bekannten Figuren oder Bilder auf, im Gegenteil: Es regt zum Assoziieren und Nachdenken an. Die Erhöhung in der Form eines Turmes scheint einen Schorn­ stein und die Figuren Sarkophage und Gräber darzustellen. Über den Platz, der aus flachen Stufen besteht, nähert sich der Besucher schrittweise dem Denkmal. Gleichzeitig erhebt sich d­ ieses über das brachliegende Gelände, die Relikte. Die 76 Die Ausstellung wird akustisch von rollenden Waggonrädern begleitet. Zusätz­­lich sind Gleis­ anlagen nachgebaut worden. Im Hintergrund sind Tafeln in Form von Grabsteinen aufgestellt, auf denen die Zehn Gebote zu lesen sind. Die Ausstellung suggeriert, die Verfolgung der euro­ päischen Juden sei ausschließ­­lich religiös statt rassistisch motiviert gewesen.

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Abb. 3  Bislang 4,2 Millionen Namen: Installa­­tion Every Person Has a Name in der von Avner Shalev kuratierten israe­­lischen Ausstellung

in verschiedenen Sprachen beschrifteten Tafeln am Fuße des Denkmals erinnern an die Opfer wie folgt: »Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit. Hier ermordeten die Nazis etwa anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder. Die meisten waren Juden aus verschiede­ nen Ländern Europas«. Die dort ebenfalls zu Tausenden ermordeten Sinti und Roma sowie jene Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt und ermordet wurden, sucht man vergebens. Die Gestaltung des Ortes veranlasst den Besucher, den Weg der Opfer nachzu­ gehen: Der Besucher gelangt durch das Eingangstor, den Gleisen folgend an die Rampe und von dort aus zum Denkmal sowie zu den Trümmern der Krematorien II und III. Auf den Informa­­tionsstelen sind Bilder mit Menschen abgedruckt, die in den 1940er Jahren genau an d­­ iesem Ort standen und in die Erstickungsräume getrie­ ben wurden. Sie begleiten den Besucher gewissermaßen beim Nachgehen der Via Dolorosa. Auch hier behindert die Masse der Besucher und die touristische Praxis, sich vor »Sehenswürdigkeiten« zu inszenieren und zu fotografieren, ein Innehalten und Nachdenken. Trotz alledem bleibt das Gelände Auschwitz-­­Birkenau ein Un­­Ort des Gedenkens, ein Friedhof. Die gespenstische Atmosphäre der ehemaligen Bauabschnitte I und II mit ihren herausragenden Schornsteinen, die Trümmer der ehemaligen Verbrennungsanlagen und der Verweis auf die nächstliegenden Asche­ gräber, aber auch die enorme Fläche des Geländes tragen zu d­­ iesem Eindruck bei.

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Abb. 4  Verkauf von Büchern und Zeitzeugenberichten wie Władysław Bartoszewskis »Mein Auschwitz« in einer Holzbaracke auf dem Gelände des ehemaligen Stammlagers

Der authentische Ort ist wichtig, weil er Aufschluss darüber gibt, dass er gewesen ist. Seine Verkehrung zu einem auratischen Ort mystifiziert ihn und steht dem Versuch, eine Vorstellung von den historischen Ereignissen zu entwickeln, eher im Wege. Stattdessen wird der Besucher dazu verleitet, sich mit den Opfern zu identifizieren und deren Leid nachzuempfinden. Ein solches Nachfühlen muss jedoch scheitern. Was bleibt, sind Sprachlosigkeit und Trauer, denn Un-­­Orte stiften Einsamkeit statt Identität. Das Gesehene, die Trümmer der Verbrennungs­ anlagen, die Überreste der Holzbaracken und die das ganze Gelände durchziehen­ den Stacheldrahtzäune müssen vom Besucher in einen Zusammenhang gebracht werden. Er muss in der Lage sein, das Gesehene mit Wissen zu füllen – nicht mit Gefühlen. Hier wird er von der Gedenkstätte weitgehend allein gelassen (Abb. 4). Die Mystifizierung des Un-­­Ortes Auschwitz und die damit einhergehen­ den Emo­­tionalisierungsstrategien stehen einem Verstehen der Shoah und dem historischen Lernen entgegen. Eine Transferleistung des Erlernten auf unsere

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heutige Gesellschaft, auf die Frage, unter w ­ elchen Bedingungen gesellschaft­­ liche Ausgrenzung erfolgt, kann durch ein bloßes Mitfühlen mit den Opfern der Shoah nicht gelingen. Die Frage »Warum Auschwitz?« sollte sich daher weniger auf ein abgeschlossenes Ereignis in der Vergangenheit beziehen, son­ dern einen Gegenwartsbezug herstellen: Auschwitz steht für Formen von Aus­ grenzung und Gesellschaftsverbrechen gegen Minderheiten. Wie also kann die Gedenkstätte heute für morgen nutzbar gemacht werden? In d­­ iesem Zusammen­ hang kann Henryk M. Broder nur beigepflichtet werden, wenn er festhält, dass trotz der hohen, stetig steigenden Besucherzahlen, die das Museum Auschwitz jähr­­lich zählt, der Antisemitismus und die Bagatellisierung der Shoah weltweit zugenommen haben.77 Auschwitz sollte nicht nur Mahnmal, sondern auch ein Lernort sein, der die Besucher über die Ursachen von Ausgrenzung und Gewalt aufklärt. Auschwitz darf für die Besucher der Gedenkstätte nicht ein Synonym für Schrecken und Grausamkeit sein. Weder das Ausstellen eines rostigen Nachttopfs, der einem Kind gehörte, noch die Rekonstruk­­tion eines Muffelofens können »Einblicke« oder ein »Nachfühlen« in die damalige Lage der Opfer evozieren. Stattdessen wird der Besucher emo­­tional überwältigt und häufig sprachlos zurückgelassen. Der Ausspruch »Nie wieder Auschwitz!« setzt nicht nur eine emo­­tionale Ableh­ nung von Massenmord voraus, sondern es bedarf noch viel mehr des Wissens über Denkweisen, Eskala­­tionsmechanismen und Legitima­­tionsstrategien, die zu »Gesellschaftsverbrechen« 78 führen.

77 Vgl. Henryk M. Broder: Auschwitz ist heute ein Disneyland des Todes (wie Anm. 5). 78 Volkhard Knigge: Gesellschaftsverbrechen erinnern. Zur Entstehung und Entwicklung des Konzepts seit 1945. In: Ders./Ulrich Mählert (Hrsg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa (= Euro­päische Dikta­ turen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, 6). Köln/Weimar/Wien 2005, S. 19 – 30.

Sven Urban

»Schöne Landschaft mit schreck­licher Vergangenheit« – Eine empirische Untersuchung zur Wirkung des Ortes Auschwitz auf das Wissen und die Emo­tionen jugend­licher Schüler Wenn Jugend­­liche sich mit der Shoah beschäftigen, dann ist ihnen klar, dass sie mit einem Verbrechen konfrontiert sind, das negativ zu bewerten ist. Sie fühlen sich deshalb aufgefordert, eine Wiederholung zu verhindern. Obwohl das Deu­ tungsmuster für Schüler 1 eindeutig ist, besitzen sie nach Meik Zülsdorf-­­Kersting kein selbstverständ­­liches Wissen über die Shoah. Wesent­­liche Informa­­tionen, wie etwa Opferzahlen oder w ­ elche Opfergruppen verfolgt und ermordet wur­ den, sind den Jugend­­lichen nicht durchweg bekannt. Zülsdorf-­­Kersting schließt daraus, dass im Geschichtsunterricht die kulturelle Selbstverständ­­lichkeit, die Shoah zu verurteilen, gelernt werden kann, ohne dass dazu fundierte Kenntnisse des historischen Kontexts benötigt würden.2 Eine Mög­­lichkeit, diese unbefriedigende Situa­­tion zu verbessern, ist der Besuch einer KZ -Gedenkstätte. Die pädago­­gischen Hoffnungen, die mit einem solchen Besuch eines historischen Ortes verbunden ­seien, begründeten sich in der Anschau­­lichkeit durch Überreste und deren Authentizität.3 Die Besucher treten in der Gedenkstätte räum­­lich und sinn­­lich mit der Welt der ehemali­ gen Konzentra­­tionslager in Kontakt, womit die allgemeine Erwartung ver­ bunden ist, die eigene Vorstellung von der Shoah zu erweitern, das heißt, die

1 Die Personenbezeichnungen Schüler, Lehrer etc. implizieren sowohl das männ­­liche als auch das weib­­liche Geschlecht. 2 Vgl. Meik Zülsdorf-­­Kersting: Identitätsstiftung durch das Grauen? Jugend­­liche und das Thema »Holocaust«. In: Zeitschrift für Genozidforschung 7 (2006) 2, S. 67 – 90, hier S. 84. – Zülsdorf-­­Kersting sieht die Ursache des fehlenden Wissens nicht in einem mangelnden Inte­ resse, sondern vielmehr in einer fragwürdigen Auseinandersetzung mit Geschichte. So nehmen Jugend­­liche vor allem über visuelle Medien an der Geschichtskultur der Shoah teil. Es ist zu vermuten, dass die Shoah über das Fernsehschauen zu keinem reflektierten Geschichtsbewusst­ sein führt. Vgl. ebd., S. 87 f. 3 Vgl. Ulrich Mayer: Historische Orte als Lernorte. In: ders. u. a. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2011, S. 389 – 4 07, hier S. 392 ff.; Christian Kuchler: Historische Orte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012, hier S. 34 ff.

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fehlende unmittelbare Erfahrbarkeit von Geschichte durch Vorstellungsbilder und Imagina­­tionen zu kompensieren.4 Die zentrale Herausforderung sowohl für Lehrpersonen, die eine Exkursion durchführen, als auch für Gedenkstättenpädagogen vor Ort ist dabei die Emo­­ tionalität der Schüler, die mit dem Besuch der historischen Stätte verbunden ist. Jede Auseinandersetzung mit der Shoah kreist um den traumatischen Kern der Gewalt- und Unrechtserfahrungen, die sich am Ort einer Gedenkstätte bün­ deln.5 Emo­­tionen können zwar einen Zugang zum Verstehen der Vergangenheit ermög­­lichen, gleichzeitig aber besteht bei einer Überwältigung die Gefahr, die­ sen Zugang zum historischen Lernen zu verschließen.6 Bert Pampel stellt daher die Frage, inwiefern die Anschau­­lichkeit des Ortes, die Emo­­tionalität der Schü­ ler und die damit verbundene Empathie mit den Opfern zu einem Verständnis historischer Ereignisse und Zusammenhänge führen können. Fehlende empiri­ sche Erkenntnisse erschweren die Beantwortung dieser Frage.7 Die vorliegende Studie greift diese Wissenslücke auf und fragt, in welchem Grade die Wirkung des historischen Ortes Auschwitz und die dortige Gedenkstätte die kognitiven und emo­­tionalen Fähigkeiten von jugend­­lichen Besuchern beeinflussen. Unter kognitiven Fähigkeiten soll in ­­diesem Zusammenhang das historische Wissen verstanden werden. Es beschreibt erstens die Fähigkeit, Begriffe zu definieren (deklaratives Wissen), und zweitens die Kompetenzen im Umgang mit Geschichte.8 4 Vgl. Meik Zülsdorf-­­Kersting: Vorstellen und Verstehen. Jugend­­liche betrachten den Holocaust. In: Bernd Schönemann/Saskia Handro (Hrsg.): Visualität und Geschichte. Berlin 2011, S. 55 – 68, hier S. 66 f.; Rolf Schörken: Historische Imagina­­tionen und Geschichtsdidaktik. Paderborn/Zürich 1994; Aleida Assmann/Juliane Brauer: Bilder, Gefühle, Erwartungen. Über die emo­­tionale Dimension von Gedenkstätten und den Umgang von Jugend­­lichen mit dem Holocaust. In: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011) 1, S. 72 – 103, hier S. 73. 5 Vgl. Matthias Heyl: Mit Überwältigendem überwältigen? Emo­­tionen in KZ-Gedenk­ stätten. In: Juliane Brauer/Martin Lücke (Hrsg.): Emo­­tionen, Geschichte und histo­ risches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven. Göttingen 2013, S. 239 – 259, hier S. 239; Alina Bothe/Rolf Sperling: Trauma und Emo­­tion im virtuellen Raum. Historisches Lernen über die Shoah mit virtuellen Zeugnissen. In: ebd., S. 201 – 221, hier S. 204. 6 Vgl. Juliane Brauer/Martin Lücke: Emo­­tionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen. In: ebd., S. 11 – 26, hier S. 11. 7 Vgl. Bert Pampel: Gedenkstätten als »außerschu­­lische Lernorte«: Theoretische Aspekte – empirische Befunde – praktische Herausforderungen. In: ders. (Hrsg.): Erschrecken – Mit­ gefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschicht­­lichen Ausstellungen. Leipzig 2011, S. 11 – 58, hier S. 17. 8 Für ein differenziertes Verständnis von historischem Wissen vgl. Markus Bernhardt/ Ulrich Mayer/Peter Gautschi: Historisches Wissen – was ist das eigent­­lich? In:

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Eine klare begriff­­liche Festlegung von Emo­­tionen und von deren Funk­­tion auf das historische Lernen steht noch aus. Emo­­tionen sind jedoch Teil des historischen Lernens. Zum einen sind sie selbst Gegenstand des Geschichtslernens (Objekt­ ebene) und zum anderen stehen die Emo­­tionen der Lernenden im Vordergrund (Subjektebene).9 Die Subjektebene ist für die hier vorliegende Studie von zen­ traler Bedeutung. Ausgangspunkt bildet eine Exkursionsgruppe von Jugend­­ lichen, die vor und nach der Reise in die Gedenkstätte Auschwitz befragt wurde. Zunächst sollen die Konzep­­tion der Befragungen und die Rahmenbedingungen der Exkursion erläutert, anschließend die Motiva­­tion, das Vorwissen und die emo­­ tionalen Erwartungen der Schüler im Vorfeld der Exkursion dargestellt werden. Der nächste Abschnitt präsentiert die Aussagen der Jugend­­lichen zur Wirkung des Ortes, zum Wissenszuwachs und zu ihren Emo­­tionen nach dem Besuch der Gedenkstätte. Ein Vergleich der jeweiligen Aussagen soll schließ­­lich Aufschlüsse über die Wirkung des Gedenkstättenbesuchs auf die Schüler liefern.

Rahmenbedingungen der Exkursion und der Untersuchung Im September 2015 veranstaltete das Gymnasium Bad Salzungen eine Exkursion nach Krakau, in deren Rahmen eine zweitägige Besichtigung der Gedenkstätte Auschwitz durchgeführt wurde. Die vorliegende Studie ist für diesen Besuch kon­ zipiert, durchgeführt und ausgewertet worden. Das Ziel der wissenschaft­­lichen Befragung bestand in der Evalua­­tion der Gedenkstättenexkursion hinsicht­­lich ihrer Wirkung auf die Jugend­­lichen. Im Fokus standen vor allem der Wissens­ zuwachs zum Thema Shoah (Kogni­­tion) und der Einfluss des Ortes und der Haupt­ ausstellung auf die Gefühle der Jugend­­lichen (Emo­­tion). Hierzu wurde mit fünf Mädchen und sechs Jungen im Alter von 15 bis 16 Jahren eine schrift­­liche Vorher-­ ­nachher-­­Befragung durchgeführt.10 Den ersten Fragebogen füllten die Jugend­­ lichen ein bzw. zwei Tage vor Besichtigung der Gedenkstätte aus. Die offenen Untersuchungsitems waren: Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012, S. 103 – 117, hier S. 104 – 112. 9 Vgl. Wolfgang Hasberg: Emo­­tionalität historischen Lernens. Einblicke in und ­Ausblicke auf empirische Forschung. In: Juliane Brauer/Martin Lücke (Hrsg.): Emo­­tionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspek­ tiven. Göttingen 2013, S. 47 – 74; Bothe/Sperling: Trauma (wie Anm. 5), S. 213. 10 Eine sechste Schülerin füllte die Vorherbefragung aus, konnte jedoch aufgrund von Krankheit nicht an der Exkursion teilnehmen.

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Interesse für die Teilnahme an der Exkursion, Erwartungshaltung, Vorwissen zum Ort Auschwitz, erwartete Emo­­tionen, Fragen an den Ort und die Vorbereitung durch die Schule.

Des Weiteren wurde eine Intervallskala genutzt, auf der die Teilnehmer zum einen ihr Interesse und zum anderen ihr Wissen über die Shoah einordnen sollten. Die Schüler sollten zusätz­­lich mithilfe einer Multiple-­­Choice-­­Frage ihre Vermittlungs­ medien zum Thema Shoah angeben. Der zweite Fragebogen wurde einen Tag nach dem letzten Besuch der Gedenk­ stätte Auschwitz ausgefüllt. Die offen gestellten Fragen beinhalteten die Unter­ suchungsitems ■■ Emo­­tionen/Eindrücke/Gefühle während der Besichtigung, ■■ Wissenszuwachs, ■■ die Wirkung des Ortes, ■■ intensive Momente während der Besichtigung, ■■ Vorstellung zur Shoah nach der Besichtigung sowie ■■ Positives und Negatives zur Ausstellung. Zusätz­­lich gaben die Schüler mithilfe einer Intervallskala das Interesse und das Wissen nach dem Besuch der Gedenkstätte an. Die Auswertung der Fragebögen geschah mithilfe der qualitativen Inhalts­analyse nach Mayring,11 indem anhand der Untersuchungskriterien die Antwor­ten der Vorherbefragung (Vorwissen, Motiva­­tion und Erwartungshaltung, erwartete Emo­­ tionen) sowie der Nachherbefragung (Wissen/Vorstellung über die Shoah, Wirkung des Ortes/der Ausstellung, emo­­tionale Erfahrungen) strukturiert wurden. Darstel­ lung und Interpreta­­tion der Ergebnisse erfolgten vor allem über die Präsenta­­tion einschlägiger Zitate der Befragten. Die Studie stellt einen exemplarischen Ausschnitt dar, ihre Ergebnisse können aufgrund der kleinen Untersuchungsgruppe (vorher: n = 12; nachher: n = 11) nicht als repräsentativ gelten. Aus ihnen können jedoch Schlussfolgerungen gezogen werden, die für praxisorientierte Adressaten (zum Beispiel Lehrer) in ähn­­lichen

11 Vgl. Philipp Mayring: Einführung in die Qualitative Sozia­lforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. Weinheim/Basel 2002, S. 114 – 120.

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Situa­­tionen Anwendung finden oder als Hypothesen für weitere Forschungsbe­ mühungen stehen können.12 Mit dem Gedenkstättenbesuch waren bei den begleitenden Pädagogen spezi­ fische Erwartungen verbunden, die sich auf zwei Zielebenen fokussierten: Geschichtsdidaktische Ebene: Die Authentizität des Ortes sollte Anlass für eine intensivere Auseinandersetzung der Schüler mit dem Thema Shoah sein. Mora­­lische Ebene: Der Besuch der Gedenkstätte Auschwitz und die Ausein­ andersetzung mit menschenverachtender Gewalt gegenüber religiösen, politi­ schen oder kulturellen Minderheiten sollte das Bewusstsein für die Wahrung der Menschenrechte fördern. Gleichzeitig sollten die Eindrücke von Auschwitz eine Aufforderung an das eigene zivilcouragierte Handeln im Alltag sein.13 Bereits vor der Exkursion wurden die Schüler aus Bad Salzungen auf das Thema vorbereitet. Im Februar 2015, das heißt noch in der 9./10. Klasse, wurde ihnen der Film Schindlers Liste gezeigt und dieser anschließend gemeinsam mit den Lehrern ausgewertet.14 Ende August fand in Bad Salzungen eine Sonderver­ anstaltung in Form eines Vortrags durch Erika Rosenberg-­­Band 15 zur Geschichte von Oskar und Emilie Schindler insbesondere während des Zweiten Weltkriegs statt. Eine zielgerichtete Vorbereitung aller Exkursionsteilnehmer im Hinblick auf die Geschichte des Ortes Auschwitz hingegen gab es nicht.16 Das Programm der 12 Vgl. Meik Zülsdorf-­­Kersting: Historisches Lernen in der Gedenkstätte. Zur Stabilität vorgefertigter Geschichtsbilder. In: Bert Pampel (Hrsg.): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschicht­­lichen Ausstellungen. Leipzig 2011, S. 171 – 191, hier S. 177. 13 Die Zielvorstellung, dass eine KZ-Gedenkstätte Einfluss auf demokratiefeind­­liche Einstellun­ gen nehmen könne, ist nach Pampel vor allem eine Hoffnung der Politik und von Lehrern. Gedenkstättenpädagogen hingegen sind skeptisch, ob sich Gedenkstätten für politische Bil­ dung und eine Menschenrechtserziehung eignen. Vgl. Pampel: »außerschu­­lische Lernorte« (wie Anm. 7), S. 19 f.; Gottfried Kössler: Menschenrechtsbildung, mora­­lische Erziehung und historisches Lernen. Erfahrungen mit dem Projekt »Konfronta­­tionen«. In: W ­ olfgang Meseth u. a. (Hrsg.): Schule und Na­­tionalsozia­lismus. Anspruch und Grenzen des Geschichts­ unterrichts. Frankfurt a. M. 2004, S. 237 – 251. 14 Bert Pampel beschreibt, dass das Vorführen des Films Schindlers Liste (1993) neben anderen Spielfilmen eine beliebte Praxis von Lehrern ist, um den Schülern ein »Bild« vom Na­­tionalsozia­ lismus und der Shoah zu vermitteln. Vgl. Pampel: »außerschu­­lische Lernorte« (wie Anm. 7), S. 28. 15 Erika Rosenberg-­­Band ist neben ihrer journalistischen Tätigkeit eine Biografin von Emilie und Oskar Schindler. Vgl. Erika Rosenberg-­­Band: Ich, Emilie Schindler. Erinnerungen einer Unbeugsamen. München 2006. – Sie wurde für den Vortrag vom Gymnasium Bad Salzungen eingeladen und begleitete die Teilnehmer nach Auschwitz. 16 Der Zweck einer gezielten inhalt­­lichen Vorbereitung auf die Geschichte des Ortes selbst liegt darin begründet, dass Gedenkstätten mit ihrer musealen Ausstellung die Wahrnehmung des

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Exkursion war auf eine Woche angelegt und thematisch in zwei Themenbereiche aufgeteilt: die eigent­­liche Besichtigung der Gedenkstätte Auschwitz (zwei Tage) und den Besuch verschiedener Museen und Ausstellungen über die Zeit Krakaus während der deutschen Besatzung. Für die vorliegende Studie soll ledig­­lich der Ablauf der Gedenkstättenbesichtigung kurz erläutert werden: Der erste von zwei Tagen beinhaltete die Besichtigung des Stammlagers. Die Schüler wurden in ihren jeweiligen Gruppen innerhalb von vier Stunden über das Gelände und durch die Hauptausstellung geführt. Wesent­­liche Besichtigungspunkte waren der sogenannte Block 11, die »Todeswand« z­ wischen Block 10 und Block 11, der Block 27 mit der seit 2013 zu besichtigenden neuen israe­­lischen Ausstellung Shoah 17 sowie das Krematorium I im Stammlager. Nach einer einstündigen Mit­ tagspause besuchten die elf Schüler eine Sonderausstellung zur Geschichte der Sinti und Roma in Auschwitz. Am zweiten Tag wurde Auschwitz-­­Birkenau in einer vierstündigen Führung besichtigt, insbesondere die ehemalige Rampe, eine Baracke, die zerstörten Krematorien  II und III , das Effektenlager »Kanada« sowie eine »Kinderbaracke«. Nach einer Mittagspause hörten die Schüler einen einstündigen Vortrag mit Power-­­Point-­­Präsenta­­tion zum Thema »Medizinische Experimente in Auschwitz«. Nachdem die Teilnehmer nach Krakau zurückge­ kehrt waren, erfolgte eine 45-minütige Auswertungsrunde, in der die Schüler ihre Eindrücke und Erfahrungen mitteilen konnten. Am dritten Tag erarbeiteten die Jugend­­lichen Beiträge zum Thema »Diskriminierung«, um einen Gegenwarts­ bezug aus den Erfahrungen der zwei Besichtigungstage herzustellen. Die zweite Erhebung (Nachherbefragung) wurde am dritten Tag der Exkursion vor ­­diesem Workshop durchgeführt. Die Schülergruppe bestand aus fünf Schülerinnen und sechs Schülern, von denen acht dieselbe 10. Klasse, eine weitere Schülerin die Parallelklasse und die rest­­lichen zwei eine 11. Klasse besuchten. Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte durch den verantwort­­lichen Lehrer nach dem Kriterium eines posi­ tiven Sozia­lverhaltens der Schüler im Unterricht. Eine Berücksichtigung des historischen Vorwissens oder des historischen Erkenntnisinteresses stand nicht im Vordergrund.

historischen Ortes in den Hintergrund drängen. Es besteht das Risiko, dass sich die Lernenden nicht mehr mit dem historischen Ort auseinandersetzen, sondern ledig­­lich die Ausstellung konsumieren. Vgl. Kuchler: Historische Orte (wie Anm. 3), S. 42 f. 17 Nähere Informa­­tionen zur Konzep­­tion dieser Dauerausstellung finden sich bei Avner Shalev: Shoah. Die neue Dauerausstellung im Block 27 im Staat­­lichen Museum Auschwitz-­­Birkenau, URL: http://www.yadvashem.org/yv/de/exhibi­­tions/pavilion_auschwitz/intro.asp, letzter Zugriff: 28. 02. 2016.

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Das Thema Shoah war in den 10. Klassen im Geschichtsunterricht noch nicht behandelt worden. Ledig­­lich im Ethikunterricht waren der Ort Auschwitz und die Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen angesprochen worden.18 Die Verfolgung der religiösen und politischen Minderheiten innerhalb Deutschlands, die NS -Ideologie und Rassenlehre sowie der Begriff und die zentralen Ereig­ nisse der Shoah während des Zweiten Weltkriegs waren mit den Zehntklässlern nicht behandelt worden. Es ist somit davon auszugehen, dass die Schüler den Ort ­Auschwitz nicht kontextualisieren konnten.19 Alle Schüler hatten den Ort ­Auschwitz vor der Exkursion noch nie besucht. Die elf Schüler wurden auf der Exkursion von vier Lehrpersonen begleitet. Federführend war der Ethiklehrer, dessen Engagement die Fahrt überhaupt erst ermög­­licht hatte. Neben dem Schulleiter wurden die Jugend­­lichen noch von den beiden Klassenlehrern der 10. Klassen begleitet.20 Die Begleitpersonen verfügten nur über geringe Kenntnisse im Umgang mit historischen Gedenkstätten und von den vier Lehrern kannten ledig­­lich zwei die Gedenkstätte Auschwitz aus eigener Anschauung.

Ergebnisdarstellung und -interpreta­tion: Vor dem Besuch der Gedenkstätte Die Teilnehmer einer Exkursion besuchen die Gedenkstätte Auschwitz stets mit einem »mentalen Gepäck« 21 an Vorwissen, Motiven, Einstellungen und Erwartungen. Um den historischen Lernprozess durch einen Gedenkstätten­ besuch nachvollziehen zu können, bedarf es zunächst der Untersuchung eben jener »Gepäckstücke« der Teilnehmer. Der folgende Abschnitt stellt die Ergebnisse über die Erwartungen an den Ort, das Vorwissen der Schüler sowie ihre erwarteten Emo­­tionen dar. 18 Allerdings behandelt der Ethikunterricht weniger historische Fragestellungen oder Zusammen­ hänge als vielmehr die Frage eines zivilcouragierten Handelns. Deshalb wurden im Ethikunter­ richt die Verletzung der Menschenrechte, die Formen der Trauer und des Erinnerns sowie deren Relevanz für die Schüler in der Gegenwart besprochen. 19 Im Gegensatz zu den Teilnehmern aus der 10. Klasse hatten die Schüler aus der 11. Klasse das Thema Na­­tionalsozia­lismus bereits behandelt. 20 Die Geschichtslehrer der Schüler der 10. und 11. Klasse nahmen nicht an der Exkursion teil. Von allen vier Begleitpersonen hatten zwei die Befähigung, das Fach Geschichte, einer das Fach Sozia­lkunde sowie ein anderer das Fach Ethik zu unterrichten. 21 Vgl. Pampel: »außerschu­­lische Lernorte« (wie Anm. 7), S. 30; Assmann/Brauer: Bilder (wie Anm. 4), S. 87.

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Erwartungen der Schüler an den Ort Auschwitz Die Schüler entschieden sich freiwillig für die Exkursion nach Auschwitz, sodass von einer intrin­­sischen Motiva­­tion, den Ort Auschwitz zu besichtigen, ausgegangen werden kann. Jedoch sind die Gründe für eine Teilnahme und die Erwartungen der Schüler individuell verortet, weshalb eine Untersuchung zu der Frage »Was erwarten Schüler in Auschwitz zu erfahren?« aufschlussreich erscheint.22 Die Schülerin W323 verweist in ihrer Ausführung zu ihren Erwartungen auf die Besonderheit, sich dem Thema Shoah an einem »authentischen« Ort zu nähern: Schülerin W3: Weil ich mich nicht in diese Zeit so gut hineinversetzen kann, deshalb nehme ich an der Exkursion teil. Man kennt es nur aus Filmen oder Dokumenta­­tionen, aber alles in Wirk­­lichkeit zu sehen und vllt. Zeitzeugen dabei zu haben, diese Chance wird glaub ich nie wieder kommen.

Ausgangspunkt ihrer Motiva­­tion, an der Exkursion teilzunehmen, ist die Unzufrie­ denheit der Schülerin mit ihrer fehlenden Vorstellung von der Shoah. Obwohl sie bereits über visuelle Medien einen Eindruck erworben habe, verspreche ein Besuch von Auschwitz in ihren Augen, »alles in Wirk­­lichkeit zu sehen«. Die Authenti­ zität des Ortes ermög­­liche somit nicht nur ein besseres historisches Verstehen als andere Medien, sondern stelle ihrer Meinung nach auch eine klare und eindeutige Darstellung der Vergangenheit in Aussicht. Die Hoffnung der Schülerin liegt darin begründet, dass historische Stätten im Vergleich zu anderen Vermittlungsmedien (Print- oder visuelle Medien) allgemeine Materialität aufweisen und somit einen Zeugnischarakter besitzen. Diese »Aura« des Ortes ermög­­licht dem Betrachter, sich die Vergangenheit besser vorzustellen, um Geschichte zu verstehen.24 Die Authentizität des Ortes lässt sich auch in den Äußerungen der anderen Schüler als ein wesent­­licher Beweggrund für deren Teilnahme an der Exkursion feststellen. Jedoch entwickeln sich aus dem Verlangen nach der »historischen Wirk­­lichkeit« verschieden gelagerte Motiva­­tionen: 22 Nach Pampel haben Lehrer im Vorfeld einer Gedenkstättenexkursion nur wenig Wissen über die Erwartungshaltung ihrer Schüler. Vgl. Pampel: »außerschu­­lische Lernorte« (wie Anm. 7), S. 25. 23 Die Aussagen der Schüler werden anonymisiert und originalgetreu, das heißt orthografisch und grammatika­­lisch unverändert wiedergegeben. Die Bezeichnung W3 steht für »3. weib­­ liche Person (Schülerin)«, die männ­­lichen Zitate sind mit einem »M« und entsprechender Nummer gekennzeichnet. 24 Vgl. Pampel: »außerschu­­lische Lernorte« (wie Anm. 7), S. 16; Kuchler: Historische Orte (wie Anm. 3), S. 19 – 22.

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Erstens: Die Schüler wollen die Lebensbedingungen der Gefangenen und Opfer erfahren und nachempfinden. Durch die Empathie mit den Opfern erhof­ fen sie sich ein besseres historisches Verstehen der Shoah. Die folgenden Beispiele verdeut­­lichen diese Form der Erwartung: Schülerin W1: Ich hoffe das ich durch die Exkursion die Situa­­tion der Juden von damals bes­ ser vorstellen kann und mich vielleicht auch selbst besser in die Situa­­tion einfinden kann und auch mehr über den Ort selbst erfahre, wie dort die Lebensumstände waren und was alles mit den Juden geschehen ist. Schülerin W2: Gerne Nachempfinden auch wenn es nichts Schönes war wie sich die Menschen gefühlt haben. Geschehnisse bewusster zu setzen, um sie eben nicht zu vergessen. Schülerin W4: Es geht mir um diese unzähligen Schicksale von Menschen, die alle einmal Pläne hatten u. glück­­lich waren und die mir unbegreif­­liche Unmenschlichkeit. Vielleicht hilft der Ort ein wenig beim Verstehen, wie so etwas passieren konnte. Und ich möchte mich ein­ setzen können, damit es nie wiederholt wird. Schüler M4: Dass wir merken, dass es nicht nur eine Geschichte, sondern wirk­­liche Taten unserer Landsleute sind und dies niemals vergessen werden darf. Diesen Ort mal zu sehen, wird sicher­­lich unbeschreib­­liche Gefühle auslösen.

Die Schülerin W1 hofft, sich die Lebensbedingungen der jüdischen Opfer besser vorstellen zu können, wenn sie sich in deren Situa­­tion einfühlen könne. In ihrer Aussage wird letzt­­lich eine Hoffnung sichtbar, der zufolge die Materialität des Ortes Bilder, Impulse und Einblicke liefere, die ihr eine »komplette« Vorstel­ lung der Shoah ermög­­lichten. In der Aussage von Schülerin W2 wird deut­­lich, dass sie nicht nur die »Geschehnisse« besser verstehen möchte, sondern diese nicht »vergessen« wolle. Ihre Motiva­­tion, Auschwitz zu besuchen, liegt nicht allein im Ziel begründet, ihre historischen Kompetenzen zu schulen, sondern die Erinnerung an die Opfer aufrechtzuerhalten. Die Schülerin W4 ist hingegen etwas skeptischer als die Schülerinnen W1 und W2, wenn es um die Frage geht, inwiefern der Ort zu einem tiefergehenden Verständnis der Ereignisse führe. Sie relativiert die Wirkmächtigkeit des Ortes, indem die Schülerin durch das Wort »vielleicht« auch die Mög­­lichkeit in Betracht zieht, dass der Ort nicht zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit beitrage. Gleichzeitig hegt sie die Hoffnung, dass die Authentizität des Ortes Erklärungen für die »unbegreif­­liche Unmenschlichkeit« biete. Des Weiteren verweist ihre Motiva­­tion auch auf eine Handlungsinten­­tion nach dem Besuch, näm­­lich sich gegen eine Wiederholung der Unmenschlichkeit einzusetzen. Der Schüler M4 erweitert die Perspektive der Empathie mit den Opfern, indem er die Handlungen der Täter zu seiner na­­tionalen Identität in Beziehung

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setzt. Interessant ist die Formulierung »dass wir merken«, wodurch der Schüler die Erwartungshaltung nicht nur auf sich allein, sondern auf die gesamte Gruppe bezieht. Über die Empathie mit den Opfern richtet er damit einen Appell an die Gruppe, sich der eigenen Verantwortung auch in na­­tionalem Bezugsrahmen bewusst zu werden. Alle vier Beispiele sehen in der Authentizität des Ortes die Mög­­lichkeit, durch Empathie mit den Opfern die räum­­liche und zeit­­liche Distanz zur Vergangenheit zu überbrücken. Empathie zu zeigen ist nach Brauer eine wichtige Voraussetzung, um einen historischen Verstehensprozess zu durchlaufen. Allerdings bestehe das Risiko, dass eine ausschließ­­liche Fokussierung auf Empathie einen historischen Erkenntnisgewinn auch blockieren könne.25 Zweitens: Während die erste Motiva­­tion für eine Besichtigung der Gedenk­ stätte darin lag, durch Empathie mit den Opfern zu einer klareren Vorstellung und einem besseren Verständnis der Shoah zu gelangen, interessiert eine andere Gruppe von Schülern vor allem die Materialität des Ortes selbst. Sie interessieren sich für die Geschichte des Ortes und des Lagers und präferieren ein eher kogni­ tives Verstehen der Shoah: Schüler M2: Ich möchte primär mehr über das erfahren, was früher dort passiert ist, weil ich finde, dass es zur Allgemeinbildung dazu gehört und ich jetzt nicht richtig verstehen kann, was dort passiert ist. Außerdem interessiert mich das Thema und die Vorgeschichte unseres Landes. Ich erwarte, dass wir tiefere Einblicke in die Geschichte bzw. das Wirken und der Arbeit des Lagers erfahren, als Leute die vielleicht nur ein Buch darüber lesen. Schüler M5: Ich will Auschwitz sehen, da es ein wichtiger historischer Ort ist und ich sehr geschichtsinteressiert bin. Ich will diesen Ort mit eigenen Augen gesehen haben. Ich habe keine besonderen Erwartungen zur Fahrt. Ich hoffe nur, dass es informativ ist. Schüler M6: Ich hoffe, dass ich durch den Besuch der Gedenkstätte einen größeren Einblick in die Grausamkeit dieser Zeit bekomme. Zudem erwarte ich mehr zu sehen als in Buchenwald.

Zwei Aussagen des Schülers M2 sind bemerkenswert: Erstens bezeichnet er das Thema der Shoah als einen Teil der Allgemeinbildung und bezieht ­dieses auf Deutschland. In seinem Verständnis gehört es zum »Deutschsein« dazu, Wissen

25 So ist etwa der Wunsch nach einer Identifika­­tion mit den Opfern, um die Vergangenheit persön­­ lich zu bewältigen, eine Illusion, da die Erfahrungswelten ­zwischen Besucher und Opfer gänz­­lich verschieden sind. Zu der Rolle der Empathie im historischen Lernen vgl. Juliane Brauer: Empathie und historische Alteritätserfahrungen. In: dies./Martin Lücke (Hrsg.): Emo­­ tionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven. Göttingen 2013, S. 75 – 92, hier S. 80 ff.

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über die Shoah zu besitzen. Zweitens hat er die Hoffnung, dass historisches Wissen über Wirken und Arbeit des Lagers durch den Besuch des »authenti­ schen Ortes« besser zu erwerben sei als über »ein Buch«. Die Überzeugung, dass ein Besuch einer KZ -Gedenkstätte eine konkretere Erfahrung ermög­­ liche als das Lesen eines Buches, bezeichnet Heyl als eine »verdruckste Erwar­ tungshaltung« von Lehrern und Schülern. Diese entstehe dadurch, dass dem historischen Ort eine auratische Atmosphäre zugeschrieben werde, die zu der Erwartung führe, dass die Gedenkstätte ein besonderer Raum der Begegnung mit der Vergangenheit sei.26 Die Äußerungen des Schülers M5 verweisen auf eine eher ra­­tionale Motiva­­ tion, Auschwitz zu besuchen. Der Ort habe in der Geschichte eine derartige Bedeutung erhalten, dass diese ihn als »geschichtsinteressierten« Schüler dazu motiviere, den Ort selbst zu sehen. Auschwitz habe für ihn weder eine identi­ tätsstiftende Bedeutung noch sei es sein Ziel, die historischen Ereignisse durch die »Authentizität des Ortes« nachzuempfinden. Es sind die Faszina­­tion des Ortes selbst und seine historische Bedeutung, die ihn für den Schüler interes­ sant erscheinen lassen.27 Der Schüler M6 hat die große Hoffnung, »mehr zu sehen als in Buchen­ wald«. In dieser Formulierung wird eine Erwartungshaltung deut­­lich, wonach eine Gedenkstätte mit mehr historischen Überresten eine bessere Vorstellung der Vergangenheit, in ­­diesem Fall »einen größeren Einblick in die Grausamkeit dieser Zeit«, ermög­­liche. Zusammenfassend lassen sich für Motiva­­tion und Erwartungen der Schüler folgende Ergebnisse festhalten: Authentizität des Ortes: Die Schüler erwarten, dass die Authentizität des Ortes eine Vorstellung der Shoah ermög­­liche. Die eigene Anschauung des Ortes erleich­ tere die Imagina­­tion der Vergangenheit und fördere das historische Verstehen. Emo­­tion und Wissen: Die Schüler haben zwei Erwartungshaltungen an die Authentizität des Ortes: Erstens ermög­­liche die Authentizität Empathie mit den Opfern und erleichtere somit Vorstellung und Verständnis der Shoah durch Nachempfinden der Lebenssitua­­tion der Opfer (emo­­tionale Ebene).

26 Vgl. Heyl: Überwältigendem (wie Anm. 5), S. 246. 27 Jörn Rüsen bezeichnet diese Faszina­­tion als »ästhetische Faszina­­tion«. Diese entstehe, weil die materiellen Objekte der Vergangenheit nicht mehr in den Lebenszusammenhang der Menschen in der Gegenwart gehörten. Vgl. Jörn Rüsen: Über den Umgang mit den Orten des Schreckens. Überlegungen zur Symbolisierung des Holocaust. In: Detlef Hoffmann (Hrsg.): Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945 – 1995. Frankfurt a. M./New York 1998, S. 330 – 343, hier S. 331.

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Zweitens ermög­­liche die Authentizität durch die Materialität der Überreste eine bessere kognitive Erschließung des Ortes und der Dimension der Shoah (Wissensebene).28 Historische Stätte und Gedenkstätte: Die Schüler differenzieren nicht ­zwischen historischer Stätte (Vergangenheit) und Gedenkstätte (Gegenwart). Sowohl die Protagonisten einer empathisch-­­emo­­tionalen Erschließung als auch die einer kognitiven Aneignung erwarten zu sehen, »was früher dort passiert ist«. Vorwissen der Schüler Nachdem im vorherigen Kapitel herausgestellt wurde, dass die Schüler verschie­ dene Erwartungen an den Ort Auschwitz haben und sich daraus verschiedene Strategien zur Imagina­­tion und zum historischen Lernen ableiten lassen, stellt sich die Frage, welches Vorwissen die Schüler zum Ort Auschwitz besaßen. Aufgrund der Tatsache, dass die Schüler der 10. Klasse das Thema »Shoah« noch nicht im Geschichtsunterricht behandelt hatten, wurden sie befragt, woher sie ihr Wissen über den »Holocaust« erwürben. Abbildung 1 zeigt die Verteilung der Informa­­ tionsquellen, wobei zu beachten ist, dass Mehrfachnennungen mög­­lich waren. Die Schüler gaben vor allem visuelle Medien wie Dokumenta­­tions- und Spiel­ filme sowie das digitale Medium Internet als ihre wesent­­lichen Informa­­tionsquellen an. Im Gegensatz dazu wurden von ihnen die Printmedien, das heißt Sach- und Lehrbücher sowie Romane seltener zur Wissensaneignung genutzt. Unter der Kategorie »Sonstiges« gaben die Jugend­­lichen vor allem Gespräche mit ihren Eltern, der Uroma oder den Vortrag von Rosenberg-­­Band im Vorfeld der Exkur­ sion an. Obwohl ledig­­lich ein Schüler und eine Schülerin der 11. Klasse die Shoah explizit als Thema im Geschichtsunterricht behandelt hatten, gaben fünf weitere Befragte den Schulunterricht als eine Informa­­tionsquelle an. Vor allem die Fächer Religion und Ethik wurden neben dem Geschichtsunterricht genannt. 28 Kerstin Dietzel hat in ihrer Studie Schüler nach deren Besuch in der Magdeburger Gedenk­ stätte Moritzplatz zur Wirkung ­dieses Erinnerungsortes befragt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Schüler Gedenkstätten entweder auf einer Wissensebene oder einer emo­­tionalen Ebene erschlössen. Das Ergebnis ihrer Studie scheint sich mit den Erwartungen der Schüler an den historischen Ort und die Dauerausstellung Auschwitz bereits im Vorfeld des Besuches zu bestä­ tigen. Vgl. Kerstin Dietzel: »Man denkt schon darüber nach, wie schreck­­lich es damals gewesen sein muss und wünscht sich diese Zeit niemals zurück.« Ergebnisse einer Schülerbe­ fragung in der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg. In: Bert Pampel (Hrsg.): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschicht­­lichen Ausstellungen. Leipzig 2011, S. 81 – 98, hier S. 89.

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Abb. 1  Informa­­tionsquellen des Vorwissens der Befragten (n = 12) zum Thema »Holocaust«

Die Teilnehmer beurteilten ihr Wissen über die Shoah auf der Intervallskala im Durchschnitt mit 2,67 Punkten.29 Gleichzeitig kann eine Heterogenität im Vor­ wissen festgestellt werden, da es Schüler gab, die ihr Wissen über die Shoah sowohl mit der Variable 1 als auch mit der Variable 5 bewerteten. Die unterschied­­lichen Vorkenntnisse erschwerten die Vorbereitung, Durchführung sowie Reflexion der Exkursion nach Auschwitz für die Lehrer und vor Ort für die Gedenkstättenpäda­ gogen. Diese Heterogenität wird des Weiteren in der Beantwortung der offenen Fragen zum Vorwissen deut­­lich, wenn die Kenntnisse zum Ort Auschwitz von einer Schülerin der 11. Klasse mit denen eines Zehntklässlers verg­­lichen werden. Schüler M4 (10. Klasse): Leider nicht genug. Es muss ein Ort schreck­­licher Taten und Angst gewesen sein. Man kann sich kaum vorstellen, was in den Köpfen der Täter vorging und wie sie selbst damit umgegangen sind. Schülerin W6 (11. Klasse): Das KZ in Auschwitz war nicht nur ein Arbeitslager sondern auch eine Vernichtungsanlage. Die Menschen wurden vergast, gefoltert und erschossen. Den Frauen schnitt man die Haare ab und tätowierte Personen wurde die Haut abgezogen, um Lampen­ schirme daraus zu machen. In der Zeit des Na­­tionalsozia­lismus wurden tausende Juden, Behin­ derte, Homosexuelle und sogenannte »Asozia­le« getötet. Das KZ in Polen gehörte mit zu den größten, die Menschen wurden Europa weit dort hin deportiert.

29 Die Intervallskala bot den Schülern eine Auswahl von fünf Antwortmög­­lichkeiten an, wobei der Wert 1 für »niedrig« und der Wert 5 für »hoch« standen.

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Die ausgewählten Beispiele verdeut­­lichen, wie unterschied­­lich der Schüler und die Schülerin den Ort sprach­­lich beschreiben. Schüler M4 verzichtet auf die Ver­ wendung von Fachbegriffen wie »Konzentra­­tions-« oder »Vernichtungslager«. Für ihn stehen die »schreck­­lichen Taten und Angst« im Fokus. Ohne dabei konkret zu benennen, ­welche Handlungen und angstvollen Situa­­tionen er sich darunter vorstellt, verweist diese Beschreibung des Ortes Auschwitz vor allem auf eine emo­­tionale Erschließung. Die Aussage »Leider nicht genug« deutet darauf hin, dass er die Fachtermini »Arbeitslager« oder »Vernichtungslager« nicht bewusst ausklammert, sondern diese einfach nicht kennt. Bemerkenswert ist die differenzierte Unterscheidung der Schülerin W6, da sie deut­­lich macht, dass der Ort Auschwitz verschiedene Funk­­tionen erfüllte. Zum einen verweist sie auf die Zwangsarbeit, indem sie Auschwitz als »Arbeitslager« bezeichnet, und zum anderen stellt sie heraus, dass Auschwitz ein Ort der Tötung war.30 Gleichzeitig ist zu erkennen, dass die Befragten aus der Klassenstufe 11 ein detaillierteres Vor­ wissen als die Zehntklässler haben. Während der Schüler M4 nicht auf die Art des Lagers, die Handlungen der Täter, die Opfergruppen oder den historischen Kontext eingeht, beschreibt die Schülerin W6 den Ort Auschwitz in einer diffe­ renzierten Art und Weise. Des Weiteren fiel in der Analyse der Schülerantworten auf, dass sich vor allem emo­­tional aufgeladene Handlungen in ihnen manifestierten: Schülerin W2: Juden wurden dort hingebracht und in Räume gebracht wo sie sich »duschen« sollten. Aus diesen Leitungen kam aber nicht Wasser, sondern töd­­liches Gift. Schülerin W6: Den Frauen schnitt man die Haare ab und tätowierte Personen wurde die Haut abgezogen, um Lampenschirme daraus zu machen.

Die Schülerin W2 beschreibt eines der einprägsamsten Bilder der Shoah. Noch bevor die Schülerin mit dem historischen Kontext der Judenverfolgung und vernichtung im Geschichtsunterricht konfrontiert wird, kennt sie bereits die Täuschungsstrategie der Täter in den Konzentra­­tions- und Vernichtungslagern. Gleichzeitig vermeidet sie den Begriff »Gaskammer« und umschreibt ihn mit »Räume«. Inwiefern sie hier den Begriff bewusst vermeidet oder diesen einfach nicht kennt, kann abschließend nicht beurteilt werden.

30 Interessant erscheint die Bezeichnung »Vernichtungsanlage« anstelle des Begriffs »Vernich­ tungslager«. Dadurch verdeut­­licht sie den industriell organisierten Tötungsprozess mit Deporta­­ tion, Selek­­tion, Tötungsgebäude und Verbrennungsanlage und grenzt diesen Ort von einem Lager, in dem Menschen gefangen gehalten wurden, ab.

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Mit dem angeb­­lich aus Menschenhaut hergestellten Lampenschirm präsentiert die Schülerin W6 ein besonderes Detail aus der menschenverachtenden Praxis der Na­­tionalsozia­listen, das aufgrund seiner Brutalität besonders einprägsam wirkt – gleichwohl ist der Nachwelt eine derartige Praxis für den Ort Auschwitz nicht überliefert. Es ist daher zu vermuten, dass die Schülerin dessen angeb­­liche Existenz aus Buchenwald in ihre Vorstellungswelt der Shoah aufgenommen und auf Auschwitz projiziert hat.31 Durch die Befragung der Jugend­­lichen können zusammenfassend folgende Ergebnisse herausgearbeitet werden: Informa­­tionsquellen: Die Schüler ­­nutzen vor allem visuelle Medien, um Informa­­tionen über die Shoah zu erhalten. Somit ist zu vermuten, dass sie medial inszenierte Geschichtsbilder in ihr Geschichtsbewusstsein unreflektiert über­ tragen. Die fehlende Auseinandersetzung im Geschichtsunterricht begünstigt diese Entwicklung. Kenntnisstand: Das Vorwissen der Schüler zum Ort Auschwitz ist sehr hetero­ gen und unterscheidet sich z­ wischen den Klassenstufen in der Verwendung von Fachtermini und der Informa­­tionstiefe. Auswahl der Informa­­tionen: Es wird kaum historisches Kontextwissen, sondern sehr emo­­tionale und einprägsame Bilder über Auschwitz geschildert. Historische Ereignisse und Informa­­tionen werden mitunter von anderen Orten auf Auschwitz übertragen. Erwartete Emo­tionen vor dem Besuch der Gedenkstätte Für die Analyse der erwarteten Emo­­tionen der Schüler sind vor allem drei Fra­ gen aufschlussreich: ■■ Welche Emo­­tionen erwarten Schüler während eines Besuches in Auschwitz? ■■ Worauf beziehen sich die erwarteten Emo­­tionen? ■■ Welche Rückschlüsse können über den Umgang der Schüler mit ihrer erwar­ teten Emo­­tionalität gezogen werden? Erstens können anhand der Schüleraussagen drei wesent­­liche Emo­­tionsgruppen festgestellt werden. Die erste Gruppe beschreibt vor allem Trauer und Mitleid.

31 Über den Lampenschirm aus Buchenwald vgl. »Stimmt es, dass die SS im KZ Buchenwald Lampenschirme aus Menschenhaut anfertigen ließ?« Beantwortet von Dr. Harry Stein, K ­ ustos, URL: http://www.buchenwald.de/1132/, letzter Zugriff: 12. 02. 2016.

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Schüler M4: Die Gedenkstätte wird wahrschein­­lich sehr erdrückend auf mich wirken. Versetzt man sich in den Moment in die Gedanken von Opfern und Tätern, muss man sehr mit sich kämpfen. Ich kann mir auch vorstellen, dass man so überwältigt ist, dass man gedank­­lich nicht anwesend ist. Schülerin W2: Eindrücke werden sehr groß werden aber ziem­­lich erschreckend, man wird traurig, schockiert sein und wahrschein­­lich auch etwas Panik haben wenn man in den Raum steht wo mehrere Millionen Menschen getötet wurden. Man wird sich auch danach noch viel mit beschäftigen das gesehene immer nicht im Kopf bleibt und einen verletzt und beschäftigt.

Der Schüler M4 erwartet eine erdrückende Gefühlslage, sofern man sich in die Opfer und Täter hineinversetze. Es ist hierbei interessant, dass der Schüler die erwartete Emo­­tion nicht als lernfördernd, sondern als erkenntnishemmend kenn­ zeichnet, indem er davon ausgeht, dass er sich in der Situa­­tion des Besuches über­ wältigt fühlt und gedank­­lich abschalten wird, um sich zu ­schützen. Die Schülerin W2 äußert sogar Bedenken, dass die Emo­­tion der Trauer wie ein Schock wirken könne. Sie hat bereits vor dem Besuch der Gedenkstätte eine Vorstellung, wel­ ches konkrete Besichtigungsobjekt sie schockieren könne. Sie befürchtet, dass das Betreten eines Erstickungsraumes sogar zu einer panischen Reak­­tion führen könne. Die Vorstellung, im selben Raum zu stehen, in dem »Millionen Men­ schen getötet wurden«, stellt für die Schülerin einen verletzenden Eindruck dar. Im Vergleich zum Schüler M4, der erst von einer aufmerksamkeitshemmenden Wirkung durch die Emo­­tionen während des Besuches spricht, hat die Schülerin W2 bereits im Vorfeld Angst vor der Emo­­tion der Trauer. Es stellt sich für die Schülerin konkret die Frage, inwiefern ein Besuch für sie überhaupt erkenntnis­ bringend sei oder ob er für sie eher eine Bewährungsprobe darstelle. Die zweite Gruppe der erwarteten Emo­­tionen beinhaltet Wut und Hass: Schüler M1: Wut auf diejenigen, die Menschen so etwas antun konnten und auf die, die sowas versuchen runter zu spielen. Schülerin W6: Ich denke, dass ich sehr schockiert sein werde und ich auch Hass gegen ­dieses System empfinden werde und auch schon empfinde.

In den Äußerungen der beiden Schüler wird neben Wut und Hass auch der Schock über die Verbrechen thematisiert. Es handelt sich hierbei allerdings um verschie­ dene Emo­­tionen. Nach Elizabeth A. Linnenbrink wirken Wut und Hass eher aktivierend.32 Der Schüler M1 deutet seinen Ak­­tionismus an, indem er seine Wut

32 Vgl. Elizabeth A. Linnenbrink: The Role of Affect in Student Learning. A Multi-­ ­Dimensional Approach to Considering the Interac­­tion of Affect, Motiva­­tion, and Engagement,

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nicht nur gegen die historischen Täter, sondern auch gegen die Personen rich­ tet, w ­ elche die Handlungen der Täter relativieren wollen. Der von der Schülerin W6 beschriebene Schock ist nach Linnenbrink hingegen eher deaktivierend und somit eine Emo­­tion, die hemmend auf zukünftige Handlungen wirken könne. An diesen Beispielen wird deut­­lich, dass die Schüler zum einen eine aggressive und aktivierende Abneigung und zum anderen ein schockierendes, vielleicht auch ein frustrierendes Unverständnis erleben können. Die dritte Kategorie emo­­tionaler Erwartung beinhaltet das Schamgefühl der Jugend­­lichen gegenüber den Handlungen der damaligen Täter. Vor allem ihre Identifika­­tion als Deutsche ist für die folgende Schülerin eine Herausforderung: Schülerin W5: Ich denke, dass ich mich Schäme für das, was unsere Vorfahren damals getan haben. Natür­­lich werde ich auch geschockt sein, weil ich es nicht verstehen kann, dass Men­ schen andere, unschuldige Menschen so qualvoll töten können.

Die Schülerin stellt sich durch die Formulierung »unsere Vorfahren« in eine direkte Verbindung mit den Tätern der Shoah. Selbst wenn diese Zuordnung unbewusst geschieht und sie keinerlei Verwandte hat, die eine persön­­liche Schuld an den historischen Ereignissen tragen, zeigt diese Formulierung doch ein subjektives Zugehörigkeitsgefühl. Es ist somit zu erwarten, dass ihr genera­­ tionenübergreifendes Schamgefühl auch in ein Schuldgefühl münden könnte. Zweitens stellt sich die Frage, worauf sich die erwarteten Emo­­tionen beziehen. Trauer wird dann von den Schülern erwartet, wenn sie sich gedank­­lich mit den Lebensbedingungen und den Gefühlen sowie Ängsten der Opfer auseinandersetzen. Durch den Willen der Schüler, sich die historischen Ereignisse besser vorzustel­ len, wollen sich die Jugend­­lichen in die Situa­­tion der Opfer hineinversetzen. Die erwartete Emo­­tion der Trauer liegt also in der Empathie mit den Opfern begründet, während Wut und Hass vor allem im Zusammenhang mit den Tätern und deren Handlungen stehen. Die Trauer mit den Opfern und die Wut gegenüber den Tätern stehen in einem engen Zusammenhang, allerdings äußerten die Schüler häufig nur eine Seite. Interessant erscheint vor allem die Emo­­tion der Scham. An dieser Stelle wird deut­­lich, dass die Emo­­tion nicht allein auf die historischen Akteure, sondern auf die eigene Identifika­­tion gerichtet ist. Die Emo­­tion betrifft die Ich-­­Perspektive, indem das Schamgefühl zu einer weiteren Auseinandersetzung mit der eigenen Person im Kontext der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft animiert.

in: Paul Schutz/Reinhard Pekrun (Hrsg.): Emo­­tion in Educa­­tion. Burlington 2007, S. 107 – 124, hier S. 109.

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Drittens liefern die Schüleräußerungen Anhaltspunkte dafür, wie sie mit ihren Emo­­tionen vor Ort umgehen könnten. Bei der Auswertung der Schülerantworten konnten drei Reak­­tionsweisen festgestellt werden: So ist sich ein Teil der Schüler über seine Emo­­tionalität in Bezug auf den Ort gar nicht bewusst. Die Jugend­­ lichen haben keine Vorstellung, mit welcher Situa­­tion sie mög­­licherweise vor Ort konfrontiert sein könnten. Es ist deshalb zu vermuten, dass diese Schüler vom Besuch der Gedenkstätte Auschwitz überrascht, von diesem ­­ sogar überwältigt sein oder aber auf diesen völlig stoisch reagieren könnten. Andererseits gibt es jene Schülerin W2, die Panik vor dem Betreten des Erstickungsraumes erwartet. Die Angst vor dem Eintreten der Emo­­tion könnte somit dazu führen, dass die Schülerin die Situa­­tion vermeidet. Und schließ­­lich schreibt eine andere Schülerin (W4), dass sie, egal wie erschreckend die Eindrücke vor Ort sein würden, alles über die Vergangenheit am Ort erfahren möchte. Bei ihr werden eine Zurück­ haltung und eine Kontrolle der eigenen Emo­­tion deut­­lich, damit ihr Lernprozess nicht blockiert wird. Zusammenfassend lassen sich für die erwarteten Emo­­tionen folgende Ergeb­ nisse festhalten: Negative Emo­­tionen: Die Schüler legen ihren Fokus vor allem auf negative Emo­­tionen wie Trauer/Mitleid, Wut/Hass und Scham. Positive Emo­­tionen wie Neugier oder Faszina­­tion werden nicht geäußert. Inwiefern die gesellschaft­­liche Erwartungshaltung – die Shoah zu verurteilen – die erwarteten Emo­­tionen beeinflusst, kann nur vermutet,33 durch die Ergebnisse aber nicht belegt werden. Akteure: Die erwarteten Emo­­tionen beziehen sich auf die Akteure des histo­ rischen Lernprozesses: Opfer (Empathie), Täter (Ablehnung), Lernende (Scham/ Schuldgefühl). Umgang mit Emo­­tionen: Die Schüleraussagen erlauben Rückschlüsse auf einen mög­­lichen Umgang mit den Reak­­tionen. Die Befragten könnten in der Situa­­tion von ihren Emo­­tionen zum einen überwältigt werden. Zum anderen könnte die Angst vor der Emo­­tion zu einer Vermeidung der Begegnungssitua­­ tion führen. Schließ­­lich wäre es denkbar, dass Schüler ihre emo­­tionale Reak­­tion zu kontrollieren und bewusst zurückzuhalten versuchen.

33 Vgl. Zülsdorf-­­Kersting: Identitätsstiftung (wie Anm. 2), S. 80.

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Ergebnisdarstellung und -interpreta­tion: Nach dem Besuch der Gedenkstätte Wirkung des Ortes auf die Schüler Um die Frage zu klären, wie der Ort auf die Schüler während des Besuches der Gedenkstätte gewirkt hatte, wurde im Fragebogen explizit nach der Wirkung gefragt. Auch sollten die Teilnehmer ihre intensiven Momente während der Führun­ gen sowie positive und negative Aspekte formulieren. Die Schüler beschreiben ihren Eindruck von Auschwitz als »beängstigend«, »angsteinflößend«, »erdrückend« und »würdelos«. Dimensionen der na­­tionalsozia­listischen Verbrechen werden als »gigantisch«, »unvorstellbar« oder als »gewaltig« bezeichnet. Besonders zwei Aspekte stechen in der Wahrnehmung der Schüler heraus: die »Vorstellun­ gen an das Grauen« und die »Dimensionen des Ortes«. Der erste Aspekt wird vor allem durch die folgenden Schüleräußerungen deut­­lich: Schüler M1: Furchtbar. Angsteinflößend. Ich habe mir vorgestellt, dass z. B.: das deutsche Volk so behandelt würde und auch zu Tausenden vergast und erschossen wurden. 6 Millionen sind erschreckend. Vor allem die Bilder drückten meine Stimmung sehr, speziell die von Kindern. Schüler M6: Auschwitz ist ein Ort voller Grausamkeit und Verbrechen. Es war beängstigend, insbesondere die Ausstellungen z. B. der Menschenhaare, Taschen/Koffer, Schuhe. Aber noch schlimmer als der Ort selbst sind die Bilder die einen in den Kopf kommen, wenn man diesen Ort betritt. Schülerin W1: Im ersten Moment sehr unwirk­­lich, weil man nicht begreifen kann das dort damals so viele Juden getötet wurden. Mit dem Gedanken was damals geschah wirkte dort alles sehr erdrückend und würdelos und respektlos gegenüber den Menschen. Irgendwann hab ich mir gedacht, das dort alles wie ein altes verlassenes Fabrikgelände aussieht und nicht wie ein Ort an dem Menschen lebten.

Der Eindruck des Ortes wird bei den ausgewählten Schülern stark von ihren Imagina­­tionen bestimmt. Der Schüler M1 beschreibt etwa, wie »angsteinflößend« es sei, wenn er sich den Tod von sechs Millionen Deutschen vorstelle. Zum einen überträgt er damit die historischen Ereignisse von Auschwitz auf die Verfolgung und Vernichtung der euro­päischen Juden, indem er nicht von der tatsäch­­lichen Zahl von 1,1 bis 1,5 Millionen Opfern in Auschwitz ausgeht, sondern der Shoah insgesamt. Zum anderen erzeugt er eine stärkere subjektive Betroffenheit, indem er sich die Grausamkeiten von Auschwitz an derjenigen Gruppe vorstellt, mit der er sich scheinbar am meisten identifizieren kann: den Deutschen. Des Wei­ teren erwähnt er diejenigen Bilder in der Hauptausstellung der Gedenkstätte, die

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Kinder als Opfer der Shoah darstellen. Der Schüler M6 bezeichnet Auschwitz als einen Ort der Grausamkeit und des Verbrechens. Den Grund für diesen Eindruck macht er an den Bildern in seinem Kopf fest, die entstanden ­seien, sobald er den Ort betreten habe. Auch die Schülerin W1 beschreibt ihre Wahrnehmung des Ortes als »erdrückend« und »würdelos«, weil sie sich »Gedanken« darüber mache, »was damals geschah«. Neben den Vorstellungen von dem »Grauen« entfaltete auch die Dimension des Ortes spürbar Wirkung auf die Schüler. Ihre Eindrücke werden durch die folgenden Beispiele veranschau­­licht: Schülerin W5: Ich konnte im ersten Moment nicht realisieren, dass wir an d­­ iesem Ort waren, da man das Stammlager bzw. Birkenau sonst nur aus Filmen oder von Bildern kennt. Es wirkte auf mich ziem­­lich krass, da man das erste Mal in seinem Leben das gewaltige Ausmaß von ­Auschwitz gesehen. Das war ein Schockmoment für mich, auch als man die verschiedenen Baracken von innen gesehen hat und wir erfahren haben, dass circa die ganze Schule in eine Baracke passt. Schülerin W6: Der Ort Auschwitz, als auch Birkenau wirkte gigantisch auf mich, es war riesig und in der Verbundenheit mit den Zahlen und Fakten noch unvorstellbarer. Birkenau wirkte auf mich wie ein riesiger Stall. Auschwitz wie ein Gefängnis, dass man nur durch Leid verlassen konnte.

Die beiden Schülerinnen beschreiben, dass die Größe des Ortes und die Dimen­ sionen, vor allem von Birkenau, sie zum einen schockierten und zum anderen erkennen ließen, dass das Ausmaß des Ortes das historische Ereignis der Shoah trotz Informa­­tionen zum Ort »noch unvorstellbarer« mache. Die Erfahrung der Unvorstellbarkeit wird auch darin deut­­lich, dass beide Schülerinnen mithilfe von Vergleichen versuchen, die historischen Dimensionen greifbarer zu machen. Die Schülerin W5 bedient sich dabei der Größe einer Baracke mit der Anzahl von circa siebenhundert inhaftierten Menschen, die für sie erst verständ­­licher wirkt, wenn sie diese mit der Schülerzahl ihrer Schule in Verbindung bringt. Die Schü­ lerin W6 hingegen vergleicht das Stammlager Auschwitz mit einem Gefängnis und die Baracken und Umzäunung von Birkenau mit einem Stall. Dabei überträgt sie ihr modernes Verständnis von einem Stall und einem Gefängnis auf Birkenau und das Stammlager, um eine konkretere Vorstellung über die Funk­­tionen der beiden Lager zu produzieren. Des Weiteren beschreiben zwei Schüler eine starke Ambivalenz des Ortes ­Auschwitz: Schüler M5: Hauptsäch­­lich wirkte der Ort auf viele respekt- und angsteinflößend. Einerseits Respekt als wichtige Historische Gedenkstätte und andererseits Grauen vor dem was dieser Ort einmal darstellte.

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Schülerin W3: Eigent­­lich ist es eine schöne Landschaft mit einer schreck­­lichen Vergangenheit.

Auf den Schüler M5 wirkt der Ort zum einen »respekteinflößend«, da er sich der Erinnerungsfunk­­tion der Gedenkstätte bewusst ist. Zum anderen beschreibt er ihre »angsteinflößende« Wirkung aufgrund der an ­­diesem Ort begangenen Grausamkeiten und verdeut­­licht hierbei, dass Auschwitz auch ein historischer Ort mit einer entsprechenden »Aura« sei. Für die Schülerin W3 liegt die Ambi­ valenz vor allem in der Ästhetik der Landschaft und der Grausamkeit der histo­ rischen Ereignisse. Um die Wirkung des Ortes auf die Schüler konkreter beschreiben zu kön­ nen, wurden diese im Fragebogen nach den intensiven Momenten der Führungen durch das Stammlager und durch Birkenau befragt. Hierbei können zwei wesent­­ liche Aspekte festgestellt werden: Zum einen nennen die Schüler vor allem Orte, die direkt mit dem Tod der Opfer in Verbindung stehen. Zum anderen haben bestimmte Exponate und Darstellungen der Hauptausstellung ihren Eindruck auf die Schüler hinterlassen. Schüler M6: Am meisten hat mich die Todesmauer und das Krematoriumsmodell (Kremato­ rium 2-Birkenau) berührt. Als erstes die Todesmauer: Familien, Menschen stehen dort müssen ihrem Tod ins Auge sehen, obwohl sie gar nicht wissen, was sie gemacht haben. Erschrecken war auch das Modell des Krematoriums, denn das ganze g­­lich einem Industriellen Prozess der Liquidierung. Es ist alles nur unmenschlich, was geschehen ist. Schülerin W1: Mich hat besonders der Abschnitt berührt, an dem die Haare, Koffer und Schuhe der Opfer zu sehen war, weil mir erst in dem Moment das Ausmaß des Ortes bewusst wurden, besonders die alten Schuhe, zusammen mit dem Gedanken »Jedes Paar Schuhe ein toter Mensch.«, hat mich extrem berührt. Schülerin W5: Am meisten hat mich die israe­­lische Ausstellung im Stammlager berührt, da man als erstes in den dunklen Raum kam, wo Videos eingespielt wurden. Durch die Geräu­ sche kam es mir so vor, als wäre ich mitten im Geschehen dabei. Außerdem hat mich bei der Ausstellung die kleinen Gemälde von den Kindern berührt, da sie dadurch ihre Erlebnisse verarbeiteten und das schon sehr krass ist. Auch das Buch mit den Namen hat mich geschockt.

Die Todesmauer im Stammlager wurde von drei Schülern als ein einprägsamer Ort der Führung genannt. Für den Schüler M6 war es vor allem dieser Ort, an dem er sich die Familien und Menschen kurz vor deren Tod vorstellte. Des Weiteren erwähnt er das Ausstellungsmodell der Verbrennungsanlage, das den Ablauf der Tötung sogar mit Figuren darstellt. Anhand der Äußerungen des Schülers wird deut­­lich, dass er zwei verschiedene Orte mit Tötungsfunk­­tion auswählte. Die Todeswand symbolisiert für ihn vor allem die individuelle Form des Tötens und

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ist mit den Einzelschicksalen der Gefangenen verbunden. Das Modell der Ver­ brennungsanlage symbolisiert in seinem Verständnis die industrielle, das heißt anonymisierte und emo­­tionslose Tötung von Menschenmassen. Die ausgestellten Haare, Koffer und Schuhe wurden insgesamt von sieben Schülern als einprägsame Punkte der Ausstellung genannt. Die Schülerin W1 beschreibt, dass sie mit den Schuhen die Vorstellung verbinde: »Jedes Paar Schuhe ein toter Mensch«. Somit wurden die Überreste und Hinterlassenschaften der Opfer Anlass zur Imagina­­tion und gleichzeitig zur Emo­­tionalisierung, die »­extrem berührt« habe. Ein weiterer intensiver Moment sei die israe­­lische Ausstellung im Stammlager gewesen. Die Schülerin W5 erwähnt, dass sie sich vor allem in ­­diesem Ausstel­ lungsbereich in das »Geschehen« habe hineinversetzen können und die Kinder­ zeichnungen sie berührt hätten. Die Vorstellung der Schülerin wurde insbesondere durch die Empathie mit den Opfern angeregt. Besonders positiv wurde von den Schülern der Erhaltungszustand der Gedenk­ stätte empfunden. Da er zum einen die Konfronta­­tion damit ermög­­liche, »was in der Geschichte passiert« (Schüler M3) sei. Zum anderen könne »man auch von außen sehen, ­welche Ausmaße der Holocaust« (Schüler M5) gehabt habe. Des Weiteren empfanden die Schüler die Ausstellungsräume mit den persön­­lichen Überresten und der Habe der Opfer (Koffer, Schuhe, Haare, Geschirr) positiv, da diese Habseligkeiten ihrer Meinung nach »einen verwundbaren Punkt im Men­ schen treffen« und dazu auffordern, dass »so ein unmenschliches Verbrechen nie wieder passiert« (Schülerin W5). Generell wurde die israe­­lische Ausstellung von den Schülern positiv bewertet, weil »man sich so besser in die Situa­­tion hineinversetzen konnte« (Schülerin W1). Die Schülerin W6 lobt die israe­­lische Ausstellung dahingehend, dass diese die Realität der Shoah eher vermittle, als es durch »ein Laufen über Ruinen« mög­­lich sei. Die Gedenkstätte Auschwitz wird von allen Schülern positiv bewertet. Jedoch unterscheiden sich ihre Urteile im Hinblick auf die Fähigkeit der materiellen Objekte, ein Gesamtbild der Shoah zu vermitteln. Eine Schülergruppe empfin­ det den Erhaltungszustand der Gedenkstätte, vor allem der Gebäude, Baracken, Zäune und Ruinen des Krematoriums, sowie die Größe des Geländes als geeignet, um den Besucher mit der »Geschichte zu konfrontieren« und einen Einblick in das Ausmaß der Shoah zu vermitteln. Eine andere Gruppe hält eher die Haupt­ ausstellung der Gedenkstätte, insbesondere die israe­­lische Ausstellung Shoah und die Präsenta­­tion der menschlichen Überreste für sinnstiftend, da diese Objekte eher zu einer Empathie mit den Opfern führten. Gleichwohl gibt es auch Schü­ ler, die sowohl die Materialität des Ortes als auch die Geschichtsdarstellung der Gedenkstätte für ihre Imagina­­tionen als produktiv beurteilen.

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Die Schüler verbinden die Gedenkstätte kaum mit einer negativen Bewertung.34 Interessant ist jedoch die Aussage folgender Schülerin: Schülerin W6: Dass obwohl es so nah war einem dennoch extrem Fern vorkam und mir persön­­ lich fiel es äußerst schwer, mir bsp. vorzustellen, wie viele Menschen es waren, die leideten.

Die Schülerin W6 kritisiert also in erster Linie nicht die Gedenkstätte und deren Ausstellungskonzep­­tion, sondern empfindet Unzufriedenheit über ein immer noch fehlendes Gesamtbild der Shoah. Mit dieser Aussage äußert die Schülerin eine generelle Kritik und stellt die bedeutende Frage, inwiefern Exkursionen an KZ-­ Gedenkstätten den historischen Lernprozess und ein Verstehen der Shoah fördern. Die wesent­­lichen Ergebnisse zur Wirkung des Ortes nach dem Besuch der Jugend­­lichen sind: Eindrücke des Ortes: Die Schüler erläutern ihre Eindrücke vom Ort hauptsäch­­ lich anhand negativ konnotierter Adjektive wie »beängstigend«, »erdrückend« und »unfassbar«. Damit beschreiben sie weniger die Beschaffenheit der Gedenk­ stätte in der Gegenwart, sondern verweisen zum einen auf ihre Imagina­­tion der Vergangenheit während des Besuches und zum anderen auf die räum­­lichen Dimen­ sionen des Ortes. Der Ort wirkt allerdings auf einige Schüler ambivalent, an dem sie auch Schönheit (etwa vor der Landschaft) und Respekt (vor der Histo­rizität der Stätte) empfänden. Einprägsame Objekte: Für die Schüler sind vor allem jene Objekte wirkungs­ mächtig, die mit dem Tod der Opfer in einer direkten Verbindung stehen (etwa die Todesmauer), sowie Ausstellungsabschnitte, deren Inszenierung die Emo­­tionalität und Empathie der Schüler mit den Opfern (etwa menschliche Überreste, Bilder und Videosequenzen der Opfer sowie Kinderzeichnungen) ansprechen sollen. Konsequenzen für das historische Lernen: Die Schüler markieren ver­ schiedene Aspekte der Gedenkstätte als sinnstiftend für ihren Lernprozess. Zum einen ermög­­lichen Erhaltungszustand und Authentizität des Ortes die Distanz ­zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu überbrücken. Zum anderen erzielt die Hauptausstellung mithilfe von Überresten wie Haaren, Schuhen, Koffern etc. eher eine Betroffenheit und Emo­­tionalität. Gleichzeitig wird die Vorstellbarkeit der Shoah durch einen Gedenkstättenbesuch von einer Schülerin infrage gestellt. 34 Der Schüler M6 kritisierte die Praktik der Gedenkstättenleitung, für die Besucher außerhalb des Museums eine Wassersprenkleranlage aufzustellen, um bei den heißen Außentempera­ turen im September für etwas Abkühlung zu sorgen. »Vor der Gedenkstätte befand sich ein ›Wassersprenkler‹. Das Wasser wurde hier ›verstreut‹, es sah aus wie Gas. Das war einfach nur unpassend, denn sofort musste man an die Gaskammern denken.«

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Wissenszuwachs über die Shoah Eine Erwartungshaltung der Lehrkräfte lag darin, dass der Besuch in Auschwitz ein Lernanlass für die Schüler sein solle, ihr Wissen über die Shoah zu erweitern. Die Auswertung der Schüleräußerungen orientierte sich an einem Zuwachs des deklarativen Daten- und Faktenwissens.35 Zunächst wird der Wissenszuwachs über die Shoah beschrieben, ehe dann die »aktuellen« Vorstellungen der Schüler über die Shoah aufgezeigt werden. Das historische Daten- und Faktenwissen wurde dahingehend positiv entwi­ ckelt, dass die Schüler angaben, sie hätten Informa­­tionen über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Opfer, über die Experimente an diesen, über die Art und Weise der Tötungen erlernt. Des Weiteren erwähnten sie neben den jüdischen Menschen auch andere Bevölkerungsgruppen (vor allem Sinti und Roma) als Opfer der na­­tionalsozia­listischen Politik. Die besondere Erwähnung der Sinti und Roma als zusätz­­liche Opfergruppe und der Verweis auf die Experimente an Gefangenen kann dadurch erklärt werden, dass die Schüler neben der obligato­ rischen Führung über das Gelände und durch die Hauptausstellung der Gedenk­ stätte einen Workshop und eine Sonderausstellung zu den Sinti und Roma in Auschwitz besuchten sowie einen Vortrag über die medizinischen Experimente in Auschwitz hörten. Die Wirkung dieser zusätz­­lichen Veranstaltungen zeigt sich für die Schüler darin, dass sie diese Informa­­tionen als wichtigen Erkenntnisgewinn über die Shoah erachteten und daher im Fragebogen notierten. Ihren Wissensstand schätzten die Schüler im Durschnitt mit 4,42 Punkten ein, und somit liegt dieser Wert beinahe am Optimum.36 Allerdings sind die schrift­­lichen Schülerantworten auf die offenen Fragen eher oberfläch­­lich formuliert und beinhal­ ten weder konkrete Einzelheiten zur Shoah noch Kontextwissen. Diese Diskrepanz wird vor allem bei der Frage zur Vorstellbarkeit der Shoah deut­­lich. Die Antworten der Schüler hierzu können in drei wesent­­liche Kategorien eingeteilt werden: Die erste Kategorie umfasst die Formulierung der Vorstellungen zur Shoah als Werturteil mit Appellcharakter. Schüler bezeichnen die Shoah etwa als »schwär­ zeste Zeiten der Menschheit« (Schüler M3), als »Tiefpunkt in der Weltgeschichte«

35 In der Vorherbefragung wurden die Schüler nach ihrem Vorwissen zum Ort Auschwitz befragt. In der Nachherbefragung stand nicht das Wissen über Auschwitz an sich, sondern das Kon­ textwissen zur Shoah im Vordergrund. Deshalb sind die Aussagen ­zwischen beiden Tests nur bedingt miteinander vergleichbar. Zum Beispiel wurden in beiden Erhebungen die Opfergrup­ pen und die Art und Weise der Tötung angesprochen. 36 Mithilfe einer Intervallskala (1 = wenig, 5 = viel) sollten die Schüler ihr Daten- und Fakten­ wissen nach ihrem Besuch der Gedenkstätte einschätzen.

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(Schüler M6), als »das schlimmste, was wir Menschen unseren Artgenossen ange­ tan haben« (Schülerin W5). Sie stellen vor allem das Grauen und die Schrecken in den Vordergrund und verknüpfen mit ihrer Shoah-­­Vorstellung einen Appell zum Handeln. Die Schülerin W5 äußert weiterhin: »vor allem wir als Deutsche müssen alles wieder dafür tun, dass so etwas Schreck­­liches nicht noch einmal passiert.« Ein andere Schüler (M1) bezeichnet die Shoah sogar als »wichtigstes Thema der Welt«. Zur zweiten Kategorie zählt die Entwicklung der Shoah-­­Vorstellungen hin zu einem historischen Interesse und einer Faszina­­tion für das Thema. Der Schüler M5 versteht unter der Shoah, einen »sehr gut organisierten Schrecken, welcher sich bis zu seinem Ende immer weiterentwickelt hat und immer schlimmere Ausmaße angenommen hat«. Diese Aussage versucht weitestgehend auf eine überspitzte Formulierung und einen Appell zu verzichten und legt den Fokus auf den Pro­ zesscharakter der Shoah, ohne dabei jedoch konkret zu werden. Die dritte Kategorie beschreibt Resigna­­tion als Reak­­tion auf eine Überforderung, sich die Shoah vorzustellen. Die Schülerin W3 äußert hierzu: »das ich es mir alles immer noch nicht komplett vorstellen kann und in meinem Alter auch noch nicht komplett will«. Die Aussage verdeut­­licht, dass die Resigna­­tion nicht ausschließ­­lich durch das »Können«, sondern auch durch das »Nichtwollen« hervorgerufen wird. Zusammenfassend lassen die Schüleraussagen zum Wissenszuwachs nach dem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz folgende Schlussfolgerungen zu: Wissenszuwachs: Die Schüler können ihr historisches Wissen über die Shoah dahingehend erweitern, dass sie weitere Perspektiven (wie etwa Lebensbedingun­ gen, Opfergruppen und NS-Ideologie) nennen können. Gleichzeitig steht die Aus­ wahl an »wissenswerten Informa­­tionen« über die Shoah in einem engen Zusam­ menhang mit den Inhalten der Sonderprogrammpunkte außerhalb der Führungen. Kritik am Wissenszuwachs: Die Schüler schätzen ihr Daten- und Fakten­ wissen über die Intervallskala als sehr hoch ein. Der Gedenkstättenbesuch führt zu einem subjektiv empfundenen Wissenszuwachs. Allerdings ist diese Selbst­ einschätzung kritisch zu hinterfragen, da die Schüler in der Beantwortung der ­offenen Fragen auf konkrete Beispiele und Einzelheiten verzichteten und statt­ dessen oberfläch­­lich antworteten. Vorstellbarkeit der Shoah: Der Besuch des Ortes und der Hauptausstellung in Auschwitz führte bei den Schülern nicht dazu, eine Vorstellung von der Shoah entwickeln zu können. Die Schüler gehen mit dieser Einsicht unterschied­­lich um: Erstens ist es für eine Schülergruppe wichtiger, zentrale Handlungsfolgen und mora­­lische Appelle zu formulieren, als sich ein Gesamtbild der Shoah vorstellen zu können. Ein Schüler versucht, zweitens, trotz fehlender Vorstellbarkeit vor Ort, die Shoah zu beschreiben. Und schließ­­lich: Eine dritte Gruppe resigniert und lehnt es ab, sich die Grausamkeit der Verfolgung und Vernichtung vorzustellen.

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Emo­tionale Erfahrungen während des Besuchs der Gedenkstätte Mithilfe von offenen Fragen sollten die emo­­tionalen Eindrücke der Schüler beim Besuch der Gedenkstätte eruiert werden. Die Ergebnisse wurden vor dem Hinter­ grund zweier Fragen ausgewertet: Welche Emo­­tionen haben die Schüler während der Besichtigung empfunden? Und: Welche Konsequenzen haben diese Emo­­ tionen auf das historische Lernen der Schüler? Die folgenden Aussagen geben einen Einblick in die Gefühlswelt der Schüler: Schüler M3: Mich hat die Situa­­tion und die Gedenkstätte sehr nachdenk­­lich gestimmt. Ich war schockiert was man mit unschuldigen Menschen damals getan hat. Während der Besich­ tigung ist mir richtig klar geworden wie schlimm diese Situa­­tion für alle Beteiligten dort war. Schülerin W3: Hilflos, kann es immer noch nicht nachvollziehen wie Menschen mit Men­ schen so etwas tun konnten. In manchen Situa­­tionen beherrschen nicht anzufangen zu weinen. Schülerin W2: Während der Besichtigung war mein Gefühl sehr komisch. Ich war erschro­ cken und konnte es nicht fassen (Massen, Taten der Menschen). Des Weiteren wollte ich aber auch die Gefühle nicht sehr nah an mich heran lassen. Außerdem war alles ziem­­lich erschüt­ ternd und verletzend. Schülerin W5: Während der Besichtigung der beiden Lager habe ich mich eher auf das Geschicht­­liche konzentriert und meine Gefühle waren dadurch etwas nüchtern. Das, was mich aber berührt hat, waren die Räume mit den Bildern, Schuhen, Haaren etc. der vielen Opfer. Richtig starke Gefühle, darunter auch ein paar Schuldgefühle kamen mir erst, als wir wieder im Bus waren und ich Zeit zum Nachdenken hatte. Schüler M6: Während der gesamten Besichtigung war ich geschockt und verständnislos dem gegenüber welches Ausmaß dieser Plan der Endlösung der Judenfrage umgesetzt worden ist. Ich war die ganze Zeit bedrückt und mich quälten die Gedanken und Vorstellungen an diese Verbrechen, ­welche hier geschehen waren. Schüler M5: Ich empfand während der Besichtigung der Gedenkstädte eine gewisse Enttäu­ schung und eine innere Leere. Ich kann nicht richtig beschreiben was ich empfunden habe.

Die Äußerungen der Schüler lassen sich grob in drei Gefühlsrichtungen unter­ teilen: Erstens empfinden die Jugend­­lichen vor allem »Schock«, »Verständnis­ losigkeit«, »Entsetzen«, »Hilflosigkeit« und sogar »Hass«, wenn sie sich die Gewalthandlungen und den Terror der Täter vorstellen. Zweitens äußern die Schüler vor allem Emo­­tionen des Mitleids und der Trauer, wenn sie versuchen, sich das Leid und die Lebenssitua­­tionen der Opfer zu vergegenwärtigen. Drittens habe die räum­­liche Dimension des Ortes eine »Enttäuschung und eine innere Leere« erzeugt (Schüler M5). Ein anderer Schüler (M4) habe sich »geplättet« von der Größe des Konzentra­­tionslagers gefühlt. Die folgende Abbildung 2 stellt

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Handlungen der Täter

Hass

Verständnislosigkeit

Hilflosigkeit

Dimensionen (Anzahl der Opfer; Gelände)

Schock

Überwältigung

Lebenssituation der Opfer

Mitleid

Trauer

Enttäuschung

Abb. 2  Emo­­tionen der Schüler während der Besichtigung des Ortes und der Hauptausstellung

die Zusammenhänge der wahrgenommenen Eindrücke und die hervorgerufenen Emo­­tionen aller befragten Schüler dar. Die meisten emo­­tionalen Äußerungen formulierten die Schüler für das Thema der Gewalthandlungen. In Abbildung 2 ist zu erkennen, dass »Hass«, »Schock«, »Verständnislosigkeit« und »Hilflosigkeit« vor allem auf die Handlungen der Täter bezogen sind und gleichzeitig Ablehnung, Abwehr und Abneigung gegen­ über diesen Taten symbolisieren. Die geschilderten Emo­­tionen im Hinblick auf das Leid und die Lebensbedingungen der Opfer verweisen eher auf eine empa­ thische Haltung der Schüler. Die Dimensionen des Ortes erzeugten bei den Schülern »Schock«, »Überwältigung« und bei einem Schüler (M5) »Enttäu­ schung«. Alle drei Emo­­tionen sind vor allem darauf zurückzuführen, dass die Schüler durch ihre bloße Anwesenheit am Ort keine klarere Vorstellung von der Shoah erhalten haben. Die ausgewählten Beispiele ermög­­lichen außerdem die Beantwortung der zweiten Frage: Welche Konsequenzen haben diese Emo­­tionen auf die Vermitt­ lung von historischem Wissen an die Schüler? Der Einfluss von Emo­­tionen kann historisches Lernen zum einen fördern und positiv beeinflussen, zum anderen besteht die Gefahr, dass bestimmte Emo­­tionen zu einer Hemmung oder gar Ver­ hinderung des Lernens führen. Die Schülerin W3 beschreibt, dass sie sich habe beherrschen müssen, »nicht anzufangen zu weinen«, auch die Schülerin W2 habe ihre Gefühle unterdrückt. Sie formuliert sogar, dass »alles ziem­­lich erschütternd und verletzend« gewesen sei. Die Schülerin W5 habe versucht, sich bewusst auf die Geschichte zu konzentrieren, und bewertet ihre emo­­tionale Situa­­tion als »nüchtern«. Den Schüler M6 »quälten die Gedanken und Vorstellungen« an die Verbrechen. Diese Äußerungen zeigen, dass die empfundenen Emo­­tionen

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einen weiteren Lernprozess eher verhindern. Die Schülerinnen W3 und W2 hät­ ten versucht, Traurigkeit und Gefühle zu unterdrücken. Die Schülerin W5 habe probiert, sich durch ihr Interesse an der Geschichte selbst zu disziplinieren und ihre Aufmerksamkeit ledig­­lich auf das Wissen zu fokussieren. Auch die quälen­ den Vorstellungen des Schülers M6 mögen ein Verstehen eher verhindert haben. Zusammenfassend lassen sich für die empfundenen Emo­­tionen der Schüler folgende Ergebnisse schlussfolgern: Art der Emo­­tionen: Die Empfindungen der Schüler werden durch Imagina­­ tionen des Handelns der Täter, der Lebenssitua­­tion der Opfer sowie durch die Wahrnehmung der Dimension des Geländes hervorgerufen. Es sind durchgehend negative Emo­­tionen. Emo­­tion und Lernprozess: Es ist anzunehmen, dass die durchgehend nega­ tiven Emo­­tionen einen historischen Lernprozess, das heißt zum einen die Ver­ mittlung von Fakten- und Kontextwissen und zum anderen die Ausbildung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins, behindern.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen Die geringe Stichprobe und das qualitative Vorgehen konnten keine repräsenta­ tiven Ergebnisse liefern. Für diese Studie stand vielmehr die Interpreta­­tion der qualitativen Ergebnisse im Vordergrund. Wie lassen sich nun die gewonnenen Erkenntnisse in die Forschungsdiskussion zur Gedenkstättenpädagogik einordnen? Das Verlangen nach historischer »Wirk­­lichkeit«: Die Schüler stellten in der Vorherbefragung ihre Erwartung heraus, dass zum einen ein Besuch der Gedenk­ stätte Auschwitz eine sinn­­lichere Wahrnehmung der Shoah ermög­­lichen werde als andere Medien wie zum Beispiel Spielfilme, Dokumenta­­tionen oder Bücher. Zum anderen äußerten die Schüler ihre Hoffnung, durch die Materialität des Ortes sich die vergangenen Ereignisse besser vorstellen, um Geschichte eindeutiger verstehen zu können. Die Schüleraussagen konnten analytisch auf zwei Ebenen unterschieden werden: erstens auf einer emo­­tionalen Ebene, die das Verlangen jener Schüler beschreibt, ­welche die Lebenssitua­­tion der Opfer und Gefangenen nachempfinden und sich die historischen Ereignisse der Shoah über die Empathie mit den Opfern aneignen wollen; und zweitens auf einer Wissensebene, die von einer anderen Schülergruppe fokussiert wird. Sie erwarten, mithilfe materieller Gedenkstättenüberreste Wissensbausteine für die Allgemeinbildung im Hinblick auf die Shoah zu erlangen. Für einen anderen Schüler steht vor allem die Faszina­­ tion, den historisch bedeutsamen Ort mit eigenen Augen zu sehen und Informa­­ tionen über die Vergangenheit zu erhalten, im Vordergrund.

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Die Erwartungshaltungen der Schüler aus dieser Untersuchung sind vergleich­ bar mit Ergebnissen aus anderen Studien. Bert Pampel hat etwa festgestellt, dass in einer Besucherbefragung der KZ-Gedenkstätte Dachau 1999 53 Prozent der Befragten »einen Eindruck vom Leben der Häftlinge« erhalten und 44 Pro­ zent ihr »Wissen erweitern« wollten.37 Auch Kerstin Dietzel hat in ihrer Studie zur Wirkungsweise der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg auf Jugend­­liche die ­gleiche Aufteilung ­zwischen emo­­tionaler Ebene und Wissensebene heraus­ arbeiten können. Jedoch merkt sie an, dass diese Ebenen nicht getrennt, sondern von den Schülern nur unterschied­­lich gewichtet würden.38 Das Verlangen nach »historischer Wirk­­lichkeit« ist nicht überraschend, da Authentizität, Aura und Anschau­­lichkeit des historischen Ortes die Chance bieten, jene Distanz z­ wischen Vergangenem und der Erfahrungswelt des Besuchers zu überbrücken.39 In der Nachherbefragung zur Wirkung der Gedenkstätte und des Ortes gaben die Jugend­­lichen an, dass vor allem die räum­­lichen Dimensionen, die Vorstellung des Leidens der Opfer und die Imagina­­tion der Täterseite für sie »unfassbar«, »erdrückend« oder »beängstigend« gewesen s­ eien. Vor allem die Eindrücke von Tötungsorten, etwa die sogenannte Todeswand im Hof von Block 11 und die auf Empathie ausgerichteten Ausstellungsabschnitte (zum Beispiel die israe­­ lische Ausstellung Shoah; die Überreste von Koffern, Schuhen und Haaren), forcierten die Imagina­­tionen der Jugend­­lichen. Dabei empfanden die Schü­ ler vor allem den Erhaltungszustand der Gedenkstätte und eben jene Ausstel­ lungsobjekte der menschlichen Überreste als positiv, weil sie Betroffenheit und Emo­­tionalität erzeugten und in den Augen der Schüler die Vorstellbarkeit der Shoah vereinfachten. Welche Bedeutung die Originalität und die Authentizität einer Gedenkstätte für Jugend­­liche haben kann, hat Anja Solterbeck mit einer Schülerbefragung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme nachgewiesen. Sie kommt zu dem Schluss, dass

37 Vgl. Bert Pampel: »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist«. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher. Frankfurt a. M. 2007, S. 98 f. 38 Vgl. Dietzel: Moritzplatz (wie Anm. 28), S. 89. – Die Gedenkstättenpädagogik verfolgt unter anderem auch folgende Ziele: »Wissen vermitteln« und »Empathie in die Opfer wecken«. Pampel: »außerschu­­lische Lernorte« (wie Anm. 7), S. 18 f. 39 Vgl. Mayer: Historische Orte (wie Anm. 3), S. 389 – 4 07; Rüsen: Umgang (wie Anm. 27), S. 331; Heyl: Überwältigendem (wie Anm. 5), S. 244 f; Pampel: »außerschu­­lische Lern­ orte« (wie Anm. 7), S. 16; Brauer: Empathie (wie Anm. 25), S. 79; Jörg Skriebeleit: »Orte des Schreckens«. Dimensionen verräum­­lichter Erinnerung. In: Peter Frank/Stefan ­Hördler (Hrsg.): Der Na­­tionalsozia­lismus im Spiegel des öffent­­lichen Gedächtnisses. For­ men der Aufarbeitung und des Gedenkens. Berlin 2005, S. 205 – 220. – Die Distanz z­ wischen Vergangenem und Gegenwart kann nur mithilfe von Imagina­­tionen erfolgen.

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die Schüler an der Gedenkstätte jene Bilder über die Shoah, ­welche hauptsäch­­ lich über eine mediale Aneignung entstanden sind, vor Ort bestätigt sehen woll­ ten. Werde die Imagina­­tion der Schüler nicht durch den Erhaltungszustand der Gedenkstätte angeregt, beschrieben Schüler den Ort als »nicht authentisch«.40 Die geschilderten Eindrücke der Jugend­­lichen stehen in einem direkten Zusam­ menhang mit den Ausstellungsobjekten. Jörn Rüsen geht etwa davon aus, dass die wirksamste und weitverbreitetste bild­­liche Repräsenta­­tion der Shoah die abge­ schnittenen Haare der Opfer ­seien. Denn diese suggerierten zum einen, sich die Masse der Opfer vorzustellen, und zum anderen symbolisierten sie die »Dehu­ manisierung« des Menschen.41 Die Schüler beschreiben vor allem emo­­tionalisierende Orte und Ausstellungs­ abschnitte, die sich auf Empathie, Emo­­tionalität und Betroffenheit auswirken. Nach den Kriterien von Ute Frevert und Anne Schmidt verfolgt die Konzep­­tion der Gedenkstätte Auschwitz eine stark emo­­tionalisierende Strategie:42 Während der Führung wurden die Jugend­­lichen vorzugsweise mit Schicksalen von Ein­ zelpersonen und Familien, die das Leid der Opfer personalisieren, konfrontiert. Die Dauerausstellung Shoah berührte den Schüler M1 vor allem durch ihre Hin­ tergrundmusik und die Videoaufnahmen der späteren Opfer. Die Authentizi­ tät des Ortes wird durch den Erhalt der Baracken und des Zaunes sowie durch die Ausstellung von Haaren, Koffern und Schuhen erzeugt. Zusätz­­lich versucht die Gedenkstätte durch die Verwendung von Kinderfotos die Shoah zu visuali­ sieren. Diese Konzep­­tion der Geschichtsdarstellung bedient das Verlangen der Jugend­­lichen nach Vorstellbarkeit und erzeugt in erster Linie eine emo­­tionale Auseinandersetzung mit der Shoah. Die Schüler nehmen hierbei die Strategie der Emo­­tionalisierung nur vereinzelt wahr. Die Wirkungsweise der historischen Stätte und der Gedenkstätte beeinflusst die Schüler in ihrer Wahrnehmung und historischen Sinnbildung. Die Studie fokussierte deshalb den Einfluss der Gedenkstätte auf die Entwicklung des Wis­ senszuwachses und der Empfindung von Emo­­tionen.

40 Vgl. Anja Solterbeck: Weil in Neuengamme »nichts mehr so ist, wie es war«. Die Erwar­ tungen von jugend­­lichen Gedenkstättenbesuchern an ein »echtes KZ«. In: Oliver von Wrochem (Hrsg.): Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung. Berlin 2010, S. 344 – 373, hier S. 370 ff. 41 Vgl. Rüsen: Umgang (wie Anm. 27), S. 334. 42 Frevert und Schmidt verstehen unter emo­­tionalisierenden Vermittlungsstrategien die Ver­ wendung von Personalisierungen, Dramatisierung des Stoffes, Herstellung von Authentizität und Visualisierungen. Vgl. Ute Frevert/Anne Schmidt: Geschichte, Emo­­tionen und die Macht der Bilder. In: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011) 1, S. 5 – 25, hier S. 19 ff.

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Wissenszuwachs: Die Aussagen über einen Wissenszuwachs sind von begrenz­ tem Wert, da ein lückenloser Vergleich z­ wischen Vorher- und Nachherbefragung aufgrund der unterschied­­lich gelagerten Fragestellung im Rahmen dieser Studie nicht mög­­lich ist. Das Ziel lag vielmehr darin zu erfahren, ob sich die Schüler durch den Besuch der Gedenkstätte ein intensiveres Kontextwissen erschließen konnten. In der subjektiven Einschätzung gaben Schüler einen höheren Wissensstand als vor der Fahrt an. Dieser Zuwachs ist daran zu erkennen, dass sie die Opfer­ gruppen, die Lebensbedingungen der Gefangenen und die Art und Weise der Tötung differenzierter beschreiben konnten. Allerdings waren die Antworten sehr oberfläch­­lich und ließen konkrete Beispiele vermissen, sodass eine Überprü­ fung des Wissensstandes nur bedingt mög­­lich war. Ein Zuwachs des Fakten- oder Detailwissens zum Ort Auschwitz kann nicht beurteilt werden, da die Frage im Nachhertest eher auf die Messung des historischen Kontextwissens zielte. Ein Zuwachs ­dieses Wissens konnte durch die Ergebnisse nicht festgestellt wer­ den. Ein Abgleich mit anderen Studien fällt zu ­­diesem Item schwer, da eine syste­ matische und objektive Untersuchung mithilfe eines »Vorher-­­nachher-­­Vergleichs« in Anlehnung an Bert Pampel nicht durchgeführt wurde. Stattdessen sei auf dessen hypothetische Äußerung verwiesen, der zufolge die Mehrheit der Schüler durch den Besuch von Gedenkstätten neue Kenntnisse vor allem über den historischen Ort erwerbe. Dies s­ eien vor allem vielfältige Detailinforma­­tionen mit narrativem oder emo­­tionalem Gehalt. Im Vordergrund der Wissensaneignung stünden eher die ­Themen »Terror« und »Leid«, die historischen Zusammenhänge der Shoah blieben hingegen im Hintergrund.43 Obwohl eine Steigerung des Kontextwissens nicht festgestellt werden konnte, zeigen die Ergebnisse, dass die Erwartungshaltung der Schüler, sich durch die Authentizität des Ortes eine bessere Vorstellung der Shoah machen zu können, irritiert wurde. Bei einigen Schülerinnen konnte man die Einsicht nachverfolgen, dass eine vollständige Vorstellbarkeit nicht mög­­lich und bei einer Schülerin auch nicht erwünscht war. Im Sinne der Ausbildung eines reflektierten und selbstreflexi­ ven Geschichtsbewusstseins ist das ein durchaus wünschenswerter Effekt. Denn die Schülerinnen erkannten, dass ihr Blick auf die Vergangenheit durch ihren Standpunkt in der Gegenwart beeinflusst wurde und eine »wahrheitsgetreue« Darstellung der Shoah somit ausgeschlossen blieb. Emo­­tionen: Die Gedenkstätte Auschwitz und der historische Ort beeinfluss­ ten die Emo­­tionalität der Schüler. Die Imagina­­tion der Täterhandlungen löste bei 43 Vgl. Bert Pampel: Was lernen Schülerinnen und Schüler durch Gedenkstättenbesuche? (Teil-) Antworten auf Basis von Besucherforschung. In: Paul Ciupke (Hrsg.): Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur. Ein deutsch-­­polnischer Austausch. Essen 2014, S. 107 – 118, hier S. 113 f.

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ihnen vor allem »Schock«, »Hass«, »Verständnislosigkeit« und »Hilflosigkeit« aus. Die Vorstellung der Lebensbedingungen und Gefühle der Opfer führte bei den Jugend­­lichen zu den Emo­­tionen »Trauer«, »Schock« und »Mitleid«. Auf die räum­­liche Dimension reagierten die Schüler letzt­­lich mit »Überwältigung«, »Enttäuschung« und »Schock«. Die Studie von Annette Eberle untersucht unter anderem die Emo­­tionen von Schülern während ihres Besuches der KZ-Gedenkstätte Dachau. Diese quantitative Untersuchung verdeut­­licht, dass bei der Besichtigung der Ausstellung circa 36 Pro­ zent der Befragten »Angst/Schock«, 23 Prozent »Trauer«, 15 Prozent »Mitleid«, 11 Prozent »Wut/Hass« und 10 Prozent »Unverständnis« empfunden hätten.44 Auch Pampel konstatiert als Ergebnis seiner Untersuchung, dass »Verunsiche­ rung, Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit, Sprachlosigkeit, Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, Angst vor den Menschen, Wut, Ekel und Abscheu« 45 die tragenden Emo­­tionen der befragten Besucher gewesen ­seien. Im Gegensatz zu der bereits weiter oben vorgenommenen Einteilung der Emo­­ tionen auf die »Handlungen der Täter«, die »Lebenssitua­­tion der Opfer« und die »Dimensionen des Ortes« leitet Eberle aus den Emo­­tionen zwei Perspektiven ab:46 erstens die Perspektive des »kalten, unmenschlichen Terrors«, das heißt, die Gewalt und das Sterben evozieren Gefühle wie »Angst« und »Schock«. Diese Perspek­ tive führt zu einer Abwehr gegenüber der Darstellung des Terrors. Der Betrachter nimmt eine defensive Haltung gegenüber den eigenen emo­­tionalen Eindrücken ein. Und zweitens: die Perspektive der menschlichen Dimension des Lebens und Leidens der Gefangenen. Die Gefühle »Mitleid« und »Trauer« einerseits sowie »Scham« und »Wut« andererseits beziehen sich auf die Opfer bzw. die Täter. Unabhängig von dieser Zuordnung der Emo­­tionen ist es für das historische Lernen entscheidend, dass die beschriebenen Gefühle durchweg negativ konnotiert

44 Vgl. Annette Eberle: Pädagogik und Gedenkkultur. Bildungsarbeit an NS-Gedenkorten ­zwischen Wissensvermittlung, Opfergedenken und Menschenrechtserziehung. Praxisfelder, Konzepte und Methoden in Bayern. Würzburg 2008, hier S. 99. – Für eine zusammenfassende Darstellung vgl. dies.: »Ich fand es schreck­­lich, weil es sind Menschen so wie wir.« Eine Befra­ gung über »Fühlen« und »Denken« bei einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau. In: Bert Pampel (Hrsg.): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schü­ lerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschicht­­lichen Ausstellungen. Leipzig 2011, S. 97 – 114. 45 Pampel: »Mit eigenen Augen« (wie Anm. 37). S. 102. – Heyl stellt heraus, dass diese beschrie­ benen Emo­­tionen sich denjenigen Emo­­tionen ähneln, die in der psycholo­­gischen Forschung zu den Extremtraumatisierungen bei den Überlebenden der Lager festgestellt wurden. Vgl. Heyl: Überwältigendem (wie Anm. 5), S. 250. 46 Vgl. Eberle: »Ich fand es schreck­­lich« (wie Anm. 44), S. 104.

»Schöne Landschaft mit schreck­licher Vergangenheit«  | 275

sind. Es besteht das Risiko, dass diese Emo­­tionen weitere Lernleistungen negativ beeinflussen.47 Die Aussagen der befragten Jugend­­lichen in dieser Studie zeigen, dass teil­ weise versucht wurde, die eigene Emo­­tion zu unterdrücken oder zu kontrollieren. Die Schülerin W1 schreibt, dass sie sich überfordert fühle, die Dimension der Tötung zu begreifen. Die Äußerungen der Schülerin W3, dass sie sich die Shoah nicht vorstellen könne und es in ihrem Alter auch gar nicht wolle, verdeut­­lichen, dass die Emo­­tionen das Aneignen von historischem Fakten- und Kontextwissen verschließen können. Eine zu drastische Darstellung von Gewalt und eine emo­­tionale Überwälti­ gung können sogar dazu führen, dass die durch Empathie geöffneten Zugänge verschlossen werden und bei Jugend­­lichen Widerstand hervorrufen.48 Bothe und Sperling haben darüber hinaus festgestellt, dass eine Annäherung an die trau­ matischen Erfahrungen der Opfer durch eine empathische Auseinandersetzung durchaus Chancen für das historische Lernen aufweise, allerdings von vornhe­ rein ausgeschlossen werden müsse, dass die Schüler selbst traumatisiert würden.49 Die Konfronta­­tion mit der Geschichte der Shoah ist nach Assmann und Brauer hochgradig emo­­tional geprägt. Der Ort Auschwitz steht speziell für einen Ort der historischen Gewalt- und Unrechtserfahrung und ist somit ein Ort mit Emo­­tionen und emo­­tional ausgetragenen Kontroversen.50 Die vorliegende Untersuchung stellte das historische Lernen von Jugend­­lichen in den Vordergrund, wobei der Fokus darauf lag, w ­ elche Wirkung die historische Stätte und die Hauptausstellung der Gedenkstätte auf die Emo­­tionen und den Wissensstand der Schüler hatten. Pampel stellt heraus, dass Lehrer mit Gedenkstättenbesuchen zum einen das Ziel der Wissensvermittlung erreichten und zum anderen mora­­lische Appelle an die Schüler richten wollten. Hierzu hätten sie die Erwartung, dass der Besuch eines historischen Ortes »Schockerlebnisse« und emo­­tionale Betroffenheit erzeugen könne.51 Die Wirkung des Ortes auf die Schüler zeigt vor allem auf der emo­­tionalen Ebene einen großen Einfluss. Die Aneignung von Fakten- und Kontextwissen wird durch die Emo­­tionalität bestimmt. Hierbei verhindern vor allem negative

47 Vgl. Hasberg: Emo­­tionalität (wie Anm. 9), S. 50 f.; Linnenbrink: Affect (wie Anm. 32), S. 109. 48 Vgl. Heyl: Überwältigendem (wie Anm. 5), S. 247. 49 Vgl. Bothe/Sperling: Trauma (wie Anm. 5), S. 215 f. 50 Vgl. Assmann/Brauer: Bilder (wie Anm. 4), S. 73; Heyl: Überwältigendem (wie Anm. 5), S. 239. 51 Vgl. Pampel: »außerschu­­lische Lernorte« (wie Anm. 7), S. 24 f.

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Emo­­tionen wie »Schock« und »Überforderung« eine weitere Auseinander­ setzung mit den Ursachen und Zusammenhängen der Shoah. An dieser Stelle sollte sich der Geschichtslehrer die Frage stellen, w ­ elchen Beitrag eine Exkursion in KZ-Gedenkstätten für die Ausbildung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins der Schüler tatsäch­­lich leisten kann. Unter selbstreflexiv ist die Einsicht zu verstehen, dass die Aneignung von Vergangenheit an die Gegenwart des Betrachters gebunden ist. Darüber hinaus ermög­­licht ein solches Geschichts­ bewusstsein die Erkenntnis, dass jede Geschichtsdarstellung stets sinnstiftend sein will.52 Die Hoffnung der Ausbildung eines derartigen Bewusstseins liegt darin, dass Schüler die emo­­tionalisierenden Strategien der KZ-Gedenkstätte Auschwitz und den generellen Umgang mit Geschichtskultur kritisch analysieren können. Erst durch die Dekonstruk­­tion von Geschichte kann eine reflektierte Auseinander­ setzung mit der Vergangenheit ermög­­licht werden. Das Potential einer Exkursion liegt somit weniger in der Wissensvermitt­ lung, sondern sollte seine Zielstellung vielmehr auf die Reflexion der Emo­­tionen, Gefühle und Eindrücke der Schüler fokussieren. Nicht die Frage »Was können wir über die Shoah lernen?«, sondern die Frage »Was können wir über uns an den Orten der Shoah lernen?« sollte im Vordergrund stehen. Dass Emo­­tionen Einfluss auf das historische Lernen ausmachen, ist in der Geschichtsdidaktik unbestritten.53 Zur Entwicklung eines selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins sollten daher Reflexionsfragen zur eigenen Emo­­tionalität in den Fokus rücken: »Wie habe ich auf den historischen Ort reagiert?«, »Warum habe ich bei­ spielsweise Trauer oder Mitleid empfunden?«, und: »Warum kann ich nicht beschreiben, was ich gefühlt habe?«. Das Potential einer derartigen Reflexion der eigenen Emo­­tionalität liegt darin, durch »Überwältigung« und »Schock« verschlossene Türen für das Interesse und den historischen Lernprozess an der Shoah wieder zu öffnen.

52 Vgl. Waltraud Schreiber u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-­­Strukturmodell. Neuried 2006, S. 13, URL: http://edoc.ku-­­eichstaett.de/1768/1/Sonderdruck_Kompetenzen. pdf, letzter Zugriff: 28. 02. 2016. 53 Vgl. Hasberg: Emo­­tionalität (wie Anm. 9), S. 48 f.

Konstantin Heinisch-­­Fritzsche

Individuelle Formen der Sinnstiftung nach dem Zivilisa­tionsbruch: Die Darstellung des »jüdischen Widerstands« in Sobibór und Treblinka in den Zeugnissen von drei Überlebenden Warum haben »die Juden« sich nicht gewehrt? Haben sie sich – wie es angeb­­ lich die Worte eines Flugblatts des jüdischen Dichters und Widerstandkämpfers Abba Kovner versinnbild­­lichen – »wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen« 1 oder in einem heldenhaften, aber zugleich hoffnungslosen Kampf gewehrt? Diese über Jahrzehnte kontrovers diskutierte Frage stellt sich in besonderer Eindring­­ lichkeit an den Orten, die von den Deutschen ausschließ­­lich zur Tötung der von ihnen als Juden definierten Menschen dienten.2 Treblinka, Sobibór und Bełżec wurden ab dem Frühjahr 1942 errichtet und sind jene Orte, an denen im Rahmen 1 Das historische Trauma und die Kontroverse, die sich entlang dieser Metapher innerhalb der israe­­lischen Erinnerung an die Shoah entwickelte, erläutert Robert Rozett: Jewish Resistance. In: Dan Stone (Hrsg.): The Historiography of the Holocaust. New York 2004, S. 341 – 363, hier S. 341 f. – Ursprüng­­lich entstammt die Redewendung dem bib­­lischen Buch Jeremia, in dem es heißt: »Der Herr hat mir’s offenbart, dass ich’s weiß, und zeigte mir ihr vornehmen, näm­­lich, dass sie mich wie ein armes Schaf zur Schlachtbank führen wollen.« ( Jeremia 11, Vers 18 und 19, nach der Lutherübersetzung). Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Ausdruck zum Inbegriff des Vorwurfs, wonach die jüdische Bevölkerung während der Shoah passiv geblieben sei und somit eine Mitschuld an ihrer Ermordung trage. 2 Vgl. Rozett: Jewish Resistance (wie Anm. 1), S. 341 – 361. – Einen Eindruck davon, wie kon­ trovers der »jüdische Widerstand« innerhalb der jüdischen Historiografie thematisiert wird, vermitteln die Arbeiten von Raul Hilberg, Yehuda Bauer, Israel Gutman und Arno Lustiger. Während der Fokus der Autoren überwiegend auf der Darstellung des bewaffneten Widerstands liegt, werden die Dimensionen des Begriffes sehr unterschied­­lich definiert und bewertet. Die Vehemenz der Kontroversen um die Bewertung des Widerstands offenbaren sich vor allem in der massiven Kritik israe­­lischer Historiker an Hilbergs vermeint­­licher Marginalisierung des Widerstands, wonach eine der jüdischen Mentalität in gewisser Weise inhärente Anpas­ sungsfähigkeit und Schicksalsergebenheit ausschlaggebend für die Passivität vieler Menschen gewesen sei. Vgl. Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der euro­päischen Juden 1933 – 1945, Frankfurt a. M. 1992, hier S. 189 – 206. – Eine Erläuterung der Kontroverse findet sich bei David Engel: Historians of the Jews and the Holocaust. Stanford 2010, hier S. 135 – 141.– Eine ausführ­­liche Darstellung der Bedeutung und Konzepte des Widerstands in der jüdisch-­­historiografischen Shoah-­­Rezep­­tion findet sich bei Dan Michman: Die Historio­ graphie der Shoah aus jüdischer Sicht. Konzeptualisierung, Terminologie, Anschauungen, Grundfragen. Hamburg 2002, S. 154 – 175, hier S. 154.

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der sogenannten Ak­­tion Reinhard 3 in einem Zeitraum von 21 Monaten 1,75 bis 2 Millionen zumeist jüdische Menschen 4 ermordet wurden. Das Bewusstsein, dass es sich bei diesen Lagern um Orte handelt, die im Unterschied zum weiten Begriff des Konzentra­­tions- oder Zwangsarbeitslagers allein den doppelten Zweck der Ermordung von Menschen sowie des Raubes und der Verwertung ihres Eigentums erfüllten, ist für das Verständnis der weiteren Ausführungen und Fragestellungen in d­­ iesem Beitrag von entscheidender Bedeutung. Während die meisten Menschen, die in die Todeslager deportiert wurden, unmittelbar nach ihrer Ankunft in soge­ nannten Gaskammern erstickt, einige bereits vorher erschossen wurden – nicht ohne ihnen zuvor ihre Kleidungsstücke und Wertsachen bzw. jeg­­lichen Besitz, den sie mit sich führten, zu nehmen –, gab es eine kleine Zahl zumeist jüngerer Männer und Frauen, die von den Tätern als vermeint­­lich arbeitsfähig aus dem Transport selektiert und wie Sklaven zu schwerster Arbeit im Lager gezwungen wurden. Bis zu jenem entweder willkür­­lich oder zynisch aus Beweggründen der »Tötungs- und Raubökonomie« 5 im Lager festgelegten Zeitpunkt ihrer Ermor­ dung waren sie sowohl in den Mordprozess als auch in die Sicherstellung, Selek­­ tion und Verwertung des den Opfern zuvor geraubten Besitzes eingebunden. Jene sogenannten Facharbeiter – im engeren Sinne Schuster, Sattler, Schmiede, Schlosser, Schneider, Tischler und Friseure – waren zumindest für einen gewissen 3 Ziel war es, alle jüdischen Menschen mit Giftgas zu ermorden, die sich auf dem Gebiet des soge­ nannten Generalgouvernements befanden – jene besetzten Teile Polens, die nicht dem Deutschen Reich angegliedert worden waren und die Verwaltungsbezirke Krakau, Warschau, Radom und Lublin umfassten. Vgl. Barbara Distel: Sobibór. In: Wolfgang Benz/­Barbara ­Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, Band 8: Riga-­­Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płaszów, Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München 2008, S. 375 – 4 04, hier S. 375. 4 Vgl. ebd. 5 Kranke oder verletzte Menschen, die körper­­lich nicht mehr in der Lage waren, Zwangsarbeit zu leisten, wurden häufig sofort erschossen, erschlagen oder in Tötungsgebäuden mit Hilfe von Gas erstickt und durch neue aus den ankommenden Transporten ersetzt. Ende 1942/Anfang 1943 änderte die SS diese Praxis, da sie erkannte, dass der Ablauf der Tötungsökonomie effizienter war, wenn geübte und erfahrene Zwangsarbeiter die Arbeiten ausführten. Die Überlebensdauer hing auch davon ab, wie viele Transporte ankamen. Je dichter die Folge der Deporta­­tionszüge, desto unentbehr­­licher war die Zwangsarbeit der jüdischen Menschen für die Täter. Vgl. hierzu Chil Rajchman: Ich bin der letzte Jude. Treblinka 1942/43. Aufzeichnungen für die Nach­ welt. München 2009, S. 76. – Zur Situa­­tion der jüdischen Zwangsarbeiter in den »Vernich­ tungslagern« vgl. Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibór. Hamburg/Münster 2012, S. 93 – 107; Distel: Sobibór (wie Anm. 3), S.  384 – 389; Wolfgang Benz: Treblinka. In: ders./Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, Bd. 8: Riga-­­Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płazów, Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München 2008, S. 407 – 4 43, hier S. 421 ff.

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Zeitraum sowohl für den Erhalt des Lager- als auch des persön­­lichen Dienstleis­ tungsbetriebes der SS unentbehr­­lich. Der vorliegende Beitrag basiert deshalb auf den Schriftzeugnissen von drei Überlebenden aus Sobibór und Treblinka: dem Bericht Aleksandr Pečërskijs von 1945, welcher der Anführer des bewaffneten Aufstands in Sobibór war, dem 2001 veröffent­­lichten Lebensbericht Thomas Toivi Blatts, der als Fünfzehnjähriger Sobibór überlebte, sowie dem 2009 erschienenen Buch Treblinka. Lager, Revolte, Flucht, Warschauer Aufstand von Samuel Willenberg – dem letzten Zeitzeugen Treblinkas, der im Februar 2016 verstarb.6 Im Blickpunkt der Analyse soll dabei deren jeweilige Darstellung des »jüdi­ schen Widerstands« stehen. Neben den zahlreichen Facetten des Widerstands insgesamt,7 seinen Bedingungen und Mög­­lichkeiten, spielen Orte und Motive sowie Gruppen und Individuen eine entscheidende Rolle. Während der Aufstand im Warschauer Ghetto 8 zum Symbol des bewaffneten »jüdischen Widerstands« avancierte, ist der Aufstand des »Sonerkommandos« in Auschwitz im Oktober 1944 sowie an den Tötigungsorten Treblinka im August 1943 und in Sobibór im Oktober 1943 vergleichsweise unbekannt.9 Als Zwangsarbeiter wurden auch Aleksandr Pečërskij, Thomas Toivi Blatt in Sobibór und Samuel Willenberg in Treblinka aus einem Deporta­­tionszug mit mehreren tausend Menschen selektiert, was ihnen zunächst das Überleben sicherte. 6 Zur Problematik der Zeitzeugenberichte von Überlebenden der Shoah vgl. Yoram Lubling: Twice-­­Dead. Moshe Y. Lubling, the Ethics of Memory, and the Treblinka Revolt. New York u. a. 2007, hier S. 13 – 21. 7 An dieser Stelle sollen grob schematisch zwei Widerstandsformen unterschieden werden: der zivile Widerstand, der seit 1940 in einigen Ghettos bestand und eine »Verbesserung« der Lebensumstände intendierte bzw. als Mittel des Überlebens von entscheidender Bedeutung war, und der gewaltsame Widerstand seit 1943. 8 Während das Wort »Ghetto« von seinem Ursprung her zwar ein abgesondertes, jedoch kei­ nesfalls von der Außenwelt abgeschnittenes jüdisches Wohnviertel bezeichnet, verwendeten die Na­­tionalsozia­listen den Terminus euphemistisch für ein gewaltsam eingerichtetes Zwangs­ wohnviertel mit dem Ziel, die von ihnen als Juden definierten und stigmatisierten Menschen an einem Ort unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammenzufassen. Ab dem Frühjahr 1942 waren diese Orte Ausgangspunkt der Deporta­­tion und anschließenden Ermordung von Millionen jüdischen Menschen in den »Vernichtungslagern«. Vgl. u. a. Israel Gutman: Art. »Ghetto«. In: ders. (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der euro­päischen Juden, Bd. 1. Berlin 1993, S. 535 – 539. 9 Vgl. Franziska Bruder: »Hunderte solcher Helden«. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Berichte, Recherchen und Analysen. Hamburg/Münster 2013, S. 7. – Zum hier nicht näher behandelten Aufstand in Auschwitz vgl. Gideon Greif/ Itamar Levin: Aufstand in Auschwitz. Die Revolte des jüdischen »Sonderkommandos« am 7. Oktober 1944. Köln/Weimar/Wien 2015.

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Ihre Zeugnisse sollen im Folgenden dreifach befragt werden: nach individuel­ len Identitätskonstruk­­tionen, der von den Tätern oktroyierten jüdischen Identität sowie jenen, die ihnen s­ päter im Kontext sich wandelnder geschichtspolitscher Deutungsmotive, Gedenk- und Erinnerungskonzepten zugeschrieben wurden.

Aleksandr Pečërskij: »Rache, gnadenlose Rache!« Hatte bereits die Tatsache, dass im Frühjahr 1943 immer weniger Transporte aus dem Generalgouvernement, Frankreich und den Niederlanden in Sobibór eintra­ fen, die Gerüchte hinsicht­­lich einer mög­­lichen Auflösung oder Umstrukturierung des Lagers genährt, brachte die Schließung des Lagers Bełżec, in deren Folge die letzten sechshundert Zwangsarbeiter nach Sobibór deportiert und ermordet wur­ den, den Gefangenen die endgültige Gewissheit, dass mit einer Schließung des Lagers auch ihre Ermordung einhergehen würde. Vor ­­diesem Hintergrund entstand im Frühsommer 1943 in Sobibór eine geheime Widerstandsbewegung unter der Führung Leon Feldhendlers – Sohn eines Rabbiners und ehemaliger Vorsitzender des Judenrats im Ghetto Żołkiewka 10 –, die mehrere Pläne für einen Aufstand entwickelte. Bereits zuvor hatte es zahlreiche, meist individuelle Fluchtversuche gegeben, von denen nur einige wenige Ende des Jahres 1942 sowie in der ersten Jahreshälfte 1943 erfolgreich waren. Der 23. September 1943 markiert hier einen Wendepunkt. An jenem Tag traf ein Transport mit zweitausend Menschen aus Minsk ein, in dem sich auch etwa achtzig 11 sowjetische Kriegsgefangene befanden, die für Aufbauarbeiten im Lager IV aus dem Transport ausgewählt wurden. Die Pläne und Bemühungen Feldhendlers und seines zehn- bis zwölfköpfigen Komi­ tees, eine Massenflucht zu organisieren, sowie sein detailliertes Wissen über die Sicherheitsmaßnahmen, den Tagesablauf und die Topografie des Lagers trafen nun auf das militärisch und strate­­gisch geschulte Know-­­how der neu Angekom­ menen. Zur Symbolfigur avancierte in diesem ­­ Kontext ein 34 Jahre alter Mann und Leutnant der Roten Armee: Aleksandr Aronovič Pečërskij. 10 Vgl. Schelvis: Vernichtungslager Sobibór (wie Anm. 5), S. 170; Distel: Sobibór (wie Anm. 3), S. 394. 11 Hier schwankt die Angabe der Anzahl sowohl in der Fachliteratur als auch in den Quellen. Während Schelvis von etwa 100 Kriegsgefangen spricht, geben Distel und Pečërskij selbst die Zahl 80 an. Vgl. Schelvis: Vernichtungslager Sobibór (wie Anm. 5), S. 171; Distel: ­Sobibór (wie Anm. 3), S. 394; Aleksandr Aronowitsch Petscherski: Aufstand im Lager Sobibór. Rostow am Don 1945. In: Franziska Bruder: »Hunderte solcher Helden«. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Berichte, Recherchen und Analysen. Hamburg/Münster 2013, S. 15 – 55, hier S. 20.

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Im Zentrum des folgenden Kapitels steht die Quellenanalyse der im April 1945 in rus­­sischer Sprache veröffent­­lichten Fassung des Berichts von Aleksandr Pečërskij, die auf seinem persön­­lichen Originalmanuskript von 1944 basierte, jedoch umfangreich bearbeitet, abgeändert und ergänzt wurde. Eine ausführ­­ lichere Quellenkritik wird den Abschluss der Ausführungen bilden. Die Anfangspassagen des Berichts sind von den emo­­tionalen Schilderungen Pečërskijs und der darin zum Ausdruck gebrachten Erschütterung und Verzweif­ lung geprägt, nachdem ihn Feldhendler detailliert über die Funk­­tion Sobibórs als Ort einer Massentötungsanlage aufgeklärt hatte.12 Obwohl er selbst mit den Zuständen und Bedingungen in deutscher Kriegsgefangenschaft vertraut war, als Jude identifiziert worden war und somit die brutale und menschenverachtende Realität ­dieses Stigmas am eigenen Leib erfahren hatte, waren ihm diese Dimen­ sionen zuvor nicht bewusst gewesen: Kann man noch Worte finden, um diese Verbrecher zu brandmarken? Rache, gnadenlose Rache! Für diese umgebrachten Leben und für alle anderen. Ja aber um zu rächen muss man aus dem Lager flüchten, flüchten so schnell wie mög­­lich.13

In dieser Aussage wird deut­­lich, wie sehr die Motive von Flucht und Rache, aber auch seine Identität als Soldat das Denken Pečërskijs unmittelbar nach dessen Ankunft in Sobibór prägten. Der Gedanke an Flucht ist nicht von dem übergeordneten Motiv der Rache zu trennen. In d­­ iesem Zusammenhang scheint es bemerkenswert, dass er den Kontext der Rache zunächst ganz offensicht­­lich außerhalb der Lagerwirk­­lichkeit in einer viel größeren Dimension, näm­­lich jener des Krieges gegen Deutschland ver­ ortet. Nur wenn es ihm gelinge zu fliehen, könne er seine zur Passivität verdammte Opferidentität aufgeben und sich wieder aktiv am Kampf gegen Deutschland betei­ ligen. Völlig unklar bleibt zunächst, wie genau sich Pečërskij eine mög­­liche Flucht vorstellt. Wenig s­ päter konkretisiert er diesen Gedanken jedoch und findet gemessen an der Kürze seines Aufenthalts in Sobibór außergewöhn­­lich klare Worte, die seine Ambi­­tionen von Flucht und Widerstand eindrück­­lich akzentuieren: Der Entschluss, zu dem ich schon lange in dem vorherigen Lager, zusammen mit meinem Freund Schlomo Lejtman […] gekommen war, verfestigte sich […], erfüllte alle meine Gedanken und Gefühle. Acht Monate lang litt ich vorher im Lager Minsk und es entstand während der Zeit ­zwischen mir und vielen, die jetzt mit mir in Sobibór waren, eine starke kameradschaft­­liche

12 Vgl. Petscherski: Aufstand im Lager (wie Anm. 11), hier S. 21 ff. 13 Ebd., S. 24.

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Verbindung. Man brauchte aber noch Zeit, um zu hören, um zu sehen, um Menschen und Umstände in d­­ iesem Lager kennen zu lernen, damit eine Massenflucht organisiert werden konnte.14

Viele Gedanken, die sowohl die Wahrnehmung seiner Außen- als auch seiner Innenwelt zum Ausdruck bringen und seine spezifische Rolle in beiden Sphären beschreiben, fließen in dieser Ausführung zusammen. Pečërskijs Posi­­tion wird gestärkt durch die Anerkennung seines engeren Umfelds, die intensive Beziehung zu seinen Kameraden und durch das gemeinsam bereits vor Sobibór erfahrene Leid. Jenes gefestigte und selbstsichere Auftreten, das seine Außendarstellung prägt und ihn scheinbar sowohl für seine Kameraden als auch einige Gefangene in Sobibór zum Hoffnungsträger macht, vertritt er offensicht­­lich auch in seinem Inneren vor sich selbst. Pečërskijs Gedanken aus jener ersten Nacht vermitteln einen Eindruck davon, w ­ elchen zentralen Sinn er seiner gegenwärtigen Existenz in Sobibór beimisst. Alle zukünftigen Ak­­tionen und Handlungen dienen von nun an dem höheren Zweck der Flucht und des mög­­lichen Aufstands. Außergewöhn­­lich erscheint in ­­diesem Zusammenhang auch, dass er ganz unabhängig von den Plänen F ­ eldhendlers, der sich zwar bereits einen ersten prüfenden Eindruck von Pečërskij gemacht, ihn jedoch weder in die Existenz seines Untergrundkomitees noch in das Vorhaben einer Flucht eingeweiht hat, von Beginn an eine Massenflucht in Erwägung zieht. Anders als Feldhendler, der bereits seit Anfang des Jahres 1943 im Lager war und als ehemaliges Mitglied des Judenrats in Żółkiewka – circa einhundert Kilometer von Sobibór entfernt – ein weites Netz an persön­­lichen Beziehungen zu vielen Lagerinsassen unterhielt, hatte Pečërskij noch nicht die Gelegenheit gehabt, einen engeren Kontakt zu den Zwangsarbeitern aus Polen, den Niederlanden, Deutsch­ land, Frankreich sowie Tschechien und der Slowakei herzustellen. Auch wenn Pečërskijs Bericht nicht von einem übertriebenen Pathos gekenn­ zeichnet ist, sondern in einer zuweilen sehr emo­­tionalen Sprache die persön­­liche Wahrnehmung der alltäg­­lichen Grenzerfahrungen ­zwischen Angst, Wut und Demütigungen reflektiert, so sind seine Aufzeichnungen auch ein Spiegel der eigenen Ausnahmestellung in Sobibór und fügen sich zu jenem Bild zusammen, das die Historiografie bis heute von ihm zeichnet. In seiner eigenen Darstellung ist er die Stimme der Vernunft, des Pragmatismus, der Moral und Würde. Als seine Kameraden im engeren Kreis eine Flucht planen, um angesichts der alltäg­­lichen Ungewissheit über Leben und Tod sowie der Unwahrschein­­lichkeit einer erfolg­ reichen Massenflucht keine Zeit zu verlieren, appelliert er an ihren Verstand und ihre Loyalität:

14 Ebd.

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Sicher, es ist leichter, allein zu flüchten oder mit einigen anderen als dass alle zusammen ent­ kommen. Wir müssen es aber so machen, dass keiner von uns zurück bleibt. Auch wenn ein Teil der Menschen auf der Flucht umkommt, werden diejenigen, die diesen Kannibalen entkom­ men, sie blutig rächen. […] Wenn ihr mir glaubt, so müsst ihr geduldig warten und niemandem ein Wort verraten. Es wird die Zeit kommen und dann werde ich euch sagen, was zu tun ist.15

Pečërskijs Führungsrolle ist in seiner Darstellung unumstritten. Es wird deut­­lich, wie weit seine Ziele über die Wirk­­lichkeit in Sobibór hinausgingen. Nicht allein Flucht und Widerstand stehen für ihn im Zentrum, sondern der siegreiche Kampf bzw. Rachefeldzug gegen den Feind. Weder in seiner eigenen Darstellung noch in anderen Schriftzeugnissen, die ihn erwähnen, scheint er selbst jemals das Opfer einer umfangreicheren körper­­lichen Demütigung und Misshandlung gewesen zu sein. Es gibt eine Szene, die wohl wie kaum eine andere die exponierte Rolle Pečërskijs in Sobibór beschreibt. Pečërskij beobachtete die körper­­liche Misshand­ lung eines holländischen Mitgefangenen durch den SS -Oberscharführer Karl Frenzel, was von ­­diesem bemerkt wurde: Jetzt bin ich soweit, dachte ich bei mir, jetzt wird er mich wie den Holländer schlagen. […] Die Hauptsache ist, ich muss d­­ iesem Schweinehund zeigen, dass ich keine Angst vor ihm habe. Und ich hielt dem prüfenden, höhnischen Blick von Frenzel stand.16

Nachdem Frenzel bemerkt hatte, dass Pečërskij das Holzhacken aufgrund jenes Vorgangs unterbrach und die Quälerei des Holländers offensicht­­lich missbilligte, befahl er ihm, innerhalb einer bestimmten Zeit einen Holzklotz zu zerschlagen mit der Aussicht auf eine Packung Zigaretten für den Fall, dass es ihm gelinge. Für den gegenteiligen Fall drohten ihm 25 Peitschenhiebe. Nachdem Pečërskij den Holzklotz innerhalb der vorgegebenen Zeit zerschlagen hatte, reichte ihm Frenzel eine Packung Zigaretten, die er jedoch ebenso wie ein von Frenzel offe­ riertes Stück Butter ablehnte: Als ich den Kopf mühevoll hob, sah ich, dass Frenzel mir ein Päckchen Zigaretten entgegen­ streckte. […] Die Vernunft flüsterte mir zu: »Nimm. Bring den Lagerleiter nicht gegen dich auf. Das bringt nur verstärkte Bewachung und kann der Sache schaden.« Ich konnte aber nicht, ich konnte es körper­­lich nicht über mich bringen, etwas von d­­ iesem Schweinehund anzunehmen, der gerade eben den unglück­­lichen Holländer so geschlagen hatte.17 15 Ebd., S. 29. 16 Ebd., S. 27. 17 Ebd., S. 28.

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Da jede Form von Naturalien oder Genussmitteln, die man so gut wie gar nicht – und wenn, dann nur unter größter Gefahr – besorgen konnte, eine überlebens­ wichtige Bedeutung für die Zwangsarbeiter hatte, wurde Pečërskij von seinen Kameraden für jene Ak­­tion kritisiert, woraufhin er wie folgt reagierte: »Ich schaute sie müde an. Ich wollte so gerne laut schreien, sie sollten doch den Kopf hoch behalten, dem Feind stolzen Widerstand leisten.« 18 Es sind diese und andere Passagen des Berichts, in denen Pečërskij seine eigene Reak­­tion und Motiva­­tion in einer bestimmten Handlungssitua­­tion von jenen seiner Kameraden abgrenzte. Von Beginn an war sein Handeln nicht allein auf die Sicherung des Überlebens gerichtet, was für die meisten Gefan­ genen die fundamentalste Form widerständigen Verhaltens bedeutete, sondern auf eine Flucht, die höheren Zwecken und Zielen diente. Noch außergewöhn­­ licher scheint der Umstand zu sein, dass er dabei sowohl für die Würde seiner Kameraden – die eine Flucht planten, ohne die Konsequenzen für alle anderen Gefangenen zu berücksichtigen – als auch für diejenige seiner Leidensgenossen einstand, die nicht den Mut, die Kraft und Entschlossenheit besaßen, sich der SS entgegenzustellen. Denn außer dem Respekt seiner Mitgefangenen besaß Pečërskij offensicht­­lich in gewisser Weise auch den der SS -Männer, wie die erläuterte Szene eindrück­­lich darlegt. Während Pečërskij sowohl Feldhendler als auch seinen Kameraden verschiedene Szenarien und Mög­­lichkeiten einer potentiellen Flucht unterbreitet, tritt deut­­lich zutage, wie wichtig ihm außer einer erfolgreichen Massenflucht auch die Absicht der Tötung zahlreicher SS -Männer ist. Aus seiner Perspektive heraus kann es keine erfolgreiche Flucht geben, ohne zuvor Rache an seinen Peinigern zu nehmen.19 Tatsäch­­lich sollte ­dieses Anliegen ein entscheidendes Element des Aufstands darstellen, der sich am 14. Oktober 1943 ereignete. Allerdings war die weitest­ gehend geräuschlose und bis ins Detail geplante Tötung zahlreicher SS -Män­ ner weniger dem Motiv der Rache als vielmehr dem Umstand geschuldet, dass ohne ein Ausschalten der zentralen Kontroll- und Sicherungsinstanzen des Lagers keine erfolgreiche Massenflucht einsetzen konnte. Einige dieser drei­ ßig bis vierzig Mann von insgesamt circa sechshundert Gefangenen,20 die in die Fluchtpläne eingeweiht worden waren und zumeist entscheidende Posten innerhalb der Lagerinfrastruktur innehatten, lockten die SS -Männer unter dem Vorwand, einen besonderen Wertgegenstand aus dem Besitz der ermordeten

18 Ebd. 19 Vgl. ebd., S. 37. 20 Vgl. Distel: Sobibor (wie Anm. 3), S. 395.

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jüdischen Menschen erwerben zu können, in die verschiedenen Werkstätten und Magazine, um sie dort zu töten.21 Bis heute spielen die Dimensionen des »jüdischen Widerstands« gegen die Shoah eine herausragende Rolle in der jüdisch-­­israe­­lischen Erinnerung an die Ermordung ihres Volkes durch das na­­tionalsozia­listische Regime. Der Bericht Pečërskijs kann in ­­diesem Kontext als Ausdruck jener neuen, aktiven, jüdischen Wehrhaftigkeit angesehen werden, der das zionistische Ideal einer jüdischen N ­ a­­tion, die ihr Existenzrecht im und durch den Kampf legitimiert, widerspiegelt. Er steht damit sinnbild­­lich für den kämpferischen Juden, welcher der alten passiven Unter­ ordnung, der ewigen Abfolge von Leid und Diaspora sowie des Sich-­­Fügens in sein Schicksal diametral entgegensteht.22 Um den Bericht Pečërskijs in differenzierter Weise beurteilen und einordnen zu können, ist es sehr wichtig, sowohl die Begleitumstände seiner Entstehung als auch die Umstände seiner Überlieferung zu berücksichtigen. Auf einen entschei­ denden Umstand verwies der Verfasser in seinem Bericht selbst: In den ersten Tagen meines Lagerlebens machte ich heim­­lich ganz kurze Notizen, in denen ich mit absicht­­lich unlesbarer Schrift die wichtigsten Ereignisse festhielt. Erst ­später, nach einem Jahr, »entzifferte« ich meine Eintragungen und ergänzte sie erheb­­lich.23

Auch wenn das Originalmanuskript Pečërskijs bereits im Jahr 1944 entstand und damit eine zeit­­liche Nähe zu den Ereignissen besteht, waren seine Ausführungen im Gegensatz zu seinen Geheimnotizen nicht mehr das Produkt unmittelbaren Erlebens. Die hinzugefügten Ergänzungen des Verfassers sind sicher ein wichtiges Element, um seiner individuellen Wahrnehmung und Erinnerung mehr Plausibi­ lität zu verleihen, können andererseits jedoch keine »absolute zeit­­liche Authen­ tizität« der schrift­­lich überlieferten Erinnerung garantieren. Darüber hinaus

21 Vgl. hierzu detailliert Schelvis: Vernichtungslager Sobibór (wie Anm. 5), S. 167 – 199, 392 – 399; Petscherski: Aufstand im Lager (wie Anm. 11), S. 44 – 54. 22 James Edward Young veranschau­­licht diese Kontroverse eindring­­lich am Beispiel des WarschauerG ­­ hetto-­­Monuments von Nathan Rapoport. Vgl. James Edward Young: Formen des Erin­ nerns. Gedenkstätten des Holocaust. Wien 1997, S. 219 – 259; Zofia Wóycicka: Arrested Mourning. Memory of the Nazi Camps in Poland 1944 – 1950 (= Warsaw Studies in Contem­ porary History, 2). Frankfurt a. M. 2013, S. 108 – 113 sowie ihre Analyse der Gedenkstätte in Treblinka. Dies.: Die Gedenkstätte Treblinka im Entwurf von Władysław Niemiec und Alfons Zilonko. Eine ikonografische Analyse. In: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hrsg.): KZVerbrechen. Beiträge zur Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager und ihrer Erinnerung. Berlin 2007, S. 119 – 138. 23 Petscherski: Aufstand im Lager (wie Anm. 11), S. 25.

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ist von entscheidender Bedeutung, dass dem Originalmanuskript drei weitere Fassungen folgten:24 eine rus­­sische von 1945, deren Übersetzung die Grundlage ­dieses Beitrags bildet, eine jiddische aus dem Jahr 194625 sowie eine polnische aus dem Jahr 1952, die weitestgehend mit jener von 1946 identisch ist. Gerade in Bezug auf die Frage nach der Bedeutung einer vermeint­­lich jüdischen Identität Pečërskijs im Kontext von Lager und Widerstand ist dieser Umstand entscheidend. Während in der rus­­sischen Fassung von 1945 das Wort »Jude« kein einziges Mal enthalten ist – weil dies nicht in das offizielle Erinnerungskonzept der Sowjetunion an den »Großen Vaterländischen Krieg« passte, in dem die Opfer der Shoah als »friedliebende Sowjetbürger« anonymisiert wurden 26 –, tritt die Bezeichnung sowohl im Originalmanuskript und insbesondere in der jiddischen Fassung von 1946, w ­ elche die jüdische Identität der ermordeten Menschen dezi­ diert in den Vordergrund stellt, sehr viel häufiger auf. In der rus­­sischen Fassung hingegen wird die Identität der jüdischen Wider­ standskämpfer im Sinne zentraler ideolo­­gischer Leitmotive konstruiert und modifiziert. Besonders eindrück­­lich tritt dieser Aspekt an zwei Stellen zutage: zunächst in der Aussage eines jüdischen »Kapos« 27 gegenüber Pečërskij:28 »›Die Menschen aus der Sowjetunion haben überhaupt einen großen Einfluss im Lager, Sie und Schlomo besonders.‹« Ein weiteres Mal in einer Äußerung Pečërskijs über seinen polnischen Freund Schlomo Lejtman: »Er war Kommunist, alter Untergrundkämpfer, Warschauer Arbeiter, ein fähiger kluger Agitator, den alle Häftlinge in Sobibór vom ersten Tag an achteten.« 29 Beide Aussagen kommen in dieser Form ausschließ­­lich in der rus­­sischen Version des Berichts vor. 24 Vgl. Bruder: »Hunderte solcher Helden« (wie Anm. 9). 25 Im Rahmen eines Interviews des Jüdischen Antifaschistischen Komitees mit Pečërskij wurde ­dieses umfangreich ergänzt. Wann das Interview stattfand, ist jedoch nicht bekannt – nur dass Pečërskij bereits Mitte 1944 Kontakt zum Jüdischen Antifaschistischen Komitee aufnahm und seine Aufzeichnungen übermittelte. Es gab also eine Korrespondenz ab Mitte 1944. 26 Zur sowjetischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Shoah vgl. Il’ja Al’tman: Shoah: Gedenken verboten! Der weite Weg vom Sowjettabu zur Erinnerung, in: Osteuro­pa 55 (2005) 4 – 6, S. 149 – 164; Anika Walke: »Wir haben über ­dieses Thema nie gespro­ chen«. Jüdischer Überlebenskampf und sowjetische Kriegserinnerung. In: Micha Brumlik/ Karol Sauerland (Hrsg.): Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa. Frankfurt a. M. 2010, S. 25 – 47; Joachim Tauber: »Gespaltene Erinnerung« Litauen und der Umgang mit dem Holocaust nach dem Zweiten Weltkrieg. In: ebd., S. 47 – 71. 27 Bezeichnung für jene jüdischen Zwangsarbeiter, die innerhalb eines Lagers mit Aufgaben der Lagerleitung betraut wurden und andere Gefangene anleiteten und beaufsichtigten. 28 Petscherski: Aufstand im Lager (wie Anm. 11), S. 41. 29 Ebd., S. 41.

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Welche Rolle seine vermeint­­lich jüdische Identität für ihn im Kontext von Lager und Widerstand spielte, muss offenbleiben, da er sich selbst in seinem Bericht nicht dazu äußerte. Auch wenn Pečërskijs Originalmanuskript die jüdische Identität der Gefangenen sowie die Bedeutung bestimmter Rituale für einen Teil der jüdischen Gemeinschaft in Sobibór nicht in der Weise hervorhebt, wie dies in der jiddischen Fassung seines Berichts von 1946 der Fall ist, erwähnte Pečërskij jedoch recht häufig die jüdische Identität einzelner Personen, ohne diese näher zu bestimmen oder in einen größeren Bedeutungszusammenhang zu stellen. Seine Identifika­­tion mit den Opfern erfolgte weniger entlang der Kategorien Religion und Glaube, sondern wurde vielmehr von dem Mitgefühl für die Ermordeten sowie den persön­­lichen Beziehungen zu seinen Kameraden und Mitgefangenen bestimmt. Er war sich darüber im Klaren, dass fast alle Menschen im Lager aufgrund ihrer von den Tätern vorgenommenen Defini­­tion als Juden ermordet wurden, doch änderte dies seine persön­­liche Bezie­ hung zum Glauben nicht. Pečërskij selbst sprach auch kein Jiddisch, was innerhalb des Untergrundkomitees zunächst für einiges Misstrauen sorgte.30 Trotz alledem dürfte das Jüdischsein für Pečërskij wohl eher eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Formen von Vergemeinschaftung, Vertrauen und Solidarität innerhalb der Lagerwelt wurden weniger über die Religion als vielmehr über sprach­­liche Gemein­ samkeiten, die Na­­tionalität der Gefangenen sowie über Bande und Beziehungen hergestellt, die bereits vor der Deporta­­tion nach Sobibór bestanden. Eindring­­lich wird dieser Umstand in den Berichten vieler Überlebender beschrieben, wenn sie die Benachteiligung und Isolierung der holländischen Juden erwähnen,31 von denen kaum einer in die Pläne des Untergrundkomitees eingeweiht wurde. Jules S­ chelvis – selbst Niederländer und als Gefangener nach Sobibór deportiert – bringt die geschilderten Umstände ebenso eindrück­­lich wie prägnant auf den Punkt: In Sobibór […] bestand neben dem Misstrauen untereinander auch ein Argwohn der polnischen Juden gegenüber denen aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Die Niederländer, die weder Jiddisch noch Polnisch sprachen, konnten sich nur schlecht verständ­­lich machen. Sie waren auch nicht in das Komitee aufgenommen worden und sollten von den Vorbereitungen nichts erfahren. […] Der Vorwurf steht im Raum, dass aufgrund von unangebrachtem Miss­ trauen gegenüber niederländischen Juden, die längere Zeit in Sobibór waren, nicht mehr als zwei den Krieg überlebt haben.32

30 Vgl. Schelvis: Vernichtungslager Sobibór (wie Anm. 5), S. 173; Petscherski: Aufstand im Lager (wie Anm. 11), S. 33 ff. 31 Vgl. Thomas Toivi Blatt: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór. Berlin 2001, S. 145 f. 32 Schelvis: Vernichtungslager Sobibór (wie Anm. 5), S. 174.

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Thomas Toivi Blatt: Leben und Widerstand Der größte Fluch der Juden in jener Zeit war ihre unerschütter­­liche Hoffnung. Sie lähmte unseren Willen. […] Noch in der allerletzten Sekunde war die Hoffnung unser Begleiter und brach unseren Widerstand. Wir waren das Leiden so gewohnt, ein Volk, das stets auf bessere Zeiten hoffte.33

Dieses Zitat aus den Memoiren Thomas Toivi Blatts (Abb. 1) steht exemplarisch für den Mythos vom ewigen Kreislauf des Leides in der jüdischen Geschichte. Gleichzeitig steht es in einem gewissen Widerspruch zum Grundtenor seines über vierzig Jahre hinweg verfassten Lebensberichts. Darin behandelt er zahlreiche Aspekte, die auch für eine nuancierte Analyse des Widerstands jüdischer Men­ schen gegen die deutschen Besatzer in Polen wichtig sind. Von der ausführ­­lichen Darstellung des jüdischen Alltags in einer polnischen Kleinstadt, dem kulturellen Leben, den Beziehungen zur nichtjüdischen polnischen Bevölkerung und damit verbundener Konflikte über die Wahrnehmung deutscher und sowjetischer Besat­ zung bis hin zu den Erfahrungen von Entrechtung, Isolierung, Ghettoisierung und Deporta­­tion, beleuchtet Blatt vielfältige Facetten und entwirft ein komplexes und differenziertes Bild jüdischen Lebens.34 Ohne diese Vorgeschichte ist auch der »jüdische Widerstand« nicht zu erfassen. Blatt schildert seine Erfahrungen in Sobibór retrospektiv aus der Perspektive eines fünfzehnjährigen Jungen. Auch hier nehmen die Erläuterungen zur Ent­ stehungsgeschichte des Buches in gewisser Weise entscheidende Elemente einer Quellenkritik vorweg. Einen großen Einfluss auf die Entstehung des Buches hatte offensicht­­lich Blatts Ehefrau – eine in Kanada geborene Jüdin –, die selbst Autorin ist und auch über die Shoah gearbeitet hat. In ­­diesem Zusammenhang führte sie Interviews mit Thomas Blatt, Aleksandr Pečërskij, Simon Wiesenthal und Karl Frenzel.35 Sie fungierte als eine Art Koautorin. Sie habe Blatts Manu­ s­kript überarbeitet und aus seiner Erinnerung Geschichten ausgegraben, die er

33 Blatt: Nur die Schatten bleiben (wie Anm. 31), S. 125. 34 Sehr ausführ­­lich beschreibt auch Goldfarb in seinem Bericht die Diversität und Vielfalt jüdi­ schen Lebens in Polen. Vgl. Mordechaj Goldfarb: Bericht von Mordechaj Goldfarb vom 29. Januar 1962. In: Franziska Bruder: »Hunderte solcher Helden«. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Berichte, Recherchen und Analysen. Hamburg/Münster 2013, S. 93 – 117, hier S. 93 ff. 35 Vgl. die Selbstauskunft Dena Blatts, URL: http://www.denawrites.com/about-­­the-­­author/, letzter Zugriff: 22. 08. 2015.

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Abb. 1  Thomas Toivi Blatt (2010)

selbst für nebensäch­­lich, sie hingegen für wesent­­lich gehalten habe.36 Thomas Blatt führte nach eigener Aussage über weite Teile seines Lebens Tagebuch und hat seit dem Ende der 1970er Jahre immer wieder auch Berichte und Artikel über seine Erlebnisse und Erfahrungen in Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Von seinen ursprüng­­lichen Tagebuchnotizen, die immer wieder verlorengegan­ gen und zwischenzeit­­lich rekonstruiert worden ­seien, überstand etwas mehr als die Hälfte den Zweiten Weltkrieg. Auf deren Grundlage verfasste Blatt 1952 ein Manuskript, das jedoch nie veröffent­­licht wurde.37 Sein Buch ist somit ein Konglo­ merat, bestehend aus ursprüng­­lichen und rekonstruierten Tagebucheinträgen, seinem M ­ anus­kript, bereits publizierten Schriftstücken sowie einem Interview seiner Frau mit ihm. Die Überlieferung des Erlebten wurde somit wiederholt durch unterschied­­liche zeit­­liche Kontexte und den damit verbundenen Wandel der Wahrnehmung und der Perspektive. Gerade in dieser Mischung aus unmittel­ bar Erlebtem und in zeit­­licher Distanz neu Bearbeitetem und Reflektiertem liegt das dokumentarische Potential des Buches. Es vermittelt den Eindruck, dass sich Blatt auch jenseits seiner persön­­lichen Perspektive intensiv mit anderen Quellen und Publika­­tionen zur Shoah beschäftigt und diese in seine eigene Darstellung integriert hat. Die Inten­­tion seines Buches begründet er folgendermaßen:

36 Vgl. Blatt: Nur die Schatten bleiben (wie Anm. 31), S. 8. 37 Vgl. ebd., S. 9 f.

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Mein Buch hat keine besondere Botschaft. Es ist ledig­­lich die Geschichte eines jüdischen Teenagers, der unbedingt am Leben bleiben wollte; eine Geschichte, die selbst mir manchmal unglaub­­lich vorkommt, obwohl jedes Wort wahr ist.38

Dabei grenzt sich seine Darstellung bewusst von anderen ab, in denen immer etwas von Selbstaufopferung, von Glaubensstärke und dem Sieg der Menschlich­ keit mitschwinge, auch wenn sie von menschlicher Grausamkeit, von unermess­­ lichem Leid erzählten. Es drängt sich die Frage auf, wie Thomas Toivi Blatt das Phänomen des Wider­ stands in den größeren Zusammenhang seiner Memoiren stellt und ­welche spezi­ fische Bedeutung er ihm beimisst. Welche Rolle spielt vor diesem ­­ Hintergrund das jüdische Sein? Eindring­­lich schildert Blatt den Alltag jüdischen Lebens in seiner Heimatstadt Izbica,39 südöst­­lich von Lublin gelegen, der fast vollständig von Juden geprägt war. Er beschreibt die Diversität und Vielfalt des sozia­len und politischen Lebens sowie die Bedeutung des Glaubens und der Religion für die einzelnen Menschen und unterschied­­lichen Gruppierungen. Während seiner Jugend fühlte er sich hin- und hergerissen z­ wischen der säkularen Auslegung des Glaubens durch seine Eltern und der Ermahnung zur Einhaltung bestimm­ ter Tradi­­tionen und Rituale von Seiten Verwandter.40 Die Beziehung der nicht­ jüdischen polnischen Bevölkerung zu den Juden Izbicas bezeichnet er zwar als verhalten – »Natür­­lich hingen hin und wieder antisemitische Parolen […] im Postamt« 41 – und überwiegend fried­­lich. Konflikte z­ wischen orthodoxen und liberaleren Juden ­seien jedoch deut­­lich sichtbarer gewesen.42 Blatts Heimatort Izbica wurde 1942/43 zum Durchgangsghetto für tausende jüdische Menschen aus Polen, Tschechien, der Slowakei sowie Deutschland und Österreich. In dem kleinen Ort trafen nun die unterschied­­lichsten Menschen aufeinander und mussten unter schlimmsten Bedingungen einige Wochen oder Monate ausharren, bis sie ­später in Bełżec oder Sobibór ermordet wurden.43 38 Ebd., S. 10. 39 Blatt beschreibt Izbica als eine mittellose, von Landwirtschaft, Kleinhandel sowie Handwerk geprägte Stadt verarmter Juden. Vgl. ebd., S. 15 – 26. 40 Vgl. ebd., S. 17 – 20. 41 Ebd., S. 19. 42 Vgl. ebd., S. 17 ff. 43 Eine ausführ­­liche Beschreibung der Funk­­tion des Ghettos Izbica bietet der Aufsatz von Robert Kuwałek auf den Seiten des Bildungswerks Stanisław Hantz: Das Transitghetto Izbicirca. Der polnische Historiker Robert Kuwalek zur Geschichte Izbicas als Durchgangsghetto in den Jahren 1942/43, URL: http://www.bildungswerk-­­ks.de/izbica/die-­­geschichte-­­des-­­durchgangslagers-­ ­izbica-1, letzter Zugriff: 28. 07. 2015.

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Die jüdische Bevölkerung von Izbica schrumpfte beträcht­­lich. […] Bald darauf trafen neue Transporte aus fernen Ländern ein. Aus Frankreich kamen noch mehr polnische Juden, die früher einmal dorthin ausgewandert waren. Aus der Slowakei kamen Leute, die uns ähn­­lich sahen, während die tschechischen Juden aus Theresienstadt, Brno und Pilsen fremdländisch wirkten. Sie sprachen kein Jiddisch, waren besser angezogen und blieben meistens unter sich. 44

Anschau­­lich schildert Blatt, wie sich die deutschen Besatzer jene Atmosphäre der Angst und Ungewissheit zunutze machten, um Zwietracht und Misstrauen ­zwischen den Menschen zu säen: Dem Judenrat, der zu dem Zeitpunkt ausnahmslos aus polnischen Juden bestand, wurde eine neue Frak­­tion ausschließ­­lich tschechischer Juden […] angegliedert. Als die nächste Akcja 45 losging wurde den Tschechen befohlen, Izbica von allen »minderwertigen« polnischen Juden zu befreien. Es funk­­tionierte, und eine Zeitlang kam man um die Gaskammer herum, wenn man ausländischer Jude war.46

Viele polnische Juden und insbesondere jene, die in einem Ghetto in der Nähe eines »Vernichtungslagers« lebten, besaßen gegenüber den jüdischen Men­ schen aus anderen Ländern einen entscheidenden Wissensvorsprung. Über einen längeren Zeitraum hinweg hatten sie die Mög­­lichkeit, Informa­­tionen über die Lager einzuholen, und waren sich teilweise darüber im Klaren, dass man sie dort ermorden würde.47 Widerständiges Verhalten war von solchen Mög­­lichkeiten und Bedingungen, die eine Gemeinschaft konstituieren, abhängig. In diesem ­­ Zusammenhang ist es auch weniger eine Darstellung und Glorifizierung der viel­ fältigen Formen und Mög­­lichkeiten des widerständigen Verhaltens der jüdischen Menschen, ­welche die Ausführungen Blatts prägen, als vielmehr eine detaillierte Erläuterung der Täuschungsmanöver, ­welche die Zweifel und Verunsicherungen über die eigent­­liche Inten­­tion der Täter weiter zerstreuten: Dadurch, dass sie die Ausrottungsmaschinerie zwischendurch aufhielten, stifteten die Deut­ schen Verwirrung und Unsicherheit, säten Hoffnung und lockten selbst diejenigen in die Falle, die zum Widerstand bereit gewesen wären.48

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Blatt: Nur die Schatten bleiben (wie Anm. 31), S. 51. Polnisches Wort für Ak­­tion, Handlung – hier im Kontext einer bevorstehenden Deporta­­tion. Blatt: Nur die Schatten bleiben (wie Anm. 31), S. 51. Vgl. ebd., S. 52. Ebd., S. 54 f.

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Blatt selbst gehört zu jenen, die immer wieder Widerstand leisteten, wenn man das Wort im Sinne von Mög­­lichkeiten und Handlungen definiert, die vollzo­ gen wurden, um sich den Bestimmungen und Befehlen der Täter, ihrem Hand­ lungs- und Lenkungsmonopol zu entziehen. Er und seine Familie beschafften sich gefälschte Papiere, mit denen er versuchte, über die ungarische Grenze zu flüchten, was jedoch scheiterte.49 Eigenmächtig und animiert von den Informa­­ tionen zum Warschauer Ghettoaufstand, besorgte er sich eine Waffe, nicht weil er glaubte, dass ihn das retten würde, sondern weil es ihm weitere Handlungsund Entscheidungsop­­tionen eröffnete.50 Blatt betont auch die Bedeutung jener wenigen Gelegenheiten in Sobibór, die den Menschen zumindest eine kurzfristige individuelle Entscheidungsgewalt über ihr eigenes Schicksal gewährten und die scheinbar grenzenlose Macht der Täter durchbrachen. Er erläutert die Bedeutung des unter Todesstrafe stehenden Tauschhandels der Juden untereinander sowie mit den ukrainischen Trawniki,51 wobei viele die auferlegte Zwangsarbeit inner­ halb der Lagerinfrastruktur als Mög­­lichkeit genutzt hätten, um sich bestimmte Ressourcen anzueignen, ­welche die Wahrschein­­lichkeit des eigenen Überle­ bens kurzfristig hätten verbessern können.52 Er schildert als verzweifelte Akte widerständischen Verhaltens, dass die Menschen, während man sie gezwungen habe sich zu entkleiden, im Bewusstsein des bevorstehenden Todes ihre letzten mitgeführten Habseligkeiten zerstört hätten, damit sie den Tätern nicht in die Hände fielen.53 In diesem ­­ Zusammenhang beschreibt Blatt eine erschütternde Szene, in der eine ­Mutter sich geweigert habe, ihren Sohn allein in den Tod gehen zu lassen, sich gegen die SS erhoben habe und im Anschluss mit ihrem Sohn gemeinsam ermordet worden sei.54 Auch einige andere Zeitzeugenquellen 49 Vgl. ebd., S. 65 – 111. 50 Vgl. ebd., S. 117 f. 51 Der Begriff geht auf das im Herbst 1941 von der SS errichtete Zwangsarbeitslager für sowje­ tische Kriegsgefangene in Trawniki, südöst­­lich von Lublin, zurück. An jenem Ort wurden die Gefangenen als sogenannte Freiwillige von der SS ausgebildet und ab März 1942 als Wachen während der Deporta­­tionsak­­tionen in den Tötungslagern eingesetzt. In Bełżec, Sobibór und Treblinka waren sie integraler Bestandteil des Ermordungsapparats. Gleichwohl von der ört­­ lichen Bevölkerung meist als »Ukrainer« bezeichnet, gab es unter ihnen auch Russen und Vertreter anderer Ethnien der damaligen Sowjetunion. Vgl. Robert Kuwałek: Bełżec. In: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der na­­tio­ nalsozia­listischen Konzentra­­tionslager, Bd. 8: Riga-­­Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Płazów, Kulmhof/Chełmno, Bełżec, Sobibór, Treblinka. München 2008, S. 331 – 371, hier S. 338 f. 52 Vgl. Blatt: Nur die Schatten bleiben (wie Anm. 31), S. 181. 53 Vgl. ebd., S. 179. 54 Vgl. ebd., S. 192.

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erwähnen ähn­­liche Ereignisse, die für die Zeugen von großer Symbolkraft und nachhaltiger Bedeutung waren.55 Blatt selbst betont, wie wichtig es für ihn gewesen sei, weiter Tagebuch zu führen und seiner Leidenschaft für Literatur und Schrift nachzugehen, indem er heim­­lich die Bücher der ermordeten Menschen an sich genommen habe.56 Für andere habe der Halt durch den Glauben eine wichtige Rolle gespielt, und sie hätten unter den Bedingungen in Sobibór ihr Leben riskiert, um religiöse Zeremonien und Rituale einhalten und vollziehen zu können.57 Während des Aufstands hätten einige fromme Juden, die keine Hoffnung auf Rettung gesehen hätten, in ihrer Überzeugung, dass alles in der Hand Gottes liege, das Kaddisch 58 gesprochen und mit d­­ iesem offenen Glaubensbekenntnis Widerstand gegen ihre Peiniger geleistet.59 Eindrück­­lich hält Blatt diese Szenen menschlicher Beziehun­ gen in einer Umgebung von Angst, Erniedrigung und Tod fest: Trotz unserer unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen an einem Ort, der von Gott verflucht und verlassen schien, erlebte ich, wie sich Leute ineinander verliebten, wie sich tiefe Freundschaften entwickelten, wie sich Eifersuchtsszenen und all die »ganz normalen« Gefühle ­zwischen Männern und Frauen abspielten.60

Blatts Memoiren veranschau­­lichen eindring­­lich, dass der Begriff des Wider­ stands in all seinen Facetten nicht von den vielfältigen Formen des individuellen Lebens der Menschen, ihren unterschied­­lichen Perspektiven und den spezifischen

55 Beschreibungen von Begebenheiten dieser Art, die einen Eindruck von der Würde der Men­ schen im Bewusstsein ihres nahenden Todes vermitteln und die deren Handlungen betonen, ­welche die Macht, den Einfluss und den Willen der Täter im allerletzten Moment zumindest ein Stück weit unterminierten, wobei hierbei nicht selten mutige Frauen eine entscheidende Rolle spielten, finden sich auch in den Zeugnissen von Rajchman und Lichtman. Vgl. R ­ ajchman: Ich bin der letzte Jude (wie Anm. 5), S. 58, 96 f.; Icchak Lichtman: Bericht von Icchak Lichtman vom Oktober 1963, Tel Aviv. In: Franziska Bruder: »Hunderte solcher Helden«. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Berichte, Recherchen und Analysen. Hamburg/Münster 2013, S. 65 – 81, hier S. 75. 56 Vgl. Blatt: Nur die Schatten bleiben (wie Anm. 31), S. 163. 57 Vgl. ebd., S. 184; Rajchman: Treblinka (wie Anm. 55), S. 51 f. – Rajchman verleiht hier sei­ nem Gefühl der Gottverlassenheit Ausdruck und beschreibt die für ihn nur schwer nachvoll­ ziehbare Praxis jener jüdischen Menschen, die sich selbst in dieser scheinbar hoffnungslosen Situa­­tion auf religiöse Rituale und Gott besannen. 58 Eines der wichtigsten jüdischen Heiligungsgebete, das sich in den nachchrist­­lichen Jahrhun­ derten entwickelte und im Wesent­­lichen eine Lobpreisung Gottes zum Ausdruck bringt. 59 Vgl. Blatt: Nur die Schatten bleiben (wie Anm. 31), S. 201. 60 Vgl. ebd., S. 184.

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Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren, gelöst werden kann, sondern fundamen­ tal mit diesen verbunden ist. Sowohl in den Ghettos als auch an jenen Orten, die allein dem Zweck der Tötung jüdischen Lebens dienten, traf keine unbestimmte, amorphe Masse stigmatisierter und rechtloser Menschen zusammen, wie dies die Täter suggerieren wollten, sondern Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschied­­lichen Sprachen und Wertvorstellungen sowie ihrer jeweils indi­ viduellen Perspektive. Blatt benutzt den Begriff des Widerstands vor allem in diesen Zusammenhängen. Dass er die verschiedenen Formen widerständischen Verhaltens nicht gegeneinander abwägt oder wertet, lässt darauf schließen, dass er eine sehr weite Defini­­tion des Begriffes bevorzugt, die der Würde aller Opfer Rechnung trägt. Die Planung und Durchführung des bewaffneten Widerstands schildert er nüchtern und unvoreingenommen. Wichtig ist es ihm dabei, die Konflikte und Widersprüche offenzulegen, die mit jener Ak­­tion verbunden waren. Er beschreibt die tra­­gische Situa­­tion der niederländischen Juden, die von Beginn an schlecht integriert und informiert waren und daher nicht die gleichen Chan­ cen hatten, während der Massenflucht so geistesgegenwärtig zu reagieren wie andere. Er schildert die Konflikte innerhalb jener Gruppen, die sich nach der Flucht bildeten; wie der Streit um die Aufteilung von Waffen, Geld und fähigen Gruppenführern die Gemeinschaft und Loyalität der Flüchtenden untereinan­ der beenden konnte. Trotz der langen Zeit des gemeinsam erfahrenen Leids war sich jeder darüber bewusst, dass eine einzige Entscheidung zum Wohle eines schwächeren Gruppenmitglieds die Wahrschein­­lichkeit des eigenen Überlebens erheb­­lich minimieren konnte. Besonders drastisch akzentuiert Blatt das erläu­ terte Phänomen am Beispiel Aleksandr Pečërskijs, des Anführers des bewaff­ neten Aufstands, in den viele ihre Erwartungen und Hoffnungen projizierten. Ab einem gewissen Punkt sei auch er darauf bedacht gewesen, sich abzusichern und ausschließ­­lich jene Kameraden um sich zu scharen, denen er am nächsten gewesen sei und die am besten in das Konzept seiner Überlebensstrategie gepasst hätten. Auch wenn er ­dieses Ereignis nachdrück­­lich hervorhebt, klagt Blatt nicht an, sondern schildert zahlreiche Szenen, in denen auch er sich selbst am nächsten gewesen sei und zuweilen sich sogar erleichtert über den Verlust von schwächeren Gruppenmitgliedern gezeigt habe. Aufstand und Flucht waren für ihn keine Heldentaten, sondern vielmehr die schonungslose Fortsetzung des Kampfes ums eigene Überleben.

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Samuel Willenberg: Eine Symbolfigur des polnischen und jüdischen Widerstands Mit Samuel Willenberg wird abschließend das Zeugnis eines Überlebenden aus Treblinka betrachtet und auf seine spezifische Darstellung des Widerstands hin untersucht. Wie kaum eine andere Persön­­lichkeit prägt er bis heute die Form der Erinnerung an jenen Tötungsort. In der Gedenkstätte liegt sein in mehreren Sprachen veröffent­­lichtes Buch über die Revolte und Flucht in Treblinka aus – eine der wenigen Darstellungen, die zu Treblinka existieren.61 Während eines Rundgangs durch die Ausstellung wird der Besucher abwechselnd von einer eher befremd­­lichen, musikuntermalten Computeranima­­tion des Lagers sowie einem Zeitzeugeninterview Willenbergs begleitet. Auch 15 Skulpturen, die er nach sei­ ner Pensionierung aus dem israe­­lischen Staatsdienst anfertigte – Produkte seines späten künstlerischen Schaffens –, werden über einen Fernseher eingeblendet. Willenbergs Wahrnehmung und Perspektive des Erlebten spiegeln sich somit in vielfältigen Darstellungsformen von Bild, Wort, Schrift und Kunst wider, die auf ihre jeweils eigene Art Zeugnis von Treblinka ablegen. Willenbergs Buch ist von besonderer Bedeutung, da es von zwei sehr starken und widersprüch­­lichen Akzenten geprägt wird: einerseits der Erfahrung der Shoah in Polen und andererseits der Erfahrung des polnischen Antisemitismus. Gerade letztere stellt in Willenbergs Ausführungen ein einschneidendes und prägendes Erlebnis persön­­licher Enttäuschung dar, da er sich zeitlebens sehr stark mit Polen identifiziert hat und nach der Flucht aus Treblinka als Widerstandskämpfer auf Seiten der Armia Krajowa (Polnischen Heimatarmee) am Warschauer Aufstand beteiligt war. Unmittelbar nach dem Krieg wurde er dafür ausgezeichnet und in den Rang eines Leutnants erhoben. Er ließ sich 1946 jedoch demobilisieren, da antisemitische Überfälle, Pogrome und Anschläge in Polen zum Tod von mehreren hundert Holocaust-­­Überlebenden geführt hatten. Er setzte sich fortan intensiv für den Schutz der Juden in Polen ein, organisierte Selbstverteidigungskurse für jüdische Gemeinden, entwarf Pläne zur Sicherung jüdischer Einrichtungen und war Fluchthelfer für eine Gruppe, die nach Palästina auswandern wollte. Im Zuge seiner eigenen Emigra­­tion nach Israel 1950 wurde er ausgebürgert und erhielt die polnische Staatsbürgerschaft erst nach dem Zusammenbruch des sozia­listischen 61 Zunächst erschienen seine Aufzeichnungen über den Aufstand von Treblinka 1986 in hebräi­ scher Sprache, 1991 wurden diese unter dem Titel Bunt w Treblince ins Polnische übertragen, der ein Jahr ­später die eng­­lische Übersetzung folgte: Revolt in Treblinka. Erst 2009 erschien die deutsche Übersetzung im Verlag »Unrast« unter dem Titel: Treblinka. Lager, Revolte, Flucht, Warschauer Aufstand.

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Abb. 2  Samuel Willenberg während der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Aufstands in Treblinka

Systems in Polen zurück.62 Berücksichtigt man die tiefe persön­­liche Enttäuschung Willenbergs, so mutet ein Foto, das 2013 anläss­­lich des 70. Jahrestags der Revolte in Treblinka von ihm gemacht wurde (Abb. 2), fast paradox an. Es zeigt ihn wäh­ rend der Gedenkveranstaltung in einem dunkelblauen Anzug, an dessen Revers zahlreiche überwiegend militärische Ehrenzeichen des polnischen Staates pran­ gen, jedoch kein erkennbares ­­Zeichen seiner jüdischen Identität. Der Orden des Weißen Adlers ist darauf ebenso zu erkennen wie das Verdienstkreuz der Repub­ lik Polen. Noch eindrück­­licher ist jedoch die Stecknadel der Kotwica 63 sowie die 62 Vgl. Samuel Willenberg: Treblinka. Lager, Revolte, Flucht, Warschauer Aufstand. ­Hamburg/ Münster 2009, S. 231 ff. 63 Die Kotwica stellt die Buchstaben P und W dar und steht als Abkürzung für Polska Walcząca (»Kämpfendes Polen«). Sie wurde 1942 von einer Sabotageeinheit im Warschauer Stadtteil Wawer entworfen und hatte ursprüng­­lich die Bedeutung Pomścimy Wawer (»Wir werden uns für Wawer rächen.«). Gemeint war hiermit das Massaker von Wawer, einer der ersten

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rot-­­weiße Armbinde, w ­ elche die zentralen Symbole der polnischen Widerstands­ bewegung während des Zweiten Weltkriegs, insbesondere der Armia Krajowa und des Warschauer Aufstands, waren. Es hat den Anschein, als sei Willenberg bis heute eine zentrale Symbolfigur, die sowohl den polnisch-­­na­­tionalen wie auch den »jüdischen Widerstand« repräsentiert, und als würde seine Präsenz von beiden Seiten als versöhnendes Element geschätzt. Als Reinkarna­­tion des Widerstands und Leids von Juden sowie Polen gleichermaßen repräsentiert er in gewisser Weise jenes Gedenkkonzept, das in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Erinnerung beider Gruppen miteinander versöhnen wollte und anscheinend in der jüngeren Vergangenheit revitalisiert wurde.64 Zeit seines Lebens hat Samuel Willenberg immer wieder gegen das Vergessen angekämpft und sich nachhaltig für die Erinnerung an Treblinka eingesetzt. Das Tragen polnischer Ehrenzeichen während einer Veranstaltung, die der in Treblinka ermordeten jüdischen Menschen gedenkt und zugleich die jüdischen Widerstandskämpfer des Lageraufstands ehrt, ist somit auch der eindring­­liche Ausdruck einer Würde, die trotz der Erfahrung des polnischen Antisemitismus und einer damit verbundenen persön­­lichen Ent­ täuschung nie einen Zweifel hegte, dass Willenberg das Recht hat, ein integraler Bestandteil der polnischen Gesellschaft zu sein. Sinnbild­­lich für eine persön­­liche Differenzierung der Erinnerung steht in ­­diesem Zusammenhang auch Willenbergs Einsatz für ein Denkmal, das jene nichtjüdischen Polen ehrt, die sich während der Besatzungszeit für die Rettung ihrer jüdischen Mitbürger einsetzten, und auf eine Initiative Zygmunt Rolats, des Hauptsponsors und Initiators des Warschauer Museums der Geschichte der polnischen Juden, zurückgeht.65 Willenbergs Darstellung des Aufstands umfasst 215 Seiten und ist in kurze und prägnante Kapitel, die sich insbesondere an bestimmten Ereignissen und Personen orientieren, untergliedert. Anders als bei Thomas Toivi Blatt ist seine Schilderung von Leid, Widerstand und Tätern sehr viel drastischer. Erläuterun­ gen, die Einblicke in seine persön­­liche Sozia­lisa­­tion vor dem Krieg geben, werden Massenmorde der deutschen Besatzungstruppen an der polnischen Zivilbevölkerung im gleich­ namigen Warschauer Stadtteil. Vgl. Włodzimierz Borodziej: Der polnische Widerstand 1939 – 1944/45. In: Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Besatzung. Leverkusen 2014; Bogdan Musial: Die Vierte Teilung Polens. In: Manuel Becker/Holger Löttel/Christoph Studt (Hrsg.): Der militärische Widerstand gegen Hitler im Lichte neuer Kontroversen (= Schrif­ tenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e. V., 12). Berlin 2010. 64 Vgl. Wóycicka: Arrested Mourning (wie Anm. 22), S. 9 – 15. 65 Vgl. Filip Mazurczak: Do Poland’s Righteous Gentiles Deserve a Monument? The Polish Intelligentsia Think Not. In: Visegrad/Insight, URL: http://visegradinsight.eu/polandsr­­ ighteous-­­gentiles-­­deserve-­­a-­­monument22092014/, letzter Zugriff: 07. 08. 2015.

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weitestgehend ausgespart. Stattdessen fokussiert sich sein Bericht von Anfang an auf die Erfahrung und Wahrnehmung von Deporta­­tion, Lager, Flucht und Widerstand. Die Radikalität der Sprache äußert sich dabei insbesondere in den Darstellungen der SS sowie der Lagerwachen, wobei er Erstere als »Bestien« bezeichnet, die nur zum Schein Menschen gewesen s­ eien.66 Noch deut­­licher als seine Abscheu gegenüber den Deutschen – über deren »paradox-­­grausames« Wesen er wiederholt reflektiert 67 – fällt jedoch sein Urteil über die Trawniki aus: »Blasse, ausdruckslose Augen, spär­­lich blonder Flaum auf hervorstehenden Wan­ genknochen, flache Stirn: aus jedem Teil des brutalen Gesichts sprach Hass. Ihre Physiognomie lebte nur in wildem Gebrüll auf.« 68 Das Jüdischsein der Opfer erwähnt er vor allem in den größeren Zusammen­ hängen des Verrats der polnischen Widerstandsbewegung sowie in den zynischen Reak­­tionen und der sichtbaren Indifferenz vieler nichtjüdischer polnischer Lands­ leute gegenüber der antisemitischen Gewalt.69 Dennoch ist bemerkenswert, wie verbunden er sich ihnen im gemeinsamen Kampf gegen die deutschen Besatzer fühlt, obwohl er selbst während des Warschauer Aufstands von seinen Kameraden in der Polnischen Heimatarmee, die seine Ermordung planten, verraten wurde. Diese Enttäuschung hielt ihn jedoch nicht vom Widerstand ab, sondern veran­ lasste ihn dazu, die Lager zu wechseln, wobei er fortan für den kommunistischen Untergrund innerhalb der Polnischen Volksarmee (Ludowe Wojsko Polskie) aktiv war.70 Es ist auffällig, dass die Darstellung des Warschauer Aufstands und hierbei vor allem die persön­­lichen Aktivitäten Willenbergs im Kontext des Widerstands wesent­­lich ausführ­­licher ausfällt als jene der Revolte in Treblinka, als könne in seiner Perspektive die erfolgreiche Flucht nur im Zusammenhang mit dem na­­tio­ nalen Widerstand eine nachhaltige Sinnstiftung erfahren.71 66 Vgl. Willenberg: Treblinka (wie Anm. 62), S. 106; Rajchman: Treblinka (wie Anm. 55). – In Chil Rajchmans Text werden nur wenige Namen genannt. Der SS-Mann ist der »Mörder« oder »Verbrecher«. Jener Mann namens Herbert Floß, der dafür zuständig war, die Verbren­ nung von hundertausenden Leichen zu organisieren und dessen Identität den Gefangenen verborgen blieb, wurde von ihm als »der Artist« bezeichnet. 67 Vgl. Willenberg: Treblinka (wie Anm. 62), S. 106, 119. 68 Vgl. ebd., S. 29. 69 Vgl. ebd., S. 99, 192 – 202. 70 Vgl. ebd., S. 194 f. 71 Zofia Wóycicka beschreibt d­ ieses Phänomen exemplarisch anhand eines Essays von Rachel Auerbach aus dem Jahr 1947. Darin schildert sie die Geschichte eines Treblinka-­­Überlebenden, dessen Fluchtmotiv fundamental von dem Bestreben geleitet worden sei, sich am Warschauer Aufstand zu beteiligen. In diesem ­­ Zusammenhang führt Auerbach aus, scheint es, als sei er aus Treblinka zurückgekehrt, um die Art seines Todes zu ändern und in Würde zu ster­ ben. Auerbach kontrastiert in ­­diesem Zusammenhang den vermeint­­lich würdelosen Tod

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Das Unverständnis und die Enttäuschung über einige seiner nichtjüdischen Landsleute stehen seinem Selbstverständnis, auch als jüdischer Mensch integra­ ler Bestandteil ihrer Na­­tion und Kultur zu sein, diametral entgegen. Auffällig ist jedoch, wie stark er in diesem ­­ Kontext alle vermeint­­lich jüdischen Kennzei­ chen, die vor allem durch Sprache und Aussehen determiniert worden s­ eien, von sich selbst abgrenzt. Nicht nur einmal erwähnt er seine blonden Haare sowie blauen Augen, sein »arisches« Aussehen, das ihm nicht selten zum Vorteil gereicht habe, und eignet sich damit in gewisser Weise den stereotypen Blick­ winkel der Täter an.72 Willenberg selbst sprach nur gebrochen Jiddisch und war scheinbar in einem weniger religiösen Umfeld sozia­lisiert worden. Auch im Kontext des Widerstands in Treblinka und Warschau spielen diese vermeint­­lich jüdischen Merkmale immer wieder eine Rolle.73 Die Sprache seiner Äußerungen über die Opfer in Treblinka und jene des Warschauer Ghettoaufstands zeugt davon, dass seine Wahrnehmung sehr stark von der bipolaren Prägung der zwei Opfernarrative des jüdisch-­­israe­­ lischen Erinnerungsdiskurses geprägt werden: Feuersäulen verzehrten die Körper der Märtyrer. […] Wir stellten uns diesen kompromisslosen und unerbitt­­lichen Kampf vor. Mit den Herzen waren wir bei den Aufständischen und sorgten uns um das Schicksal der Helden des Warschauer Ghettos. Der jüdische Aufstand wärmte uns, gab unseren Adern neue Kraft und neue Entscheidungen.74

Seine eigene jüdische Identität scheint in dieser Hinsicht vor allem von der Erfah­ rung des gemeinsamen Leids im Kontext der Shoah, der Würdigung seiner jüdi­ schen Leidensgenossen, die in Treblinka ermordet wurden, sowie der Ehrung sowohl des polnischen als auch des jüdischen Widerstands determiniert zu sein, nicht jedoch durch Glaube und Tradi­­tion. Erst die Erfahrung von Verrat und Ablehnung durch nichtjüdische Polen führten ihm seine eigene jüdische Iden­ tität drastisch vor Augen und verstärkten ein Bewusstsein, das er zuvor niemals in dieser Weise erfahren hatte: ein Gefühl der Isola­­tion und des Fremdseins im eigenen Land. Seine Defini­­tion des »jüdischen Widerstands« wird durch das folgende Zitat prägnant auf den Punkt gebracht: der wehrlosen Opfer in den Tötungslagern mit jenem vermeint­­lich heldenhaften Tod der Kämpfer des Warschauer Aufstands. Vgl. Wóycicka: Arrested Mourning (wie Anm. 22), S. 110. 72 Vgl. Willenberg: Treblinka (wie Anm. 62), S. 182, 197. 73 Vgl. ebd., S. 83, 182, 197, 201. 74 Vgl. ebd., S. 130.

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Widerstand war ein Wort, das im Lager nicht benutzt wurde. Es war überflüssig darüber zu sprechen, denn hier war jeder Häftling ein »großer Widerstandskämpfer«. Schon der Besitz eines Stückchens Wurst war Widerstand.75

Wie Thomas Toivi Blatt und auch viele weitere jüdische Autoren und Historiker vertritt er damit einen sehr weiten Widerstandsbegriff, der grundsätz­­lich alle Handlungen, die den Willen, den Einfluss und die Macht der Täter unterminier­ ten, als Akte des Widerstands klassifiziert. Folgt man der Darstellung ­Willenbergs, so waren seine Gedanken, ähn­­lich wie dies der Bericht Pečërskijs sechzig Jahre früher zum Ausdruck bringt, von Beginn an durch Widerstand, Flucht und mög­­liche Rache geprägt. Besonders in Willenbergs zuweilen pathetischen Spra­ che, die auch Pečërskijs Bericht im Kontext des Widerstands prägt, wird dieser Aspekt sichtbar. Sie unterscheidet sich dabei elementar von der sehr nüchtern­­analytischen und klaren Ausdrucksweise Blatts. Willenbergs Stil erscheint im Vergleich dazu fast poetisch: Die wundervolle Welt lachte uns an. Die Natur leuchtete in den herr­­lichsten Farben. Die Sonne kokettierte mit uns, ihre goldene Scheibe bewegte sich langsam über das wolkenlose und sau­ bere Himmelblau. Ihr Widerschein spiegelte uns den ganzen Alptraum unseres Leidens. […] Nichts kündigte eine Veränderung an. Diese scheinbare Ruhe schläferte die Wachsamkeit unserer Feinde ein. Wir waren voller Hass und sannen auf Rache.76

Schlussbetrachtung Allein die drei Quellen der Zeitzeugen haben verdeut­­licht, wie unterschied­­lich die Bedeutung des Widerstands im Kontext der Shoah von den betroffenen Menschen wahrgenommen wurde. Während er sich in den Zeugnissen Samuel Willenbergs und Aleksandr Pečërskijs von Beginn an als bestimmendes Element ihrer Gedankenwelt durchsetzt, reiht er sich in den Memoiren Thomas Toivi Blatts als ein wichtiger Aspekt von vielen in den Kontext seiner Lebens­geschichte ein. Insofern ist der Kommentar Arno Lustigers, Blatts Werk widerlege die Behauptungen Hilbergs, Arendts und Bettelheims sowie anderer Kritiker des jüdischen Widerstands,77 verfehlt, weil er in keiner Weise den weiten Bedeu­ tungszusammenhängen des Buches gerecht wird. Sicher war die Erfahrung des 75 Ebd., S. 84. 76 Ebd., S. 143. 77 Vgl. Blatt: Nur die Schatten bleiben (wie Anm. 31), S. 2.

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Widerstands für all jene Menschen, die ihn in Sobibór oder Treblinka erlebten bzw. in irgendeiner Weise an diesen beteiligt waren, von fundamentaler Bedeu­ tung. Ebenso fundamental war jedoch die Erfahrung von Angst, Ungewiss­ heit, Täuschung und Tod, die Widerstand scheinbar unmög­­lich machte. Die Geschichte des »jüdischen Widerstands« in den »Vernichtungslagern« ist nicht allein die Geschichte derer, die sich daran beteiligten, sondern auch jener Millionen jüdischer Menschen, die durch das na­­tionalsozia­listische Besatzungs­ regime in Polen ermordet wurden. Die drei Quellen zeigen, dass es Menschen aus unterschied­­lichen Ländern und Regionen waren, geprägt von diversen Kulturen und Sprachen sowie einer sehr individuellen Auffassung vom Stellenwert des jüdischen Glaubens innerhalb ihrer Lebenswirk­­lichkeit. Vereint waren sie nur als von den Na­­tionalsozia­listen stigmatisierte Menschen sowie in den persön­­ lichen Banden und Beziehungen, die sich vor ­­diesem Hintergrund entwickelten. Die Geschichte der Shoah und mit ihr des »jüdischen Widerstands« als eine Art Mikrokosmos darf nicht losgelöst von den individuellen Schicksalen und dem Leben der Menschen betrachtet werden, die den Ereignissen ihre jeweils eigene Bedeutung geben.

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Zwischen Pilgerfahrt und Bildungsreise – Israe­lisches Gedenken an den ehemaligen na­tionalsozia­listischen Tötungsorten der Shoah Das Erscheinungsbild israe­­lischer Jugendgruppen an den ehemaligen na­­tional­ sozia­listischen Tötungsorten  1 im heutigen Polen kann auf außenstehende Besu­ cher mitunter verstörend wirken: Viele Jugend­­liche tragen weiße T-Shirts, auf denen die Silhouette des Lagertors von Auschwitz-­­Birkenau aufgedruckt ist, und haben häufig die israe­­lische Na­­tionalflagge über den Rücken gebunden (Abb. 1). Sie finden sich in Gruppen zusammen, singen die israe­­lische Na­­tionalhymne Hatikva und werden von zwei bis drei bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht. Dieses Auftreten wirkt an den Orten na­­tionalsozia­listischer Gewaltherrschaft befremd­­lich, da gerade hier na­­tionale Symboliken und Waffenpräsenz deplatziert erscheinen. Es ist anzunehmen, dass diese Irrita­­tion in der Wahrnehmung der israe­­lischen Gruppen aus dem dezidiert deutschen Umgang mit der Geschichte der Shoah entsteht, welcher das analytische Verstehen als den erkenntnisfördern­ den Zugang zur »historischen Wahrheit« 2 ansieht und jeg­­licher vorrangig emo­­ tionalen Aneignung von Wissen über die Shoah tendenziell mit Skepsis begegnet. Dieser Artikel untersucht die spezifisch israe­­lischen Gedenkformen an den ehemaligen Tötungsorten mittels des begriff­­lichen Gegensatzpaares »Pilger­ fahrt und Bildungsreise« und will sie damit diskussionsfähig machen. Die bei­ den Begriffe beschreiben auf der einen Seite einen rituell-­­religiösen Zugang, der sein wissenschaft­­liches Äquivalent in den Bezeichnungen civilian religion,3 civil

1 Da der Begriff »Vernichtungslager« die Umstände des Tötens in vielen Fällen nicht adäquat wie­ dergibt, eignet er sich nicht als Sammelbegriff für die Orte der Shoah. Nachfolgend wird deshalb auf dessen Verwendung verzichtet und stattdessen der aus Sicht der Autoren treffendere Terminus des »Tötungsortes« verwendet. Vgl. auch den Beitrag von Raphael Utz zur Tätersprache in ­­diesem Band. 2 »Historische Wahrheit« hier nach Nipperdey als »regulierende Idee« im Streben nach Objek­ tivität verstanden und nicht als Mög­­lichkeit, die Vergangenheit objektiv erfassen zu können: »[…] die Objektivität der Erkenntnis der Vergangenheit bleibt für den Historiker die regulative, seine Tätigkeit leitende und regulierende Idee.« Thomas Nipperdey: Gesellschaft, Kultur, ­Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (= Kritische Studien zur Geschichts­ wissenschaft, 18). Göttingen 1976, S. 24. 3 Rochelle G. Saidel: The Role of the Holocaust in the Political Culture of Israel. In: Yehuda Bauer u. a. (Hrsg.): Remembering for the Future. Working Papers and Addenda,

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Abb. 1  Junge Israelis beim 18. »Marsch der Lebenden« zur Erinnerung an die Opfer der Shoah

religious pilgrimage 4 bzw. civil religion 5 findet. Hierbei wird die ritualisierte Erin­ nerung an die Shoah in Israel als eine gesellschaft­­liche Ersatzreligion begriffen, die nicht zuletzt deshalb problematisch ist, da nur noch circa zwanzig Prozent der israe­­lischen Jugend­­lichen eine familiäre Verbindung zur Shoah besitzen.6 Die Ana­ lyse der Jugendreisen als »Pilgerfahrt« beinhaltet genuin religiöse Aspekte, wobei Bd. 2. Oxford 1989, S. 1379 – 1392, hier S. 1379. 4 Jackie Feldman: Na­­tional Identity and Ritual Construc­­tion of Israeli Youth Pilgrimages to Poland. In: Neue Sammlung 40 (2000) 4, S. 499 – 517, hier S. 502; Erik H. Cohen: Identity and Pedagogy. Shoah Educa­­tion in Israeli State Schools. Boston 2013, S. 193. 5 Soen und Davidovitch zufolge wurde dieser Begriff erstmals im Jahr 2001 von Jackie Feldman benutzt. Vgl. Dan Soen/Nitza Davidovitch: Israeli Youth Pilgrimages. Ra­­tionale and Polemics. In: Images 9 (2011) 17 – 18, S. 5 – 27, hier S. 18. 6 Laut Konrad haben nur noch knapp zwanzig Prozent der israe­­lischen Jugend­­lichen eine fami­ liäre Verbindung zur Shoah. Vgl. Franz-­­Michael Konrad: Die Shoah als pädago­­gische

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insbesondere jüdische Erinnerungsformen und das jüdische Geschichtsverständ­ nis in den Blick genommen werden. Der Gegenpol zu ­­diesem zivilreligiösen The­ menkomplex ist auf der anderen Seite der historisch-­­wissenschaft­­liche Zugang, welcher im Begriff der »Bildungsreise« gefasst wird. Hierbei soll gefragt werden, welches historische Wissen den Jugend­­lichen auf w ­ elche Weise vermittelt und wie es von diesen verarbeitet wird. Gleichwohl sollen und müssen die Jugendreisen kritisch betrachtet werden. Denn seit 1988 vom israe­­lischen Bildungsministerium unterstützt und mitfinan­ ziert, verfolgen sie auch politische Ziele. Dabei fügen sie sich in eine seit den 1970er Jahren intensivierte Erinnerungsarbeit ein, ­welche die Opfer der Shoah – anders als zuvor – positiv in den Gründungsmythos Israels einbindet. Bis in die beginnenden 1960er Jahre hinein herrschte in der israe­­lischen Gesellschaft die Auffassung vor, dass sich die von den Na­­tionalsozia­listen umgebrachten Juden »wie die Lämmer zur Schlachtbank« 7 in die Erstickungsräume 8 hätten führen lassen. Dieses Bild konnte jedoch unmög­­lich als starkes Identifika­­tionsangebot für die erste Jugendgenera­­tion des sich im Aufbau befind­­lichen Staates Israel dienen. Viele Überlebende der Shoah schwiegen, da ihre Erfahrungen nicht in die israe­­lische Gründungseuphorie zu passen schienen. Das dominierende Bild des »Neuen Juden« (hebr.: Sabra), inspiriert von den kommunistischen Staatsmännern des jungen Staates, bediente ähn­­lich wie in den kommunisti­ schen Staaten die Stereotype des jungen, gesunden und tatkräftigen Erwachse­ nen, der bereit ist, seine Landsleute bis zum bitteren Ende zu verteidigen.9 Die Erinnerung der Diaspora-­­Juden an Vertreibung und Diskriminierung sowie die Opfergeschichten der Überlebenden hatten in dieser Erzählung keinen Platz. Im Gegenteil, die überlebenden euro­päischen Juden wurden als das Gegenläu­ fige definiert: Als »kranker Mann aus Polen«, alt, feige, manipulativ, körper­­ lich und geistig schwach wurde »der euro­päische Jude« entweder als extrem materialistisch oder als exzessiv-­­religiös typisiert. So wurden diskriminierende, zum Teil sogar antisemitische Stereotype gegenüber den euro­päischen Juden in Israel wirkmächtig.10 Herausforderung in Deutschland und Israel. In: Neue Sammlung 40 (2000) 4, S. 479 – 498, hier S. 493. 7 Vgl. ebd., S. 484. 8 Da es sich bei dem Begriff »Gaskammer« um einen euphemistischen Terminus der na­­tionalsozia­ listischen Tätersprache handelt, findet nachfolgend die von den Autoren als treffend angese­ hene Bezeichnung »Erstickungsräume« Anwendung. 9 Vgl. Yael Zerubavel: The »Mythological Sabra« and the Jewish Past. Trauma, Memory, and Contested Identities. In: Israel Studies 7 (2002) 2, S. 115 – 144, hier S. 116. 10 Ebd., S. 116.

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Das änderte sich mit dem Eichmann-­­Prozess im Jahr 1961, der die perfiden Mechanismen der na­­tionalsozia­listischen Tötungslager detailliert und interna­­ tional bekannt machte. In der Sicht auf die ermordeten Menschen kam es zudem nach dem für Israel siegreichen Sechs-­­Tage-­­Krieg (1967) zu einem grundlegen­ den Wandel: Die bisher als »Opfer« Bezeichneten wurden nun zu »heldenhaft Gestorbenen« und die Tötungsorte der Shoah zu Gründungsorten des Staates Israel umgedeutet. Die Shoah und ihre Opfer wurden von einigen gesellschaft­­ lichen Gruppen religiös aufgeladen.11 Der verlustreiche Jom-­­Kippur-­­Krieg (1973) erschütterte das Bild von der militärischen Unbesiegbarkeit Israels nachhaltig und veränderte das Nachdenken über »Opfer« in der israe­­lischen Gesellschaft tiefgreifend.12 Die Geschichten der Überlebenden wurden infolgedessen end­ gültig in die staat­­liche Erinnerung an die Shoah und damit in die Gründungs­ geschichte des Staates Israel aufgenommen. Die Initiierung von Jugendreisen an die Tötungsorte der Shoah als »zivile Pilgerorte« resultierte aus der Aufnahme der Shoah in den israe­­lischen Erinnerungskanon. Dieser Artikel gibt eine kritische Einführung in die vom Bildungsministerium durchgeführten bzw. unterstützten Reisen staat­­licher Schulen, da sie das Bild der Orte heute entscheidend prägen und als kognitive sowie emo­­tionale Herausfor­ derung von immer mehr Jugend­­lichen unternommen werden.13 Reisen an die ehemaligen Tötungsorte der Shoah werden nicht nur von staat­­lichen Schulen, sondern auch von der israe­­lischen Armee, Jugendbewegungen und religiösen Gruppen durchgeführt – die nicht Teil dieser Betrachtung sind. Sie fügen sich ein in den Kontext der israe­­lischen Bildung zur Shoah (Holocaust Educa­­tion), die von staat­­lichen und staat­­lich unterstützten Organisa­­tionen wie etwa Gedenkstätten durchgeführt wird. Der vorliegende Beitrag gewährt dem deutschen Leser erstmals Einblicke in die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Reisen israe­­lischer Jugend­­ licher an die ehemaligen na­­tionalsozia­listischen Tötungsorte der Shoah im heu­ tigen Polen. Bis auf zwei deutschsprachige Aufsätze 14 besteht die Literatur zum Thema ausschließ­­lich aus eng­­lischen und hebräischen Studien. Die vorliegende 11 Ebd., S. 36 f. 12 Vgl. Jackie Feldman: Above the Death Pits, Beneath the Flag. Youth Voyages to Poland and the Performance of Israeli Na­­tional Identity. New York/Oxford 2010, S. 38. 13 Bis Ende 2008 besuchten mehr als 300.000 israe­­lische Jugend­­liche im Rahmen der Holocaust Educa­­tion die Tötungsorte in Polen. Vgl. Soen/Davidovitch: Israeli Youth Pilgrimages (wie Anm. 5), S. 5. 14 Vgl. Konrad: Die Shoah als pädago­­gische Herausforderung (wie Anm. 6); Jackie F ­ eldman: Israel als Enklave. Inszenierungen jüdisch-­­israe­­lischer Identität in Polen. In: Margrit ­Frö­­lich u. a. (Hrsg.): Repräsenta­­tionen des Holocaust im Gedächtnis der Genera­­tionen.

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Untersuchung betrachtet das Konzept der Reisen in seinem gesellschaftspolitischen Entstehungsprozess, die Ziele des Bildungsministeriums sowie deren Realisierung und die psycholo­­gischen Wirkungen auf die Jugend­­lichen. Darüber hinaus sol­ len religiöse und staatspolitische Zusammenhänge sowie Debatten innerhalb der israe­­lischen Gesellschaft beleuchtet werden. Die Autoren wollen damit nicht nur einen einführenden Beitrag zu den Mechanismen der israe­­lischen Gruppenreisen geben, sondern darüber hinaus dezidiert zu einem Verständnis für andere Formen der Erinnerung beitragen.

Der Besuch von Orten des jüdischen Lebens und Sterbens als Gruppenerlebnis – Organisa­tion und Durchführung der Reisen Die Polenreisen der israe­­lischen Jugend­­lichen, die staat­­liche Schulen besuchen, werden entweder direkt vom israe­­lischen Bildungsministerium organisiert oder von einzelnen Schulen, die von einem Gremium des Ministeriums beraten wer­ den.15 Entsprechend des pädago­­gischen Konzepts des Ministeriums lassen sich die Reisen in drei Abschnitte unterteilen: die inhalt­­liche und organisatorische Vorbereitung, den Aufenthalt in Polen und dessen Nachbereitung nach der Rück­ kehr nach Israel.16 Der folgende Abschnitt nimmt eine detaillierte Analyse des Ablaufs und des sich daraus ergebenden Charakters der Reisen vor. Für die von den Schulen organisierten und durchgeführten Reisen empfiehlt das Bildungsministerium eine fünfmonatige Vorbereitung der teilnehmenden Schüler. Dabei sollen nicht nur finanzielle und administrative Fragen geklärt werden, sondern auch eine vierzig Stunden umfassende inhalt­­liche Vorbereitung erfolgen, die sich der Shoah und dem jüdischen Leben in Polen vor dem Zwei­ ten Weltkrieg über Selbststudium und Diskussionen annähert. Diese Vorgaben werden in der Praxis jedoch sehr unterschied­­lich umgesetzt. Während die Teil­ nehmer an einigen Schulen bereits über den Zeitraum von einem Jahr zu regel­ mäßigen Konsulta­­tionen zusammenkommen, werden andernorts nur wenige Treffen kurz vor Beginn der Reise abgehalten. Diese Diskrepanz hat zur Folge,

Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland (= Arnoldshainer Inter­ kulturelle Diskurse, 4). Frankfurt a. M. 2004, S. 172 – 202. 15 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 196. 16 Vgl. Dan Soen/Nitza Davidovitch: Israeli Youth Pilgrimages to Poland. Ra­­tionale and Polemics. In: dies. (Hrsg.): The Holocaust Ethos in the 21th Century. Dilemmas and C ­ hallenges. Krakau u. a. 2012, S. 234 – 265, hier S. 247.

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dass viele Teilnehmer fach­­lich und emo­­tional nur unzureichend auf die Reise vorbereitet sind, ein Viertel von ihnen sogar ohne jeg­­liche inhalt­­liche Vorberei­ tung nach Polen fliegt.17 Der Aufenthalt in Polen erstreckt sich über einen Zeitraum von sieben bis zehn Tagen. Die Schüler reisen in Delega­­tionen, die in den meisten Fällen 120 bis 150 Jugend­­liche umfassen und sich aus mehreren kleinen Gruppen zusammen­ setzen. Teil der Gruppe sind neben den Schülern ein Delega­­tionsleiter, mehrere israe­­lische Reiseführer und Lehrer sowie in der Regel ein Überlebender der Shoah. Während die Reiseführer, unterstützt von den mitreisenden Lehrern und Überle­ benden, für die inhalt­­liche Gestaltung des Aufenthalts zuständig sind, übernimmt der Delega­­tionsleiter ausschließ­­lich organisatorische Aufgaben und achtet auf die Einhaltung des Zeitplans. Ergänzt werden die Delega­­tionen von zwei medizini­ schen Fachkräften sowie von zwei bis drei Sicherheitsleuten. Während Erstere für die phy­­sische und psycholo­­gische Betreuung der Teilnehmer zuständig sind, halten Letztere vor und während der Reise Sicherheitsbelehrungen ab, kontrol­ lieren die Busse und Hotels vor dem Betreten durch die Gruppen und begleiten diese bei den Besuchen der einzelnen Orte.18 Die direkt vom Ministerium durchgeführten Reisen folgen meist einem sehr ähn­­lichen Ablaufplan,19 wohingegen sich die von den Schulen organisierten Rei­ sen durch größere Flexibilität auszeichnen. Unabhängig davon setzen sich beide aus den gleichen Elementen zusammen. Jede Schülergruppe besucht einen oder mehrere Tötungsorte, wobei in jedem Fall Auschwitz-­­Birkenau und oftmals auch Majdanek und Treblinka Teil der Route sind. Die Reisen beinhalten weiterhin den Besuch von mehreren ehemaligen Ghettos – allen voran des Warschauer G ­ hettos – sowie von ehemaligen Synagogen, Schtetl, Friedhöfen und Massengräbern von jüdischen Opfern der Shoah. Ergänzt wird das Programm durch verschiedene Freizeit- und Erholungsaktivitäten wie dem Besuch von Einkaufszentren. Diese Unternehmungen finden meist nachmittags statt und ermög­­lichen den Teilneh­ mern, sich von den in der ersten Tageshälfte stattfindenden anstrengenden Besu­ chen der verschiedenen Orte des jüdischen Lebens und Sterbens sowie den damit verbundenen langen Busfahrten zu erholen.20

17 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 196 f.; Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 75 f. 18 Vgl. Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 63 – 71. 19 Ein typischer Ablaufplan für die vom Ministerium durchgeführten Reisen ist zu finden in: ebd., S. 84 ff. 20 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 199; Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 76 f., 83 f.

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Der wichtigste Bestandteil der Reise, und deshalb von Jackie Feldman als »Gipfelerfahrung« 21 bezeichnet, ist der Besuch der Tötungsorte. Der Umstand, dass dem Besuch von Auschwitz-­­Birkenau oder Majdanek von den Schülern nach dem Ende der Reise weit mehr Bedeutung zugemessen wird als dem Besuch der Orte jüdischen Lebens in Polen oder der Stätten des jüdischen Widerstands, lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Der wichtigste Grund liegt wohl darin, dass die Gruppen an den Tötungsorten vergleichsweise die meiste Zeit verbringen, der Fokus von den Organisatoren also von vornherein auf diesen Bestandteil der Reise gelegt wird. Der Besuch der Lager wird von den Schülern auch deshalb als besonders wichtig empfunden, weil die jüdische Geschichte an den Tötungsorten anhand von Überresten oder Rekonstruk­­tionen für sie intensiver nachzuvollzie­ hen ist als an anderen Stätten, an denen kaum mehr Relikte des jüdischen Daseins sichtbar sind. Der dritte und letzte Grund kann schließ­­lich darin gesehen wer­ den, dass die mit den Lagern verbundenen Gräuel und menschlichen Abgründe auf einen Teil der Schüler eine morbide Faszina­­tion ausüben und der Besuch der Orte von ihnen deshalb als besonders aufwühlend empfunden wird.22 Im Gegensatz zu den meisten Gruppen aus anderen Ländern, deren Besuch der Orte sich in der Regel auf die Begehung des Geländes und der Ausstellungen beschränkt, praktizieren die israe­­lischen Schülerdelega­­tionen zusätz­­lich eigene Formen des Gedenkens. Der Fokus liegt dabei zum einen auf den Erzählungen der Zeitzeugen, die von ihren Erlebnissen während der Shoah berichten. Zum anderen werden an fast allen Orten in unterschied­­lichem Umfang Gruppenzere­ monien abgehalten, wobei Texte vorgetragen, Gebete für die Opfer gesprochen und die Na­­tionalhymne Hatikva gesungen wird.23 Welche Inten­­tion hinter dieser speziellen Form des Gedenkens und der damit verbundenen Aneignung des jewei­ ligen Ortes durch die Gruppen stehen, wird im nächsten Abschnitt diskutiert. Ein besonderes Charakteristikum der Reisen besteht darin, dass die Teilneh­ mer während ihres Aufenthalts in Polen zu fast keinem Zeitpunkt allein sind und nahezu alle Aktivitäten zusammen mit den Mitreisenden unternehmen. So werden nicht nur die Besuche der einzelnen Orte sowie die dort abgehaltenen Zeremonien in der Gruppe begangen, sondern in der Regel auch die zur Erho­ lung dienenden Unternehmungen und die wenige Freizeit.24 Dieser Umstand ist nicht nur dem dichten Programm der einzelnen Tage und den strengen Sicher­ heitsbestimmungen geschuldet, sondern vor allem auf die Konzep­­tion der Reise 21 Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 85 [hier in eigener Übersetzung, S. K.]. 22 Vgl. ebd., S. 83 f.; ders.: Na­­tional Identity (wie Anm. 4), S. 507. 23 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 199. 24 Vgl. ebd.

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als Gruppenerlebnis zurückzuführen. Indem die Schüler häufig mehr als zwölf Stunden pro Tag zusammen verbringen, einheit­­liche Kleidung tragen und Grup­ penzeremonien abhalten, soll das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Teilneh­ mern gestärkt und eine starke israe­­lische Gruppenidentität geschaffen werden.25 Dies zeigt sich etwa während des Besuches der Tötungsorte. Einzelne Schüler, die sich in emo­­tional aufwühlenden Momenten aus der Gruppe zurückziehen, werden von den begleitenden Lehrern oder Mitschülern in den Kreis der Rei­ senden zurückgebracht. Somit wird ein individuelles Gedenken unterbunden. Dieses aus westeuro­päischer Sicht befremd­­lich wirkende Vorgehen verdeut­­licht die Grundausrichtung der Reisen, bei denen es weniger um eine persön­­liche und selbstständige Reflexion des Gesehenen geht als vielmehr um die Stiftung einer na­­tionalen Gruppenidentität durch eine gemeinsame emo­­tionale Auseinander­ setzung mit der Shoah.26 Jackie Feldman zufolge habe die Organisa­­tion und Durchführung der Reise nicht allein die Schaffung einer starken israe­­lischen Identität zur Folge, son­ dern auch die Konstruk­­tion einer zweigeteilten Welt. Während die Schüler die von den Sicherheitsleuten geschützten Hotels und Busse als die »innere Welt« wahrnähmen und mit dem sicheren Heimatland Israel assoziierten, würden sie alle Orte außerhalb der Hotels und der Busse als »äußere Welt« identifizieren und mit der Vorstellung eines bedroh­­lichen Holocaust-­­Polens in Verbindung bringen. Eine wesent­­liche Ursache für diese Polarisierung sieht Feldman in den strengen Sicherheitsbestimmungen. Indem die Schüler vor und während der Reise mehrfach und mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass sowohl der Bus als auch das Hotel nur auf Anweisung des Sicherheitspersonals zu betreten und zu verlassen s­ eien und der Zeitplan unter allen Umständen eingehalten werden müsse, werde ihnen der Eindruck einer für Juden grundsätz­­lich gefähr­­lichen pol­ nischen Umgebung vermittelt.27 Ein weiterer Grund für die dichotome Wahrnehmung Polens ist laut Feldman in der grundsätz­­lich negativen Sicht israe­­lischer Schüler auf das Land zu sehen. So werde Polen in vielen Fällen nicht nur als rückständig und häss­­lich, sondern auch als antisemitisch wahrgenommen.28 Dass diese Ressentiments wirksam bleiben, führt Feldman zum einen darauf zurück, dass die mit Autorität ausge­ statteten Reiseführer und Zeitzeugen sich zuweilen polonophob äußern und

25 Vgl. Feldman: Na­­tional Identity (wie Anm. 4), S. 509. 26 Vgl. ebd., S. 510. 27 Vgl. ebd., S. 505 ff.; ders.: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 69 f. 28 Vgl. ders.: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 87 f.

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dadurch die Vorurteile der Schüler bestätigen.29 Die Ursache für die weitgehende Beibehaltung der negativen Sicht auf Polen sieht er zum anderen darin, dass die israe­­lischen Schüler während der Reise nur wenig Kontakt zur polnischen Kultur und Bevölkerung haben. Zwar ist ein Treffen mit polnischen Jugend­­lichen seit den 1990er Jahren in der Regel Teil der Reise, ­­diesem Programmpunkt werde im Vergleich zu den anderen Teilen der Reise aber nur wenig Bedeutung zuge­ messen, weshalb er nur geringen Einfluss auf die Wahrnehmung Polens durch die Schüler habe.30 Als Reak­­tion auf die sowohl von israe­­lischen Wissenschaftlern und Pädagogen als auch von polnischen Stellen formulierte Kritik an der organisa­­tionsbedingten Abschottung der Schülergruppen hat in den letzten Jahren ein Umdenken im israe­­lischen Bildungsministeriums stattgefunden. In der Folge sind Begegnun­ gen z­ wischen israe­­lischen und polnischen Schülern trotz logistischer und ideolo­­ gischer Herausforderungen 31 intensiviert und als Bestandteil der Reisen aufge­ wertet worden. Darüber hinaus hat das Ministerium beschlossen, die Teilnahme an polnischen Kulturveranstaltungen wie Konzerten oder Tanzabenden sowie den Besuch von wichtigen Orten der polnischen Geschichte und Kultur in den Plan der Reisen aufzunehmen. Ziel dieser Maßnahmen ist es, der eindimensio­ nalen Vorstellung von Polen als Schauplatz der Shoah das Bild eines modernen und lebensfrohen Landes entgegenzusetzen und auf diese Weise die unter den Schülern verbreiteten negativen Denkmuster aufzubrechen.32 Trotz dieser Maßnahmen scheint sich am Grundproblem des geringen Inte­ resses der Schüler an Polen bisher nur wenig geändert zu haben. Eine repräsen­ tative Befragung von Teilnehmern der Reisen zeigt, dass ledig­­lich etwas mehr als die Hälfte der Schüler die Treffen mit den polnischen Jugend­­lichen sowie die Teilnahme an dortigen Kulturveranstaltungen als wichtigen Bestandteil der Reise ansehen. Vor diesem ­­ Hintergrund scheint es zweifelhaft, ob eine signifi­ kante Veränderung der Sicht der israe­­lischen Jugend­­lichen auf Polen durch die 29 Vgl. ders.: »It Is My Brother Whom I Am Seeking.« Israeli Youths Pilgrimages to Poland of the Shoah. In: Jewish Ethnology and Folklore Review 17 (1995) 1 – 2, S. 33 – 37, hier S. 34. 30 Vgl. ders.: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 241 f. 31 In ihrer Präsenta­­tion zu polnisch-­­jüdischen Begegnungen verweist Magdalena Kuleta-­­Hulboj in ­­diesem Zusammenhang nicht nur auf den Zeitmangel und die Erschöpfung der israe­­lischen Schüler, sondern auch auf die bei vielen israe­­lischen Verantwort­­lichen unverändert nega­ tive Einstellung gegenüber Polen und den Treffen mit den polnischen Jugend­­lichen. Vgl. ­M agdalena Kuleta-­­Hulboj: Polish-­­Jewish Encounters. Präsenta­­tion, URL: http://www. iccj.org/redak­­tion/upload_pdf/201110052327530.Kuleta-­­Hulboj%20-%20workshop%205 %20-%20Focus%20on%20Youth%2004. 07. 2011.pdf, letzter Zugriff: 08. 09. 2015. 32 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 199 f.

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im Rahmen der Holocaust Educa­­tion durchgeführten Reisen genauso mög­­lich ist wie durch nichtstaat­­lich organisierte polnisch-­­israe­­lische Austauschprogramme.33 Von der Frage der Wahrnehmung Polens durch die Jugend­­lichen gänz­­lich los­ gelöst ist die Nachbereitung der Reise in Israel. Das Bildungsministerium sieht die Nachfolgeaktivitäten als integralen Bestandteil der Reise an und empfiehlt den Schulen die Abhaltung mehrerer Treffen, bei denen die Teilnehmer bei der Verar­ beitung der in Polen gemachten Erfahrungen unterstützt werden sollen. Wie groß der Bedarf an Unterstützung ist, verdeut­­licht eine Untersuchung, der zufolge insbe­ sondere die Zeit unmittelbar nach der Reise für die meisten Teilnehmer eine große emo­­tionale Herausforderung darstellt. Die Rückkehr in den Alltag gestaltet sich vor allem deshalb schwierig, da viele Schüler ein großes Bedürfnis verspüren, ihre Emo­­ tionen und Eindrücke mit anderen zu teilen, diese Versuche der Verbalisierung aber häufig scheitern und deshalb Frustra­­tion hervorrufen.34 Nach Aussagen der Schüler stellen deshalb sowohl die Gesprächsrunden in der Schule als auch die Unterstüt­ zung durch mitreisende Lehrer einen wichtigen Faktor für eine Verarbeitung dar.35 Die Nachbereitung der Reise beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Verar­ beitung der gemachten Erfahrungen, sondern beinhaltet auch deren aktive Wei­ tergabe. So wird von den Teilnehmern erwartet, das in Polen Erlebte in Form von Vorträgen mit jüngeren Schülern und nicht an der Reise beteiligten Klassenkame­ raden zu teilen und sich darüber hinaus an der Ausgestaltung der Feier­­lichkeiten zum israe­­lischen Holocaust-­­Gedenktag zu beteiligen. Auf diese Weise werden die Rückkehrer nicht nur zu einer schulinternen Informa­­tionsquelle über die Reise und die Shoah im Allgemeinen, sondern auch zu Repräsentanten des staat­­lich organisierten Shoah-­­Gedenkens.36

Zwischen universellen Werten und na­tionaler Identitätsstiftung – Zielstellung und Konzep­tion der Reisen Die Zielstellungen der Polenreisen wurden durch das Bildungsministerium erst­ mals im Jahr 1991 systematisch erfasst. Die in dem Konzept aufgeführten Ziele lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Die Ziele der ersten Kategorie legen den Fokus auf die emo­­tionale Auseinandersetzung mit der Shoah. Dabei sollen die Schüler die folgenden grundlegenden Aspekte der Thematik »fühlen und 33 Vgl. ebd., S. 199 f.; Kuleta-­­Hulboj: Polish-­­Jewish Encounters (wie Anm. 31). 34 Vgl. Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 230 f. 35 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 202. 36 Vgl. ebd., S. 200; Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 234 – 237.

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zu begreifen versuchen«:37 das Ausmaß der Vernichtung und des Verlustes der ermordeten Juden und der damit verbundenen Entwurzelung des euro­päischen Judentums, die mora­­lische Verdorbenheit und den entmenschlichten Charakter des Na­­tionalsozia­lismus, die Tragweite und Bedeutung des jüdischen Widerstands gegen den Na­­tionalsozia­lismus und schließ­­lich die Identifika­­tion mit der jüdi­ schen Geschichte, die Notwendigkeit der Existenz des souveränen Staates Israel und das Engagement jedes Einzelnen für den Fortbestand des jüdischen Daseins.38 Über ­dieses emo­­tionale Nachempfinden und Begreifen hinausgehend verfolgt das Konzept des Ministeriums auf der zweiten Ebene das Ziel, das kognitive Ver­ stehen der jüdischen Geschichte, der Shoah und der aus ihr zu ziehenden Lehren zu fördern. Dabei sollen die teilnehmenden Schüler nicht nur ihr Wissen über das spirituelle und kulturelle jüdische Leben vor dem Zweiten Weltkrieg erweitern, sondern auch ihre Sicht auf die jüdische Geschichte, das Verhalten der jüdischen Bevölkerung während der Shoah, die Beziehungen z­ wischen Juden und Nicht­ juden, die zionistischen Wertvorstellungen sowie humanistische und mora­­lische Werte kritisch hinterfragen.39 Zudem sollen die Jugend­­lichen zum Mitwirken an der Erneuerung, Konservierung und Säuberung von Orten und Überresten des jüdischen Lebens in Polen befähigt werden.40 Nachdem bereits in den ersten Jahren nach der Festlegung dieser Ziele Kritik an deren Ausrichtung aufgekommen war, wurden unter der Führung des damals neu eingesetzten Bildungsministers Amnon Rubinstein im Jahr 1994 mehrere Anpassungen vorgenommen. Zum einen ergänzte Rubinstein die oben genannten

37 Ministry of Educa­­tion.General Manager’s Directives, 1991, abgedr. in: Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 59. 38 Vgl. ebd., S. 59. – Der Originaltext lautet: »2. To feel and to try to comprehend the depth and breadth of the destruc­­tion and the loss of the murdered Jews and uprooted Judaism. 3. To feel and to try to comprehend the moral depravity and the deep level of dehumaniza­­tion attained by the Nazis who devised, planned, and committed the murder of the Jewish people in the ghettos, forests, and concentra­­tion and death camps. 4. To feel and to try to comprehend the full significance of the courageous stand and desperate struggle of the Jews who fought the enemy and his malevolent inten­­tions. 5. To feel and to try to comprehend the link of young Israelis to their community Jewish past, to deepen their identifica­­tion with the fate of the Jewish people, and increase their sense of personal commitment to the continuity of Jewish life and the sovereign existence of the State of Israel.« 39 Vgl. ebd. – Der Originaltext lautet: »1. To learn about the wealth of Jewish spiritual and cul­ tural life in Poland. […] 6. To bring about renewed investiga­­tion of terms, assump­­tions, and attitudes towards Jewish history, Jewish behavior during the Holocaust, the values of Zionism, the rela­­tions of Jews and non-­­Jews, and the values of morality and humanism.« 40 Vgl. ebd. – Der Originaltextlautet: »7. To enable the youth to act in practice to renew, conserve, and clean Jewish sites and remains scattered throughout Poland.«

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Punkte um das Ziel, die Schüler mit der komplexen Geschichte der polnisch­­israe­­lischen Beziehungen vertraut zu machen.41 Zum anderen veränderte er den Fokus in der Beschäftigung mit dem Na­­tionalsozia­lismus. Anstatt dessen zutiefst menschenverachtenden Charakter nachzuempfinden, sollen sich die Schüler im Rahmen der Reise mit der Geschichte des na­­tionalsozia­listischen Deutschland, der na­­tionalsozia­listischen Ideologie und totalitären Staatsführung auseinander­ setzen und daraus neben na­­tionalen Schlussfolgerungen auch universelle Lehren wie das Eintreten für Demokratie und gegen jede Form von Rassismus ziehen.42 Durch diese Änderungen wurden die Reisen zwar stärker auf das Erlernen von Fakten und das intellektuelle Verstehen von historischen Zusammenhängen ausgerichtet, ihr Schwerpunkt liegt aber dennoch auf der emo­­tionalen Ausein­ andersetzung mit der Thematik. Deut­­lich wird diese Gewichtung daran, dass die Hälfte der festgelegten Ziele das gefühlsmäßige Erleben und Begreifen der Shoah in den Blick nimmt.43 Zudem erfolgt die Vermittlung von Faktenwissen über die Shoah in erster Linie im Rahmen der Reisevorbereitung, während in Polen eine ausschließ­­lich emo­­tionale Auseinandersetzung mit den Orten stattfindet: Die Vorbereitung schafft eine wissensbasierte Grundlage vor der Reise, damit an den Orten, an denen das emo­­tionale Erleben schwierig ist, keine wissensbasierte Erklärung für die gesamte Gruppe nötig ist. Die Schüler sollen den Ort auf ihre eigene Weise erleben, ohne intellektu­ elle Interven­­tion.44

Die während der Reisen vermittelten Wertvorstellungen sind eine Mischung aus zionistischen, jüdischen und universellen Werten und damit charakteris­ tisch für die Holocaust Educa­­tion in Israel. Der Fokus der Reisen liegt klar auf 41 Vgl. Ministry of Educa­­tion. Revised General Manager’s Directives, 1994, abgedr. in: ebd., S. 60. – Der Originaltextlautet: »To learn and understand the complexity of Polish-­­Jewish rela­­tions throughout the common history of the two na­­tions, in both its positive and negative aspects, and to understand the history and heritage of the Jews of Poland also against the background of Polish history and culture.« 42 Vgl. ebd.– Der Originaltextlautet: »To learn the principles of Nazi ideology, to learn the principles and condi­­tions that lead to its rise and actualiza­­tion, to acts of cruelty and bestia­ lity unprecedented in human history. To understand the founda­­tion of a totalitarian regime in whose framework Nazi Germany declared a war of annihila­­tion against the Jewish people and murdered a third of our people, while also committing other crimes against humanity. To derive from this both the na­­tional lesson of the need for a strong, autonomous Jewish state, as well as the universal lesson of the obliga­­tion on to guard and protect democracy and to struggle against all forms of racism.« 43 Vgl. Ministry of Educa­­tion. General Manager’s Directives, 1991, abgedr. in: ebd., S. 59 f. 44 Ebd., S. 75 [hier in eigener Übersetzung, C. B.].

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den jüdischen und zionistischen Schlussfolgerungen aus der Shoah. Dabei wird durch die Organisa­­tion und Durchführung der Reisen zum einen versucht, die Verbindung der Schüler mit der jüdischen Geschichte sowie mit Opfern und Überlebenden der Shoah zu stärken. Dadurch sollen die Jugend­­lichen zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft ermutigt und auf diese Weise ihre Identität und ihr Bewusstsein als Juden gefestigt werden. Zum anderen sollen die Teilnehmer von der klas­­sisch zionistischen Idee eines wehrhaften und unabhängigen jüdischen Na­­tionalstaats als einzig sicherer Heimstätte der jüdischen Existenz überzeugt werden. Das Ziel besteht darin, die Verbunden­ heit der Jugend­­lichen mit Israel zu vertiefen und ihre Bereitschaft zu erhöhen, sich etwa durch den Dienst in der Armee an dessen Schutz zu beteiligen. Die starke Fokussierung auf jüdische und zionistische Werte hat zur Folge, dass der Vermittlung von universellen Lehren aus der Shoah, wie der Stärkung des demokratischen Bewusstseins bei den Jugend­­lichen, nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Zwar werden sie in der Konzep­­tion der Reisen nicht gänz­­ lich ausgeklammert, jedoch mit weit weniger Aufmerksamkeit bedacht als die na­­tio­nalen Sinnstiftungen.45 Letzt­­lich kann also festgehalten werden, dass die Reisen als vornehm­­lich emo­­ tionale Erfahrung konzipiert sind, die neben der Erlangung von Wissen über die Shoah in erster Linie die jüdische Identität der Teilnehmer und ihre Verbunden­ heit mit Israel stärken sollen.

Religiöse Zeremonien oder Staatsakt? Formen ritualisierten Gedenkens an den ehemaligen Tötungsorten der Shoah Wie gezeigt wurde, stehen das »Einfühlen« in die Shoah und ihre Opfer sowie die daraus resultierende persön­­liche Identifika­­tion mit den Ermordeten im Zentrum der Reisen. Rituale spielen hierbei eine wesent­­liche Rolle. Um deren Bedeutung an den Tötungsorten zu verstehen, ist ein Blick auf die Formen jüdischen Geden­ kens und die Tradi­­tionen jüdischen Erinnerns essentiell. Alle jüdischen Israelis sind in unterschied­­licher Weise von diesen geprägt, weil Rituale in staat­­lichen und religiösen Kontexten eine bedeutende Rolle spielen und zum israe­­lischen Alltag gehören. Zweifellos wandelte sich das jüdische Geschichtsbewusstsein 45 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 193, 203; Soen/Davidovitch: Israeli Youth Pilgrimages (wie Anm. 16), S. 244; Ministry of Educa­­tion. Revised General Manager’s Directives, 1994, abgedr. in: Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 59 f.

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und seine Gedenkformen über die Jahrhunderte, bestimmte Vorstellungen sind jedoch bis heute im Ritus enthalten.46 Grundsätz­­lich konstituiert sich das jüdische Verständnis von »Geschichte«, also der Gesamtheit vergangener Ereignisse, die als erinnerungswürdig ange­ sehen werden, aus der Wechselbeziehung z­ wischen Gott und dem Volk Israel. »Geschichte« ist dabei die Erzählung all jener Ereignisse, bei denen Gott und das Volk Israel interagierten. Wenn man sich folg­­lich aus religiös-­­jüdischer Sicht an historische Ereignisse erinnert, rekapituliert man die Verbindung des Volkes Israel mit Gott. Das Erinnern wird damit zwangsläufig zum religiösen Imperativ, denn wenn die »Geschichte«, also die Erzählung der Beziehung zu Gott, verges­ sen werden sollte, würde dies bedeuten, Gott selbst zu vergessen. Das Vergessen Gottes und seiner Gebote wiederum würde einem Bruch des Bundes ­zwischen Gott und seinem Volk gleichkommen. Verschiedene Stellen in der Tora bzw. im Alten Testament verweisen auf diese durch Erinnern existente Verbindung ­zwischen Gott und dem Volk Israel:  Hüte dich, dass du den Herrn, deinen Gott, nicht vergisst, sodass du seine Gebote, seine ­Satzungen und Rechtsbestimmungen, die ich dir heute gebiete, nicht hältst; […] 14  [damit nicht] dann dein Herz sich überhebt und du den Herrn, deinen Gott, vergisst, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, aus dem Haus der Knechtschaft, 18  So gedenke doch an den Herrn, deinen Gott – denn Er ist es, der dir Kraft gibt, solchen Reichtum zu erwerben –, damit er seinen Bund aufrechterhält, den er deinen Vätern geschwo­ ren hat, wie es heute geschieht. 19  Wenn du aber den Herrn, deinen Gott, wirk­­lich vergisst und anderen Göttern nachfolgst und ihnen dienst und sie anbetest, so bezeuge ich heute gegen euch, dass ihr gewiss umkom­ men werdet.47 11

Diese Sichtweise kann auf die (zivil-)religiöse Erfahrung der Jugend­­lichen an den Tötungsorten übertragen werden. Die Shoah ist in der jüdischen Vorstellung ein Ereignis, an welchem Gott und das Volk Israel miteinander in Verbindung stan­ den. Sie wird dabei als das dunkelste Kapitel der jüdischen Geschichte positiv gewendet: In ihrer zionistisch inspirierten, also na­­tionalstaat­­lichen Interpreta­­ tion steht die Shoah am Beginn der Konstituierung des Staates Israel. Der Bund 46 Vgl. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: ders./Toni ­Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 9 – 19, hier S. 12. 47 Mose, 5. Buch, Vers 8:11 – 8:19, zit. nach: Schlachter-­­Bibel 2000, URL: https://www.bible­ gateway.com/passage/?search=Deuteronomy+8:11 – 19&version=SCH2000, letzter Zugriff: 07. 10. 2015 [Hervorhebungen der Zahlen im Original].

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z­ wischen Gott und seinem Volk war demnach mit der Shoah nicht zerbrochen, sondern erreichte eine neue Ebene und fand in der Staatsgründung Israels 1948 seine Erfüllung.48 In dieser Interpreta­­tion werden die Ermordeten der Shoah zu den ersten Bürgern Israels. Dies fand etwa Ausdruck in der vom damaligen israe­­ lischen Bildungsminister Jitzchak Nawon angestoßenen und durch die Knesset verabschiedeten Verleihung der »Gedenk-­­Staatsbürgerschaft« (commemorative citizenship)49 an die Opfer der Shoah sowie an dreitausend nichtjüdische Parti­ sanen und Kämpfer gegen den Na­­tionalsozia­lismus. Dies erfolgte ungeachtet der Tatsache, dass ein Teil der von den Na­­tionalsozia­listen als »Juden« rassistisch stigmatisierten sechs Millionen Toten entweder gar keine jüdischen Vorfahren hatte oder sich trotz jüdischer Abstammung nicht als Juden verstand.50 Obwohl die Kenntnis der verschiedenen Formen des ritualisierten Gedenkens von zentraler Bedeutung für das Verständnis der israe­­lischen Gruppenreisen ist, bietet allein Jackie Feldman einen systematischen Überblick über die Ritualfor­ men an den ehemaligen Tötungsorten.51 Dies ist insofern problematisch, da seine Wertungen und Interpreta­­tionen nicht durch andere Darstellungen überprüft werden können. Die Rituale lassen sich laut Feldman in fünf verschiedene Kate­ gorien mit jeweils unterschied­­lichen Aussagen einteilen: Bei der ersten Ritual­ gattung handelt es sich um Zeremonien, die von einer kompletten Delega­­tion von 120 bis 150 Personen durchgeführt werden. Von diesen finden mindestens zwei statt – eine in Auschwitz-­­Birkenau und eine im ehemaligen Warschauer Ghetto. Im Zentrum steht dabei die Erinnerung an den letztend­­lichen Sieg über die zerstörerische Kraft des Na­­tionalsozia­lismus durch die Existenz der Über­ lebenden und ihrer Nachkommen sowie durch die Staatsgründung Israels. Ein durchchoreo­grafierter Ablauf, das Hochhalten israe­­lischer Flaggen und das Singen 48 Die Meinungen über die Frage, ob dieser Akt »dank« oder »trotz« der Shoah geschah, gehen in der Knesset sehr weit auseinander. Vgl. Yair Auron: The Role of the Holocaust in Jewish Identity and Memory. In: Nitza Davidovitch/Dan Soen: The Holocaust Ethos in the 21th Century. Dilemmas and Challenges. Krakau u. a. 2012, S. 18 – 4 0, hier S. 24. 49 Holocaust Victims Given Posthumous Citizenship by Israel. In: Los Angeles Times vom 9. Mai 1985, URL : http://articles.latimes.com/1985 – 05 – 0 9/news/mn-6754_1_posthumous-­­ citizenship, letzter Zugriff: 07. 10. 2015; Holocaust Victims to Receive Posthumous Israel Citi­ zenship. In: Jewish Telegraphic Agency vom 14. März 1985, URL: http://www.jta.org/1985/03/14/ archive/holocaust-­­victims-­­to-­­receive-­­posthumous-­­israel-­­citizenship, letzter Zugriff: 07. 10. 2015. 50 Die na­­tionalsozia­listische Defini­­tion von »Jude« leitete sich aus der Religion der Großeltern ab. Dabei spielte es keine Rolle, ob sich die betreffenden Menschen der jüdischen Religion und den jüdischen Tradi­­tionen verbunden fühlten. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil der als jüdisch ermordeten Menschen sich selbst nicht als Juden definierte. Wie viele Menschen dies genau betraf, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. 51 Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 188 – 228.

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der Na­­tionalhymne Hatikva sind hierbei wichtige Elemente. Damit ist es das am stärksten durch staat­­liche Symbolik aufgeladene Ritual der israe­­lischen Gedenk­ formen an den ehemaligen Tötungsorten. Die zweite Art von Zeremonien findet innerhalb der Busgruppen (circa 30 Personen) bzw. Schulgruppen (15 Personen) statt und wird vor dem sogenannten jüdischen Block 27 in Auschwitz durchgeführt. Hierbei handelt es sich um ein persön­­lich gestaltetes Gedenken. Das Ritual heißt »Lekhol Ish Yesh Shem« ( Jeder Mensch hat einen Namen) und beinhaltet das Verlesen der Namen von Ermor­ deten. Diese können entweder Namen von Verwandten bzw. Vorfahren sein, die in der Shoah umgekommen sind, oder Namen von Ermordeten, die den Schü­ lern von den Lehrern im Vorhinein genannt werden. Durch ihre Nennung soll an die individuelle Verbindung mit der »Familie Israel« erinnert und Raum für gemeinschaft­­liche Trauer geboten werden. Auch deshalb wird am Ende weder die Na­­tionalhymne gesungen noch die israe­­lische Flagge geschwenkt.52 Die dritte Form von Zeremonien bildet das Ritual des »Gerechten unter den Völkern«, welches laut Feldman in seiner Posi­­tionierung im Ablauf der Reisen und in seiner Durchführung am problematischsten ist.53 Hier sollen jene nicht­ jüdischen Menschen geehrt werden, die den verfolgten Juden während der Shoah in irgendeiner Weise halfen. Meistens handelt es sich dabei aufgrund des Stand­ orts der ehemaligen Lager um Polen. Laut Feldman führt ­dieses Ritual jedoch eher zur Verfestigung der unter den israe­­lischen Jugend­­lichen ohnehin schon stark ausgeprägten Gegensätz­­lichkeit von »uns/Israelis/Opfern« und »ihnen/ Polen/Zuschauern«. Dies sei vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Zere­ monie meist spät abends nach einem ohnehin anstrengenden Tag durchgeführt und der »Gerechte« als zu verehrende Ausnahme dargestellt werde. Wo ein wirk­­ licher Dialog z­ wischen Polen und Israelis mög­­lich wäre und das Hinterfragen von Stereo­typen über »Opfer, Täter und Zuschauer« 54 gelingen könnte, würden die Jugend­­lichen erneut auf den Staat Israel eingeschworen.55 Bei den Ritualen der vierten und letzten Art handelt es sich um individuelle und spontane Gesten, wie etwa das Vortragen eines Gedichtes, die Platzierung eines Steinchens zum Gedenken oder das Anzünden einer Kerze.56 Insgesamt sind

52 Vgl. ebd., S. 204 – 207. 53 Dies gilt in erster Linie für die direkt vom Bildungsministerium organisierten Reisen, da die Reisen der Schulen, wie oben beschrieben, einem flexibleren Ablaufplan folgen. 54 Diese Kategorisierung wurde erstmals 1992 von Raul Hilberg vorgenommen. Vgl. Raul ­Hilberg: Opfer, Täter, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933 – 1945. Frankfurt a. M. 1992. 55 Vgl. Feldman: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 212 f. 56 Vgl. ebd., S. 208.

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die Mög­­lichkeiten zur individuellen Trauer- und Erinnerungsarbeit jedoch stark begrenzt. Wie oben beschrieben, werden Jugend­­liche, die sich von der Gruppe entfernen, von den anderen Teilnehmern der Reise wieder in deren Mitte zurück­ geholt. Auch ist der Zeitplan so eng gestaltet, dass kaum Zeit für individuelle Reflexionen bleibt. Das gemeinschaft­­liche Weinen und gegenseitige Trösten soll zur Stärkung der gemeinschaft­­lichen (israe­­lischen) Bande und damit zur menta­ len Stärkung des Individuums in der Gruppe beitragen.57 Die Reihenfolge der Rituale während der Polenreisen folgt einem bestimm­ ten dramatur­­gischen Aufbau, der vom Bildungsministerium festgelegt ist. Der persön­­lichen Namensgebungszeremonie folgt die große Abschlusszeremonie in Auschwitz-­­Birkenau, durch die das Überleben der Juden und damit deren Sieg über den Na­­tionalsozia­lismus gefeiert wird. Danach folgt am letzten Tag ein Ritual am Ort des ehemaligen Warschauer Ghettos, wobei die Jugend­­lichen des bewaffneten Widerstands und der Opferbereitschaft der eingeschlossenen jüdi­ schen Bevölkerung gedenken. Dass die Israelis ihren Polenaufenthalt mit dieser Zeremonie beschließen, um zum »Gedenktag der gefallenen israe­­lischen Solda­ tinnen und Soldaten« wieder in Israel zu sein,58 macht die politischen Implika­­ tionen der Konzep­­tion deut­­lich. Die Überlebenden der Shoah nehmen in den Ritualen eine zentrale Stellung ein. Sie geben den Orten etwas »Authentisches« und machen die Vergangen­ heit scheinbar erfahrbar. Laut Feldman besitzen sie gar eine »schamanische, priester­­liche Funk­­tion«.59 Ihrer Bedeutung liegt dabei die tradi­­tionell jüdische Vorstellung zugrunde, dass die geschicht­­liche Zeit zwar wie im Christentum linear voranschreite, die mythische Zeit jedoch eine »ewige Gleichzeitigkeit« 60 darstelle. Diese Vorstellung stammt noch aus der Zeit, als allein die Rabbiner für die jüdische Geschichtsschreibung verantwort­­lich waren. Im jüdischen Ritus ist der Glaube an eine »ewige Gleichzeitigkeit« bis heute lebendig.61 Im jüdischen Festkalender wird beispielsweise der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten an ­Pessach nicht nur im Gottesdienst erinnert, sondern auf ritueller Ebene jedes Jahr aufs Neue vollzogen. Das Ritual stellt also eine Verbindung ­zwischen dem 57 58 59 60

Vgl. ebd., S. 219 ff. Vgl. ebd., S. 191. Ebd., S. 198. Yosef HayimYerushalmi: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory. Seattle/Lon­ don 1989, S. 11, 96. 61 Vgl. Assmann: Kollektives Gedächtnis (wie Anm. 46), S. 12. – Assmann zitiert hier Maurice Halbwachs, der beschreibt, wie der jüdische Ritus mithilfe von »Erinnerungsfiguren« die »Erinnerung an eine längst vergangene Zeit unberührt und ohne jede Beimischung späterer Erinnerungen durch die Zeit« erhalte.

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Jetzt und den Erfahrungen des Volkes Israel in der Vergangenheit her, indem es die Zeitschichten miteinander verbindet und so die Gleichzeitigkeit aller zeit­­ lichen Ebenen erfahrbar macht. Das Ritual konstituiert nach der tradi­­tionellen jüdischen Vorstellung Wirk­­lichkeit und ist damit performativ.62 Durch den Ritus hält die jüdische Gemeinde die Erinnerung an die Beziehung z­ wischen sich und Gott aufrecht und erneuert auf diese Weise immer wieder ihre Verbindung zu Gott. Diese jüdische Glaubenstradi­­tion ist bedeutsam, um die Rolle der Zeitzeugen an den ehemaligen Tötungsorten zu verstehen. Auch wenn die Jugend­­lichen in unterschied­­licher Weise mit den jüdischen Glaubenstradi­­tionen verbunden sind, gehört die Vorstellung einer »ewigen Gleichzeitigkeit« zur jüdischen Kultur und beeinflusst die Art und Weise, wie die Zeitzeugen an den Orten wahrge­ nommen werden. Die Verbindung ­zwischen den Überlebenden, den Ermordeten und den jungen Israelis wird zusätz­­lich dadurch gestärkt, dass die in den Ritualen verwendeten Gebete häufig bekannte Gebetsformen bedienen und durch diese Vertrautheit emo­­tionale Nähe hervorbringen. Die sich auf dieser Grundlage ent­ faltende Wirkung bestehe nach Lea Shamgar-­­Handelman darin, dass »der Zeuge die Abwesenheit von Anwesenheit in die Anwesenheit von Abwesenheit« ver­ wandle.63 Die Jugend­­lichen würden zu »Zeugen der Zeugen« 64 bzw. zu Zeugen der Transforma­­tion von »Opfern« in »siegreiche Überlebende«.65 Manifestiert ist dieser Sieg in der Gründung des Staates Israel. Die na­­tionalsozia­listischen Tötungsorte und insbesondere Auschwitz als deren herausragendes Symbol wer­ den zu Geburtsorten Israels und die Überlebenden zu dessen ersten Bürgern.66 Damit betreten die Jugend­­lichen symbo­­lisch eine neue Stufe, sie werden zu vollwertigen Mitbürgern der israe­­lischen Gesellschaft. Dieser Prozess wird von Feldman und Davidovitch als »Passage« 67 bzw. »Initia­­tionsritus«  68 beschrieben: Die Jugend­­lichen übertreten an den Orten die Grenze vom Jugend­­lichen- zum Erwachsenenalter und nehmen fortan eine neue Stellung in der Gesellschaft ein. Zu ihren Pflichten als »Zeugen der Zeugen« gehört fortan, wie etwa am na­­tio­ nalen Holocaust-­­Gedenktag, Zeugnis über ihre Erfahrungen an den Tötungs­ orten abzulegen.

62 Vgl. Erika Fischer-­­Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 29. 63 Zit. nach Feldman: Na­­tional Identity (wie Anm. 4), S. 510. 64 Ebd., S. 503. 65 Ebd. 66 Vgl. ders.: Above the Death Pits (wie Anm. 12), S. 256. 67 Der Originalausdruck lautet »rite of passage«. Soen/Davidovitch: Israeli Youth Pilgrima­ ges (wie Anm. 5), S. 14. 68 Feldman: Na­­tional Identity (wie Anm. 4), S. 513.

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Demokratische Bildung versus na­tionale Erziehung? Was israe­lische Jugend­liche aus den Reisen lernen Es sind einige Studien durchgeführt worden, w ­ elche die Wirkungen der Reisen auf die israe­­lischen Jugend­­lichen untersuchen. Allerdings ist keine von ihnen als Langzeitstudie angelegt, die eine Befragung der Jugend­­lichen vor und nach der Reise vornimmt.69 Dass bisher nur wenige empirische Untersuchungen zu den Lern­ effekten und psycholo­­gischen Konsequenzen der Reisen angestellt worden sind, ist angesichts der Zahl der Teilnehmer und der daraus resultierenden gesellschaft­­ lichen Relevanz der Reisen durchaus überraschend. Beispielsweise basiert auch Jackie Feldmans kritische Darstellung nicht auf einer empirischen Untersuchung mittels eines Fragebogens, sondern auf eigenen Beobachtungen der Reisen, die um eine Analyse von Tagebuchaufzeichnungen der Jugend­­lichen ergänzt werden. Dies soll die Relevanz seiner Forschungsergebnisse nicht schmälern, zumal er in seiner vehementen Kritik an der Konzep­­tion der Reisen wichtige Argumente anführt. In der Auswertung der statistischen Erhebungen zeigt sich jedoch, dass die Reisen differenzierter zu bewerten sind und damit die Vielschichtigkeit der individuellen Erfahrungen deut­­licher zutage tritt. Die hier vorgestellten Ergebnisse entstammen im Wesent­­lichen drei der neuesten und umfassendsten Befragungen von Cohen (2013) und Lazar (beide 2004).70 Grundsätz­­lich gehen alle Arbeiten von der Frage aus, inwieweit die kognitiven sowie emo­­tionalen Zielsetzungen des Bildungsmi­ nisteriums erreicht werden. In den genannten Untersuchungen werden im Wesent­­lichen drei Werte­ ebenen unterschieden: universelle, na­­tional-­­zionistische und explizit jüdische 69 Vgl. ebd., S. 18. 70 Vgl. ebd.,S. 5; Nitza Davidovitch/Dan Soen: The Holocaust Ethos in the 21th Century. Dilemmas and Challenges. Krakau u. a. 2012; Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4); Alon Lazar u. a.: A Journey to the Holocaust. Modes of Understanding among Israeli Adolescents Who Visited Poland. In: Educa­­tional Review 56 (2004) 1, S. 13 – 31; ders. u. a.: Jewish Israeli Teenagers, Na­­tional Identity, and the Lessons of the Holocaust. In: Holocaust and Genocide Studies 18 (2004) 2, S. 188 – 204. – In diesen Darstellungen wurden zudem fol­ gende Studien einbezogen: Julia Chaitin: The Rela­­tionship between Working Through the Consequences of the Holocaust and Group Interac­­tion in the Third Genera­­tion, u­ npublished M. A. thesis. Ben Gurion University of Negev 1995; dies.: Facing the Holocaust in Genera­­ tions of Family Survivors. The Case of Partial Relevance and Interpersonal Values. In: Contemporary Family Therapy 22 (2000) 3, S. 289 – 313; Tamar Gross: Influence of the Trip to Poland within the Framework of the Ministry of Educa­­tion on the Working Through of the Holocaust, unpublished M. A. thesis. Ben Gurion University of Negev 2000; Michal Lev: Israeli Youth Journey to Poland. Cognitive and Affective Attitudinal Outcomes towards the Holocaust, unpublished M. A. thesis. Bar Ilan University, Israel 1998.

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Werte. Alle diese Werte und ihre Gewichtung zueinander ergeben eine spezifische Geschichtserzählung, die na­­tionale, jüdische oder universelle Schwerpunkte setzt. In der na­­tionalen, das heißt zionistischen Erzählung ist der Staat Israel der erlö­ sende und damit sinngebende Zielpunkt der Shoah. Die Jugend­­lichen werden auf die militärische und ideelle Verteidigung ihres Landes eingeschworen. In der jüdischen Geschichtserzählung steht die Shoah als spezifisch jüdische Erfahrung im Mittelpunkt, die häufig mit Familiengeschichten verbunden ist. Sie ist an die staat­­lich-­­zionistische Erzählung insofern gekoppelt, als auch sie den Staat Israel als den einzig sicheren Ort für Juden in der Welt erachtet. Dabei ist sie jedoch eher kulturell und religiös als na­­tionalstaat­­lich aufgeladen. Die Vermittlung uni­ verseller Werte zielt auf eine Geschichtserzählung, in der die Shoah in erster Linie als ein Genozid beschrieben und damit die Mög­­lichkeit zu dessen Wiederholung in jedem Land und ausgehend von jedem Volk in der Welt als denkbar angesehen wird. Fragen der israe­­lisch-­­palästinen­­sischen Beziehungen werden dabei ebenso thematisiert wie Problematiken von rassistischer Ausgrenzung in Israel. Diese Erzählung zielt weniger auf eine na­­tionalstaat­­liche Sinngebung als auf eine demo­ kratische Erziehung der Jugend­­lichen ab. Was besagen nun die statistischen Erhebungen über die Vermittlung dieser drei Werteebenen? Ein Großteil der Arbeiten betont das signifikante Anstei­ gen der zionistischen und jüdischen Werte durch die Teilnahme an den Polen­ reisen.71 Eine Ausnahme bildet Cohen, der bei den reisenden Jugend­­lichen im Vergleich zu den Nichtreisenden nur einen leichten Anstieg der Identifika­­tion mit ihrer jüdischen Identität und israe­­lischen Na­­tionalität feststellt. Tenden­ ziell ­seien beide Gruppen stolz darauf, Israelis zu sein – bei den Teilnehmern der Reise sei das Gefühl ledig­­lich geringfügig stärker ausgeprägt. Zudem habe die Reise nicht dazu geführt, dass der Staat Israel verstärkt als die »Antwort« auf die Shoah gesehen werde.72 Was das fach­­liche Wissen betrifft, verfügten laut Cohen die an der Reise teilnehmenden Schüler über ein größeres Detailwissen als nichtreisende Jugend­­liche.73 Lazars Studie verweist dagegen auf ein signifikantes Ansteigen des israe­­lischen Na­­tionalstolzes nach der Teilnahme an den Polenreisen. Die Jugend­­lichen würden eine direkte Verbindung ­zwischen der Shoah und der Existenz des Staates Israel herstellen und hätten den Imperativ von der Notwendigkeit eines militärisch 71 Vgl. Lazar: Journey to the Holocaust (wie Anm. 70), S. 17 f., 26 ff., hier enthalten die Aussa­ gen der Studien von Gross, Lev und Chaitin; ders.: Jewish Israeli Teenagers (wie Anm. 70), S. 195 f.; Soen/Davidovitch: Israeli Youth Pilgrimages (wie Anm. 5), S. 17. 72 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 221. 73 Vgl. ebd., S. 218.

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starken Israels verinner­­licht.74 Lazar schließt nicht aus, dass dies zu einer positiven Einstellung der Jugend­­lichen gegenüber einem Militärdienst zur Verteidigung des Landes führe.75 Er verweist zudem auf eine Studie von Gross, die ebenfalls das Ansteigen des Na­­tionalstolzes sowie des Stolzes auf das Verhalten der Überleben­ den der Shoah beschreibt. Gleichzeitig beobachte Gross bei den Jugend­­lichen, die an den Polenreisen teilnahmen, verringerte Hassgefühle im Denken an die Shoah. Zudem verfügten die Reisenden über ein signifikant höheres Maß an histo­ rischem Wissen und Sensibilität dem Thema gegenüber als die Nichtreisenden.76 Insgesamt kommt Lazar zu dem Schluss, dass das Ziel des Bildungsministe­ riums, sowohl jüdisch-­­israe­­lische als auch universelle Werte zu vermitteln, nicht erreicht werde. Einerseits werde zwar die jüdische und israe­­lische Identität gestärkt und mit der jüdischen Geschichte verknüpft. Andererseits sei die Vermittlung universeller Lehren aus der Shoah wie beispielsweise die Sensibilisierung für Intoleranz und Rassismus weniger erfolgreich. Jedoch hätten manche Schüler die Konsequenzen der universellen Werteebene für die Politik Israels gegenüber den Palästinensern durchaus verstanden und die Unvereinbarkeit von jüdisch-­ ­israe­­lischen und universellen Lehren formuliert. Lazar führt diese Inkompati­ bilität darauf zurück, dass die Bezogenheit auf das eigene Leiden (oder das des eigenen Volkes) nur bedingt Kapazitäten für die Sorge um andere freisetze. Die Schlussfolgerung, dass zur Stabilisierung der eigenen (israe­­lischen) Sicherheit auch anderen (Palästinensern) Rechte zugestanden werden müssten, sei bei den israe­­lischen Jugend­­lichen kaum zu beobachten.77 Dagegen argumentiert Lazar, dass die Vermittlung universeller Lehren aus der Shoah zunehmend in den Fokus rücke. Demnach würden die Jugend­­lichen verstärkt für universelle Werte eintreten, etwa für die Gleichstellung von Min­ derheiten. Dies deute auf eine erfolgreiche Demokratieerziehung hin, in der Menschenrechte sowie ­sozia­le und individuelle Selbstreflexion vermittelt wür­ den. Dennoch würde sich der Großteil der Jugend­­lichen nicht gegen ein starkes Na­­tionalgefühl aussprechen und es nicht für mög­­lich halten, dass ein Genozid wie die Shoah potentiell von jeder Na­­tion ausgehen könne.78 Zieht man aus diesen Studien eine Konsequenz, ist festzustellen, dass bei den Jugend­­lichen universelle, tradi­­tionell jüdische und na­­tional-­­zionistische Werte mit einem Schwerpunkt auf den na­­tionalen Lehren ausgeprägt werden. Die 74 Vgl. Lazar: Journey to the Holocaust (wie Anm. 70), S. 22. 75 Vgl. ebd., S. 28. 76 Zit. nach ebd., S. 17. 77 Vgl. ebd., S. 26 f. 78 Vgl. ders.: Jewish Israeli Teenagers (wie Anm. 70), S. 197 f.

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universellen Werte treten dabei häufig in den Hintergrund, werden aber dennoch vermittelt. Was die Jugend­­lichen aus der Reise emo­­tional wie kognitiv lernen, ist vielschichtig. Deut­­lich festzustellen ist, dass häufig na­­tionale und universelle Wertorientierungen bei den Jugend­­lichen nebeneinander existieren und von ihnen nur selten als widersprüch­­lich oder gegensätz­­lich wahrgenommen werden. Damit fügt sich ihr Werteverständnis, das sie aus dieser Vermittlung der Shoah gewinnen, in den gesamtisrae­­lischen Wertekontext ein, in dem universale, vor allem demokratische, jüdische und zionistische Werte nebeneinander existieren.

Exklusiv, ineffektiv, na­tionalistisch?  Die Reisen im Fokus der Kritik Seit Beginn sind die Schülerreisen immer wieder zum Gegenstand gesellschaft­­ licher Debatten in Israel geworden. Ihre Organisa­­tion und inhalt­­liche Ausrichtung wurde und wird nicht nur innerhalb des Bildungsministeriums und der Forschung diskutiert, sondern auch in den Medien und der Knesset, dem israe­­lischen Par­ lament. Ein erster Streitpunkt betrifft die durch die hohen Kosten beschränkten Zugangsmög­­lichkeiten zu den Reisen. Zwar kann grundsätz­­lich jeder Jugend­­liche, dessen Schule die Reise durchführt bzw. mit dem Bildungsministerium kooperiert, teilnehmen. Da hierzu jedoch ­zwischen 1400 und 2000 US-Dollar aufgebracht werden müssen und bei weitem nicht alle Familien über entsprechende finanzielle Mittel verfügen, ist eine Teilnahme letzt­­lich nur für einen Teil der interessierten Schüler mög­­lich. Dieses Problem spiegelt sich auch in einer Ende der 2000er Jahre von staat­­lichen Rechnungsprüfern durchgeführten Erhebung wider, der zufolge vor allem Kinder aus wohlhabenden Elternhäusern nach Polen flögen. So stammten die Teilnehmer der Reisen zu circa 67 Prozent aus Familien des oberen Drittels des sozioökonomischen Spektrums, während der Anteil der Schüler aus Familien, die dem unteren Drittel zuzuordnen s­ eien, ledig­­lich 6 Prozent betrage.79 Angesichts ­dieses Problems haben das Bildungsministerium und die Jewish Claims Conference (JCC)80 bereits in den 1990er Jahren damit begonnen, Schüler bei der Finanzierung der Reise zu unterstützen. Dabei handelt es sich zwar um erheb­­liche Summen – z­ wischen 2004 und 2007 wurden insgesamt 3,55 Millionen US-Dollar für 79 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 211 ff. 80 Bei der Jewish Claims Conference handelt es sich um einen Zusammenschluss verschiedener jüdischer Organisa­­tionen, die sich für die Rechte von Shoah-­­Überlebenden einsetzen. Zur Geschichte der Organisa­­tion vgl. Marilyn Henry: Confronting the Perpetrators. A History of the Claims Conference. London 2007.

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etwas mehr als zehntausend Jugend­­liche bereitgestellt –, an dem Grundproblem der Chancenungleichheit hat sich aber wenig geändert. Das zeigt nicht nur der Bericht der staat­­lichen Rechnungsprüfung, sondern auch eine Befragung von Teilnehmern. Darin gaben zwar fast alle Schüler an, dass ein Teil ihrer Mitreisenden finanzielle Unterstützung vom Staat oder der JCC erhalten habe. Zwei Drittel der Befragten sagten darüber hinaus jedoch auch aus, dass Zuschüsse ledig­­lich für eine kleine Min­ derheit der Teilnehmer zur Verfügung gestanden hätten, die meisten Schüler also auf die Finanzierung durch die eigene Familie angewiesen gewesen ­seien.81 In der Diskussion um das Finanzierungsproblem haben sich zwei Posi­­tionen etabliert. Ein Teil der Entscheidungsträger in staat­­lichen Institu­­tionen und Bil­ dungseinrichtungen sieht den erzieherischen Nutzen der Reisen in Anbetracht der hohen Kosten als zu gering an und stellt die Gewährleistung der Zuschüsse durch den Staat deshalb grundsätz­­lich in Frage. Demgegenüber unterstützt eine Mehrheit der Verantwort­­lichen die Reisen und will die staat­­lichen Unterstüt­ zungszahlungen vor allem für weniger wohlhabende Familien ausweiten, um auf diese Weise einer größeren Anzahl an Schülern eine Teilnahme zu ermög­­lichen. Dass sich letztere Sichtweise zunehmend durchsetzt, wird daran deut­­lich, dass das Bildungsministerium seit einigen Jahren zusätz­­liche Fördermittel für Schüler aus einkommensschwachen Familien zur Verfügung stellt und dabei bis zu siebzig Prozent der Reisekosten übernimmt.82 Mit der Diskussion über die Finanzierung der Reisen ist auch die Frage nach deren erzieherischem Wert verbunden. In der israe­­lischen Wissenschaft haben sich hierzu sehr unterschied­­liche Posi­­tionen herausgebildet. Ein Teil der Forscher stellt die Sinnhaftigkeit der Reisen grundsätz­­lich in Frage und vertritt die Sicht­ weise, dass andere Formen der Vermittlung von Wissen über die Shoah weitaus größeres Potential besäßen. Die Vertreter dieser Posi­­tion argumentieren hierbei mit Studien, in denen Schüler als Hauptinforma­­tionsquellen über die Shoah vor allem Gedenkstätten, Treffen mit Überlebenden oder mediale Angebote wie Dokumenta­­tionen oder Filme zum Thema angeben.83 Im Gegensatz dazu steht eine Vielzahl von Wissenschaftlern den Reisen grundsätz­­lich positiv gegenüber und hält sie für eine einzigartige und deshalb überaus wichtige Lernerfahrung. Ihrer Ansicht nach biete der Besuch der histori­ schen Orte in Polen die Mög­­lichkeit, die Geschichte anders als beim Lernen aus Büchern Realität werden zu lassen und ausgehend davon zu einem tieferen Ver­ ständnis der Shoah zu gelangen. Diese grundsätz­­lich positive Bewertung ist jedoch 81 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 212 f. 82 Vgl. ebd., S. 213. 83 Vgl. Soen/Davidovitch: Israeli Youth Pilgrimages (wie Anm. 16), S. 255 f.

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nicht als Zustimmung zur derzeitigen Organisa­­tion, Durchführung und Ausrich­ tung der Polenaufenthalte zu verstehen. Im Gegenteil, viele Wissenschaftler for­ dern nachdrück­­lich eine Neustrukturierung der Reisen und plädieren dabei nicht nur für eine Verkleinerung der Gruppen und eine bessere inhalt­­liche Vorbereitung der Teilnehmer, sondern auch für einen mehr auf Analyse bedachten Umgang mit den Orten in Polen. So solle der Fokus weniger auf die Abhaltung von Gruppen­ zeremonien und die Betonung der eigenen israe­­lischen Herkunft gelegt werden als vielmehr auf die Vermittlung von Wissen über die Orte und ihre Geschichte.84 Ein weiterer Aspekt, der die Debatten um die Reisen bestimmt, ist ihre ideolo­­ gische Ausrichtung. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht dabei vor allem die Frage, inwieweit die Polenaufenthalte mit der Vermittlung zionistischer Wertvor­ stellungen verbunden werden sollten. Eine Mehrheit der israe­­lischen Gesellschaft und der Entscheidungsträger im Bildungssektor unterstützt die bisherige na­­tionale Ausrichtung der Reisen, bei der die Annahme im Vordergrund steht, dass Israel als wehrhafter jüdischer Staat die lo­­gische Antwort auf die Shoah sei. Kritik an dieser Schwerpunktsetzung kommt dagegen vor allem aus der israe­­lischen Wissen­ schaft. Aus Sicht vieler Forscher komme die starke Fokussierung auf diese na­­tionale Interpreta­­tion der Shoah einer Instrumentalisierung des Opfergedenkens für poli­ tische Ziele gleich und sei deshalb in der bisher praktizierten Form abzulehnen.85 Die Kritik an der Ausrichtung der Polenaufenthalte richtet sich jedoch nicht allein gegen die Betonung der zionistischen Vorstellungen, sondern auch gegen die durch das Konzept der Reisen vorgegebene starke Identifika­­tion der Teilnehmer mit den Opfern der Shoah. Problematisch sei diese Art der Identifika­­tion zum einen in der Art und Weise ihres Erzeugtwerdens, ­welche wesent­­lich auf einer emo­­ tionalen Überwältigung der Schüler beruhe und damit letzt­­lich manipulativ sei. Zum anderen offenbare die extreme Fokussierung auf die Opfer eine tiefgreifende Identitätskrise der israe­­lischen Gesellschaft. Diese Sichtweise geht davon aus, dass die derzeitige israe­­lische Gesellschaft gespalten sei und den Jugend­­lichen deshalb keine kollektive Identität und kein Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln könne. Durch die Reisen nach Polen und die dabei vollzogenen rituellen Handlungen versuche der Staat, d­ ieses Defizit auszugleichen und den Schülern eine starke von der Shoah und deren Opfer ausgehende Identität zu vermitteln.86 Die Vertreter ­dieses Standpunkts, bei denen es sich neben Wissenschaftlern auch um an den 84 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 214 f. – Weiterführende Überlegungen zur Neukonzep­­tion der Reisen sind zu finden bei Feldman: Israel als Enklave (wie Anm. 14), S. 199 – 202. 85 Vgl. Cohen: Identity and Pedagogy (wie Anm. 4), S. 215 f. 86 Vgl. Soen/Davidovitch: Israeli Youth Pilgrimages (wie Anm. 16), S. 252 f.

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Reisen beteiligte Lehrer handelt, stellen diese Vorgehensweise grundsätz­­lich in Frage und fordern nachdrück­­lich die Schaffung anderer, positiverer Identifika­­ tionsangebote für die israe­­lische Jugend: Ist das die Identität, die wir unseren Kindern vermitteln wollen? Opfer zu sein? Haben wir keine besseren kulturellen Schätze, die wir ihnen geben können? Und bezeugt nicht allein schon die Notwendigkeit für ein so aggressives Element unser komplettes Scheitern?87

Die Debatten um die Schülerreisen können in ihrer Gesamtheit als stellvertretend für die Grundfragen angesehen werden, denen sich die israe­­lische Gesellschaft in Bezug auf die Shoah ausgesetzt sieht. Dabei geht es nicht nur darum, w ­ elche Werte auf ­welche Art und Weise vermittelt werden sollen, sondern grundsätz­­lich um den Stellenwert, den die Shoah in der Erziehung der Jugend sowie der Gesell­ schaft als Ganzes in Zukunft einnehmen soll.

Fazit Auf die Frage, ob es sich bei den Polenreisen israe­­lischer Jugend­­licher an die ehe­ maligen Tötungsorte na­­tionalsozia­listischer Gewaltherrschaft um »Pilgerfahr­ ten« oder »Bildungsreisen« handelt, lässt sich keine eindeutige Antwort finden. Denn bereits in der Konzep­­tion ist beides angelegt: das emo­­tionale »Hineinfüh­ len« genauso wie das Ziel, sich kognitives Wissen über die Shoah und das jüdi­ sche Leben in Polen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg anzueignen. Seit den 1990er Jahren will das Konzept des Bildungsministeriums neben dem Wissen über die jüdische Geschichte und den damit verbundenen Identifika­­tionsangeboten zusätz­­lich universelle Werte vermitteln. Empirische Studien haben jedoch ergeben, dass die universellen Lehren aus der Shoah die Schüler nur begrenzt erreichen. Dies liegt zum einen an der zionistischen Geschichtserzählung, in der die Shoah als Gründungsmoment Israels interpretiert wird. Die Existenz Israels wird in dieser Sichtweise als Beweis des Sieges über den Na­­tionalsozia­lismus gedeutet. Die Tötungsorte der Shoah wiederum werden durch die »siegreichen Überlebenden« zu den Gründungsorten Israels. In dieser zio­ nistischen Geschichtserzählung wird Israel als der einzig sichere Ort für Juden in der Welt definiert und die Notwendigkeit seiner militärischen Stärke abgeleitet.

87 Kritik eines israe­­lischen Oberstufenlehrers, zit. nach: ebd., S. 253 [hier in eigener Übersetzung, C. B.].

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Die emo­­tionale Verknüpfung d ­ ieses Geschichtsbildes mit dem einzelnen Jugend­­lichen erfolgt über die Überlebenden, ­welche die Gruppen begleiten sowie über individuelle Familiengeschichten und Rituale. Die Zeitzeugen fun­ gieren als Mittler z­ wischen der Gegenwart und der Vergangenheit, indem sie etwa mittels des Rituals eine gefühlt direkte Verbindung ­zwischen den Jugend­­ lichen und den Ermordeten herstellen, das heißt performativ handeln. Als »Zeugen der Zeugen« nehmen die Jugend­­lichen fortan einen neuen Platz in der israe­­lischen Gesellschaft ein, indem sie als Multiplikatoren ihrer individuellen Erlebnisse an den Tötungsorten auftreten. Die Rituale umfassen großangelegte Gruppenzeremonien, kleinere Rituale und individuelles Erinnern. Sie geben den Gedenkformen an den ehemaligen Tötungsorten einen zivilreligiösen Charak­ ter und tragen wesent­­lich zum Entstehen einer israe­­lischen Gruppenidentität unter den Jugend­­lichen bei. Empirische Untersuchungen zu den Auswirkungen der Reisen auf die Jugend­­ lichen spiegeln diese Art der Vermittlung wider: Zwar werden universelle Werte durchaus als wichtig und lernnotwendig angesehen, insgesamt werden durch den Polenaufenthalt jedoch vor allem kulturell und religiös jüdische und na­­tionalstaat­­ liche, das heißt zionistische Werte gestärkt. Das Nebeneinander von na­­tionalen und universellen Werten wird nur von einem kleinen Teil der Jugend­­lichen als problematisch bzw. widersprüch­­lich wahrgenommen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Befunde sind die Polenreisen insbesondere in der israe­­lischen Wissenschaft sehr umstritten. Während die Reisen von einem Teil der israe­­lischen Wissenschaftler strikt abgelehnt werden, möchten andere die Konzep­­tion zugunsten einer auf demokratischen und universellen Werten basie­ renden Vermittlung ändern. Diese Debatten spiegeln die unterschied­­lichen Sicht­ weisen über na­­tionalstaat­­lich-­­zionistische, religiös-­­jüdische und demokratisch-­ ­universelle Werte innerhalb der israe­­lischen Gesellschaft wider. Das Konzept der Polenreisen israe­­lischer Schülergruppen an die Orte der Shoah unterlag und unterliegt weiter­hin einem konfliktreichen Entwicklungsprozess, dessen weitere Erforschung wertvolle Einsichten in die jüdische und israe­­lische Kultur verspricht.

Christian Jänsch · Alexander Walther

Zur Würde von Menschen an Orten na­tionalsozia­listischer Massenverbrechen … einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein! Anne Frank 1

Die den Na­­tionalsozia­lismus betreffende Erinnerungskultur ist durch den Wan­ del »von der Zeitgeschichte zur Geschichte« 2 und das baldige Ende der Zeit­ zeugenschaft im Umbruch begriffen. Deshalb lohnt die Beachtung dessen, was am Anfang stand, bevor sich verschiedene Forschungsbereiche mit der Shoah auseinandergesetzt haben: das Leben und die Worte der Getöteten sowie die Zeugnisse der an ihnen begangenen Verbrechen. Man kann mit Volkhard Knigge überzeugend argumentieren, dass Erinnerungsorte der na­­tionalsozia­listischen Verbrechen vieles sein können oder sein sollten, transparente, diskursive Orte historischer Dokumenta­­tion und Bildung […], Arbeitseinrich­ tungen mit einem gewissen Andachtscharakter; konkret heißt das: moderne (zeit)historische Museen, die nicht vergessen machen, daß sie zugleich auch Tat- und Leidensorte sowie symbo­­ lisch und tatsäch­­lich Friedhöfe sind, und die sich darüber hinaus dadurch von gewöhn­­lichen Museen unterscheiden, daß sie nach wie vor humanitäre Aufgaben haben.3

Die »humanitären Aufgaben«, die hier nicht weiter konkretisiert werden, möch­ ten wir aufgreifen und ins Zentrum unserer Überlegungen stellen, wie das Erinnern an die von den Na­­tionalsozia­listen getöteten Menschen in gewisser Hinsicht einer Rückbesinnung bedarf. Wir glauben, dass den von Knigge treffend als »Tat- und 1 Anne Frank: Tagebuch. Eintrag vom 11. April 1944. Frankfurt a. M. 222015, S. 248. 2 Thomas Lutz: Der zunehmende zeit­­liche Abstand zur Verfolgungsgeschichte der NS-Zeit. Folgen für die historische Bildung an authentischen Orten. In: Claudia Müller/Patrick Ostermann/Karl-­­Siegbert Rehberg (Hrsg.): Die Shoah in Geschichte und Erinnerung. Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland (= Histoire, 66). Bielefeld 2015, S. 183. 3 Volkhard Knigge: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland. In: Norbert Frei/Volkhard Knigge (Hrsg.): Ver­ brechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, S. 423 – 4 40, hier S. 430.

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Leidensorte« bezeichneten Erinnerungsorten eine vorrangige Aufgabe zukommt, die mancherorts verloren gegangen zu sein scheint oder noch nie umfassend vor­ handen war: den Menschen, die an diesen Orten zu leiden hatten, die ihr Leben verloren, durch kluge Gedenkstättenstrukturen und Ausstellungsinhalte in erster Linie das zurückgeben zu wollen, was ihnen durch die Na­­tionalsozia­listen pri­ mär abgesprochen wurde: ihre individuelle Würde, ihr berechtigtes Dasein als Teil der Menschheit. Der gegenwärtige Umgang mit den Verbrechen der NS-Zeit ist noch weitge­ hend durch »Pathos und Betroffenheit« 4 geprägt. Eine konkrete Analyse und Darstellung der Genese und Abläufe der Taten – besonders der Shoah, aber nicht nur – verschwimmen zuweilen hinter einer »Verkürzung der Gesamtgeschichte des ›Dritten Reiches‹ einschließ­­lich der Gründe aller Ausgrenzung und Verfolgung sowie deren sukzessiver Radikalisierung«. Auch »die Rede von der Unbegreif­ barkeit und Unbeschreibbarkeit des Holocaust, d. h. seine Stilisierung zu einer Art außer- bzw. überhistorischem Ereignis; dessen weitgehend monokausale Erklä­ rung aus quasi naturwüchsigem Antisemitismus [und] die eher narrative denn wissenschaft­­liche Darstellung des Holocaust vornehm­­lich aus Opferperspektive« 5 verhindern eine den Ansprüchen gegenwärtiger Geschichtswissenschaft und -didaktik entsprechende Auseinandersetzung mit der Shoah und befördern ihre Mystifizierung. Die daraus resultierende Simplifizierung der Verbrechen auf die »Chiffre Auschwitz« 6 als eine scheinbar unbegreif­­liche Metapher für jedwedes massenhafte Ausgrenzen und Töten einer wie auch immer von den Tätern defi­ nierten Gruppe verkennt die Spezifik des Geschehenen. Mit Dan Diner: »Die Besonderheit des Holocaust erschließt sich nicht in der Universalisierung von Lei­ derfahrungen, sondern nur durch ein Denken in historischen Unterscheidungen.« 7

4 Sabine Moller: Die Entkonkretisierung der NS-Herrschaft in der Ära Kohl. Die Neue Wache, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hannover 1998, S. 140. 5 Knigge: Abschied der Erinnerung (wie Anm. 3), S. 437. – Allerdings scheint die Opferpers­ pektive vornehm­­lich in der Gedenkstättenarbeit zu dominieren. Aus historiografischer Sicht überwiegt weiterhin die Auseinandersetzung mit der Shoah aus einer Täterperspektive, die durch die Kollektivbeschreibung von Opfern als Gruppe die Objektivierung und Entindivi­ dualisierung durch die Täter, deren Biografien oft viel bekannter sind, schlicht wiederholt und gewissermaßen narrativ fortschreibt. 6 Torben Fischer: Frankfurter Auschwitz-­­Prozess. In: ders./Matthias N. Lorenz: Lexi­ kon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Na­­tionalsozia­lismus nach 1945. Bielefeld 2007, S. 128 – 132, hier S. 131. 7 Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust (= toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, 7). Göttingen 2007, S. 107 f.

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Die Beschäftigung mit Massentötung und Völkermord stellt eine Herausfor­ derung dar, die nicht nur emo­­tional schwer belastend ist, sondern – besonders in einem deutschen Kontext sowie der Thematik der Shoah – auch ganz individu­ elle, eigene Gewissheiten und Selbstwahrnehmungen erschüttern und in Frage stellen kann. Der Tod als Lebensereignis, das jederzeit unvorbereitet eintreten kann, wird zwar etwa im schu­­lischen Kontext junger Menschen nicht gänz­­lich verleugnet, jedoch nur selten als schlichte Mög­­lichkeit offen thematisiert. Abseits der Schule findet eine Auseinandersetzung mit der Thematik zumeist nur in reli­ giösen Kontexten statt. Die Beschäftigung aber mit dem Tod einzelner Menschen an Tötungsorten selbst verweist zudem auf eine besondere Form des Sterbens, der des entwürdigten, gewaltvollen Todes. Dabei ist es eben d­ ieses Ereignis, das sowohl Potential für eine gewinnbringende, erkenntnisfördernde Diskussion und für selbstreflektiertes Denken beinhaltet als auch die Gefahr der aus Abscheu oder aus Selbstschutz resultierenden Verschließung vor dem Thema birgt. An den Orten na­­tionalsozia­listischer Massenverbrechen lässt sich etwas gewinnen, was über die Ereignisse als ­solche hinausgeht und somit auf die ja tatsäch­­lich nicht ohne Wei­ teres begreif­­l ichen Ausmaße der Massentötungen verweist.8 Die mehrere Tonnen von Frauenhaar oder die Berge an Prothesen und Alltagsgegenständen, die in der Gedenkstätte Auschwitz ausgestellt sind, können allenfalls als Zeugnisse der an ­­diesem Ort begangenen Verbrechen herhalten. »Das absolute Grauen der Ver­ nichtung«, so Harald Welzer, »muss als pures Faktum genauso unverständ­­lich bleiben wie die Motive der Täter und, vice versa, der Grund für das Leiden der Opfer. Eine Geschichtserzählung, die vom Ergebnis her verfasst wird, enthält kein Lernpotenzial, sie bleibt opak.« 9 Die »Chiffre Auschwitz« besteht da fort, wo Menschen vermeint­­lich authentische Orte wie »Auschwitz« – und damit auch die Arrangements der Gedenkstätten – als etwas Einzigartiges begreifen, von denen man unmittelbar und durch bloße Anwesenheit etwas mitnehmen könne.10

8 »Wir wollen oder können schwer­­lich für wahr halten, dass diese Beliebigkeit des Tötens, die für alle Opfer ein ebenso abgründiges Gefühl der Fassungslosigkeit produzieren musste wie das gezielte targeting der Juden, tatsäch­­lich Teil der Täteridee gewesen ist und dass das massenhafte Töten einfach so passieren konnte, ohne große Legitima­­tion.« Bernd Weisbrod: Multiple Wahrheiten. In: Norbert Frei/Wulf Kansteiner (Hrsg.): Den Holocaust erzählen. His­ toriographie ­zwischen wissenschaft­­licher Empirie und narrativer Kreativität (= Jena-­­Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Vorträge und Kolloquien, 11). Göttingen 2013, S. 96 – 100, hier S. 100 [Hervorhebung im Original]. 9 Dana Giesecke/Harald Welzer: Das Menschenmög­­liche. Zur Renovierung der deut­ schen Erinnerungskultur. Hamburg 2012, S. 78 f. 10 Ganz zu schweigen von der Problematik, dass Besucherinnen und Besucher Gedenkstätten häufig mit der Überzeugung verlassen, das Gesehene, Gelesene oder Gehörte über was auch

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Alle von den Na­­tionalsozia­listen aufgrund rassistischer Gründe verfolgten Menschen eint ihre Kategorisierung als etwas vermeint­­lich Andersartiges. Die zuweilen subtilen, aber unbeirrt hartnäckigen Fortschreibungen des scheinbaren »Andersseins« dieser Menschen, die damalige »gesellschaft­­lich[e] Behauptung, dass Menschen radikal und unüberbrückbar ungleich ­seien«,11 sind es aber, was es an den heutigen Erinnerungsorten, die heute lebende Menschen besuchen, zu durchbrechen gilt. Nur über die Wiedergewinnung der individuellen und somit allumfassenden Würde der Getöteten lassen sich jene althergebrachten Stereotype auflösen, die letzt­­lich für die na­­tionalsozia­listischen Täter hand­ lungsleitend waren. Gerade diese Stereotype wirken bis heute in den Texten von zeitgeschicht­­lichen Ausstellungen und Erläuterungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Gedenkstätten fort und werden auf diese Weise unabsicht­­lich fortgeschrieben. Wie sonst ist es zu erklären, dass die damals Verfolgten nach wie vor nicht primär als Menschen oder Bürgerinnen und Bürger der jeweiligen Na­­tio­nen, in denen sie lebten, begriffen werden, sondern zumeist immer noch von »den Juden« oder auch »den Sinti und Roma« 12 gesprochen wird, ganz so, als hätten sich die nach den bekannten rassistischen Mustern verfolgten Men­ schen als eine einheit­­liche Gruppe begriffen und würden sich noch heute – als Überlebende oder Nachfahren – so sehen. Sich dabei aber primär den Menschen zu erinnern, heiße mit Michaela Christ,

immer sei »damals« so und nicht anders passiert. Dass das alles nur Deutungen, die mit viel Bedacht gewählt und kontextualisiert werden müssen, in einem Meer von Mög­­lichkeiten sind, erfahren die wenigsten. »History is never what happened, history is always what ­people felt when it happened.« Weisbrod: Multiple Wahrheiten (wie Anm. 8), S. 97. – Zur scheinbaren »Authentizität« dieser Orte vgl. Detlef Hoffmann: Authentische Erinnerungsorte. Oder: Von der Sehnsucht nach Echtheit und Erlebnis. In: Hans-­­Rudolf Meier/Marion Wohlleben (Hrsg.): Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege. Zürich 2000, S. 31 – 4 6; ders.: »Authenti­ sche Orte« – Zur Konjunktur eines problematischen Begriffs in der Gedenkstättenarbeit. In: Gedenkstättenrundbrief 110 (2002), S. 3 – 17; Gabriele Hammermann: Was können Gedenkstätten leisten? Chancen und Grenzen von Gedenkstättenbesuchen. In: Harald Roth (Hrsg.): Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten. München 2014, S. 206 – 211. 11 Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frank­ furt a. M. 2005, S. 249. 12 Wobei die Nichtverwendung der Zuschreibung »Zigeuner« und die Verwendung von »Sinti und Roma« nur insofern eine positive Weiterentwicklung darstellt, wenn man vergisst, dass sich unter dem Oberbegriff »Sinti und Roma« eine ganze Reihe verschiedener Bevölkerungs­ gruppen mit ihren je eigenen Tradi­­tionen, Bräuchen und Identitäten subsumiert, eine wie auch immer aussehende Vereinheit­­lichung also auch hier stattfindet.

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dass weder die Menschen, noch das, was ihnen angetan wurde, vergessen werden. Erinnern, um nicht zu vergessen, heißt der Handlungsauftrag hinter der Formel der historischen Verant­ wortung. Nicht Erinnern, um ein erneutes Auschwitz zu verhindern. Nicht Erinnern, um zu bemerken, was uns an Kultur, Musik, Geist verlorenen gegangen ist. Und auch nicht Erinnern, um einem höheren Zweck zu genügen, sondern allein um der Opfer selbst willen. Millionen Menschen sind nicht gestorben, um heutigen Nütz­­lichkeitserwägungen anheim gegeben zu werden. Sie wurden auch nicht ermordet, damit man nachfolgenden Genera­­tionen beibringen kann, was Menschlichkeit ist. Und auch die andere Argumenta­­tion, wenn sie denn schon ster­ ben mussten, so soll ihr Tod doch nicht umsonst gewesen sein, sondern heutigen Genera­­tionen eine Lehre sein, ist für mich falsch. Wenn es gelingen würde, sich der Menschen, die ermordet wurden, als das zu erinnern, was sie waren, wäre bereits viel geholfen. Was aber in aller Regel geschieht, ist, sich der Menschen ausschließ­­lich als das zu erinnern, zu dem sie wurden. Nicht als Männer, Frauen und Kinder mit individuellen Geschichten. Als dicke, dünne, kluge, dumme, häss­­liche, blöde, schöne oder lustige Menschen, sondern als Opfer. Dies scheint mir nicht nur den Opfern gegenüber unangemessen, sondern verkennt auch die Realität des Verbrechens, über das wir sprechen. Der Holocaust lässt sich eben nicht auflösen in Menschenrechtsunterricht und politisch korrektes Verhalten. Für mich muss in der Auseinandersetzung die Dimension der Vernichtung sichtbar bleiben. Das heißt den Teil auszuhalten, der sich der Annäherung, der Erforschung und Pädagogisierung entzieht.13

Wenn hier von Würde gesprochen wird, so meint dies zunächst einmal, »dass eine Person oder Sache es wert ist, dass ihr eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird«.14 Diese besondere Aufmerksamkeit liegt in der offenkundigen Tatsache, dass die Leben der Menschen, die von den Na­­tionalsozia­listen verfolgt worden sind, beendet wurden, weil die Täter sie nicht als Menschen betrachteten. Dabei ist es für uns irrelevant, wer die verfolgten Menschen waren, woher sie kamen oder welcher Religion sie angehörten. Kein Mensch definiert sich allein über ein (zumeist) selbstgewähltes Attribut (Religion, Geschlecht, erworbene Fähigkeiten etc.) bzw. schon gar nicht über eine Zuschreibung durch andere (»Rasse«). Damit würde man die Komplexität menschlicher Lebenswege und das Menschsein an sich übergehen. Wir sprechen also ganz bewusst von Menschen, die individuelle 13 Michaela Christ: Was heißt historische Verantwortung?, unveröffentl. Vortragsmanu­ skript, zit. nach Christian Gudehus: Jenseits von na­­tionaler Gedenkstätte und Holocaust Educa­­tion. Plädoyer für ein Erinnern an Menschen. In: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hrsg.): KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Konzentra­­tionslager und ihrer Erinnerung. Berlin 2007, S. 232 – 243, hier S. 239 f. 14 Wolfgang H. Pleger: Würde. In: Petra Kolmer/Armin G. Wildfeuer (Hrsg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe (= Quantität – Zweifel, 3). Freiburg 2011, S. 2602.

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Würde besitzen, denn damit ist wiederum die Nega­­tion der individuellen Würde die Wegnahme der »Mög­­lichkeit zur Selbstbestimmung«.15 Wenn man nun diese Mög­­lichkeit zur Selbstbestimmung ernst nimmt, ergibt sich hinsicht­­lich der Formen des Begrabenseins ein tiefes Dilemma: Millio­ nen getöteter Menschen sind nicht so begraben worden, wie es entweder ihre selbstgewählte Religion vorschreibt oder – was uns noch wichtiger erscheint – wie diese Menschen vielleicht ungeachtet kollektiver Vorschriften wünschten, begraben zu werden. Dass viele von ihnen – in besonderem Maße Kinder – sich darüber sicher nie Gedanken gemacht hatten, erschwert die Angelegenheit sicht­­lich. Es ist heute schlicht nicht mehr mög­­lich herauszufinden, wie jene Menschen, die von den Na­­tionalsozia­listen getötet, danach teils verbrannt und in Massengräbern verscharrt wurden, wünschten beerdigt zu sein. Und in gleicher Weise ist es heute nicht mög­­lich, jedem dieser Menschen ein einzel­ nes Grab zuzuweisen. Warum aber sollten wir uns mit Gräbern und Würde auseinandersetzen? Die Begründung liegt in der Synthese vielfältig formulierter Kritik an der gegenwärti­ gen Erinnerungs- und Gedenkkultur. Wenn sich die Beschäftigung mit den na­­tio­ nalsozia­listischen Massenverbrechen in mehr als in einem sinnentleerten und unre­ flektierten »Nie wieder!« ergießen soll, das weder Vorbedingungen, Genese und konkrete Abläufe noch Anknüpfungspunkte und gegenwärtige Parallelen aufgreift, gleichzeitig aber die Perspektiven der Betroffenen würdigend eingebunden und die Täterseite quellengesättigt und in ihrer »Banalität« (Arendt), also der Dienst­ beflissenheit und Eigeninitiative der »ganz normalen Männer« (Browning), in Beziehung gesetzt werden müssen, so steht man scheinbar vor der sprichwört­­lichen Quadratur des Kreises. Durch die Thematisierung der »Würde« jedoch können diese Bereiche, so unsere These, erkenntnisfördernd miteinander verknüpft werden. Durch die konkrete Beschäftigung mit der Genealogie der Shoah, ihren Anfängen im antisemitischen Denken, der rasch einsetzenden Ausgrenzung durch die Na­­tio­nalsozia­listen und der darauffolgend gesetz­­lichen und sukzes­ siven gesellschaft­­lichen Diskriminierung bis hin zur »Nacht der Synagogenver­ brennungen« (Koselleck) 1938 und den ersten Deporta­­tionen und Versteige­ rungen jüdischen Eigentums können gesellschaft­­liche Prozesse nachvollzogen und in ihren Auswirkungen für die Betroffenen verstanden werden. Dabei wird zunächst das von Welzer geforderte »unspektakulärere, alltäg­­lichere Bild einer Gesellschaft, die zunehmend verbrecherisch wird, oder, genauer gesagt, normativ umcodiert, was als erwünscht und verwerf­­l ich, gut und schlecht, ordnungsgemäß 15 Josef Fellsches: Würde. In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie (= Q–Z, 3). Hamburg 2010, S. 3078.

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und kriminell gilt«, aufgegriffen und verdeut­­licht.16 Die Besonderheit des Beschäftigungsgegenstandes ergibt sich aber letzt­­lich in der Ausein­andersetzung mit den Tötungsorten selbst. Zwar hatten die Verantwort­­lichen der Verbrechen viele der von ihnen verfolgten Menschen durch Verschleppung und Konzentrie­ rung in Zwangswohngebieten bereits in eine »sich ausweitende Zone ­zwischen Leben und Tod« gebracht, »die durch die na­­tionalsozia­listische Entmenschli­ chung der a priori dem Tode überantwortenden Menschen eingetreten war«.17 Der »Zivilisa­­tionsbruch« (Diner) vollzog sich jedoch durch die Auflösung des Willens zur Selbsterhaltung der Täter und der aller scheinbarer Logik wider­ sprechenden Entscheidung, die Tötungsorte so lang wie mög­­lich in Betrieb zu halten und damit dazu beizutragen, den eigenen Untergang herbeizuführen.18 An den Orten der Massenverbrechen wurde die begonnene Entmensch­lichung der Verfolgten in zweierlei Hinsicht für die Täter abgeschlossen: durch die Tötun­ gen selbst und durch die Verweigerung eines würdevollen Begräbnisses, durch die Nega­­tion des letzten selbstbestimmten Willens also, der Form der Bestattung.19 Denn, so Thomas Laqueur, indem ein toter Körper wie gewöhn­­liche organische Masse, wie der Körper eines Tieres behandelt oder willent­­lich entweiht und verstümmelt wird, entreißt man ihn der Kultur und menschlicher Zivilisa­­tion und verweigert der Gesellschaft, aus der er kam, deren Existenz und Menschlichkeit.20

16 Harald Welzer: Für eine Modernisierung der Erinnerungs- und Gedenkkultur. In: Gedenkstättenrundbrief 162 (2011), S. 3 – 9. 17 Diner: Gegenläufige Gedächtnisse (wie Anm. 7), S. 112 [Hervorhebung im Original]. 18 Vgl. ders.: Zivilisa­­tionsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt a. M. 1988. – Auf die­ sen Umstand hatte Hannah Arendt bereits 1950 in einem Aufsatz verwiesen. Vgl. Hannah Arendt: Die vollendete Sinnlosigkeit. In: dies.: Nach Auschwitz. Essays und Kommentare 1. Berlin 1989, S. 7 – 30. 19 »Nur zu deut­­lich ist die Erinnerung daran, daß die Ermordeten nicht nur um ihre Würde und ihr Leben, sondern auch um jede Mög­­lichkeit, sie zu erinnern, gebracht werden sollten. Anstatt individuelle – und oft überhaupt – Gräber zu erhalten, ›gingen sie durch den Rauch‹«. Volkhard Knigge: Tatort – Leidensort – Friedhof – Gedenkstätte – Museum. Notizen für eine KZ-Gedenkstättenarbeit der Zukunft (= Schriften der Kurhes­­sischen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, 3). Kassel 1999, S. 9. 20 »To make the obvious point: to treat a dead body as if it were ordinary organic matter – to leave it lie as if it were the body of a beast – or wilfully to desecrate and mutilate it is to erase it from culture and from the human community: to deny the existence of the community from which it came, to deny its humanity.« Thomas W. Laqueur: The Work of the Dead. A Cultural History of Mortal Remains. Princeton 2015, S. 4 [deutsche Übersetzung der Verfasser].

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Die Bestattung gilt in jüdischer Tradi­­tion als »die größte Gunst« und ist hinsicht­­ lich des Glaubens an das nächste, kommende Leben und die Auferstehung von enormer Bedeutung. Zwar haben sich Begräbnisrituale seit den Anfängen des jüdischen Glaubens geändert und werden je nach Land, Gemeinde und Tradi­­ tion verschieden gehandhabt. Gewisse Regeln bestehen allerdings weiterhin. So ist die Kremierung von Leichen nach wie vor ein stark umstrittenes Thema und wird von vielen Gemeinden, besonders den orthodoxen, streng abgelehnt. Ausgehend von der Annahme, dass die Menschen nach gött­­lichem Vorbild geschaffen s­ eien (hebr.: tzelem elohim), der Körper somit von Gott gemacht und den Menschen immanent sei, bilden auch Körper und Seele eine Einheit. Eine Verbrennung des Körpers kommt daher auch einer Schändung des gött­­lichen Werkes gleich.21 Die Störung der Körper und deren Überreste bedeutet also eine Störung der Seele selbst. Die Körper der Toten werden nach religiösen Über­ lieferungen in Särgen oder auch in Leichentücher gehüllt und auf einer Bahre in das Grab hinabgelassen.22 Die Bedeutung des Friedhofs entspricht dieser Praxis. Der Ort wird häufig bezeichnet als »ewiges Haus« (bet olam; Koh. 12,5), »Haus der Lebenden« (bet hachajim; Hiob 30,23), mitunter auch als »reiner« oder »guter Ort« beschrieben, dem eine weihevolle, würdige Atmosphäre zukommt. Den Gräbern und damit den Toten wird in Besuchen Respekt bezeugt. Ein Grab soll nicht über einem anderen liegen, außer es liegen »sechs Handbreiten Erde« dazwischen. Massen­ gräber bedeuten also eine schwere Verletzung der Vorschriften und »Mischgrä­ ber«, also Grabstätten jüdischer und nichtjüdischer Menschen, werden nur bei 21 Zwar gibt und gab es auch in der jüdischen Theologie Diskussionen darum, wie sich das Ver­ hältnis von Körper, Seele und Gott letzt­­lich verhält, und ob, vor allem der Genesis folgend, der Mensch tatsäch­­lich einen quasiheiligen Status innehat oder ob dieser Status vielmehr nur der Seele zugesprochen werden kann. Einigkeit scheint jedoch über das Gebot der Unver­ sehrtheit des Körpers zu herrschen, weshalb schon kurz nach der Gründung des Staates Israel die Todesstrafe bis auf wenige Fälle (am prominentesten sicher­­lich der Fall Adolf Eichmanns) abgeschafft wurde. Vgl. Yair Lorberbaum: Human Dignity in the Jewish Tradi­­tion. In: Marcus Düwell u. a. (Hrsg.): The Cambridge Handbook of Human Dignity. Interdisci­ plinary Perspectives. Cambridge 2014, S. 135 – 144; Laqueur: The Work of the Dead (wie Anm. 20), S. 531 f. 22 Vgl. Reuben Kashani/Delbert Roy Hillers: Art. »Burial«. In: Encyclopaedia Judaica, Bd. 4, hrsg. v. Fred Skolnik. Detroit 2007, S. 291 – 294; Harry Rabinowicz: Art. »Crema­­ tion«. In: Encyclopaedia Judaica, Bd. 5, hrsg. v. Fred Skolnik. Detroit 2007, S. 281; ­Kaufmann Kohler: Art. »Burial«. In: The Jewish Encyclopedia, Bd. 3, hrsg. v. Isidor Singer. New York/London 1902, S. 432 – 437; A. Rhine: Art. »Burial Society«. In: ebd., S. 437 – 438; Julius H. Greenstone: Art. »Funeral Rites«. In: The Jewish Encyclopedia, Bd. 5, hrsg. v. Isidor Singer. New York/London 1903, S. 529 f.; Max Joseph: Art. »Leichenbestattung«. In: Jüdisches Lexikon, Bd. 3. Frankfurt a. M. 21987 [ND: Berlin 1927], S. 1027 – 1031.

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Ehegatten gestattet. Auch die Beerdigung von Asche in Urnen stößt in erster Linie bei orthodoxen Juden auf Ablehnung, die hierfür nicht selten eine klare Abtren­ nung eines Teils des Friedhofs fordern. Eine Exhumierung wird nach dieser Ausle­ gung eigent­­lich nur in Fällen der akuten Gefährdung des Grabfriedens gestattet.23 Die meisten der an den für diese Thematik relevanten Orten getöteten Men­ schen wurden als »Juden« verfolgt, verstanden sich jedoch nicht alle als dem jüdischen Glauben angehörig. Die willkür­­liche Kategorisierung von Menschen zeigt sich etwa an der Entstehung der »Nürnberger Gesetze« von 1935, in denen die Na­­tionalsozia­listen zunächst einmal definieren mussten, wer ihrer Meinung nach als »Jude« zu gelten habe und wie mit Menschen, deren Familien nur zum Teil »jüdisch« waren, den von den Tätern so bezeichneten »Mischlingen«, zu verfahren sei.24 Was diese Defini­­tions- und Verfolgungspraxis in der finalen Umsetzung bedeutete, lässt sich etwa an den Fundstücken erkennen, die in der Ausstellung in der Gedenkstätte des ehemaligen NS -Tötungsortes Kulmhof zu sehen sind. Dort finden sich neben Judaica auch eine beträcht­­liche Anzahl religiö­ ser Gegenstände des christ­­lichen Glaubens.25 Unter den als »Juden« Getöteten waren also auch »Christen«, die etwa einer teils jüdischen Familie entstamm­ ten oder schlicht in das rassistische Verfolgungsmuster der Na­­tionalsozia­listen passten. Auch Patienten psychiatrischer Einrichtungen, die in Kulmhof getötet wurden, konnten christ­­lichen Glaubens sein. Gleichwohl können sich selbstre­ dend auch nicht gläubige Menschen aus jenen Familien eine Beerdigung nach jüdischen oder christ­­lichen Tradi­­tionen gewünscht haben, genauso wie sich wohl die meisten der heute in Europa lebenden Menschen ohne Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nach Bräuchen einer christ­­lich geprägten Kultur auf Friedhöfen bestatten lassen. 23 Vgl. Meir Ydit: Art. »Cemetery«. In: Encyclopaedia Judaica, Bd. 4, hrsg. v. Fred Skolnik. Detroit 2007, S. 538 f.; Kaufmann Kohler: Art. »Cemetery«. In: Jewish Encyclopedia, Bd. 3, hrsg. v. Isidor Singer. New York/London 1902, S. 637 – 6 42; Alfred Grotte/ Max Joseph: Art. »Friedhof«. In: Jüdisches Lexikon, Bd. 2, Frankfurt a. M. 21987 [ND: Berlin 1927], Sp. 814 – 819, Zitat. Sp. 818; Agnieszka Nieradko: Rabbinical Commis­ sion for Jewish Cemeteries in Poland. In: Interna­­tional Holocaust Remembrance Alliance (Hrsg.): Killing Sites. Research and Remembrance (=  IHRA Series, 1). Berlin 2015, S. 175 – 178; Michael Schudrich: Jewish Law and Exhuma­­tion. In: ebd., S. 79 – 84; Caroline Sturdy Colls: Learning from the Present to Understand the Past. Forensic and Archaeological Approaches to Sites of the Holocaust. In: ebd., S. 61 – 78. 24 Vgl. Cornelia Essner: Die »Nürnberger Gesetze« oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933 – 1945. Paderborn 2002; Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Gesamt­ ausgabe. München 2008, S. 162 – 168. 25 Eine Auswahl dort ausgestellter Realien bietet Andrzej Grzegorczyk: Rzeczy Zagłady [Dinge des Holocaust]. Luboń 2014.

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Die Verschleierungsbemühungen der na­­tionalsozia­listischen Täter, also die direkte oder nachträg­­lich durchgeführte Verbrennung der Leichen und das Aus­ kippen in Flüsse oder Vergraben der Asche und Knochenreste in Massengräbern, verletzten in hohem Maße religiöse und persön­­liche Vorgaben und Wünsche der Verfolgten. Die Tarnung der Gräber durch das Anpflanzen von Bäumen erschwerte eine genaue Lokalisierung der Grabstätten für Angehörige und Hinterbliebene, teils bis heute. Diesem Syndrom des »fehlenden Grabsteins« begegneten Über­ lebende noch in den Displaced-­­Persons-­­Lagern mit der Anfertigung von Yizkor-­ ­Büchern (hebr.: erinnern), die zumeist eine kurze Darstellung des Lebens in der jeweiligen Gemeinde vor dem Krieg sowie, soweit mög­­lich, eine Auflistung der Getöteten und verschiedene Gebete beinhalten und auf Jiddisch verfasst sind. Da weder die Gräber gekennzeichnet waren noch klar einzelnen Menschen zugewie­ sen werden konnten und, besonders bei den von den sogenannten Einsatzgruppen und anderen mobilen deutschen Einheiten erschossenen Menschen, die Grabstelle gänz­­lich unbekannt blieb,26 bildeten diese Bücher faktisch die ersten Gedenkorte und dienten als imaginierte Grabsteine. Das Unvermögen, an einem festen Platz um die Getöteten zu trauern, das Fehlen einer »rituellen Katharsis«,27 stellte und stellt für Angehörige eine enorme Belastung dar.28 Wieso wird d­ ieses bisher eher spär­­lich beleuchtete Thema hier an prominente Stelle gerückt, wo doch die Beschäftigung mit Ausgrenzung, Verfolgung, Deporta­­ tion und schließ­­lich Tötung für die Forschung ein potentiell größeres Verständnis des Na­­tionalsozia­lismus und für die Pädagogik didaktische Anknüpfungspunkte und Lehr-­­Lern-­­Arrangements bereithält? »Daran«, so Micha Brumlik, »daß sich das moderne Bewußtsein vor dem Gedanken sträubt, Trauer nur um der Abgeschiedenen willen zu vollziehen, wird deut­­lich, wie sehr auch wir uns daran 26 Wobei natür­­lich inzwischen durch verschiedenste Akteure und Initiativen viele Grabstellen und Tatorte gefunden und markiert wurden und werden. Vgl. die Beispiele in Interna­­tional Holocaust Remembrance Alliance (Hrsg.): Killing Sites. Research and Remembrance (= IHRA Series, 1). Berlin 2015. 27 Joost Merloo: Delayed Mourning in Victims of Extermina­­tion Camps. In: Henry K ­ rystal (Hrsg.): Massive Psychic Trauma. New York 1968, S. 72 – 75, Zitat S. 74 [deutsche Übersetzung der Verfasser]. 28 Vgl. Gabriel N. Finder: Yizkor! Commemora­­tion of the Dead by Jewish Displaced Per­ sons in Postwar Germany. In: Alon Confino/Paul Betts/Dirk Schumann (Hrsg.): ­Between Mass Death and Individual Loss. The Place of the Dead in Twentieth-­­Century Ger­ many. New York 2008, S. 232 – 257; Jack Kugelmass/Jonathan Boyarin (Hrsg.): From a Ruined Garden. The Memorial Books of Polish Jewry. Bloomington 21998; James E. Young: Die Textur der Erinnerung. Holocaust-­­Gedenkstätten. In: Hanno Loewy (Hrsg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Reinbek 1992, S. 213 – 232.

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gewöhnt haben, das mög­­liche Interesse jener, die von den Na­­tionalsozia­listen umgebracht wurden, überhaupt nicht mehr zu berücksichtigen.« 29 Durch die Thematisierung der verwehrten würdevollen Beerdigung als letzten Schritt des Tötungsprozesses erfolgt nicht nur eine Beschäftigung mit einer weiteren Facette der Tat, sondern auch mit den Getöteten selbst. Die Idee einer selbstbestimmten Bestattung und deren Verweigerung lassen die Menschen wenn nicht als Akteure, so doch wenigstens als Individuen wieder erkennen. Das vollkommene Verschwinden dieser Toten war beabsichtigt, und sie nun zu benennen wurde zu einem hoffnungslosen und heroischen Akt des Wiedererlangens und des Wiederein­ gliederns dieser Toten in ein Narrativ und in das Leben, eine Wiederherstellung der Identität und eine Art Begräbnis, selbst wenn der verschwundene Körper nie gefunden wurde oder als unauffindbar gilt.30

Durch die Verbindung von tätergeschicht­­lich erzählter Nega­­tion der Würde und den bis heute spürbaren Auswirkungen für die Getöteten sowie der Beschäfti­ gung mit einer für sie angemessenen Form der Bestattung kann auch eine von Saul Friedländer immer wieder eingeforderte integrierte Geschichte der Shoah erzählt werden.31 Folgende Auswahl an Beispielen offenkundiger Probleme im Umgang mit der Würde der an diesen Orten getöteten Menschen möchten wir ansprechen: 1. Auf dem Gelände der Gedenkstätte Kulmhof im heutigen Chełmno nad Nerem liegen 45 wahrschein­­lich jüdische Menschen mit zwei deutschen Tätern zusammen begraben. Dass es heute ohne enormen Aufwand sehr wahrschein­­lich nicht mehr mög­­lich ist, herauszufinden, ­welche Überreste im Grab zu welcher Person gehören, geschweige denn alle Namen der Getöteten zu ermitteln, ist

29 Micha Brumlik: Trauerrituale und politische Kultur nach der Shoah in der Bundesrepublik. In: Hanno Loewy (Hrsg.): Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Reinbek 1992, S. 191 – 212, hier S. 210. 30 »The utter disappearance of these dead was inten­­tional and naming them has become a hope­ less and heroic act of recovery, of reincorpora­­tion of these dead into a narrative and into life: a restitu­­tion of identity; a funeral of sorts even if the disappeared body is never found or has been rendered unfindable. There is an intimate, vernacular form of this sort of naming – the restitu­­tion of names to a place from which they disappeared – as well a grander, more public and collective ingathering of names, and much in between.« Laqueur: The Work of the Dead (wie Anm. 20), S. 433 [deutsche Übersetzung der Verfasser]. 31 Vgl. Saul Friedländer: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte (= Jena-­­Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Vorträge und Kolloquien, 2). Göttingen 2007, S. 7 – 27.

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offensicht­­lich. Der Gedenkstein, der das Grab markiert, verweist dabei allerdings nur in der jiddischen, nicht aber in der polnischen Inschrift darauf, dass sich an dieser Stelle eine Grabstätte befindet; an keiner Stelle aber ist ersicht­­lich, ­welche Personen hier bestattet liegen. 2. Auf dem zweiten Areal der Gedenkstätte Kulmhof, im Wald von Rzuchów, sind mittlerweile Maßnahmen zum Schutz der Massengräber durchgeführt wor­ den.32 Nichtsdestotrotz bedecken diese Schutz- und Gedenkmaßnahmen nicht alle zugäng­­lichen Bereiche der Massengräber.33 Darüber hinaus müssen Besuche­ rinnen und Besucher achtgeben, nicht auf Knochensplitter der Getöteten, die sich weit verstreut finden, zu treten. 3. Obgleich es im wissenschaft­­lichen Diskurs einen breiten Konsens darüber gibt, dass die Gedenkstätte in Bełżec in ihrer Gesamtheit als eine gelungene Form der Erinnerung an die dort getöteten Menschen gesehen werden kann, sind die Massengräber versiegelt und ein individuelleres Gedenken ist so nicht mehr mög­­ lich. Die Versiegelung durch Industrieschlacke schafft einen vereinheit­­lichenden Abschluss und unterstützt in ihrer Optik außerdem das Raue und Gewaltvolle des Sterbens der verfolgten Menschen. Eine befriedende Wirkung, wie sie etwa in der Gedenkstätte Treblinka durch Grabsteine erreicht wird, gibt es in Bełżec dadurch nicht.34 Ob das im Sinne einer lebendigen und würdevollen Erinnerung an die getöteten Menschen ist, hängt auch von den Inten­­tionen der Besucherin­ nen und Besucher ab. 4. Im Staat­­lichen Museum Auschwitz-­­Birkenau sind im ehemaligen »Block 5« des »Stammlagers« mehrere Tonnen Frauenhaar ausgestellt. Nicht nur streng genommen, sondern unverkennbar offensicht­­lich sind diese Haare sterb­­liche Überreste von an ­­diesem Ort getöteten Menschen.

32 Vgl. die Bilder in Andrzej Grzegorczyk/Piotr Wąsowicz: Kulmhof Death Camp in Chełmno-­­on-­­Ner. A Guide to a Place of Remembrance. Luboń 2015, S. 61 – 66. 33 Ein gutes Beispiel hierfür ist die 2015 errichtete Holzbrücke im Wald von Rzuchów, die zwar den Fußweg, unterhalb dessen ein Massengrab verläuft, zum hinteren Gedenkstättenareal überbrückt. Nichtsdestotrotz ist der von der Gedenkstätte gepflegte Rasen rechts und links der Holzbrücke begehbar. De facto könnten sich Besucherinnen und Besucher also auf d­­ iesem nicht abgegrenzten Massengrab ausruhen. Vgl. das Bild in: ebd., S. 61. 34 Gleichwohl bemüht sich die Gedenkstätte um ein individuelleres Gedenken an die Getöte­ ten. Da die Einrichtung durch das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington geplant wurde, sind gewisse Parallelen, besonders in der Fokussierung auf ein­ zelne Biografien, vorhanden. Sowohl in der Ausstellung als auch in Publika­­tionen versucht die Gedenkstätte, den dort getöteten Menschen ihre Namen und Bilder aus ihren Leben vor der Verschleppung wiederzugeben. Vgl. Ewa Koper: Każda ofiara ma imię/Every Victim Has a Name. Lublin 2014.

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5. In derselben Gedenkstätte können Besucherinnen und Besucher auch den einstigen Erstickungsraum im ehemaligen »Stammlager« betreten. Um die Würde der darin ums Leben gekommenen Menschen zu s­ chützen, müsste d­ ieses Gebäude so in die Gedenkstättenstruktur eingebettet werden, dass es zwar sicht­ bar bleibt, aber nicht mehr begehbar ist. Ein in unseren Augen richtungweisendes Beispiel findet sich in der Neukonzep­­tion der Gedenkstätte Sobibór, wo der eins­ tige von den Tätern präparierte Gang zu den Erstickungsräumen, der sogenannte Schlauch, nach wenigen Metern nicht mehr weiter begangen werden kann – die den »Schlauch« andeutenden Mauern verbinden sich und versperren somit bewusst den Weg für Besucherinnen und Besucher.35 Es kann nicht die Aufgabe heute lebender Menschen sein, diesen letzten Weg der Opfer zu beschreiten. Mehr noch: Im Versuch der Wiederherstellung der Würde der Getöteten sollten, so finden wir, Besucherinnen und Besucher einen angemessenen Abstand zu die­ sen zentralen Bestandteilen der Demütigung der verfolgten Menschen und der Verschleierung der Tötungsabsicht halten. 6. Die wahrschein­­lich markanteste Struktur in der Gedenkstätte Majdanek ist das fast 15 Meter hohe und offene »Mausoleum«, das 1300 Kubikmeter Erde mit der Asche einer unbekannten Anzahl von Menschen beherbergt.36 Unschwer zu erkennen ist die Architektur einer der stärksten Reibungspunkte in der Diskussion über den Umgang mit Gräbern/Überresten und damit der Würde der Menschen, die an den na­­tionalsozia­listischen Tötungsorten zu leiden hatten. Wie sehr die Würde der Getöteten und auch der Besucherinnen und Besucher bei dieser Form der Gedenkstättenarchitektur verletzt werden kann, zeigt sich, wenn bei starkem Wind Asche aus dem Inneren des »Mausoleums« herausgeblasen wird und diese sich sicht- und spürbar über die Besuchenden verteilt. Eingedenk der Tatsache, dass das »Mausoleum« 1969 errichtet wurde, dürfte die witterungsbedingte Verteilung der Asche über das Gelände der Gedenkstätte schon oft vorgekom­ men sein. Ähn­­lich wie im Gedenkstättenareal im Wald von Rzuchów oder in der Gedenkstätte Sobibór laufen darüber hinaus Besucherinnen und Besucher also immer wieder über die Asche der Menschen, an die an diesen Orten eigent­­lich würde- und respektvoll erinnert werden soll. Gedenkstätten sind Lernorte und müssen dies auch sein, wenn Pathos und Beschwörungsformeln vermieden werden sollen. Doch sind die Orte dabei weder 35 Vgl. die Entwürfe und Texte der Preisträger Marcin Urbanek, Piotr Michalewicz und Łukasz Mieszkowski, die die Ausschreibung zur Neugestaltung gewannen, URL: http://cargocollec­ tive.com/marcinurbanek/sobibor, letzter Zugriff: 31. 03. 2016. 36 Vgl. Agnieszka Kowalczyk (Hrsg.): Majdanek – Memorial and Museum. A Guide. Lublin 2013, S. 16.

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Garanten für den Lernerfolg noch Teil des alltäg­­lichen Geschichtsunterrichts. Wenn das schwierige Thema Na­­tionalsozia­lismus mit einer Fokussierung auf die Shoah unterrichtet werden soll, sehen sich Lehrende und Lernende zuweilen überfordert. Mangelnde Thematisierung im Unterricht wird daher nur allzu gern mit einem Besuch in einer Gedenkstätte zu kompensieren versucht und vor Ort erhofft, die vermeint­­lich authentischen Gedenkstätten somit als letztes Mittel einsetzen zu können.37 Die Erwartungen an einen solchen Besuch übersteigern allerdings die tatsäch­­lichen Ergebnisse zumeist um ein Vielfaches. Kenntnisse des historischen Kontexts können in den zeit­­lich häufig knappen Überblicksfüh­ rungen kaum vermittelt werden. Sofern die von den Schülerinnen und Schülern erwarteten Inhalte mit denen von der Gedenkstätte vermittelten übereinstimmen – Kenntnisse über den Ort selbst und ein »Nachvollziehen« des Umgangs mit den Gefangenen und Getöteten –, lassen sich durchaus messbare Lernerfolge erzielen. Von Pädagoginnen und Pädagogen sowie Lehrkräften erhoffte Lernprozesse wie etwa die Dekodierung des Ortes aus seiner Nachnutzung heraus, Selbstreflexion oder auch lebenswelt­­liche Bezüge und Handlungsop­­tionen werden dagegen sel­ tener erreicht.38 Der besuchte Ort dient allzu oft noch als reiner Beweis, dass jene Verbrechen wirk­­lich geschehen sind, und die Objekte, auf die sich das […] Bedürfnis der Einfühlung richten könnte, sind nicht nur tot, sondern erniedrigt. So sehr die Pädagogen ein Mitgefühl mit diesen Opfern als Ergebnis des Lernpro­ zesses herbeisehnen, so wenig stellt es sich allein durch die Macht des authentischen Ortes ein.39

Der Umgang mit der Würde der Getöteten, so scheint uns, kann allerdings auch hier erkenntnisfördernd sein. Gedenkstättenbesuche können nicht nur dazu die­ nen, am Tod der dort umgekommenen Menschen beispielhaft zu erfahren, wie man

37 Vgl. Norbert Reck: »Gut gemeint …« Plädoyer gegen den mora­­lischen Imperialismus bei der Arbeit mit Jugend­­lichen in Gedenkstätten. In: Gedenkstättenrundbrief 33 (1989), S. 3 – 5. 38 Vgl. Bert Pampel: Was lernen Schülerinnen und Schüler durch Gedenkstättenbesuche? (Teil)Antworten auf Basis von Besucherforschung. In: Gedenkstättenrundbrief 162 (2011), S. 16 – 29; ders.: »Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist«. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher. Frankfurt a. M. 2007; ders. (Hrsg.): Erschrecken – Mit­ gefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschicht­­lichen Ausstellungen. Leipzig 2011. 39 Gottfried Kössler: Auschwitz als Ziel von Bildungsreisen? Zur Funk­­tion des authen­ tischen Ortes in pädago­­gischen Prozessen. In: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Auschwitz. Geschichte, Rezep­­tion und Wirkung (= Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust). Frankfurt a. M. 21997, S. 299 – 318, hier S. 311.

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sich nicht zu verhalten hat.40 Diese Menschen oder, wie etwa in den Gedenkstätten Auschwitz und Majdanek erfahrbar, deren Überreste, die »Objekte«, von denen Kößler spricht, können schlichtweg nicht auf ihre bloße Beweisfunk­­tion reduziert, offengelegt und als Mahnmal und Zeugnis der Verbrechen missbraucht werden. Die Opfer dieser Verbrechen würden erneut instrumentalisiert, nähme man ihr Schicksal als nütz­­liches, aber letzt­­lich beliebiges Illustra­­tionsobjekt für die Folgen einer Politik, die die Prinzipien von Liberalität, Rechtsstaat­­lichkeit und Toleranz missachtet. So notwendig und legitim das Lernen auch in den KZ-Gedenkstätten ist, so offen muss doch ­dieses Lernen für ein zweckfreies Eingedenken der Opfer und die Trauer um sie bleiben. Trauern jedoch kann man nicht um Ereignisse oder Zustände, sondern nur um Menschen. Eine ­solche Art von Trauer zu ermög­­lichen, auch dies ist eine Funk­­tion der »Opferperspektive«, durch die zumindest einige der Opfer ihren Namen zurückbekommen, durch die ihre Talente, Leistungen, Ängste und Hoffnungen wieder sichtbar werden.41

Eine didaktische Reduk­­tion der Shoah allein auf für Schülerinnen und Schüler rezipierbare Inhalte und Lernpotentiale nimmt die an diesen Orten gebotene Pie­ tät nicht ernst. Auch eine emo­­tionalisierende Erlebnispädagogik kann keinesfalls der Schlüssel für eine erkenntnisreiche Auseinandersetzung mit diesen Orten sein. Ein Nachempfinden durch das Abschreiten der letzten Wege der dann Getöte­ ten, etwa des von den Tätern so genannten »Schlauchs« oder gar in die Räume selbst, wie es im Staat­­lichen Museum Auschwitz-­­Birkenau mög­­lich ist und bis vor wenigen Jahren in der Gedenkstätte Majdanek noch mög­­lich war, ist weder authentisch durchführbar noch pädago­­gisch sinnvoll oder ethisch vertretbar. Auch die Verbrennungsanlagen, die in vielen Gedenkstätten ehemaliger Konzentra­­tionslager noch erhalten sind, müssen in diesem ­­ Kontext gesehen werden. Diese Gebäude sind allzu oft Sterbe- und Tötungsorte, in jedem Fall aber Orte des letzten Verbrechens an den Getöteten, des willkür­­lichen Verbrennens 40 Vgl. Volkhard Knigge: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.« Unan­ nehmbare Geschichte begreifen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016) 3 – 4, S.  3 – 9; ders.: Zur Zukunft der Erinnerung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010) 25 – 26, S.  10 – 16. 41 Thomas Rahe: Die »Opferperspektive« als Kategorie der Gedenkstättenarbeit. In: KZGedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): Museale und mediale Präsenta­­tionen in KZ-Gedenk­ stätten (= Beiträge zur Geschichte der na­­tionalsozia­listischen Verfolgung in Norddeutschland, 6). Bremen 2001, S. 34 – 50, hier S. 44. – Das Spannungsverhältnis ­zwischen Würde und Beweis wird durchaus in der Gedenkstättenpädagogik thematisiert, findet aber noch zu wenig Eingang in die tatsäch­­liche Arbeit. Vgl. die Übung »Würde versus Beweis?« in Barbara Thimm (Hrsg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik (= Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, 21). Frankfurt a. M. 2010, S. 163 – 166.

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ihrer Körper und damit der endgültigen Beraubung ihrer Würde. Eben weil ihre Würde an diesen Orten derart radikal missachtet wurde, muss sie heute auch radikal geschützt werden, nicht zuletzt vor uns selbst. Denn ­welche Einsicht soll ein Gang entlang der Einäscherungsöfen befördern? Dass Menschen an jener Stelle getötet und verbrannt wurden, kann auch vor dem Gebäude beschrieben werden. Vielmehr erscheint doch die Abschirmung der relevanten Strukturen, der radikale Schutz dieser noch immer von Ascheresten durchsetzten Öfen als viel erkenntnisleitender. Wenn sich ein Gedenkstättenbesuch an den Maximen eines zeitgemäßen Geschichtsunterrichtes orientieren und neben einem reflek­ tierten auch ein selbstreflexives Geschichtsbewusstsein befördern soll, muss der Ort auch selbstreflexive Denkprozesse auslösen können.42 Indem diese sensiblen Räume ganz bewusst verschlossen bleiben und dies auch entsprechend anleitend kommuniziert wird, kann sich die hier vorgeschlagene Einsicht entwickeln. Und indem wir erfahren, dass wir durch einen Gang an diese Orte ohne Weiteres näm­­ lich tatsäch­­lich nichts erfahren, was nicht vorher schon bekannt gewesen wäre, lernen wir etwas über die Art, wie Geschichte entsteht, über das Verbrechen und letzt­­lich auch etwas über uns selbst. Diese Orte verhalten sich in d­­ iesem Fall wie jede andere Quelle auch – sie sprechen nicht von selbst. Die so selbstgewonnene Einsicht also, dass der Gang an diese vermeint­­lich »authentischen« Orte selbst nur ein Gang und noch keine Erkenntnis ist, stellt die eigent­­liche Erkenntnis dar.43 Das Verschließen dieser Räum­­lichkeiten ist daher also kein Akt falscher Pie­ tät gegenüber oder die Abwendung von den Getöteten. Durch die Tatsache, dass auch im Tod noch die Menschen beraubt und verachtet wurden und eine Bloß­ stellung und Entwürdigung faktisch bis heute anhält, ergibt sich vielmehr ein weiterer Aspekt der Verbrechen. Während die Gräber der Gedenkstätten für die Überlebenden, Hinterbliebenen und Nachfahren gekennzeichnet und zu einem Ort der Trauer gestaltet werden müssen, kann dies nicht für jene Besucherinnen und Besucher gelten, die an diesen Orten niemanden explizit betrauern können und – das ist ihr gutes Recht – wollen. Zwar müssen Betroffenheit und auch Wei­ nen im Sinne einer mitfühlenden und solidarischen Geisteshaltung unbedingt 42 Vgl. Waltraud Schreiber u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-­­Strukturmodell. Neuried 2006; Saskia Handro (Hrsg.): Orte historischen Lernens (= Zeitgeschichte, Zeitver­ ständnis, 18). Berlin 2008; Christian Kuchler: Historische Orte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012; Wolf Ritscher: Bildungsarbeit an den Orten na­­tionalsozia­listischen Terrors. »Erziehung nach, in und über Auschwitz hinaus«. Weinheim 2013; Helen Zumpe: Menschenrechtsbildung in der Gedenkstätte. Eine empirische Studie zur Bildungsarbeit in NS-Gedenkstätten. Schwalbach/Ts. 2012. 43 Vgl. Verena Haug: Am »authentischen« Ort. Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik. Berlin 2015, S. 289 f.

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mög­­lich bleiben, doch kann eine Katharsis keine Lösung sein und keine sinnvolle Erkenntnis befördern. Statt einer nachträg­­lichen Traumatisierung also kann hier eine sekundäre Zeugenschaft begünstigt werden, die nicht nur auf historische Sinnbildung und Erkenntnis hinauslaufen muss.44 Vielmehr muss an diesen Orten auch die Einsicht mög­­lich sein, dass »Sinnlosigkeit selber ein konstitutives Ele­ ment des historischen Sinnes werden« kann.45 Doch ist auch diese Zeugenschaft nicht unproblematisch. Die Reduzierung menschlicher Überreste auf deren Beweiskraft perpetuiert nicht nur deren Ent­ würdigung, sie verletzt auch die Würde der Besuchenden. Indem näm­­lich diese Orte vornehm­­lich als Zeugnis vergangener Verbrechen verstanden und auch dementsprechend durch die jeweiligen Gedenkstätten genutzt und arrangiert werden, werden Besucherinnen und Besucher in eine Zeugenperspektive gebracht, die letzt­­lich nur ein Voyeurismus ist. Auch die besten Absichten und der ehr­­liche Wille zur Auseinandersetzung können dies kaum verhindern. Wenn ledig­­lich Beweismittel präsentiert und von uns wahrgenommen werden, kann keine verste­ hende Auseinandersetzung mit den Verbrechen stattfinden, ja noch nicht einmal ein würdiges Gedenken. In dieser Form bleiben die Getöteten beliebige Opfer, die Verbrechen illustrieren und uns mahnen sollen. Dabei werden also nicht nur diese Menschen instrumentalisiert, auch die Besucherinnen und Besucher werden ungewollt und oft ungefragt in eine Posi­­tion des nachträg­­lichen Bezeugens und Verurteilens gezwungen. Der Gang an diese Orte ist weder leicht noch für die meisten alltäg­­lich, und Techniken zum Umgang mit diesen Erfahrungen müssen erst erlernt werden. Daher muss neben dem Schutz der Würde der Getöteten auch die Würde der Lebenden geschützt werden, um weder zu einem Voyeur noch zu einem stummen Zeugen gemacht zu werden. An den hier thematisierten Orten kann, wie eingangs erwähnt, vieles stattfin­ den: Trauer, Gedenken, Bildungsarbeit oder Forschung. Die Verbindung all die­ ser Felder mit dem, was Anne Frank schrieb und eingangs zitiert ist, kann dabei jedoch immer nur der Fokus auf die Einzelnen sein. Zwar ist mit Eröffnung des Washingtoner United States Holocaust Memorial Museum und seinem »Tower of Faces« das Ausstellen und Erzählen der Shoah anhand individueller Geschichten

44 Vgl. Alina Bothe/Martin Lücke: Im Dialog mit den Opfern. Shoah und historisches Lernen mit virtuellen Zeugnissen. In: Peter Gautschi/Meik Zülsdorf-­­Kersting/ Béatrice Ziegler (Hrsg.): Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Zürich 2013, S. 55 – 74. 45 Jörn Rüsen: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte. Köln/Weimar/Wien 2001, S. 177 f. – Damit wäre auch Hannah Arendts frühe Deutung der Shoah als »vollendete Sinn­ losigkeit« aufgegriffen. Vgl. Arendt: Sinnlosigkeit (wie Anm. 18).

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und einzelner Personen zu einem vorherrschenden Merkmal jener Ausstellungen und auch Gedenkstätten geworden.46 Doch werden auch weiterhin Einzelne nur als Vertreter einer bestimmten Opferkategorie vorgestellt, stellvertretend für die gesamte Gruppe. Damit werden diese Menschen faktisch erneut in einem kol­ lektiven Gedenken anonymisiert. So wirkt schließ­­lich die Kategorisierung der Täter fort. Denn: »Welchen Grund kann es geben, sie nach ihrer Ermordung zusammenzubringen, außer den Kriterien der Na­­tionalsozia­listen?« Vielmehr, so Edna Brocke, müsse es darum gehen, im Gedenken die Unterschiede nicht weggedenken zu wollen, sondern sie aushalten zu lernen. Dies kann sicher­­lich nicht dadurch geschehen, dass man, wie im Rollenspiel, in die Rolle eines anderen schlüpft. Deshalb kann man auch nicht die Rituale des einen für das Gedenken an die ande­ ren übernehmen. Auch hier gilt der Grundsatz: Form und Inhalt sind komplementäre Größen und gehören zusammen.47

Für die Praxis sind das auch ­solche Überlegungen: Wie viele von den verfolgten und getöteten Menschen liebten jemanden des gleichen Geschlechtes und verbar­ gen es? Wie viele von ihnen liebten die Natur oder das von ihren Großmüttern zubereitete Essen mehr als alles andere? Können wir die Zahlen wissen? Nein. Und sie würden uns auch nicht weit bringen. Aber wir können uns damit befassen, ­welche Vielzahl von Lebenswegen es in Gesellschaften schon immer gegeben hat, und wir können zu jeder passenden Gelegenheit etwa darstellen, dass das osteuro­ päische Judentum vor Beginn des Zweiten Weltkriegs genauso wenig homogen oder – wie es die na­­tionalsozia­listische Propaganda bezeichnete – »unterent­ wickelt« war wie sein westeuro­päisches Pendant oder jeder andere, wie auch immer geartete reale oder zugeschriebene Zusammenschluss von Menschen. Ob jemand eine jüdische ­Mutter oder jüdische Großeltern beider Elternteile hatte, sagt sehr wenig über das angeb­­lich »Jüdische« seines Lebens aus. Somit bleibt für uns schließ­­lich auch die Erkenntnis, dass der Blick in ein bekanntes und scheinbar zur Genüge behandeltes Zeugnis der Shoah, das Tage­ buch der Anne Frank, auch im 21. Jahrhundert noch kluge Einsichten offenbaren

46 Vgl. Katja Köhr: Die vielen Gesichter des Holocaust. Museale Repräsenta­­tionen ­zwischen Individualisierung, Universalisierung und Na­­tionalisierung (= Studien des Georg-­­Eckert­­Instituts zur Interna­­tionalen Bildungsmedienforschung, 128). Göttingen 2008. 47 Edna Brocke: Von der Anonymisierung der Opfer in einem »gemeinsamen« Gedenken. Ein jüdisches Votum. In: lnsa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Susanne Lanwerd (Hrsg.): Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945 – 1995. Berlin 1999, S. 149 – 162, hier S. 160 f.

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und zum Nachdenken über die Gedenkstättenlandschaft, wie wir sie kennen, einladen kann. In dem eingangs zitierten Tagebucheintrag findet eine bestimmte Sehnsucht ihren Ausdruck. Dass sich ein junges Mädchen nach Monaten und Jah­ ren des erzwungenen Verbergens eine eigene, verlangende Schriftwelt geschaffen hatte, eröffnet Leserinnen und Lesern seit Jahrzehnten einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt eines jungen Menschen, der nach rein willkür­­lichen Zuschreibun­ gen der Na­­tionalsozia­listen verfolgt wurde. Annes Sehnsucht, sich irgendwann einmal wieder als Mensch begreifen zu dürfen, als kleiner, aber entscheidender Teil eines diversen Ganzen, ist weder eine an uns gerichtete Mahnung noch ein inhaltsleeres »Nie wieder!«, sondern der im Kontext der na­­tionalsozia­listischen Verfolgungen offenkundige und in gewisser Weise exemplarisch stehende Wunsch eines um die Mög­­lichkeit zur Selbstbestimmung gebrachten Menschen, den wir heute ernst nehmen sollten.

Autorinnen und Autoren Bruhn, Cornelia, M. A., Stipendiatin der Landesgraduierten­förderung Thüringen und Mitglied der Doktorandenschule des Imre Kertész Kollegs »Europas Osten im 20. Jahrhundert« an der Friedrich-­­Schiller­­-Universität Jena. Ferchland, Linda, M. A., Mitarbeiterin des Geisteswissenschaft­­lichen Zen­trums für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig. Ganzenmüller, Jörg, Dr. phil. habil., Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar, Privatdozent für Osteuro­päische Geschichte an der Friedrich-­­Schiller-­­Universität Jena. Heiduck, Christina, M. A., Stipendiatin der Gemeinschaft für studen­tischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS). Heinisch-­­Fritzsche, Konstantin, M. A., Doktorand am Historischen Institut der Friedrich-­­Schiller-­­Universität Jena. Jänsch, Christian, M. A., Freier Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald. Kunte, Sarah, M. A., Mitarbeiterin der Stiftung Denkmal für die ermor­deten Juden Europas. Kunze, Samuel, B. A., Stipendiat des DAAD an der University of Haifa im Masterstudiengang Holocaust Studies. Matthes, Julia, Staatsexamen in den Fächern Geschichte und Germanistik, Sozia­larbeiterin beim Horizont e. V. in Nordhausen. Muhle, Klara, Staatsexamen in den Fächern Geschichte und Eng­­lisch, Doktorandin am Historischen Institut der Friedrich-­­ Schiller-Universität Jena. Roth, Felix, Staatsexamen in den Fächern Geschichte und Geografie, Referendar am Friedrich-­­Schiller-­­Gymnasium in Bleicherode und Freier Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-­­Dora. Urban, Sven, Staatsexamen in den Fächern Sozia­lkunde, Sport und Geschichte, Lehrer an der Dietrich-­­Bonhoeffer-­­Schule in Bargteheide. Utz, Raphael, Dr. phil., Wissenschaft­­licher Geschäftsführer des Imre Kertész Kollegs »Europas Osten im 20. Jahrhundert« an der Friedrich-­Schiller-­­Universität Jena.

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|  Autorinnen und Autoren

Walther, Alexander, Staatsexamen in den Fächern Geschichte und ­Eng­­lisch an der Friedrich-­­Schiller-­­Universität Jena, Doktorand und Wissenschaft­­licher Mitarbeiter des Euro­päischen Kollegs »Das 20. Jahr­hundert und seine Repräsenta­­tionen« an der Friedrich-­ Schiller-­Universität Jena. Weigel, Philipp, Staatsexamen in den Fächern Geschichte und Wirtschaftslehre/Recht, Doktorand und Wissenschaft­­licher Mitarbeiter an der Doktorandenschule des Imre Kertész Kollegs »Europas Osten im 20. Jahrhundert« an der Friedrich-­­Schiller-­­Universität Jena.

Abbildungsverzeichnis und Bildnachweis Philipp Weigel: Schrecken erzieht nicht Abb. 1  © picture alliance/dpa, Jens Wolf Abb. 2  © Jörg Ganzenmüller Abb. 3  © Yad Vashem, Niv Moshe Ben David Christian Jänsch, Alexander Walther: Kulmhof/Chełmno nad Nerem Abb. 1  © Susanna Weddige Abb. 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8  © Christian Jänsch Jörg Ganzenmüller, Raphael Utz: Bełżec Abb. 1, 2, 4, 5, 6, 7  © Christian Jänsch Abb. 3  © Jörg Ganzenmüller Julia Matthes, Felix Roth: Die Gedenkstätte Treblinka Abb. 1, 2, 3  © Christian Jänsch Klara Muhle: Der historische Ort der ehemaligen Tötungsstätte Sobibór Abb. 1, 2  © Klara Muhle Abb. 3  © Alexander Walther Abb. 4  © Zeichnung: Łukasz Mieszkowski Sarah Kunte: Das Staat­­liche Museum Majdanek Abb. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7  © Państwowe Muzeum na Majdanku Christina Heiduck: Das Lager Płaszów Abb. 1, 2  © Christina Heiduck Linda Ferchland: Auschwitz Abb. 1, 2, 3, 4  © Christian Jänsch Sven Urban: »Schöne Landschaft mit schreck­­licher Vergangenheit« Abb. 1, 2  © Eigene Darstellungen Konstantin Heinisch-­­Fritzsche: Die Darstellung des »jüdischen Widerstands« Abb. 1  © picture alliance/AP Photo, Christof Stache Abb. 2  © Wikimedia, Adryan Grycuk Cornelia Bruhn, Samuel Kunze: Zwischen Pilgerfahrt und Bildungsreise Abb. 1  © picture alliance/dpa, epa pap Bednarczyk

Personenregister A Abraham, Chaim Jakób  207 Altszul, Mote  77 Arad, Yitzhak (Izhak Rudnicki)  101, 154 Arendt, Hannah  222, 300, 334, 335, 345 Assmann, Aleida  275 Assmann, Jan  319 Auerbach, Rachel  16, 21, 44, 45, 138, 298 Augé, Marc  221 B Bajler, Abram  73 Balawejder, Edward  186 Bartoszewski, Władysław  240 Bauer, Erich Hermann  152, 154 Bauer, Yehuda  277 Bednarz, Józef Władysław  83, 84, 88, 90 Bem, Marek  21 Benjamin, Walter Bendix Schoen­ flies  10 Benz, Wolfgang  30, 133, 135 Berger, Sara  29, 30 Bettelheim, Bruno  300 Bierut, Bolesław  230 Birenbaum, Halina  219 Blancke, Maximilian  203 Blatt, Thomas Toivi  150, 153, 154, 279, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 297, 300 Blobel, Paul  74 Bolender, Kurt  152 Borries, Bodo von  51

Borwicz, Michał Maksymilian  230 Bothe, Alina  275 Bothmann, Hans  74, 78, 80, 81, 86 Brauer, Juliane  252, 275 Brink, Cornelia  51, 53, 56, 57 Broad, Pery  61 Brocke, Edna  346 Broder, Henryk Marcin  241 Brovcev, Petr Petrovič  109 Browning, Christopher Robert  334 Brumlik, Micha  338 Burmeister, Ernst  86 Burmeister, Walter  86 Büscher, Arnold  205 C Cęckiewicz, Witold Aleksander  207, 208, 209 Chaitin, Julia  322 Christ, Michaela  332 Cohen, Erik H.  321, 322 Czarakcziew, Borysław  216 D Davidovitch, Nitza  304, 320 Dembek, Janusz  188 Dietzel, Kerstin  254, 271 Diner, Dan  57, 330, 335 Distel, Barbara  30, 154, 280 Doliński, Jan  21 Dorpmüller, Julius Heinrich  172 Dragon, Shlomo (Szlama)  226 Duszeńko, Franciszek  140, 145 Dylewski, Romuald  156, 157, 185, 186, 187 Dziadosz, Edward  172

354

|  Autorinnen und Autoren

E Eberle, Annette  274 Eberl, Irmfried  134 Ehresmann, Andreas  169 Eichmann, Adolf  68, 88, 89, 90, 306, 336 F Fahidi-Pusztai, Éva (Fahidi)  11, 220 Feldhendler, Leon (Lejb)  153, 280, 281, 282, 284 Feldman, Jackie  304, 309, 310, 317, 318, 319, 320, 321 Fiderkiewicz, Alfred  230 Fiedler, Gustav  86 Florstedt, Arthur Hermann  174, 175 Floß, Herbert (Floss)  298 Frank, Anne  329, 345, 346 Franz, Kurt Hubert  138 Frenzel, Karl August Wilhelm  152, 283, 288 Frevert, Ute  272 Friedländer, Saul  40, 339 Friedman, Philip (Filip)  8, 40 Fuchs, Erich  149 G Gerstein, Kurt  37, 38, 39, 47, 109, 110, 111 Gielow, Hermann  90 Gilbert, Martin  83 Glemp, Józef  235 Globocnik, Odilo Lothar Lud­ wig  38, 67, 102, 113, 115, 116, 149, 152, 174 Goldfarb, Mordechaj  288 Gomerski, Hubert  151 Göring, Hermann Wilhelm  76

Göth, Amon Leopold  200, 202, 203, 204, 205, 206, 211 Grabe, Hildegard  77 Greiser, Arthur Karl  69, 78, 79, 85, 90, 100 Gross, Tamar  322, 323 Grünfeld, Meir Jacob  89 Gryń, Edward  192 Grzegorczyk, Andrzej  98 Gutman, Israel  277 Gutt, Romuald  182, 183 H Haase (Polizeimann)  80, 81, 82, 90 Hackenholt, Lorenz (Laurenzius Marie)  105 Häfele, Alois  86 Halbwachs, Maurice  319 Hansen, Imke  230, 233 Hart-Moxon, Kitty  11 Haupt, Adam  140, 144 Heinl, Karl  86 Heydrich, Reinhard Tristan Eugen  76, 119 Heyl, Matthias  46, 253, 274 Hilberg, Raul  76, 116, 277, 300, 318 Hilmar, Till  60 Himmler, Heinrich Luitpold  71, 78, 79, 102, 116, 119, 134, 137, 152, 154, 171, 172, 173, 174, 205 Hirszman, Chaim  118 Hitler, Adolf  67, 69, 119 Hoffmann, Detlef  19, 168 Höfle, Hermann Julius (Hans)  113 Hofmann, Ernst  60 Höppner, Rolf-Heinz  68, 69 Höß, Rudolf Franz Ferdinand  75, 222, 229

Personenregister  | 355

J Jacob, Lili  59 Jenninger, Philipp-Hariolf  26, 27 Justmann, Yitzhak  87, 89 K Kamann, Dietrich  61 Kamiński, Aleksander  78 Kammler, Hans Friedrich Karl Franz  172 Karski, Jan (Kozielewski)  25, 26, 32 Kaszyński, Stanisław  84, 85, 93 Kertész, Imre  63 Klemperer, Victor  28 Knigge, Volkhard  17, 49, 329 Knoch, Habbo  51, 52 Koch, Karl Otto  172, 173, 174 Koegel, Otto Max  174 Kogon, Eugen  136 Kolbe, Maximilian Maria  237 Komorowski, Bronisław Maria  219 Koper, Ewa  16, 123, 131 Koppe, Karl Heinrich Wilhelm  68 Korczak, Janusz (Henryk Goldszmit)  144 Koselleck, Reinhart  334 Kößler, Gottfried  343 Kovner, Abba  277 Kowalczyk, Agnieszka  193 Kozak, Stanisław  103, 105, 106, 107 Kranz, Tomasz  49, 59, 170, 171, 172, 173, 174, 188, 190, 196 Królik, Krystina  114 Krzowski, Jan  20 Kucia, Marek  233 Kuhls, Heike  62 Kuleta-Hulboj, Magdalena  311 Kulka, Otto Dov  11, 12, 167 Kuwałek, Robert  102, 122, 123, 290

Kwaśniewski, Aleksander  122 L Laabs, Gustav  86 Langbein, Hermann  224, 225, 234 Lange, Herbert  68, 69, 78 Lanzmann, Claude  69, 76, 77, 81, 85, 88, 89, 101, 147, 154, 166 Laqueur, Thomas Walter  335 Lau-Lavie, Naphtali  89 Lawicz, Jan  223 Lazar, Alon  321, 322, 323 Lejtman, Schlomo  281, 286 Lenz, Willi  80, 81, 82, 90 Lerman, Miles  121 Lerner, Yehuda  147, 155 Lev, Michal  322 Levy, Daniel  23 Lichtman, Icchak  293 Lichtmann, Ada  151 Liebehenschel, Arthur  175 Linnenbrink-Garcia, Lisa (Elizabeth A. Linnenbrink)  258, 259 Loewy, Hanno  56 Lustiger, Arno  277, 300 Lutz, Thomas  188 M Madritsch, Julius  202 Marcuse, Harold  169 Marecki, Jacek  230 Marszałek, Józef  171, 192 Mayring, Philipp A. E.  246 Mehlhorn, Georg Herbert  70 Michalewicz, Piotr  161, 341 Michel, Hermann  152 Michelsohn, Erhard  69 Michelsohn, Martha  69 Mieszkowski, Łukasz  161, 341

356

|  Autorinnen und Autoren

Milton, Sybil H.  50 Młynarczyk, Jacek Andrzej  138 Möbius, Kurt  72, 86 Molotov, Vjačeslav Michajlovič  36 Montague, Patrick  29, 83, 88, 89 Mularczyk, Andrzej Edward  118 Murawska, Zofia  192 Mußmann, Olaf  168 N Naumann, Karl  172 Nawon, Jitzchak  317 Niemiec, Władysław  139, 140 Nipperdey, Thomas  303 O Obama, Barack Hussein  25, 26, 27 Oberhauser, Josef Kaspar  38, 42, 101, 103, 119, 120 Obermeyer, Josef  38 Ohlendorf, Otto  45 Olesiuk, Danuta  170, 184 Olszewski, Michał  233 Orth, Karin  173 P Pakin, Taube  88 Pampel, Bert  198, 244, 247, 250, 271, 273, 274, 275 Pasterak, Ewa  236 Pečërskij, Aleksandr Aronovič  153, 155, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 294, 300 Petersdorff-Campen, Griet von  219 Pidek, Zdizław  122 Piper, Franciszek  229 Piwoński, Jan  21 Podchlebnik, Mordechaï (Michał)  74, 83, 84, 87, 88, 89

Półturzycki, Bronisław  179 R Raczyński, Edward Bernard Maria  32, 33 Rajchman, Chil  43, 293, 298 Rappaport, Nathan Jakow (Rapaport, Rapoport)  285 Rauff, Hermann Julius Walther  75 Razgonjaev, Michail Afanas'evič  149, 150, 155 Reder, Rudolf (Roman Robak)  41, 42, 109, 110, 111, 118, 119 Reichleitner, Franz Karl  152 Reitlinger, Gerald Roberts  40 Rolat, Zygmunt  297 Rosenberg-Band, Erika  247, 254 Rost, Nelli  42 Roszczyk, Marcin  122 Rothfels, Hans  38, 39 Roy, Abram (Rój)  87, 88 Roy, Sara  88 Rubinstein, Amnon  313 Rupnow, Dirk  28 Rüsen, Jörn  253, 272 S Schäfer, Bettina  236 Schelvis, Jules  152, 154, 280, 287 Scherner, Julian  199 Schindler, Emilie  247 Schindler, Oskar  202, 214, 215, 218, 247 Schluch, Karl  112 Schmidt, Anne  272 Schmitten, Katharina  136 Schoenberner, Gerhard  53 Scholtz, Alina  182, 183 Schudrich, Michael Joseph  160

Personenregister  | 357

Schulman, Jakob  77 Schulz, Konrad  69 Schwindt, Barbara  171, 173, 174 Sellin, Jarosław Daniel  166 Sereny, Gitta  12, 13, 18, 20, 149 Shalev, Avner  164, 239 Shamgar-Handelman, Lea  320 Sikorski, Władysław Eugeniusz  25 Simonov, Konstantin Michajlovič  44 Snyder, Timothy David  48 Soen, Dan  304 Söllner, Alfons  63 Solterbeck, Anja  271 Sołyga, Andrzej  122 Sperling, Rolf  275 Spielberg, Steven Allan  210, 216, 217 Srebrnik, Hava  88 Srebrnik, Szymon (Simon, Shimon)  74, 81, 83, 85, 87, 88, 89 Stalin, Iosif Vissarionovič  35 Stangl, Franz Paul  12, 136, 138, 149, 152 Starski, Allan  210 Stauber, Hans  205 Steinbacher, Sybille  223, 227 Szczypczyński, Ryszard  207, 208, 209 Sznaider, Natan  23 T Tauber, Malke  89 Thomalla, Richard  134, 149 Tołkin, Wiktor  188 Traba, Robert  233 Tusk, Donald Franciszek  26

U Uherek, Piotr  124 Urbanek, Marcin  161, 341 W Wagner, Bernd Christian  227, 228 Wagner, Gustav Franz  152 Waldman, Jakub  83 Walter, Bernhard  60 Wąsowicz, Tadeusz  232 Wasser, Hersz (Hirsz)  73, 78 Weiß, Martin Gottfried  175 Weiss, Otto  152 Weitzner, Gusta  16 Weitzner, Łucja  16 Welter, Mieczysław  156 Welzer, Harald  331, 334 Widawski, Yerachmiel  87, 89, 90 Wienert, Annika  30, 31 Wiesenthal, Simon  288 Willenberg, Samuel  279, 295, 296, 297, 299, 300 Winer, Szlama ( Jakub Grojanowski)  73, 77, 78 Wirth, Christian  38, 101, 103, 104, 105, 131, 152 Wiśniewska, Anna  192 Wojtyła, Karol Józef (Papst Johannes Paul II.)  237 Wóycicka, Zofia  140, 298 Y Young, James Edward  209, 285 Z Zachwatowicz, Jan  185 Zelizer, Barbie  51 Zeug, Dietrich  119 Zielonko, Alfons  139, 140

Żiurawski, Mordka  72 Zuckerman, Jitzhak (Icchak Cukierman)  231 Zülsdorf-Kersting, Meik  243 Żurawski, Mieczysław  80, 83, 87, 90

EUROPÄISCHE DIK TATUREN UND IHRE ÜBERWINDUNG SCHRIF TEN DER STIF TUNG ET TERSBERG HERAUSGEGEBEN VON JÖRG GANZENMÜLLER, VOLKHARD KNIGGE, CHRISTIANE KULLER

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