Organisierter Kapitalismus: Voraussetzungen und Anfänge 9783666359606, 9783647359601, 3525359608, 9783525359600


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Organisierter Kapitalismus: Voraussetzungen und Anfänge
 9783666359606, 9783647359601, 3525359608, 9783525359600

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 9

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

KRITISCHE STUDIEN ZUR GESC HIC HTSWISSENSC HAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Christoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler

Band 9 Organisierter Kapitalismus

GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPREC HT • 1974

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

Organisierter Kapitalismus Voraussetzungen und Anfänge Mit Beiträgen von Gerald D. Feldman, Gerd Hardach, Jürgen Kocka, Charles S. Maier, Hans Medick, Hans-Jürgen Puhle, Volker Sellin, Hans-Ulrich Wehler, Bernd-Jürgen Wendt, Heinrich August Winkler

Herausgegeben von Heinrich August Winkler

GÖTTINGEN ■ VANDENHOEC K & RUPREC HT • 1974

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

ISBN 3-525-35960-8 Umschlag: Peter Kohlhase © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & C o., Göttingen

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Inhalt Vorbemerkung

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HEINRICH AUGUST WINKLER

Einleitende Bemerkungen zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus . .

9

JÜRGEN KOC KA

Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalis­ mus? Begriffliche Vorbemerkungen

19

HANS-ULRICH WEHLER

Der Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und Interventionsstaates in Deutschland

36

H A N S MEDIC K

Anfänge und Voraussetzungen des Organisierten Kapitalismus in Großbritannien 1873 —1914

58

VOLKER SELLIN

Kapitalismus und Organisation. Beobachtungen an der Industriali­ sierung Italiens

84

GERD HARDAC H

Französische Rüstungspolitik 1914—1918

101

BERND-JÜRGEN WENDT

War Socialism — Erscheinungsformen und Bedeutung des Organi­ sierten Kapitalismus in England im Ersten Weltkrieg

117

GERALD D. FELDMAN

Der deutsche Organisierte Kapitalismus während der Kriegs- und Inflationsjahre 1914—1923

150

HANS-JÜRGEN PUHLE

Der Übergang zum Organisierten Kapitalismus in den USA — Thesen zum Problem einer aufhaltsamen Entwicklung

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172

Inhalt CHARLES S. MAIER

Strukturen kapitalistischer Stabilität in den zwanziger Jahren: Errungenschaften und Defekte

195

HEINRICH AUGUST WINKLER

Vorläufige Schlußbemerkungen .

214

Abkürzungsverzeichnis

219

Autorenverzeichnis

220

Personenregister

222

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Vorbemerkung Der vorliegende Band enthält — mit einer Ausnahme — Papiere, die in we­ sentlich kürzerer Form am 5. und 6. Oktober 1972 im Rahmen der Arbeits­ gemeinschaft „Voraussetzungen und Anfänge des Organisierten Kapitalismus“ auf der 29. Versammlung Deutscher Historiker in Regensburg vorgetragen und diskutiert wurden. Die Ausnahme ist ein Aufsatz von Gerd Hardach über die französische Rüstungspolitik im Ersten Weltkrieg. Da Frankreich auf dem Kongreß selbst nicht Gegenstand eines eigenen Referates war, ist es erfreulich, daß diese Lücke nachträglich wenigstens teilweise geschlossen werden kann. Anlaß der Regensburger Themenwahl war die Tatsache, daß in der neueren sozialgeschichtlichen Literatur ein Begriff in eine Schlüsselrolle hineingewachsen ist, der ebenso diskussionswürdig wie diskussionsbedürftig erscheint: „Organi­ sierter Kapitalismus“. Gemeint ist mit diesem von Rudolf Hilferding gepräg­ tem Begriff in der Regel die Ablösung einer von Einzelunternehmern getra­ genen und gegen Staatseingriffe weitgehend abgeschirmten Wettbewerbswirt­ schaft durch eine hochgradig konzentrierte, innerlich bürokratisierte und ver­ bandsmäßig organisierte Wirtschaftsordnung, deren Funktionsfähigkeit durch Staatsinterventionen unterschiedlichster Qualität gesichert wird. Unter den Referenten war die historische Aussagekraft des Begriffs „Organi­ sierter Kapitalismus“ keineswegs unbestritten, und sie ist es bis heute nicht. Im Sinne einer heuristischen Herausforderung hat die Konzeption jedoch auch ihre entschiedenen Kritiker angeregt. Die Frage, die im Mittelpunkt der Regens­ burger Diskussionen stand, lautete: Ist das Modell des Organisierten Kapita­ lismus geeignet, wesentliche Strukturveränderungen in Wirtschaft und Gesell­ schaft „auf den Begriff zu bringen“ und angemessen zu periodisieren? Zeitlich konzentrierte sich die Arbeitsgemeinschaft auf das halbe Jahrhundert zwischen 1873 (Beginn der Großen Depression) und 1923 (Ende der ersten Nachwelt­ kriegszeit). Diese pragmatische Beschränkung beruhte auf der (inzwischen eini­ gen von uns problematisch gewordenen) Annahme, daß zu Beginn der 1920er Jahre bereits ein vorläufiger Abschluß dessen erreicht war, -was der Begriff „Organisierter Kapitalismus“ zusammenzufassen versucht. Die Regensburger Arbeitsgemeinschaft hat sich auf das Feld der verglei­ chenden Sozialgeschichte begeben, sie hat sich um Theoriebildung und Theorie­ kritik bemüht. So unvollkommen die Ergebnisse auch sein mögen: Wenn sie als Anstoß für weitere Forschungen wirken würden, hätte sich der Versuch ge­ lohnt. Im Namen der Referenten möchte ich denen danken, die uns bei den

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Vorbemerkung

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Regensburger Debatten durch Anregung und Kritik geholfen haben. Für die Mitarbeit beim Lesen der Korrekturfahnen und bei der Herstellung des Na­ mensregisters sowie für viele kritische Hinweise danke ich Fräulein cand. phil. Heidrun Homburg. Freiburg i. Br., im April 1973

Heinrich August Winkler

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Einleitende Bemerkungen zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus Von HEINRIC H AUGUST WINKLER

Ernst Fraenkel zum 75. Geburtstag am 28. Dezember 1973

I. Der Begriff „Organisierter Kapitalismus“ findet sich erstmals in einem Auf­ satz „Arbeitsgemeinschaft der Klassen?“, den Rudolf Hilferding 1915 in der Zeitschrift „Der Kampf“, dem theoretischen Organ der österreichischen Soziali­ sten, veröffentlicht hat. Hilferding, 1877 in Wien geboren, seit 1907 als Schriftleiter des „Vorwärts“ in Berlin wirkend, galt seit dem Erscheinen seines „Finanzkapital“ im Jahre 1910 als einer der führenden marxistischen Theore­ tiker. Die Stoßrichtung des Aufsatzes von 1915 ging gegen jene „geistige“ Arbeitsgemeinschaft der Klassen, zu der sich unter dem Eindruck des Krieges einige Gewerkschaftsführer und Sozialdemokraten des rechten Flügels öffent­ lich bekannt hatten. Was die grundsätzlichen Argumente des „Kampf-Artikels angeht, so konnte Hilferding — von Anfang an ein entschiedener Gegner der Kriegskreditbewil­ ligung — unmittelbar auf die Überlegungen zurückgreifen, die er fünf Jahre zuvor in seinem großen theoretischen Werk vorgetragen hatte. Der Kontext, in dem der Begriff des Organisierten Kapitalismus erstmals verwandt wird, ist zugleich ein knappes Resümee dessen, was Hilferding zur Fortentwicklung der Marxschen Theorie beigetragen hat: „Das Finanzkapital — die Beherrschung der monopolistisch organisierten Industrie durch die kleine Zahl der Groß­ banken — hat die Tendenz, die Anarchie der Produktion zu mildern und ent­ hält Keime zu einer Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine orga­ nisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung Die ungeheure Stärkung der Staatsmacht, die das Finanzkapital und seine Politik erzeugt hat (sic!), wirkt in derselben Richtung. Anstelle des Sieges des Sozialismus erscheint eine Gesell­ schaft zwar organisierter, aber herrschaftlich, nicht demokratisch organisierter Wirtschaft möglich, an deren Spitze die vereinigten Mächte der kapitalisti­ schen Monopole und des Staates stünden, unter denen die arbeitenden Massen in hierarchischer Gliederung als Beamte der Produktion tätig wären. Anstelle der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Sozialismus träte die den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen der Klassen besser als bisher angepaßte Gesellschaft eines organisierten Kapitalismus,“1

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Die dialektische Struktur der Hilferdingschen Theorie des Organisierten Kapitalismus tritt bereits in diesem Zitat hervor. Einerseits weist die Ent­ wicklung des Kapitalismus Züge auf, die als Milderung seiner inneren Wider­ sprüche verstanden werden können; andererseits führen fortschreitende Zentra­ lisierung und Planung nicht von selbst über den Kapitalismus hinaus. Dieser erhält vielmehr eine Überlebenschance, die sich sehr wohl als Alternative zum Sozialismus herausstellen kann. Freilich wäre dies noch nicht schlechthin mit einer Niederlage der Arbeiterbewegung gleichzusetzen — ist doch die Stabili­ sierung des Kapitalismus selbst vor allem eine Folge hartnäckig verfochtener Arbeitnehmerinteressen. Das Proletariat hat in dem Maß, wie es sich organi­ sierte und für seine Belange zu kämpfen lernte, den Kapitalismus verändert und für sich erträglicher gemacht. Oder, wie Hilferding es mit einem gestoche­ nen Paradoxon sagt: „Die konterrevolutionären Wirkungen der Arbeiterbewe­ gung haben die revolutionären Tendenzen des Kapitalismus geschwächt.“ Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Der Übergang in eine qualitativ neue, in eine sozialistische Gesellschaftsordnung bleibt eine politische Aufgabe. Nach­ dem die Arbeiterbewegung aber dem Kapitalismus die Verwirklichung seiner schlimmsten Verelendungstendenzen unmöglich gemacht hat, fehlen wesentliche Voraussetzungen für eine revolutionäre Transformation der Gesellschaft. Mit dem Umfang der von der Arbeiterschaft erkämpften demokratischen Rechte steigen auch, das kann man aus Hilferdings Analyse herauslesen, die Aussichten für eine evolutionäre Verwirklichung des Sozialismus. Auf die politischen Implikationen der Theorie des Organisierten Kapitalis­ mus wird noch zurückzukommen sein. Hilferding selbst hat als Unabhängiger Sozialdemokrat während der deutschen Novemberrevolution zu jenen gehört, die die C hance einer relativ offenen Situation für die präventive gesellschaft­ liche Sicherung der parlamentarischen Demokratie zu nutzen versuchten. Kon­ kret meinte das die Entmachung derjenigen Kräfte, die nach den Erfahrungen des Kaiserreiches als entschlossene Gegner jeder Demokratisierung angesehen werden mußten. Eine Sozialisierung der Schwerindustrie wäre somit vor allem aus politischen Gründen zu legitimieren gewesen. Daß entgegen Hilferdings realistischen Einsichten ein Bruch mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen des Kaiserreiches nicht vollzogen wurde, war eine schwere Hypothek für die erste deutsche Republik. Als Demokrat hat Hilferding dennoch nie in der Ver­ suchung gestanden, sich dem autoritären Sozialismus der Dritten Internationale zu verschreiben. Die Wiedervereinigung von USPD und SPD im Jahre 1922 war nicht zuletzt auch sein Werk. Die Weimarer Sozialdemokratie fand in ihm bald ihren führenden Theoretiker. In dieser Eigenschaft und nicht in der des Reichsfinanzministers — ein Amt, das er 1923 und 1928/29 bekleidete — hat er seine größte politische Bedeutung erlangt. Im ersten Heft der von ihm herausgegebenen „Gesellschaft“, dem neuen theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie, nahm Hilferding 1924 den theoretischen Faden an der Stelle wieder auf, bis zu der er ihn während des Krieges gesponnen hatte. Ausführlicher als in dem Aufsatz von 1915 skiz© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

Zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus

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zierte er zunächst die Tendenzen, die im Begriff des Organisierten Kapitalis­ mus zusammenliefen. Kriegs- und Nachkriegszeit hätten in der Ökonomie eine außerordentliche Steigerung der Kapitalkonzentration mit sich gebracht und die Kartell- und Trustentwicklung mächtig gefördert. „Die Periode der freien Konkurrenz neigt sich dem Ende zu. Die großen Monopole werden zu den entscheidenden Beherrschern der Wirtschaft, immer enger wird die Verbindung mit den Banken, in denen das gesellschaftliche Kapital konzentriert und der Wirtschaft zur Verfügung gestellt wird. Die früher getrennten Formen des Industrie-, Handels- und Bankkapitals streben in der Form des Finanzkapitals zur Vereinheitlichung. Dies bedeutet den Übergang von dem Kapitalismus der freien Konkurrenz zum organisierten Kapitalismus.“ Die Tendenz zur Planung und Lenkung der Wirtschaft, die Hilferding er­ neut registrierte, würde, falls sie sich ohne Hemmnis durchsetzen könnte, eine „zwar organisierte, aber eine in antagonistischer Form hierarchisch organisierte Wirtschaft“ zur Folge haben. Diese Form der Organisation kann nach Hilfer­ dings Ansicht immerhin die Unstetigkeit der kapitalistischen Produktionsver­ hältnisse mindern und die Krisen oder wenigstens deren Rückwirkung auf die Arbeiter mildern. Den fundamentalen Widerspruch aber zwischen den Inter­ essen von Kapital und Arbeit vermag kapitalistische Planung nicht zu behe­ ben. Dieser Widerspruch wird erst beseitigt durch die Umwandlung der hier­ archisch organisierten in die demokratisch organisierte Wirtschaft. „Die be­ wußte gesellschaftliche Regelung der Wirtschaft durch die wenigen für deren Machtzwecke wird zur Regelung durch die Masse der Produzenten. So stellt der Kapitalismus, gerade wenn er zu seiner höchsten Stufe einer von neuem organisierten Wirtschaft gelangt, das Problem der Wirtschaftsdemokratie.“2 Das Ziel der Wirtschaftsdemokratie erschien Hilferding nur in einem lang­ dauernden historischen Prozeß erreichbar — einem Prozeß, in dem die fortschrei­ tenden Organisationstendenzen des Kapitals durch eine von den Arbeitern simul­ tan zu erkämpfende demokratische Kontrolle in Schach gehalten werden. In der großen Grundsatzrede, die Hilferding 1927 auf dem Kieler Parteitag hielt, hat er die — freilich durch Aktion vermittelte — Konvergenz von Organisiertem Kapi­ talismus und Sozialismus noch deutlicher herausgearbeitet: „Organisierter Kapi­ talismus bedeutet in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Pro­ duktion.“ Planung, auch wenn sie unter kapitalistischen Vorzeichen erfolgt, un­ terliegt Hilferding zufolge in weit höherem Maß als „anarchischer“ Wettbewerb der Möglichkeit bewußter gesellschaftlicher und staatlicher Einwirkung, und so postulierte er die Aufgabe, „mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der bewußten gesellschaftlichen Regelung diese von den Kapitalisten organisierte und gelei­ tete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft um­ zuwandeln“. Hilferding hielt diese Aufgabe auf dem Höhepunkt der Periode relativer Stabilität zwischen 1924 und 1928 für durchaus lösbar. Er sah die kapitalistische Gesellschaft immer mehr dem „zunehmenden Einfluß der Arbei­ terklasse“ unterliegen und damit die C hancen für die Wirtschaftsdemokratie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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wachsen. Diese aber war gleichzusetzen mit der Unterordnung der wirtschaft­ lichen Privatinteressen unter das gesellschaftliche Interesse oder, wie Hilferding schon zwei Jahre zuvor auf dem Heidelberger Programmparteitag kurz und bündig erklärt hatte, mit dem Sozialismus3. II. Die Wirklichkeit hat Hilferdings Optimismus, was den zunehmenden Ein­ fluß der Arbeiterschaft und die prognostizierte Milderung der Krisen angeht, nicht bestätigt. Der maßgebende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie hatte Mühe, die zusätzlichen Faktoren nachträglich in die Analyse einzufüh­ ren, die den unprogrammäßigen Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1929 erklären konnten. Hilferding deutete die Depression als „historisch einzigar­ tig“, als Folge „jener ungeheuren Störungen der Produktionsverhältnisse“, für die in Krieg und Nachkriegszeit die Keime gelegt worden seien, ja, als „die grundsätzliche Liquidation des Krieges“. Was der Erste Weltkrieg unmittelbar oder mittelbar induziert hatte, waren insbesondere eine gewaltige Überpro­ duktion auf dem Agrarsektor, eine forcierte und procuktionssteigernde Ent­ wicklung der Technik, eine von technischer Arbeitslosigkeit begleitete Betriebs­ rationalisierung, die Revolutionierung der Absatzwege im zwischenstaatlichen Bereich, eine exzessive Inflation und schließlich die gewaltige Ausdehnung des Kapitalexports, wobei die neue Stellung der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber den europäischen Industrieländern eine Strukturveränderung der weltwirtschaftlichen Beziehungen bedeutete. Zwar war für Hilferding der Weltkrieg selbst als ultima ratio des imperialistischen Konkurrenzkampfes kein Ereignis, dessen Ursachen sich der ökonomischen Analyse entzogen, aber auf dem Hintergrund der Theorie des Organisierten Kapitalismus, wie er sie in den zwanziger Jahren weiterentwickelt hatte, erschienen die Krisenursachen als gewissermaßen exogene Faktoren4. Die irrige Annahme, daß die Kartellierung krisenmildernd wirke, hatte Hil­ ferding dazu verleitet, den Konjunkturzyklen keine erhebliche Bedeutung mehr zuzumessen. Daß in der Krise von 1929 zwei Abschwungperioden zusam­ mentrafen und sich gegenseitig verstärkten, daß sich eine langfristige Konjunk­ turschwingung und ein kürzerer Kreislauf überlagerten: diese Einsicht lag prin­ zipiell nicht jenseits des Horizonts zeitgenössischer Konjunkturtheorie. Mit dem Instrumentarium Hilferdings war sie nicht zu gewinnen5. Die dogmatisch-marxistische Kritik hatte es leicht, Blindstellen in Hilferdings Theorie auszumachen. So konnte sie nachweisen, daß der Organisierte Kapita­ lismus keineswegs das Ende der Konkurrenz bedeutete. Angesichts der vielfäl­ tigen Substitutionsmöglichkeiten für monopolisierte Produkte, des Quotenstrei­ tes innerhalb der Kartelle und der C hance, daß ein Monopolist in das unter­ schiedliche Produktionsgebiet eines anderen einbrach, ließ sich sehr wohl die These vom „monopolistischen Wettbewerb“ vertreten. Hilferdings „General­ kartell“, die letzte „ökonomisch denkbare“ Konsequenz der Konzentrations© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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bewegung, war eine unzulässige Abstraktion von wirklichen Widersprüchen. Auch die Unausweichlichkeit einer großen Krise konnte vom sowjetmarxistischen Standpunkt aus leichter, und im konkreten Fall zutreffender, vorausgesagt wer­ den als von dem des praktischen und theoretischen Revisionisten Hilferding6. Auf lange Sicht freilich bot die Theorie des Organisierten Kapitalismus einen Ansatzpunkt, von dem aus die Stabilisierungschancen des kapitalistischen Wirt­ schaftssystems sehr viel realistischer zu bestimmen waren als vom Glauben an seinen notwendigen Zusammenbruch. Die Tendenz zur immer umfassenderen Staatsintervention, die Hilferding frühzeitig diagnostiziert hatte, gewann erst unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise ihre klassische Form. Die prä­ ventive Krisenbekämpfung, wie sie John Maynard Keynes mit seiner Grund­ legung einer antizyklischen Konjunkturpolitik intendierte, kann im theorie­ geschichtlichen Zusammenhang durchaus als Fortentwicklung dessen gelten, was in der Konzeption des Organisierten Kapitalismus bereits angelegt ist. Hilfer­ ding selbst hatte in seinem Grundsatzartikel von 1924 antizyklische Denk­ ansätze erkennen lassen, wenn er davon sprach, daß „eine gewisse Zurückhal­ tung von Neuanlage fixen Kapitals in der Zeit der Hochkonjunktur und Ver­ legung auf die Zeit verlangsamten Geschäftsganges, eine dem angepaßte Kre­ ditregulierung durch die Großbanken, unterstützt durch eine entsprechende Geldpolitik der Zentralbank“ zu den Mitteln einer Politik der Krisenmilde­ rung gehörten. Die staatliche Exekutive trat allerdings in diesem Maßnahmen­ katalog nicht unmittelbar in Erscheinung, und 1931 hat Hilferding vor dem Kongreß des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes die Brüningsche Defla­ tionspolitik mit geradezu dogmatischen Argumenten gerechtfertigt. Die mo­ dern anmutenden Arbeitsbeschaffungspläne der freien Gewerkschaften von 1932 wurden von ihm gar als „unmarxistisch“ abgelehnt. Die theoretische Fixierung auf das sozialistische Endziel versperrte ihm den Blick auf das aktuell Nötige und Machbare7. Die Theorie des Organisierten Kapitalismus, wie Hilferding sie formuliert hatte, war in der Tat noch unvollkommen — ja, es erscheint durchaus fraglich, ob man vor der „Keynesian Revolution“ überhaupt von einem vollentwickelten Strukturtyp des Organisierten Kapitalismus sprechen kann. Die Frage aber „nach den Möglichkeiten des Systems, seine Grenzen selbstadaptiv hinauszuschieben“8, war durch Hilferding gestellt, und sie hat ihre heuristische Funktion bis heute behalten. III. Die „Wirtschaftsdemokratie“, in der Hilferding eine notwendige Konse­ quenz des Organisierten Kapitalismus sah, ist 1928 vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund in den Rang einer offiziellen Doktrin erhoben worden. Die Konzeption, die Fritz Naphtali auf dem Hamburger Kongreß vortrug und wenig später in einer Broschüre unter dem Titel „Wirtschafts­ demokratie“ nochmals ausführlich begründete, fußte in ihrem theoretischen Teil ganz auf Hilferdings Lehre vom Organisierten Kapitalismus. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Aus der Tatsache, daß der Marktwettbewerb eine angemessene Kontrolle wirtschaftlicher Macht nicht mehr verbürgte, ließ sich die Legitimation einer alternativen öffentlichen Kontrolle ableiten. Als Schritte auf dem Weg zu einer Wirtschaftsdemokratie konnte aber auch schon Erreichtes verstanden wer­ den: Konsumgenossenschaften und Gewerkschaftsbetriebe, die Demokratisie­ rung des Arbeitsverhältnisses vom Sachenrecht über das Schuldrecht bis zum Arbeitsrecht, alle Formen gewerkschaftlicher Mitbestimmung und die sozialen Errungenschaften insgesamt, die sich die Arbeiterbewegung in jahrzehntelan­ gem Kampf erstritten hatte. Die Wirtschaftsdemokratie war, auch darin folgte Naphtali der Argumentation Hilferdings, nur als Resultat eines langen Prozes­ ses vorstellbar; das Endziel selbst wurde mit dem Sozialismus gleichgesetzt9. Der wesentliche Mangel des wirtschaftsdemokratischen Programms lag ge­ rade in seiner scheinbaren Geschlossenheit. Allzu global wurde der Markt­ wirtschaft der Abschied gegeben und der privaten Initiative auf lange Sicht auch dort das Entfaltungsrecht abgesprochen, wo ein relativ unbeschränkter Wettbewerb sich durch Leistung legitimieren konnte. Daß im oligopolistischen Bereich Formen öffentlicher Kontrolle denkbar waren, die mehr Effizienz ver­ sprachen als die volle Vergesellschaftung, blieb außer Betracht. Überhaupt wur­ den die Gefahren einer umfassenden Bürokratisierung der Wirtschaft in der sozialdemokratischen Diskussion der zwanziger Jahre beharrlich unterschätzt. Zwar hatten die Erfahrungen mit der Kriegswirtschaft Hilferding die „geringe Eignung staatlicher Bürokratie zur Lösung wirtschaftlicher Aufgaben“ gezeigt und ihn den Ausweg in Selbstverwaltungskörperschaften suchen lassen, in „de­ ren Leitung die Produzenten (Arbeiter, Angestellte und Leiter), die Konsumen­ ten (Weiterverarbeiter und Verbraucher) und als Vertreter der Allgemeinheit der Staat vertreten sind“10. Aber wenig sprach dafür, daß gemischte Honora­ tiorengremien sich gegenüber dem industriellen Management behaupten, ge­ schweige denn es effektiv kontrollieren konnten. Und auch bei Naphtali war die Gefahr nicht zu übersehen, daß die von ihm intendierte wirtschaftliche „Selbstverwaltung“ sich als eine bloße Fassade erwies, die die Entstehung einer neuen parastaatlichen Bürokratie verdeckte. In einem wesentlichen Punkt blieben Hilferding wie Naphtali dem Denken von Marx verhaftet: Es erschien ihnen als ein Stück „gesollter“ Geschichte, daß das Proletariat die Bourgeoisie als herrschende Klasse einmal ablösen würde. Wie Marx gingen sie davon aus, daß die Abschaffung der Feudalherr­ schaft durch den bürgerlichen Kapitalismus trotz aller historischen Modifikatio­ nen ein Paradigma dessen war, was diesem selbst bevorstand. Die Ablösung einer funktionslos gewordenen herrschenden Klasse, wie sie 1789 in Frankreich erfolgte, war jedoch eine C hance, die nur der Dritte und nie der Vierte Stand erhielt. Marx selbst hat im dritten Band des „Kapital“, als er die „Arbeit der Oberaufsicht und Leitung“ in jeder „kombinierten Produktionsweise“ (im Un­ terschied zur vereinzelten Arbeit der selbständigen Produzenten) als eine pro­ duktive und notwendige Arbeit bezeichnete11, die Legitimität zumindest einer nichtproletarischen Funktion und damit, im Ansatz, eines funktionalen Plura© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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lismus theoretisch anerkannt. Die praktische Legitimation der jeweiligen Funk­ tionsinhaber ist allerdings eine andere Sache: sie ist, in demokratischen Gesell­ schaften jedenfalls, vorrangig eine Frage wirtschaftlicher Effizienz. Für die Ver­ treter alternativer Sozialmodelle folgt daraus, daß sie ihrerseits dem Legiti­ mationszwang unterworfen sind, auch die praktische Überlegenheit ihrer Ent­ würfe plausibel zu machen. Für Hilferding hieß die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Oberzeu­ gungsprozesses: politische Demokratie. Historisch betrachtet, so hat er auf dem Kieler Parteitag gesagt, sei die Demokratie stets die Sache des Proletariats gewesen, und es sei darum falsch und irreführend, von „bürgerlicher Demo­ kratie“ zu reden. Ebenso falsch sei das Wort von der „formalen Demokratie“, denn die soziale Wirkung von Demokratie sei von höchster inhaltlicher Bedeu­ tung für jedes Arbeiterschicksal. Und schließlich gelte es, dem verbreiteten Schlagwort von den „demokratischen Illusionen“ entgegenzutreten. „Wenn Illusionen zu zerstören sind, so sind es heute nicht mehr diejenigen, die Marx 1848 zerstört hat. Das ist doch ein ganz lächerlicher Buchstabenglaube. Wir müssen die Illusionen zerstören, die heute gefährlich sind, und heute sind es diese antidemokratischen Illusionen.“12 Das Ende von Weimar kann nur oberflächlichen Interpreten als Bestätigung dafür dienen, daß Hilferdings Plädoyer für die Demokratie durch die Ge­ schichte widerlegt worden sei. Wie notwendig gesellschaftliche Veränderungen waren, um eine parlamentarische Demokratie in Deutschland dauerhaft zu si­ chern: darüber war er sich während des revolutionären Umbruchs von 1918/19 weitaus klarer als die Führer der Mehrheitssozialdemokraten. In der Mitte der zwanziger Jahre hat Hilferding die innen- und außenpolitische Lage ohne jeden Zweifel unrealistisch eingeschätzt: Seine Analysen tragen teilweise aus­ gesprochen harmonisierende Züge. Das antidemokratische Potential der deut­ schen Gesellschaft war auch in der Zeit relativer Stabilität zwischen 1924 und 1929 viel stärker, als Hilferding es wahrhaben wollte. Und gegen eine autori­ täre Entwicklung des Organisierten Kapitalismus war kaum ein Land weniger immun als Deutschland13. Daß aber Hilferding und die Sozialdemokraten insgesamt damals einen prin­ zipiell anderen, am besten einen revolutionären Weg hätten einschlagen sollen, das kann auch nachträglich nur fordern, wer weder ihre demokratischen Prä­ missen teilt, noch ihren tatsächlichen, von rechts und von links eng begrenzten Handlungsspielraum zur Kenntnis nehmen will. Die Sozialdemokraten hielten an dem Grundsatz demokratischen Machterwerbs nicht zuletzt deswegen fest, weil sie die sozialen Kosten einer Erziehungsdiktatur — zu Recht — für un­ kalkulierbar hielten. Im übrigen waren die spezifischen Vorbelastungen der ersten deutschen Demokratie so stark, daß man sich davor hüten sollte, aus der Auflösung der Weimarer Republik vorschnell allgemeine Gesetze abzuleiten. Die Erfolge der faschistischen Bewegungen desavouierten jedenfalls nicht die liberale Demokratie als politisches Prinzip. Die Macht ergreifen konnten jene Bewegungen nur dort, wo die Trägerschichten des Ancien régime einen guten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Teil ihrer Machtpositionen über die Industrielle Revolution hinweggerettet und sich als politische Partner konservativer Industriegruppen etabliert hatten. Die klassischen Demokratien hingegen konnten sich auch in der ökonomischen Krise behaupten. Organisierter Kapitalismus führte mithin nicht notwendig zu Fa­ schismus14. Die Frage, wie Demokratie gesellschaftlich gesichert werden kann, ist heute neu und noch umfassender gestellt als in den zwanziger Jahren. Die öffentliche Kontrolle wirtschaftlicher Macht gehört in diesen Zusammenhang, und das längst nicht mehr nur im nationalstaatlichen Rahmen. Hilferding hat selbst keine praktikablen Lösungsvorschläge vorgelegt, aber seine theoretischen An­ sätze führen unmittelbar zum entscheidenden Problem: Wie müßten Formen der Machtkontrolle beschaffen sein, die nicht selbst wieder auf eine freiheits­ gefährdende Machtkonzentration hinauslaufen? Einstweilen ist weder eine Theorie noch eine Praxis zu ermitteln, die diese Frage überholt erscheinen ließe 15 .

Anmerkungen 1 R. Hilferding, Arbeitsgemeinschaft der Klassen? Der Kampf 8. 1915, 322. Zur politischen und theoretischen Entwicklung Hilferdings: W. Gottschalch, Strukturverän­ derungen der Gesellschaft u. politisches Handeln in der Lehre von Rudolf Hilferding, Berlin 1962. Für die Zeit 1918—20 ist teilweise ergiebiger: E. Prager, Die Geschichte der U.S.P.D., Berlin 1921, 179—232. 2 R. Hilferding, Probleme der Zeit, Die Gesellschaft (DG) 1. 1924, 1—17. Über Hil­ ferding als Herausgeber der „Gesellschaft“ vgl. jetzt: E. Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz u. Aufsätze zur Verfassungskrise 1931—32, Sonderausgabe Darmstadt 1968, VII—XIV (Vorwort zum Neudruck). Als Zeugnis aus der Revolutionszeit siehe insbesondere die Reden Hilferdings auf dem 1. Reichsrätekongreß, in: Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918, Berlin 1919, 312—21, 341—44. 3 R. Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozial­ demokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, 165—84; ders., Das Par­ teiprogramm, in: Sozialdemokratischer Parteitag 1925 in Heidelberg (Protokoll), Ber­ lin 1925, 297. 4 Ders., Gesellschaftsmacht oder Privatmacht über die Wirtschaft, in: AfA-Gewerk­ schaftskongreß Leipzig vom 5. bis 7. Oktober 1931, Berlin 1931, 84—114. 5 A. Predöhl, Das Ende der Weltwirtschaftskrise, Reinbek 1962. 6 Für die sowjetmarxistische Sicht, vor allem die zeitgenössischen Arbeiten von E. Varga, in Auswahl jetzt leicht zugänglich in: ders., Die Krise des Kapitalismus u. ihre politischen Folgen, Frankfurt 1969, bes. 11—41. Vgl. ferner: L. Leontjew, Der „Organisierte Kapitalismus“ und die „Wirtschaftsdemokratie“, Unter dem Banner des Marxismus 3. 1929, 660—87; M. Joelson, Monopolistischer Kapitalismus oder „Organisierter Kapitalismus“, ebd., 807—33. Zum Problem des „Generalkartells“: R. Hilferding, Das Finanzkapital, Neuausgabe Frankfurt 1968, 389—404. Die Titel­ these dieses Buches, die eine Verflechtung von Bank- und Industriekapital bei deut­ licher Dominanz des ersteren konstatiert, kann in diesem Zusammenhang nicht aus­ führlich diskutiert werden. Sie trifft für Deutschland offensichtlich eher (wenn auch hier nur mit Einschränkungen) zu als für Frankreich und England. In Amerika erwies sich die Verflechtung tendenziell als weniger dauerhaft als in Deutschland. Vgl. für

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Zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus

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Amerika und England die Beiträge von H.-J. Puhle, H. Medick und B.-J. Wendt in diesem Band; für Frankreich: G. Ziebura, Interne Faktoren des französischen Hoch­ imperialismus, in: W. J . Mommsen Hg., Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971, 85—139; für Deutschland z.B.: J . Riesser, Die deutschen Großbanken und ihre Kon­ zentration, Jena 1912; W. Hagemann, Das Verhältnis der deutschen Großbanken zur Industrie, Berlin 1931, und neuerdings: J . Kocka, Unternehmensverwaltung u. Ange­ stelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914, Stuttgart 1969, 431—35. 7 Hilferding, Probleme der Zeit, 2; Gesellschaftsmacht, 101 —109. Brüning hat Hil­ ferding, mit dem er persönlich befreundet war, in seinen Memoiren wiederholt mit Worten außerordentlicher Anerkennung bedacht: H. Brüning, Memoiren 1918—1934, Stuttgart 1970, passim. Für Hilferdings Arbeiten aus der Krisenzeit nach 1929 vgl. die Bibliographie bei Gottschalch, 268—73. Zu Hilferdings Polemik gegen die Gewerk­ schaftspläne eines „deficit spending“: W. S. Woytinski, Stormy Passage, New York 1961, 468—72. Zum gleichen Problem demnächst die Beiträge von R. A. Gates u. M. Schneider in dem Band: Industrielles System u. politische Entwicklung in der Wei­ marer Republik, Düsseldorf 1974. 8 Der Ausdruck bei C . Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frank­ furt 1972, 25. 9 F. Naphtali, Wirtschaftsdemokratie (19281), Frankfurt 19682; Protokoll der Ver­ handlungen des 13. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands (3. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes), abgehalten in Hamburg vom 3. bis 7. September 1928, Berlin 1928, 20—22, 170—224. Zur zeitgenössischen Diskussion über die Wirtschaftsdemokratie vgl. H. A. Winkler, Unternehmer u. Wirtschaftsdemokra­ tie in der Weimarer Republik, Politische Vierteljahresschrift 11. 1970, Sonderheft 2, 308—22 (mit weiterer Literatur). 10 Hilferding, Einleitung zu: G. D. H. C ole, Selbstverwaltung in der Industrie, Berlin 1921, VI. 11 Marx-Engels-Werke 25, 397. Marx sah in der „Kooperativfabrik“ den „gegen­ sätzlichen C harakter der Aufsichtsarbeit“ entfallen, da dort der Dirigent von den Arbeitern bezahlt werde, statt ihnen gegenüber das Kapital zu vertreten (ebd., 401). Diese Annahme ist allerdings bemerkenswert idealistisch. In Wirklichkeit enthält die im Text zitierte Passage im Keim die Begründung dafür, daß sich auch nach einer „prole­ tarischen Revolution“ wieder eine Klassengesellschaft herauszubilden pflegt. Die theo­ retische Leugnung des funktionalen Pluralismus führt in der Praxis dazu, daß sich, um Kautskys Formel zu übernehmen, die „Diktatur des Proletariats“ zur „Diktatur über das Proletariat“ entwickelt. Dazu demnächst ausführlicher mein Beitrag: Zum Ver­ hältnis von bürgerlicher u. proletarischer Revolution bei Marx u. Engels, in: Fest­ schrift f. H. Rosenberg, Göttingen 1974. 12 Hilferding, Aufgaben der Sozialdemokratie, 172—74. 13 Für die außenpolitische Lagebeurteilung Hilferdings besonders: ders., Realisti­ scher Pazifismus, DG 1. 1924/II, 97—114; ders., Krieg, Abrüstung u. Milizsystem, DG 3. 1926/II, 385—98. In diesen Arbeiten stellt Hilferding ein starkes Friedensinter­ esse auch in Kapitalkreisen, zumal in den angelsächsischen Ländern, fest. In derselben Richtung wirkt sich nach seiner Meinung in Deutschland die Gewichtsverlagerung von der Schwerindustrie zur chemischen Industrie aus: Politische Probleme, DG. 3. 1926/II, 289—302. Vgl. auch noch: ders., Die Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Entwick­ lung, in: B. Harms Hg., Kapital u. Kapitalismus, Berlin 1931, I, 20—37. 14 Vgl. hierzu Hilferdings Diskussionsbemerkung auf dem Kieler Parteitag: „Wo hat denn der Faschismus siegen können? Nur dort, wo es vorher nur unwesentliche Ansätze der Demokratie gegeben hat, wo analphabetische Massen noch keine politische Tradition und politische Erziehung gehabt haben.“ Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927, 218. Zu Hilferdings Interpretation des Faschismus ferner besonders: Unter der Drohung des Faschismus, DG 9. 1932/I, 1 —12; ders., Das historische Problem, 2 Winkler, Kapitalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Heinrich August Winkler

Zeitschrift für Politik, N. F., 1. 1954, 293—324 (wichtiges posthum erschienenes Auf­ satzfragment). 15 Die Offenheit für demokratische Entwicklungen hebt die Theorie des Organisier­ ten Kapitalismus trotz ihrer harmonisierenden Elemente positiv ab von zwei konkur­ rierenden, inhaltlich partiell übereinstimmenden Modellen: der leninistischen Theorie des „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“, deren politisch-taktische Qualitäten die ana­ lytischen bei weitem übertreffen, und Werner Sombor Konzeption von „Spätkapita­ lismus“, die im Zuge einer Apologie des italienischen i atschismus populär geworden ist. Zum ersten Modell vgl. J . Kockas Beitrag in diesem Band; zum zweiten: W. Sombart, Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 1932, sowie für den geistesgeschichtlichen Zu­ sammenhang: H. Lebovies, Social C onservatism and the Middle C lasses in Germany 1914—1933, Princeton 1969.

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Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? Begriffliche Vorbemerkungen Von JÜRGEN KOC KA

Die folgenden Überlegungen haben primär heuristische Funktion. Sie ver­ suchen, einen groben begrifflichen Bezugsrahmen abzustecken, der den folgen­ den Beiträgen über die Entwicklung einzelner Industriegesellschaften vom letz­ ten Viertel des 19. Jahrhunderts bis in die ersten Jahre der Zwischenkriegszeit leitende Gesichtspunkte und Fragestellungen, Strukturierungsraster und Hypo­ thesen anbietet und ihre Hauptergebnisse insofern der vergleichenden Analyse erschließt. Diese Überlegungen beanspruchen nicht, eine Theorie des Organisier­ ten Kapitalismus zu formulieren, sondern ein Modell, dessen Anwendung auf konkrete historische Situationen zu seiner eigenen Kritik werden dürfte und damit Kriterien zur Beurteilung seiner aufschließenden, strukturierenden und erklärenden Funktion sowie Ansatzpunkte zu seiner Modifikation liefern könnte1. In den letzten Jahren ist bei der Analyse der sozialen und allgemeinen Ge­ schichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Industrialisierungsprozeß in seiner zentralen Bedeutung und Wirkungsmächtigkeit zunehmend erkannt und be­ handelt worden. In den Vordergrund des Interesses rückt damit ein komplexer Wachstums- und Transformationsprozeß mit vielfältigen ökonomischen, sozia­ len, politischen und ideologischen Dimensionen: ein Prozeß, von dem zumindest implizit angenommen wird, daß er in den hier zur Debatte stehenden mehr oder weniger fortgeschrittenen Industrieländern Europas und Nordamerikas — trotz vieler Unterschiede im einzelnen — ähnlich ablief, und zwar insbe­ sondere ähnlich in seinem ökonomischen Kern, aber auch hinsichtlich einiger politischer und ideologischer Parallelentwicklungen. Diese beiden sowohl durch empirische Analyse wie durch theoretische Überlegungen abstützbaren, jedoch nicht ganz unproblematischen Voraussetzungen — nämlich: die große, alles durchdringende Wirkungsmächtigkeit des Industrialisierungsprozesses für den historischen Gesamtzusammenhang und die prinzipielle Ähnlichkeit seines Auf­ tretens in verschiedenen Ländern — begründen die hervorragende Brauchbar­ keit des Industrialisierungskonzepts für die vergleichende historische For­ schung2. Dies gilt auch und gerade für die vergleichende Analyse der hier zur Debatte stehenden Industrieländer, in denen die Industrialisierung mit einer Ausnahme (England) im 19. Jahrhundert begann und durchweg kapitalistisch strukturiert war3. 2*

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Solche Überlegungen treffen voll und ganz auf den Begriff des Organisierten Kapitalismus zu, der ein Bündel zentraler, miteinander verflochtener Verände­ rungen meint, die in kapitalistisch strukturierten Industrialisierungsprozessen in einem fortgeschrittenen Stadium — im Falle der meisten hier untersuchten Länder gegen Ende des 19. Jahrhunderts — aufzutreten begannen und im Ersten Weltkrieg einen auffälligen, auch in den folgenden Jahren nicht auf­ rechterhaltenen Höhepunkt durchliefen4. In ganz groben Linien handelt es sich dabei vor allem um folgende Veränderungen: 1. Vor allem aufgrund des unzureichend ausbalancierten, ungleichmäßigen Wirtschaftswachstums und der damit verbundenen krisenhaften Konjunktur­ einbrüche einerseits, aufgrund der schnellen Fortentwicklung der auf überbe­ triebliche Zusammenarbeit drängenden Produktivkräfte andererseits wurden in einigen Bereichen der Industrie, im Bankwesen und ansatzweise auch im Sektor Handel und Versicherungen Konzentrations- und Zentralisationsbewe­ gungen auf den Weg gebracht oder beschleunigt. Großunternehmen einerseits, Absprachen, Kartelle, Syndikate und Konzerne andererseits nahmen schnell, wenn auch nicht kontinuierlich zu. Besonders in den Rohstoffindustrien, aber auch in den überproportional schnell wachsenden, neue Technologien und neue Organisationsformen benutzenden Industrien wie Elektro und C hemie, wurde damit der bisher vorwiegend durch das Markt- und Konkurrenzprinzip be­ stimmte Produktions- und Verwertungsprozeß immer mehr durch Momente bewußter, jedoch sehr partiell bleibender Selbstorganisation der Unternehmen ergänzt. Oligopolistische und monopolistische Abhängigkeitsverhältnisse ent­ standen. Teilweise veränderten sich die Formen der Konkurrenz, wenn auch Selbsterhaltung, Profit und Expansion auf dem Markt die grundlegenden Kri­ terien blieben, an denen unternehmerischer Erfolg gemessen wurde; Profite und Preise gewannen eine relative, oft nur temporäre und immer bedrohte Unab­ hängigkeit vom Angebot-Nachfrage-Mechanismus. Hinsichtlich Markt- und Gewinnchancen — und damit häufig zusammenhängend: hinsichtlich sozialer und politischer Einflußmöglichkeiten — traten starke Unterschiede und Diffe­ renzen zwischen den hoch organisierten und den weniger oder nicht organisier­ ten Branchen auf. In Ausnahmefällen griffen 2usammenschlußbestrebungen bereits vor 1914 auf die internationale Ebene über. Die Konzentrationsvor­ gänge wurden beschleunigt und — vor allem in Deutschland — geprägt durch die zunehmende Verflechtung von Bank- und Industriekapital, das im sog. „Finanzkapital“ in generell nicht voraussagbaren und stark variierenden Über­ und Unterordnungsverhältnissen zusammenwirkte5. 2. In den vorwiegend als Kapitalgesellschaften verfaßten Großunternehmen setzte sich die Trennung von Besitz und Kontrolle immer stärker durch. Damit gerieten die meisten Unternehmerfunktionen in den tonangebenden Großunter­ nehmen in die Hand von leitenden Angestellten. Daraus folgte weniger eine Veränderung unternehmerischer Zielsetzungen, auch nicht so sehr eine verän­ derte Haltung gegenüber der Arbeiterschaft, als vielmehr die Unterstützung der auch aus anderen Quellen gespeisten Tendenz zu systematischerer, ten© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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denziell wissenschaftlicher Unternehmensleitung, zu Spezialisierung und effi­ zienter Organisation, zu begrenzter Planung und unternehmensspeziffscher Bü­ rokratisierung, die sowohl in den wachsenden Büroabteilungen wie in den Werkstätten die Sozial- und Herrschaftsverhältnisse veränderten. Wissenschaft­ liche Erkenntnisse und Verfahren nahmen zunächst in der Produktion, dann auch im Vertrieb und in der Unternehmensverwaltung zu; die Organisation und Bereitstellung dieser „Produktivkraft“ Wissenschaft schaffte bzw. ver­ größerte neue Institutionen, die z. T. — man denke an die Technischen Hoch­ schulen — den Rahmen der einzelnen Unternehmen überschritten. In den fortgeschrittensten Branchen kontrastierte die Zweckrationalität und zuneh­ mende Planbarkeit im Innern der großen Unternehmen seltsam mit der trotz aller Organisationstendenzen letztlich unkontrollierten, ziemlich chaotischen, sich stark beschleunigenden Expansion der Gesamtwirtschaft6. 3. Solche tiefgreifende Veränderungen im Bereich von Produktion und Ver­ wertung hatten tiefgreifende Veränderungen in der sozialen Schichtenbildung zur Folge. Einerseits entstanden neue Führungsschichten — die leitenden Ange­ stellten, die Manager und die oberen Ränge der „technisch-wissenschaftlichen Intelligenz“; andererseits führte die Ausweitung der nicht unmittelbar der Pro­ duktion dienenden Bereiche in der Industrie, vor allem aber das überpropor­ tionale Wachstum von Handel, Banken und Dienstleistungen zur überpropor­ tionalen Vermehrung der Angestellten unteren und mittleren Ranges, deren schnelles Wachstum die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft radikal und in sozial wie politisch bedeutsamer Weise änderte7. 4. Auch auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes, des Klassenkonflikts und ande­ rer Interessenkonflikte verdrängte das Prinzip der bewußten kollektiven Or­ ganisation zunehmend das individuelle Konkurrenz-, Tausch- und Vertrags­ prinzip, das sog. „freie Spiel der Kräfte“; die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter und — zum großen Teil als Reaktion darauf — die Arbeitgeber­ verbände zeigten die zunehmende Tendenz zum Zusammenschluß auf immer höherer, schließlich nationaler Ebene; die Intensität, die Mechanismen und die Formen des Klassenkonflikts veränderten sich damit in einer im einzelnen zu erforschenden Weise. Nicht organisierte bzw. schwer organisierbare Gruppen — wie die selbständigen und angestellten Mittelschichten (Handwerker und An­ gestellte zumal) fühlten sich angesichts der allgemeinen Tendenz zur kollekti­ ven Organisation — aber auch aus anderen zu erforschenden Ursachen — leicht als Zukurzgekommene. Sie entwickelten spezifische, von Land zu Land wechselnde Formen anti-modernistischen Protests unter Benützung rückwärts­ gewandter Ideologien8. 5. Bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung kapitalistischer Strukturprinzipien verstärkten sich die Tendenzen zur engeren Verknüpfung und Verflechtung der sozialökonomischen und der staatlichen Sphäre. Den zunehmenden staatlichen Interventionen in den ökonomischen und sozialen Bereich entsprach eine ge­ wisse Sozialökonomisierung der Politik. Die Ursachen dieses neuen Verhält­ nisses von Ökonomie und Politik waren auf zwei eng miteinander verbundenen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Ebenen angesiedelt. Die Gleichgewichtsstörungen des kapitalistischen Marktes, die, wie erwähnt, zur ansatzweisen Aufhebung des Konkurrenzprinzips in Oligopolen und Monopolen führten, aber eben dadurch bei veränderter Kon­ junktur erst recht die Ungleichgewichtigkeiten und die nicht voll ausreichende Selbstregulierungsfähigkeit des Produktions- und Verwertungsprozesses ver­ stärkten, forderten stabilisierende, wachstumsbeeinflussende Interventionen staatlicher Organe heraus. Zölle, außenwirtschaftliche Aktivitäten des Staates, der Staat als Unternehmer (bes. im Verkehrswesen, in der Energieerzeugung und im Montanbereich), Aufträge (Rüstung!), einige Subventionen (Schiffbau und Kolonialwirtschaft insbesondere), Monopolkontrollen und — wie schon vorher — staatliche Investitionen in Infrastruktur und Bildungssystem spielten in dieser Hinsicht vor 1914 eine größere Rolle als finanz-, geld- und kredit­ politische Interventionen8'1. All dies blieb natürlich — der Begriff „Organi­ sierter Kapitalismus“ darf darüber auch nicht die leiseste Illusion erwecken —■ weit von jeder wirklich zentral geleiteten und gar geplanten Verwaltungswirt­ schaft entfernt, die wichtigsten unternehmerischen Entscheidungen, insbesondere die Investitionsentscheidungen, blieben in aller Regel fest in privater Hand. — Der zweite Anstoß zum staatlichen Interventionismus resultierte aus sozialen Konflikten, die entweder aufgrund ihres wirklich oder anscheinend system­ gefährdenden C harakters oder aufgrund anders begründeter Einwirkungschan­ cen zu staatlichen Sozialinterventionen führten. Deren äußerst unvollkom­ mener C harakter sollte jedoch betont werden. Die Arbeiter-Sozialversicherung, sozialprotektionistische Maßnahmen zugunsten agrarischer und mittelständi­ scher Gruppen, ideologische Integrationsversuche und der Einsatz öffentlicher Gewalt in industriellen Konflikten gehörten in Deutschland zu jenen zuneh­ menden Maßnahmen mit sozial stabilisierender Funktion, wobei auf die enge Verflechtung von Wirtschafts- und Sozialinterventionen und auf die Not­ wendigkeit, jede dieser Interventionen auf ihren Zusammenhang mit partikularen Interessen hin zu untersuchen, nicht erst besonders hin­ gewiesen zu werden braucht. — Der Anteil der öffentlichen Einnahmen bzw. Ausgaben am Volkseinkommen wuchs, wenn auch nur sehr langsam, in Deutsch­ land von 1870 bis 1914. In dem Maße, in dem die ökonomisch und sozial relevanten Entscheidungen und Handlungen staatlicher Organe zunahmen, wuchs der Anreiz für ökonomische und soziale Interessen, auf diese Entscheidungen und Handlungen Einfluß zu nehmen. Die zunehmende kollek­ tive Organisation der Interessen, die personelle Verflechtung von öffentlichen und nicht-öffentlichen Herrschaftsgruppen, die zunehmende Delegation öffent­ licher Funktionen an halb-private, teilweise öffentlich kontrollierte Träger­ gruppen (Kammern) und andere Erscheinungen reflektierten eine zunehmende Verwischung der Trennungslinie zwischen privater und öffentlicher Macht be­ reits in jener Zeit9. 6. Im außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Verhalten der durchweg imperialistischen Industriestaaten traten zunehmende Tendenzen zur Expan­ sion, zur immer stärker formalisierten Herrschaft über nicht-industrialisierte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? Territorien und zum internationalen Konflikt auf, Tendenzen, in denen die Wachstumsprobleme und die sozialen Konflikte der Industriegesellschaften ebenso zum Ausdruck kamen wie die Konkurrenz beschneidenden und sozial­ integrativen neuen Lösungsversuche, wie auch die neue Qualität ökonomisch­ politischer Durchdringung10. 7. Angesichts ihrer neuen und vergrößerten Funktionen veränderte sich auch die staatliche Sphäre: einmal die Verwaltungen, die sich ausweiteten und in Ländern mit längerer bürokratischer Tradition ansatzweise vom Typ der Ord­ nungs- zu dem der Leistungsverwaltung umstrukturierten; zum andern das Parteiensystem, das mit den zunehmend organisierten Interessen fertig zu wer­ den hatte; schließlich auch ein genereller, vielfältig bedingter Trend zur stär­ keren Einbeziehung größerer Bevölkerungskreise in die Politik — was jedoch nicht notwendig größere Demokratisierung hieß. Im übrigen variierten gerade auf politisch-staatlichem Gebiet die bei der Entstehung des „Organisierten Ka­ pitalismus“ ablaufenden Veränderungen von Land zu Land stark, so daß die Möglichkeit zur Formulierung typischer Veränderungsprozesse sehr begrenzt ist11. 8. Das gilt erst recht für Veränderungen im Bereich der Ideen, Ideologien und kollektiven Mentalitäten. Man fragt sich aber, ob nicht die in den USA der „Progressive Era“ und im Wilhelminischen Deutschland auf verschiedensten Lebensgebieten und in ganz verschiedenen literarischen Produkten auftauchen­ de Bewunderung von „Wissenschaftlichkeit“ und „Organisation“, ob nicht auch die Glorifikation von Organisation und Effizienz in den „Ideen von 1914“ in­ nerhalb dieses hier nur angedeuteten Bezugsrahmens interpretiert, z. T. auch erst aufgespürt werden könnten12. Soweit die m. E. wichtigsten und gewiß ergänzungsbedürftigen Merk­ male des Idealtyps „Organisierter Kapitalismus“. Es ist sicher deutlich ge­ worden und soll ausdrücklich betont werden, daß sie primär mit Blick auf Veränderungen in Deutschland zwischen den 1880er Jahren und 1914/18 for­ muliert wurden. Die Konstruktion eines hoffentlich komparativ verwendbaren Bezugssystems unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Beispiels wäre insbesondere dann nicht illegitim, wenn Lenins Vermutung, daß Deutschland im Grad der „Organisiertheit des Kapitalismus“ zur Zeit des Ersten Welt­ kriegs die anderen kapitalistischen Länder übertraf13, zutrifft, und wenn man auch hinsichtlich der Entstehung des Organisierten Kapitalismus cum grano salis erwarten dürfte, daß „das industriell entwickelte Land . . . dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft“ zeigt14. Unzweifelbar ist, daß viele der aufgeführten Merkmale zwar im Wilhelminischen Deutschland, aber nicht in allen anderen hier behandelten Ländern zu jener Zeit auftraten. So­ lange sich diese Abweichungen in gewissen Grenzen halten, erweisen sie keines­ wegs die Unbrauchbarkeit des idealtypisch verwandten Konzepts. Vielmehr könnte es hier — wie in anderen Fällen der Verwendung von Idealtypen — u. a. darum gehen, den „Abstand“ zwischen Begriff und Realität zu bestim­ men und zu erklären15. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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In jedem Fall sollte in der vergleichenden Diskussion gefragt werden, a) wie­ weit welche der aufgeführten Merkmale in den verschiedenen Ländern auf­ traten; b) welche Momente variierten, etwa in einem Fall auftraten, in einem anderen nicht, oder in welchen verschiedenen Formen, Zusammenhängen und Zeitfolgen die einzelnen Momente in Erscheinung traten; dann wäre c) zu fra­ gen, wie die festgestellten internationalen Verschiedenartigkeiten zu erklären sind. Eine große Vielfalt von möglichen Ursachen der internationalen Unter­ schiede käme in Frage. Strebt man jedoch zu einer systematisierenden Erklä­ rung und zu einer historischen Typologie des Organisierten Kapitalismus zur Zeit seiner Entstehung, dann wird man sich auf eine begrenzte Anzahl von be­ sonders erklärungskräftigen Variablen begrenzen müssen. Besondere Berück­ sichtigung sollte dabei einmal die Ungleichzeitigkeit der Industrialisierungs­ abläufe und damit die nicht nur temporalen und quantitativen, sondern auch qualitativen Folgen der relativen „Rückständigkeit“ einzelner Länder gegen­ über anderen finden — in Fortsetzung des Ansatzes von Gerschenkron16. Zum andern könnte man sich auf die von Land zu Land wechselnden Startbedingun­ gen des Industrialisierungsprozesses unter ausgewählten Aspekten konzentrie­ ren, in der Hoffnung, verschiedene Formen des Organisierten Kapitalismus durch verschiedenartige vorindustrielle, aber weiterwirkende Bedingungen zu erklären. Die Existenz feudaler und bürokratischer Traditionen aus vorindu­ strieller Zeit unterscheidet etwa die deutsche Entwicklung auch noch um 1900 von der in USA oder England — um nur ein Beispiel zu nennen17. Schließlich wäre d) zu überlegen, ob — und, wenn ja, nach welchen Kriterien — das skiz­ zierte Konzept des Organisierten Kapitalismus zu modifizieren, zu verfeinern oder aber — um sehr Unterschiedliches besser einbegreifen zu können — zu vergröbern, vielleicht auch zu verwerfen ist. Die hier angedeuteten Veränderungen in den relativ fortgeschrittenen Indu­ strieländern der Jahrhundertwende sind mit jeweils verschiedenartigen Akzent­ setzungen und Auslassungen sowie unter verschiedenen Oberbegriffen von ver­ schiedenen Autoren erwähnt, skizziert, selten aber wirklich ausgearbeitet wor­ den. Wenn Maurice Dobb und andere Angelsachsen von „corporation capital­ ism“ oder „corporate capitalism“ sprechen, so meinen sie Aspekte des hier Skizzierten, jedoch unter charakteristischer Vernachlässigung der neuen Quali­ tät des Verhältnisses von Ökonomie und Politik. Schumpeters Begriff des „Neo­ merkantilistischen Kondratieff“ lenkt den Blick andererseits allzu ausschließ­ lich auf den neuen Staatsinterventionismus, zu wenig aber auf die vielfältigen Organisationstendenzen in anderen gesellschaftlichen Bereichen18. Der Begriff des Organisierten Kapitalismus, der in die neuere westdeutsche Diskussion von Hans-Ulrich Wehler eingeführt worden ist19, scheint mir diesen Einseitigkeiten zu entgehen. Der Begriff des Staatsmonopolistischen Kapitalismus, der vor allem in der DDR eine wachsende Rolle nicht nur für die marxistisch-leninistische Analyse der Bun­ desrepublik, sondern auch für die Erforschung der deutschen Geschichte vor und nach dem Ersten Weltkrieg spielt, thematisiert dagegen die meisten der hier © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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unter „Organisierter Kapitalismus“ subsumierten Veränderungen, insbesondere die Tendenzen zu Zentralisation und Konzentration von Produktion und Ka­ pital, das Zusammenwachsen von Bank- und Industriekapital, die weitertrei­ benden Veränderungen der Produktivkräfte, das überproportionale Wachstum der „neuen Industrien“, die sprunghaft wachsende Rolle der Wissenschaft im Produktions- und Verwertungsprozeß, die zunehmende Organisation des Klas­ senkonflikts, den Imperialismus mit seinen ökonomischen Ursachen sowie die Verknüpfung und Durchdringung von Ökonomie und Politik, die durchaus unvollkommene Tendenz zur zentralen Lenkung ökonomischer Prozesse mit außerökonomischen Mitteln20. Die Konzepte „Organisierter Kapitalismus“ und „Staatsmonopolistischer Kapitalismus“ zielen beide darauf ab, ökonomi­ sche, soziale, politische und ideologische Phänomene in ihrem Zusammenhang zu begreifen und dabei trotz Anerkennung komplexer Wechselwirkungsver­ hältnisse zwischen den einzelnen Wirklichkeitsfaktoren der sozialökonomischen Dimension eine gewisse Maßgeblichkeit einzuräumen; beide sind analytische Konzepte für eine sozialökonomische Interpretation eines Abschnitts Gesamt­ geschichte, beide vollziehen methodisch die Entscheidung zugunsten des Primats der Innenpolitik, ohne doch die Wechselwirkungsbeziehungen zwischen außen­ und innenpolitischen Faktoren zu vernachlässigen; beide Begriffe ermöglichen im Prinzip einen international vergleichenden Ansatz unter Beachtung von Un­ gleichzeitigkeitsphänomenen und unter Betonung der Rolle vorindustrieller Bedingungen der Industrialisierung; beide beziehen sich nur auf kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, sind also nicht breit genug, um der ver­ gleichenden Untersuchung aller modernen Industriegesellschaften als Basis zu dienen21. Sie teilen übrigens auch spezifische Schwächen, sofern sie als Grundlage der Periodisierung herhalten sollen. Denn einerseits stellt keiner von beiden ein­ deutige Kriterien bereit, um einen scharfen Einschnitt als Beginn einer „Perio­ de“ oder „Stufe“ des Organisierten bzw. des Staatsmonopolistischen Kapita­ lismus festzulegen; entsprechende Versuche entbehren — jedenfalls solange man nicht weitere Kriterien, etwa die Konjunkturbewegungen, hinzuzieht — nicht der Willkür und haben auch in der DDR zu sehr verschiedenen, meist aber unklaren Antworten geführt; die teilweise quantifizierbaren Kriterien (wie Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt oder Zahl der Kar­ telle) erlauben jeweils nur die Feststellung von Gradunterschieden, von Ten­ denzen, von deren Verlangsamung und Beschleunigung; die einzelnen Begriffs­ momente traten in der historischen Wirklichkeit zudem nicht gleichzeitig auf, was eine scharfe Datierung unmöglich macht. Andererseits beziehen sich beide Begriffe auf Zeiträume, die bis heute reichen, und stellen keine Begriffe bereit, diesen für die meisten Erkenntnisziele allzu langen Zeitraum stringent zu untergliedern22. Sowohl unter dem Blickwinkel des Staatmonopo­ listischen wie unter dem des Organisierten Kapitalismus erscheint der Erste Weltkrieg als zunächst vorübergehender Höhepunkt in der Entwicklung der meisten hier angedeuteten Veränderungen. Beide Begriffe sind nicht zufällig in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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denselben Jahren 1916/17 unter dem Eindruck des Krieges geprägt worden, der eine von Hilferding, der andere von Lenin23. Dank der Arbeit ostdeutscher Sozialwissenschaftler ist das Konzept des Staats­ monopolistischen Kapitalismus zur Zeit weit entfalteter als das des Organisierten Kapitalismus. Jenes hat zudem bereits in stärkerem Ausmaß wichtigen historisch­ empirischen Arbeiten als Gerüst gedient, dieses dagegen kaum. Wenn trotzdem hier nicht für die Anwendung des Konzepts vom Staatsmonopolistischen Kapi­ talismus plädiert wird, so insbesondere aus folgenden zwei Gründen: 1. Die immer engere Verknüpfung von Ökonomie und Politik wird im Be­ zugsrahmen des Staatsmonopolistischen Kapitalismus als „Verschmelzung“ der Macht der Monopole mit der Macht des Staates zu einem Gesamtmechanismus begriffen, als dessen Zweck und Funktion die Beherrschung der gesamten Ge­ sellschaft durch die Monopole oder wenigstens im Interesse der Monopole gilt. Zwar ist es möglich, innerhalb dieses Bezugsrahmens Interessendivergenzen zwischen einzelnen Monopolgruppen und zwischen monopolistischen und nicht­ monopolistischen Unternehmergruppen in ihrer Auswirkung auf den ebenfalls in seiner Heterogenität begriffenen Staatsapparat zu untersuchen; auch wird betont, daß der Prozeß der Verschmelzung von Monopolen und Staat „wider­ sprüchlich“ verlaufen ist, daß also auch Gegentendenzen aufgetreten sind. Den­ noch reflektiert die im Bezugsrahmen des Staatsmonopolistischen Kapitalismus vorherrschende Analyse bis heute jene historisch-materialistische Tradition, die den Staat ausschließlich als Herrschaftsinstrument der sozialökonomisch herr­ schenden Klasse zur Beherrschung und auf Kosten der Gesamtgesellschaft und insbesondere der arbeitenden Bevölkerung begreift. „Die Geschichte des staats­ monopolistischen Kapitalismus ist die Geschichte der Entwicklung des Herr­ schaftsmechanismus des Monopolkapitals.“24 Eine solche — trotz hier nicht zu behandelnder jüngerer Ansätze zu einer gewissen Lockerung25 — recht ein­ deutig kanonisierte Sichtweise erschwert die Einsicht in die relative Eigenstän­ digkeit des Staatsapparats bzw. einzelner seiner Teile; sie erschwert die Suche nach Spannungen und Konflikten zwischen den Kapitalinteressen insgesamt und staatlichen Organen; sie scheint, wie an Einzelbeispielen, etwa der marxistisch­ leninistischen Interpretation des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat im Ersten Weltkrieg im einzelnen gezeigt werden kann, zur Minimisierung solcher Konflikte oder aber zu ihrer gewaltsamen Uminterpretation in eine Richtung zu verführen, die alle Ergebnisse des politischen EntScheidungsprozesses als in­ strumenteil für wenigstens eine Gruppe von Monopolinteressen und als Verlet­ zung der Masseninteressen darstellt26; solche Sichtweise verringert zudem den Anreiz zu Bürokratieuntersuchungen und trübt den Blick für die gerade in Deutschland keineswegs in Unternehmerinteressen aufgehenden Macht- und Staatsinteressen der Bürokratie als einer Institution und sozialen Gruppe. Dagegen scheint es angemessener — und dies ist im Bezugsrahmen des Or­ ganisierten Kapitalismus besser zu leisten — von einer Denkfigur auszugehen, die die Verflechtung von Ökonomie und Staat, von sozioökonomischen Klassen und staatlichen Organen nicht im Sinne von „Verschmelzung“ präjudiziert, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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sondern offen für die Möglichkeit bleibt, daß die zunehmende Verflechtung der beiden Sphären auf lange Strecken und in großen Handiungsbereichen gleich­ zeitig zu steigenden Spannungen zwischen den ökonomisch und sozial dominie­ renden Gruppen und dem Staat führte. Gerade um das Verhalten der militäri­ schen und zivilen Verwaltungsorgane im Ersten Weltkrieg adäquat zu fassen, empfiehlt es sich nicht, diese primär oder gar ausschließlich als Repräsentanten herrschender Gesellschaftsklassen (etwa der Großunternehmer) oder eines ihrer Teile zu verstehen; angemessener ist eine Denkfigur, in dem der Staat als rela­ tiv eigenständiger Faktor erscheinen kann. Freilich nicht im Sinne obrigkeits­ staatlicher Neutralitätsideologie, sondern durchaus mit Betonung der — aller­ dings nicht ein für allemal gleich und vorneweg zu beantwortenden — Frage nach der Interessengebundenheit und der Interesseninstrumentalität aller Me­ chanismen und Ergebnisse des staatlichen EntScheidungsprozesses. Verkürzt zu­ sammengefaßt: Statt den Staat per deflnitionem als Herrschaftsmittel im parti­ kularen Interesse der Monopole oder einzelner Monopolgruppen zu verstehen, geht es darum, sowohl seine relative, in dieser Zeit vielleicht sogar zunehmende Eigenständigkeit gegenüber einzelnen ökonomischen und sozialen Partikular­ interessen ebensowenig wegzudeflnieren wie die „restriktiven Bedingungen“, unter denen sich jene Eigenständigkeit immer nur konkretisieren konnte. Daß unter diesen restriktiven, die staatlichen Handlungsalternativen reduzierenden Bedingungen Kapital- und Unternehmerinteressen (damals wie heute) außer­ ordentlich schwer wogen, ließe sich zeigen und im einzelnen begründen. Worin jene „restriktiven Bedingungen“ aber konkret bestanden, welche Barrieren den staatlichen Entscheidungen also sozusagen unübersteigbar vorgegeben waren und wie sie sich — letztlich doch über Perzeptionen und Handlungen von Men­ schen — geltend machten, das läßt sich m. E. generell nicht formulieren, sondern — wenn überhaupt — nur für die historisch-konkrete Situation her­ ausarbeiten27. 2. Beide Begriffe — „Organisierter“ wie „Staatsmonopolistischer Kapitalis­ mus“ — entstanden aus praktisch vermittelten Zusammenhängen, in denen ihnen eine gegensätzliche politisch-polemische Funktion zukam. Bei Hilferding, Naphtali u. a. diente „Organisierter Kapitalismus“ als reformistischer Zentral­ begriff, der die Möglichkeit evolutionärer Transformation das Kapitalismus mit Hilfe staatlicher Kontrollen im Interesse sozialdemokratischer Zielsetzun­ gen formulierte — allzu problemlos und illusionär, wie es wohl den meisten heutigen Lesern erscheinen wird. Der Begriff „Organisierter Kapitalismus“, wie er hier für die historische Analyse vorgeschlagen wird, sollte sich von diesen harmonisierenden Funktionen und Beiklängen möglichst befreien. Insbesondere läßt er die Frage offen, ob die von ihm beschriebenen, sich verändernden Sy­ steme ausreichende Selbststeuerungsmaßnahmen und Selbstreformen entwickeln können oder ob sie letztlich doch durch nicht kontrollierbare Widersprüche und Auflösungstendenzen bedroht sind28. „Staatsmonopolistischer Kapitalismus“ meint dagegen eine krisenhafte Spät­ phase des Kapitalismus mit sich offen oder versteckt verschärfenden Wider© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Sprüchen und mit letztlich unvermeidbarer 2usammenbruchsperspektive. Als antikapitalistischer und antireformistischer, revolutionärer Kampfbegriff ist er von Lenin geprägt worden und seine intensive Benutzung durch Historiker, die sich ausdrücklich als Kämpfer in einer ideologischen Systemauseinandersetzung verstehen, hat dazu beigetragen, daß dem Begriff seine polemisch-kämpferische Dimension bis heute weitgehend erhalten blieb29. Dies führte zu gewissen Ein­ schränkungen seiner analytischen Kraft. Insbesondere sind es zwei nur aus die­ sem Zusammenhang verständliche prognostische Komponenten dieses Begriffs, die ihn unvorteilhaft vom Konzept des Organisierten Kapitalismus unterschei­ den: a) Von Lenin bis heute insistiert der Begriff des Staatsmonopolistischen Ka­ pitalismus darauf, daß die von ihm bezeichneten Veränderungen notwendig langfristig zu zunehmender Ausbeutung und Knechtung der Massen führen. Wie sich etwa an der marxistisch-leninistischen Behandlung des „Vaterländi­ schen Hilfsdienstgesetzes“ von 1916 und seiner Folgen zeigen ließe, verführt diese durch häufig zitierte Lenin-Worte recht festgelegte, politisch relevante Sichtweise zu negativen Verzeichnungen der Arbeitergeschichte und zur Ver­ nachlässigung von Gegentendenzen30. Der Begriff des Organisierten Kapitalis­ mus, wie er hier vorgeschlagen wird, thematisiert diesen Aspekt als variablen und nimmt somit nicht theoretisch-definitorisch vorweg, was nur durch empi­ rische Untersuchungen beantwortet werden kann. b) Von Lenin bis heute besteht der Begriff des Staatsmonopolistischen Kapi­ talismus darauf, daß die von ihm bezeichneten Veränderungen langfristig zur Aushöhlung liberal-demokratischer Traditionen und zur Stärkung autoritärer, tendenziell faschistischer Herrschaftselemente drängen, die allerdings nur unter bestimmten Bedingungen manifest werden. Dies verführt insbesondere für die spätere Zeit leicht zu einer Verwischung der grundsätzlichen Unterschiede zwi­ schen liberal-parlamentarischen und faschistischen Herrschaftsmethoden, zur Minimierung des Unterschieds zwischen dem Staatsmonopolistischen Kapitalis­ mus Hitlers und dem Roosevelts31. Für jeden Historiker, dessen erkenntnislei­ tende Interessen irgend etwas mit liberal-demokratischen Orientierungen zu tun haben, muß solches Vorgehen prekär erscheinen. Demgegenüber versucht das hier vorgestellte Konzept des Organisierten Kapitalismus die Frage nach der tendenziellen Bedrohung liberal-demokratischer Traditionen nicht vorweg zu beantworten, jedoch zu thematisieren. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang vor allem zweierlei: Gibt es langfristige und in allen untersuchten Ländern auf­ tretende Tendenzen zur Aushöhlung oder Zerstörung liberal-demokratischer Systembestandteile? Zu denken wäre an Machtverschiebungen von der Legisla­ tive zur Exekutive, an Tendenzen zum Struktur- und Funktionswandel der Öffentlichkeit, an die Bedrohung individueller Freiheit durch allseitige Durch­ organisation und Bürokratisierung, wie sie Max Weber prognostizierte und fürchtete. Zu fragen wäre aber auch nach den sicherlich in die hier untersuchte Zeit zurückreichenden Bedingungen des Umschlags des Organisierten Kapitalis­ mus in faschistische Herrschaft wie nach den Bedingungen, unter denen es mög© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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lich war, dies zu vermeiden, bzw. unter denen es möglich sein könnte, eine so­ zialstaatliche, liberal-demokratische Variante des Organisierten Kapitalismus voranzutreiben. Anmerkungen 1 Eine Vorfassung dieses Beitrags wurde in einer Konferenz in Telgte/Westf. am 15. 7. 1972 vorgetragen, die der Vorbereitung der Arbeitsgemeinschaft „Voraussetzun­ gen und Anfänge des Organisierten Kapitalismus“ auf dem Regensburger Historiker­ tag 1972 diente und an der einige Sektions-Referenten teilnahmen. Jene Vorfassung ging dann allen Vortragenden dieser Sektion zu. Sie wurde unter Berücksichtigung der Anregungen und Kritiken der Telgter Konferenz in die Form gebracht, in der sie in Regensburg im Oktober 1972 referiert und — mit einigen geringfügigen Veränderungen sowie Anmerkungen versehen — im folgenden wiedergegeben wird. Auf eine inhalt­ liche Überarbeitung des Vortrags unter Einbeziehung der in Regensburg geäußerten Kritik und Anregungen wurde verzichtet — diese sind jedoch zum Teil in den hinzu­ gefügten Anmerkungen berücksichtigt. 2 In inhaltlich verschiedener Weise finden sich diese beiden Implikationen des In­ dustrialisierungskonzepts bei: H. Mottek, Zum Verlauf u. einigen Hauptproblemen der industriellen Revolution in Deutschland, in: ders. u. a., Studien zur Geschichte der in­ dustriellen Revolution in Deutschland, Berlin 1960, 11—63; W. W. Rostow, Stadien des wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen 1961 (engl. The Stages of Economic Growth, 1960); H.-U. Wehler, Theorieprobleme der modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte (1800—1954), in: Festschrift (= Fs.) H. Rosenberg, Berlin 1970, 66—107 (wd. in: H.-U. Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs, 1871 — 1918, Göttingen 1970, 291—311, 408—30). Vgl. auch W. Fischer, ökonomische u. soziologische Aspekte der frühen In­ dustrialisierung, in: ders. Hg., Wirtschafts- u. sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968, 1—20 (wd. in: ders., Wirtschaft u. Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, 15—27); O. Busch, Industrialisierung und Geschichtswissenschaft, Berlin 1969. 3 Unter Kapitalismus soll ein ökonomisches System verstanden werden, welches vor­ wiegend auf privatem Besitz und privater Verfügung über Kapital beruht, das der Produktion und dem Tausch von Waren zum Zweck des Profits dient (vgl. D. Landes Hg., The Rise of C apitalism, New York 1966, 1). Der moderne Industriekapitalismus — und um diesen geht es in den Beiträgen dieses Bandes ausschließlich — ist zusätzlich durch die industrielle Unternehmung auf der Basis von Kapitalrechnung und fremd­ bestimmter, arbeitsvertraglich geregelter, formal freier Lohnarbeit bestimmt. Aufgrund der hervorragenden Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren in der bürgerlichen Gesell­ schaft durchdringen Prinzipien des kapitalistischen Wirtschaftssystems deren gesamte soziale, politische und ideologische Geschichte in einer definitorisch nicht vorwegzu­ nehmenden Weise. Vgl. K. Marx, Das Kapital, Marx-Engels-Werke (= MEW) 23—25, Berlin 1962—64; M. H. Dobb, Studies in the Development of C apitalism, London 19472, bes. 1—11 (dt.: Entwicklung des Kapitalismus, Köln 19722, nach d. engl. Ausg. von 1963); J . A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus u. Demokratie, München 19502, 122 f., 198 ff. (engl.: C apitalism, Socialism and Democracy, 1942). 4 Dazu für Deutschland jetzt: J . Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche So­ zialgeschichte 1914—1918, Göttingen 1973. — Das hier vorgeschlagene Konzept des Organisierten Kapitalismus geht durchaus davon aus, daß einige der von ihm ange­ sprochenen Merkmale, so z. B. die Verschränkung von Staat und Wirtschaft/Gesell­ schaft, im Ersten Weltkrieg in einer Intensität hervortraten, die in der Nachkriegszeit nicht beibehalten wurde. Dazu auch unten S. 154 und S. 217. Etwas anderes ist es, danach zu fragen, inwieweit im Weltkrieg Strukturen und Lösungen erstmals verwirklicht wur-

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den, die als Momente des Organisierten Kapitalismus analysiert werden können und auf die in der Krise der 30er Jahre bewußt zurückgegriffen wurde. Dazu erhellend für die USA: W. E. Leuchtenburg, The New Neal and the Analogue of War, in: J . Braeman u. a. Hg., C hange and C ontinuity in Twentieth C entury America, New York (1964) 19662, 81 — 143. 5 Zur Konjunkturgeschichte J . A. Schumpeter, Business C ycles I, New York 1939 (dt.: Konjunkturzyklen, I. Göttingen 1961); A. Spiethoff, Die wirtschaftlichen Wech­ sellagen, Tübingen 1955 (auch als Art. „Krisen“ in Hwb. der Staatswissenschaften 6. Jena 19254, 8—91); Wehler, Theorieprobleme. — Zur Konzentration und Entwick­ lung oligopolistischer bzw, monopolistischer Konkurrenzbegrenzung: E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Dortmund 1964; H. Levy, In­ dustrial Germany, New York 19662; ders., Monopole, Kartelle u. Trusts in der Ge­ schichte und Gegenwart der englischen Industrie, 19272; R. L. Nelson, Merger Move­ ments in the American Industry, Princeton 1959; H. Nussbaum, Unternehmer gegen Monopole, Berlin 1966; R. Hilferding, Das Finanzkapital (1910), Neuaufl. Frankfurt 1968, 19732; P. A. Baran u. P. M. Sweezy, Monopolkapital, Frankfurt 1967 (engl.: Monopoly C apital, 1966); M. Gehr, Das Verhältnis zwischen Banken u. Industrie in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, rechts- u. wirtschaftswiss. Diss. Tü­ bingen 1959 (MS). 6 H. Pross, Manager u. Aktionäre in Deutschland, Frankfurt 1965; J . Burnham, Das Regime der Manager, Stuttgart 1948 (engl.: The Managerial Revolution, 1941); L. Ba­ ritz, The Servants of Power, A History of the Use of Social Science in American Industry, Middletown/C onn. 1960; R. Bendix, Herrschaft und Industriearbeit, Frank­ furt 1960 (engl.: Work and Authority in Industry, 1956); S. Haber, Efíìciency and Uplift. Scientific Management in the Progressive Era 1890—1920, C hicago 1964. 7 Vgl. C . Wright Mills, Menschen im Büro. Ein Beitrag zur Soziologie der Ange­ stellten, Köln-Deutz 1955 (engl.: White C ollar, 1951); D. Lockwood, The Blackcoated Worker, London 1958; F. C roner, Die Angestellten in der modernen Gesellschaft, Wien 1954; J . Kocka, Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Sie­ mens 1847—1914, Stuttgart 1969; mit Betonung der französischen Entwicklung: H. Lange, Wissenschaftlich-technische Intelligenz. Neue Bourgeosie oder neue Arbeiter­ klasse, Köln 1972. 8 E. Lederer u. J . Marschak, Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt u. ihre Organisatio­ nen, in: Grundriß der Sozialökonomik 9/II, Tübingen 1927, 106—258; E. Lederer, Die sozialen Organisationen, Berlin 19222; H. Kaelble u. H. Volkmann, Konjunktur und Streik während des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus in Deutschland, Zeit­ schrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (= bisher: Schmollers Jahrbuch) 92. 1972, 513—44; einführend zur amerikanischen Entwicklung: R. H. Wiebe, The Search for Order 1877—1920, New York 1967; zu mittelständischen Protesten mit interna­ tional vergleichenden Hinweisen jetzt: H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus, Köln 1972, sowie die in Anm. 7 genannte Lit. 8a Daß die Mittel staatlichen Wirtschaftsinvertentionismus sich im Laufe der Ent­ wicklung des Organisierten Kapitalismus stark änderten, daß sie mit der anti-zykli­ schen Wirtschaftspolitik nach der Wirtschaftskrise der 30er Jahre zudem eine wich­ tige Ausweitung erfuhren, ist unbestreitbar, aber zugleich widerspricht es dem hier vor­ gestellten Konzept in keiner Weise. Dazu Feldmans Ausführungen unten S. 152. 9 Vgl. J . Kuczynski, Zur Frühgeschichte des deutschen Monopolkapitals u. des Staatsmonopolistischen Kapitalismus, Berlin 1962; H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967; S. Andic u. J . Veverka, The Growth of Government Expenditure in Germany Since the Uniíìcation, Finanzarchiv 23. 1964, 169—278; F. Facius, Wirtschaft u. Staat. Die Entwicklung der deutschen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland bis 1945, Boppard 1959; E. Küng, Interventionismus, in: Handwörter­ buch der Sozialwissenschaften 5. 1956, 321—29 mit Literaturhinweisen; F. Neumark, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Wirtschafts- u. Finanzprobleme des Interventionsstaats, Tübingen 1961; zur Entwick­ lung der staatlichen Sozialgesetzgebung in Deutschland: F. Syrup, 100 Jahre staatliche Sozialpolitik 1839—1939, Aus d. Nachlaß bearb. v. O. Neuloh, Stuttgart 1957. — H.U. Werders Beitrag in diesem Band analysiert diese zunehmende Verschränkung von politischer und sozialökonomischer Sphäre für das deutsche Kaiserreich. Begrifflich faßt er diese Entwicklung des Interventionsstaates jedoch nicht, wie es hier geschieht, als Merkmal des sich herausbildenden Organisierten Kapitalismus, sondern als dessen Be­ gleiterscheinung (bes. S. 48 f.). Eine solche terminologische Entscheidung hat vielleicht den Vorteil, daß sie das häufig auftretende Mißverständnis bereits in der Wortwahl erschwert, das den Staat jener Zeit zum bloßen Reflex des sozialökonomischen Prozes­ ses und Instrument der sozialökonomisch herrschenden Klasse verkürzt. Wichtiger je­ doch erscheint mir, daß sowohl viele der Tendenzen zur Organisation im sozialökono­ mischen Bereich wie auch die Durchsetzung des Interventionsstaates letztlich in ein und demselben Kausalzusammenhang stehen und — mindestens größtenteils — als Reaktionen auf Wachstums- und Gleichgewichtsstörungen des ökonomischen Prozesses wie als Sta­ bilisierungsmaßnahmen gegenüber sozialen Konflikten zu verstehen sind. Insofern ist es angemessener, die Entstehung des Interventionsstaats als Moment des Organisierten Kapitalismus zu begreifen und nicht — wie Wehler — von „dem Duumvirat von Organisiertem Kapitalismus und Interventionsstaat“ zu sprechen. 10 Vgl. die Einleitung zu H.-U. Wehler Hg., Imperialismus, Köln 19722, 11—36. 11 Vgl. mit ausführlichen Literaturverweisen den international vergleichenden Auf­ satz von H.-J. Puhle, Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, Entwicklungs­ tendenzen staatlicher Aufgabenstellung und Verwaltungsprobleme im Zeichen von In­ dustrialisierung u. Demokratisierung, in: G. A. Ritter Hg., Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1973, 29—68. 12 Vgl. neben den bereits zit. Titeln v. Haber und Wiebe insbesondere: R. Hof­ stadter, The Age of Reform, New York 1955, Kap. IV—VI; für Deutschland: J . Plenge, 1789 und 1914, Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Gei­ stes, Berlin 1916; H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel/Stuttgart 1963, 173 ff.; K. Schwabe, Wissenschaft u. Kriegsmoral, Göttingen 1969. 13 Vgl. W. I. Lenin, Bericht über das Parteiprogramm, 8. Parteitag der KPR (B) 18.—23. März 1919, in: Werke 29, Berlin 1968, 155. 14 K. Marx, MEW 23, 12 (Einleitung zum 1. Band des „Kapital“, 1867). 15 Vgl. M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19683, 189 ff.; J . Janoska­ Bendl, Methodologische Aspekte des Idealtypus, Berlin 1965. — Die allgemeine Frage nach den Bedingungen und Verfahren, den Grenzen und C hancen bei der Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien und Modelle in der historischen Forschung kann hier nicht angeschnitten werden. Einige Überlegungen zu diesem, längst nicht ausdiskutierten Problem bei: J . Kocka, Theorieprobleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: H.-U. Wehler Hg., Geschichte u. Soziologie, Köln 1972, 316 ff. 18 Vgl. A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, C am­ bridge/Mass. 1962; ders., Europe in the Russian Mirror, C ambridge 1970. 17 Für die historische Mittelstandsanalyse wurde dieser Ansatz benutzt von: J . Kocka, Vorindustrielle Faktoren in der deutschen Industrialisierung, in: M. Stürmer Hg., Das Kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, 265—86; u. Winkler, Mittelstand; vgl. auch ders., Pluralismus oder Protektionismus? Verfassungspolitische Probleme des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich, Wiesbaden 1972. 18 Vgl. Dobb, Studies, 268; vgl. auch ders., Organisierter Kapitalismus, Frankfurt 1966; Schumpeter, Business C ycles, I, 96, 145, 398. Vgl. dagegen den Begriff des „poli­ tischen Kapitalismus“ bei G. Kolko, The Triumph of C onservatism (1963), C hicago 1967, 3, 255 ff., der das sich wandelnde Verhältnis von Wirtschaft und Politik betont und andere Aspekte des hier Gemeinten vernachlässigt. — Inwieweit der Begriff „kol© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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lektiver Kapitalismus“, den Gerald D. Feldman — Hans Rosenbergs Anregung auf­ greifend — in die Debatte einbringt (S. 151) dem des „Organisierten Kapitalismus“ überlegen ist, wäre erst noch zu zeigen. Allerdings müßte er zunächst etwas gründlicher enttaitet und bestimmt werden, als dies bei Feldman geschieht. — C harles S. Maiers Begriff „pluralistischer Korporativismus“ bezieht sich auch seinem eigenen Anspruch nach lediglich auf eine spezifische, durch ein hohes Maß an Selbstorganisation seitens machtvoller nichtstaatlicher Gruppen gekennzeichnete Variante des Organisierten Kapi­ talismus (vgl. Anm. 27 zu diesem Beitrag und Maiers Ausführungen unten S. 202). 19 Vgl. Wehler, Theorieprobleme, 88; davon angeregt der Versuch der Begriffs­ bestimmung bei: Kocka, Unternehmensverwaltung, 315—19. — Vgl. auch H. Staudin­ ger, Die Änderungen in der Führerstellung u. der Struktur des Organisierten Kapitalis­ mus, in: Fs. G. von Eynern, Berlin 1967, 341—73, der den Begriff „Organisierter Kapi­ talismus“ unter anderen Fragestellungen und mit einer Bedeutung benutzt, die von der hier vorgetragenen Begriffsbestimmung an mehreren Stellen abweicht (so hinsichtlich der Kennzeichnung der Funktionen des Staats, 361 ff.). 20 Vgl. allgemein zum gegenwärtigen Gebrauch des Begriffs durch ostdeutsche So­ zialwissenschaftler: Institut für Gesellschaftswissenschaften beim 2K der SED, Der Imperialismus der BRD, Berlin 1972; mit stärkerer Betonung rein ökonomischer Pro­ bleme und mit Abweichungen im einzelnen: R. Gündel u. a., Zur Theorie des staatsmono­ polistischen Kapitalismus, Berlin 1967; zum Verlauf der Diskussion in der DDR: M. Wirth, Kapitalismustheorie in der DDR, Frankfurt 1972; von Mitarbeitern des 2K der Kommunistischen Partei Frankreichs und der Zeitschrift „Economie et Politique“ verfaßt wurde: Der Staatsmonopolistische Kapitalismus, Frankfurt 1972 (frz.: Le C a­ pitalisme monopoliste d'Etat, 1971). — 2ur Herkunft und zur Anwendung des Begriffs auf die deutsche Geschichte ungefähr seit der Jahrhundertwende: Kuczynski, Früh­ geschichte; und mit einigen Modifikationen und Differenzierungen vor allem: H. Nuss­ baum, 2ur Imperialismustheorie W. I. Lenins u. zur Entwicklung des deutschen Impe­ rialismus bis 1914, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (= JbWG) 1970/IV, 25—65; A. Schröter, Krieg, Staat, Monopole 1914—1918, Berlin 1965; Deutschland im Ersten Weltkrieg, 3 Bde, Berlin (1968—691) 1. 19713; 2. u. 3. 19702; Schröter, Einige me­ thodologische Fragen der Entstehung u. Entwicklung monopolistischer Gruppierungen in Deutschland, JbWG 1966/IV, 126—40; kritisch dazu von sowjetischer Seite: ebd. 1970/11, 3—5; S. Richter u. R. Sonnemann, 2ur Problematik des Übergangs vom vor­ monopolistischen Kapitalismus zum Imperialismus in Deutschland, ebd. 1963/11, 39 bis 78; R. Sonnemann u. S. Richter, 2ur Rolle des Staates beim Übergang vom vor­ monopolistischen Kapitalismus zum Imperialismus in Deutschland, ebd. 1964/11 u. III, 240—55; K. Gossweiler, Die Rolle der Großbanken im Imperialismus, ebd. 1971/III, 35—54; ders., Großbanken, Industriemonopole, Staat. Ökonomie u. Politik des Staats­ monopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914—1932, Berlin 1971 (mit einigen neuen Akzenten hinsichtlich des gegenseitigen Verhältnisses der Gruppierungen inner­ halb der „Monopolbourgeosie“); dazu die grundsätzliche Kritik von E. Hennig in: Leviathan. 2eitschrift für Sozialwissenschaft 1. 1973, 135—51. — 2um Konflikt um die Theorie des „Stamokap“ an der linken Peripherie der SPD, der den Begriff allge­ meiner bekannt gemacht hat, jetzt: Der Thesenstreit um „Stamokap“, Die Dokumente zur Grundsatzdiskussion der Jungsozialisten, Reinbek 1973, bes. 45 ff., 101 ff. 21 Diese Grenze des Anwendungsbereichs des Begriffs beeinträchtigt seine Nützlich­ keit nicht notwendig. Es hängt vom Erkenntnisziel ab, ob man Begriffe wählt, die den Vergleich kapitalistisch organisierter Industriegesellschaften ermöglichen, oder solche, die weit und abstrakt genug sind, dem Vergleich moderner Industriegesellschaften über­ haupt als Bezugsrahmen zu dienen. Doch ist zuzugeben, daß die Kausalabhängigkeit der hier zur Debatte stehenden Veränderungen von spezifisch kapitalistischen Struk­ turen und Prozessen durch einen Vergleich mit nicht-kapitalistischen Industriegesell­ schaften schärfer herausgearbeitet werden könnte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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22 Zu Unklarheiten und Schwierigkeiten bei der Datierung des Beginns der Periode des Staatsmonopolistischen Kapitalismus und hinsichtlich der Frage, ob ihr eine „pri­ vat-monopolistische“ Periode historisch vorausging, vgl. Nussbaum, Imperialismustheo­ rie, 26 f., 35 f. — Für Wehlers Beitrag in diesem Band fällt der Beginn der Periode Organisierter Kapitalismus mit den 7Oer/8Oer Jahren zusammen, also mit jener Trend­ periode von 1873 bis zur Mitte der 90er Jahre, die als „Große Depression“ diskutiert worden ist (dazu Rosenberg; H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723). In der Tat lassen sich viele der hier diskutierten Veränderungen ansatzweise und zunehmend schon in diesen Jahrzehnten feststellen. Allerdings bedeutet Wehlers Datierung eine sehr starke zeitliche Ausweitung und Dehnung der Periode des Orga­ nisierten Kapitalismus, die Feldman unten (S. 151) zu Recht kritisiert. — Möglicherweise könnte in einer Verbindung zwischen der Periodisierung mit Hilfe von Trendperioden und dem hier benutzten Begriff eine gewisse Lösung zu finden sein, da (nach Kon­ dratieff, SpiethofT, Schumpeter, Rosenberg, Wehler u. a.) die Analyse der langen Kon­ junkturwellen einigermaßen scharfe Wendepunkte (1873, Mitte der 90er Jahre, 1913) ergeben, obwohl auch dies keineswegs unumstritten ist (vgl. z. B. für England S. B. Saul, The Myth of the Great Depression, 1873—1896, London 1969). Eine Verkuppe­ lung der Trendperioden-Periodisierung und des Begriffs „Organisierter Kapitalismus“ könnte für Deutschland — die modifizierende Übertragbarkeit auf andere Industrie­ länder wäre gesondert zu behandeln — etwa so aussehen: „Industrielle Revolution'' von den 1830er (oder 1840er) Jahren bis 1873 — „Große Depression“ 1873 bis zur Mitte der 90er Jahre — Übergang zum „Organisierten Kapitalismus“ von der Mitte der 90er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg — „Organisierter Kapitalismus“ seitdem, wo­ bei eine weitere Aufgliederung und Unterteilung dieser letzten Periode nach zusätz­ lichen Kriterien sehr zu wünschen und wohl auch möglich wäre. Dieser Periodisierungs­ vorschlag — siehe bereits als Versuch der empirischen Anwendung dieses Schemas: Kocka, Unternehmensverwaltung, 43 ff., 199 f., 315 ff.; sowie ders., Theorieprobleme, 316 — würde sich allerdings darüber hinwegsetzen, daß viele (aber nicht alle) der unter „Organisierter Kapitalismus“ gefaßten Veränderungen wenigstens ansatzweise auch in der Zeit vor Mitte der 90er Jahre auftraten. Doch darf daran erinnert werden, daß solche Unscharfen und pragmatischen Entscheidungsmomente wohl den allermeisten Periodisierungsversuchen eigen sind, besonders wenn sie die Datierungen mit Hilfe von Ereignissen als in der Regel ungenügend für sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Zwecke begreifen und darüber hinaus zu gelangen versuchen. Periodisierungen wechseln zudem notwendig mit den spezifischen Erkenntniszielen, es sei denn, sie gefrieren zur weithin akzeptierten Konvention, deren hauptsächlicher Nutzen in der Erleichterung der Ver­ ständigung im Sinne einer Sprachregelung liegt. — Mit der nicht voll gelösten Periodi­ sierungsproblematik eng verbunden ist die in Regensburg zunächst von V. Sellin (unten S. 84 f.) aufgeworfene kritische Frage nach der Identifizierbarkeit einer vorhergehenden Periode des nicht organisierten (Industrie-)Kapitalismus. Dazu ist Folgendes zu sagen: 1. Spitzt man den Einwand (wie es in Regensburg fast durchweg geschah) auf den staat­ lichen Interventionismus, also auf nur einen Aspekt des Begriffs „Organisierter Kapitalis­ mus“, zu und argumentiert, daß es diesen auch in den frühen Phasen der Industrialisie­ rung gab, so muß dagegen vor allem auf die qualitative Besonderheit staatlicher Wirt­ schafts- und Sozialinterventionen im Organisierten Kapitalismus hingewiesen werden, die wie oben ja thesenhaft formuliert wurde, Reaktionen auf ökonomische und soziale Gleich­ gewichtsstörungen eines längst in Bewegung gesetzten Industrialisierungsprozesses sind, welche in einem fortgeschrittenen Stadium desselben aus hier nicht analysierten Grün­ den aufzutreten pflegten. Dies gilt etwa für die preußische Gewerbepolitik des Vor­ märz nicht. — 2. Dessenungeachtet ist zuzugeben, daß die konzedierte Periodisierungs­ schwäche des Begriffs „Organisierter Kapitalismus“ eine analytisch unangreifbare Tren­ nung der Perioden nicht zuläßt, es sei denn, man benutzt zusätzliche Datierungskrite­ rien (wie Trendperioden). — 3. Falls wirklich (wie Sellin für Italien zu zeigen ver-

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sucht und wahrscheinlich für viele kürzlich oder gegenwärtig mit der Industrialisierung beginnende Entwicklungsländer gezeigt werden könnte) „Organisierter Kapitalismus“ mit „Industriekapitalismus“ wenigstens hinsichtlich des Staatsinterventionismus in eins fällt, so bezeichnet dies für die Anwendung des Konzepts einen Grenzfall, der den­ noch mit Hilfe dieses Konzepts analysiert werden kann (wie es Seilin ja selbst vor­ führt) und der dessen Anwendbarkeit (etwa für einen Vergleich der Industrialisierung in einem westeuropäischen und einem heutigen Entwicklungsland) keineswegs in Frage stellt. 23 Zur Begriffsgeschichte von „Organisierter Kapitalismus“ vgl. die Einleitung H. A. Winklers zu diesem Band; zur Herkunft des Begriffs des „Staatsmonopolistischen Kapi­ talismus“ aus einigen Kriegsschriften Lenins vgl. mit genauen Verweisen: Kuczynski, Frühgeschichte, 173 ff.; Nussbaum, Imperialismustheorie, 28 ff. 24 Art. „Staatsmonopolistischer Kapitalismus“, in: Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands u. der deutschen Arbeiterbewegung 2, Berlin 1970, 602—606 (Zitat: 604). — Die „Verschmelzungs“-These auch in dem sonst sehr differenzierten Artikel von Nussbaum, Imperialismustheorie, 25 f., 61 ff. 25 Vgl. z. B. die schillernden Aussagen zum Verhältnis von Staat und Monopolen in: Institut f. Gesellschaftswissenschaften b. ZK d. SED, 101 f. (die Verschmelzungs-The­ se dagegen für den Ersten Weltkrieg und für die Gegenwart: ebd., 21, 127 ff., 142,pass.). — Vgl. auch H. Mottek, Zur Verstaatlichung im Kapitalismus. Der Fall Hibernia, JbWG 1968/IV, 11—39, der ältere marxistisch-leninistische Interpretationen dieses Konfliktes über die Verstaatlichung von Kohlengruben 1904/05 kritisiert (13 f.), die „Gegentendenzen“ zur „Verschmelzung“ zwischen Monopolen und Staat stark betont (36 ff.) und in diesem Rahmen die anti-staatlichen Defensiv-Maßnahmen der insofern weitestgehend einigen Unternehmer und Kapitalbesitzer gegen spezifische staatsinter­ ventionistische Eingriffe klar herausarbeitet, aber darauf verzichtet, daraus Konsequen­ zen für die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus und insbesondere die Ver­ schmelzungs-These zu ziehen. 26 Am Beispiel der marxistisch-leninistischen Interpretation der inneren Geschichte Deutschlands im Ersten Weltkrieg im einzelnen aufgezeigt bei: Kocka, Klassengesell­ schaft, Kap. IV, Abschn. 3. 27 Ein solcher flexibler Begriffsrahmen deckt hinsichtlich des Verhältnisses von So­ zialökonomie und Staat zwei unterscheidbare und in der Regensburger Diskussion be­ sonders von Feldman und Maier unterschiedene Varianten des Organisierten Kapitalis­ mus ab: sowohl die mit vorwiegend (nicht ausschließlich) staatlicher Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft als auch die mit vorwiegender (nicht ausschließlicher) Selbstorganisation durch organisierte Interessen (vgl. unten S. 158 ff. u. 196 f.). Solche und andere Unterscheidungen und Differenzierungen erlaubt der hier vorgeschlagene Be­ zugsrahmen, ja er legt sie nahe. Sie sind notwendig, wenn man zu einer zeitlichen und in­ ternational vergleichenden Typologie des Organisierten Kapitalismus kommen will. Eben deshalb muß der Begriff aber zunächst ein hohes Maß an Flexibilität besitzen und nicht zu starr festgelegt sein; ihn als zu unbestimmt und weit gefaßt zu kritisieren, über­ zeugt zumindest in diesem Zusammenhang nicht. — Zum Begriff der „restriktiven Be­ dingungen“ staatlicher Autonomisierungstendenzen im Anschluß an O. Kirchheimer: J . Bergmann u. a., Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung, in: Th. W. Adorno Hg., Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Stuttgart 1969, 67—87; als Versuch der Anwendung dieser Begriffe zur Analyse des Verhältnisses von Gesellschaft und Staat im Ersten Weltkrieg: Kocka, Klassengesellschaft, Kap. IV, Abschn. 4. — Mit Hilfe des Begriffs der „politik-enthobenen Imperative“ einer kapitalistischen Wirt­ schafts- und Sozialstruktur, deren Durchsetzung durch den Staatsapparat nicht als Ver­ wirklichung sozialökonomischer herrschender Interessen hinreichend analysiert werden könne, setzt C . Offe (Politische Herrschaft u. Klassenstrukturen, in: G. Kress u. D. Senghaas Hg., Politikwissenschaft, Frankfurt [1969] 1972, 155 ff.) diesen Ansatz fort, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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wobei eine gewisse Gefahr besteht, im Interesse einer funktionalen Erklärung allzusehr von „handlungstheoretischen Kategorien“ und damit den Motivationen und Interessen der individuellen und kollektiven Handelnden abzusehen. Dagegen betont Offe (Struk­ turprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt 1972, 65—106, bes. 65, 68—72, 74, 90, 92, 95—100) neuerdings wieder stärker, daß trotz gegenläufiger „Verschleierungs­ tendenzen“ die Funktionen des Staatsapparats in der spätkapitalistischen Gesellschaft vor allem als Verwirklichungen des „objektiven Gesamtinteresses des Kapitals“ (wenn nötig auch gegen den davon abweichenden Willen von „Einzelkapitalen“) und damit primär als Klassenherrschaft zu interpretieren seien. Vgl. auch die Kritik an Offes schillerndem Ansatz in Kocka, Klassengesellschaft, Kap. IV, Anm. 121. 28 Vgl. die Einleitung H. A. Winklers zu diesem Band und R. Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, 165—84, bes. 168 f.; E. Naphtali, Wirtschafts­ demokratie (19281), Frankfurt 1966, 26—41 („Von der freien Konkurrenz zum orga­ nisierten Kapitalismus“), bes. 36 f. — Vgl. auch die frühe marxistische Kritik am Kon­ zept bei E. Varga, Probleme der Monopolbildung u. die Theorie vom ,organisierten Kapitalismus' (1929), in: ders., Die Krise des Kapitalismus u. ihre politischen Folgen, Frankfurt 1969, 11—41. 29 Zu einigen politisch-ideologischen Funktionen der DDR-Historie vgl. Kocka, Theorieprobleme, 322 f. 30 Dazu im einzelnen mit Belegen: ders., Klassengesellschaft, Kap. IV, Abschn. 3, bes. Anm. 103—105. 31 Vgl. die Betonung der Kontinuität vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus vor 1914 bis zum Faschismus bei Nussbaum, Imperialismustheorie, 57, und bes. deutlich bei Gossweiler, Großbanken, der den Unterschied zwischen liberal-parlamentarischen und faschistischen Herrschaftsmethoden tendenziell verwischt. Generell behauptet die zunehmende Verschärfung der Klassenspannung und den Abbau der Demokratie als Folge des Staatsmonopolistischen Kapitalismus: Inst. f. Gesellschaftswissenschaften beim ZK d. SED, Kap. III, bes. 178, 205.

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Der Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und Interventionsstaates in Deutschland Von HANS-ULRIC H WEHLER

I. In der Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften haben jeweils be­ stimmte Paradigmata: klassische Problemlösungen verknüpft mit erklärungs­ kräftigen Theorien, eine zentrale Funktion für die Organisierung des Wissens und der Forschungsinteressen ausgeübt — das hat Thomas S. Kuhn unlängst überzeugend dargetan1. Aber auch in der Geschichtsschreibung läßt sich derselbe Prozeß verfolgen, demzufolge sich der Wissenschaftsbetrieb um eine begrenzte Anzahl von Brennpunkten ordnet. Ein besonders einflußreiches Paradigma der deutschen Historie bildete z. B. lange Zeit die Staatspolitik an sich oder der Wandel der'Mächtekonstellationen unter dem „Primat der Außenpolitik“. Dar­ in spiegelten sich natürlich langlebige fundamentale gesellschaftliche und politi­ sche Erfahrungen wider: einmal der Prozeß der modernen Staatsbildung na­ mentlich seit dem 16./17. Jahrhundert und dann der permanente Ant­ agonismus der europäischen Staatenkonkurrenz. In ihrer traditionellen Ausprä­ gung können jedoch heute diese Leitkonzeptionen fraglos nicht mehr genügen, denn durch ihren Raster fallen Kernprobleme der Industriellen Welt gewisser­ maßen hindurch. In einem charakteristischen Vorgang werfen realhistorische Veränderungen und damit zusammenhängende veränderte theoretische Bedürf­ nisse die Frage nach neuen Paradigmata auf. Diese Bemühungen richten sich seit dem 19. Jahrhundert auf die Erarbeitung eines angemessenen Koordinaten­ systems, innerhalb dessen historische Theorien der industriellen Gesellschaften gewonnen werden können. Darauf zielten Marx und Weber ab, um nur die be­ deutendsten der fast zahllosen Sozialwissenschaftler zu nennen, die sich an die­ sen Problemen versucht haben2. Ein solches historisches Paradigma sollte u. a. zwei Anforderungen genü­ gen: Es hat sowohl wesentliche Strukturen einer Epoche oder doch bestimmter Problemfelder zu erfassen, als auch möglichst genau abgrenzbare Periodisie­ rungseinheiten zu bezeichnen. Die Begriffe des Organisierten Kapitalismus und des parallel-komplementär aufsteigenden Interventionsstaats scheinen eben dazu imstande zu sein — eine Behauptung, deren Berechtigung im folgenden für die Zeit ihrer Genesis in Deutschland zu prüfen ist. Organisierter Kapitalis­ mus kann natürlich so definiert werden, daß er per se die Entwicklung des Staats als eines Teils der Sozialstruktur mit umfaßt. Unter theoretischen und genetischen Gesichtspunkten wäre das stringent. Wegen des relativen Eigen­ gewichts des Staats, das in Deutschland vor allem auch auf vorkapitalistischen

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Traditionen beruhte, scheint die begriffliche Trennung aber pragmatische, nicht prinzipielle Vorteile zu bieten; nicht zuletzt soll sie auch einem in der gegen­ wärtigen Diskussion häufig vorkommenden Mißverständnis, das sich in einer Unterschätzung des ganz instrumentalisiert dargestellten staatlichen Herr­ schaftsapparats äußert, möglichst entgegenwirken. II. Die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert von Großbritannien aus all­ mählich geschaffene, auf dem Konkurrenzprinzip und Einzelunternehmern als Innovations-, Initiative- und Risikoträgern beruhende liberale Marktwirt­ schaft stellte alles andere als das Resultat einer „natürlichen“ Entwicklung, sondern ein extremes Kunstprodukt dar*. Abgesehen von den technologischen Neuerungen und gesellschaftlichen Strukturwandlungen bestand das historisch radikal Neuartige vor allem darin, daß die Wirtschaft, die bisher stets unter­ geordneter, eingebetteter Bestandteil des sozialen Lebens gewesen war, jetzt einen Primat zu beanspruchen und gegenüber dem Sozial-, Werte- und Politik­ system durchzusetzen begann; symptomatisch hierfür ist der Begriff der „Wirt­ schaftsgesellschaft“. Da „Wirtschaft“ immer als sozialer Interaktionsprozeß verstanden werden muß4, entschieden letztlich soziale Kriterien darüber, ob Menschen und Produktionsmittel so eingesetzt wurden, daß der historische Sonderfall des okzidentalen Industriekapitalismus entstehen konnte. Folglich haben auch — unbeschadet der Heterogenität der Zwecke5 — exakt bestimm­ bare soziale Gruppen die Bedingungen geschaffen, unter denen gemäß ihrer Interessendefìnition und ihrem Realitätsverständnis eine optimale Entfaltung des Kapitalismus möglich schien. Dazu gehörte dann in erster Linie, daß die Vorstellung von einem sich selbst regulierenden Markt gegen enorme Wider­ stände in mehreren Bereichen institutionell verwirklicht wurde, indem nämlich derartige Märkte für Güter und Geld, Boden und Menschen rechtlich durchge­ setzt und damit entscheidende Produktionsfaktoren als kaufbare Ware ver­ fügbar wurden. Dieses Ziel einer selbstgeregelten Marktgesellschaft implizierte eine utopische Zumutung, deren konsequente Realisierung trotz aller unleugbaren Vorteile — die gegen jede Idealisierung der vorindustriellen Welt ins Feld zu führen sind — doch auch in zunehmendem Maße die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft verschliß, ja zerstörte. Dennoch wurde diese neue Ordnung im Banne des Newtonschen Gesetzesbegrififs auch noch geradezu als unvermeid­ bares Resultat von Quasi-Naturgesetzen sanktioniert. Tendenziell wurden von einer einflußreichen Schule Gesellschaft und Politik als Anhängsel dieser Markt­ wirtschaft verstanden und damit der Geltung ihrer vermeintlichen Gesetzmäßig­ keiten unterworfen. Da aber das neue Marktprinzip wider alle Tradition ver­ fochten wurde, mußten von Anbeginn an staatliche Bürokratien und Instanzen bei seiner Durchsetzung behilflich sein. Von vornherein — und stets fortab — wurde der Staat mobilisiert, um die Marktwirtschaft erst aufzubauen und dann in Gang zu halten. Diese neu entstehende Realität kam den Zeitgenossen zu Bewußtsein in Ge­ stalt der Politischen Ökonomie, jenem umstrittenen „Kind des 18. Jahrhun© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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derts“6.

Ihr war das zentrale Selbstregulierungsprinzip selber so dunkel, daß Adam Smith von der „unsichtbaren Hand“ sprach, die das Marktgeschehen zum Besten ordne. Politische Macht und Herrschaftsinteressen wurden bei der Er­ örterung der „ökonomischen Gesetze“ als „ewige Naturgesetze“ weithin aus­ geblendet7, obwohl sie immer präsent, in Aktion und wirksam waren, um die ausschlaggebenden Markte für Menschen, Waren und Gelder zu erhalten. Dort, wo der liberale Konkurrenzkapitalismus siegte, wurde dieser Erfolg durch staatliche Intervention erst mit ermöglicht, und die sozialen Kosten die­ ses Durchbruchs wurden primär bestimmten sozialen Schichten aufgebürdet. Den Preis des Sieges aber bildete — auch für die Exponenten des neuen Indu­ striekapitalismus — die Ungleichmäßigkeit des Wachstums, der unregelmäßige Rhythmus der wirtschaftlichen Entwicklung mit ihrem unvorhersehbaren Wechsel von Konjunktur, Krise und Depression, denn eben „die Gesamtbewe­ gung dieser Unordnung“ konstituierte „ihre Ordnung“8. Eine historische The­ orie des (deutschen) Organisierten Kapitalismus, die als Ziel anzustreben ist, müßte u. a. diese prinzipielle Krisenproblematik entfalten und ihrer Argumen­ tation streckenweise zugrunde legen. Andererseits aber ist es sehr fraglich, ob von dieser einen Perspektive her genügend historische Trennschärfe für die Probleme zu gewinnen ist, denn überall ist der Prozeß der Kapitalverwertung in je eigentümliche territoriale und nationale Sozialstrukturen, Traditionen, Kulturen usw. eingebettet, so daß die fortschreitende Organisierung des Kapi­ talismus zu verschiedenen Erscheinungsformen mit unterschiedlichen histori­ schen Konsequenzen führt. Zugegeben, man kann diese Fragen auf höherem oder niederem Abstraktionsniveau diskutieren, aber es führt meines Erachtens nicht sehr weit, wenn man diese divergierenden historischen Ausprägungen des entwickelten Industriekapitalismus abwertet im Verhältnis zu einem Haupt­ element seines allgemeinen Wesens: der Krisenproblematik. Wie immer dem auch sein mag, inzwischen sind drei Hauptfaktoren genannt worden, die aus dem liberalen Konkurrenzkapitalismus9 nach einer ziemlich kurzen Phase den Organisierten Kapitalismus machen sollten: Die Industrie­ wirtschaft selber, deren immanente Entwicklungstendenzen ebenso wie ihre Führungsgruppen auf Organisation drängten; die industrielle Arbeiterschaft, die erst zum Überleben, dann zur Humanisierung der Arbeitswelt Organisation brauchte und auf bewußte Kontrolle der sozialanarchischen Dynamik der In­ dustrie hinwirkte; und der Staat, dem neue Steuerungsaufgaben durch diese Wirtschaftsform aufgezwungen wurden, damit deren Funktionsfähigkeit er­ halten blieb. III. Wenn man die Industrielle Revolution in Deutschland aus guten Grün­ den auf die Jahrzehnte zwischen 1850 und 1873 einengt und die erste Phase der HochindustrialisieiMng mit der Trendperiode von 1873 bis 1895 gleich­ setzt, dann muß man zugleich feststellen, daß unmittelbar nach dem Durch­ bruch der Industriellen Revolution, also nach der zweiten Weltwirtschaftskrise von 1873, ein Strukturwandel des Industriesystems begann. Mit diesem Begriff des Strukturwandels sollte man fraglos vorsichtig umgehen, da er viel zu oft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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schlampig gebraucht wird, aber hier handelte es sich in der Tat um eine funda­ mentale Änderung des Institutionen- und Ordnungsgefüges. Unmittelbar auf den Triumph der liberalen Marktwirtschaft in der Hochkonjunkturperiode bis 1873 folgte mithin ein Transformationsprozeß, der bis zur Mitte der 90er Jahre bereits zu so ausgeprägten und klar erkennbaren Ergebnissen geführt hatte, daß Schumpeter bald von einer „Wasserscheide zwischen zwei Epochen in der Sozialgeschichte des Kapitalismus“ sprechen konnte10. Dieser Strukturwandel wurde durch mehrere Faktoren begünstigt: 1. Die Reaktion auf die „relative Rückständigkeit“ Deutschlands im Verhältnis vor allem zu Westeuropa spielte eine wesentliche Rolle. Das damals beispiellose Tempo bei der Einführung der fortgeschrittensten Technologie des Westens, die schnelle Bevorzugung von Großunternehmen und Universalbanken, die prominente Rolle der Produktionsgüterindustrie, die frühzeitige planmäßige Ausbildung von „Human C apital“, die vielfältigen staatlichen Förderungspro­ gramme, der Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsideologie usw., sie üb­ ten eine grundlegend wichtige Wirkung aus11. 2. Die liberale Gesetzgebung der 1870er Jahre — das neue Industrie-, Bank-, Handels-, Aktien- und Börsen­ recht usw. — schuf für diese Entwicklungstendenzen einen institutionellen Rah­ men, den sachkundige Vertreter der Bank- und Geschäftswelt damals für äußerst vorteilhaft hielten. Er erleichterte auch eine Veränderung der Eigen­ tumsfunktion insofern, als sich diese fortab zunehmend von der Produktions­ funktion lösen konnte. Indem Eigentum — namentlich an Großunternehmen — durch Aktien auf der Börse für beliebige Zeit verfügbar wurde, ließ grosso modo die Bedeutung des einzelunternehmerischen Besitzes an Produktionsmit­ teln nach. Dieser Vorgang aber bildete eine wichtige ökonomische und recht­ liche Voraussetzung für einen anonymen und kapitalintensiv wirtschaftenden Organisierten Kapitalismus. 3. Zugleich war dieser Strukturwandel empirisch nachweisbar direkt mit den Wirkungen der Krise von 1873, den drei indu­ striellen Depressionen von 1873 bis 1879, 1882 bis 1886 und 1890 bis 1895, in­ direkt aber mit der Agrarkrise seit 1876 verknüpft. Ihm lag also einmal die spezifische Konstellation eines Spätkömmlings der Industrialisierung, zweitens die Problematik eines rasant angekurbelten, rechtlich erleichterten, aber stets ungleichmäßigen Wachstums zugrunde; drittens handelte es sich um Resultate immanent sich entfaltender Prozesse — nachdem diese einmal in Gang gesetzt und institutionalisiert worden waren —, die durch die Wachstumsstörungen beschleunigt wurden; und viertens ging es hier nie allein um ökonomische, son­ dern immer auch zugleich um soziale und politische Fragen12. Der erste Ge­ sichtspunkt zielt auf einen Kranz von Ausgangsbedingungen, hier geht es vor allem um die folgenden Punkte. Angesichts der schmerzhaften Erfahrungen mit den Oszillationen des Kon­ junkturzyklus seit 1873 klaffte der Gegensatz zwischen der vergleichsweise ra­ tionalen Organisation der Produktion im Einzelbetrieb und der Anarchie der Produktion in der Gesamtwirtschaft noch tiefer auf. Es bildeten sich daher ziemlich schnell Formen eines privatwirtschaftlichen Planungsersatzes heraus. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Diese Anläufe zur Beherrschung des Wirtschaftsprozesses überschnitten sich mit dem voranschreitenden Konzentrationsprozeß. Dieser läßt sich auf verschiede­ nen Ebenen verfolgen: 1. Die industriellen Großunternehmen wuchsen seit den 1870er Jahren be­ sonders rasch, wie sich das vor allem im Ruhrrevier, an der Saar und in Ober­ schlesien, aber auch in Berlin verfolgen läßt. Sie fanden die besondere Unter­ stützung der sich ebenfalls ausdehnenden oder entstehenden Großbanken, wenn sie nicht sogar .von diesen gegründet oder fusioniert wurden. Gemeinsam ent­ wickelten sie, die durchweg als Aktiengesellschaften auftraten und durch „In­ terlocking Directorates“ verzahnt waren, auch die höhere Produktionsstufe des vertikalen Verbunds (Krupp, Borsig, Haniel, Grillo, Stumm, Stinnes, Hoesch, Thyssen, Röchling, Mannesmann u. a.). Während die Zahl der Indu­ striebetriebe zusammenschmolz, nahm ihre Größe, Erzeugung und Belegschaft zu. Im rheinisch-westfälischen Industrierevier ging z. B. die Zahl der bedeuten­ den Bergwerke von 1873 = 268 auf 1894 = 164 zurück, aber ihre Produktion stieg von 11,8 auf 35,5 Mill. t, ihre Arbeitnehmerzahl von 51 400 auf 128 000 an. Zwar verloren allein von 1873 bis 1886 ca. 100 Bergwerke ihre Selbstän­ digkeit, aber die durchschnittliche Förderung verdreifachte sich andererseits von 56 900 auf 176 000 t. Nach der Gewerbestatistik vermehrten sich die gewerblichen Unternehmen von 1875 bis 1895 nur um 13 %, ihre Beschäfti­ gungszahl aber um 56%. Allein zwischen 1882 und 1895 stieg die Zahl der da­ mals sogenannten Großbetriebe (51 und mehr Personen) von 9974 auf 18 953, ihre Belegschaft von 1,61 auf 3,04 Mill. an; die Zahl der Betriebe mit mehr als 1000 Personen kletterte von 127 auf 255, die ihrer Beschäftigten von 213 160 auf 448 731. Auch diese Zahlen vermitteln nur einen ersten Eindruck, da die marktbeherrschende Stellung weniger Großunternehmen in einer Indu­ strieregion — z. B. Harpener AG, Gelsenkirchener Bergwerks-Aktiengesell­ schaft, Phoenix, Hoerder Verein, Hoesch und Stinnes im „Herzen“ des Ruhr­ gebiets — erst in der Detailanalyse deutlich wird13. 2. Darüber hinaus schlossen sich die Betriebe je nach Branchen oder Inter­ essen zu Kartellen, zu Syndikaten mit dem Ideal der monopolistischen Preis­ diktatur, aber auch zu großen Interessenverbänden zusammen, um sowohl eine Kryptoplanung betriebswirtschaftlicher und makroökonomischer Vorgänge als auch die massive Einflußnahme auf die zunehmend wichtigeren wirtschaftspo­ litischen Entscheidungen in Berlin besser vorantreiben zu können. Über den Zu­ sammenhang von Stockungsjahren und Kartellen als „Kindern der Not“ sind sich viele zeitgenössische Beobachter einig gewesen. Auch Liberale hielten jetzt die „Koalition“ oder „Assoziation“ für die Signatur der Zeit. In der „Organi­ sation der Produktion zur Vermeidung von Überproduktionskrisen“ sah Friedrich Hamacher vom Ruhrestablishment „das einzige Mittel, unsere Indu­ strie aus der Krisis zu befreien“. Die Kartellbewegung durchlief zügig die Stu­ fen von der Preiskonvention über das Kontingentierungsabkommen bis hin zum umfassenden Monopolkartell bzw. Syndikat, das wie das „Rheinisch-West­ fälische Kohlensyndikat“ von 1893 — der Vorläufer der derzeitigen Ruhrkoh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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lengesellschaft — 87 % der Revierproduktion kontingentierte, den Absatz ko­ ordinierte und die Preise fixierte. Die Tiefkonjunkturen überwanden den Wi­ derstand gegen diese beträchtliche Einbuße an Autonomie in den innerbetrieb­ lichen Entscheidungen. Auch im Kartell und Syndikat gaben die Großfirmen den Ton an. Die Konkurrenz kleiner und mittelgroßer Betriebe, wie sie dem li­ beralen Wettbewerbsmodell entsprach, verlor ihren dominierenden C harak­ ter14. 3. Parallel dazu verlief ein verwandter Vorgang: die Gründung und dann der Ausbau der branchenspezifischen, regionalen und nationalen industriellen Interessenverbände. 1874 entstand z. B. der schwerindustrielle „Verein Deut­ scher Eisen- und Stahlindustrieller“, 1876 der noch durchschlagskräftigere „Zentralverband Deutscher Industrieller“, später erst (1895) der die export­ orientierte Fertigwaren- und Leichtindustrie repräsentierende „Bund der Indu­ striellen“. Mit dem ZDI schaltete sich eine machtvolle Pressure Group in die deutsche Innenpolitik ein — wie sogleich beim Übergang des Reiches zur Schutzzollpolitik deutlich wurde —, die am ehesten mit der 1895 gegründeten amerikanischen „National Association of Manufacturers“ verglichen werden kann1*. Von den Geschäftsführungen der Kartelle und Verbände, wo es auch wieder zahlreiche personelle Verflechtungen gab, wurden zudem auch die Bürokratisierungstendenzen, die sich in den Großbetrieben ausbreiteten, geför­ dert. Kartelle und Verbände wurden zu Indikatoren für den wachsenden Or­ ganisationsgrad der Industriewirtschaft. Aber auch öffentlich-rechtliche Inter­ essenvertretungen, wie die seit dem Ende der 70er Jahre aus (zumeist frei­ händlerischen) Handelskammern in (zumeist protektionistische) Industrie- und Handelskammern umgewandelten Körperschaften mit z. T. einflußreichen Ge­ schäftsführern, gehören in diesen Zusammenhang hinein. Wie die Handwerker­ innungen, die zwischen 1881 und 1897 wieder zu Körperschaften des öffent­ lichen Rechts wurden, spielten sie in der sozialprotektionistischen Politik des Kaiserreichs eine wichtige Rolle1'5. An die Kooperation, ja Verfilzung der In­ teressenverbände mit politischen Parteien oder an ihre Gegensätze — ein Pro­ zeß, der auch nach der Mitte der 70er Jahre unübersehbar ist —, an die Ämter­ koppelung von Verbandsgeschäftsführung, Unternehmensmanagement und Landtags- bzw. Reichstagsmandat, an die Rolle der Verbandsexperten für den Entwurf von Gesetzesvorlagen, kurzum an die Konflikte, das neuartige Zu­ sammenspiel oder gar die Dauerallianz von organisierten Interessen und Par­ teien („Deutschkonservative“ und „Bund der Landwirte“) und damit an die Veränderung der politischen EntScheidungsprozesse braucht hier nur erinnert zu werden17. Wenn heute im Hinblick auf diese Zeit von der Genesis der „verbandsstrukturierten Wirtschaft“ gesprochen wird18, dann ist das nur eine Umschreibung für den Aufstieg des Organisierten Kapitalismus. 4. Was die Kartelle für ihre Mitglieder erstrebten, das versuchte das Bis­ mareksche Protektionssystem seit 1879 für einflußreiche Sektoren der gesamten Volkswirtschaft zu erreichen. Der durch die Depressionserfahrung der Indu­ strie- und Agrarwirtschaft motivierte Obergang zu schnell steigenden Schutz© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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zöllen (400 bis 500 % bis 1887), hinter denen sich Deutschland wie andere europäische Nationalstaaten seit dem Ende der 70er Jahre einigelte, kann gleichfalls als eine Erscheinungsform des Konzentrationsprozesses bzw. des Organisierten Kapitalismus und Interventionsstaats verstanden werden. Und die seit derselben Zeit diskutierten Pläne einer mitteleuropäischen Zollunion können auch in diesen Kontext gestellt werden. Denn die supranationale Or­ ganisation sollte die Defensive gegen die überlegene, namentlich überseeische Konkurrenz ebenso wie die Offensive gegen diese Rivalen gewährleisten und damit das Potential einer großräumigen Wirtschaftsgemeinschaft erst richtig zur Geltung bringen. Man trifft hier auf die Wurzeln der EWG und auf Mo­ tive, die auch zu ihren Entstehungsbedingungen gehört haben. Wenn auch die Wachstumsstörungen in der Trendperiode von 1873 bis 1895 öfters als Katalysator gewirkt haben, so gab es doch eine Reihe von Bedingun­ gen und Entwicklungen, die in das System des Industriekapitalismus gleichsam eingebaut waren. Sie hätten sich — das wird man kontrafaktisch sagen dür­ fen — auch während einer nach 1873 anhaltenden Konjunktur ausgewirkt, vielleicht nur etwas später. Frühzeitig haben Marx und J . S. Mill auf die zentrale Rolle hingewiesen, die der Anstieg des fixen Kapitals spielen werde19. Diese Veränderung in der organischen Zusammensetzung des Kapitals ist auch in Deutschland seit den 7Oer/8Oer Jahren sprungartig vor sich gegangen. Vermutlich hat der direkte Einfluß der großen Universalbanken diese Verschiebung durch massierten Mit­ teleinsatz noch gefördert. Sie begünstigte — bzw. setzte schon voraus — große Unternehmen, die diesen Investitions- und Kapitalbeschaffungsproblemen ge­ wachsen waren. Der schnell hochkletternde Anteil des konstanten Kapitals minderte entscheidend die von der liberalen Theorie fingierte Mobilität der Produktionsfaktoren im Krisenfall und verschärfte durch ihre Unbeweglichkeit (z. B. großer Fabrikanlagen bei Standortfragen und spezieller Maschinenaus­ rüstungen bei Produktionswechsel), d. h. durch verzögerte Anpassungsfähigkeit den Konjunkturzyklus — lauter Momente, die gerade wegen der unwidersteh­ lich wirkenden Gewalt dieser Entwicklung nach Kanalisierung oder gar nach ihrer Überwindung durch Organisation verlangten. Darüber hinaus wirkten noch andere Faktoren in derselben Richtung. Da man dem Trend der Preis­ deflation im 19. Jahrhundert besonders zwischen 1873 und 1896 keinen gerin­ gen Einfluß zubilligen muß20 und der Zwang zur Kostensenkung gleichzeitig anwuchs, da die Kostspieligkeit der damit zusammenhängenden Rationalisie­ rungsmaßnahmen und der neuen technologischen Verfahren zunahm (z. B. die schnelle Folge der Bessemer-, Siemens-, Martin-, Thomas-Gilchrist-Öfen in der Stahlindustrie), zeigte es sich erneut, daß am ehesten Großbetriebe den ver­ schärften Anforderungen gewachsen waren. Sie besaßen die notwendigen Fi­ nanzmittel, konnten sie erwirtschaften oder bekamen sie geliehen, um die Pro­ duktionseffizienz erneut zu steigern. Wenn die kontinuierliche Einführung technologischer Innovationen eine Art Lebenselixier des Industrialisierungsprozesses darstellte — auch das hatte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Marx frühzeitig —, dann bedeutete die Übernahme der wissenschaft­ lichen Forschung in die Laboratorien und Forschungsanstalten der Großunter­ nehmen einen weiteren Vorstoß, um die ökonomische Zukunft planmäßig im Betrieb zu programmieren. Dazu kam es in Deutschland seit den 90er Jahren. Zugleich drangen Elemente aus den neuen Wirtschaftswissenschaften: der Be­ triebswirtschaft- und Organisationslehre, des „Scientific Management“, in die Organisation von Produktion und Distribution ein22. Damit wurden wichtige Schritte auf dem Wege getan, auf dem die wissenschaftliche Forschung allmäh­ lich zur ersten Produktivkraft wurde — in zunehmendem Maße unter der Organisationsregie der Großindustrie. Auf welche Ziele hin konvergierten diese, sei es bewußt oder sei es in dump­ fer Reaktion unternommenen, auf eine oligopolistisch geordnete Produktion zielenden Anläufe, die sich mit einigen über die Köpfe der Beteiligten hinweg durchsetzenden Prozesse überschnitten? Als Idealzustand galt eine azyklische Dauerkonjunktur, eine gleichmäßig ansteigende, statt sprunghaft wechselnde Entwicklung des Wirtschaftablaufs. Mit dieser Utopie eines ebenen Wachstums­ pfades verband sich die Hoffnung auf rational vorauskalkulierbare Gewinn­ chancen und fest einplanbare Profìtmargen, auf überschaubare Märkte und fundiertere Investitionsentscheidungen. Dafür waren die Unternehmer und ihre Manager bereit, auf volle Betriebsautonomie partiell zu verzichten, indem be­ grenzte Entscheidungsbefugnisse an neue Kollektivinstanzen delegiert wurden, um letztlich Kernbereiche industriekapitalistischer Wirtschaft wie private Ge­ winnaneignung und privaten Anlageentschluß um so effektiver verteidigen zu können. Während sie allgemein oder doch für einige Bereiche des wirtschaft­ lichen Lebens auf dem Laissez-Faire beharrten, vertraten sie für andere Be­ reiche selber dezidiert die Forderung nach Organisation. Fraglos wurde auch durch diese Konzentrations- und Organisationsmaßnahmen die Fähigkeit zur massiven Expansion im In- und Ausland gesteigert. Zugleich waren diese öko­ nomischen Erwartungen verknüpft mit dem Wunsch nach gesellschaftlicher Sta­ bilität und Entschärfung der Sozialkonflikte. Dabei setzte sich zunehmend die Einsicht durch, daß die Interventionsrechte und die Interventionskapazität des Staates erweitert werden müßten, wie sehr auch die meisten Repräsentanten der Industriewirtschaft sowohl eine feste Begrenzung als auch eine direkte Be­ einflussung des staatlichen Instrumentariums anstrebten. Der nachweisbare Ein­ fluß großer Unternehmer (z. B. über den ZD1) sollte freilich nicht dazu füh­ ren, diese Gruppe zu dämonisieren: Sie handelte vielmehr durchaus klassen­ adäquat und gemäß der sozioökonomischen Rationalität des Wirtschafts­ systems, das sie vertrat. Die Kritik muß primär an diesem System selber und an der gesellschaftlichen Machtverteilung, ihren Konsequenzen und sozialen Unkosten ansetzen, weniger an Kräften, die strategische Positionen — wie zu erwarten — ausnutzten. Zwischen 1873 und 1895 erwies sich auch in Deutschland, daß der selbst­ geregelte Markt eine C himäre darstellte. Smiths „unsichtbare Hand“ blieb nicht nur unsichtbar, sondern auch ineffektiver denn je. Deshalb begannen die Pro© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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duktionsmittelbesitzer die Suche nach Abhilfe durch Selbstorganisation. Aber auch die von der Produktionsanarchie dauerhafter Betroffenen, die den Indu­ strialisierungsprozeß als Arbeitnehmer zunächst nur erlitten, begannen sich zu wehren. Ungefähr am Ende der deutschen Industriellen Revolution hatten sich auch die deutschen Arbeiterparteien zu einer Sammelpartei vereinigt, die ten­ denziell alle Klassengleichen zu organisieren und zu repräsentieren beanspruch­ te. Sieht man den Gothaer Kongreß von 1875 als Symbol dafür an, dann zeich­ nete sich fortab gegen die liberale Marktwirtschaft eine Zangenbewegung ab: Einmal entsprang sie dieser Wirtschaft selber, andererseits manifestierte sie sich im Aufstieg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. In zäher Ausein­ andersetzung — in großen Streiks, aber auch im täglichen Kleinkampf — wurde den Unternehmern oder der Staatsbürokratie eine Konzession nach der anderen abgerungen. Damit aber ergab sich eine allmählich zunehmende insti­ tutionelle Regelung der formell ihren C harakter verändernden Sozialkonflikte, mit anderen Worten: eine Ausdehnung der organisierten gesellschaftlichen Be­ ziehungen bis hin zur informellen Tarifautonomie am Ende des Ersten Welt­ kriegs. Wie tief die äußerlich auffallende Pazifizierungswirkung reichte, ist schwer abzuschätzen und wird nur zum Teil durch die Revolution von 1918 beantwortet23. Denkt man an die Erfolge der organisierten Arbeiterbewegung, dann braucht man in Marx' Worten — über das Proletariat als „Klasse mit radikalen Ket­ ten“, an der „das Unrecht schlechthin“ verübt werde, so daß sie auch zur „völligen Wiedergewinnung des Menschen“ prädestiniert sei21 — nicht nur das chiliastische Element eines säkularisierten Erlösungsglaubens hervorzuhe­ ben, sondern man könnte darin auch den Kern einer realistischen Prognose erkennen, da die Industriearbeiterschaft in gewisser Weise exemplarisch litt und zugunsten der Mehrheit für Veränderungen sorgte. Gegen Schluß der frühen Entwicklungsphase des Organisierten Kapitalismus zählte jedenfalls die Sozial­ demokratie 1,8 Mill. Stimmen bei den Reichstagswahlen von 1893 (23,3 % ) , während die Ereien Gewerkschaften Hunderttausende von Mitgliedern oder Sympathisanten mobilisieren konnten. Kurzum: Bis zur Mitte der 90er Jahre hatte sich auch der zweite Faktor, von dem Veränderungsimpulse in Richtung auf einen Organisierten Kapitalismus ausgingen, voll entwickelt. Die ebenso lebhaft wie voreingenommen diskutierte Frage nach dem Primat der Wirtschaft oder des Staates bei der Ausbildung des modernen Interven­ tionsstaats bzw. des Organisierten Kapitalismus scheint insofern falsch gestellt zu sein, als sie ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis entweder zu säuber­ lich in zwei getrennte Sphären zerlegt oder einem Institutionenkomplex zu ein­ deutig Dominanz bzw. Inferiorität zuweisen zu können glaubt. Auf jeden Fall handelte es sich um eine Verschränkung der Entwicklungen, die freilich je zu präzisieren ist. Prinzipiell falsch aber bleibt es — gerade auch wenn man un­ dogmatisch von Marx' Methode ausgehen will25 —, von vornherein den Staat als reines Instrument, als Agentur der herrschenden Klasse der Kapitaleigner hinzustellen und — mit gefährlichen Konsequenzen — sein relatives Eigen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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gewicht in manchen Phasen des historischen Prozesses zu unterschätzen. Abge­ sehen davon, daß es im Deutschen Reich immer nach Macht, Prestige und Ein­ kommen — nicht allein nach der Stellung im Produktionsprozeß — differen­ zierbare herrschende Klassen und folglich einen autoritären Pluralismus an der Spitze der Machtpyramide gegeben hat, muß eine historische Analyse folgende Faktoren berücksichtigen: 1. Die mitteleuropäischen Traditionen des absolutistischen Staates besaßen in sozialstruktureller, politischer und ideologischer Hinsicht auch noch in der Epoche der Industrialisierung einen unübersehbaren Einfluß. In den deutschen Staaten hing an ihnen das Bleigewicht von 300 Jahren mit ihrer prägenden Kraft für Sozialisation, Kollektivmentalität, Alltagsverhalten usw. Selbstre­ dend war dieser Staat jeweils eng mit mächtigen Interessengruppen verfilzt, aber er ging in dieser Verbindung nicht ganz auf. „Immer kommt es darauf an zu erkennen, wer oder wessen Interesse es ist, der oder das die Staatsmaschine in Bewegung setzt“, in diesem Sinne „reflektiert“ der Staat „jeweils die sozia­ len Machtverhältnisse, wenn er selbst auch kein bloßer Reflex derselben ist“26. Immer wieder konnte er zeitweilig eine relative Selbständigkeit als Entschei­ dungsinstanz (z. B. repräsentiert von den preußischen Beamten in der Epoche des „bürokratischen Absolutismus“) erringen und behaupten. In dieser vom „aufgeklärten Absolutismus“ noch einmal befestigten, von keiner bürgerlichen Revolution veränderten Staatstradition mit ihrer „Wohlfahrts-“ und „Polizei­ politik“ wurden auch Dispositionen gespeichert, die eine moderne Intervention begünstigten. 2. In Deutschland überschnitten sich Industrielle Revolution und Agrarrevo­ lution mit dem Prozeß einer neuen Staatsbildung zwischen 1864 und 1871. Die­ se Konstellation bestimmte die „Revolution von oben“, mit der die traditionel­ len Eliten unter Bismarck vor der gesellschaftlichen Bewegung die Flucht nach vorn in die militärische Gründung des großpreußischen Kaiserstaats antraten. Bismarcks autoritäres Regime etablierte sich als „bonapartistische Halbdikta­ tur“27, die unleugbar in entscheidenden Jahren die typische relative Autonomie der Exekutive mit sich brachte. Diese politische Herrschaftsform hat Interven­ tionen erleichtert, die im Zusammenspiel mit organisierten Interessen liberale — in dieser Übergangsphase keineswegs geringe — Widerstände überwand. Unverkennbar ist daher in Deutschland der Januskopf des modernen Inter­ ventionsstaates frühzeitig sichtbar geworden. Daß massivere soziale Steuerung nötig war, konnten nur orthodoxe Liberale leugnen. Aber zu wessen Gunsten, mit welchen sozialen Kosten und für welche Ziele interveniert wurde, darüber entschied die sozio-politische Machtstruktur Reichsdeutschlands. Den vorindu­ striellen Eliten der Agrarier, den neuen Feudalherren der Schwerindustrie und vor allem der autoritären Staatsleitung flössen die Stabilisierungsgewinne zu­ ungunsten der Wohlfahrt der Mehrheit zu. Seither behielt der deutsche Inter­ ventionsstaat mindestens bis 1918 seine illiberalen Züge, und sein Effekt kam immer auch den gesellschaftlichen Trägern der Demokratiefeindschaft zugute. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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3. Es gibt ein Eigengewicht von Herrschaftsinteressen, das institutionell auf dem Staatsapparat, weniger greifbar auf dem Selbstbewußtsein traditioneller Machteliten, Überlieferungen der politischen Kultur usw. beruht und gewöhn­ lich sehr kompliziert mit ökonomischen Interessen vermittelt ist, jedenfalls nur auf die Gefahr hin, die historischen Probleme zu verzerren, auf diese Interessen reduziert werden kann. Eins dieser Interessen wirkt sich als Primat der System­ erhaltung aus. Dieser deckt sich gewöhnlich mit spezifìzierbaren ökonomischen Interessen, aber nicht notwendig immer mit den ökonomisch mächtigsten, so daß aus schwerwiegenden gesellschaftlichen und politischen Erwägungen Vorstöße gegen den Egoismus führender Wirtschaftssektoren möglich sind. Die Finanz­ organisation und Steuergesetzgebung des preußischen Hegemonialstaates und des Reichs hat z. B. immer wieder vitale Interessen der Industriewirtschaft und des Finanzkapitals verletzt, wenn das Eigeninteresse der Großagrarier es verlangte. Natürlich muß unstreitig immer versucht werden, so genau wie mög­ lich die soziale Interessenbindung und den Mittelcharakter staatlicher Maßnah­ men zu bestimmen. Aber — noch einmal — das Herrschaftsinteresse an Kon­ fliktvermeidung kann sich durchaus auch über ökonomisches Gewinnstreben hinwegsetzen. 4. Immer muß hier mithin im Auge behalten werden, daß es in Deutschland zu jener Zeit rivalisierende Machteliten gab: Agrarier, Industrielle, Bürokraten, informelle „strategische C liquen“ (P. C . Ludz). Das entsprach dem C harakter des Kompromisses, den die „Sammlungspolitik“ seit 1876 auch bedeutete. Die traditionelle Vorherrschaft des adeligen oder feudalisierten bürgerlichen Groß­ grundbesitzes und der mit ihm alliierten Teile des Staatsapparats war unge­ heuer schwer aufzubrechen, wie sich das bis zum Oktober/November 1918 er­ wies. Folglich gab es im Kaiserreich nicht die Fusion zu einer herrschenden Klasse, sondern nur die labile Kooperation — das „Kartell der Angst“ — sammlungspolitisch vereinter Führungsschichten bzw. herrschender Klassen mit je wechselnden Interessen am gesamtgesellschaftlichen System. Jede lineare Gleichsetzung von Industriekapitalismus- und Staat verfehlt daher die deutsche Realität vor 1918. 5. Parallel zum Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und Interventions­ staats verlief eine ansteigende Bürokratisierungswelle in Staat und Kommu­ nen, in Wirtschaft und Verbänden. Sie besaß solche Wirkung, daß man — im Anschluß an Max Weber — in der Analyse der modernen deutschen Gesell­ schaft neben der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung die Bürokratisierung als relativ eigenständigen vierten Faktor ansetzen kann. Der Organisierte Kapitalismus war z. T. ein Ausdruck dieser Tendenz, z. T. wirkte er im Rückkoppelungseffekt wieder verstärkend auf sie zurück. So er­ zwang die wachsende Arbeitsteilung und Spezialisierung der Funktionen büro­ kratische Institutionen, denen wiederum eine unüberschaubare Marktautono­ mie schon an sich so zuwider war, daß bürokratische Kontrollmaßnahmen ge­ gen sie entwickelt wurden. Ehe sich aber noch dieser von der sozialökonomi­ schen Differenzierung bedingte Zwang voll auswirken konnte, kopierten Un© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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ternehmer das Modell der staatlichen Bürokratie. Erneut wirkten damit vor­ industrielle Traditionen auf die Industriewirtschaft ein und überformten ge­ wissermaßen die endogene betriebliche Entwicklung. Sowohl der allgemeine Einfluß, der von der dauerhaften Erfahrung mit Staatsbürokratien ausging, als auch die frühzeitige Imitation in Gestalt der Betriebsbürokratie deutscher Großunternehmen förderten Steuerungskonzeptionen, wie sie der Organisierte Kapitalismus zu verwirklichen suchte. Gleichzeitig veränderten sich durch diese Bürokratisierung und den allmählichen Übergang zu einem wirtschaftswissen­ schaftlich fundierten Betriebsmanagement die Herrschafts- und Organisations­ beziehungen in den Unternehmen — mit zahlreichen Konsequenzen besonders auch für die Angestelltenschaft28. 6. Was tat der Staat des kaiserlichen Deutschland, als er auf die Druck­ glocke der industriellen und agrarischen Wachstumsstörungen, die dadurch ver­ verschärften gesellschaftlichen Konflikte und die immanenten Entwicklungs­ tendenzen der Industrie reagierte bzw. zusammen mit den Interessenverbänden und in Verfolgung spezifischer Herrschaftsinteressen selber agierte? Die staat­ liche Wirtschaftspolitik führte nach sechsjähriger Depression wieder Schutzzölle ein, die fraglos bestimmten Industrien, vor allem der Schwerindustrie, entge­ genkamen, aber auch — den Kanzlerintentionen nach wohl primär — die ost­ elbische Großlandwirtschaft abschirmten und den sozialökonomisch-politischen Interessen dieser traditionellen Elite Rechnung trug. Deutlich begann sich jetzt der C harakter der Gesetzgebung zu verändern, da 1878/79 Verbände, Büro­ kratie und Staatsspitze erstmals direkt kooperierten. Das Konsulatswesen und die Marinestationen wurden ebenso zugunsten der Exportwirtschaft ausgebaut, wie Dampfersubventionen für sie eingeführt. Sondertarife für Eisenbahnen und Kanäle förderten die Ausfuhr von Fertigwaren bzw. die Einfuhr von Roh­ stoffen. Überseeische Banken wurden staatlich protegiert, Handelsverträge mas­ siert abgeschlossen. Auch der Imperialismus läßt sich unter diesen Aspekten als eine der Aktionsformen gesteigerter staatlicher Intervention begreifen, die zu­ gunsten privilegierter Interessen oder unter dem Ansporn mächtiger Kombina­ tionen von Unternehmen und Banken ausgeübt wurde. Monopolpläne der Re­ gierung zielten auf eine Verstaatlichung des Eisenbahnwesens als erfolgreichem Leitsektor der Industriellen Revolution und auf die Regie des Tabak- und Branntweinverkaufs. Der antiparlamentarisch konzipierte Preußische Volks­ wirtschaftsrat intendierte nach französischem Vorbild engere Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft. Die Sozialversicherungsgesetzgebung der 80er Jahre dehnte den staatlichen Einfluß auf die Sozialpolitik — gegen harten Wi­ derstand privater Versicherungsgesellschaften — unwiderruflich aus. Sollte sie durch bescheidene materielle Vorteile Loyalität wecken, so verließ sich gleich­ zeitig das Sozialistengesetz auf unverhüllte Repression und brachte zunächst die Versicherungsgesetze um ihre politische Wirkung. Die Mittelstandspolitik der Regierung kam dagegen den Schutzwünschen vor allem der Handwerker seit 1881 weit entgegen. Zusammengenommen trat in diesem Fächer von korri­ gierenden, balancierenden und präparativen Maßnahmen, denen noch viele © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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hinzugezählt werden könnten, die Absicht und das Bedürfnis des Staates zu­ tage, die gefährdete Funktionsfähigkeit der Wirtschaft zu stabilisieren, konti­ nuierliches Wachstum zu erleichtern, Sozialkonflikte nicht zuletzt deshalb zu mildern und die eigene Herrschaft erneut zu legitimieren. Im Zuge dieser An­ strengungen bewährte sich Adolph Wagners 1863 erstmals formuliertes „Gesetz der wachsenden Staatsausgaben“. Der Interventionismus begünstigte den mo­ dernen „Steuerstaat“, der zunehmende Teile des Sozialprodukts akkumulierte, verwaltete, erwirtschaftete und das Volkseinkommen durch neue staatlich sank­ tionierte Distributionsmechanismen umverteilte“9. Diese Vorgänge können zum Teil quantifiziert werden und den Trend sehr deutlich illustrieren. Der rasch wachsende Aufgabenbereich des Interventionsstaats, der Eingriff in immer grö­ ßere sozioökonomisch-politische Komplexe, der tendenzielle Anspruch, die ge­ samtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beeinflussen — sie liefern auch wichtige Kriterien, um diese Staatstätigkeit von den relativ bescheidenen, punktuell Wachstum induzierenden Hilfeleistungen des Staats in der Früh­ industrialisierung zu unterscheiden. Allgemein gesehen stößt man hier durchaus auf die Genesis einer zeitgenös­ sischen Problematik. In den gegenwärtigen westlichen Systemen eines staatlich regulierten Kapitalismus wird politische Herrschaft vor allem auch dadurch legitimiert, daß die Regierungen durch gezielte Interventionen die Wachstums­ störungen schnell korrigieren und damit die Stabilität von Wirtschaft und Ge­ sellschaft zu erhalten bestrebt sind. Die „Legitimationsforderung“, unter der diese Gesellschaften stehen, führt dazu, daß an die Stelle der diskreditierten Ideologie der selbstgeregelten liberalen Marktwirtschaft eine „Ersatzprogram­ matik“ tritt, die die Machteliten unter dem Primat der Systemerhaltung und aller damit verwachsenen Interessen verpflichtet, die „Stabilitätsbedingungen“ für „das Gesamtsystem zu erhalten“ und auch eine die „Loyalität der lohn­ abhängigen Massen sichernde Entschädigungs- und das heißt Konfliktvermei­ dungspolitik“ zu betreiben™. Möglichst gleichmäßig anhaltendes Wachstum besitzt daher eine eminent „herrschaftslegitimierende Funktion“. Unangetastet von dieser staatlichen Interventionstätigkeit bleibt freilich jene — prinzipiell von ihr nicht in Frage gestellte — Domäne erhalten, in der nach privatem Kal­ kül über Besitz, Investition und Gewinn entschieden wird. Die Anfangsphase dieser Politik, die man aus ausschließlich ökonomischen Motiven gar nicht ab­ leiten könnte, fällt in Deutschland in die Zeit zwischen 1873 und 1895, und erst unter derartigen Gesichtspunkten gewinnt ein großer Bereich der deutschen Politik, sei es nun Innen- oder Außen-, Binnen- oder Außenwirtschaftspolitik seinen eigentlichen Sinn. Ohne eine Funktionsanalyse der Phänomene, die mit dem Aufstieg von Organisiertem Kapitalismus und Interventionsstaat verbun­ den sind, auch ohne die Kategorien, die man dafür braucht bzw. dadurch er­ hält, treten fundamentale strukturelle Probleme dieser Zeit überhaupt nicht ins Blickfeld. IV. Allgemein sollten im Hinblick auf die Bedeutung und einige Konse­ quenzen der Entwicklung, die zu dem Duumvirat von Organisiertem Kapita© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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lismus und Interventionsstaat geführt hat, folgende Gesichtspunkte berücksich­ tigt werden, wobei diese Erwägungen über den Zeitraum bis 1896 hinausgehen und auch das 20. Jahrhundert umfassen. 1. Eine zentrale Rolle in jeder Untersuchung hierzu, erst recht in einer histo­ rischen Theorie dieser Phänomene, dürften Stabilisierungs- und Legitimations­ bedürfnisse spielen, die mit den inhärenten strukturellen Widersprüchen und der Ungleichmäßigkeit der sozialökonomischen Prozesse kausal und funktionell verknüpft sind. Das trifft sowohl auf die ökonomischen und gesellschaftlichen, als auch auf die politischen und ideologischen Systeme zu. In ihrer dialektischen Verschränkung lassen sich die wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse histo­ risch am ehesten begreifen; ein eindeutiger, durchlaufender Primat einer Sphä­ re bzw. eines Institutionenkomplexes ist dagegen mit rationalen Argumenten schwerlich begründbar. 2. Der Interventionismus, den sowohl der sich in Großunternehmen, Kartel­ len und Verbänden organisierende oligopolistische Kapitalismus als auch der gleichzeitig heranwachsende Interventionsstaat zu praktizieren lernten, ist alles andere als „systemfremd aufgepfropft“ gewesen, wie noch der Neoliberalismus der 1950er Jahre hat glauben machen wollen, sondern er war stets „system­ immanent“, „Inbegriff von Selbstverteidigung; nichts könnte den Begriff von Dialektik schlagender erläutern“31. Sowohl die Lernfähigkeit und die Resi­ stenzkraft dieses Systems als auch indirekt seine Tendenz zum Kollabieren, so­ fern es nur ganz der Fiktion der Marktmechanismen überantwortet wird, sind dadurch bestätigt worden. 3. Da die Traditionen einer bürgerlichen Revolution bzw. einer starken li­ beralen politischen Kultur in Deutschland fehlen, verstärkte der Organisierte Kapitalismus direkt oder indirekt vorgegebene autoritäre Strukturen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Wohl kam es auch durch ihn, wenigstens partiell, zur bewußteren Kontrolle von Wirtschaftsabläufen und Sozialprozessen, aber doch in anderer Gestalt, als sie Marx' Prognose über die wachsende Notwen­ digkeit sozialer Steuerung vorgeschwebt hatte. Dabei ist in Deutschland die Bindung an traditionale Herrschaftsinteressen unübersehbar. Nicht die indu­ strielle Ökonomie als solche setzte allein die gesamtgesellschaftlichen Entwick­ lungsbedingungen, sondern sie mußte sich in einem Institutionengefüge entfal­ ten, das durch politische Kultur, politisches Herrschaftssystem und politische Interessen vor- oder nichtindustrieller Gesellschaftskräfte vorgeformt und mit­ bestimmt wurde. 4. Ähnliches gilt für die Bürokratisierung, die Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat forciert vorantrieben, da sozialökonomische Differen­ zierung, Kontrollabsichten und Vorsorgepläne keine andere Wahl ließen. An­ dererseits war der Einfluß vorindustrieller bürokratischer Traditionen unüber­ sehbar groß, so daß auch hier institutionelle Muster und Hülsen vorhanden wa­ ren, an denen sich Industriebetriebe in einer Art vorzeitiger Bürokratisierung orientierten, ehe es der „Sachzwang“ zunehmender Funktionsteilung gebot. 4 Winkler, Kapitalismus

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5. Unter sozialhistorischen Aspekten reduzierte dieser Strukturwandel seit den 1870er Jahren die Zahl derjenigen, die folgrenreiche Entscheidungen trafen und beeinflußten, vorformulierten oder verhindern konnten. Dieses Schrump­ fen der Machteliten führte dazu, daß die Spitzenpositionen in den Unterneh­ men und Kartellen, in den Interessenverbänden und Bürokratien von einer er­ staunlich kleinen Gruppe besetzt wurden, die — auch gemäß ihrer Herkunft und Ausbildung — im soziopolitischen Milieu des Kaiserreichs ein relativ ho­ mogenes autoritäres ideologisches und politisches Profil gewannen. Wenn es auch noch nicht „Interchangeable Elkes“ wie in den Vereinigten Staaten gab32, die dort seit dem Bürgerkrieg zwischen Ministerien, Anwaltbüros, Betriebslei­ tungen, Militär, Bürokratie und Aufsichtsräten rotierten, so war doch eine starke personelle Verzahnung dieser deutschen Organisationen die Regel. Schon frühzeitig, seit den 1840er Jahren, hatte auch eine Pendlerbewegung zwischen staatlicher Bürokratie und Privatwirtschaft, vor allem sichtbar im Eisenbahn­ bau, eingesetzt; dort, aber auch im Bankwesen, blieb sie bemerkenswert lebhaft, wie z. B. während der „Gründerskandale“ von 1873 zutage trat33. In den Machteliten nahmen Bedeutung und Zahl der formell abhängigen Organisa­ tionsexperten (H. A. Bueck!) gegenüber den formell selbständigen Produk­ tionsmittelbesitzern schnell zu, überhaupt wuchsen in diese Eliten neue Gruppen hinein: das Direktorenpatriziat der leitenden Angestellten, Syndici, Ingenieure, Firmenanwälte usw. Breite Teile des „alten“ Mittelstands gerieten in dieser Zeit unter starken Druck, der sich vor allem in Status- und Einkommensverlusten äußerte. Sein Ideal des selbständigen Kleinunternehmers ließ sich nur in bestimmten Zonen, z. B. des Handwerks und der Agrarwirtschaft, behaupten34, unterlag aber häufig im Konflikt mit den neuen anonymen, bürokratísierten Großorganisa­ tionen. Der Aufstieg des abhängigen „neuen“ Mittelstandes dagegen, gerade auch der von ihm gestellten Industriebürokratien in den neuen strategischen Wachs­ tumsindustrien (Elektrotechnik, Großchemie, Motorenbau) seit den 1890er Jah­ ren, diesen frühen Exponenten des Organisierten Kapitalismus, er ist aufs engste mit der Ausbildung dieser Großunternehmen verknüpft und veränderte in erstaunlich kurzer Zeit die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft mit ebenso schnellen wähl- und sozialpolitischen Folgen. 6. Was die Gesichtspunkte der Ideologie, Sozialpsychologie und Psychoana­ lyse angeht, so sei hier mir knapp angedeutet, daß der Sozialdarwinismus eine der adäquaten Ideologien des frühen Organisierten Kapitalismus darstellte. Er konnte auf die Unternehmer als siegreiche Gruppe der „Fittest“ im Selek­ tionsprozeß bezogen werden, rechtfertigte ihren unaufgeklärten Absolutismus im Betrieb und schroffe Bekämpfung der Sozialpolitik — diese Humanitäts­ duselei mußte gegen eherne Naturgesetze ohnehin machtlos bleiben —, er deute­ te Einkommensgefälle und Vermögensverteilung als deren Ausdruck und legi­ timierte die allgemeine Disparität der Lebenschancen. Da er ideologiekritisch ohnehin nur als Produkt expandierender Industrienationen verstanden werden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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kann35, bewährte sich sein antiegalitärer Sozialaristokratismus, sein antidemo­ kratisches Ungleichheitsdogma, seine Herrenmoral für arrivierte Führungs­ gruppen als massiver ideologischer Stützpfeiler. Die kollektiven Phobien der Zeit — ob Anglo-, Gallo-, Russophobie oder eine vulgarisierte Imperialismusideologie — können gleichfalls ohne den Rück­ griff auf den sozialökonomisch-politischen Strukturwandel nicht verstanden werden, denn er schuf die Voraussetzungen für die schichtenspezifische, bis hin zur Anomie reichende Unsicherheit, die sich in bestimmten Krisenideologien (z. B. dem Antisemitismus) und in kollektiven Erregungszuständen äußerte, die aber auch durch politische Ablenkungsstrategien (z. B. den Sozialimperialis­ mus der wilhelminischen „Weltpolitik“) kompensiert werden sollte. Die Durchsetzung des Organisierten Kapitalismus und Interventionsstaats scheint zudem für die Psychoanalyse die Grundlagen für die moderne Identi­ tätsproblematik geschaffen zu haben. In ihr und in der neueren Narzismus­ theorie schlagen sich Erfahrungen nieder, denen der voll ausgebildete Organi­ sierte Kapitalismus zur Breitenwirkung verholfen hat. Der außengeleitete Lohnabhängige in undurchschaubaren Großbetrieben der Wirtschaft oder Ver­ waltung scheint psychisch unter gesellschaftlichen Strukturen zu leiden, nicht aber primär unter einem individuellen Entwicklungs- oder Anpassungsversa­ gen, das sich in Ich-Labilität und Identitätssuche äußert36. 7. Abschließend wird man festhalten dürfen: Der Begriff des Organisierten Kapitalismus kann im Verein mit dem des modernen Interventionsstaats nicht nur seinen heuristischen Nutzen, sondern auch seinen Wert für eine historische Theorie des industriellen Deutschland erweisen. Wenn auch der ökonomische, soziale und politische Wandel vorrangig betont worden ist, so kann doch die Totalität der Epoche anvisiert werden, da zeitlich abgrenzbare Strukturverän­ derungen und -bedürfnisse erfaßt werden. Wie es unter den historischen Bedingungen der Zeit seit den 1870er Jahren keine wirkliche Alternative zum Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und Interventionsstaats gegeben zu haben scheint, so ist auch meines Erachtens keine theoretische Alternative sichtbar, die ja unter den oben skizzierten Gesichts­ punkten höheren heuristischen und erklärenden Wert besitzen müßte. Ein Bei­ spiel: Der häufig gebrauchte Begriff des „Neomerkantilismus“37 verfehlt durch seine oberflächliche Ähnlichkeit grundlegende Verschiedenheiten von Merkan­ tilismus und Organisiertem Kapitalismus; die wesentlichste Differenz besteht vielleicht darin, daß der Merkantilismus mühsam Wachstum zu induzieren ver­ suchte, während es der Organisierte Kapitalismus mit den ganz andersartigen Problemen eines dem Säkulartrend nach bereits voll inaugurierten ungleichmä­ ßigen industriellen Wachstums zu tun hat. Kritische Perspektiven verbinden sich mit dieser Erörterung insofern, als die naive, reduktionistische Gleichsetzung von ökonomischen Reproduktionsformen und öffentlicher Herrschaft — etwa: Organisierter Kapitalismus führe not­ wendig zum Faschismus — aufgelöst werden kann. Mit derartigen Schemata, die die eingehende Analyse komplexer Zusammenhänge durch denkfaule Kurz-

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formein verdrängen, enthebt man sich nicht nur aller Anstrengung des Gedan­ kens, sondern verstellt sich auch durch falsche Analogien den Blick für eine rea­ listische Analyse zeitgenössischer Politik38. Der Organisierte Kapitalismus war und ist politisch sozusagen polyvalent und verträgt sich, wie der Vergleich zeigt, mit sehr unterschiedlichen politischen Herrschaftsformen und Kulturen. Zu­ gleich steht er aber auch als Abkürzung für eine Fülle von restriktiven Bedin­ gungen, die die Verwirklichung der Gleichheitschancen, die sozialstaatliche Massendemokratie, die gesellschaftliche Bändigung der wirtschaftlichen Dyna­ mik, die Verbesserung der „Lebensqualität“ enorm erschweren. Es kann nur in politischen Konflikten erprobt werden, wie hart oder wie weich die Natur dieser restriktiven Bedingungen ist, wenn sie entschieden angezweifelt wer­ den. Ein dogmatisches Urteil, das sie petrifiziert, führt ebensowenig weiter wie ein überoptimistisches, das sie für beliebig plastisch erklärt. Eine genauere Analyse des Organisierten Kapitalismus und Interventions­ staats enthüllt manche liberale Position als Ideologie im Sinne der Verschleie­ rung von Interesse und Herrschaft. Profit als Risikobelohnung wurde fragwür­ dig, seitdem der Staat Risiken abnahm. Unternehmerautonomie als Voraus­ setzung sog. freier Marktwirtschaft wurde problematisch, seitdem Kartelle und Syndikate, Verbände und Staatsinstanzen diese Autonomie einengten. Wett­ bewerb als Preisregulator wurde weithin illusorisch, seitdem die Oligopole Preise nach ihren Bedürfnissen fixieren konnten. Der selbstgeregelte Markt — wenn es ihn in Deutschland je gab — ist seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert allmählich durch einen vom Interventionsstaat mitregulierten Organisierten Kapitalismus ersetzt worden, der auch statt der liberalen offensichtlich eine andere Politische Ökonomie verlangt. Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat haben ein hohes Maß von Steuerung der Gesellschaft eingeführt, obwohl grundsätzlich die Krisenanfäl­ ligkeit (1929, 1966) geblieben ist. Obwohl der Interventionsstaat mit ungeheu­ rem Aufwand, der der Gesamtgesellschaft aufgebürdet wird, die Stabilitäts­ bedingungen für die Industriewirtschaft zu erhalten bemüht ist, bleiben doch Kernbedingungen eines naturwüchsigen Privatinteresses weiter erhalten: pri­ vate Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, private Gewinnaneignung, pri­ vate Investitionsentscheidung. Noch immer trifft das Schlagwort von der Pri­ vatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der Verluste zu. Was aber außer Wachstumserfolgen an sich mit immer deutlicher erkennbaren sozialen Kosten rechtfertigt im staatlich regulierten Kapitalismus diese private Domäne? Wer gewährleistet, wenn an deren Stelle politisch verantwortliche, gesellschaft­ liche Steuerung in einigen Wirtschaftssektoren institutionalisiert würde, die ef­ fektive Kontrolle dieser Gremien, wer kontrolliert rechtzeitig die Kontrol­ leure? Welche Mischung aus plan- und marktrationalen Elementen ist unter den Kriterien einer nicht nur materiell verstandenen Wohlfahrt der Mehrheit optimal? Welche politischen Institutionen sind diesen Aufgaben gewachsen, ohne daß dabei auf erleichterte Revision von Entscheidungen und demokra­ tische Legitimation verzichtet werden muß? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Anmerkungen 1 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962), Frankfurt 1967; Chicago 19702. Es folgen die nur hier und da überarbeiteten Thesen für den Regens­ burger Historikertag von 1972. Sie lagen — wie andere Thesen der Arbeitsgruppe „Organisierter Kapitalismus“ auch — dem Verband zum vereinbarten Termin vor, wurden aber dennoch nicht zur besseren Vorbereitung der Diskussion vervielfältigt. Wäre das auch passiert, wenn das Thema gelautet hätte: „Bismarcks Vertragssystem als Organisation des Friedens“ oder „Brünings Erfolge im Kampf mit der Krise“? Danken möchte ich all denen, die in den Diskussionen Einwände vorgetragen haben, vor allem Gerd Höhler. 2 Vgl. J . Kocka, K. Marx u. M. Weber im Vergleich, in: Geschichte u. Ökonomie, Hg. H.-U. Wehler, Köln 1973, 54—84. Dagegen zeigt sich bei A. Hillgruber (Gedan­ ken über eine politische Geschichte moderner Prägung, Freiburger Universitätsblätter 9. 1970, 32—43) u. a. noch ein unklarer und einseitiger Macht- und Politikbeeriff. 3 Immer noch eine anregende Interpretation: K. Polanyi, The Great Transformation (1944), Boston 19689, 3, 57, 139, 84, vgl. 29, 40 f., 43, 54 f., 68—73, 111, 125, 250. Vgl. S. Landshut, Kritik der Soziologie (1929), Neuwied 1969, 131—75, z.T. in: Ge­ schichte u. Ökonomie, 40—53. Bei J . Robinson (Die Gesellschaft als Wirtschaftsgesell­ schaft, München 1972) ist nur der ganz falsche deutsche Titel irreführend, während bei E. Mandel (Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt 1968), wo der universelle Geltungsanspruch Marxscher Kategorien vertreten wird, ein auffallendes Mißverständ­ nis der Marxschen Theorie vorliegt; s. dazu M. Friedrich, Renaissance der Politischen Ökonomie, Neue Politische Literatur 16. 1971, 367—69. 4 Vgl. Marx-Engels-Werke (= MEW) 13, 476 (Engels 1859), 631 (Marx 1859). 5 Denn diese Entwicklung soll selbstverständlich nicht ausschließlich als Produkt intentionalen Handelns hingestellt, sondern muß gleichzeitig in ihrer blinden, bewußt­ losen Naturwüchsigkeit gesehen werden. Vgl. z. B. MEW 25, 267; 39, 428. 6 MEW 20, 140 (Anti-Dühring). Vgl. allg. zur ungleichen Entwicklung: MEW 3, 61, 73; 22, 439; 23, 12—15; 27, 455; 34, 374; spez. 4, 97, 468; 6, 405; 8, 371; 23, 28, 40; 25, 506, 267; 34, 372; 36, 386, 433. Auch eine neue Spielart der politischen Öko­ nomie geht ganz von einem verselbständigten industriekapitalistischen System aus. Vgl. B. S. Frey (Die ökonomische Theorie der Politik oder die neue politische Ökonomie, Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 126. 1970, 1—23) als Literaturüberblick. 7 MEW 31, 466 (Engels an F. A. Lange, 29. 3. 1865). Vgl. aber hierzu H. Medick, Naturzustand u. Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bür­ gerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie u. Sozialwissenschaft bei S. Pufendorf, J . Locke u. A. Smith, Göttingen 1973. Auch Marx abstrahiert oft vom Staat als rela­ tiv selbständigem Institutionengefüge und spricht ausschließlich von „der“ Gesellschaft. Seine Beurteilung des Verhältnisses beider zueinander ist häufig ganz ambivalent. 8 MEW 6, 405 (1849). 9 Außer Betracht bleiben hier Entwicklungen, wie die in Italien, wo der Staat in einem industriellen Nachfolgeland von Anfang an und ständig Unternehmer spielte oder massiv intervenierte, sich jedenfalls kein konkurrenzkapitalistisches System engli­ schen Stils durchsetzte. 10 J . A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1911), Berlin 19646, 102. Vgl. dazu ausführlicher: H.-U. Wehler, Theorieprobleme der modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte 1800—1945, in: Festschrift (= Fs.) für H. Rosenberg, Berlin 1970, 66—107; z.T. in: ders., Krisenherde des Kaiserreichs, 1871 —1918, Göttingen 1970, 291—312, 408—30; ders., Das Deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918, Göttin­ gen 1973, Kap. II; ders., Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723, 39—111; allg. ders. Hg., Geschichte u. Ökonomie, 11—35. Falsch definiert R. Dahrendorf, Gesell­ schaft u. Demokratie in Deutschland, München 1965, 53 f.

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Nach A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, C am­ bridge/Mass. 1962, 5—30; dt. Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspek­ tive, in: R. Braun u.a. Hg., Industrielle Revolution, Köln 1972, 59—78, u. in: Ge­ schichte u. Ökonomie, 121—39; ders., C ontinuity in History, C ambridge/Mass. 1968, 11—97; ders., Die Vorbedingungen der europäischen Industrialisierungen im 19. Jh., in: W. Fischer Hg., Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Indu­ strialisierung, Berlin 1968, 21—28; ders., Europe in the Russian Mirror, C ambridge 1970, 98 f. S. dazu S. L. Barsby, Economic Backwardness and the C haracteristics of Development, Journal of Economic History 29. 1969, 449—64. 12 Die beiden theoretischen Positionen, von denen aus man an diese Fragen heran­ gehen kann, werden m. E. durch eine dialektische Geschichtsinterpretation oder die Systemtheorie abgesteckt. Die Kategorien der dialektischen Verschränkung bzw. Wech­ selwirkung, um nur ein Beispiel zu nennen, scheinen aber angemessener zu sein als der etwas mechanistische Interdependenzbegriff der Systemtheorien, von deren anderen Nachteilen für den Historiker ganz abgesehen. Freilich kann es auch hier zur Revision des Urteils kommen aufgrund überzeugenderer Beispiele systemtheoretisch orientierter Geschichtswissenschaft (vgl. z. B. N. J . Smelser, Social C hange in the Industrial Re­ volution, C hicago 19693) — wenn diese Nachteile das nicht verhindern. Vgl. dazu H.-U. Wehler, Geschichte u. Soziologie-Möglichkeiten einer Konvergenz?, in: Fs. für R. König, Köln 1973; ders., Soziologie u. Geschichte aus der Sicht des Sozialhistorikers, in: Soziologie u. Sozialgeschichte, Hg. P.-C . Ludz, Köln 1973; ders. Hg., Geschichte u. Soziologie, Köln 1972, 11—31; ders. u. N. Elias Hg., History and Sociology, London 1974. 13 Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, 96 f. Vgl. W. Fischer, Herz des Reviers, Essen 1965, 25—296; P. H. Mertes, Das Werden der Dortmunder Wirtschaft, 1863 bis 1914, Dortmund 19422; auch H. Böhme (Deutschlands Weg zur Großmacht, 1848—81, Köln 19722) über die Banken in den 1860/70er Jahren. 14 Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, 97—99. 15 In den USA verlief dieser Konzentrationsprozeß damals in anderen Rechtsfor­ men: Pool und Trust entsprachen hier oft funktionell den deutschen Kartellen. 16 Vgl. H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus, Köln 1972, 44—49. 17 Vgl. z.B. die Diskussion in: H. J . Puhle, Parlament, Parteien u. Interessenver­ bände, 1890—1914, in: Das Kaiserliche Deutschland, Hg. M. Stürmer, Düsseldorf 1970, 340—11 \ ders., Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich, 1893—1914, Hannover 1966; ders., Der Bund der Landwirte im wilhelminischen Reich, in: W. Rüegg u. O. Neuloh Hg., Zur soziologischen Theorie u. Analyse des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971, 145—62; ders., Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, Wiesbaden 1972; H. Kaelble, Industrielle Interessenverbände vor 1914, in: Rüegg/Neuloh, 180—92; ders., Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelmini­ schen Gesellschaft. C entralverband deutscher Industrieller 1895—1914, Berlin 1967; Winkler, Anm. 16; ders., Pluralismus oder Protektionismus? Verfassungspolitische Pro­ bleme des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich, Wiesbaden 1972; ders., Der rück­ versicherte Mittelstand, in: Rüegg/Neuloh, 163—79; D. Stegmann, Die Erben Bis­ marcks. Parteien u. Verbände in der Spätphase des wilhelminischen Deutschlands, Köln 1970; H. Hörn, Der Kampf um den Bau des Mittellandkanals, Köln 1964; S. Mielke, Der Hansa-Bund 1912—14, Diss. FU Berlin 1972, MS; D. Warren, The Red Kingdom of Saxony, 1901—09, Den Haag 1964. 18 Etwa in den neuen Untersuchungen über Verbände des „Vereins für Sozialpoli­ tik“. Vgl. G. Schmölders Hg., Das Selbstbild der Verbände, Berlin 1965; die Bände von Weippert, Esenwein-Rothe, C hesi u. a. 19 MEW 24, 161, 185, 462 u. passim als Beispiele aus dem „Kapital“, II. Vgl. dazu K. Kühne, Marx u. die moderne Nationalökonomie, in: Geschichte u. Ökonomie, 304 11

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bis 374; ders., Marx im Lichte der modernen Wirtschaftswissenschaft, in: ders. Hg., K. Marx ökonomische Schriften, Stuttgart 1970, XVIII—LXXXVII; ders., Ökono­ mie u. Marxismus, 2 Bde, Neuwied 1972/73. — J . St. Mill, Principles of Political Economy, London 1848, dt. Grundsätze der politischen Ökonomie, 2 Bde, Jena 1913/ 21. Vgl. dazu A. Löwe, Politische Ökonomik, Frankfurt 1968. Hier liegt ein „Sach­ zwang“, der stärker ist als die Galbraithsche „Technostruktur“ (Die moderne Indu­ striegesellschaft, Frankfurt 1969). 20 Vgl. D. S. Landes, The Unbound Prometheus, C ambridge 1969, 231—37; dt. Der entfesselte Prometheus, Köln 1973; M. Dobb, Entwicklung des Kapitalismus, Köln 1970,298—317. 21 K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953, 592; MEW 23, 392 f. Vgl. R. Richta Hg., Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts, Frank­ furt 1971. 22 Vgl. J . Kocka, Industrielles Management: Konzeptionen u. Modelle in Deutsch­ land vor 1914, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56. 1969, 332—72. 23 Vgl. dazu J . Kocka, Klassengesellschaft u. Erster Weltkrieg, Deutsche Sozial­ geschichte 1914—1918, Göttingen 1973. Ed. Bernstein z.B. glaubte fast zwei Jahr­ zehnte durchaus an die Selbstrcgulierungskräfte des kapitalistischen Systems. 24 MEW 1, 390. 25 MEW 39, 428, Engels an W. Sombart, 11. 3. 1895: „Die ganze Auffassungsweise von Marx ist nicht eine Doktrin, sondern eine Methode. Sie gibt keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zu weiterer Untersuchung und die Methode für diese Unter­ suchung.“ Vgl. R. L. Meek, Economics and Ideology, London 1967, 112. — Im 3. Band des „Kapitals“ (MEW 25, 454) findet sich übrigens eine der wenigen Stellen, soweit ich zu sehen vermag, wo Marx im Zusammenhang einer Diskussion über die Aktiengesell­ schaften als „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitali­ stischen Produktionsweise selbst“ eine neue monopolistische Wirtschaftsordnung her­ aufziehen sieht, diese „fordert daher die Staatseinmischung heraus“. Das klingt aber ganz nach einer liberalen Einstellung, wonach der Staat zur Erhaltung des Wettbewerbs gegen Monopole vorzugehen habe. 26 J . A. Schumpeter, Die Krise des Steuerstaats (1918), in: ders., Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, 68. Vgl. MEW 21, 165; B. Supple, The State and the In­ dustrial Revolution, 1700—1914, London 1971. 27 MEW 31, 208 (Engels an Marx, 13. 4. 1866). Engels hielt das 20 Jahre später (MEW 21, 167, Ursprung der Familie) für das Ergebnis eines relativen „Gleichgewichts“ zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft zugunsten der Junker und einer „gewissen Selbständigkeit der Staatsgewalt“. Vgl. dazu Wehler, Kaiserreich, I u. III. 1. Auf dem heuristisch-theoretischen Nutzen der Bonapartismus-Konzeption, gerade auch für kom­ parative Studien, möchte ich weiter beharren. 28 Vgl. J . Kocka, Vorindustrielle Faktoren in der deutschen Industrialisierung, in: Das Kaiserliche Deutschland, 265—86; eingehender in ders., Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens, 1847—1914, Stuttgart 1969; ders., Indu­ strielle Angestelltenschaft in frühindustrieller Zeit 1847—67, in: O. Büsch Hg., Un­ tersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung, Berlin 1971, 315—67; ders., Angestellter, in: O. Brunner u. a. Hg., Geschichtliche Grundbegriffe, I, Stuttgart 1972, 110—28; enttäuschend: F. v. d. Ven, Sozialgeschichtc der Arbeit, III: 19. u. 20. Jh., München 1972. Vgl. aber W. Schluchter, Aspekte bürokratischer Herrschaft, München 1972, ein vorzügliches Buch. 29 Vgl. Schumpeter, Steuerstaat; H. Timm, Das Gesetz der wachsenden Staatsaus­ gaben, Finanzarchiv 21. 1961, 201—47; S. Andic u. J . Veverka, The Growth of Gov­ ernment Expenditure in Germany Since the Unifkation, ebd., 23. 1964, 169—278; W. Gerloff, Der Staatshaushalt u. das Finanzsystem Deutschlands 1820—1927, in: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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ders. Hg., Handbuch der Finanzwissenschaft, III, Tübingen 1929, 1—69; F. Terhalle, Geschichte der deutschen öffentlichen Finanzwirtschaft vom Beginn des 19. Jhs. bis zum Schlüsse des Zweiten Weltkriegs, ebd., I, 19522, 274—326; C . Bellstedt, Die Steuer als Instrument der Politik in den USA u. Deutschland, Berlin 1966; Wehler, Kaiser­ reich, III. 4., mit Zahlen. Allg. W.-D. Narr, Notizen zur Frage der Autonomie des politischen Systems, österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1. 1972, 5—21, auch die neue Zeitschrift „Leviathan“, 1. 1972. 30 J . Habermas, Technik u. Wissenschaft als »Ideologie', Frankfurt 1968, 76 f., 84, 92; ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973; vgl. ebenso C. Offe, Politische Herrschaft u. Klassenstrukturen, in: G. Kress u. D. Senghaas Hg., Politikwissenschaft, Frankfurt 1969, 155—89; ders. u. a., Herrschaft, Klassenverhält­ nis u. Schichtung, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, Hg. T. W. Adorno, Stuttgart 1969, 67—87; ders., Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frank­ furt 1972; R. Miliband, Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft, Frankfurt 1972; N. Birnbaum, Die Krise der Industriegesellschaft, Frankfurt 1972, 79—93; H. Lefebvre, Soziologie nach Marx, Frankfurt 1972, 103—53. 31 Adorno, Einleitung, in: ders. Hg., Spätkapitalismus, 23 f. Vgl. Löwe, 98—113; W. Sombarts (Der moderne Kapitalismus, III/l u. 2, Berlin 1955) Schlußphase des Hochkapitalismus und sein Spätkapitalismus decken sich weithin (s. auch J . A. Schum­ peter, Kapitalismus, Sozialismus u. Demokratie, Bern 19723) mit dem Organisierten Kapitalismus. Vgl. noch H. Staudinger, Die Änderungen in der Führerstellung u. der Struktur des Organisierten Kapitalismus, in: Fs. für G. v. Eynern, Berlin 1967, 341 bis 373; A. Shonfield, Geplanter Kapitalismus, Köln 1968; M. Dobb, Organisierter Kapitalismus, Frankfurt 1966; F. Neumark, Wirtschafts- u. Finanzprobleme des In­ terventionsstaats, Tübingen 1961; E. Küng, Interventionismus, Handwörterbuch der Sozialwissenschaften 5. 1956, 321—29, mit Lit.; ders., Der Interventionismus, Berlin 1941; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, IV, Stuttgart 1969, 973 bis 1123; auch F. Facius, Wirtschaft u. Staat. Die Entwicklung der staatlichen Wirt­ schaftsverwaltung in Deutschland bis 1945, Boppard 1959. 32 Nach meinem Eindruck, denn eine empirische Überprüfung steht noch aus. W. Zapf (Wandlungen der deutschen Elite, 1919—1961, München 1965; ders. Hg., Bei­ träge zur Analyse der deutschen Oberschicht, München 19652) setzt später ein; H. Jae­ ger (Unternehmer in der deutschen Politik, 1890—1918, Bonn 1967) ist nicht sehr auf­ schlußreich. Anregend sind: C . W. Mills, Power, Politics, and People, Hg. I. L. Horo­ witz, N. Y. 1963, 77—139, 196—207; W. Miller Hg., Men in Business, N. Y. 1962, 193—211, 286—305, 329—37. 33 Vgl. z.B. D. Eichholtz, Junker u. Bourgeoisie vor 1848 in der preußischen Eisen­ bahngeschichte, Berlin 1962; G. R. Mork, The Prussian Railway Scandal of 1873, European Studies Review 1. 1971, 35—48, sowie die Lit. in Wehler, Theorieprobleme. 34 Vgl. dazu W. Fischers (Wirtschaft u. Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisie­ rung, Göttingen 1972; ders. u. P. C zada, Wandlungen in der deutschen Industriestruk­ tur im 20. Jh., in: Fs. Rosenberg, 116—65) und A. Nolls (Sozio-ökonomischer Struk­ turwandel des Handwerks in der zweiten Phase der Industrialisierung, Göttingen 1973) Korrekturen an der Auffassung vom Niedergang des Handwerks. Vgl. hier auch R. T. Averitts Diskussion (The Dual Economy, N. Y. 1968) der „zentralen“ Wirt­ schaft der Großunternehmen und der „peripheren“ der kleinen Firmen. 35 Vgl. H.-U. Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: Fs. für F. Fischer, Düsseldorf 1973, 133—42. Vgl. zur gegenwärtigen Situation: U. Schumm­ Garling, Herrschaft in der industriellen Arbeiterorganisation, Frankfurt 1972; M. Baethge, Ausbildung u. Herrschaft, Frankfurt o. J . 36 Vgl. Soziologie u. Psychoanalyse, Hg. H.-U. Wehler, Stuttgart 1972, 7—10, und H. Kilian, Zur Problemstellung einer kritischen Theorie der Psychoanalyse, ebd., 117—23. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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37 Vgl. etwa W. Treue, Wirtschafts- u. Sozialgeschichte Deutschlands im 19. Jh., in: B. Gebhardt u. a. Hg., Handbuch der Deutschen Geschichte, III, Stuttgart 19709, 523—35 — ein Beitrag, der der theoretischen Konzeption nach ohnehin vor 1914 ge­ schrieben worden sein könnte. Zur rivalisierenden Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap) vgl. J . Kockas Beitrag in diesem Band. Ein entscheidender Nachteil dieser Theorie besteht darin, daß sie keine überzeugenden Kriterien für eine differenzierte Erklärung qualitativ unterschiedlicher öffentlicher Herrschaftsformen (liberale Demokratie—Faschismus) bereitzustellen vermag. Zu unkritisch ist M. Wirth, Kapitalismustheorie in der DDR, Frankfurt 1972. Unergiebig: P. van Spall, Zur Sozialstruktur des organisierten Hochkapitalismus, Frankfurt 1971. Neuerdings erör­ tert auch E. Mandel aufs neue (Der Spätkapitalismus, Frankfurt 1972) einige der hier interessierenden Fragen. 38 Vgl. dazu etwa R. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Liberalismus—Faschis­ mus, Reinbek 1971; ders., Deutschland zwischen Demokratie u. Faschismus, München 19713; A. Schuon-Wiehl, Faschismus u. Gesellschaftsstruktur, Frankfurt 1971; gegen den eigenen Argumentationsgang auch M. C lemenz, Gesellschaftliche Ursprünge des Faschismus, Frankfurt 1972; gelegentlich auch bei H. C . F. Mansilla, Faschismus u. eindimensionale Gesellschaft, Neuwied 1971, und in sich mehrenden Beiträgen im „Ar­ gument“.

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Anfänge und Voraussetzungen des Organisierten Kapitalismus in Großbritannien 1873-1914 Von HANS MEDIC K

Die von Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler eingeführten Indikatoren und Variablen, die beide Autoren unter dem Begriff des „Organisierten Kapi­ talismus“ zusammenfassen und die sie als ein „idealtypisches Konzept“ (Kocka) zur vergleichenden Analyse fortgeschrittener, kapitalistisch strukturierter Indu­ strialisierungsprozesse verwenden wollen, scheinen der englischen Entwicklung zwischen 1873 und 1914 — dies wird im folgenden zu zeigen sein1 — auf den ersten Blick wenig angemessen. Dennoch erweist sich das Konzept des Organisierten Kapitalismus auch am englischen Fall als ein brauchbares Instrument historischer Analyse, weil es er­ laubt, Trends des sozio-ökonomischen Prozesses und des Verhältnisses von Ökonomie und Politik trennschärfer und umfassender zu beschreiben, als dies von den Ansätzen der bisherigen angelsächsischen Forschung her möglich war. Diese hat aufgrund ihrer arbeitsteiligen Organisation, für welche die Tren­ nung von „Economic History“ und politischer Geschichtsschreibung nach wie vor charakteristisch ist2, bisher kaum eine Problembehandlung zugelassen, die hier im Rahmen der von Kocka und Wehler vorgegebenen Variablen zwar an­ gestrebt wird, die jedoch gleichzeitig dazu dienen soll, die Angemessenheit des Idealtyps Organisierter Kapitalismus kritisch zu überprüfen. Besonders die einstweilen defizitäre Erforschung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik stellt sich für eine solche Absicht als erhebliches Handicap dar. Ohne daß mit dem Folgenden der Anspruch erhoben würde, dieses Defizit zu überwinden, erklärt sich so doch die relative Ausführlichkeit, mit der auf die Problematik des Verhältnisses von Ökonomie und Politik eingegangen wird. Zunächst bleibt allerdings vom Methodischen her zu bedenken, ob das aus der bloßen Reihung von Variablen sich ergebende „idealtypische Konzept“ zur Erklärung der tatsächlichen Vorgänge dienen kann; auch wäre zu fragen, ob sich aus der summierenden Überprüfung dieser Variablen an einem Einzelfall schon Rückschlüsse auf die generelle heuristische Fruchtbarkeit dieses Konzepts ziehen lassen; ferner bleibt zweifelhaft, ob sich auf diesem Wege eine histo­ rìsch-systematische Theorie gewinnen läßt, die imstande wäre, einerseits die unterschiedlichen politisch-historischen Gestalten fortgeschrittener, kapitalistisch strukturierter Industrialisierungsprozesse abzudecken und zu erklären und an­ dererseits auch als Erfahrung zu verarbeiten, im Sinne jener Erkenntnisabsicht,

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die „mit dem Interesse an einer vernünftig organisierten zukünftigen Gesell­ schaft“ die vergangene und gegenwärtige „kritisch durchleuchtet“ (M. Hork­ heimer). Darüber hinaus wäre die Frage zu stellen, ob die im Begriff des Organi­ sierten Kapitalismus auch nach seiner Reinigung von Hilferdingschen politischen Optimismen noch versteckten oder auch explizit geäußerten Wertungen nicht eine erkenntnisverzerrende Funktion dadurch ausüben, daß in ihnen vorweg­ genommen erscheint, was es doch erst kritisch zu überprüfen gilt. Es ließe sich jedenfalls gegen die These von der „politischen Polyvalenz“ des Organisierten Kapitalismus einwenden, dieser liege die Vermutung zugrunde, er könne auf einer reformistischen Basis stabilisiert werden. Somit würde ein Modell ohne krisentheoretischen Ansatz angeboten, obwohl Kocka und Wehler den Orga­ nisierten Kapitalismus doch als Krisenphänomen fassen wollen. Solche Erwä­ gungen sind nicht unerheblich, da es sich gerade in diesem Zusammenhang fragt, ob die in Wehlers Diktum von der „politischen Polyvalenz“ angesprochenen konkreten Alternativen (Faschismus und „massendemokratischer Sozialstaat“ als mögliche politische Varianten des Organisierten Kapitalismus) der empirischen Analyse anhand des englischen Beispiels standhalten. Was die Vereinbarkeit der Durchsetzung eines effektiven Sozialstaats, auf dem Weg über eine liberal-parla­ mentarische Massendemokratie, mit der gleichzeitigen Durchsetzung des Organi­ sierten Kapitalismus betrifft, so stimmt die Untersuchung des englischen Falls vor 1914 skeptisch. Doch stellen sich systematischen Verallgemeinerungen im Aus­ gang vom englischen Modell, der paradigmatischen Herausstellung einer eng­ lischen Alternative etwa zum Faschismus, vor allem auch deshalb Hindernisse entgegen, weil England als Ursprungsland der industriellen Revolution und „klassische Stätte“ (Marx) 3 des liberalen Wettbewerbskapitalismus den Über­ gang zum Organisierten Kapitalismus weder antizipiert, noch auch gleichzeitig mit den anderen Industriegesellschaften in exemplarischer Form vollzogen hat. Das Verhältnis der fortgeschritteneren zur zurückgebliebenen Wirtschaftsord­ nung kehrte sich bei diesem Übergang vielmehr tendenziell um. Der Modellfall England wird zum Sonderfall: Im verlangsamten, ungleichgewichtigen Wachs­ tumsprozeß der englischen Wirtschaft von 1873—19144 zeichnen sich zwar „Anfänge“ eines Organisierten Kapitalismus durchaus ab, doch in einer gegen­ über Deutschland und den USA verschiedenen, nur wenig entwickelten, gleich­ sam rückständigen Form5. Hilferding spricht in Erkenntnis dieses Sachverhalts deshalb 1909 vom „nicht wirksam genug organisierten englischen Kapitalis­ mus“*1. Paradoxerweise scheint die „fortschrittliche“ Entwicklung, die das poli­ tische System Englands vor 1914 in Richtung auf eine liberale, sozialstaatliche Massendemokratie nimmt6, nicht zuletzt in dieser relativen Rückständigkeit bei der Herausbildung eines Organisierten Kapitalismus begründet zu sein. Hieraus ergibt sich folgende These: Der Sozialstaat entsteht vor 1914 in England nicht auf der Basis eines entwickelten Organisierten Kapitalismus, sondern gerade weil diese Basis weitgehend fehlt. Dort, wo der Organisierte Kapitalismus sich in Ansätzen innerhalb der englischen Gesellschaft entwickelt, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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wird auch eine tendenzielle Gefährdung des Übergangs zum Sozialstaat sicht­ bar, zumindest insofern, als dieser als ein auf demokratischem Wahlrecht basie­ rendes liberal-parlamentarisches Verfassungssystem verstanden wird, das zu­ gleich eine maßgebliche Umverteilung von Vermögen garantiert. Die relative Rückständigkeit oder Unterentwicklung des Organisierten Kapi­ talismus zeigt sich in folgenden strukturellen Merkmalen: Konzentrations- und Zentralisationstendenzen in Form von Trusts, Kartellen, Syndikaten und einer verbandsmäßigen Organisation von Unternehmerinteressen sind vor 1914 zwar vorhanden7, doch gesamtwirtschaftlich schwach entwickelt, dies besonders auch im Vergleich zu Deutschland und den USA8. Sie setzen sich erst in einer inten­ siveren Konzentrationsphase zwischen 1897 und 1900, dem „Joint stock and combination boom of the late nineties“ (C lapham), verstärkt durch9. Doch bleibt auch diese „Gründerära“10, die mit allen Merkmalen einer spekulativen „Gründungsmanie“11 ablief, ohne tiefgreifende Auswirkungen auf die Unter­ nehmensgröße wie Unternehmensform des durchschnittlichen Industriebetriebs. Ein entscheidendes C harakteristikum der industriewirtschaftlichen Seite des englischen Kapitalismus vor 1914, das bei einer ausschließlichen Orientierung des Forschungsinteresses auf die tatsächlich ablaufenden Konzentrations- und 2entralisationsprozesse leicht in die Gefahr gerät übersehen zu werden, ist viel­ mehr darin zu erblicken, daß die Vorherrschaft des Klein- und Mittelbetriebs, der bis zu 50 Arbeitern beschäftigt, erhalten bleibt12. Die Auswertung der amtlichen Statistiken der Fabrikinspektoren zwischen 1896 und 1901/04 ergibt nach dem Urteil eines der kompetentesten Beobachter der englischen Szene vor 1914 eher eine Abnahme als eine Zunahme der durch­ schnittlichen Betriebsgrößen13. Unter Berücksichtigung möglicher Fehlerquellen ließe sich dieses Ergebnis jedenfalls dahingehend interpretieren, daß gesamt­ wirtschaftlich gesehen „keine Zunahme der Konzentration“14 in nennenswertem Umfang erfolgte. Diese Konstanz der Betriebsgrößen trotz des „Joint stock and combination boom“ sollte jedoch nicht mit dem Beharrungsvermögen tra­ ditioneller Produktionsstrukturen gleichgesetzt werden, etwa solchen, die auf dem traditionellen kleinen Handwerksbetrieb basieren15. Zwar ist in den Be­ triebsformen der „tenement factory“16 und der Hausindustrie17 ein solches Überdauern handwerklicher Produktionstechniken, unter Anpassung an die Ge­ gebenheiten technischen Fortschritts, in bedeutendem Umfang festzustellen, doch ist das Paradoxon der englischen Entwicklung vor 1914 nicht vorkapitalisti­ scher, sondern kapitalistischer Natur. Es ließe sich im Hinblick auf den hier untersuchten Aspekt dahingehend charakterisieren, daß dasjenige Land, das bei der Einführung des modernen Industriebetriebs die Pionierrolle spielte, auf der Stufe des Klein- und Mittelbetriebs stehenblieb18. Gerade die Vorteile des „early Start“ verwandelten sich für England beim Übergang zum Organisier­ ten Kapitalismus in die Nachteile einer „late arrival“. Die Ergebnisse der Statistik der Betriebsgrößen finden ihre Bestätigung in einem Überblick über die vorherrschenden Organisationstypen der englischen Industriebetriebe: die dominante Unternehmensform stellt auch nach 1873 noch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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das Familienunternehmen der ersten Phase der industriellen Revolution, und nicht etwa die Aktiengesellschaft dar19. Obwohl die Aktiengesellschaft bereits seit der Parlamentsgesetzgebung der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Rechts­ basis erhalten hatte20 und damit „big business possible“21 geworden war, wurde nur in beschränktem Ausmaß von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht22. Statt dessen setzte sich, quasi inoffiziell, die bis 1907 rechtlich nicht anerkannte Unternehmensform der „private C ompany“ durch. Sie vereinigte bestimmte Vorteile der Aktiengesellschaft (beschränkte Haftung, begrenzte Möglichkeit der Aufnahme von Kapital) mit dem unternehmerischen Konservativismus des Familienbetriebs (keine Publikationspflicht, Beibehaltung des traditionellen Fa­ milienmanagements, mit der Folge einer ungenügenden Trennung von Kapital­ besitz und Managementfunktionen)23. Eine Ossifizierung der Unternehmensstrukturen der 1. Phase der industriellen Revolution zeigte sich schließlich auch im vorherrschenden Typ der Konzentra­ tionsbewegung selbst: Die Konzentrationstendenzen vor dem 1. Weltkrieg gin­ gen weniger auf die Herausbildung von Kartellen und Syndikaten, sondern auf den aus Familienbetrieben fusionierten „dezentralisierten Trust“ (H. Levy)24. Daneben existierte durchaus der straff durchorganisierte „zentralisierte Trust“, der sich meist durch Expansion oder Zukauf um den Kern eines großen Unter­ nehmens bildete, doch ist seine gesamtwirtschaftliche Bedeutung wesentlich ge­ ringer anzusetzen, obwohl er es in Einzelfällen zu marktbeherrschender Stel­ lung brachte (Nähfadentrust der Gebrüder J . u. P. C oats)25. Die typische Kon­ zentrationsform der englischen Industrie vor 1914, die des „dezentralisierten Trust“, zeichnete sich dadurch aus, daß in ihr die Konzentration der Einzel­ kapitale mit einer nur ungenügenden Zentralisierung der Unternehmerfunktio­ nen einherging. Dies ist vor allem der starken Stellung zuzuschreiben, welche die Vorbesitzer der Einzelunternehmen auch nach erfolgter Fusion innerhalb des neuen Trusts einnahmen und vor allem im Interesse ihrer Einzelfirmen aus­ nutzten26. Ineffizientes Management und eine ungenügende Ausbildung forma­ lisierter, spezialisierter und bürokratisierter Entscheidungsinstanzen waren ebenso die Folge, wie aufgeblähte Direktorien mit funktionslosen „guinea pigs“ oder „ornamental directors“. Die bei der Trustgründung erhofften schnellen Monopolisierungs-, Rationalisierungs- und Effektivitätsgewinne blieben aus, mit dem Resultat, daß die in Erwartung schneller Gewinne durchweg spekula­ tiv überkapitalisierten Unternehmungen häufig schon nach kurzer Zeit in finan­ zielle Schwierigkeiten gerieten, die eine durchgreifende Sanierung notwendig machten27. Langfristig war diese zumeist erfolgreich, doch den unmittelbaren Zeitgenossen mußte das Studium der „dezentralisierten Trusts“ als „a study of disorganisation“28 erscheinen, einer „disorganisation“, von der man annahm, daß ihr nur der „advent of some Napoleon in Organisation“29 abhelfen könne. Neben den speziellen Organisationsformen des Trusts ist eine weitere Beson­ derheit des Konzentrationsprozesses in der englischen Wirtschaft vor 1914 darin zu erblicken, daß er normalerweise die Scheidung zwischen den bestehenden Branchen nicht überschritt: Eine marktbeherrschende Stellung erreichten Unter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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nehmen in einzelnen Branchen durch Horizontalkombination, kaum jedoch durch jene Form der Vertikalkombination, wie sie in Deutschland und den USA üblich war. Diese hätte monopolisierbare Rohstoffquellen und die Auf­ hebung des Freihandels vorausgesetzt, was unter den gegebenen Bedingungen Englands vor 1914 nicht möglich war30. Ein weiterer Unterschied zu Deutsch­ land und den USA ergibt sich auch aus der besonderen Gewichtung des Kon­ zentrationsprozesses in den einzelnen Branchen, ist es doch gerade nicht die Grundstoff- und Schwerindustrie, die von dieser Tendenz ergriffen wurde, son­ dern in erster Linie die Konsumgüter- und Textilindustrie. Unter den 50 größ­ ten Firmen Englands gehörten 1905 18 der Brau- und Alkoholindustrie, 10 der Textilindustrie und nur 9 der Schwer- und Grundstoffindustrie an. Insgesamt gesehen ergibt sich ein Verhältnis von 23 Firmen der Investitionsgüter-, Schwer­ und Grundstoffindustrie zu 27 Firmen der Konsumgüterindustrie. Für die USA lautet die Vergleichsziffer für das Jahr 1909 37 zu 1331. Eine in mehrfacher Hinsicht wichtige Ausnahme innerhalb dieses Grund­ musters bildeten die Rüstungsindustrie und der eng mit ihr verbundene Schiffbau. Hier kommt es schon vor 1914 zu starker vertikaler Vertrustung32. Diese er­ klärt sich primär als Folge des „System of administrative protection“ (G. R. Carter)33, d. h. aus den Quasi-Schutzzollbedingungen, unter denen die Rü­ stungsindustrie aufgrund der ausschlaggebenden Position des Staates als Kun­ den stand. Der „monopolistische Grundzug der Rüstungsindustrie“34 zeigt sich auch in England vor 1914 in der Herausbildung zweier Gruppierungen, unter denen die Zaharoff-Gruppe (Vickers, Armstrong, Whitworth, Beardmore) do­ miniert. Erscheint ihre Kapitalausstattung im Vergleich zu den größten ameri­ kanischen Konzernen auch als verhältnismäßig gering35, so gilt für den Ver­ gleich mit den entsprechenden deutschen Verhältnissen doch das treffende Urteil E. Kehrs: „Verglichen mit der ungeheuren Konzentration der englischen Rü­ stungsindustrie unter Zaharoff, nimmt sich der Einfluß des Krupp-Konzerns sowohl nach Größe wie Kapazität zweitrangig aus.“36 Auch in der Entwicklung der einzelnen Zweige der englischen Wirtschaft zwischen 1873 und 1914 zeigt sich ein typisches Muster, das zwar nicht durch­ gängig als rückständig qualifiziert werden kann, sich jedoch erheblich von den gleichzeitigen Veränderungen in Deutschland und den USA unterscheidet37: die typischen Leitsektoren der zweiten Phase der Industriellen Revolution: C hemie und elektrotechnische Industrie38, aber auch Motoren- und Automobilindu­ strie39 sind relativ schwach entwickelt, ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung bleibt gering. Großbritannien hatte zwar eine Pionierrolle bei den großen Ent­ deckungen der C hemie und Elektrotechnik im Verlaufe des 19. Jahrhunderts gespielt. Die kommerzielle Anwendung und Ausbeutung dieser Entdeckungen in den modernen wissenschaftlich-technologischen Wachstumsindustrien jedoch war weitgehend Sache des Auslands, mit der eigentümlichen Konsequenz, daß das, was an chemischer und elektrotechnischer Industrie vor 1914 vorhanden war, weitgehend auf den Unternehmungen eingewanderter Ausländer (C hemiekon­ zern Brunner-Mond, später IC I) oder doch auf ausländischen Kapitalinvestitio© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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nen beruhte (British Westinghouse C ompany)40. Dem Eindruck der Rückstän­ digkeit, der sich aus der Unterentwicklung der neuen Wachstumsindustrien er­ gibt, entspricht jedoch keineswegs eine gleichmäßig starke Weiterentwicklung der alten Stapelindustrien, ihr Wachstum erscheint mit Ausnahme des Sektors Bergbau und Hüttenwesen gegenüber der Phase vor 1873 stark verlangsamt, ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung bleibt jedoch beträchtlich. Auffällig stark ist dagegen die Expansion der verarbeitenden und Veredelungsindustrien sowie der Nahrungs- und Genußmittelindustrie. Hervorstechendes Merkmal der englischen Entwicklung ist jedoch das überproportionale Wachstum des kommerziellen und nichtkommerziellen Dienstleistungssektors. An seiner star­ ken Expansion nehmen die mit Außenhandel und Kapitalexport verbundenen Branchen (Banken, Schiffahrt und Versicherungen) ebenso teil wie der persön­ liche und administrative Dienstleistungssektor. Versucht man aufgrund der hier gegebenen Merkmale in aller Vorläufigkeit ein Strukturmodell des englischen Kapitalismus vor 1914 zu entwerfen, so ließe es sich als das einer typischen „Rentierökonomie“41 charakterisieren, die auf einem relativen Überfluß an Bank- und Leihkapital42 beruhte. Dieser spezi­ fische Kapitalüberhang entstand weitgehend als Folge der eigentümlichen im­ perialen Stellung, die England in der gewandelten weltwirtschaftlichen Situa­ tion nach 1873 als Finanz-, Handels- und Kolonialmacht in ebendem Maße gewann, in dem es seine Monopolstellung als „Workshop of the world“ gegen­ über seinen Konkurrenten auf dem Weg zum Organisierten Kapitalismus ein­ büßte. Die große Bedeutung des Dienstleistungssektors, nicht nur im Hinblick auf Finanz, Handel und Versicherungen, sondern auch was Hausangestellte, das Hotel- und Gaststättengewerbe, sowie eine bemerkenswerte, einzigartige „Kulturindustrie“ betraf, erscheint ebenso als ein typisches Strukturmerkmal der „Rentierökonomie“ wie die spezifische Produktions- und Organisations­ struktur der englischen Industrie. Hier kam der Rüstungsindustrie und dem Schiffbau als den organisatorisch und technologisch fortgeschrittensten Zweigen der englischen Industrie die Bedeutung eines „leading sector“ zu, wobei zu be­ rücksichtigen ist, daß, rein numerisch gesehen, eine andere Produktionsweise dominant blieb, welche die Wirtschaftsstruktur Englands bis zum Ersten Welt­ krieg prägte. Diese könnte dahingehend charakterisiert werden, daß sie ihrer Haupttendenz nach auf die Ausbildung eines „Großgewerbes“ (Levy)43 hinaus­ lief, das sich — auf der Basis kleiner Betriebseinheiten — in wachsendem Maße auf eine verfeinerte Fertigfabrikation konzentrierte und dabei nicht nur auf den Import von Rohstoffen, sondern auch von Halbfabrikaten zunehmend an­ gewiesen war. „Großbritannien produzierte Konsumgüter und bezog seinen Stahl statt dessen teilweise aus dem Ausland, ohne jedoch gleichzeitig den Export eigenen Stahls aufzugeben.“ Auf diese augenscheinlich paradoxe For­ mel ließe sich die allgemeine Richtung der strukturellen Entwicklung der engli­ schen Wirtschaft vor 1914 bringen, wobei sich das Paradoxon jedoch auflöst, sobald man die spezifische Struktur der Ein- und Ausfuhr von Stahl berück© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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sichtigt: Eingeführt wurden vor allem billigere Qualitäten von Halbzeug, aus­ geführt dagegen weiterverarbeitete Produkte44. In seiner spezifischen Form als einer hochdifferenzierten, für den gehobenen Binnenkonsum produzierenden, aber gleichzeitig exportorientierten „mature economy“ stellte diese Produktionsweise vom Standpunkt individuellen Unter­ nehmerinteresses eine durchaus rationale Reaktion auf die gebotenen Markt­ chancen dar. Hierin ist den Vertretern der „New Economic History“ sicherlich recht zu geben45. In gewisser Weise kann die „mature economy“ — unter den ganz speziellen Bedingungen der ökonomischen Weltmachtposition Englands vor 1914 — sogar als eine (freilich temporäre) Alternative zum Organisierten Kapitalismus angesehen werden, dies vor allem deshalb, weil die hochspeziali­ sierte Produktion dem individuellen Unternehmer ein „natürliches“ Monopol und damit Profitchancen sicherte, die eine monopolistische Konzentration einer­ seits unnötig machten und andererseits durch die Spezialisierung auch erschwer­ ten. Doch fragt es sich, ob die „private returns“ den „social returns“ hierbei entsprachen, ob die individuelle Rationalität des „Victorian“ und „Edwardian Entrepreneur“ nicht selbst vom Unternehmerstandpunkt her eine nur begrenzte Rationalität war, d. h. ob sie mit den von der weltwirtschaftlichen Konkur­ renzsituation bedingten Zwängen und den sich daraus ergebenden Notwendig­ keiten durchgängig in Einklang stand: Die Ausbildung einer auf dem Welt­ markt konkurrenzfähigen, nur großbetrieblich zu organisierenden Massenpro­ duktion wurde durch die spezifische Produktionsweise der englischen „mature economy“ vor 1914 jedenfalls weitgehend blockiert46. Die kontrafaktische Argumentation der „New Economic History“ bleibt bisher den Beweis des Gegenteils schuldig47. Zumindest bis sie ihn angetreten hat, kommt der prophe­ tischen Voraussage einer Gestalt in George Bernhard Shaws Stück „Mesal­ liance“ (1909) die gleiche „kontrafaktische“ Beweiskraft zu, wie den von den Cliometrikern vorläufig nur vermuteten Trends: „Rom fiel, Babylon fiel, es wird auch die Reihe an Hindhead kommen.“ Der Blick auf die Exportmöglichkeiten der „mature economy“ verdeckt zu­ dem allzuleicht den Ort, den diese innerhalb der englischen Gesamtökonomie vor dem Ersten Weltkrieg einnahm und der ihr innerhalb dieser den Rang eines „Subsystems“ zuwies. Denn mindestens in zweierlei Hinsicht hing die „mature economy“ von der unproduktiven „Rentierökonomie“ ab: zum einen scheute das vorherrschende „Großkapital“ in Gestalt des Bank- und Leihkapitals Inve­ stitionen in die Produktionssphäre im Inneren48 (sieht man von der bereits er­ wähnten Rüstungsindustrie ab49). Es war eben kein „Finanzkapital“50, das als Schrittmacher auf dem Weg zur kapitalistischen Konzentration und damit zum Organisierten Kapitalismus hätte fungieren können. Zum anderen war die „mature economy“ nicht zuletzt auch eine abhängige Variable der Konsum­ bedürfnisse der „Rentierökonomie“, was die Hypertrophie des Konsumsektors mitsamt der hochgradigen Spezialisierung und Luxusorientierung zumindest teilweise erklärt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Nur aus dieser Überlagerung der „mature economy“ durch die „Rentier­ ökonomie“ wird jene heftige Artikulation gesellschaftlicher Widersprüche er­ klärbar, welche die soziale und politische Gesamtsituation Englands vor dem Ersten Weltkrieg prägt: „Es herrschte in Großbritannien . . . in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine Atmosphäre des Unbehagens, der Richtungslosigkeit und der Spannung, die im Widerspruch stand zu der journalistischen Vorstellung einer stabilen belle é poque mit pfauenfedergeschmückten Damen, Landhäusern und Varietéstars. Es waren nicht nur die Jahre, in denen die Labour Party zu einer Wahlmacht emporwuchs, in denen sich die sozialistische Linke radikalisierte; in denen allenthalben Arbeiter-„Unruhen“ aufloderten, sondern auch Jahre des politischen Zusammenbruchs. Es waren tatsächlich die einzigen Jahre, in denen der stabile und zugleich flexible Anpassungsmechanis­ mus der britischen Politik zu funktionieren aufhörte und die Macht ihre nack­ ten Knochen sehen ließ, entblößt von dem Gewebe, das sie normalerweise ver­ hüllt; es waren die Jahre, in denen das Oberhaus das Unterhaus herausfor­ derte, in denen es so aussah, als träte eine äußerste Rechte, die nicht nur ultra­ konservativ, sondern nationalistisch, giftig, demagogisch und antisemitisch war, hervor; in denen Bestechungsskandale die Regierung erschütterten; in denen Armeeoffiziere mit Rückendeckung der konservativen Partei gegen vom Parla­ ment verabschiedete Gesetze meuterten. Es waren die Jahre, in denen Gewalt in der englischen Luft lag, Symptome einer wirtschaftlichen und gesellschaft­ lichen Krise, die auch das Selbstvertrauen, das sich in der überladenen Archi­ tektur der Ritz-Hotels, der fürstlichen Paläste, der West-End-Theater, Kauf­ häuser und Bürohochhäuser zeigte, nicht ganz vertuschen konnte. Als 1914 der Krieg ausbrach, war er nicht die Katastrophe, die die stabile bürgerliche Welt vernichtete . . . er schien eine Entlastung von der Krise, eine Ablenkung, viel­ leicht sogar eine Art Lösung zu sein.“51 Die Analyse der Ursachen, Bedingungen und Folgen dieser „englischen Son­ derentwicklung“ wird sich zunächst den ökonomischen Faktoren zuzuwenden haben, hier vor allem der Schlüsselstellung, die England in der Weltwirtschaft zwischen 1873 und 1914 trotz grundlegend gewandelter Bedingungen erhalten blieb52. England verlor in der neuen weltwirtschaftlichen Situation nach 1873, die entscheidend durch die Konkurrenz der sich zum Organisierten Kapitalismus hinentwickelnden, protektionistischen Industriestaaten in Europa und Nord­ amerika bestimmt wurde, zwar seine Dominanz als erste Industriemacht, be­ hielt jedoch eine quasi-dominante Mittlerposition bei, die durch seine Rolle innerhalb des neuen multilateralen Welthandels- und Zahlungssystems bestimmt war, das sich jetzt erstmals herausbildete53. In gewisser Weise gewann die engli­ sche Wirtschaft diejenige Bedeutung, die sie in der Zeit von 1873 bis 1914 als Vorreiter und Produzent industriellen Fortschritts verlor, kurzfristig als „Mak­ ler“ der Weltwirtschaft wieder. Jedoch setzten die Systemerfordernisse dieser spezifischen Dominanz, die auf der Stellung Englands als Handels- und Finanz5 Winkler, Kapitalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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macht gegründet war, zugleich auch die Bedingungen für die Rückständigkeit der englischen Wirtschaft im Sinne des Organisierten Kapitalismus. Die Erfor­ dernisse der Systemerhaltung wie die Bedingungen der besonderen Rückständig­ keit des englischen Kapitalismus fanden ihren gemeinsamen Nenner hierbei in der Beibehaltung der Freihandelspolitik, die jedoch als bloße Fortsetzung tra­ ditioneller Muster keineswegs zureichend erklärt ist, sondern aus dem grund­ legenden „Funktionswandel“ verstanden werden muß54, den sie angesichts der neuen weltwirtschaftlichen Bedingungen mitmachte. Der englische Freihandel unterlag beim Übergang zum Organisierten Kapitalismus einer ähnlichen histo­ rischen Dialektik von Fortschritt und Rückschritt, wie sie Rudolf Hilferding für den Schutzzoll beobachtet hat55: Wird der „Funktionswandel“ des Schutz­ zolls vom „Erziehungszoll“ zum „Kartellschutzzoll“ von Hilferding als Vor­ aussetzung der Entwicklung zum Organisierten Kapitalismus angesehen, und zwar in der Form, daß ein „Umstand, der ursprünglich in der Zurückgeblieben­ heit der deutschen kapitalistischen Entwicklung gelegen war . . . schließlich zu einer Ursache der organisatorischen Überlegenheit der deutschen über die englische Industrie wurde“56, so läßt sich auch in der Wirkung der englischen Freihan­ delspolitik ein vergleichbarer „Funktionswandel“ feststellen, dies allerdings in umgekehrter Richtung. Ursprünglich ein Mittel zur Behauptung der hegemonia­ len Stellung der englischen Wirtschaft im Prozeß kapitalistischer Industrialisie­ rung, verkehrte der Freihandel sich beim Übergang der anderen Industrie­ staaten zum Organisierten Kapitalismus in sein — freilich systemnotwendiges — Gegenteil, indem er einerseits zwar die Existenzbedingungen der Quasi­ Dominanz Englands als „Makler“ in den neuen weltwirtschaftlichen Zusam­ menhängen nach 1873 auf Zeit sicherte, andererseits aber auch zur entscheiden­ den Ursache des „nicht wirksam genug organisierten englischen Kapitalismus“57 wurde. Als unmittelbare „Ursache“ dieses „nicht wirksam genug organisierten . . . Kapitalismus“ ist der Freihandel hierbei zunächst insofern anzusehen, als er ein Palliativ gegen monopolistische Konzentrationsbestrebungen darstellte und die durch ihn gewährleistete „offene Tür zum Weltmarkt“ monopolistische Preisbildungen auf dem Weg über Kartelle und Trusts ebenso erschwerte wie sie vertikale Integration — durch Erleichterung der Rohstoff- und Halbzeug­ einfuhr — überflüssig machte58. Die umfassenderen Bedingungen der „engli­ schen Sonderentwicklung“ erschließen sich jedoch erst aus der Einsicht in die Systemerfordernisse, die durch den Freihandel gewährleistet wurden. Als Systemerfordernis kann die freihändlerische Ausrichtung der englischen Wirtschaft vor 1914 zunächst von den Strukturbedingungen her gesehen wer­ den, auf denen das multilaterale Welthandels- und Zahlungssystem beruhte59. Dieses war, wie S. B. Saul nachgewiesen hat, gerade angesichts des Übergangs der Industriestaaten in Europa und Nordamerika zum Protektionismus essen­ tiell auf die Wahrnehmung einer freihändlerischen Vermittlerrolle durch die englische Wirtschaft angewiesen, welche durch steigende Importe aus den In­ dustrieländern wie aus Übersee, durch die Reorientierung ihrer eigenen Exporte in nicht- oder halbindustrialisierte Länder und in ganz entscheidendem Maße © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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durch ihre finanzielle und kommerzielle Maklerfunktion den Ausgleich der Handels- und Zahlungsbilanzen der Industrieländer auf den Weg über „offene Türen“ vor allem in Asien und Südamerika sicherstellte, nachdem dieser Aus­ gleich bilateral nicht mehr möglich war60. Kann der freihändlerischen Orien­ tierung der englischen Wirtschaft in den gewandelten weltwirtschaftlichen Be­ dingungen somit unter dem Gesichtspunkt der Systemerhaltung in doppelter Hinsicht Notwendigkeit zuerkannt werden, einmal insofern als sie die gefähr­ dete Funktionsfähigkeit des Welthandels garantierte, dann auch insofern sie eben hierdurch ihre eigene Dominanz in der Weltwirtschaft sicherte, so ist die Maklerrolle Englands jedoch nicht nur als notwendiges Resultat dieses welt­ wirtschaftlichen Systemzwangs zu sehen, sondern ebenso als Ausdruck der endo­ genen Strukturbedingungen, die im englischen Kapitalismus selbst angelegt wa­ ren. Die starke Exportorientierung und Importabhängigkeit61 wesentlicher Teile der englischen Wirtschaft machten den Freihandel ebenso zum notwendi­ gen Erfordernis wie die Funktion der C ity als monetäres C learing House des Welthandels und Zentrum der Weltfinanz62. Das von Saul entdeckte „paradox of free trade“63 geht jedoch nicht darin auf, daß es den Freihandel als ein Systemerfordernis erscheinen läßt, das der englischen Wirtschaft im Zeitalter des Protektionismus durch quasi-protektioni­ stische Wirkungen eine befristete Dominanz garantierte, solange noch „offene Türen“ vorhanden waren. Es macht zugleich auch die Notwendigkeit und Fol­ gen jener spezifischen Schwergewichtsverlagerungen innerhalb der englischen Wirtschaft vor 1914 deutlich, die sich als Tendenz weg von der industriellen Produktion, hin zu Finanz, Handel und Kapitalexport zeigten und die den „Free Trade“ schließlich im spezifischen „Liberal Imperialism“ der englischen „Rentierökonomie“ vor 1914 münden ließen, derjenigen fragwürdigen Alter­ native, die England dem Organisierten Kapitalismus kurzfristig entgegenstellte. Das Muster der Schwergewichtsverlagerung in der englischen Wirtschaft vor 1914 erschließt sich aus der Entwicklung der Waren- und Kapitalexporte sowie aus den charakteristischen Veränderungen der Zahlungs- und Handelsbilanz64. Deren Analyse verweist nicht nur auf die objektiven Trends, die als gleichsam negative Voraussetzungen dem Übergang zum Organisierten Kapitalismus im Wege standen, sondern läßt zugleich auch die entscheidenden Ursachen der „englischen Sonderentwicklung“ deutlich werden. Die englische „export econo­ my“ war bis 1914 durch die gleichbleibend große Rolle gekennzeichnet, welche insgesamt gesehen, die Produkte der traditionellen Stapelindustrien spielten65. Systemerhaltung durch Konservierung der traditionellen Produktionsstruktu­ ren, nicht Modernisierung war die Reaktion, mit der die englische Industrie dem Challenge begegnete, den die Einführung des Schutzzolls und die Etablierung des Organisierten Kapitalismus in den anderen Industriestaaten für sie bedeu­ tete. Möglich wurde dies nur durch Verlagerung der Exporte in überseeische unterentwickelte Regionen. Eine genauere geographische Aufschlüsselung der Leistungen der „export economy“ ergibt für die Zeit zwischen 1783 und 1900 vor allem eine wichtige Kompensationsfunktion des Empire66, ohne daß die

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Bedeutung der durch den Freihandel erschlossenen Zonen in Übersee, insbe­ sondere der „Ehrendominions“ (Hobsbawm) Argentinien, C hile, Uruguay hier­ durch gegenstandslos geworden wäre67. Das Empire bot im Zeichen einer sich verschärfenden weltwirtschaftlichen Konkurrenz und des Zerfalls der Monopol­ stellung Englands und der englischen Industrie gerade in dem Sinne große Mög­ lichkeiten, daß es den Absatz der traditionellen Produkte der britischen Export­ industrie sicherte und es hiermit möglich machte, die Produktion auch weiterhin auf diejenigen Sektoren zu konzentrieren, die in der ersten Phase der industriel­ len Revolution bestimmend gewesen waren68. Den alten Dominions kam in diesem Konservierungsprozeß eine größere Bedeutung zu als den unter dem neuen Imperialismus seit den 80er Jahren erworbenen afrikanischen Kolo­ nien69, von entscheidender Wichtigkeit jedoch war Indien70, das als „ökono­ misches Sicherheitsventil“ des englischen Imperialismus jetzt auch zu einem ent­ scheidenden Hemmschuh des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus wurde71. Die besondere Bedeutung des Empire für diesen durch den „feedback-effect“ der „export economy“ ermöglichten Konservierungsprozeß ergibt sich jedoch erst daraus, daß sie auf eine bestimmte Zeitphase beschränkt blieb72. Die mit Ausnahme Indiens seit 1900 insgesamt rückläufigen Tendenzen der englischen Exporte ins Empire machen dreierlei deutlich: Einmal, daß das Empire gerade in der Zeit des Übergangs der anderen Industriestaaten zum Organisierten Kapitalismus eine entscheidende Palliativfunktion ausübte, dann, in wie star­ kem Maße die englische „export economy“ auch unter dem neuen Imperialismus auf Freihandel angewiesen blieb, — vor allem auf „offene Türen“ in C hina73 und Lateinamerika74 — und schließlich, daß die wirtschaftliche Entwicklung der Dominions sich zunehmend in Richtung auf eine Integration ins multilate­ rale Welthandelssystem bewegte, welche den traditionellen Bilateralismus zwi­ schen Metropole und Kolonie in wachsendem Maße in Frage stellte75. Diesem Befund kommt ein hoher Indikationswert für die Frage nach den Voraus­ setzungen und Anfängen des Organisierten Kapitalismus in Großbritannien vor 1914 zu, lassen sie doch deutlich werden, daß der Versuch der Begründung einer imperialen Zollunion durch den „C onstructive Imperialism“76 Joseph Chamberlains, der nicht nur die einzige Möglichkeit geboten hätte auf der Basis der herrschenden imperialen Verhältnisse den Übergang zum Organisierten Kapitalismus zu versuchen, sondern auch diejenigen Interessen des englischen Kapitalismus vereinigte, die in den anderen Ländern Träger dieser Entwicklung zum Organisierten Kapitalismus waren77, nicht nur politisch zum Scheitern verurteilt war. Er muß angesichts der gegenläufigen Trends in der Wirtschafts­ entwicklung des Empire und der herrschenden Interessen in England selbst als eine objektive ökonomische Unmöglichkeit betrachtet werden. „The idea of even a partial isolation of the Empire into a single economic unit or Zollverein was nonsensical.“78 Gegenüber den auf den Organisierten Kapitalismus in seiner spezifisch engli­ schen, imperialen Variante hinzielenden Tendenzen erwiesen sich vor 1914 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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diejenigen Kräfte als die herrschenden, die einen „Liberal Imperialism“79 ver­ traten, den sie zugleich als „cosmopolitan capitalism“ (W. C hurchill)80 ver­ standen. Dieser „Liberal Imperialism“ war grundsätzlich freihändlerisch orien­ tiert; protektionistische und interventionistische Tendenzen entfaltete er einzig hinsichtlich Flotte und Rüstungsindustrie81, sowie verwandter, strategisch be­ deutsamer anderer Industriezweige. Dort, wo die „efflciency“ der Flotte als Rückgrat des Empire tangiert war — hierunter fielen auch die Flotte stützende unmittelbare ökonomische Interessen —, hörte auch für den „Liberal Impe­ rialism“ der Liberalismus grundsätzlich auf. Was dieses Basisinteresse betraf, befand er sich durchaus im vollen „imperialistischen Konsensus“ (Wehler) mit den Anhängern Joseph C hamberlains. Das Gewicht und die spezifische Ausrichtung der den „Liberal Imperialism“ tragenden Gruppen war weitgehend von der Bedeutung bestimmt, welche den Finanz-, Handels- und anderen Dienstlei­ stungsinteressen der Londoner C ity seit 1873 in sich stetig kumulierendem Maße zugefallen war82. Die wachsende Schwergewichtigkeit, mit der diese Interessen die „export economy“ determinierten, ergibt sich schon aus einem Blick auf die Verschiebungen in der Zahlungs- und Handelsbilanz Englands zwischen 1873 und 191483, die deutlich werden lassen, daß ein sich seit 1873 — aufgrund erhöhter Einfuhren — permanent ausweitendes Defizit der Han­ delsbilanz84 in der Zahlungsbilanz nur durch „invisible incomes“ ausgeglichen werden konnte, die, ebenfalls in steigender Progression, der kommerzielle Dienstleistungssektor erbrachte85. Der Ausgleich der Zahlungsbilanz war darüber hinaus aber seit 1875 noch regelmäßig auf eine zweite Sparte von „invisible incomes“ angewiesen, auf Renditen und Dividenden aus Auslandsinvestitionen, Einkünfte, die sich eben­ falls ständig erhöhten, weit über das zum Ausgleich der Zahlungsbilanz er­ forderliche Maß hinaus und daher für neue Renteninvestitionen (primär in aus­ ländischen Staats- und Eisenbahnanleihen) verwandt werden konnten86. Die systemdeterminierende „primaey of foreign lending over exports“ (A. J . Brown) drückte sich nicht zuletzt auch darin aus, daß seit 1907 Kapitalexporte ins Ausland die jährlichen Kapitalinvestitionen im Inneren übertrafen87, seit 1913 schließlich die jährlichen Dividenden und Renten aus den akkumulierten Auslandsinvestitionen größer waren als die Kapitalexporte selbst88. Die Ten­ denz dieses Systems eines wahrhaft „cosmopolitan capitalism“ wurde von einem der C hefideologen der „Liberal Imperialists“ zur Zeit des Burenkriegs, H. J . Mackinder89, 1902 auf den Begriff gebracht, als er in einer Vorlesungs­ reihe vor dem „Institute of Bankers“ in der Londoner C ity deutlich zwischen den Interessen der englischen Finanz und denen von Industrie und Handel unterschied und dabei betonte, daß die Weltwirtschaft auch angesichts einer zu­ nehmenden Konkurrenz der kapitalistischen Staaten untereinander, einer Kon­ kurrenz, die sich ihm lediglich als eine „dispersion and equalisation of industrial activities throughout the world“ darstellte, immer noch eines „C ontrolling centre“ bedürfe. Als dieses „C ontrolling centre“ schien ihm London in seiner Eigenschaft als Zentrum der Weltfinanz prädestiniert zu sein. Die Räson der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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von ihm anvisierten Verhältnisse kleidete Mackinder hierbei in folgende Zu­ kunftsperspektive. Es ist die Zukunftsperspektive der englischen „Rentieröko­ nomie“: „It appears therefore that the financial importance of the City of Lon­ don may continue to increase, while the industry, at any rate, of Britain, becomes relatively less.“90 Als Ausdruck und Folge dieser hier aufgezeigten „englischen Sonderentwick­ lung“, einer Folge jedoch, der als autonomem Faktor zugleich auch beträcht­ liches Eigengewicht zuzumessen ist, erscheint die mangelnde Integration von Industriekapital und Bankkapital91. Das Bankwesen als Motor auf dem Weg zum Organisierten Kapitalismus scheidet in England vor 1914 aus. Der „nicht wirksam genug organisierte englische Kapitalismus“92 machte gerade jenen Weg zum „Finanzkapital“ nicht mit, in dem R. Hilferding Kriterium und Voraus­ setzung des Organisierten Kapitalismus gelegen sah93. Die unmittelbaren Gründe dieser erst seit den 30er Jahren dieses Jahrhunderts als „Macmillan Gap“94 ins öffentliche Bewußtsein getretenen strukturellen Defizits des englischen Kapitalismus sind nkht in erster Linie in einem mangelnden Kapitalangebot auf dem Binnenmarkt95, eher schon in der unsicheren Gewinnerwartung von Inve­ stitionen in der Industrie, sicherlich jedoch im Fehlen geeigneter institutioneller Voraussetzungen im englischen Bankwesen vor 1914 zu suchen. „The British had the capital. But those who chanelled and disposed it were not alert to the opportunities offered by modern technology and those who might have used it did not want or know enough to seek it out.“96 Unter den neuen Bedingun­ gen der wirtschaftlichen Entwicklung Englands nach 1873 erwiesen sich jeden­ falls die traditionelle Orientierung der Londoner Finanz auf Außenhandel und Kapitalexport als ein ebenso entscheidendes Hemmnis für die Integration von Industriekapital und Bankkapital, wie die Tradition der Selbstfinanzierung der britischen Industrie auf dem Weg über Familienkapital oder den Kapitalmarkt der Provinz97. Dies ist weitgehend als Folge der eigentümlichen institutionellen Arbeitsteilung im englischen Bankwesen zu sehen, innerhalb derer sich die mit fremden Geldern arbeitenden Depositen- oder Aktienbanken (Joint-Stock Banks) in London wie in der Provinz primär auf die Bereitstellung kurzfristi­ gen kaufmännisch-industriellen Betriebs- und Anlagekredits beschränken konn­ ten, die Investitions- und Handelsbanken der C ity (Merchant Banks, Discount Houses und Private Banks) dagegen sich der Finanzierung des Überseehandels, der Beschaffung von Anleihekapital und dem überseeischen Emissionswesen widmeten98. Die Errungenschaften des „early Start“, in der ersten Phase der industriellen Revolution den Erfordernissen der Industrie durchaus angemessen, verwandelten sich auch hier in die Hypotheken einer „late arrival“. Konnte sich doch in England vor 1914 aufgrund der institutionellen Rigidität seines Bankwesens jener Typ von Universalbank nicht ausbilden, der auf dem Konti­ nent ursprünglich gerade als Folge von Kapitalmangel und spezifischer Rück­ ständigkeit im Industrialisierungsprozeß entstanden war, doch beim Übergang zum Organisierten Kapitalismus als entscheidender Vorreiter industrieller Kon­ zentration und Modernisierung fungierte99. Ein ausgebildeter Kapitalmarkt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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war in England zwar vorhanden und damit auch ein potentielles Instrument der Kapitalbeschaffung für die Industrie, ohne jedoch ihren Bedürfnissen in der gewandelten Situation nach 1873 in erforderlichem Maße funktional zu sein. Konzentrierten sich die C ity-Banken als Vertreter des „alten Reichtums“ wei­ terhin hauptsächlich auf die Finanzierung des Überseehandels und ausländischer Investitionen, unter denen typische Rentierinvestitionen wie Staats- und Eisen­ bahnanleihen dominierten, so fehlte im Verhältnis der Depositenbanken zur Industrie gerade jene entscheidende Verbindung von Kapitalbeschaffung und Unternehmerfunktion auf Seiten der Banken, die für die kontinentalen Ver­ hältnisse charakteristisch war100. Dies kam in bezeichnender Weise darin zum Ausdruck, daß, in Umkehrung der deutschen Verhältnisse, Industrielle häufig Sitze in den Aufsichtsräten der Banken innehatten, kaum jedoch vice versa101. Im Gegensatz zu verbreiteten Ansichten existierte zwar ein „außerordentlich enges Verhältnis“ zwischen Banken und Industrie, doch stand dieses Verhältnis nahezu „ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Kontokorrentverkehrs“102. Es dominierte auf Bankenseite kein Unternehmer-, sondern eher ein renten­ orientierter Gläubigerstandpunkt, der langfristige und flexible Investitions­ kredite nach deutschem Muster kaum zuließ, geschweige denn eine aktive Rolle bei Fusions- und Konzentrationsprozessen. Das passive Verhältnis der Banken gegenüber der Industrie zeigte sich schließlich auch in der Emissionspraxis selbst. Auch hier bestanden entscheidende Unterschiede zur kontinentalen Entwicklung, beschränkte sich die Tätigkeit der Banken doch auf die einer bloßen „Zahl­ und Zeichnungsstelle“103, die primär nach der Maxime des „fload and unload“104 handelte und Emissionstätigkeit auf eigene Rechnung durchgängig vermied.

Thesen zum Verhältnis von Politik und Ökonomie Dieses Verhältnis blieb auch nach 1873 zunächst dem klassischen Muster ver­ haftet, das es im Gefolge der liberalen Reformen der ersten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts angenommen hatte. Das Prinzip der Nichtintervention staatlicher In­ stanzen in den Wirtschaftsprozeß, das selbst die schiedsrichterlichen Funktionen auf ein Minimum begrenzte, schloß allerdings nicht aus, daß sich wirtschaft­ liche Partikularinteressen auf dem Weg über die parlamentarische Gesetzgebung politische Legitimation verschafften. Die parlamentarische Gesetzgebung diente gerade hierdurch als ein wichtiges Mittel der direkten oder indirekten Rück­ bindung wirtschaftlicher Interessen an das politische System, das bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein noch von der adeligen politischen Elite regiert, wenn auch nicht mehr beherrscht wurde. Auch die viktorianischen Armengesetze sowie die Gesetzgebung über Fabrik­ inspektion und Gesundheitswesen, die oft als Indikatoren einer „l9th C entury Revolution in Government“ (O. MacDonagh) gekennzeichnet werden, bedeu­ teten gleichwohl keine Durchbrechung dieses Prinzips. Vor allem sind sie nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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im Sinne eines modernen sozialstaatlichen Interventionismus zu werten. Sie schufen zwar rechtliche Handhaben und organisatorische Voraussetzungen direk­ ter staatlicher Eingriffe in den sozio-ökonomischen Prozeß, jedoch lediglich im Sinne einer staatlichen Ordnungsverwaltung, die einzelne Mißstände korri­ gierte und nicht etwa gesamtwirtschaftliche Abläufe regelte. War dieses Verhältnis von Ökonomie und Politik dem Interesse der vikto­ rianischen „middle-class“ an Freihandel und staatlicher Nichtintervention funk­ tional, so war seine institutionelle Form andererseits entscheidend von vorindu­ striellen Traditionen beherrscht, die — als Kompromisse zwischen Königtum, Adel und Bürgertum am Ende der Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts, endgültig seit der Glorious Revolution von 1688/89 — in das englische politische System eingingen. Als wichtigste „vorindustrielle“ Faktoren, welche die Sonderrolle Englands beim Übergang zum Organisierten Kapitalismus mitbestimmt haben, sind hier hervorzuheben: Erstens: Die traditionelle Abneigung der bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein in Parlament, Kabinett und Verwaltung noch vor­ herrschenden adeligen politischen Elite gegen eine direkte, aktive Vertretung sektoraler wirtschaftlicher Interessen des Bürgertums, eine Abneigung, die ge­ wissermaßen die negative Seite des positiven Laissez-faire-Interesses der vikto­ rianischen „middle-class“ darstellte. Zweitens: Die antizentralistische und antibürokratische Ausrichtung des eng­ lischen politischen Systems, die sich als prägendes Muster der Gesamtverfassung Englands vor allem in der traditionellen Trennung von Lokal- und Zentral­ verwaltung wirksam zeigte. Ihren Niederschlag fand diese Ausrichtung aber ebenso in der Organisationsstruktur der Zentralverwaltung selbst wie schließ­ lich im Ethos ihrer Träger, das an die Stelle von Kompetenzabgrenzung und Fachwissen weitgehend das adelige Gentleman-Ideal des „educated layman“ setzte. In ihrem Resultat lief die anti-bürokratische Ausrichtung des englischen politischen Systems auf eine weitgehend unkontrollierte und unkoordinierte Devolution administrativer Kompetenzen an lokale Selbstverwaltungsorgane und halbprivate Institutionen hinaus. (Gerade in dieser Hinsicht zeigt sich ihre verhängnisvolle Wirksamkeit bis in die Periode der „Reconstruction“ am Ende des Ersten Weltkriegs.) Mochte diese speziell englische „politische Form“ des Laissez-faire mit dem klassischen Wettbewerbskapitalismus noch verträglich sein, so bedeutete ihre institutionelle Verfestigung für den Übergang zum Organisierten Kapitalismus in mehrfacher Hinsicht ein entscheidendes Hindernis. Die anti-exekutive Tradi­ tion und die Vorherrschaft des Lokalen im politischen System Englands ver­ zögerten nicht nur die Durchsetzung des modernen Interventionsstaats als des „ideellen Gesamtkapitalisten“ und in engem Zusammenhang damit die Aus­ bildung einer fachkompetenten Bürokratie. Die Verfilzung ökonomischer und politischer „vested interests“ auf lokaler Ebene erschwerte auch mittelbar die Entwicklung der neuen Industrien der zweiten Phase der Industriellen Revolu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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tion, wie am Beispiel der verzögerten Elektrifizierung der städtischen Kom­ munen gegen Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt werden kann. Die vorindu­ striell determinierten politischen Institutionen begannen, sich nicht nur dem Fortschritt der technischen Produktivkräfte, sondern auch dem Übergang zum Organisierten Kapitalismus in den Weg zu legen. Trotz dieser im politischen System Englands institutionalisierten Hemmnisse für den Übergang zum Organisierten Kapitalismus veränderte sich das Ver­ hältnis von Politik und Wirtschaft vor 1914 in signifikanter Weise. Auf den ersten Blick scheinen diese Veränderungen in die Richtung des Organisierten Kapitalismus zu weisen: die Staatsinterventionen in den sozio-ökonomischen Prozeß nehmen zu, während auf der anderen Seite auch der Druck sektoraler wirtschaftlicher Interessen auf den Staat wächst. Die englischen Verhältnisse charakterisieren sich in dieser Zeit jedoch durch die besondere Gewichtung dieser beiden Momente: gegenüber einem relativ breiten Spektrum sozialstaatlicher Interventionen erscheint die unmittelbare Verkuppelung von staatlicher Politik und Wirtschaft als verhältnismäßig beschränkt; sie ist im wesentlichen limitiert auf einen kleinen, doch politisch keineswegs bedeutungslosen Bereich, den mili­ tärisch-rüstungswirtschaftlichen Sektor. Den sozialstaatlichen Maßnahmen im engeren Sinne, d. h. vor allem der Entwicklung eines modernen gesetzlichen Sozialversicherungswesens zwischen 1906 und 1911, standen staatliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt zur Seite, die von der Einrichtung staatlicher Arbeitsämter (1909) und der prinzipiellen Sta­ tuierung eines gesetzlichen Minimallohnes (1909) bis zur Entwicklung einer staatlichen Maschinerie zur Schlichtung von Arbeitskämpfen (C onciliation Act 1896) reichten. Betrachtet man nun die Seite der direkten Verfilzung der politi­ schen mit der ökonomischen Sphäre, so sieht man in dem ursprünglichen Objekt der Staatsintervention, dem militärisch-rüstungswirtschaftlichen Bereich, den Sektor heranwachsen, der bereits vor 1914 wesentliche Merkmale des Organi­ sierten Kapitalismus verkörpert. Neben der direkten Unternehmertätigkeit des Staates in regierungseigenen Rüstungsbetrieben und dem Erwerb oder der Sub­ vention einzelner militärstrategisch bedeutsamer Unternehmungen durch den Staat waren es vor allem die steigenden staatlichen Aufträge an die private Rüstungsindustrie seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, welche eine wach­ sende Verschränkung privatwirtschaftlicher und staatlicher Interessen zur Folge hatten. Während auf der einen Seite in diesem ökonomischen Subsystem die modernen Produktionsstrukturen sich entfalteten — in Form von Konzentra­ tions- und 2entralisationsbewegungen, in Form rational durchorganisierter, bürokratisierter Betriebseinheiten —, manifestiert sich hier auch zum ersten Mal der unmittelbare, d. h. parlamentarisch nicht mehr mediatisierte Druck wirtschaftlicher Interessen auf den Staat. Dieser Prozeß, der in der Verschmel­ zung von wirtschaftlichen und politischen Führungsgruppen, im sog. Eliten­ austausch, sichtbare Gestalt erhält, läßt sich als eine Vorwegnahme der wesent­ lichen Momente des Organisierten Kapitalismus begreifen. Wandlungen, die ursprünglich vom politischen System ausgegangen waren, haben sich diesem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Ursprung gegenüber nicht nur relativ verselbständigt, sondern — in Form eines Rückkoppelungsprozesses — Veränderungen im politischen System selbst pro­ voziert. Die Frage nach den Ursachen und Folgen dieser Entwicklungen wird als eine wichtige Randbedingung den Einzug der „middle-class“ in Parlament, Kabinett und Verwaltung zu berücksichtigen haben, ein Vorgang, der diese Institutionen seit der zweiten Wahlrechtsreform von 1867 zunehmend zu einem „middle class interest“ machte und die „middle class“ selbst einer staatlichen Intervention zumindest weniger abgeneigt machte als vorher. Der essentiell pragmatische, tastende Interventionismus der liberalen Regierungen seit 1906 spräche jeden­ falls für diese These. Als entscheidende Ursache des neuen Verhältnisses von Politik und Ökonomie dürfte jedoch der soziale Basiskonflikt seit den 80er Jah­ ren des 19. Jahrhunderts anzusehen sein. Dessen Ausdruck war einerseits die Neuentstehung einer organisierten Arbeiterbewegung im gewerkschaftlichen „New Unionism“, andererseits der ökonomische Zerfall der traditionellen vik­ torianischen „middle class“, der seinerseits 1886 zur Spaltung der liberalen Partei führte. In dieser Situation versuchte die reduzierte liberale Partei, Re­ präsentant der „industrial middle class“ in der „mature economy“, unter den Bedingungen des neuen allgemeinen Wahlrechts die Arbeiterschaft in das poli­ tische System zu integrieren, um ihre eigene, von zwei Seiten gefährdete Herr­ schaft abzusichern. Der Übergang Englands zum sozialstaatlichen Interventio­ nismus erklärt sich sowohl aus der prekären Allianz zwischen „Liberais“ und „Labour“, wie aus der Konkurrenz zwischen den Fraktionen der ökonomisch herrschenden Klasse, die sich nach dem Zerfall der „middle class“ gegenüber­ standen. Er stellt den Versuch der stabilisierenden Bewältigung einer inner­ gesellschaftlichen Konfliktsituation unter Führung derjenigen wirtschaftlichen Interessen dar, die im Sinne des Organisierten Kapitalismus ökonomisch rück­ ständig waren. Doch geht das neue Verhältnis von Politik und Wirtschaft nicht in seiner sozialinterventionistischen Komponente auf. Es ist im Gegenteil dadurch cha­ rakterisiert, daß der von den Liberalen eingebrachte sozialstaatliche Inter­ ventionismus von seinem intendierten Effekt abgedrängt wird; statt dessen gerät er in Bahnen, die den Interessen der um die Rüstungsindustrie zentrierten Gruppen dienstbar sind. Der keineswegs auf der Basis des Organisierten Kapi­ talismus intendierte Sozialstaat wird — zumindest objektiv — zur Legitima­ tion einer ganz anderen Art von Interventionismus. Nach dem gleichsam parla­ mentsoffiziellen Versuch des Übergangs zum liberaldemokratischen Sozialstaat tritt seine andere, gewissermaßen „inoffizielle“, doch effizientere Seite hervor: sie zeigt sich als Resultat einer „novel form of parliamentarism beyond and above the official parliamentary government“ (E. Halévy), also einer ten­ denziellen Verselbständigung der Exekutive, und manifestiert sich in der In­ fragestellung e⅛endieses Übergangs zum Sozialstaat infolge des Durchsetzungs­ vermögens eines „military-industrial complex“, entgegen den öffentlich erklär­ ten Absichten der liberalen Regierung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Diese entscheidenden Wandlungen im Verhältnis von Ökonomie und Politik in England vor 1914 wären an den innenpolitischen Auswirkungen der eng­ lischen Flottenrüstungspolitik im einzelnen nachzuweisen, ein Vorgang, der zwar ursprünglich von den Veränderungen und Zwangen des internationalen Systems veranlaßt war, der in seiner wachsenden Eigendynamik hieraus jedoch keineswegs erklärt werden kann. Soviel jedenfalls bleibt festzuhalten, daß der Übergang zu einem effektiven Sozialstaat auf dem Weg über ein liberal-demo­ kratisches parlamentarisches Verfassungssystem und die Anfänge des Organi­ sierten Kapitalismus in England in keinem positiven Ergänzungsverhältnis ste­ hen, sondern die Priorität des effektiven Sozialstaats sich in demjenigen Mo­ ment als Illusion erweist, als der Organisierte Kapitalismus seine eigenen Be­ dürfnisse anmeldet. Anmerkungen 1 Der folgende Beitrag lehnt sich, besonders im letzten Teil, eng an meine auf dem Regensburger Historikertag vorgetragenen Ausführungen an. Er liefert vorläufige Re­ sultate aus einem in Arbeit befindlichen Forschungsvorhaben, keine definitiven Ergeb­ nisse. Dem soll der bewußt hypothetisch gehaltene C harakter des letzten Teils Rech­ nung tragen. Der Beitrag soll demnächst in ausführlicherer Form in einem von mir für die „Neue Wissenschaftliche Bibliothek“ herausgegebenen Sammelband „Wirtschaft und Gesellschaft im modernen England“ erscheinen. 2 Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis der laufenden Bände des „Economic History Review“ läßt dies erkennen; s. aber auch die Sammlung von Antrittsvorlesun­ gen englischer Wirtschaftshistoriker: N. G. Harte Hg., The Study of Economic His­ tory, C ollected Inaugural Lectures 1893 —1970, London 1972; besonders deutlich tritt die Trennung jedoch in den Arbeiten der „New Economic History“ hervor. Bei aller begrüßenswerten methodologisch-theoretischen Strenge ihres Vorgehens sind diese „Cliometriker“ leicht in der Gefahr, die Reichweite ihrer Fragestellungen und die Er­ klärungskraft ihrer Hypothesen den Ansprüchen einsinniger Definitionen und rigoroser Quantifizierbarkeit zu opfern. War der Bias der älteren „Economic History“ gegen die politische Geschichte ursprünglich aus der besonderen Situation ihrer Genese als einer historischen Fachdisziplin heraus begründet und verständlich, so wird er von der „New Economic History“ gewissermaßen methodologisch festgeschrieben und präjudiziert da­ mit auch einseitig ihre Ergebnisse. Ein interessantes Beispiel hierfür bietet im Hinblick auf die im folgenden behandelten Zusammenhänge der programmatische Aufsatzband, den englische und amerikanische Vertreter der „New Economic History“ der Frage der wirtschaftlichen Entwicklung Englands im 19. und frühen 20. Jahrhundert gewidmet haben: D. M. McC loskey Hg., Essays on a Mature Economy: Britain after 1840, 1840—1930, London 1971; vgl. hierzu die Rez. S. Pollards in: English Historical Re­ view 87. 1972, 589 ff. Pollard kritisiert vor allem die problematische Gleichsetzung, welche die meisten Beiträge des Sammelbandes zwischen dem rationalen Unterneh­ merverhalten in einer kompetitiven Marktwirtschaft und der Rationalität eines ökono­ mischen Gesamtsystems vornehmen. Von daher stellt er auch eines der Hauptergebnisse der „Essays“ grundsätzlich in Frage: die Auffassung nämlich, daß die englische Wirt­ schaft zwischen 1870 und 1914 einen gelungenen Anpassungsprozeß an veränderte weltwirtschaftliche Bedingungen mitgemacht habe, dessen optimaler Abschluß lediglich durch den puren „Zufall“ des Ersten Weltkriegs verhindert worden sei. — Gegenüber dem Absolutheitsanspruch der „New Economic History“ verfechten Historiker wie Sidney Pollard und Eric Hobsbawm das Konzept einer für die sozio-politischen Be-

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dingungen wie Folgen ökonomischen Handelns offenen Wirtschaftsgeschichte, dies nicht nur theoretisch, sondern auch vor allem forschungspraktisch. Beide haben zu den hier angeschnittenen Problemen grundlegende Arbeiten veröffentlicht: S. Pollard, Economic History — A Science of Society? Past & Present 30. 1965, 3 ff.; ders., The Devel­ opment of the British Economy, 1914—1967, London 19692; bes. ders., Laissez-faire and Shipbuilding, Economic History Reviey (= EHR) 2. Ser. 5. 1952/53, 98 ff.; E. Hobsbawm, From Social History to the History of Society, Daedalus 100. 1971, 20 fT., dt. in: H.-U. Wchler Hg., Geschichte u. Soziologie, Köln 1972, 331 ff.; ders., Industrie u. Empire, Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750, 2 Bde, Frankfurt 1969. 3 K. Marx, Das Kapital, I, Vorwort, Marx-Engels Werke, Bd. 23, 12: „Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies ist der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoreti­ schen Entwicklung dient . . . Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder ent­ wickelten nur das Bild der eignen Zukunft.'1 4 In Übereinstimmung mit der neueren Forschung zur Wachstumsproblematik der englischen Wirtschaft seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wird hier nicht isoliert der Zeitraum der sog. „Großen Depression“ von 1873 bis 1896 als die entscheidende krisenhafte Trendperiode angesehen, wahrend welcher der „relative decline“ der engli­ schen Wirtschaft gegenüber Deutschland und den USA manifest wurde und sich durch­ setzte, sondern der Gesamtzeitraum von 1873 bis 1914. Dies ist das Fazit, das sich bereits aus der Kontroverse zwischen E. H. Phelps-Brown und S. J . Handfìeld-Jones einerseits und D. H. C oppock andererseits um das Einsetzen der kritischen Phase („climacteric“) des relativen Niedergangs der englischen Wirtschaft vor 1914 ziehen läßt, denn die Positionen beider Parteien finden ihren gemeinsamen Nenner schließlich in einer Auffassung, welche den Zeitraum von 1873 bis 1914 als eine einheitlich krisen­ hafte Trendperiode degressiven Wirtschaftswachstums nimmt: E. H. Phelps-Brown u. S. J . Handfìeld-Jones, The C limacteric of the l89Oies: A Study of the Expanding Economy, Oxford Economic Papers 4. 1952; D. H. C oppock, The C limacteric of the l89Oies: A C ritical Note, Manchester School 24. 1956. Neueste Zusammenfassungen des Forschungsstands zur Wachstums- und Krisenproblematik der englischen Wirt­ schaft zwischen 1873 und 1914 bei: S. B. Saul, The Myth of the Great Depression 1873—1896, London 1969; die entscheidenden Nachweise seiner Thesen liefert Saul in: Studies in British Overseas Trade 1870—1914, Liverpool 19672, Kap. V: Trends and Fluctuations, 90 ff.; D. H. Aldcroft u. H. W. Richardson, The British Economy 1870 to 1939, London 1969, 3 ff., 23 ff., bes. 101 ff.; Beide Arbeiten enthalten ausführliche kritische Literaturübersichten; unbefriedigend ist D. H. Aldcroft u. P. Fearon Hg., British Economic Fluctuations 1780—1939, London 1972. — Die Periodisierung 1873 bis 1914 scheint mit vermehrter Berechtigung zu gelten, wenn man, wie dies hier ge­ schieht, über die reine Wachstumsproblematik hinaus von umfassenderen Fragestel­ lungen ausgeht, wie sie durch das Modell des Org. Kap. nahegelegt werden: der ent­ scheidende krisenhafte Konzentrationsprozeß in der englischen Wirtschaft setzte erst mit dem „Joint stock and combination boom of the late nineties“ (J. H. C lapham) zwischen 1897 und 1900 ein (s. hierzu o. 60). Wenn dieser „boom“ auch keine ge­ samtwirtschaftliche Durchschlagskraft entfaltete, so stellte er doch endgültig die Wei­ chen für die Sonderrolle Englands beim Übergang zum Org. Kap. Aus der unüberseh­ baren allgemeinen Literatur zum Problem des „relative decline“ der englischen Wirt­ schaft vor 1914 seien hier hervorgehoben: Hobsbawm, Industrie, I, 129 ff., 136 ff., bes. II, 7 ff.; J . Saville Hg., Studies in the British Economy 1870—1914, Sonderheft, Yorkshire Bulletin of Economic and Social Research 17. 1965; A. L. Levine, Industrial Retardation in Britain. 1880—1914, N. Y. 1967; W. Ashworth, The Late Victorian Economy, Economica 33. 1965. 5 Ein interessantes Indiz für diesen Sachverhalt liefern die begriffsgeschichtlichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Hinweise, die sich aus einem Vergleich der verschiedenen Auflagen von J . A. Hobsons vielgelesenen zeitgenössischen Klassiker: The Evolution of Modern C apitalism, A Study of Machine Production (London 1894, London 19062, 19173, 19264), ergeben. Als zentrales Moment der Hobsonschen Einschätzung der „Entwicklung“ des zeitgenös­ sischen Kapitalismus, den er durchaus als „large capitalism“ auf der Basis einer „econ­ omy of large scale production“ charakterisiert, erscheint seine Feststellung gegenläu­ figer Tendenzen. Den Konzentrations- und Zentralisationsprozessen auf der einen Seite entspreche auf der anderen Seite das Beharrungsvermögen kleiner Betriebe — „the survival of small fîrms of business in highly skilled trades“ (19062, 139) und — wie er annimmt — ein Rentierungsoptimum der Betriebsgrößen, welche das Überschreiten bestimmter Grenzen durch den Konzentrationsprozeß verbiete: „while a larger number of processes and industries are conscantly brought under the Operation of the concentrative forces which make for large business units, there is no reason to regard the economy of large scale production as unlimited in any branch of production or transport“ (ebd., 137). Die Gesamttendenz der Entwicklung des Kapitalismus unmittelbar vor 1914 schätzte Hobson folgendermaßen ein: „Even in the most advanced industrial countries a large proportion of the businesses . . . remain in small size; the most highly developed industries in England and the United States still retain large quantities of homeworkers or other little business units. In most departments of industry, even when great capitalist enterprise is prominent, great quantities of little simple businesses sur­ vive. The small peasant, working his plot of land with the labour of his own family, and living on the produce, still continues to exist in large numbers in most highly ad­ vanced nations: most of the world's food supply is still produced by these little in­ dependent farmers. Though large and expensively equipped factories have absorbed certain important branches of manufacture, and are constantly extending the reign of machinery over new fields of production, a very large proportion of the manufacturing arts still remains in small businesses, even in those textile and metal trades, where large capitalism has established itself most strongly.“ (The Industrial System, London 19102, 4 f.). Bemerkenswerterweise änderte sich Hobsons Beurteilung dieser Verhält­ nisse bis zur letzten Auflage von „The Evolution“ (19264) dahingehend, daß in einem neuen Zusatzkapitel die Zentralisierungs- und Konzentrationstendenzen als das „cen­ tral law of the evolution of capitalism“ (ebd., 440) herausgestellt wurden. 5a R. Hilferding, Das Finanzkapital (19011), Frankfurt 1968, 438. 6 Beste Gesamtdarstellung nach wie vor: E. Halévy, The Rule of Democracy 1905 to 1914, London 19704 (1934); zur Rolle der entscheidenden Reformergruppe in die­ sem Prozeß s. jetzt: H. V. Emy, Liberais, Radicals and Social Politics 1892—1914, Cambridge 1973; die wichtigste neuere Literatur: M. Bruce, The C oming of the Wei­ fare State, London 19724; ders. Hg., The Rise of the Weifare State, English Social Policy 1601 —1971, London 1973 (Quellensammlung); B. B. Gilbert, The Evolution of National Insurance in Great Britain: The Origins of the Weifare State, London 1966; J . Harris, Unemployment and Politics, A Study in English Social Policy 1886—1914, Oxford 1972; interessante vergleichende Perspektive bei A. Briggs, The Weifare State in Historical Perspective, Archives Européennes de Sociologie 2. 1961, 221 ff.; wichtig zum historischen Kontext: P. F. C larke, Lancashire and the New Liberalism, Cambridge 1971; D. A. Hamer, Liberal Politics in the Age of Gladstone and Rose­ berry: A Study in Leadership and Policy, London 1972; P. Rowland, The Last Liberal Governments, 2. Bde, London 1968, 1971; A. J . A. Morris, Radicalism against War 1906—1914, The Advocacy of Peace and Retrenchment, London 1972; K. O. Morgan, The Age of Lloyd George: The Liberal Party and British Politics 1890—1929, Lon­ don 1971. 7 Die zahlreichen Untersuchungen zu diesem Problemkreis enthalten zwar meist eine Fülle von Material, zeigen jedoch häufig zugleich erhebliche Mängel in der systemati­ schen Auswertung und Gewichtung ihrer Ergebnisse. Als auffällig erscheint das leb© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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hafte Interesse deutscher Sozial Wissenschaftler vor und nach 1914 für die Organisa­ tion- und Konzentrationsprobleme der englischen Industrie. Beste neuere Zusammen­ fassung, interessant vor allem wegen des expliziten Vergleichs mit der amerikanischen Entwicklung: P. L. Payne, The Emergence of the Large Scale C ompany in Great Britain 1870—1914, EHR 20. 1967,' 519 ff.; Pionierarbeit: H. Levy, Monopole, Kartelle u. Trusts in der Geschichte u. Gegenwart der englischen Industrie, Jena 19272; H. W. Macrosty, The Trust Movement in British Industry, London 1907, dt.: Das Trustwesen in der englischen Industrie, Berlin 1910; unter Mit­ arbeit von J . A. Hobson und S. Webb entstand der regierungsamtliche Bericht des Ministry of Reconstruction: Report of the C ommittee on Trusts, C d. 9236, London 1919 (19242); P. Eitzgerald, Industrial C ombination in England, London 1927; J . H. Clapham, An Economic History of Modern Britain, III, C ambridge 1938, Kap. IV: Limited Liability, Joint Stock Amalgarnation and C o-operation, 202—287; J . B. Jef­ freys, Trends in Business Organisation in Great Britain since 1856, Ph. D. London University 1938; R. Hilferding, Trusts u. Kartelle in England, Die Gesellschaft 1. 1924, 296 ff., vgl. auch u. Anm. 57. Wichtig zu besonderen Aspekten: C . W. v. Wieser, Der finanzielle Aufbau der englischen Industrie, Jena 1919, 1 ff., 25 ff., 58 ff., 87 ff.; Th. Vogelstein, Organisationsformen der Eisen- u. Textilindustrie in England u. Amerika, Leipzig 1910; ders., Die finanzielle Organisation der kapitalistischen Indu­ strie u. die Monopolbildungen, Tübingen 1914. 8 Vgl. das auf genauer Kenntnis der englischen Verhältnisse fundierte Urteil bei Wieser, 1. 9 Hierzu materialreich C lapham, 202 ff., vor allem aber die ausgezeichnete Darstel­ lung bei Wieser, 87 ff. 10 Wieser, 87. 11 Ebd., 92, mit interessanten Belegstellen. 12 Eine bisher nicht überholte statistische Pionierarbeit zu diesem von der englischen Forschung vernachlässigten Aspekt lieferte G. v. Brodnitz, Betriebskonzentration u. Kleinbetrieb in der englischen Industrie, Jahrbücher für Nationalökonomie u. Statistik III. F., 35. 1908, 173 ff.; 37. 1909, 51 ff. u. 145 ff.; relevantes Material findet sich auch bei W. Hasbach, Zur C harakteristik der englischen Industrie, Schmollers Jahrbuch 26. 1902, 455 ff. u. 1015 ff.; 27. 1903, 349 ff.; vgl. auch das auf sorgfältiger Beobachtung und quantitativen Studien beruhende Urteil Bernsteins 1899: „Die ,Werkstatt der Welt' ist . . . noch bei weitem nicht in dem Grade, wie man meint, der Großindustrie verfallen. Die gewerblichen Betriebe zeigen vielmehr auch im britischen Reiche die größte Mannigfaltigkeit und keine Größenklasse verschwindet aus der Stufenleiter. Nach England übersiedelte deutsche Arbeiter haben mir wiederholt ihr Erstaunen über die Zersplitterung der Betriebe ausgedrückt, der sie in der Holz-, Metall- usw. Verar­ beitungsindustrie dieses Landes begegneten. Die heutigen Zahlen der Baumwollindu­ strie zeigen nur eine mäßige Zunahme der Konzentration seit der Zeit, wo Karl Marx schrieb.“ (Die Voraussetzungen des Sozialismus u. die Aufgaben der Sozialdemokratie, Hannover 1964 fl899 1 ], 95). 13 Brodnitz, 179 ff.; für 1896 stützt B. sich auf die Erhebungen Bernsteins, die auf einer Auswertung des „Annual Report of the C hief Inspector of Factories and Work­ shops“ (für 1896) beruhen: die „Reports“ differenzieren ohne Berücksichtigung der je­ weiligen Betriebsgröße, je nach der Anwendung von Maschinenkraft oder nicht, zwi­ schen „Fabriken“ (factories) und „Werkstätten“ (Workshops): „Die vier Millionen dem Fabrikgesetz unterstellten Arbeiter verteilen sich zusammen auf 160 948 Fabriken und Werkstätten, was einen Durchschnitt von 27 bis 28 Arbeitern pro Betrieb ergibt. Teilen wir Fabriken und Werkstätten, so erhalten wir 76 279 Fabriken mit 3 743 418, und 81 669 Werkstätten mit 655 565 Arbeitern, im Durchschnitt 49 Arbeiter pro Fabrik und 8 Arbeiter pro r istrierter Werkstätte. Schon die Durchschnittszahl 49 Arbeiter pro Fabrik zeigt an, w . ⅝ die genauere Prüfung der Tabellen des Berichts bestätigt, daß © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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mindestens zwei Drittel der als Fabriken registrierten Betriebe zur Kategorie der Mit­ telbetriebe von 6—50 Arbeitern gehören, so daß höchstens 20 000 bis 25 000 Betriebe von 50 Arbeitern und darüber übrig bleiben, die zusammen gegen 3 Millionen Arbeiter vertreten werden.“ (Bernstein, zit. bei Brodnitz, 180). Für 1901 (Erhebungen für Fabriken) bzw. 1904 (Erhebungen für Werkstätten) faßt Brodnitz seine Auswertung der „Reports“ folgendermaßen zusammen: 107 918 Fabriken mit 4 141547 Arbeitern, also 38,4 Arbeiter pro Fabrik, 88 371 Werkstätten mit 655 912 Arbeitern, also 6,5 Ar­ beiter pro Werkstätte, zusammen demnach 196 289 Betriebe mit 4 797 459 Arbeitern, also 24,4 Arbeiter pro Betrieb. Für die Fabriken allein ergibt sich folgende Aufschlüsselung (1901): Tcxtilfabrìkcn Arbeiter 821 267 137 948 70 138 1 029 353

Anzahl 10 376 1 781 972 13 129

England und Wales Schottland Irland Großbritannien

Durchschnitt 79,2 77,4 72,9 78,4

Andere Fabriken Anzahl 79 182 10 207 5 400 94 789

England und Wales Schottland Irland Großbritannien

Arbeiter 2 573 185 414 642 124 367 3 112 194

Durchschnitt 32,5 40,6 23,0 32,8

Arbeiter 3 394 452 552 590 194 505 4 141 547

Durchschnitt 38,1 46,3 30,5 38,4

Zusammen England und Wales Schottland Irland

Anzahl 89 558 11 988 6 372

Großbritannien

107 918

Zahlen aus Brodnitz, 180.

Brodnitz, 180. Zur Situation des Handwerks vgl. Brodnitz, 37. 1909, 57 ff. 16 Brodnitz definiert (36. 1908, 188 f.) diese in der Textilindustrie und der Klein­ eisenindustrie weitverbreitete Unternehmensform folgendermaßen: „Die Tenement Fac­ tory ist ein Fabrikgebäude, in dem Räumlichkeiten mit motorischer Kraft oder auch eingerichtete Kleinfabriken — also Räume mit den erforderlichen Maschinen und der nötigen Kraft — an kleinere Unternehmer abgegeben werden. Das System wird als ,machine renting' bezeichnet. Es ermöglichte natürlich auch Fabrikbetriebe kleineren und kleinsten Umfangs und es wird neuerdings sogar darüber geklagt, daß dieser Weg, Arbeiter selbständig zu machen, von Spekulanten übermäßig ausgenutzt wird.“ 17 Hierzu Brodnitz, 37. 1909, 78 ff. 18 Vgl. hierzu die abschließende Zusammenfassung bei Brodnitz, 178 ff. 19 Payne, 524, 526, 534, 536 ff. 20 Zur Aktienrechtsgesetzgebung der Mitte des 19. Jahrhunderts C lapham, 200 ff. 21 Payne, 520. 22 Ebd., 520. 14

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H a n s Medick 23 24 25 26

C l a p h a m , 204 ff., P a y n e , 520. L e v y , 260 ff.; P a y n e , 528 ff. L e v y , 234 f.; P a y n e , 528. P a y n e , 527 ff.

27 Wieser, 89 ff.; s. insbes. die Darstellung des Musterbeispiels der „English Sewing Cotton C ompany“, ebd., 97 ff. 28 So Macrosty, XI. 29 So der Leitartikel „The C ombination Movement in England“ (The Engineer 23. 5. 1899, 817 f.): „while manufacturers were for the most part willing to combine, they found, when it came to arranging the details, that the interests to be considered were so conflicting and irreconcilable, the prices asked for second-rate businesses so outrageous, and the difficulties altogether so numerous and serious, as to preclude all changes of success. It required the advent of some Napoleon in Organisation (Hervor­ hebung von mir, H. M.) to adjust all the antagonistic influences; and in spite of the maxim about the hour and the man, this prodigy failed to turn up in time.“ 30 Hierzu Levy, 201 ff.; Wieser, 12 ff. 31 S. die Statistik bei Payne, 539 f. 32 Hierzu C arter, The Tendency Towards Industrial C ombination, London 1913, bes. 3, 82 ff. und die interessante Zusammenfassung 134 f.; zu den Einzelheiten der Unternehmensverflechtung J . T. W. Newbold, How Europe Armed for War (1871 to 1914), London 1916, 32 ff., 64 ff. 33 C arter, 134. 34 E. Kehr, Die Rüstungsindustrie, in: ders., Der Primat der Innenpolitik. Hg. H.-U. Wehler, Berlin 19702, 193. 35 Vgl. die statistischen Angaben bei Payne, 539 f. 36 Kehr, 189. 37 Als Index zur Darstellung der englischen Verhältnisse dient im folgenden die Statistik der berufstätigen männlichen Bevölkerung (in Tausend) nach den Angaben bei B. R. Mitchell u. Ph. Deane, Abstract of British Historical Statistics, C ambridge 19712, 60: 1871 1881 1891 1901 1911 1921 öffentliche Verwaltung (lokale und Zentralverwaltung) 106 109 146 191 271 383 124 114 134 176 221 250 Streitkräfte 204 254 287 348 413 415 Freie Berufe (einschl. künstler. Berufe) Persönliche Dienstleistungsgewerbe (Hausangestellte, Gaststätten- und Hotelgewerbe) 230 238 293 341 456 371 Handel, Banken einschl. Büroangestelltc 212 352 449 597 739 904 („Commercial Occupations“) Transport (Eisenbahn, Schiffahrt usw.) 654 870 1 104 1 409 1571 1 530 Land- und Fortswirtschaft 1634 1 517 1 422 1 339 1 436 1 344 53 51 53 51 58 47 Fischerei 517 604 751 931 1202 1240 Berg- und Hüttenwesen 869 977 1 151 1 485 1 795 2 125 Metallverarbeitende Industrie 712 875 899 1 216 1 140 894 Baugewerbe Holz und Möbel 186 185 206 267 287 511 97 111 119 152 145 100 Keramik, Steine, Zement Chemie (aber einschließlich Seifen, öle, 61 72 89 116 155 93 die einen großen Anteil ausmachten) 68 73 80 87 90 72 Leder, Felle usw. 94 134 178 212 253 193 Druck und Papier

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Organisierter Kapitalismus in Großbritannien 1873—1914

Textil Bekleidung Nahrungs- und Genußmittel Gas- und Elektrizitätsversorgung Übrige Berufe Gesamtzahl der Beschäftigten

1891

1901

81

1871

1881

1911

1921

584 399 448 18 917 8 182

554 593 557 409 639 379 409 423 432 315 494 597 701 806 228 24 38 62 86 851 1 009 887 741 2 130 8 844 10010 11 548 12 930 13 670

Hierzu auch C lapham, 121 ff. Hierzu S. B. Saul, The Motor Industry in Britain to 1914, Business History 5. 1962. 40 Hobsbawm, II, 15 ff.; C lapham, 121 ff. 41 Die Anregung zu dieser im folgenden vorgenommenen Typisierung verdanke ich Diskussionen mit Eric Hobsbawm, Tim Mason und Sidney Pollard. Interessante Versu­ che, die Binnenstruktur des zeitgenössischen englischen Kapitalismus als die einer Rentier­ ökonomie zu charakterisieren finden sich bei J . A. Hobson, Der Imperialismus, Hg. H. C. Schröder, Köln 1968, bes. 67 ff., u. bei G. v. Schulze-Gaevernitz, Britischer Imperia­ lismus u. englischer Freihandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, München 19152, 306 ff. Lenin baut in seinen entsprechenden Beobachtungen (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus [1917], Werke, I, Berlin 19644, 847 ff.) stark auf Hobson und Schulze-Gaevernitz auf. 42 Vgl. hierzu C . Feinstein, British Home and Foreign Investment, 1870—1913, Cambridge 1960; M. Barrat Brown, After Imperialism, London 19702, 84 ff.; A. H. Imlah, Economic Elements in the Pax Britannica, C ambridge/Mass. 19692, 176. 43 H. Levy, Die englische Wirtschaft, Berlin 1922, 68; vgl. auch die präzisen Beob­ achtungen Wiesers an der Textilindustrie von Lancashire unmittelbar vor 1914, ders., Aufbau, 393 ff. und die allgemeinen Äußerungen ebd., 16 u. bes. 55 ff. 44 Levy, Wirtschaft, 48 ff.; Saul, Studies, 32. 45 Vgl. hierzu die Einleitung von McC loskey, in: ders. Hg., Essays, 1 ff. und die Zusammenfassung der „assumptions“ der Schule durch Hughes, ebd., 389 (vgl. auch Anm. 1). 46 S. Aldcroft u. Richardson, 67 ff., bes. 72 ff. 47 Eine Arbeit, welche den Versuch von J . R. Meyer (An Input-Output Approach to Evaluating the Influence of Exports on British Industrial Production in the Late Nineteenth C entury, Explorations in Entrepreneurial History 8. 1955, 12 ff.) für die Zeit unmittelbar vor und nach 1914 fortsetzte, fehlt jedenfalls bisher. 48 M. B. Brown, 85. 49 Vgl. hierzu Wieser, Aufbau, 314 ff. 50 Vgl. hierzu Hilferding, Finanzkapital, 411, vgl. u. Anm. 93. 51 Hobsbawm, II, 28. 52 Gute Zusammenfassung der Probleme bei Hobsbawm, I, 136 ff. 53 Hierzu grundlegend Saul, Studies, bes. 43 ff. u. 208 ff.; ders., The Export Eco­ nomy 1870—1914, Yorkshire Bulletin of Economic and Social Research 17. 1965, 5 ff.; wichtig A. J . Brown, Britain in the World Economy 1870—1914, ebd., 46 ff.; W. M. Scammel, The Working of the Gold Standard, ebd., 32 ff.; Aldcroft u. Richardson, 62 ff. 54 Hierzu für die Außenhandelspolitik D. C . M. Platt, Finance, Trade and Politics in British Foreign Policy 1815—1914, Oxford 1968. 55 Hilferding, Finanzkapital, Kap. 21: Die Wandlungen der Handelspolitik, 406 ff. 56 Ebd., 412. 57 Ebd., 438, vgl. ders., Trusts, 296 f. Diese primär deskriptive, Problemen der Nachweltkriegszeit gewidmete Arbeit hält im übrigen nicht, was der Titel verspricht. 38

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6 Winkler, Kapitalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

Hans Medick

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Zum Zusammenhang von Freihandel und Rückständigkeit im Sinn des Organi­ sierten Kapitalismus s. Levy, Monopole, 154 fT.; 270 ff. 59 Hierzu A. G. Kenwood u. A. L. Lougheed, The Growth of the International Economy 1820—1960, London 1971, 105 ff. 60 Saul, Studies, 17 ff., 43 ff., 208 ff., bes. 41, 43 f., 60 ff. 61 Saul, Export Economy, 5 ff.; ders., Studies, 17 ff. 62 Hierzu H. Feis, Europe, The World's Banker 1870—1914, New York 19652, 83 ff. 63 Saul, Studies, 64. 64 Hierzu die statistischen Angaben bei Imlah, 72 ff. (beste Aufschlüsselung der Zah­ lungs- und Handelsbilanz); W. Schlote, Entwicklung u. Strukturwandel des englischen Außenhandels, Jena 1938. Vgl. auch die nützlichen statistischen Überblicke bei M. B. Brown, 75, 108 ff. Abgesehen von den Fragestellungen des Aufsatzes ist die wirt­ schaftsgeschichtliche Literatur bis 1968 gut aufgearbeitet bei W. J . Mommsen, Natio­ nale u. ökonomische Faktoren im britischen Imperialismus vor 1914, Historische Zeit­ schrift 206. 1968, 618 ff., bes. 629 ff. 65 Saul, Studies, 17 ff.; Aldcroft u. Richardson, 67 ff.; Hobsbawm, I, 149 ff. 66 Saul, Studies, 218 ff. 67 Hobsbawm, I, 149 f. 68 Hierzu M. B. Brown, 94 f. u. die statistischen Angaben ebd., 112; Saul, Studies, 220. 69 M. B. Brown, 111. 70 Hierzu wichtig Saul, Studies, 188; Kenwood u. Lougheed, 111; M. B. Brown, 85; Hobsbawm, I, 151 ff. 71 Hobsbawm, I, 149 f.; Saul, Studies, 188 ff. 72 Dies ist eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie von Saul, Studies, 208 ff. 73 Hierzu gut D. C . M. Platt, Economic Factors in British Policy During the „New Imperialism“, Past & Present 39. 1968, 129 ff.; ders., Finance, 262 ff. 74 Ders., Finance, 308 ff.; enttäuschend ders., Economic Imperialism and the Busi­ nessman: Britain and Latin America before 1914, in: R. Owen u. B. Sutcliffe Hg., Studies in the Theory of Imperialism, London 1973, 295 ff. 75 Saul, Studies, 208 ff., bes. 217 f. 76 Hierzu wichtig: Saul, The Economic Significance of „C onstructive Imperialism“, Journal of Economic History 17. 1957, 173 ff.; ferner B. Semmel, Imperialism and Social Reform, English Social Imperial Thought 1895—1914, London 1960, 93 ff., 140 ff. 77 Zu den Interessengruppen hinter dem „C onstructive Imperialism“ s. M. B. Brown, 104 ff.; Semmel, 146 ff. 78 Saul, Studies, 228. 79 Hierzu ausgezeichnet, wenn auch in anderer Perspektive als der hier dargestell­ ten, die Studie von Semmel, 53 ff., 128 ff., 141 ff. 80 W. C hurchill, nach: B. Webb, Our Partnership, London 1948, 219; vgl. auch Hobson, Imperialismus, 71, der davon spricht, daß der „zunehmende Kosmopolitismus des Kapitals das bedeutendste neue Phänomen auf ökonomischem Gebiet in der letzten Generation“ sei. 81 Hierzu Semmel, 63, 136 ff. 82 Zur Interessenbasis des „Liberal Imperialism“ s. M. B. Brown, 106; Semmel, 146 ff. 83 Hierzu und zum folgenden die statistischen Angaben bei Imlah, 72 ff. 84 Die defizitäre Handelsbilanz war keine Eigentümlichkeit der Jahre nach 1873, neu war lediglich die starke Ausweitung des Defizits, das im Zeitraum von 1873 bis 1914 zwischen Werten von 60,3 Mio £ (1873) und 182,3 Mio £ (1903) schwankte, wo­ bei sich die mittleren Werte um 100 Mio £ bewegten, während sie in den fünfzig Jah­ ren vor 1873 unter 40 Mio £ lagen; s. Imlah, 71 ff. 58

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Organisierter Kapitalismus in Großbritannien 1873—1914

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Ebd. M. B. Brown, 65 f., 97; s. auch Imlah, 42 fT., u. A. K. C airncross, Home and Foreign Investment, 1870—1913, C ambridge 1953. 87 S. hierzu Pollard, British Economy, 19. 88 Aldcroft u. Richardson, 85. 89 Zu Mackinders Biographie s. Semmel, 166 ff. 90 H. Mackinder, The Great Trade Routes, Journal of the Institute of Bankers, Mai 1902, 271. 91 Eine bisher nicht überholte Studie, die — unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs verfaßt — eine Fülle von empirischen Beobachtungen mit einer systemati­ schen Perspektive aus dem Blickwinkel des deutschen Organisierten Kapitalismus ver­ bindet, ist Wieser. Prägnante, gute Zusammenfassung mit vergleichender Perspek­ tive: D. S. Landes, The Unbound Prometheus, C ambridge 1969 u. ö. (dt. Köln 1973), 333, 348 ff.; E. Jaffé, Das englische, amerikanische u. französische Bankwesen, in: Grundriß der Sozialökonomik V/II, Tübingen 1915; ders., Das englische Bankwesen, Leipzig 19102; informationsreich, doch im Ergebnis nicht überzeugend ist C h. Kindle­ berger, Economic Growth in France and Britain, 1851 —1950, C ambridge/Mass. 19672, 59 ff. 92 Hilferding, Finanzkapital, 438. 93 S. die Beobachtungen Hilferdings zum englischen Bankwesen, seinem im Ver­ gleich zu Deutschland und Amerika „viel geringeren Einfluß auf die Industrie“ und seiner deshalb vom klassischen Vorbild des „Finanzkapitals“ in diesen Ländern abwei­ chenden Rolle, ebd., 257 f. Anm. 5, 411, 412 ff. u. bes. 414 (hier eine interessante Vor­ wegnahme der Rückständigkeitsthese von Alexander Gerschenkron). 94 Vgl. C ommittee on Finance and Industry, Macmillan C ommittee Report, C md 3897, London 1931, § 397, 171. Der kritische Kernsatz des Reports: „In some respects the C ity is more highly organized to provide capital to foreign investors than to British industry.“ 95 Hierzu M. Edelstein, Rigidity and Bias in the British C apital Market 1870—1913, in: McC loskey Hg., 83 ff.; zu Edelsteins nicht durchgängig überzeugenden Thesen siehe die Einwände von Pollard und Mathias, ebd., 106 ff. 96 Landes, Prometheus. Vgl. auch die interessanten Bemerkungen J . Savilles in einer Rezension von W. W. Rostows „British Economy of the l9th C entury“ (1948), Past & Present 6. 1954, 77 ff. S. bezeichnet (77) das Problem der mangelnden Integration von Industriekapital und Bankkapital als den „essential clue in the analysis of the relative Stagnation of British industry before 1914“. 97 Wieser, Aufbau, 126 ff. 98 Ebd., u. Jaffé, Bankwesen, 197 ff. 99 Hierzu die Pionierarbeit: A. Gerschenkron, Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspektive (1952), in: R. Braun u. a. Hg., Industrielle Revolution, Köln 1972, 59 ff., hier bes. 63 ff.; vgl. auch Hilferding, Finanzkapital, 414. 100 Hierzu Wieser, 227 ff., 377 ff.; jetzt aber auch die Bemerkungen von Pollard und Mathias in der Diskussion mit Edelstein. 101 Wieser, 312. 102 Vgl. hierzu Hilferding, Finanzkapital, 258, Anm. 5, u. Wieser, 225 ff. 103 Zur Emissionspraxis im englischen Bankwesen: Wieser, 377 ff. 104 Landes, Prometheus, 350. 85

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Kapitalismus und Organisation Beobachtungen an der Industrialisierung Italiens Von VOLKER SELLIN

I. Die folgende Skizze ist aus dem Zweifel erwachsen, ob es möglich ist, eine besondere Phase des Organisierten Kapitalismus im Laufe der industriellen Entwicklung zu unterscheiden. Indem ein solcher Begriff Staatsintervention und verschiedene Formen der Konzentration in der Wirtschaft im wesentlichen einer ganz bestimmten Entwicklungsstufe vorbehält, setzt er zugleich eine Pe­ riode eines „nicht-organisierten“ Kapitalismus voraus, in der diese Phänomene nicht anzutreffen sind oder doch nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Mit anderen Worten: er impliziert ein Modell der industriellen Entwicklung, nach dem die ersten und keineswegs nur vorbereitenden Schritte der Industriali­ sierung unter einem Regime der vollkommenen Konkurrenz und zugleich in einem Klima der Neutralität und des Desinteresses seitens des Staates vonstat­ ten gingen. Diese Annahme läßt sich zumindest für Italien nicht bestätigen. Vielmehr legt schon ein flüchtiger Blick auf die industrielle Geschichte dieses Landes die Vermutung nahe, daß es dort niemals einen anderen als einen „organisierten“ Kapitalismus gegeben hat. Die Frage nach den „Anfängen und Voraussetzun­ gen des Organisierten Kapitalismus“ würde insofern mit der Frage nach den Anfängen und Voraussetzungen der industriellen Entwicklung zusammenfal­ len. Damit würde der Begriff „Organisierter Kapitalismus“ — falls die im fol­ genden zu schildernde Entwicklung auch in anderen Ländern nachweisbar sein sollte — austauschbar mit Begriffen wie „kapitalistisches Wirtschaftssystem“ oder „westliche Industriegesellschaft“. Es erscheint mir zweifelhaft, ob die Frage nach deren Voraussetzungen und Besonderheiten in verschiedenen Län­ dern auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung mehr bezeichnen kann als ein Basisinteresse, welches konkreten Forschungsbemühungen als Motivation dienen könnte, zumal der Begriff eines „Organisierten Kapitalismus“ so global ist, daß er schlechterdings jede Art der Staatsintervention, jeden Zusammen­ schluß wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Interessen und jede Unternehmens­ konzentration einschließt. Methodisch ergibt sich überdies die Schwierigkeit, daß jedenfalls für Italien weite Bereiche innerhalb dieses Rahmens noch kaum erforscht sind, ganz abgesehen davon, daß schon bei der Erarbeitung adäquater

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Kapitalismus und Organisation in Italien

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Fragestellungen für das Verständnis der Funktionsweisen des kapitalistischen Systems erhebliche Probleme auftreten dürften. Der Versuch, übernational eine bestimmte Periode in der Geschichte des Ka­ pitalismus herauszugreifen, wird weiterhin erschwert durch den unterschied­ lichen Stand der industriellen Entwicklung in den verschiedenen Ländern. Der Vergleich analoger Phasen zu verschiedenen Zeiten löst das Dilemma nicht, da die einzelnen Nationalwirtschaften sich nicht isoliert voneinander entwickel­ ten, was sich schon daran zeigt, daß sie gemeinsam die Schwankungen der inter­ nationalen Konjunktur erlitten und daß z. B. Handelsbeschränkungen, die Welle des Zollprotektionismus und schließlich der Erste Weltkrieg notwendig jeweils mehrere, wenn nicht alle Industrieländer gleichzeitig tangierten. Um die relative Rückständigkeit der italienischen Entwicklung wenigstens anzudeuten, möchte ich mich des von Rostow und anderen gebrauchten Kon­ zepts des „take-off“ bedienen, womit in der industriellen Entwicklung eines Landes derjenige Augenblick bezeichnet wird, in dem die Investitionsrate von ca. 5 % auf 10—12 % und mehr hochschnellt, um eine Periode kontinuierlicher Expansion einzuleiten. Rostow setzt diesen Zeitpunkt für England bekanntlich in das Jahr 1783, für Frankreich in das Jahr 1830 und für Deutschland in das Jahr 18501. Für Italien wird der „take-off“, den man auch als den Augenblick des Durchbruchs der industriellen Revolution in einem Lande bezeichnet hat, in das Jahr 1896 verlegt2. Die Verteilung des privaten Bruttosozialprodukts veranschaulicht die spate Entwicklung Italiens von einer anderen Seite: im Jah­ re 1861, als das Königreich Italien gegründet wurde, entfielen noch 57,8 % auf die Landwirtschaft; 20,3 % auf Handwerk und Industrie; im Jahre 1896 sank der Anteil der Landwirtschaft auf 49,3 %; Handwerk und Industrie gingen auf 19,4 % zurück; im Jahre 1914 betrugen die Anteile 43,0 % bzw. 25,0 %3. Wenn man sich nun anschickt, die realen Mechanismen auszumachen, nach denen die Volkswirtschaften der Industrieländer sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entwickelten, so darf meines Erachtens nicht die unvoll­ kommene Wirksamkeit von Adam Smiths „unsichtbarer Hand“ zum Ausgangs­ punkt der Überlegungen gemacht werden. Gerade wenn die Publizistik und ein großer Teil der Wissenschaft der Zeit vorgaben, in einer Wirtschaftsordnung nach seiner Theorie zu leben, müßte dies zum Anlaß genommen werden, nicht nur die damalige Wirklichkeit, sondern auch die Möglichkeit einer solchen Ord­ nung zu jedem Zeitpunkt auf ihre Voraussetzungen hin zu befragen. Ein erster Schritt auf diesem Wege könnte beispielsweise darin bestehen, bestimmte Ele­ mente, die in einem Modell der gegenwärtigen — vom Laissez-Faire-Modell ohne Zweifel erheblich abweichenden — westeuropäischen Wirtschaftsverfas­ sung einen wichtigen Platz einnehmen, historisch zurückzuverfolgen und Zeit und Grund ihrer Entstehung festzustellen. Ein weiterer Schritt wäre die Über­ legung, auf welche Weise die industrielle Entwicklung der verschiedenen Länder in Wirklichkeit vonstatten ging und welche Rolle dem Staat und anderen In­ stitutionen hierbei zufiel. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Volker Seilin

Ich deute an, zu welchen Ergebnissen der erste der vorgeschlagenen Schritte in Italien führen müßte. Ich glaube, daß sich in der Tat zeigen würde, daß eine ganze Reihe von Phänomenen, die für die hier diskutierte Konzep­ tion eines Organisierten Kapitalismus in Anspruch genommen werden, bereits in den frühesten Phasen der modernen wirtschaftlichen Entwicklung Italiens auftreten: Ich denke dabei an Interessenvertretungen privaten wie halboffiziel­ len C harakters in Form von Vereinen und Verbänden, Handelskammern und Beiräten in Ministerien. Streng genommen wäre in diesem Zusammenhang ein sehr breiter Bereich des Vereins- und Genossenschaftswesens des 19. Jahrhun­ derts miteinzubeziehen, denn nichts spräche dagegen, Sparkassen, Volksbanken, Landwirtschaftskassen, aber auch Konsum- und Produktivgenossenschaften so­ wie Arbeiterhilfskassen als Formen der Organisation des Kapitalismus zu ana­ lysieren. In diesen Institutionen suchte das wirtschaftende Individuum durch Assoziation Zwecke zu realisieren, die es, auf sich allein gestellt, nicht glaubte erreichen zu können; es suchte sich gegen Risiken abzusichern, es suchte Preis­ vorteile und Rationalisierungen durchzusetzen — nicht anders als auf einer rei­ feren Stufe der kapitalistischen Entwicklung und in größerem Maßstab einzel­ ne Unternehmen nach Sicherung und Verbesserung ihrer Überlebenschancen strebten. Klassische Symbole kapitalistischer Organisation sind schließlich die Aktiengesellschaften, deren Zahl und Größe in der Wirtschaftsgeschichte ge­ radezu als Gradmesser der kapitalistischen Entwicklung betrachtet zu werden pflegen. Das Auftreten all dieser Institutionen und ihre Ausbreitung vom Be­ ginn der Industrialisierung an sprechen dafür, daß Kapitalismus und Organisa­ tion ihrem Wesen nach zusammengehören. Im April 1851 sah C avour sich genötigt, im piemontesischen Parlament eine Denkschrift der Wollfabrikanten zurückzuweisen, in der die Beibehaltung der Einfuhrzölle gefordert wurde. Die Durchführung einer Befragung der Indu­ striellen vor der Zollreform lehnte C avour mit der Begründung ab, damit gäbe man den betroffenen Klassen nur das Mittel an die Hand, „sich zu konstituie­ ren, sich zu organisieren, auch außerhalb der Wirtschaft, nämlich in den politi­ schen Parteien, Verbündete zu suchen, und auf diesem Wege zuletzt eine macht­ volle Opposition gegen die Zollreform zu bilden“4. In den siebziger Jahren ge­ lang es dem Wollfabrikanten Rossi aus Schio, einige branchenspezifische indu­ strielle Verbände auf nationaler Ebene zu gründen, wobei sein erklärtes Ziel darin bestand, gegenüber dem Übergewicht der agrarischen und kommerziellen Interessen die Ansprüche des weithin noch zukünftigen industriellen Italiens zur Geltung zu bringen5. Die Verbandsbildung als Form der Propaganda und Pression ist somit durchaus kein Indiz für einen bestimmten Reifegrad der öko­ nomischen Entwicklung, sondern erweist sich viel eher als eine natürliche Be­ gleiterscheinung der liberalen Rechts- und Verfassungsordnung. Die Handelskammern, die bereits in die napoleonische Zeit zurückreichen, spiegelten besonders in den Anfangsjahren des geeinten Italiens so sehr die reale wirtschaftliche Interessenverteilung des Landes, daß sich die industriellen Stimmen auch dort nur schwer Gehör verschaffen konnten6. Gleichwohl nah© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

Kapitalismus und Organisation in Italien

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men diese Institutionen noch in den sechziger Jahren eine lebhafte Entwicklung: seit 1867 fanden in ein- bis zweijährigen Abständen gesamtitalienische Kon­ gresse der Kammern statt, auf denen die Probleme der darin vertretenen Grup­ pen erörtert wurden7. Doch nicht nur Interessenvertretungen sind von Anfang an nachweisbar: am Beispiel der C onsigli amministrativi läßt sich zeigen, daß auch die für den so­ genannten Organisierten Kapitalismus reklamierte Kooperation von Privat­ wirtschaft und Bürokratie bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des italieni­ schen Staates vielfältig institutionalisiert wurde und wichtige Leistungen voll­ brachte. Während derartige Beiräte in einigen Ministerien zum Teil schon sehr früh geschaffen wurden — der C onsiglio superiore dei lavori pubblici z. B. bereits im Jahre 1816 in Piemont —, entstanden die für den wirtschaftlichen Bereich in erster Linie zuständigen Gremien 1868 mit dem C onsiglio superiore di agricoltura und 1869 mit dem C onsiglio superiore di industria e commercio, beide beim Ministerium für Agricoltura, industria e commercio8. Waren diese Einrichtungen einerseits Ausdruck dafür, daß die staatliche Bürokratie im Zei­ chen der wachsenden Komplizierung und Ausdehnung ihrer Aufgaben nicht auf den Fachverstand von Persönlichkeiten aus den entsprechenden gesellschaft­ lichen Bereichen und aus den Universitäten verzichten konnte, so boten sie den Repräsentanten der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen andererseits die Möglichkeit, die Entscheidungsbildung der Regierung in ihrem Sinne zu beein­ flussen. In Gestalt dieser Institutionen bildete sich somit „zwischen Exekutive und vorherrschenden Interessen des Landes ein einzigartiges Verbindungsglied, das neben den verfassungsmäßigen Strukturen in der Stille wirkte“9. Wenn ich versuche, den zweiten der vorhin von mir vorgeschlagenen Schritte etwas näher auszuführen, so ist zunächst zu fragen, ob nicht schon das bloße Konzept eines Organisierten Kapitalismus im Rahmen einer Stufentheorie die Gefahr impliziert, daß das Problem, wie es überhaupt zur Entwicklung des industriellen Kapitalismus in einem Lande gekommen ist, ganz aus dem Blick rückt. Letzten Endes gerät man daher unfreiwillig in den Bann derjenigen li­ beralen Ideologen des 19. Jahrhunderts, die glauben machen wollten, der Ka­ pitalismus habe in allen industrialisierten Ländern zunächst mehr oder weniger ohne staatliche Hilfestellung funktioniert, während das Ziel doch gerade sein sollte, diese These auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Daher müßte meines Erachtens mit Hilfe des Instrumentariums moderner Entwicklungstheo­ rien für jedes Land, das den Prozeß der Industrialisierung durchlief, unter­ sucht werden, welches denn in Wirklichkeit die Faktoren waren, dank derer eine industrielle Entwicklung überhaupt stattfinden konnte. Für Italien hat Rosario Romeo diese Aufgabe bereits 1958 in seinem Aufsatz über „Problemi dello sviluppo capitalistico in Italia dal 1861 al 1887“ durchgeführt10. Er weist dort nach, daß es im wesentlichen die Fiskal- und Ausgabenpolitik des neu­ geschaffenen italienischen Staates war, die zwischen 1860 und 1880 die für die ökonomische Entwicklung unabdingbare Kapitalakkumulation im Agrarsektor und ihre Umsetzung für den Ausbau der Infrastruktur ermöglicht hat. Dies ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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schah zu einer Zeit, als der Staat von jeglicher direkten Intervention zugunsten einzelner Industriezweige sowie vom Übergang zu einschneidenden Formen des Protektionismus noch weit entfernt war. Meines Erachtens fällt diese, die kapi­ talistische Entwicklung allererst bedingende Form der Organisation des Kapita­ lismus aus dem hier hypothetisch vorgeschlagenen Konzept vollkommen her­ aus. Der Beitrag des Staates für die industrielle Entwicklung erschöpfte sich also selbst im Zeitalter der Vorherrschaft des liberalen Doktrinarismus offenbar nicht in der Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen zur Freisetzung einer wirtschaftenden Gesellschaft. Daß sogar schon in den sechziger und siebziger Jahren, d. h. im allerfrühesten Stadium der kapitalistischen Entwicklung, Konzeptionen formuliert und realisiert wurden, in denen der Staat nicht nur faktisch, sondern ganz bewußt in den Dienst des ökonomischen Fortschritts gestellt wurde, lehrt die Finanzpolitik Quintino Sellas, zwischen 1862 und 1873 mehrmals Finanzminister der Rechten. Sella förderte den raschen Ausbau der Infrastruktur, den Bau von Eisenbahnen, Straßen, Häfen usw., um private Investitionen und damit größere unternehmerische Dynamik anzuregen. Zu­ gleich strebte er mit Energie die Abtragung der seit den Einigungskriegen über­ mäßig angewachsenen öffentlichen Schuld an, da bei Staatsanleihen das Ver­ hältnis zwischen Ausgabekurs und Zinsen inzwischen so günstig gestaltet wer­ den mußte, daß verfügbares Kapital von den risikoreicheren Anlagen in Indu­ strie und Landwirtschaft abgezogen wurde. Im Ausgleich des Staatshaushalts, der nur durch eine im zeitgenössischen Vergleich ungewöhnlich hohe Steuer­ lastquote erreicht werden konnte, erblickte Sella unter diesen Umständen eben­ falls eine entscheidende Vorbedingung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes11. Sellas Position ist auch noch in einer anderen Hinsicht bemerkenswert. Be­ kanntlich war er der Initiator des 1875 verabschiedeten Gesetzes über die Ein­ richtung von Postsparkassen. Betrachtet man die Motive, die ihn dabei be­ stimmten, so fällt der stark sozialpädagogische, in Traditionen des 18. Jahr­ hunderts zurückweisende Zug auf, mit dem hier auch die untersten Volksklas­ sen dazu aufgerufen wurden, sich im eigenen wie im allgemeinen Interesse an der „Beförderung des Fortschritts“ zu beteiligen, die der Staat sich zum Ziel ge­ setzt hatte. Die pädagogische, auf Anpassung an die kapitalistische Wirtschafts­ ordnung gerichtete Intention wurde in den folgenden Jahren das Grundmotiv der liberalen italienischen Sozialgesetzgebung. Sella repräsentiert daher in mehr­ facher Hinsicht die Bemühungen des italienischen Staates, in einem sehr frühen Stadium die industrielle Entwicklung des Landes voranzutreiben. Überblickt man nun die bisher mit Bezug auf die Frühphase der italienischen Industrialisierungsgeschichte getroffenen Feststellungen, so ergibt sich, daß das Konzept des Organisierten Kapitalismus vor allem unter zwei Gesichtspunkten überdacht werden muß. Erstens wäre zu prüfen, ob die Entstehung von Orga­ nisationen privater oder halboffizieller Natur, mit deren Hilfe ganz verschie­ denartige wirtschaftliche Kräfte ihre Interessen gegenüber dem Staate oder mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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seiner Hilfe durchzusetzen versuchten, nicht ein Kennzeichen der liberalen Rechts- und Verfassungsordnung überhaupt ist. Daß diese Phänomene sich im Laufe der Industrialisierung ausdehnten und vervielfältigten, rechtfertigt es wohl kaum, von einem bestimmten Zeitpunkt an ein besonderes Stadium der Entwicklung anzusetzen. Zweitens wäre zu überlegen, ob der Staat nicht in einer ganzen Reihe von Ländern von Anfang an eine so ausschlaggebende Rolle bei der Industrialisierung spielte, daß eine Beschränkung der Betrachtung auf spezifische Formen des Zusammenwirkens von Staat und Privatwirtschaft die wirkliche Dimension dieses Verhältnisses notwendig verzerrte. Es spricht sehr vieles dafür, daß die Industrialisierung Italiens, das zum Zeitpunkt seiner poli­ tischen Einigung, als England, Frankreich und Deutschland industriell bereits weit fortgeschritten waren, noch ein unterentwickeltes Land war, überhaupt nur mit Hilfe des Staates durchgeführt werden konnte. Im folgenden möchte ich zeigen, daß der Staat in der Tat auch im weiteren Verlauf eine strategische Rolle bei der industriellen Entwicklung Italiens spielte. Dazu trat besonders seit 1894 das Bankensystem, das ich ebenfalls als eine In­ stanz betrachte, die in das Konkurrenzmodell der klassischen Theorie nicht hineinpaßt. Es ist ein in der Literatur oft beklagtes Kennzeichen für die Rückständigkeit der italienischen Industrie, daß der Ausbau des Eisenbahnnetzes zwischen 1860 und 1880 von ihr nicht als Antriebsfaktor genutzt werden konnte. Statt dessen wurden Schienen, Lokomotiven und Wagen zum größten Teil aus dem Ausland importiert. Diese Tatsache genügt bereits als Hinweis darauf, welcher C harak­ ter den bekannten Maßnahmen der achtziger Jahre zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie, des Schiffbaus und der Reedereiwirtschaft sowie dem vieldisku­ tierten Schutzzoll des Jahres 1887 in Wirklichkeit zukam. Man kann durchaus feststellen, daß die Absicht bestand, Industrien begründen zu helfen, die es bis­ her noch nicht oder nur in bescheidenen Ausmaßen gab, und nicht das Motiv, eine etwa bereits florierende Industrie zu schützen. Dabei waren sich die Betei­ ligten durchaus darüber im klaren, daß diese Maßnahmen nicht mit dem Mill­ schen Argument, daß der Schutz von „infant industries“ lediglich dazu diene, ein Nachzüglerland auf die gleiche Stufe zu heben wie die bereits industriali­ sierten Länder, gerechtfertigt werden konnten. Da Italien keine Kohlevorkom­ men besaß, mußte es den zur Roheisengewinnung notwendigen Koks einfüh­ ren; es hatte daher unter Konkurrenzbedingungen keine Aussicht, den Stahl jemals zu gleichen Kosten herzustellen wie andere Länder12. Bereits 1884 war auf Initiative des Marineministers und unter Beteiligung der wichtigsten Banken für Anlagekredite das Stahlwerk in Terni gegründet worden. Zusammen mit dem Gesetz von 1885 über die Schiffbauprämien und Dampfersubventionen entstand damals ein Komplex von Beziehungen, in dem militärpolitische Motive sich mit industriellen Interessen zum Aufbau einer italienischen Schwerindustrie verbanden. Werften, die italienischen Stahl ver­ arbeiteten, wurden Prämien zugesagt, und ebenso sollten diejenigen Reeder subventioniert werden, die italienische Schiffe in Dienst stellten. Vor allem aber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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garantierte der Staat Werften wie Stahlwerken durch umfangreiche Aufträge für die Kriegsmarine den Absatz13. Der im Jahre 1887 eingeführte Schutzzoll schließlich sollte den Aufbau einer Stahlindustrie auf der Basis des heimischen Erzes und importierten Kokses ermöglichen, zumal die Produktion von Stahl aus Eisenschrott, wie sie in dem erst jüngst gegründeten Terni durchgeführt wurde, weder für qualitativ ausreichend noch für längerfristig vorteilhaft un­ ter Kostengesichtspunkten angesehen wurde, da das in jenen Jahren infolge der Erneuerung des Eisenbahnschienennetzes in Europa günstige Angebot an Eisenschrotten nicht von Dauer sein konnte14. Der initiierende C harakter dieser staatlichen Maßnahmen erhellt allein schon aus der Tatsache, daß mit der Aufnahme der Produktion in Terni die italieni­ sche Stahlerzeugung von 4000 Tonnen im Jahre 1885 auf 23 000 Tonnen im Jahre 1886 und auf 158 000 Tonnen im Jahre 1889 anstieg15. Ihre Fortsetzung erfuhr die staatliche Förderung dann rund 15 Jahre später in der praktisch entschädigungslosen Konzession von Abbaurechten für das elbanische Eisen­ erz, so daß von da an in Piombino, Portoferraio und Bagnoli große Stahlwerke entstehen konnten, die den gesamten Produktionsgang vom Erz zum Walzstahl in sich vereinigten. Demzufolge stieg die Produktion von Roheisen zwischen 1895 und 1913 von 8000 auf 427 000 Tonnen und die Stahlproduktion von 60 000 auf 933 000 Tonnen an. Die größten Unternehmen waren von Anfang an eng miteinander verflochten, und die Tendenzen zur Konzentration und Kooperation verstärkten sich noch nach der Krise von 1907, vor allem auf der finanziellen und kommerziellen Ebene, während die produktionstechnische Zu­ sammenfassung und Rationalisierung weithin unterblieb16. Den oben zitierten Gedanken aufgreifend, hat Mirella C alzavarini in einem Aufsatz über den Schutzzoll von 1887 darauf hingewiesen, daß angesichts des damaligen Stands der industriellen Entwicklung und angesichts der Tatsache, daß der Eisenbahnbau weitgehend abgeschlossen war, außer dieser staatlichen Nachfrage für militärische Zwecke keine ausreichende Nachfrage bestanden hätte, die die Entwicklung einer Stahlindustrie oder sonst einer Großindustrie hätte vorantreiben können. Die Nachfrage nach Kriegsmaterial sei somit an die Stelle der Nachfrage für die Eisenbahnen getreten, nachdem diese „klassi­ sche“ Gelegenheit zur Entwicklung einer Schwerindustrie nicht habe genutzt werden können17. Mit dieser Bemerkung soll natürlich die bekannte Kritik von Alexander Ger­ schenkron widerlegt werden, der es als einen Fehler bezeichnet hatte, in Italien die Entstehung einer Stahlindustrie zu fördern und gleichzeitig die den italieni­ schen Gegebenheiten angeblich besser angemessene mechanische und chemische Industrie weitgehend sich selbst zu überlassen bzw. durch den Schutz anderer Zweige sogar mittelbar zu behindern1“. Der Streit um dieses Problem beleuch­ tet wiederum das Gewicht der politischen Intervention zugunsten der Schwer­ industrie; damit relativiert er zugleich die Gültigkeit von Theorien, die ein hohes Maß von ökonomischer Determiniertheit implizieren. Ich vermute näm­ lich, daß es für eine Theorie der kapitalistischen Entwicklung, in der Organi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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sationsformen und Staatstätigkeit einen hervorragenden Platz einnehmen sol­ len, nicht nur auf die Handlungen bestimmter Instanzen als solche ankommt, sondern ganz wesentlich darauf, ob und in welchem Grade deren Wirken auch funktional war für die kapitalistische Entwicklung oder Stabilität. Nach dem Bild, das die bisherige Forschung vermittelt, fehlte es trotz der beschriebenen massiven Interventionen an längerfristigen Konzeptionen einer Industrialisie­ rungspolitik. Wenn Franco Bonelli in seiner Monographie über die Krise von 1907 die Rolle von Regierung und Banca d'Italia bei der Überwindung der Krise unterstreicht und hervorhebt, daß die Stützung der kurz vor dem Zu­ sammenbruch stehenden Società bancaria italiana eine Erschütterung des ge­ samten Bankwesens und damit eine ernste Gefährdung der italienischen Indu­ strie als ganzer verhindert habe, so folgt daraus zwar negativ, daß der Staat offenbar bereit stand, die industrielle Entwicklung vor schweren Rückschlägen zu bewahren; es folgt aber nicht zugleich, daß er diese Entwicklung auch zu fördern oder zu steuern beanspruchte10. Die widersprüchliche Linie der staat­ lichen Finanzpolitik — bezogen auf die Bedürfnisse der Industrie — wird ge­ rade in den Jahren offenbar, die auf die Krise folgten. Während die Banken nun ohnehin zu restriktiver Kreditpolitik neigten, kam die Regierung dieser Tendenz durch die vermehrte Auflage von Staatsanleihen, die von den Banken bereitwillig gezeichnet wurden, ausgerechnet in diesem Augenblick noch ent­ gegen und trug dadurch ihren Teil dazu bei, daß die Kreditsituation bis zum Ersten Weltkrieg äußerst angespannt blieb20. Andererseits erwies sie sich ge­ genüber den zunehmenden Pressionen der Stahlindustrie als zugänglich und unterstützte die unter Federführung der Banca d'Italia in den folgenden Jah­ ren ausgehandelte Schuldenregelung für diesen Sektor21. Es wäre besonders lohnend, das Zusammenwirken von Staat und Privat­ industrie auch auf regionaler und kommunaler Ebene genauer zu verfolgen. Für Turin und Piemont hat Valerio C astronovo vor wenigen Jahren eine bemer­ kenswerte Untersuchung veröffentlicht, die in mehrfacher Hinsicht die bisheri­ gen Ausführungen bestätigt22. Wie C astronovo nachweist, gaben die Zollre­ form von 1887 und der anschließende Zollkrieg mit Frankreich im Verein mit der Agrarkrise und dem Zusammenbruch der wichtigsten Kreditinstitute der gesamten Wirtschaftsregion eine ganz neue Orientierung: Während die Seiden­ industrie stagnierte und gleichzeitig die englischen und französischen Absatz­ gebiete und der französische Kapitalmarkt an Bedeutung verloren, beschleu­ nigte sich dank des Zollschutzes die Entwicklung der Woll- und besonders der Baumwollindustrie, wobei sich der Schwerpunkt der Kapital- und Handels­ beziehungen nach Mitteleuropa verschob23. Diese Veränderung der Wirtschafts­ struktur Piemonts, die zu einem erheblichen Teil als Auswirkung politischer Entscheidungen angesehen werden muß, hatte einschneidende Konsequenzen für die weitere industrielle Entwicklung der Region. Denn wie C astronovo zeigt, wurde die Baumwollindustrie seit den neunziger Jahren dort zum Leit­ sektor für eine ganze Reihe anderer Industrien, vor allem für die Elektrotech­ nik, die mechanische Industrie, die chemische Industrie usw.; sie wurde aber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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auch zum Stimulans für die Erneuerung des Bankwesens in Piemont24. Als Mitglieder des Turiner Gemeinderats wirkten Vertreter dieser Industrien dabei mit, den Ausbau der Infrastruktur (Nahverkehr, elektrische Energie, Gas- und Wasserversorgung, Berufsschulen, Arbeiterwohnungen) im kommunalen Bereich voranzutreiben; zum Teil hatten sich Textilunternehmer schon in den achtziger Jahren an der Gründung von Verkehrs- und Elektrizitätsgesellschaften betei­ ligt25. Auf diese Weise schufen sie wesentliche Voraussetzungen für die weitere industrielle Expansion. Stellt man diese Politik der Turiner Industriellen nun noch in den Zusammenhang der lokalen Parteienkonstellation, und berücksich­ tigt man insbesondere die Perspektiven einer Kooperation mit dem reformisti­ schen Flügel der Sozialisten, so wird vollends deutlich, wie irreal die Vorstellung vom staatsfernen und auf sich selbst gestellten Unternehmer in der Frühphase der Industrialisierung ist26. Die industrielle Entwicklung erweist sich in diesem Beispiel von Anfang an als ein Interaktionsprozeß von unternehmerischem Handeln, politischer Initiative und gesetzgeberischen und bürokratischen Maß­ nahmen, um nur einige der augenfälligeren Komponenten zu nennen. Die Wandlungen solcher Interaktionszusammenhänge und die Veränderung be­ stimmter Organisationsformen innerhalb derselben könnten zum Gegenstand einer politischen Geschichte des Industriekapitalismus gemacht werden. Erst auf dem gesicherten Fundament einer solchen Geschichte läßt sich meines Erachtens die These Rudolf Hilferdings vom „Übergang von dem Kapitalismus der freien Konkurrenz zum organisierten Kapitalismus“ sinnvoll diskutieren27. Was bezüglich der Zweckmäßigkeit von Interventionen für die Entwicklung des Kapitalismus gesagt wurde, gilt natürlich analog auch für die Entstehung von Großunternehmen. Größe allein ist, wie Schumpeter unterstreicht, nicht schon als solche eine Garantie dafür, daß die Vorteile, die sie gewähren kann, auch tatsächlich ausgenützt werden28. Konzentrationsbewegungen brauchen daher nicht mit technischen Verbesserungen und organisatorischen Rationalisie­ rungen verbunden zu sein. Als sich in der schwierigen Situation der Jahre zwi­ schen 1907 und 1914, die zum Teil die Folge überproportionaler Kapazitäts­ ausweitung vor 1907 war, die Tendenz zur Bildung von Kartellen, und zwar vorwiegend in denjenigen Zweigen, die durch Zölle begünstigt waren, verstärk­ te — so in der schon zuvor stark verflochtenen Stahlindustrie, in der Baum­ wollindustrie und in der Zuckerindustrie —, geißelte Luigi Einaudi diese Be­ strebungen, sich trotz Absatzschwierigkeiten möglichst die volle Ausschöpfung der durch den Zollschutz garantierten Höchstpreise zu sichern29. Im übrigen bleibt es trotz der Arbeiten Bonellis und anderer weiterhin ein Desiderat der Forschung zu untersuchen, in welcher Weise und in welchem Maße die im Vergleich zum Stand der Entwicklung offenbar sehr frühzeitigen Konzentrationstendenzen durch das Bankensystem gefördert wurden. Den Grundpfeiler der Industriefinanzierung stellten damals die sogenannten Istituti di credito ordinario dar, also die großen Universalbanken deutschen Typs, die nach der Krise von 1888—1893 in Italien mit vorwiegend deutschem Kapital eingeführt worden waren, allen voran die Banca commerciale und der C redito © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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italiano. Das Neue an diesen, wie man sagte, „gemischten“ Banken gegenüber den älteren Banken Italiens lag darin, daß sie gleichzeitig kurzfristige Betriebs­ kredite und langfristige Anlagekredite gewährten, wobei auch die letzteren aus den Einlagen der Depositanten finanziert wurden. Diese Methode bedeu­ tete einen radikalen Bruch mit dem bisherigen System, nach dem langfristige Industriekredite nur von speziellen Anlagebanken (wie der Banca generale und dem C redito mobiliare) gewährt werden konnten, wobei diese sich die Mittel auf dem Kapitalmarkt durch Ausgabe von Obligationen beschafft hatten. Die entscheidende Tatsache, die der neuen Konstruktion zugrunde lag und sie zugleich rechtfertigte, liegt in der Kapitalknappheit, verbunden mit einer nur gering entwickelten Neigung von Kapitalbesitzern, ihre Vermögen unmit­ telbar in Industrieunternehmen anzulegen. Mangels eigener Mittel wurden die Unternehmen daher überwiegend über diese Banken finanziert. Dank der Her­ anziehung auch der Depositen war es ihnen möglich, in besonders hohem Maße die knappen Kapitalreserven des Landes auszuschöpfen. Insofern bildeten sie ein erstrangiges und unter den gegebenen Bedingungen wohl auch das einzig mögliche Instrument der Konzentration von Ersparnissen und der Kreditschöp­ fung zum Zwecke der industriellen Investition in großem Maßstab. Das hatte andererseits zur Folge, daß die Industrie von diesen Banken in hohem Maße abhängig war. Die Finanzierung auch langfristiger Investitionen wurde unter Umständen den kurzfristigen Gesichtspunkten des Bankgeschäfts unterworfen: während die Banken in Zeiten der Hochkonjunktur durch großzügige Kredit­ gewährung zu weitgehenden Kapazitätsausweitungen ermutigten, verschärften sie mit der umgekehrten Politik in Krisenzeiten die Situation ihrer Kunden; eben dies war der Fall nach 190730. Es steht außer Zweifel, daß die Banken, allen voran die Banca commerciale und der C redito italiano, im Bereich der Industriefinanzierung eine Monopolstellung innehatten, zumal auch die Plazie­ rung von Aktien nur über diese Banken möglich war. Sie konnten sich ihre Kunden aussuchen und die Bedingungen diktieren. Über Beteiligungen, Vertre­ ter in den Aufsichtsräten usw. kontrollierten sie bald ganze Industriezweige; dabei garantierten sie deren Solidität und sorgten für ihr Wachstum: „Die Bank hat immer mehr die Rolle des Fundaments für das industrielle Unter­ nehmen angenommen; das Bankenkapital . . . erhebt sich zum Motor und zugleich zum Beherrscher der Industrie“, urteilte ein Zeitgenosse31. Ein be­ zeichnendes Beispiel ist die „Schaffung“ der italienischen Elektrizitätsindustrie durch die Banca commerciale mit Hilfe der Società Edison und der Società per lo sviluppo delle aziende elettriche in Italia32. Auch wenn die Einzelheiten noch kaum erforscht sind, so liegt es auf der Hand, daß eine solche Position weniger Banken der Anbahnung von Absprachen und Verflechtungen minde­ stens zwischen den von derselben Bank finanzierten Unternehmen förderlich sein mußte. So kam zum Beispiel die Errichtung des Ilva-Trusts im Jahre 1911, in dem sich fünf Stahlerzeuger, welche die italienische Roheisenproduktion zu 100 % und die Stahlerzeugung zu 58 % auf sich vereinigten, zusammenschlös­ sen, unter Beteiligung gleich beider großen Geschäftsbanken zustande33. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Man wird kaum fehlgehen, wenn man die italienische Entwicklung als Be­ stätigung für Alexander Gerschenkrons Vermutung wertet, daß die Bank ein Instrument der Industrialisierung sei, das sich besonders für ein rückständiges Land eigne34. Nach dem Gesagten ist deutlich, daß damit für Italien auch die frühzeitige Konzentration und Kontrolle der Industrie durch die Banken in der beschriebenen Form zugleich als eine Bedingung für die Industrialisierung er­ kannt ist. Auch von dieser Seite wird daher die eingangs ausgesprochene An­ nahme bestätigt, daß Konzentrationserscheinungen größerer Dimension nicht erst auf einer fortgeschrittenen Stufe der industriellen Entwicklung auftreten. Zusammenfassend läßt sich für die Epoche zwischen 1861 und 1914 mit Be­ zug auf die Fragestellung festhalten: Obwohl Italien im Jahre 1861 noch ein unterentwickeltes Land ohne einen nationalen Markt war, und obwohl es erst ab 1896 — also rund 50 Jahre nach Deutschland — seine „industrielle Revolution“ erlebte, war die wirtschaftliche Entwicklung, die das Land in dieser Zeit durchlief, von Anfang an nicht das Werk auf sich allein gestellter Unternehmer und Kapitalgeber. Während die Wirksamkeit privater wirtschaftlicher Assoziationen schon für das Piemont Cavours nachweisbar ist, spielte bei der Schaffung der Infrastrukturen zwi­ schen 1860 und 1880 der Staat die ausschlaggebende Rolle. Die Interventio­ nen der achtziger Jahre sind ein Ausdruck dafür, daß jedenfalls eine Schwer­ industrie ohne die umfangreiche staatliche Nachfrage, ohne Subventions- und Zollpolitik, nicht hätte entstehen können. Die Rolle und das Gewicht der Groß­ banken seit den neunziger Jahren offenbart die fundamentale Bedeutung, wel­ che die Konzentration von Kapital und die Kontrolle ganzer Industriezweige durch die Kreditinstitute für den „take-off“ besaßen. Schließlich waren wie­ derum Regierung und Banca d'Italia im Jahre 1907 zur Stelle, um eine schwe­ re Krise von dem industriellen Apparat abzuwenden. Diese Beobachtungen zwingen zu der Überlegung, ob man nicht darauf ver­ zichten sollte, ein Stadium eines schulgerechten und ursprünglichen Kapitalis­ mus der vollkommenen Konkurrenz zu hypostasieren und Organisationstenden­ zen aller Art als Merkmale einer prinzipiellen Transformation oder gar De­ formation anzusehen. Stattdessen wäre auch an Hand der Entwicklung in an­ deren Ländern zu untersuchen, ob Organisation und Konzentration in den verschiedensten Formen nicht von Anfang an als Kennzeichen des industriellen Kapitalismus zu gelten haben. Die Strukturen kapitalistischer Organisation und insbesondere das Geflecht der Beziehungen zwischen Staatsbürokratie und Privatwirtschaft im Ersten Weltkrieg sind für Italien noch wenig erforscht. Daher ist es schwierig, gegen­ wärtig befriedigende Aussagen darüber zu machen. Auf die wirtschaftlichen Belastungen des Ersten Weltkriegs war Italien völ­ lig unvorbereitet, und so lag es nahe, daß die Organisation der Kriegswirt­ schaft mehr das Ergebnis schrittweise entwickelter Improvisation als die Frucht vorausschauender Planung war. Das bedeutet jedoch zugleich, daß die italie­ nische Kriegswirtschaft nicht als Bewährungsprobe eines schon vor dem Kriege © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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in irgendeinem Sinne fertigen Systems eines Organisierten Kapitalismus an­ gesehen werden kann. Natürlich war der Krieg eine Probe auf die Leistungs­ fähigkeit der italienischen Industrie — oder wenn man will, des italienischen Kapitalismus — und damit auch eine Probe auf jede Form der Organisation oder besser Organisationsfähigkeit in Rohstoffversorgung, Produktion, Ver­ teilung, Kreditwesen usw. unter außergewöhnlichen Bedingungen. Da von eini­ gen wichtigen Aspekten kapitalistischer Organisation jedoch gezeigt wurde, daß sie in Italien vom Anfang der industriellen Entwicklung an als deren we­ sentliche Bedingungen nachweisbar sind, könnte ein besonderes System des Organisierten Kapitalismus, das innerhalb der kapitalistischen Entwicklung „Anfänge und Voraussetzungen“ hat, am Vorabend des Ersten Weltkriegs in der italienischen Wirklichkeit höchstens unter der Voraussetzung aufgesucht werden, daß eine Theorie eines solchen Systems vorläge, in der verschiedene Formen kapitalistischer Organisation nicht nur additiv nebeneinandergestellt, sondern in einen strukturellen Zusammenhang, in dem jeder Teil die Bedin­ gung für das Ganze ist, zueinander gebracht sind. Die Möglichkeit einer solchen Theorie kann empirisch nicht ausgeschlossen, noch weniger jedoch ohne weiteres vorausgesetzt werden. Eine sinnvolle Darstellung der Kriegswirtschaft müßte ihren Ausgangspunkt bei den Anforderungen nehmen, die der Krieg an die Volkswirtschaft stellte. Sie würde damit eine große Zahl von Institutionen und Maßnahmen berück­ sichtigen müssen, die aus den Notwendigkeiten der Ausnahmesituation heraus entstanden sind und den Krieg auch nicht wesentlich überdauert haben. Man muß sich daher grundsätzlich überlegen, ob die Kriegswirtschaft im vorliegen­ den Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt einer Typologie verschiedener Formen des Kapitalismus interessiert oder ob es darauf ankommt herauszuar­ beiten, wie sich die Veränderungen in der italienischen Industriewirtschaft, die der Weltkrieg bewirkte, längerfristig in die bereits vorhandenen Entwicklungs­ tendenzen des italienischen Kapitalismus einordnen lassen. So wichtig und lohnend die vergleichende Beschäftigung mit der Organisa­ tion der Kriegswirtschaft auch sein mag, so scheint mir doch, daß sie im Rah­ men der gestellten Aufgabe keinen Platz beanspruchen kann. Denn es geht nicht um die Frage, ob es in einer Ausnahmesituation einmal vorübergehend so etwas wie einen Organisierten Kapitalismus gegeben hat und wie dieser funktionierte, sondern um die Prüfung und gegebenenfalls Erläuterung der These, daß der Kapitalismus sich zu einem bestimmten Zeitpunkt dank be­ stimmter Voraussetzungen und mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu einem organisierten transformiert habe. Im Grunde geht es daher um die Frage, wie die Wandlungen, die der Erste Weltkrieg in der italienischen Industriewirt­ schaft unstreitig bewirkte, zu interpretieren sind: als Beginn eines neuen Sta­ diums der kapitalistischen Entwicklung oder als Verdichtung und Beschleuni­ gung von Tendenzen, die bereits seit den Anfängen im italienischen Kapitalis­ mus angelegt waren. Daher kann in jedem Fall auf die Behandlung einer gan­ zen Reihe von charakteristischen Erscheinungen der Kriegswirtschaft, die den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Krieg nicht oder nur wenig überdauerten, verzichtet werden: so übergehe ich die Organisation und — wie gesagt wurde — „Militarisierung“ der Kriegs­ wirtschaft: das Auswuchern der Bürokratie in unzählige Ämter und Gremien, insbesondere den gesamten Apparat der sogenannten „Mobilitazione indu­ striale“; die Methoden der Rohstoff- und Arbeitskräftezuteilung; die Über­ wachung und Kontrolle von Fabriken und Belegschaften; die Zwangsregelung von Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern; die Kontrolle des Außenhandels; schließlich die Rationierung wichtigster Lebens­ mittel des täglichen Bedarfs usw. Von den längerfristigen Veränderungen, die der Weltkrieg bewirkte, glaube ich, daß sie als Potenzierung der zuvor schon vorhandenen Funktionsmuster im Zusammenwirken von Staat, Banken und Großindustrie angesehen werden müssen. Der Krieg bedeutete insofern die Fortsetzung des Prozesses „beschleu­ nigter und forcierter Industrialisierung“35, welcher die italienische Entwick­ lung von Anfang an gekennzeichnet hatte. Die Betonung der Kontinuität scheint mir unter anderem auch deshalb wichtig, damit nicht der Eindruck ent­ steht, die Rolle von Staat und Banken in den Jahrzehnten vor 1914 lasse sich als bloß vorübergehende Hilfestellung interpretieren, mit dem Ziel, die Indu­ strialisierung lediglich in Gang zu setzen. Hinsichtlich aller kriegswichtigen Industrien wiederholte sich in potenzierter Form die Situation, welche die Entstehung und den Erfolg der Stahlindustrie seit den achtziger Jahren ermöglicht hatte: der Staat überhäufte die Wirtschaft mit einem ungeheuren Volumen an Aufträgen, um seinen militärischen Bedarf zu decken. Dabei war von entscheidender Bedeutung: erstens, daß diese Nach­ frage, wenn irgend möglich, im eigenen Lande, zweitens, daß sie so schnell wie möglich und drittens, daß sie ohne Rücksicht auf die Kosten befriedigt wer­ den sollte. Berühmt ist der Ausspruch des Generals Alfredo Dallolio, Organi­ sator der Mobilitazione industriale und Minister für Armi e munizioni, daß „letzten Endes der Faktor Zeit unter allen Umständen jeder anderen Erwä­ gung übergeordnet werden müsse“36. In Übereinstimmung damit steht ein Dekret vom 4. August 1914, das die Vorschriften für die Rechnungslegung in der Staatsbürokratie und die Kontrolle des Rechnungshofs suspendierte. Da­ zu kommt, daß der Staat auf erteilte Aufträge großzügig Vorschüsse gewährte und für neue Fabriken und Anlagen vorteilhafte Abschreibungssätze zuließ37. Auch die Finanzpolitik begünstigte die Investitionen, da die Unternehmen auf diese Weise die hohen Steuern auf Kriegsgewinne zu umgehen suchten. Das Verbot für Aktiengesellschaften, mehr als 8 % — bzw. 10 % bei Gesellschaften, die erst nach Ausbruch des Krieges entstanden waren — an Dividenden auszu­ schütten, wirkte sich ähnlich aus38. Die Folge war eine beispiellose Expansion, vor allem in der Eisen- und Stahl-, in der Munitions- und in der mechanischen Industrie; aber auch in der Woll- und Baumwollindustrie. Die Stahlproduktion stieg zwischen 1914 und 1917 von 910 848 Tonnen auf 1 331 641 Tonnen39. Der plötzliche Aufschwung in der Baumwollindustrie, die seit der Krise von 1907 in Schwierigkeiten gewesen war, läßt sich am Emporschnellen der Ein© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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fuhrziffen⅛ für Rohbaumwolle in den ersten Kriegsjahren ablesen: von 1906 Tonnen im Jahre 1914 auf 2912 Tonnen im Jahre 1915; 1916 waren es immer noch 2536 Tonnen, während die Einfuhr wegen der Behinderungen der SchirT­ fahrt von nun an wieder erheblich zurückging40. Besonders augenfällig ist die Entwicklung in verhältnismäßig jungen Sektoren, wie der Gummi-, der Auto­ mobil- und Flugzeugindustrie usw. Da ein Kriterium für die Preisbildung fehlte, waren die Gewinne außerordentlich hoch: „Die Eile, mit der produziert werden sollte, und die mangelnde Erfahrung hinsichtlich der Produktions­ daten . . . riefen neue Scharen von marginalen Produzenten auf den Plan, die mit äußerst hohen Kosten arbeiteten; und da der Preis für dieselben Lieferun­ gen notwendig einheitlich war, entstanden anormale Produzentenrenten, die im allgemeinen Sprachgebrauch sofort den Namen von Extrakriegsprofiten an­ nahmen.“41 Erst in den letzten beiden Kriegsjahren wurde eine Kommission zur Überprüfung der Lieferungsverträge eingesetzt. Die geschilderten Bedingungen begünstigten die Entstehung einiger indu­ strieller Großkomplexe durch horizontale und vertikale Konzentration in zuvor unbekannten Dimensionen42. Besonders bezeichnend ist das Beispiel Ansaldo, ein Unternehmen, dessen Belegschaft sich in der Kriegsperiode von ca. 6000 auf 56 000 erhöhte. Anfangs ein Maschinenbauunternehmen, bezog es ein Stahlwerk mit ein, um sich mit Halbzeugen zu versehen. Um für diese die Rohstoífzufuhr zu sichern, schuf es sich eine eigene Handelsflotte und betätigte sich schließlich auch im Bergbau. Ein ähnliches Wachstum erzielten die Firmen Ilva, Fiat, Terni, Breda, Franchi-Gregorini u. a.43 Allerdings war von einer solchen in künstlich überhitzter Konjunktur vorgenommenen Expansion nicht zu erwarten, daß sie immer auch das ökonomisch und technisch Zweckmäßige verwirklichte. Die Konzentrationsbewegung war zum Teil von kurzfristigen Gewinninteressen und bloß finanziellen Motiven getragen, was etwa darin zum Ausdruck kommt, daß einige der großen Unternehmen sich auch ganz heterogene Firmen angliederten, so wenn Ansaldo und Ilva z. B. große Zei­ tungen erwarben44. Es ist immer wieder beklagt worden, daß vor allem die Schwerindustrie die Kriegskonjunktur offenbar nicht ausreichend zu nutzen verstand, um dringend notwendige Rationalisierungsmaßnahmen und Verbes­ serungen der Produktionstechnik durchzuführen45. So zeigte sich nach dem Kriege, daß viele der neuen bzw. expandierten Unternehmen mit Kosten ar­ beiteten, die in Friedenszeiten nicht konkurrieren konnten. Die Serie von Zu­ sammenbrüchen, die in den Jahren 1921 und 1922 auch die beiden größten Unternehmen — Ilva und Ansaldo — traf, hatte sicher hier einen Teil ihrer Ursachen. Wie schon vor dem Kriege in der Stahlindustrie, so zeigten sich während des Krieges somit in vergrößertem Maßstab die Auswirkungen einer Situation, in welcher der Bestand einer Industrie durch Staatsaufträge gesichert war. Eine wichtige Rolle spielten wiederum die Großbanken, die ihre seit 1907 verfolgte restriktive Kreditpolitik angesichts der Kriegskonjunktur wieder aufgaben und sich in hohem Maße gegenüber der Industrie exponierten. Daß die Banken die 7 Winkler, Kapitalismus

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Konzentrationsbewegung in der Industrie unterstützten, lag nahe46. Im Ver­ lauf dieser Entwicklung gerieten die Unternehmen in noch größere Abhängig­ keit von den Kreditinstituten, zumal die durch die Kriegsgewinne begünstigten Unternehmen die Situation nicht dazu nutzten, sich größere finanzielle Unab­ hängigkeit zu erwerben. Daher versuchten seit 1918 einige der größten von ihnen, über den Ankauf der Aktien die Kontrolle über die Banken zu gewin­ nen. Die Banca italiana di sconto hatten die Brüder Perrone, Eigentümer von Ansaldo, bereits in der Hand: die weitreichenden Verpflichtungen, welche die Bank daher gegenüber Ansaldo eingegangen war, rissen sie mit in die Krise hinein, in welche die Kriegsindustrie nach dem Waffenstillstand geriet. Trotz des Rettungsversuchs von Regierung und Banca d'Italia mußte sie ihre Schal­ ter im Dezember 1921 schließen. Die Versuche der Gruppen Perrone und Agnel­ li-Gualino, die Mehrheit der Banca commerciale bzw. des C redito italiano zu erwerben, scheiterten47. Ein weiterer wichtiger Effekt, den der Krieg zur Folge hatte, und der den Industrieprotektionismus der Vorkriegszeit in gewissem Sinne fortsetzte und ausdehnte, war der Ausschluß der zuvor dominierenden deutschen Konkurrenz auf bestimmten Sektoren, so daß Italien gezwungen war bzw. die Gelegenheit erhielt, die entsprechenden Erzeugnisse selbst herzustellen. Auf diese Weise erfuhren vor allem der Werkzeugmaschinenbau, die elektrotechnische Industrie und die chemische Industrie durch den Krieg mächtige Impulse48. Schließlich ist an die Anstrengungen zu erinnern, für bestimmte, durch den Krieg verknappte Güter Ersatzgüter zu erzeugen. So führte die ca. 4Ofache Verteuerung der englischen Kohle zu bedeutenden Fortschritten in der Gewin­ nung von elektrischer Energie aus Wasserkraft. Zugleich nahm die Errichtung von Elektrohochöfen zu: während 1914 2300 Tonnen Roheisen in Elektroofen erzeugt wurden, waren es 1918 bereits 61 900 Tonnen49. Wenn ich diese Punkte in der Absicht anführte, die Kontinuität bestimmter Funktionsmuster im Zusammenwirken von Staat, Banken und Privatindustrie zu verdeutlichen, so kann dies nach dem Gesagten nicht so verstanden werden, als ob die Ausweitung der Produktionskapazitäten auch nach dem Kriege in vollem Umfang Bestand gehabt hätte. Wie bereits angedeutet, waren die Jahre bis 1922/23 von schweren Krisen erfüllt, in deren Verlauf die Industrieproduk­ tion erheblich zurückging. Die Bemühungen der Regierung, durch den Zolltarif des Jahres 1921 und durch Maßnahmen wie die erwähnten Stützungsversuche zugunsten der Banca italiana di sconto den Übergang zur Friedenswirtschaft zu erleichtern, hatten nur begrenzten Erfolg. Festzuhalten ist jedoch, daß im Rah­ men derartiger Bemühungen damals der Grundstein für eine Entwicklung ge­ legt wurde, die nach der Weltwirtschaftskrise zur Einrichtung des Istituto per la ricostruzione industriale (IRI) und zur Neuordnung des Bankensystems im Jahre 1936 führen sollte: die Übernahme der Bankenbeteiligungen an Aktien­ gesellschaften machten den Staat zum Miteigentümer von Unternehmen, die insgesamt 44,15 % des italienischen Aktienkapitals repräsentierten; über Gesell­ schaften, die 17,80 % des gesamten Aktienkapitals ausmachten, erwarb er die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

Kapitalismus und Organisation in Italien

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Kontrolle. Wie Rosario Romeo unterstreicht, lagen diese Beteiligungen ganz überwiegend in denjenigen Sektoren, die sich in der Vergangenheit am meisten dank der Unterstützung durch den Staat bzw. die Banken entwickelt hatten und die auf diese Weise und im Durchgang durch die verschiedenen Krisen seit 1907 und in der Kriegsperiode in jedem Fall in besonderem Maße von der All­ gemeinheit mitgetragen worden waren 50 . Den Banken des C redito ordinario wurde nunmehr die Gewährung von Anlagekrediten untersagt. Die Industrie wurde auf spezielle Finanzierungsinstitute, auf die unmittelbare Inanspruch­ nahme des Kapitalmarkts und auf die Finanzierung aus Eigenmitteln verwie­ sen. Die Epoche, in der die italienische Industrie dank der Unterstützung des Bankensystems ihren Durchbruch erzielte, war damit auch institutionell abge­ schlossen. Auch wenn diese Entwicklung zu den historisch folgenreichsten Ergebnissen des Ersten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit für den italieni­ schen Kapitalismus zu rechnen ist, so wurde sie doch keineswegs allein durch ihn herbeigeführt, und sie ist auch durchaus nicht das einzige Phänomen, das unter dem Gesichtspunkt eines wie immer definierten „Organisierten Kapita­ lismus“ interessieren könnte. Aus beiden Gründen stellt sich der Weltkrieg le­ diglich als eine Etappe in einer langfristigen Entwicklung dar. Es gibt daher keine Notwendigkeit in der Sache, die Betrachtung an dieser Stelle abzubre­ chen. Solange das ungefüge Konzept eines „Organisierten Kapitalismus“ nicht aufgegliedert und präzisiert wird, sehe ich indes nicht, wie man es vermeiden könnte, aus der Frage nach seinen Anfängen und Voraussetzungen in die Ge­ schichte des Kapitalismus als solche abzugleiten. Doch das wäre ein uferloses Thema.

Anmerkungen W. W. Rostow, The Stages of Economic Growth, C ambridge 1960, 37 f. C onsensi, dissensi, ipotesi in un dibattito Gerschenkron—Romeo, in: A. C aracciolo Hg., La formazione dell'Italia industriale, Discussioni e ricerche di Romeo, Gerschen­ kron, Dal Pane, C afagna, Eckaus, Tosi, Bari 1963, 83, 86 ff. 3 R. Romeo, Breve storia della grande industria in Italia 1861 —1961, Bologna 19724, Appendice, tav. 4. 4 C . Benso di C avour, Discorsi parlamentari, III, Florenz 1933, 232. 5 L. Avagliano, Alessandro Rossi e le origini dell'Italia industriale, Neapel 1970, 156 ff., 160 f., 166 f., 296, 299 f., 359. 6 G. Are, 11 problema dello sviluppo industriale nell'età della Destra, Pisa 1965, 206 f. 7 A. C aracciolo, Stato e società civile. Problemi dell'unificazione italiana, Turin 1960, 81 f. 8 Ebd., 88 ff. 9 Ebd., 92. 10 Jetzt in: R. Romeo, Risorgimento e capitalismo, Bari 19632, 93—203, unter dem Titel: Lo sviluppo del capitalismo in Italia dal 1861 al 1887. 11 G. Are, 11 problema dello sviluppo economico dell'Italia nel pensiero e nell'opera di Quintino Sella, Annali Feltrinelli 5. 1962, 514 ff. 1

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12 M. C alzavarini, II protezionismo industriale e la tariffa doganale del 1887, C lio 1. 1966, 56 ff. Vgl. auch E. Guaita, Alle origini del capitalismo industriale italiano: la nascita della „Terni“, Studi storici 11. 1970, 303. 14 C alzavarini, Protezionismo, 58. 13 Romeo, Storia, 53 ff. 15 Romeo, Storia, 54. 16 Ebd., 77 ff. 17 C alzavarini, Protezionismo, 65 f. 18 A. Gerschenkron, Notes on the Rate of Industrial Growth in Italy, 1881—1913, in: ders., Economic Backwardness in Historical Perspective, C ambridge/Mass. 1962, 81 ff. 19 F. Bonelli, La crisi del 1907, Turin 1971, 8 ff. 20 F. Bonelli, Osservazioni e dati sul finanziamento dell'industria italiana alPinizio del secolo XX, Annali della Fondazione Luigi Einaudi 2. 1968, 267 ff. 21 L'Economista (di Firenze), 7. 4. 1912, 216. 22 V. C astronovo, Economia e società in Piemonte dall'unità al 1914, Mailand 1969. 23 Ebd., 115, 122, 125 f., 132 ff., 138, 144 ff. 24 Ebd., 131, 137, 147 ff., 154 ff., 160 f. 25 Ebd., 182 ff., 156 f. 26 Ebd., 181 ff. 27 R. Hilferding, Probleme der Zeit, Die Gesellschaft 1. 1924, 2. 28 J . A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus u. Demokratie, München 19723, 166. 29 L. Einaudi, Dazi doganali e sindacati fra industriali (3 marzo 1914), in: ders., Cronache economiche e politiche di un trentennion (1893—1925), III, Turin 1963, 643—52. 30 Bonelli, Osservazioni, 271 ff. 31 R. Bachi, L'Italia economica nell'anno 1913, C ittà di C astello 1914, 300. 32 B. Notari, Banca ed industria in Italia dal 1894 al 1914, Storia e politica 11. 197?. «7 f. 33 Ebd., 89 f. 34 A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, in: ders., Backwardness, 14 (dt. in: H.-U. Wehler Hg., Geschichte u. Ökonomie, Köln 1973, 121—39). 35 A. C aracciolo, La crescita e la trasformazione della grande industria durante la prima guerra mondiale, in: G. Fuà Hg., Lo sviluppo economico in Italia, III, Mai­ land 1969, 238. 36 Zit. ebd., 208, Anm. 46. 37 Ebd., 210 ff. 38 L. Einaudi, La guerra e il sistema tributario italiano (= Storia economica e sociale della guerra mondiale, Serie italiana, V), Bari 1927, 149, 153. 39 G. Scagnetti, La siderurgia in Italia, Rom 1923, 242, 328. 40 v Pranchini, La mobilitazione industriale dell'Italia in guerra 1915—1918, Rom 1932, 218. 41 L. Einaudi, La condotta economica e gli effetti sociali della guerra italiana (= Storia economica e sociale della guerra mondiale, Serie italiana, VII), Bari 1933, 121. 42 A. C abiati, Problemi commerciali e fìnanziari dell'Italia, Mailand 1920, 76. 43 Scagnetti, Siderurgia, 245 ff., 330 ff.; C aracciolo, C rescita, 219 ff. 44 Romeo, Storia, 123 f. 45 Scagnetti, Siderurgia, 252 ff.; C aracciolo, C rescita, 235 f. 46 F. C hessa, La concentrazione delle industrie e la guerra delle nazioni, Rivista delle società commerciali 1919, 724 f. 47 Romeo, Storia, 129 ff. 49 Ebd., 117 ff. 48 Ebd., 119 ff. 50 R. Romeo, Aspetti storici dello sviluppo della grande impresa in Italia, Storia contemporanea 1. 1970, 18.

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Französische Rüstungspolitik 1914 —1918 Von GERD HARDAC H

I. Absicht des folgenden Beitrages ist es, einen provisorischen Überblick über die französische Rüstungspolitik zu geben. Die Untersuchung beschränkt sich auf die Rüstungspolitik im engeren Sinne, läßt also Interventionsfelder wie Trans­ portwesen, Ernährungspolitik, Kriegsfinanzen, aus1. Auch für dieses begrenzte Gebiet wird nur ein geringer Teil der umfangreichen Dokumentation genutzt, die jetzt nach der Öffnung der einschlägigen Archive zur Verfügung steht2. Eine Geschichte der französischen Kriegswirtschaftspolitik im Ersten Welt­ krieg wäre noch zu schreiben3. Da bereits die historisch-empirische Basis un­ vollständig ist, wird es niemanden überraschen, wenn zum Schluß einige Be­ merkungen zur Begriffsbildung folgen, die auch nicht besser fundiert sind. Es geht dabei nur darum, einige Bedenken anzumelden; zu einer angemessenen Kritik der Theorie des Organisierten Kapitalismus und auch zu einem an sich wünschenswerten Vergleich mit der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapi­ talismus müßte man historisch weiter ausholen, als es hier möglich ist. II. Die „Industrialisierung“ der Kriegführung hatte vor 1914 gerade erst be­ gonnen, der Rüstungssektor war daher nach heutigen Maßstäben noch relativ unbedeutend. Die Materiallieferungen für die Armee teilten sich staatliche Fa­ briken und Privatindustrie, wobei die ersteren das Übergewicht hatten: Die Manufakturen von St. Etienne, C hatellerault und Tülle sowie die Artillerie­ werkstätten in Bourges, Puteaux und Tarbes produzierten Handfeuerwaffen, Artilleriematerial sowie Infanterie- und Artilleriemunition4. Schneider & C ie. (Le C reusot), deren Renommee als Waffenschmiede mit Krupp konkurrierte, orientierten sich nicht am inländischen, sondern am ausländischen Markt5. Der letzte Mobilmachungsplan vor 1914 (Plan 17 von 1912) sah darin keine Ände­ rung vor. In Frankreich teilte man die allgemeine Auffassung, daß der „nächste Krieg“ mit begrenztem Materialaufwand geführt und schnell entschieden wer­ den würde. Im Prinzip sollte das im Frieden bereitgestellte Material für den Kriegsfall ausreichen, wobei die laufende Produktion lediglich Materialver­ brauch und Materialverluste zu ersetzen hätte6. Der Plan für die Mobilma­ chung bestätigte das Übergewicht des staatlichen Sektors in der Rüstungspro­ duktion: Bei der Mobilmachung sollten 11 000 kriegspflichtige Facharbeiter zu-

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rückgestellt werden, davon 7600 für die staatlichen Waffen- und Munitions­ fabriken. Insgesamt sollten die staatliche und die private Rüstungsindustrie zu­ sammen etwa 45 000 bis 50 000 Arbeiter beschäftigen; dieser Mobilmachungs­ plan wurde im August 1914 auch realisiert7. Infolgedessen sank z. B. in Le Creusot, der wichtigsten privaten „Waffenschmiede“, die Beschäftigungszahl in den ersten beiden Augustwochen von rund 12 000 auf 6600 Arbeiter8. Die Marne-Schlacht wurde noch mit diesem begrenzten Rüstungsprogramm geführt und gewonnen, und erst der dabei zutage getretene enorme Materialverbrauch führte zu einer Revision der Rüstungspolitik. Zur Illustration wird gerne auf die Munitionsversorgung der Feldartillerie verwiesen: Als das Produktions­ programm von 10 000 75er Granaten monatlich noch galt, verschossen einzelne Batterien bereits bis zu 1000 Granaten am Tag, und das Oberkommando ver­ langte eine Steigerung der Monatproduktion auf 100 000 Stück9. Die Expansion von Reichtum und Rüstung, die vier Jahre lang dauern sollte, wurde Ende September 1914 eingeleitet. In gemeinsamen Besprechungen ver­ einbarten führende Industrielle mit dem Kriegsministerium eine gewaltige Stei­ gerung der Rüstungsproduktion mit breiter Beteiligung der Privatindustrie. Die eingeführten Waffenfabriken Schneider (Le C reusot) und Aciéries de la Ma­ rine et d'Homécourt (St. C hamond) erhielten Aufträge für neue Geschütze10, und eine ganze Reihe von Betrieben wurde mit der Produktion von Granaten und anderem Kriegsmaterial beauftragt. Die Vereinbarungen vom September 1914 stellten die Weichen für eine Rüstungspolitik, die die wesentlichen Ent­ scheidungen unmittelbar der Großindustrie und ihren Verbänden übertrug. Das Land wurde in zwölf regionale Produktionsgruppen eingeteilt, die jeweils einem Großbetrieb zugeordnet waren: C reusot, Saint-C hamond, Firminy, Loi­ re, Montluçon, Penhoët, Paris, C hemins de fer Paris—Lyon—Marseille, Beifort, Marine, C hemins de fer de PEtat, de POrléans, du Midi, Société de l'Eclairage Electrique11. Der Großbetrieb gab einen Teil seiner Rüstungs­ aufträge in Form von Zulieferverträgen an einzelne Fabrikanten seiner Gruppe weiter, teilte die entsprechenden Rohstoffe zu und überwachte die Ausführung. In der Region Paris, mit ihrer rüstungswirtschaftlich sehr bedeutenden metall­ verarbeitenden Industrie, kontrahierte der Staat direkt mit den einzelnen In­ dustriellen. Der Nutzen der Rüstungsexpansion für die Kriegführung ist von interessier­ ten Kreisen gebührend gefeiert worden12; nicht minder aber nützte das Rü­ stungsprogramm der Industrie, deren Geschäftstätigkeit nach der Mobilisie­ rung zunächst schwer darniederlag. Als Beispiel möge die folgende Widerspie­ gelung der großen Ereignisse in den Papieren eines Montankonzerns dienen13: Ende August 1914 war noch ein allgemeiner Stillstand aller Werke der Gesell­ schaft zu konstatieren. Im November wurde bereits der wohltuende Effekt der Kriegskonjunktur spürbar, die Gesellschaft produzierte Panzerplatten, Schienen und erhoffte einen Auftrag über 25 000 Granaten, den sie dann auch tatsächlich erhielt. Im Dezember waren alle Zechen, Hochöfen und Stahlwerke der Gesellschaft in voller Aktivität, letztere fast ausschließlich für die Rü© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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stungsproduktion. Man plante die Erweiterung der Werke, allerdings legte der Mangel an Arbeitskräften der Expansion Beschränkungen auf14. Im Rückblick auf das erste Kriegsjahr konnte die Direktion zufrieden sein: Obwohl die Ge­ sellschaft bestrebt war, die Konkurrenz zu unterbieten, erwiesen sich die vom Staat gezahlten Preise dank der großen Lieferungen als „sehr einträglich“, der Gewinn konnte gegenüber dem Vorjahr um 50 Prozent gesteigert werden15. Der Staat zahlte nicht nur gute Preise, sondern war gegebenenfalls auch zur Fi­ nanzierung vollständiger Produktionsanlagen bereit16. Ein bekanntes Beispiel ist Andre C itroen, der im Rüstungsgeschäft sein Glück machte. C itroen erhielt im Januar 1915 einen Auftrag über die Produktion von 1 Mio. Feld­ artillerie-Granaten, in einem erst noch zu erstellendem Werk; der Staat leistete einen Barvorschuß von 1,2 Mio. Francs, Vorschüsse für Investitionskosten bis 4,8 Mio. Francs und garantierte einen Festpreis von 24 Francs pro Stück, der über dem Preis anderer Kontrakte lag und allein dadurch C itroen einen Son­ dergewinn von rund 1,5 Mio. Francs sicherte. Dieser Vertrag und andere, die ihm folgten, erwiesen sich für die von C itroen geleiteten Gesellschaften als Goldgrube: Die Société des Automobiles Mors trug ihre bis Kriegsausbruch erwirtschafteten erheblichen Verluste ab und erweiterte ihre Produktionsanla­ gen beträchtlich; die Société des Engrenages C itroen verdreifachte während des Krieges ihre Produktionsanlagen und erzielte einen Gewinn von 6,7 Mio. Francs, für den sie nach entsprechenden Abschreibungen ganze 52 000 Francs Kriegsgewinnsteuer anbot17. Diese Beispiele sind willkürlich herausgegriffen, aber sie illustrieren das Grundprinzip: Das Kriegsministerium honorierte die Umstellung der Industrie auf die Rüstungsproduktion mit enormen Gewin­ nen. Die Industrie beanspruchte diese Kriegsgewinne als gutes Recht und ver­ teidigte sie zäh. Rüstungsaufträge wurden erst angenommen, wenn hohe Preise und langfristige Kontrakte sie ertragreich erscheinen ließen18. Als das Kriegs­ ministerium im Oktober 1915 versuchte, aufgrund der großen Serien und der dadurch zwangsläufig sinkenden Stückkosten die Preise herabzusetzen19, block­ te die Industrie diesen Versuch mit der Drohung ab, die Produktion einzu­ schränken20. Der Rüstungsminister beklagte sich darüber in vorsichtigen Wor­ ten in einem Brief an einen Montankonzern: „Zu zahlreich sind, leider, die In­ dustriellen, mit denen wir hart feilschen müssen; zu zahlreich auch jene, wenn es auch Ausnahmen sind, die drohen, keine Betriebserweiterungen vorzuneh­ men, wenn wir ihnen nicht Preise zahlen, die uns manchmal etwas hoch erschei­ nen.“21 Das Problem der Kriegsgewinne hat die Regierung nicht in den Griff be­ kommen. Obwohl eine Abschöpfung im Prinzip immer wieder als wünschens­ wert deklariert wurde, ließ die Realisierung auf sich warten. Erine Kriegsge­ winnsteuer wurde erst im Juli 1916, zwei Jahre nach Kriegsausbruch, einge­ führt. Sie belastete den während des Krieges erzielten „Mehrgewinn“ (gegen­ über dem normalen Vorkriegsgewinn) natürlicher und juristischer Personen mit einer Abgabe von 50 Prozent, später bis zu 80 Prozent. Tatsächlich war die Belastung geringer: Die Industrie reduzierte ihre ausgewiesenen Gewinne durch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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großzügige Abschreibungen und zahlte infolge der langwierigen Erhebung den größeren Teil der Steuerschuld nach dem Krieg in entwertetem Geld22. III. Nach Kriegsausbruch erklärte der Kriegsminister Millerand bei verschiedenen Gelegenheiten, so z. B. im Januar 1915 gegenüber einer Delegation der Metall­ arbeitergewerkschaft: „Es gibt keine Rechte der Arbeiter mehr, keine Sozial­ gesetze; es gibt nur noch den Krieg.“23 Seit den ersten Augusttagen wurde den Unternehmern gestattet, die Höchstarbeitszeit von zehn Stunden für Frauen und Kinder zu überschreiten und den vierzehntägigen Ruhetag zu suspendie­ ren; die Inspektoren waren angewiesen, im Interesse der Produktion „größte Toleranz“ zu zeigen. Als immer mehr Frauen und Kinder die Männer in der Rüstungsindustrie ersetzen mußten, wurden die Schutzbestimmungen gegen gefährliche Arbeiten und das Verbot der Nachtarbeit aufgehoben24. Mit der Aufhebung aller Arbeitsschutzgesetze allein ließ sich der Mangel an Arbeitskräften freilich nicht beheben. In den ersten beiden Augustwochen wur­ den 2,9 Millionen Männer mobilisiert und in den folgenden zehn Monaten noch einmal 2,7 Millionen Männer, um Verluste zu ersetzen und die Streitkräfte zu vergrößern, bei einer gesamten männlichen Erwerbsbevölkerung von 12,6 Mil­ lionen. Größere Zurückstellungen gab es von Anfang an für die öffentliche Ver­ waltung und die Eisenbahnen, aber die Industrie galt zunächst nicht als kriegs­ wichtig, und ihre 3,4 Millionen männlichen Beschäftigten wurden daher von der Mobilisierung überdurchschnittlich betroffen25. Das galt, wie oben schon am Beispiel von Le C reusot gezeigt wurde, auch für spezielle Rüstungsbetriebe. Eine der ersten Forderungen der Industriellen als Voraussetzung für die Stei­ gerung der Rüstungsproduktion war daher die Wiederherstellung ihres Per­ sonalbestandes. Trotz Einwänden der Militärs kam die Regierung dieser Forde­ rung unverzüglich nach. Ab September 1914 konnten die Industriellen ihre Ar­ beiter aus den Rekrutendepots und z. T. auch aus den Fronteinheiten wieder abholen; wenn einzelne Arbeiter schon gefallen waren oder beim Militär un­ abkömmlich waren, oder wenn sich ihr Verbleib nicht feststellen ließ, erhielten die Betriebe eine entsprechende Zahl Ersatzleute. Diese Zurückstellungen gingen einige Monate lang ohne staatliche Kontrollen vor sich, erst im Juni 1915 rich­ tete das neue Staatssekretariat für Rüstung eine zentrale Organisation ein, die die Anforderungen der Industrie prüfte und an das Militär weitergab. In jedem Fall geschah die Zurückstellung mobilisierter Arbeiter nur auf An­ forderung eines Arbeitgebers. Für den einzelnen Arbeiter, auch wenn er Spe­ zialist war, gab es keinerlei Recht auf Zurückstellung26. Das führte zu einiger Unruhe in der Bevölkerung, weil die Unternehmer offenbar jüngere, besonders leistungsfähige Leute bevorzugt reklamierten, während ältere Familienväter, gleichfalls Facharbeiter, an der Front blieben. Erst ein Jahr später beschlossen Regierung und Parlament unter dem Druck der Öffentlichkeit und gegen Pro© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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teste der Industrie, ältere Facharbeiter von der Front in die Fabriken zu schik­ ken im Austausch gegen jüngere bisher reklamierte Arbeiter27. Bis Ende 1915 kehrten etwa 500 000 Facharbeiter in die Rüstungsfabriken zurück. Anfang 1916 hatten die wichtigsten für die Rüstung arbeitenden Indu­ strien wieder ihren Vorkriegs-Personalstand erreicht, von da an ermöglichte die Einstellung von Frauen, Arbeitern aus anderen Branchen, freien ausländi­ schen Arbeitern und Kriegsgefangenen eine weitere Expansion. Ab Mitte 1917 erreichte infolge der Rüstungsexpansion auch die Industrie im Gesamtdurch­ schnitt, wiederum auf das nicht besetzte Gebiet bezogen, das Beschäftigungs­ niveau der Vorkriegszeit28. Die Rüstungsbetriebe waren inzwischen über das Vorkriegsniveau weit hinausgewachsen. Le C reusot z. B. beschäftigte im Juni 1917 20 000 Arbeiter, davon 55 Prozent „mobilisierte“ Arbeiter, 14 Prozent Frauen und Jugendliche, 31 Prozent zivile Arbeiter, Ausländer und Kriegsge­ fangene29. Die staatliche Intervention veränderte das Kräfteverhältnis auf dem Arbeits­ markt entscheidend zugunsten der Unternehmer. Die „mobilisierten“ Arbeiter waren an den Betrieb gebunden, der sie angefordert hatte, und blieben im mili­ tärischen Rechtsverhältnis, so daß sie insbesondere kein Koalitions- und Streik­ recht hatten. Das führte dazu, wie die Metallarbeiter-Gewerkschaft in einer Vielzahl von Fällen nachwies, daß mobilisierte Arbeiter trotz der Rüstungs­ konjunktur unter dem Vorkriegsniveau bezahlt wurden30. Die Behauptung des Lohnniveaus wurde noch schwieriger, als ab Sommer 1915 in großem Umfang durch Vermittlung des Staatssekretariats für Rüstung Frauen und ausländische Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie angeworben wurden, die als industrielle Reservearmee auf das Lohnniveau drückten. Im Sommer 1915 (Juni/Juli) ar­ beiteten bereits 14 000 Frauen in den staatlichen Waffen- und Munitionsfabri­ ken und 30 000 Frauen in der privaten Rüstungsindustrie. Im Durchschnitt der gesamten Industrie stieg der Anteil der Frauen an den Beschäftigten von 32 Prozent in der Vorkriegszeit auf 40 Prozent im Juli 191731. Gerade die Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit und ihre Bedeutung für die Produktion kehrte sich gegen die Frauen: Die Schutzgesetzgebung der Vorkriegszeit blieb suspendiert, damit die Frauen dem normalen Produktionsrhythmus unterworfen werden konnten (einzige Änderung war eine Verordnung vom Juli 1916, die die Nacht­ arbeit für Mädchen unter 18 Jahren verbot und die Nachtarbeit für Frauen auf 10 Stunden effektive Arbeitszeit begrenzte). Trotz der Egalisierung der Arbeits­ situation blieb die Lohndiskriminierung zwischen Männern und Frauen erhal­ ten, der Lohnabstand wurde sogar größer32. Unter besonderem Regime stan­ den die rund 300 000 ausländischen Arbeiter, die das Staatssekretariat für Rü­ stung in den Kolonien, in C hina und in einigen europäischen Ländern für die private Industrie anwarb, und nicht zuletzt die Kriegsgefangenen33. Obwohl das Staatssekretariat für Rüstung die Industrie gelegentlich zu Zugeständnissen drängte, um sozialen Konflikten vorzubeugen34, ließen die Preissteigerungen den Reallohn erheblich sinken. 1916 lag der Nominallohn männlicher Arbeiter in der Rüstungsindustrie im Durchschnitt um 25 Prozent über dem Vorkriegs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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niveau, während der Preisindex bis Ende des Jahres in Paris um 35 Prozent und in der Provinz um 45 Prozent über den Stand von 1914 gestiegen war35. 1917 führte das Rüstungsministerium angesichts des zunehmenden Widerstan­ des der Arbeiterschaft Mindestlöhne ein36. Vermutlich lag es aber nicht daran, sondern eher an der verstärkten Streikaktivität, daß die Nominallöhne gegen Ende des Krieges stärker stiegen. Da gleichzeitig verschiedene Preiskontrollen eingeführt wurden, ergab sich zumindest statistisch wieder eine Annäherung der Löhne an die Preise (der Vorbehalt ist angebracht, weil die kontrollierten Prei­ se die Knappheitsverhältnisse bzw. die reale Kaufkraft nicht korrekt wieder­ geben). Tabelle 1: Löhne und Preise

1913/14 1916 1917 1918

Lohnindex der Rüstungs­ industrie

Allgemeiner Lohn­ index

Lebens­ haltung (Paris)

Lebens­ haltung (Provinz)

100 125 150 240

100 125 130 175

100 134 160 211

100 138 173 235

Quelle: March, 244, 297. IV. Ein besonderes Problem der französischen Rüstungsindustrie (im Unterschied zum Arbeitskräftemangel, der alle kriegführenden Länder betraf) war die schwache schwerindustrielle Basis. Als sich die Front nach der Marneschlacht stabilisierte, blieben große Teile des nordfranzösischen und lothringischen In­ dustriegebietes in deutscher Hand. Auf das besetzte Gebiet entfielen (nach den Produktionsziffern von 1913) 49 Prozent der Kohleförderung, 64 Prozent der Roheisenproduktion, 58 Prozent der Stahlproduktion; von der verbleibenden Produktionskapazität war ein Teil unbrauchbar, weil er in der Feuerzone lag37. Tabelle (2) zeigt die Entwicklung im Verlauf des Krieges: 1915 erreichte die Produktion einen Tiefpunkt, bis 1917 stieg sie wieder an, 1918 ließ die Mobilisierung der letzten Reserven für die Armee die Produktion erneut sin­ ken. Die Einfuhr an Kohle ging erheblich zurück, dagegen konnte der Produk­ tionsausfall bei Eisen und Stahl zum Teil durch höhere Importe kompensiert werden; 1918 gingen die Importe wieder zurück wegen des Mangels an Schiffs­ raum (bedingt durch den U-Boot-Krieg und durch den Transportbedarf der amerikanischen Expeditionstruppen). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Französische Rüstungspolitik 1914—1918 Tabelle 2: Französische Schwerindustrie 1913—1918 (Mio. t)

1913 1914 1915 1916 1917 1918

Kohle

Roh eisen

S t a. h l

Produktion Einfuhr

Prodi lktion. Einfuhr

Pro(iuktion Einfuhr

40,8 27,5 19,5 21,3 28,9 26,3

5,2 2,7 0,6 1,5 1,7 1,3

23,9 17,2 19,6 20,3 17,3 15,0

— —

0,2 0,6 0,7 0,4

4,7 2,7 1,1 2,0 2,2 1,8

-0,4 — 0,2 1,0 2,6 2,6 1,8

Quelle: Fontaine, 194, 374 ff. — Die Einfuhr ist netto zu verstehen, eine negative Zahl bedeutet einen Exportüberschuß. Ein Strich bedeutet Ziffer kleiner als 50 000 t. Der Mangel an Eisen und Stahl wurde in dem Maße spürbar, in dem die an­ fängliche industrielle Stagnation in einen Rüstungsboom überging38. Staatliche Eingriffe in die Roheisenversorgung wurden ab November 1915 im Staats­ sekretariat für Rüstung diskutiert, und sie wurden unumgänglich, als die briti­ sche Regierung daranging, die Eisen- und Stahlexporte des Landes zu kontrol­ lieren: Denn nunmehr drängte auch die britische Regierung darauf, daß die bisher ungeregelten Einkäufe auf französischer Seite zentralisiert würden. Im März 1916 erhielt das C omité des Forges (der Interessenverband der Eisen­ und Stahlindustrie), das vorher schon als Einkäufer für seine Mitgliedsfìrmen tätig gewesen war, ein Monopol für die Einfuhr von Roheisen aus Großbri­ tannien. Nach und nach wurde die gesamte Eisen- und Stahleinfuhr und die Produktion einiger neu erstellter Hüttenwerke über das C omité des Forges verteilt. Kurz vor Kriegsende, im Juli 1918, wurde die Bewirtschaftung auf die gesamte französische Roheisenproduktion ausgedehnt. Durch diese Art der Bewirtschaftung erhielt das ohnehin schon mächtige C omité des Forges eine einzigartige Schlüsselstellung für die Rüstungsproduktion und für die Industrie insgesamt. Die Bevorzugung der Großindustrie war nicht unbestritten: Pro­ teste aus der verarbeitenden Industrie brachten noch während des Krieges eine Untersuchung über die Politik des C omité des Forges in Gang39, die nach dem Waffenstillstand in breiter Öffentlichkeit geführt wurde. Ein weiteres Interventionsfeld neben der Kontrolle der Rohstoffverteilung war die öffentliche Finanzierung privater Produktionsanlagen. Unter dem Eindruck des langen Stellungskrieges plante das Staatssekretariat für Rüstung ab Mai 1916 eine Erweiterung der schwerindustriellen Basis, um die Rüstungs­ produktion von Importen unabhängiger zu machen40. Das Programm umfaßte mehrere Hochöfen, Koksbatterien und Stahlwerke, die von den führenden Eisen- und Stahlproduzenten errichtet werden sollten. Da die Industrie argu­ mentierte, daß die langfristige Rentabilität der neuen Investitionen nicht ab­ zusehen sei, wurde eine direkte Beteiligung des Staates vereinbart. Bereits zu Anfang des Jahres 1916 war mit Schneider & C ie. eine Vereinbarung getroffen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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worden, nach der der Staat sich mit 7 Mio. Francs an dem Aufbau eines Hüt­ tenwerkes in C aën beteiligte; der Vorschuß war durch laufende Abzüge von den Preisen (10 Prozent) und in fünf Annuitäten, beginnend ein Jahr nach dem Friedensschluß, zu tilgen41. Das neue Finanzierungsmodell ging noch dar­ über hinaus, es sah eine Staatsbeteiligung von 50 Prozent als direkte Subven­ tion ohne Tilgung und ohne Gewinnbeteiligung vor. Zur gleichen Zeit erreichte auch die chemische Industrie, daß der Staat ihr neue Produktionsanlagen finan­ zierte und einige staatliche Fabriken zur Nutzung überließ42. V. Im internationalen Vergleich hebt die französische Rüstungspolitik sich da­ durch hervor, daß die große Industrie die Organisation der Rüstungswirt­ schaft weitgehend in eigener Regie vornahm ohne den Umweg über die Staats­ bürokratie: Einige führende Konzerne verteilten untereinander die Aufträge, die Arbeitskräfte, die Rohstoffe. Um so mehr muß auffallen, daß diese Rü­ stungspolitik zum großen Teil in einer Zeit gestaltet wurde, als der Staats­ sekretär (Mai 1915—Dezember 1916) und Minister (Dezember 1916—Septem­ ber 1917) für Rüstung von der Sozialistischen Partei (Section Française de Plnternationale Ouvrière) gestellt wurde, die immerhin noch in ihrem Wahl­ aufruf von 1914 dem kapitalistischen System den Kampf angesagt und eine soziale Umwälzung gefordert hatte43. Die Rüstungspolitik wurde dadurch in Frankreich zum exemplarischen Fall für die Auseinandersetzung um Anpas­ sung oder Widerstand, die im Ersten Weltkrieg die Arbeiterbewegung spaltete. Die „Munitionskrise“ vom Herbst 1914 fand ihre politische Resonanz mit einiger Verzögerung, erklärbar durch die zeitweilige Suspendierung des Parla­ mentarismus, in heftigen parlamentarischen Angriffen gegen das Kriegsministe­ rium44. Im Mai 1915 wurde die bisherige Direction de l'Artillerie im Kriegs­ ministerium, mit erweiterten Zuständigkeiten versehen, in den Rang eines Staatssekretariats für Rüstung erhoben, das nurmehr formell dem Kriegsmini­ ster unterstand. Die institutionelle Verselbständigung der Rüstungspolitik wurde gleichzeitig zu einer Bekräftigung der union sacrée: Als C hef des neuen Sous-Sécrétariat d'Etat de l'Artillerie et des Munitions trat jetzt Albert Thomas, seit 1910 Abgeordneter der Sozialistischen Partei und promi­ nentes Mitglied ihres reformistischen Flügels, in die Regierung ein45. Ein kon­ troverses Ereignis: Auf der einen Seite galt es als Zeichen für das zunehmende Selbstbewußtsein und die größere Manövrierfähigkeit der Sozialistischen Par­ tei, daß ein dritter Sozialist in die Regierung eintrat, und zwar an einer wich­ tigen Stelle46. Auf der anderen Seite war es für die oppositionelle Minderheit in Partei und Gewerkschaften eher ein Grund zur Beunruhigung, daß die So­ zialistische Partei ihre Beteiligung an der Regierung so ostentativ bekräftigte, nachdem die Einseitigkeit der union sacrée bereits offenkundig war und die Opposition sich zu formieren begann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Albert Thomas etablierte sich unverzüglich mit einem neu geschaffenen „brain trust“ und einem wachsenden Mitarbeìterstab im Hotel C laridge an den Champs-Elysees und entfaltete eine rege Aktivität. Seine Fähigkeit als Ad­ ministrator verschaffte ihm auch im bürgerlichen Lager eine gewisse Anerken­ nung47. Thomas' oberstes Ziel war die Intensivierung der Rüstungsproduktion Im Interesse dieses Zieles, aber wahrscheinlich auch aus innerer Überzeugung, akzeptierte er die vorhandenen Machtstrukturen ohne jeden Versuch einer Veränderung48. Wenn man sich auf die wesentlichen Entscheidungen konzen­ triert, wird schwer ein Unterschied festzustellen sein zwischen der Amtszeit Thomas' und der seines Nachfolgers, des Industriellen Loucheur (ab Dezember 1916 Staatssekretär, ab September 1917 Minister für Rüstung). Die Apologie der Kriegsgewinne als Leistungsanreiz war für Thomas ein geläufiges Argu­ ment49. Die Identifizierung ging sogar so weit, daß Thomas in der Deputier­ tenkammer die Großindustrie in Schutz nahm und übermäßige Kriegsgewinne zu einem Zeitpunkt bestritt, als ihre Existenz wirklich längst auf der Hand lag50. Die sozialpolitischen Aktivitäten des Rüstungsministeriums waren auch bei wohlwollender Betrachtung unbedeutend, und es machte wenig Unterschied, daß sie unter Loucheur zum großen Teil an das Arbeitsministerium abgegeben wurden. Nun ist es an sich nicht überraschend, daß in der Rüstungspolitik ein kapi­ talistischer Weg eingeschlagen wurde, aber man mag sich immerhin vergegen­ wärtigen, daß auch Alternativen im Gespräch waren. Mehrere Mitglieder der parlamentarischen Kommission für Rüstung sprachen sich frühzeitig dafür aus, die Rüstungsbetriebe zu requirieren und die Unternehmer als Betriebsleiter mit festem Sold zu „mobilisieren“51. Die Diskussion um die Requirierung der Rüstungsindustrie dauerte während des ganzen Krieges an52. Man kann sich also durchaus fragen, warum diese Alternativen nicht zum Zuge kamen53. Bei Albert Thomas und seinen engeren Mitarbeitern spielte sicherlich die Ideologie einer „organisierten Wirtschaft“ auf kapitalistischer Grundlage eine Rolle, die schon vor dem Krieg formuliert war54. Thomas sah in der Konzen­ tration des Kapitals einen Trend zur Überwindung der kapitalistischen Anar­ chie (man könnte hier an Hilferding erinnern), der ergänzt werden sollte durch eine Politik vorsichtiger Nationalisierungen (Banque de France, Eisenbahnen, Versicherungen, Petroleum, Alkoholmonopol) und durch den Ausbau des Ge­ nossenschaftswesens. Nach 1914 wurde diese Ideologie auf die Rüstungspolitik übertragen, wobei sich die Inhalte charakteristisch verschoben: Die Forderung nach Nationalisierung trat zurück, dafür rückte die These, daß die Zunahme der Kapitalkonzentration ein direkter Weg zu einer rationalen und harmoni­ schen Organisation der Produktion wäre, in den Vordergrund. Tatsächlich bedeutete ja die Rüstungspolitik, die im September 1914 eingeleitet und ab Mai 1915 bewußt fortgeführt wurde, eine „Privatisierung“ der Rüstungspro­ duktion: Gemessen an der Zahl der Beschäftigten überwog im August 1914 der staatliche Sektor bei weitem, bis Mai 1915 hatte sich das Verhältnis bereits umgekehrt, und im Verlauf des Krieges sank der staatliche Anteil weiter. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Tabelle 3: Arbeiter in der Rüstungsindustrie Arbeiter in staatlichen Betrieben

Arbeiter in privaten Betrieben

Zahl

Anteil

Zahl

Anteil

75 23 18

12 500 242 000 1 280 000

25 77 82

August 1914 38 000 Mai 1915 71 000 1918 295 000

Zusammen

50 500 313 000 1 675 000

Quelle: Oualid/Picquenard, 45—47. Die Tendenz zur Konzentration der Produktion und zur Zentralisierung der Entscheidungen war hingegen erklärte Politik, und Thomas propagierte unermüdlich ihren bleibenden Nutzen. In seiner großen Rede von Le C reusot im April 191655 kontrastierte er die gegenwärtige harmonische Kooperation der Industriellen mit der ruinösen Konkurrenz aller gegen alle in der Vor­ kriegszeit, kontrastierte die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat mit dem früheren distanzierten Verhältnis. Diese „industrielle Union“ gelte es zum allgemeinen Wohl über den Krieg hinaus zu bewahren: Eine große nationale Organisation, in der die organisierten Industrien sich jenseits aller schädlichen Konkurrenz gegenseitig stützten, sei zum Wohle des ganzen Landes ebenso un­ erläßlich wie zur Befriedigung der partikularen Interessen selbst. In Verbin­ dung mit der Apologie der Konzentration propagierte Thomas ein „Ethos der Arbeit“, das für die Dauer des Krieges den Verzicht auf sämtliche Forderungen der Arbeiterschaft implizierte, und als Belohnung eine nach dem Sieg in Koope­ ration mit den Industriellen zu erreichende Besserung des Lebensstandards in Aussicht stellte56. Diese Reden waren nicht nur für den Augenblick gedacht. In der Diskussion um die wirtschaftliche Demobilisierung sprach Thomas sich für die Beibehaltung der Kriegskontrollen aus; er verwies auf die nützliche Funktion der Kartelle und Absprachen in der Vorkriegszeit, die geeignet seien, einen gleichmäßigen Produktionsfortschritt zu gewährleisten, und erinnerte an seine Rede von Le C reusot57. Viele Jahre später kehrte der Gedanke einer „économie organisée“ wieder in einem Brief, den Thomas, inzwischen Direk­ tor des Internationalen Arbeitsamtes, 1930 an Paul Faure schrieb, den Gene­ ralsekretär der Sozialistischen Partei: Die organisierte Wirtschaft müsse eine zentrale Forderung der Sozialisten im nächsten Wahlkampf sein, wobei der Schwerpunkt jetzt wieder bei den Nationalisierungen (Bergbau, Elektrizität, Eisenbahnen, Versicherungen) lag58. Thomas' patriotische Reden fanden verständlicherweise bei der nationalisti­ schen Rechten mehr Anklang als bei seinen Parteifreunden, die ironisch vom „Socialisme du C reusot“ sprachen, den Thomas offenbar im Verein mit den Herren Schneider und Renault zu realisieren gedächte59. Nach seinem Regie­ rungsbeitritt war Thomas immer stärker zum Exponenten des Mehrheitsflügels gegenüber der oppositionellen Minderheit geworden, die sich seit dem Winter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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1914/15 gegen die Politik der union sacrée formierte60. Gegen die vereinte Macht der herrschenden Klassen und der staatstreuen Mehrheitsfraktion in Par­ tei und Gewerkschaften hatte die Opposition einen schweren Stand, aber zwei Faktoren arbeiten für sie: Die Schrecken des langen Krieges und die einseitige Ausrichtung der union sacrée gegen die Arbeiterschaft zeigten die objektive Macht der Klassengegensätze und die Gefahren einer Strategie, die die Rechte der Arbeiterschaft durch Kooperation wahren wollte. Die Streikaktivität, die 1915 fast völlig geruht hatte, nahm 1916 deutlich zu; in den offiziellen Gre­ mien von Partei und Gewerkschaften sah die Mehrheit sich wachsender Kritik ausgesetzt. Das (wieder) erwachende Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft hatte Rückwirkungen auf die Haltung der herrschenden Klasse, denn es weckte Zwei­ fel an der Nützlichkeit eines „weichen“ Kurses, der einen Kompromiß mit dem rechten Flügel der Arbeiterbewegung anstrebte, und stärkte die Position der „harten“ Richtung61. Die „mittlere“ Position des reformistischen Flügels der Arbeiterbewegung geriet unter diesen Umständen von zwei Seiten unter Druck. Bei der Kabinettsumbildung im Dezember 1916 schieden Guesde und Sembat aus. Briand hielt Thomas als Konzession an die Linke, sogar mit er­ weiterter Kompetenz: Das Staatssekretariat wurde in ein Ministerium für Rü­ stung umgewandelt62. Die sozialistische Parlamentsfraktion billigte die Regie­ rungsbeteiligung mit 44 gegen 15 Stimmen, der Parteikongreß vom Dezember 1916 mit 1637 gegen 1282 Stimmen: Die Mehrheit hielt noch, aber die Oppo­ sition hatte deutlich Boden gewonnen63. 1917, das Jahr der „großen Verwei­ gerung“ in der Armee und in der Industrie, war das Ende der union sacrée. Die Mehrheit in Partei und Gewerkschaften zog sich nach dem Aufschwung der revolutionären Bewegung im Sommer und ihrer Niederlage im Herbst 1917 auf eine „zentristische“ Position zurück: Nicht revolutionär, aber in Di­ stanz zur Kriegspolitik64; Thomas schied bei der Kabinettsumbildung vom September 1917 aus der Regierung aus, persönlich eher widerstrebend65. Die Regierung C lémenceau, ab Dezember 1917, führte den Krieg ohne sozialisti­ sche Beteiligung auf einem kompromißlosen Rechtskurs zu Ende66. VI. Es wäre unpassend, die fragmentarischen Bemerkungen zur Rüstungspolitik mit einem großen theoretischen Überbau zu belasten, aber ein kurzes Nachwort scheint mir legitim und sogar notwendig, da die Beiträge dieses Bandes aus­ drücklich in einen theoretischen Zusammenhang gestellt werden. Bei der Untersuchung ging es insbesondere darum, die Grenzen der staat­ lichen Intervention festzustellen. Man hätte ein falsches Bild, wenn man an­ nähme, daß der Staat die Rüstungsproduktion „geplant“ und „organisiert“ hätte. Der Staat setzte die Rahmenbedingungen, insbesondere die soziale Ab­ sicherung des Systems, er unterstützte die Rüstungsindustrie bei der Beseiti­ gung gewisser Engpässe, und er autorisierte die Umverteilung von Ressourcen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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zugunsten der Rüstungsindustrie, die über den Preismechanismus allein zu lang­ sam oder zu teuer gewesen wäre. Innerhalb der beschränkten Zielsetzung kann man die Rüstungswirtschaft als durchaus effizient ansehen67. Obwohl innerhalb des alliierten Bündnisses Großbritannien zu Recht als die wirtschaftliche Führungsmacht gilt, lag in der Produktion speziell von Waffen und Munition die französische Industrie an der Spitze, und das trotz der starken Mobilisierung und trotz der Gebiets­ verluste68. Die Effizienz der Rüstungswirtschaft ist allerdings kein Argument für die langfristige Rationalität der staatlichen Regulierung eines kapitalisti­ schen Wirtschaftssystems, denn die Rüstung war ein Sonderfall: Es ging ledig­ lich darum, die Produktion einer begrenzten Anzahl von Rüstungsgütern in einem Tempo zu steigern, das im wesentlichen von den Anforderungen des Generalstabs bestimmt wurde69. Das Grundproblem einer Planung in Friedens­ zeiten, die langfristige Befriedigung vielfältiger privater und kollektiver Be­ dürfnisse, wurde in der Rüstungspolitik gar nicht erst angeschnitten. Es war eine Illusion, daß sich das Modell der Rüstungsproduktion übertragen ließe, um in Friedenszeiten die „kapitalistische Anarchie“ zu überwinden und einen gleichmäßigen Produktionsfortschritt zu „organisieren“. Nicht zufällig wur­ den die Kriegskontrollen daher nach dem Waffenstillstand alsbald abgebaut70. Unter diesen Umständen ist die Einordnung der Kriegswirtschaftspolitik 1914—1918 in eine langfristige Entwicklung, die im Anschluß an Hilferding und andere Autoren als „Organisierter Kapitalismus“ bezeichnet wird, nicht unproblematisch. Der Organisierte Kapitalismus löst nach Hilferding, der den wichtigsten Beitrag zur Begriffsbildung beisteuerte, in der Kriegs- und Nach­ kriegszeit den Kapitalismus der freien Konkurrenz ab71. „Organisation“ be­ deutete für Hilferding nicht nur die für die Kriegswirtschaft typische teilweise Substituierung des Marktprinzips durch direkte Anweisungen staatlicher oder privater Zentralstellen, sondern einen langfristigen Prozeß: Die zunehmende Konzentration führe zur Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses und zur all­ mählichen Überwindung der immanenten Anarchie des Kapitalismus der freien Konkurrenz durch bewußte Ordnung und Lenkung der Wirtschaft. Die Theorie des Organisierten Kapitalismus setzt also die schon vor dem Krieg im „Finanzkapital“ entwickelte These fort, daß Konzentration und Kartellierung ohne weiteres zunehmende Rationalität und Planung bedeuten, bis schließlich in einem einzigen „Generalkartell“ die gesamte kapitalistische Produktion von einer Instanz bewußt geregelt wird72. Bei der neuerdings zu beobachtenden Reaktivierung der Theorie des Orga­ nisierten Kapitalismus durch einige Historiker73 werden z. T. Prozesse ange­ sprochen, die sich nach allgemeinem Sprachgebrauch unverdächtig als „Orga­ nisierung“ bezeichnen lassen: Die zunehmende Intervention des Staatsapparates in Produktion und Verteilung, die „Organisierung“ der Anbieter in Markt­ verbänden, die „Organisierung“ des Klassenkonfliktes in Unternehmerverbän­ den und Gewerkschaften. Darüber hinaus scheinen mir aber z. B. im vorliegen­ den Band Kocka und Wehler, gewollt oder ungewollt, den Hilferdingschen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Irrtum zu reproduzieren, daß Konzentration tendenziell Stabilisierung der ka­ pitalistischen Entwicklung bedeutet und daß es den vereinten Bemühungen pri­ vater und staatlicher Planungsstellen allmählich gelingt, den Wirtschaftsprozeß in den Griff zu bekommen. Die Kriegswirtschaftspolitik rechtfertigt weder Hilferdings reformistischen Optimismus 74 noch die ihm zugrunde liegende ökonomische Theorie. Die Struktur und auch die Effizienz der Kriegswirtschaft beruhten deutlich auf der kriegsbedingten Ausnahmesituation: Die Priorität der Rüstungsproduktion brachte zwangsläufig die Schwerindustrie zu Lasten minder konzentrierter Industrien in den Vordergrund; die Maximierung der Produktion einiger Rüstungsgüter war eine unvergleichlich einfachere Pla­ nungsmaßnahme als die Befriedigung einer vielfältigen privaten Nachfrage in Friedenszeiten; nicht zuletzt gab die Kriegssituation Industrie und Staatsappa­ rat außergewöhnliche Machtmittel gegenüber der Arbeiterschaft an die Hand. Daß durch Konzentration und Staatsintervention ein Stück Sozialismus reali­ siert werde, wie Albert Thomas und mit ihm viele andere meinten, erwies sich als Illusion: Im Sozialismus von Le C reusot lag die Macht allemal bei Le Creusot. Anmerkungen 1 Vgl. dazu die entsprechenden Bände in der von J . T. Shotwell im Auftrag der Carnegie-Stiftung herausgegebenen „Histoire économique et sociale de la guerre mon­ diale“. Für ihre freundliche Unterstützung danke ich den Damen und Herren der Archives Nationales, der Bibliothèque de Documentation Internationale C ontempo­ raine, und des Service Historique de TArmée. 2 In den Archives Nationales (= AN) in Paris gibt es neben den einschlägigen allge­ meinen Serien (Parlamenten und Exekutive) einen umfangreichen Nachlaß von Albert Thomas (94 AP) und einige interessante Firmenarchive. Der Service Historique de 1 Armee (= SHA) in Vincennes verwahrt Akten des Kriegsministeriums sowie des Staatssekretariats und späteren Ministeriums für Rüstung. 3 Eine geplante Arbeit von Albert Thomas über die Rüstungsindustrie im Rahmen der C arnegie-Serie (Histoire économique et sociale de la guerre mondiale) ist nicht er­ schienen. In diesem Zusammenhang ist jedoch auf eine interessante neuere Arbeit hin­ zuweisen, die u. a. die Rüstungswirtschaft im Ersten Weltkrieg aus der Sicht eines Kon­ zerns spiegelt; dabei wird neben der Verflechtung von Großindustrie und Staatsapparat auch die technisch-organisatorische Transformation deutlich: P. Fridenson, Histoire des usines Renault, Naissance de la grande entreprise (1898 —1939), Paris 1972. 4 Bericht des Kriegsministeriums an die Budgetkommission für Krieg und Rüstung, 22. 1. 1918 (SHA 10 N 1). 5 Erklärung von M. Schneider in der parlamentarischen Unter-Kommission für Be­ waffnung. Protokoll (Prot.) vom 16. 4. 1915 (AN C 7509). 6 Das entsprach genau der deutschen Planung; vgl. Reichsarchiv Hg., Kriegsrüstung u. Kriegswirtschaft, I, Berlin 1930; L. Burchardt, Friedenswirtschaft u. Kriegsvorsorge, Boppard 1968. 7 Vgl. C . Reboul, Mobilisation industrielle, I, Nancy 1925. 8 Dossier über Le C reusot (AN 94 AP 80). — Nach Angabe von M. Schneider be­ schäftigte seine Gesellschaft vor der Mobilmachung insgesamt 31 000 Arbeiter, davon 13 000 in Le C reusot; vgl. Unter-Kommission für Bewaffnung, Prot. vom 16. 4. 1915 (AN C 7509).

8 Winkler, Kapitalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Vgl. Reboul, Anm. 7. Hierzu das Rüstungsprogramm für die Feldartillerie vom 18. 8. 1915 (SHA 10 N 11). 11 Sous-sécrétariat d'Etat de l'Artillerie, „Notes sur l'organisation en France de la fabrication des munitions“, o. Datum (SHA 10 N 1). Die Firmen werden genannt in W. Oualid/C . Picquenard, Salaires et tarifs. C onventions collectives et grèves, Paris 1928, 48. 12 Vgl. R. Pinot, Le C omité des Forges de France au Service de la nation (Août 1914—Novembre 1918), Paris 1919; A. François-Poncet, La vie et l'oeuvre de Robert Pinot, Paris 1927. — Pinot (1862—1926) war Generalsekretär des C omité des Forges. 13 Société Anonyme de C ommentry-Fourchambault et Decazeville. Das Firmen­ archiv ist deponiert in den Archives Nationales, Serie 59 AQ. 14 Vgl. Verwaltungsrat, Prot. vom 27. 8. 1914 bis 22. 4. 1915 (AN 59 AQ 13). 15 Verwaltungsrat, Prot. vom 18. 11. 1915 und 16. 12. 1915 (AN 59 AQ 13). — Der Gewinn vor Abschreibungen stieg von 4,6 Mio. Francs 1913/14 auf 7,0 Mio. Francs 1914/15. 16 Vgl. G. Jèze, Les dépenses de guerre de la France, Paris 1926, 113—161. 17 „Notes sur les bilans de la Société des Engrenages C itroen et de la Société des Automobiles Mors“, nach dem Krieg anläßlich der Überprüfung der Rüstungsaufträge erstellt (SHA ION 180). 18 Z.B.: Réunion des industriels fabriquant des obus, Prot. vom 28. 8. 1915 (SHA 10 N. 29). 19 Die Anfangspreise müssen einen erheblichen Spielraum in dieser Hinsicht enthal­ ten haben. In Großbritannien gelang es dem Rüstungsministerium z. B., den Preis für Feldartillerie-Granaten von 32 Shilling Anfang 1915 auf 13 Shilling Ende 1915 zu drücken, wobei dem Fabrikanten immer noch ein „angemessener“ Gewinn blieb; vgl. History of the Ministry of Munitions, o. O., 1921 — 1922, III/2, 36 íî. u. 170 f. 20 Réunion des industriels fabriquant des obus, Prot. vom 1. 10. 1915 (SHA 10 N 29). 21 Brief an die S. A. de C ommentry-Fourchambault et Decazeville, zit. in der Sit­ zung des Verwaltungsrates vom 18. 11. 1915 (AN 59 AQ 13). — C ommentry-Four­ chambault war nicht angesprochen, der Staatssekretär bedankte sich vielmehr dafür, daß die Gesellschaft ihre Preise leicht gesenkt hatte. 22 Vgl. H. Truchy, Les fìnances de guerre de la France, Paris 1926, 16 f. 23 Zit. nach E. Dolléans, Histoire du mouvement ouvrier, II., (1871 —1920), Paris 1967, 229. 24 Oualid/Picquenard, 31. 25 Vgl. A. Fontaine, L'industrie française pendant la guerre, Paris o. J . (ca. 1926). 26 Réunion des industriels fabriquant des obus, Prot. v. 25. 6. 1915 (SHA 10 N 29). 27 Ebd., Prot. v. 3. 6. 1916 (SHA 10 N 29). 28 Vgl. Fontaine, 87—102. 29 C ommission d'utilisation et de répartition de la main-d'oeuvre militaire, compte­ rendu des visites effectuées aux et. Schneider & C ie. au C reusot du 19 auf 27 juin 1917 (AN 94 AP 80). 30 A. Rosmer, Le mouvement ouvrier pendant la guerre (I: De l'union sacrée à Zimmerwald), Paris 1936, 429 ff. 31 Fontaine, 69—76. 32 Vgl. L. March, Mouvement des prix et des salaires pendant la guerre, Paris 1925, 297. 33 Vgl. Fontaine, 67—69 u. 80—83; B. Nogaro/L. Weil, La main-d'oeuvre étran­ gère et coloniale pendant la guerre, Paris 1926. 34 Réunion des industriels fabriquant des obus, Prot. v. 30. 10. 1915 (SHA 10 N 29). 35 March, 244, 297. 9

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36 Oualid/Picquenard, 183 ff. — Im gleichen Monat wurde die Zwangsschlichtung von Arbeitsstreitigkeiten eingeführt. 37 Fontaine, 40 f. 38 „Note sur les opérations du C omité des Forges de France dans les approvision­ nements en fontes brutes des usines travaillant pour la défense nationale“, o. Datum; „Note au sujet du rôle du C omité des Forges dans la vente des aciers pendant la guerre“, 13. 2. 1919; „Note au sujet de la centralisation des aciers“, 19. 1. 1918 (sämt­ lich AN 94 AP 233). 39 C hambre des Députés, C ommission des Douanes, Prot. v. 27. 12. 1917, Présidence de M. Marc Réville (AN 94 AP 233). 40 C ommission du Budget, Prot. v. 7. 2. 1917 (AN C 7559, dossier 2251). 41 Vertrag vom 16. 2. 1916 (AN 94 AP 80). 42 C ommission du Budget et C ommission des Marchés réunis, Prot. v. 16. 2. 1917 (AN C 7559, dossier 2252). 43 „Aux Travailleurs de France“, Programm der Sozialistischen Partei (SFIO) für die Wahlen von 1914 (AN C 7767). 44 Vgl. zur politischen Entwicklung: P. Renouvin, La crise européenne et la pre­ mière guerre mondiale (1904—1918), Paris 19695; F. Ponteil, Les bourgeois et la démocratie sociale (1914—1968), Paris 1971. 45 Vgl. dazu: Manifeste du Groupe Socialiste au Parlament et de la C ommission Administrative Permanente du Parti Socialiste, 22 mai 1915. Abgedruckt in: Rosmer, I, 515. 46 Vgl. A. Kriegel, Aux origines du communisme français 1914—1920, Paris 1964, I, 101. — Jules Guesde und Marcel Sembat waren am 26. 8. 1914 in die Regierung eingetreten. 47 Die Einschätzung war nicht einheitlich; Loucheur lobte z. B. gegenüber Briand Thomas als Persönlichkeit, übte aber in Sachfragen deutliche Kritik; vgl. J . de Launay Hg., Louis Loucheur, C arnets Sécrets 1908—1932, Bruxelles 1962, 21 f. 48 Hier zeigt sich m. E. eine deutliche Parallele zu der Rolle Bernard Baruchs in der US-Rüstungspolitik; vgl. R. D. C uíî, Bernard Baruch: Symbol and Myth in Industrial Mobilization, Business History Review 43. 1969, 115—33. 49 Vgl. z. B. die Begründung zu einem Gesetzentwurf über die Rüstungsfabriken im offiziellen Bulletin des Usines de Guerre (BUG) 1. 1916/17, Nr. 46 (12. 3. 17). 50 Sitzung vom 21. 2. 1919, Journal Officiell (JO) 51. 1919, (22. 9.). — Die Kriegs­ gewinne ließen sich bereits dem publizierten Material entnehmen, wie eine zeitgenös­ sische Dissertation zeigt: R. Fuchs, Die Kriegsgewinne der verschiedenen Wirtschafts­ zweige in den einzelnen Staaten an Hand statistischer Daten dargestellt, Diss. Zürich 1918. 51 Sous-C ommission des Armements, Sitzung v. 5. 7. 1915 (AN G 7557). 52 Vgl. die Hinweise bei Oualid/Picquenard, 112—20. 53 Im Prinzip gab es ein Requisitionsrecht, aber es galt als Ausnahme für extreme Fälle: BUG 1. 1916/17, Nr. 20 (11. 9. 16). 54 Vgl. A. Thomas, La Politique Sociale, Paris 1913. Kurze Bemerkungen in: G. de Lusignan, A. Thomas et la justice sociale, in: L'Actualitc de l'Histoire (AH) 4. 1958, Nr. 24. 55 Zit. in: BUG 1. 1916/17, Nr. 1 (1. 5. 16). 56 Vgl. ergänzend zur Rede von Le C reusot den Leitartikel „L'esprit du travail“, in: BUG 1. 1916/17, Nr. 29 (13. 11. 16). Ferner die Rede von Albert Thomas in C aën am 19. 8. 1917: BUG 2. 1917/18, Nr. 18 (27. 8. 17). 57 Sitzung vom 21. 2. 1919, TO 51. 1919, Nr. 52 (22. 2.). 58 Abgedruckt in: AH 24. 1958, Nr. 24. 59 Vgl. Schaper, 110. — Die Anspielung auf Renault, einen der führenden Rü-

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stungsindustriellen, lag nahe, weil Thomas enge persönliche Beziehungen zu ihm unter­ hielt (hierüber ein Teil der Korrespondenz unter AN 94 AP 237). 60 Die Politik der Arbeiterbewegung gegenüber Großindustrie und Staatsapparat wird hier nur angedeutet. Vgl. dazu die gründlichen Untersuchungen von Kriegel, Anm. 46; sowie R. Wohl, French C ommunism in the Making, 1914—1924, Stanford 1966; Rosmer, I, passim, und II (De Zimmerwald à la révolution russe), Paris 1959. Speziell über die Gewerkschaften: R. Picard, Le mouvement syndical durant la guerre, Paris 1927. 61 Im August 1914 war die Entscheidung für die Kooperation mit der Arbeiter­ bewegung nur knapp gefallen; es gab eine beachtliche „harte“ Fraktion, und tatsäch­ lich blieben die vorbereiteten Verhaftungslisten („C arnet B“) keineswegs ganz in der Schublade. Rosmer, I. 152—59. 62 Zur Funktion des neuen Ministeriums: BUG 1. 1916/17, Nr. 37 (8. 1. 17). 63 Rosmer, II, 207, 211 f, 64 Vgl. Kriegel, 169 f. 65 Renouvin, 477 f. 66 Sowohl C lémenceau wie Thomas waren persönlich einer Zusammenarbeit nicht abgeneigt, sie scheiterte am Widerstand der sozialistischen Parlamentsfraktion; Kriegel, 170, Anm. 3. 67 Produktionszahlen der Rüstungsindustrie sind enthalten in: Ministère du C om­ merce Hg., Rapport général sur l'industrie française, Paris 1919. 68 Z.B.: Ministry of Munitions of War, Review of Allied Munitions Programs, 1918 (SHA ION 146). 69 Anders als in Deutschland, nahm der Generalstab dabei keinen direkten Einfluß auf die Rüstungsproduktion; vgl. P. Bruneau, Le rôle du Haut C ommandement au point de vue économique de 1914 à 1921, Nancy 1924. 70 Vgl. A. Delemer, Le bilan de l'étatisme, Paris 1922, 21. 71 R. Hilferding, Probleme der Zeit, Die Gesellschaft 1. 1924, 1 f. — Vgl. zur (par­ tei-)öffentlichen Diskussion der Theorie auch: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927. 72 Vgl. R. Hilferding, Das Finanzkapital (19101), Frankfurt 1968. Dazu auch: W. Gottschalch, Strukturveränderungen der Gesellschaft u. politisches Handeln in der Lehre von R. Hilferding, Berlin 1962. 73 Siehe dazu jüngst etwa: H. Kaelble u. H. Volkmann, Konjunktur u. Streik wäh­ rend des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus in Deutschland, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (bisher: Schmollers Jahrbuch) 92. 1972, bes. 514 f. 74 In dieser Hinsicht gelten die Anmerkungen zur „organisierten Wirtschaft“ Albert Thomas' auch für Hilferdines „Organisierten Kapitalismus“. 75 Die Fehleinschätzung wird deutlich, wenn man z. B. daran erinnert, daß Hilfer­ ding 1924 das Problem der Arbeitslosigkeit im wesentlichen für gelöst hielt; vgl. Hil­ ferding, Probleme der Zeit, 2.

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War Socialism - Erscheinungsformen und Bedeutung des Organisierten Kapitalismus in England im Ersten Weltkrieg Von BERND-JÜRGEN WENDT Der Begrifî „Organisierter Kapitalismus“, wie ihn R. Hilferding zum ersten­ mal im Ersten Weltkrieg verwandt und dann 1927 auf dem Kieler SPD-Partei­ tag in den Mittelpunkt seiner programmatischen Ausführungen über „die Auf­ gaben der Sozialdemokratie in der Republik“ gerückt hat, besitzt in der Ge­ schichte der revisionistischen deutschen Arbeiterbewegung einen spezifischen ideologischen und politischen Stellenwert. „Organisierter Kapitalismus“ be­ deutet nach Hilferding „den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produk­ tion“ sowie die „wachsende Durchdringung von Wirtschaft und Staat“ unter dem Ziel, „mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der bewußten gesellschaftlichen Regelung diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln“1. In Hilferdings gesellschaftspolitischer Konzeption von der evolutionären und schrittweisen Umgestaltung des Kapitalismus über einen Staatskapitalismus zum demokratischen Sozialismus, die dann ein Jahr später in der zusammen mit Fritz Naphtali u. a. im Auftrage des ADGB verfaßten Schrift „Wirt­ schaftsdemokratie, ihr Wesen, Weg und Ziel“ ihre bis in die Zeit nach 1945 grundlegende und weithin verbindliche programmatische Ausformulierung fin­ den sollte, scheint dem Arbeiter als Staatsbürger durch den Stimmzettel die Macht gegeben, „die Hand auf den politischen Hebel des Staates zu legen und dadurch auch das ökonomische Besitzprivileg zu beseitigen“2. Es dürfte methodisch auf den ersten Blick äußerst problematisch sein, einen parteipolitisch und ideologisch derartig „eingefärbten“ Terminus wie den des „Organisierten Kapitalismus“ in einen wissenschaftlichen Modellversuch von außen her an die Deutung sozialökonomischer und politischer Erscheinungs­ formen und Entwicklungszusammenhänge heranzutragen, die wie die engli­ schen ihrerseits nur aus einem eigentümlichen geschichtlichen und lokalen Kon­ text voll zu erklären sind, der doch sehr von dem deutschen abweicht. Überdies ist der Begriff selbst im englischen Schrifttum nirgendwo recht greifbar. Zudem werden sich die Wirtschaftshistoriker und die Sozialhistoriker, so sehr sie „über individuelle Haltungen, Handlungen und Sinnbezüge hinausgehende Mittel zur Strukturierung ihres Materials, d. h. Begriffssysteme, Modelle, Hypothesen und Theorien, die sie nicht aus den Quellen beziehen können“3, benötigen, doch me-

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thodisch allen Versuchen gegenüber kritisch verhalten müssen, durch die globale Überstrapazierung eines Idealtypus einen sehr komplexen und entwicklungs­ geschichtlich geprägten Interaktionsprozeß von technologischen, sozialen, öko­ nomischen, verfassungsmäßigen Faktoren oder gar noch einen ganzen Zeitab­ schnitt unter einem einheitlichen Begriff zu subsumieren. „Nicht der starre Ge­ gensatz von einmal festgelegten Begriffen einerseits und aufbereiteten Daten andererseits, sondern ein verflüssigtes Verhältnis gegenseitiger Modifikation von Modellen und Typen einerseits und den durch sie erst erfaßbar werdenden Quellenbestandteilen andererseits kennzeichnet historische Forschung“4. Auch der Organisierte Kapitalismus war und ist als Programm wie als Zielperspek­ tive, als sozialökonomisches Strukturmerkmal wie als spezifische Entwicklungs­ stufe innerhalb des Kapitalismus jeweils in einer konkreten geschichtlichen Si­ tuation angesiedelt und ohne ihre Analyse nicht zu begreifen. Dennoch wird gerade eine sozialgeschichtlich orientierte Fragestellung nicht bei der additiven Aneinanderreihung individueller Phänomene stehenbleiben dürfen, sondern vielmehr hinter der komplexen, historisch gewordenen Reali­ tät nach gewissen strukturellen Grundmustern (patterns) suchen und im kon­ kret Besonderen zugleich das überindividuell Allgemeine aufzeigen müssen. Vor allem gegenüber einem sehr komplexen und mit vielen Einzelheiten behafteten Problem wird der Historiker auf ein Modell zurückgreifen müssen, das als „Konstrukt“ oder „Substitut“ „genügend einfach und geordnet ist, um eine systematische Untersuchung zu gestatten, und doch gleichzeitig den Tatsachen in der Problemsituation ähnlich genug ist, um den aus der Untersuchung des Modells gezogenen Schlüssen einige Relevanz für das komplizierte Phänomen, welches das Modell darstellen soll, zu erhalten“5. Das methodische Vorgehen ist durch Karl R. Poppers „Scheinwerfertheorie“ vorgezeichnet, nach der „die Hypothese oder Erwartung oder Theorie, oder wie wir es nennen wollen, der Beobachtung vorausgeht, wenn auch die Beobachtung, falls sie die Hypothese falsifiziert, Anlaß zu einer neuen (und damit späteren) Hypothese werden kann. Und das alles gilt insbesondere auch für die wissenschaftliche Hypo­ thesenbildung. Wir lernen ja erst von den Hypothesen, für welche Beobachtun­ gen wir uns interessieren sollen, welche Beobachtungen wir machen sollen; die Hypothese wird zum Führer zu neuen Beobachtungsresultaten“6. In einem hypothetischen Ansatz soll also ein entideologisierter Idealtypus „Organisierter Kapitalismus“ gleichsam wie ein „Scheinwerfer made in Ger­ many“ zunächst auf seine wesentlichen Grundelemente überprüft und dann in einem zweiten Schritt gefragt werden, wie weit dieser „Scheinwerfer“ entwe­ der unter dem ursprünglichen oder unter einem inhaltlich zwar deckungsglei­ chen, sprachlich aber wesentlich angemesseneren Etikett geeignet ist, zum „Füh­ rer“ durch die englische Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu werden und dabei bestimmte Grundmuster schärfer und intensiver als bisher auszuleuchten. Viel­ leicht wird sich dabei sogar herausstellen, daß sich hinter verschiedenen sprach­ lichen Etiketts oft Ähnliches oder gar Gleiches verbirgt, ein einziger „Schein­ werfer“ also ausreicht, in den verschiedensten Regionen Vergleichbares aufzu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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decken und damit gewisse gemeinsame Grundzüge der kapitalistischen Entwick­ lung über alle lokalen, nationalen und entwicklungsgeschichtlichen Differenzie­ rungen hinweg herauszuarbeiten. Als unverzichtbares Konstitutivum des Organisierten Kapitalismus ist bei Hilferding das, was Rudolf Kuda als „Entaktualisierung der traditionellen Steuerungsmechanismen“7 bezeichnet, angesprochen, also die Ablösung der freien Selbstregulierungsmechanismen des kapitalistischen Marktes durch inter­ ventionistische Planungstechniken des Staates bei zunächst noch privater Ver­ fügungsgewalt über die Produktionsmittel und, damit unmittelbar verknüpft, der Funktionswandel des Staates selbst im Verlauf einer immer engeren Ver­ flechtung von politischer und ökonomischer Macht durch die direkte Übernahme von Produzenten-, Verteiler- und Arbeitgeberaufgaben. Genau diese Tendenz weg von der liberalkapitalistischen Marktwirtschaft und hin zu einer staat­ lichen 2entralverwaltungswirtschaft wurde im Ersten Weltkrieg in England mit dem Terminus „War Socialism“ umschrieben, dem sich in etwa synonym die Begriffe „Planned Economy“8, „State Intervention“9, „State C ontrol“10, „State Socialism“11, „C ontrolled Economy“1'2, ja sogar „Industrial C onscrip­ tion“13 zuordnen lassen14. Auch der britische War Socialism beinhaltete ähn­ lich wie der Organisierte Kapitalismus einen Trend zur Konzentration in allen Sektoren des Wirtschaftslebens, zur wachsenden unternehmerischen Tätigkeit des Staates, zum Ausbau staatlicher Steuerungs- und Lenkungsfunktionen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, zur obrigkeitlichen Regulierung und Kanalisierung sozialer Konflikte, zur Verbürokratisierung und zentralistischen Organisierung des Wirtschaftsprozesses sowie zur staatlich abgestützten und protektionierten Entwicklung neuer Wachstumsindustrien (Großchemie, Elek­ troindustrie) auf der Basis von Naturwissenschaft und Technik. Er stellte somit eine zwar vielfältig vorbereitete und sich in den einzelnen Wirtschaftsberei­ chen unterschiedlich fließend vollziehende, aber doch insgesamt gegen die vor­ hergehende abgehobene, neue Entwicklungsphase des Kapitalismus dar. Selbst bis in die angedeutete ideologische Sphäre hinein läßt sich in der klas­ sengebundenen Ambivalenz der Erwartungen, die sich an beide Erscheinungs­ formen des Kapitalismus knüpften, eine Parallele zwischen dem Organisierten Kapitalismus Hilferdingscher und dem War Socialism englischer Prägung auf­ zeigen: Die deutsche wie die englische Arbeiterbewegung sahen in beiden Orga­ nisationsformen nur Durchgangsstufen und eine mehr oder minder geeignete Ausgangsbasis für eine Verstaatlichung der Produktionsmittel jedenfalls in den wichtigen Grundstoffindustrien (Kohle, Eisen und Stahl) sowie im Verkehrs­ wesen (Eisenbahnen in England), für eine Beschneidung des privaten Gewinnes und vor allem auch für eine demokratische Kontrolle politischer und ökonomi­ scher Machtzusammenballungen; nur so schienen den Arbeitern die Härten der Kriegszwangswirtschaft (industrial conscription) besonders in den letzten bei­ den Kriegsjahren und der aufgezwungene Verzicht auf die Ausübung gewerk­ schaftlicher Rechte vorübergehend erträglich; nur so ist auch der Schock zu ver­ stehen, mit dem in England wie in Deutschland nach Kriegsende breite Schich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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ten der Bevölkerung auf den raschen Abbau des War Socialism im Zuge der „decontrol“ und die Wiederherstellung des Wettbewerbskapitalismus unter be­ wußtem Verzicht auf die erhofften Nationalisierungsmaßnahmen reagierten. Demgegenüber stand für die „business C ommunity“ in England ebenso wie für das Besitzbürgertum in Deutschland und seine politischen Repräsentanten die systemerhaltende und sozialprotektionistische Funktion staatlicher Interven­ tionsmaßnahmen unter den Bedingungen außergewöhnlicher — teils ökonomi­ scher, teils politisch-militärischer — Beanspruchungen des kapitalistischen Wirt­ schaftsorganismus im Vordergrund. Damit verband sich die Erwartung, nach Wegfall dieser Störungen gleichsam „die Uhren wieder zurückdrehen“ zu kön­ nen. Es gehörte in England zu den für das soziale Klima der 2wischenkriegszeit verhängnisvollsten Mißverständnissen, daß zwar auch Lloyd George, obwohl er sich wie alle Liberalen, auch der „radikale“ Flügel, den Prinzipien des „free enterprise“ zutiefst verpflichtet fühlte, wiederholt öffentlich davon sprach, im Kriege würden Schiffahrt, Bergbau und Eisenbahnwesen „nationalisiert im wahrsten Sinne des Wortes“ (nationalised in the real sense of the term15) und dadurch in der Arbeiterschaft große Hoffnungen auf einen von oben her ver­ ordneten Umbau der gesellschaftlich-ökonomischen Ordnung weckte; er meinte aber mit der „Nationalisierung“ im Grunde nichts anderes als die zeitweilige Unterstellung kriegswichtiger Wirtschaftszweige unter staatliche Aufsicht (wo­ bei man mit der Leitung wiederum die führenden Vertreter und Organisatio­ nen der jeweiligen Branche betraute) sowie eine zeitweilige Beschneidung der Frachttarife und der privaten Gewinne. Aber scheint nicht der Begriff „War Socialism“ — etwa im Unterschied zum Organisierten Kapitalismus — schon per definitionem den Eindruck nahezule­ gen, als habe es sich hier nur um eine vorübergehend eingesetzte Abwehrwaffe zur Selbstbehauptung Englands in einem Material- und Verschleißkrieg bisher völlig unbekannten Ausmaßes gehandelt? Unter diesem Aspekt wäre es freilich unsinnig, hier von einer Entwicklungsstufe oder gar einem strukturierenden Ele­ ment für die britische Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu sprechen. Diese gewiß angebrachte Skepsis wird noch durch den Zweifel verstärkt, ob es überhaupt legitim ist, einen ökonomisch-sozialen Entwicklungsverlauf so „kurzatmig“ zu periodisieren16 oder ob uns nicht „die herkömmliche Ge­ schichtsschreibung . . . seit langem an eine schnelle, dramatische, kurzatmige Schilderung gewöhnt“ hat, während „die neue ökonomische und soziale Ge­ schichtsschreibung . . . die Erforschung des zyklischen Verlaufs in den Vorder­ grund (stellt) und auf seiner Dauer“ besteht17. Demgegenüber sei die These vom qualitativen Sprung gewagt, die der War Socialism in der englischen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung darstellt. Es wird aufzuzeigen sein, wie er sie auf weitere Sicht irreversibel geprägt und für die Bewältigung spä­ terer Existenzkrisen des Empires (Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg) ge­ radezu Modell- und Laborcharakter gewonnen hat. Im Grunde gilt für den War Socialism insgesamt die Bemerkung S. Pollards über die vom Ministry of Munitions angeregte „formation of trade combinations“: „Many of these © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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associations did not survive the war, but they orten left skeleton structures which could quickly take on flesh and blood when depression encouraged restrictive practices.“18 Auch wird zu überprüfen sein, wie sich im Kriegs­ sozialismus kurzfristig-exogene mit bereits langfristig endogen im englischen Wirtschaftskörper angelegten Antriebsmomenten verbunden haben. Den Beweis für den Epochencharakter des War Socialism in Staat, Wirt­ schaft und Gesellschaft an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert oder — so überraschend dies zunächst von Kontinentaleuropa oder den USA aus klin­ gen mag — an der Schwelle von der sogenannten Ersten zur Zweiten Indu­ striellen Revolution in England mit all ihren sozialen und konstitutionellen Konsequenzen könnte nur eine umfassende Darstellung der englischen Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte erbringen. Das ist in diesem Rahmen natürlich nicht zu leisten. Es kann im folgenden nur darum gehen, mehr stichwortartig in großen Umrissen grundlegende Entwicklungsstränge herauszuarbeiten, soweit sie formend für das England des 20. Jahrhunderts bis heute geworden sind. Die Fülle der geschichtlichen Erscheinungen soll unter der Frage nach dem weiterwirkenden Modell- und Laborcharakter des War Socialism strukturiert und zugleich nach Möglichkeit zwischen Primär- und Sekundär-, endogenen und exogenen Faktoren unterschieden werden. Die Analyse wird sich dabei ge­ rade auch von ihrem spezifischen Thema her, dem England des Ersten Welt­ krieges, gegen alle panökonomistischen Interpretationen ebenso abzugrenzen ha­ ben wie gegenüber dem dem Stamokap-Modell zugrunde liegenden Versuch, den Staat a priori als Werkzeug monopolistischer (wieweit gab es damals so etwas überhaupt schon in England?) und klassenspezifischer Interessen festzu­ legen und ihm damit jeden eigenständigen Entscheidungsspielraum abzuspre­ chen. Der zeitliche Rahmen der Betrachtung deckt sich nicht ganz mit dem militäri­ schen Geschehen. Denn einerseits wird man von War Socialism im Sinne einer kontrollierten Planwirtschaft — eine totale Kriegszwangswirtschaft hat es bis Kriegsende in England nicht gegeben — erst nach einer zweijährigen Anlaufs­ phase ab 1916 sprechen können; andererseits muß eine abgerundete Analyse die Demobilisierungs- und „Reconstruction“-Phase bis zur Aufhebung der Kon­ trollen und bis zur administrativ verfügten Beendigung des — ursprünglich als Kern der „Reconstruction“ konzipierten und dann geradezu modellhaft Fehlplanung, Widersprüchlichkeit und Scheitern der Sozialreformen kennzei­ nenden — „housing program“ im Juli 1921 (formal 1922) mit einbeziehen. Die Situation Englands am Vorabend des Ersten Weltkrieges19 ist hinter der Fassade einer kurzfristigen, boomartigen Scheinblüte auf dem Export­ und dem Rüstungssektor gekennzeichnet durch tiefgreifende Strukturprobleme in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: auf dem Produktions- und Distribu­ tivsektor, im Sozial- wie im Parteienwesen, in Naturwissenschaft und Technik, in Staat und Verfassung, ja selbst im Ausbildungswesen. Die englische Friedens­ wirtschaft wies 1914 gegenüber Deutschland, den USA und Japan alarmierende Zeichen einer Verspätung20 und einer zunehmenden Erschlaffung des Wirt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Schaftswachstums auf. „Wie stark die Stürme der Umwandlung anderswo auch sein mochten, sie ließen nach, sobald sie den Kanal in Richtung Großbritannien überquert hatten. [. . .] Der plötzliche Wechsel von der führenden, dynamisch­ sten Industriewirtschaft zur trägsten und konservativsten innerhalb von dreißig oder vierzig Jahren (1860—1890/1900) bildet das Kernproblem der britischen Wirtschaftsgeschichte.“21 In der Ersten Industriellen Revolution des 18. und frühen 19. Jahrhunderts einst Schrittmacher für die weltweite Industrialisierung (workshop of the world), hatte England nicht zuletzt durch eine dogmatische und immer stärker anachronistische Fixierung auf den Laissez-Faire-Liberalismus und einen indi­ vidualistisch strukturierten Wettbewerbskapitalismus in den politisch-ökono­ mischen Führungsschichten seit den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhun­ derts den Anschluß an die sogenannte Zweite Industrielle Revolution in den USA und Westeuropa verpaßt. Gründe und Erscheinungsformen dieser Verspä­ tung sind hier nur anzudeuten: Der frühe Start (early Start theory) mit einer schwerpunktmäßigen Konzentration von Kapital und Arbeit (Problem des overcommitment und der overcapitalization) einseitig in den traditionellen und exportintensiven Wachstumsindustrien der Ersten Industriellen Revolution (old and declining industries: Eisen und Stahl, Kohle, Schiffbau, Maschinen­ bau, Baumwolle) verhinderte eine flexible Anpassung an (structural readjust­ ment) und Umstellung auf (transformation) neue ökonomische Leitsektoren der Zweiten Industriellen Revolution (new and growing industries: Elektroindu­ strie, C hemie, Motoren-, Apparate-, Fahrzeugbau, Kunststoffartikel, Optik, Fotoartikel, Präzisionsinstrumente etc.). Der an sich für das britische Wirt­ schaftswachstum dringend erforderliche Transformationsprozeß lief sich sofort fest an der Enge des allgemein noch vorherrschenden kleinen und mittleren Familienbetriebes mit antiquierten Fertigungs- und Managementmethoden, mit einer hohen Selbstfìnanzierungsrate ohne die für einen intensiven Ausbau der Produktionskapazitäten notwendigen Bankverbindungen und Kapitalakkumu­ lationen (geringe Zahl von Aktiengesellschaften) sowie mit überholten Wer­ bungs- und Verkaufsmethoden (kein Marketing). Ein wesentliches Hindernis für eine Modernisierung bildete aber oft auch die konservative, vielfach noch zünftisch-handwerkliche Exklusivität der Ge­ werkschaften mit ihren monopolartigen Rechten und Privilegien auf dem Be­ schäftigungssektor. Eine weitverbreitete Abneigung gegen alle obrigkeitlich­ planerischen Tendenzen verband sich im Ausbildungswesen in der Distanz zum naturwissenschaftlich-technischen Zeitalter mit einem ähnlich gelagerten Antimodernismus. Zwar wird man seit der Großen Depression des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch in der englischen Wirtschaft Konzentrations- und Mono­ polisierungserscheinungen sowie unternehmerisches Engagement des Staates be­ sonders in den öffentlichen Versorgungsbetrieben, auf dem Rüstungs- (Flotte) und Treibstoffsektor (öl), bei Eisen und Stahl nicht übersehen können22, sie bestimmten aber noch keineswegs die Produktionslandschaft. „Die Struktur der britischen Industrie war an die kleine oder mittelgroße, hochspezialisierte, von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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einer Familie betriebene und finanzierte, wettbewerbsfähige Firma gebunden, ebenso wie die britische Wirtschaftspolitik an den Freihandel gebunden war. [. . .] Zweifellos bestand eine Tendenz zur Konzentration, sie hatte aber noch keine strukturelle Umwandlung der Wirtschaft bewirkt“23. In der britischen Innenpolitik, besonders im sozialen Klima, sah es am Vor­ abend des Krieges nicht weniger kritisch aus. Die sozialprotektionistische Re­ formpolitik unter Lloyd George, deren parteitaktisches Kalkül gemeinhin eben­ so unterschätzt wie ihr revolutionärer und verteilungspolitischer C harakter überschätzt wird (die Versicherungen trugen sich wesentlich selbst), hatte ihr wesentliches Ziel nicht erreicht: den Arbeiter in einer Allianz zwischen der neuen „industrial middle class“ und dem Proletariat zu „domestizieren“ und damit dem bürgerlich-radikalen Liberalismus rechts von der erstarkenden Labour Party und links von den Konservativen eine politische Massenbasis zu sichern. Dabei sollten freilich — ein Balanceakt, an dem der politische Liberalismus wenig später mit zerbrechen sollte — die Interessen der „business C ommunity“ und die inneren Bewegungsmechanismen des liberalen Wettbewerbskapitalismus nicht durch allzu starke obrigkeitliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt und das Lohngefüge gestört werden. Sinkende Realeinkommen der Arbeiter bei steigen­ den Preisen inmitten einer boomartigen Prosperität hatten schon 1912 zu aus­ gedehnten Streikbewegungen geführt, die zunächst noch einmal durch die „Minimum Wage Act“ abgefangen werden konnten, im Grunde aber bis 1914 nicht mehr wesentlich abflauten. Die Desillusionierung über den „radikalen“ Reformliberalismus — nach einem späteren, verbitterten Urteil Addi­ sons, das. nicht ohne menschliche Tragik war, eine Ära „of high sounding phras­ es and empty platitudes“21 — war in der Arbeiterschaft allgemein, diese selbst im letzten Friedenssommer „in a revolutionary mood“25. „Wait till the autumn“ war eine damals häufig gehörte Redewendung, zweifellos nicht nur im Blick auf die ständig sich zuspitzende „Irische Frage“, sondern auch auf die von Lloyd George für den Herbst erwartete „series of industrial disturbances without precedent“26. So wenig es je im einzelnen wird nachzuweisen sein, welchen Einfluß eine derartig düstere und fatalistische Einschätzung der inneren Lage in den Füh­ rungsschichten damals auf die Außenpolitik gehabt hat, so unbestritten dürfte es jedoch sein, daß der Kriegsausbruch mit dem unmittelbar darauf geschlos­ senen sozialen „Burgfrieden“ nicht nur in Deutschland, sondern auch in Eng­ land in weiten, insbesondere konservativen Kreisen, soweit sie nicht unmittelbar durch eine Verbindung mit der C ity, dem Außenhandel und der Schiffahrt existentiell am Frieden interessiert waren, wie eine Entladung in einer lasten­ den Gewitterschwüle mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen worden ist. Nach Hobsbawm waren die letzten Jahre vor dem Krieg „Jahre des poli­ tischen Zusammenbruchs . . ., in denen der stabile und zugleich flexible Anpas­ sungsmechanismus der britischen Politik zu funktionieren aufhörte und die Macht ihre nackten Knochen sehen ließ, entblößt von dem Gewebe, das sie normalerweise verhüllt. [. . .] Es waren die Jahre, in denen Gewalt in der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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englischen Luft lag, Symptome einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, die auch das Selbstvertrauen, das sich in der überladenen Architektur der Ritzhotels, der fürstlichen Paläste, der Westend-Theater, Kaufhäuser und Bürohochhäuser zeigte, nicht ganz vertuschen konnte“27. Dieser skizzenhafte Überblick über das England der Vorkriegszeit sollte das Szenarium erhellen, auf dem dann sehr zögernd und nur schrittweise der War Socialism weitgehend auf dem Verordnungswege etabliert wurde. Angesichts dieser tiefverwurzelten und strukturbedingten Widersprüchlichkeiten im öffent­ lichen Leben dürfte die Feststellung kaum spekulativ sein, daß der erwähnte Anpassungsmechanismus, solange er sich vorwiegend aus privatwirtschaftlich­ individualistischen Impulsen speiste und regulierende Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsorganismus noch auf heftigen Widerstand stießen, gegenüber einer ständig wachsenden Weltmarktkonkurrenz durch die USA, Deutschland und Japan wahrscheinlich versagt oder zumindest doch nicht annähernd die erforderliche Flexibilität gezeigt hätte, um England in der gebotenen knappen Zeit, die ihm für den Transformationsprozeß noch zur Verfügung stand, in die Zweite Industrielle Revolution zu führen und ihm damit auch für die Zukunft eine Spitzenposition als Handels- und Industriemacht zu sichern. Nicht einmal der Ausbruch des Krieges wurde zunächst von der liberalen Führung als Aufforderung zu einer Aktivierung der staatlichen Wirtschafts­ politik verstanden28. Gewerkschaften und Geschäftswelt waren sich in seltener Einmütigkeit in ihrem scharfen Widerstand gegen die Einführung einer Kriegs­ zwangswirtschaft (industrial conscription) einig29; die Gewerkschaften aus Angst, die vielfach als Klassenfeind angesehene liberale Regierung könne eine Kriegszwangswirtschaft zum Anlaß einer Beseitigung der bisher erkämpften gewerkschaftlichen Privilegien und Rechte nehmen, zumal da man für die er­ sten Kriegswochen allgemein eine Massenarbeitslosigkeit befürchtete; die „busi­ ness C ommunity“, weil sie grundsätzlich jeden staatlichen Dirigismus heftig ablehnte. Hinter dem Schutzwall des „Burgfriedens“, in dem die Vertreter der Arbeiterschaft vorerst freiwillig auf Lohnerhöhungen und Arbeitskämpfe ver­ zichteten, lautete die von Churchill ausgegebene Devise „business as usual“. Wal­ ter Runciman, Präsident des Board of Trade, erklärte vor dem Unterhaus: „No government action could overcome economic laws and any interference with those laws must end in disaster.“30 In der gleichen Richtung äußerte sich wenige Tage nach Kriegsausbruch, am 8. August, der Home Secretary ebenfalls vor dem Unterhaus: „Our desire has been not to interfere with ordinary trade at all, but to leave the traders to conduct their own business.“31 „There must be as little interference as possible with the normal C hannels of trade“32 hieß für weite Bevölkerungsschichten in allen sozialen Lagern, daß die Regierung ihren größten Beitrag zum Krieg gleichsam durch eine Erklärung zur administrativen Selbstbescheidung gegen­ über der „business C ommunity“ leisten könne, wobei das „as little as possible“ freilich immer noch einen großen Interpretationsspielraum ließ. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Der Krieg wurde allgemein zunächst als eine nur vorübergehende und mög­ lichst umgehend zu behebende Störung des weltweiten liberalen Handels- und Kapitalverkehrs angesehen. Dieser Liberalismus garantierte nach weitverbrei­ teter Auffassung die Fortexistenz jenes liberalen viktorianischen Englands des 19. Jahrhunderts, das breiten Mittel- und Oberschichten trotz aller Krisen­ symptome immer noch als vorbildlicher Hort der Stabilität und Solidität er­ schien. Die Kriegführung war weitgehend eine Angelegenheit der Exekutive, die selbst für eine Bereitstellung der notwendigen Ausrüstungsgegenstände (Waffen, Munition), Rohstoffe und Nahrungsmittel, aber auch durch eine so­ fortige Übernahme der Eisenbahnverwaltung, durch eine staatlich garantierte Kriegsrisikoversicherung für die Handelsschiffahrt sowie durch Stützungsmaß­ nahmen für die C ity (Zahlungsmoratorien, Wechselgarantien usf.)33 für eine reibungslose Abwicklung des Außenhandels und für die Erhaltung der finan­ ziellen Stabilität (insbesondere des Pfundes) zu sorgen, dabei jedoch ihre eige­ nen Produzenten-, Unternehmer- und Verteilerfunktionen nach Möglichkeit auf ein Minimum zu beschränken hatte (Rationierung und Überwachung von kriegswichtigen Rohstoffen und Nahrungsmitteln wie Zucker). Gleichsam als Wunderwaffen zur schnellen Beendigung jenes „Krieges der Improvisationen“, für den vorher auf dem militärischen und zivilen Versorgungssektor keine ernsthaften planerischen und organisatorischen Vorbereitungen getrofíen wor­ den waren und dessen tatsächlicher Verlauf dann auch den Vorstellungshorizont nicht nur der Engländer weit übertreffen sollte, galten eine Erhaltung des li­ beralen Marktmechanismus im Inland, die weitere Sicherung des Außenhandels und des Kapitalverkehrs, soweit dies unter Kriegsbedingungen möglich war, eine hohe Gewinnmarge als Anreiz für den Produzenten34, gesunde fiskalische Grundlagen und eine Pflege des Geld- und Kapitalmarktes durch eine zunächst sehr maßvolle, die „business C ommunity“ weitgehend schonende Steuerpolitik sowie ein hoher Beschäftigungsstand. Eisenbahnwesen, Bergbau und Schiffahrt boten geradezu klassische Beispiele für eine vertrauensvolle Verbindung von Staatsapparat und Privatwirtschaft. Gerade dieses mehr oder minder reibungslose Zusammenspiel von staatlicher Kontrolle, privatem Management und unternehmerischem Gewinnkalkül bildete den Kern dessen, was Lloyd George so mißverständlich, wie erwähnt, als „Nationalisierung im eigentlichen Sinne des Wortes“ bezeichnete, den Kern des britischen War Socialism überhaupt. Zwar übernahm die Regierung sofort nach Kriegsausbruch die Aufsicht über die drei wichtigsten Dienstlei­ stungs- und Produktionsbereiche (Eisenbahnen, Schiffahrt, Kohle); sie übte die Verwaltung jedoch nur indirekt über die nunmehr als staatlich beauftragte Manager fungierenden Eigentümer sowie unter voller Anerkennung der über­ kommenen Besitzrechte aus und garantierte ihnen überdies eine Dividende, die sich aus dem günstigsten der drei Vorkriegsjahre 1911—14 errechnete und erst in ihrer darüber hinausgehenden Spitze ab 1915 auf Druck der Öffentlichkeit unter dem Schatzkanzler McKenna durch die „excess-profits duty“ zunächst mit 50 und dann ab 1917 mit 80 % weggesteuert wurde. Solange die Regierung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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nicht ernsthaft an eine „conscription of wealth“ dachte, scheute sie auch das Risiko einer radikalen „conscription of labour“. Der Übergang zur Kriegswirtschaft und zum eigentlichen War Socialism in England seit 1916 und in der vollen Ausprägung erst im letzten Kriegsjahr stellte eine wesentlich pragmatische und vielfach ad hoc improvisierte, dabei unkoordinierte und nur schrittweise realisierte Antwort dar auf die Heraus­ forderung eines sich verschärfenden Abnutzungs- und Materialkrieges, auf das wachsende „man-power“-Problem und endlich, damit verbunden, auf eine ra­ pide Verschlechterung des sozialen Klimas35 besonders in den Bergbau- und Rüstungszentren von South Wales und im C lyde-Distrikt. Der Übergang zur „planned economy“ signalisierte den Bankerott des liberal-kapitalistischen Wettbewerbsdogmas der ersten beiden Kriegsjahre und damit im Grunde das Ende der „viktorianischen Ära“ mit weitreichenden Konsequenzen auch für den politischen Liberalismus. Im War Socialism des Ersten Weltkrieges begann „the conversion of individualistic capitalism to the collectivism of a later age“36. Diese Entwicklung entbehrte einer umfassenden theoretisch-programmatischen Fundierung und Formulierung, was bis heute in den Darstellungen in einem auffallenden Theorie-Mangel nachwirkt. „It is a commonplace“, charakteri­ siert R. H. Tawney seine Landsleute, „that the characteristic virtue of English­ men is their power of sustained practical activity, and their characteristic vice a reluctance to test the quality of that activity by reference to principles“37. „This ,characteristic vice'“, sekundiert Hurwitz, „became the great virtue.“ Denn so sei es ihnen im Ersten Weltkrieg möglich gewesen, ohne einen formel­ len und dann sicher auch schmerzlichen Verzicht auf ihre „cherished (liberal) shibboleths“ die anstehenden Probleme, wenn auch oft verspätet, so dann doch „with the advantage of a pragmatic approach so serviceable in a changing world“ anzugehen. Die schrittweise unter dem Zwang der Umstände einge­ führte und erweiterte „planned economy“ war nach Salter de facto nahezu komplett, „before it was adopted as a deliberate policy“38. „Forced to ac­ quiesce in a State of fact, the British people and the British Government never quite brought themselves to its acceptance as theory . . ., even in the absence of any ,philosophy of control', the fact of control was startling.“39 „The transition was brought about, not by a clear realization and enunciation of general policy, but by patched-up adaptions and compromises, unco-ordinated and fitful, often directly contrary to proclaimed principles, or at least depart­ ing from and evading them.“40 In der Analyse des War Socialism wird man von folgenden Grundfaktoren auszugehen haben: 1. Rein organisatorisch wurden die planerisch-etatistischen Elemente als eine Summe von ökonomischen, sozialen und konstitutionellen Einzelmaßnahmen nach und nach der privatwirtschaftlichen Ordnung nach Maßgabe der kriegs­ wirtschaftlichen „efficiency“ und der ökonomischen und sozialen Stabilisierung im Inneren gleichsam „aufgepfropft“41. Dahinter stand die Hoffnung, dies © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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werde nur ein — verfassungsmäßig während des Krieges durch die „Defence of the Realm Act“ und ihre zahlreichen Ergänzungen abgestützter — Über­ gangszustand sein. Es sollte sich jedoch dann herausstellen, daß die Macht des Faktischen schließlich Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in England auf weite Sicht entgegen den ursprünglichen Intentionen zutiefst geprägt und zu nicht mehr veränderbaren Weichenstellungen geführt hat. Der Erste Weltkrieg war „the end of an epoch“42. 2. Kennzeichnend für die Einführung und Praktizierung des War Socialism war seine stark stimulierende und bewußt unorthodox, vielfach geradezu „ex­ plosiv“ zur Geltung gebrachte personalistisch-voluntaristische Komponente. Sie fand am deutlichsten ihre Personifizierung in dem „radikalen“ Waliser Lloyd George und seinem War C abinet. Seine vom alten politischen Establishment und von den Vorderbänklern des Unterhauses mit tiefem Mißtrauen und weit­ hin mit Ablehnung aufgenommene Ernennung zum Kriegspremier am 7. De­ zember 1916 war „more than a change of government“43, es war für britische Verhältnisse geradezu eine — freilich nur aus der zugespitzten Kriegslage zu erklärende und ihr genau Rechnung tragende — „Revolution“; das War Cabinet stellte eine „Wasserscheide“ nicht nur in der ökonomischen Kriegfüh­ rung, sondern, etwas überspitzt formuliert, zwischen dem England des 19. und dem des 20. Jahrhunderts dar. „The party magnates and the whips had been defied. The backbenchers and the newspapers combined in a sort of unconscious plebiscite and made Lloyd George dictator for the duration of the war. [. . .] Lloyd George was the nearest thing England has known to a Napoleon, a supreme ruler maintaining himself by individual achievement.“44 Durch sein demagogisches Talent und seine schon vor 1914 vom Schatzamt aus unter­ nommenen direkten Appelle an das Volk, in denen er sich selbst sehr bewußt als „eines der Kinder dieses Volkes“, als „Produkt einer elementary school“, als „Pionier des Wohlfahrtsstaates“ und dann später als „leader of the people“ oder „leader of the nation“45 darstellte, brachte Lloyd George fast plebiszitär­ bonapartistische Züge in die Politik; auch an Vergleichen mit der amerikani­ schen Präsidialverfassung fehlte es nicht, um das Außergewöhnliche der Stel­ lung des neuen Premiers zu charakterisieren, wenngleich ein langfristiger Um­ bau der britischen Verfassung sicher ebensowenig in seinem politischen Kalkül wie überhaupt im Bereich des Durchführbaren gelegen hat. Immerhin gab es im Parlament entsprechende Befürchtungen, an denen auch Mitglieder des Kriegskabinetts nicht unschuldig waren. So brachte Lord C urzon am 19. Juni 1918 gegenüber Angriffen der liberalen Opposition im Oberhaus, nach denen das System von „half-a-dozen oligarchs“, die nunmehr die Ge­ schicke Englands beherrschten, „in many respects an infringement of the C on­ stitution, a great danger to civil government“ darstelle und wahrscheinlich „most serious results after the war“ haben werde, unmißverständlich den qua­ litativen Sprung zwischen der Regierung Asquith und dem War C abinet zum Ausdruck: „. . . it was idle to think that they could go back to the old System. The old C abinet was faulty for the purpose of peace, and quite impossible in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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time of war. [. . .] When that System came into contact with the hard realities of war, it was destined to crumble to pieces at once.“46 Es kann in diesem Zu­ sammenhang nur andeutend darauf hingewiesen werden, daß also schon im Ersten Weltkrieg unter dem Druck der inneren und äußeren Belastung zwecks Straffung der Exekutive in der politischen Führung gleichsam am Rande der Verfassung und in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihr Organisations­ formen und Entscheidungsmechanismen entwickelt wurden, die sich im Kriegs­ kabinett C hurchill 1940—1945 wiederfinden sollten. Der personalistisch-unorthodoxe und vielfach improvisierende Regierungs­ stil eines Lloyd George prägte auch entscheidend die Konzipierung und Durch­ führung des War Socialism. Die Lenkungsaufgaben auf dem Produktions­ dem Distributiv- und dem Verkehrssektor wurden, ohne daß es dafür bisher ein Vorbild gab, unter Mobilisierung und Heranziehung aufgeschlossener Un­ ternehmerkreise ohne politischen Hintergrund sowie teilweise unter Überspie­ lung der eingefahrenen Parteiapparate durchgeführt; eine technokratische Ma­ nagerschicht wurde zeitweise dem Staatsdienst attachiert unter strikter Beach­ tung der überkommenen Eigentumsverhältnisse sowie des Prinzips der Frei­ willigkeit, private Unternehmerinitiative als Stimulans für die geforderte „efficiency“ eingespannt. Nicht nur für das Eisenbahnwesen, sondern ganz prinzipiell für die stetige Ausdehnung des staatlich kontrollierten Wirtschafts­ sektors gilt die Feststellung Walter Runcimans vom 17. Februar 1915: „. . . not that the Government undertook the management of the railways, but that it brought together those who controlled the railways and allowed them to go on managing them. The next characteristic of Government control . . . has been that although we have control . . . we are not managing . . ,“47 Im April 1915 faßte das Unterhausmitglied Samuel Roberts, nach seinen eigenen Worten „the only Member of the House on the board of one of the large armaments com­ panies“, das Vertrauen, das seine Schicht der Regierung und den von ihr ein­ geleiteten kriegswirtschaftlichen Planungsmaßnahmen entgegenbrachte, in die Bemerkung zusammen, man stelle sich der Regierungskontrolle nicht in den Weg, „because we know that . . . we shall not incur injustice“ seitens der Re­ gierung48. Diese Bekundung des Vertrauens namens der „business C ommunity“ galt auch und vor allem dem Inhaber des neuen Rüstungsministeriums (Ministry of Munitions), Lloyd George, der sein Ministerium, dessen Einrichtung einen Meilenstein auf dem Wege zur Kriegswirtschaft bedeutete, selbst als „from first to last a business-man organization“ mit „business men“ in allen Leitungs­ funktionen bezeichnete49. So wird man zusammenfassend sagen können, daß zwar auch das Unter­ nehmertum wie zunehmend die gesamte Privatwirtschaft der staatlichen Auf­ sicht unterworfen wurde, dies jedoch „in a manner befitting that of a State built up and ruled by the middle class“50. Demgegenüber wurden Gewerk­ schaftsvertreter entgegen gewissen Zusicherungen, die ihnen die Regierung ur­ sprünglich in dem noch zu behandelnden „Treasury Agreement“ vom März © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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1915 gemacht hatte, nicht partnerschaftlich in wirtschaftliche Leitungs- und Lenkungsfunktionen einbezogen. 3. Zwar hat es auch in England, wie etwa der „shells scandal“ vom Frühjahr 1915 und die dadurch erzwungene Erweiterung der liberalen Regierung As­ quith zur Koalitionsregierung deutlich machten, nicht an Versuchen des militäri­ schen Oberkommandos gefehlt, im Zusammenwirken mit gewissen Presseorga­ nen und unionistischen Kreisen sowie unter Aufputschung der öffentlichen Mei­ nung Einfluß auf das politische Geschehen in der Heimat zu nehmen. Dennoch wird man als hervorstechenden Zug des War Socialism betonen müssen, daß es Lloyd George unter erheblichen Mühen und nicht selten sehr explosiven, von der anderen Seite des Hauses geschürten Spannungen doch bis zuletzt erfolg­ reich gelang, einer unangemessenen Einflußnahme der militärischen auf die zi­ vile Führung und Entscheidungskompetenz entgegenzuwirken. Er blockierte damit eine militärische oder quasi-militärische Bürokratisierung, wie sie in Deutschland zunehmend unter der Dritten Obersten Heeresleitung seit 1916 zu beobachten war. Ausgehend von diesen drei Grundkomponenten des britischen Kriegssozialis­ mus — organisatorisch-planerische „Aufpfropfung“ auf die bestehende Ord­ nung mit unerwartet weitreichenden Konsequenzen für deren Umstrukturie­ rung; Integration der „business C ommunity“ in die staatlichen Lenkungs- und Kontrollmechanismen unter bewußter Wahrung der tradierten Eigentumsver­ hältnisse; Primat des Politischen über das Militärische — wird im folgenden konkret zu klären sein, in welcher Richtung der War Socialism die britische Wirtschafts- und Sozialgeschichte bestimmt hat und warum es also vertretbar erscheint, den Begriff für deren entwicklungsgeschichtliche Strukturierung zu verwenden. Zur besseren Übersicht soll die Hypothese vom qualitativen Sprung des War Socialism skizzenhaft an einigen Sektoren aus dem sozialökonomischen Bereich überprüft werden. Dabei ist freilich bei der inhaltlichen Ausschöpfung sowie bei der Überprüfung des historisch-politischen Stellenwertes eines Be­ griffes, dessen vielschichtiger und weit eher durch improvisatorischen Pragmatis­ mus als durch theoretische Abstraktion geprägter Bedeutungsinhalt eine allzu starke ideaitypische Fixierung verbietet, auch vor einer Überstrapazierung der sektoralen Betrachtung zu warnen, sofern sie sehr komplex ineinander ver­ wobene Phänomene künstlich trennt. Der Historiker ist im gedanklichen Nach­ vollzug eines Geschehens stets geneigt, diesem selbst ex eventu eine übertriebene Stringenz, Rationalität und Geradlinigkeit zu unterlegen. Dabei dürfte aus dem Bisherigen schon deutlich geworden sein, daß sich gerade der War So­ cialism diesem Bemühen, ihm im Nachhinein gleichsam als „Korsettstangen“ ein geschlossenes theoretisches Gebäude oder eine allumfassende, zwingende planerische Rationalität einzupassen, immer wieder entzieht. Für ihn gilt Ähn­ liches wie für ökonomische Zyklen, die nach J . W. N. Watkins „keine quasi­ göttliche Autonomie (besitzen). Sie sind menschliche Schöpfungen — nicht be9 Winkler, Kapitalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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wüßt geschaffene natürlich, sondern unbeabsichtigte Resultate des Verhaltens von interagierenden Menschen“ 51 . 1. Sozialer Wandel im Zeichen der „dilution“: Mit Kriegsausbruch vor die Alternative gestellt, entweder einen harten Kurs staatlich-interventionistischer Kriegszwangswirtschaft zu steuern und den zivilen wie den militärischen Sek­ tor sofort mit gleichem Gewicht einer „general conscription“ zu unterwerfen oder in beiden Bereichen zunächst auf der Grundlage der Freiwilligkeit mit einem Mindestmaß an staatlicher Regulation auszukommen und bei grundsätz­ licher Erhaltung der wirtschaftlichen Freiheit auf den marktmäßigen Anpas­ sungsmechanismus von Angebot und Nachfrage zu setzen, entschloß sich die Regierung Asquith in Übereinstimmung mit den tiefgegründeten liberalen Tra­ ditionen des Landes, aber auch im Einklang mit den verschiedensten Strömun­ gen in Wirtschaft und Gesellschaft, den zweiten, einfacheren Weg zu gehen. Der gewerkschaftlichen Entscheidung zu einem sozialen „Waffenstillstand“ und „Burgfrieden“ am 24. August 1914 war aber bereits wenige Wochen nach Kriegsausbruch in doppelter Hinsicht der Boden entzogen. Denn es stellte sich heraus, daß einerseits die Unternehmergewinne besonders in den kriegswichti­ gen Branchen bei zunehmender Verschlechterung des sozialen Klimas den „ein­ gefrorenen“ Löhnen davonliefen und zum anderen statt der bei Kriegsbeginn allgemein befürchteten Massenarbeitslosigkeit im Gegenteil ein immer schärferer und zunächst kaum durch staatliche Intervention gebremster Wettlauf nach noch nicht ausgelasteten Kapazitäten auf dem Arbeitsmarkt (man-power­ problem) und auf dem Produktionssektor einsetzte. Engpässe auf der einen und Unruhen an der betrieblichen Basis auf der anderen Seite zwangen staat­ liche Behörden und Gewerkschaftsführung schon im Frühjahr 1915 zur Koope­ ration. Es gibt sogar Hinweise dafür 52 , daß diese Zusammenarbeit mit der Re­ gierung wesentlich auf Drängen der Gewerkschaftsführung selbst zwecks Ent­ lastung gegen einen immer stärkeren Druck von unten gesucht wurde, wenn­ gleich sie dann de facto auf eine „Selbstentwaffnung“ und Unterwerfung der Arbeiterführer hinauslaufen sollte. Sie fand ihren Niederschlag in dem „Treas­ ury Agreement“ vom März 1915 53 zwischen einer Gewerkschaftsdelegation unter Arthur Henderson auf der einen und der Regierung, vertreten durch Lloyd George und Walter Runciman, auf der anderen Seite; die Bestimmungen wurden dann in der „Munitions of War Act“ vom Juli 1915 gesetzlich veran­ kert. Dieses von Lloyd George als „the great charter for labour“ 54 bezeichnete Abkommen führt nicht nur mit seinem Kernpunkt, der „dilution“, tief in die soziale Problematik des War Socialism hinein; es stellt weit darüber hinaus mit seinen Konsequenzen einen Knotenpunkt in der jüngeren britischen Sozial­ geschichte dar und macht dadurch besonders deutlich, in welch starkem Maße eine zunächst nur als Kriegsregelung gedachte Entscheidung auf weitere Sicht dann auch für die Friedensentwicklung bestimmend werden konnte. Die Ge­ werkschaften verzichteten während des Krieges in kriegswichtigen Produk­ tionsbereichen — und welche gehörten im Grunde nicht dazu?! — auf ihr © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Streikrecht (die Unternehmer entsprechend auf Aussperrungen) und unterwar­ fen sich im Konfliktfall einer staatlichen 2wangsschiedsgerichtsbarkeit. Sie wil­ ligten ferner in eine vorübergehende „relaxation of the present trade prac­ tices“ und in eine Veränderung der Arbeitsbedingungen ein, soweit sie „with a view to accelerating the Output of war munitions or equipment“ notwendig seien; dies alles unter der Bedingung, daß diese Veränderungen nur für die Dauer des Krieges galten „and that the permanent Standards of wages and the rights of trade unions shall be safeguarded“. Das hieß konkret, die Gewerk­ schaften begaben sich freiwillig ihrer althergebrachten und bisher zäh vertei­ digten monopolartigen Rechte und zünftischen Privilegien in der Festlegung der Arbeitskonditionen, bei der Einstellung von Gewerkschaftsmitgliedern und Lehrlingen, bei der Festsetzung des Beschäftigungssolls sowie der Regelung von Überstunden. Sie stimmten vor allem der Ersetzung von gelernten, aber einge­ zogenen durch un- und angelernte Arbeiter oder Frauen im Rüstungssektor zu (dilution)55. Als Gegengabe sicherte die Regierung eine Beschneidung der Produzentengewinne sowie die Einsetzung paritätisch gemischter Industrieaus­ schüsse zu. Ihre Befugnisse erschöpften sich aber entgegen der ursprünglichen Erwartung, die damit eingeführte „Mitbestimmung“ werde zum gleichberech­ tigten Zusammenwirken von Arbeit und Kapital auf Unternehmensebene füh­ ren, zuletzt nur in der organisatorischen Durchführung der März-Abmachun­ gen. Die Realisierung der „dilution“, an deren restlose Beseitigung (restoration of pre-war-practices5G), wie ursprünglich vereinbart, nach Kriegsende im Ernst niemand, auch die Gewerkschaften, nicht mehr denken konnten, setzte unter dem Beifall vor allem der Industrie mit wachsender staatlicher Unterstützung einen sozialpolitischen, wirtschaftlichen und technologischen Modernisierungs­ prozeß in Gang bzw. schuf erst eigentlich die erforderlichen Voraussetzungen für ihn; die Folgen für die soziale Schichtung und Frontenbildung wie auch für den inneren Aufbau der Gewerkschaften waren tiefgreifend57. Denn nun erst wurden die Installierung arbeitssparender und automatisierter Produktions­ anlagen, d. h. der Übergang zur Fließbandarbeit und zur arbeitsteiligen Ferti­ gung, ihre Beschickung mit an- und ungelernten Arbeitskräften (zunehmend Frauen) sowie der Übergang vom Zeit- zum Akkordlohn möglich. Dies führte jedoch nicht, wie anfänglich versprochen und erhofft, zu einer Aufwertung der Facharbeit gegenüber der Akkord- und Fließbandarbeit, sondern in der Regel eher zu ihrer gehaltlichen und auch sozialen Abwertung58. Noch später während und nach der Weltwirtschaftskrise bis hinein in die Zeit nach 1945 herrschte verständlicherweise bei den Facharbeitergewerkschaf­ ten eine tiefe Abneigung gegen die „dilution“, während die Industrie unter dem Beifall der Öffentlichkeit diesen Widerstand als Antimodernismus, Fortschritts­ feindlichkeit oder gar Maschinenstürmerei denunzieren konnte. „Dilution“ be­ drohte mit all ihren technologischen, ökonomischen, sozialpolitischen und auch konstitutionellen Konsequenzen (Frauenemanzipation, Wahlrechtsreform 1918) die „aristocracy of labour“ in ihrem überkommenen zünftlerisch-elitären Selbst9⅛

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Verständnis und ebnete zugleich den Weg zur modernen Industriegewerkschaft, in der dann ganze Produktionssektoren ohne Rücksicht auf die handwerklich­ produktionstechnischen Spezifizierungen repräsentiert werden. Über die „Mit­ bestimmung“ in Gestalt eines im März 1915 als ständiges Konsultativorgan der Regierung gegründeten „National Labour Advisory C ommittee“ wurde die Labour- und Gewerkschaftsaristokratie (Henderson, Bevin, Thomas) — freilich stets nur als „Juniorpartner“ — in den staatlichen Lenkungsapparat eingebaut. Mit zunehmender Integration der Führung weitete sich jedoch der Riß zur Basis der Massenanhängerschaft59, eine Erscheinung, die — denkt man etwa an die gleichartige Entwicklung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges — geradezu ein C harakteristikum für die behandelte Stufe des Kapitalismus zu sein scheint. Die als Kapitulation vor dem „Klassenstaat“ empfundene Haltung der Gewerkschafts- und der Labourführung, wachsende Gewinnspannen des priva­ ten Unternehmertums auf den kriegswichtigen Sektoren, erhebliche Versor­ gungsschwierigkeiten, inflatorische Preissteigerungen sowie dann vor allem das sowjetrussische Vorbild 1917/18 führten zu einer deutlichen Verschärfung der sozialen Spannungen und zu einer militanten Mobilisierung der betrieblichen Basis, deren gewerkschaftlicher Organisationsgrad in der Rüstungsindustrie in­ folge der „dilution“ oft recht gering war. Die Führung in den Arbeitskämpfen übernahmen die „shop Stewards“. Ihre Forderungen nach Produktionskontrolle durch die Arbeiter (workers' control) hatten oft einen deutlich syndikalistischen Einschlag60. Über die in den Einzelbetrieben als gewerkschaftliche Vertrauens­ leute gewählten „shop Stewards“ konnte die Arbeiterschaft ihre Sorgen und Nöte an der vielfach verkrusteten und verbürokratisierten, dabei noch zunft­ mäßig aufgesplitterten Gewerkschaftsmaschinerie vorbei artikulieren. So be­ zeichnete das von „shop Stewards“ im Februar-Streik 1915 begründete C lyde Workers C ommittee die Mitwirkung der Gewerkschaften am Treasury Agree­ ment als „an act of treachery to the working classes“ und forderte die Rück­ gängigmachung „of all the pernicious legislation that has recently been imposed upon us“61 Überdies fungierten die „shop Stewards“ aber nicht selten in Er­ mangelung einer einheitlichen betrieblichen Gewerkschaftsorganisation auch als eigentliche Vertreter der Arbeiterschaft innerhalb eines Betriebes und wur­ den damit zu Wegbereitern modernerer, bereits auf dem Kontinent erprobter Gewerkschaftsstrukturen. „The shop-steward movement was something of an innovation in British trade unionism, since it introduced Organisation on a Workshop, not a craft basis.“62 In einem deutlichen Rückkoppelungseífekt hatte die Radikalisierung an der Basis auch 1918 Konsequenzen für das Parteiprogramm der Labour Party. Freilich verband sich hier ein gewisser Verbalradikalismus in der Formulierung und Aktualisierung sozialistischer Forderungen (Arbeiterkontrolle, Kapital­ steuer zwecks Korrektur der Eigentumsverhältnisse, Sozialisierung von Schlüs­ selindustrien und Eisenbahnen, Minimallöhne etc.) zunehmend mit einem präg© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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matischen Reformsozialismus in der Tagespolitik, der deutlich auf die Regie­ rungsfähigkeit und die Volks-, nicht aber auf die Klassenpartei zusteuerte. Der Versuch der Regierung, die gesellschaftlichen Spannungen auf dem Wege gewerkschaftlicher Integration und institutioneller Kanalisierung abzubauen, fand 1917 in den Empfehlungen des Whitley C ommittee63 zur Einrichtung von Joint Industrial C ouncils in den bereits gut organisierten Industrien, zur Bildung von paritätischen Work C ommittees in den Betrieben sowie zur Ein­ führung institutioneller Lohnregelungen in den schlecht organisierten Berufen im Rahmen eines Wage Board System und zur Gründung ständiger Schieds­ gerichte (C ourts of Arbitration) seinen Höhepunkt. Nach diesen Empfehlungen, die von der Regierung angenommen, aber nach Kriegsende nur recht unter­ schiedlich realisiert wurden, hatte der Arbeitsminister sogar für den Fall, daß sich die Verhandlungen in einer Industrie in einer Sackgasse befanden, eine schiedsrichterliche Untersuchungsfunktion. Wenngleich unmittelbar nach dem Krieg zunächst im Rahmen der „decontrol“ ein Abbau der sozialpolitischen Kanalisierungsmechanismen zu beobachten war, so hat doch auf weitere Sicht auch das Whitley-System etwa in der Einrichtung von Untersuchungsausschüs­ sen (C ourts of Inquiry) und Schiedsgerichten und in dem damit dem Arbeits­ minister bei sozialem Konflikt gegebenen Interventionsrecht auf Grund der In­ dustrial C ourts Act, 1919, entscheidende Impulse für eine staatliche Spannungs­ regulierung auf dem Arbeitsmarkt gegeben. 2. Naturwissenschaftlich-technologische Innovationsprozesse: Von dem kom­ plexen Vorgang der „dilution“ her läßt sich exemplarisch verdeutlichen, wie stark ein durch die Kriegslage (Produktionsengpässe, leergefegter Arbeits­ markt) erzwungener, zusammen mit den Gewerkschaften vorbereiteter (Trea­ sury Agreement) und dann durch die staatliche Gesetzgebung (Munitions of War Act) abgestützter Wandel der Sozialstruktur (Entstehung einer breiten und wesentlich weniger gewerkschaftlich organisierten Schicht von an- oder ungelernten Arbeitern, Frauenarbeit mit politisch emanzipatorischem Effekt) auf den industriellen Fertigungsprozeß (Arbeitsteilung, Rationalisierung, Auto­ mation, Fließbandarbeit) einzuwirken oder auch umgekehrt: wieweit der Zwang zur rationalisierten Massenproduktion von Kriegsgütern den sozialen Wandel und auch eine Neuformierung der sozialen Landschaft (Sozialpartner­ schaft mit freilich sehr ungleicher Gewichtverteilung; staatliche Arbeitsmarkt­ politik; gewerkschaftliche Umstrukturierung; Mobilisierung der betrieblichen Basis) zu initiieren vermochte. Am stärksten änderten sich Staat und Gesell­ schaft durch das Gesicht des Krieges selbst. Lloyd George verstand ihn schon frühzeitig als einen „engineers' war“, als etwas gegenüber früheren bewaffne­ ten Auseinandersetzungen qualitativ völlig Neuartiges, in dem die Entschei­ dung nur durch eine überlegene Technik fallen würde und deshalb die natur­ wissenschaftlich-technologische Modernisierung Englands in enger Kooperation von staatlicher Bürokratie, Industrie und Wissenschaft schnellstens geplant und mit hohen materiellen Investitionen seitens der Regierung vorangetrieben wer­ den mußte. Sichtbares Zeichen für die forcierte Umsetzung naturwissenschaft© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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licher Innovationen in technische Entwicklungsprozesse mit staatlicher Hilfe war 1916 die allgemein begrüßte Einrichtung eines zentralen Department of Scientiíìc and Industrial Research mit dem Ziel, die angewandte und die Grundlagenforschung auch über die Universitäten hinaus, wo beides bisher nur ein Schattendasein gefristet hatte, innerhalb der Industrie fest zu veran­ kern. Der Erste Weltkrieg war überhaupt vielfach in England die staatlich protektionierte Geburtsstunde der angewandten Wissenschaften, deren Rück­ wirkung auf eine Modernisierung des gesamten schulischen und universitären Ausbildungs- und Erziehungswesens auf die Dauer nicht ausbleiben konnte. „The First World War in particular provided a sharp Stimulus, to the introduc­ tion and use of new products and to the adoption of more modern and scientiíìc methods of production.“64 Die damit verbundene schrittweise Verlagerung der Produktionsschwerpunk­ te auf neue volkswirtschaftliche Leitsektoren wie C hemie, Elektroindustrie, Fahrzeug-, Motoren- und Instrumentenbau, optische und phototechnische Fein­ mechanik, Präzisionsgläser, Werkzeugmaschinen usf. wurde nicht nur unmit­ telbar durch die steigenden Erfordernisse des Materialkrieges notwendig, son­ dern in erster Linie auch durch den plötzlichen Ausfall der deutschen Lieferun­ gen (etwa in der Farbenchemie) sowie durch die Beschlüsse der Pariser Wirt­ schaftskonferenz 191665. Sie sahen in Antwort auf die Aussperrung der En­ tentemächte vom mitteleuropäischen Markt auch nach Friedensschluß unter be­ stimmten Umständen eine Fortführung des Zoll- und Handelskrieges gegen die Mittelmächte und grundsätzlich eine feindunabhängige Eigenversorgung in den wichtigsten Rohstoffen und Industrieprodukten vor. Dieser kriegsnotwendige Wachstumsprozeß konnte naturgemäß nicht privatwirtschaftlichen Impulsen oder dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden; denn abgesehen von dem Zeitfaktor ergaben sich aus den notwendigen hohen Anfangsinvestitionen, der übermäßigen Ausweitung der Herstellungskapazitäten während des Krie­ ges und der dadurch völlig verzerrten Wettbewerbs- und Marktsituation mit einem überproportionalen Anschwellen der öffentlichen Aufträge mannigfache Probleme, bei deren Lösung der Staat sich zwar privatwirtschaftlicher Unter­ nehmerinitiative bedienen konnte, selbst jedoch eine entscheidende Stützungs­ funktion übernehmen mußte. 3. Ausweitung der staatlichen Steuerungs- und Regulativfunktionen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik: In dem Umfang, wie der Staat der Pri­ vatindustrie durch finanzielle Starthilfen, langfristige Kredite zu niedriger Ver­ zinsung, durch Absatzgarantien und Schutzzollzusagen auch über das Ende der Kampfmaßnahmen hinaus die Risikohaftung abnahm und damit ein zentrales Steuerungselement der liberalen Wettbewerbswirtschaft selbst außer Kurs setzte, wie er aber auch selbst Unternehmer- und Produzentenaufgaben in den „national factories“ (1914: 4 — 1918: 218) wahrnahm und zudem durch seine Arrangements mit den Gewerkschaften und seine immer drastischeren Eingriffe in den Arbeitsmarkt soziale Konflikte nicht selten im Interesse der Unterneh­ merschaft zu kanalisieren half, lastete er sich zunehmend in der Wirtschafts© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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und Gesellschaftspolitik eine Verantwortung auf, die sich auch später nicht ein­ fach mehr durch eine rigorose „decontrol“ würde abwälzen lassen. Andernfalls stand zu befürchten, daß die gesamte Volkswirtschaft bei Wiedererscheinen der Weltmarktkonkurrenz schweren Schaden mit entsprechenden sozialen Rück­ wirkungen nahm. Besonders in der Chemie, aber auch in der NE-Metallindustrie oder in der Optik wurden die finanzielle Unterstützung oder sogar direkte ak­ tienmäßige Beteiligung der Regierung in den neuen „key industries“, etwa 1918 bei der Gründung der British Dyestuffs C orp. Ltd., sowie Zusagen für einen künftigen Schutz der synthetischen Farbenproduktion gegen deutsche Konkur­ renz mit der Auflage einer kostensparenden und leistungsfähigen Konzentra­ tion der Produktion verknüpft66. Hier wurden durch staatlichen Eingriff die Grundlagen für einen der — gerade dann ab 1929 in seiner Schutzzollagitation auch außenhandelspolitisch — mächtigsten und einflußreichsten Konzerne der britischen Wirtschaft, die 1926 durch die Fusion von vier Gesellschaften ent­ standene Imperial C hemical Industries Ltd. (IC I) gelegt. Dieser Vorgang war in vielem vergleichbar mit der schrittweisen Entstehung des LG.-Farben­ Konzerns. Er vermittelt insofern auch auf vergleichender internationaler Basis interessante Aufschlüsse über die Liaison von staatlicher und Konzernmacht im Organisierten Kapitalismus. Staatlicher Druck mit Hilfe eines mit Kriegsende immer dichter über die bri­ tische Wirtschaft ausgebreiteten Kontrollnetzes machte sich aber auch im Fer­ tigungsprozeß selbst mit der Forderung nach Standardisierung, Modernisierung und Automation, nach dem systematischen Ausbau eines „large-scale manage­ ment“ sowie nach der Entwicklung von Statistiken für Kontroll- und Ratio­ nierungszwecke geltend. Die der Arbeiterschaft zugesicherten Preis- und Ge­ winnkontrollen auf der „cost-plus basis“, die den Produzenten nach Abzug ihrer Erzeugungskosten nur noch einen festumgrenzten Gewinn garantierte (in der Regel 20 % über Vorkriegsniveau), sowie die Einführung der Excess Profits Duty zwecks steuerlicher Abschöpfung der Kriegsgewinne machten — in zahlreichen Firmen überhaupt zum erstenmal — moderne Formen der Buch­ führung, der Kalkulation und des Managements (Übergang zum „scientific management“ besonders in den neuen Wachstumsindustrien) erforderlich. Eine leistungsfähige und gegenüber den hohen Anforderungen eines Materialkrieges auch flexible Kriegswirtschaft setzte nicht nur eine Konzentration innerhalb des Fertigungs- und Zulieferungsprozesses, sondern auch eine straffere Organi­ sierung im gewerblichen Verbandswesen voraus. Gesellschaftspolitische (Ge­ werkschaften, Arbeitgeberverbände) und ökonomische (Industrieverbände, Branchengruppen) Interessenten traten der Regierung als Kontrahenten zu­ nehmend formiert entgegen. Hier nur einige besonders bedeutsame Beispiele: 1916 Gründung der Federation of British Industries, des zunächst aus 50 ange­ schlossenen Organisationen (1918 waren es schon 129) gebildeten Dachverban­ des der britischen Industrie, der nach Kriegsende massiven Einfluß auf die briti­ sche Wirtschaftspolitik im Sinne einer sofortigen Liberalisierung und „Entso­ zialisierung“ des Marktes nehmen sollte67; 1917 Gründung der National Feder© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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ation of Iron and Steel Manufacturers und der National Union of Manufac­ turers. Der Krieg stimulierte „organization and combination among manufac­ turers; advertised rationalization; strengthened the demand for tariíís; and encouraged, in another sphere, the settlement of wages and working conditions by national rather than local agreements“68. Zahlreiche Zusammenschlüsse wie in der Stahlindustrie, im Eisenbahnwesen, in der Schiffahrt und vor allem im Bankgewerbe überlebten auch die Nachkriegszeit und prägten die Zukunft des britischen Wirtschafts- und Finanzlebens nachhaltig. So geschah die folgen­ reiche Verklammerung von Bank- und Industriekapital im Finanzkapital vor dem Hintergrund einer raschen Konzentration im Bankwesen: 1918 kontrollier­ ten die „Big Five“ — National Provincial Bank, Westminster Bank, Midland Bank, Lloyd's Bank, Barclay's Bank — 5/6 aller Banktransaktionen und hiel­ ten einen ähnlich hohen Prozentsatz der Depositen; es gab nur noch 20 unab­ hängige Aktienbanken gegenüber 38 bei Kriegsausbruch69. Andere Verbindun­ gen und Konzentrationserscheinungen waren nur eine vorübergehende Kriegs­ erscheinung. „. . . But they often left skeleton structures which could quickly take on flesh and blood when depression encouraged restrictive practices.“70 Die gewaltige Aufblähung der staatlichen Bürokratie (der C ivil Service wuchs von 57 000 1914 auf über 116 000 im Jahre 1923) mit der Einrichtung neuer Ministerien resp. Departments (shipping, labour, food, national Service, food production, munition) n e b e n den weiterbestehenden traditionellen Departments war Ausdruck eines War Socialism, der nur zeitweise über die Friedensordnung „gestülpt“ werden sollte, aber doch unerwartete Folgewir­ kungen für die Friedenszeit zeigte, wenngleich die meisten neuen Ressorts 1918 wieder aufgelöst wurden. Dies galt auch für das Ministry of Munitions, das schließlich bei Kriegsende über 65 000 Mitarbeiter zählte und etwa 3 Millionen Arbeiter kontrollierte und erst 1939 nach erbitterten parlamentarischen Aus­ einandersetzungen im Ministry of Supply Wiederauferstehung feierte. Es ge­ schah im Juli unmittelbar vor Kriegsausbruch als Dokumentation dafür, daß England diesmal (im Gegensatz zu 1914) für einen Materialkrieg gerüstet sein würde. So hatte das Ministry of Munitions noch fast ein Menschenalter nach seiner Auflösung eine geradezu legendäre propagandistisch-programmatische Bedeutung als Symbol für den englischen Durchhaltewillen im Ersten Welt­ krieg, zumal als die konservativen „dissenters“ in ihrem Widerstand gegen das Chamberlainsche Appeasement nicht nur seine Wiedereinrichtung, sondern auch die erneute Betrauung Winston C hurchills mit diesem Amt (wie 1917/18) for­ derten. 4. Die Wiederbelebung des Empire-Gedankens: Dem War Socialism und damit auch allgemeiner dem Erscheinungsbild des Organisierten Kapitalismus, wie es sich unter den spezifischen historischen Bedingungen in England dar­ stellte, würde eine ganz wesentliche Dimension fehlen, würde man diese wich­ tige Stufe der englischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte nur als kriegsbeding­ tes insulares Binnenphänomen interpretieren und darüber die enge Verklamme­ rung mit dem Empire-Gedanken vergessen. Die Frage, wieweit der Imperialis© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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mus notwendigerweise ein konstitutives Strukturelement des Organisierten Kapitalismus ist, kann nur in einer umfassenden und vergleichenden Analyse geklärt werden, die die ganze Breite und auch entwicklungsgeschichtlich be­ dingte Differenzierung der nationalen Erscheinungsformen einbeziehen müßte. Hier kann es sich nur um eine begrenzte Antwort aus englischer Sicht handeln. Sie weist aber — das sei schon vorausgeschickt — in den sozialökonomischen Voraussetzungen und Antriebsmomenten einer neoimperialistischen Neubele­ bung des Empire-Gedankens bis hin zum Vertragswerk von Ottawa 1932 manche Übereinstimmung mit der kontinentaleuropäischen Entwicklungsphase im ausgehenden 19. Jahrhundert auf, wobei die auch hier zu beobachtende Verspätung Englands um ein Menschenalter teilweise mit dem eingangs er­ wähnten Sachverhalt zusammenhängt. „Foreign tariffs, the Fair Trade League, and Joseph C hamberlain's C rusade for Empire Preference had left British Free Trade virtually unshaken. It took the First World War and the subsequent depression to turn Great Britain into a Protectionist country.“71 Der wirtschaftliche Imperialismus, wie er sich vor allem in der Tariff Reform Campaign äußerte, schien nach dem Tode Joseph C hamberlains und der Wahl­ niederlage der Konservativen 1906 zunächst für absehbare Zeit durch drängen­ dere innere Probleme (irische Frage, soziale Bewegung, Finanzpolitik, Verfas­ sungsreform) in den Hintergrund der politischen Szenerie gerückt72. Noch wur­ den die erwähnten Verzerrungen und Fehlentwicklungen im Produktions­ prozeß kompensiert durch eine nach wie vor aktive Investitions- und Dienst­ leistungsbilanz sowie durch den freien Zugang zu den Ressourcen und Absatz­ märkten des Weltreiches, auf denen Englands Monopolstellung bisher unange­ fochten schien. Eine starke Aktivierung der Reichspolitik hin auf das Ziel eines „umzäunten“ Empires73 und damit die ersten tieferen Einbrüche in die liberale Handelspolitik (1915 McKenna-Zölle!) waren ab etwa 1916 auf ver­ schiedene Ursachen zurückzuführen: Der Krieg hatte die Bedeutung des Welt­ reiches für die Rohstoff- und Lebensmittelversorgung des Mutterlandes und da­ mit für die wirtschaftliche und politische Machtstellung Großbritanniens, aber auch seine militärisch-strategische Verwundbarkeit gerade im Zeichen des ver­ schärften U-Boot-Krieges seitens der Mittelmächte evident werden lassen; die Pariser Wirtschaftskonferenz 1916 erklärte den Ausbau und die Sicherung der imperialen Ressourcen, zunächst nur als vorübergehende Kriegsmaßnahme gedacht, zu einem zentralen Faktor des Überlebens der Ententestaaten auch nach Kriegsende gegenüber der permanenten politisch-wirtschaftlichen Heraus­ forderung durch Deutschland; der Staat band sich selbst, wie gezeigt, durch seine Starthilfe für zahlreiche neue Industriezweige, insbesondere für die Far­ benchemie an eine Politik des Protektionismus, in der man einen wirkungs­ vollen Garanten für eine günstige Weiterentwicklung der sogenannten „key and pivotal industries“ auch bei einem Wiedererscheinen der deutschen Kon­ kurrenz auf dem Weltmarkt sah; endlich spielte die soziale Ventilfunktion des Empires, die schon bei der Tariff Reform C ampaign C hamberlains zu beob­ achten war, angesichts der zunehmenden sozialen Spannungen ab 1917 und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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eines bei der Umstellung von der Kriegs- auf die Friedensproduktion allgemein befürchteten ökonomischen Kollaps' mit noch unübersehbaren sozialen Weite­ rungen eine bedeutsame Rolle: einmal direkt in der geplanten Aktivierung der interimperialen Auswanderung und zum anderen indirekt in der Hoffnung auf konkurrenzsichere Absatzgebiete für die im Krieg enorm ausgeweiteten Produktionskapazitäten insbesondere in den Grundstoff- und stahlverarbei­ tenden Industrien. Einen Meilenstein in der Hinwendung der englischen Politik zu einem wirt­ schaftlich und sozial motivierten Neoimperialismus stellte die einstimmig auf der Reichskonferenz 1917 verabschiedete Resolution dar: Sie sah eine konse­ quente Ermutigung (all possible encouragement) für einen Ausbau der Empire­ Ressourcen und die Unabhängigkeit des Weltreiches „in respect of food supplies, raw materials and essential industries“ vor und empfahl im einzelnen die Präferentialbehandlung für die Reichsmitglieder untereinander sowie eine Ankurbelung der Auswanderung innerhalb des Empires74. Organisatorisch vorbereitet wurde der neoimperialistische Protektionismus nach dem Kriege, so insbesondere der Schutz der „key industries“ und die den überseeischen Reichsteilen eingeräumte „imperial preference“ (realisiert im Budget von 1919), durch eine Reihe von Regierungsausschüssen, deren wichtig­ ster, das C ommittee on C ommercial and Industrial Policy after the War unter Lord Balfour of Burleigh, mit Vertretern des Textilhandels, der Schiffahrt, des Maschinenbaus, des Elektrohandels, des Bergbaus sowie von Eisen und Stahl beschickt war und mit W. A. S. Hewins, einem prominenten Tarifreformer und Mitstreiter J . Chamberlains, schon personell Kontinuität zur Tariíf Reform Campaign der Jahrhundertwende dokumentierte. Der 8Oseitige Abschlußbericht des Ausschusses aus dem Jahre 191775 bei dem sich — übrigens nahezu auf jeder Seite der Eindruck der, wie es hieß, vorbildhaften Zustände in Deutschland niederschlägt, erörtert die gegenwärtige und die künftige Situation der britischen Wirtschaft in Form einer Tour d'horizon; er behandelt auch einen Themen­ katalog (mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, ungenügender Grad der Organisie­ rung und Kooperation in der Wirtschaft, erschlaffendes Wirtschaftswachstum, Schwächen im Marketing, Stützungsaufgaben des Staates in der Fiskalpolitik usf.), der die wirtschaftspolitische Diskussion in Großbritannien vor allem über die permanenten Strukturprobleme in den dreißiger Jahren und im Grunde bis heute beherrschen sollte. Gleichzeitig versteifte sich der Ausschuß mehrfach auf die Forderung nach Aufhebung der staatlichen Kontrollen und Wiederherstellung der „ordinary economic rules“ unmittelbar nach Kriegsende, ohne dabei anscheinend ganz zu überblicken, wie unwiderruflich er durch die von ihm geforderten Protektions­ maßnahmen zum Schutz der jungen Wachstumsindustrien gegen die Weltmarkt­ konkurrenz Deutschlands, Japans und der USA bereits den Staat in das Wirt­ schaftsgeschehen als Garanten seiner konjunkturellen Stabilität hineingezogen hatte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Die Schutzzollkampagne wurde vor allem getragen von engen Mitarbeitern des früheren Kolonialstaatssekretärs C hamberlain sowie mächtigen unionisti­ schen Kreisen in Politik und Wirtschaft, so u. a. von der 1917 als „wirt­ schaftspolitische Spitzenvereinigung des überwiegend protektionistisch einge­ stellten Teiles der englischen Industrie“76 gegründeten, über einen erheblichen parlamentarischen Rückhalt verfügenden British C ommonwealth Union und dem 1915 entstandenen Unionist Business C ommittee des Unterhauses unter dem konservativen Protektionisten Walter Long, auf dessen Vorarbeiten die Auswahl der 1921 unter der Safeguarding of Industries Act zollgeschützten Schlüsselindustrien und die Farbstoffgesetzgebung zurückgingen77. Wenngleich die neoimperialistische Tendenz während der zwanziger Jahre noch zeitweilig durch das Bemühen um eine erneute weltweite Liberalisierung des Handels- und Kapitalverkehrs zurückgedrängt wurde, strahlten doch vom Ersten Weltkrieg auch in diesem Bereich bereits Impulse aus, die dann scheinbar unter dem Ein­ druck der Weltwirtschaftskrise zu einem zeitweiligen Sieg der Schutzzoll- und Empirebewegung unter „new imperialists“ wie Neville C hamberlain und L. S. Amery im Vertragswerk von Ottawa 1932 führten; scheinbar deshalb, weil schon 1917 und dann erst recht nach Verabschiedung des Statuts von Westmin­ ster (1931) in den dreißiger Jahren allen Versuchen, ein politisch wie ökono­ misch auseinanderstrebendes und sich auflösendes Empire mit neoimperialisti­ schen und neomerkantilistischen Methoden zusammenzuhalten sowie den zuneh­ menden Emanzipationsströmungen durch eine aktive Reichspolitik entgegenzu­ wirken, etwas Irreales und Utopisches anhaftete. 5. Die verteilungspolitische Bedeutung der staatlichen Fiskalsphäre: Im Er­ sten Weltkrieg mit einer materiellen Belastung der Völker in einer bisher un­ vorstellbaren Höhe fiel zum erstenmal der staatlichen Finanzpolitik nicht nur unmittelbar für die Kriegswirtschaft, sondern auch auf längere Sicht in der Weichenstellung für die Gestaltung der ökonomischen und sozialen Ordnung nach dem Kriege eine bedeutsame Schlüsselposition zu. Hier hatten die Kriegs­ budgets und Anleihen unter Einbezug der beiden Nachkriegsjahre 1919/21 bis zum Zweiten Weltkrieg für weite Bereiche der Innen-, insbesondere der So­ zialpolitik eine geradezu präjudizierende Wirkung. Von den £ 9 Mrd. (£ 12 Mrd. unter Einschluß der Jahre 1919/21), die der Krieg kostete, wurden nur 28 % (England lag damit freilich noch unter den Kriegführenden in Europa weit vor Deutschland [10 %] an der Spitze) durch den ordentlichen Haushalt gedeckt (44 % unter Einschluß 1919/21). Die nationale Verschuldung war bei Kriegsende vierzehnmal höher als bei Kriegsbeginn. Bereits im Vorwege wur­ den für die Friedensjahrzehnte hohe Etatposten (1921/2: 40—50%; 1938/9 nach der 1932 unter C hamberlain vorgenommenen Schuldenkonversion: 25 %) für die Bedienung und Tilgung der Kriegsanleihen gebunden; dadurch war gerade auch im Zeichen neuer Rüstungslasten ab 1937 (1938/9 knapp 30 % der Gesamtausgaben des Staates) der Spielraum der Regierung für eine umfassende Sozial- und Strukturreform entscheidend eingeengt, wenn nicht sogar verbaut. Taylor urteilt über die nationale Schuld mit lapidarer Kürze: „Its significance © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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was purely social. The Obligation to holders of War Loans, most of it raised in depreciated pounds, ranked before the claims of the poor or ex-servicemen, and nothing did more to restrict social policy. [. . .] The National Debt . . . re­ mained in füll, its service soon dictating economy in every sphere of public expenditure.“78 Den folgenden Generationen war durch den Krieg eine finan­ zielle Schuld aufgebürdet, die sich im Zeichen einer Depression und sinkender Steueraufkommen — die Einstellung des sozialen Wohnungsbauprogramms 1921 infolge Geldmangels und staatlicher Deflationspolitik war ein erster Be­ weis hierfür — als eine außerordentliche Belastung erweisen mußte. Überdies führten die Anleihefinanzierung und die Aufblähung des Geldvolumens, ver­ bunden mit einer schnellen Verknappung von Arbeitskräften, Rohstoffen und Konsumgütern, besonders in den ersten Kriegsjahren zu einer raschen Inflationierung des Preisgefüges mit schweren Nachteilen gerade für die einkommens­ schwachen unteren Schichten und erheblichen sozialen Spannungen, bis Lloyd George 1916/17 dieser gefährlichen Entwicklung durch Preisstopps und eine immer schärfere Kontrolle des Produktions- und Verteilerapparates teilweise Einhalt gebot und ihr auch durch eine Beschneidung der Kriegsgewinne den in den Augen der Arbeiterschaft besonders „bitteren Stachel“ nahm. Dennoch hat sich die staatliche Finanz- und Wirtschaftspolitik zumindest in der Anfangs­ phase des Krieges vor allem durch ihr überlanges, ideologisch durch Rücksicht­ nahme auf die „business C ommunity“ fixiertes Beharren auf den Mechanismen des freien Marktes eindeutig zu Lasten weiter Konsumentenkreise gerade in der Arbeiterschaft und zum Vorteil der „Rentiers“ (durch Dividendengarantie) so­ wie der Produzenten ausgewirkt. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß der War Socialism, ursprünglich konzipiert als Provisorium zur Abwendung eines akuten Notstandes, durch neue Investitions- und Wachstumsschwerpunkte im industriellen Bereich (new and growing industries), durch den staatlich gelenkten und protektionierten Aufbau großer Produktionskapazitäten (oft Überkapazitäten etwa bei Kohle, Eisen, Stahl und im Schiffbau), durch die Stimulierung technisch-naturwis­ senschaftlicher Innovationsprozesse (Elektro- und Motorenindustrie, C hemie), durch die Notwendigkeit einer umfassenden Umsetzung dieser Erfindungen in die Praxis auf gesamtnationaler Ebene und mit Regierungsunterstützung (Elek­ trizität-Elektroindustrie-nationales Energienetz; Verbrennungsmotor-Fahrzeug­ bau-nationales Straßennetz), durch das Eigengewicht der planerischen Büro­ kratie, durch die Mobilisierung neuer Produzenteninteressen (pressure groups wie die Federation of British Industries) und nicht zuletzt durch die Schaffung und Pflege einer neuartigen „Planungs- und Interventionsmentalität“ derartig tiefgreifend auf Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eingewirkt hat, daß der Staat trotz aller Bemühungen, „to put the clock back to 1914“, dem Wirt­ schaftsorganismus Aufmerksamkeit, Hilfe und Protektion nach Kriegsende nicht mehr entziehen konnte. So erfüllte der War Socialism mit seinen etatisti­ schen und planerischen Elementen, ohne daß ihm ein geschlossenes theoretisches Konzept zugrunde lag, als ein ursprünglich mehr von exogenen als von endoge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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nen Faktoren angeregter „qualitativer Sprung“ im Gesamtablauf der britischen Wirtschaftsentwicklung der letzten hundert Jahre eine dreifache Funktion: a) Er trieb einen strukturellen Transformations- und Anpassungsprozeß (pro­ cess of transformation and readjustment) der englischen Volkswirtschaft inner­ halb relativ kurzer Zeit voran, der unter den Bedingungen eines Fortbestandes der „viktorianischen Wirtschaft“ wahrscheinlich ungleich länger gedauert hätte und auf ungleich größeren Reibungswiderstand der „vested interests“ (etwa nur in der Gewerkschaftsbewegung) gestoßen wäre. Die Kriegswirtschaft führte England aus dem liberalen, freihändlerischen 19. Jahrhundert an die Schwelle des „kollektivistischen“ und „organisierten“ 20. Jahrhunderts, in die Phase eines in manchen Sektoren (etwa im Bankwesen und in der Großchemie) schon oligopolistisch strukturierten und durch den Staat protektionistisch abgestütz­ ten Kapitalismus, dies freilich unter Erhaltung des tradierten parlamentarisch­ demokratischen Repräsentativsystems (mit zeitweiliger Überlagerung durch das War C abinet und seine außerordentlichen Vollmachten) und unter Ausschal­ tung machtusurpatorischer Intentionen eines Militärapparates (vgl. dagegen in Deutschland die Dritte Oberste Heeresleitung!). b) Der oft widerstrebend und improvisiert unter innerem und äußerem Druck schrittweise seit 1916 eingeführte War Socialism gab dem Staat das Instrumen­ tarium, privatwirtschaftliche Unternehmerinitiative (free enterprise) auf der einen und gewerkschaftliche Kooperationsbereitschaft auf der anderen Seite (integrationistisches „Zähmungskonzept“) zum Zweck einer leistungsfähigen Kriegführung (efficiency) und einer inneren sozialen Stabilisierung zu mobili­ sieren. Die partielle Verschmelzung von staatlichem und privatwirtschaftlichem Lenkungsapparat mit der zentralen Funktion von „trade associations“ als „Transmissionsriemen“ staatlicher Wirtschaftspolitik führte zu einer erheb­ lichen Steigerung des Einflusses bestimmter Industriegruppen (besonders der neuen Wachstumsindustrien) sowie der „pressure groups“ (etwa der FBI) auf den Staat, wahrend die Arbeiterschaft und ihre Vertreter bewußt in der Rolle des „Juniorpartners“ gehalten wurden. Dies hatte zwar zeitweise eine Verhär­ tung der Klassenfronten (shop Stewards movement) und eine schärfere theore­ tische und programmatische Profìlierung des Sozialismus zur Folge, ohne daß dieser Verbalradikalismus freilich weitreichende Konsequenzen für die reale Politik der Labour Party hatte (Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis). c) Der War Socialism im Ersten Weltkrieg stellte ein „Laboratorium“ dar für die erste Erprobung eines staatsinterventionistischen Werkzeugs, das dann während und nach der Weltwirtschaftskrise, im Zweiten Weltkrieg (Ministry of Supply) und nach 1945 immer wieder Anwendung finden sollte. Er wies aber auch mächtigen Produzenteninteressen etwa in der Schutzzoll- und Em­ pirebewegung den Weg, Exekutive und Legislative für einen schrittweisen Aus­ bau des Protektionismus von der „Safeguarding of Industries Act“ 1921 bis hin zur allgemeinen Schutzzollgesetzgebung 1931/32 zu mobilisieren. Ein sprunghafter Anstieg der Aktiengesellschaften (Nennwert des ausgewiesenen Aktienkapitals April 1914: £ 2,5 Mrd, Ende 1921: £ 4,1 Mrd.) schuf die or© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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ganisatorischen und kapitalmäßigen Voraussetzungen für den industriellen Konzentrations- und Modernisierungsprozeß, führte allmählich zu einer Ver­ drängung des kleinen und mittleren Familienbetriebes vor allem in den neuen Schlüsselindustrien und ebnete dem Bankkapital den Weg der Investitionen auch im Inland, vor dem es vor 1914 angesichts der strukturellen Mängel der Industrieproduktion noch weitgehend zurückgeschreckt war; mit dem Bedeu­ tungsrückgang der traditionellen Exportindustrien unter dem Druck der deut­ schen, amerikanischen und japanischen Herausforderung wandten sich beson­ ders die „new and growing industries“ dem „umzäunten“ Binnenmarkt zu mit gefährlichen Rückwirkungen nicht nur auf die — gewohnheitsmäßig passive — Handels-, sondern auch auf die gesamte Zahlungsbilanz. War der War Socialism wirklich sozial im Sinne einer gerechten Verteilung der Kriegslasten oder bot er gar, wie weithin in der Arbeiterschaft erhofft, mit dem Niedergang des politischen Liberalismus und dem Aufstieg der Labour Party einen Hebel für die evolutionäre Umgestaltung von Wirtschaft und Ge­ sellschaft nach einem Kriege, der durch die Entbehrungen und Leiden auch der Zivilbevölkerung zu einem Volkskrieg geworden war? Folgte der „Sozialisie­ rung“ der hohen Verluste auch eine entsprechende „Sozialisierung“ der Ge­ winne und des Instrumentariums, mit denen sie im Krieg erwirtschaftet wer­ den konnten? Eine Umverteilung der gesellschaftlichen und ökonomischen Macht? Ähnliche verteilungspolitische Erwartungen und Hoffnungen knüpften sich auch für die deutsche Arbeiterbewegung 1918/19 an den Hilferdingschen Begriff des Organisierten Kapitalismus. Es bleibt also zu fragen, wieweit eine privatkapitalistische Ordnung unter den extremen Belastungen eines Krieges mit der Notwendigkeit einer sozialen und politischen Mobilisierung breiter Massen von der Stufe des War Socialism mit stark staatskapitalistisch-diri­ gistischem Einschlag her aus sich selbst heraus den Ansatz zu einer sozialstaat­ lichen Humanisierung und Demokratisierung auf legalem Wege (also unter Ausschluß der revolutionären Lösung in Rußland) zu entwickeln vermag. Wie­ weit konnte der Kriegssozialismus überhaupt aus sich heraus ein von der breiten Massenunterstützung getragenes Aktionspotential zu einer Überwindung der Vorkriegsordnung entbinden, oder wieweit mußte dieses Potential ungeachtet einer überall in den Industriestaaten zu beobachtenden Radikalisierung der Ar­ beiterschaft doch der Hypothek eines in der mittel- und westeuropäischen Ar­ beiterbewegung langfristig angelegten programmatischen und strategischen Re­ visionismus erliegen? Immerhin schickte sich die Labour-Führung im Ersten Weltkrieg an, ministrabel und regierungsfähig zu werden und zugleich auch breite mittelständische Schichten aus der Konkursmasse des politischen Libera­ lismus im Sinne einer Volkspartei zu integrieren. Damit war die Gesellschafts­ politik von vornherein reformistisch festgelegt. Eine nur skizzenhafte Antwort auf die Frage nach der gesellschaftspoliti­ schen Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus soll durch einen kurzen Blick auf die Demobilisierungs- und „Reconstruction“-Phase 1918/21 versucht werden, soweit diese Antwort nicht schon in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Welt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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krieges vom politischen Liberalismus in seiner letzten Hochblüte gegeben wor­ den ist. Denn sie zeichnete sich bereits in dem Dilemma ab, daß sich die Liberale Partei einerseits durch ein soziales Image und ihre Wohlfahrtspolitik eine Mas­ senbasis vor allem nach links schaffen wollte, um der Labour Party gleichsam das Wasser abzugraben, ohne jedoch andererseits auf die Unterstützung durch die „business C ommunity“, die besitzbürgerlich-mittelständischen Kreise auf der Rechten verzichten und die tiefverwurzelten Zweifel am Nutzen staatlicher Intervention beseitigen zu können. „The Labour Party must be ditched, but not at the expense of injuring the business C ommunity nor at the expense of losing the votes of the laboring masses.“79 Dieser Zwiespalt zwischen sozialem An­ spruch und liberal-kapitalistischem Glauben an das „natural working“, den immanenten und natürlichen Ausgleichs- und Harmonisierungsmechanismus in Wirtschaft und Gesellschaft mit der Zielrichtung auf eine „better society“ läßt sich vielleicht kaum so deutlich ablesen wie an dem Wirken und Schicksal Christopher Addisons, der an diesem Widerspruch zumindest politisch, wenn nicht sogar menschlich zerbrechen sollte80. Als ursprünglich engster Gefolgs­ mann von Lloyd George erhielt er im Juli 1917 das neu gegründete Ministe­ rium für „Reconstruction“, wo er seine mit großem Enthusiasmus aufgenom­ mene Aufgabe nicht nur in der Vorbereitung des Überganges von der Kriegs­ zur Friedenswirtschaft, sondern in erster Linie in der Entwicklung eines lang­ fristigen Sozialprogrammes sah. In dem Augenblick aber, da Lloyd George mit Kriegsende über, wie er meinte, drängenderen politischen Problemen des euro­ päischen Friedens das „Reconstruction“-Programm zusehends aus dem Auge verlor, begann auch der bittere Weg Addisons in die politische Versenkung. Woran ist Addison und mit ihm das „Reconstruction“-Programm81 geschei­ tert? Schon in dem Begriff „reconstruction“ selbst war inhaltlich als Ausdruck einer niemals voll ausdiskutierten Widersprüchlichkeit, die den War Socialism allgemein bestimmte, eine bereits auf das spätere Scheitern verweisende „am­ biguity“ angelegt: „reconstruction“ meint a) in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Wiederherstellung“ des gesellschaftlichen und ökonomischen Status quo von 1914 mit einer sich frei entfaltenden liberalen Wirtschaftsgesellschaft, d. h. umgehende Aufhebung der Kriegszwangswirtschaft sowie der kriegs­ bedingten Kontrollen („process of decontrol“) und erneute Garantie eines ungehinderten liberal-kapitalistischen „free and unfettered private enterprise“ bei Wiederherstellung auch der alten, durch die „dilution“ geschmälerten gewerkschaftlichen Privilegien („restoration of pre-war practices“). Insofern deckt sich „reconstruction“ bis etwa 1916 den Intentionen nach mit dem C hur­ chillschen „business as usual“. b) Seit 1917/18 nahm „reconstruction“ in den offiziellen Planungen und Verlautbarungen für die Zeit nach Beendigung des Krieges im Rahmen der Demobilisierung die Bedeutung „transformation“ im Sinne eines sozialstaatlichen Wandels und einer Entwicklung hin auf eine „better society“ mit deutlich staatsinterventionistischem Akzent an. „Recon­ struction“ als Inbegriff einer sozialstaatlichen Zielprojektion und als Leitpro­ gramm für die Nachkriegszeit wurde konzipiert im Zeichen einer zunehmenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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materiellen und psychischen Belastung breiter Bevölkerungsschichten unter den Einwirkungen des Krieges sowie im Schatten einer rapiden Verschlechterung des sozialen Klimas 1917/18 mit großen Streikbewegungen einem An­ schwellen des sozialistischen Pazifismus und endlich vor allem auch als Antwort auf die vielfach in Führungskreisen als soziale und politische Bedrohung emp­ fundenen revolutionären Ereignisse in Rußland; „reconstruction“ stand unter der Absicht, alle Kräfte in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft für die Kriegführung zu mobilisieren und durch eine — wie immer geartete — „soziale Vision“ eine letzte Ausschöpfung des englischen Kriegspotentials zu gewährleisten; „reconstruction“ war damit Bestandteil der „domestic, social, and economic strategy of the war“82. Neben der sozialprotektionistischen und -integrativen Zielsetzung der „reconstruction“ als eine Art „Zähmungskonzept“ für die revolutionären Strömungen in der Arbeiterschaft wird man weiterhin nicht vergessen dürfen, daß das Ministry of Reconstruction auch als „thinking ministry“, d. h. als sozialpolitische Ideenschmiede unter parteitaktischem Ak­ zent geplant war. Sie sollte einem Liberalismus neuen Stiles unter Führung von Lloyd George nach dem Kriege in Anknüpfung an die sozialstaatlichen An­ sätze vor 1914 gegenüber dem mächtigen konservativen Koalitionspartner auf der einen und einer anschwellenden und — jedenfalls programmatisch — sich radikalisierenden Labour-Bewegung auf der anderen Seite die notwendige Mas­ senbasis sichern: Der neue Liberalismus als Anwalt des Wohlfahrtsstaates, der Unterprivilegierten, der sozialen Gerechtigkeit und des friedlichen Ausgleiches der Klassengegensätze. Konkret sollte dies bedeuten: a rational system of pub­ lic health, new educational opportunities, innumerable small-holdings, security of employment, unemployment insurance und vor allem: housing program. Das taktische Moment der Sozialstaatsidee im Gewande der „reconstruction“ wird auch deutlich in der Wahlkampagne von Lloyd George im Herbst 1918 und seinem Versprechen eines „home fit for heroes to live in“. Schon unmittelbar nach Kriegsende im Winter 1918/19 wurde im Zeichen einer restaurativ-konservativen, überwiegend die „business C ommunity“ reprä­ sentierenden Parlamentsmehrheit im Unterhaus mit einem Premier, der sich immer seltener zu seiner „radikalen“ Vergangenheit und seinen früher so reich­ lichen sozialstaatlichen Beteuerungen bekannte, sichtbar, wie sehr die Überlage­ rung des „business as usual“ durch die „Transformation“-Konzeption nur tem­ porär und taktisch bedingt war und wie wenig selbst ihre eifrigsten und wohl auch ehrlichsten „radikalen“ Verfechter wie Addison wirklich die schon lange vor dem Ersten Weltkrieg angelegten und nunmehr immer entschiedener einer Lösung zudrängenden Probleme einer Klassengesellschaft und eines sozialen Konfliktes begriffen, geschweige denn die gesellschaftlichen „Grundmuster“ in ihre Sozialstaatsplanungen mit einbezogen hatten. Abgesehen von großen administrativen (Verhältnis der Zentralregierung zum Local Government Board und zu den local authorities), strukturellen (mangeln­ de Koordination innerhalb der Regierung selbst), finanziellen (1921/22 Defla­ tionshaushalt im Zeichen einer Rezession mit einer hohen festliegenden Bela© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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stung durch die Kriegsanleihen), personellen (in der zentralen Planungsbehörde des Ministry of Reconstruction, dem Advisory C ouncil, waren von 9 Mitglie­ dern 7 bekannte Industrielle und Finanzfachleute und nur Thomas und Bevin als Gewerkschaftsvertreter) und sozialpolitischen (Problem der „dilution“ und Spannungen zwischen staatlichen Behörden und Baugewerkschaften) Schwie­ rigkeiten, die der Konzipierung und Durchführung eines Sozialstaatsprogram­ mes entgegenstanden, scheiterte die „reconstruction“, deren Ziele im übrigen stets nur sehr vage und unverbindlich als „Überwindung der Klassenunter­ schiede“ und „soziale Harmonie“, als „better society“ oder „social progress“ definiert wurden, letztlich — wenn man einmal von den doch noch unter Ad­ dison erstellten 213 000 Sozialwohnungen und der Verbesserung der Arbeits­ losenversicherung absieht — an grundsätzlichen, unaufhebbaren und gerade auch am „HousingScandal“ besonders deutlich abzulesenden Widersprüchen. Mit ihnen ist noch einmal und nunmehr verschärft die weit über das damalige England hinaus gültige Frage aufgeworfen: Wieweit ist es überhaupt mög­ lich, im gegebenen Rahmen einer am Marktmechanismus, an den Prinzipien des Privateigentums an Produktionsmitteln, der freien Unternehmerinitia­ tive, der Gewinnmaximierung sowie einer entsprechenden kapitalistischen „efficiency“ orientierten und sehr intensiv auf den Glauben an ein har­ monisches Auspendeln innerer sozialer und ökonomischer Gegensätze fixierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf evolutionärem und planerischem Wege „von oben“ den sozialen Ausgleich herbeizuführen. Unter diesem Ge­ sichtspunkt war das „housing program“ ein geradezu exemplarischer Testfall für die sozialstaatliche Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus selbst unter den Bedingungen eines — freilich dann sehr schnell abgebauten — War Socialism — ein Testfall mit negativem Ausgang! Selbst wenn die Bedingungen für die administrativ verordnete Einführung sozialstaatlicher Komponenten in den Kriegssozialismus mit Hilfe der „recon­ struction“ im Weltkrieg und unter den bestehenden sehr umfassenden Exeku­ tivvollmachten der Regierung, die nach der ursprünglichen Planung während der Zeit der Demobilisierung und Übergangswirtschaft voll beibehalten wer­ den sollten, optimal schienen, war der Sozialstaat in seiner — von der politi­ schen Führung vielleicht niemals echt akzeptierten — Konzipierung und Reali­ sierung doch von Anfang an in doppelter Richtung durch einen „ideological block“ oder „obstacles of ideoloey“83 blockiert. 1. Schon das in vielem als Vorbild für das Ministry of Reconstruction ge­ dachte Rüstungsministerium war, wie gezeigt, in seiner personellen Zusammen­ setzung wie in seiner planerischen Gesamtkonzeption „from first to last a busi­ ness-man organization“, von dem entsprechend dann auch das „management“ nur kontrolliert und reglementiert wurde „in a manner befitting that of a State built up and ruled by the middle class“84. Insofern waren auch vom Ministry of Munitions wie vom Ministry of Reconstruction von Anfang an personell wie in der Planungsmentalität die Weichen für den Sozialstaat in eine Richtung gestellt, die mit den überkommenen gesellschaftlich-ökonomischen 10 Winkler, Kapitalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Strukturen und einem diese Strukturen widerspiegelnden und ihre Bewahrung anstrebenden Denken konform ging: „Reconstruction of capitalism was a Job for the bosses, not for Labour. There was equivocation in the policy of recon­ struction itself: the aim was to return to 1914 and to build a better country at the same time.“85 Die „business C ommunity“ der „industrial middle class“ mit ihren Vertretern an den Schalthebeln der Macht insbesondere in den Kriegs­ ministerien sah getreu ihrem liberalen C redo im „unfettered private enterprise“, im „natural working“ eines — dann freilich nach außen doch zunehmend vom Staat abgestützten und protektionierten — Produktionsprozesses sowie im „increasing industrial and agricultural Output“ die besten und letztlich einzig denkbaren Voraussetzungen für eine Hebung auch des sozialen Niveaus der Arbeiterschaft. Dabei wurde die Frage nach einer Um- oder Neuverteilung von Gewinn und Vermögen nicht ernsthaft gestellt. 2. Die Regierung erklärte sich in ihrer Politik mit den Forderungen der „busi­ ness C ommunity“86 solidarisch und entschied sich, wie die Deflationshaushalte der frühen zwanziger Jahre mit aller Deutlichkeit zeigen, für eine finanzielle Entlastung und damit Stützung der Privatwirtschaft und gegen einen kost­ spieligen sozialstaatlichen Interventionismus. Nach ihrer Ansicht war die beste Sozialpolitik immer noch ein mit allen steuerlichen Mitteln gefördertes Wirt­ schaftswachstum. Aus dieser energisch von der Unternehmerschaft vertretenen Doktrin ergab sich für die praktische Wirtschaftspolitik unmittelbar nach Kriegsende ein sofort zielbewußt eingeleiteter „process of decontrol“: Die Re­ gierung begab sich der im Krieg eingeführten Kontrollrechte über Preise, Mie­ ten, Zinsen, Material- und RohstofTkosten sowie über Arbeitskräfte viel eher, als es die echten Sozialreformer geplant hatten. Damit wurde das „housing pro­ gram“, bevor die anvisierte Zahl von 500 000 oder nach anderen Berechnungen sogar 800 000 Arbeiterwohnungen auch nur annähernd erreicht war, sehr schnell den Mechanismen eines liberalisierten Marktes mit zunächst bis 1920 im Zuge eines kurzen Nachkriegsbooms inflatorisch steigenden Materialkosten, Baupreisen und Löhnen ausgesetzt. Die staatlichen Subventionen wuchsen da­ durch über ein Maß hinaus, das dem Unterhaus in seiner damaligen Zusammen­ setzung noch tragbar erschien. Der C hemieindustrielle Sir Alfred Mond, Nach­ folger von Addison im Ministry of Health, huldigte sehr viel intensiver als sein Vorgänger dem Glauben an ein „unfettered private enterprise“ als Grund­ lage eines erfolgreichen „housing program“ wie der „reconstruction“ über­ haupt. Ein deflatorischer Sparhaushalt, der überdies zu etwa 50 % mit der Be­ dienung und Tilgung der Kriegsanleihen belastet war, setzte dem „housing scheme“ 1921/22 im Zeichen einer schweren Rezession endgültig rotes Licht. Es hatte sich unter den Bedingungen der damaligen englischen Wirtschafts­ und Gesellschaftsstruktur als unmöglich erwiesen, das „housing program“, den Kern der „reconstruction“, als erste und wichtige Stufe des Wohlfahrtsstaates „from a capitalistic enterprise into a social Service“ zu transformieren. Seine Geschichte ist somit zuglereh „a model for the more general failure of all social reform at this time“87. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Anmerkungen 1 R. Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, 168 f. 2 Hilferding, 172. 3 J . Kocka, Theorieprobleme der Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, in: H.-U. Wehler Hg., Geschichte u. Soziologie, Köln 1972, 313. 4 Kocka, 317. 5 W. J . Baumol, ökonomische Modelle u. die Mathematik, in: H. Albert Hg., Theorie u. Realität, Tübingen 19722, 155. 6 K. Popper, Naturgesetze u. theoretische Systeme, in: Albert, Theorie u. Realität, 47. 7 R. Kuda, Arbeiterkontrolle in Großbritannien, Theorie u. Praxis, Frankfurt 1970, 82. 8 D. F. Macdonald, The Age of Transition, Britain in the Nineteenth and Twentieth Century, London 1967, 127. 9 S. J . Hurwitz, State Intervention in Great Britain, 1914—1919, New York 1949, hier bes. auch 74. 10 E. M. H. Lloyd, Experiments in State Control, At the War Office and the Ministry of Food, Oxford 1924. 11 Lloyd, 265. 12 A. J . P. Taylor, English History 1914—1945, Oxford 1965, 65. 13 Taylor, 65. 14 Die folgende Darstellung stützt sich wesentlich auf die Kabinettsakten (Cab) im Public Record Office London (bes. Cab 23/1—32; Cab 24/1 — 140; Cab 37/120—162), wobei aus Raumgründen hier auf detaillierte Nachweise meist verzichtet werden muß. 15 Sir Llewellyn Woodward, Great Britain and the War of 1914—1918, London 1967, 491. 16 F. Braudel, Geschichte u. Sozialwissenschaften — Die „long durée", in: Wehler Hg., Geschichte u. Soziologie, 189—215. 17 Braudel, 191. 18 S. Pollard, The Development of the British Economy 1914—1967, London 19692, 55. 19 Vgl. dazu die Darstellungen bei D. H. Aldcroft, Economic Growth in Britain in the Inter-War Years: A Reassessment, in: D. H. Aldcroft u. P. Fearon Hg., Economic Growth in Twentieth-century Britain, London 1969, 34—54; D. H. Aldcroft u. H. W. Richardson, The British Economy 1870—1939, London 1969, 101—89; E. J . Hobsbawm, Industrie und Empire, 2, Frankfurt 1968; Pollard, 1—41. 20 A. M. Levine, Industrial Retardation in Britain 1880—1914, 1967. 21 Hobsbawm, 13. 22 Vgl. dazu vor allem H. Levy, Monopolies, Cartels and Trusts in British Industry, 1927; H. W. Macrosty, The Trust Movement in British Industry, 1907; Hobsbawm, 49 ff., 79; Macdonald, 137 ff. 23 Hobsbawm, 50. 24 2it. nach Hurwitz, 34. 25 Ebd., 30. 26 D. Lloyd George, War Memoirs IV, 170. 27 Hobsbawm, 29. 28 Zur Lage bei Kriegsausbruch vgl. Cab 37/120 No. 96; 100: Cab 37/122 No. 152. 29 Cab 37/160 No. 32. 30 Zit. nach Taylor, 15. 31 Zit. nach Hurwitz, 65. 32 Ebd., 64.

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Cab 17/102B. Cab 24/3 G.—122 Nationalisation of Shipping (Memorandum by Shipping Controller) Jan. 25, 1917: „It is important, however, that the control should be such as to preserve the incentive of trade profit, which is the most powerful Stimulus to efíìciency". Auch Cab 24/3 G.—123. 35 Cab 37/159 Nr. 41. 36 Art. Christopher Addison, in: The Dictionary of National Biography 1951 to 1960, 3 ff. 37 R. H. Tawney, The Acquisitive Society, New York 1920, 1, zit. nach Hurwitz, 147. 38 J . A. Salter, Allied Shipping Control, Oxford 1921, 62, zit. nach Hurwitz, 195. 39 Hurwitz, 164. 40 Ebd., 74. 41 Darstellung des Überganges zur Kriegswirtschaft u. a. bei Taylor, 73 ff.; Woodward, 453 ff. 42 P. Gregg, A Social and Economic History of Britain 1760—1970, London 19716, 417 ff. 43 Taylor, 73. 44 Ebd. 45 Vgl. den Briefwechsel zwischen F. S. Oliver und Sir Maurice Hankey, 9./10. Jan. 1918, in: Cab 21/101; zum War Cabinet weiter Cab 21/102; Cab 37/161 No. 14. 46 Zit. nach The Times v. 20. Juni 1918 in Cab 21/102. Eine ausführliche Darstellung über Struktur und Funktion des War Cabinet muß einem besonderen Aufsatz vorbehalten bleiben. 47 Zit. nach Hurwitz, 156. 48 Ebd., 150. 49 D. Lloyd George, War Memoirs, I, 215. 50 Hurwitz, 156. 51 J . W. N. Watkins, Idealtypen u. historische Erklärung, in: Albert, 337. 52 Hurwitz, 274. 53 Cab 37/126 No. 16; 37/129 No. 24; 34; 37/130 No. 11. 54 Zit. nach Tavlor, 29. 55 Vgl. dazu G. D. H. Cole, Trade Unions and Munitions. 1923; ders., Workshop Organization, 1923. 56 Cab 24/63 G. T. 5617; 24/65 G. T. 5838; 24/66 G. T. 5992. 57 Hurwitz, 89 ff. 58 Cab 24/28 G. T. 2245; Pollard, 87. 59 Cab 24/14 G. T. 897; 24/17 G. T. 1185; G. T. 24/26 G. T. 2073. 60 Kuda, 32 f. 61 Zit. nach Woodward, 479 f. 62 Ebd. 63 E. Bandholz, Die englischen Gewerkschaften, Organisationstypen, Zielsetzungen, Kampfesweisen von der Gründung bis zur Gegenwart, Köln 1961, 26 ff. 64 Aldcroft/Fearon, 51; vgl. auch Aldcroft/Richardson, 147 ff. 65 Cab 24/10 G. T. 425; 24/22 G. T. 1603. 66 Cab 24/4 G. 187; 24/9 G. T. 369; 24/29 G. T. 2329; 24/78 G. T. 7113; 24/108 C. P. 1502; 24/118 C. P. 2416; 2443; 37/155 No. 13; 15; 37/157 No. 14; 37/159 No. 4; 5. 67 Cab 24/70 G. T. 6362; 6396; Cab 24/75 G. T. 6822; 6847; 6854; 6878. 68 Pollard, 55. 69 Zur Bankenkonzentration vgl. Macdonald, 84; Pollard, 71; E. Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt 1968, 415. 70 Pollard, 55. 33 34

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Gregg, 426. Ch. Leubuscher, Liberalismus u. Protektionismus in der englischen Wirtschaftspolitik seit dem Kriege, Jena 1927, 118, Anm. 1. 73 Zur Wiederbelebung der Reichsidee u. a. Cab 24/11 G. T. 544; Cab 24/23 G. T. 1713; Cab 24/34 G. T. 2891 p. 27; 44 sqq. 74 Leubuscher, 117. 75 Cab 24/34 G. T. 2891. 76 Leubuscher, 120. 77 Leubuscher, 155 Anm. 3. 78 Taylor, 124 f. 79 Hurwitz, 33. 80 Ch. Addison, The Betrayal of the Slums, 1922; ders., Politics from Within, Vol. I/II, 1924; ders., Practical Socialism, Vol. I/II, 1926. 81 Zur „Reconstruction" vgl. bes. Ph. Abrams, The Failure of Social Reform: 1918 to 1920, Past & Present 24. 1963, 43—64; Hurwitz, 286 ff. Aus der Fülle der Quellen besonders instruktiv auch für das Scheitern der „Reconstruction": Cab 24/36 G. T. 3060; 24/42 G. T. 3643; 3681; Cab 24/123 C. P. 2919; Cab 24/125 C. P. 3067; Cab 24/126 C. P. 3108; 3111; 3133; 3184; Cab 24/138 C. P. 4155; Cab 24/139 C. P. 4268; Cab 37/139 No. 31; Cab 37/149 No. 8; 14. 82 Hurwitz, 286. 83 Abrams, 52; 47. 84 Hurwitz, 156. 85 Taylor, 139. 86 Cab 24/75 G. T. 6878: War Cabinet. Governmental Assistance to British Industries During the Period of Reconstruction (Memorandum by the Chairman of thê" Federation of British Industries). 87 Abrams, 44. 71

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Der deutsche Organisierte Kapitalismus während der Kriegs- und Inflationsjahre 1914-1923 Von GERALD D. FELDMAN

Kritische Vorbemerkung: Eine historische Diskussion über ein Konzept zu führen, dessen Gültigkeit und Brauchbarkeit man aufgrund schwerwiegender terminologischer wie konzeptioneller Bedenken anzweifelt, ist nicht gerade unproblematisch. Bedauerlicherweise aber ist die Diskussion gewisser Aspekte der sozialökonomischen Entwicklung in der Zeit von 1914 bis 1923 mit derartigen Schwierigkeiten überladen. Daß der Autor sich trotzdem dazu entschieden hat, diese Zeitspanne unter dem Blickwinkel des „Organisierten Kapitalismus" zu diskutieren, geschah aus zweierlei Gründen. Erstens ist der Versuch durchaus begrüßenswert, einen begrifflichen Rahmen für die historische Analyse aufzustellen, der der grundlegenden Bedeutung der industriellen Entwicklung Rechnung trägt, zugleich aber ein starres Schema für die Definition der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Staat vermeidet. Allein schon deswegen verdient dieser Versuch Unterstützung, denn nur ständiges Experimentieren und kritisches Bohren können zu besseren Resultaten führen. Zweitens haben die postulierten Strukturmerkmale des sogenannten „Organisierten Kapitalismus" für die Beschäftigung mit dem Zeitraum von 1914 bis 1923 zumindest einigen heuristischen Wert, da sie einen nützlichen Orientierungspunkt für die Erkenntnis der historischen Realität abgeben. Zwar wird dadurch die extensive Verwendbarkeit des Begriffes „Organisierter Kapitalismus" unterminiert, auf der anderen Seite aber dürfte die Komplexität des Versuches sichtbar werden, ein Konzept zu schaffen, das den Ansprüchen und Zielsetzungen seiner Vertreter genügt. Bevor ich jedoch näher definiere, wie der Begriff „Organisierter Kapitalismus" in diesem Beitrag zu verstehen ist, und mit der Diskussion der Jahre 1914 bis 1923 beginne, möchte ich eine kurze kritische Bemerkung zur Verwendbarkeit von „Organisiertem Kapitalismus" als Konzept oder Idealtyp vorausschicken. Zunächst muß noch einmal betont werden, daß es keinen Zweifel über die Notwendigkeit geben kann, ein den fundamentalen Strukturveränderungen in der kapitalistischen Wirtschaft adäquates Konzept zu schaffen. Denn während der Trendperiode von 1873 bis 1896 wurden qualitativ neue Wege beschritten, die Hans Rosenberg als die „Tendenz zu kollektiver Ordnung des Wettbewerbs durch teilweisen Verzicht auf die individuelle Entschluß- und Handlungsfreiheit" beschrieben hat1. Ebenso befinde ich mich in voller Übereinstim-

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mung mit der Auffassung, daß es eine wesentliche Aufgabe des modernen Historikers ist, zu versuchen, strukturelle Zugehörigkeiten sowie Wirkungs-, Funktions- und Sinnzusammenhänge zwischen diesem „kollektiven Kapitalismus" und anderen Bereichen der geschichtlichen Entwicklung (der sozialen, politischen, intellektuellen usw.) aufzuzeigen. „Kollektiver Kapitalismus"2 - im Sinne einer fundamentalen Veränderung der Organisation der Marktverhältnisse durch Kartellierung und Konzentration, durch die Entwicklung von Organisationen der verschiedenen Interessengruppen und durch die wachsenden Forderungen nach spezifischen staatlichen Eingriffen in den Wirtschaftsprozeß im Dienste kollektiv organisierter privater und sozialer Interessen — ist aber weder terminologisch noch konzeptionell mit dem „Organisierten Kapitalismus" gleichzusetzen, wie dieser Begriff von seinen Befürwortern gebraucht wird. Ganz im Sinne des Begriffsschöpfers Rudolf Hilferding bestehen Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka auf der Verbindung von „Organisiertem Kapitalismus" und „Interventionsstaat"3. Während erster von einem „Duumvirat" spricht, subsumiert letzterer den „Interventionsstaat" unter dem idealtypischen Oberbegriff „Organisierter Kapitalismus". Wenn dem deutschen „Organisierten Kapitalismus" ein derartig allumfassender Sinn zugeschrieben wird, so wird jedoch damit die Aufgabe erschwert, diesen Typus der Struktur des Wirtschaftssystems von qualitativ verschiedenartigen abzusetzen, die für frühere Zeiten charakteristisch waren, das heißt, ein einer bestimmten Entwicklungsperiode entsprechender Idealtyp setzt doch zumindest ein früheres, wesensverschiedenes Entwicklungsstadium voraus4. Falls man Wehlers Anregung folgt und den Durchbruch des „Organisierten Kapitalismus" in die Trendperiode von 1873—96 verlegt — Kocka scheint generell der gleichen Ansicht zu sein, obwohl er gelegentlich die Periode von 1896—1914 besonders betont —5, dann könnte man zu der Annahme gelangen, daß der „unorganisierte Kapitalismus" vielleicht nur ein Vierteljahrhundert andauerte, nämlich entweder von 1850—73, einer Periode wirtschaftlichen Aufschwungs, in der sich in Deutschland die Industrielle Revolution vollzog, oder allerhöchstens bis zum Ende der siebziger Jahre, bis zu dem Zeitpunkt also, wo die Mobilisierung gegen den Wirtschaftsliberalismus aufsehenerregende Erfolge erzielte. Falls diese Periodisierung korrekt ist, ergibt sich nicht nur ein merkwürdiges, zeitlich unproportionales Mißverhältnis zwischen den Perioden des „unorganisierten" und „organisierten" Kapitalismus, eine Diskrepanz, die nicht an sich abzulehnen ist6, sondern, was viel wichtiger ist, es eröffnet sich eine in die Irre führende Perspektive von dem Charakter der früheren Periode. Einmal würde die Bezeichnung „unorganisiert" nicht der Realität entsprechen, da es zahlreiche Beispiele der Organisation für die frühere Periode gibt. Die entscheidende Tatsache hier ist nicht Organisation an sich; es sind vielmehr die spezifischen Organisationsformen und deren Funktionen, d. h. das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von systemimmanenten Organisationen zum Zwecke der Marktbeeinflussung und Marktmanipulation7. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Bereits eine flüchtige Bekanntschaft mit der Industriellen Revolution in Deutschland läßt erkennen, daß der Übergang vom „unorganisierten" zum „organisierten" Kapitalismus qualitativ doch wohl nur in diesem Sinne eine entscheidende Entwicklungszäsur darstellt. Bedenkt man die Rolle, die der Staat bei der Industrialisierung Deutschlands gespielt hat, die Schwäche des wirtschaftlichen wie politischen Liberalismus in Deutschland und die sich im großen Stil vollziehende rasche Entwicklung der Schwerindustrie und des Bankwesens in den fünfziger und sechziger Jahren, so ist nicht leicht zu begreifen, warum der Begriff „Organisierter Kapitalismus" plötzlich in Verbindung mit den Veränderungen nach 1879 gebraucht werden soll. Sicherlich verursachte oder förderte die Deflation der Preise in der Zeit von 1873 bis 96 eine beschleunigte Expansion der staatlichen Intervention und industriellen Organisation, Entwicklungstendenzen, die durchaus der säkularen, auf den merkantilistischen Absolutismus zurückgehenden zentraleuropäischen Tradition entsprechen, aber auch zwangsläufig zu den Wesensmerkmalen des verspäteten, aber dafür um so massiveren Durchbruchs der Industrialisierung gehören. Zweifellos jedoch unternahm der Staat noch nicht in den achtziger Jahren den Versuch, langfristige Konjunkturpolitik zu betreiben, und er tat es auch nicht zu irgendeiner Zeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert8. Es ist daher ein irreführender Anachronismus, der staatlichen Intervention in jener Zeit, ob bewußt oder unbewußt, eine Motivation zuzuschreiben, die erst nach Keynes historisch wirksam geworden ist. Im Vergleich mit dem „Staatsmonopolistischen Kapitalismus" stellt der Begriff des „Organisierten Kapitalismus", da er flexibler und weniger tendenziös ist, immerhin einen Fortschritt dar. „Organisierter Kapitalismus" bedeutet nicht eine die historische Realität verzerrende, unzweideutige Fixierung des Machtverhältnisses zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, und die am „Organisierten Kapitalismus" interessierte Forschung braucht daher auch nicht darum bemüht zu sein, den Zusammenbruch des Kapitalismus postulieren zu müssen. Allerdings kann der Ersatz eines zweifelhaften Begriffes durch einen weniger fragwürdigen kaum Grund zur Euphorie sein. In vieler Hinsicht ist der Begriff „Organisierter Kapitalismus", wie er von Wehler und Kocka gebraucht wird, so weitgefaßt, daß er nahezu jegliche Bedeutung verliert. Wenn der letztere „Organisierten Kapitalismus" beschreibt als „ein Bündel zentraler, miteinander verflochtener, ökonomischer, sozialer und politischer Veränderungen, die in kapitalistisch verfaßten Industrialisierungsprozessen auf einer fortgeschrittenen Stufe aufzutreten begannen und im Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt erreichten", und dann fortfährt, fast alle Typen sozialer, politischer und wirtschaftlicher Phänomene der vergangenen hundert oder mehr Jahre in sein Bündel einzuschließen — eine Tendenz, die er mit Wehler gemeinsam hat —, dann erhebt sich die Frage, was der so geschaffene Idealtyp überhaupt zu leisten vermag. Noch schwieriger aber ist die empirische Aufgabe festzustellen, inwieweit tatsächlich eine Korrelation zwischen der Vielzahl der einbezogenen Veränderungen nachweisbar ist, von deren spezifischem Verhältnis zur Industrialisie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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rung im allgemeinen und zum Kapitalismus insbesondere gar nicht erst zu sprechen9. Zum Beispiel dürften Fluktuationen der wirtschaftlichen Entwicklung, wachsende Bedeutung des wissenschaftlichen und technischen Personals und die Bürokratisierung kaum ausschließliche Merkmale des Kapitalismus sein, und die „Stabilisierungs- und Legitimationsbedürfnisse" des Staates könnten auch dazu benutzt werden, das Verhalten nichtkapitalistischer Systeme zu erklären. Man kann nicht umhin, sich die Frage zu stellen, ob die paradigmatische Superwaífe „Organisierter Kapitalismus" mit ihrem impliziten Versuch, die langen Wechsellagen der Konjunkturtheoretiker mit den kritischen Theorien gewisser Soziologen zu paaren, nicht entmutigend auf die wichtige Aufgabe wirkt, für den Historiker brauchbare und sinnvolle Konzepte zu entwickeln — was doch eigentlich der Ausgangspunkt der ganzen Bemühungen war. Jedenfalls sollten die hier angedeuteten schweren Bedenken und Vorbehalte nicht übersehen werden, wenn nunmehr versucht wird, den Zeitraum von 1914 bis 1923 zu dem vagen Generalnenner „Organisierter Kapitalismus" in Beziehung zu setzen. Daß diese Beziehung nur lose sein kann, ergibt sich aus dem Charakter des Begriffs „Organisierter Kapitalismus", der in dem gleichen weiten und umfassenden Sinne gebraucht wird, wie es bei Kocka der Fall ist. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei den Auswirkungen gewidmet, die sich aus dem Entwicklungsablauf dieser Jahre für die industrielle Organisation und Konzentration, die Organisation von Interessengruppen, die kollektive Marktkontrolle und für den Charakter der staatlichen Intervention ergaben. In der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands bilden die Jahre 1914—1923 ein zusammenhängendes Ganzes, das geprägt ist durch die Zerstörung normaler Handelsbeziehungen auf den in- wie ausländischen Märkten, durch einen seinem Wesen und Ausmaß nach ohne Vorbild dastehenden staatlichen Eingriff in das Wirtschaftsleben und durch eine fast kontinuierliche Geldentwertung, die ihren Höhepunkt in der Hyper-Inflation von 1922/23 erreichte. Ferner ist diese Zeitperiode charakterisiert durch beschleunigten sozialen Wandel, Umstrukturierung der Beziehungen innerhalb der verschiedenen sozioökonomischen Gruppen, wie auch deren Verhältnisse untereinander und nicht zuletzt auch durch den bitteren und schließlich erfolgreichen Kampf führender Kreise der deutschen Industrie, die zu verhindern suchten, daß der sich vor 1914 entwickelnde staatlich unterstützte Kapitalismus zu einem vom Staat gesteuerten und kontrollierten Kapitalismus wurde. Die Jahre 1914—1923 stellen somit eine Krisenperiode in der Geschichte des „Organisierten Kapitalismus" in Deutschland dar, dessen weitere Entwicklung nicht ohne Berücksichtigung der dieser Krise innewohnenden Ambivalenzen analysiert werden kann10. Viele Ereignisse während dieser Jahre förderten die industrielle Konzentration, die Organisation von Interessenverbänden wie die staatliche Einflußnahme auf alle sozialen und wirtschaftlichen Bereiche. Makrohistorisch gesehen, beschleunigten der Krieg und die Inflation wahrscheinlich nicht wenige jener entscheidenden wirtschaftlichen Strukturveränderungen, die die Entstehung und Entwicklung des „Organisierten Kapitalismus" überhaupt erst möglich mach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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ten. Unglücklicherweise weist die von der Wirtschaftswissenschaft aufgestellte lange Zeitreihe eine fühlbare Lücke für diese Jahre auf, und wegen der Unzulänglichkeit der vorhandenen statistischen Daten ist es schwierig, über den Anteil der genannten Faktoren an der Strukturveränderung definitive Aussagen zu machen11. Jedoch kann sich kein Historiker, der sich mit diesem Zeitraum beschäftigt, mit der langfristigen Sicht der Wirtschaftshistoriker begnügen, die der Meinung sind, „daß sich die deutsche Industrie im ,long run' nach endogenen, der modernen Wirtschaft offenbar innewohnenden Gesetzmäßigkeiten entwickelt, daß das Allgemeine und Typische stärker durchschlägt als die Besonderheiten, die politische Entscheidungen dem Wirtschaftsprozeß aufzuzwingen versuchen."12 Natürlich trifft diese Feststellung als Säkularbetrachtung zu, doch bietet sich dem Historiker, der an der Analyse kürzerer Zeitabschnitte interessiert ist, häufig ein anderes Bild. So mündeten die Ereignisse dieser Jahre auf kurze Sicht gesehen in einen absoluten Abfall der deutschen Produktion, eine fühlbare Abschwächung der Intensität der Strukturveränderungen, soziale Unruhen und eine materielle Not, die bis zum heutigen Tag unvergessen ist. Ein weiteres Resultat war das Zutagetreten einer großen Anzahl von privaten und öffentlichen Organisationen und Unternehmen, die die Stabilisierung nicht überlebten13. Es ist daher Vorsicht geboten, wenn der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen als „das Laboratorium" bezeichnet werden, „in dem der Organisierte Kapitalismus erstmals im großen Stil erprobt wird"14. Leicht kann hier der gleiche Fehler gemacht werden, den die Sozialisten und Technokraten begingen, die einen, indem sie im „Kriegssozialismus" eine Vorwegnahme der Zukunft erblickten, und die anderen, wenn sie eine „Gemeinwirtschaft" aus den Zuständen der Kriegsjahre herauswachsen zu sehen glaubten. Eine wichtige Aufgabe ist es daher, während dieser Periode diejenigen Entwicklungstendenzen herauszuarbeiten, die zum Entstehen eines „Organisierten Kapitalismus" beitrugen, und sie zu sondern von denjenigen, die für diese Periode zwar spezifisch waren, jedoch die Entwicklung des „Organisierten Kapitalismus" vielleicht verzögerten oder sogar behinderten. I. Natürlich steht es außer Zweifel, daß der Krieg auf die Förderung der technologischen Grundlagen, auf denen sich der heutige Industriekapitalismus entwickelt hat, einen ausgesprochen positiven und beschleunigenden Einfluß hatte. Diese Tatsache wird in bezug auf die chemische Industrie besonders klar: Während des Krieges wurde die Massenproduktion von Nitraten durch verschiedene Fixierungsverfahren in einem Ausmaß durchgeführt, das unter normalen Umständen erst in zwanzig oder dreißig Jahren erreicht worden wäre. Die enorme Expansion bestehender Fabrikanlagen, ebenso wie der Bau völlig neuer Fabriken, zum Beispiel in Leuna, hob nicht nur Deutschlands Mangel an Nitraten auf, sondern war gleichzeitig das Sprungbrett für wichtige Forschungen auf dem Gebiet der Hydrierung während der Kriegs- und Nachkriegsjahre15. Der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Mangel an Rohstoffen und Arbeitskräften regte während des Krieges die Forschung auf dem Gebiet der Kunststoffe an und erweckte allgemeines Interesse an den verschiedensten Möglichkeiten der Rationalisierung: Arbeitskraftsparende Maschinen wurden eingesetzt, auf eine Standardisierung der Produkte hingearbeitet und mit Laufband- und Serienproduktionen begonnen. Während durch den Friedensschluß der Mangel an Arbeitskräften gemildert wurde, blieb der Rohstoffmangel weiterhin akut, und die während des Krieges häufig artikulierte Furcht vor einem Wirtschaftskrieg nach Beendigung der militärischen Auseinandersetzung bewahrheitete sich nur zu sehr. Aus diesem Grunde wurden die ernsthaften Rationalisierungs- und Standardisierungsbestrebungen ununterbrochen fortgesetzt, die institutionell ihren Niederschlag fanden in der Gründung von Organisationen wie dem Deutschen Normenausschuß (1917), dem Ausschuß für wirtschaftliche Fertigung (1918) und dem Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (1921). Sogar in den technologisch weniger dynamischen Industriezweigen, wie in der Eisen- und Stahlindustrie, intensivierten sich die Bemühungen um technischen Fortschritt. Noch während des Krieges wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Eisenforschung gegründet und der Wärmewirtschaft wachsende Bedeutung eingeräumt1". Wie nicht anders zu erwarten, mußten alle diese Tendenzen zu einer Erweiterung und Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichem, technischem und Verwaltungspersonal führen. Die industrielle Verwendung des Haber-Bosch-Verfahrens war symptomatisch für jene neue Interdependenz der Kenntnisse von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Unternehmern, die für die Junge' chemische und elektrotechnische Industrie grundlegende Bedeutung erlangte. Der große Chemiker Emil Fischer war sowohl Berater des Kriegsministeriums wie Verbindungsmann zur chemischen, Kohlen- und Eisenindustrie, und er war nicht nur zuständig für technische Angelegenheiten, sondern auch für Vertragsfragen. Sein Kollege Fritz Haber engagierte sich noch stärker in Fragen der Kriegswirtschaft, gleichgültig, ob diese wissenschaftlicher oder nichtwissenschaftlicher Natur waren. Prominente Vertreter des Vereins deutscher Ingenieure wie Prof. Conrad Matschoß und der Krupp-Gruson-Direktor Dr. Kurt Sorge, besaßen Autorität in Industrie und Regierung, und die Ernennung Sorges zum Direktor des Technischen Stabes des neugegründeten Kriegsamtes (November 1916) kennzeichnet trefflich die engen Beziehungen zwischen Industriellen, Ingenieuren und Militärbehörden. Schon vor dem Krieg hatten sich Verbindungen zwischen den Universitäten und der Industrie angebahnt, doch trugen die Kriegserfahrungen erheblich zu der Erkenntnis bei, daß Deutschlands Stellung in der Welt von seinen wissenschaftlichen Leistungen abhing — ein Faktor, der bei einer militärischen Niederlage eventuell zu einem wichtigen Machtersatz werden konnte. Als Folge dieser Tatsache wurde gegen Kriegsende die industrielle Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung an Universitäten und Instituten weiter ausgebaut, nicht zuletzt auch wegen der wachsenden Befürchtung, daß der Krieg Deutschlands Angebot an akademischen Hilfsmitteln und Personal erschöpft habe. Diese Beweggründe zusammen mit ofTensicht© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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liehen Steuervorteilen führten zu großzügiger industrieller Unterstützung in Form der 1920 gegründeten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft17. Sowohl der Krieg als auch die Inflation, die die schon in der Industrie bestehenden Tendenzen zur Konzentration auf breiter Grundlage weiter verstärkten, brachten den Produktionsgüterindustrien größere Vorteile als den Verbrauchsgüterindustrien. Es war zu erwarten, daß die Kriegswirtschaft und der notwendige Wiederaufbau die Produktionsgüterindustrien bevorzugen würden, doch müssen auch die speziellen Antriebe in Betracht gezogen werden, die durch die Inflation und die diese begleitende Flucht in die Sachwerte geschaffen wurden. Durch eine ähnliche Kombination von langfristigen Tendenzen und besonderen neuen Anreizen, die den momentanen Gegebenheiten entsprangen, wurde auch die industrielle Konzentration gefördert. So war es Carl Duisberg, der 1915 sein 1904 veröffentlichtes Memorandum „Die Vereinigung der deutschen Farbenfabriken" den neuen Verhältnissen anpaßte und seiner ursprünglich rein wirtschaftlichen und technischen Argumentation für die Konzentration der chemischen Industrie neue Gründe hinzufügte: Expansion während der Kriegsjahre, das Auftreten einer starken ausländischen Konkurrenz, Steuervorteile sowie die Notwendigkeit, eine stärkere Arbeitgeberorganisation zu schaffen, um der wachsenden Macht der organisierten Arbeiterschaft entgegentreten zu können. Das Resultat von Duisbergs Bemühungen waren die 1916 geschaffenen „Kleinen I. G. Farben-Werke"18. Die aggressive Konzentrationspolitik der chemischen Industrie stand unter dem Zeichen ihrer wachsenden wirtschaftlichen Stärke, und es gibt gute Gründe für die Annahme, daß der Krieg die relative Stärke dieses „führenden Sektors" in einer Weise erhöht hatte, die selbst Zeitgenossen nicht verborgen blieb. So erklärte Duisberg 1919: „Ich rechne mit ganz erheblichen Unterbilanzen, die wir in der Interessengemeinschaft machen werden. Trotzdem wird dies vielleicht äußerlich noch nicht in Erscheinung treten, weil uns die Kriegstätigkeit die Füllung großer Reserven ermöglicht hat. Wir können deshalb im Gegensatz zu vielen Werken der Kohlen- und Eisenindustrie das Revolutionsjahr durchhalten und vielleicht auch im nächsten Jahr noch durchkommen."19 Duisbergs Betonung der Vorteilhaftigkeit großzügiger Organisation und Rationalisierung machte großen Eindruck auf einige Führer in der Eisen- und Stahlindustrie. Ihre Überzeugung, daß der Verfeinerungsindustrie die Zukunft gehöre und daher die Rationalisierung der Kohlen-, Eisen- und Stahlproduktion eine unumgängliche Notwendigkeit sei, hatte sich durch den Krieg und den erwarteten „Wirtschaftskrieg nach dem Krieg" noch verstärkt, und die Ausrichtung auf vertikale Konzentration wurde von dem Glauben einiger Großindustrieller begleitet, daß ein Zusammenschluß der großen Produzenten notwendig sei, um die Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Schwerindustrie aufrechtzuerhalten. Albert Vogler, stark beeinflußt von Duisbergs Memorandum, legte es seiner eigenen 1918 veröffentlichten Denkschrift zugrunde, in der er die Fusion der großen Eisen- und Stahlproduzenten forderte. Obwohl Voglers Ziel erst 1926 — und selbst dann nur teilweise — mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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der Gründung der Vereinigten Stahlwerke verwirklicht wurde, hatten führende Industrielle schon wesentlich früher seine Pläne befürwortet20. Bei weitem wichtiger war während der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre jedoch die massive vertikale Konzentration, welche die Rhein-Elbe-Schuckert-Union von Hugo Stinnes repräsentierte, und zwar auf eine äußerst augenfällige, wenn nicht im Endergebnis sogar auf die erfolgreichste Art und Weise. Allerdings ist es offensichtlich, daß die unmittelbare Motivation für vertikale Konzentration, basierend auf Rohstoffschwierigkeiten, Steuervorteilen und inflationistischen Zuständen, im allgemeinen Einklang stand mit der weitläufigeren Tendenz zur Verfeinerung, die bis zum heutigen Tag die langfristige Entwicklung der deutschen Industrie charakterisiert. Von Seiten der Schwerindustrie reflektieren die Beweggründe auch den relativen Abstieg dieser Industrie und die mit diesem Niedergang verbundenen Ängste und Sorgen. Ein Memorandum des KruppDirektors Otto Wiedfeldt von 1919, in dem eindringlich drastische organisatorische und finanzielle Maßnahmen gefordert wurden, ist ein kontrastreiches Gegenstück zu dem Optimismus Duisbergs. Wiedfeldt war ganz und gar nicht der Meinung, daß Krupp die chaotischen Zustände in den Betrieben und die dadurch entstehenden Verluste lange aushalten konnte, und erklärte: „Man kann beinahe eine mathematische Kurve aufzeichnen, wann unsere Geldmittel aller Wahrscheinlichkeit nach aufgezehrt sein werden. Dann können wir noch einige Zeit mit Krediten wirtschaften, aber danach sind wir am Ende."21 Die Pläne und Leistungen Duisbergs, Voglers, Stinnes' und ihrer Kollegen trugen im Grunde jedoch die Züge der industriellen Organisation der Vorkriegszeit, in der die grundlegenden Entscheidungen in bezug auf Konzentration und Kartellierung vom Unternehmertum getroffen wurden und man vom Staat erwartete, daß er behördliche (und, wo erwünscht, wie im Falle der Zölle) legislative Unterstützung bieten möge. Obwohl die deutschen Kartelle und Syndikate, vom anglo-amerikanischen Standpunkt aus gesehen, geradezu furchterregend erschienen, waren die berühmtesten unter ihnen, wie das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat und der Stahlwerksverband, kurz vor Beginn des Krieges äußerst labile Organisationen, bedingt durch das Anwachsen und die Unruhe innerhalb der sie beherrschenden Konzerne. Außerdem hatten sich Kartellierung und Syndikalisierung in allen Fertigwarenindustrien als ungeheuer schwierig erwiesen22. Letztlich ließ auch die industrielle Zusammenarbeit der verschiedenen Interessengruppen untereinander viel zu wünschen übrig, wofür die Konflikte zwischen dem Centralverband deutscher Industrieller und dem Bund der Industriellen beredtes Zeugnis ablegen. Die Verfechter der industriellen Organisation und die Verbandsmänner in den Syndikaten und Interessenverbänden hatten ständig gegen diese zentrifugalen Tendenzen anzukämpfen und beklagten sich immer wieder darüber, daß sie Außenseiter nicht zu zähmen vermochten. Aus dieser Perspektive gesehen war während der Kriegs- und Nachkriegsjahre die direkte Förderung industrieller Organisation durch den Staat zu befürworten, denn sie machte das Außenseitertum un© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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möglich, erzog die Industriellen zur Zusammenarbeit und machte die Industrie gegen ihre in- und ausländischen Gegner widerstandsfähig23. Offensichtlich war es das plötzliche und unmittelbare Eingreifen der Staatsgewalt in fast alle Gebiete des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, das den stärksten revolutionierenden EfTekt des Krieges auf den „Organisierten Kapitalismus" hatte. Im Krieg wurde der Staat zum Hauptkunden der Industrie, und auch in der Demobilisations- und Übergangszeit blieb er ein Hauptauftraggeber und Motor der Wirtschaft. In diesen seinen Funktionen ersetzte oder leitete der Staat die autonomen privaten Organisationen, die bis dahin den freien Markt beeinflußt hatten. Waren es früher Syndikate und Interessenverbände, die die Mittel des Staates zu nutzen suchten, um ihre Ziele zu verwirklichen, so benutzte nun der Staat diese Organisationen zusammen mit den neugebildeten „Selbstverwaltungskörpern" dazu, Vorräte zu verteilen, die Produktion zu organisieren und die Kontrolle von Valuta und Außenhandel durchzuführen. Schon Anfang des Krieges förderte das Reichsamt des Inneren den Zusammenschluß der Spitzenverbände im Kriegsausschuß der Deutschen Industrie, der zu einem wesentlichen Katalysator für die spätere Gründung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (1919) wurde. Ebenso dienten die Kriegsausschüsse für die verschiedenen Industrien als Grundlage der Fachverbände, aus denen sich der Reichsverband größtenteils zusammensetzte. Die staatliche Förderung der Organisationsbestrebungen während des Krieges bevorzugte die Fachverbände gegenüber den Territorialorganisationen und unterstützte die Zentralisierung von Interessenverbänden am Sitz der Regierung. Demgegenüber waren viele der organisatorischen Ansprüche der Regierung weniger angenehm. Im Jahre 1915 zwang die Regierung das Kohlensyndikat, seinen Vertrag zu erneuern, nachdem es seinen Mitgliedern nicht gelungen war, selbständig ein Übereinkommen zu treffen. Dieses Vorbild vor Augen, verlängerte der Stahlwerksverband 1917 seine Existenz freiwillig. Die in der gesamten deutschen Industrie durchgeführte zwangsweise Syndikalisierung stieß auf lebhafte Opposition, doch war sie ein integraler Bestandteil der Zwangswirtschaft, die, wie später noch zu zeigen sein wird, von Handel und Industrie stark angegriffen wurde. Schließlich förderten der Krieg und die Inflation auch die Organisation der Arbeiterschaft, kollektive Tarifverhandlungen und die Entwicklung von Industriegewerkschaften an Stelle von Berufsverbänden. Denn der Eintritt von Frauen, Jugendlichen, ungelernten und angelernten Arbeitern in das Heer der Fabrikarbeiter und die damit parallel gehende Verwischung der Unterschiede in Ausbildung, Geschlecht und Alter mußten notgedrungen zum Wachstum der Industriegewerkschaften beitragen. Am wichtigsten war jedoch, daß der Staat entdeckte, wie notwendig die Gewerkschaften für die Mobilisierung der Kriegswirtschaft und für die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens waren. Während die Schwerindustrie nur sehr langsam zu dieser Überzeugung kam, überwanden staatlicher Druck, die revolutionäre Situation und die Unruhen nach 1917 den Widerstand der Arbeitgeber gegen kollektive Lohnverhandlungen — was sich am 15. November im Stinnes-Legien© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Abkommen manifestierte. In Zukunft sollten die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf dem Wege der Übereinkunft zwischen ihren jeweiligen Organisationen geregelt werden, wodurch die Entwicklung von Arbeiter- und Arbeitgeberorganisationen starken Auftrieb erhielt. II. Wenn auch der Krieg Industrie und Regierung zu engerer Zusammenarbeit gezwungen hatte, so zerstörte er gleichzeitig einen großen Teil der verhältnismäßig harmonischen Beziehungen, die früher zwischen ihnen bestanden hatten. Einerseits wuchsen das Selbstvertrauen und das Bewußtsein des eigenen Wertes bei den Unternehmern und Ingenieuren, weil man sie für lebenswichtige Aufgaben brauchte, wo sie größeres Können und mehr Initiative entwickelten als die Geheimräte und die einseitig ausgebildeten Soldaten in den Ministerien. Ein typisches Beispiel für diese Einstellung und für das wachsende subjektive Gefühl der Interessenidentität zwischen Wissenschaftlern, Ingenieuren und Geschäftsleuten war folgender Kommentar Emil Fischers: „Unsere Privatindustrie ist mit größerer Schnelligkeit, mit mehr technischem Geschick und mit entschieden größereren Erfolgen fast auf der ganzen Linie in der Vorhand gewesen. Selbst unter widrigen Verhältnissen, häufig bei schlechter Behandlung von Seiten der Behörden, hat sie in unglaublich kurzer Zeit ihre Betriebe umgestellt und zum Beispiel auf dem Gebiet der Munitionserzeugung geradezu die Kriegsführung gerettet."24 Andererseits bezahlte das autoritäre Regime für seine Unfähigkeit, seinen eigenen Ansprüchen zu genügen, wirksam zu regieren, die organisierte Arbeiterschaft und die Reformbewegung in Schach zu halten und, sicherlich nicht unbedeutend, den Krieg zu gewinnen, mit der Einbuße von Respekt und schließlich mit dem Verlust der Unterstützung durch die Industrie 25 . Es war typisch für die Industriellen, der politischen und technischen Inkompetenz des alten Regimes die Schuld an der Niederlage Deutschlands zu geben: „Wodurch ist denn letzten Endes der Krieg verloren gegangen? Abgesehen von der Schlappheit unserer politischen Leitung doch vor allen Dingen deshalb, weil man den Bau und die Wiederherstellung von U-Booten in sträflicher Weise vernachlässigte und gar keine Abwehrmittel schuf gegen die Tanks, nicht hörend auf alle Vorschläge, welche der Heeresverwaltung von Ingenieuren gemacht wurden."26 Tatsächlich behandelten Ingenieure, Wissenschaftler und Industrielle die Militärs längst nicht mehr mit der sonst üblichen Ehrerbietung, und besonders Zivilisten, die eng mit der Kriegswirtschaft in Berührung standen, waren der Ansicht: „Unsere militärischen Kreise sollten Gott danken, daß die Industrie ihnen im Jahre 1915 beigesprungen ist und den Wagen aus dem Dreck gezogen hat." 27 Es liegt nahe, daß den ersten Regierungen der Weimarer Republik kaum der Respekt und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit entegengebracht wurden, die ihrem Vorgänger aufgekündigt worden waren. Wenn die Gefahr der Revolu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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tion und Sozialisierung groß war, wie es der Fall war vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrags und nach dem Kapp-Putsch, waren die Unternehmer vorsichtig und zurückhaltend in ihrem Umgang mit der Regierung. Sobald es jedoch ungefährlich erschien, behandelten sie die Regierung mit einem beträchtlichen Ausmaß von Verachtung28. Während der letzten Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre diente ein großer Teil der organisatorischen und taktischen Manöver dem Ziel, durch Abschüttelung der im Krieg geschaffenen Kontrollen und Behörden die Wirtschaftsfreiheit wiederzuerlangen. Sogar in Angelegenheiten, in denen die Berechtigung für staatliches Eingreifen anerkannt wurde, forderte die Industrie immer wieder die Schaffung staatlicher Behörden außerhalb der bestehenden Bürokratie, die diktatorische Autorität besitzen und mit technischen Stäben und Beiräten aus den Reihen der Ingenieure und Unternehmer besetzt sein sollten, um die neue Amtsgewalt auf den rechten Weg zu leiten. Die Kriegsrohstoffabteilung, das Kriegsamt und das Demobilmachungsamt waren das Resultat dieser Bemühungen. In den Augen der Industriellen sollten solche Ämter bloße Übergangseinrichtungen sein, und sie waren ungehalten über den Technokraten Wichard von Moellendorff, seinen zeitweiligen Mentor Walther Rathenau und den ,sozialen4 General Wilhelm Groener, die diese Ämter als Modelle für eine dauernde staatliche Kontrolle der Wirtschaft oder für die Durchführung bestimmter gesellschaftlicher Zielvorstellungen ansahen. Es war kein Zufall, daß der von der Industrie gestellte Kandidat für das Demobilmachungsamt Oberstleutnant Koeth war, der, bekannt als notorischer „Dezisionist", nur an die gegenwärtige Notlage dachte, die langfristige Planung MoellendorfTs verabscheute und hochherzig die großen Profite der Industrie und die hohen Löhne der Arbeiter befürwortete. Gleichzeitig kämpfte in den Jahren 1917—18 die Industrie mit dem Reichswirtschaftsamt um die Kontrolle der Übergangswirtschaft29. Dieser Kampf bewies, daß der Staat und die „kapitalistischen Monopole" zwar an der Spitze der Wirtschaft standen, jedoch längst nicht die „vereinten Kräfte" waren, für die sie Hilferding 1915 gehalten hatte30. Der Kampf endete um die Jahreswende 1918/19 mit dem Sieg der Industrie in Form der Arbeitsgemeinschaft mit den Gewerkschaften, mit der Übermacht Koeths und des Demobilmachungsamtes über die Regierung und mit der Abschaffung der Preis- und der Lockerung anderer Kontrollen. Das Jahr 1918 stellte jedoch nicht den Abschluß dieses Kapitels in der deutschen Wirtschaftsgeschichte dar. Erstens bestand unter den Wirtschaftsführern weder eine Übereinstimmung über das Tempo, in dem staatliche Kontrollen abgeschafft, noch über das Ausmaß, in dem sie gelockert werden sollten. Zweitens machte die politische und wirtschaftliche Lage die gänzliche Befreiung der Industrie von den Kriegskontrollen unmöglich. Vollständige Wiederherstellung ihrer Selbständigkeit wurde mit Nachdruck von den Konsumindustrien und Handelskreisen gefordert, die durch Ein- und Ausfuhrkontrollen geschädigt wurden, und von den Führern einiger großer Industrieunternehmen, die die Rohstoffe und wirtschaftlichen Mittel besaßen, um unter vollkommen freien © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Marktbedingungen existieren zu können. Eine etwas positivere Einstellung gegenüber einem gewissen Grad staatlicher Kontrolle zeigten einige Industrielle und Industrieorganisationen, allerdings nur aufgrund der Überlegung, daß RohstofTmangel, problematische Währungslage und soziale Unruhen solche Kontrollen erforderten. Die Verbraucher von Rohstoffen befürchteten, daß sie mit der Aufhebung von Preis- und Ausfuhrkontrollen der Gnade der Schwerindustrie ausgeliefert sein würden, eine Befürchtung, die sich im Winter 1919 bis 1920 als nur zu berechtigt erweisen sollte. Die Industriellen wurden früh daran erinnert, daß inflationistische Gewinne von staatlichen Ausfuhrverboten abhingen, die hohe Ausfuhrpreise sichern und Verkäufe zu Schleuderpreisen verhindern konnten. Außerdem hatten die Außenhandelsstellen während des Krieges eine Handhabe für die Organisation der Industrie geliefert, und die Geschäftsführer dieser Organisationen, wie zum Beispiel Jacob Reichert, waren nicht gewillt, diese organisatorischen Vorteile aufzugeben. Endlich war es auch die angespannte soziale Lage, die ein unkontrolliertes Funktionieren des freien Marktes nicht zuließ, denn die nach der Revolution in die verschiedenen Selbstverwaltungskörper aufgenommenen Gewerkschaftsfunktionäre betrachteten ihre Absetzung als Verletzung des neuen Mitspracherechts der Arbeiterschaft in wirtschaftlichen Angelegenheiten31. Wenn zur Jahreswende 1918—19 die Industrie auch ihre Autonomie zurückgewonnen hatte, so war dies nicht mehr als nur eine bedingte Selbständigkeit. Der Kampf darum, wer den „Organisierten Kapitalismus" zu reorganisieren hatte, wurde bis zur Stabilisierung im Jahre 1924 fortgesetzt. Die erfolgreichen Bemühungen der Industrie, Sozialisierung und die in Moellendorffs dirigistischer Gemeinwirtschaft enthaltenen Gefahren zu vermeiden, verdankten einen großen Teil ihrer Wirksamkeit der Unfähigkeit der sozialdemokratischen Führer, wirtschaftliche Fragen auf durchgreifende Art zu lösen32. Gleichzeitig steht fest, daß die Unternehmer mit bemerkenswertem Erfolg ihre Uneinigkeit verschleierten, Entscheidungen hinausschoben und der Arbeiterschaft finanzielle Konzessionen machten. Hätten die Industriellen eine Stellung ähnlich die der Hanse-Kaufleute eingenommen und die Regierung mit allen Mitteln bekämpft, hätten sich die Dinge vielleicht ganz anders entwickelt. Mit welchen Taktiken die großen Industriellen Wissell und Moellendorff begegneten, legte Albert Vogler im Juni 1919 mit bewundernswerter Klarheit dar: „An und für sich kann man sehr wohl den Standpunkt vertreten, daß bei einer Wahl zwischen Sozialisierung auf der einen Seite und Planwirtschaft auf der anderen man eine Wegstrecke mit den Verfechtern der letzteren zusammengehen kann. Ich persönlich habe die Überzeugung, daß, wenigstens solange die jetzigen Leiter im Reichswirtschaftsamt sitzen, schon von selbst bei der Durchführung sich die Grenzen ergeben, wo die geplante Organisation sich als undurchführbar herausstellt. Sicherlich wird bis dahin viel kostbare Zeit mit unproduktiven Arbeiten vergeudet werden. Wir müssen uns aber immer vor Augen halten, daß die Regierung, mag sie wollen oder nicht, zum Eingreifen in die Wirtschaft gedrängt wird. Es wird im Gesamtinteresse der Industrie darum besser sein, daran mitzuarbeiten als nur Opposition zu treiben und dadurch die Lage jedenfalls nicht zu verbessern. Die scharfe Stellungnahme des Handels gegen

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das Reichswirtschaftsamt ist ja zu verstehen, aber der Handel hat gerade durch sein Vorgehen, daß kann keine Frage sein, die Stellung Wissells nur gestärkt."33 Tatsächlich veranschaulichten um die Jahreswende 1919—1920 die Verantwortlichen der Eisen- und Stahlindustrie selbst die Gefahren undisziplinierten Verhaltens, als ihre Preispolitik die weiterverarbeitende Industrie im April 1920 zwang, staatliche Unterstützung durch die Schaffung eines Gemeinwirtschaftskörpers zu verlangen, des Eisenwirtschaftsbundes, der Eisen- und Stahlpreise sowie den Export kontrollierte. Da der Eisenwirtschaftsbund nicht sonderlich gut funktionierte und sich sehr bald zu einer Arena entwickelte, in der sich Vertreter der Industrie und der Arbeiterschaft bekämpften, hatte dies eine ernüchternde Wirkung auf die Industriellen, die langsam zu einer Zusammenarbeit untereinander zurückkehrten und mit der Zeit den Eisenwirtschaftsbund unterminierten. Trotzdem gelang es erst während der Stabilisierung, den Eisenwirtschaftsbund, den Reichskohlenrat, die Außenhandelsstellen und die übrigen Pfeiler der verhaßten Zwangswirtschaft stillzulegen oder abzuschaffen34. Einerseits verfolgten die Industriellen eine Politik, in der sie die Inflation dazu benutzten, ihre Industrieanlagen und ihren Aktienbesitz zu erweitern und durch Konzessionen an die Arbeiterschaft die Allianz der Produzenten gegen die Verbraucher fortzusetzen. Andererseits bekämpften sie die Zwangswirtschaft und sahen der unumgänglichen Sanierung mit einer eigenartigen Mischung von Furcht und Begehren entgegen. So schrieb im Dezember 1919 Carl Duisberg: „Wir sind noch lange nicht am Ende. Es muß und wird noch schlimmer kommen. Schon geht vielen Geschäften in Handel und Industrie das Geld und damit der Atem aus. Die schlechte Valuta und damit die steigenden Löhne und Gehälter legen sich wie ein Alp auf alles. Wir nähern uns mit unseren Inlandpreisen mehr und mehr den Weltmarktverhältnissen. Damit gehen wir der Zwangswirtschaft an den Kragen und zwingen sie zum Abbau. Erst wenn wir wieder so weit sind, daß wir uns frei bewegen können und den Schutz des Staates nicht mehr brauchen, werden wir, wenn auch nach Überwindung mancher Schwierigkeiten, endlich zur Umkehr kommen."35 Wie groß auch immer die Vorteile gewesen sein mögen, die die Geschäftsleute durch die Inflation genossen, sie glaubten dennoch beharrlich an die Notwendigkeit und Erwünschtheit einer Sanierung und waren ängstlich darauf bedacht, gerade die wirtschaftlichen Bedingungen aufzuheben, die die Ursache für die Vorteile waren, die Deutschland nach 1918 gegenüber den anderen Industrieländern besaß; denn diese hatten aufgrund ihrer deflationistischen Politik mit beträchtlicher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Selbst Stinnes, dem es mit der Rückkehr zu geordneten Verhältnissen nicht eilte, bekannte sich zumindest offiziell zur Notwendigkeit einer kommenden Sanierung36. Seine Kollegen in der Schwerindustrie reagierten auf die depressiven Geschäftsbedingungen im Frühjahr 1921 sogar mit einer Rückkehr zu Festpreisen, denn viele glaubten „an einen bevorstehenden Gesundungsprozeß, und vertraten in maßgebenden Eisen-Industriellen-Kreisen den Stand© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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punkt, diesen Gesundungsprozeß durch Rückkehr zur vollen Verantwortung in allen Kreisen des Unternehmertums fördern zu müssen. Die Markbesserung hat im Sommer 1921 sogar sonst sehr vorsichtigen Industriellen (Vogler usw.) Veranlassung gegeben, selbst im Exportgeschäft Abchlüssen in Mark den Vorzug zu geben vor solchen, die in Edelvaluta abgeschlossen werden konnten . . . ."37 Kurzum, die Erwartung und der Wunsch nach einer Umkehr bestanden während der ganzen Inflationsperiode, und die während Krieg und Inflation gesammelten Erfahrungen führten nicht zu einem Bruch mit früheren Konzeptionen vom Wirtschaftsablauf oder der Rolle des Staates in der Wirtschaft, sondern eher zu einer Verfestigung traditioneller Ideen, zu einer Art Ideologisierung der überkommenen Vorstellungen. Das läßt sich am besten an der Arbeit des Sonderausschüsse für ein Wirtschaftsprogramm des Reichsverbandes der Deutschen Industrie zeigen. Der Reichsverband hatte diesen Sonderausschuß im späten Frühling 1922 eingesetzt mit der Aufgabe, ein Programm auszuarbeiten, das die Industrie in ihren Verhandlungen mit der Regierung über Stabilisierungsmaßnahmen, Lösung der Reparationsfrage und Sicherstellung ausländischer Kredite zusammenschweißen sollte. Die Arbeit des Sonderausschusses im Herbst und Winter 1922/23 wurde die Basis des Wirtschaftsprogrammes, das von dem Reichsverband 1925 veröffentlicht wurde, und bildete darüber hinaus die Grundlage für die Unternehmerideologie in den restlichen Jahren der Weimarer Republik. Wie ein Mitglied des Reichsverbandes, das sowohl dem Vorstand wie dem Sonderausschuß angehörte, später bemerkte: „Im Reichsverband . . . ist in den Jahren 1921—22 beharrlich daran gearbeitet worden, neben der Stellungnahme zu den akuten Tagesfragen eine allgemeine Kenntnis der wírtschaftspolitischen Probleme zu gewinnen, nicht als Wissensdiaft, sondern als Sammlung solcher Gesichtspunkte, an denen die politische Orientierung erfolgen konnte. Es ist eine ganze Ideologie geschaffen worden, die in wirtschaftlichen Kreisen lange Jahre gegolten hat. An der Spitze stand die Lehre von der Freiheit der Wirtschaft, die sie im Kampf gegen Planwirtschaft, Betriebsrätegesetz und Sozialisierung praktisch durchsetzte. Eine weitere Lehre war die Rentabilität mit ihren immer wiederholten Untertiteln: Steuern, Löhne, soziale Lasten, wozu in Abstand folgen die Zinshöhe, Außenhandelsbeschränkungen wie Ausfuhr- und Einfuhrverbote, Ausfuhrabgaben und bei manchem auch die Einfuhrzölle, im Anfang nahm einen außerordentlich wesentlichen Teil ein die Frage der Arbeitszeit, d. h. der Kampf gegen den 8-Stunden-Arbeitstag. Eine dritte Lehre über Geld und Geldwesen beschäftigte sich in der Inflation mit der Valutafrage, später waren es Außenhandelsbilanz, Exportförderung, aber auch Reparationen, Auslandsleihen und Beteiligungen, Transferfragen usw."38 Die Arbeitsberichte dieses Sonderausschusses geben Zeugnis von den fundamental rückständigen Tendenzen, die von den Führern der deutschen Industrie als eine Folge des Krieges und der Inflation entwickelt wurden. In den Diskussionen von 1922 legte man eine fast groteske Betonung auf die Hebung der Produktivität durch die Abschaffung des Achtstundentages — eine Betonung, die durchaus den Einfluß der Ideen Stinnes', artikuliert durch seinen Verbündeten in der Braunkohlenindustrie, Paul Silverberg39, widerspiegelt —, woge11* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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gen selbst die Notwendigkeit der Rationalisierung nur von zweitrangiger Bedeutung war. Dies geschah der Tatsache zum Trotz, daß in den meisten weiterverarbeitenden Industrien die Produktivität der Arbeiter als zufriedenstellend beurteilt wurde. In ähnlich kurzsichtiger Weise und ungeachtet der Erkenntnis einiger Industrieführer, daß die Stabilisierung letztlich zu einer Überproduktion führen werde, wurde die Meinung vertreten: „Da wir uns bei unserem Programm zunächst nur mit der Frage der Mehrleistung befassen wollen, brauchen wir im Augenblick das andere Thema nicht zu erörtern. Erst beim Fortschreiten der Arbeit, bei der Gesamtbetrachtung werden wir auf diesen Punkt zurückkommen müssen."40 Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der die Programm-Gestalter die Abschaffung des Achtstundentages forderten, beharrten sie auf der vollkommenen Beseitigung der Zwangswirtschaft, d. h. aller Überreste von Staatskontrolle über die Wirtschaft, die für die industrielle Freiheit und Selbstbestimmung von Nachteil waren. Silverberg ging dabei so weit, daß selbst Duisberg seine Vorbehalte äußerte und ihm entgegenhielt: „Sie kehren in Ihren Forderungen m. E. zum Manchestertum zurück, ohne das Gute zu behalten und in Ihr Programm aufzunehmen, was die letzten Jahrzehnte uns gebracht haben. Auch wenn Ihr Programm vom wirtschaftlichen Standpunkt aus richtig ist und von mir in den meisten Punkten geteilt wird, so dürfte doch manche Ihrer Forderungen, politisch und taktisch gewertet, unangebracht sein. . ."41 Damit demonstrierte Duisberg die flexiblere Haltung der Führer der Jungen' Industrien. Es muß allerdings angemerkt werden, daß auch Stinnes und Silverberg hofften, die Produktion durch Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsführern zu steigern und durchaus bereit waren, mit den großen Gewerkschaften, die aus der Kriegswirtschaft hervorgegangen waren, auf dauernder Basis zu verhandeln. Innerhalb der Schwerindustrie gab es jedoch noch weit konservativere Elemente, die in der Zeit nach 1924 eine führende Rolle spielten. Diese Männer blickten zurück auf das autoritäre Deutsche Reich der Vorkriegszeit, in dem ein starker Staat die Industrie begünstigt, aber nicht dirigiert hatte und in dem die Unterstützung der Arbeitgeber der „Werksgemeinschaft" gehörte, während den großen Gewerkschaftsbewegungen die Anerkennung verweigert blieb. Der prominenteste Sprecher dieser konservativen Gruppe war Paul Reusch, Generaldirektor der Gutehoffnungshütte, der Silverberg gegenüber argumentierte: „Nicht durch gemeinsames Zusammenwirken von Arbeitgeber und Arbeitnehmern kann die Arbeitsunlust bekämpft werden, sondern nur durch eine starke Regierung, die den Mut hat, energisch und rücksichtslos durchzugreifen. Wir haben in Berlin keine Regierung, sondern nur verschiedene Büros, an deren Spitze mehr oder weniger fähige Bürochefs stehen. Wir haben eine Fabrik für Gesetze, die von einem großen Teil der Bevölkerung nicht beachtet werden, weil die Regierung keine Autorität hat und nicht stark genug ist, ihren Willen durchzusetzen."42 Die Umkehr, die die Industriellen verlangten, wurde schließlich am Ende des Ruhrkampfes Wirklichkeit durch die einseitige Aufhebung der achtstündi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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gen Arbeitszeit und die Abschaffung oder endgültige Stillegung derjenigen Gemeinwirtschaftskörper, die sich noch am Leben erhalten hatten. Die „Revolution", die für die Industriellen 1914, nicht 1918, begonnen hatte, war zu Ende. In der Zeit der Stabilisierung und „Sanierung" von 1924—25 festigte die Industrie ihre Ideologie, und es folgte ein ständiger Kampf gegen „Löhne, soziale Lasten und Steuern". Der Erfolg der Industriellen war nicht vollständig, aber er war groß genug, um die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Weimarer Republik im allgemeinen zu bestimmen. Der Preis, den die Industrie für ihren Erfolg bezahlte, waren die äußerst konfuse Rationalisierung der späten zwanziger Jahre, die auf den Untergang vieler während der Inflation errichteter Konglomerate folgte, der unbefriedigende Waffenstillstand zwischen Industrie und Arbeiterschaft, eine dauernde staatliche Schiedsrichterrolle in Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die weder die eine noch die andere Seite befriedigte, und die Entfremdung der nur schlecht oder gar nicht organisierten Mittelschichten43. Es kann mithin kein Zweifel daran bestehen, daß die leidenschaftlich und intensiv vorgetragene Unternehmerideologie, eine Frucht lebhafter Erinnerungen an die vorangegangenen chaotischen Jahre, die sozialen und politischen Spannungen der Weimarer Zeit noch steigerte und das Wunschbild eines Staates hervorrief, der wohlwollend genug war, um diese Ideologie zu akzeptieren, und gleichzeitig hinreichend stark, um das Ziel mit aller Rücksichtslosigkeit zu verfolgen. Worin also bestand der Beitrag von Krieg und Inflation zur Entwicklung des „Organisierten Kapitalismus", d. h. für die Serie der Phänomene, die gewöhnlich mit der Entwicklung fortgeschrittener Industriegesellschaften des kapitalistischen Westens assoziiert werden? Eine denkbare Enumeration, hinter die jedoch sogleich ein Fragezeichen zu setzen ist, wäre: Technologische und wirtschaftliche Entwicklungen, die die „jüngeren" gegenüber den „älteren" Industrien begünstigten; Tendenzen zur Konzentration von Kapital und technischen Mitteln in Unternehmungen großen Stils und industriellen Gruppierungen, die mit einer wachsenden Trennung von Eigentum und Kontrolle parallel gingen; die Institutionalisierung eines „korporativen Pluralismus"44, in dem hochorganisierte Interessengruppen als Repräsentanten von Kapital und Arbeit eine Vielfalt von Aufgaben erfüllten, die mit der Gestaltung und Ergänzung der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammenhängen; die wachsende Rolle des Staates in der sozio-ökonomischen Entwicklung, bedingt durch eine allgemeine Ausweitung seiner Aktivitäten wie seine direkte Intervention zum Zweck der Stabilisierung; und — als Resultat all dieser Erscheinungen — die gegenseitige Durchdringung des öffentlichen und privaten Sektors. Potentiell hätten Krieg und Inflation zu einschneidenden und massiven Veränderungen im Wirtschaftsablauf und in den Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft führen können. Die tatsächlichen Erfahrungen jedoch lassen darauf schließen, daß eine solche ausgeprägte nationale Notlage, ohne tiefgreifende politische Veränderungen und einen gewissen Wandel in der Vorstellungswelt der maßgebenden Wirtschaftsführer und Politiker, die langfristige Entwicklung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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eines Wirtschaftssystems nur sehr begrenzt beeinflussen kann. Obgleich sich das Gleichgewicht zugunsten der „jüngeren" Industrie verlagerte, kann diese Gewichtsverschiebung dennoch nicht als eine Entwicklung angesehen werden, die dem Kapitalismus mehr als anderen ökonomischen Systemen zugeordnet ist. Es ist überdies auffällig, daß das politische Pendel nicht zugunsten der „jüngeren" Industrien ausschlug, daß es im Gegenteil die Schwerindustrie war, die mit ihrer „malthusianischen" ökonomischen Perspektive und ihren Strukturproblemen die deutsche Industrie bis 1936 beherrschte45. Das relativ dauerhafte Resultat des Krieges war die Integration der organisierten Arbeiterschaft in die sozio-ökonomische Struktur, wobei dem Staat in der Folgezeit die Verpflichtung oblag, Kapital und Arbeit zu befrieden. „Korporativer Pluralismus" und die sich ständig verringernde Rolle, die die parlamentarischen Institutionen in den sozio-ökonomischen Angelegenheiten spielten, waren langfristige Konsequenzen des Krieges. Im ganzen aber und unter dem Gesichtspunkt qualitativer Veränderung blieb von der Rolle des Staates im wirtschaftlichen Bereich nach 1924 bemerkenswert wenig übrig. Forderungen nach Subventionen, niedrigeren Frachtraten, Schutzzöllen, Unterstützung der Kartelle, Förderung des Exports und Reduzierung der öffentlichen Ausgaben waren gewiß nichts Neues. Eine qualitative Veränderung in dem Konzept der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft entwickelte sich erst am Ende der Großen Wirtschaftskrise, und sie war wesentlich ihr Resultat. In den Worten von Hans Staudinger: „Hat nodi am Ende der zwanziger Jahre ein Vertreter des Maschinenbaues in Deutschland die ,Reinigungskrise' begrüßt, weil sie Spreu vom Weizen scheide, so verlangen die organisierten Wirtschaftsvertreter von heute schon bei einer Abschwächung der Nachfrage mit vollem Recht und in guter wirtschaftlicher Voraussicht, daß das staatliche System eingreife."46 Deshalb muß abschließend noch einmal betont werden, daß die Einschätzung des Ersten Weltkrieges als Höhepunkt und Durchbruch in der Entwicklung des „Organisierten Kapitalismus" nur die weitere Dehnung eines ohnehin schon überforderten, ungenauen und verwirrenden Konzepts bedeutet.

Anmerkungen Die Forschungen für die vorliegende Arbeit wurden finanziell unterstützt vom American Council of Learned Societies, dem Social Science Research Council und dem Institute of International Studies of the University of California at Berkeley. Die deutsche Übersetzung wurde von Irmgard Steinisch angefertigt. 1 H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967, 268. 2 Dieser Begriff wurde von Hans Rosenberg in einer Unterhaltung mit dem Verfasser vorgeschlagen. 3 Diese kritischen Bemerkungen über die Definition und den Gebrauch des Begriffs „Organisierter Kapitalismus" bei H.-U. Wehler und J . Kocka beziehen sich auf ihre in Regensburg auf dem Historikertag gehaltenen Vorträge sowie auf Kockas Thesen „Vorläufige Merkmale des Idealtyps oder Begriffs „Organisierter Kapitalismus", die den Teilnehmern an der Arbeitsgemeinschaft in Regensburg zur Orientierung vorlagen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Falls inzwischen Veränderungen vorgenommen worden sein sollten, so wurden diese nicht berücksichtigt. 4 Zur Diskussion der Grundregeln für den Gebrauch von „Idealtypen" sowie für die damit verbundenen Probleme und Gefahren vgl. R. Bendix, Tradition und Modernity Reconsidered, Comparative Studies in Society and History 9. 1967, 292—346, bes. 313—17. 5 Dies stimmt überein mit seinem wichtigen Buch: J . Kocka, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914, Stuttgart 1969, 315 bis 319. Eine noch genauere Periodisierung macht Kocka in seinem kürzlich erschienenen Aufsatz: Theorieprobleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: H.-U. Wehler Hg., Geschichte u. Soziologie, Köln 1972, 305—30. Auf S. 316 ist zu lesen: „Industrielle Revolution von den 1830er Jahren bis 1873, Große Depression 1873—96, Übergang zum Organisierten Kapitalismus 1894 bis zum 1. Weltkrieg, Organisierter Kapitalismus seitdem." 6 Obwohl nicht an sich abzulehnen, so weist doch die Disproportionalität auf ein Problem hin, das implizit in der ganzen Diskussion über den „Organisierten Kapitalismus" enthalten ist. Der Begriff soll die vielfältigen Tendenzen der industriellen Gesellschaften erhellen, wogegen sich einwenden ließe, daß der Kapitalismus der Industrialisierung um Jahrhunderte voranging. Es muß nämlich keine notwendige Verbindung zwischen den spezifischen Merkmalen des Kapitalismus und der Industrialisierung bestehen. 7 Vgl. außer dem in Anm. 1 zitierten Werk von H. Rosenberg die sehr einfühlsame und hinsichtlich der Trennung zwischen Kontinuität und Veränderung äußerst differenzierende Arbeit von W. Fischer, Konjunkturen und Krisen im Ruhrgebiet seit 1840 und die wirtschaftspolitische Willensbildung der Unternehmer, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, 179—93. 8 „Der Staat . . . hat im 19. Jahrhundert eine eigene Konjunkturpolitik noch kaum begonnen. Zwar greift er in Krisen immer wieder zu punktuellen Maßnahmen wie Staatskrediten in der Krise von 1848, Zollerhöhungen oder ähnlichem nach der großen Krise der 1870er Jahre, aber eine bewußte, langfristige staatliche Konjunkturpolitik hat es im 19. Jahrhundert nicht gegeben. Dieses Problem staatlicher Konjunkturpolitik ist in seiner ganzen Schärfe erst in der Weltwirtschaftskrise seit 1929 erkannt worden, und seitdem ist auch erst das wesentliche Instrumentarium entwickelt worden, das Zentralbanken und Finanzministern eine staatliche Konjunkturlenkung erlaubt." Ebd., 192. Obwohl H. Staudinger, Die Änderungen in der Führerstellung und der Struktur des organisierten Kapitalismus, in: Festschrift (= Fs.) für G. v. Eynern, Berlin 1967, 341 bis 73, wiederholt in Verbindung mit dem „Organisierten Kapitalismus" zitiert wird, schenkt man seiner bedeutenden Differenzierung zwischen vor-Keynesianischen und nach-Keynesianischen Formen des Kapitalismus und der staatlichen Intervention kaum Beachtung. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, auf R. Hilferdings auch in der Praxis äußerst enge Konzeption der potentiellen Rolle des Staates hinzuweisen: seine vorgefaßten marxistischen Ansichten über die „Gesetze" der -kapitalistischen Wirtschaft veranlaßten ihn, die deflationistische Politik des Reichskanzler Brüning zu unterstützen. Mit diesem Thema hat sich Robert Gates in seinem ungedruckten Referat „German Socialism and the Crisis of 1929—1933", gehalten auf der Tagung der American Historical Association in New Orleans 1972, näher auseinandergesetzt. 9 Bendix' Diskussion der Idealtypen ist hier besonders wertvoll. Vgl. Anm. 4 u. 6. 10 Die folgenden Ausführungen über Krieg und Inflation basieren in beträchtlichem Maß auf eigenen Forschungen des Verf. Einige Ergebnisse dieser Forschungen wurden schon veröffentlicht, vgl. bes. mein Buch: Army, Industry and Labor in Germany, 1914—1918, Princeton 1966, und den Aufsatz: German Business between War and Revolution: the Origins of the Stinnes-Legien-Agreement, in: Fs. H. Rosenberg, Berlin 1970, 312—41. Ein Großteil des Materials und der Ausführungen über die Weimarer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Zeit sind zwei neuen vom Verf. begonnenen Studien entnommen, die eine über die deutsche Eisen- und Stahlindustrie in der Zeit von 1914 bis 1924 und die andere über Industrie, Arbeiterschaft und Staat während der ersten Jahre der Weimarer Republik. In den folgenden Anmerkungen ist kein Versuch unternommen worden, eine große Anzahl von Quellen zu zitieren; vielmehr begrenze ich mich auf wichtige Literaturhinweise, Zitatangaben und Ausführungen zu bestimmten Aspekten dieser Arbeit. 11 W. Fischer u. P. Czada, Wandlungen in der deutschen Industriestruktur im 20. Jahrhundert, in: Fs. für H. Rosenberg, 116—65, bes. 117—21, 126—35. 12 Ebd., 117. Dies soll keine Kritik sein, sondern all diejenigen zur Vorsicht mahnen, die über Sozial- und Wirtschaftsgeschichte schreiben. Kurzfristige wirtschaftliche und soziale Entwicklungen, von der Warte langfristiger „Eigengesetzlichkeiten" der wirtschaftlichen Entwicklung aus gesehen, können jegliche Bedeutung verlieren, trotzdem aber zu kurzfristigen Entwicklungen von wahrhaft horrendem Charakter führen und eine, obwohl quantitativ nicht zu erfassende, bedeutende Wirkung auf spätere Generationen haben. Schließlich muß daran erinnert werden, daß all diesen Entwicklungen ein wesentlich menschliches Interesse innewohnt. 13 Eine der düstersten Einschätzungen dieser Zeit gibt: C. Bresciani-Turroni, The Economics of Inflation, London 19532. Vgl. als gute Ergänzung dazu die impressionistische, aber äußerst stimulierende Arbeit von A. Mendelssohn-Bartholdy, The War and German Society, New Haven 1937. Für den Rückgang des industriellen Wachstums während dieser Zeit vgl. S. J . Patel, Rates of Industrial Growth in the Last Century, 1860—1958, Economic Development and Cultural Change 9. 1961, 316—30. 14 Ich wurde gebeten, diese Hypothese meiner Arbeit zugrunde zu legen. Es wird allgemein angenommen, daß der Erste Weltkrieg einer der Höhepunkte in der Entwicklung des „Organisierten Kapitalismus" war. 15 Vgl. Th. P. Hughes, Technological Momentum in History: Hydrogenation in Germany 1898—1933, Past & Present 44. 1969, 106—32. 16 R. A. Brady, The Rationalization Movement in German Industry, Berkeley 1933, bes. 3—65, 103—38, 422—26. 17 Über Emil Fischer und die industrielle Unterstützung der Wissenschaft, vgl. G. D. Feldman, A German Scientist between Illusion and Reality: Emil Fischer, 1909 to 1919, in: Fs. für F. Fischer, Düsseldorf 1973. Vgl. für das Kriegsamt: ders., Army, 190—96. Das Problem der industriellen Unterstützung der Wissenschaft wird eingehend von Dr. P. Forman vom Smithsonian Institute untersucht, und durch seine großzügige Erlaubnis habe ich von der Einsicht in seine noch nicht veröffentlichten Studien profitieren können. 18 Über die „Kleine I. G." siehe W. Treue, C. Duisbergs Denkschrift von 1915 zur Gründung der „Kleinen I. G.", Tradition 8. 1963, 193—227. 19 C. Duisberg an O. Diehl, 20. März 1919, Autographensammlung C. Duisberg, in: Werksarchiv, Farbenfabriken Bayer, Leverkusen. 20 G. v. Klass, Albert Vogler, Tübingen, 1957, 68 ff. 21 Werksarchiv Fried. Krupp, WA IV 1263. Wiedfeldt sah seine düsteren Voraussagen 1925 bestätigt. Über die damalige Situation und die Rettung der Firma durch die Banken und die Regierung siehe die Dokumente im Bundesarchiv Koblenz (BA), R 43 1/2173. Eine ausgezeichnete Diskussion der vertikalen Konzentrationsbestrebungen während des Krieges und danach bietet: A. Tross, Der Aufbau der Eisen- und eisenverarbeitenden Industriekonzerne Deutschlands, Berlin 1923. In einem Brief an Schlubach vom 19. Juni 1925 äußert sich Duisberg über den problematischen Charakter vieler der in dieser Zeit entstandenen Konzentrationen: „Die Schwierigkeiten im Hause Stinnes werfen zur Genüge ein Schlaglicht auf die bisherige Entwicklung unserer kranken wirtschaftlichen Verhältnisse und zeigen zu deutlich, auf welcher ungesunden Basis alles beruht. Schuld ist in erster Linie die Illiquidität des deutschen Geldmarktes, wodurch kreditbedürftige Unternehmungen gezwungen sind, sich vielfach mit kurzfristigen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Krediten einzudecken und dann am Fälligkeitstermin ihre Verbindlichkeiten nicht ablösen können. Mir zeigt der Fall Stinnes aber auch sehr deutlich, daß bei den Konzentrations- und Zusammenlegungsbestrebungen von Unternehmen feste Gesetze walten und es ein gefahrvolles Spiel ist, wahllos alle nur möglichen Geschäftsgebiete in einem Konzern zusammenzuschweißen, die an sich wesensfremd sind . . .," Werksarchiv Farbenfabriken Bayer, Leverkusen, Autographensammlung Duisberg. Zu einem wesentlich erfolgreicheren und länger bestehenden Konzern, der während der Inflationszeit gegründet wurde: E. Maschke, Es entsteht ein Konzern, P. Reusch u. die GHH, Tübingen 1969, 75—187. 22 Ders., Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Dortmund 1964. Eine andere gründliche und scharfsinnige Analyse bei E. v. Beckerath, Der Moderne Industrialismus, Jena 1930. 23 F. Hauenstein u.a., Der Weg zum Industriellen Spitzenverband, Frankfurt 1956; Feldman, German Business; ders., Army, geben eine ausführliche Darstellung und weitere Literaturhinweise zu den verschiedenen Aspekten des Krieges und der Demobilmachung. Weiteres Material und Fragestellungen sind in der soeben veröffentlichten Studie Klassengesellschaft im Krieg (Göttingen 1973) von J . Kocka zu finden. 24 E. Fischer an A. von Harnack, 16. August 1916, E. Fischer Papers, Bancroft Library, University of California, Berkeley. 25 Feldman, German Business, 320 ff. 26 Direktor Wedemeyer von der Gutehoffnungshütte an Dipl.-Ing. Hellmich von dem Verein deutscher Ingenieure, 6. Januar 1919, Historisches Archiv der Gutehoffnungshütte (HA/GHH), Nr. 3001008/6. 27 O. Diehl an C. Duisberg, 14. Februar 1919, Autographensammlung C. Duisberg. 28 Für die allgemein von den Industriellen während der Weimarer Republik verfolgten Taktiken siehe: G. D. Feldman, The Social and Economic Policies of German Big Business, 1918—1929, American Historical Review 75. 1969, 47—55 und ders., Big Business and the Kapp Putsch, Central European History 4. 1971, 99—130. 29 Feldman, Army, 190—96, 253—83, 519—21; ders., German Business, 327—36. Vgl. dazu auch das immer noch grundlegende Werk von H. Schieck, Der Kampf um die deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Novemberumsturz 1918, phil. Diss. Heidelberg 1958 (MS), 1—45; W. Eiben, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution 1918—1919, Düsseldorf 1965, 70 ff. 30 Es ist nicht gerade vielversprechend, daß der Begriff „Organisierter Kapitalismus" von Anfang an mit einer Fehlinterpretation der Lage durch seinen Schöpfer belastet ist. Der Krieg trennte die Kräfte des Kapitalismus und des Staates in dem gleichen Maße wie er sie zusammenbrachte, obwohl Hilferding sicherlich nicht Unrecht hatte mit seiner Äußerung, daß der „Kriegssozialismus . . . in Wirklichkeit nur eine ungeheure Verstärkung des Kapitalismus durch die Macht seiner Organisierung . . ." sei. Vgl. R. Hilferding, Arbeitsgemeinschaft der Klassen?, Der Kampf 8. 1915, bes. 321—23. 31 Schieck, 147—238; J . Reichert (Geschäftsführer des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller), Rettung aus der Valutanot, Berlin 1919. 32 Schieck, 250—69. 33 Vogler an Direktor Gerwin, 24. Juni 1919, Werksarchiv, August-Thyssen-Hütte, Duisburg-Hamborn, Allgemeiner Briefwechsel. 34 In meiner noch nicht fertiggestellten Studie über die Eisen- und Stahlproduzenten und die weiterverarbeitende Industrie werde ich darauf ausführlich eingehen. Eine kurze, aber ausgezeichnete zeitgenössische Darstellung der damaligen Situation gibt: A. Schlaghecke, Die Preissteigerung, Absatzorganisation und Bewirtschaftung des Eisens 1914—1920, Diss. Gießen 1922. 35 Duisberg an Oberst a. D. M. Bauer, 23. Dezember 1919, Autographensammlung C. Duisberg.

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Auf einer Zusammenkunft der Stahlproduzenten am 16. Juli 1919 erklärte Stinnes es werde eine Zeit kommen, in der die Welt wieder zu „sparen" beginnen würde, und er wolle die Inflation nur dazu benutzen, Deutschlands frühere wirtschaftliche Stellung wiederherzustellen. Vgl. HA/GHH, Nr. 3000030/12. 37 Direktor Klemme an Direktor Woltmann, 27. Dezember 1923, ebd., Nr. 300000/5. 38 Vgl. die nicht publizierten Memoiren des Kleineisenindustriellen Oskar Funcke im Deutschen Industrieinstitut Köln, Vergangene Zeiten, Buch 4. Diese Memoiren mit den darin enthaltenen Dokumenten sowie der Silverberg-Nachlaß, BA Koblenz, Nr. 298 u. 313, bilden das beste Material über den Sonderausschuß. Für das Programm von 1925, vgl. Deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik, Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Heft 29, Berlin 1925. 39 Funcke bemerkte: „Es sind wohl eine Menge Einzelheiten durchgesprochen, aber Stinnes kam immer wieder mit seiner großartigen Konzentration (oder Einseitigkeit) auf die Leistungsfrage zurück . . . ." Vergangene Zeiten, Buch 4. Silverberg selbst unternahm die Aufgabe, das allgemeine innenpolitische Programm für den Sonderausschuß zu schreiben. 40 Bemerkung von Dr. Bücher, Geschäftsführer des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, in einer Diskussion vom 9. August 1922, BA, Nachlaß Silverberg, Nr. 298, Bl. 103. 41 Duisberg an Silverberg, 12. Januar 1923, ebd., Bd. 313, Bl. 87—88. 42 Reusch an Silverberg, 30. August 1922, HA/GHH, Nr. 30019320/2. Im Dezember 1925 befand sich Reusch unter denen, die Präsident Hindenburg aufsuchten, um diesen für das Programm des Reichsverbandes zu gewinnen. Hindenburg gegenüber wurde geäußert: „Wirtschaftspolitische Gesetzgebung ist heute sabotiert durch innere Parteipolitik." Die Industriellen forderten: „Kein neues Linkskabinett, keine große Koalition, sondern Regierung der Mitte mit Ermächtigung durch den Reichstag; sonst Artikel 48 der Reichsverfassung." Reichert an Reusch, 24. Dezember 1925, ebd., Nr. 400101222/7. Die Differenzen zwischen Reusch und Silverberg über die Frage der Kooperation mit den Gewerkschaften erreichten ihren Höhepunkt in der Attacke Reuschs, die der auf der Tagung des Reichsverbandes in Dresden 1926 gehaltenen Rede Silverbergs folgte. Wichtige Dokumente dazu befinden sich im Reusch-Nachlaß, ebd., Nr. 400101222/9. Die Silverberg-Rede ist abgedruckt in: F. Mariaux Hg., Paul Silverberg, Reden und Schriften, Köln 1951, 47—74. 43 Für diese Fragen siehe: Brady, Anm. 16; H.-H. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände u. Staat 1918—1933, Berlin 1967; H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus, Köln 1972. 44 Der Begriff wird von Ch. Maier in seinem Beitrag zu diesem Sammelband gebraucht, wie ebenso in seiner in Kürze erscheinenden Studie: Recasting Bourgeois Europe: Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1974. 45 Eine brillante Diskussion des Malthusianismus: ebd. Die ganze Frage des Verhältnisses zwischen „alten" und „neuen" Industrien auf der einen Seite und der Entwicklung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Institutionen auf der anderen verdient ernsthafte Untersuchung. In seinen eigenen Gedanken über die Richtung, die die Wirtschaft nehmen werde, in der Entwicklung des „Organisierten Kapitalismus" und in dem sozialistischen Programm der Wirtschaftsdemokratie schenkte Hilferding der zunehmenden Bedeutung der chemischen Industrie als führendem Sektor wachsende Aufmerksamkeit. Siehe R. Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, 165—84. Außerdem scheint Hilferding durch die Rede Silverbergs in Dresden ermutigt worden zu sein und verglich die Haltung Silverbergs mit der der konservativeren Elemente in der Schwerindustrie, während er gleichzeitig die Rolle der jungen chemischen Industrie 36

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erneut betonte. Siehe: Politische Probleme, Die Gesellschaft 3. 1926/11, 289—302. Hilferdings Ausführungen blieben auch von den konservativen Industriellen nicht unbeachtet. Am 12. Oktober 1926 schrieb Reichert an Reusch: „Besonders interessieren dürfte Sie wohl der wiederholte Hinweis darauf, daß es nach Hilferding darauf ankommt, das Jahrzehnte alte Zollbündnis zwischen Schwerindustrie und Landwirtschaft zu zerschlagen, und die Macht der Schwerindustrie, die durch den Versailler Vertrag stark gelitten hat, noch mehr zu schwächen und denjenigen Industriezweigen Oberwasser zuzuleiten, die, wie die führend gewordene chemische Industrie in der Behandlung der Fragen von Arbeitszeit und Arbeitslohn entgegenkommender sein können, als die Montanindustrien, bei denen der Lohn die Selbstkosten hauptsächlich bestimmt'. Herr Hilferding erklärt u. a.: ,Die Personalunion, in der Herr Duisberg den Vorsitz des Aufsichtsrats der IG mit dem des Reichsverbandes verbindet, offenbart die führende Stellung der chemischen Großindustrie.'" HA/GHH, Nr. 400101222/9. Es ist typisch, daß Hilferding versuchte, diese Entwicklungen zu beschleunigen. Allerdings kann man der Meinung sein, daß der eigentliche Triumph erst mit dem Vierjahresplan von 1936 erreicht wurde, obwohl dieser Plan für Hilferding kaum die Erfüllung seiner Absichten war. Siehe A. Schweitzer, Big Business in the Third Reich, Bloomington 1964, 537 íf. Es ist nicht uninteressant, daß Duisberg Hilferdings Fähigkeiten und Standpunkt geschätzt zu haben scheint. Duisberg lernte Hilferding in den frühen zwanziger Jahren im Reichswirtschaftsrat kennen und äußerte G. Krupp v. Bohlen u. Halbach gegenüber, daß Hilferding ein Mann sei, den er „als einen in wirtschaftlichen Fragen recht gut unterrichteten Sachkenner schätze". Siehe Duisbergs Brief vom 21. August 1923, Autographensammlung C. Duisberg. 46 „Die Privatwirtschaftler sind heutzutage oft vollblütige Keynesianer geworden (wenn sie auch seinen Namen nicht in den Mund nehmen . . ." Staudinger, 359—60.

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Der Übergang zum Organisierten Kapitalismus in den USA Thesen zum Problem einer aufhaltsamen Entwicklung Von HANS-JÜRGEN PUHLE

1. Problemstellung Der Arbeitsbegriff des „Organisierten Kapitalismus" bezeichnet im Zusammenhang der hier vorgelegten Beiträge zunächst im Sinne eines weiter zu präzisierenden und zu modifizierenden operationalen Idealtyps ein System wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Interaktion, in dem nicht nur aufgrund der Bedrohung durch die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlichen Wachstums und die Konjunkturlagen Handels- und Industriekapital zunehmend (zum Hilferdingschen „Finanzkapital") sich verflechten, sondern, unter strikter Beibehaltung des kapitalistischen Prinzips der privaten Aneignung der Gewinne, die einzelnen Wirtschaftssektoren (Landwirtschaft, Industrie und privater tertiärer Sektor) untereinander ebenso wie mit den regulierenden, verwaltenden und in verstärktem Umfang auch dienstleistendcrì Agenturen der Staatsmacht enger verklammert werden, das Marktprinzip zunehmend durch das Organisationsprinzip ersetzt wird und der Staat eine unvollkommen bleibende, aber wachsende Tendenz zur Lenkung der Wirtschaft und zur Intervention in die Gesellschaft entwickelt, was wiederum zurückwirkt auf die politischen Institutionen und Konsultationsmechanismen wie auf die Organisationsformen privater Interessenten und in den Bereich der politischen Öffentlichkeit1. Der Begriff ist in dieser Form nicht an der amerikanischen Wirklichkeit entwickelt worden wie etwa die Termini „corporation capitalism" oder „political capitalism"2, sondern wesentlich stärker an den Gegebenheiten Deutschlands3. Seine allgemeinen analytischen Möglichkeiten müssen sich im Vergleich erst noch erweisen. Die Chance dieses von einem abstrakt formulierten Erkenntnisinteresse her an die Entwicklung der USA in der Zeit seit dem Durchbruch der Industrialisierung herangetragen begrifflichen Instrumentariums scheint dabei vor allem darin zu liegen, daß es die Zusammenfassung einer ganzen Reihe von für die neuere amerikanische Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie für die politische Geschichte charakteristischen Faktoren unter solchen Gesichtspunkten ermöglicht, die im internationalen Vergleich die Herausarbeitung spezifischer Eigenarten der amerikanischen Entwicklung und Unterschiede gegenüber den fortgeschrittenen europäischen Industriegesellschaften ebenso begünstigen wie

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Der Übergang zum Organisierten Kapitalismus in den USA

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die mögliche Feststellung struktureller oder sektoraler Übereinstimmungen im Prozeß der auf die Industrialisierung folgenden Reorganisation von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Die hier vorgelegten, sehr verkürzten, vereinfachten und unvollständigen Thesen zum Problem des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus in den USA4 konzentrieren sich in erster Linie auf den Versuch einer solchen durch den ArbeitsbegrifT strukturierten Zusammenfassung, zu der die Einzelelemente des aufgefächerten Begriffs (gewissermaßen im Sinne einer „check list") am amerikanischen Beispiel „durchgeprüft" werden müssen, damit jeweils Grad, Richtung, Tendenzen und Schwerpunkte der „Organisation" des Kapitalismus näher bestimmt werden können. Diese Thesen beabsichtigen — das soll ausdrücklich betont werden — keine Neu- oder Uminterpretation der amerikanischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte der letzten hundert Jahre, die in diesem Zusammenhang auch gar nicht zu leisten ist; sie wollen den Zustand eines voll ausgeprägten Systems des Organisierten Kapitalismus in den USA ebensowenig beschreiben wie der Frage nach den weiteren möglichen Entwicklungsstufen nach dem Durchbruch des Organisierten Kapitalismus oder nach den Möglichkeiten dadurch bewirkter qualitativer politischer (liberal-demokratischer oder autoritärer) Veränderungen nachgehen. Es soll lediglich versucht werden, einerseits die Frage nach den Voraussetzungen, den Anfängen und dem Durchbruch des Organisierten Kapitalismus in den USA sowie eine mögliche Periodisierung zu diskutieren5, und andererseits dazu beizutragen, den noch sehr groben und aufgrund des offenkundigen Mangels einer entfalteten Theorie noch sehr statischen Begriff durch konkrete Einschränkungen oder Auffächerungen zu problematisieren. Die theoretische Defizienz kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß der Begriff so, wie er übereinstimmend im Zusammenhang der hier vorgelegten Beiträge vorläufig definiert worden ist, noch keinerlei Angaben darüber enthält, welche der formulierten Kriterien mindestens bis zu welchem Umfang erfüllt sein müssen und welche Anforderungen an den hinreichenden Stellenwert eines spezifischen Kriteriums im Gesamtzusammenhang zu stellen sind, um von Organisiertem Kapitalismus zu sprechen. Deshalb, und weil der Versuch eines „Durchprüfens" der vorgebenen Kriterien die Unmöglichkeit eines nur an ganz wenigen Faktoren (etwa: Konzentration, Imperialismus, staatlichen Dienstleistungen) sich orientierenden, eng umgrenzten Ansatzes zur Datierung des „Beginns" des Organisierten Kapitalismus in den USA erweist, scheint es empfehlenswert, den Begriff zunächst transitorisch zu verstehen (also eher als: sich zunehmend organisierenden Kapitalismus) und in der Folge zusätzlich sowohl sektoral zu differenzieren nach dem jeweiligen Entwicklungsstand von Big Business, Banken Landwirtschaft, „Labor", Staatsverwaltung usw., als auch nach den unterschiedlichen Intensitätsstufen der Kooperation zwischen den verschiedenen Wirtschaftssektoren und der Staatsmacht. Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, sei auch in diesem Zusammenhang nochmals darauf hingewiesen, daß unter „Organisiertem Kapitalismus" © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Hans-Jürgen Puhle

ausdrücklich nicht die Wahrnehmung subsidiärer Entwicklungsïunkûonen durch die Organe des Staates und ihre bloße Hilfestellung für die privaten Wirtschaftssektoren verstanden werden soll, sondern der Arbeitsbegriff, in sehr bewußter und im einzelnen begründbarer Absetzung vom Merkantilismus, Neo-Merkantilismus, frühkapitalistischer Industrieförderungspolitik ebenso wie von der orthodox leninistischen Definition des „Staatsmonopolistischen Kapitalismus"6, in erster Linie die auf die gesamte Gesellschaft bezogene interventionistische Stabilisierungsaufgabe der Staatsmacht betont. 2. Ausgangskonstellationen Während der Durchbruch der Industrialisierung in den USA mit der Epoche 1840—1861 etwa zur gleichen Zeit anzusetzen ist wie in Deutschland, erfolgt der Übergang zum Organisierten Kapitalismus in Amerika später als in Deutschland, in einer langen Periode zwischen dem Ende der 90er Jahre und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, zudem in ungleichmäßigen Schüben mit beschleunigten Höhepunkten im Ersten Weltkrieg sowie in den 30er Jahren. Zum einen erfordert die „Verspätung"7 eine Erklärung, zum anderen bedarf der relativ lange Zeitraum zwischen etwa 1898 und 1940 einer differenzierenden Unterteilung. a. Zunächst sind jedoch die weithin bekannten grundsätzlichen Unterschiede in den Ausgangsbedingungen der amerikanischen Gesellschaft zu berücksichtigen: Der Staat (insb. die Bundesregierung) wurde traditionell bis ans Ende der 90er Jahre und darüber hinaus als lediglich subsidiäre Hilfsagentur einer sich grundsätzlich selbst überlassenen Wirtschaftsgesellschaft begriffen. Die relative Schwäche des Staates als eines selbständigen, in die Gesellschaft intervenierenden Faktors hat zahlreiche Gründe, in den noch aus vor- und frühindustrieller Zeit überkommenen ökonomischen und sozialen Konstellationen ebenso wie in der traditionellen „political culture" des Landes und im institutionellen politischen System. Das an den Erfahrungen des englischen Frühkapitalismus und den Theorien von John Locke orientierte Verständnis der Federalists und der Verfassungsväter vom Verhältnis einer frei sich entfaltenden Wirtschaftsgesellschaft und der staatlichen Organisation als deren Erfüllungsgehilfen hielt die Staatsmacht ebenso schwach wie zunächst auch die agrarkapitalistische, direktdemokratischpartizipatorische Züge besonders betonende, anfangs anti-industrielle und später — etwa in den Protesten der „Populist Revolt" — immer stärker rückwärtsgewandte Dezentralisierungs- und Anti-Organisationsideologie und eine an ihr orientierte Politik in der Tradition Jeffersons und Jacksons, obwohl letztere (da wesentlich gegen die Prinzipien privater Organisation gerichtet) die Keime der Forderungen nach vermehrter Staatsintervention und „big government" bereits in sich trug8. Deutlich wird die Schwäche der Staatsmacht auch an den bis weit ins 20. Jahrhundert hinein kontinuierlichen Debatten über das Bankensystem und die Zentralbank, die zwar des öfteren den Ansprüchen der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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privaten Wirtschaftssektoren angepaßt, aber nach Möglichkeit von staatlichen Eingriffen freigehalten wurden9. Hinzu kommt — im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland — der nahezu vollständige Mangel präkapitalistischer, absolutistischer und bürokratischer Traditionen und Institutionen in Staat und Gesellschaft, deren Bremswirkung für die Demokratisierung traditionaler, nicht-demokratischer Gesellschaften zwar inzwischen von der neueren Sozialgeschichte mit Recht betont worden ist, von denen jedoch auch festgehalten werden sollte, daß, wenn sie in einer neuen, wirtschaftsliberalen und ansatzweise egalitären Entwicklungsgesellschaft fehlen, die organisierte Staatsmacht auf allen Ebenen von Anfang an erheblich geschwächt ist. Die große — und bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch in ihren politischen Auswirkungen kaum zu überschätzende — Bedeutung einer von Anfang an kapitalistischen, markt- und zunehmend exportorientierten Landwirtschaft und die Vermeidung einer zu engen Allianz, aber auch eines endgültigen Bruchs zwischen den jeweils im Norden und im Süden dominierenden sozialen Gruppen durch den Bürgerkrieg und den Kompromiß der „reconstruction" sind weitere entscheidende Faktoren, die den Übergang der USA in den Organisierten Kapitalismus beeinflußt haben10. Im institutionellen Bereich sicherten der Charakter des Kongresses als der zentralen Schaltstelle zwischen gesellschaftlichen Gruppen, wirtschaftlichen Interessen und der Politik und dessen Dominanz im Gesetzgebungsprozeß ebenso wie das spoils System, der Primat der Patronage auf allen Ebenen, einseitig den Einfluß der privaten Wirtschaftssektoren (d. h. der Unternehmerinteressen) auf den Staat, bzw. auch auf lokale Exekutivorgane ab, ermöglichten aber kaum die Einflußnahme in umgekehrter Richtung. Die „machines" der Interessenten (wie auch der lokalen politischen Parteien) waren mächtiger als staatliche Institutionen. Das Prinzip des strengen Föderalismus erlaubte zwar einzelstaatliche Experimente, die den Einfluß der jeweiligen Staatsregierung ausweiten mochten11, es beeinträchtigte aber andererseits die überstaatliche Ausweitung solcher Experimente erheblich, schuf daneben (bei Überschreitung des einzelstaatlichen Bereichs) von staatlichen Stellen unbeeinflußbare und unkontrollierte zusätzliche Freiräume für interessierte wirtschaftliche und gesellschaftliche Gruppierungen und konnte vor allem auch den durch die Unabhängigkeit der „local governments" noch zusätzlich abgesicherten Mißbrauch des Patronagesystems nicht verhindern12. Das orthodoxe marxistische Modell vom Staat als dem Ausschuß der herrschenden Klassen ohne eigenes Gewicht, das in seiner linear konstruierten und unvermittelten Form z. B. für Preußen nie so recht gestimmt hat, würde der Realität bestimmter amerikanischer Regionen zu bestimmten Zeiten durchaus gerecht werden, von ihr durch konkrete Personalisierungen oft sogar übertroffen werden können, wohingegen es zu einer Analyse des amerikanischen Gesamtsystems im 20. Jahrhundert zunehmend differenziert werden müßte, etwa © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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im Sinne unseres (durchaus auch von Marxschen Analysen inspirierten) Begriffs eines „Organisierten Kapitalismus". b. Auf der anderen Seite waren Instabilität und chaotisches Durcheinander in der der Selbstorganisation überlassenen Wirtschaft der USA größer als anderswo, aufgrund des rapiden Wirtschaftswachstums, der großen Zahl und der besonderen Größenordnung der Unternehmen, des grundsätzlichen Fehlens eines auch nur ansatzweisen Ordnungsrahmens, der brutalen, darwinistischen Härte des Wettbewerbs und seiner Risiken, der schnellen Veränderungen durch neue Landnahme und der Verschiebung der „frontier" nach Westen, der Neuzulassung von Territorien zur Union, rasch aufeinander folgend neuer Erfindungen oder Schwerpunktverschiebungen, der Irrationalität der unbegrenzten Börsenspekulation, „promoter"-Hektik und vor allem der Überkapitalisierung der „corporations" und „trusts". Regionale, sektorale und produktspezifische Besonderheiten des Konjunkturverlaufs in dem wirtschaftlichen Großraum Amerikas erschweren außerdem die Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungstendenzen noch zusätzlich1''*. Besonders hohen Anforderungen der Stabilisierung eines zumal in der Krise nach 1873 immer anfälliger werdenden Wirtschaftsgefüges stand mithin eine zu diesem Zweck bewußt nicht konzipierte und denkbar schlecht ausgerüstete Staatsmacht gegenüber, die sich bis in die 90er Jahre hinein im wesentlichen begnügte mit der Bereitstellung von Zollprotektionismus, businessfreundlicher und deflationistischer Währungspolitik und der informellen Sicherung von Rohstoff- und Absatzmärkten für Landwirtschaft und Industrie. Zu verändern war dieses Verhältnis jeweils in dem Maße, in dem die die Exekutive wie den Kongreß dominierenden Industrie- und Handelsinteressen (unter Einschluß der großen Agrarproduzenten) es zu verändern wünschten. Eine ausgleichende oder „neutrale" Staatsmacht war nicht einmal ideologisch vorhanden. c. Der Beginn des allmählichen Übergangs zum stärker organisierten Kapitalismus läßt sich für die USA m. E. erst in die späten 90er Jahre datieren, obwohl bereits seit den 60er Jahren auf verschiedenen Sektoren einzelne entscheidende Voraussetzungen dafür geschaffen worden waren. Die Konzentration der privaten Sektoren, die nach den hier geforderten Kriterien zwar ein notwendiges, aber noch kein hinreichendes Merkmal des Organisierten Kapitalismus ist, hatte seit den 70er Jahren (in der neuen Rechtsform der corporation) zugenommen und war gefördert worden durch die Ausweitung des nationalen Marktes für industrielle Erzeugnisse nach dem Ende des Bürgerkriegs, die verstärkte Mechanisierung der Landwirtschaft und die diversen Wellen der Auswertung neuer Erfindungen und technologischer Neuerungen14. Während der Bürgerkrieg die landwirtschaftlichen Interessen des Südens und des Westens auseinandergetrieben und damit die Position der Industrie im Nordosten gestärkt hatte, führten gleichzeitig neben dem Bürgerkrieg die erstmals in den republikanischen Parteiprogrammen der 60er Jahre artikulierte Politik des Industrieprotektionismus auf der einen und des „free soil" auf der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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anderen Seite die Industrie und die Farmer des Mittelwestens enger zusammen, ohne daß allerdings eine so feste Allianz zunehmend sich integrierender gesellschaftlicher und politischer Führungseliten entstanden wäre wie die zwischen „Roggen und Eisen" in Deutschland seit den Jahren des Bismarckschen Solidarprotektionismus15. Die von der Regierung vorgenommene, unvergleichlich schnelle Übereignung der neuerschlossenen Gebiete des amerikanischen Westens an Private, sowohl zur landwirtschaftlichen Nutzung als auch im Interesse von Industrie und Handel, letzteres vor allem im Falle der großen Landabtretungen an die (privaten) Eisenbahngesellschaften seit den 70er Jahren, stärkte darüber hinaus die wirtschaftliche Macht und den politischen Einfluß der Industrie und der kapitalistischen mittelwestlichen Agrarwirtschaft gegenüber den Organen der Staatsmacht auf allen Ebenen. Letztere blieben weiterhin vornehmlich Hilfsagenturen der privaten Interessenten ohne entscheidendes eigenes Gewicht16. Derselbe Tatbestand manifestiert sich auch in der ökonomisch wie politisch einen für die weitere Entwicklung einflußreichen neuen Orientierungsrahmen setzenden Koordinationspolitik der „railroad regulation" seit der Verabschiedung des Interstate Commerce Act und der Errichtung der Interstate Commerce Commission von 1887, die zwar die von der Notwendigkeit einer nationalen Kooperation über die Grenzen der Einzelstaaten hinaus diktierte Einschaltung zentraler, staatlicher beaufsichtigter Behörden voronahm, in deren personeller Besetzung aber ebenso wie in der Sache, z. B. der materiellen Angleichung der Frachtsätze und Beförderungsbedingungen, den Wünschen der großen Eisenbahngesellschaften entsprach17. Das Prinzip der „regulation by the regulated" wurde in noch stärkerem Maße als schon zuvor zum beherrschenden institutionellen (wie auch ideologischen) Muster der Interessenabstimmung in der amerikanischen Politik, das zugleich eine im Innern kontinuierlich schwache Staatsmacht als eine seiner wichtigsten Voraussetzungen implizierte. Das Beharrungsvermögen dieses Musters, das auch noch 1890 in der relativen Wirkungslosigkeit der staatlichen Kartellgesetzgebung zum Ausdruck kam und das (sektoral verschieden) bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein beherrschendes Element der amerikanischen Politik blieb, bedingt zugleich eine nur allmähliche und aufhaltsame Entwicklung in Richtung auf ein organisiert-kapitalistisches System, in dem der Staat als selbständiger Machtfaktor sui generis neben die privaten Wirtschaftssektoren tritt18. 3. Der Beginn des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus Was die zweite Hälfte der 90er Jahre von den skizzierten Entwicklungstendenzen dieser „Vorgeschichte" des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus unterscheidet und die hier vorgenommene „Datierung" sinnvoll erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß neben die weiterhin zunehmenden ökonomischen wie gesellschaftlichen Organisationstendenzen im privaten Bereich durch die Wen-

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düng der USA zum offenen Imperialismus auch eine wesentliche Veränderung der staatlichen Funktionen und Aufgaben tritt. Auf der einen Seite vergrößerte sich während der 90er Jahre der Aktienmarkt geradezu explosiv, die forcierten Fusionen von Kapital- und Produktionsgesellschaften (mergers) erhöhten die Konzentration und verbanden Banken- und Industriekapital noch enger miteinander (eine Verbindung, die zwischen 1903 und 1916 auf einigen Sektoren wieder erheblich gelockert wurde)19. Besitz und Management begannen vereinzelt auseinanderzutreten, wenn auch noch nicht in dem Maße wie nach der Jahrhundertwende oder vor allem in den 20er Jahren. Die Zolltarife wurden neuerlich im Interesse der industriellen Produzenten heraufgesetzt, ohne allzulauten Protest der exportierenden Agrarwirtschaft, deren Krisenagitation nicht primär um Zölle, sondern um Währungsfragen kreiste. Die erste Welle sozialistischer und vor allem populistischer Protestbewegungen fand ihren Höhepunkt und ihr Ende; der exportorientierte Produktionssektor organisierte sich in der National Association of Manufacturers (NAM) und Big Business entwickelte verstärkt Strategien zur Integration der Arbeiterschaft und der wachsenden Mittelklassen20. Auf der anderen Seite wurden gleichzeitig im Gefolge der dritten und besonders schweren industriellen Krise seit 1873 (1893—96) durch die Wendung zum offenen, militärischen Imperialismus im Jahre 1898 der Einsatz von Steuermitteln zum Schutz von privaten Investitionen im Ausland und zur Marktund Transportwegsicherung drastisch erhöht, die erste US Industrial Commission eingesetzt und die personellen und finanziellen Verflechtungen zwischen den austauschbaren Eliten von Big Business und Politik in den beiden Parteien, vor allem in Mark Hannas Republikanischer Partei, intensiviert. Die politische Konsolidierung nach der von den Republikanern knapp gewonnenen Wahl Ende 1896, der Konjunkturumschwung von 1897 und vor allem der Einsatz neuer imperialistischer Techniken und Mittel nach 1898 markieren in ihrer Verknüpfung einen Wendepunkt, den man als den Beginn des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus in den USA ansehen kann21. 4. Stufen des Übergangs Es sollten jedoch noch fast vierzig Jahre vergehen, bis die hier definierten Kriterien unseres Arbeitsbegriffs in den Vereinigten Staaten in einem solchen Maße erfüllt waren, das es plausibel erscheinen läßt, von einer „Durchsetzung" oder vom „Durchbruch" des Organisierten Kapitalismus zu sprechen. Der Übergang erfolgte allmählich, sektoral unterschiedlich und in Stufen verschiedener Intensität zwischen der Jahrhundertwende und dem Ende der 30er Jahre; dabei stellen die Zeit behutsamer „progressiver" Reformpolitik vor dem Ersten Weltkrieg (Progressive Era) zusammen mit dem Ersten Weltkrieg und die Zeit der Wirtschaftskrise Ende der 20er Jahre zusammen mit der Rooseveltschen Politik des New Deal (1933—1940) zwei kontinuierliche und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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besonders intensive Beschleunigungsphasen der Durchsetzung des Organisierten Kapitalismus dar, während in den auch in der Politik wesentlich von manchesterliberalen Prinzipien geleiteten 20er Jahren die Entwicklung zwar gebremst, allerdings am Ende nicht aufgehalten wurde. 5. Progressive Era In die Progressive Era (1900-1916), die trotz einiger Schwankungen eine Zeit kontinuierlichen Wirtschaftswachstums war, fielen nicht nur bahnbrechende technologische Neuerungen in der industriellen Produktion und in der Arbeitsorganisation22 sowie die zunehmende, von der Bundesregierung intensiv geförderte Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft und eine verstärkte Tendenz zu bundesstaatlicher Intervention im Bereich der Infrastrukturentwicklung und Kontrolle23. Abgesehen von den besonders von Th. Roosevelt weiterentwickelten imperialistischen Interventionstechniken (bes. für den karibischen Raum) und vereinzelten Ansätzen der Kartellkontrolle („trust busting")24 wurden die Funktionen der Bundesregierung angesichts der seit 1903 bis in die Krise von 1907 zunehmend offenbar werdenden Unfähigkeit privater, finanzkapitalistischer Versuche zur Stabilisierung des Systems vor allem aufgrund des wieder verstärkten Wettbewerbs auch auf dem wirtschaftspolitischen Sektor erheblich erweitert. Die privaten Preisabsprachen boten insgesamt nicht genügend Absicherung und Stabilität, das auf breiter Front engagierte Bankhaus Morgan z. B. überstand die Krise von 1907 aus eigener Kraft nur noch mit Mühe und auch die neue Rechtsform der Holding Company bot keineswegs ausreichende Sicherungen25. Demgegenüber intervenierte seit der Jahrhundertwende das Department of the Treasury stärker und kontinuierlich, wenn auch in relativ bescheidenem Umfang und eher defensiv, auf dem Geld- und Kreditmarkt, um wenigstens gewisse Rahmenbedingungen der Wirtschaft einheitlicher, überschaubarer und verläßlicher zu machen. Vermehrte Koordinationsmöglichkeiten und ansatzweise Marktorganisation — oft unter Berufung auf das deutsche Vorbild — versprach man sich auch von der Gründung des Department of Commerce and Labor und des Bureau of Corporations 1902, dem Elkins-Anti-Rebating Act vom 1903 und dem Hepburn Act von 1906, der eine vermehrte Zusammenarbeit der bis dahin nicht sehr effektiven Interstate Commerce Commission mit den großen Eisenbahngesellschaften erzwingen sollte26. Die Progressive Era kann nicht ganz problemlos als eine Einheit begriffen werden, und das nicht nur aufgrund der ideologischen und praktischen Differenzen zwischen Th. Roosevelts oder Herbert Crolys „New Nationalism" und der Wilson-Brandeis'schen „New Freedom" ab 191227. Gerade unter Berücksichtigung unserer Kriterien müssen noch zwei Zäsuren festgestellt werden, die wichtig sind, aber doch im Hinblick sowohl auf das Ausmaß staatlicher Funktionen als auch auf deren untergeordneten Dienstleistungscharakter für die Privatwirtschaft die Einheit der kurzen Epoche nicht zu sprengen scheinen. Die eine 12*

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Zäsur ist das Jahr 1903, die andere sind die ersten Jahre der Wilson-Administration: Mit dem Ende der merger movements und Konsolidierungen auf dem klassischen industriellen Produktionssektor (und in der landwirtschaftlichen Weiterverarbeitung)28 hatten 1903 die Unternehmen des Produktionssektors älterer Technologien in der vertikal integrierten „Corporation" ihre endgültige Gestalt gefunden. Die wichtigsten von ihnen wurden kontrolliert von einer überschaubaren „Finanzoligarchie" (Brandeis)29. Nach 1903 nahmen besonders die weitgehend eigenfinanzierten Industrien der zweiten Stufe, also Großchemie, Motorenbau, Elektro- und Gummiindustrie zu; sie erreichten jedoch ihren eigentlichen Durchbruch, beschleunigt durch die Kriegsanstrengungen, erst in den 20er Jahren, in denen sich auch die Anwendung der kurz vor dem Weltkrieg entwickelten neuen Techniken der Arbeitsorganisation erst umfassend auswirkte. Die ersten Jahre der Wilson-Administration spiegelten demgegenüber in vielfältiger Weise vor allem das seit der Jahrhundertwende gewachsene größere Interesse der Industrie am Außenhandel wider, dem Kongreß und Regierung mit einer Reihe von Mitteln Rechnung zu tragen bemüht waren. Hatte vor der Jahrhundertwende die Industrie überwiegend für den nach Westen expandierenden und überall sich noch ausweitenden inneren Markt produziert und war für die imperialistische Expansion neben dem Interesse der Agrarexporteure das Verlangen der Industrie nach Rohstoffen, aber weniger nach Absatzmärkten bestimmend gewesen, so änderte sich die Situation angesichts des Endes der offenen Grenze und einer starken industriellen Produktionszunahme. Der Außenhandel mit Fertigwaren, der bislang in den USA keineswegs dieselbe Motivationskraft für die Politik gehabt hatte wie etwa in England, wurde wichtiger. Die Exporteure der „business Community"30 organisierten sich, vor allem in der U. S. Chamber of Commerce (1912) und in dem 1914 in enger Beratung mit der Regierung ins Leben gerufenen National Foreign Trade Council (NFTC)31. Die sog. „open door"-Politik und der reduzierte Underwood-Tarif von 1913, nach Taussig ein ausgesprochener „Wettbewerbstarif", der den Außenhandel mit industriellen Fertigprodukten stimulierte, allerdings die kleineren Industrien und den Agrarsektor benachteiligte32, waren ebenso Ausdruck neuerlich verstärkter „Kooperation" zwischen Business und Regierung wie der Clayton und Federal Trade Commission Act von 1914 und der Versuch des von Laughlin und Carter Glass ausgearbeiteten Federal Reserve Act von 1913, das Durcheinander von Privat- und Staatsbanken durch ein stabilisierendes Dekkungsverbundsystem zu ordnen33. Auch der ansatzweise Ausbau des Kapitalreserven akkumulierenden Steuerstaats durch das sechzehnte Amendment und die Einführung der Federal Income Tax (1913) fand die Zustimmung der Wirtschaftsmagnaten, die primär bedacht waren auf „stability — the avoidance of violent fluctuations" (E. H. Gary)34. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Es entwickelte sich allerdings auch in der letzten Phase der Progressive Era noch keineswegs ein System des „Organisierten Kapitalismus": Im Grunde wurde lediglich die alte Tradition der staatlichen Hilfestellung und Anpassung der Rahmenbedingungen zugunsten der dominanten Wirtschaftssektoren fortgesetzt: Wilsons sophistische Ideologisierung der notwendigen und „natürlichen", gewachsenen Großkorporation, die eigenen Gesetzen folgt, eine Auffassung, die sich auch noch in dem späteren Standardwerk von Adolph Berle findet, und die diversen Umschreibungen von „Association" oder „Cooperation" zwischen Regierung und Privatwirtschaft — bei gleichzeitig aufrechterhaltener Fiktion des freien Wettbewerbs35 — machen das ebenso deutlich wie z. B. die überschwengliche Bereitschaft, mit der Außenminister William Jennings Bryan, der 1896 noch der Tribun des „kleinen Mannes" und der populistischen Protestler gewesen war, sich und sein Ministerium 1914 in den „Dienst" des National Foreign Trade Council stellte36. Es ist insbesondere diese Kontinuität, die es nahelegt, die Progressive Era zusammen mit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts in unserem Zusammenhang trotz mancher Zäsuren und Differenzen noch als Einheit zu begreifen. Hinzu kommt, daß in der Progressive Era in den USA auf Seiten des Staates vielfach erst ein großer Teil jener institutionellen und instrumentellen Voraussetzungen geschaffen werden mußte, die nachabsolutistische, bürokratische Staaten (Frankreich, Preußen-Deutschland) bereits zu Beginn der Industrialisierung besaßen. Viele Züge des Progressivism ähneln daher in manchen Erscheinungsformen und in der Wahl der Mittel mehr der frühen kontinentaleuropäischen Industrieförderungs- und Koordinationspolitik als etwa den gleichzeitigen Vorgängen in Deutschland; andere dagegen reichen bereits ins nächste Stadium der Organisation des Kapitalismus hinein. Es gibt allerdings auch entscheidende Unterschiede, die eine vorschnelle Gleichsetzung verbieten: Die progressive Reformpolitik zielte nicht in erster Linie ab auf die Förderung industrieller Entwicklung, sondern auf Stabilisierung eines schon entfalteten hochkapitalistischen industriellen Wirtschaftssystems und einer strukturell, wenn auch zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht so sehr konjunkturell zunehmend gefährdeten Landwirtschaft, und die Führungsrolle bei der Formulierung dieser Politik lag deutlicher beim Big Business als etwa bei staatlichen Behörden. Der Impetus zur Stabilisierung und Absicherung intendierenden Staatsintervention war in der Progressive Era unstreitig größer geworden, blieb jedoch noch unterhalb der Schwelle eines organisiert-kapitalistischen Systems. Die Ausgaben der Bundesregierung betrugen 1913 nur 0,7 Mrd. $ (1919 kriegsbedingt 18,5 Mrd.), 1923: 3,25 Mrd. und 1929 nur wenig mehr. Der Anteil aller öffentlichen Ausgaben am Bruttosozialprodukt betrug zwischen 1902 und 1916 nur 7—8 %, in den 20er Jahren ca. 12 % und stieg erst in den 30er Jahren auf über 20 % ;der Anteil des staatlichen Sektors am Bruttoinlandsprodukt lag 1920 nur rund 1 % über dem (zudem seit 1870 abgesunkenen) Wert der Jahre um die Jahrhundertwende oder um 1910 und stieg zwischen 1930 und 1940 von 4,9 % © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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auf 6,5 % an, während er in Deutschland seit Ende der 90er Jahre kontinuierlich von 8,1 % auf 1910/13: 10,8 %, 1925/29: 13,7 % und 1930/34: 16 % anwuchs37. Eine ganze Reihe von in unserem Zusammenhang wichtigen Problemen, die in der Progressive Era zwar schon diskutiert wurden und deren Artikulation die unaufhebbare Dialektik reformistischer Politik zwischen Systemstabilisierung und -Veränderung jeweils in den Absichten und in den angewandten Mitteln besonders deutlich werden ließ, wurden zunächst ausgeklammert, so vor allem die Komplexe des Tarifvertragsrechts, der Sozialisierung öffentlicher Dienstleistungsbetriebe (public Utilities), des staatlichen Arbeiterschutzes, der Sozialpolitik und der Arbeitsmarktorganisation38. Lediglich das schon vor 1917 deutlich spürbare überproportionale Wachstum des Dienstleistungssektors mit einem Anteil am Bruttosozialprodukt von 44,2 % im Jahre 1919 (1928: 48 %) und die erhebliche Zunahme der Angestelltenschaft blieben die einzigen stärker ins Gewicht fallenden Kriterien des Durchbruchs zum Organisierten Kapitalismus, die bereits in der Progressive Era voll erfüllt waren39. Business blieb der Selbstorganisation überlassen, so wie noch in den 20er Jahren das New York Reserve Board unter der Leitung von Benjamin Strong, und keine Regierungsstelle, die Währungspolitik machte. Trust busting war am Ende erfolglos geblieben und die Markt- und Preisregulierungen besorgten weiterhin fast ausschließlich die beteiligten Produzenten selbst. Der Staat half, wie schon immer, aber er organisierte nicht. 6. Erster Weltkrieg

Diese Situation änderte sich vorübergehend, aber doch mit weitreichenden Nebenfolgen im Ersten Weltkrieg: Die amerikanische Wirtschaftsorganisation im Weltkrieg, „America's Wartime Socialism" (R. Tugwell) brachte neben dem schon vor dem Kriegseintritt der USA bestehenden agrarischen und Rüstungsboom eine teils vorübergehende, teils bleibende Zunahme der staatlichen Wirtschaftslenkung und Arbeitsmarktorganisation, der Austauschbarkeit der Führungseliten, staatlicher Verwaltungsgremien und Konsultations- und Koordinationsinstanzen aller öffentlichen und privaten Sektoren, verstärkte Zentralisierungs- und Integrationstendenzen, eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen Administration und Kongreß sowie staatlich beaufsichtigte oligopolistische Marktabsprachen40. Die Weltkriegszeit hat zwar aus zahlreichen Gründen in den USA noch nicht jene zentrale Bedeutung für die endgültige Durchsetzung eines Systems des Organisierten Kapitalismus wie etwa in Deutschland, hat aber die in der Progressive Era eingeleiteten Tendenzen verschärft und beschleunigt (gewissermaßen einen Teil des bestehenden „Rückstands" eingeholt) und exemplarische Muster der Zuordnung öffentlicher und privater Funktionen und korporativer Organisationen geschaffen, deren modellhafte Bedeutung für die Folgezeit kaum überschätzt werden kann. Die Regierungspolitik der Kriegszeit blieb im Grundsatz „businessmen's policy" (F. Freidel)41, und das auf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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grund von deren zahlreicher und direkter Beteiligung in noch viel stärkerem Maße als vorher. Die Organisationsbegabung und die Planungskapazitäten der Manager mußten vor allem die nicht vorhandene interventionsfähige Bürokratie und die ebenfalls nicht vorhandenen Produktion und Versorgung betreffenden Generalstabspläne ersetzen. Diejenigen, die die Rüstungsproduktion und Nahrungsmittelversorgung ankurbelten, die trotz manchen Streits durch Übereinkunft Preise fixierten, durch Standardisierung und Vereinheitlichung der Gebrauchsgüter erhebliche Einsparungen durchsetzten, Schiffe bauen und Eisenbahnen umrüsten ließen, waren nur ganz selten Regierungsbürokraten, sondern in der Regel Bankiers, Manager und Businessmen42. Die Kriegsorganisationen wurden zwar 1919 und 1920 wieder abgebaut und die Wirtschaft im Zuge der Harding'schen „back-to-normalcy"-Politik wieder liberalisiert. Was aber blieb, besonders für Krisenzeiten, waren organisatorische Modelle und in der Organisation interventionistischer Agenturen erfahrene Personen, auf die man zurückgreifen konnte. Das War Industries Board stand z. B. später ebenso Pate für Baruchs Plan eines Supreme Court for Industry (1930) wie für McAdoos Modell eines Peace Industries Board, Gerard Swopes Corporation State von 1931 oder Roosevelts National Recovery Administration; und Hoovers Reconstruction Finance Corporation von 1932 knüpfte an die Tätigkeit der War Finance Corporation ebenso an wie später Roosevelts Finanzierungsagenturen. Und fast alle Administratoren der Hooverschen oder Rooseveltschen Notprogramme und der New Deal-Agenturen kamen aus dem Kreis um Bernard Baruch oder aus der Kriegsverwaltung43. 7. Gebremste Entwicklung der 20er Jahre

Die 20er Jahre brachten für die USA erhebliche Umwälzungen auf zahlreichen Sektoren, die jedoch das Verhältnis der autonomen Wirtschaftssektoren zueinander und zwischen ihnen und den Organen der Staatsmacht — und damit die weitere Entwicklung zum Organisierten Kapitalismus — eher vermittelt und indirekt, aber in ihren Auswirkungen nicht weniger gravierend berührten. Zunächst waren diese Jahre eine Ära industrieller Prosperität und Expansion, technologischer Neuerungen und einer Umorientierung der Wirtschaftsziele von der Verwaltung der Güterknappheit zum Absatz der Oberflußproduktion mit allen dazugehörigen Randerscheinungen. Die Regierung beschränkte sich weitgehend auf wirtschaftsliberale Rahmenadjustierung zur Selbstregulierung der Wirtschaft44. Es war somit auch durchaus folgerichtig, daß z. B. Präsident Coolidge 1925 mit W. E. Humphrey einen Mann zum Vorsitzenden der Federal Trade Commission (FTC) ernannte, der oft genug erklärt hatte, daß er gegen jede Regulierungsfunktion der FTC sei, und auch entsprechend handelte45. Die Konzentration auf dem Bankensektor nahm, insbesondere durch die zunehmende Errichtung von Zweigstellenbanken weiterhin zu: 1929 kontrollierte 1 % der Banken 46 % aller Transaktionen; die verstärkte Gründung von Ketten© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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laden und großen Warenhäusern eröffnete neue Möglichkeiten finanzkapitalistischer Verbindungen. Dabei verdreifachte sich die private Verschuldung insgesamt zwischen 1920 und 1929. Am stärksten (und besonders charakteristisch für die Epoche) war die Konzentration auf dem Sektor der Stromversorgungsbetriebe (public Utilities)46. Im Boom der Auto- und Motorenindustrie setzten sich General Motors, Ford und Chrysler durch47, und die im Krieg besonders geförderte Großchemie und Kunststoffindustrie (u. a. Dow, Du Pont) expandierte ebenso wie die Elektrogeräteindustrie, das Film- und Radiogeschäft und vor allem der private Bausektor; auf dem Aluminiumsektor bestand Mitte der 20er Jahre eines der wenigen Monopole (Alcoa). Versuche der Arbeitsorganisation und -kontrolle durch paritätisch besetzte Gremien, wie etwa in dem an die Kriegsorganisation anknüpfenden Railway Labor Board (1920) blieben angesichts des Mitgliederschwunds der ohnehin schwachen Gewerkschaften, des Fehlens einer starken Arbeiterbewegung und der Neigung der Regierung zur Unterstützung der Arbeitgeber in Konfliktfällen in Ansätzen stecken. An ihre Stelle traten, zumal auch angesichts der Zunahme der Zahl und der Professionalisierungstendenzen der unteren und mittleren Angestellten auf dem Verkaufssektor, mehr oder weniger paternalistische und ideologisierte Fürsorgesysteme der Unternehmen48. „Government" blieb zwar in den 20er Jahren der Diener der Wirtschaftsinteressen und wichtigster Garant ihrer in- und ausländischen Expansion, wurde aber stärker als zuvor in die EntScheidungsprozesse der Privatsektoren einbezogen als eine Art „Clearing house of business compromise", oder, wie man in Deutschland gesagt hätte, als „ideeller Gesamtkapitalist"49, was zu einem sehr großen Teil zusammenhing mit der seit dem Krieg und den Reparationsvereinbarungen, die die USA zu Europas Hauptgläubiger gemacht hatten, sprunghaft angestiegenen und unübersichtlichen internationalen Währungsverflechtung, die die Weltmärkte einzelner Güter, die Stabilität verschiedener Währungen und die Konjunkturschwankungen in einzelnen Ländern noch stärker aneinanderkettete als zuvor und also auch nationale Koordinationsinstanzen notwendiger machen mußte. Daneben verlangte die aus der Autoproduktion resultierende Notwendigkeit eines Ausbaus des Straßennetzes verstärkte Infrastrukturinvestitionen der öffentlichen Hand, die die Kommunen, auf die 1906 noch 96 % aller Straßenbauinvestitionen entfallen waren, allein nicht mehr tragen konnten: 1923 wurden nur noch 53 % von den Kommunen finanziert, 37 % bereits von den Staaten und 10 % von der Bundesregierung50. Eine weitere — und in unserem Zusammenhang sehr wichtige — Veränderung der 20er Jahre liegt in der (mit populistischen Traditionen weitgehend brechenden) politischen Organisation des gegenüber der industriellen Expansion auf dem Rückzug befindlichen Agrarsektors in der neuen Form einer wirksamen, zudem durch Auftragsarbeiten eng mit dem Landwirtschaftsministerium verbundenen pressure group und Lobby (American Farm Bureau Federation), die provoziert wurde durch die seit 1920 andauernde Agrardepression und die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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einseitig industrielle Orientierung der Führungen der großen Parteien. Die Erfolge des sog. „Farm Bloc" im Kongreß (1921—23), die Forderungen der hochprotektionistischen, „Parität" zwischen Landwirtschaft und Industrie anstrebenden und nach umfassender Staatsintervention rufenden McNaryHaugen-Bewegung (1924—28), der Agricultural Marketing Act und die Einrichtung des Federal Farm Board (1929) leiteten eine Politik des sektoralen Staatssubventionismus für die Landwirtschaft unter der Kontrolle der Produzenten und der staatlichen Marktorganisation zugunsten der Produzenten ein, die zwar in dieser Form zur Beseitigung der Agrardepression und zur Regelung der chronischen Überproduktion nicht ausreichte und erst Erfolge zeitigte, als sie im New Deal noch durch Mechanismen freiwilliger Produktionskontrolle ergänzt wurde, die sich sonst aber bis heute nur im Umfang, und nicht mehr im Charakter, verändert hat51. Deutlich sichtbar wird im Amerika der „golden twenties" auch die Veränderung des Charakters von Öffentlichkeit: Das Auto und die zunehmende Mobilität, Film und Radio trugen wie die differenzierten Produkte der großen Pressekonzerne und die Mechanismen der Verbrauchs- und Überflußwirtschaft entscheidend bei zur Nationalisierung der Kultur und des „way of life" über die engen regionalen Grenzen hinaus und machten die Bevölkerung insgesamt ansprechbarer für die Probleme der nationalen Politik und empfindlicher gegenüber den Schwankungen einer hektisch prosperierenden Wirtschaft. Im Jahre 1929 hatten sich mithin zahlreiche Bedingungen entscheidend weiter in Richtung auf ein System des Organisierten Kapitalismus verschoben. Am wenigsten allerdings hatte sich bis dahin der Charakter der Staatsmacht und ihr Interventionspotential verändert. 8. New Deal a) Zu einer erheblichen Funktionsausweitung vor allem der bundesstaatlichen Agenturen kam es erst im Verlauf und nach der großen Wirtschaftskrise seit Ende der 20er Jahre. Hatten Kongreß und Regierung in den 20er Jahren vornehmlich den Außenhandel gefördert und hatte das von Business-Kreisen gelenkte Federal Reserve Board durch eine Politik des leichten Geldes und Kredits private Auslandsinvestitionen trotz der unbalancierten Welthandels- und -Währungssituation gestützt, waren überzogene Profitansprüche der Produzenten und Kaufkraftschwächung durch technologische Arbeitslosigkeit ebenso in Kauf genommen worden wie die sich zuspitzende Agrardepression, hatte, mit einem Wort, die Kontrolle der Regierung durch die Wirtschaft die auch nur ansatzweise Regulierung und Lenkung der Wirtschaft durch die Regierung verhindert, so waren angesichts der Zusammenbrüche der Krise die Unternehmer weitgehend hilflos und brachten nicht mehr die Kraft auf, die Mechanismen des Systems aus eigener Kraft zu stabilisieren und die kollektive Unsicherheit und Angst abzubauen. Die Umstellung von der expansiven Außenhandelspolitik auf eine sta© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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bilisierende Politik der inneren Reformen begann bereits unter Hoover, sichtbar etwa in der Gründung der Reconstruction Finance Corporation oder des Federal Farm Board, allerdings — und das machte wohl auch ihre Erfolglosigkeit aus — noch nicht in dem Umfang, wie er zum Auffangen der Krise erforderlich gewesen wäre52. Erst die Maßnahmen des Rooseveltschen New Deal zur Stützung der Banken und zur Konjunkturbelebung intensivierten nach anfänglichem Zögern durchaus auf Verlangen der privaten Wirtschaftsektoren nach dem Vorbild der kriegswirtschaftlichen Organisationen nicht nur die Hilfestellung des Staates für (und die enge institutionelle Kooperation mit) Landwirtschaft und Business, sondern verstärkten vor allem auch die Tendenzen zu staatlicher Wirtschaftslenkung durch freiwillige Vereinbarungen mit den Produzenten und unfreiwilliges, pragmatisches „deficit spending" des Staates, antizyklische Finanzpolitik und monetäre Kontrollen53. In den ersten Jahren des New Deal übernahm der Staat zunehmend die Verantwortung für die Konjunkturlenkung, durchaus im Interesse der Unternehmer, jedoch nicht ohne auch die Bedürfnisse der Arbeitnehmer und Verbraucher — wenn auch in Grenzen — mit zu berücksichtigen. Zeitweilig setzte er dabei auch den von F. D. Roosevelt erstmals ausdrücklich angemeldeten nationalen Führungsanspruch der Bundesregierung durch, der auch langfristig vor allem sichtbar wurde in der Zunahme der reorganisierten Bürokratie und des Haushaltsvolumens, einer Tendenz, die sich allmählich auch auf andere Verwaltungen, staatliche wie kommunale, übertrug54. b) Eine zweite Welle der New Deal-Gesetzgebung im Jahre 1935 brachte dann einen weiteren qualitativen Fortschritt auf dem Wege zum Organisierten Kapitalismus durch die vermehrte Organisation des Arbeitsmarktes und die verstärkte Kanalisierung sozialer Konflikte, den Einbezug des „sozialen" Sektors in die Staatsaufgaben und eine erhebliche, wenn auch noch lange nicht „wohlfahrtsstaatliche" Ausmaße erreichende Zunahme der staatlichen Leistungs- und Garantiefunktionen55. Erst damit sind die wichtigsten Kriterien des hier formulierten Katalogs erfüllt, und erst zu diesem Zeitpunkt scheint es gerechtfertigt zu sein, auch für die USA vom „Durchbruch" des Organisierten Kapitalismus zu sprechen. 9. Resümee Der Beginn des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus fiel in den USA in die Jahre kurz vor der Jahrhundertwende; die wichtigsten der hier postulierten Kriterien des Organisierten Kapitalismus sind jedoch (je nach der Schärfe ihrer Anwendung) insgesamt frühestens ab 1935 erfüllt. Wichtige Entwicklungslinien verlaufen gegenüber Deutschland entgegengesetzt, wenn auch mit einem tendenziell gleichen Ergebnis (Einflußveränderung im Verhältnis Business-Staat), manche Aspekte sind trotz anderer Voraussetzungen aus strukturellen Gründen ähnlich (Agrarsubventionismus). Im Hinblick auf den Ent© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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wicklungsgrad des Organisierten Kapitalismus wäre trotz der unübersehbaren Unterschiede — vor allem im sozialen und politisch-institutionellen Hintergrund — die endgültige Durchsetzung der wichtigsten Kriterien des Organisierten Kapitalismus im New Deal jene Phase der U. S. — Geschichte, die noch am ehesten mit der deutschen Situation der späten Bismarck-Zeit oder mehr noch der 90er Jahre zu vergleichen wäre. Jedoch bleibt auch hier der Vergleich insofern unvollständig und teilweise brüchig, als die Durchsetzung des Organisierten Kapitalismus in den USA eng verbunden ist mit der bewußten (und den Einfluß der Staatsmacht erheblich vergrößernden) Anwendung des Instrumentariums antizyklischer Wirtschaftspolitik und Konjunkturlenkung, das im Deutschen Kaiserreich noch unbekannt war, in dem die Staatsmacht demgegenüber aber traditionsgemäß eine außerordentliche Stärke aufwies, auch wenn die politische Führungsschwäche nach 1890 zunehmend machtpolitische Leerräume ließ, in die die agrarischen und industriellen Großverbände zur Wahrnehmung der eigenen Interessen vordringen konnten. Die Verspätung des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus gegenüber Deutschland oder England und der teilweise andersgerichtete Verlauf der amerikanischen Entwicklung können zu einem großen Teil erklärt werden durch die institutionelle und traditionelle Schwäche und Erfüllungsgehilfenfunktion der Staatsmacht, die politische Dominanz von Big Business und den absorptionsfähigen inneren Markt sowie auch das Fehlen einer schlagkräftig organisierten Arbeiterbewegung56. Angesichts der Divergenz der amerikanischen Entwicklungen auf einzelnen Sektoren und der unterschiedlichen Intensitätsstufen von Organisation und Staatsintervention, die entscheidend sind für den Ansatz eines relativ langen, vierzigjährigen Zeitraums des „Übergangs zum Organisierten Kapitalismus", liegt es auf der anderen Seite nahe, die hier vorgegebenen Kriterien erneut daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie womöglich noch zu sehr an der deutschen Realität entwickelt worden sind und den amerikanischen Ausgangsbedingungen entsprechend modifiziert werden können, um entweder eine genauer eingegrenzte Datierung zu ermöglichen oder voneinander abgesetzte, klarer definierte Entwicklungsstufen des Organisierten Kapitalismus zu unterscheiden57. Dabei wäre nicht nur die Brauchbarkeit der theoretischen Verknüpfung der jeweils mehr der politischen Geschichte und der Wirtschaftgeschichte auf der einen und der Sozialgeschichte, Organisationssoziologie und anderen Sozialwissenschaften auf der anderen Seite verpflichteten Begriffselemente erneut zu problematisieren, sondern auch konkret danach zu fragen, welchen Stellenwert das Verhältnis der verschiedenen Organisatoren des Kapitalismus zueinander für die Definition haben soll, bzw. wer den Organisierten Kapitalismus organisiert, und inwieweit auch die internationalen Verflechtungen der einzelnen Sektoren (Organisierter Kapitalismus in einem Lande?) Berücksichtigung finden müssen. Der Versuch einer empirischen Verifizierung der Elemente des Organisierten Kapitalismus ergibt im Falle der USA eine stufenweise Entwicklung, zeitweise © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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beschleunigt, zeitweise gebremst und verschieden in den einzelnen Sektoren. Eine ausgearbeitete Stufentheorie (die auch diese „Stufen" dann begrifflich bezeichnen sollte) könnte jedoch daraus erst werden, wenn die hier gestellten Ausgangsfragen nach dem konkreten Verhältnis der einzelnen Defìnitionselemente zueinander klarer beantwortet wären als das bislang der Fall gewesen ist. Anmerkungen 1 Auf die einzelnen Aspekte und Kriterien des Begriffs soll hier nur in konkreten Zusammenhängen eingegangen werden. Zugrunde gelegt wird der Arbeitsbegriff so, wie er übereinstimmend in dem Beitrag von J . Kocka definiert worden ist (siehe dort). 2 Sowohl W. A. Williams (corporation capitalism) als auch G. Kolko (political capitalism) setzen das Eigengewicht staatlicher Intervention geringer an als der hier verwandte Begriff vom „Organisierten Kapitalismus" und datieren den jeweiligen Durchbruch der reorganisierten Ordnung entsprechend früher: Williams, der sich wesentlich auf die privaten Sektoren bezieht, bereits ab 1882, Kolko im Progressivism. W. A. Williams, The Contours of American History, Chicago 1966 (19611), 343 ff.; G. Kolko, The Triumph of Conservatism, Chicago 1967 (19631), 57 ff., 255 ff. 3 Vgl. R. Hilferding, Arbeitsgemeinschaft der Klassen, Der Kampf 8. 1915, 322; ders., Die Aufgaben des Sozialdemokratie in der Republik, Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, 165—84; F. Napthali, Wirtschaftsdemokratie, Frankfurt 1966 (19281), 26—41. 4 Die auf dem Regensburger Historikertag im Oktober 1972 vorgetragenen Thesen wurden nur geringfügig ergänzt, u. a. um eine Reihe ausgewählter Literaturhinweise für den mit dem Thema nicht vertrauten Leser. Vgl. generell die Beiträge in den Sammelbänden von R. Andreano Hg., New Views on American Economic Development, Cambridge/Mass. 1965; J . Braeman u.a. Hg., Change and Continuity in Twentieth Century America, New York (fortan: N. Y.) 1966 (19641); E. S. Mason Hg., The Corporation in Modern Society, N. Y. 1967; D. Brody Hg., Industrial America in the Twentieth Century, N. Y. 1967; R. Radosh u. M. N. Rothbard Hg, A New History of Leviathan, N. Y. 1972, u. H. A. Winkler Hg, Die große Krise in Amerika, Göttingen 1973. Ferner die schon sehr frühen und scharfsichtigen Beiträge von F. Tannenbaum, The Balance of Power in Society and Other Essays, London 1969, 1 ff., 91 ff, 199 ff, 211 ff.; P. Douglas, Controlling Depressions, N. Y. 1935; M. Fainsod u. L. Gordon, Government and the American Economy, N. Y. 1941; T. G. Manning u. a, Government and the American Economy, N. Y. 1949; J . K. Galbraith, American Capitalism, Boston 1952; S. Fabricant, The Trend of Government Activity in the United States since 1900, N. Y. 1952; J . A. de Haas, Government Services for Business, in: Encyclopedia of the Social Sciences III, N. Y. 1953, 113—22; W. S. Nelson, The Private Companies and a Public Power Paradox, Business History Review (BHR) 35. 1961, 532—49; G. McConnell, Private Power and American Democracy, N. Y. 1966; J . K. Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, München 1968; R. Miliband, Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft, Frankfurt 1972 (19691); H. Jäger, Die amerikanische Wirtschaft im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 1973. Folgende Beiträge beziehen sich vornehmlich auf den privaten Sektor: H. W. Laidler, Concentration in American Industry, N. Y. 1931; D. Lynch, The Concentration of Economic Power, N. Y. 1946; D. Lilicnthal, Big Business. A New Era, N. Y. 1953; M. Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago 1962. Zu den neueren Entwicklungstendenzen seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem die Beiträge in: Perspectives on Business, Daedalus 98. 1969; Th. J . Lowi, The End

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of Liberalism, N. Y. 1969; W. S. Sayre Hg., The Federal Government Service, Englewoocl Cliffs 21965; H. S. Kariel, The Decline of American Pluralism, Stanford 1961; ders. Hg., Frontiers of Democratic Theory, N. Y. 1970; S. Lens, The Military Industrial Complex, Philadelphia 1970; D. P. Moynihan, Maximum Feasible Understanding, N. Y. 21970; H. Wolozin Hg., American Fiscal and Monetary Policy, Chicago 1970. Ferner: M. E. Gettleman u. D. Mermelstein Hg., The Failure of American Liberalism, N. Y. 1970 (19671); D. Mermelstein Hg., Economics, Mainstream Readings and Radical Critique, N. Y. 1970; T. Christoffel u. a. Hg., Up against the American Myth, N. Y. 1970. 5 Gemeint ist Periodisierung nach dem Grad der Erfüllung des formulierten Kriterienkatalogs. Der Begriff selber scheint nicht so sehr als Periodisierungskriterium geeignet zu sein. 6 Vgl. den Beitrag von J . Kocka in diesem Band. 7 Zur Verspätung der USA gegenüber Deutschland und England vgl. die Beiträge von H.-U. Wehler und B.-J. Wendt in diesem Band. 8 Zur Dialektik von „agrarischer Demokratie" und Organisations- und Interventionstendenzen vgl. erheblich ausführlicher das USA-Kapitel meiner Münsteraner Habil.-Schrift: Studien zur Kontinuität politischer Agrarbewegungen in Industriegesellschaften (Frankreich — USA — Deutschland), 1973. Zum Hintergrund vgl. J . Locke, Two Treatises of Government (Hg. P. Laslett), Cambridge 1967, Second Treatise, 341 f., 368 f.; L. Hartz, The Liberal Tradition in America, N. Y. 1955, 119 f.; The Federalist (Hg. Cooke), Cleveland—N. Y. 1961, 74, 135, 222, 224, 276; C. A. Beard, An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, N. Y. 1969 (19131), 15 f., 19 ff., 26 ff.; A. de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique (1835), in: Oeuvres complètes (Hg. J . P. Mayer), Paris 1961, I, 1, 257 ff.; A. M. Schlesinger, The Age of Jackson, Boston 1945, 115 ff., 227 ff.; R. Hofstadter, Andrew Jackson and the Rise of Liberal Capitalism, in: ders., The American Political Tradition and the Men Who Made It, N. Y. 1948. 45—67; E. C. Rozwenc Hg., Ideology and Power in the Age of Jackson, Garden City, N. Y. 1964. Zum Aspekt der amerikanischen politischen Kultur außerdem u.a.: A. Siegfried, Les Etats Unis d'aujourd'hui, Paris 1931, 237 ff., 345 ff.; B. Bailyn, The Origins of American Politics, N. Y. 1967, 3 ff.; S. M. Lipset, The First New Nation, N. Y. 1967 (19631), 115 ff.; J . Dorfman, The Economic Mind in American Civilization, 1918—1933, N. Y. 1959. 9 Vgl. R. C. H. Caterall, The Second Bank of the United States, Chicago 1903; B. Hammond, Banks and Politics in America from the Revolution to the Civil War, Princeton 1957, 114 ff.; M. Friedman — A. J . Schwartz, A Monetary History of the United States 1867—1960, Princeton 1971 (19631). Zum propagandistischen Effekt: W. T. K. Nugent, Money and American Society 1865—1880, N. Y. 1968. 10 Vgl. Beard, ebd.; B. Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy, Boston 1967, 111 ff. 11 So etwa in der Reformpolitik verschiedener „progressiver" Gouverneure nach 1900 zeitweise in Wisconsin, California, Iowa, New York, New Jersey, Ohio, Oregon und Missouri oder später im North Dakota der Non Partisan League oder in Minnesota unter Olsons Farmer-Labor-Regierung in den 30er Jahren bis hin zu Huey Longs drastischer und autokratischer Entwicklungsdiktatur über Louisiana. 12 Das gilt sowohl für die eingespielten und oft stark einzelnen politischen Führern verpflichteten politischen Apparate (machines), gegen die schon vor der Jahrhundertwende die Populists und die „muckrakers" polemisierten (z. B. „Tammany Hall", die demokratische Parteimaschine in New York), als auch für Langers North Dakota, die Herrschaft des Ku Klux Klan in Indiana oder AI Capones Chicago. 13 Zur „frontier" vgl. die Debatten um F. J . Turners zuerst 1893 erschienenen Essay: The Significance of the Frontier in American History, u. a. in: R. A. Billington Hg., The Frontier Thesis, N. Y. 1966; R. Hofstadter — S. M. Lipset Hg., Turner and © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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the Sociology of the Frontier, N. Y. 1968. Zur wirtschaftlichen Entwicklung vor allem: L. M. Hacker, The Course of American Economic Growth and Development, N. Y. 1970, 172 ff., 217 ff., 244 ff., 274 ff. und die Beiträge in R. W. Fogel — S. L. Engerman Hg., The Reinterpretation of American Economic History, N. Y. 1971, bes. 17 ff., 148 ff., 448 ff. 14 Z. B. in der Erzförderung, der Stahlgewinnung, beim Eisenbahnbau, Telegraphenund Telephonbau oder bei der Nahrungsmittelverarbeitung. Vgl. die Beiträge von F. Bateman u. a., R. J . Arnould und A. W. Niemi, BHR 45. 1971. 15 Vgl. E. M. Lerner, Southern Output and Agricultural Income 1860—1880, in: R. Andreano Hg., The Economic Impact of the American Civil War, Cambridge/Mass. 19672, 109 ff., 223 ff.; Moore, 111 ff. 16 B. H. Hibbard, A History of the Public Land Policies, Madison 1965 (19241), 305 ff., 347 ff.; P. D. Mc Clelland, New Perspectives on the Disposal of Western Lands in Nineteenth Century America, BHR 43. 1969, 77—83; L. J . Mercer, Land Grants to American Railroads: Social Cost or Social Benefit?, BHR 43. 1969, 134—51; R. V. Scott, American Railroads and Agricultural Extension 1900—1914, BHR 39. 1965, 74—98. 17 Vgl. die Übersicht, Bureau of Statistics, Interstate Commerce Commission Activities 1887—1937, Washington 1937, 25 ff., 53 ff.; aus der Literatur vor allem G. Kolko, Railroads and Regulation, 1877—1916, N. Y. 1970 (19651), 30 ff., 45 ff., 64 ff., 102 ff., 177 ff.; S. Caine, Why Railroads Supported Regulation: The Case of Wisconsin in 1905, 1910, BHR 44. 1970, 175—89; M. G. Blackford, Businessmen and the Regulation of Railroads and Public Utilities in California During the Progressive Era, BHR 44. 1970, 307—19. Zur Bedeutung des wirtschaftlichen Leitsektors der Eisenbahnen ferner: R. W. Fogel, Railroads and American Economic Growth, Baltimore 1964; A. D. Chandler, Hg., The Railroads, The Nations First Big Business, N. Y. 1965; ders., The Railroads, Pioneers in Modern Corporate Management, BHR 39. 1965, 16—40; Th. C. Cochran, The Executive Mind, The Role of Railroad Leaders 1845—1890, Bulletin of the Business History Society (BBHS) 25. 1951, 230—41. 18 Vgl. G. D. Nash, Government and Business, A Case Study of State Regulation of Corporate Securities, 1850—1933, BHR 38. 1964, 144—62; A. M. Johnson, Continuity and Change in Government-Business Relations, in: Braeman u. a. Hg., 191—219; M. H. Bernstein, Regulating Business by Independent Commission, Princeton 1955, und die frühe Abhandlung von Ch. R. van Hise, Concentration and Control, N. Y. 1912. — Auch der 1890 verabschiedete Sherman Anti Trust Act blieb weitgehend unwirksam. 19 Vgl. Historical Statistics of the United States, Washington 1960, 572; Kolko, Triumph, 11 ff.; Th. R. Navin—M. V. Sears, The Rise of a Market for Industrial Securities, 1887—1902, BHR 29. 1955, 105—38; L. Neal, Trust Companies and Financial Innovation 1897—1914, BHR 45. 1971, 35—51; Th. R. Navin, Investment Banking since 1900, BBHS 27. 1953, 60—65. 20 Diesen Integrationsabsichten diente u. a. auch die Gründung der National Civic Federation (NCF) im Jahre 1900. Vgl. dazu vor allem J . Weinstein, The Corporate Ideal in the Liberal State: 1900—1918, Boston 1968, 3 ff., 40 ff., 62 ff.; zur NAM ebd.; R. H. Wiebe, Businessmen and Reform, Cambridge/Mass. 1962, 16 ff., 212 ff.; A. K. Steigerwalt, The National Association of Manufactures 1895—1914, Grand Rapids 1964, 17 ff., 35 ff., 83 ff.; ders., The NAM and the Congressional Investigation of 1913, BHR 34. 1960, 335—44. Ferner: M. Newcomer, Professionalization of Leadership in the Big Business Corporation, BHR 29. 1955, 54—63; D. Bunting—J. Barbou, Interlocking Directorates in Large American Corporations, 1896—1964, BHR 45. 1971, 317—35; F. W. Taussig, The Tariff History of the United States, N. Y. 1964 (= 19318), 230 ff., 251 ff., 284 ff., 321 ff.; J . D. Hicks, The Populist Revolt, Lincoln 1961 (19311), 153 ff., 186 ff., 238 ff., 301 ff., 340 ff.; R. Hofstadter, The Age of Re© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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form, N. Y. 1955, 60 ff.; R. Asher, Business and Workers' Weifare in the Progressive Era, BHR 43. 1969, 452—75. 21 Zur Krise vgl. Ch. Hoff man, The Depression of the Nineties, Westport 1970, 47 ff., 233 ff. Zum Übergang zum offenen Imperialismus vgl. jetzt die bisher verstreut vorliegenden Aufsätze von H.-U. Wehler, in: ders., Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus, 1865—1900, Göttingen 1973. Übersicht in: ders., Der amerikanische Imperialismus vor 1914, in: W. J . Mommsen Hg., Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971, 172—92. 22 Im Produktionsbereich der Beginn und erste Aufschwung der Auto-, Elektround Gummiindustrie, die Umstellung der Ölraffinerie und die Entdeckung neuer ölvorräte in Texas; im Bereich der Arbeitsorganisation das Vordringen von Taylorism, Fordism und „Scientific Management". 23 Diese Tendenzen manifestierten sich u. a. im Bericht der 1908 eingesetzten Commission on Country Life, den Anfängen des landwirtschaftlichen „extension Service" (durch die county agents), der erheblichen Aufmerksamkeit, die die Probleme der „soil conservation" fanden, oder im Food and Drug Act und im Meat Inspection Act. Einzelheiten dazu in meinem Aufsatz: Populismus, Krise u. New Deal, in: Winkler Hg., 107—52, und meiner Münsteraner Habilitationsschrift. Ferner: E. F. Goldman, Rendezvous with Destiny, N. Y. 1952; S. Haber, Efficiency and Uplift, Chicago 1964; H. U. Faulkner, The Decline of Laissez—Faire, 1897—1917, N. Y. 1951. 24 Vgl. W. E. Leuchtenburg, Progressivism and Imperialism, Mississippi Valley Historical Review 39. 1952, 496 ff.; Kolko, Triumph, 57 ff., 113 ff. 25 Im Jahre 1909 waren nur 10 % der 50 größten corporations der USA als Holding organisiert, darunter die gemeinsam von Carnegie und dem Haus Morgan getragene U. S. Steel, Amalgamated Copper und Rockefellers Standard Oil of New Jersey: Commercial Financial Chronicle 84. 1907, 592; Kolko, Triumph, 139 ff.; R. W. — W. E. Hidy, Pioneering in Big Business, 1882—1911, History of the Standard Oil Company, N. Y. 1955; A. D. Chandler, The Beginnings of Big Business in American Industry, in: Andreano Hg., New Views, 277—306, bes. 300 ff. 26 Kolko, 146 ff.; ders., Railroads, 84 ff., 127 ff. 27 Vgl. H. Croly, The Promise of American Life, N. Y. 1965 (19091), 100 ff., 141 ff., 215 ff., 399 ff.; L. D. Brandeis, Other People's Money and How the Bankers Use It, N. Y. 1914, 4 ff.; A. S. Link, Woodrow Wilson and the Progressive Era 1910 to 1917, N. Y. 1963 (19541), 25 ff., 54 ff.; S. Fine, Laissez Faire and the General Weifare State, Ann Arbor 1956, Kap. XL 28 Zwischen 1897 und 1903 fanden über 300 Konsolidierungen größten Ausmaßes statt. Einzelheiten bei Kolko, Triumph, 11 ff. 29 Nach dem Bericht des Pujo Committee von 1913 kontrollierten das Haus Morgan und drei andere New Yorker Großbanken um 1910 341 Direktorate in 112 corporations mit einem Gesamtkapital von über 22 Mrd. $. 30 Dieser Terminus scheint erst nach der Jahrhundertwende gebräuchlich zu werden. 31 Außerdem wurden 1910 die American Asiatic Association, 1912 die American Manufacturers' Export Association und die Pan American Union gegründet. Vgl. M. J . Sklar, Woodrow Wilson and the Political Economy of Modern U. S. Liberalism, in: Radosh—Rothbard Hg., 7—65; H. Feis, The Diplomacy of the Dollar 1919—1932, N. Y. 1966 (19501); M. Wilkins, The Emergence of the Multinational Enterprise, Cambridge/Mass. 1970, 80 ff.; I. Mintz, Cyclical Fluctuations in the Exports of the U. S. since 1879, N. Y. 1967. 32 Taussig, 409 ff., bes. 419 f.; Official Report of the National Foreign Trade Council (NFTC) Proceedings, Washington 1914, 15 f., 203 f., 208—10, 457 f. 33 Die Bankreformbestrebungen gehen schon bis 1893 zurück. An der Ausarbeitung des Gesetzes nahm die American Bankers Association großen Anteil; die Merchants Association of New York und die U. S. Chamber of Commerce (mit 306:17 Stimmen) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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stimmten ausdrücklich zu. Vgl. Kolko, Triumph, 146 ff., 217 ff., 255 ff.; P. M. Warburg, The Federal Reserve System, 2 Bde., N. Y. 1930. Zu den anderen Gesetzen vgl. Weinstein, 62—91; Wiebe, Businessmen, 174 f. 34 Elbert H. Gary war Aufsichtsratsvorsitzender der U. S. Steel Co. 2it. nach Williams, 378. Der Maximaleinkommenssteuersatz betrug zunächst nur 6 °/o (erst im Krieg vorübergehend über 70 % ) . Das Steueraufkommen lag 1913 bei lediglich 28 Mio. $ (1919: 1,27 Mrd.). 35 Das Element der Kontinuität der kapitalistischen „functional syndicalist organization" bis hin zu Hoover und F. D. Roosevelt betont auch Williams, 343 ff., 390 ff.; R. H. Wiebe, The Search for Order, 1877—1920, N. Y. 1967, 164 ff. Vgl. W. Wilson, The New Freedom, N. Y. 1914, 163—66; A. A. Berle—G. C. Means, The Modern Corporation and Private Property, N. Y. 1932, passim: A. A. Berle, Foreword, in: E. S. Mason Hg., The Corporation in Modern Society, N. Y. 1967, IX; NFTC Proceedings 1914, 208 ff., 379 f.; 1915, 54, 56; Annual Report of the Federal Trade Commission for the Year Ended June 30, 1916, 18 f. 36 NFTC Proceedings, 1914, 210 f. 37 F. Freidel, The Role of the State in U. S. Economic Life, XIII International Congress of Historical Sciences, Moscow August 16—23, 1970, 7; Historical Statistics of the U.S., 140 f.; W. G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, 108. 38 Den Abschluß von kollektiven Tarifverträgen hatten L. D. Brandeis schon 1905 und die Commission on Industrial Relations seit 1913 gefordert; Gemeineigentum an den public Utilities forderte die NCF seit 1905; Ausweitung des Arbeiterschutzes und der Sozialpolitik wurde u. a. von der Progressive Platform 1912 verlangt. 39 Vgl. S. Kuznets, National Income, N. Y. 1946, 41. Zu den Professionalisierungstendenzen und der Zunahme der Angestellten vor allem das Standardwerk von C. W. Mills, White Collar, N. Y. 1956 (19511) und die Münsteraner Habil.-Schrift von J . Kocka, Studien zur Sozialgeschichte amerikanischer Angestellter 1890—1940, 1972; andeutungsweise auch in ders., Amerikanische Angestellte in Wirtschaftskrise und New Deal 1930—1940, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20. 1972, 333—75, bes. 334. 40 Vgl. die Darstellung des Koordinators der Kriegswirtschaft, B. M. Baruch, American Industry in the War, N. Y. 1941; P. W. Garrett, Government Control over Prices, Washington 1920; C. Gilbert, American Financing of World War I, Westport 1970; R. D. Cuff, Bernard Baruch: Symbol and Myth in Industrial Mobilization, BHR 43. 1969, 115—33; R. D. Cuff—M. I. Urofsky, The Steel Industry and Price Fixing During World War I, BHR 44. 1970, 291—306; P. A. C. Koistinen, The „Industrial Military Complex" in Historical Perspective: World War I, BHR 41. 1967, 378—403, bes. 381 f. Neuerdings M. N. Rothbard, War Collectivism in World War I, in: Radosh—Rothbard Hg., 66—110; ferner: J . Weinstein, 214—54; G. Soule, Prosperity Decade, N. Y. 1968 (19471), 20 ff., 53 ff., 77 ff. 41 F. Freidel, Role of the State, 6. Auch: W. E. Leuchtenburg, The New Deal and the Analogue of War, in: Braeman u. a. Hg., 81 — 143, bes. 122 f.; Rothbard, War Collectivism, 94 ff. 42 So z. B. Baruch, Willard, Coffìn, Rosenwald (im Comittee of Industrial Preparedness und im War Industries Board), Gifford (Council of National Defense), Schwab (American Emergency Fleet Corporation), Garfield (Fuel Administration), Hoover (Food Administration). Vgl. Baruch, 105 f.; die Zufriedenheit der Eisenbahngesellschaften mit der neuen Koordination des Railway War Board betont auch K. Austin Kerr, American Railroad Politics, 1914—1920, Pittsburgh 1968, 44 f. 43 Z. B. A. Legge, Präsident des Erntemaschinenkonzerns International Harvester, der später erster Leiter des Hooverschen Farm Board wurde, Eugene Meyer, George Peek und Hugh Johnson, die beiden letzten die Erfinder des McNary-Haugen-Plans © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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für die Landwirtschaft und später an der Spitze der Rooseveltschen Agricultural Adiustment Administration (AAA) und National Recovery Administration (NRA). 44 Z. B. in den zunehmden Trade Associations zwecks Informationsaustausch über Unkosten und Preise. 45 Vgl. W. E. Leuchtenburg, The Perils of Prosperity 1914—1932, Chicago 1958, 190; ferner G. Soule, Anm. 40. 46 Während die Elektrifìzierungsrate der Industrie von 1914: 3 0 % auf 1929: 7 0 % anstieg, wurden etwa 3700 (1919—1927) Elektrizitätswerke fusioniert oder stillgelegt dergestalt, daß 1930 10 Holding Companies über 72 % der erzeugten elektrischen Energie verfügten. Leuchtenburg, Perils, 190 f. 47 Ford produzierte 1925 alle 10 Sekunden ein Auto, arbeitete aber keineswegs immer mit Gewinn. Zwischen 1919 und 1927 wurde rund die Hälfte der alten Dampfmaschinen verschrottet. Vgl. A. D. Chandler, Giant Enterprise, Ford, General Motors and the Automobile Industriy, N. Y. 1964. 48 Dazu Leuchtenburg, Perils. 49 Vgl. P. Sering (= R. Löwenthal), Die Wandlungen des Kapitalismus, Zeitschrift für Sozialismus, Karlsbad 1935/6, Neudruck, 19. 50 Leuchtenburg, Perils, 185. 51 Vgl. G. Mc Connell, The Decline of Agrarian Democarcy, N. Y. 1969 (19531), passim, u. H.-J. Puhle, Populismus. 52 Vgl. M. N. Rothbard, H. Hoover and the Myth of Laissez-Faire, in: Radosh— Rothbard Hg., 111—45;ders., America's Great Depression, Princeton 1963; B.Mitchell, Depression Decade, N. Y. 1969 (19471). 53 Vor allem durch die Gründung und die Interventionen der AAA und der NRA sowie zahlloser weiterer Hilfs- und Kreditinstitutionen. Zur Beurteilung des New Deal insgesamt vgl. vor allem W. E. Leuchtenburg, Franklin D. Roosevelt and the New Deal 1932—1940, N. Y. 1963; F. Freidel, The New Deal in Historical Perspective, Washington 19652; D. Wecter, The Age of the Great Depression 1929—1941, Chicago 1971 (19481); zur traditionellen „liberalen" Interpretation: A. M. Schlesinger, The Age of Roosevelt (I: The Crisis of the Old Order, 1919—1933; II: The Coming of the New Deal; III: The Politics of Upheaval), Boston 1964—1966 (1957—19601); zur kritischeren und die systemstabilisierenden Elemente betonenden Bewertung: B. J . Bernstein, The New Deal: The Conservative Achievements of Liberal Reform, in: ders. Hg., Towards a New Past, N. Y. 1969 (19671), 263—88; P. K. Conkin, The New Deal, N. Y. 1967. Vgl. auch P. Lösche, Revolution u. Kontinuität, Zur Auseinandersetzung um den New Deal in der amerikanischen Geschichtswissenschaft, in: Festschrift für H. Herzfeld, Berlin 1972, 121—53 (dort auch weitere Lit.). Zur (zuweilen nach einer Art „trial and error"-Methode vorgenommenen) täglichen Geldparitätenfestsetzung vgl. J . M. Blum, Roosevelt and Morgenthau, Boston 1972 (zuerst: From the Morgenthau Diaries, Boston 1959), 45 f.; Schlesinger, Coming, 241. Ferner: E. W. Hawley, The New Deal and the Problem of Monopoly, Princeton 1966; H. Jaeger, Die Bankiers u. Roosevelts New Deal, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55. 1968, 214—56; V. Carosso, Washington and Wall Street: The New Deal and Investment Bankers, 1933—1940, BHR 44. 1970, 425—45. 54 Vgl. die Daten in Historical Statistics, 710; P. H. Appleby, Big Democracy, N. Y. 1970 (19451), 11 f.; B. D. Karl, Executive Reorganization and Reform in the New Deal, Cambridge/Mass. 1963, 166 ff. 55 Die zweite Welle der New-Deal-Gesetze umfaßt vor allem den Wagner Act, den Social Security Act, den Public Utilities Holding Co. Act und den Banking Act von 1935; auch die Errichtung der Federal Housing Administration 1934 gehört dazu. Daß die etablierten Interessenten in Industrie und Landwirtschaft sich ab 1936 erfolgreich gegen eine weitere Ausweitung der Sozialgesetzgebung zur Wehr setzten, konnte den vollzogenen „qualitativen Sprung" nicht rückgängig machen. Zur Differenz gegenüber 13 Winkler, Kapitalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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europäischen Modellen der Staatsintervention in den sozialen Sektor vgl. L. Krieger, The Idea of the Weifare State in Europe and the United States, Journal of the History of Ideas 24. 1963, 553—68; H.-J. Puhle, Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, in: G. A. Ritter Hg., Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1973, 29—68. 56 Zu den Ursachen die frühen (und in ihrer Prognose nicht zutreffenden) Überlegungen von W. Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?, Darmstadt 1969 (nach der Ausgabe Tübingen 1906), 37—74 u. 141 f.; P. Lösche, Arbeiterbewegung u. New Deal, in: Winkler Hg., 81—106. 57 Damit wird allerdings kein neuer Begriff etwa eines „amerikanischen Organisierten Kapitalismus" angestrebt, der seine Funktion für den Vergleich verloren hätte.

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Strukturen kapitalistischer Stabilität in den zwanziger Jahren: Errungenschaften und Defekte Von CHARLES S. MAIER

Mit Hilfe des Begrifïsmodells des „Organisierten Kapitalismus" hat unsere Arbeitsgemeinschaft die wechselseitigen Beziehungen zwischen Politik und Ökonomie, Macht und Produktionsverhältnissen zu erfassen versucht. In dem Modell wird Managern, Unternehmern und später auch Gewerkschaftsführern ebenso öffentliche Autorität zugeschrieben wie üblicherweise der staatlichen Exekutive und dem Parlament. Auf der anderen Seite erscheint der Spielraum des freien Wettbewerbs sowohl durch immanente Entwicklungen der Marktwirtschaft selbst (wie insbesondere oligopolistische Konkurrenz) als auch durch zunehmende Staatseingriffe (über Rüstungs-, Konjunktur- und Sozialpolitik) reduziert. Meine Absicht ist es, im folgenden die Umwandlung dieser Tendenzen nach dem Ersten Weltkrieg zu analysieren und die innere Anfälligkeit des Systems aufzuzeigen. Der Weltkrieg hatte als Konsolidierungsphase der überkommenen Wirtschaftsform ohne Zweifel gravierende Auswirkungen. Es wäre jedoch ein Fehler, die Entwicklungen des folgenden Jahrzehntes als bloße Nachwirkung des Krieges oder einfach als Vorspiel zu den Staatsinterventionen während der großen Krise nach 1929 zu betrachten. Die relative Stabilität der zwanziger Jahre bewies, daß die Versuche, den dezentralisierten Markt in eine kalkulierbare und geplante kapitalistische Wirtschaft zu verwandeln, sich auch ohne den Druck des totalen Kriegs weiterführen ließen. Darüber hinaus verdichteten sich die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat immer stärker: Es ist ein Zeichen dieser Kontinuität, daß Hilferding, der 1915 den Begriff „Organisierter Kapitalismus" geprägt hatte, im Jahre 1927 in seiner Kieler Parteitagsrede daraus die strategischen Folgerungen ziehen konnte1. Hier soll vor allem das politische Moment dieser Entwicklungen betont werden. Denn Begriffe wie „Organisierter Kapitalismus", ja „Kapitalismus" überhaupt, lassen sich nur dann sinnvoll verwenden, wenn das gesellschaftliche Gefälle von Einfluß und Macht in Beziehung zu gegebenen Stufen des Fortschritts in Technik und Produktivität gesetzt wird. I. Die Nachkriegsjahre führten keine so grundlegende Neuerungen der Wirtschaftsorganisation herbei wie die Aktiengesellschaften, Kartelle und Verbände 13*

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des vorangegangenen halben Jahrhunderts2. Nichtsdestoweniger vollzogen sich während des Krieges und in den zwanziger Jahren entscheidende Veränderungen im Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Es wäre irreführend, diese Wandlungen nur als eine Fortsetzung des sogenannten Interventionsstaates zu beschreiben. Dies würde lediglich besagen, daß der Staat sich stärker für die Bewahrung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabilität und deren Rahmenbedingungen engagierte. Zutreffender wäre es zu sagen, daß die Regulierung und Strukturierung des Marktes auf Vertreter der jeweils in Frage kommenden Interessen selber übertragen wurde. Gerade diese Abwälzung der öffentlichen Autorität und die neue wechselseitige Durchdringung von Staatssouveränität und Unternehmermacht charakterisieren die Volkswirtschaften der Zeit von 1914 bis 1929. Innerhalb dieses Zeitabschnitts kann man zwei Entwicklungsphasen unterscheiden: Die erste umfaßt die wirtschaftliche Mobilmachung während des Kriegs und die Versuche der Zusammenarbeit bisher einander entgegengesetzter sozialer Gruppen während des Jahrzehntes von 1914 bis in die Jahre 1921/1923; die zweite bildet die kurze Epoche der Stabilität in den folgenden fünf Jahren. Die nationale Mobilmachung der Industrie war die logische Folge des „totalen Krieges". In allen Ländern wurden die für die Rüstung zuständigen Behörden zu Zentralen für die Gleichschaltung der Industrie. Sie bezogen die Unternehmerverbände in die Entscheidungen über Preisfestsetzung, Rohstoffverteilung und Arbeitsmarktfragen ein. Die Gründung der deutschen „Kriegsgesellschaften" oder die Tätigkeit des amerikanischen „War Industries Board" verwischte den traditionellen Trennungsstrich zwischen Wirtschaft und Staat3. Denselben Effekt hatte es, wenn Rüstungsminister Louis Loucheur das Comité des Forges (Hüttenausschuß) zur offiziellen Kohlenverkaufsagentur in London machte. In den Monaten unmittelbar nach dem Waffenstillstand versuchte Loucheur überdies, das Comité des Forges in die Führungszentrale eines neuen Stahlverbandes umzuwandeln, der durch die Kontrolle der Stahlproduktion des rückeroberten Elsaß-Lothringen zugleich der französischen Eisenindustrie eine neue Disziplin aufzwingen sollte4. Der Widerstand gegen neue Formen der Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft blieb aber hartnäckig. Feldmans Referat zeigt, daß die deutschen Industriellen mit den Regierungsplanern solange nur zögernd zusammenarbeiteten, bis sie einen wirksamen Einfluß auf die Instanzen der staatlichen Wirtschaftslenkung ausüben konnten. Die Reaktion der Industrie auf die Gemeinwirtschaftspläne Moellendorffs und Wissells ließen die Zweideutigkeit der Beziehungen sichtbar werden. Solange das Wirtschaftsministerium versuchte, die Stahlerzeuger zusammen mit ihren eigenen Abnehmerindustrien in eine Selbstverwaltungskörperschaft zu bringen, lehnten die Ruhr-Industriellen diese Selbstverwaltungspläne als eine Art „Sozialismus durch die Hintertür" ab. Nur wenn die Regierung die vertikale Integration der Industrie sowie die de factoKartellierung durch Zweckverbände genehmigt hätte, wäre für die Industriellen das Gemeinwirtschaftsmodell annehmbar gewesen5. Ebenso opponierten die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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französischen Stahlindustriellen gegen die Pläne von Etienne Clémentel, Handelsminister unter Clémenceau, weil dieser eine Zusammenarbeit mit der verarbeitenden Industrie beabsichtigte6. Der Widerstand kam auch aus Kreisen traditioneller Staatsbeamter, beziehungsweise des Militärs. Während die Beschaííungsfunktionen der französischen und der englischen Heeresleitung nach dem Krieg wieder aufgehoben wurden, setzte sich in den Vereinigten Staaten das War Department gegenüber der neuerworbenen Macht der Industriellen durch. Auch in Deutschland empfand die Oberste Heeresleitung schließlich die Profit- und Machtansprüche der Industriellen als zu weitgehend. Der Erfolg ihres eigenen Kriegsamtes, dessen wirtschaftliche Befugnisse sie erhalten wollte, war indessen sehr begrenzt. Zwar wurden den Beamten oder Militärs gewisse Kontrollbefugnisse zugestanden, aber sie verloren durch die Erfordernisse der Kriegsproduktion viel mehr an Macht als ihnen lieb war7. Die zweite Tendenz zwischen 1914 und 1923 war eine partielle Zusammenarbeit zwischen den großen gesellschaftlichen Kontrahenten — oder, anders gewendet, der Eintritt der Gewerkschaften in das soziale System des Organisierten Kapitalismus. Dies war auch eine Folge der Produktionsbedürfnisse in einer Zeit des Arbeitskräftemangels und wurde zudem erleichtert durch die Inflationskonjunktur der Weltwirtschaft im Jahrzehnt nach 1914. Alle kriegführenden Nationen erlebten eine Verdoppelung oder Verdreifachung des inneren Preisniveaus allein in den Jahren 1914—1918. Diese Inflation verursachte eine Einkommensverschiebung von den unorganisierten, traditionellen Wirtschaftssektoren zu den organisierten und technologisch fortgeschrittenen Industrien, die für die Kriegsproduktion wesentlich waren. Im Schütze einer Preisund Lohnspirale schufen Großindustrie und Gewerkschaften die Voraussetzungen einer weitergehenden Zusammenarbeit8. Die fortlaufende Inflation verband die Nachkriegsereignisse mit den Kriegsentwicklungen. Mit dem Konjunkturverfall 1920/21 fiel aber der Anreiz zur Kooperation mit der Arbeiterschaft in Frankreich, Großbritannien und Italien weg9. Obgleich in Deutschland die Reparationskonflikte, das sogenannte Kredit-Angebot und der Steuerkompromiß von 1921/22 sowie zuletzt die Kämpfe um die Stabilisierung in den Jahren 1922 und 1923 die Zusammenarbeit erschwerten, gab es im großen und ganzen bis zur harten Stabilisierungskrise Ende 1923 und 1924 eine Kooperation der Tarifpartner. Erst danach half die Industrie, die „Zentralarbeitsgemeinschaft" vom November 1918 zu sprengen, und begann, die Rolle des Arbeitsministeriums ernsthaft anzugreifen. Die Stabilisierungskrise, die der für die Gewerkschaftsfonds vernichtenden Inflation folgte, warf zwei Millionen Arbeiter auf die Straße und, wie die Industrieführer sogleich erkannten, veränderte für einen entscheidenden Augenblick das politische und wirtschaftliche Gleichgewicht. Nur der schnelle Wiederanstieg der Produktion, die durch die Micum-Zahlungen und die restriktive Reichsbankpolitik bedingte Kreditknappheit der Industrie und das Unvermögen der Deutschnationalen, die bürgerliche Koalition zu sprengen, verhinderten, daß es 1924 zu einem vorzeitigen „1930" für die Weimarer Republik kam10. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Um das Vorstehende kurz zusammenzufassen: Zwei Hauptentwicklungen veränderten den Organisierten Kapitalismus nach 1914: l.Die wechselseitige Durchdringung von Industrie und Regierung zum Zweck der Mobilisierung der Kriegswirtschaft; 2. der Aufstieg der organisierten Arbeiterschaft zum „Sozialpartner" unter den Bedingungen inflationärer Löhne und Industriegewinne auf Kosten von Kleinrentnern und alten Mittelschichten. II. Wie konnten diese Entwicklungen das Ende der Kriegsprioritäten und die Wirkung der Inflation überdauern? Es ergaben sich tatsächlich neue zwingende Motive, die die Rückkehr zur reinen Konkurrenzwirtschaft verhinderten. Während die Kooperation von Industrie und Gewerkschaften sozusagen versickerte, wurde die Partnerschaft zwischen Regierung und Industrieverbänden fortgesetzt — nicht mehr in der Absicht, einen Krieg zu gewinnen, sondern um auf einem unerbittlichen internationalen Markt konkurrenzfähig zu bleiben und eine unheilvoll erscheinende Überproduktion einzudämmen. Die Stabilisierung der europäischen Währungen zwischen 1924 und 1928 schloß eine Exportkonkurrenz von der Art aus, wie sie die Deutschen von 1919 bis 1923 und die Franzosen 1925 und Anfang 1926 ausgenutzt hatten. Vielmehr erforderte sie eine Preisstabilität, die teilweise auf Kosten der Arbeiter ging, durch Nominallohn-Herabsetzungen und steigende Arbeitslosigkeit (auch wenn die Realstundenlöhne oft tatsächlich stiegen)11. Die Machtübernahme der italienischen Faschisten, die erneute Schwäche des Arbeitsmarktes in Deutschland zwischen 1924 und 1926, das Scheitern des Generalstreiks in Großbritannien und die inneren Spannungen in der französischen Gewerkschaftsbewegung — alle diese Faktoren schränkten die Handlungsfähigkeit der Arbeiterschaft ein. Das bedeutet nicht, daß die Arbeitgeber der demokratischen Länder einfach die alten Vorrechte des „Herrn im Hause" wieder in Anspruch nehmen konnten. Die Zugeständnisse des Weltkriegs, z. B. Arbeiterausschüsse und Vertretungsrechte, konnten nicht so leicht rückgängig gemacht werden. Aber die rasche Anpassung des Lohn- und Preisniveaus in der Zeit von 1914 bis 1920 blieb Vergangenheit, und schwere Kämpfe verbanden sich mit den Bestrebungen der Arbeiterschaft, ihre kollektive Macht zu bewahren: man denke wieder an den englischen Generalstreik und die Ruhr-Aussperrung von 192812. Aber auch in der Zeit, als die Rolle der Gewerkschaften als Sozialpartner angegriffen wurde, behielt die Industrie ihre neue öffentliche Rolle bei. Um in der neuen Welt schwerer Zahlungsbilanzsorgen die nationale Wirtschaftsstabilität zu sichern, regten die Regierungen die Unternehmer an, selbst den internationalen wie den Binnenmarkt zu bändigen. Die französischen und deutschen Behörden überließen die kritischen Zoll- und Quotenverhandlungen der Jahre von 1924 bis 1927 den Führern ihrer Eisen- und Stahlindustrien; und in allen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Staaten drängten die Regierungen auf eine kontinuierliche Heranziehung der Bankiers und Financiers in die Sanierungsaktionen der zwanziger Jahre13. Export-, Zollschutz- und Zahlungsbilanzsorgen bildeten nicht die einzigen Motive für eine weitergehende Marktorganisation. Die Ideen von wirtschaftlicher Effizienz und von der Vermeidbarkeit der Vergeudung im unorganisierten Wettbewerb — Ideen, die auch Rathenau und Moellendoríf inspirierten — überzeugten z. B. den amerikanischen Handelsminister Hoover, einen „Associationism" zwischen Regierung und Wirtschaft zu predigen und sein eigenes Ministeramt in ein Dienstbüro für die Industrie zu verwandeln. In Amerika und England setzten die Unternehmerverbände in den zwanziger Jahren den Austausch von Informationen über Kosten und Preise fort14. Die offizielle Billigung dieser innerindustriellen Kooperation bedeutete eine wichtige Abschwächung der früher vorherrschenden Anti-Trust-Ideologie eines dezentralisierten Wettbewerbs. In Italien hatten die Wirtschaftsführer ohnehin immer auf Staatshilfe gesetzt. Mussolinis erklärte Absicht, einen „korporativen Staat" aufzubauen, führte jedoch eine neue Legitimation und Zentralisierung herbei: die Vertreter der Confindustria (des Spitzenverbandes der italienischen Unternehmer) verhandelten mit den faschistischen Syndikatsführern im Rahmen des „Gran Consiglio" als Beauftragte des Staates15. Gleichviel ob autoritär oder demokratisch, die Regierungen konnten auch während der Zeit relativer Stabilität von 1929 auf die Zusammenarbeit mit den Industrieführern ebensowenig verzichten, wie diese der staatlichen Hilfe entbehren konnten. So wie sie die Gelegenheit der Inflation ausgenutzt hatten, lernten jetzt die geschickten Manager das neue Spiel der Währungsstabilität und des deflationären Drucks auf Löhne und Preise. Trotz der Schwierigkeiten boten Kreditknappheit und Preiskonkurrenz eine neue Chance für Aufkäufe und Zusammenschlüsse von Firmen. Zahlreiche neue Großkonzerne wurden gebildet — z. B. Imperial Chemicals, I. G. Farben oder Vereinigte Stahlwerke —, die oftmals auf der Basis neuer technologischer Entwicklungen und Rationalisierungsmöglichkeiten entstanden, aber auch der allgemeinen Tendenz entsprachen, die Nachfrage durch oligopolistische Produktionsbeschränkungen zu stabilisieren. In England und in den Vereinigten Staaten, wo eine AntiTrust-Stimmung vorherrschte, begünstigten die industriefreundlichen Regierungen der zwanziger Jahre neue Verbandsorganisationen, selbst die Experten der Liberal Party erklärten in ihrem „Gelben Buch", daß eine zunehmende Monopolisierung „unvermeidbar und sogar im Interesse der Effizienz durchaus wünschenswert" sei16. III. Das Erstarken all dieser Tendenzen hing nicht nur mit wirtschaftlichen Faktoren zusammen, sondern auch mit einer fortschreitenden politischen Entwicklung: der Machtverlagerung von den Parlamenten auf neue Instanzen im Bereich der Exekutive und auf private Machtzentren. Daß die Volksvertretungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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während des Kriegs fast überall an Einfluß verloren, war eine natürliche Erscheinung; aber die Frage bleibt, warum dieser Prozeß während der zwanziger Jahre nicht zum Stillstand kam. Um diese Frage zu beantworten, gilt es, die besonderen Schwierigkeiten zu untersuchen, vor die sich die parlamentarischen Systeme der Nachkriegszeit gestellt sahen. Vor dem Krieg vermittelten parlamentarische Koalitionen zwischen den Ansprüchen verschiedener Interessengruppen auf dem Hintergrund eines allgemeinen Wirtschaftswachstums. Grob gesprochen: bis 1908—1910 sah sich die Gesellschaft der relativ einfachen Aufgabe der Verteilung von Übergewinnen gegenüber. Doch bereits mit der Rezession von 1907, die eine Periode schwankender Prosperität einleitete, drohten neue soziale und politische Krisen. Beispiele hierfür sind das Wiederaufleben syndikalistischer Agitation in Frankreich (und sogar in England) und Giolittis wachsende Schwierigkeiten, die Rechte und Linke in Italien auszubalancieren. Auch die zunehmende Belastung durch neue Rüstungsausgaben und alte konfessionelle Streitigkeiten gefährdeten das Gleichgewicht. Lohnansprüche sowie Höhe und Aufkommen der Besteuerung im privaten Sektor, Forderungen nach Ausdehnung des Wahlrechts, wieder in Italien und Deutschland — dies alles mußte vorsichtig unter parlamentarischen Vorzeichen ausgeglichen oder im Kaiserreich in einer etwas direkteren Vermittlung der Interessen durch die Staatsbürokratie geregelt werden. Kein Wunder, daß das System um 1910 überall Zeichen ernster Spannung zeigte17. Nach dem Krieg wurde die Aufgabe, Ansprüche und Gegenansprüche auszubalancieren, noch schwieriger — und das trotz des Wachstums des Pro-KopfRealeinkommens zwischen 1924 und 1929. Nun stellte sich den parlamentarischen Regierungen das Problem, die Kriegs- und Wohlfahrtskosten auf die sozialen Klassen durch Entscheidungen über Inflation, Stabilisierung und Aufwertung verteilen zu müssen. Der zwischen 1924 und 1928 in Frankreich ausgefochtene Streit — zuerst darüber, wie man die Inflation dämpfen könne, dann, welche Stabilisierungsparität man wählen solle — entsprach den ausgedehnten Aufwertungskontroversen in Deutschland. Selbst das Problem einer begrenzten Wiederherstellung von Sparguthaben oder Hypothekenwerten war mit großen innenpolitischen Risiken behaftet. In Frankreich und in Deutschland setzten sich Industrie und Gewerkschaften im allgemeinen gemeinsam für eine niedrige Aufwertungsrate ein, um zu verhindern, daß Ausfuhr, Inlandsnachfrage und Beschäftigung insgesamt absanken. Im Gegensatz dazu standen die Forderungen der Rentner und vieler mittelständischer Sparer, die gemeinsam für einen höheren Aufwertungssatz kämpften. Diese Kontroverse spaltete die traditionellen bürgerlichen Parteien und verursachte eine tiefe, dauernde Koalitionskrise, die eine Wiederherstellung früherer parlamentarischer Macht unmöglich machte18. Die Schwierigkeiten, denen sich die parlamentarischen Regierungen gegenübersahen, wurden noch durch einen weiteren Faktor bedingt. Dieser bestand in den deflationistischen Überzeugungen der amerikanischen Finanzkreise, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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die internationale Wirtschaft der zwanziger Jahre wieder aufbauen halfen. Als Gegenleistung für ihre Anleihen und Kapitalinvestitionen forderten amerikanische Wirtschaftsführer, wie Benjamin Strong von der New York Federal Reserve Bank und die Morgan-Bankiers, die Stabilisierung der europäischen Währungen und die Annahme einer neuen Gold-Devisen-Währung (Gold Exchange Standard), die dem Dollar eine bevorzugte Stellung als Reservewährung einräumte. Zusammen mit der Struktur europäischer Kriegsschulden und den Reparationen zwangen die amerikanischen Bedingungen den europäischen Großbanken und Geschäftsleuten eine deflationäre Politik auf. Eine inflationäre Kompromißpolitik, wie sie die Jahre 1914 bis 1923 gekennzeichnet hatte, war damit unmöglich geworden, was die parlamentarische Vermittlung sozialer Konflikte zusätzlich erschwerte19. Die Folge war, daß die Last des Interessenausgleiches, ja der Interessenvertretung, zunehmend außerparlamentarischen Institutionen zufiel. Im Zuge der Entwicklung wuchs vor allem die Bedeutung bestimmter neuer Ministerien; dies gilt namentlich für das Arbeitsministerium der Weimarer Republik, das amerikanische Department of Commerce unter Hoover, das französische Handelsministerium, das italienische Ministerium für Nationalwirtschaft und später das Ministerium für Korporationen. Die sicherlich extremste Verschiebung der parlamentarischen Autorität fand unter dem Faschismus statt, wobei Mussolini die Vertretung der Interessengruppen unter seiner eigenen Leitung zusammenfaßte und der Industrie soziale Garantien gegen die Gewerkschaften gab, wie sie nie zuvor, auch nicht unter Crispi und Pelloux, gewährt worden waren. Das italienische Arbeitsministerium war schon 1923 abgeschafft worden. In der Folgezeit wurde die verbleibende Unabhängigkeit Edmondo Rossonis, des Führers der faschistischen Syndikate, dadurch weiter ausgehöhlt, daß die Regierung nach einem letzten Arbeitskampf 1925 das Streikrecht abschaffte und 1928 die Dachorganisation der Syndikate in einzelne Teile zerlegte. Die Verlagerung der Arbeitervertretung in faschistische Syndikate führte nicht nur zur Zerstörung unabhängiger Gewerkschaftsmacht, sondern auch dazu, daß die Unternehmer sich zusammenschlössen und direkt mit Beauftragten der Regierung die Normen des Arbeitsmarktes gestalteten20. Aber gleichgültig, ob in autoritären oder demokratischen Regierungssystemen: die Exekutivinstanzen, die neue Macht gewannen, waren von der Wirtschaft abhängiger geworden, als es die Regierungen vor 1914 gewesen waren. Die Kriegserfahrungen und das daraus folgende Bedürfnis nach Stabilität veranlaßten sie, sich mit der Industrie quasi selbst als eine Interessengruppe unter anderen zu arrangieren. Der Begriff des öffentlichen Interesses war problematisch geworden; der Mantel der gesetzlichen Autorität wurde über eine komplexe und symbiosenartige Interaktion von bürokratischen Stellen und Industrieführern geworfen21. Mehr denn je brauchten die beiden Teile einander, um einen Niedergang von Produktion und Beschäftigung und damit eine Erschütterung der gesellschaftlichen und politischen Stabilität insgesamt zu verhindern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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IV. Selbstverständlich paßt dieses Paradigma des politisch-ökonomischen Systems der zwanziger Jahre — nämlich die tendenzielle Aufhebung des Dualismus von Staat und Wirtschaft, wachsende Selbstregulierung der Industrie, Unternehmenskonzentration, zunehmende Intensität der Interessenorganisation, kontinuierliche Abnahme parlamentarischer Kontrolle über die Wirtschaft — für kein Land vollkommen und für manche sehr viel weniger als für andere. Das neue System, das ich als „korporativen Pluralismus" bezeichnen möchte, entstand am ausgeprägtesten in Deutschland, aufgrund sowohl der Schwäche von Legislative und Exekutive nach der Revolution wie auch des Erbes eines vorindustriellen Korporationswesens und eines ohnehin stark bürokratisierten Unternehmertums. Tatsächlich konnte Deutschland von seinem entwickelten Verbandswesen und der Selbstverwaltung des 19. Jahrhunderts in eine nachliberale Phase überwechseln, ohne das anglo-amerikanische Entwicklungsmodell zu durchlaufen22. Obwohl Italien eine faschistische Macht wurde, war dort die Basis für einen Korporativen Pluralismus nur schwach, wenn überhaupt vorhanden. Die wirtschaftlichen und quasi-politischen Vereinigungen, die die Deutschen „von unten her" organisierten, oft in der Absicht, bürokratische Einmischung auszuschalten, konnten von den sozialen Kräften Italiens nicht ins Leben gerufen werden. Volker Sellin hat in seinem Referat gezeigt, daß in Italien nie ein Kapitalismus ohne Staatsintervention existiert hat. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß es so etwas wie die typisch deutsche Ausformung organisierter Wirtschaftsinteressen vor dem Ersten Weltkrieg und wohl auch vor dem Marsch auf Rom in Italien nicht gab. Mit Ausnahme von mächtigen Organisationen für bestimmte Zweige der Industrie (wie Stahl oder Metallverarbeitung) oder für bestimmte Orte (wie die wichtigste: die Liga Industriale di Torino) war die Entwicklung eher gekennzeichnet durch besondere Beziehungen zwischen industriellen Giganten und Bankunternehmen, die ihrerseits zugleich mit führenden Politikern verbunden waren. Erst die Unterstützung, die die Eisen- und Stahlindustrie der nationalistischen Bewegung zuteil werden ließ, war Vorbote einer etwas festeren Branchenorganisation. In ähnlicher Weise entwickelten die elektrotechnischen Industrien eine kohärente Strategie, die über herkömmliche Ziele hinausging, möglichst große Regierungsaufträge zu erhalten. Aber langwierige Kämpfe, wie z. B. die zwischen den Stahlkonzernen Ilva (liiert mit der Banca Commerciale) und Ansaldo (liiert mit der Banca Italiana di Sconto) hielten industrielle Organisationen in einem beinahe anarchischen Zustand. Schließlich ließ um 1920/21 mit der Gründung der Coníindustria unter der klugen Führung von Gino Olivetti eine kohärente, im deutschen Stil organisierte industrielle Vereinigung ihr Gewicht spürbar werden, um dann zum wirtschaftlichen Hauptgesprächspartner des Staates in Mussolinis Regime aufzusteigen23. Ebenso wie die Organisation der Industrie lange unterentwickelt blieb, fehlte es den italienischen Eliten auch an politischer Organisation. Ihre Parteien ka© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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men nie über den Stand von Honoratiorenparteien hinaus, als die sie sich während der Ära des beschränkten Wahlrechts herausgebildet hatten. Weder politisch noch ökonomisch waren die italienischen Eliten vorbereitet, gegen die neuen sozialen Massenbewegungen anzutreten, die zum erstenmal durch das allgemeine Wahlrecht freigesetzt wurden, dann durch die Intervention von 1915 und schließlich durch das biennio rosso der Nachkriegszeit. Mussolini endlich rief von oben her eine korporativ-pluralistische Organisation ins Leben, die die italienische kapitalistische Wirtschaft von unten aufzubauen nicht imstande war. Allerdings war das industrielle Lager selbst noch einmal gespalten — in solche, die für eine unabhängige Position und Vorsicht gegenüber dem Regime plädierten, und solche, die die Vorzüge des Faschismus, wie z. B. die Auszehrung der realen Macht der Arbeiterschaft, ausnützen wollten. Das Ganze gestaltete sich wie nach dem Muster eines italienischen Ehevertrags: Mussolini gewann die allgemeine Zustimmung der Industrie, daß er das letzte Wort über Finanz- und Arbeiterpolitik habe; die Industrie erhielt dafür Garantien einer sicheren und respektierten Position in ihrem eigenen Haus sowie Einfluß auf die Entscheidungen des Duce24. Im Gegensatz zu Deutschland und Italien blieb Frankreich das Land, wo das System des korporativen Pluralismus den geringsten Fortschritt machte. Das französische parlamentarische System blieb zugänglich und aufmerksam gegenüber den Interessen der Kleinindustrie und der Landwirtschaft. Die Beamten, die ständigen Unterstaatssekretäre und die Präfekten behielten einen Grad an Unabhängigkeit von den Interessen, den das deutsche Beamtentum (mit Ausnahme vielleicht der Wilhelmstraße) insgesamt nicht aufrechterhalten konnte. Dies hing auch damit zusammen, daß die französischen Industrieinteressen nach wie vor organisatorisch zersplittert waren — ein Zustand, den die deutschen Unternehmer inzwischen überwunden hatten. Während Kohle- und Stahlkonzerne in Deutschland eng miteinander verbunden waren, konkurrierten in Frankreich die Kohleinteressen mit denen der Stahlproduzenten. Die französischen Eiseninteressenvertreter an der lothringischen Grenze hatten es schwerer, Kompromisse mit ihren Kollegen im Norden oder im Loiretal zu erreichen, als die Ruhrindustrie mit den verarbeitenden Industriellen Süddeutschlands. Ein weiterer Grund für die Schwierigkeiten bei der Bildung freiwilliger Vereinigungen in Frankreich lag in fundamentalen individualistischen Vorbehalten gegenüber sozialen Organisationen, wie der Soziologe Michel Crozier dargelegt hat25. So gesehen, war die französische Industrie weniger darauf vorbereitet, ihrer Gesellschaft ein System von Organisiertem Kapitalismus aufzudrängen. Nichtsdestoweniger wurde es auch für die französischen politischen Institutionen zunehmend schwerer, die wirksame Rolle des Parlaments zu erhalten. Die miteinander verbundenen Probleme von Inflation, Kriegsschulden und Reparationen belasteten Parteien und Parlament bei ihrer Aufgabe, konsensbildend zu wirken, außerordentlich. Die labilen Regierungen des Cartel des Gauches (1924 bis 1926) und das Auftreten aggressiver „pressure groups" kündigten den Zusam© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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menbruch des hergebrachten parlamentarischen Systems an, wenn sich nicht gar bereits der Zusammenbruch der liberalen Ordnung überhaupt abzeichnete26. Schließlich sollen hier noch kurz die Varianten der englischen und der amerikanischen Erfahrung skizziert werden. Die englische Wirtschaft trat wie die französische in den Krieg ein mit einer relativ dezentralisierten Fertigwarenund Schwerindustrie. Ebenso wie in Frankreich hatte die parlamentarische Vermittlung sozialer Konflikte eine lebendige Tradition. Aber England hielt auch an korporativen Überlieferungen und Verbandstraditionen, wie sie in Deutschland ausgeprägt vorhanden waren, fest. Deshalb war England auch vorbereitet, einen glatten Übergang von einer freien Marktwirtschaft zu einer neuen industriellen Verflechtung und zum Organisierten Kapitalismus zu vollziehen. Trotz der rituellen Bekenntnisse zum reinen Wettbewerb Ende der zwanziger Jahre hatte England die Wirtschaftsverbände und industriellen Organisationen der Kriegszeit wiederhergestellt und im folgenden Jahrzehnt die Bahnen der dezentralisierten Marktwirtschaft verlassen; die Rationalisierungsbewegung und die Schutzzölle von 1932 zeigen das in aller Deutlichkeit. In politischer Hinsicht verlief der Übergang zum korporativen Pluralismus aus verschiedenen Gründen ebenfalls reibungsloser als in Deutschland. Die Labour Party konnte die Arbeiterklasse vertreten, ohne in Wettbewerb mit einer weiter links stehenden Partei treten zu müssen. Die Unabhängigkeit der Exekutive konnte durch die stille Fortentwicklung der Kabinettregierung unter Beibehaltung parlamentarischer Formen wachsen. Zudem stellte die britische Rechte die demokratische Regierungsform nie in Frage. So glitt England in den zwanziger und dreißiger Jahren fast unmerklich in ein politisch-soziales System, das sich von dem der Vorkriegszeit wesentlich unterschied27. Das Amerika der zwanziger Jahre schwankte zwischen der im Krieg entstandenen Interdependenz von Wirtschaft und Regierung einerseits und der ererbten Ideologie vom freien Wettbewerb andererseits. Nirgendwo sonst konnte die Durchdringung des privaten und öffentlichen Sektors so mühelos vor sich gehen, da es keine starke sozialistische Bewegung gab, dafür aber einen breiten Konsens über die Wichtigkeit von Wirtschaft und Produktion als gesellschaftlichen Werten. Dennoch mußten die amerikanischen Politiker immer noch der früheren Floskel vom freien Wettbewerb Rechnung tragen, weshalb Befürworter extensiver wirtschaftlicher Organisation nur begrenzte Siege erringen konnten. Selbst Hoover, der für industrielle Vereinigungen und eine Partnerschaft von Regierung und Geschäftswelt eintrat, bezeichnete den Swope-Plan, der von dem Präsidenten der General Electric vorgelegt worden war und eine Art Nebenregierung von Wirtschaftsvertretern empfahl, als faschistisch. Vielleicht noch bedeutsamer war, daß das Amerika der zwanziger Jahre nicht jene mächtigen und sich gegenseitig kontrollierenden Interessengruppen kannte wie Deutschland. Während die Abwesenheit einer kraftvollen Arbeiterbewegung die Herstellung eines gesellschaftlichen Konsens auf der Basis einer unternehmerischen Wertorientierung erlaubte, verzögerte sie gleichzeitig die Konsolidierung industrieller Zentralverbände in der Zwischenkriegszeit und schob damit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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die Entwicklung korporativer Machtblöcke hinaus. Es blieb schließlich dem New Deal und dem Zweiten Weltkrieg überlassen, die volle Legitimation eines Organisierten Kapitalismus zu erwirken. Im Übergang vom sogenannten Zweiten New Deal mit seiner anti-monopolistischen Ausrichtung zur neuen wirtschaftlichen Mobilmachung von 1940/41 oder, personifizierend ausgedrückt, von Thurman Arnold zu James Forrestal, nahm Amerika endlich von seinem traditionellen Privatkapitalismus Abschied28. Die Unterschiedlichkeit der nationalen Erfahrungen darf jedoch nicht von der Frage ablenken, ob es ein allgemeines Modell des modernen Kapitalismus als Machtsystem gibt. Während „Organisierter Kapitalismus" ein auf das deutsche Muster zugeschnittenes Modell ist, behalten einzelne Aspekte, in geeigneter Weise modifiziert, ihre Gültigkeit in einem größeren Rahmen. Ich würde jedoch behaupten, daß dies eher auf politischer als auf wirtschaftlicher Ebene der Fall ist, und zwar insoweit, als in allen liberal-demokratisch verfaßten Staaten der Prozeß der sozialen Vermittlung und Konsensbildung seit der Jahrhundertwende transformiert wurde. Das alte liberal-demokratische Modell, in dem nationale Politik durch die freiwillige Aggregation individueller Entscheidungen legitimiert wurde, ersetzte ein System korporativer pluralistischer Verwaltung, in dem übermächtige Interessen eine konstante innenpolitische Vetomacht erhielten — ein Zustand, der entweder in Kauf genommen oder in einigen Ländern gewaltsam beseitigt wurde. Der politische Einfluß einer Interessengruppe hängt von der Macht ab, die sie einzusetzen vermag, so wie umgekehrt ihre sogenannte soziale Macht, was Hilferding schon 1927 bemerkte, von ihrem politischen Gewicht abhängt29. Schließlich kann die Suche nach einem fruchtbaren Modell mehr als nur geschichtliches Interesse reklamieren, da die Stabilität, die in Europa nach 1948 erreicht wurde, eine ähnliche Struktur wie am Ende der zwanziger Jahre aufweist. Sie beruht auf einem delikaten politisch-ökonomischen Gleichgewicht, das die zentrale Macht entweder für Konservative reserviert, die willens sind, wachsenden Sozialleistungen zuzustimmen, oder für Sozialdemokraten, die bereit sind, eine Stärkung des Kapitalismus zuzulassen. Dieses Gleichgewicht ist verankert in der internationalen Wirtschaft und den Investitionen der Vereinigten Staaten; es beschränkt linke Sozialisten oder Kommunisten auf Regionalregierungen; es teilt Ost und West. Die politisch-ökonomische Konstellation zwischen 1924 und 1928 zeigte bereits ähnliche strukturelle Elemente wie die liberale Ordnung Europas nach 1948. V. Neue wirtschaftliche Entwicklungen, insbesondere im Bereich der empfindlichen internationalen Wirtschaft, zwingen uns zu fragen, ob diese zugleich auch innere Schwächen des Organisierten Kapitalismus enthüllen. Offensichtlich wies der Organisierte Kapitalismus oder korporative Pluralismus der Zwischen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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kriegszeit innere Spannungen auf, die seiner letztlichen Stabilität (ganz zu schweigen von seiner Gerechtigkeit) Grenzen setzte. 1. Der erste Anlaß zu Spannungen lag in den einander entgegengesetzten Forderungen des internationalen Marktes und des sozialen Gleichgewichts der einzelnen Staaten. Es scheint tatsächlich zuzutreffen, daß der Interessenausgleich unter den Bedingungen eines korporativen Pluralismus entweder ein konstantes Wachstum des Sozialproduktes und/oder eine schleichende Inflation erfordert, die es erlaubt, die Kosten dieses Ausgleichs auf die potentiell schwächsten Gruppen abzuwälzen. Doch waren nach 1923 inflationsträchtige Kompromisse durch den Druck auf dem internationalen Markt ausgeschlossen. Letztlich beschränkten die deflationären Verpflichtungen auch das reale Wachstum des Sozialproduktes, das seinerseits vielleicht innenpolitische Spannungen hätte mildern können. Die delikate Situation der Zahlungsbilanz machte es nur noch schwieriger, Lohn-, Sozialleistungs- und Profitansprüche auszugleichen. Als dann der Kapitalfluß von Amerika nach Europa aufhörte — in einem Moment überdies, in dem die europäischen Regierungen ein neues System der Sozialversicherung etabliert hatten — drängte die Entwicklung immer stärker zur Kürzung der Löhne und der Sozialleistungen. Der englische Generalstreik, die rheinisch-westfälischen Arbeitskämpfe 1928, der Zusammenbruch der Großen Koalition — dies alles waren dramatische Symptome30. Die Idee, die Gesamtnachfrage als Stimulans für das Binnenwirtschaftswachstum einzusetzen, blieb ohne praktische Wirkung; mehr noch, ihre grundsätzliche Durchführbarkeit für die europäische Wirtschaft wurde häufig bestritten. Französische und deutsche Geschäftsleute betrachteten Henry Fords Kombination von niedrigen Autopreisen, hohen Löhnen und Massenproduktion als die Masche der Zukunft und den Schlüssel zum — wie es einige nannten — amerikanischen Neokapitalismus31. Aber sie schlössen eine solche Lösung für ihre Länder aus, weil sie sich in ein internationales System eingeschlossen fühlten, das eine malthusianische Begrenzung des Outputs und die Aufteilung stagnierender Märkte durch kartellähnliche Vereinbarungen erforderte: hierfür exemplarisch war das Internationale Stahlabkommen, das zwischen 1924 und 1927 unter viel Mühen ausgehandelt wurde. Auch dämpften preisunelastische Grundstoffe, wie Kohle und Eisen, die wirtschaftliche Prosperität, vor allem in Großbritannien, wo die Arbeitslosigkeit in den zwanziger Jahren nie unter 9 bis 10 Prozent fiel. Selbst als der wirtschaftliche Aufschwung in Europa fühlbar wurde, behielten die Geschäftsleute Angst vor der Zukunft und vor der Sättigung des Marktes, weil sie den deflationären Rahmenbedingungen der internationalen Wirtschaft nicht zu entkommen wußten. Zum ersten Mal sahen sich Europas Wirtschaftskreise konfrontiert mit dem andauernden Dilemma „Arbeitslosigkeit oder Inflation?" — ein Problem, dessen Lösung durch die Orthodoxie der Ökonomen damals noch zusätzlich erschwert wurde32. 2. Die zweite innere Schwäche des Systems war mehr politischer denn wirtschaftlicher Art. Der Organisierte Kapitalismus schuf sich selbst seine Feinde. Er diskriminierte Kleinunternehmer und Händler und brachte eine neue Klasse © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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von Angestellten hervor, deren Organisationen nicht imstande waren, ihre prekäre Lage zu überwinden. Die Gefahr lag darin, daß die betroffenen Gruppen nach neuen autoritären Mitteln in der politischen Arena suchen konnten, um dem Markt neue Regeln zu diktieren. In diesem Sinne erschien der Nationalsozialismus seinen Anhängern aus der Mittelschicht als ein Instrument, mit dem sich die unerträglichen Folgen des Organisierten Kapitalismus — Verlust der Selbständigkeit, geringerer proportionaler Anteil am Sozialprodukt — rückgängig machen oder doch unter Kontrolle bringen ließen33. Letztlich enthüllten die faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland die verschiedenen Deformationen, die ihren Gesellschaften eigen waren. Beide Bewegungen boten ihren Eliten politische Garantien gegen die Linke an, aber trotzdem gab es zwischen ihnen bedeutende funktionelle Unterschiede. Der italienische Faschismus stellt in der Tat einen autoritären Ersatz dar für die Entwicklung des Organisierten Kapitalismus von unten. Die relative Rückständigkeit der italienischen Wirtschaft und Gesellschaft führte zu einer entsprechend gering ausgebildeten Organisation der Interessengruppen; die Parteien boten ebenfalls nur ungenügend Schutz. Der Faschismus erreichte nach und nach unter autoritärer Führung jene Disziplinierung des Marktes, die die traditionelle politische Elite, die Grundbesitzer und selbst die neue, erst im Krieg entstandene wohlhabende agrarische Mittelschicht, forderten. Die Anhänger des italienischen Faschismus wußten, daß sie nur auf Kosten der Interessen der Arbeiterklasse weiterhin eine einflußreiche Rolle in Politik und Wirtschaft spielen konnten. Alte Eliten, einige Industrielle, neue und alte Grundbesitzer, sanktionierten Gewalttaktiken, weil die parlamentarische Eindämmung des Sozialismus, soweit sie überhaupt möglich war, offenbar nur langsam und zögernd erfolgte34. In Italien war eine mangelnde, in Deutschland eher die „Überorganisation" des Kapitalismus die Ursache für die militante Wendung gegen die politischen Führungsschichten und die sozialistische Arbeiterschaft. Wäre in Italien der Organisierte Kapitalismus so weit entwickelt gewesen wie in Deutschland, dann wäre der Faschismus überflüssig gewesen; wäre Deutschlands Organisierter Kapitalismus weniger massiv gewesen, dann hätte der Nationalsozialismus vielleicht nicht eine derartige Unterstützung durch die Mittelschichten gefunden. Schon die unterschiedlichen sozialen Funktionen, die der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus erfüllten, sollten jede simplifizierende Identifikation des Organisierten Kapitalismus (oder des korporativen Pluralismus) mit „dem Faschismus" ausschließen. VI. Die Begriffe korporativer Pluralismus oder Organisierter Kapitalismus lassen sich nicht eindeutig dem politischen Liberalismus oder einer autoritären Staatsform zuordnen. Dennoch legt die Erfahrung der zwanziger Jahre nahe, daß moderne Formen der Wirtschaftsorganisation eine demokratische Ordnung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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mit gewissen Risiken belasten, und es mag angemessen sein, diese zum Schluß zu betrachten. Selbst ohne ausgesprochen faschistische Tendenzen ruft Organisierter Kapitalismus die Möglichkeiten technokratischer Manipulation der Gesellschaft auf den Plan, indem seine mächtigen Interessenten gemeinsam in Richtung auf eine Monopolisierung von Macht und Kommunikation hinwirken. Zwei Lösungen dieses Problems schienen theoretisch möglich zu sein. Die erste ist das Mittel einer Anti-Trust-Gesetzgebung, d. h. der Versuch, die Konzentration der wirtschaftlichen Macht mit legalen Mitteln zu zerschlagen. In den kontinentalen Ländern hatte diese Lösung wenig Tradition, z. T. deshalb, weil der Idee der liberalen Marktwirtschaft die normativen Nebenbedeutungen abgingen, die ihr in Amerika und England anhaften. Und selbst in diesen Ländern war dieses Mittel oft ineffektiv. Bei der gegebenen Unvermeidlichkeit wirtschaftlicher Konzentration mögen andere Lösungen vorzuziehen sein. Galbraith vertraute auf die Wirksamkeit von „countervailing powers", aber er schien dabei zu übersehen, daß auch Interessengruppen gegensätzlicher Observanz zusammenarbeiten können, um ihre gemeinsamen Profitmöglichkeiten auf Kosten der unorganisierten Sektoren der Gesellschaft zu maximieren35. Wie man die Unorganisierten organisiert, war ein Problem der Weimarer Republik und bleibt ein wichtiges Problem in allen westlichen Ländern. Der moderne Staat, den Einflüssen mächtiger Interessengruppen ausgesetzt, hat Mühe, ein „Verbraucherinteresse" oder ein öffentliches Interesse zu institutionalisieren. „Ombudsmen" und Schutzverbände für Verbraucher, so wie sie in Amerika Ralph Nader unermüdlich organisiert, sind Lösungen von begrenzter Bedeutung. Auch das liberale Insistieren auf Chancengleichheit (z. B. durch Bildungsreform) schafft es nicht, die wirklichen Probleme der Macht in der modernen Wirtschaft anzusprechen. Gleiche Chancen und Sozialleistungen sind wertvolle Schritte; aber sie können auch dazu beitragen, daß die technokratischen Tendenzen erst recht stärker werden. Kann es angesichts dessen heute genügen, auf Hilferdings Analyse des Organisierten Kapitalismus, wie er sich zwischen 1915 und 1927 entwickelte, zurückzugreifen? Hilferding faßte das Problem der politischen und wirtschaftlichen Demokratie als ein Problem der Macht auf, aber gleichzeitig neigte er als Marxist dazu, die Interessen einer bestimmten Klasse mit dem allgemeinen Interesse gleichzusetzen. Wenn aber die Geschichte des Organisierten Kapitalismus den skeptischen Beobachter etwas lehren kann, dann dies, daß keine Klasse wirklich eine allgemeine Klasse ist und kein partikulares Interesse sich als das Gemeinwohl identifizieren läßt. Anmerkungen 1 R. Hilferding, Arbeitsgemeinschaft der Klassen?, Der Kampf 8. 1915, 322; ders., Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927; ders., Die Sozialisierung u. die Machtver-

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hältnisse der Klassen, Berlin 1920; ders., Probleme der Zeit, Die Gesellschaft 1. 1924, 1—13; ders., Das Finanzkapital (19101), Frankfurt 1968, 503 f. Vgl. W. Gottschalch, Strukturveränderungen der Gesellschaft u. politisches Handeln in der Lehre von R. Hilferding, Berlin 1962, 189—96, 204—9, sowie die Einleitung von H. A. Winkler zu diesem Band. 2 Organisationstrends in: H.-J. Puhle, Parlament, Parteien u. Interessenverbände 1890—1914, in: M. Stürmer Hg., Das Kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, 340 bis 77; Th. Nipperdey, Interessenverbände u. Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: H.-U. Wehler Hg., Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 19734, 369—78; Winkler, Pluralismus oder Protektionismus? Verfassungspolitische Probleme des Verbandswesen im deutschen Kaiserreich, Wiesbaden 1972; H. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft, Berlin 1967; D. Stegmann, Die Erben Bismarcks, Köln 1970; R. H. Wiebe, Businessmen and Reform, Chicago 1968, 18 ff.; J . Weinstein, The Corporate Ideal in the Liberal State, 1900—1918, Boston 1968; C. Kirkland, Industry Comes of Age: Business, Labor, and Public Policy 1860—1897, Chicago 1967, 195—236; J . C. Carr and W. Taplin, A History of the British Steel Industry, Cambridge/Mass. 1962, 254 fï.; E. Villey, L'organisation professionelle des employeurs dans l'industrie française, Paris 1923; M. Abrate, La lotta sindicale nella industrializzazione in Italia, 1906, Turin 1967, 31—41, 49—61. 3 P. A. C. Koistinen, The „Industrial-Military Complex" in Historical Perspective: World War I, Business History Review 41. 1967, 378—403; G. Soule, Prosperity Decade, From War to Depression, 1917—1929, New York 1968, 7—45; G. D. Feldman, Army, Industry, and Labor in Germany, 1914—1918, Princeton 1966, 41 ff.; W. Oualid und Ch. Picquenard, Salaires et tarifes, Conventions collectives et grèves: La politique du Ministère de l'Armament et du Ministère du travail, Paris 1928; E. M. H. Lloyd, Experiments in State Control at the War Office and the Ministry of Food, London 1924, 18—26, 259 ff.; S. Pollard, The Development of the British Economy 1914—1950, London 1962, 42—62; A. Caracciolo, La crescita e la transformazione della grande industria durante la prima guerra mondiale, in: Giorgio Fuà Hg., Lo sviluppo economico in Italia, Mailand 1969, 197—212; L. Einaudi, La condotta economica e gli effetti sociali della guerra italiana, Bari 1933, 99—178. 4 H. Flu, Les comptoirs métallurgiques d'après-guerre (1919—1922), Lyons 1924, 16—17, 36—56, 98 fT.; Die Lage der Stahlindustrie, in: M. Brelet, La crise de la métallurgie, La politique économique et sociale du Comité des Forges, Paris 1923; und vom Blickpunkt der Industrieführer: R. Pinot, Le Comité des Forges au service de la France, Paris 1919. 5 J . Reichert über Selbstverwaltung in: Beratungen über die Frage der Selbstverwaltungskörper, 12. Juni 1919, Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, 3. Juli 1919, 29—30. Vgl. (W. v. Moellendorff), Der Aufbau der Gemeinwirtschaft, Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums vom 7. Mai 1919, Jena 1919; R. Wisseil, Die Räte-Idee, Stuttgart 1919; dazu K. v. Klemperer, Germany's New Conservatism, Princeton 1957, 83—88. 6 Etienne Clémentels Pläne in: La Journée Industrielle, 25.—28. April 1919. Zum Widerstand der Stahlindustriellen: Villey, 30, 42—46, 57—60; vgl. Rjrelet, 99—103, 155—64, 169 ff.; A. François-Poncet, La vie et l'oeuvre de Robert Pinot, Paris 1927, 260—262. 7 Koistinen, 378—403; Feldman, 190 ff., 477 ff. 8 Zu den Preisbewegungen: W. Zimmermann, Die Veränderungen der Einkommensu. Lebensverhältnisse der deutschen Arbeiter durch den Krieg, in: W. Zimmermann u. a., Die Einwirkung des Krieges auf Bevölkerungsbewegung, Einkommen u. Lebenshaltung in Deutschland, Stuttgart 1932, 469—71; J . H. Rogers, The Process of Inflation in France, 1914—1927, New York 1929, 52, 57; Einaudi, 179—96; G. Prati, II Piemonte e gli effetti della guerra sulla vita economica e sociale, Bari 1925, 184—85; 14 Winkler, Kapitalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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Soule, 56—57; A. L. Bowley, Prices and Wages in the United Kingdom, 1914—1920, Oxford 1921. Zu den sozialen Wirkungen der Inflation: C. Bresciani-Turroni, The Economics of Inflation, London 1937, 286 ff.; Feldman, 459—77; R. Lewinsohn, Die Umschichtung der europäischen Vermögen, Berlin 1925. Zu den theoretischen Aspekten: R. J . Ball u. P. Doyle Hg., Inflation, Baltimore 1969. 9 P. Laroque, Les rapports entre patrons et ouvriers, Paris 1938, 300 ff.; Oualid u. Picquenard, 502—9; P. Spriano, L'occupazione delle fabbriche settembre 1920, Turin 1964, 40 ff.; R. Bachi, LTtalia economica nel 1921, Città del Castello 1922, 223—31; Ch. L. Mowatt, Britain between the Wars, 1918—1940, Chicago 1958, 119—32; G. D. H. Cole, Labour in the Coal Mining Industry (1914—1921), Oxford 1923, 163—262. 10 Über die veränderte Machtsituation Ende 1923: H. Bücher im Reichswirtschaftsrat, 18. 1. 24, Deutsches Zentralarchiv Potsdam, Reichswirtschaftsrat Nr. 1525, S. 233; auch in: Bücher, Finanz- u. Wirtschaftsentwicklung Deutschlands 1921—1925, Berlin 1925, 41. Für die Krise von 1923—24: Bresciani-Turroni; J . Hirsch, Rationalisierung und Arbeitslosigkeit, in: Industrie- und Handelskammer zu Berlin Hg., Die Bedeutung der Rationalisierung für das deutsche Wirtschaftsleben, Berlin 1928, 68; H.-H. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände u. Staat 1918—1933, Berlin 1967, 66—67, 101—16; L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949, 199—200, 294 f. Zu den parteipolitischen Konstellationen: M. Stürmer, Koalition u. Opposition in der Weimarer Republik 1924—1928, Düsseldorf 1967, 33 ff. 11 Zur Währungsstabilisierung: St. V. O. Clarke, Central Bank Cooperation 1924 to 1931, New York 1967, 45—107; L. V. Chandler, Benjamin Strong, Central Banker, Washington 1958, 291—331; H. Schacht, The Stabilization of the Mark, London 1927; Sir H. Clay, Lord Norman, London 1957; W. A. Brown, England and the New Gold Standard 1919—1926, New Haven 1929, 181—233; K. Elster, Von der Mark zur Reichsmark, Jena 1928, 215 ff.; E. Moreau, Souvenirs d'un gouverneur de la Banque de France, Paris 1954. 12 Lohn- und Arbeitsverhältnisse: A. Sauvy, Histoire économique de la France entre les deux guerres, I (1918—1931), Paris 1965, 284 ff., 344 ff.; Laroque, 309—345; G. Routh, Occupation and Pay in Great Britain 1906—1960, Cambridge 1965, 110 ff.; O. Neuloh, Die deutsche Betriebsverfassung u. ihre Sozialformen bis zur Mitbestimmung, Tübingen 1956, 243. Vgl. Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Ab« satzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Enquete-Ausschuß), IV. Unterausschuß, II: Die Arbeitsverhältnisse im Steinkohlenbergbau in den Jahren 1912 bis 1926, Berlin 1928; L. Rosenstock-Franck, L'économie corporative fasciste en doctrine et en fait, Paris 19342, 116 íT.; G. Salvemini, Under the Axe of Fascism, New York 1936, 220 to 252; über Löhne, vgl.: A. Fossati, Produzione e lavoro in Italia, Turin 1951, 631, 634; C. Vanutelli, Occupazione e salari in Italia dal 1861 al 1961 in: L'economia italiana dal 1861 al 1961, Mailand 1961, 570 f.; P. Fiorentina, Ristrutturazione capitalistica e sfruttamento operaio in Italia negli anni '20, in: Rivista Storica del Socialismo, Jan.—April 1967, 134—51. 13 Über die Zollverhandlungen 1924—1927: C. Nattan-Larrier, La production sidérurgique de l'Europa continentale et l'Entente Internationale de l'Acier, Paris 1929, 273 ff.; auch meine Arbeit: Recasting Bourgeois Europe: Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1974, gestützt auf die Akten des französischen Handelsministeriums, Archives Nationales F 12; des Finanzministeriums F 30, des deutschen Auswärtigen Amtes, Ser.: 4480 H, 4482 H, L 177, L 1489; des Firmenarchivs der Gutehoffnungshütte und der Compagnie de Saint-Gobain-et-Pont-à-Mousson. Zur Rolle der Bakiers in Clarke; Chandler, 247 ff., 291—331; Moreau, Souvenirs. 14 H. Hoover, American Individualism, Garden City 1922; vgl. E. W. Hawley, H. Hoover and the Expansion of the Commerce Department: the Anti-Bureaucrat as Bureaucratic Empire Builder, MS; A. Keyssar, The New Competition: A Study of © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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American Trade Associations in the 1920's, MS; National Industrial Conference Board, Trade Associations: Their Economic Significance and Legal Status, New York 1925; Pollard, 166—68; PEP (Political and Economic Planning), Industrial Trade Associations, London 1957. 15 A. Aquarone, L'organizzazione dello stato totalitario, Turin 1965, 114—22; R. Sarti, Fascism and the Industrial Leadership in Italy 1919—1940, Berkeley 1971, 47—49, 58—62, 69—78; Abrate, 435—48. 16 Liberal Industrial Inquiry, Britain's Industrial Future, London 1928, 93; vgl. Pollard, 165—74, über kartellähnliche Entwicklungen der 20er Jahre; auch dazu: R. S. Brady, The Rationalization Movement in German Industry, Berkeley 1933; Ch. S. Maier, Between Taylorism and Technocracy: European Ideologies and the Vision of Industrial Productivity in the 1920's, Journal of Contemporary History 5. 1970, 54—59. Über die italienische Ausnutzung der Stabilisierung: R. Sarti, Mussolini and the Italian Industrial Leadership in the Battle of the Lira 1925—1927, Past & Present 47. 1970, 97—112; R. De Felice, I lineamenti politici della „quanta novanta" attraverso i documenti di Mussolini e di Volpi, II Nuovo Osservatore 50. 1966, 370—420; P. Grifone, II capitale fìnanziario in Italia, La politica economica del fascismo, Turin 1971, 67—75, und die Einleitung in Grifone von V. Foa, XXXIV—XXXIX. Vgl. F. Guarneri, Battaglie economiche tra le due grandi guerre, Mailand 1953, I, 128 ff., 146—59; V. Castronovo, Potere economico e fascismo, Rivista di Storia Contemporanea 3. 1972, 290—92. 17 Zu den politischen und wirtschaftlichen Spannungen vor 1914: G. Dangerfield, The Strange Death of Liberal England, New York 19612; H.-G. Zmarzlik, Bethmann Hollweg als Reichskanzler, 1909—1914, Düsseldorf 1957; A. Rosenberg, Die Entstehung der Weimarer Republik, Frankfurt 1961; P.-C. Witt, Die Finanzpolitik des deutschen Reiches von 1903 bis 1913, Lübeck 1970, 58—80, 304—11, 356—76; E. Weber, The Nationalist Revival in France, 1905—1914, Berkeley 1959; F. Goguel, La politique des partis sous la 111° République, Paris 19583, 129—50; G. Carocci, Giolitti e l'età giolittiana, Turin 1961, 138 ff.; F. Gaeta, Nazionalismo italiano, Neapel 1965, 99—139; R. Webster, From Insurrection to Intervention, The Italian Crisis of 1914, Italian Quarterly 5 (20). 1961, u. 6 (21). 1962. Zur umfangreichen Literatur über Italiens schwerumkämpften Kriegseintritt 1914—1915 vgl. B. Vigezzi, L'Italia di fronte alla grande guerra, I. (L'Italia neutrale), Mailand 1966. 18 G. Lachapelle, Les battailles du franc, Paris 1928, 133 ff.; M. Wolfe, The French Franc between the Wars, 1919—1939, New York 1951, 25—53; D. B. Goldey, The Disintegration of the Cartel des Gauches and the Politics of French Government Finance, 1924—1928, phil. Diss. Oxford 1962; M. Soulié, La vie politique d'Edouard Herriot, Paris 1962, 220—77; für die deutsche Kontroverse: Stürmer, 91—98; M. Dorr, Die Deutschnationale Volkspartei 1925 bis 1928, phil. Diss. Marburg 1964, 325 bis 333; H. Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, III, 82, 121 ff. 19 Clarke, 72 fr.; Chandler, 261 íT.; W. Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921 — 1932, Düsseldorf 1970; M. Leífler, The Origins of Republican War Debt Policy 1921 — 1923, Journal of American History 59. 1972, 585—601; ders., Political Isolationism, Economic Expansionism, or Diplomatie Realism: American Policy toward Western Europe, 1921—1933, MS. 20 Aquarone, 130—46; R. De Felice, Mussolini il fascista, II (L'organizzazione dello stato fascista 1925—1929), Turin 1968, 326—37; über den großen und letzten faschistischen Streik: B. Uva, Gli scioperi dei metallurgici italiani del Marzo 1925, Storia contemporanea 1. 1970. 1011—77; P. Ungari, Alfredo Rocco e l'ideologia giuridica del fascismo, Brescia 1963, 91 — 109. 21 Vgl. Hilferding, Probleme der Zeit, 11; Gottschalch, 193. Eine analytische Behandlung des Begriffes des öffentlichen Interesses in: B. M. Barry, Political Argument, 14*

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London 1965, 187—291; ders., The Public Interest, Procedings of the Aristotelian Society, Suppl. 38. 1964, 1 — 18. 22 Zu den korporativen Tendenzen vgl. Winkler, Pluralismus, 1—37; ders., Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie u. Nationalsozialismus, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 17. 1969, 341—71; für das bürokratische Modell: J . Kocka, Industrielles Management: Konzeptionen und Modelle in Deutschland vor 1914, Vierteljahresschrift für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 56. 1969, 332—72; ders., Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914, Stuttgart 1969. 23 Zum italienischen Verbandswesen: Sarti, 7 ff.; Abrate, 31—41; zu den Vorkriegsbeziehungen zwischen Politik und Industrie: V. Castronovo, Economica e società in Piemonte dall'unita al 1914, Mailand 1969, 252—325; ders., Potere economico, 275—77. 24 Über das italienische Parteiwesen: C. Morandi, I partiti politici nella storia dTtalia, 19652; M. Vinciguerra, I partiti politici dal 1848 al 1955, Rom 1955; zur Einstellung der Industrie gegenüber dem Faschismus: Sarti, 16—17, 29 ff., 62—64; Castronovo, Potere economico, 283—90; Abrate, 372—77. 25 Maier, Recasting, VIII. Teil, sowie zu den Quellen: Anm. 13; vgl. M. Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1963; R. Bühler, Die Roheisenkartelle in Frankreich, Zürich 1934. 26 E. Bonnefous, Histoire politique de la Troisième Rápublique, IV (Cartel des Gauches et Union Nationale, 1924—1929), Paris 1960, 46—182. Über neue Gruppen: R. Kuisel, E. Mercier, French Technocrat, Berkeley 1967, 45—88; Millerand Akten, Bibliothèque Nationale Paris, Karton über die Fédération Nationale Républicaine, bisher unverzeichnet; R. Rémond, La droite en France de 1815 à nos jours, Paris 1954, 199—209. 27 Zu den korporativen Ansatzpunkten: S. H. Beer, British Politics in the Collectivist Age, New York 1967; A. W. Rather, Planning under Capitalism, London 1935. Zum Beispiel einer Schlüsselindustrie: Carr u. Taplin, 337 ff. Zur Einstellung der Labour Party und der Gewerkschaften: G. D. H. Cole, A History of the Labour Party from 1914, London 1948; A. Gleason, What the Workers Want, New York 1920; vgl. A. Bullock, The Life and Times of Ernest Bevin, I, London 1960, 392 ff. 28 Über Hoover vgl. Anm. 14; zum Swope-Plan: E. W. Hawley, The New Deal and the Problem of Monopoly, Princeton 1966, 41 f. (die beste Übersicht über die Wirtschaftskonzeptionen des New Deal). 29 Hilferding, Aufgaben 169; Gottschalch, 207; vgl. über die Probleme des „interest group liberalism": Th. J . Lowi, The End of Liberalism, New York 1969; G. McConnell, Private Power and American Democracy, New York 1966. v 30 Zu den Problemen der späten zwanziger Jahre: M. E. Falkus, United States Economic Policy and the „Dollar Gap" of the 1920's, Economic History Review 24. 1971, 599 ff.; P. Temin, The Beginning of the Depression in Germany, ebd. 24. 1971, 240—48, betont die binnenwirtschaftlichen Gründe der deutschen Krise; dazu auch Clarke, 147—171; zur italienischen Rezession: Guarneri, 157—60. Über die internationale Resonanz: J . Jacobson, Locarno Diplomacy, Germany and the West, 1925 to 1929, Princeton 1972, 262 ff. 31 Zur Anwendbarkeit amerikanischer Formen der Wirtschaftsorganisation in Europa und zur Furcht vor der Übersättigung des Marktes: Maier, Between Taylorism and Technocracy, 54—61; E. Mercier, Les conséquences sociales de la rationalisation en France, in: Redressement Français, L'aspect social de la Rationalisation, Paris 1927; ders., La produetion et le travail, Paris 1927; A. Detoeuf, La réorganisation industrielle, Paris 1927; E. Giscard d'Estaing, Le néocapitalisme, Revue des Deux Mondes, 1. August 1928; vgl. Fiorentina, 137—45; Pollard, 173 f.; für Deutschland: P. Berg, Deutschland u. Amerika 1918—29, Lübeck 1963, 96—132. 32 Zur Stagnation der 20er Jahre: I. Svennilson, Growth and Stagnation in the © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

Strukturen kapitalistischer Stabilität in den zwanziger Jahren

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European Economy, Genf 1954, 82 ff., 105 ff., 124 ff.; D. H. Aldcroft, The InterWar Economy: Britain 1919—1939, London 1970, 18—22, 145—76. 33 Resümee und Bewertung dieser Tendenzen bei Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus, Köln 1972, bes. 157 ff.; ders., Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung, VfZ 20. 1972, 175—91. 34 Im Gegensatz zu jener italienischen Interpretation, die den Faschismus als Bewegung der piccola borghesia sehen möchte (z. B. M. Missiroli, II fascismo e la crisi italiana (1921), jetzt in: II fascismo e il colpo di stato dell'ottobre 1922, Rocca San Casciano 1966, 91—93; A. Gçamsci und andere marxistische Beobachter in Foa, Introduzione, XI; und neuerdings in: E. Santarelli, Storia del movimento e del regime fascista, Rom 1967, I, 218—22) scheint mir der Faschismus in Italien weniger als der Nationalsozialismus von Mittelstandsproblemen bestimmt. Wichtig war die unterschiedliche Lage der Landbevölkerung: Schulden, niedrige Preise, usw. verursachten in Deutschland Sorgen; in Italien dagegen gab es nach der Kriegsinflation eine neue Schicht von selbständigen Bauern. Vgl. Istituto Nazionale di Economia Agraria, Inchiesta sulla piccola proprieta formatasi nel dopoguerra, XV, G. Lorenzoni, Relazione finale. L'ascesa del contadino italiano nel dopoguerra, Rom 1938; ferner: A. Serpieri, La struttura sociale dell'agricoltura italiana, Rom 1947, 122—24. 35 J . K. Galbraith, American Capitalism, Boston 1952.

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Vorläufige Schlußbemerkungen Von HEINRICH AUGUST WINKLER

Die Arbeitsgemeinschaft „Voraussetzungen und Anfänge des ,Organisierten Kapitalismus' ", die auf dem Regensburger Historikertag im Oktober 1972 ein „Werkstattgespräch" über ein Thema der neueren politischen Sozialgeschichte führte, war in mehrfacher Hinsicht ein Experiment — und als solches mit einer Reihe von Mängeln behaftet. Erstmals sollte auf einem Historikertag eine Arbeitsgemeinschaft während der Gesamtdauer des Kongresses tagen, um einen umfassenden und kontroversen Problembereich intensiver erörtern zu können als dies in den herkömmlichen Sektionen möglich ist. Trotz bedauerlicher zeitlicher Überschneidungen mit anderen Arbeitsgruppen — Überschneidungen, die bei dem isolierten Charakter unseres Versuchs offenbar nicht zu vermeiden waren — hat diese Neuerung sich nach einhelliger Meinung bewährt. Allerdings wird eine solche Veranstaltung nur dann diskussionsintensiv sein können, wenn den interessierten Teilnehmern rechtzeitig die Sektionspapiere zugestellt werden. Daß dies im Fall Regensburg nicht geschah, hat unsere Arbeit spürbar erschwert. Größeres Gewicht haben die inhaltlichen Probleme. Die Beschränkung auf einige wenige Länder spiegelt einerseits „Sachzwänge" wider, die sich aus der Kürze der Vorbereitungszeit ergaben, andererseits wohl aber auch gewisse Ungleichmäßigkeiten der gegenwärtigen Forschungslage. Ein besonders gravierendes Manko war, daß Frankreich in Regensburg ausgeklammert werden mußte. Dankenswerterweise hat Gerd Hardach durch seinen im vorliegenden Band abgedruckten Beitrag zur Rüstungspolitik, der einen Aspekt der französischen Entwicklung behandelt, diesem Mangel partiell abgeholfen. Die osteuropäische Lücke aber (von Japan ganz zu schweigen) klafft weiter. Die Referenten der Regensburger Arbeitsgemeinschaft und Autoren dieses Bandes sind sich des fragmentarischen Charakters ihrer Bemühungen wohl bewußt. Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums auf etwa fünf Jahrzehnte — von den 1870er Jahren bis zum „Ende der Nachkriegszeit" um 1923/24 — war vor allem ein Ausdruck arbeitsökonomischer Erwägungen. Die Diskussion hat uns dann freilich klar gemacht, daß wir in der Tat nicht mehr getan haben, als die Anfänge eines sozialgeschichtlichen Phänomens zu erörtern. Hätten wir unsere Überlegungen s.ls Beitrag zur theoretischen und sozialökonomischen Vorgeschichte jener Strategie wirtschaftpolitischer Stabilisierung konzipiert, die gemeinhin als „Keynesian Revolution" bezeichnet wird, so wäre wahrscheinlich der Begriff „Organisierter Kapitalismus" leichter gegen die Vermutung zu ver-

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Vorläufige Schlußbemerkungen

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teidigen gewesen, er beruhe bloß auf einer distinctio rationis, sei also ein intellektuelles (wenn nicht gar ideologisches) Konstrukt. Darauf ist sogleich zurückzukommen. Es kann natürlich nicht die Aufgabe vorläufiger Schlußbemerkungen sein, die „ofíen gebliebenen Fragen" zu beantworten, Gegensätze zu harmonisieren und alle wirklichen oder denkbaren Mißverständnisse auszuräumen. Ich möchte mich vielmehr darauf beschränken, stichwortartig drei Probleme anzuschneiden, die beim Fortgang der Diskussion eine wichtige Rolle spielen dürften. Erstens geht es um die nur zum Teil terminologische Frage, ob im Begriff des „Organisierten Kapitalismus" nicht ein Mißverständnis der Periode angelegt ist, von der er sich historisch gerade abheben soll. Zweitens steht die mit dem ersten Problem eng verknüpfte Periodisierungsfrage zur Debatte: Anhand welcher Kriterien soll der Übergang zum Organisierten Kapitalismus bestimmt werden? Drittens ist nach den Grenzen des Begriffs zu fragen: Welche Sektoren der Wirklichkeit werden durch diesen Raster nicht erfaßt? Was kann der Begriff nicht leisten? Zum ersten der angesprochenen Probleme: Offenkundig suggeriert der Begriff „Organisierter Kapitalismus" die Vorstellung von einer Periode des „unorganisierten Kapitalismus", die ihm zeitlich vorausgegangen ist. Was Volker Sellin für Italien nachgewiesen hat — daß nämlich dort von einer solchen Phase keine Rede sein kann —, ließe sich wohl für die Industrialisierungsprozesse in vielen anderen Ländern, so auch für das Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts, zeigen: Sozialökonomische Unterentwicklung macht ein besonders hohes Maß an Staatsaktivität wahrscheinlich. Aber es bleibt ein Unterschied, ob die staatlichen Interventionen darauf abzielen, die Industrialisierung in Gang zu setzen — oder ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu bewältigen. Der Begriff des „Organisierten Kapitalismus", wie Hilferding ihn konzipiert hat, stellt nicht ab auf staatliche Starthilfen im Zuge des Industrialisierungsprozesses, sondern auf Interventionen, die der Stabilisierung eines bereits etablierten, durch wirtschaftliche und/oder soziale Krisen erschütterten kapitalistischen Wirtschaftssystems dienen sollen. Der Hinweis auf diese unterschiedlichen Funktionen von staatlicher Wirtschaftssteuerung ist durchaus mit der Annahme vereinbar, daß beide Phasen unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbar ineinander übergehen, ja sich zeitlich überschneiden können. „Verspätung" und „Verfrühung" liegen, wie insbesondere auch der deutsch-englische Vergleich zeigt, in ein und derselben Gesellschaft manchmal sehr nahe beieinander. Damit komme ich zum zweiten Problem, der Periodisierungsfrage. Ein Konsens darüber, von wann ab man von „Organisiertem Kapitalismus" sprechen kann, ist in Regensburg nicht erzielt worden. Es verursacht große methodische Schwierigkeiten, zuverlässige — im Grenzfall: exakt quantifizierbare — Kriterien für eine gemeinsame Periodisierung mehrerer der Entwicklungsstränge zu finden, die im Begrifîsaggregat „Organisierter Kapitalismus" zusammenlaufen. Jürgen Kocka hat in einer Anmerkung (22) zu seinem Beitrag angeregt, den Begriff mit der Periodisierung konjunktureller Trendperioden (nach Kondra© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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tieff, Spîethoff, Schumpeter u. a.) zu verkoppeln. Für Deutschland schlägt er selbst folgende Einteilung vor: „Industrielle Revolution" von den 1830er Jahren bis 1873, „Große Depression" 1873—1896, Übergang zum „Organisierten Kapitalismus" von der Mitte der neunziger Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, „Organisierter Kapitalismus" seitdem. Auf einige Aspekte dieses Vorschlags möchte ich kurz eingehen. Es scheint in der Tat, daß während der 1890er Jahre in Deutschland die Entwicklung einen Sprung gemacht hat. Bereits um 1908 hat H. E. Krueger darauf hingewiesen, daß es einen Zusammenhang zwischen den Wellen der Konjunktur und der Verbandsbildung gebe1. Um 1896, also beim Beginn einer neuen Aufschwungsphase, setzt geradezu ein Boom in der Organisation wirtschaftlicher Interessen ein. Krueger zählt 104 Fach- u. ä. Verbände, 56 Konventionen und Kartelle und 138 Arbeitgeberverbände, die allein zwischen 1896 und 1900 gegründet wurden: Rekordzahlen auch auf dem Hintergrund der organisationsfordernden Depression. Verbandsbildend wirken jetzt aber andere Faktoren. Zu nennen sind die fortschreitende ökonomische Differenzierung etwa zwischen Rohstoff-, Halbzeug- und Fertigindustrien, wobei der Aufstieg von Elektrotechnik und Chemie zu neuen industriellen „Leitsektoren" eine Schlüsselrolle spielt; der aus Depressions- und Aufschwungserfahrung genährte Wunsch, den eigenen Anteil am Sozialprodukt präventiv zu sichern und zu vergrößern; der Zugzwang, der sich für die Arbeitgeberseite aus der fortschreitenden gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter ergibt. Was die Arbeiterschaft und ihre Kampfmittel angeht, so haben unlängst Hartmut Kaelble und Heinrich Volkmann für das Deutschland der 1890er Jahre einen wesentlich durch den Konjunkturaufschwung bedingten Strukturwandel des Streiks konstatiert: „Aus der defensiven Arbeitsverweigerung als Protest gegen schlechte Arbeitsbedingungen wurde die kalkulierte Demonstration der Stärke im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. Sie sollte bei möglichst geringen Kosten möglichst effektiv sein. Entsprechend tendierte die durchschnittliche Streikbeteiligung nach oben, seine Dauer und unkontrollierte Militanz nach unten. Der moderne ökonomische Streik ist häufig kurz und beteiligungsstark. Er ist zentral geplant und gesteuert." Die Autoren sehen in dem skizzierten Strukturwandel des Arbeitskampfes ein Indiz für den Übergang in eine neue Phase der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die auch sie mit dem Begriff „Organisierter Kapitalismus" belegen2. Was auf dem Gebiet der Organisation wirtschaftlicher Interessen in den späten 1890er Jahren geschah, ist sicherlich weithin eine Systematisierung und Steigerung von Ansätzen gewesen, die sich bis zur Krise von 1873, und zum Teil darüber hinaus, zurückverfolgen lassen. Die von Krueger und neuerdings von Kaelble und Volkmann beigebrachten Daten legen aber den Schluß nahe, daß der „Umschlag von der Quantität in die Qualität" erst nach dem Ende der „Großen Depression" erfolgt ist. Für Kockas Periodisierungsvorschlag würden dadurch, was den Übergang zum Organisierten Kapitalismus angeht, zusätzliche Argumente erwachsen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

Vorläufige Schlußbemerkungen

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Hingegen scheint es mir fraglich, ob der Prozeß des Übergangs mit dem Ersten Weltkrieg tatsächlich schon abgeschlossen war. Gegen diese These spricht einmal die Tatsache, daß viele „Kriegserrungenschaften" sich als durchaus reversibel erwiesen. Erst im historischen Rückblick konnte der Krieg dann als das Laboratorium erscheinen, in dem der „Organisierte Kapitalismus" im großen Stil „erprobt" wurde: als nach 1929 nämlich die Analogie von Krieg und Krise entdeckt und in fast allen Industriestaaten auf das personelle und institutionelle Wirtschaftslenkungsarsenal der Jahre 1914—18 zurückgegriffen wurde3. Zum anderen sollte das Stabilisierungspotential, über das kapitalistische Systeme vor 1929 verfügte, nicht überschätzt werden. Insbesondere besteht kein Grund, Hilferdings Beurteilung der Kartelle als Faktoren der Krisenmilderung zu übernehmen. Wenn aber „Stabilisierung" — dem Effekt, und nicht nur der Intention nach — ein wesentliches Kennzeichen von Organisiertem Kapitalismus sein soll, muß dem konjunkturpolitischen Instrumentarium besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die staatliche Konjunkturpolitik ist jedoch erst in den 1930er Jahren, im Zuge der Rezeption der Keynes'schen Theorie soweit entwickelt worden, daß sie zum klassischen Mittel ökonomischer Krisenbekämpfung werden konnte. Erst seit der Durchsetzung einer antizyklischen Konjunkturpolitik sollte man daher von einem entwickelten „Organisierten Kapitalismus" sprechen4. Die Frage nach den Grenzen des Begriffs, unser drittes, nur noch knapp anzudeutendes Problem, zielt auf die politischen Inplikationen des Organisierten Kapitalismus. In bewußter Verkürzung soll hier die These vertreten werden, daß die unterschiedliche politische Entwicklung moderner (nicht nur, aber auch: kapitalistischer) Gesellschaften wesentlich durch vor industrielle Faktoren bestimmt ist5. So hat die Abwesenheit feudaler und absolutistischer Traditionen in den USA demokratische Entwicklungen begünstigt, während in Italien und Deutschland das starke Gewicht vorkapitalistischer Elemente und Ideologien zu den wichtigsten Bedingungen für den Erfolg der faschistischen Bewegungen gehörten. Hans Medicks sicherlich richtiger Hinweis auf die atypischen, zu einem großen Teil ebenfalls vorindustriellen Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung Englands genügt m. E. aus drei Gründen nicht, um die These von der „politischen Polyvalenz" (H.-U. Wehler) des Idealtyps „Organisierter Kapitalismus" zu entkräften. Einmal gibt es, wenn man beispielsweise an die skandinavischen Staaten denkt, eine Reihe anderer Fälle von demokratischer Transformation des Kapitalismus. Zum anderen ist auch in England selbst der volle Durchbruch zum Sozialstaat erst erreicht worden, nachdem auch auf anderen Gebieten der Organisierte Kapitalismus seine rudimentären Formen hinter sich gelassen hatte — ein Prozeß, der jedoch, was keine historische Relativierung aus der Welt schafft, niemals zu einem Bruch mit dem liberal-parlamentarischen System führte. Schließlich sollte über der sozialstaatlichen Komponente politischer Systeme die rechtsstaatliche nicht aus dem Blickfeld verdrängt werden, und unter diesem Gesichtspunkt können die Unterschiede zwischen der liberal-demo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35960-1

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kratischen und der faschistisch-totalitären Erscheinungsform des Organisierten Kapitalismus nur als schlechthin fundamental verstanden werden. Gesellschaftliche Theorien, die die Rolle vorkapitalistischer Elemente nicht reflektieren, bedürfen in jedem Fall der Ergänzung und Verfeinerung, ehe sie für den Vergleich politischer Strukturen und Abläufe verwendbar werden. Das gilt auch für die von Hilferding entwickelte Theorie des „Organisierten Kapitalismus" — und es ist nicht ihr einziger Mangel. So ist namentlich das Verhältnis von Ökonomie und Rechtsordnung, für Hilferding gewiß ein eminent praktisches Problem, nicht zum integrierenden Bestandteil seiner Theorie geworden. Seine Konzeption ist weit davon entfernt, jene Theorie der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse zu sein, deren ein historisch fundierter Vergleich der konkurrierenden sozialen und politischen Systeme der Gegenwart bedürfte. Aber als eine offene und ergänzungsfähige Theorie der Entwicklungsgeschichte eines ökonomischen Systems ist sie zugleich auch ein grundlegender Beitrag zu dem, was von den Sozialwissenschaften noch zu leisten ist.

Anmerkungen 1 H. E. Krueger, Historische u. kritische Untersuchungen über die freien Interessenvertretungen von Industrie, Handel und Gewerbe in Deutschland, Schmollers Jahrbuch 32. 1908, 1581—614; 33. 1909, 617—68. 2 H. Kaelble u. H. Volkmann, Konjunktur u. Streik während des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus in Deutschland, Zeitschrift für Wirtschafts- u. Sozialwissenschaften (bisher: Schmollers Jahrbuch) 92. 1972, 513—44. 3 Allgemein: R. A. Brady, Business as a System of Power, New York 1943; für die USA jetzt bes.: W. E. Leuchtenburg, The New Deal and the Analogue of War, in: J . Braeman u. a. Hg., Change and Continuity in Twentieth Century America, New York 1966, 81—143. 4 Hinsichtlich der praktischen Rezeption der Keynes'schen Theorie ergeben sich bezeichnende Differenzen zwischen den USA und Deutschland. In Amerika ist vor 1937 („Roosevelt Depression") nur von einem pragmatischen und halbherzigen „deficit spending" zu sprechen; erst danach hat eine bewußt antizyklische Haushaltspolitik eingesetzt. In Deutschland ist die neue Lehre mit jahrzehntelanger, durch den Nationalsozialismus bedingter Verspätung rezipiert worden. Auf konjunkturpolitischem Gebiet dreht sich das Verhältnis von „Verfrühung" und „Verspätung" bei der Herausbildung des Organisierten Kapitalismus zwischen Deutschland und den angelsächsischen Ländern in der Tat um. In Modifikation der These von Charles Maier, daß die „Uberentwicklung" des Organisierten Kapitalismus in Deutschland eine Bedingung für die Erfolge des Nationalsozialismus in den Mittelschichten bildete, ließe sich auch sagen, daß auf dem Gebiet von Konjunkturtheorie und -politik es eher eine spezifische Unterentwicklung war (Brünings starre Deflationspolitik!), die dem Nationalsozialismus den Boden bereitete. Vgl. für Amerika außer H.-J. Puhles Beitrag in diesem Band insbes. E. W. Hawley, The New Deal and the Problem of Monopoly, Princeton 1969; zur frühen deutschen Keynes-Diskussion etwa, wenn auch insgesamt wenig befriedigend: W. Krause, Wirtschaftstheorie unter dem Hakenkreuz, Berlin 1969. 5 Hierzu z.B.: A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge/Mass. 1962; ders., Continuity in History, Cambridge/Mass. 1968; B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur u. Demokratie, Frankfurt 1969, sowie J . Kockas Beitrag in diesem Band.

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Abkürzungsverzeichnis AAA ADGB AfA-Bund AN BA BBHS BHR BUG CAB DG EHR EWG FTC Fs. HA/GHH IRI JbWG JO MEW MSPD NAM NCF NFTC NRA SHA SFIO Stamokap USPD VfZ ZDI AH éts. FBI ICI IG Farben KPR/B MICUM S. A. ZK der SED

Agricultural Adjustment Administration Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Allgemeiner freier Angestelltenbund Archives Nationales, Paris Bundesarchiv, Koblenz Bulletin of the Business History Society Business History Review Bulletin des Usines de Guerre Kabinettsakten im Public Record Office London Die Gesellschaft Economic History Review Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Federal Trade Commission Festschrift Historisches Archiv der GutehorTnungshütte Istituto per la ricostruzione industriale Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Journal Officiel Marx-Engels-Werke Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands National Association of Manufacturers National Civic Federation National Foreign Trade Convention National Recovery Administration Service Historique de l'Armée, Vincennes Section Française de l'Internationale Ouvrière Staatsmonopolistischer Kapitalismus Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Zentralverband Deutscher Industrieller L'Actualité de L'Histoire Etablissements Federal Bureau of Investigation Imperial Chemical Industries Ltd. Interessengemeinschaft Farben Kommunistische Partei Rußlands/Bolschewiki Mission Interallié de Contrôle des Usines et des Mines Société Anonyme Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands

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Autorenverzeichnis Gerald D. Feldman, Jg. 1937; Studium der Geschichte; Prof. of History, University of California, Berkeley. Veröffentlichungen: Army, Industry and Labor in Germany, 1914—1918, Princeton 1966; Aufsätze zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Gerd Hardach, Jg. 1941; Studium der Wirtschafts- u. Sozialwissenschaften; Prof. für Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Universität Marburg. Veröffentlichungen: Der soziale Status der Arbeiter in der Frühindustrialisierung 1800—1870, Berlin 1969; Der Erste Weltkrieg 1914—1918 (dtv— Geschichte der Weltwirtschaft) München 1974; Aufsätze zur neueren Wirtschaftsgeschichte. Jürgen Kocka, Jg. 1941; Studium der Geschichte u. Politischen Wissenschaft; o. Prof. für Allg. Geschichte u. b. B. der Sozialgeschichte, Universität Bielefeld. Veröffentlichungen: Unternehmenverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus u. Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969; Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918, Göttingen 1973; Aufsätze zur deutschen und amerikanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zu theoretischen Fragen. Charles S. Maier, Jg. 1939; Studium der Geschichte; Lecturer in History, Harvard University, Cambridge/Mass., USA. Veröffentlichungen: Recasting Bourgeois Europe: Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1974; Aufsätze zur deutschen und amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Hans Medick, Jg. 1939; Studium der Geschichte, Philosophie, Politischen Wissenschaft, Soziologie; Wiss. Referent am Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen. Veröffentlichung: Naturzustand u. Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie u. Sozialwissenschaft bei S. Pufendorf, J . Locke u. A. Smith, Göttingen 1973. Hans-Jürgen Fühle, Jg. 1940; Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft, Soziologie, Philosophie; Privatdozent, Universität Münster. Veröffentlichungen: Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus

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Autorenverzeichnis

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im Wilhelminischen Reich (1893 —1914), Hannover 1966; Politik in Uruguay, Hannover 1968; Tradition und Reformpolitik in Bolivien, Hannover 1970; Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, Wiesbaden 1972; Aufsätze zur deutschen und amerikanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Volker Seilin, Jg. 1939; Studium der Geschichte, Philosophie; Wiss. Assistent am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Veröffentlichung: Die Anfänge staatlicher Sozialreform im liberalen Italien, Stuttgart 1971. Hans-Ulrich Wehler, Jg. 1931; Studium der Geschichte und Soziologie; o. Prof. für Allg. Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts, Universität Bielefeld. Veröffentlichungen: Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723; Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt 1973; Das Deutsche Kaiserreich 1871 — 1918, Göttingen 1973; Krisenherde des Kaiserreichs 1871 — 1918, Göttingen 1970; Sozialdemokratie u. Nationalstaat 1840—1914, Göttingen 19712; Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus 1865—1900, Göttingen 1973; Hg. von Sammelwerken; Aufsätze zur deutschen und amerikanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zu theoretischen Fragen. Bernd-Jürgen Wendt, Jg. 1934; Studium von Geschichte, Latein, Philosophie, Pädagogik; o. Prof. für Geschichtswissenschaft an der Gesamthochschule Kassel. Veröffentlichungen: München 1938, England zwischen Hitler u. Preußen, Frankfurt 1965; Economic Appeasement, Handel u. Finanz in der britischen Deutschland-Politik 1933—1939, Düsseldorf 1971; mit J . Geiss Hg., Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Festschrift F. Fischer, Düsseldorf 1973. Aufsätze zur deutschen und englischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Heinrich August Winkler, Jg. 1938; Studium der Geschichte, des öffentlichen Rechts, der Politik; o. Prof. für Neuere u. Neueste Geschichte, Universität Freiburg. Veröffentlichungen: Preußischer Liberalismus u. deutscher Nationalstaat, Tübingen 1964; Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus, Köln 1972; Pluralismus oder Protektionismus? Wiesbaden 1972; Hg., Die große Krise in Amerika, Göttingen 1973; Aufsätze zur deutschen und vergleichenden Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

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Personenregister Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Anmerkungsteil. In den Anmerkungen genannte Autoren sind nicht aufgeführt, soweit es sich dabei um reine Literaturangaben handelt. Addison, Christopher 123, 143—46 Amery, Leopold Stennet 139 Arnold, Thurman 205 Asquith, Herbert Henry 127, 129 f. Balfour of Burleigh, Lord Arthur 138 Baruch, Bernard 115, 183, 192 Berle, Adolph 181 Bernstein, Eduard 55, 78 Bevin, Ernest 132, 145 Bismarck, Otto v. 41, 45, 47, 177 Bonelli, Franco 91 f. Brandeis, Louis D. 179 f., 192 Briand, Aristide 111, 115 Brodnitz, Georg v. 79 Brown, A. J . 69 Brüning, Heinrich 13, 167, 218 Bryan, William Jennings 181 Bueck, Henry Axel 50 Calzavarini, Mirella 90 Capone, AI 189 Carter, G. R. 62 Castronovo, Valerio 91 Cavour, Graf Camillo Benso di 86, 94 Chamberlain, Joseph 68 f., 136—39 Chamberlain, Neville 139 Churchill, Winston 69, 124, 128, 136, 143 Citroen, Andre 103 Clapham, Sir John Harold 60, 76 Clémenceau, Georges 111, 116, 197 Clémentel, Etienne 197 Coats, T. u. P. 61 CofTin, Howard E. 192 Coolidge, Calvin 183 Crispi, Francesco 201 Croly, Herbert 179 Crozier, Michel 203 Curzon, Lord George Nathaniel 127 Dallolio, Alfredo 96 Dobb, Maurice 24 Duisberg, Carl 156 f., 162, 164, 168, 171 Einaudi, Luigi 92 Engels, Friedrich 55 Faure, Paul 110 Feldman, Gerald D. 30, 32—34, 196 Fischer, Emil 155, 159 Ford, Henry 206 Forrestal, James 205

Freidel, Frank 182 Funcke, Oskar 170 Galbraith, Kenneth 55, 208 Garfleld, James Abraham 192 Gary, Elbert H. 180, 192 Gerschenkron, Alexander 24, 83, 90, 94 Giíford, Walter S. 192 Giolitti, Giovanni 200 Class, Carter 180 Groener, Wilhelm 160 Guesde, Jules 111, 115 Haber, Fritz 155 Halévy, Elie 74 Hamacher, Friedrich 40 Hanna, Mark 178 Hardach, Gerd 8, 214 Harding, Warren G. 183 Haugen, Gilbert N. 185, 192 Henderson, Arthur 130, 132 Hewins, William A. S. 138 Hilferding, Rudolf 8, 9—16, 16—18, 26 f., 59, 66, 70, 83, 92, 109, 112 f., 116, 117—19, 142, 151, 160, 167, 169 bis 171, 172, 195, 205, 208, 215, 217 f. Hindenburg, Paul v. 170 Hobsbawm, Eric 68, 75, 81, 123 Hobson, John Atkinson 77, 81 f. Hoover, Herbert 183, 186, 192, 199, 201, 204 Horkheimer, Max 59 Humphrey, William E., 183 Hurwitz, Samuel J . 126 Jackson, Andrew 174 JerTerson, Thomas 174 Johnson, Hugh 192 Kaelble, Hartmut 216 Kautsky, Karl 17 KondratiefT, Nikolai D. 24, 33, 215 f. Krueger, Hermann E. 216 Krupp v. Bohlen u. Halbach, Gustav 171 Kuda, Rudolf 119 Kuhn, Thomas S. 36 Kehr, Eckart 62 Kerr, K. Austin 192 Keynes, John Maynard 13, 152, 167, 175, 214, 217, 218

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Personenregister Krueger, Hermann E. 216 Krupp v. Bohlen u. Halbach, Gustav 171 Kuda, Rudolf 119 Kuhn, Thomas S. 36 Langer, William 189 Laughlin, J . Laurence 180 Legge, Alexander 192 Legien, Carl 158 Lenin, Wladimir I. 23, 26, 28, 34, 81 Levy, Hermann 61, 63 Lloyd George, David 120, 123, 125, 127 bis 130, 133, 140, 143 f. Locke, John 174 Long, Huey 189 Long, Walter 139 Loucheur, Louis 109, 115, 196 Ludz, Peter C. 46 MacDonagh, O. 71 Mackinder, Sir Haiford John 69 f. Maier, Charles S. 32, 34, 170, 218 Malthus, Thomas Robert 166, 170, 206 Mandel, Ernest 53 Marx, Karl 9, 14 f., 17, 36, 42—44, 49, 53, 55, 59, 78, 176 Mason, Tim 81 Matschoß, Conrad 155 McAdoo, William G. 183 McKenna, Reginald 124 f. McNary, Charles 185, 192 Medick, Hans 217 Meyer, Eugene 192 MM, John St. 42, 89 Millerand, Alexandre 104 Moellendorff, Wichard v. 160 f., 196, 199 Mond, Sir Alfred 146 Mottek, Hans 34 Mussolini, Benito 199, 201—203 Nader, Ralph 208 Naphtali, Fritz 13 f., 27, 117 Newton, Isaac 37 Offe, Claus 34 f. Olivetti, Gino 202 Olson, Floyd B. 189 Peek, George 192 Pelloux, Luigi 201 Perrone, Pio u. Mario F. 98 Pinot, Robert 114 Pollard, Sidney 75, 81, 120 Popper, Karl R. 118 Rathenau, Walther 160, 199 Reichert, Jacob 161, 171 Renault, Louis 110, 115

223

Reusch, Paul 164, 170 f. Roberts, Samuel 128 Romeo, Rosario 87, 99 Roosevelt, Franklin D. 178, 183, 186, 192 f., 218 Roosevelt, Theodore 179 Rosenberg, Hans 32 f., 150, 166 Rosenwald, Julius 192 Rossi, Alessandro 86 Rossoni, Edmondo 201 Rostow, Walt D. 85 Runciman, Walter 124, 128, 130 Salter, James A. 126 Saul, Samuel B. 66 f. Saville, John 83 Schlubach, Heinrich A. 168 Schneider, Eugene 110 Schumpeter, Josef A. 24, 33, 39, 92, 216 Schwab, Charles M. 192 Sella, Quintino 88 Seilin, Volker 33 f., 202, 215 Sembat, Marcel 111, 115 Shaw, George Bernard 64 Silverberg, Paul 163 f., 170 Smith, Adam 38, 43, 85 Sombart, Werner 18, 56 Sorge, Kurt 155 Spiethoff, Arthur 33, 216 Staudinger, Hans 32, 166 f. Stinnes, Hugo 157 f., 162—64, 168—70 Strong, Benjamin 182, 201 Swope, Gerard 183, 204 Taussig, Frank W. 180 Tawney, Richard H. 126 Taylor, Alan J . P. 139 Thomas, Albert 108—11, 113, 115 f. Thomas, James H. 132, 145 Tugwell, Rexford G. 182 Turner, Frederick T. 189 Vogler, Albert 156 f., 161, 163 Volkmann, Heinrich 216 Wagner, Adolph 48 Watkins, J . W. N. 129 Weber, Max 28, 36, 46 Wehler, Hans-Ulrich 24, 31, 33, 58 f., 69, 112, 151 f., 166, 217 Wiedfeldt, Otto 157 Willard, Daniel 192 Williams, William A. 188, 192 Wilson, Woodrow 179—81 Wisseil, Rudolf 161 f., 196 Zaharoff, Sir Basil 62

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KRITISCHE STUDIEN ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT Band 1

Wolfram Fischer : Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung

Aufsätze — Studien — Vorträge 1972. 547 Seiten, Paperback

Band 2

Wolfgang Kreutzberger Studenten und Politik 1918—1933

Der Fall Freiburg im Breisgau 1972. 239 Seiten, Paperback

Band 3

Hans Rosenberg Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz 1972. 142 Seiten, Paperback

Band 4

Rolf Engelsing Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten 1972. 314 Seiten, Paperback

Band 5

Hans Medick • Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft

Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith 1972. 330 Seiten, Paperback

Band 6

Band 7

Die große Krise in Amerika

Vergleichende Studien zur politischen Sozialgeschichte 1929—1939. Herausgegeben von Heinrich August Winkler. Mit Beiträgen von Willi Paul Adams, Ellis W. Hawley, Jürgen Kocka, Peter Lösche, Hans-Jürgen Puhle, Heinrich August Winkler, Helmut Wollmann 1973. 243 Seiten, Paperback

Helmut Berding • Napoleonische Herrschaftsund Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807-1813

1973. 160 Seiten, Paperback

Band 8 Band 9

Jürgen Kocka • Klassengesellschaft im Krieg

Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918 1973, X, 230 Seiten, Paperback

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Voraussetzungen und Anfänge Herausgegeben von Heinrich August Winkler. Mit Beiträgen von Gerald D. Feldman, Gerd Hardach, Jürgen Kocka, Charles S. Maier, Hans Medick, Hans-Jürgen Puhle, Volker Sellin, Hans-Ulrich Wehler, Bernd-Jürgen Wendt, Heinrich August Winkler 1974. 224 Seiten, Paperback

Band 10 Hans-Ulrich Wehler Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865—1900 1974. Etwa 400 Seiten, Paperback

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