Ordnung und Kontingenz: Handlungstheorie versus Systemfunktionalismus 9783495997451, 3495479279, 9783495479278


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German Pages [289] Year 1999

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Vorwort
I. Handlung und Zweckrationalität
1. Max Webers Modell zweckrationalen Handelns
Gesellschaftliche Rationalisierung als technischer Fortschritt
Der eigentümliche Gegenstand der Soziologie
Zweckrationalität als »Idealtypus« menschlichen Handelns
Der »gemeinte Sinn« einer Handlung
2. Absicht und Unbestimmtheit
Die kontingente Welt des Handelns
Poiesis und Praxis
Die intentionale Synthesis
Die Unbestimmtheit technischen Handlungswissens
Die doppelte Beschränktheit der Zweckrationalität
3. Von der Zweck- zur Systemrationalität: Ein komplexeres Paradigma?
Das Zweck-Mittel-Schema als Scheuklappe
Zwecke als Beendigungsfunktionen
Das Grundproblem der Bestandserhaltung
II. Die Unverbindlichkeit der Zwecke
4. Zwecke und Gründe
5. Platons Vision der »Idee des Guten«
Die sophistische Machtverheißung
Gerechtigkeit und das Desiderat einer letzten Zweckbestimmung
Die Unbestimmtheit der Idee des Guten
Eine unzulängliche Kritik: Poppers Angriff gegen Platon
6. Aristoteles' Konzept eudaimonischer Finalisierung
Die Unmöglichkeit praktischen Wissens
Die Einübung der Tugenden
Die Leistung der Phronesis
Die richtige Bestimmung der Eudaimonia
Der Status des Politischen
7. Kontingente Glückseligkeit
Gesellschaft ohne Maß
Der neuzeitliche Nominalismus des Guten
Der scheinbare Vorrang der Selbsterhaltung
III. Ordnung ohne Subjekt
8. Jenseits von Zwecken und Mitteln
9. Zwischen Einzelhandlung und Sozialem System
Vom Sinnverstehen zur kybernetischen Regelung
Das Grundschema freiwilligen Handelns
Akteur und Organismus
Systeme von Handlungen und ihre emergenten Eigenschaften
Persönlichkeit und Soziales System
Die doppelte Kontingenz der Interaktion
Paradoxien der Rationalisierung: Habermas als Kritiker von Parsons
Die funktionalistische Reduktion
Die verborgenen Variablen des Sozialen
10. Autopoietische Systeme
Naturalisierte Selbstbezüglichkeit
Operationale Geschlossenheit
Empirische Evidenzen
Ein verkappter Realismus?
Perspektivismus und Beobachtung Zweiter Ordnung
11. Die Wirklichkeit sozialer Systeme
Die Autopoiese der Gesellschaft
Kommunikation und Handlung
Die emergente Ordnung des Sozialen
System-Umwelt-Rationalität statt normativer Bindungskräfte
Resümee
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Ordnung und Kontingenz: Handlungstheorie versus Systemfunktionalismus
 9783495997451, 3495479279, 9783495479278

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A

Heidrun Hesse

Ordnung und Kontingenz Handlungstheorie versus Systemfunktionalismus

BAND 60 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997451 .

B

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997451 .

Zu diesem Buch: Die systemfunktionalistische Soziologie der Gegenwart, insbesonde­ re Niklas Luhmanns, fordert die Philosophie heraus, indem sie die Ansprüche normativer Gesellschaftstheorie, die kontingente Welt des Sozialen vernünftig ansehen und gerecht gestalten zu können, zurückweist. Eine Prüfung dieser Diagnose in weiter historischer und systematischer Perspektive zeigt die reduktionistischen Züge systemtheoretischer Ansätze auf. Zudem zeigt sich, daß die Skepsis gegenüber der Reichweite normativer Sozialintegration einen stär­ keren Grund in der Sache hat, als mit systemtheoretischen Mitteln aufgedeckt werden kann. Hesse weist vielmehr in handlungstheo­ retischer Sicht die unvermeidliche Kontingenz sozialer Ordnung nach. The systems functionalistic sociology of the present, especially Niklas Luhmann's, challenges philosophy by rejecting the claims of a normative social theory of being able to rationally examine and justly structure the contingent social world. An examination of this diagnosis in a wider historical and systematic perspective shows the reductionistic features of system-theoretical approaches. Hesse provides evidence, from the viewpoint of action theory, of the unavoidable contingency of social order. Die Autorin: Dr. phil. habil. Heidrun Hesse, geb. 1951, Privatdozen­ tin für Philosophie an der Universität Tübingen, ist z. Zt. Gastpro­ fessorin für Philosophie am Humboldt-Zentrum für Geisteswissen­ schaften der Universität Ulm. Veröffentlichungen zu zahlreichen Themen der theoretischen und praktischen Philosophie.

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Heidrun Hesse Ordnung und Kontingenz

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Alber- Reihe Praktische Philosophie Hnter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 60

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Heidrun Hesse

Ordnung und Kontingenz Handlungstheorie versus Systefflfunktionalisfflus

Verlag Karl Alber Freiburg/München

https://doi.org/10.5771/9783495997451 .

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hesse, Heidrun: Ordnung und Kontingenz : Handlungstheorie versus Systemfunktionalismus / Heidrun Hesse. 1. Aufl. - Freiburg (Breisgau); München : Alber, 1999 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 60) ISBN 3-495-47927-9 Texterfassung: Autorin Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 1999 Einbandgestaltung: Eberle & Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Trier Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 1999 ISBN 3-495-47927-9

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Inhalt

Vorwort........................................................................................

11

I.

Handlung und Zweckrationalität............................

15

1. Max Webers Modell zweckrationalen Handelns................ Gesellschaftliche Rationalisierung als technischer Fort­ schritt ..................................................................................... Der eigentümliche Gegenstand der Soziologie................... Zweckrationalität als »Idealtypus« menschlichen Handelns Der »gemeinte Sinn« einer Handlung...............................

15

2. Absicht und Unbestimmtheit............................................... Die kontingente Welt des Handelns................................... Poiesis und Praxis.................................................................. Die intentionale Synthesis......................................... 50 Die Unbestimmtheit technischen Handlungswissens ... Die doppelte Beschränktheit der Zweckrationalität .... 3. Von der Zweck- zur Systemrationalität: Ein komplexeres Paradigma?...................................... 64 Das Zweck-Mittel-Schema als Scheuklappe............. 64 Zwecke als Beendigungsfunktionen ................................... Das Grundproblem der Bestandserhaltung ......................

II. Die Unverbindlichkeit der Zwecke......................... 4. Zwecke und Gründe

16 19 21 27 32 32 36 58 63

67 73

79

............................................................

80

5. Platons Vision der »Idee des Guten«................................... Die sophistische Machtverheißung......................................

90 90 ^

Ordnung und Kontingenz https://doi.org/10.5771/9783495997451 .

7

Inhalt

Gerechtigkeit und das Desiderat einer letzten Zweck­ bestimmung ........................................................................ Die Unbestimmtheit der Idee des Guten............................ Eine unzulängliche Kritik: Poppers Angriff gegen Platon .

93 105 119

6. Aristoteles' Konzept eudaimonischer Finalisierung .... Die Unmöglichkeit praktischen Wissens............................ Die Einübung der Tugenden............................................... Die Leistung der Phronesis.................................................. Die richtige Bestimmung der Eudaimonia......................... Der Status des Politischen..................................................

122 122 127 133 140 144

7. Kontingente Glückseligkeit.................................................. Gesellschaft ohne Maß........................................................ Der neuzeitliche Nominalismus des Guten......................... Der scheinbare Vorrang der Selbsterhaltung......................

148 149 155 161

III. Ordnung ohne Subjekt...............................................

174

8. Jenseits von Zwecken und Mitteln......................................

174

9. Zwischen Einzelhandlung und Sozialem System................ Vom Sinnverstehen zur kybernetischen Regelung............. Das Grundschema freiwilligen Handelns............................ Akteur und Organismus..................................................... Systeme von Handlungen und ihre emergenten Eigen­ schaften.................................................................................. Persönlichkeit und Soziales System .................................. Die doppelte Kontingenz der Interaktion ............................ Paradoxien der Rationalisierung: Habermas als Kritiker von Parsons........................................................................... Die funktionalistische Reduktion ......................................... Die verborgenen Variablen desSozialen ..............................

181 181 184 190

10. Autopoietische Systeme ..................................................... Naturalisierte Selbstbezüglichkeit ...................................... Operationale Geschlossenheit ............................................ Empirische Evidenzen ........................................................ Ein verkappter Realismus?.................................................. Perspektivismus und Beobachtung Zweiter Ordnung . . . 8

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

195 200 204 208 217 222 225 225 229 236 240 245

Heidrun Hesse

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Inhalt

11. Die Wirklichkeit sozialer Systeme.................................... Die Autopoiese der Gesellschaft......................................... Kommunikation und Handlung......................................... Die emergente Ordnung des Sozialen............................... System-Umwelt-Rationalität statt normativer Bindungs­ kräfte .....................................................................................

250 250 256 262

Resümee .....................................................................................

272

Literaturverzeichnis..................................................................

277

Personenregister........................................................................ Sachregister..............................................................................

285 287

265

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Vorwort

Die systemfunktionalistische Soziologie der Gegenwart fordert die Philosophie heraus1, indem sie die Ansprüche normativer Gesell­ schaftstheorie zurückweist, die kontingente Welt des Sozialen ver­ nünftig ansehen zu können. Dem »alteuropäischen« Denken wird insbesondere von Niklas Luhmann prinzipiell die begriffliche Kraft abgesprochen, überhaupt noch einen Beitrag zur Erfassung gesell­ schaftlicher Zusammenhänge leisten zu können. Nur systemtheo­ retische Konzeptionen könnten der Komplexität und unaufhebbaren Kontingenz sozialer Wirklichkeit heute gerecht werden. Denn ange­ sichts der zentrifugalen Ausdifferenzierung eigengesetzlicher gesell­ schaftlicher Funktionssysteme, die nicht länger von einem Zentrum aus integrierbar und politisch steuerbar seien, werde nicht nur die alteuropäische Teleologie des Politischen endgültig obsolet, sondern ebenso der neuzeitliche Traum einer Letztherrschaft des Subjekts über seine Handlungen. Keinesfalls würden sich die emergenten For­ men gesellschaftlicher Ordnung auf dem Wege moralischer Ver­ ständigung in die Kontrolle der individuellen Akteure zurückholen lassen. Es kann nicht die Aufgabe einer philosophischen Studie sein, die empirische Triftigkeit einer soziologischen Diagnose zu prüfen. Was sie dagegen klären kann, ist, ob die systemtheoretische Deskription der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit interne Kohärenz aufweist und vor allem: auf welchen kategorialen Voraussetzungen sie beruht. Dabei sind zwei Horizonte in den Blick zu nehmen: Die reichhaltige philosophische Tradition, von der Luhmann sich abzu­ 1 So erklärt beispielsweise Robert Spaemann in seiner Laudation auf den Hegelpreis­ träger Luhmann: »Das Werk Luhmanns ist meines Erachtens eine der wichtigsten Her­ ausforderungen der Philosophie heute.« Robert Spaemann, Niklas Luhmanns Heraus­ forderung der Philosophie, in: Luhmann/Spaemann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt /Main 1990, S. 71. Und Jürgen Habermas konstatiert über die Luhmann'sche Systemtheorie: »Sie ist nicht eigentlich Soziologie, sondern eher zu vergleichen mit metatheoretischen Entwürfen, die Weltbildfunktionen erfüllen.« J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main 1985, S. 443. ^

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Vorwort

setzen versucht, einerseits und die neueren soziologischen und biolo­ gischen Konzeptionen, an die seine Theorie Sozialer Systeme anknüpft, andererseits. Der Analyse dieser interdisziplinären Theo­ riebeziehungen (insbesondere zu Parsons und Maturana) sowie Luhmanns endgültiger Theorie sozialer Systeme ist der dritte Teil der Arbeit (»Ordnung ohne Subjekt«) gewidmet, während die beiden er­ sten der Erarbeitung einer umfassenderen systematischen wie histo­ rischen Perspektive dienen. Denn in dieser Perspektive werden nicht nur die reduktionistischen Züge der Systemtheorie deutlich, sondern auch ihre Verdienste. Es zeigt sich nicht zuletzt, inwiefern ihre skep­ tische Einstellung gegen die Reichweite normativer (moralischer) Sozialintegration einen stärkeren Grund in der Sache hat, als die Texte der Systemtheoretiker selber aufzudecken vermögen. Die be­ grenzte Tauglichkeit von Moral und Ethik als Medien gesellschaftli­ cher Integration, die Luhmann in erster Linie als empirisches Faktum nimmt, hat systematische Gründe, die sich als prinzipielle Schranken normativer Rationalisierung erfassen lassen, ohne daß der klassische handlungstheoretische Bezugsrahmen der Gesellschaftstheorie auf­ gegeben werden müßte. Das zu zeigen, ist die Aufgabe des zweiten Teils der Arbeit (»Die Unverbindlichkeit der Zwecke«). Er bietet da­ her zunächst eine systematische Diskussion der Schwierigkeiten, auf die der Versuch stößt, Handlungszwecke allgemeinverbindlich zu be­ stimmen, um diese anschließend an konkreten Positionen der Phi­ losophiegeschichte zu belegen, nämlich in Auseinandersetzung mit den Ontologien des Handelns, die Platon und Aristoteles entwerfen, einerseits und der (scheinbar) zweckneutralen neuzeitlichen Ver­ tragskonzeption von Hobbes andererseits. Daß Luhmanns Systemtheorie auf handlungstheoretische Kate­ gorien nicht konsequent verzichtet und im Hinblick auf die themati­ sierte Sache auch gar nicht verzichten kann, ist eines der wesent­ lichen Resultate der Untersuchung. Sie betrachtet Parsons daher nicht nur als Wegbereiter Luhmanns, sondern als originären Theo­ retiker, dessen zentrales Thema die Kontingenz sozialer Ordnung darstellt. Inwiefern dagegen speziell Luhmann implizit wie explizit einen signifikant verengten Handlungsbegriff verwendet, soll der er­ ste Teil der Arbeit (»Handlung und Zweckrationalität«) aufdecken. Wie Parsons' so geht auch Luhmanns Theorieentwicklung von We­ ber aus. Während Parsons jedoch vor allem an Webers Begriff sinn­ haften Handelns anknüpft, verdankt sich Luhmanns Systemtheorie nicht zuletzt der Transformation der Weberischen Zweckrationalität 12

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Heidrun Hesse

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Vorwort

in Systemrationalität. Mit den kategorialen Mitteln der Aristote­ lischen Handlungstheorie, die menschliches Handeln in Gestalt von Poiesis wie Praxis im ontologischen Bereich des Kontingenten verortet, kann erwiesen werden, daß sich in dieser Transformation die folgenschwere Reduktion menschlichen Handelns auf poietisches Herstellen verbirgt, die ihr Pendant im Funktionalismus der aus­ gereiften Theorie autopoietischer Sozialsysteme findet. Die Denktra­ dition Alteuropas, so versucht der Argumentationsgang der Arbeit2 deutlich zu machen, hat die systemtheoretische Herausforderung da­ her nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Wer über die bleibende Kontin­ genz sozialer Ordnung begrifflich Rechenschaft geben will, der ist nach wie vor auf das reichhaltige Archiv der Philosophiegeschichte angewiesen. Heidelberg, den 4. Mai 1999

Heidrun Hesse

2 Der Argumentationsgang der Studie führt, wie oben angedeutet, durch abwechs­ lungsreiches Gelände und erzwingt die Diskussion einer großen Menge Primär- wie Sekundärliteratur. Um dem Leser die verwickelte Sache möglichst übersichtlich zu prä­ sentieren, habe ich einen Teil der Auseinandersetzung mit der Interpretationsliteratur zu den verhandelten Primärpositionen in Petit-Satz in den Text integriert. Der syste­ matische Gang der Argumentation sollte auch beim Überspringen dieser Passagen ver­ ständlich werden. ^

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I. Handlung und Zweckrationalität

1. Max Webers Modell zweckrationalen Handelns Max Weber hat es als eine der wichtigsten Aufgaben der empirischen Sozialwissenschaften angesehen, den okzidentalen Prozeß der Ratio­ nalisierung zu erfassen, ohne dessen Verständnis die Realität moder­ ner Gesellschaften nicht angemessen begriffen werden kann. Seine längst in den Status klassischer Vorbildhaftigkeit erhobenen wirt­ schafts-, rechts- und religionsgeschichtlichen Studien widmen sich daher vor allem der materialreichen Erfassung dieses tiefgreifenden sozialhistorischen Umbruchs. Im bescheidenen Gestus solider positi­ ver Wissenschaft leisten sie dabei ausdrücklich Verzicht auf normati­ ve Anweisungen und warnen vor dem verschämten Werturteil, das wissenschaftliche Dignität vortäuscht. Die methodischen Grundsatz­ reflexionen, die Webers reiche Forschungsarbeit klärend und recht­ fertigend kommentieren, werfen dabei unnachgiebige Blicke auf die augenscheinlich unüberschreitbaren Grenzen wissenschaftlicher Ra­ tionalität. Auf diesem Wege säen sie hartnäckige Zweifel an jedweder Möglichkeit umfassender praktischer Vernunft, wahrhaft verbindli­ che Ideen richtigen Lebens zu entwerfen und so die normativen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit vorzugeben. Es ist indessen nicht nur diese Skepsis, die immer noch und immer wieder auch zur philosophischen Auseinandersetzung mit den Positionen Webers herausfordert. Seine Typologien individueller Orientierungen und gesellschaftlicher Formen der Koordination sinnhaften menschlichen Handelns haben längst weit über die Gren­ zen der soziologischen Fachwissenschaft hinaus paradigmatischen Charakter gewonnen. Das gilt vor allem für die Konzeption zweck­ rationalen Handlungsverstehens, die Weber als methodologischen Schlüssel zur soziologischen Erklärung gesellschaftlicher Wirklich­ keit anbietet. Sie bildet, wie noch zu zeigen sein wird, auch den Ausgangspunkt der systemtheoretischen Wende in der Gesell^

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Handlung und Zweckrationalität

schaftsheorie, für die Parsons wie Luhmann in unterschiedlicher Weise einstehen.1 Deswegen ist es unumgänglich, an dieser Stelle die elementaren Aspekte dieser Konzeption wenigstens knapp in Er­ innerung zu rufen.2 3 * * Gesellschaftliche Rationalisierung als technischer Fortschritt Schon Weher vertritt die heute gewiß nicht weniger sinnfällige An­ sicht, gesellschaftlicher Fortschritt lasse sich nur in technischen Ka­ tegorien präzise erfassen. Allerdings verwendet er den Begriff »Tech­ nik« ausdrücklich »in einem allerweitesten Sinne«. Er hezeichnet damit nämlich zweckangepaßtes »rationales Sichverhalten über­ haupt auf allen Gebieten: auch denen der politischen, sozialen, erzie­ herischen, propagandistischen Menschenbehandlung und -beherrschung«.3 Es ist die rationale Organisation industrieller Arheit unter dem Vorzeichen kapitalistischer Konkurrenz um Rentahilität, 1 Wie Luhmann die Weherische Konzeption der Zweckrationalität in Systemrationali­ tät zu transformieren versucht, wird in Kapitel 3 untersucht. Den Nachweis, daß Parsons sich zunächst geradezu emphatisch auf Wehers grundlegende handlungstheoretische Einsicht heruft, auch die wissenschaftliche Erklärung von Handlungen setze allemal ein Verstehen des in ihnen gemeinten Sinnes voraus, erhringt das Kapitel 9. 2 Ich heahsichtige also nicht, die rege fachwissenschaftliche Weher-Forschung mit der Entdeckung wirkungsgeschichtlicher Details hzw. durch die interpretative Umgewich­ tung von Aussagen Wehers zu hereichern oder gar ein neues Weher-Bild zu entwerfen. Dennoch halte ich es nicht zuletzt gerade angesichts der »wilde (n) Rezeptionsland­ schaft«, von der ein Rezensent jüngerer Weher-Literatur unlängst treffend gesprochen hat (vgl. Werner Gephart, Max Weher als Philosoph? Philosophische Grundlagen und Bezüge Max Wehers im Spiegel neuer Studien und Materialien, in: Philosophische Rundschau Bd. 40/1993, Heft 1-2, S. 34-56, dies S. 36), für angemessen, die Darstel­ lung der Positionen Wehers, auf die es mir für den Argumentationsgang dieser Studie ankommt, auf eine Hermeneutik der Primärtexte zu stützen. Auf Stellungnahmen aus der längst unüherschauhar gewordenen an Weher anknüpfenden Interpretationslitera­ tur in Philosophie und Sozialwissenschaften gehe ich daher nur in den wenigen Fällen ein, wo in den letzten Jahren signifikant andere Lesarten vertreten wurden, als ich sie im Hinhlick auf die zur Dehatte stehenden Primärtexte für richtig halte. Im Unterschied zu Konrad Ott halte ich ein solches Verfahren (sozusagen: »zurück zum Ausgangspunkt der Interpretationen«) keineswegs für »naiv«. (Vgl. Konrad Ott, Ipso Facto - Zur ethi­ schen Begründung normativer Implikate wissenschaftlicher Praxis, Frankfurt/Main 1997, S. 143, Anm. 16.) Es scheint mir im Gegenteil weniger willkürlich als das von Ott ausdrücklich gewählte des selektiven Rückhezugs auf die entsprechenden Primär­ texte am Leitfaden hevorzugter Sekundärliteratur. 3 Vgl. Max Weher, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (im folgenden zitiert als GWl), Tühingen 71988, S. 489-540, dies S. 527. 16

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Heidrun Hesse

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Max Webers Modell zweckrationalen Handelns

die in den konkreten Analysen den prototypischen Fall technischer Rationalisierung verkörpert.4 5Bestimmt wird gesellschaftlicher Fort­ schritt demgemäß als zunehmende Verfügungsgewalt über alternati­ ve und daher auch immer angemessenere und effektivere Mittel zur Erreichung eindeutig vorgegebener Zwecke. Die gesteigerte rationale Verfügungsgewalt über Handlungs­ mittel spielt Weber zufolge in modernen Gesellschaften auch eine wichtige sozialintegrative Rolle. Der moderne Staat als ein Komplex von Institutionen, die spezifische menschliche Interaktionen rechts­ förmig sichern, habe nämlich nicht zuletzt deswegen Bestand, »weil bestimmte Menschen ihr Handeln an der Vorstellung orientieren, daß er bestehe oder so bestehen solle: daß also Ordnungen von jener juristisch-orientierten Art gelten«5. Diese Legitimation sozialer Ord­ nung durch ihre Teilhaber weise historisch unterschiedliche Formen auf. Sie könne in der affektiven Unterwerfung der Bevölkerung unter charismatische Herrscher bestehen oder auf der traditionellen Bin­ dung an (religiöse) Sitten und Vorschriften beruhen sowie in der wertrationalen Hochschätzung bestimmter Normen bzw. Satzungen, also Verfahrensprinzipien (Legalität), gründen.6 In der Moderne lie­ ßen sich indessen zunehmend absichtsvolle Regelmäßigkeiten indi­ viduellen Verhaltens feststellen, die das soziale Gefüge stabilisieren, weil Rechtssicherheit schlicht im zweckrational belehrten Eigeninter­ esse der Akteure liege, die beliebigen egoistischen Zwecken folgen.7 8 Die Verdrängung »der inneren Einfügung in eingelebte Sitte durch die planmäßige Anpassung an Interessenlagen« erscheint folgerich­ tig als eine »wesentliche Komponente der Rationalisierung des Han­ delns«8, da die zweckrationale Interessenverfolgung nicht nur für 4 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (im folgenden zitiert als WuG), Tübingen 1985, u.a. S. 5, 8ff. sowie die Vorbemerkung zu den Gesammelte(n) Aufsätze(n) zur Religionssoziologie (im folgenden zitiert als Rel) Tübingen 1978, Bd. I, S. 10f. 5 Weber, WuG, S. 7, vgl. auch S. 122 ff. S. 540ff., S. 822ff. 6 Der Staat ist nach Weber also keine von dem Handeln der konkreten Menschen ab­ gelöste Entität eigener Art. Seinem Begriff entspreche in der Wirklichkeit vielmehr »eine Unendlichkeit diffuser und diskreter menschlicher Handlungen und Duldungen, faktischer und rechtlich geordneter Beziehungen, teils einmaligen, teils regelmäßig wiederkehrenden Charakters, zusammengehalten durch eine Idee, den Glauben an tat­ sächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Men­ schen über Menschen.« (Weber, Die »Objektivität«..., GWL, S. 200.) Vgl. Weber, Die drei Typen der legitimen Herrschaft, in: GWL, S. 475-488. 7 Vgl. Weber, WuG, S. 15. 8 Vgl. Weber, WuG, S. 15 f. ^

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Handlung und Zweckrationalität

stabilere, sondern auch für universellere9 intersubjektive Regelmä­ ßigkeiten verantwortlich zu sein scheint. Es ergibt sich schlüssig aus Webers Konzeption bloß technischer Rationalisierung gesellschaftlichen Handelns, daß das Staatswesen als solches, der politische Verband, der erst in seiner modernen Ge­ stalt die rationale Interessenverfolgung der assoziierten Akteure ge­ währleistet, sozialwissenschaftlich nicht durch irgendeinen für alle Bürger verbindlichen Staatszweck oder eine Gerechtigkeitsformel zu definieren ist, sondern als prinzipiell zweckneutrales Gewaltmonopol.10 Denn Handlungszwecke lassen sich nach Webers Über­ zeugung prinzipiell nicht rational bestimmen. Sie entzögen sich intersubjektiv gültigen Verfahren der Beurteilung oder gar Optimie­ rung. Wo Endzwecke ins Auge gefaßt würden, machten sich letzte Wertpräferenzen geltend, die auf zufälliges Einverständnis stoßen könnten, grundsätzlich aber unvermeidlich dem ewigen Streit aus­ geliefert seien, in dem es nur mehr oder weniger machtvolle Dezi­ sionen geben könne.11 Weil der technische Fortschritt gegebene Werteinstellungen nicht unbeeinträchtigt lasse, sondern traditionel­ le Lebensformen auflöse bzw. marginalisiere, seien daher auch seine Gegner nicht beweiskräftig zu widerlegen. Zumindest Respekt schulde ihnen der Anhänger des wissenschaftlich-technisch-ökono­ mischen Fortschritts jedoch, falls ihr Verhalten den verbliebenen

9 Vgl. Weber, Rel, I, S. 1. 10 Vgl. Weber, WuG, S. 30. 11 Vgl. Weber, u.a. Der Sinn GWL, S. 507: »Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbaren tödlichen Kampf, so wie zwischen >Gott< und >Teufelgemeinten Sinns< (...) triebhaft oder gewohnheitsmäßig« ablaufe.38 Er muß darüber hinaus gestehen, daß die soziologische Kasuistik selbst in den seltenen genormten Fällen, in denen Tätigkeiten in der »Außen«perspektive eines ahnungslosen Beobachters wie in der »Binnen«perspektive eines vernünftigen Aktors relativ zwanglos dem logischen und zeitlichen Schema regulärer Zweckmäßigkeit zu entsprechen scheinen, alsbald auf kaum mehr lösbare Probleme stößt. Allein die Isolierung eines intentional geordneten Handlungs­ strangs aus der Fülle registrierbarer Ereignisse, die zunächst ja nur zeitlich korreliert sind, kann bereits große Schwierigkeiten auf­ werfen. Das gilt nicht nur für das sogenannte »traditionale« Handeln, nach Weber ein völlig unreflektiertes Verhalten, das in den herr­ schenden Üblichkeiten oszilliert. Denn auch was einem in voll­ bewußter Entschlußkraft handelnden Subjekt je als Zweck bzw. als Mittel seines Tuns vorschweben mag, welche Auswirkungen seiner Aktionen es beabsichtigen mag und welche anderen es selber großzü­ gig zu übersehen geneigt ist oder tatsächlich nicht wahrnimmt, ver­ steckt sich für einen wissenschaftlichen Beobachter nicht anders als für ein lebensweltliches Gegenüber des Agierenden allzu leicht in der vertrackten Komplexität situativer Umstände. Für die eine oder den anderen äußerlich sehr ähnliche Geschehnisse können daher augen­ scheinlich als Realisierungen sehr unterschiedlicher Sinnzusammen­ hänge interpretiert werden.39

37 Vgl. Weber, WuG, S. 10. 38 Weber, WuG, S. 10. 39 Vgl. Weber, u. a. WuG, S. 4; Der Sinn ..., In: GWL, S. 500. 26

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Max Webers Modell zweckrationalen Handelns

Der »gemeinte Sinn« einer Handlung Menschliches Handeln unterscheidet sich Weher zufolge von tieri­ schem Verhalten wie von ahiotischen naturgesetzlichen Ahläufen und dem Funktionieren von Maschinen durch seinen Entscheidungs­ charakter und den auch für andere verständlichen »Sinn«, den ein Akteur mit der Ausführung einer Handlung verhindet.40 Damit ist indessen nicht allein das Motiv41 gemeint, das einen Handelnden in­ nerlich hewegt, sondern zugleich die mehr oder weniger rationale Orientierung der wirklichen Handlung, die Intention und Ohjektivität in intersuhjektiv einsichtiger Weise vermittelt. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich Handeln, wie es Wehers soziologischem Pro­ gramm entspricht, in dem Maße durch verstehende Deutung auch kausal erklären42, 43 wie es hewußt klare intersuhjektiv verhindliche und empirisch-naturwissenschaftlich hzw. logisch prüfbare Regeln heherzigt. Weher hat es allerdings versäumt, den von ihm üheraus häufig verwendeten Terminus »Sinn« hündig zu definieren oder wenigstens so ausführlich zu er­ läutern, daß seine hermeneutischen Konturen klar hervorträten. Wie Jürgen Hahermas moniert hat, entwickelt er den Begriff nicht im Rahmen einer Theorie sprachlicher Kommunikation. Der Vorwurf, Wehers Erläuterungen dieser zentralen Kategorie stützten sich statt dessen auf »eine intentionalistische Bedeutungstheorie« und hezögen den Sinnhegriff daher »nicht auf das sprachliche Modell möglicher Verständigung, sondern auf Meinungen und Absichten eines zunächst isoliert vorgestellten Handlungssubjekts«43, wird 40 Vgl. Weher, WuG, S. 1ff. 41 Weher definiert Motiv als einen »Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter >Grund< eines Verhaltens erscheint« (WuG, S. 5). Mit Sinn und Sinnzusammenhang ist aher offenkundig nichts Rein-Inner­ psychisches gemeint, wie folgende Aussage verdeutlicht: »Der Sinn eines Rechenexem­ pels, den jemand meint, ist doch nicht psychisch.« (WuG 9). Der Weher'sche Begriff des Sinns gehört vielmehr in den Kontext der neukantianischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Geltung. In ihm konkretisiert sich die theoretische Wertheziehung, die nach Wehers Gewährsmann Rickert (vgl. Weher, Roscher und Knies ..., GWL, S. 89-91), den eigentümlichen Charakter der Kulturwissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften hestimmt. Vgl. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Na­ turwissenschaft, Stuttgart 1996. 42 Vgl. Weher, u.a. WuG, S. 1, auch ders., Der Sinn ..., GWL, S. 503, S. 532, S. 536. 43 Jürgen Hahermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main 1981, Bd. I, S. 377. Hahermas kritisiert Wehers Verständnis des neuzeitlichen Rationalisie­ rungsprozesses aus dem Blickwinkel seines eigenen Programms der Verwirklichung umfassender kommunikativer Rationalität und will hier ein kategoriales Versäumnis ^

Ordnung und Kontingenz https://doi.org/10.5771/9783495997451 .

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Handlung und Zweckrationalität

jedoch der Textlage nicht gerecht. Zwar entwickelt Weher in der Tat nichts, was den Titel einer Theorie intersuhjektiven Verstehens verdiente. Aher er erkennt doch, wie ich hereits dargelegt hahe, intersuhjektiv verhindlichen Re­ geln immer wieder die entscheidende Rolle für gelingendes Sinnverstehen zu und hezieht sich zu dessen Erläuterung an entscheidender Stelle sogar expli­ zit auf das Phänomen sprachlicher Verständigung. Um den Begriff der »Deu­ tung« genauer zu fassen, greift er nämlich auf eine Unterscheidung Simmels zurück und spricht von dem »ohjektiven« Verstehen des Sinnes einer Äuße­ rung einerseits und der »suhjektiven« Deutung der Motive eines sprechenden oder handelnden Menschen andererseits: »Im ersteren Falle >verstehen< wir das Gesprochene, im letzteren den Sprechenden (oder Handelnden).«44 Hahermas versucht seinen Vorwurf, für Wehers Konzeption sinnhaften Handelns gelte nicht die »auf sprachliche Verständigung verweisende inter­ personale Beziehung zwischen mindestens zwei sprach- und handlungsfähi­ gen Subjekten (...) als fundamental, sondern die Zwecktätigkeit eines ein­ samen Handlungssubjekts«45, mit einem anderen Weher-Zitat zu helegen. Es lautet: »Eine Sprachgemeinschaft wird im idealtypischen >zweckrationalen< Grenzfall dargestellt durch zahlreiche einzelne Akte (von Gemeinschaftshandeln)46, die orientiert sind an der Erwartung, bei anderen >Verständnis< eines gemeinten Sinnes zu erreichen.«47 Selhst wenn man wie Hahermas die heiden Wörter »von Gemeinschaftshandeln« durch Pünktchen ersetzt, ist diese Äußerung meines Erachtens jedoch kein üherzeugender Be­ weis für die von ihm vertretene Interpretation. Denn Weher modelliert hier das komplexe soziale Handeln, das eine Sprachgemeinschaft ausmacht, durchaus nicht nach dem Muster der zweckgerichteten Einwirkung isolierter Einzelner auf unverständige Ohjekte. Ziel und Zweck des Sprachhandelns ist ihm zufolge vielmehr gerade das, was auch Hahermas in der »Theorie des kommunikativen Handelns« dazu erklärt und im Rückgriff auf die Sprech­ akttheorie von Austin und Searle den illokutionären Aspekt sprachlicher Kommunikation nennt48: nämlich üherhaupt verstanden zu werden.49 44 45 46 47 48 einklagen. Ich diskutiere Hahermasens eigene Sicht des »Projekts der Moderne« im Rahmen einer Auseinandersetzung mit seiner Kritik an Parsons im 9. Kapitel dieser Studie. 44 Weher, Roscher und Knies ..., GWL, S. 93. 45 Hahermas, Theorie des kommunikativen Handelns, a. a. O., Bd. I, S. 378. 46 Die Auslassung dieser heiden Wörter kennzeichnet Hahermas durch drei Pünktchen. Vgl. Hahermas, Theorie des kommunikativen Handelns, a. a. O., S. 378. 47 Weher, Üher einige Kategorien ., GWL, S. 453. 48 Vgl. hierzu meinen Aufsatz »Widersprüche der Moderne, Einwände gegen Haher­ mas' Konzept kommunikativer Rationalität, in: Gerhard Gamm (Hg.), Angesichts ohjektiver Verhlendung, Üher die Paradoxien Kritischer Theorie, S. 252-281, dies inshesondere S. 267 ff. 49 Es ist auch gar nicht die Explikation des Sinn- hzw. Verstehenshegriffs, worum es Weher im Kontext der von Hahermas zitierten Stelle geht. Er interessiert sich hier 28

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Auch Alfred Schütz, der Webers große Leistung im Unterschied zu Ha­ bermas gerade darin sieht, alle sozialen Gebilde auf das Verhalten einzelner zurückzuführen50, hat die terminologische Unschärfe des Terminus »Sinn« bitter beklagt und den Versuch unternommen, sie endgültig zu beseitigen.51 Auch in seinem Blickwinkel bekommt das Weber'sche Konzept dabei jedoch einen ganz anderen »Dreh«: denn es wird hier nicht länger aus einer spezi­ fisch handlungs-, sondern aus der generellen bewußtseinstheoretischen Per­ spektive der Husserl'schen Phänomenologie expliziert. In diesem kategorialen Rahmen läßt sich vom »Sinn« beliebiger Erlebnisse ausschließlich im reflexiven Rückblick des je in seine Innenwelt eingeschlossenen Subjekts re­ den. Allererst diesem reflexiven Aufmerken gelingt es danach, wohlunter­ schiedene Bewußtseinsdaten aus dem unmittelbaren Strom von Vorstellun­ gen herauszuheben und vor diesem individuell-unbestimmten Hintergrund zu isolieren und von anderen zu unterscheiden.52 Der auf diese Weise fest­ stellbare »gemeinte Sinn« ist also nicht nur eine Konstruktion nachträglicher Aufmerksamkeit, sondern überdies eine strikt individuelle Gegebenheit des jeweiligen inneren Zeitbewußtseins, die in dieser Form keinem zweiten je zugänglich gemacht werden kann. Seine potentielle Verständlichkeit ist nach Schütz daher bloß ein »Limesbegriff«53, der nur einzulösen wäre, wenn zwei Bewußtseinsströme exakt identisch werden könnten.54 Was Weber dagegen im Blick hat, ist ein intersubjektiv nachvollzieh­ barer Motivations- und Regelzusammenhang, in dem eine Handlung stehen kann, auch wenn sie ihren Zweck und damit ihren »objektiven Sinn« verfeh­ len sollte. Ein banales Beispiel mag veranschaulichen, wie sich das Problem intersubjektiven Handlungsverstehens in dieser Perspektive darstellt. Wenn ich ein Fenster öffne, so erziele ich damit allemal einen ganzen Strauß von für mich wie andere beobachtbaren Wirkungen (u. a. vielleicht Frischluftzufuhr, Einflug von Insekten ins Zimmer, Abkühlung der Raumtemperatur, Vergrau­ vielmehr für das Phänomen, daß die empirische Sozialwissenschaft soziale Ordnungen des Gemeinschaftshandelns wie beispielsweise die Geldordnung des Marktes oder eben auch die Sprachordnung einer Sprachgemeinschaft vorfindet, die sich im idealtypischen Grenzfall so beschreiben ließen, »als ob« sie auf eine zweckrationale Vereinbarung der Beteiligten zurückgeführt werden könnten. In diesem Blickwinkel kann also auch das Sprachhandeln der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft so erscheinen »>als ob< die Sprechenden ihr Verhalten an grammatisch zweckvoll vereinbarten Regeln orientier­ ten« (Weber, Über einige Kategorien ..., GWL, S. 453), um den ihnen gemeinsamen Zweck der Verständigung zu erreichen. 50 Vgl. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt/M. 1974, S. 13. 51 Vgl. Schütz, a. a. O., S. 14 f., auch S. 214. Ihm folgt in den entscheidenden Schritten Thomas Luckmann in seiner Theorie des sozialen Handelns, Berlin/New York 1992. 52 Vgl. Schütz, a.a.O., S. 46f., S. 53f., S. 68f., S. 74, S. 91, S. 307. 53 Vgl. Schütz, a.a.O., S. 42, S. 49, S. 139, S. 181. 54 Vgl. Schütz, a.a.O., S. 139f. ^

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len von Gästen, Ablenkung und Irreführung von Gesprächspartnern u.ä.), und zwar selbst dann, wenn es mir dabei um keine davon wirklich zu tun sein sollte und mir nicht gelingt, worauf es mir eigentlich ankam, etwa einfach »Dampf« abzulassen. Aus der unübersichtlichen Vielzahl möglicher Zweck­ setzungen, die mit dem objektiven Erscheinungsbild ihrer fraglichen Aus­ führung in Einklang stehen, muß nun die »richtige« auswählen, wer mein Tun adäquat verstehen will. Das stellt nicht erst den gewissenhaften Soziolo­ gen, der Handlungen wissenschaftlich erfassen will, vor knifflige Deutungs­ probleme, sondern auch jeden alltagsweltlich Betroffenen. Wer die Frage beantworten will, ob jemand eine Rechnung anstellt, um den exemplarischen Fall einer arithmetischen Regel vorzuführen oder um auf dem Markt nicht übers Ohr gehauen zu werden55, muß sich meines Erachtens dennoch nicht, wie Schütz meint, automatisch in die prinzipiell unauflösliche »Paradoxie« verstricken, einen ein für allemal nur aus der Perspektive eines individuellen Subjekts bestimmbaren Sinnzusammenhang als intersubjektiv verbindlichen und in diesem Sinne also objektiven Sinnzusammenhang re­ konstruieren zu wollen.56 Es sind meines Erachtens vielmehr zweifelhafte kategoriale Voraussetzungen, auf denen diese Diagnose beruht. Entgegen den Grundintentionen des reifen Husserl nämlich stellt Schütz die gegenstands­ konstitutiven Leistungen der transzendentalen Inter-Subjektivität in einem psychologischen Blickwinkel in Frage.57 In ihm verschärfen sich die Probleme rationalen Selbst- wie Fremdverstehens zu einer Aufgabe, der objektivieren­ de Wissenschaft nicht gewachsen ist. Was uns im Miteinanderleben alltäglich einigermaßen zu gelingen scheint, erweist sich als objektiv nicht fixierbar, weil durch nachträgliche Reflexion nicht unversehrt einholbar sein kann, was zuvor als reflexionslose Unmittelbarkeit konzipiert wurde. Was in dieser Weise als phänomenologische Voraussetzung der Reflexion Anerkennung fordert, ist jedoch nichts Ursprüngliches, sondern ein methodischer Artefakt. Das scheinbar unmittelbare innere Erleben ist eine Voraussetzung der setzen­ den Reflexion und damit gerade nicht etwas von ihr Unerreichbares, sondern eine Bestimmung, von der wir nur reflektierend Kenntnis haben. Im Detail jedoch trifft Schützens Weber-Kritik meines Erachtens sehr wohl einen wunden Punkt: Die Unterscheidung des aktuellen (jemand führt offenkundig eine Rechnung durch) vom Motivations-Verstehen (um nicht betrogen zu werden oder um selber zu betrügen) krankt nicht allein daran, daß sie faktisch oft genug zweifelhaft bleiben wird. Sie setzt sich einem tiefer gehenden Einwand aus. Erweckt sie doch den Eindruck, als ergebe sich Hand­ lungsverstehen allemal in zwei Etappen, die sich zwanglos voneinander un­ terscheiden ließen. In einem ersten Schritt, so scheint es, müsse alles Tun 55 Das ist ein Beispiel Webers. Vgl. WuG, S. 3f. 56 Vgl. Schütz, a.a.O.,S. 330. 57 Vgl. hierzu insbesondere Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 1980. 30

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einem fix und fertig vorliegenden und intersubjektiv verfügbaren Hand­ lungsschema (wie beispielsweise »Rechnen« oder »Fensteröffnen«) zuge­ ordnet werden, damit anschließend über ihr wahres Motiv nachgegrübelt werden kann, die bewußte Zwecksetzung, die der einzelne Aktor in einer be­ stimmten Situation damit konkret verbinden mag.58 Solche Muster stehen uns wohl wirklich als ein Arsenal von Routinen in gehöriger Zahl zu Gebote. Der eigentümlichen »Überdeterminiertheit« von Handlungen, ihren un­ scharfen Konturen und deren vielfältiger, ja nahezu unerschöpflicher Deutbarkeit, ist mit dieser Unterscheidung aber gewiß nur auf einem äußerst schmalen Feld beizukommen. Prinzipiell nämlich dürften Innen und Außen einer Handlung, Intention und Realisation für ihren Interpreten gar nicht separierbar sein. Denn als »aktuelle« Handlung erkenne ich ja nur wieder, was mir durch eigenes Tun wenigstens ungefähr vertraut ist sowie im sozia­ len Medium der Sprache auch von anderen Tätigkeiten symbolisch unter­ schieden werden und daher auch dem anderen als intentionale Integrations­ leistung unterstellt werden kann.59 Nur unter diesen Bedingungen darf ich mir zutrauen, die Ausführung einer Rechnung, egal welchem Zweck sie die­ nen und welchem Motiv sie folgen mag, von dem sinnlosen Bekritzeln eines Papiers, einem geheimnisvollen meditativen Akt oder einem magischen Ri­ tual zu unterscheiden.

Den angedeuteten Problemen zum Trotz bietet Webers Theorie sinn­ haften sozialen Handelns eine in sich schlüssige Ausgangsposition, um einen Zugang zu den Systemtheorien sozialer Ordnung zu ge­ winnen, die Parsons und Luhmann entwickelt haben. Die Konzeption primär zweckrationaler Handlungsanalyse, die Weber vertritt, for­ muliert zudem ein elementares Paradigma, an dem sich auch pro­ minente nicht-soziologische Ansätze der Gegenwart orientieren, als wäre dies schlicht selbstverständlich.60 Es fragt sich allerdings, ob sie 58 Vgl. Schütz, a.a.O., S. 328, auch S. 266. 59 Diesen irritierenden Sachverhalt demonstrieren recht hübsch Raymond Queneaus »Stilübungen«, Frankfurt/M. 1973. 60 Das gilt z.B. für die meisten Autoren, die eine »Analytische Handlungstheorie« ver­ treten sowie prinzipiell für die mehr und mehr an Bedeutung und Zustimmung ge­ winnende sogenannte »Spiel- oder Entscheidungstheorie«. Als wäre es schlicht selbst­ verständlich, wird hier durchgängig unterstellt, Handeln bestehe wesentlich im strategischen Einsatz von Mitteln zur Erreichung davon unterschiedener Zwecke, und Rationalität sei allenfalls für die Mittelwahl bzw. ihre Erklärung zu beanspruchen. Im­ merhin ist im Rahmen der beiden letztgenannten Theorietraditionen viel sorgfältige Abgrenzungs- und Detailarbeit geleistet worden; in der Analytischen Handlungstheorie z.B. zur Unterscheidung von Handlungen, Ereignissen und Körperbewegungen sowie zum psycho-physischen Problem, ob Intentionen und Gründe überhaupt Ursachen von Wirkungen sein können; in der Spieltheorie vor allem zur Frage der möglichen rationa­ ^

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damit, einer häufig bewundernswerten Scholastik in der definitorischen Detailarbeit zum Trotz, nicht allzu unbedacht ein grund­ begriffliches Defizit fortschreiben, das durchaus vermeidbar ist. Ich will diesem Bedenken im nächsten Kapitel nachgehen, indem ich zu­ nächst die zentralen Bestimmungen der ersten ausgewachsenen Handlungstheorie knapp erläutere, die uns die Philosophiegeschichte zu bieten hat.

2. Absicht und Unbestimmtheit In geradezu schulbildender Weise hat Aristoteles Theorie, Praxis und Poiesis unterschieden und versucht, den Entscheidungscharakter menschlichen Handelns begrifflich präzise zu erfassen. Der Rückgriff auf seine handlungstheoretischen Differenzierungen verspricht da­ her einen kategorialen Rahmen sichtbar zu machen, in dem die Frage, wie das Problem sozialer Ordnung aus handlungstheoretischer Sicht zu entwickeln ist, beantwortet werden kann, ohne die zweckrationale Integration von Handlungen konzeptionell von vorneherein zu privilegieren. Vor diesem Hintergrund hoffe ich daher aufzeigen zu können, inwiefern der von Luhmann propagierte Paradigmenwechsel von der Zweck- zur Systemrationalität das fortschreibt, was ich die doppelte Beschränktheit der Zweckrationalität nenne.61 Die kontingente Welt des Handelns Den Ausgangspunkt der Aristotelischen Erwägungen den Themen­ bereich Handlungstheorie, Ethik und Politik betreffend62 bildet eine len Abwägung alternativer Mittel unter Berücksichtigung normativer Präferenzen und wahrscheinlicher Nebenfolgen. Vgl. u.a. R. J. Bernstein, Praxis und Handeln, Frankfurt/M. 1972. D. Davidson, Hand­ lung und Ereignis, Frankfurt/M. 1990. G. Meggle (Hrsg.), Analytische Handlungstheo­ rie Bd. 1, Frankfurt/M. 1985. M. D. Davis, Spieltheorie für Nichtmathematiker, München 1972. Wolfgang Mag, Grundzüge der Entscheidungstheorie, München 1990. 61 Es geht mir hier zunächst nur um die Darlegung der Grundbegriffe, auf die sich eine unverkürzte handlungstheoretische Exposition der Frage stützen könnte, was soziale Integration ermöglicht bzw. darüber hinaus die Rationalität sozialer Ordnungszusam­ menhänge sicherstellen könnte. Wie Aristoteles selber diese Frage beantwortet, ist da­ her erst im Kapitel 7 das Thema und im ersten Teil des Kapitels 8 auch Gegenstand von Einwänden. 62 Im Zentrum meiner Aristoteles-Interpretation stehen daher die Nikomachische Ethik 32

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strikte Grenzziehung zwischen dem exakt ausmeßbaren Territorium theoretischer Wissenschaft und dem unübersichtlichen Freiland praktischer Fragen und Antworten.63 Während es die erstere mit dem Notwendigen, Allgemeinen, Unveränderlich-Ewigen und dem­ entsprechend auch Zwingend-Beweisbarem zu tun hat, kümmern sich die letzteren um das Einzelne, Wechselhafte, Nur-ungefähr-Faßliche, kurz: das weite Feld dessen, was sein kann oder auch nicht, was sich so oder ebensogut auch anders verhalten mag. Niemand näm­ lich, darauf weist Aristoteles immer wieder überzeugend hin, könnte sich überhaupt irgendwie praktisch betätigen, gezielt handeln und alles in allem ein richtiges oder falsches Leben führen, falls es gar keine Alternativen gäbe, der Spielraum des Kontingenten sich schlicht nicht öffnete und vielmehr alles lückenlos gesetzlich geord­ net wäre. Aus dieser - zumindest - für alles Praktische geradezu kon­ stitutiven Unbestimmtheit erwächst freilich auch das Grundproblem seiner rationalen Bestimmbarkeit. Unter der metaphysischen Vor­ aussetzung einer dualistischen Ontologie a la Aristoteles, die jenseits des Faktischen und Möglichen ein unwandelbares Reich des Notwen­ digen ansiedelt, erschiene es überdies von vornherein völlig vermes­ sen, wenn sich die wünschenswerte praktische Klugheit die Wahrheit und Gewißheit theoretischen Wissens zum Vorbild nähme und sich ihm angleichen wollte. Werfen wir zur Erläuterung dieses Gegensatzes kurz einen Blick auf die Erörterungen, die Aristoteles dem Thema der Kontingenz widmet. Das Kon­ tingente im eigentlichen Sinne ist das onto-logisch Mögliche, das im kontra­ und die Politik des Aristoteles. Wie es im Hinblick auf die systematischen Interessen, die ich hier verfolge, in der philosophischen Forschung allgemein üblich ist, verzichte ich auf eigenständige textkritische Überlegungen und verweise in dieser Hinsicht nur an wenigen zentralen Stellen auf Ansichten aus den einschlägigen philologisch orientierten Arbeiten der Spezialisten. Ebenfalls einer Üblichkeit folgend zitiere ich Aristoteles nach Maßgabe der Bekker-Ausgabe, und das bedeutet zugleich mit Spalten- wie Zeilenanga­ be. Dieses Verfahren erleichtert sicherlich die Überprüfung der Belegstellen, hat aber auch den Nachteil, einer Dekontextualisierung ebendieser Stellen Vorschub zu leisten. Vor allem gibt es keinen sachlichen Grund, Aristoteles durch diese genauere Zitierweise vor anderen Autoren zu privilegieren, von denen uns gewiß nicht weniger komplexe Texte überliefert sind, wie beispielsweise im Falle Hegels. 63 Vgl. Aristoteles, u.a. Metaphysik (im folgenden zitiert als M) 993 b 20-23; Nikomachische Ethik (im folgenden zit. als NE) 1094b 11 ff., 1103b35-1104all, 1107a29-32, 1139 b 18-26. Aristoteles unterscheidet sogar die Seelenvermögen des Menschen da­ nach, ob sie sich auf das Notwendige oder das Kontingente beziehen. Vgl. NE 1139a5-15. ^

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diktorischen Gegensatz zum Notwendigen wie zum Unmöglichen steht.64 So läßt sich mit Aristoteles die allzu ungefähre Aussage aus Kapitel 1,3 der 1. Analytik präzisieren65, die alles, was überhaupt sein kann, als »evSe/op,evwv« anspricht. Dazu gehört nämlich unbestreitbar auch das, was unmög­ lich nicht sein kann: das Notwendige. Auch in De Interpretatione (Organon II), nämlich in den Kapiteln 12 und 1366, wird diese Differenz diskutiert und durch den Hinweis erläutert, der Begriff des Möglichen werde homonym, also in zwei unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht: Etwas sei einerseits möglich, insofern es tatsächlich sei, z.B. diese eben niedergeschriebene Wort­ folge; es gebe aber auch Mögliches, das unter Umständen immer nur Möglichkeit bleibe und überhaupt nie realisiert werde. Diese Überlegung führt Aristoteles zu einer Rangordnung der Modalkategorien, die das Not­ wendige als ihr Prinzip auszeichnet und nachfolgend dem Wirklichen Vor­ rang gegenüber dem Möglichen zuspricht. In der Metaphysik kennzeichnet Aristoteles das Mögliche (oder Kontin­ gente), das Sein wie Nichtsein in eigentümlicher Schwebe läßt, dementspre­ chend als etwas, dessen Sein ebensowenig notwendig ist wie sein Nichtsein67 oder als das, was möglich sein kann, ohne wirklich zu werden bzw. wirklich sein kann, obwohl es der Möglichkeit nach ebensogut nicht sein könnte bzw. als das, was durch nichts gehindert ist zu sein oder zu werden68. Der Begriff des Kontingenten umschreibt damit nicht zuletzt den ontologisch uneindeu­ tigen, weil zukunftsoffenen Bereich der Weltordnung, den voraussetzen muß, wer im Ernst handeln will. Daß manches Zukünftige nur eintreten wird, weil jemand in der Gegenwart überlegt handelt, liegt nach Aristoteles auf der Hand.69 An diese Beobachtung ließe sich meines Erachtens die Frage anschlie­ ßen, ob der Begriff der Kontingenz strenggenommen überhaupt nur perspek­ tivisch zu verstehen ist, nämlich quasi als Index der Unbestimmtheit, der den Horizont von Möglichkeiten bezeichnet, die einem Handelnden vor Augen stehen. Heideggers Analyse des Seinkönnens als wesentlicher Seinsart des Daseins zielt in diese Richtung.70 Was hingegen post festum vorfindlich ist, ob nun absichtsvoll realisiert oder auch nicht, sollte an sich allemal zurei­ 64 Vgl. Aristoteles, 1. Analytik, I.13 (also 31a21- 32b37). 65 Vgl. Aristoteles, 1. Analytik, 25 a 38 ff. 66 Vgl. Aristoteles, De Interpretatione, 21a34-23a27. 67 Vgl. Aristoteles, M 1047 a 20-24. 68 So Aristoteles etwas später, nämlich M 1047 b 7-9. 69 Vgl. Aristoteles, De Interpretatione 9, 19 a 8 ff. Die Analyse, die Aristoteles hier dem logischen Status von Aussagen über zukünftige Ereignisse widmet, deren Eintritt von menschlichen Entscheidungen abhängt, ist immer wieder ausführlichen Interpretatio­ nen unterzogen worden. Vgl. dazu zuletzt den ausführlichen Kommentar von Hermann Weidemann. Aristoteles, Peri hermeneias, übersetzt und erläutert von Hermann Wei­ demann, Berlin 1994. 70 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, §31, Tübingen 1967, S. 142ff. 34

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Absicht und Unbestimmtheit

chend bestimmt sein. Bei hinreichendem investigativem Aufwand sollten sich diesem Wirklichen, nicht in jedem Fall aber auch Notwendigen, daher auch die entsprechenden zureichenden Ursachen zuordnen lassen, wie Leibnizens Prinzip des zureichenden Grundes nahelegt.71 Die Vermutung, daß, was ist, auch an sich bestimmt und von allem anderen unterschieden sein müsse, nährt den Verdacht, unser Staunen über Fehlschläge, Glücksfälle und andere unerwartete Gegebenheiten sei vor allem der Unzulänglichkeit unse­ res Wissens und nicht etwa einer unaufhebbaren ursprünglichen Unbe­ stimmtheit der Tatsachen oder sogar Artefakte geschuldet. Was diese Frage nach der durchgängigen Bestimmtheit alles Wirklichen betrifft, die in den Grundsatzdebatten der Neuzeit nicht als ontologische Dif­ ferenz von Dynamis und Energeia, sondern im Rahmen einer Metaphysik der Subjektivität als Problem der Vermittlung von Freiheit und Naturgesetz­ lichkeit dramatische Gestalt annimmt, vertritt Aristoteles, so scheint mir, keine ganz eindeutige Position. Immerhin unterscheidet er aber deutlich zwi­ schen dem Bereich des Kontingenten und Ereignissen, die als schlechterdings zufällig anzusehen sind. Sie treten, so erörtert er im Rahmen seiner Ursachen-Doktrin, überhaupt nur dort auf, wo teleologische Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle spielen: also im Kontext praktischen Handelns wie natürlicher Prozesse. Zufällige Ursachen und Wirkungen hätten daher immer bloß beiherspielenden, akzidentellen, Charakter72 und blieben auch ein für allemal merkwürdig unbestimmt/unbestimmbar, also ein kausal nicht auf­ zuschlüsselnder Rest ohne Ordnung (xd^ig) und Grenze (neQag). Was so als zufällig charakterisiert ist, nennt Aristoteles »xü/'n«, wenn als Handlungs­ folge unbeabsichtigt eintritt, was gleichwohl hätte intendiert werden können, etwa der Glücksfall, daß einer einen Schatz findet, während er das Loch doch nur grub, um einen Baum zu pflanzen. »Auxo^axog« fungiert dagegen als umfassendere Bezeichnung, die Anwendung findet, sobald sich irgendwelche teleologisch nicht zureichend erklärbare, ja gegebenenfalls sogar naturwidrig erscheinende Nebeneffekte im Felde natürlichen Werdens zeigen73. Dieser Begriffsbestimmung gemäß kann es vom Zufälligen freilich keinerlei Wis­ senschaft geben74. Während die Sophisten sich laut Aristoteles gerade deswe­ gen auf alles mögliche Akzidentelle stürzen75, begegnet er selbst dieser Schranke allen Wissens mit der pointierten Aufforderung zur Konzentration

71 Vgl. G. W. Leibniz, u. a. Über die Kontingenz, in: ders., Kleine Schriften, Frankfurt/ Main 1965, S. 179-187 sowie ders., Die Theodizee, Hamburg 1968, insbesondere S. 119 ff., S. 133 ff. und S. 279ff. 72 Vgl. Aristoteles, u.a. M 1025 a 14-1027 a 28, M 1064b 15-1065 b 3, auch Physik, im folgenden zitiert als Phys 196 b 1-198 a 13. 73 Vgl. Aristoteles, Phys 197a36-197b22, vgl. auch 2. Analytik 95 a 3 ff. 74 Vgl. Aristoteles, M 1026b1-7, 25-27, M 1027a19-20, M 1064b17-18, 25-28, M 1065a3-4; auch Phys 197a8-9 und 2. Anal. 87b19-20. 75 Vgl. Aristoteles, M 1026b14-21, auch M 1064b27-28. ^

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Handlung und Zweckrationalität

auf das Wesentliche: die der wissenschaftlichen Betrachtung allemal zugäng­ lichen Hauptursachen also, ohne welche die ungreifbaren Mächte des Zufalls gar nicht erst wirksam werden könnten. Dieser Filter vor dem Objektiv seriö­ sen Wissensgewinns blendet indessen nicht oder doch nicht mit gleicher Strenge alles aus, was dem Bereich des Kontingenten zugehört, aber nicht schlechthin regellos erfolgt76, sondern meistens in einer bestimmten Weise eintritt77. Zwar kann es von dem, was nicht notwendig, aber auch nicht unmöglich ist und was sich daher prinzipiell so oder anders verhalten kann, keine im strikten Sinne beweisende Wissenschaft geben78, die in der Aristote­ lischen Schematik ja für die ewigen Wahrheiten zuständig ist. Aristoteles' eigene ethische und politische Schriften demonstrieren jedoch, was er gele­ gentlich auch ausdrücklich festhält: daß es auch eine »emax^p^ noi^xix^« und sogar eine »emax^p^ nQaxxix^« gebe79, 80 wenngleich beide nicht den an den Standards der apodiktischen theoretischen Disziplin zu messen seien.

Poiesis und Praxis »Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien >Zweck< und >Mittelrechnen< kann, er orientiert sein Verhalten daran; aber wie187 188 187 Vgl. Luhmann, z. B. Die Wissenschaft der Gesellschaft, im folgenden zitiert als WG, S. 263 ff., S. 713f. 188 Luhmann, WG, S. 256. 189 Max Weber, Rel, S. 564. 66

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Von der Zweck- zur Systemrationalität

man eine Trambahn so herstellt, daß sie sich bewegt, davon weiß er nichts. Der Wilde weiß das von seinen Werkzeugen ungleich bes­ ser.«190 Sobald wir dagegen mit Luhmann den Scheuklappencharak­ ter der Zweckrationalität gewahr werden und in der theoretischen Unterstellung des Kausalprinzips ein Vehikel der Reduktion von Weltkomplexität erkennen190 191, 192 geht uns auch das verloren, was Weber schließlich als das innerste Wesen gesellschaftlicher Rationalisierung identifiziert hat, nämlich das »Wissen« oder der ungetrübte »Glau­ be« daran, »daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechen­ baren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Din­ ge - im Prinzip - durch Berechnen beherrschen könne.«192 Zwecke als Beendigungsfunktionen Die Beobachtung, daß das Zweck-Mittel-Schema nur als eine Art Scheuklappe der Handlungsorientierung fungiert, scheint jedenfalls geeignet, den Sinn für die Komplexität der konkreten Handlungs­ und Lebenszusammenhänge, der die Bestimmungsmacht rationaler Subjektivität offenbar nur sehr bedingt gewachsen ist, dauerhaft zu schärfen. Zu fragen ist daher nach den unumgänglichen rationalitäts­ theoretischen Konsequenzen der Einsicht in das Versagen der Zweck­ rationalität. Sie zu ziehen, verspricht die vorhin zitierte Arbeit über »Zweckbegriff und Systemrationalität«. Sie ist ein relativ frühes Plä­ doyer Luhmanns für die Ablösung der klassischen Subjektphiloso­ phie und traditionellen Handlungstheorie durch die moderne Sy­ stemtheorie und verdient besonderes Interesse, weil sie ausdrücklich als einladender Übergang angelegt ist. Die forsche Propagierung eines vielversprechenden »Paradigmenwechsels«, der inzwischen zustimmend wie ablehnend - zwar häufig beschworen, aber kaum gründlich analysiert wurde, ist es ja, die Luhmanns theorielastige Soziologie nicht nur ihrem Selbstverständnis nach zu einer Heraus­ forderung der Philosophie macht. Eine entscheidende Weichenstel­ lung steckt dabei zunächst in der Behauptung, erst im system­ 190 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, GWL, S. 593 f. 191 Nämlich »eine strategische Schematisierung im Hinblick auf überkomplexe Anfor­ derungen an das Handeln«. Luhmann, ZuS, S. 32. 192 Weber, Wissenschaft als Beruf, GWL, S. 594. Vgl. auch ders., Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, GWL, S. in: Soz, S. 471-474. ^

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Handlung und Zweckrationalität

theoretischen Blickwinkel könnten Funktion und Leistungsfähigkeit des Zweckhegriffs überhaupt hinreichend genau erfaßt werden.193 In Luhmanns späteren Arbeiten, auf die ich im letzten Kapitel dieser Studie ausführlich eingehen werde, spielt der Zweckhegriff, der seiner praxisphilosophischen Herkunft wohl doch nicht überzeu­ gend zu entfremden ist, dagegen kaum noch eine Rolle - nicht zuletzt wohl wegen ihrer terminologischen Neu-Orientierung an der bio­ logisch fundierten Theorie »autopoietischer Systeme«.194 Trotzdem halte ich es - auch im Hinblick auf diese Fortentwicklung - für auf­ schlußreich, auf einige symptomatische Züge hinzuweisen, die an der zunächst emsig betriebenen Aneignung des Zweck-Mittel-Schemas ins Auge stechen. Sie nähren meines Erachtens den Verdacht, der systemtheoretische Zugriff verspreche zwar, der Komplexität und Kontingenz sozialer Handlungszusammenhänge illusionsloser und zugleich differenzierter gerecht zu werden als konkurrierende Ansätze195, feiere aber in Wirklichkeit paradoxerweise eine folgen­ schwer beschränkte Konzeption von Rationalität wohlgemut als un­ zweifelhaften Rationalitätsgewinn. Wie schon die oben angeführten Äußerungen belegen, setzt Luhmann, nicht anders als Weber, bedenkenlos voraus, Handlungen seien durchweg instrumentellen Charakters und gingen allemal im Bewirken von Wirkungen auf.196 Folgerichtig wird die Vollendung einer Handlung im Sinne der Realisierung eines Zwecks prinzipiell als zeitlicher Abschluß eines Vorgangs verstanden.197 Diese Annah­ me verführt Luhmann im weiteren sogar zu der Mutmaßung, die 193 Vgl. Luhmann, ZuS, S. 171. 194 Vgl. z.B. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1990, S. 285, S. 302, S. 371. 195 Sich »der Realität besser anzunähern«, ist eine der Verheißungen, die den geforder­ ten Wechsel von der Handlungs- zur Systemtheorie, jedenfalls zunächst, begleiten. ZuS, S. 169. 196 Vgl. ZuS, u.a. S. 10, S. 18, S. 25, S. 27, S. 49, S. 180, S. 189, S. 193. Die poietische Identifikation des Zwecks mit dem zeitlichen Ende eines Vorgangs oder eines Tuns entspricht auch noch dem aktuellen Stand von Luhmanns Theorie (vgl. z. B. Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, im folgenden zitiert als SS, S. 395, S. 410 / Anm. 62). Nur unter dieser Prämisse ist die Behauptung sinnvoll, ein Bewußtsein könne seine eigene Autopoiese nicht bezwecken, denn das hieße, »sie zu beenden«. Ebd., S. 358. 197 Vgl. N. Luhmann, u.a. Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftlicher Perspek­ tive, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik II, Frankfurt/M. 1981, S. 9-44, hier S. 12. 68

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Kontingenz alles Handelns, die er wesentlich darin sieht, daß uns sein Ausgang nie völlig gewiß sei, die erst in der Moderne sichtbar werde, sei dem objektiven Wesen der Zeit an sich immanent198 und nicht primär mit der menschlichen Weise des In-der-Welt-Seins ver­ knüpft. Diese Beobachtung, in der sich der Versuch einer system­ theoretischen Transformation des Begriffs der Kontingenz andeu­ tet199, 200 gibt sich, wie viele der Thesen Luhmanns, als historisches Referat. Es ist aber unverkennbar, daß sie der unzulänglichen Kennt­ nis der Aristotelischen Handlungstheorie sowie einem prinzipiellen Mißverständnis der antiken Zweckkonzeption geschuldet ist und aus einer willkürlichen systematischen Vorentscheidung folgt. Luhmann will unter Telos nämlich prinzipiell keine logische Bestimmung der Vollendung verstehen, sondern einzig eine zeitliche »Beendigungs­ funktion« , die »im Erreichen und im Nichterreichen des Endes erfüllt werden«200 könne. Die Zumutung etwaiger selbstzweckhafter Praxis wird zwar flüchtig erwähnt, aber sogleich im Banne kruden Unverständnisses als »sinnlose, in sich widerspruchsvolle Protestfor­ mel« abgetan, »an der man die Furcht vor der Wirklichkeit des Ge­ genteils ablesen« könne.201 Dieser Aversion entsprechend, die - wie noch gezeigt wird - ihrerseits gerade neuzeitlichen Ursprungs ist202, datiert Luhmann den Beginn des »emphatische(n) Insistieren(s) auf >Selbstzweck< oder auf >Praxis< als Flucht vor der Endlosigkeit« ins 18. Jahrhundert, das keine natürlichen Zwecke mehr kenne.203 Auch in der reifen Theorie Sozialer Systeme ist von der Unter­ scheidung zwischen Poiesis und Praxis nur kurz die Rede, um sie

198 Vgl. Luhmann, ebenda, S. 16. 199 Luhmann scheint Kontingenz also nicht als ontologische Voraussetzung mensch­ licher Handlungsfähigkeit anzusehen, sondern als einfache Implikation der zeitlichen Dynamik weltlicher Gegebenheiten an sich. Um diese Transformation des Begriffs der Kontingenz genauer erfassen und ihre begriffliche Kohärenz und phänomenale Plausi­ bilität gründlich prüfen zu können, bedarf es noch einer Reihe weiterer Gesichtspunkte, die erst in den nächsten Kapiteln erarbeitet werden können. Ich komme daher in Kapitel 11 ausführlich auf diesen Punkt zurück. 200 Luhmann, ebenda. 201 Luhmann, ZuS, S. 16. 202 Vgl. Kapitel 7. 203 Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie ..., a.a.O., S. 21. Dem Problem, ob Hand­ lungszwecke in der Perspektive der Antike von Natur gegeben seien und wenn ja, in welchem Sinne, gehe ich in den Kapiteln 5 und 6 in Interpretation der Auffassungen Platons und Aristoteles' nach. ^

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umgehend »theoriekonstruktionstechnisch« als »Irrweg«204 ahzutun. Die beharrliche Ignoranz angesichts der strukturellen und phänome­ nalen Unterscheidbarkeit von Poiesis und Praxis schlägt sich in der Untersuchung zum Zweckbegriff indessen besonders plastisch in der Behauptung nieder, »daß ein Handeln, welches seinen Sinn in sich trägt, notwendig unfrei, alternativenlos, schicksalhaft« vollzogen werden müsse.204 205 Diese und ähnliche Äußerungen hängen offenkun­ dig von anthropologischen und ontologischen Vorentscheidungen ab, deren sich der systemtheoretische Kritiker des alt-europäischen Den­ kens nicht wirklich bewußt zu sein scheint. Jedenfalls gibt er dem zweifelnden Leser nicht den geringsten Aufschluß darüber, warum denn der Vollzug einer Tätigkeit, die nicht bloß zu einem anderen gut ist, sondern als solche zu schätzen, nicht vorsätzlich, freiwillig und reflektiert, also im wachen Bewußtsein anderer Möglichkeiten, erfolgen und unter widrigen Umständen auch scheitern können sollte. Anscheinend läßt sich die erwünschte Transformation des Zweckbegriffs aus dem handlungs- in den systemtheoretischen Kontext206 nicht ohne verfälschende Unterstellungen bewerkstelligen. So betont Luhmann wiederholt, erst im systemtheoretischen Blickwin­ kel könne von Handlungs- und Zweckzusammenhängen die Rede sein, die über isolierte Einzelhandlungen in Gestalt der Verknüpfung von idealiter einer bestimmten Ursache und einer ihr linear zugeord­ neten Wirkung hinausgreifen.207 Schon Aristoteles' Ausführungen über die Eudaimonia als einen geglückten lebenslangen Handlungs-

204 Luhmann, SS, S. 235. 205 Luhmann, ZuS, S. 34, Anm. 206 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß Luhmann in expliziter Ausein­ andersetzung mit Max Weber selbst eine ähnliche Beobachtung festgehalten hat. Er meint dort nämlich, mit Hilfe des Zweck-Mittel-Schemas pflegten Akteure ihr Selbst­ verständnis als Handelnde zum Ausdruck zu bringen. Wer »das Handeln dagegen zum Gegenstand einer kritischen wissenschaftlichen Untersuchung machen« wolle, dürfe sich nicht an diese Kategorien binden. Im Gegensatz zu Webers Ansatz einer verstehen­ den Soziologie hält Luhmann es für die Pflicht der Wissenschaft, auch Handlungen der »Betrachtung von außen« zu unterziehen. Deswegen sucht er nach einem begrifflichen Bezugsrahmen, »der es erlaubt, die Orientierung des Handelns an Zweck und Mittel als variabel zu behandeln.« Niklas Luhmann, Zweck-Herrschaft-System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: Renate Mayntz (Hg.), Bürokratische Organisation, Köln/Berlin 19712 , S. 36-55, dies S. 42. 207 Vgl. Luhmann, ZuS, S. 15, S. 169, S. 193, S. 200, S. 228. 70

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Zusammenhang widerlegen diese Behauptung oder machen den Be­ gründer der klassischen praktischen Philosophie entgegen der von Luhmann intendierten Pointe zum Vorreiter der modernen System­ theorie. Ohnehin erhebt sich immer wieder die Frage, wie Luhmann seine meist kühnen philosophiegeschichtlichen Thesen würde bele­ gen können, wenn er diesen Versuch im Ernst unternähme. Ich arti­ kuliere diesen Zweifel hier im übrigen nicht nur, um das antiquari­ sche Interesse an der redlichen Pflege des philosophiegeschichtlichen Archivs in sein Recht zu setzen. Vielmehr vermute ich, daß Luh­ mann sich aufgrund seiner historischen Nonchalance um die zurei­ chende Bestimmung von Sachproblemen bringt, für die er eine über­ zeugendere Lösung verspricht, als die philosophiegeschichtliche Tradition sie seiner Ansicht nach zu bieten hat. Das zeigt sich meines Erachtens nicht zuletzt daran, wie Luhmann den proklamierten Paradigmenwechsel von der traditionellen Handlungs- zur Systemtheorie charakterisiert. Seine Darstellung überspringt nämlich bezeichnenderweise den in diesem Zusammen­ hang kritischen Begriff des Subjekts (oder wenigstens des bewußten Vorsatzes), das (der) nicht nur diverse Handlungen zu einem Lebens­ zusammenhang, sondern zuvor überhaupt erst einmal unterschiedli­ che Ereignisse zur Einheit einer Handlung integrieren kann. Der Sy­ stembegriff, heißt es an einschlägiger Stelle, verdränge »den Begriff der Substanz. Und deshalb wird es notwendig, die vom Substanz­ begriff her konzipierte, wenn auch längst von ihm abgelöste und verselbständigte Theorie der Handlungszwecke durch eine Theorie der Zweckfunktion in Handlungssystemen zu ersetzen.«208 Luhmann verkennt also offenbar, daß es die eigentümliche Verschränkung von bewußtem Vorgriff auf das Ziel, Ausführung der Absicht und Zweck­ erreichung bzw. -verfehlung ist, durch die sich Handlungen trenn­ scharf von sonstigen Geschehnissen unterscheiden, ohne daß ihnen durch den Zweckbegriff ein ominöses »Wesen« attestiert würde, wie 209 Wie oben er mehrfach mit spürbarem Kopfschütteln suggeriert.208 gezeigt, ist es auch keineswegs das Verdienst der Systemtheorie, die allem Handeln eigenen Male der Kontingenz entdeckt zu haben und die Frage nach den Zwecken »in den Bereich desjenigen Seienden« zu bringen, »das als >Leistung< grundsätzlich auch anders möglich

208 Luhmann, ZuS, S. 53. 209 Vgl. Luhmann, ZuS, S. 11, S. 23, S. 168, S. 179, S. 236f. ^

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ist«210. Es ist ein systematisch folgenreicher Schritt Luhmanns, dem traditionellen Zweckhegriff zunächst rein substantiellen Charakter zuzuschreihen211, um ihn dann konsequent zu funktionalisieren. Luhmann hat aber nicht nur wenig Sinn für die endliche Sub­ jektivität des Handelns und die selhstzweckhaften Formen mensch­ licher Praxis. Ihm sind überdies alle - vielleicht einfach allzu alt­ modischen - Skrupel fremd, die Weher in dem Mangel an praktisch-moralischer Rationalität verbindlicher Zweckbestimmung noch ein beunruhigendes, wenn auch unlösbares Problem vermuten und beklagen ließen. Für Luhmann ist die »Wahrheitsunfähigkeit der Zwecke«212, die auch er konstatiert, nämlich nicht mehr und nicht weniger als die positive Voraussetzung dafür, daß Zwecksetzungen in Handlungssystemen überhaupt eine Funktion erfüllen und sich auf diese Weise als »rational« bewähren können.

210 Vgl. Luhmann, ZuS, S. 236. 211 Luhmanns Darstellung, in entsprechenden Theoriezusammenhängen (man wird wohl an Aristoteles' Schriften denken dürfen) dienten Zwecke primär der Vermittlung von Substanz und Bewegung im Sinne einer Verleugnung und Überdeckung der Ver­ gänglichkeit allen Seins, verkehrt meines Erachtens den wirklichen epistemischen Übertragungsvorgang: Zweckvorstellungen entstammen menschlichen Handlungs­ zusammenhängen, wo sie mit der Verleugnung bzw. Anerkennung der Vergänglichkeit der Handelnden selbst zunächst einmal nichts zu tun haben, und werden in den physika­ lischen oder biologischen Kontext allenfalls übertragen. Prinzipiell läßt sich die Ver­ mittlung von Beharrung und Veränderung, wie die Ontologie der Moderne zeigt, auch a-teleogisch denken. Wenn Aristoteles dagegen natürlichen Prozessen ein immanentes Telos zuspricht, so begründet er damit quasi eine Hermeneutik der Natur, die ihre zen­ tralen Kategorien dem Sich-selbst-Verstehen des Handelnden verdankt. (Vgl. dazu R. Spaemann, Naturteleologie und Handlung, in: Zeitschrift für philosophische For­ schung, 32, 1978, S. 479-493.) Insofern steht denn auch weniger die »Identität des Seienden« (ZuS, S. 10) auf dem Spiel als vielmehr die des Handelnden. Diese Beobach­ tung impliziert freilich nicht, daß die entfinalisierten Grundkategorien möglicher Gegenständigkeit, wie sie exemplarisch Kant angesichts der neuzeitlichen Physik be­ stimmte, von der Identität des Handelnden bzw. Urteilenden völlig unabhängig seien. Nach Kants Auffassung ist bekanntlich das Gegenteil der Fall. 212 Vgl. Luhmann, u. a. ZuS, S. 11 u. S. 19; auch ders., Wahrheit und Ideologie, in: Auf­ klärung I, Opladen 1972, S. 54-64, dies S. 55. Obermeier schlägt statt dessen den Ter­ minus »Evidenzunfähigkeit« vor, weil etwas sehr wohl wahr zu sein vermöge, ohne uns mit Gewißheit einsichtig werden zu können. Welchen sachlichen Gewinn diese Umbe­ nennung abwerfen könnte, bleibt jedoch dunkel, denn ihr Autor folgt der historisch­ systematischen Diagnose Luhmanns im großen und ganzen kritiklos. Vgl. Otto-Peter Obermeier, Zweck - Funktion - System, Freiburg/München 1988, S. 14. 72

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Das Grundproblem der Bestandserhaltung Schon wenn man poietische Zwecke, wie Luhmann jeder nicht sy­ stemtheoretischen Betrachtungsweise schlicht unterstellt, durch­ gehend auf isolierte Einzelhandlungen bezieht, wird ihre »Doppel­ funktion«213 kenntlich, kausal-instrumentelle Alternativen sichtbar und zugleich Nebenfolgen ihrer Wahl unsichtbar zu machen. Be­ trachtet man freilich ein ganzes System von Handlungen213 214, 215 so ver­ schärfen sich die funktionellen Anforderungen. Zwecke müssen dann einen schwierig zu treffenden Grad der (Un)Bestimmtheit aufwei­ sen, um einerseits als bequeme Scheuklappen der Selbstbehauptung eines Systems in seiner zwangsläufig komplexeren Umwelt zu tau­ gen und andererseits auch als »interne Rationalisierungs-, Arbeitsteilungs- und Kontrollstruktur«215 nicht zu versagen. Dabei soll die interne Vermittlung von Ganzem und Teil (die innere Differenzie­ rung der Einheit), auf die der Systembegriff zunächst vor allem gemünzt zu sein scheint, umstandslos im Dienste der Innen-AußenVermittlung stehen, und das heißt in diesem Kontext unzweideutig: der möglichst erfolgreichen Selbstbehauptung eines Systems in einer unübersichtlichen Umwelt, in der es nur mittels geschickter Strate­ gien der Vereinfachung, durch »Reduktion von Komplexität« also, zurechtkommen kann.216 Diesem »Grundproblem der Bestandserhaltung in einer kom­ plexen und veränderlichen Umwelt, das als solches nicht instruktiv, 213 Vgl. ebenda, u.a. S. 195, S. 198, S. 227. 214 System definiert Luhmann als »jedes Wirklich-Seiende, das sich, teilweise aufgrund der eigenen Ordnung, teilweise aufgrund von Umweltbedingungen, in einer äußerst komplexen, veränderlichen, im ganzen nicht beherrschbaren Umwelt identisch hält« (ZuS, S. 7.) Im hier thematisierten Kontext sind es noch primär der Organismus, die Person, die Gruppe und vor allem die Organisation, die das empirische Muster des Sy­ stembegriffs liefern (vgl. ZuS, S. 13), und nicht die sogenannten Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, die in den späteren Arbeiten Luhmanns in den Vorder­ grund getreten sind. Die Studie über »Zweckbegriff und Systemrationalität« dokumen­ tiert insofern auch Luhmanns ursprüngliche Verwurzelung in der klassischen Organi­ sationssoziologie. 215 Ebenda, S. 217. 216 Diesen Perspektivenwechsel in der Systemtheorie (vom Leitschema Teil-Ganzes zum Leitschema System-Umwelt) hat Luhmann bis heute immer wieder als entschei­ denden Gewinn hervorgehoben. Es ist daher bemerkenswert, daß er zunächst eindeutig unter dem Vorzeichen steht, allererst die präzise Reformulierung der Zweck-Mittel-Relation zu ermöglichen, die doch zweifellos handlungstheoretischen Ursprungs ist. Vgl. Luhmann, eb., S. 171, S. 175. ^

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nicht entscheidungsfähig ist, eine systemintern bearbeitbare Fas­ sung«217 zu geben, erscheint nun als die eigentliche kritische Funk­ tion der Zwecksetzung in Handlungssystemen, an deren Stelle aller­ dings auch funktionelle Äquivalente oder sogar effektivere Medien treten können. Als »koordinierende Generalisierungen«218 konkur­ rieren Zwecke mit alternativen Mechanismen der Systemintegrati­ on, indem sie die allzu abstrakte Aufgabe der Erhaltung des Ganzen in zureichend bestimmte Teilziele übersetzen, deren Bewältigung einer detaillierten Erfolgskontrolle unterworfen werden kann. Sie formulieren, wie Luhmann später schreibt, »Bedingungen der Rich­ tigkeit«219 von Handlungen bzw. Entscheidungen. Zweckprogramme und Konditionalprogramme fixieren dabei gegensätzliche Operati­ onsbedingungen. Während Zweckprogramme Systemzusammen­ hänge auf bestimmte Zielvorgaben eichen und mithin kontrolliert in die Umwelt hineinzuwirken versuchen, fixieren Konditionalpro­ gramme - weit bescheidener - Anlässe und Auslösebedingungen.220 Letztere sind daher wohl in weit geringeren Maße für Enttäuschun­ gen anfällig, was ihre dauerhafte Anwendbarkeit erheblich erleich­ tern dürfte.221 Auch Zweckbestimmungen fungieren nach Luhmann genau besehen jedoch bloß als Mittel zur feineren Organisation der Struktur und flüssigen Abstimmung der ineinandergreifenden Handlungsabläufe222 eines Systems, wie beispielsweise der ausgeklü-217 218 217 N. Luhmann, ZuS, S. 190. »Die richtigen Zwecke«, so vermerkt Luhmann hellsichtig, »liegen nicht aufder Straße. Sie festzustellen, ist vielmehr ein schwieriges Unterfangen, ein systeminterner Ent­ scheidungsprozeß, der selbst der Rationalisierung bedarf, ohne sich dabei an vorgege­ ben Zwecken orientieren zu können.« (ZuS, S. 211f.) Auf den ersten Blick ist allerdings nicht zu erkennen, ob das zuletzt angedeutete Dilemma dem Zweckprinzip als solchem oder seiner systemfunktionalistischen Transformation zuzurechnen ist. 218 Luhmann, ZuS, u.a. S. 189. 219 Luhmann, SS, S. 432. 220 Vgl. Luhmann, ZuS, S. 101ff., S. 242f. sowie SS, S. 278f. 221 Luhmann drückt diesen Sachverhalt etwas anders aus. Dem jüngsten Stand seiner Überlegungen zufolge »verschleiern« Zweckprogramme »das in der Zukunft liegende Problem: daß die künftigen Gegenwarten nicht mit der gegenwärtig projektierbaren Zukunft übereinstimmen werden« (Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1993, S. 198.) Schon in ZuS betont Luhmann die vergleichsweise geringe Komplexität der Zweckformel (vgl. ZuS, S. 180), die in der Moderne schließlich zu ihrer weitgehenden Ablösung durch »generalisierte Medien« wie z.B. Geld führe (vgl. ZuS, u. a. S. 201 ff.). 222 In seinen späteren Arbeiten spricht Luhmann von Handlungen durchwegs als Ereig­ nissen. (Vgl. u.a. Handlungstheorie und Systemtheorie, in: Soziologische Aufklärung III, Opladen 1981, S. 50-66, insbesondere S. 60f.; Zeit und Handlung - Eine vergessene 74

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gelten Arbeitsteilung in einem Wirtschaftsunternehmen und ihrer gewiß moderateren Formen etwa in einem Freizeitsportverein. Ganz so eindeutig scheint die Sache indessen doch nicht zu sein. Denn offenbar spielen Zwecksetzungen auch eine identitätssichernde Rolle. Daß sie vermutlich - auch - Bestand haben wollen, unterschei­ det einen Fußballverein ja nicht von einem Streichquartett oder Automobilkonzern. Das leugnet Luhmann auch gar nicht223. Er be­ steht jedoch darauf, daß die je spezifische Zwecksetzung einer sozia­ len Organisation in der Regel problemlos durch eine andere ersetzt werden könne. Jedenfalls sei sie der Aufgabe bloßer Systemerhaltung immer untergeordnet, und es sei vorteilhaft, sie in strikter Abhän­ gigkeit von dieser Aufgabe möglichst flexibel zu handhaben. Die va­ riable Zwecksetzung eines gemeinschaftlichen Unternehmens wird in dieser Perspektive also zum bloßen Mittel seiner Bestandssiche­ rung instrumentalisiert. »Sie ermöglicht es«, so Luhmann, »im zweckstrukturierten System, bis auf weiteres so zu handeln, als ob mit der Zweckerfüllung der Systembestand gesichert sei. Wenn diese Voraussetzung nicht zutrifft oder ihre Umweltprämissen sich än­ dern, werden störende Geräusche auftreten; dann wird das System seine Zwecke umdefinieren müssen oder untergehen« .224 Wenn man sich die Frage vorlegt, unter welchen Umständen* * Theorie, eb. S. 101-123, insbesondere S. 117, S. 119; SS u.a. S. 389, S. 396.) Er trägt damit der Überzeugung Rechnung, Handlungen seien nicht (mehr), wie angeblich tra­ ditionellerweise, als Bewegungen aufzufassen. Zuletzt erscheinen sie ihm aber auch nicht mehr als unzweideutige »temporalisierte« Letztelemente sozialer Systeme, die wesentlich aus Kommunikationen bestünden, sondern nurmehr als deren unumgäng­ liche Simplifizierung im Rahmen systemischer Selbstbeobachtung und Selbstbeschrei­ bung. (Vgl. SS, S. 241.) Der terminologischen Umstellung auf eine allgemeine Theorie selbstreferentieller Sinnsysteme entsprechend reformuliert Luhmann hier auch die be­ währte Unterscheidung von Handlung und Erlebnis. Dabei geht es ihm zufolge lediglich darum, die Selektion von Sinn dem System oder seiner Umwelt zuzurechnen (vgl. SS, S. 123f.). Als Handlungen noch umstandslos als menschliche Vollzüge betrachtet wur­ den, war dementsprechend von Handlungssystem und Welt die Rede. (Vgl. Luhmann, Erleben und Handeln, in: Soziologische Aufklärung III, Opladen 1981, S. 67-80.) Und wenngleich Luhmann diese begrifflichen Zuordnungen wieder einmal deklamatorisch gegen traditionelle Vorstellungen stellt und als radikale Neuerungen preist (eb. S. 67), so handelt es sich der Sache nach doch um nichts anderes als eine Reformulierung des Gegensatzes von innen/außen und aktiv/passiv. Ich werde auf die Frage zurückkommen, ob sich in diesem Sinne wirklich kohärent und überzeugend von Handlungen ohne Subjekte reden läßt, wie Luhmann intendiert. (Vgl. u. a. SS, S. 234.) 223 Vgl. Luhmann, ZuS, S. 224, auch S. 181. 224 Luhmann, ZuS, S. 191. ^

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etwa das System eines Kammerorchesters sich durch die neue Zweck­ setzung, Fußhall zu spielen, am Lehen erhalten könnte, wird deutlich, warum der Zweckformel unter dieser funktionalistischen Prämisse nehen zu geringer Komplexität auch mangelnde Flexihilität ange­ kreidet werden muß225. Offenkundig hat Luhmann hei diesen Über­ legungen Wirtschaftsunternehmen vor Augen, die sich unter Bedin­ gungen kapitalistischer Konkurrenz hehaupten müssen.226 Wie schon Marx angemerkt hat, kann die zweckgerechte Produktion hestimmter Güter ihre hestandssichernde Vermarktung nämlich nicht ohne weiteres garantieren. Ein Unternehmen kann dahei heispielsweise scheitern, ohwohl es die hesten philosophischen Bücher herstellt, die man sich üherhaupt vorstellen kann, falls es auch angesichts tiefroter Zahlen in den Bilanzen halsstarrig an diesem Betriehszweck festhält. Andererseits fragt sich, unter welchen Umständen man allen Ernstes von der Erhaltung eines derartigen Systems sprechen kann, wenn der Mitgliederhestand fluktuiert und die gemeinschaftliche Zweckset­ zung nach Beliehen soll wechseln können.227 228 Luhmanns launige Be­ merkung, es werde gewiß nur äußerst selten Vorkommen, »daß ein System von der Fürsorge für verwaiste Kinder zum Betrieb einer Erdbeerplantage übergeht«228, mag ehenso tröstlich wie realistisch sein. Man wüßte aher doch gerne, warum solch eine Verwandlung so unwahrscheinlich ist. Der Grund dafür könnte, entgegen Luh­ manns Gewichtung der Verhältnisse, gerade darin liegen, daß die in­ nere Ordnung einer sozialen Organisation, die spezifischen Ver­ 225 Vgl. Luhmann, ZuS, u. a. S. ISO f. Diesen Vorwurf erheht Luhmann schon in direkter Auseinandersetzung mit Weher. Während Luhmann einerseits hehauptet, eine Organi­ sation könne sehr wohl den Wechsel ihrer Zwecksetzungen üherstehen und erhalte sich fortwährend, ohne daß ihre Mitglieder sich den Organisationszweck als Motiv ihrer Mitwirkung (heispielsweise in einer Automohilfahrik, einer Universität, einer Arztpra­ xis) zu eigen machen müßten, glauht er andererseits diagnostizieren zu können, daß die Erfüllung von verhindlichen Zwecksetzungen nicht zugleich die Bestandserhaltung der Organisation garantiere. Vgl. Luhmann, Zweck-Herrschaft-System. Grundhegriffe und Prämissen Max Wehers, a. a. O., S. 39. 226 Für diese Vermutung sprechen Äußerungen wie diese: »Je wichtiger es wird, ein System zu erhalten, je mehr investiert ist, je unrationeller eine Entwicklung über Kon­ kurs und Neugründung wird, desto elastischer müssen die Systemzwecke formuliert werden, sei es, daß sie unbestimmt, sei es, daß sie änderungsfähig institutionalisiert werden.« (ZuS, S. 212, Anm. 57.) 227 Im Falle eines kapitalistischen Wirtschaftsunternehmens hesteht die - durchaus nicht heliehige Zwecksetzung- in Wahrheit nicht in der Herstellung eines hestimmten Produkts, sondern im Ziel der Gewinnmaximierung. 228 Luhmann, ZuS, S. 212. 76

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knüpfungsrelationen zwischen ihren austauschbaren Teilen also, zuvörderst von ihrer übergeordneten Zweckorientierung abhängt und nicht umgekehrt. So wird ein Kammerorchester auch seine Struktur gravierend ändern müssen, wenn seine Mitglieder die Ziel­ setzung, dankbaren Kennern Musikstücke zu Gehör zu bringen, durch diejenige ersetzen wollten, erfolgreich in der Fußballregional­ liga mitzumischen. Luhmanns Analyse der Funktion von Zweckbestimmungen, die den Blick für ihre funktionellen Äquivalente schärfen will, hat also sehr wohl registriert, daß sich das als absolut vorrangig und system­ theoretisches Tertium comparationis ausgezeichnete Prinzip der Selbsterhaltung selbst überhaupt nicht dazu eignet, ausdrücklich zum verbindlichen Systemzweck gemacht zu werden. Dieses Manko gründet seiner Ansicht nach aber nicht in der Paradoxie, daß ein schlechthin bloß Relatives verabsolutieren wollte, wer nichts anderes als den Inbegriff aller Subsistenzmittel zum an sich guten Endziel allen Da- und Tätigseins erhöbe. Ich habe vielmehr den Verdacht, ebendiese Verwechslung, die funktionalistische Verkehrung von Mittel und Zweck also, sei als der tiefere Witz der systemtheo­ retischen Rationalitätskonzeption anzusehen.229 In letzter Kon­ sequenz der Reduktion menschlichen Handelns auf zweckrationale Poiesis230 wird nämlich auch das herstellende Tun, das mit der Fertig229 Luhmann spricht das selber aus, wenn er - im Kontext der Darstellungen des histo­ rischen Wandels der Zweckvorstellungen - den Namen »Nutzen« für Zweck akzeptiert. (Vgl. N. Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspek­ tive, a.a.O., S. 19.) Es ist überdies die aller Empirie vorausliegende begriffliche Ein­ ebnung von Mittel und Zweck, die allererst den funktionellen Vergleich aller möglichen Zwecksetzungen mit anderen Mitteln der Systemerhaltung erlaubt. Sie aber wird von Luhmann stolz als besondere Leistung der Systemtheorie herausgestellt (vgl. ZuS, S. 168f.). 230 Diesen Vorwurf gegen Luhmann scheinen in knappen Worten schon Kaulbach und auch Habermas erhoben zu haben. Vgl. Friedrich Kaulbach, Einführung in die Philoso­ phie des Handelns, a.a.O. sowie Jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozial­ technologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann. in: ders./Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/Main 1971, S. 142-290. Da Kaulbach aber (vgl. Anm. 120) die Aristotelische Poiesis-Praxis-Dichotomie nicht kor­ rekt bestimmt, führt auch seine Luhmann-Kritik in eine andere Richtung als die meine. Im Gegensatz zu Kaulbach (vgl. a. a. O., S. 2) sehe ich nicht, wie Luhmanns Systemtheo­ rie die Engpässe der individualistischen Handlungskonzeption beheben könnte, von der er nach Kaulbach einseitig ausgeht. Im Gegenteil: Luhmanns funktionalistische Trans­ formation des poietischen Zweckbegriffs schreibt die beschränkte Konzeption zweck­ rationalen Handelns im begrifflichen Medium der Systemtheorie fort. Im Unterschied ^

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Handlung und Zweckrationalität

Stellung seines je einzelnen Produkts nur zu einem relativen Ab­ schluß gelangt, im Ganzen entfinalisiert. Hierin und nicht in dem vorgeblichen Blickwechsel von der Einzelhandlung und ihrem irgendwie mysteriösen »Wesen« zum konkreten Handlungszusam­ menhang oder -System liegt die entscheidende Differenz zwischen einer klassischen, auf Aristoteles zurückgehenden, und Luhmanns vergleichsweise reduktionistischer Konzeption von Handlungen. Unabhängig von Grund und Grad ihrer Bestimmtheit läßt sich eine Zwecksetzung nun prinzipiell nicht mehr als mögliche Maßnah­ me begreifen, um die poietische Betriebsamkeit der Selbst- oder Systemerhaltung verbindlich in Schranken zu weisen. Unter funktionalistischem Vorzeichen kann sie unter keinen Umständen mehr in einem letzten Worumwillen glücklich ein Ziel finden, sondern muß wohl eines Tages einfach aufhören, verschwinden, notgedrun­ gen ein unglückliches Ende nehmen. Die artifiziellen Scheuklappen der klassischen Zweckrationalität, deren ambivalente Funktion die systemtheoretische Analyse aufdeckt, werden in diesem Blickwinkel nicht durchsichtiger. Sie erscheinen vielmehr vollends als unentrinn­ bare natürliche Blindheit, mit der alle real existierenden Systeme geschlagen sind, über deren Geschick, komparativen Erfolg und bloß noch relative funktionale Rationalität in letzter Instanz unerbittlich das rätselhafte Medium entscheidet, das sie kümmerlicher oder prächtiger, für ein kürzeres oder eine längeres Weilchen überleben läßt.

zu Habermas möchte ich dem Vorgehen Luhmanns jedoch keine ideologische Program­ matik unterstellen. »Wenn Luhmanns Systemtheorie durch ein einzelnes Ziel charak­ terisiert werden könnte, dann wäre es nämlich dies, daß sie die Eliminierung des Unter­ schieds von Praxis und Technik begründen soll.« (Habermas, a.a.O., S. 266f.) Wenn man diese Äußerung Habermasens wie Ernst Vollrath als eine Anspielung auf die Ari­ stotelische Poiesis-Praxis-Unterscheidung ansehen will (vgl. Vollrath, Überlegungen zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Poiesis und Praxis, a.a.O., S. 2), ist ohnehin festzuhalten, daß sie ihr nicht getreu entspricht. Erstens handelt es sich bei der Praxis um einen Handlungstypus, bei der Technik dagegen um einen Rationalitäts­ typus, und zweitens definiert Habermas Praxis nicht als selbstzweckhaftes, sondern als kommunikatives Handeln. Vgl. Habermas, Technik und Wissenschaft als >Ideologiec, in: ders., Technik und Wissenschaft als >Ideologiec, Frankfurt/Main 1970, S. 48-103, dies insbesondere S. 62. 78

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II. Die Unverbindlichkeit der Zwecke

Die funktionalistische Verkehrung von Mittel und Zweck, in der Luhmanns systemtheoretische Transformation des Zweckhegriffs gipfelt, ist kein völlig mutwilliger Kunstgriff einer hloß gedankenlos verengten technokratischen Rationalität. Sie giht vielmehr eine ex­ plizite - wenngleich unhefriedigende - Antwort auf die Frage, wie letzte Handlungszwecke üherhaupt verhindlich zu hestimmen, also rational zu vermitteln sein könnten. Die These, Vernunft sei jeden­ falls unter den Bedingungen der Moderne mit dieser Aufgahe schlicht üherfordert, hildet ihren historischen wie systematischen Ausgangspunkt. Hierin folgt der terminologisch so aufwendige Para­ digmenwechsel von der handlungstheoretischen Zweck- zur funktionalistischen Systemrationalität ganz selbstverständlich der Weher'schen Beschränkung des Bereichs intersuhjektiv verhindlichen Urteilens. Luhmanns Wende zur Systemtheorie heruht nicht zuletzt auf der Annahme, daß rationale Entscheidungen prinzipiell nur das Feld alternativer Mittel zu eindeutig fixierten Zwecken, nicht aher letzte Ziele des Handelns hetreffen könnten.1 Es ist nun an der Zeit, diese schon mehrfach erwähnte, hisher jedoch einfach als solche hingenommene Behauptung genauer zu konturieren und ihre historische Reichweite zu prüfen. Deswegen werde ich im nächsten Kapitel zunächst grundsätzlich diskutieren, auf welche Prohleme der Versuch stößt, Zwecksetzungen auf ratio­ nalem Wege zur Allgemeinverhindlichkeit zu verhelfen. In den fol­ genden Kapiteln lasse ich mich dann zunächst detailliert darauf ein, welche Rolle Platon (5. Kapitel) und Aristoteles (6. Kapitel) der Zweckverhindlichkeit sozialen Handelns für die Herstellung und Ge­ währleistung stimmiger politscher Ordnung zusprechen und welche Schwierigkeiten dahei auftreten. Unter dem Titel »Kontingente Glückseligkeit« wende ich mich schließlich in exemplarischer Aus­ einandersetzung mit Hohhes und Kant dem typisch neuzeitlichen Gegenentwurf zu den antiken Theorien suhstantialistischer Gerech­ 1 Vgl. Luhmann, ZuS, S. 11. ^

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tigkeit zu, der die formalen Bedingungen für erfolgreiches hzw. mo­ ralisch korrektes individuelles Handeln in den Vordergrund rückt und die Zweckwahl ein für allemal der Willkür des je einzelnen Han­ delnden zu überlassen scheint. Ich versuche dagegen den Nachweis zu erbringen, daß diese spezifisch neuzeitliche Konzeption formaler Vernünftigkeit in Wahrheit nur eine andere inhaltliche Option gel­ tend macht als die antiken Theoretiker des guten Lebens in der Polis und ihre Lösung des Problems sozialer Ordnung daher ebensowenig allgemeine Anerkennung beanspruchen kann.

4. Zwecke und Gründe So wie Luhmann die aktuelle »Wahrheitsunfähigkeit« von Zwecken herausstellt, verläßt er sich auf ein recht simples Schema der Ge­ schichte des bewußten abendländischen Lebens und Denkens, dessen deskriptive Verläßlichkeit, wie mir scheint, an seine Suggestionskraft nicht heranreicht. Ihm zufolge lag dem substantiell verwurzelten Da­ sein der Antike unzweifelhaft vor Augen, was für alle gleichermaßen das erstrebenswerte Ziel ihres gesamten Tuns war. Diese »gemein­ same Zweckwahrheit«2 sei dagegen, so lautet die Fama, der Neuzeit abhanden gekommen. Gründe für diesen folgenreichen Verlust wer­ den in der letztlich anscheinend unbegreiflichen Freisetzung moder­ ner Subjektivität und ihren strikt methodischen Rationalitäts­ ansprüchen gesehen.3 Ihnen habe die Idee natürlich vorgegebener 2 Vgl. Luhmann, ZuS, S. 14. Wie Luhmann diesen historischen Wandel beschreibt, zeugt denn doch von mangelhaf­ ter Kenntnis der vorneuzeitlichen Klassiker der Handlungstheorie. Als beispielhafter Beleg dafür mag folgendes Zitat genügen, das als völlig neue Auffassung präsentiert, was man schon bei Aristoteles ganz ähnlich lesen kann: »Zwecke sind dann (nach dem unterstellten Verlust der gemeinsamen Zweckwahrheit, HH) nicht länger als Natur­ zustände zu begreifen, die das Handeln hervorbringen; sie sind Vorstellungen, die das Handeln mitauslösen und die deshalb mit anderen Ursachen, auch solchen mecha­ nischer Art, kombiniert werden können.« Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, a.a.O., S. 23. 3 Luhmann gibt auch »gesellschaftsstrukturelle Korrelate« für diese Verwerfung an. Er sieht sie vor allem in einem neuen Gliederungsmuster der modernen Gesellschaften: die gewissermaßen horizontale Auffächerung in Funktionssysteme trete an die Stelle der vertikalen Schichtung und des Organisationsmodells Herrschen-Dienen. Vgl. Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, a. a. O., S. 16. 80

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Zwecke, die für alle verbindlich seien, nicht länger standhalten können. Die modernen Individuen hätten nämlich auf einmal ent­ deckt, daß ihnen keine Zwecke unangreifbar vorgesetzt, sondern de­ ren eigenmächtige Wahl in ihr freies Belieben gestellt sei. »Die Zu­ kunft«, so versichert Luhmann, »ist nicht mehr durch vorgegebene Zwecke verstopft; sie ist unendlich offen, enthält mehr Möglichkei­ ten, als aktualisiert werden können, und muß daher durch Pläne festgelegt werden«4. Diese Beschreibung, die anscheinend erst der Neuzeit zubilligen will, menschliches Handeln in einem Kontingenzspielraum angesie­ delt zu haben, ist historisch nicht haltbar, wie bereits im zweiten Kapitel dieser Studie erwiesen wurde. Wie die antiken Theorien sich dem Problem der verbindlichen Zweckbestimmung konfrontiert sa­ hen und worin sich ihre Antworten von der für die Neuzeit typischen unterscheiden, an die Luhmann ausschließlich anknüpft, werde ich in den folgenden Kapiteln fünf, sechs und sieben genauer darzulegen versuchen. Für den Augenblick jedoch möchte ich diese Zweifel an der historischen Triftigkeit der Luhmann'schen Diagnose zurückstel­ len und die Frage aufwerfen, ob sie das systematische Problem ratio­ naler Zweckbestimmung überhaupt kategorial zureichend erfaßt. Wenn nämlich Zwecksetzungen nicht (länger) in objektiven Gege­ benheiten wurzeln, sondern je individueller Willkür anheimgegeben sind, folgt ja nicht zwangsläufig, daß sie einer intersubjektiv verbind­ lichen Abstimmung aus Vernunftgründen prinzipiell unzugänglich sein müssen. Genau dies aber ist Luhmanns Unterstellung. Weil Zweckbestimmungen nun einmal »Scheuklappen« etablieren wür­ den und »weil die subjektive (gemeint ist offensichtlich: je individu­ elle) Zwecksetzung andere Folgen zu bloßen Kosten neutralisiert, ohne sie doch aus der Welt schaffen zu können, kann sie keine All­ gemeinverbindlichkeit, also keine Wahrheit beanspruchen«5. 4 Luhmann, ZuS, S. 20. Auf das Schema, erst zu Beginn der Neuzeit würden Zwecke nicht nur im Sinne einer emphatischen Innerlichkeit mentalisiert, sondern auch allererst intentionalisiert, wäh­ rend sie zuvor nichts anderes als das natürliche Ende eines beliebigen Bewegungsvor­ gangs bezeichnet hätten, greift Luhmann auch andernorts zurück. Vgl. u.a. Positives Recht und Soziologie, in: Soziologische Aufklärung I, Opladen 1972, S. 178-203, ins­ besondere S. 179; vor allem aber: Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoreti­ scher Perspektive, a. a. O., insbesondere S. 23. 5 Luhmann, ZuS, S. 13. Luhmann verdankt diese Kategorie seiner Auseinandersetzung mit Parsons, der sich in diesem Punkt auf Robert K. Merton bezieht. Vgl. Talcott Parsons, The Social System, London 1951, S. 30, Anm. 5. Ich gehe daher in Kapitel 9 unter ^

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Auf diese Weise verschärft sich Luhmann zufolge das »Problem der Latenz«6, 7 8 9 10 das der Forderung rationaler Zwecksetzung und -Vermittlung wie ein Schat­ ten folgt. Ein Großteil der Handlungsalternativen wie der faktischen Auswir­ kungen seines Tuns sind einem Handelnden, wie schon angedeutet, nicht nur aufgrund unvermeidlicher faktischer Unwissenheit unbekannt, sondern oft auch im Sinne einer strukturellen Verblendung unzugänglich. Luhmann un­ terscheidet daher drei Formen der Latenz: a) faktisches Unwissen, b) faktische Unmöglichkeit des Wissens bzw. Kommunizierens und c) strukturfunktio­ nale Latenz, die schützenden Charakter hat. Sämtliche Formen der Latenz sollen im übrigen nicht nur bei psychischen Systemen Vorkommen, sondern auch an sozialen Systemen beobachtbar sein, die nach Luhmann nicht aus Subjekten bestehen.7 In diesem Sinne genommen, reflektiert der interessante Begriff der Latenz letztlich »nur die Kontingenz des Einsatzes aller Unter­ scheidungen«8. Wiederum aber scheint mir Luhmanns historische Lesart zweifelhaft, das auf diese Weise ins Auge gefaßte Problem habe sich eigent­ lich erst in der Neuzeit als Problem der Kontingenz zu erkennen gegeben, nämlich »von Wissens- und Wollensverboten (...) auf die bloße Unmöglich­ keit des Durchblicks und der Folgenvorausschau«9 verschoben. Die Unmög­ lichkeit, die Folgen seines Tuns zu durchschauen und seinen Erfolg zu ge­ währleisten, ist doch vielmehr schon für das tragische Bewußtsein der Antike konstitutiv, das diese Kontingenz als Schicksal thematisiert.10 Gesetzt, Zwecke könnten wirklich erst im Kontext der Moderne nicht mehr als sub­ stantieller »Endzustand der Handlungsbewegung« verstanden werden, son­ dern nur noch »als subjektives Engagement«11, also als individuelles Vor­ haben, so wäre damit über die Möglichkeit rationaler Zweckverbindlichkeit das letzte Wort dennoch nicht gesprochen. Denn sie betrifft die mögliche in­ tersubjektive Übereinstimmung in der Wahl eines Handlungszusammen­ hangs, dessen objektive Vollendung zu Beginn allemal absichtlich ins Auge dem Stichwort »Die funktionalistische Reduktion« noch einmal genauer auf dieses The­ ma ein. 6 Luhmann, u.a. Selbstreferenz und Teleologie .,.,a.a.O., S. 25. 7 Vgl. Luhmann, u. a. SS, S. 457 ff. Ich gehe auf dieses Essential der Luhmann'schen Systemtheorie im elften Kapitel ausführlich ein. 8 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, im folgenden zitiert als WG, Frankfurt/ Main 1990, S. 719. 9 Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie S. 28. 10 So könnte man die Sache jedenfalls mit Hegel ansehen, der in seiner Rechtsphiloso­ phie davon spricht, das »heroische Selbstbewußtsein (wie in den Tragödien der Alten, Ödipus usf.)« sei »aus seiner Gediegenheit noch nicht zur Reflexion des Unterschiedes von Tat und Handlung, der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände, sowie zur Zersplitterung der Folgen fortgegangen«, sondern übernehme »die Schuld im ganzen Umfange der Tat«. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 118, Werke Bd. 7, Frankfurt/Main 1970, S. 219. 11 Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie ., S. 12. 82

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gefaßt wird. Subjektives Engagement und sozial verbindlicher Endzweck wi­ dersprechen sich also durchaus nicht, sondern verweisen im Gegenteil ur­ sprünglich aufeinander.

Während man in der bündigen Vermittlung der beschränkten Einzel­ willen und ihrer divergierenden mehr oder weniger kurzsichtigen Zwecksetzungen eine der großen Herausforderungen, ja das eigent­ liche »Projekt« der Moderne sehen kann, nimmt Luhmann schon die bloße Stellung der Aufgabe als zureichenden Beweis ihrer Unlösbar­ keit. Der intendierten Sache nach freilich konvergiert seine vor­ schnelle Diagnose mit einem Aspekt der Einsicht in die »Dialektik der Aufklärung«, den insbesondere Horkheimer als wesentlich her­ vorgehoben hat. Ihm zufolge ist die neuzeitliche Vernunft entgegen ihrem eigenen Antrieb, doch zugleich in unausweichlicher Kon­ sequenz ihrer Eigengesetzlichkeit zu allgemeingültigen Zweck­ bestimmungen nicht fähig.12 Wenn Rationalität nämlich unwiderruf­ lich bedeuten sollte, praktische Entscheidungen wie theoretische Urteile gründlich rechtfertigen13 zu können, dann liegen letzte Ziele und Zwecke völlig außerhalb ihrer Reichweite. Begründungen zielen darauf, Überzeugungen begrifflich zu vermitteln und auf diese Weise Wahrheiten zu verbürgen. Sie vermögen auch wirklich immer wie­ der tragende Übereinstimmungen zwischen streitenden Individuen zutage zu fördern. Im prinzipiellen Zweifelsfall entpuppen sie sich dennoch als ohnmächtige Gegenspieler bedrohlichen Dissenses. Denn »etwas begründen« bedeutet: etwas (z.B. eine Behauptung, eine Haltung, eine Norm) in rechtfertigender Absicht auf etwas an­ deres zurückführen, und das heißt: in letzter Instanz unvermeid­ licherweise auf etwas seinerseits Unbegründetes, bloß Vorausgesetz­ tes, nur hoffentlich auch dem anderen Evidentes. So lassen sich einerseits für jede strittige wie unstrittige Ansicht irgendwelche Gründe ins Feld führen - was freilich ebenso für ihr jeweiliges Ge­ genteil gilt.14 Andererseits aber entspringen nun einmal alle Gründe 12 Vgl. hierzu meine Studie »Vernunft und Selbstbehauptung«, a.a.O., insbesondere Kapitel B,3. 13 Und das scheint heute zumindest die am weitesten verbreitete Auffassung zu sein. Vgl. exemplarisch Stefan Gosepath, Aufgeklärtes Eigeninteresse - Eine Theorie theo­ retischer und praktischer Rationalität. Frankfurt/Main 1992. 14 »Der gebildete Mensch weiß alles unter den Gesichtspunkt des Guten zu bringen, alles gut zu machen, an allem einen wesentlichen Gesichtspunkt geltend zu machen. Es muß einer nicht weit gekommen sein in seiner Bildung, wenn er nicht für das Schlechteste gute Gründe hätte; was in derZeit seitAdam Böses geschehen ist, ist durch ^

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- auch und gerade die, denen sich der eine oder die andere am wenig­ sten entziehen kann - unabhängig davon, oh sie von vielen oder we­ nigen geteilt werden, den trüben Quellen zweifelloser Gewißheiten. Dieser Sachverhalt läßt sich paradox formulieren: Begründetes Ein­ verständnis ist letztlich immer grundlos. Es kann gar nicht wirklich zwischen dem Eigenen und dem Fremden vermitteln, weil es immer auf vorgängigen, im Grunde eben bereits geteilten, gemeinsamen Überzeugungen beruht. Eine weitere Mißlichkeit ist auffällig: es las­ sen sich überhaupt nur relative, abhängige Größen durch den Rückgang auf Gründe legitimieren, wie insbesondere Mittel zu ein­ deutig charakterisierten Zwecken, erste Prinzipien und letzte über­ geordnete Zwecksetzungen jedoch gerade nicht. Hans Albert hat die prinzipiellen Grenzen begründender Ratio­ nalität als »Münchhausen Trilemma« bezeichnet.15 Die Forderung, Behauptungen bzw. Entscheidungen durch die Angabe eines zurei­ chenden Grundes als rational und somit zustimmungspflichtig aus­ zuweisen, führt danach in wissenschaftlich-theoretischen wie in praktisch-moralischen Zusammenhängen in letzter Instanz zu drei gleichermaßen unakzeptablen Alternativen: und zwar entweder a) in einen endlosen Begründungsregreß oder b) in einen veritablen Zir­ kel, wo als Beweisgrund vorausgesetzt werden muß, was allererst zu erweisen wäre, oder c) zum willkürlichen Abbruch des Begründungs­ gangs durch die dezisionistische Berufung auf Evidenzen unter­ schiedlichster Herkunft (z.B. Offenbarung, Erfahrung). Albert glaubt allerdings, diesem Trilemma sei ohne weiteres zu entkommen, sobald auf Letztbegründungsansprüche verzichtet wer­ de. Ich kann diese Zuversicht nicht teilen. Denn auch das ersatzweise vorgeschlagene fallibilistische Prinzip kritischer Prüfung kann das dezisionistische Moment, das allem Urteilen in Gestalt seiner Vor­ aussetzungen innewohnt, nicht eliminieren. Wer für Alternativen ein offenes Ohr bewahrt und seine Überzeugungen als grundsätzlich gute Gründe gerechtfertigt.« Hegel, der diese Beobachtung in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (I, Werke Bd. 18, Frankfurt/Main 1971, S. 425) festhält, hat dabei allerdings nicht den trügerischen Evidenzcharakter letzter Gründe im Visier, sondern einen anderen Aspekt ihrer eigentümlichen Unbestimmtheit, nämlich ihre Ein­ seitigkeit: Gründe können immer nur isolierte Aspekte der Sache selbst geltend machen. Es ist nach Hegel im übrigen ein Leichtes, dies »zu wissen, daß, wenn es auf Gründe ankommt, man durch Gründe alles beweisen könne, sich für alles Gründe und Gegen­ gründe finden lassen« (ebenda, S. 424). 15 Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1980, S. 11 ff. 84

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widerlegbar betrachtet, wird gerade für diesen Fall immer noch ver­ bindlicher Kriterien bedürfen, die mit dem Namen »Bewährung« zu vage benannt sind. Denn daß der faktische Erfolg allenfalls für die poietische Rationalität der Mittel einen geeigneten Maßstab abgeben kann, nicht aber für die praktische der Erkenntnis eines an sich selbst Guten, haben die vorangehenden Erörterungen der Zweckrationali­ tät erwiesen.16 So wundert es nicht, daß Albert nur das Kohärenz­ Kriterium der Widerspruchsfreiheit (einer wissenschaftlichen Theo­ rie, einer sittlichen Haltung) nachhaltig geltend zu machen versteht. Das ist immerhin etwas, aber sicher zu wenig, um die zwanglose Ver­ mittlung strittiger Deskriptionen wie Präskriptionen gewährleisten zu können. Schon Aristoteles hat sich intensiv mit dem Problem der Unbe­ weisbarkeit der Voraussetzungen beweisführender Rationalität be­ schäftigt, die auf wahre Prämissen in Gestalt von richtigen Definitio­ nen, die in Evidenzen der Wahrnehmung wurzeln, und ersten Prinzipien angewiesen ist, die als unbeweisbare Axiome fungieren. Daß es nicht für alles Beweise geben kann, hält der Begründer der Syllogistik deshalb nicht für eine bedrohliche Beeinträchtigung wis­ senschaftlicher Ansprüche17, weil er darauf vertraut, daß uns ver­ bindliche Ansichten der Dinge zugänglich sind. Für das Grundprinzip logischen Argumentierens, den Satz des zu vermeidenden Wider­ spruchs, versucht er in Buch Gamma der Metaphysik dennoch we­ nigstens einen widerlegenden Beweis zu führen. Aufgezeigt wird zu­ nächst, daß jeder, der überhaupt Rede und Antwort stehe, faktisch immer schon eine onto-logische Minimalvoraussetzung akzeptiere. Sprechen nämlich bedeute, etwas zu bezeichnen, und etwas bezeich­ nen könne man nur, indem man etwas konsequent von etwas ande­ 16 Es geht in Begründungszusammenhängen prinzipiell um die intersubjektiv verbind­ liche Legitimation von Urteilen, nicht um die kausale Erzeugung von Effekten. Das Münchhausentrilemma stellt sich daher überhaupt nur in Argumentationsgängen und ergibt sich auch nicht aus deren irriger Angleichung an physische Vorgänge der kausa­ len Verursachung, wie Konrad Ottjüngst in Furcht der nihilistischen Konsequenzen der Einsicht in einen unvermeidlichen Dezisionismus behauptet hat. (Vgl. K. Ott, Ipso facto, a.a.O., S. 193 und S. 199.) Urteile, die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge betreffen, können aber in pragmatischen Kontexten Punkte sammeln, weil sie sich in technische Anweisungen übersetzen lassen und in Gestalt instrumenteller Handlungen einer Er­ folgskontrolle unterworfen werden können. Eine vergleichbare Prüfung ist bei prakti­ schen Urteilen über das, was an sich selbst gut ist und daher für jedermann Zweck sein sollte, nicht möglich. 17 Vgl. Aristoteles, u.a. 2. Anal., 1, 22, 84a30ff. ^

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rem unterscheide. Wer also glauben würde, dasselbe könne demsel­ ben in derselben Hinsicht zugleich zukommen und nicht zukommen, der könnte gar nichts Bestimmtes behaupten. Selbst, wer darauf verzichte, sich ernsthaft an argumentativen Auseinandersetzungen zu beteiligen und kohärente Urteile abzuge­ ben, treffe in aller Regel doch immerhin handelnd entsprechende Unterscheidungen: »Warum stürzt er sich nicht gleich frühmorgens in einen Brunnen oder in einen Abgrund, wenn es sich eben trifft, sondern nimmt sich offenbar in acht, indem er also das Hinein­ stürzen nicht in gleicher Weise für nicht gut und für gut hält? Offen­ bar also hält er das eine für besser, das andere nicht. Wo aber dies, so muß er notwendig auch annehmen, dies sei ein Mensch, jenes nicht, dies sei süß, jenes nicht. Denn er sucht ja nicht alles auf gleiche Wei­ se und hält nicht alles für gleich, wenn er in der Meinung, es sei gut, Wasser zu trinken oder einen Menschen zu sehen, dann dies sucht, und doch müßte er alles gleich setzen, wenn dasselbe gleicherweise Mensch wäre und auch nicht Mensch.«18 Daß wir, wie Aristoteles hier zeigt, immer schon Unterscheidungen vornehmen und Entschei­ dungen treffen, indem wir unser Leben führen, wie wir es gerade führen, garantiert freilich nicht, daß es auch die richtigen Unter­ scheidungen und Entscheidungen sind oder daß alle anderen uns bei unvoreingenommener Prüfung beipflichten müßten. Die Reichweite des Prinzips der indirekten Begründung18 19 ist daher nicht weniger empfindlich begrenzt als die der deduktiven direkten. Jenes taugt ge­ nauso wenig wie dieses dazu, zwischen widerstreitenden Ansichten stimmig zu vermitteln und absolute Verbindlichkeiten rational fest­ zuschreiben. Nur die Voraussetzungen, die jemand faktisch, urtei­

18 Aristoteles, M 1008b15-24. Ich zitiere die von Seidl neu bearbeitete Übersetzung von Bonitz. Aristoteles, Metaphysik, Hamburg 1982, S. 153. 19 Die indirekte Begründung kann man aber vielleicht als eleganter ansehen als die direkte, weil sie auf einen »performativen Widerspruch« hinweist, der sich ergibt, wenn wir die Voraussetzungen zu leugnen versuchen, unter denen unser faktisches Tun (z. B. unser Urteilen) steht. Kants transzendentalphilosophischer Rückgang auf die Bedingun­ gen, unter denen Urteile stehen, die bereits als notwendig und allgemeingültig aner­ kannt sind, macht sich diese Beweisfigur ebenso zunutze wie die neueren Versuche der reflexiven (Letzt)Begründung diskursethischer Prinzipien. Vgl. u.a. Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 35/1981, S. 3-26 sowie Jürgen Habermas, Diskursethik - Notizen zu einem Begrün­ dungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/ Main 1983, S. 53-125. 86

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lend wie handelnd, insgeheim je schon akzeptiert20 hat, indem er ge­ nau so handelt oder urteilt, wie er es eben tut, können auf diese Wei­ se ans Licht gehoben und mit Kohärenzforderungen verbunden wer­ den. Deren Übernahme durch den Handelnden ist damit allerdings nicht zu garantieren. Im Gegenteil: ein gewisses Maß an Inkon­ sequenz und Inkohärenz scheint für die menschliche Lebensführung charakteristisch zu sein. Die grundsätzliche Beschränktheit begründender Rationalität zeigt sich aus den genannten Gründen vor allem im Bereich der prak­ tischen Vernunft, die sich eben nicht mit der Bestimmung dessen begnügen kann, was nur im Hinblick auf etwas anderes gut ist. Die­ ses Bedürfnis der praktischen Vernunft ergibt sich indessen nicht erst aus überzogenen Legitimationsansprüchen, auf die besser verzichtet würde, wie mancher Diagnostiker der Moderne unterstellt.21 Die Haltlosigkeit der praktischen Vernunft ist nicht einer überflüssigen Sehnsucht nach unerreichbarer Gewißheit geschuldet oder lächerli­ cher Selbstüberschätzung, in deren Bann emanzipationswütige Indi­ viduen bewährte Lebensordnungen aufgekündigt und mutwillig zerstört hätten. Es scheint vielmehr, daß die Struktur begründender Rationalität den entscheidenden Problemen einer nicht von vor­ neherein poietisch verengten Praxis einfach nicht gewachsen ist. Die unabweisbare Frage nach dem richtigen Leben für den Einzelnen wie für die (staatliche) Gemeinschaft, ohne die es ihn nicht gibt, ist mit ihren Mitteln ebensowenig beantwortbar wie die vielleicht allzu weit gespannte nach dem Sinn des Gattungslebens im Ganzen. Zumindest die erstere Frage stellt sich nicht erst einem welt­ fremden Philosophieren, das allem Vorfindlichen mißtrauen will, 20 Die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität bietet unterschiedliche Varianten des meines Erachtens nach wie vor hochinteressanten Versuchs, das menschliche Selbst­ bewußtsein als unhintergehbare Voraussetzung allen Handelns und Wissens heraus­ zustellen und Regeln verbindlichen Urteilens (z.B. Descartes, Kant) bzw. Wesensstruk­ turen der objektiven Wirklichkeit (Hegel) aus diesem Prinzip herzuleiten. Alle Ansätze haben dabei ihre charakteristischen Schwierigkeiten mit dem Übergang von der unhintergehbaren Voraussetzung des Selbstbewußtseins zu konkreten Verbindlichkeiten des Wissens und Handelns. Dennoch sind nur auf diesem Wege komplexere Theorien der Rationalität in Sicht. Vgl. zu diesem Thema: Manfred Frank, Selbstbewußtsein und Rationalität, In: Kolmer P./Korten, H. (Hg.), Grenzbestimmungen der Vernunft, Frei­ burg/München 1994, S. 389-438. 21 Diese Ansicht ist zum Beispiel das Ceterum Censeo von Odo Marquard. Vgl. u.a. Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1987, u.a., S. 16, S. 47; Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 11. ^

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sondern jedem, der sein Leben einigermaßen aufmerksam führt. Denn obwohl wir im üblichen Getriebe des Alltags nicht fortwährend von gravierenden Zweifeln an unseren näheren wie ferneren Zweck­ vorhaben geplagt zu werden pflegen, können sie doch schwerlich allein des puren Faktums wegen als rational gelten, daß wir sie, sei es in sturem Eigensinn oder standardisierten Rollenvorstellungen gehorchend, nun einmal verfolgen und gelegentlich sogar erreichen. Mehr oder weniger verlockende Alternativen bleiben uns ja nicht völlig verborgen und sind auch nicht umstandslos von der Hand zu weisen. Sogar im seltenen Glücksfall wird sich das gelebte Leben kaum ohne unser bewußtes Zutun zu einem sichtlich gelungenen runden, das sein Maß in sich selbst findet und zugleich dem Urteil der Mitwelt standhält. Was schließlich die politische Abstimmung divergierender Handlungen und konträrer Interessen angeht, die Or­ ganisation des gesellschaftlichen Lebens im großen und ganzen, so käme es doch wohl einem leichtfertigen Sacrificium intellectus gleich, die tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit der einen oder des anderen, das blinde Spiel des unbegriffenen Weltlaufs also, zu heili­ gen, ohne die spekulativen Kosten der unterstellten List der Vernunft im Ernst übernehmen zu wollen und tragen zu können.22 Dieses ele­ mentare Problem intersubjektiver Verbindlichkeit stellt sich seit Be­ ginn der Neuzeit allerdings in zunehmend dramatischer Weise. Denn die explosive Anhäufung poietischen Wissens und die immer engere Nachbarschaft unterschiedlicher Lebensformen, ihr häufig agonaler Zusammenprall wie ihre gewaltsame Überlagerung und machtvolle 22 Wer dieser Spielart eines kruden Realismus zuneigt, findet jedenfalls in Hegel nicht den möglicherweise erhofften Gewährsmann. Sein oft mißverstandenes Diktum, das Wirkliche sei das Vernünftige, und nur was vernünftig sei, sei auch wirklich, deutet nämlich ganz im Gegenteil eine spekulative Perspektive zur Unterscheidung des bloß Faktischen vom Wahrhaft-Wirklichen an. Dementsprechend heißt es an einschlägiger Stelle einmal erläuternd, man müsse aber »wissen, unterscheiden, was in der Tat wirk­ lich ist; im gemeinen Leben ist alles wirklich, aber es ist ein Unterschied zwischen Erscheinungswelt und Wirklichkeit«. (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Phi­ losophie II, Werke Bd. 19, Frankfurt/Main 1971, S. 110 f.) Und die berüchtigte Vorrede zur Rechtsphilosophie verspricht konsequent: »So wie die Vernunft sich nicht mit der Annäherung, als welche weder warm noch kalt ist und darum ausgespien wird, be­ gnügt, ebensowenig begnügt sie sich mit der kalten Verzweiflung, die zugibt, daß es in dieser Zeitlichkeit wohl schlecht oder höchstens mittelmäßig zugehe, aber eben in ihr nichts Besseres zu haben und darum Frieden mit der Wirklichkeit zu halten sei; es ist ein wärmerer Friede mit ihr, den die Erkenntnis verschafft.« Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, Frankfurt/Main 1971, S. 27. 88

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wechselseitige Durchdringung üherfordern das soziale Substrat sub­ stantieller Sittlichkeit längst. Hierin liegt im übrigen die eigentliche Schwierigkeit, die durch die aufgeregte Konfrontation von Moralität und Sittlichkeit (bzw. Liberalismus und Kommunitarismus) eher verdeckt als bearbeitet wird. Die moralische Weltanschauung hat weder die zerstörerischen Absichten, noch die zersetzende Kraft, die ihr immer wieder vor­ geworfen werden. Ihr Universalismus, der nur in Gestalt formaler Verfahrensrationalität einlösbar scheint, ist aber auch keine produk­ tive Macht, sondern in jedem Falle konkreter Entscheidungsfindung auf gefestigte sittliche Haltungen und vorfindliche ethische Überzeu­ gungen der Beteiligten angewiesen. Gewiß, wir können auch in Dis­ kursen neue Erfahrungen machen, bislang gehegte Vorurteile hinter uns lassen und vielleicht sogar unsere Grundeinstellungen wechseln. Es kann kein Schade sein, sich diesen Möglichkeiten zu stellen und sich für unvermutete Entdeckungen zu öffnen. Indessen wird jeder Einstellungswechsel, der eine Revision von Grundsätzen einschließt, seine kontingente bzw. dezisionistische Herkunft kaum verleugnen können. Das Projekt, widerstreitende Lebensformen durch die ge­ meinsame Abwägung von Gründen rational zu versöhnen, stößt da­ her auf unüberwindbare Realisierungsschwierigkeiten. Es kann in Wirklichkeit nicht weiter reichen als das sittliche Substrat, das zweckhafte Selbstverständlichkeiten vorgibt, deren sich im Zweifels­ fall alle ausdrücklich vergewissern können oder eben auch nicht. Die­ ses sittliche Substrat ist freilich nicht als etwas naturalistisch Vorhan­ denes aufzufassen, sondern als lebendige Substanz, die sich in aufwendigen individuellen Bildungsprozessen allererst formiert und fortlaufend erneuert, weil sie nur im wirklichen Handeln der einzel­ nen Gestalt gewinnt.23

23 Daß diese Bildungsprozesse Gewalt und Grausamkeit unvermeidlicherweise ein­ schließen, ist eine der verstörenden Entdeckungen Nietzsches. Vgl. dazu meinen Auf­ satz: Von Lämmern und Raubvögeln - Randbemerkungen zu Nietzsches »Genealogie der Moral«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5/1993, S. 895-904. ^

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5. Platons Vision der »Idee des Guten« Schon der Antike waren die Schwierigkeiten, die die verbindliche Zweckbestimmung für das menschliche Handeln aufwirft, keines­ wegs unbekannt. Es ist daher aufschlußreich, einen Blick auf die damalige Konstellation zu werfen und zu prüfen, wie die heraus­ ragenden Systematiker dem Problem mangelnder Zweckwahrheit beizukommen versuchen. Platon hat vor allem in der Politeia eine umfassende Antwort auf die Frage zu geben versucht, wie eine ver­ bindliche Zweckorientierung des vielgestaltigen Handelns der Bürger einer Polis deren gerechte Organisation und dauerhafte Er­ haltung gewährleisten könnte. Die folgenden Ausführungen konzen­ trieren sich daher darauf, die Konzeption des gerechten Staates und seiner Fundierung in einem umfassenden ontologischen Wissen des Guten darzustellen, die in den Dialogen der Politeia vorgeführt wird, und sie im systematischen Blickwinkel dieser Studie zu diskutieren.24 Die sophistische Machtverheißung Platon entwirft sein Bild des gerechten Idealstaats als Gegenkonzep­ tion gegen die leichtfertige Technisierung des Politischen, die er den Sophisten vorwirft. Wenn man Platons gewiß nicht völlig unvorein­ genommene Perspektive teilen mag, dann erlagen seine sophisti­ schen Vorläufer und Gegner als erste der grandiosen Machtverhei­ ßung poietischen Wissens und versuchten eine willige Öffentlichkeit damit in ihren Bann zu schlagen. Seiner Darstellung gemäß vertrau­ ten sie anscheinend siegesgewiß darauf, daß auch das gemeinschaft­ liche öffentliche Leben, das dynamische Medium der Vermittlung allen individuellen Handelns, die verbindliche politische Praxis also, durchgängig technischen Regeln gehorche und durch deren wohlkal­ kulierte Anwendung dem gewitzten Eigeninteresse gefügig gemacht werden könne. Rhetorische Gewandtheit erscheint dabei als das ent­ 24 Ich weise jedoch immer wieder auf Parallelen bzw. Abwandlungen hin, die den übri­ gen überlieferten Texten Platons zu den diskutierten Fragen und Antworten zu entneh­ men sind. Ich zitiere Platon nach der bewährten Schleiermacher-Übersetzung und ver­ zichte in der Regel auf die zusätzliche Anführung des griechischen Wortlauts. Was den unendlichen Reichtum der Interpretationsliteratur betrifft, der zur Philosophie Platons vorliegt, bin ich, wie jeder andere Interpret Platons in der Gegenwart, gezwungen, mich auf die Auseinandersetzung mit jenen Autoren zu beschränken, deren Positionen im thematischen Rahmen meiner Studie besonderes Gewicht zuzukommen scheint. 90

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scheidende Kunstmittel zur blendenden Überredung der Menge. Die Fähigkeit, es erfolgreich einzusetzen, wird jedem versprochen, der sich die nötige sophistische Belehrung erkauft. Aus der Sicht des Sokratikers Platon indessen ist technisches Wissen allemal unzulängliches, perspektivisch beschränktes Wissen, gerade weil es beliebigen Interessen dienstbar und insofern auch übler Gebrauch von ihm gemacht werden kann.25 Dementsprechend lautet der entscheidende Vorwurf Platons, die sophistische Konkur­ renz verfüge gar nicht über wahrhaftes Wissen26, sondern sei nur »von leerer Einbildung und Ansehen ohne Einsehen aufgeblasen«27, während sie sich mit dem Schein der Alleswisserei schmücke. Es sei­ en nämlich nur verführerische Trugbilder aus Worten28 und schmei­ chelhafte Schönrednereien, mit denen sie ihr gieriges Publikum be­ töre. Substantielles Wissen, das diesen Namen uneingeschränkt verdiene, müsse sich dagegen durch die unbeirrbare und nachweis­ liche Kenntnis eines letzten Worumwillens aller Theorie und Praxis auszeichnen, die es allererst erlaube, Wahres und Falsches, Gutes und Schlechtes (letzt)gültig zu unterscheiden.29 An solchem Wissen seien die Sophisten jedoch gar nicht ernstlich interessiert. Ihre frivole Kunst des mutwilligen Widersprechens30 sei nur der eitle Ausdruck maßloser Selbstüberschätzung und Selbstgefälligkeit und allenfalls ein wohlfeiles Mittel, um die Menge in die Irre zu führen. Das ist in Platons Augen wohl das entscheidende Sakrileg, des­ sen sich Intellektuelle schuldig machen können. Denn wer sich mit ungeordnetem Vielwissen zufrieden gibt und es gar auf diese Weise prahlerisch zur Schau stellt, gibt nicht nur den eigenen Anspruch auf Sachgerechtigkeit preis, sondern instrumentalisiert überdies leicht­ fertig das einzigartige Medium sprachlicher Verständigung selbst, den vermittelnden Logos also, in dem doch das einigende Wahre, Gute und Schöne allenfalls begriffen werden und zur Geltung kom­ 25 Vgl. Platon, Euthydemos, 281d, wo Platon betont, alles komme auf den richtigen Gebrauch der Dinge an. Nicht ganz so eindeutig ders. Gorgias, 460a-e. Auch in der Apologie (vgl. 21 b ff.) wird immerhin darauf bestanden, Techniker wüßten zwar durch­ aus etwas, überschätzten aber, was sie tatsächlich wüßten und seien sich der prinzipiel­ len Grenzen ihres Wissens nicht bewußt. 26 Vgl. Platon, Gorgias, 459b-e, 465 a; ders., Politeia, 493b. 27 Platon, Politeia, 494d. 28 Vgl. Platon, Sophistes, 234b. 29 Vgl. Platon, u.a. Sophistes, 232a; Phaidros, 260c, 277d, e; Politeia 493b. 30 Vgl. Platon, u.a. Sophistes, 232b-e. ^

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men könnte.31 Auch die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse aber, die die sophistische Bewegung propagiert, ist in Platons Sicht angemessen nur im Rahmen einer wohltemperierten stabilen sozia­ len Ordnung möglich. Die Organisationsprinzipien einer solchen gerechten Ordnung, wo ein jeder das Seinige täte und hätte32, 33 glaubhaft aufzuweisen, ist dem Begründer der Akademie zufolge freilich nur einer wirklich um­ fassenden dialektischen Rationalität möglich, der die höchste Er­ kenntnis zugänglich sein soll, die der »Idee des Guten« nämlich, »durch welche erst das Gerechte und alles, was sonst Gebrauch von ihr macht, nützlich und heilsam wird«33. Diese Formel zielt offen­ kundig auf eine letztgültige Zweckbestimmung allen Tuns, ein alles Wirken und Wissen einigendes wesentliches Band, ohne daß alles theoretische Bemühen Stückwerk bliebe und das auch der alltäg­ lichen Ausübung der Tugenden allererst Stimmigkeit und Beständig­ keit zu verleihen verspricht.34 Nach Platons Verständnis kann es sich dabei nur um eine Art objektiver Zweckwahrheit handeln, die wir entdecken können, wenn wir uns intensiv um Einsicht in ontologi­ sche Zusammenhänge bemühen, und nicht um intersubjektive Zwecksetzungen neuzeitlicher Bauart, die keinen substantiellen Grund aufweisen, sondern den trüben Quellen diverser subjektiver Bedürfnisse entspringen und allein durch die Beherzigung strikter formaler Verfahrensregeln intersubjektiv legitimierbar scheinen. Doch bedeutet das keineswegs, diese übersubjektive Zweckwahr­ heit könnte uns eigentlich gar nicht entgehen, weil sie sowieso allen vor Augen liege bzw. in jeglichem Handeln ohnehin von selbst zu Tage trete. Im Gegenteil: die Verfehlung des wahrhaft Guten scheint - nicht nur - in der historischen Situation, der Platon seinen Ideal­ staat vorhält, gerade die üble Regel und nicht die bedauerliche Aus­ nahme zu sein. Und seine instrumentelle Zurichtung ist schon 31 Deswegen ist meines Erachtens auch zweifelhaft, daß die sophistische Strategie auf Dauer halten könnte, was sie verspricht. Verläßliche Verständigungs- und Anerken­ nungsprozesse lassen sich durch bloße Techniken des Überredens wohl doch nicht in Gang bringen. 32 Vgl. Platon, Politeia, 433eff. 33 Platon, Politeia, 505 a. 34 Vgl. Platon, Politeia 532b. Erst mit dieser Äußerung entspricht Sokrates endlich dem Ersuchen, das Adeimantos schon im 2. Buch (vgl. 366aff.) an ihn richtet, nämlich dar­ zulegen, inwiefern die Tugend der Gerechtigkeit nicht nur zu einem anderen relativ, sondern auch an sich gut sei und somit Zweck und nicht Mittel. 92

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damals kein oberflächlicher Mißgriff einiger Verirrter, sondern symptomatisch für eine äußerst mißliche Sachlage. Sie entspringt der emsigen Entwicklung menschlicher Fähigkeiten35, der zuneh­ mend unübersichtlichen Effizienz und Anarchie der wirksamen Mit­ tel des Handelns und gründet in der prinzipiellen ethischen Neutra­ lität allen technischen Können-Wissens, nach dessen Muster die Koryphäen der Antike doch zugleich die praktischen Tugenden des richtigen Lebens zu bestimmen versuchten. Insofern sind die Fall­ stricke der instrumentellen Vernunft keine späte Erfindung der über­ klugen Neuzeit, sondern bedeuten eine tragische Verwicklung schon für das antike Denken. Die entscheidende Epochendifferenz liegt wohl in der Größenordnung dieser Herausforderung und vor allem in der Art, wie man ihr zu begegnen versucht. Verschreibt sich Platon doch der - zunächst jedenfalls faszinierenden - Vision, die aufreizen­ de Ambivalenz menschlicher Fähig- und Fertigkeiten werde quasi wie von selbst verschwinden, sobald und solange wir die Ordnung des Gemeinwesens im Lichte der Idee des Guten wahrnehmen und dementsprechend gerecht organisieren. Ihren eigentümlichen Glanz verdankt diese rätselhafte »Idee des Guten« indessen, wie ich im fol­ genden darlegen werde, nicht ihren besonders scharfen Konturen, sondern im Gegenteil einem auratischen Hof aufreizender Unbe­ stimmtheit und nachhaltiger Interpretationsbedürftigkeit, der sie in den einschlägigen Passagen der Politeia umhüllt. Gerechtigkeit und das Desiderat einer letzten Zweckbestimmung Wie die höchste Tugend des einzelnen und jeder Gemeinschaft, die Gerechtigkeit36, angemessen zu bestimmen sei, ist die Leitfrage, aus der sich die dialektische Dynamik ergibt, in die Platons Politeia ihre 35 Das dokumentiert in eindrucksvoller Weise schon das zweite Chorlied in der Antigo­ ne des Sophokles (ich zitiere die dtv-Übersetzung von Willige/Bayer): »Vieles ist unge­ heuer, nichts ungeheurer als der Mensch. (...) Mit kluger Geschicklichkeitfür die Kunst ohne Maßen begabt, kommt heut er auf Schlimmes, auf Edles morgen.« 36 Nach Politeia 353d,e ist die Gerechtigkeit die wesentliche Tugend der Seele, die not­ wendige Bedingung für ein gutes Gelingen allen menschlichen Lebens. Politeia 368dff. bezieht den Begriff der Gerechtigkeit auch ausdrücklich auf die Polis als Ganze und schlägt vor, zunächst auf diesem Felde zu untersuchen, was unter Gerechtigkeit zu ver­ stehen ist. Zur Parallele von Einzelseele und Staat vgl. u.a. auch 434d. Gregory Vlastos spricht von zwei Definitionen der Gerechtigkeit in der Politeia, einer psychologischen, die die innere Harmonie des einzelnen Handelnden herausstelle, und einer sozialen, die dem entspreche, was wir normalerweise als Gerechtigkeit ansähen, ^

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Leser hineinzieht, um sie für die Idee des Guten einzunehmen. In der feingesponnenen Inszenierung dialogischer Wahrheitssuche ist es vor allem Thrasymachos, dem der Part des sophistischen Provoka­ teurs zukommt.37 Mit Verve vertritt er die äußerst modern klingende These, was sich als Gerechtigkeit aus- und vorgehe, einen jeden und alle ins Recht zu setzen, sei faktisch doch immer nur das Recht des Stärkeren, das prohate Vehikel raffinierter Egoisten, deren erfolgrei­ cher Vorteilsnahme keine prinzipielle Schranke gesetzt sei. Die Kehr­ seite dieser Behauptung, ihr prima vista widersprechend, lautet: wer dagegen um wahrhafte Gerechtigkeit und nicht hloß um ihren ein­ träglichen äußeren Schein hemüht sei, werde nicht nur seinen Vorteil allzu naiv aufs Spiel setzen, sondern geradezu zwangsläufig ins Unglück rennen. Wie von einem Meister der Dialektik nicht anders zu erwarten, entwickelt Platon im weiteren die hegriffliche Differenz von wahrer und scheinharer Gerechtigkeit, aus der die Attacke des Thrasymachos ihre spezifische Schärfe hezieht. Der Gang des Streitgesprächs führt alshald zum Einverständnis zumindest darüher, daß die wahre Tu­ gend der Gerechtigkeit nicht im Popanz des partikulären Eigennutzes verkörpert sein könne, doch ehensowenig das recht verstandene ei­ gene Glück verhindere.38 Im Gegenteil: Gerechtigkeit herrscht laut Platons Sokrates nur in einem wohlorganisierten Ganzen, in dem jeder Teil das Seinige tut und hat.39 Sie ist gar nichts anderes als die organische Gestalt der vernünftigen Vermittlung der Teile hzw. Indi­ viduen ins harmonische Ganze hzw. Allgemeine. Das Prohlem der Gerechtigkeit als Vermittlung des Verschiedenen zu einer lehendigen Einheit stellt sich daher als die Aufgahe der den Teilen angemessenen nämlich einer sozialen Tugend, die die Pleonexia im Zaum halte, das Mehrhahenwollen als einem zustehe. Platon müsse daher und könne auch zeigen, inwiefern sozial gerecht handeln nur könne, wessen Seele gerecht, also in sich harmonisch geordnet sei. Vgl. G. Vlastos, Justice and Happiness in the Repuhlic, in: ders., Platonic Studies, Princeton, 19812, S. 111-139. 37 Vgl. Platon, Politeia, 338aff. 38 Diese Einsicht kann als das Resultat der Auseinandersetzungen des ersten Buchs der Politeia angesehen werden. 39 Vgl. Platon, Politeia, inshesondere 433aff. Das Je-Seinige hat dahei »auf bestimmte Weise« zu geschehen. Gemeint ist damit offensichtlich, das eigene Tun sei in ein vernünftiges Gefüge gesellschaftlicher Arheitsteilung einzuordnen. Es geht also weder darum, sich selhstverliehter Nahelschau hinzugehen (immer nur den eigenen Namen zu schreihen, wie es in Charmides 161h ff. nachzulesen ist), noch darum, im Sinne indivi­ dueller Autarkie alles, dessen man hedarf, selhst herzustellen. Vgl. Politeia, 369h ff. 94

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Distribution von Leistungen und Gütern, die ein wohlgeordnetes Ganzes konstituiert und am Leben erhält. Während die elementaren Formen der Arbeitsteilung auf der gesellschaftlichen Ebene den er­ sten Anwendungsfall der Gerechtigkeitsformel darstellen40, wirft je­ doch erst die Zuordnung der Aufgaben des Regierens, der Sicherung der Handlungsfähigkeit des Regimes und des Sichregierenlassens in Platons Sicht das eigentliche Problem der Gerechtigkeit in der Polis wie in der Einzelseele41 auf. Das dem Menschen als solchen eigen­ tümliche Werk der Gerechtigkeit42 kommt ihm zufolge nur dort zu­ stande, wo jeder der drei wesentlichen Teile der Seele des Einzelnen bzw. einer staatlichen Gemeinschaft diejenige von den Tätigkeiten des Regierens, der tatkräftigen Unterstützung des Regierenden und der elementaren Bedürfnisbefriedigung gut ausführt, für die er am besten geeignet ist. Es ist die Parallelisierung von Tugend und Techne, die diesem Gedanken der Idiopragie den Weg bahnt. Alle erdenkliche Mühe ver­ wendet der Platonische Sokrates auf ihre adäquate Auslegung. Er glaubt zwingend verständlich machen zu können, daß menschliches Können-Wissen ein objektives Maß und Ziel habe und setzt es in dieser Hinsicht den leiblichen Fähigkeiten gleich, mit denen wir von Natur ausgerüstet sind. Wie jedes Organ eines Lebewesens zu etwas Bestimmtem gut sei, die Augen zum Sehen und im übrigen zum Sehen auch nur die Augen, und als bestes Exemplar seiner Klasse anzusehen, was seine besondere Fähigkeit im höchsten Maße unter Beweis stelle, so sollen auch unsere kultivierten Fertigkeiten in ent­ sprechenden Tätigkeiten und ihren Werken ihren gleichsam natür­ lichen Zweck finden und sich daran messen lassen, wie gut sie ihn erfüllen.43 Ärztliches Können etwa hätte demnach sein Ergon im Heilerfolg der Kur. Die Gesundheit des Patienten wäre das Eidos, an dem sich die medizinischen Maßnahmen orientieren und ihre Rich­ tigkeit beweisen müssen. Und ebenso soll auch die politische Kunst des Regierens nicht dem Eigennutz selbstsüchtiger Regenten dienen, sondern vor allem dem Wohl der Regierten.

40 Vgl. Platon, Politeia, 369 b ff. Ich komme auf diesen Punkt in Kapitel 7 unter dem Sichtwort »Gesellschaft ohne Maß« zurück. 41 Vgl. Platon, Politeia, 434aff., auch 441aff. 42 Vgl. Platon, Politeia, 353d,e, wo die Gerechtigkeit als Ergon der ganzen Seele be­ zeichnet wird. 43 Vgl. Platon, Politeia, 353aff. ^

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Es ist einigermaßen klar, worauf Platon mit diesen Überlegun­ gen hinauswill. Er ordnet das egoistische Eigeninteresse an Vergü­ tung und Erwerb den Erfordernissen der Sache unter, auf die sich jede Technik einlassen muß. In arbeitsteiligen Gesellschaften gilt ja in der Tat die Regel, daß das Bedürfnis eines anderen befriedigen muß, wer auf seine eigenen Kosten kommen will. Aber sollte es wirklich ein­ deutig und unwiderruflich nur eine sekundäre Rolle spielen, daß die Ausübung nützlicher Tätigkeiten im allgemeinen auch einen Brot­ erwerb bedeutet? Im Idealfall wird die entsprechende soziale Aner­ kennung eines technisch beschlagenen Spezialisten immerhin von seiner wirklichen Leistung abhängen, der gute Ruf und das Einkom­ men eines Arztes beispielsweise vom soliden Nachweis therapeuti­ scher Fähigkeiten. Eigennutz und sachgerechte Leistung sind also im Allgemeinen miteinander vermittelt. Beide sind aber offensicht­ lich entkoppelbar. Es ist eben nicht prinzipiell auszuschließen, daß mancher die Zweckordnung verkehrt, dem Interesse an Selbsterhal­ tung und Selbstbereicherung den Vorrang gibt und sein Ein- oder gar luxuriöses Auskommen sichert, indem er nur scheinbar Nützliches und auch für andere Gutes an den Mann oder die Frau bringt. Platon scheint solches Verhalten durchaus nicht unbekannt zu sein, denn er sieht sich genötigt, von einer besonderen Erwerbskunst zu sprechen, die in merkwürdiger Selbständigkeit neben die anderen Techniken tritt, sich in undurchsichtiger Weise an sie anlehnt und für nichts anderes als den Gelderwerb zuständig sein soll.44 Diese Zuordnung kann indessen nicht überzeugen. Was Platon als Erwerbskunst be­ zeichnet ist in Wahrheit keine zusätzliche Technik, auf deren Aus­ übung ein gesellschaftlicher Produzent ebensogut verzichten könnte. Der Geldwert, den ein nützliches Ding einbringt, wenn es auf dem Markt einen Käufer findet, verdankt sich nicht der Anwendung einer besonderen Kunstfertigkeit, sondern dem Doppelcharakter tausch­ wirtschaftlicher Arbeit, die gar nicht umhin kann, in Geld meßbaren abstrakten Tauschwert zu produzieren, wo sie für andere nützliche Dinge herstellt, die konkrete Bedürfnisse befriedigen. Diese Doppel­ struktur begünstigt Betrug und Raffgier, gesellschaftliche Phänome­ ne, deren unleugbares Auftreten erste Zweifel an der Platonischen Parallelisierung von tugendhaftem Handeln und technischem Her­ stellen weckt.

44 Vgl. Platon, Politeia, 341cff. und dann insbesondere 346b. 96

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Diese Zweifel verstärken sich, wenn man die suggestive Inter­ pretation näher betrachtet, die der platonische Sokrates einem Bei­ spiel angedeihen läßt, das Thrasymachos in durchaus plausibler Weise zur Veranschaulichung seiner Thesen aufwirft. Als Modell eigennütziger bzw. fürsorglicher gesellschaftlicher Herrschaft fun­ gieren die Schafherde und ihr Hirte. Zu Recht macht Sokrates gel­ tend, daß ein schlechter Hirte wäre, wer nicht für das Wohl seiner Schafe zu sorgen verstünde. Ist es aber wirklich das Interesse am Wohlbefinden der Schafe, das den Zweck der Hütetechnik darstellt, oder ist die Sorge um deren Zustand nur der unumgängliche Weg zum eigentlichen Ziel des Hirten: schmackhaftes Fleisch und reich­ lich Wolle für Eigenverbrauch bzw. Verkauf zu erzeugen? Wird das Glück der Schafe nicht allemal zuletzt zur Schlachtbank geführt, und läge es daher nicht vielleicht in ihrem wohlverstandenen Eigeninter­ esse, sich aus dem Regime des Hirten zu befreien? Der Fall der Hir­ tenkunst scheint also gerade nicht zu beweisen, daß jede Techne vor allem anderen und unwiderruflich auf die gute Beschaffenheit des Gegenstandes aus ist, mit deren Herstellung sie befaßt ist. Im Gegen­ teil, das Beispiel ließe sich sogar als unfreiwillige Selbstentlarvung des Platonischen Konzepts der Staatskunst verbuchen.45 Ich will es hier indessen nicht auf die Goldwaage46 legen, sondern nur als Indiz dafür nehmen, daß die Parallelisierung von Tugend und Technik an Grenzen stößt. Freilich besteht schon Platon selbst auf einer charakteristischen Differenz zwischen dem gesellschaftlich nützlichen technischen Wis­ sen und der umfassenden Einsicht in das an sich und damit für einen jeden Gute. Versuchen wir also, diese Unterscheidung auf der Ebene

45 So ähnlich lauten auch die Einwände des Thrasymachos gegen Sokrates' Teil-These, Gerechtigkeit sei nicht nur an sich selbst ein Gut, sondern auch von größerem Nutzen als Ungerechtigkeit. Vgl. Platon, Politeia, 343bff. Ralf Dahrendorf hat sich in einem bemerkenswerten Aufsatz unter dem Titel »Lob des Thrasymachos« auf die Seite des Thrasymachos geschlagen und die These vertreten, soziale Ordnung sei nur durch Zwang sicherzustellen. Interessant ist im systematischen Kontext dieser Arbeit Dahren­ dorfs Hinweis, daß der Systemtheoretiker Parsons dem nämlichen Irrtum erliege wie der Platonische Sokrates. Vgl. RalfDahrendorf, Lob des Thrasymachos-Zur Neuorien­ tierung von politischer Theorie und politischer Analyse, in: ders., Pfade aus Utopia, München 1967, S. 294-313. Vgl. auch Kapitel 9 dieser Arbeit zu Parsons und seiner Theorie der normativen Sozialintegration. 46 Ich gehe am Ende dieses Kapitels auf Poppers einflußreiche Kritik an Platon ein, die diese Richtung einschlägt. ^

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der arbeitsteiligen einfachen Warenproduktion genauer zu erfassen, auf der sich Platons Erläuterungen zunächst bewegen. Nur wer wirk­ lich gute Schuhe zu fertigen versteht, das liegt auf der Hand, be­ herrscht beispielsweise die Schusterkunst. Was aber ein guter Schuh ist, erweist sich, wie Platon zeigen kann, erst, wenn man ihn trägt, entscheidet sich also nicht in der Werkstatt des Handwerkers, son­ dern im gesellschaftlichen Zusammenhang des Gebrauchs, in dem sein Werk sich nützlich macht.47 Und erst wenn sie sich harmonisch in eine umfassende gute Ordnung einfügen, sind der bequeme Schuh, in dem man gerne geht, das scharfe Messer, das immer gut schneidet, und der tapfere Charakter, der verläßlich weiß, was zu fürchten ist und was nicht, vor Mißbrauch gefeit. Denn für sich ge­ nommen sind Schuh, Messer und Tapferkeit, die ihre je spezifische Funktion gut erfüllen, von Nutzen beispielsweise auch bei der Aus­ führung eines Verbrechens wie in einem ungerechten oder aussichts­ losen Krieg. Damit ihr Einsatz unzweifelhaft zum Guten ausschlüge, bedürfte es folglich eines umfassenderen Wissens, das die tech­ nischen Fertigkeiten in verbindliche Zweckwahrheiten einzubinden verstünde. Es ist daher die Einsicht in die »Idee des Guten«, die Pla­ ton von jenen fordert, die das Ganze regieren wollen. Wer bloß über technisches Spezialwissen verfügt, das bedenkt demnach schon Platon, ist immer in der Lage und somit unter Um­ ständen auch in der Gefahr und Versuchung, dieses Wissen zu nut­ zen, indem er absichtlich »Fehler« macht. Dem verbrecherischen Arzt, der einen Kranken gezielt zu Tode befördert, statt ihn zu heilen, wird man einen Verstoß gegen das ärztliche Ethos vorwerfen, nicht aber instrumentelles Know-How absprechen können. Als »gerecht« oder »gut« dagegen können wir laut Platon niemanden bezeichnen, von dem wir wissen, daß er vorsätzlich ungerecht handelt oder gar bei seiner eigenen zweckhaften Lebensführung absichtlich Fehler macht und so das wahrhaft Gute im Ganzen freiwillig verfehlt.48 An

47 Vgl. hierzu insbesondere Platon, Politeia 601dff. Diese Erörterungen stehen im Kon­ text der Platonischen Kritik an den schönen Künsten, die bloß Eidola herstellten, indem sie handwerkliche Produkte nachbildeten, die ihrerseits jenen Ideen gemäß hergestellt würden, die nur richtig erfassen könne, wer die ihnen entsprechenden Dinge richtig zu gebrauchen verstehe. 48 In Platons Hippias II wird dieser Sachverhalt ausführlich (vgl. 373 c ff.) diskutiert. Ich verstehe das aporetisch offene Resultat des Dialogs als Hinweis auf die Grenzen, an die eine Erläuterung des gesuchten umfassenden praktischen Tugendwissens nach dem 98

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diesem Punkt der Argumentation zeigt sich daher der systematische Vorrang der umfassenden Integrationskraft »Gerechtigkeit«, die nicht nur einem jeden den richtigen Ort zuweist, sondern auf eine unauflösliche Verquickung von Einsicht und Tun hindeutet, die sie nach Platon im Unterschied zu den übrigen Tugenden gegen alle An­ fechtungen ethischer Neutralisierung immunisiert. Dieser These scheint die vorhin zitierte Behauptung zu wider­ sprechen, selbst das Gerechte würde erst durch seine Verankerung in der Idee des Guten wahrhaft nützlich und heilsam.49 Platon hätte sich mit dieser Äußerung aber selbst widersprochen, wenn er auf diese Weise hätte andeuten wollen, das Ganze könne auch verkehrt sein, obwohl jeder das Seinige tue und habe. Gemeint ist wohl etwas an­ deres: zureichend, nämlich inhaltlich, bestimmen läßt sich die griffi­ ge Gerechtigkeitsformel allenfalls unter der Bedingung der Einsicht ins zweckvolle Ganze sozialen Handelns, aus der sich der Platz ergibt, den ein jeder für sich finden können und zum Wohle aller ausfüllen soll. Im übrigen mußte Sokrates in der Auseinandersetzung mit Thrasymachos bereits einräumen, daß viele Menschen der Verlokkung nachgeben, sich mit erschlichenem Ansehen und einem trüge­ rischen Nimbus der Gerechtigkeit zu schmücken, während sie ins­ geheim nur darauf aus sind, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Nur beim Guten, das ein jeder letztlich für sich selber anstrebe, lasse sich niemand mit dem bloßen Schein abspeisen.50 Allein in ihm ist daher der Grund zu suchen, der die gerechte Vermittlung des Einzelnen ins Allgemeine gewährleisten könnte. »Gutes aber genügt niemandem nur scheinbares zu haben, sondern jeder sucht, was gut ist, und den Schein verachtet hierbei

Modell technischer Fertigkeiten zwangsläufig stößt, und nicht als versteckte Zurück­ weisung der zuvor implizierten Einsicht in dessen ethische Neutralität. 49 G. X. Santas nimmt diese Stelle zum Ausgangspunkt, um in Platons Politeia zwei Theorien des Guten zu unterscheiden: eine zuvor eingeführte funktionale, die jedem Ding bzw. Organ sein Ergon zuweist, und die von jetzt an ins Zentrum des Dialogs tretende metaphysische. Die metaphysische Idee des Guten trägt ihm zufolge zwar die optimale Ausführung des je funktional Guten. Mit der Beseitigung seiner Ambivalenz scheint dies aber nichts zu tun zu haben. Denn Santos faßt die Idee des Guten als das auf, was eine jede besondere Idee ihrer reinen Form, nicht etwa den Regeln ihres guten Gebrauchs nach, zum Muster der besten Herstellung eines ihr entsprechenden Gegen­ standes macht. Vgl. G.X. Santas, Two Theories of Good in Plato's Republic, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, 67/1985, S. 223-245. 50 Vgl. Platon, Politeia 505d. ^

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schon jeder.«51 52 Diese, insbesondere in den Platon-Interpretationen der hermeneutischen Schule oft zitierte, Textstelle besagt aller­ dings nur, wir wollten uns in dem besonderen Fall des für uns selbst Guten keinesfalls täuschen (lassen) und uns nicht mit dem äußeren Anschein, es zu besitzen, begnügen. Der Platonische So­ krates behauptet hier also nicht, der letzte Zweck unseres Handelns sei uns, von Natur, unverfehlbar vorgegeben. Denn in dem einem jeden unterstellten Streben nach dem wahrhaft Guten liegt nicht zugleich schon die Garantie für seine Erfüllung. Wer keineswegs in die Irre gehen will, verfügt mit dieser Einstellung noch lange nicht über die untrüglichen Hilfsmittel zur akkuraten Realisierung sei­ nes Vorhabens, sondern allenfalls über eine kritische Instanz, die Unzufriedenheit mit einem gegebenen Zustand signalisieren und getroffene Entscheidungen als irrig erfahren kann. Solange wir das Gute zwar wollen, aber nicht wirklich wissen, worin es besteht, sind wir jedenfalls nicht dagegen gefeit, immer wieder Irrtümer zu begehen. Hans-Georg Gadamer dagegen liest die oben zitierte Stelle aus der Politeia als Hinweis darauf, daß sich das wahrhafte Gute, nach dem wir der Platonischen Ontologie des Handelns gemäß alle streben, nach dem Vorbild des Nütz­ lichen ermitteln lasse. Der Platonische Sokrates stütze sich hier nämlich zu Recht auf die Beobachtung, das »Wissen des Nützlichen« habe »einen un­ leugbaren Vorzug: die Überlegenheit über allen Schein und alle Scheinbarkeit des menschlichen Redens und Rühmens«52. Auch andernorts überschätzt Gadamer meines Erachtens die paradigmatische Funktion des Nützlichen für das gesuchte Gute.53 Gadamer räumt hier zwar ein, Techne-Wissen sei nach Platon insofern unzulänglich, als es »eine letzte Rechenschaftsgabe schuldig« bleibe, nämlich die vom Guten selbst. Er macht sich aber die Ambivalenz technischen Wissens nicht zureichend klar, die sich auch in dem im Kontext der interpretierten Politeia-Stelle angedeuteten Sachverhalt spiegelt, es könne für jemanden sehr wohl von Nutzen sein, nur in den Augen der ande­ ren als gerecht zu scheinen, ohne es wirklich zu sein. Auf das, was in letzter Instanz nur scheinbar gut ist, kann der kurzsichtige Eigennutz also sehr wohl

51 Platon, Politeia, 505 d: »... dya0d 6e ohÖEvi ett aQXEi td öoxoüvta xtäoOai, dkkd td övta 0ev U|toüotv, tf|v 6e 6o|av EvtaüOa ^6r| mag dt^d^Et; ...« 52 Hans-Georg Gadamer, Praktisches Wissen, in: Werke V, Tübingen 1985, S. 230-284, dies S. 237. Daß diese Deutung auf die Stelle 505 d bezogen ist, wird auf S. 238 deutlich. 53 Vgl. H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, in: Wer­ ke VII, S. 128-227, vor allem S. 173, wo wiederum ausdrücklich auf die Stelle Politeia 505 d Bezug genommen wird. 100

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als wirksames Mittel zur Wahrung seiner unzulänglich bestimmten Inter­ essen setzen. Aus diesem Grunde bedarf es Platon zufolge ja gerade der über­ legenen Einsicht in die Idee des Guten, damit auch wahrhaft gut gerate, was laut Gadamer in lehrreicher Weise zur »Illustration des >WissensIdee des Gutem, Beitrag in der Festschrift für Wolfgang Wieland. Ich zitiere ^

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nähere wie der weitere Kontext der interpretierten Äußerung dafür, daß es eine dritte Alternative gibt, die das eigentliche Problem darstellt, das die Er­ kenntnis der Idee des Guten zu lösen verspricht. Es ist Platon zufolge nämlich sehr wohl möglich, daß wir uns über das Gute täuschen59 und irrigerweise etwas anstreben, was nur scheinbar und nicht wahrhaft gut ist. Wir wissen zunächst einmal gar nicht genau genug, was gut ist. Deswegen ist unser Stre­ ben nach dem Guten »schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist«60. Und aus diesem Grunde gibt es auch viel Streit darüber, was das für alle verbindliche wahrhafte Gute denn überhaupt sein mag.61 Daß die zi­ tierte Äußerung über die teleologische Ausrichtung der handelnden Seelen nicht besagt, »beim Guten könne keine Differenz zwischen Schein und Wirk­ lichkeit auftreten«62, räumt dagegen Wolfgang Wieland ein. Nur zögerlich aber benennt er Konsequenzen dieser Einsicht, die, wie ich im nächsten Un­ terkapitel andeuten werde, Zweifel an der pointiert pragmatischen Deutung wecken, die Wieland der Platonischen Konzeption der Idee des Guten gibt. Hier ist für's erste nur folgendes anzumerken: Wenn es zutrifft, daß die Pla­ tonische Teleologie des Handelns, wie Wieland zu Recht betont, »durch das Bewußtsein des Handelnden vermittelt ist« und der Handelnde zwar »not­ wendigerweise nach dem« strebt, »was er für das Gute hält«, es aber »nie­ mals ausgeschlossen« ist, »daß er insofern in einem Irrtum befangen ist«63, erscheint mir fragwürdig, wie zugleich kohärent davon die Rede sein könnte, »ein nur scheinbar, aber nicht wirklich Gutes (könne, H. H.) als solches für den handelnden Willen kein mögliches Ziel«64 darstellen.59 60 61 62 63 64

nach dem 9-seitigen Typoskript des Aufsatzes, das mir der Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Dies S. 3. 59 Vgl. Platon, Politeia, u.a. 468 d. 60 So übersetzt Schleiermacher die Stelle in 505e: »ärnoponoa 6e xai ohx e%ovaa Laßefv Ixavmg tl not eotiv ...« 61 Vgl. Platon, Politeia, 505 d. 62 Die Menge, so heißt es zuvor in 505 b, halte die Lust für das Gute, andere, die sich ihr überlegen dünkten, die Phronesis. Der Vorwurf, sie wüßten jedoch nicht aufzuzeigen, welche Einsicht damit gemeint sei und versicherten schließlich »die des Guten«, ließe sich ähnlich, allerdings etwas verwickelter, wohl auch gegen Platon wenden, wenngleich Sokrates' anschließende Ausführungen andeuten, daß diese tautologische Auskunft Sinn machen könnte, wenn sie beim Adressaten ein Vorwissen des Guten voraussetzen kann. Ethischen Charakter kann dieses Vorwissen allerdings nicht haben, denn heißt es doch in 518 d,e die konkreten Tugenden und Sitten würden durch Übung angenommen, ohne zuvor in irgendeiner Weise schon im Einzelnen vorhanden gewesen zu sein. Was dieser als handelndes und erkennendes Wesen immer schon mitbringe, sei dagegen eine Art Sinn für das Gute überhaupt, der allerdings auch noch vom Sinnlichen abgewendet und auf das Unwandelbare, Noetische gerichtet werden müsse. W. Wieland, Platon und der Nutzen der Idee, a. a. O., S. 28. 63 W. Wieland, Platon und der Nutzen der Idee, a. a. O., S. 28. 64 W. Wieland, Platon und der Nutzen der Idee, a. a. O., S. 28. 102

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Noch problematischer kommt mir die Tendenz vor, die Figals Interpre­ tationen der nämlichen Politeia-Stelle aufweist. Er glaubt sie nämlich zu­ nächst als Beleg dafür nehmen zu können, daß wir handelnd immer schon ein »verbindliches« (und das meint bei ihm augenscheinlich nicht ein inter­ subjektiv verbindliches, sondern bloß ein vom jeweiligen Handelnden zwei­ fellos anvisiertes und ihm gar keine Wahl lassendes) Ziel vor Augen hätten: »Wer etwas will, täuscht sich nicht über das Ziel seines Wollens; das Ziel, das man will, erscheint niemals nur als verbindlich, sondern es ist verbindlich.«65 Figals Erläuterungen dieser eigenartigen »Verbindlichkeit« übersehen das Moment der subjektiven Brechung in Platons Teleologie des Handelns, das uns auch im Streben nach dem Guten für Irrtümer empfänglich macht. Er charakterisiert das verbindliche Wollen des einzelnen daher als unverfehlbare Vermittlung von objektiver Teleologie (was an sich gut ist, wird angestrebt) und subjektiver Willkür (gut zu nennen ist, was ich anstrebe), wie sie für neuzeitliche Positionen typisch ist65 66, 67 ohne 68 einer verbindlichen Antwort auf die Frage, wie das gesuchte Gute denn aber konkret zu bestimmen sei, ent­ scheidende Schritte näherzukommen. »Man will nichts,« so Figals Deutung Platons, »weil es, für sich betrachtet, gut ist, und nichts ist nur gut, weil man es will; vielmehr ist etwas nur gut, wenn es verbindlich ist, und wahrhaft verbindlich für einen selbst nur, indem man es will. Das Gute ist also nichts anderes als das Zusammengehören von Wollen und Gewolltem in der Ver­ bindlichkeit.«67 Was hier »Verbindlichkeit« genannt wird, ähnelt für mein Verständnis indessen allzu sehr postmoderner Beliebigkeit, als daß es treffen könnte, worum es Platon im Kontext der Politeia geht. Was Figal als untrüg­ lich Gewolltes qualifiziert, hat nämlich offenbar keinerlei soziale Funktion. Es scheint weder mit intersubjektiven Bindungskräften, noch mit der Diffe­ renz von wahr/richtig und falsch/scheinhaft zu tun zu haben. Bei Platon steht das Gute dagegen nicht einfach für »die Möglichkeit von bestimmten Zielen überhaupt«68, wie Figal meint. Die Vertrautheit mit der Idee des Guten soll vielmehr dafür sorgen können, daß wir Schein und Wahrheit intersubjektiv verbindlich unterscheiden können, indem wir unsere Lebensführung im ein­ zelnen wie im Ganzen auf das wahrhaft Gute ausrichten.69

65 Günter Figal, Die praktische Vernunft des guten Lebens und die Freiheit des Verste­ hens, in: Antike und Abendland, Bd. XXXVIII, Berlin/New York 1992, S. 67-81, hier S. 76. 66 Ich erläutere diese typisch neuzeitliche nominalistische Einstellung zum Guten in Kapitel 7 in Auseinandersetzung mit Hobbes und Kant. 67 Figal, Die praktische Vernunft des guten Lebens ..., a.a.O., S. 76. 68 Günter Figal, Das gute Leben als Leben im Möglichen, in: ders., Das Untier und die Liebe, Stuttgart 1991, S. 31-48, hier S. 44. 69 Daß die richtige Bestimmung des Guten auch das Kriterium der Beständigkeit der Zweckorientierung zu berücksichtigen hat, betont Figal freilich zu Recht. Vgl. G. Figal, Handlungsorientierung und anderes als das, a. a. O., S. 3. ^

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Das ahnungsvolle Streben nach dem Guten, das Platon einem jeden glaubt unterstellen zu können, bedarf also allemal der Korrektur durch das höchste Wissen vom Guten im Ganzen, die Zweckorientie­ rung, die die Idee des Guten verspricht. Dem belehrbaren Eigeninter­ esse ist deshalb die Hand zu reichen und durch Bildungsprozesse der Weg zum richtigen Leben in der guten Ordnung der Gemeinschaft zu bahnen, in der ein jeder das Seinige tut und hat. Die verbindliche Bestimmung dessen, was in jedermanns Interesse, aber nicht offen zutage liegt, erfordert Platon zufolge umfassendes Wissen, dessen Erwerb nicht von jedem erwartet werden kann. Obwohl sich Platons Konzept der Sozialintegration durch Gerechtigkeit auf die hand­ lungstheoretische Beobachtung stützt, alles individuelle Handeln sei ins wahre Gelingen verliebt und deshalb von sich aus auf das an sich selbst und nicht nur zu diesem oder jenem anderen Gute aus70, 71 gipfelt es daher in der politischen Forderung, wenigstens die Regenten der Polis sollten über das nötige Wissen zur Realisierung des wahrhaft Guten verfügen, das einem jeden anzuempfehlen wäre. »Was also jede Seele anstrebt und um dessentwillen alles tut, ahnend, es gäbe so etwas, aber doch nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen Überzeugung gelan­ gend, wie auch bei anderen Dingen, daher aber auch anderes mit verfehlt, was irgend nutz wäre: sollen über diese so wichtige Sache auch jene Besten im Staat so im dunkeln sein, in deren Hände wir alles geben wollen?«71 Die Antwort lautet verständlicherweise: Kei­ neswegs.72

70 Vgl. Platon, Politeia, 505e, auch 517c; vgl. auch Gorgias, 499e/500a. Die Zweck-Mittel-Unterscheidung hat nach Platon aber nicht bloß pragmatisch-prakti­ schen Charakter, sondern verweist allemal auf Struktur- und Statusunterschiede im Seienden selbst. In ihnen gründen überhaupt erst die Handlungsmöglichkeiten des Menschen. Demzufolge gibt es je schon Seiendes, das nur um eines anderen willen ist, und Seiendes, um dessentwillen anderes ist. Letzteres aber gehört unzweifelhaft zur Ordnung des Guten. Vgl. Philebos, 53eff. Es ist daher ontologisches Wissen gefordert, damit die Handelnden die Zweck-Mittel-Unterscheidung angemessen treffen und sich an den richtigen Zwecken orientieren können. 71 Platon, Politeia, 505e/506a. 72 Die Frage, ob überhaupt Aussicht bestehe, den Idealstaat auch zu verwirklichen, wird in der Politeia mehrfach erörtert. Die einhellige Antwort ist, daß der Entwurf der ge­ rechten Polis zumindest das Muster angebe, mit dem größtmögliche Ähnlichkeit anzu­ streben sei und an dem sich die faktischen Gegebenheiten messen lassen müßten. Vgl. Platon, Politeia, 472d, 540d, 592a,b. 104

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Die Unbestimmtheit der Idee des Guten Während es Platon in der Politeia meines Erachtens also sehr wohl gelingt, das Desiderat eines höchsten allgemeinverbindlichen Zweck­ wissens aufzuzeigen, erreicht die Vision der Idee des Guten, die dieses Desiderat zu erfüllen verspricht, nicht den Grad von Be­ stimmtheit, der dafür nötig wäre. Von der Unzulänglichkeit der Pro­ blemlösung, die Platon explizit zu präsentieren versteht, zeugt nicht zuletzt die seitherige Geschichte der Philosophie und Politik, die über die Ontologie des guten Handelns ebenso hinweggegangen ist wie über das substantialistische Verständnis sozialer Gerechtigkeit. Diese faktische Zurückweisung der Platonischen Konzeption sozialer Ord­ nung läßt sich zu einer systematischen Schwierigkeit in Bezug set­ zen, auf die sich die bleibende Unbestimmtheit der Idee des Guten, wie mir scheint, zurückführen läßt. Als (zweckhafter) Grund der Einheit des Vielen und Maß der Harmonie im Ganzen muß die Idee des Guten zwar beim Entwurf des idealen Staates insgeheim schon beherzigt und auf verborgene Weise in ihm präsent sein. Denn nur in dieser metaphysischen Hin­ sicht läßt sich die wahrhaft gerechte Polis von den faktisch bestehen­ den unterscheiden, die aufgrund ihrer inneren Gebrechen zu Instabi­ lität und Untergang verurteilt sind. Der Hinweis auf dieses Versteck kann aber die Explikation dessen, was den theoretischen Grund der praktisch verbindlichen politischen Entscheidungen ausmacht, nicht ersetzen. Das sieht auch der Platonische Sokrates so. Denn er erklärt ausdrücklich, der höchste philosophische Lehrgegenstand (^eyiOTOv p,a6^p,a), die Idee des Guten, erfordere auch die genaueste Ausarbei­ tung.73 Es ist daher bemerkenswert, daß die Politeia zunächst den Weg

73 Vgl. Platon, Politeia, 504dff. Platon spricht hier ausdrücklich davon, es genüge nicht, den größten »Gegenstand« (ich wähle diesen allzu neuzeitlichen Terminus nicht ohne Bedenken) des Wissens nur umrißhaft zu betrachten, er bedürfe vielmehr gerade der allergenauesten Kenntnis und vollständiger Ausarbeitung. Und das, so darf man viel­ leicht in Erinnerung an eine frühere Textstelle ergänzen, um so mehr, als es ohnehin in der Natur des Handelns liegt, »daß sie weniger das wahre Wesen trifft als die Rede« (eb., 473 a). Wenn es im Philebos einmal heißt, das Zweitbeste, anders als das Beste, die göttliche Vernunft, auch dem Menschen zugängliche, müsse wenigstens umrißhaft (61 b) erkannt werden, so muß das nicht bedeuten, daß es nicht auch genauer ginge. Unzweifelhaft ist, daß in Platons Sicht die Wissenschaft, die es mit den vornehmsten Inhalten zu tun hat, die Dialektik, auch die präziseste ist. Vgl. ebenda, S. 57f. ^

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der bildlichen Veranschaulichung wählt74, um der geforderten ge­ nauesten Bestimmung näher zu kommen. Die faszinierende Gleich­ nistrias aus Sonnengleichnis, Liniengleichnis und Höhlengleichnis75 charakterisiert die Idee des Guten nun nicht mehr allein als den In­ begriff des um seiner selbst willen anzustrebenden praktisch Besten, sondern darüber hinaus als letzten Grund bzw. Ursache des Seienden als solchen wie seiner wahren Erkenntnis. Was die Sonne im Bereich des Sichtbaren leiste, das vollbringe, so lautet die übereinstimmende Botschaft von Sonnen- und Höhlengleichnis die Idee des Guten in der Sphäre des Denkbaren, also der Ideen.76 Wie die Gleichnisse sel­ ber, so liefert auch ihre anschließende Deutung durch Sokrates keine 74 Nachdem die Unterredung zwischen Sokrates und Glaukon klargestellt hat, daß wis­ sen müsse, inwiefern das Gerechte und Schöne auch gut sei, wer es bewahren wolle, ja daß, sofern dieser Aspekt nicht erhellt sei, beides gar nicht genau erkannt sein könne, fordert Glaukon Sokrates auf, nun auch über das Gute so Auskunft zu geben, wie zuvor über die Gerechtigkeit und die Besonnenheit (Platon, Politeia 506 d). Sokrates aber er­ widert, für jetzt die Antwort auf die Frage lassen zu wollen, was das Gute selbst sei. Im augenblicklichen Klärungsversuch sei der Weg zu weit, als daß er dazu kommen könnte, auch nur Auskunft darüber zu geben, was erjetzt darüber meine. Er will aber immerhin mitteilen, was ihm ein sehr ähnlicher Sprößling des Guten zu sein scheine, und präsen­ tiert seinen Gesprächspartnern daraufhin das Sonnengleichnis. Und auch bevor sich Sokrates zur Erzählung des Liniengleichnisses entschließt, merkt er gegen den aufvoll­ ständige Auskunft drängenden Glaukon an, daß noch mancherlei unausgesprochen sei und auch weiterhin vieles ausgelassen werden müsse (vgl. Platon, Politeia 509 c). Soviel jedoch, wie »jetzt« möglich sei, wolle er doch darlegen. 75 Zur Interpretation der Gleichnisse vgl. Hans Krämer, Die Idee des Guten. Sonnenund Liniengleichnis (Buch VI 504a-511 e), in: Otfried Höffe (Hg.), Klassiker auslegen: Platon, Politeia, Berlin 1997, S. 179-203 und Thomas A. Szlezak, Das Höhlengleichnis (Buch VII 514a-521b und 539d-541b), in: Otfried Höffe (Hg.), Klassiker auslegen: Platon, Politeia, a.a.O., S. 205-228. Die Gleichnisse stellen Glanzstücke der Politeia dar, die nicht nur immer wieder gerne interpretiert werden, sondern durch das in die Form des Gleichnisses eingelagerte Moment der Unbestimmtheit in besonderem Maße zu dem verlocken, was Hans Blumenberg als »Arbeit am Mythos« bezeichnet hat. Sie erlaubt es, eine alte Geschichte immer wieder neu zu erzählen, ihr bisher unentdeckte Aspekte abzuringen, Leerstellen aufzufüllen und erfaßte Fäden in unterschiedliche Richtungen fortzuspinnen. Blumenberg hat solche Arbeit am Mythos nicht zuletzt am Platonischen Höhlengleichnis vollzogen. Vgl. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/Main 1989, insbesondere S. 85-181 ff. 76 Eine Idee ist das eine unwandelbare Allgemeine, das sich von dem vielen verschiede­ nen und in sich veränderlichen sinnlich wahrnehmbaren Einzelnen unterscheidet, das ihm mehr oder weniger gut entspricht und in dem es durch das Denken wiedererkannt wird. In diesem Sinne spricht Platon in der Politeia von der Idee der Gerechtigkeit, der konkrete politische Verhältnisse mehr oder weniger gut entsprechen können, ebenso wie von der Idee des Bettgestells, die der Handwerker in einem bestimmten Material realisiert. Zur Ideenlehre der Politeia vgl. u.a. Christoph Horn, Platons episteme-doxa106

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eindeutige Bestimmung der Idee des Guten zutage, die geeignet wä­ re, inhaltlich zu präzisieren, wie sie die prinzipiellen Funktionen wirklich erfüllen könnte, die ihr zugeschriehen werden. Es wird nicht deutlich genug, wie die höchste Einsicht des Sein und Wahrheit stif­ tenden, heide üherragenden Guten heschaffen ist, als daß sich dem Argumentationsgang der Politeia eine überzeugende Antwort auf das Problem verbindlicher Zweckbestimmung entnehmen ließe. Platon stellt sich die Frage, wie eine Polis gerecht zu verwalten sei, allerdings nicht nur in der Politeia, sondern auch im Politikos und in den Nomoi.77 In diesen beiden Dialogen wird die spekulative Idee des Guten nicht als solche thematisiert. Dennoch zeigt sich auch hier, daß Platon die Möglichkeit der gerechten Verwaltung der Polis prinzipiell an die Einsicht in eine verbindliche Zweckbestimmung sozialen Handelns binden möchte, deren exakter Aus­ buchstabierung er indessen nicht wesentlich näher kommt. Obwohl er im Politikos wie in den Nomoi der Gesetzgebung eine wichtigere Rolle für die Wahrung der sozialen Ordnung zuerkennt als in der Politeia, stellt Platon auch hier das umfassende integrative Wissen in den Vordergrund, das nötig ist, um ein Gemeinwesen gut zu regieren. Als König anzusehen sei nur, so heißt es daher ganz im Sinne der Figur der Philosophenherrschaft, wer die königliche Erkenntnis besitze, egal ob er regiere oder nicht bzw. mit oder ohne Gesetz regiere.78 Dem königlichen praktischen Wissen, so ergibt der Gang des Gesprächs, eigne auch nicht mehr die Ambivalenz spezieller Technai wie beispielsweise der ärztlichen Kunst.79 Es gelinge ihm vielmehr, die Einseitigkeit der Einzeltugenden zu überwinden, die untereinander uneins sein und in der Folge auch diejenigen, die sie besitzen, uneins machen könnten.80 Verläßliche Bande zwischen den Tapferen und den Besonnenen Unterscheidung und die Ideentheorie (BuchV474b-480a und Buch X 595 c-597 e), in: O. Höffe (Hg.), Klassiker auslegen: Platon, Politeia, a. a. O., S. 291-312. 77 Im Philebos geht es dagegen um die Frage, welches Leben der Einzelne vorziehen sollte, eines, das auf größtmöglichen Lustgewinn aus ist, oder eines, das sich Phronesis und Nous verschreibt. Die Untersuchung führt zu der Einsicht, das Gute für den Men­ schen sei nur im gemischten Leben zu finden, das Schönheit, Maß und Wahrheit auf­ weise. Daß das noetisch isolierbare Gute an sich nicht in einem weltabgewandten Jen­ seits für sich existiert, sondern im Gegenteil als Ordnungsprinzip in allem wirksam sein muß, was wahrhaft wirklich ist, also nur in richtigen oder guten Mischungen (von peras und apeiron, wie im Philebos dargelegt wird) zur Geltung kommen kann, deutet Platon allerdings bereits in der Politeia in unterschiedlichen Varianten an. So ist beispielsweise in 501 aff. davon die Rede, die Philosophenkönige müßten ihren Blick sowohl auf das von Natur Gerechte und Schöne etc. wie auch auf die faktischen menschlichen Verhält­ nisse richten, um für eine glückliche Polis sorgen zu können. 78 Vgl. Platon, Politikos, 292 b - 293 c. 79 Vgl. Platon, Politikos, 298 a - c. 80 Vgl. Platon, Politikos, 308 b. ^

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beispielsweise herzustellen und sie miteinander zu einer glücklichen Ge­ meinschaft zu verweben, sei gar nicht so schwer, wenn beide übereinstim­ mende Meinungen über das Gute und Schöne hätten.81 Auch die Nomoi sehen die Aufgabe der Gesetzgebung und Regierung darin, für das gerechte und glückliche Zusammenleben aller Bürger zu sor­ gen, bei dem alle über die wahren menschlichen und göttlichen Güter in der richtigen Ordnung verfügen.82 Das Wissen, das zur Einrichtung und Erhal­ tung einer solchen Gemeinschaft nötig sei, betreffe daher vor allem die Tu­ genden und den integrativen Zweck des Ganzen. Der sei im Falle der Staats­ kunst allerdings erheblich schwieriger zu bestimmen als für die Tätigkeiten des Arztes, Heerführers oder Steuermanns.83 Auch in den Nomoi beschrän­ ken sich die weiteren Auskünfte zur verbindlichen Zweckerkenntnis indessen auf einige Andeutungen zur Dialektik. Wer in ihr bewandert sei, so wird ge­ gen Ende der Nomoi angedeutet, vermöchte zu erkennen, was die verschie­ denen Tugenden gemeinsam haben.84 Und nur wer dieses Eine oder Ganze ins Auge zu fassen verstehe, könne zugleich alles andere überschauen und ihm gemäß gestalten.85 Auch am Ende der Nomoi bleibt aber offen, wie dieses Eine und Ganze zureichend zu bestimmen wäre, das alle Tugenden verbinden und daher wenigstens den Hütern der sozialen Ordnung so klar bekannt sein sollte, daß sie ihre Einsicht in geordnete Rede übersetzen und ihr Taten folgen lassen können.

Daß die Schlüssel-Idee des Guten nicht nur in Platons Politeia in auffälliger Weise unbestimmt bleibt, wird von den einschlägigen Pla­ ton-Interpreten durchaus nicht geleugnet86, sondern nur unter­ schiedlich gedeutet. Wie ich im folgenden darlegen werde, kann ich mich keiner der beiden prägnantesten Auslegungsstrategien an­ schließen, die die Literatur bietet. Die Unbestimmtheit der Idee des Guten ist meines Erachtens weder als Chiffre für eine in sachlich sehr wohl befriedigender Gestalt von Platon ausgearbeitete Lehre zu neh­ men, die er aus prinzipiellen Gründen schriftlich nicht mitteilen wollte, noch im Gegenteil als Hinweis darauf, Platons affirmative Botschaft sei für den aufmerksamen Leser im Text längst in anderer Weise deutlich genug ausgesprochen worden. Die bleibende Unbe­ stimmtheit der Idee des Guten scheint mir vielmehr symptomatisch 81 Vgl. Platon, Politikos, 310e — 311c. 82 Vgl. Platon, Nomoi, 631b—d. 83 Vgl. Platon, Nomoi, 963 a, b. 84 Vgl. Platon, Nomoi, 963cff. 85 Vgl. Platon, Nomoi, 965 c. 86 Vgl. dazu u.a. H. Krämer, Die Idee des Guten ..., a.a.O., S. 181 einerseits und W. Wieland, Platon und der Nutzen der Idee, a.a.O. S. 22f. andererseits. 108

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zu sein für die von Platon jedenfalls ungelösten, vielleicht aber über­ haupt unlösbaren Schwierigkeiten der Sache selbst, der Platon sich mit seiner Konzeption der Onto-Telologie des Guten freilich immer­ hin stellt. Diese Schwierigkeiten gründen in dem Umstand, daß erste Grundsätze, ganz gleich ob sie nur für unser Wissen Bedeutung be­ anspruchen oder auch unser Tun binden sollen, nun einmal nicht denselben Regeln der Rechtfertigung genügen können wie zweck­ relatives technisches Wissen oder auch einzelwissenschaftliche Er­ kenntnisse, die von bestimmten begrifflichen und methodischen Vor­ entscheidungen abhängen.87 Die allerhöchste und wichtigste Einsicht läßt sich nicht im schrittweisen Rückgang der Gründe erschließen und affirmieren oder, mit einem modernen Terminus bezeichnet, letztbegründen.88 Der Platonische Sokrates trägt diesem Unterschied ausdrücklich Rechnung. Während er den verschiedenen Spezialdis­ ziplinen nämlich zugesteht, ohne weiteres von undurchschauten Vor­ aussetzungen ausgehen zu dürfen, besteht er zugleich auf der Forde­ rung, diese Voraussetzungen bedürften in einem umfassenderen philosophischen Blickwinkel doch der weiteren Aufklärung und aus­ drücklichen Rechtfertigung. Im Lichte der Idee des Guten soll allein die sinnenferne Begriffsarbeit in Gestalt der Dialektik dieser Aufgabe gerecht werden und allen Einzelerkenntnissen aus der überlegenen Perspektive der Integration ins Ganze ihren systematischen Ort zu­ weisen können.89 Aber nicht nur das. Während den nur scheinbar 87 Das sollte im letzten Kapitel (4) hinreichend deutlich geworden sein. 88 Rafael Ferber spricht in seinem Buch »Platos Idee des Guten« (Sankt Augustin 19892) in diesem Sinne von der »unvermeidlichen Widersprüchlichkeit der Rede über das Gu­ te« (S. 152) Sie habe es nämlich gleich mit zwei notwendigen Widersprüchen zu tun: a) dem epistemologischen, bestimmen zu wollen, was die Subjekt-Objekt-Differenz sei, in der sich alles Erkennen abspiele, und b) dem ontologischen, die Idee des Guten als das ansehen zu wollen, was jenseits von Sein und Wesen ist, und zugleich als ein Seiendes, wenn auch das Glänzendste unter dem Seienden (vgl. S. S. 150). Die Idee des Guten könne »wohl deshalb nicht voll erfaßt werden, weil sie nur widersprüchlich erfaßbar« sei (a. a. O., S. 154). Ferber betrachtet Platon in diesem Blickwinkel als einen Wegberei­ ter der Mystik: »Plato führt mit der Grenze seines geschriebenen Wortes auch den Menschen an seine Grenze, wo er nur noch widersprüchlich denken kann, was er sonst gar nicht mehr denken kann. Wie die Mystiker, welche sagen, daß der Gegenstand ihres Sprechens unaussprechbar ist, und doch von ihm sprechen (...), so ist für Plato die Idee des Guten jenseits des Seins und doch ein Sein, »anderes und schöneres« als Erkenntnis und doch erkennbar.« A.a.O., S. 153. 89 Vgl. Platons Erläuterung des dialektischen Vorgehens, Politeia, 533 b ff.; vgl. dazu auch u.a. Phaidros, 265d-266c, Philebos, 57c-f, Sophistes, 253 b, c. ^

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über zureichendes Wissen verfügenden Sophisten nicht zuletzt vor­ geworfen wird, sie seien unfähig, ihre Ansichten durch Gründe zu legitimieren90, wird vom wahrhaft Wissenden schließlich sogar er­ wartet, auch über die höchstmögliche Einsicht in das Wesen des Gu­ ten selbst rechtfertigend Rede stehen zu können.91 Es ist unter diesem Vorzeichen um so auffälliger, daß die diskur­ siven Erläuterungen, die den Erzählungen der Gleichnisse in der Politeia folgen, mit denen die argumentierende Rede sich zunächst an­ schaulich beholfen hat, den Schleier des Ungefähren, der die Idee des Guten umhüllt, nicht lüften. Die Auskünfte beschränken sich auf einige Fingerzeige zur richtigen Ausbildung der Philosophenkönige, die in allen Wissenschaften bewandert sein müssen, und die alles in allem doch recht trockene Versicherung, auf dem Wege der Dialektik, also dem weiteren Weg, den die Dialogführenden der Politeia aus­ drücklich nicht gehen, seien Sein und Wesen eines jeden Seienden zu erfassen und auch von der Einsicht in die Idee des Guten genau Rechenschaft zu geben. Die abschließende Erklärung, ohne die Er­ kenntnis der Idee des Guten, die sich dialektisch zu rechtfertigen ver­ stehe, sei überhaupt nichts Gutes verläßlich zu erkennen, wiederholt indessen nur in einer anderen Tonlage die Verheißung, mit der die Deutung des Höhlengleichnisses einsetzt, nämlich daß die »Idee des Guten ... für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeu­ gend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten.«92 Daß die Ausführungen über die Idee des Guten sich nur auf Andeutungen beschränken, die den wißbegierigen Leser wohl kaum befriedigen können, nimmt eine Reihe von Platonforschern als einen unübersehbaren aus einer ganzen Serie von Hinweisen auf eine esoterische Lehre des Philosophen93, Wie die Idee des Guten alles Sein wunderbar übertrifft (Politeia, 509b, c), so offenbar auch die Dialektik alle anderen Wissenschaften. Sie ist keine esoterische Spezialdis­ ziplin, sondern das umgreifende und abschließende »Sims« (©Qtyxog) aller Erkennt­ nisse. Ebenda, 534 e. 90 Vgl. Platon, Gorgias, 465 a, Politeia, 493 d. 91 Vgl. Platon, Politeia 534 c. 92 Platon, Politeia, 517 c. 93 Neuere Literatur zu diesem Thema besprechen kundig und besonnen Michael Hoffmann/Mischa von Perger, Neues zu Platons »ungeschriebenen Lehren«, in: Philosophi­ 110

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die sich in den Platonischen Dialogen wie in der indirekten Überlieferung der Lehre Platons94 finden ließen. Nur seinen dafür wirklich begabten Schülern der Akademie habe Platon den mehrfach beschworenen weiteren Weg mündlich gewiesen, auf dem die dialektische Ergründung und Rechenschafts­ legung von letzten Seinsprinzipien möglich sein soll. Ihnen aber habe er durchaus eine ausgewachsene ontologische Kategorienlehre präsentieren können, in der auch der rätselhaften »Idee des Guten« ein wohlbestimmter Platz zugewiesen worden sei.95 Im Rahmen des systematischen Argumenta­ tionsgangs, den ich in dieser Studie verfolge, ist entscheidend, ob sich in die­ ser Perspektive eine greifbare Lösung des Problems verbindlicher Zweck­ bestimmung abzeichnet. Auffällig ist daher zunächst, daß die entsprechend relevante »Idee des Guten« zumindest in Krämers einschlägigem Rekon­ struktionsversuch eine signifikante Herabstufung erfährt: Aus der schlecht­ hin »größten Einsicht« der Politeia wird hier nämlich ein bloß abkünftiger »Wertgesichtspunkt«, der dem eigentlich maßgebenden Seinsgrund, dem Eins, unterzuordnen sei, und durch seine spekulative Verwurzelung in ihm und der unbestimmten Zweiheit96 kaum griffigere Gestalt annimmt als in den vorliegenden Texten Platons.97 sche Rundschau 43. Jg. (1990) S. 97-133. In nachvollziehbarer Weise beklagen sie auch eine gewisse Aggressivität, mit der einige der federführenden Autoren den Streit um Platons Schriften und ungeschriebene Lehren führen, und die wissenschaftlich bedenk­ liche Tendenz einiger Kontrahenten, ihre jeweilige Auffassung dogmatisch »als die ein­ zig mögliche« (ebenda, S. 100) anzusehen. In einer langen Anmerkung zu einem Auf­ satz über den Timaios hat sich H. J. Krämer wiederum auf die Rezension Hoffmanns und v. Pergers bezogen und den beiden Autoren, die sich ausführlich nicht zuletzt auf Bücher Reales, Krämers und Szlezaks einlassen, »Diskurs- undArgumentationsverweigerung« vorgeworfen. Vgl. Hans Krämer, Die Idee der Einheit in Platons Timaios, in: Perspektiven der Philosophie - Neues Jahrbuch 1996 (22), S. 287-304, dies Anm. 25, S. 302. Zur deutungsgeschichtlichen Selbsteinordnung der »Tübinger Schule« vgl. auch Hans Krämer, Altes und neues Platonbild, in: Methexis VI (Buenos Aires 1993), S. 95-114. 94 Vgl. insbesondere Aristoteles, Phys 209 b 14-15 sowie Aristoxenus, Elemanta harmonica II, 30 (Hg. H. S. Macran), Oxford 1902. 95 Vgl. hierzu auch Konrad Gaiser, Plato's enigmatic lecture >On the Goodc, in: Phronesis 25/1980, S. 5-37. Gaiser versucht hier vor allem plausibel zu erklären, warum Platon seine esoterische Lehre der indirekten Überlieferung des Aristoteles-Schülers Aristoxe­ nus gemäß, anscheinend in Gestalt dieser Vorlesung ausgerechnet einem verständnis­ losen breiteren Publikum öffentlich vorgetragen hat. 96 Vgl. Platon, schon Politeia 476aff. 97 Vgl. H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles - Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959, u. a. S. 449, S. 479, S. 555 und jüngst wie­ der ders., Die Idee des Guten ..., a.a.O., wo Krämer noch einmal betont, die in der Politeia benannten Funktionen und Merkmale des Guten müßten »aus seinem verdeckt gehaltenen Wesen hervorgehen« (S. 188), das »die Einheit selbst« (S. 189) sei. So, wie Krämer die praktische Bedeutung der esoterischen Prinzipienlehre Platons in seinem ^

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Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß nicht nur auf die indirekte Über­ lieferung, sondern auch auf eine Vielzahl prominenter Textstellen, soge­ nannter »Aussparungsstellen«, in den überlieferten Dialogen verweisen kann, wer sich die Annahme einer esoterischen Doktrin Platons zu eigen ma­ chen möchte. Die grundsätzlichen hermeneutischen Bedenken, die vor allem in Phaidros 275aff. gegen die schriftliche Fixierung philosophischer Gehalte geäußert werden98, nämlich: sie seien angemessen nur im lebendigen Ge­ spräch der dazu besonders Befähigten zu bestimmen99, sprechen freilich, wie W. Wieland meines Erachtens zu Recht anmerkt, gegen den paradoxen Ver­ such, sie mit Hilfe der indirekten Überlieferung systematisch rekonstruieren zu wollen.100 Dennoch könnten eklatante Argumentationslücken, wie die den Ausgangspunkt dieser Anmerkung bildende, vielleicht am elegantesten ge­ schlossen werden, wenn sie als absichtliche Auslassungen verstanden werden dürften. T. A. Szlezak, der das sogenannte Esoterische bei Platon treffend als »personenbezogenes Philosophieren«101 charakterisiert, hat diesen verführe­ rischen Blickwinkel herausgestellt. In feinsinnigen Textanalysen versucht er die These indirekt zu stützen, Platon verfüge zwar über das von ihm inten­ dierte praktisch relevante Prinzipienwissen, gebe es aber aus guten Gründen Buch »Plato and the Foundations of Metaphysics« (State university of New York Press 1990) erläutert, würde sie jedenfalls die hier entwickelte systematische Problemstellung nicht befriedigend lösen können. Denn Krämer schreibt: »From this it is clear that the basic ontological conception of Plato at the same time possesses an axiological significance; everything that exists, in the measure in which it is limited and determined by the One is not only being and knowable but, at the same time, is endowed with values (good and beautiful: kalon).« A.a.O., S. 86. 98 Auch der Siebte Brief, bei dem nicht völlig unstrittig ist, ob er wirklich von Platon verfaßt wurde, warnt davor, Ansichten über ernsthafte Gegenstände schriftlich zu fixie­ ren und so der Böswilligkeit und dem Unverstand beliebiger Leser auszusetzen (vgl. Platon, Siebter Brief, 344b, c). Andererseits betont er jedoch, daß die zum Verständnis dieser Dinge (der Kontext klärt, daß es sich dabei um die fundamentale Ontologie han­ deln muß) Befähigten sie bereits aufgrund weniger Hinweise werden verstehen können (vgl. ebenda, 341 d, e). 99 In den entsprechenden Passagen des Dialogs erscheint die Schrift als ein totes (eben papierenes) Medium (275d, e), weil sie weder Rückfragen des Lesenden, noch weitere Sacherläuterungen des Lehrenden zuläßt. Wer wahrhaft lehren wolle, werde sich daher nicht allein der Schrift anvertrauen und Reden niederschreiben, sondern in mündlicher Lehre in die Seelen der Menschen zu schreiben versuchen (276 c). Die Vermutung, es gehe dem Platonischen Sokrates hier auch um bestimmte Gehalte, die dem Medium der Schrift nicht anvertraut werden dürften, findet im Text dagegen keine eindeutige Stütze. Vgl. dazu Wilfried Kühn, Welche Kritik an welchen Schriften? in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52/1998, Nr. 1, S. 23-39. 100 Vgl. Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, u.a. S. 41. 101 T. A. Szlezak, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin/New York 1985, S. 326. 112

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in den Dialogen nicht preis. Jedenfalls wisse der Sokrates der Politeia an sich mehr über die dialektische Einsicht in die Idee des Guten zu sagen, als er seinen unzureichend gebildeten Gesprächspartnern mitzuteilen für sinnvoll halte. Sokrates habe es daher vor allem darauf abgesehen, endlich aus dem Gespräch entlassen, losgelassen, zu werden, was ihm schließlich ja auch ge­ linge.102 Ich will an einer - für mich in diesem Zusammenhang entscheidenden Stelle andeuten, warum ich Schwierigkeiten habe, diese Auffassung zu über­ nehmen. Szlezak ist sich absolut sicher, die Stelle Politeia 533 a sei geradezu als Ablehnung »der Bitte Glaukons um weitere Belehrung«103 aufzufassen. Ihr Wortlaut104 läßt meines Erachtens jedoch sehr wohl eine andere Deutung zu. Sokrates, so scheint mir, erklärt sich hier im Unterschied zu 506e und 509 c prinzipiell bereit, die geforderte Auskunft geben und nicht mehr zu Bil­ dern Zuflucht nehmen, sondern endlich geradeheraus von der Sache selbst reden zu wollen. Er macht also genau das Zugeständnis, das auch Szlezak 102 Folgt man Szlezaks Darstellung der Politeia, so geht es in ihr allerdings weniger um die Sachfragen (was ist Gerechtigkeit und wie ist die Idee der Gerechtigkeit in einer handlungsorientierenden Ontologie des Guten zu fundieren?), die mich Im Rahmen dieser Studie vor allem interessieren, als vielmehr um die »Kraftprobe« (Szlezak, a. a. O., S. 325), wie weit Sokrates von seinen Gesprächspartnern genötigt werden kann, Auskunft über philosophische Gegenstände zu geben und die Einsichten mitzuteilen, die dem Philosophen den »Rückzug« aus »allem Diesseitigen« nahelegen und gestatten (a.a.O., S. 323): »Die entscheidende Frage, die somit seit dem Anfang über der gesam­ ten Handlung steht, lautet daher: wer bleibt Sieger in dem Spiel um Festnahme und Sich-Losmachen des Dialektikers?« T. A. Szlezak, a.a.O., S. 303. 103 Szlezak, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, a.a.O., S. 315. James Adam, auf dessen Kommentar zur Politeia Szlezak hier zur Unterstützung seines eigenen Ur­ teils hinweist, formuliert dagegen etwas vorsichtiger: »Although Socrates professes to decline the invitation of Glauco to expound Dialectic, he gives us in Book V! and VH plentiful indications ofits method and content...«. James Adam, The Republic of Plato, 2 Bde. Cambridge 19632 , Bd. II, S. 168. 104 »Onxet5. pv b 5 eyU, U ^iXe PXanxwv, olog t eaei axoXonöetv. eael to y5 epov ovbev av rtpoönpiag artoXrrcoL onb 5 elxova a v eti on Xeyopev l'boig, aXX/ anto to aXpöeg, o ye ba poi ^aivetai. Elb5 ovtwg p pa, onxet d|iov tonto biiax'upi^eaöai. aX\5 oti pev bp toiontov ti Ibetv, lax'upiateov. TH yap; ...« Sokrates konstatiert also im Indikativ, Glaukon werde ihm nicht weiter folgen können, wechselt dann in den Optativ, um als bloße Möglichkeit anzudeuten, was nur wirklich würde, wenn Glaukon der Rede würde folgen können, und schließlich zurück in den Indikativ, um zwischen seiner Ansicht des Guten und dem Guten selbst zu unterscheiden. Szlezak selbst über­ setzt die Stelle insofern nicht ganz konsistent, als er den nämlichen griechischen Optativ im Deutschen mit verschiedenen Modalverben ausdrückt: »Lieber Glaukon, du wirst nicht imstande sein zu folgen - denn was mich betrifft, so soll es an Bereitwilligkeit nicht fehlen. Und du würdest nicht mehr ein Bild dessen sehen, wovon wir reden, son­ dern die Sache selbst, jedenfalls was sich mir so darstellt - ob sie nun tatsächlich so ist oder nicht, möchte ich nicht mehr mit Festigkeit behaupten.« Szlezak, Platon und die Schriftlichkeit ..., a.a.O., S. 314. ^

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für den Fall für unumgänglich erklärt, daß Sokrates »Glaukons Wunsch erfüllen wollte«. Denn dann, so Szlezak weiter, »müßte die seit 506e einge­ haltene Beschränkung auf ein Bild (eIkojv) der gemeinten Sache fallen und die Sache selbst käme zur Sprache (...).«ws Eingeschränkt wird dieses Ver­

sprechen, soweit ich sehen kann, nur in zweierlei Hinsichten: Sokrates ist einerseits sicher, daß sein Gesprächspartner Glaukon seinen Ausführungen nun nicht mehr werde folgen, die angekündigte Antwort also nicht angemes­ sen werde verstehen können. Und er ist sich andererseits nicht sicher, ob, was ihm die Wahrheit zu sein scheint, die Sache selbst auch voll trifft.105 106 In Bil­ dern redet Sokrates daraufhin aber in der Tat nicht mehr, wenngleich seine Antwort auf Glaukons Frage nach den verschiedenen Arten der Dialektik sachlich nichts Neues bringt, sondern nur Glaukon dazu, endlich auf weiteres Nachfragen in diese Richtung zu verzichten.107 Man kann also gewiß nicht behaupten, Sokrates beschreite hier schließlich doch den »weiteren Weg« zur genauen Erläuterung umfassenden dialektischen Wissens und breite end­ lich alles detailliert aus, was er zur Sache möglicherweise zu sagen weiß. Die­ ser Mangel an Ausführlichkeit ist aber auch kein untrüglicher Beweis dafür, daß Sokrates die dialektische Ergründung der Idee des Guten unter anderen Gesprächsumständen in einer sachlich voll befriedigenden Weise würde dar­ legen können. Nun teilt sich Platon den Lesern seiner Schriften nie direkt, sondern auf dem Umweg über dialogische Auseinandersetzungen mit, in denen er andere zu Wort kommen, Argumente vortragen, und Einsicht zeigen bzw. vermissen läßt. Es ist daher nicht auszuschließen, daß sich Platons eigentliche Lehrmei­ nung von dem signifikant unterscheidet, was der Platonische Sokrates in der Politeia ausführt. Auch in Anbetracht der zusätzlichen Informationen, die die indirekte Überlieferung in dieser Sache zu bieten hat, bleibt aber die Frage, ob Platon wirklich eine überzeugende Lösung des Problems des Guten zu bieten hat?108 Wer daran zweifelt, muß weder unterstellen, eine entsprechende 105 T.A. Szlezak, a.a.O., S. 314. 106 Ich kann auch der Behauptung nicht folgen, die Begründung dafür, daß Sokrates seinen Gesprächspartnern nur eingeschränkt von seinem Wissen Mitteilung zu machen gedenke, erscheine in 533 a nur in veränderter Form. Denn während Szlezak behauptet, die »mögliche Differenz zwischen >der WahrheiU und Sokrates Ansicht wird dafür nicht mehr angeführt (...)« (a.a.O., 315), spricht Sokrates von ebendieser Differenz, wenn er verspricht, von der Wahrheit selbst reden zu wollen, wie sie ihm eben erscheine (dXV ahtö TÖ äXp0E5, ö ye 6a poi ^alvetai. E!6’ övtmg p pa, ohxEt a|iov conto 6iioxnQi^eoBai.). Die »Grenzen des Dialogs« , den er hier mit Glaukon führt, betreffen der ausdrücklichen Äußerung des Sokrates zufolge also nicht nur die intellektuellen Fähig­ keiten seines Gesprächspartners. Vgl. dagegen Szlezak, Platon und die Schriftlichkeit..., a. a. O., S. 315. 107 Vgl. Platon, Politeia, 535 a. 108 Daß Platons Ontologie, »diejenige der Vorsokratiker fortgesetzt und die aristote­ lische und neuplatonische ermöglicht hat«, wie Krämer betont, steht ohnehin außer 114

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Lösung sei prinzipiell unmöglich oder doch jedenfalls unaussprechlich, oder schließlich wie dominante Strömungen der neuzeitlichen und gegenwärtigen Philosophie insinuieren, die Frage nach dem schlechthin Guten sei ganz ein­ fach falsch gestellt. Wenngleich dies gewiß nicht seine eigentliche Intention war, so könnte es sich doch als Platons Verdienst erweisen, das praktische Desiderat umfassenden Wissens akribisch aufgezeigt zu haben, von dem auch sein Sokrates an der interpretierten Stelle 533 a ausdrücklich spricht. Daß Platon im Gegenteil ein explizites praktisch bedeutungsvolles Wis­ sen für ebenso unmöglich wie überflüssig gehalten habe, ist die gemeinsame These einer Reihe von Platon-Interpretationen, die in seiner mündlichen Lehre keine anderen Antworten vermuten, als sie den schriftlich vorliegen­ den Dialogen zu entnehmen sind. Es ist ein Grundmotiv insbesondere der in den Umkreis der Gadamer-Schule gehörigen Platon-Rezeption, die praktische Relevanz der Einsicht in Platons höchsten ontologischen Lehrgegenstand, die Idee des Guten, paradoxerweise als ausdrückliche Relativierung von explizi­ ten Wissensansprüchen aufzufassen. So zeigt Gadamer nicht nur Verständnis für die Philosophen, die den Rückgang in die »Höhle der Politik« scheuen, »in der alles ungenaues Wissen ist und wo es immer falsch zugeht.«109 Er meint überdies, »der im Gleichnis beschriebene Weg der Gewöhnung an das Licht« sei zwar ein »Weg der Wissenschaften und durch die Wissenschaften hin­ durch«, »weder hier noch später« aber sei »von der Anwendung solcher Theorie auf die menschliche Praxis die Rede«.110 Das Höhlengleichnis dage­ gen behauptet sehr wohl, daß das beim Aufstieg aus der Höhle und schließ­ lich durch den Anblick des Guten selbst gewonnene Wissen dem Philosophen Überlegenheit109 111 beim 110 und nicht etwa über den Streit um die Unterscheidung Frage. H. Krämer, Kritische Bemerkungen zu den jüngsten Äußerungen von W. Wie­ land und G. Patzig über Platons ungeschriebene Lehre, in: Rivista di Filosofia neo-scolastica, Milano Anno LXXIV (1982), 4, S. 579-592, dies S. 587. 109 Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, a. a. O., S. 165; vgl. auch die folgenden Seiten, insbesondere S. 171 f. 110 Gadamer, Die Idee des Guten ..., a.a.O., S. 170. 111 Auch Bubner, der die praktische Relevanz der Einsicht in das Gute mehrfach heraus­ stellt (vgl. R. Bubner, Theorie und Praxis bei Platon, in: ders., Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, a. a. O., S. 22-36, insbesondere S. 35 f.), will diese dann doch wieder in der Relativierung scheinbar überzogener theoretischer Ansprüche erkennen. Im Gegensatz nämlich zu den anmaßenden Sophisten genüge »der Philosoph wirklich den Praxisbedürfnissen, weil er sein Wissen im Bezug auf die letzten, theoretisch nicht mehr übersteigbaren Fluchtpunkte des Guten relativiert«. (Ebenda, S. 35.) Dieser Deu­ tungsperspektive entspricht bereits die Charakteristik der sophistischen Verfehlung, die Bubner andernorts gibt. Er moniert dort zunächst mit Recht, die Sophisten befänden sich im Unklaren über praktische Zielsetzungen (vgl. Handlung, Sprache und Vernunft, a. a. O., S. 113) und ließen deren Prinzipien sogar »planmäßig im Dunkeln« (eb., S. 114); den Grund dafür sieht er indessen nicht darin, daß die Sophisten bloß über unzuläng­ liche Erkenntnisse verfügen, sondern im Gegenteil in der Bemühung um praktisches Wissen: »Das Problem der Sophistik ist das Problem der Ungeklärtheit der Struktur ^

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und Identifizierung der Schattenbilder in der Höhle verschaffe.112 113 Nach einer lästigen Phase der Rückgewöhnung an das trügerische Flackerlicht im Habi­ tat der Gefangenen nämlich, heißt es, könnten die Philosophen dort sehr wohl »tausendmal besser als die dortigen sehen und jedes Schattenbild er­ kennen, was es ist und wovon«, weil sie »das Schöne, Gute und Gerechte selbst in der Wahrheit gesehen»113 hätten. Die pointierteste Charakteristik der eigentümlichen Beschaffenheit des Wissens vom Guten, das Platon den Philosophen hier zuschreibt, liefert Wolfgang Wieland in seiner spannenden Untersuchung »Platon und die For­ men des Wissens«. Er versucht, der bleibenden Unbestimmtheit der Idee des Guten in der Politeia eine positive Bedeutung zu geben, indem er ein ontolo­ gisches Defizit (an Bestimmtheit wie verbindlicher Bestimmbarkeit) zu einem unzweideutigen (lebenspraktischen) Gewinn erklärt. Vom Guten und Wahren, so seine Überlegung, seien auf der prinzipiellen Ebene nur formale oder funktionelle Bestimmungen möglich, gerade weil man stets nur etwas Bestimmtes »als wahr vermeinen oder als gut erstreben« könne114. Die eigen­ tümliche Unschärfe der Platonischen »Idee des Guten« erscheint in diesem Blickwinkel also keineswegs als schwere Hypothek für das orientierungs­ bedürftige Handeln. Im Gegenteil: laut Wieland schafft sie den nötigen Raum für das regulative Prinzipienwissen zur Anleitung der praktischen Urteils­ kraft115, das den Erfordernissen des konkreten Handelns wahrhaft entspreche und keinesfalls diskursiv zu erfassen, gründlich abzusichern und in Aussagen unzweideutig mitzuteilen, sondern einzig handelnd in Erfahrung zu bringen und zu bewahren sei116.

von Praxis gerade unter den Bedingungen ihrer Rationalisierung. Nichts sonst als die immer weiter sich ausbreitende theoretische Beschäftigung mit Praxis erzeugt jene tiefreichende Dunkelheit.« (Eb., S. 117.) Wie aber, ist da zu fragen, soll der Versuch, Bestimmtheiten zu erfassen, Unbestimmtheit »erzeugen« und nicht etwa bloß aufdekken können? 112 Aus diesem Grunde ist die geforderte Philosophenherrschaft (bzw. das geforderte Philosophischwerden der Herrscher) für Platon auch kein »Paradox«, wie Gadamer un­ terstellt. Vgl. Gadamer, Die Idee des Guten ..., S. 167. 113 Vgl. Platon, Politeia, 520c. Ich kann daher auch der Interpretation Figals nicht folgen, der meint, die Idee des Guten ziehe ihre praktische Bedeutung, die politische Praxis als solche zu relativieren, gerade aus der Tatsache, daß sie völlig »jenseits des Vollzugs der praktischen Vernunft« ver­ bleibe. Günter Figal, Die praktische Vernunft des guten Lebens und die Freiheit des Verstehens, a. a. O., S. 76 ff. 114 W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 272. 115 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 164. Während Wie­ land von einem »Regulativ« der Urteilskraft spricht, identifiziert Figal die Idee des Gu­ ten als »Freiheit der Urteilskraft«. G. Figal, Handlungsorientierung und anderes als das, a.a.O., S. 7. 116 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a.a.O., S. 180. 116

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Folgt man dieser Lesart, dann wendet sich Platons Kritik der Schriftlich­ keit ausschließlich gegen die Zumutung, alles Wissen müsse sich propositional ausdrücken lassen117. Um diese Deutung aufrecht erhalten zu können, muß Wieland allerdings unter dem »weiteren Weg«, auf den die Politeia (z. B. 504 d) alle verweist, die die »Idee des Guten« adäquat begreifen wollen, etwas anderes verstehen als Platons Protagonist Sokrates, der ihn als ein theoreti­ sches Bildungsprogramm skizziert.118 Wieland nimmt die Tatsache, daß die Politeia den Gang der sinnenfernen dialektischen Begriffsarbeit nur umriß­ haft andeutet, als Beleg für die These, es handele sich hier um eine Chiffrie­ rung der eigentlichen Botschaft des Textes, derzufolge nur die je gelebte Pra­ xis in den letzten Dingen zureichende Auskunft geben könne.119 Praktisches Wissen, das dieser Praxis wahrhaft gerecht zu werden vermöge, könne daher nur als eine Art impliziten Gebrauchswissens verstanden werden, für das be­ wußtes technisches Können zunächst den Modellfall abgebe.120 Bei der ge­ suchten Einsicht in die Idee des Guten handele es sich also um »eine Einsicht, die weniger dem Typus des theoretischen Wissens als dem Typus des prakti­ schen Könnens« zugehöre.121 122 Was die propositionale Faßbarkeit dieses Können-Wissens betrifft, er­ geben Wielands Äußerungen allerdings kein ganz einhelliges Bild. Während er nämlich einerseits behauptet, die Erkenntnis der Idee des Guten könne »gar nicht in die Torm eines Satzes eingehen«122, räumt er andererseits ein, das vorbildliche Können-Wissen lasse sich zwar propositional fassen, aber nur im wirklichen Umgang mit den Dingen, durch Einübung und nicht durch theoretischen Unterricht, erlernen.123 Daß man Technai einüben muß und ihre Ausübung weitgehend automatisieren, also von Reflexion und propositionaler Rechenschaftsgabe abkoppeln kann, ist zwar nicht zu leugnen. Zu bezweifeln ist aber, daß solches Gebrauchswissen einen privilegierten, je­ dem wissenschaftlichem Zugriff weit überlegenen, Zugang zu der eigentli­ chen Wirklichkeit der Praxis eröffnet, die reflexiv nicht in Frage zu stellen, sondern nur zu affirmieren wäre.124 Mag man von Fähigkeiten und Fertigkei­ 117 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., u. a. S. 197, S. 235, S. 243. 118 Vgl. Platon, Politeia, z.B. 511bf. und 533aff. 119 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 162 ff. 120 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 252 f. 121 W. Wieland, Platon und der Nutzen der Idee, a. a. O., S. 32. 122 W. Wieland, Platon und der Nutzen der Idee, a. a. O., S. 32. 123 Vgl. Wieland, Platon und der Nutzen der Idee, a. a. O., S. 32; ders., Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 253. 124 Daß der »Idee des Guten« einzig eine solche affirmative, keine unterscheidende Funktion zukomme, deutet Wieland zumindest an. Er spricht nämlich davon, sie trete zu jedem normativen Prädikat, das wir urteilend anwenden, hinzu und zeige so an, daß beispielsweise das Gerechte auch gut sei. Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 175. ^

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ten in Übereinstimmung mit Wieland zunächst durchaus sagen, sie er­ schlössen, wo immer sie praktiziert würden, »Wirklichkeit auf irrtumsfreie Weise«125, so wird man diese Behauptung bei näherem Hinsehen doch modi­ fizieren müssen. Denn Fertigkeiten können nicht nur bloß bruchstückhaft vorhanden oder mehr oder weniger gut entwickelt sein. Auch Wieland muß vielmehr einräumen, daß dem technischen Know-how für sich genommen ein ambivalenter Charakter eignet126, es also instrumentell beschränkt ist. Um diese ethische Ambivalenz zu verlieren, bedarf technisches Können-Wis­ sen, wie oben in Übereinstimmung mit Wieland gezeigt, ja gerade der um­ sichtigen Anleitung durch die Einsicht in die Idee des Guten, die die richtige Ordnung der Ideen vor Augen führt und auf diese Weise das Paradigma für die Einrichtung der richtigen menschlichen Lebensverhältnisse.127 Aus diesem Grund kann es sich bei dem gesuchten Wissen nicht um implizites Gebrauchswissen handeln, das seinen Status als Wissen allein der elementaren Erfolgskontrolle verdankt. Die Idee des Guten verspricht mehr, nämlich die verbindliche Orientierung über zulässiges wie unzulässiges, rich­ tiges und falsches Verhalten, die sich der Ausrichtung auf einen letzten Handlungszweck verdankt.128 Daß der Selbsttäuschung erläge, wer glauben würde, über diese Einsicht schon immer zu verfügen, und Platon uns folglich keine ungebrochene Teleologie des guten Handelns präsentiert, gesteht ja auch Wieland ein.129 Wenn sich aber über sich selber täuscht, wer sich im Hinblick auf sein Endziel irrt130, dann muß auch die Umkehrung stimmen: 125 W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a.O., S. 275. 126 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 253 f. sowie ders., Platon und der Nutzen der Idee, a. a. O., S. 26. 127 Das spezifische Gebrauchswissen, für das die Idee des Guten bei Platon stehe, be­ währt sich Wieland zufolge im dialektischen Umgang mit den Ideen, der sich weder auf eine methodologische Regel bringen, noch in einem System von Sätzen propositional erfassen lasse. Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 147ff. Folgt man Platons Kritik der Sophisten, dann kann man sich aber offenbar auch einen verkehrten Umgang mit den Ideen angewöhnen, der sich keineswegs durch Erfolglosig­ keit von selbst erledigt. Wir werden hier also der Sache nach auf die Ausgangsfrage zurückgeworfen, wie ein verbindliches Zweckwissen den richtigen Gebrauch von Tech­ niken, welcher Art auch immer, gewährleisten könnte. Da dieses höchste Wissen dann aber wirklich ein Wissen des unzweideutig Guten wäre, könnte es gar nicht mißbraucht werden, wie z.B. Szlezak fürchtet. Vgl. T. A. Szlezak, Das Höhlengleichnis, a. a. O., S. 225. 128 Vgl. W. Wieland, Platon und der Formen des Wissens, a. a. O., u. a. S. 127, S. 180. S. 255. Wieland wählt allerdings die paradoxe Formel eines »Irrtums des Willens« zur Bezeich­ nung dessen, was Platon meines Erachtens auf unzulängliches Wissen zurückführt. Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 185, S. 263. 129 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 278; ders., Platon und der Nutzen der Idee, a. a. O., S. 28. 130 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, a. a. O., S. 269, S. 318. 118

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daß sich seiner Ziele nicht sicher sein kann, wer immer in Gefahr bleibt, sich über sich selbst zu täuschen. Genau hier aber liegt das entscheidende syste­ matische Problem, das Platon sich und seinen Interpreten stellt. Es gründet in der für die Conditio humana charakteristischen subjektiven Brechung des Strebens nach dem Guten, die jede substantialistische Teleologie des Han­ delns erschüttert. Daß deren Stelle durch eine Art lebensweltlicher Teleologie der Urteilskraft problemlos zu besetzen sei, suggeriert die Platon-Interpreta­ tion Wielands. Denn sie gibt vor, die nötige Anleitung zum richtigen Leben sei in Gestalt des impliziten Gebrauchswissen der je schon faktisch gelebten Praxis immanent. Dieser Auffassung widerspricht jedoch die Diagnose Pla­ tons. Der Entwurf des Idealstaats erhebt gerade nicht die je schon scheinbar selbstverständlich gültigen Formen sittlichen Gemeinschaftslebens in den Status vorbildhafter Praxis, sondern antwortet im Gegenteil auf die Krise der Polis und trägt der im Höhlengleichnis unübertrefflich verbildlichten Einsicht Rechnung, daß auch verkehrtes Meinen und Tun habitualisiert sein können. Es bedarf dann der schmerzhaften Lösung von Vorurteilen und lang­ wieriger erzieherischer Umwendung, die ihre Unterscheidungs- und Ent­ scheidungskriterien allemal einer anderen und vor allem klareren Quelle muß entnehmen können als den je schon eingeübten Gepflogenheiten der Bürger in der Höhle.

Eine unzulängliche Kritik: Poppers Angriff gegen Platon Am »leere(n) Formalismus« der »Idee des Guten« hat im Unter­ schied zu W. Wieland Karl Raimund Popper Anstoß genommen und sich nicht zu Unrecht darüber beklagt, wir würden von Platon unter diesem Rubrum gar nichts Greifbares darüber hören, »welche Taten gut sind oder Gutes bewirken«.131 In seiner berühmt-berüchtigten Studie zur Verteidigung der »offenen Gesellschaft« deutet er die blei­ bende Unbestimmtheit der »Idee des Guten« als Symptom für die Wahrheitsunfähigkeit letzter Zwecke und Einladung zu ihrer tota­ litären Usurpation. Während er den Staatsentwurf der »Politeia« deswegen aus liberalistischer Perspektive einer überaus heftigen Polemik132 unterzieht, bezeugt sein eigenes sozialtechnologisches131 132 131 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, Der Zauber Platons, Tübingen 1992, S. 174. Popper findet, dieser leere Formalismus trete im Philebos noch deutlicher hervor als in der Politeia. 132 Das Buch ist eine Kampfschrift zur Verteidigung der westlichen Demokratie, wäh­ rend des Zweiten Weltkriegs in der neuseeländischen Emigration in englischer Sprache geschrieben und 1945 erstmals erschienen. Das erklärt den polemischen Ton, rechtfer­ tigt aber nicht die zahlreichen hermeneutischen Mängel der Argumentation. ^

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Gegenkonzept freilich wider Willen, in welchem Maße sogar politi­ sches Handeln, das in bewußter Bescheidung Stückwerk hleihen will, von vorgängigen Zweckbestimmungen abhängig ist, die dem Dissens allenfalls scheinbar entzogen sind. Deswegen ist Poppers Ausein­ andersetzung mit Platon sachlich interessant. Entscheidende Aussagen der Politeia aber hat der selbstbewußte Vertreter eines Kritischen Rationalismus so gründlich fehlinterpre­ tiert, daß es Mühe bereitet, in den zahlreichen Mißverständnissen nicht die böse Absicht eines allzu guten Aufklärers zu argwöhnen. So wirft er Platon, dem treuen Bewunderer des Sokrates, vor allem vor, einer schlicht »totalitären Ethik«133 das Wort zu reden. Der meist irrtümlich idealisierte Ideologe der Klassenherrschaft133 134 135 sei ein 136rech­ 137 ter »Staatsanbeter«135, niemals sei es »einem Menschen ernster« ge­ wesen, »mit seiner Feindschaft gegen das Individuum«136. In Wahr­ heit also, so Popper mit polemischer Verve, gehe es Platon unter dem Stichwort Gerechtigkeit nur um das, »was im Interesse seines tota­ litären Staates gelegen ist«137 Der entschlossene Totalitarismus-Kri­ tiker verstellt sich mit diesem Verdacht aber gerade die Einsicht in den zentralen sozialphilosophischen Gedanken der Politeia: Platon ist kein moderner Funktionalist, der vorrangig nach den Bedingungen erfolgreicher Bestandserhaltung sozialer Systeme Ausschau hält. Er preist die Stabilität einer gesellschaftlichen Ordnung auch nicht als Endzweck realistischen politischen Handelns, dem es nach liberaler Manier nur um einen verläßlichen institutionellen Rahmen für die Verfolgung beliebiger Interessen ginge. Platon betrachtet die Dauer­ haftigkeit einer sozialen Ordnung weder als funktionalistischen Er­ satz, noch als Rahmenbedingung für das richtige soziale Handeln, sondern - das ist bei aller Vagheit im Detail denn doch klar genug als etwas, was sich einstellen muß, wenn eine Gesellschaft nach Maß­ gabe des substantiellen Guten gerecht organisiert wird. Beständigkeit ist nicht der letzte Zweck dieses Unternehmens, sie erscheint viel­ mehr als eine Art Gradmesser des erreichten Einverständnisses, der wirklich gerechten Vermittlung individueller Unterschiede in einer lebendigen Gemeinschaft. 133 134 135 136 137 120

Eb., S. 129. vgl. eb. S. 109. Eb., S. 136. Eb., S. 124. Eb., S. 172.

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Platons Vision der »Idee des Guten«

Popper dagegen unterstellt Platon nicht nur, die Formel, gerecht sei ein Ge­ meinwesen, in dem jeder das Seinige tue und habe, sei in Wahrheit ein infa­ mes Plädoyer dafür, jeder solle an dem Platz verharren, an den es ihn zufällig verschlagen habe.138 Er behauptet überdies, Platon sei im Grunde ein Ras­ sist.139 In der Tat ist der Autor der Politeia nicht bloß davon überzeugt, daß es natürliche Unterschiede zwischen Menschen gibt, denen die erzieherische Entfaltung individueller Fähigkeiten und die gesellschaftliche Verteilung von Aufgaben zu entsprechen haben. Er macht auch kein Geheimnis daraus, wor­ auf es ihm dabei vor allem ankommt: Platon ist ganz entschieden der Ansicht, daß nicht alle gleichermaßen zur Herrschaft und Regierung eines Gemeinwe­ sens befähigt sind.140 Denn diese sind für ihn keine Frage der Artikulation aller kontingenten privaten Bedürfnisse und der gleichberechtigten Mei­ nungsäußerung zu einer Sache, über die ohnehin niemand richtig Bescheid wissen kann, sondern eine Aufgabe, die nur mit Hilfe umfassenden prakti­ schen Wissens zu bewältigen ist. Das Bild von den verschiedenen Metallen, mit dem Platon naturgegebene Unterschiede veranschaulicht, wird von ihm selbst aber jedenfalls nicht rassistisch ausgelegt, wie Popper behauptet141. 142 Pla­ ton hält die gegebenen natürlichen Anlagen nämlich durchaus nicht für erb­ lich, sondern spricht sie dem je einzigartigen Individuum zu.

Popper brandmarkt Platons sozialintegrative Vision eines verbind­ lichen Guten zunächst als schrecklich konservativ, um sie schließlich ganz im Gegenteil als gefährliche Utopie zurückzuweisen, beides aus ein und demselben Grund. Auch Platon und allen Platonikern näm­ lich meint Popper das Eingeständnis abringen zu können, »daß es keine rationale Methode gibt, die uns lehrt, wie wir endgültige Ziele auffinden können»142. Diesem Manko aber, der unvermeidlichen zweckrationalen Reduktion also, politisch überzeugend begegnen zu können, ist sich Popper im Geiste des klassischen Liberalismus der Neuzeit dennoch sicher. Dabei verfällt er bezeichnenderweise auf ebenjene unzulänglichen Bestimmungen, die für Platon den syste­ matischen Grund dafür abgeben, überhaupt nach einem objektiv ver­ bindlichen Guten Ausschau zu halten. Der Staat, so nämlich Popper, solle sich auf seine eigentliche Aufgabe beschränken und die Bürger in erster Linie vor den größten Übeln schützen.143 Im übrigen seien kleine Schritte zum Umbau der gesellschaftlichen Ordnung umfas­ 138 139 140 141 142 143

Vgl. Popper, ebenda, S. 119. Vgl. Popper, ebenda, S. 167. Vgl. Platon, Politeia, 443aff., 441d. Vgl. Platon, Politeia, 415aff. Popper, a.a.O., S. 192. Vgl. Popper, ebenda, S. 188, auch S. 131. ^

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senden Gesamtkonzeptionen vorzuziehen, weil sie leichter korrigiert oder sogar gänzlich rückgängig gemacht werden könnten.144 Aber wie soll man sicher sein können, daß man überhaupt auf dem richtigen Weg ist? Ist das Risiko, etwas zu verändern, wirklich allemal größer als das Risiko, einen möglichen Zugang zum Besseren ein für allemal zu verpassen? Vor allem jedoch: Wie sollten die größten realen Übel gültig zu bestimmen sein, ohne daß wir zugleich über das höchste mögliche Gut entscheiden? Wer richtig handeln will, ist auf umfassendes Wissen angewie­ sen, das die Einsicht in das, was an sich selbst und daher für einen jeden gut ist, nicht aussparen darf. Wem die Ordnung des Seienden für immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben sollte, dem wäre da­ mit nicht nur der Königsweg zum richtigen Leben im Ganzen ver­ schlossen, sondern auch die Möglichkeit, sich einer richtigen Ent­ scheidung im einzelnen sicher sein zu können. Diese Überlegung sollte Platons Versuch, die Vernünftigkeit menschlicher Praxis in einer Ontologie des Handelns zu fundieren, vor voreiligem Argwohn schützen. Nur wer das Problem ernst nimmt, das Platon sich stellt, und das Desiderat umfassenden praktischen Wissens teilt, wird aus den ungelösten/unlösbaren Schwierigkeiten der Spekulation die richtigen Konsequenzen für die unvermeidliche Grenzbestimmung theoretischer wie praktischer Rationalität ziehen können.

6. Aristoteles’ Konzept eudaimonischer Realisierung Die Unmöglichkeit praktischen Wissens Die Wert- und Funktionsbestimmung, die Platon der offenbar nicht präziser faßbaren Idee des Guten gibt, hat schon Aristoteles scharf­ sinnig bezweifelt. Im Gegenzug zur Sozialontologie seines Lehrers entwirft er ein bescheideneres Konzept praktischer Rationalität. Es setzt, wie ich im folgenden darlegen werde, zwar auch darauf, den letzten Zweck menschlichen Handelns, des klugen Einzelnen wie der gut organisierten politischen Gemeinschaft, im Rahmen einer philosophischen Untersuchung verbindlich bestimmen zu können. Er erkennt dieser Bestimmung aber einen anderen epistemologischen wie ontologischen Status zu als Platon der Idee des Guten. Beide 144 Vgl. Popper, ebenda S. 187-189. 122

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Varianten, Praxis und Metaphysik zueinander in Bezug zu setzen, widersprechen allerdings der verbreiteten doxographischen These, die Luhmann sich zu eigen gemacht hat. Die richtigen Zwecke menschlichen Handelns sind den beiden antiken Philosophen zufolge zwar als das objektive Gute zu suchen und nicht in das rastlose Belie­ ben der Handelnden gestellt. Sie liegen diesen jedoch ebensowenig als natürliche Gegebenheiten in selbstverständlicher Erschlossenheit unverfehlbar vor Augen, sondern müssen allererst richtig erfaßt wer­ den, um dem Handeln die Richtung weisen zu können. Während Platon nun betont, wir seien auf umfassendes verbindliches Zweck­ wissen angewiesen, da wir sicher und beständig richtig würden han­ deln wollen, drängt sich im Blickwinkel des Aristoteles allerdings ein antithetischer Gesichtspunkt in den Vordergrund: In einer derart durchgängig wohlbestimmten Welt, wie sie dem ersehnten meta­ physisch fundierten praktischen Wissen entspräche, gäbe es schlech­ terdings auch keine Handlungsmöglichkeiten mehr. Wie bereits im ersten Teil dieser Studie gezeigt145, hält es Aristoteles daher für völlig verfehlt, die kontingente Wirklichkeit menschlichen Handelns, das es immer nur mit einzelnem zu tun habe, denselben Maßstäben der Wahrheit und Gewißheit zu unterwerfen wie die theoretischen Wis­ senschaften, deren Gegenstand das Allgemeine sei.146 Diese Warnung verlangt Gehör und scheint jedenfalls geeignet, unvoreingenommene Aufmerksamkeit für die Eigentümlichkeiten menschlicher Praxis zu wecken. In ihrer prinzipiellen Zuspitzung, auch das habe ich in Kapitel 2 bereits angedeutet, beruft sie sich in­ dessen auf eine anfechtbare Dichotomie von Wissen und Tun, All­ gemeinem und Einzelnem, das die ontologische Gemengelage, wie sie vor allem im wissenschaftlich-technischen Handlungswissen der Neuzeit zutage tritt, nicht mehr befriedigend auf den Begriff bringt. Nimmt man die Einsicht, daß es Wissen im strengen Sinne nicht 145 Vgl. Kapitel 2, »Die kontingente Welt des Handelns« und »Die Unbestimmtheit technischen Handlungswissens«. 146 Ich erinnere noch einmal an die entscheidenden Bestimmungen. Laut Aristoteles hat alles Handeln seinen Ort im ontologischen Bereich des Kontingenten. Poiesis wie Praxis haben es mit dem apriori unbestimmten Einzelnen zu tun (vgl. noch einmal Aristoteles, u. a. NE 1140a1-6, 1107a29-32, Pol 1269a11-12.). Daher könne es keine absolut ver­ läßlichen Regeln geben, durch deren pedantische Einhaltung beliebige Akteure sicher­ stellen könnten, daß es ihnen gelingt, ihr Vorhaben auszuführen. Wahre Wissenschaft dagegen hat es laut Aristoteles mit dem unveränderlichen Allgemeinen zu tun (vgl. noch einmal u.a. NE 1139b18-26). Sie erfasse ihren Gegenstand vollständig, gebe Auf­ schluß über notwendige Ursachen und verstehe es, ihre Urteile zwingend zu beweisen. ^

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geben kann, wo gehandelt wird, wirklich heim Wort, so wird aus heutiger Sicht auch die metaphysische Erkenntnis dessen, was von sich her und unveränderlich zu sein scheint, in Mitleidenschaft gezo­ gen. Denn wir verfügen über gar kein Wissen, das nicht in, wie auch immer artifiziell überschaubar gemachten, Handlungszusammen­ hängen gewonnen, zu bewähren und zu korrigieren wäre. Daher schwankt auch die metaphysische Basis, auf die sich naturgesetzliche Aussagen stützen. Schon im Rahmen der Aristotelischen Ontologie ist freilich nicht recht einzusehen, inwiefern ein Erfahrener einem Wissenden in Handlungszusammenhängen soll überlegen sein können, wie Ari­ stoteles mehrfach behauptet.147 Verdienen denn abstrakte Kausalaus­ sagen wie - so das Beispiel, das Aristoteles in diesem Kontext anführt, - »leichtes Fleisch ist gesund« im Ernst den Titel »Wissen«, ohne die Kenntnis einzuschließen, welches Fleisch denn nun als »leicht« anzusehen ist? Verfügt über Wissen nicht erst, wer nicht nur eine allgemeine Aussage wiederholen, sondern sie in Wahrneh­ mungszusammenhänge einordnen und auf Einzelfälle beziehen kann, die unter sie zu subsumieren und auf die entsprechende, bei­ spielsweise diätetische, Regeln anzuwenden sind? Was hülfe es ande­ rerseits einem Handelnden, schon vielerlei probiert und mit unzäh­ ligen sinnlich rezipierbaren Einzelheiten bekannt geworden zu sein, wenn er diese Eindrücke nicht auch geistig verarbeitet und wenig­ stens zu einem mitteilbaren Vorbegriff der fraglichen Sache inte­ griert hätte, der eine Art kausaler Hypothese einschlösse? Aristoteles nähert sich in den Erörterungen der 2. Analytiken immerhin solchen Einsichten, die eine strikte Dichotomisierung von Wissen und Erfah­ rung unterlaufen.148 Schließlich beruft sich auch die grundsätzliche Kritik, die Ari­ stoteles an der Platonischen Ideenlehre im allgemeinen149 und nicht 147 Vgl. Aristoteles NE 1141b16ff. und auch in M 981a12ff. Allerdings räumt Aristo­ teles in der Nikomachischen Ethik auch ein, ein Arzt beispielsweise müsse zwar immer den je einzelnen kurieren, könne dieser Aufgabe jedoch am besten gerecht werden, wenn er das Allgemeine kenne. Vgl. NE 1180b13-15 und die ähnliche Stelle in den 2. Analytiken, 97b28. 148 Vgl. Aristoteles, 2. Analytiken, 100a4ff., wo Aristoteles im Unterschied zu M 981a24-30, betont, aus der Erfahrung als der Zusammenfassung einer Vielzahl erin­ nerter Einzelwahrnehmungen stammten auch die Prinzipien von Technik und Wissen­ schaft. 149 Vgl. Aristoteles, insbesondere M 991a9-993a10 und entsprechend M 1078b91080a11. 124

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zuletzt an der Konzeption der Idee des Guten150 übt, auf die Einsicht, das Allgemeine sei gerade nicht vom Einzelnen abtrennbar.151 Die Ideenlehre, so der Kern des Vorwurfs, führe zu einer überflüssigen Verdoppelung des wirklichen Seienden, indem sie die allgemeinen Prädikate, die singulären Subjekten zuzusprechen sind oder auch nicht, zu Gegenständen eigener Art verselbständige und auf diese Weise gleichsam als Entitäten neben oder über den sinnlich wahr­ nehmbaren Dingen anordne, was je nur an diesen anzutreffen sei. Ob diese Argumentation der Platonischen Ideenlehre wirklich ge­ recht wird, muß ich hier nicht entscheiden. Auffällig ist jedoch, wie unwillig Aristoteles den Versuch seines Lehrers kommentiert, den zwielichtigen Erscheinungen in Gestalt begrifflich isolierbarer Ideen eine verläßliche Ordnung abzuringen, die ein zureichend geschulter Blick durch richtige Unterscheidungen aus allem Seienden heraus­ zulesen wüßte. Er scheut sich zumindest nicht, Platons tastende Ver­ suche, den erkennbaren Zusammenhang der Phänomene, das Ver­ hältnis des Einzelnen zum Allgemeinen wie das Beständige im flüchtigen Wechselspiel von Werden und Vergehen als Teilhabe des Seienden an den Ideen bzw. als wirklichkeitsmächtige Darstellung oder Vergegenwärtigung eines ideellen Musters zu charakterisieren, schlechterdings als leere Worte und poetische Metaphern zu disqua­ lifizieren.152 Hier kommt es indessen auf einen anderen Gesichtspunkt an. Aristoteles begnügt sich nämlich nicht damit, der Platonischen Ideenlehre als solcher epistemologische Ungereimtheiten vorzuwer­ fen und die fatale theoretische Unschärfe der Idee des Guten selbst zu bemängeln, die er wie die übrigen Ideen als allgemeines Prädikat be­ trachtet und nicht als letztes ontologisches Ordnungsprinzip.153 Er bestreitet der problematischen Erkenntnis der Idee des Guten viel­ 150 Vgl. Aristoteles, NE 1096a11- 1096b26. 151 Vgl. Aristoteles, u.a. M 1086b2-13. 152 Vgl. M 990b20-22, entsprechend 1079b24-26. Daß sich die Platonische Ideenlehre einfühlsamer interpretieren läßt und dadurch an Überzeugungskraft gewinnen kann, zeigt sich beispielhaft in einschlägigen Arbeiten Gadamers. Vgl. ders., u.a., Die Idee des Guten ..., a.a.O., vor allem S. 193 - S. 204. 153 Vgl. hierzu Flashar, der ganz richtig feststellt, Aristoteles' Kritik an der Idee des Guten werde »nicht eigentlich in Auseinandersetzung mit den ontologischen Grund­ prinzipien Platons gewonnen«. »Die Frage nach der Existenz des Guten erscheint viel­ mehr nur im Horizont des Logos, in dem Sinne, daß nahezu alle kritischen Argumente vor allem in der NE - der Frage nach der Prädizierbarkeit untergeordnet werden.« Hell­ mut Flashar, Die Kritik der Platonischen Ideenlehre in der Ethik des Aristoteles, in: ^

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mehr ausdrücklich jede erdenkliche praktische Relevanz. Nach der Überzeugung des Aristoteles gibt es kein Gutes, das dem Verschiede­ nen, das wir an sich und nicht bloß im Hinblick auf ein anderes gut nennen, also z. B. der Ehre, der Lust oder der Erkenntnis, gemeinsam wäre und sich als eine einzige Idee auffassen ließe.154 Und selbst in dem Falle, daß ein solches allgemeines Gutes doch existierte, so wäre es durch das Handeln der Menschen keinesfalls zu verwirklichen oder zu erlangen. Genau darauf aber komme es in einer ethischen Untersuchung an.155 Die gleichwohl als berechtigt angesehene Frage, warum das viele verschiedene Gute überhaupt mit einem und dem­ selben Namen belegt werde156, verweist Aristoteles daher in ein an­ deres Territorium: das der Grundlagenwissenschaft Metaphysik. Von ihr dürften wir jedoch prinzipiell keine praktisch bedeutsamen Auskünfte oder gar Anweisungen zum richtigen Leben erwarten, das sich nun einmal im Bereich des Kontingenten abspiele. Die Wissenschaften von den menschlichen Dingen157, Ethik und Politik, müssen Aristoteles zufolge dennoch nicht auf den Versuch verzichten, dem menschlichen Tun und Lassen verbindliche Orien­ tierungsmarken zu setzen. In den kontingenten Handlungszusam­ menhängen, in denen wir uns alltäglich bewegen, könne es zwar keine zwingenden Beweisführungen geben. Den hinreichend be­ gründeten Überlegungen zur richtigen Lebensgestaltung, die in der Sphäre des bloßen Räsonnements steckenbleiben, komme außerdem weniger praktische Überzeugungskraft zu als sichtbaren Werken und dem wirklich gelebten Leben.158 Wenigstens »umrißhaft«159 aber, so Christian Mueller-Goldingen (Hg.), Schriften zur aristotelischen Ethik, Hildesheim/ Zürich/New York 1988, S. 201-224, dies S. 214. 154 Vgl. insbesondere NE 1096b21-26. 155 Vgl. Aristoteles, NE 1096b32-35. 156 Vgl. NE 1096b26-31. Interessant ist, daß Aristoteles zuvor festhält, vom Guten würden ebenso viele Bedeutungen ausgesagt wie vom Seienden. Vgl. NE 1096a23f. 157 Aristoteles spricht am Ende der Nikomachischen Ethik, das zur Politik überleitet, zusammenfassend von »ta avO^w^eia ^iXoao^ia«. Aristoteles NE 1181b15. 158 Vgl. Aristoteles, NE 1179a17- 19. 159 Vgl. Aristoteles, u.a. NE 1094b11ff., 1101a27, 1103b34-1104a7, 1137b19 u. 29-30. Otfried Höffe spricht dagegen von »Grundriß-Wissenschaft« und versucht, das »Mo­ dell« praktischer Philosophie, das sich bei Aristoteles finden lasse, auf diese Weise einer transzendentalphilosophischen Erörterung der Bedingungen der Möglichkeit mora­ lischen Handelns anzunähern, die ihren spezifischen Gegenstand sehr wohl vollständig und nicht bloß umrißhaft erfasse. Vgl. O. Höffe, Praktische Philosophie- Das Modell des Aristoteles, Berlin 19962, insbesondere S. 110-116 und S. 157-180, dies S. 175. In einer 126

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wie es der kontingenten Welt des Handelns und dementsprechend dem wissenschaftlichen Status praktischer Fragen allein entspreche, unterscheiden die praktischen Untersuchungen des Aristoteles zwi­ schen dem Guten und dem Schlechten und gehen Aufschluß nicht nur üher geforderte charakterliche Tugenden, sondern auch das im Ganzen richtige Lehen für den einzelnen wie die Gemeinschaft. Die Einübung der Tugenden Bereits die Überlegungen, die Aristoteles auf den ersten Seiten der Nikomachischen Ethik an die Kritik der Platonischen Idee des Guten anschließt, führen zu einer ersten, noch ganz formalen, Bestimmung des höchsten Gutes, das Menschen handelnd ergreifen können. Denn mit den Hinweisen, kein Fachmann hedürfe der Einsicht in die Idee des Guten überhaupt, um Nützliches hervorzuhringen, und jede ein­ zelne Handlung sei wie jede Techne offenbar auf ein anderes Gutes aus, hat sich die Frage nach dem Guten, wie es im Ganzen eines menschlichen Lehens verwirklicht werden könnte, auch für Aristote­ les noch nicht erübrigt. Er bringt die unterschiedlichen Güter, die wir mit unseren verschiedenen einzelnen Handlungen je anstreben können, vielmehr in eine hierarchische Ordnung. Sie gipfelt in dem Sammelrezension zur deutschen Aristoteles-Renaissance der 70er Jahre hat Rüdiger Bubner diese Auffassung mit guten Gründen zurückgewiesen. Es gebe bei Aristoteles weder eine Metaphysik des Praktischen, die der »Ersten Philosophie im theoretischen Bereich des Wissens« entspreche, noch sei das umrißhafte Wissen in Ethik und Politik, wie Höffe behaupte, als ein für uns erstes Wissen aufzufassen, das im Fortschreiten der Analyse von genauerem Wissen überholt werde. Vgl. Rüdiger Bubner, Eine Renaissance der Praktischen Philosophie, Philosophische Rundschau Jg. 22/1975, H. 1-2, S. 1-34, dies S. 20-21. Höffe ist dieser Kritik mit dem Hinweis begegnet, die (Aristotelische) Ethik sei zwar »keineswegs eine Metaphysik des Praktischen«, habe aber sehr wohl »die Bedeutung einer praktischen Fundamentalwissenschaft«. Vgl. O. Höffe, Ethik und Po­ litik - Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt/Main 1979, S. 52, vgl. dazu Anm. 26, S. 79. Den Aristotelischen Begriff des »rurtog« sieht Höffe »nicht im Gegensatz zur exakten Formel«, sondern »zum Leben selbst« (a.a.O., S. 71). Dennoch bestimmt er das in den Stand des Grundriß-Wissens erhobene Aristotelische Typos-Wissen hier treffend als »ungesättigte Erkenntnis, deren Sättigung nicht durch subtilere Theorien, sondern durch faktische Realisierunggeschieht« (ebenda). Höffe hat sich dem Thema jüngst wieder zugewendet und behauptet, es handele sich hier nicht um ein besonderes Charakteristikum der Aristotelischen Ethik, sondern um eine generell gültige metaethische Einsicht. Vgl. Höffe, Ethik als praktische Philosophie - Metho­ dische Überlegungen (I,1 1094a22-1095a13), in: Höffe, O. (Hrsg.) Klassiker auslegen: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, S. 13-38, dies S. 29. ^

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vollkommensten Handlungszweck, den wir um seiner selbst willen anstreben würden und alles andere letztlich nur um seinetwillen.160 In Übereinstimmung mit dem üblichen Sprachgebrauch nennt Ari­ stoteles dieses höchste in sich selbst Gute für den Menschen Eudaimonia und bestimmt diese umrißhaft als die möglichst das Ganze eines Lebens erfüllende hervorragende Ausübung von Tätigkeiten, zu denen der Mensch von Natur in besonderem Maße befähigt ist.161 Mit dieser Bestimmung der Eudaimonia als tugendhaften Le­ bens hat Aristoteles allerdings nicht zugleich den sittlichen Tugenden oder gar den angeblich bewährten sittlichen Gepflogenheiten, die in einem Gemeinwesen verbreitet sind, den Vorrang vor allen anderen menschlichen Fähigkeiten und Leistungen zuerkannt, wie neo-ari­ stotelische Lesarten dem heutigen Interpreten nahezulegen versuchen.162 Es geht ihm vielmehr um das selten gelingende Zusam­ menspiel der ethischen Tugenden mit den dianoetischen, der Phronesis wie der Sophia, der besonderen Fähigkeit bzw. Leistung unseres höchsten Seelenteils.163 Weil es Aristoteles zufolge kein all­ gemeines oder gar kontrafaktisches moralisches Gesetz geben kann, dessen gewissenhafte Beachtung den Handelnden in jedem Falle vor gefährlichen Fehltritten bewahren könnte, ist auch die wahre »Mit­ te«164 schwer zu treffen.165 Das, woran sich der Tugendhafte halten soll, ist keineswegs das übliche Verhalten der großen Masse oder eines statistischen Durchschnitts. Der vorbildliche Tugendhafte tut nicht, ohne weiter darüber nachzudenken, was »man« zu tun pflegt, sondern im Gegenteil aufgrund bewußter Wahl und um des Gewähl160 Vgl. Aristoteles, NE 1097a30-34, siehe auch M 982b4-7, wo Aristoteles diejenige Wissenschaft als die höchste bezeichnet, die das erkennt, um dessentwillen alles andere zu tun sei. 161 Vgl. Aristoteles, NE 1098a16-20. 162 Vor allem Joachim Ritter kommt das zweifelhafte Verdienst zu, diese Interpretati­ onsperspektive etabliert zu haben. Vgl. insbesondere J. Ritter, Metaphysik und Politik, Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/Main 1969, u.a. S. 103, 111, 113, 125 f., 145. Ihre aktuelle Attraktivität bezeugt u.a. Alasdair Macintyres systematische Anknüpfung an Aristoteles, die in seiner praktischen Philosophie vor allem ein Doku­ ment einer vorbildlichen sittlichen Welt sehen will, wo der einzelne seine Identität gewann, indem er in ein tradiertes Ethos hineinwuchs und im Rahmen etablierter ge­ meinschaftlicher Praktiken seine soziale Rolle fand und ausfüllte. Vgl. A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, Frankfurt/Main 1987, u.a. S. 255-257. 163 Vgl. Aristoteles, NE 1098a3ff. Ich gehe gleich noch ausführlich auf Aristoteles nor­ mative Bestimmung der Eudaimonia ein. 164 Vgl. Aristoteles, NE 1106a29ff. 165 Vgl. Aristoteles, NE 1106b31-33. 128

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ten selbst willen, was er soll bzw. rechte Vernunft gebietet.166 Was rechte Vernunft dem Handelnden gebietet, muß aber nun einmal in prekärer Weise unbestimmt bleiben, wenn man mit der Aristote­ lischen Einsicht ernst macht, daß sich unser Tun und Lassen im Raum des Kontingenten abspielt und ohne Rückversicherung in praktischem Wissen auskommen muß. Unter diesen Bedingungen versteht es sich, daß wahre Tugend keineswegs die Regel ausmacht, sondern im Gegenteil etwas äußerst Seltenes, Schönes und Lobens­ wertes ist.167 Jedenfalls genügt es nicht, in den unübersichtlichen Angelegen­ heiten des täglichen Lebens richtig zu urteilen. Nur wer auch richtig zu handeln vermag, verdient das Prädikat, tugendhaft zu sein. Weil sie die wirkliche Ausführung einer Handlung ebenso betrifft wie den freiwilligen und wohlüberlegten Entschluß168 dazu, spricht Aristote­ les von der ethischen Tugend als einer Hexis prohairetike169, einer stabilen Haltung also, die sich im Moment der besonnenen Wahl Geltung verschafft, ohne das nicht ernstlich von Handlungen die Re­ de sein kann. Ausgezeichnet wird so also nicht eine singuläre Tat, sondern eine verläßliche charakterliche Einstellung, die sich im Um­ gang mit den leiblichen Antrieben des Handelnden, der Lust und dem Schmerz170, immer wieder aufs neue bewährt und festigt, indem sie quasi eine Diätetik der Affekte - das je richtige Maß zwischen Nach­ giebigkeit und Disziplinierung zu treffen und zu halten weiß und so allererst Handlungsfähigkeit gewährleistet.171 Was schon aus den 166 Vgl. Aristoteles, NE 1105a28-34. 167 Vgl. Aristoteles, NE 1109a28-30. 168 Vgl. Aristoteles, NE 1178a34 — b 1. 169 Vgl. Aristoteles, NE 1106b36, auch NE 1106a3-4. 170 Nur soweit unser Urteilen Handlungen betrifft, läuft es nach Ansicht des Aristoteles Gefahr, von den Empfindungen der Lust und des Schmerzes verdorben zu werden. (Vgl. NE 1140b13-16.) Einzig an den Leidenschaften und Handlungen fänden sich Übermaß, Mangel und Mitte. (Vgl. NE 1106b16-18) Daher bezieht Aristoteles die ethische Tu­ gend wesentlich auf Lust und Schmerz: rcepl pbovac, ya@ xal Xvnac, eativ p ^ölx^ a^ST^. (NE 1104b8-9, vgl. auch 1104b3-8, 9- 16 sowie 1152b4-6.) Ethische Tugend­ haftigkeit bzw. Schlechtigkeit bezeichnen ihm zufolge die Art und Weise, wie wir uns zu unseren Leidenschaften verhalten. Sie sind daher weder selbst als Leidenschaften, noch als bloße Fähigkeiten anzusehen, sondern als verläßliche Haltungen, die wir um Um­ gang mit unseren Leidenschaften einnehmen. (Vgl. NE 1105b19-26.) 171 Man kann daher gar keine ethische Tugend ausüben, ohne zugleich etwas anderes zu tun. Tapferkeit zeigt sich beispielsweise darin, wie jemand in einer Schlacht das Schwert führt oder in einer Debatte sein Mundwerk. Gerechtigkeit im Austausch oder bei der Verteilung von Gütern. John Ackrill hat diese Beobachtung nicht nur dazu bewogen, ^

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prinzipiellen handlungstheoretischen Überlegungen des Aristoteles folgt, wird in diesem Blickwinkel noch offenkundiger: Das Maß der Mitte zwischen zwei Extremen kann nicht das stereotype arithmeti­ sche Mittel sein172, nach dem alle über einen Leisten geschlagen wer­ den können. Mit Einsicht und Gespür muß der Handelnde vielmehr sich selbst und den situativen Gegebenheiten Rechnung tragen173 und dabei sogar größere Genauigkeit beweisen als in technischen Angelegenheiten. Denn die spezifische Mitte der für den einzelnen je richtigen Einstellung zu seinen Affekten kann je nur auf eine Wei­ se getroffen, auf vielerlei Weisen jedoch verfehlt werden.174 Wie hier ins Schwarze zu treffen ist, dafür weiß Aristoteles weder eine be­ währte gemeinschaftliche Lebensregel anzugeben, noch gar eine ma­ thematische Formel, sondern allenfalls eine rhetorische: Das, worauf es ankommt, die Mitte in Bezug auf uns (npoc; ^p,äc;)175, ist, so die geradezu delphische Auskunft des Aristoteles, eben die Mitte, wie sie derjenige zu treffen weiß, der mit praktischer Urteilskraft, Phronesis176, gesegnet ist. Damit ein Mensch wirklich gut und tugendhaft werde, muß Ari­ stoteles zufolge dreierlei zusammenkommen: Naturanlage (^botc),

zwischen einer Handlung als solcher und ihrem Grund oder Motiv zu unterscheiden. Er glaubt vielmehr auch, die Aristotelische Unterscheidung von Poiesis und Praxis an den inneren Unterschied der Motivation binden zu können. Vgl. J. L. Ackrill, Aristotle on Action, in: Amelie Oksenberg Rorty (Hrsg.), Essays On Aristotle's Ethics, Berkeley/Los Angeles/London 1980, S. 93-101. Ich halte diese Auffassung, wie bereits in Kapitel 2 entwickelt, für unzutreffend. Hier ist nur hinzuzufügen, daß die Ausübung der ethi­ schen Tugendhaftigkeit für Aristoteles gerade deswegen nicht den Musterfall einer Pra­ xis im emphatischen Sinne des Begriffs bildet, weil sie nicht nur in sich, sondern auch zu anderem gut ist. Vgl. Aristoteles, NE 1177b2-4. 172 Vgl. Aristoteles, NE 1106a35ff. 173 Vgl. Aristoteles, NE 1104a8f. 174 Vgl. Aristoteles, NE 1106b30-33. 175 Vgl. Aristoteles, NE 1106a36. 176 Vgl. Aristoteles, NE 1107a1f. Ich spreche von der Phronesis als praktischer Urteils­ kraft, obwohl sie nicht mit dem Vermögen identifiziert werden darf, das Kant Urteils­ kraft nennt. Denn in der kontingenten Welt des Handelns, die Aristoteles vor Augen liegt, das je situativ für sich Richtige zu treffen, ist weder eine Routineaufgabe der bestimmenden Urteilskraft, die ein gegebenes Allgemeines in Anwendungssituationen geltend macht (und das heißt insbesondere in der Kantischen Ethik: vor allen Spezifika­ tionen bewahrt, die als sophistische Ein- und Ausreden unethischen Räsonnements er­ scheinen), noch eine Leistung der reflektierenden Urteilskraft, die vom Einzelfall aus­ gehend nach einer passenden allgemeinen Regel sucht, ohne den Beweis ihrer Geltung antreten zu können. 130

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Gewöhnung (£605) und Einsicht (Xoyoc;).177 Tugendhaft ist man also weder einfach von Natur aus, noch ohne Einsatz geistiger Fähig­ keiten. Es ist freilich auch nicht das gelehrte Studium kluger Bücher oder der eifrige Besuch philosophischer Vorlesungen, die zum Er­ werb ethischer Tugenden führen, sondern eine »Art Lernen und Üben«178. Denn verläßliche Haltungen im Umgang mit den eigenen Affekten bilden und befestigen sich Aristoteles zufolge nur in der wiederholten Ausführung von wirklichen Handlungen. Allein in die­ sem Sinne der Kultivierung des Charakters des Handelnden, der sich in unterschiedlichen Situationen zu bewähren weiß, spielt die Ge­ wöhnung im ethischen Konzept des Aristoteles eine wichtige Rolle179. Wie man poietische Techniken erwirbt und verbessert, in­ dem man sie in diversen Anwendungssituationen wieder und wieder ausübt, also trainiert, so auch die ethischen Fertigkeiten der Seele. Wie man das Spielen der Gitarre und das Behauen von Steinen mit den eigenen Händen ausprobieren, emsig wiederholen und fortlau­ fend korrigieren muß, um schließlich das Beste aus sich herausholen zu können, so auch den richtigen Umgang mit den eigenen Affekten. Natürlich spielen hier auch Vorbilder eine Rolle, erzieherische An­ leitung und kritische Kommentare. Entscheidend aber ist: wie einer tätig ist, so wird er auch. Praktische Gewöhnung in diesem Sinne hat also nichts mit sozialer Dressur des einzelnen zu tun, der unüberleg­ 177 Vgl. Aristoteles NE 1179b20-35, Pol 1332a40 und 1334b6-7. Weil die Erziehung der Bürger zur Tugend allemal fehlschlagen könne, sowohl wenn sie einseitig auf den Logos als auch wenn sie auf die bloße Einübung setze, so wird hier betont, komme es auf die größtmögliche Harmonie beider in Ausrichtung auf das von Natur aus Höchste im Menschen an: den Logos und den Nous. Aristoteles geht aber zugleich davon aus, den meisten Menschen sei nicht mit gutem Zureden beizukommen, weil sie gar nicht zu wahrer Einsicht fähig seien und daher nur dem Zwang gehorchten. (Vgl. NE 1179b 10-13.) Deswegen legt er großen Wert auf die richtige Gesetzgebung, für die er in Buch 7 und 8 der Politik sogar konkrete Anweisun­ gen gibt. Auch richtige Gesetzgebung versteht sich nicht von selbst und ergibt sich auch nicht automatisch aus einer Vergewisserung darüber, was faktisch als Gesetz gilt. Das Faktische bedarf vielmehr der Auswahl und vor allem der treffenden Beurteilung. (Vgl. NE1181a15-19) 178 Aristoteles, NE 1099b15-16. Aristoteles diskutiert hier, ob die Glückseligkeit ein »6elav ^ot^av« (10) darstelle oder auf tugendhaftes Verhalten, »dXXd öl d^et^v xal nva ^d6^aiv p dax^aiv« zurückgeführt werden könne. Vgl. auch M 981b4-5, wo Aristoteles andeutet, man könne durch Gewöhnung und ohne Belehrung über die Ur­ sachen lernen, ein Handwerk auszuüben. NE 1179a35 - b betont dagegen, die Übung bedürfe der Anleitung und Erleuchtung durch Einsicht und Wissen. 179 Vgl. Aristoteles, NE 1103a17-26. ^

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Die Unverbindlichkeit der Zwecke

ten Übernahme von Rollenerwartungen oder der Konditionierung auf starre konventionelle Verhaltensmuster.180 Es geht vielmehr um den Handelnden selbst181, der nach und nach durch Erfahrung eine Art Gewohnheit soll erwerben können, handelnd das jeweils, nicht zuletzt genau für ihn selbst, Beste zu treffen oder auch nicht. Aristo­ teles ist nämlich sehr wohl bewußt, daß man sich auch Fehlhaltungen angewöhnen kann, die, einmal eingenommen, nur schwierig zu kor­ 180 Ritter behauptet dagegen, der Einzelne werde »daher gerecht, besonnen tapfer, in­ dem er sich, so wie man in den Künsten handeln lernt und bauend zum Baumeister, im Zitherspielen zum Zitherspielen wird, handelnd in das eingewöhnt, was in der Polis >ethisch< gerecht, besonnen tapfer ist«. J. Ritter, >Politik< und >Ethik< in der praktischen Philosophie des Aristoteles, a. a. O., S. 106-132, dies S. 111. Die zum Beleg dieser These angeführte Stelle NE 1103a32ff. besagt aber nur, daß wir die entsprechenden Fähig­ keiten durch ihre Ausübung erwerben. NE 1103b14ff. macht anschließend vollends klar, was Aristoteles hier behaupten will: so wie wir wirklich handeln, so werden wir auch, ungerecht durch ungerechtes Handeln und gerecht durch gerechtes. Nur in diesem Sinne müssen wir uns also auch das Verhalten angewöhnen, das Aristoteles als tugend­ haft qualifiziert. Es geht aber durchaus nicht darum, die Gitarre zwanghaft so zu halten und zu schlagen, die Maurerkelle (die Seele) schlicht so zu führen, wie die meisten diese Gerätschaften üblicherweise handhaben, sondern so, wie es dem Handlungsziel und den mitgebrachten leiblichen Gegebenheiten des Tätigen entspricht. Dafür aber kann es keine gemeinschaftliche Regel geben, die nur übernommen und angewendet werden müßte. Ritters einflußreiche Aristoteles-Interpretation beruht indessen noch auf einem wei­ teren Fehlurteil: er behauptet nämlich immer wieder, Aristoteles habe die Poiesis als die dem Menschen spezifische und damit ihm wahrhaft angemessene Form der Praxis ausgezeichnet, weil sie in Gestalt der Techne einer rationalen Regelung unter Anleitung der Wissenschaften fähig sei. Vgl. Ritter, Zur aristotelischen Theorie des Glücks, in: Ritter, Metaphysik und Politik, a. a.O., S. 57-105, dies S. 78 ff., u. a. auch ders., »Politik« und »Ethik« in der praktischen Philosophie ..., a.a.O., S. 117f., auch ders., >Naturrecht< bei Aristoteles, in: ders., Metaphysik und Politik, a.a.O., S. 133-179, insbesondere S. 169 f. Diese Sicht unterstellt Aristoteles eine Auffassung, die erst für die Neuzeit typisch ist und sich beispielsweise bei Hegel findet, der die Arbeit als Welt wie Selbst bildende wesentliche Tätigkeit des Menschen ansieht. Aristoteles hingegen läßt sie sich allenfalls unterschieben, wenn man die einschlägigen Texte äußerst selektiv liest und alle Äußerungen zur Poiesis-Praxis-Differenz wie zur guten Mußegesellschaft igno­ riert. Denn daß Aristoteles den Terminus »Praxis« in seinen naturgeschichtlichen Schriften auch relativ unspezifisch verwendet (vgl. Hist. Anim. 487a, De Caelo 292b), ist ja kein zureichender Beweis für seine Belanglosigkeit bei der Bestimmung dessen, was spezifisch für den Menschen als höchstes Gut gelten darf. Und wenn in Pol 1254a7, der dritten Belegstelle Ritters, davon die Rede ist, der Bios sei als eine Praxis und nicht als Poiesis aufzufassen, bedeutet das doch gerade nicht, wie Ritter glaubt schließen zu dürfen, die höchste menschliche Lebensform müsse also die Poiesis sein. Vgl. dagegen Ritter, >Politik< und >Ethik< ., a.a.O., S. 117f., insbesondere Anm. 23. 181 Vgl. Aristoteles, NE 1104a8f. 132

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rigieren sind.182 Unseren Charakter haben wir nun einmal nicht in genau demselben Maße in der Hand wie Einzelhandlungen, die wir von ihrem Anfang bis zu ihrem Abschluß überschauen und, wie man hinzusetzen könnte, mit der nächsten Handlung korrigieren kön­ nen.183 Schlechte Charakterbildung dagegen kann die Handlungs­ fähigkeit kosten, wie Aristoteles am Beispiel des Alkoholikers184 be­ legt, der zwar am Anfang die Wahl hatte, zu trinken oder nicht, sich aber nach und nach in eine schwer zu durchbrechende habituelle Ab­ hängigkeit hineinmanövriert. Andererseits aber ist jeder für seinen guten oder schlechten Charakter selbst verantwortlich, insofern sich diese Haltungen nur in einer Vielzahl von Einzelhandlungen heraus­ bilden können. Die Leistung der Phronesis Charakterliche Tugenden sind also wesentlich gelungene Verkörpe­ rungen und nicht etwa triftige Meinungen. Ein Moment der Reflexi­ on ist dennoch unerläßlich, damit ihre Ausübung etwas wirklich Vor­ treffliches wird, wie Aristoteles betont. Erst die einer stimmigen Praxis eigene Phronesis erhellt ein bloß tugendähnliches Verhalten, das dem einzelnen von seiner Natur schon nahegelegt und durch eine gute Kinderstube eingeschliffen sein mag, mit der nötigen Einsicht und promoviert es auf diese Weise endlich zur wahrhaften ethischen Tugend185. Die Phronesis186, von der nun schon einige Male andeu­ tungsweise die Rede war, ist das praktische Pendant zur Techne. Wie schon Platon sieht sich nämlich offenkundig auch Aristoteles der ethischen Herausforderung konfrontiert, die in zielentbundener technischer Leistungskraft steckt. Auf sie antwortet er zunächst mit dem Versuch, Poiesis und Praxis sowie die ihnen entsprechenden Typen von Handlungsrationalität, also die Techne und die Phronesis, trennscharf zu unterscheiden.187 182 Vgl. Aristoteles, NE 1114a4ff., auch 1154a32-34. 183 Vgl. Aristoteles, NE 1114b30-1115a3. 184 Vgl. Aristoteles, NE 1113b32f., 1114a4ff. u. 19ff. 185 Vgl. Aristoteles, NE 1144a18-20, NE 1144b3-5, 12-14,16-17. 186 Vgl. Aristoteles, insbesondere NE 1140a24-1142a30. 187 Im Anschluß an die Unterscheidung von Poiesis und Praxis versucht Aristoteles auch die beiden Typen von Rationalität zu unterscheiden, die dem Handeln und den Herstel­ len zukommen. Er bestimmt die Techne in NE 1140a20-21 als mit wahrer Vernunft verbundenes herstellendes Verhalten (»e|ig tlg ^eta Xoyon aX^öohg rtoi^tix^«) und ^

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Die Unverbindlichkeit der Zwecke

Während sich die technische Rationalität von Anbeginn in zweckrationalen Gewässern adäquater Mittelwahl bewegt und dem­ entsprechend vergleichsweise exakt bestimmbar ist, bleibt die aufs Ganze gesehen weit bedeutendere Phronesis indessen eine nicht völlig eindeutige Gestalt mit unscharfen Konturen. In welchem Ma­ ße jemand über gute Techniken des Herstellens verfügt, findet seinen objektiven Ausdruck im Ergebnis seines Tuns, das dem anvisierten Eidos mehr oder weniger nahekommen kann, und unterliegt daher verbindlicher Erfolgskontrolle. Anders im Falle der Praxis der Tugen­ den, wo es wesentlich auf die richtige Einstellung ankommt, mit der ein Handelnder etwas vollbringt.188 Unter Leitung der Phronesis geht es darum, das speziell für den Einzelnen selbstzweckhafte Richtige im Gefüge der Einzelhandlungen auszubuchstabieren und auf diese Weise nach dem höchsten Gut, der Eudaimonia, zu greifen. Wer mit Phronesis versehen ist, der unterscheidet sich daher, wie schon Platon im Hinblick auf das Streben nach dem wahrhaft Guten bemerkt, in einer entscheidenden Hinsicht von demjenigen, der bloß über tech­ nische Fähigkeiten verfügt. Während man letztere auch demjenigen nicht absprechen könne, der freiwillig Fehler zu machen und Sabota­ ge zu betreiben verstehe, so betont auch Aristoteles, werde man doch keineswegs denjenigen praktisch klug nennen, der sich in den Din­ gen, die ihn selbst betreffen und als solche gut sein sollen, absichtlich vergreifen würde. Während die Techne daher zusätzlicher ethischer Belehrung und verläßlicher Einbindung in gute Zweckzusammenhänge bedarf, scheint es die Phronesis überhaupt nur in sittlicher Gestalt geben zu können.189 Das ist jedoch nicht der einzige Grund dafür, sie im Ge­ gensatz zur Techne selber als eine, wenngleich dianoetische, Tugend, also als eine der verständigen menschlichen Seele eigentümliche Tüchtigkeit, anzusehen. Denn während die verschiedenen (großen­ teils handwerklichen) Techniken getrost wenigen Experten überlas­ sen werden können, da hergestellte Güter in einer arbeitsteiligen Gesellschaft durch Tauschmittel von anderen erworben werden kön­

die Phronesis in NE 1140b20-21 als mit wahrer Vernunft verbundenes, die mensch­ lichen Güter betreffendes handelndes Verhalten (»e|iv eigai ^eta Xoyon dX^Ö h Pepi­ ta dv^pwmva dya^a rtpaxtix^v«). 188 Vgl. Aristoteles, NE 1105a26- 1105b5. 189 Vgl. Aristoteles, NE 1140b22-25. Vgl. die Erläuterungen Dirlmeiers in: Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt von Franz Dirlmeier, Darmstadt 1956, S. 451. 134

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nen, kommt ohne praktische Urteilskraft keiner gut aus, weil nun einmal jeder sein Lehen selber führen muß. Klug (^pövtpoc;) wird dementsprechend genannt, wer in allen Dingen, die ihn mit Leih und Seele190 betreffen und außerdem wirk­ lich in seinen endlichen Handlungsspielraum fallen, gut zu überlegen und im Großen und Ganzen das Richtige zu tun weiß.191 Es ist ein raffiniertes und schwer durchschauhares Amalgam aus Urteils- und Handlungsfähigkeit, reflektierter Dezision und unauflöslicher ethi­ scher Einbettung, dem Aristoteles diesen Ehrennamen zuerkennt. In einem wesentlichen Punkt gleicht seine Skizze der Phronesis sogar einem Vexierbild. Scheint es sich hei dieser Tugend des meinenden rationalen Seelenteils einerseits doch um eine Fähigkeit zu handeln, die nicht auf die Wahl relativ geeigneter Mittel und Wege beschränkt ist, sondern auch absolut erstrebenswerte Güter richtig zu bestim­ men weiß.192 Andererseits aber weist der antike Ethiker die Verant­ wortung für die richtige Zweckbestimmung immer wieder einer an­ deren Instanz zu, nämlich den ethischen Tugenden.193 Die Aristotelische Auffassung von der spezifischen Leistung der Phronesis würde dennoch völlig mißverstehen, wer sie als bloß zweckrationales Vermö­ gen auffassen wollte.194 Denn sie hat sich nun einmal nicht in poietischen, sondern in praktischen Handlungszusammenhängen zu bewähren, in denen Zweck und Mittel nicht unterscheidbar sind, sondern das einzelne zu wählen ist, das in der jeweiligen Situation der ins Auge gefaßten verbindlichen Allgemeinbestimmung am besten entspricht. Um das Problem, wie ein All­ gemeines durch Einzelnes vermittelt werden kann, geht es Aristoteles auch,

190 Vgl. Aristoteles, NE 1178a19f. 191 Vgl. Aristoteles, NE u.a. 1140a24-1140b7, 1141 8-12. 192 Vgl. Aristoteles, NE, z.B. 1142b31-33 u. 1143a8-9. 193 Vgl. Aristoteles, NE 1144 a 7-9: Denn die Tugend macht, daß das Ziel richtig wird, und die Klugheit, daß der Weg dahin richtig wird. (»f pev ydp aperr] töv oxomöv motet ÖQ0ÖV, ff 6e ^povr|Otc td mpöc toütov«); vgl. auch 1145a5-6. 194 Diese Tendenz läßt dagegen die Interpretation Theodor Eberts erkennen. Vgl. T. Ebert, Phronesis. Anmerkungen zu einem Begriff der Aristotelischen Ethik (VI 5, 8-13), in: O. Höffe (Hrsg.), Klassiker auslegen: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, S. 165-185. Er wirft den Aristotelischen Äußerungen über die Phronesis hier vor, »kritischer Nachprüfung nicht« standzuhalten (ebenda, S. 176), weil sie »fälschlich«.erweise (ebenda, S. 179) großen Wert darauf legten, »im Bereich der technai keine Anwendung von >klug< zu erlauben«, während »wir« dieses Prädikat zu Recht auf den Umgang mit »nicht-ziel-spezifischen« Mitteln anwendeten (ebenda, S. 181). Daß sie in diesem neuzeitlichen Sinne gerade nicht zu verstehen ist, begründet meines Er­ achtens dagegen den systematischen Reiz der Aristotelischen Konzeption. ^

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wenn er vom sogenannten praktischen Syllogismus spricht.195 Es tritt hier als die Schwierigkeit auf, den Mittelsatz hzw. die nachgeordnete Prämisse eines Schlusses aufzufinden, dessen Conclusio nicht in einer theoretischen Einsicht bestehe, die nach den Regeln der Logik gewonnen und bewiesen werde, son­ dern in einem Entschluß, der eine Handlung einleite. Aristoteles glaubt, für die richtige Bestimmung dieses Einzelnen könne nur Erfahrung aufkommen, die einige machen und haben, andere dagegen nicht.196 Unter dem ganz anderen Aspekt bloß zweckrationaler Mittelbestim­ mung wird die Figur des praktischen Syllogismus dagegen seit geraumer Zeit unter zeitgenössischen Philosophen intensiv debattiert, die Varianten der Sprachanalyse für einen privilegierten Zugang zur Klärung philosophischer Probleme halten.197 Einige der beteiligten Autoren räumen immerhin ein, diese Perspektive stimme durchaus nicht mit der ursprünglichen Aristote­ lischen überein.198 Zu ihnen zählt auch G. H. von Wright, der feststellt, Ari­ stoteles habe gar nicht an den zweckrationalen Argumentationstyp gedacht, »als er von praktischen Syllogismen sprach8'u6aL^ovia< im I. Buch der >Nikomachischen Ethikunteren< Theorieschichten später nur noch selektiv aktiviert wer­ den«. Rudolf Stichweh, Rationalität bei Parsons, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 9, H. 1, Januar 1980, S. 54-78, dies S. 62, Anm. 18. 182

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beschreibbar sind und zugleich in eigenartiger Weise spekulativ überhöht werden.28 Ohne Parsons umfangreiches und interdisziplinär weit ver­ zweigtes Theorieschaffen im Rahmen dieser Studie detailliert doku­ mentieren zu können, will ich der angedeuteten Verschiebung im folgenden doch gezielt nachgehen und wenigstens auf einige ent­ scheidende Weichenstellungen aufmerksam machen. Gibt es, so ist vor allem zu fragen, überzeugungskräftige sachliche Gründe, die Par­ sons zu der angedeuteten Gewichtsverlagerung von der Handlungszur Systemtheorie bewegen? Oder handelt es sich um ein vermeid­ bares »grundbegriffliche(s) Schwanken«,29 das einem konzeptionel­ len Defizit geschuldet ist? So lautet jedenfalls das Verdikt, das Jürgen Habermas in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« zu be­ legen versucht.30 Ihr zufolge haftet bereits dem elementaren Modell individuellen Handelns, das Parsons in seinem ersten Hauptwerk präsentiert, der entscheidende Defekt an. Wie eine untilgbare Hypo­ thek belaste er die gesamte weitere Theorieentwicklung und verhin­ dere eine den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Moderne ange­ messene Vermittlung von Handlungs- und Systemtheorie31, die der Kritiker selber dagegen zu leisten vorgibt. Angesichts dieser erklär­ ten Konkurrenz halte ich es für angebracht, die beiden Alternativen in diesem Kapitel miteinander zu konfrontieren und die Streitpunkte zu bestimmen, ohne mich gläubig auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Beide Positionen werfen willkommenes neues Licht auf die in dieser Arbeit bislang diskutierten Probleme, ohne mit Lösungen aufwarten zu können, denen zu folgen ich mich entschließen kann oder gar anderen empfehlen mag.

28 Das gilt vor allem für das Spätwerk Action Theory And The Human Condition, a.a.O. 29 So Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main 1981, im folgenden zitiert als KH, Bd. II,, S. 299. 30 Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 295-444. Habermas setzt sich mit Parsons auseinander, weil niemand bisher eine »Gesellschaftstheorie von vergleichbarer Komplexität« vor­ gelegt habe. Ebenda, S. 297. 31 Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 303 ff. Parsons' Theorie, so der in verschiedenen Varian­ ten durchgespielte Vorwurf, sei es »auch in ihrer ausgereiften Gestalt« nicht gelungen, »den in ihr angelegten Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Grundbegrifflichkeiten« zu schlichten. Sie habe ihn alles in allem »allenfalls verdeckt«. Ebenda, S. 419. ^

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Ordnung ohne Subjekt

Das Grundschema freiwilligen Handelns Als irreführend läßt sich meines Erachtens der entscheidende Vor­ wurf erweisen, auf den Habermas haut, um die Vorzüge der »Theorie kommunikativen Handelns« herauszustellen und sie zugleich mit systemtheoretischen Figuren anreichern zu können. Er behauptet nämlich, Parsons begehe den unverzeihlichen Fehler, den sozial Han­ delnden mit dem »auf Objekte gerichtete (n) Subjekt der Erkennt­ nistheorie zu verwechseln« und henütze damit ein »im Ansatz fal­ sches Modell« sozialen Handelns.32 In der Tat spricht Parsons in seiner epochalen Studie »The Structure of Social Action«, die 1937 in erster Auflage erschien, einmal davon, zur Handlung gehöre ein Subjekt wie zum Erkennen.33 Damit ist aber keineswegs gemeint, die Welthezüge des Handelns und der wissenschaftlichen Erkenntnis sei­ en vollkommen kongruent, wie Habermas unterstellt. Im Gegenteil, ausdrücklich wird ein sozialwissenschaftlicher Reduktionismus zurückgewiesen, der in den Akteuren so etwas sieht wie Wissen­ schaftler in eigener Sache.34 Betrachten wir also ein wenig genauer, wie der Autor von »The Structure of Social Action« Handlungen ver­ stehen will. Parsons gewichtiger Erstling verfolgt ein ehrgeiziges Ziel. In ausführlicher Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Pareto, Marshall, Durkheim und nicht zuletzt Max Weber versucht sich der Autor als Synoptiker, der eine theoretische Konvergenz nachweisen kann. Sie betreffe, so die These, den entscheidenden Kern moderner soziologischer Wissenschaft, nämlich ihre grundlegende Konzeption sozialen Handelns, und sei von der Sache selbst erzwungen. Denn sämtliche vier genannten Autoren seien im Verlauf ihrer wissen­ 32 Habermas, KH Bd. II, S. 330; vgl. auch S. 306f., S. 319. 33 Vgl. Parsons, Str, S. 745. 34 Besonders prägnant hat Parsons diese Kritik in einem Lexikonartikel zum Stichwort »Social Interaction« zum Ausdruck gebracht, der den Kern seiner Handlungstheorie in Abgrenzung von ihren historischen Wegbereitern pointiert erläutert. An der frühneu­ zeitlichen Wende zum Subjekt, für die Descartes' Metaphysik der Erkenntnis einsteht, beklagt Parsons vor allem zwei wesentliche Defizite: das Subjekt Mensch werde schlicht als gegeben und nicht als Resultat einer komplizierten Bildungsgeschichte betrachtet, und es trete nur als erkennendes auf, das es überdies allein mit Objekten zu tun habe, die selber nicht handelten. Vgl. Parsons, Social Interaction, in: David Sills (Hrsg.), Inter­ national Encyclopedia of The Social Sciences, Vol. 7, S. 429-441. Ich zitiere nach dem Wiederabdruck in: Parsons, Social Systems And The Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 154-174, dies insbesondere S. 155. 184

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schaftlichen Arbeit zur faktischen Revision ihrer anfänglich voraus­ gesetzten Handlungshegriffe gelangt, eines »positivistischen« (bzw. »utilitaristischen«) im Falle von Pareto, Marshall und Durkheim und eines »idealistischen« hei Weher.35 Die wegweisende Übereinstim­ mung ergehe sich in der Kritik am bzw. der selbstkritischen Befreiung vom Schema zweckrationalen Handelns, das die Zweck-Mittel-Relation isoliere und für utilitaristische bzw. positivistische Positionen in besonderem Maße charakteristisch sei.36 Wo wirklich gehandelt wird, sind nach Parsons hingegen allemal vier Komponenten im Spiel. Das bezeuge bereits jedermanns All­ tagserfahrung37 und sei deswegen auch bei der sozialwissenschaftli­ chen Analyse von Handlungszusammenhängen zu beachten. Zu einer Handlung gehören demnach ein Handelnder, eine Handlungs­ situation, deren gegebene Entwicklungstendenz durch das Handeln abgewandelt wird und die sich in unbeeinflußbare Bedingungen und verfügbare Mittel für den Handelnden aufteilen läßt, und die zweck­ hafte bzw. normative Orientierung des Handelnden, die Selektion und Integration dieser Komponenten bestimmen soll.38 Parsons faßt Handlungen also ganz pauschal als willentliche Zustandsverän­ derungen welcher Art auch immer auf. Mit der aristotelischen Diffe­ renzierung von poietischen Akten und praktischen Vollzügen und ihren rationalitätstheoretischen Konsequenzen ist er offenkundig 35 Obwohl Weber, wie seine Verwendung des Terminus »Wertbeziehung« dokumen­ tiert, die eine oder andere Anleihe bei der Tradition des Neukantianismus aufnahm, erscheint mir seine ursprüngliche Zuordnung zum »Idealismus« aus kontinentaler Per­ spektive denn doch etwas überraschend. Parsons scheint Hegel, den er als herausragen­ den Idealisten benennt, im übrigen nicht durch eigenes Studium der Schriften, sondern mehr oder weniger vom Hörensagen zu kennen. Jedenfalls unterstellt er ihm eine eher neuplatonische Auffassung des Geistes und seiner unaufhaltsamen Emanation in die Weltgeschichte. (Vgl. z.B. die programmatische Zusammenfassung in Parsons, Social Interaction, a.a.O., S. 158.) Eine derartige idealistische Auffassung von Handlungen als Emanationen des Geistes (vgl. Str, u.a. S. 82, S. 774) glaubt Parsons auch als den Ausgangspunkt der Weber'schen Soziologie annehmen zu müssen. (Vgl. Str, u.a. S. 719.) Überzeugender dagegen scheint mir die Assoziation von Durkheim, Pareto und insbesondere Marshall zum »Utilitarismus«, wenngleich auch dieses Etikett relativ großzügig vergeben wird. 36 Vgl. Parsons, Str, u.a. S. 61. 37 Parsons behauptet, das von ihm aufgestellte analytische Handlungsschema sei kein pures theoretisches Konstrukt, sondern »deeply rooted in the common sense experience of everyday life» (Str, S. 51). Seine Elemente seien daher in allen Sprachen bekannt, das Schema also als universell anzusehen. 38 Vgl. Parsons, Str, u.a. S. 44. ^

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Ordnung ohne Subjekt

nicht vertraut.39 Dennoch sieht er in der Beschränkung auf die in­ strumenteilen Aspekte des Handelns, in deren Bann die klassischen Theorien ökonomischer Interessenverfolgung als Prototypen sozial­ wissenschaftlicher Modellierung von Handlungszusammenhängen stehen, ein vermeidbares Handicap. Entschiedener als Max Weher, dessen Hinweise auf die Wirksamkeit wertrationaler Verhaltensori­ entierungen er ausdrücklich folgt40, ist er daher bemüht, sein Fach aus der bequemen Fixierung auf die scheinbar so wohlhestimmte in­ terne Zweck-Mittel-Relation zu lösen und der komplexeren Wirk­ lichkeit nicht nur faktisch, sondern kategorial Rechnung zu tragen.41 Es sind zwei unersetzliche, im Hinblick auf die eingeklammerte Binnenrelation sozusagen »transzendentale« Aspekte, die Parsons' Schematisierung der Einzelhandlung (des »unit act«) zu Recht be­ sonders hervorhebt: Die soziale Integration von Handlungen erfolgt nie ausschließlich nach den technischen Regeln der Zweckrationali­ tät; jede Einzelhandlung weist zugleich eine finale Orientierung auf, die sittlich-normativen Charakter hat. Und: Handlungen bringen da­ mit eine subjektive Perspektive zum Ausdruck und vielleicht zur Geltung, in der sich Individualisierung und Sozialisierung immer schon verschränken. Das unterscheidet sie, wie Parsons in seinem Frühwerk zu betonen nicht müde wird, prinzipiell von naturgesetzli­ chen Abläufen, die den Gegenstand physikalischer, chemischer und biologischer Forschung abgeben.42 39 Allerdings bezeichnet Parsons mit dem Prädikat »normativ« ausdrücklich etwas, das für einen einzelnen oder eine Gemeinschaft Zweck bzw. Wert an sich selbst ist. (Vgl. Str, S. 75.) Tätigkeiten, die keinen zweckrationalen Charakter haben, werden von ihm au­ ßerdem nicht als irrational diskreditiert. Den klassischen Modellfall solcher nicht-ratio­ naler Tätigkeiten mit normativer Grundierung stellt für ihn das Ritual dar. Vgl. Parsons, Str, S. 712, S. 768. 40 Vgl. Parsons, z.B. Die Entstehung der Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 57f. und Rationalität und der Prozeß der Rationalisierung im Denken Max Webers, in: Sprondel, W./Seifert, C.(Hrsg.), Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, Stuttgart 1981, S. 81-92, insbesondere S. 87. 41 Entgegen Parsons' ausdrücklicher Kritik an der instrumentellen Verengung der Inter­ essentheorie ökonomischen Handelns behauptet Hans Joas, Parsons wähle sich in The Structure of Social Action eben diese als Vorbild und damit auch die instrumentelle Zweck-Mittel-Beziehung. Vgl. Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/Main 1992, insbesondere S. 52-54. 42 Als überzeugter Kantianer in erkenntnistheoretischer Hinsicht besteht Parsons dar­ auf, es sei der jeweilige theoretische Bezugsrahmen einer empirischen Wissenschaft, der darüber entscheide, welche Daten für die Erfassung ihres Gegenstandes überhaupt rele­ vant sind. Ein Selbstmord beispielsweise gehorcht gewiß auch physikalischen und bio­ 186

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Der Einwand, Parsons arbeite mit dem allersimpelsten, nämlich dem von Ha­ bermas »teleologisch« genannten und bezeichnenderweise Aristoteles unter­ geschobenen43 sozialwissenschaftlichen Handlungsmodell, das nur einen ein­ samen Aktor in den Blick nehmen könne, der sich beliebige Ziele setze und dann Mittel zu ihrer Erreichung wähle, wird Parsons handlungstheoretischer Konzeption nicht gerecht. Denn er hat sie ja gerade in Kritik dieses Modells entwickelt, das er »utilitaristisch« nennt. Daß es immer Individuen sind, die handeln, auch wenn sie sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen haben, von einer aufgeregten Masse mitreißen lassen oder ein und demselben Staat angehören, ist dagegen der übereinstimmende Ausgangspunkt von Parsons' Theorie voluntativen wie von Habermas' Theorie angeblich umfassenderen kommunikativen Handelns. Das geht für den Interpreten aus den prinzipiel­ len Erläuterungen zur Theorie sozialen Handelns hervor, die Habermas im ersten Band der »Theorie des kommunikativen Handelns« gibt.44 Habermas charakterisiert hier vier scheinbar konkurrierende sozialwissenschaftliche Handlungsmodelle und bringt sie in eine Hierarchie zunehmender Komple­ xität und Rationalisierungsfähigkeit. Während das sogenannte teleologische Modell nur einen Weltbezug des Handelns, nämlich den Gegenstandsbezug der Zweckverwirklichung, erfasse, berücksichtige das Modell der Normen­ regulation auch die soziale Integration von Zwecken und Mitteln und habe es daher immerhin schon mit zwei Weltbezügen zu tun. Im dramaturgischen Handeln als dem dritten Typus, erprobten die Akteure auch den dritten möglichen Weltbezug, das reflexive Verhalten zu sich selbst. Das von Haber­ mas propagierte Paradigma kommunikativen Handelns setze darüber hinaus ein sprachliches Medium voraus, in dem sich die drei Weltbezüge der Akteure spiegeln sowie fassen lassen würden und sich ihre Rationalisierung auch für den Handelnden selbst als Problem stelle.45 Diese drei Bezüge des In-derWelt-Seins, mit denen das Interesse an gesellschaftlicher Rationalisierung die drei problematischen Geltungsansprüche der Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit verbindet, ergeben sich aus der Perspektive des handelnden Individuums als solchen und bringen keinen wie auch immer gearteten Pri­ mat von Gesellschaftlichkeit zum Ausdruck. Das muß Habermas selbst auch logischen Gesetzmäßigkeiten, die in die Zuständigkeit naturwissenschaftlicher For­ schung fallen. Für den Physiker etwa ist in diesem Falle nur relevant, daß ein mensch­ licher Körper aus großer Höhe mit einer bestimmten Beschleunigung auf den Boden zurast, wenn keine wirksamen Kräfte der Schwerkraft entgegenwirken. Für den Sozial­ wissenschaftler dagegen zählen die physikalischen Gegebenheiten zu den Randbedin­ gungen der Situation, von denen er, wie der Selbstmörder selbst, nur ungefähre Kennt­ nis haben muß, während es die Motive für den Sprung sind, die ihn wesentlich angehen. Vgl. Parsons, Str, S. 734ff. Deutliche Bekenntnisse zu Kant finden sich u. a. in Str, S. 730, S. 753; vgl. auch Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems, a. a. O., S. 5, S. 67f. 43 Vgl. Habermas, KH Bd. I, S. 126. 44 Vgl. Habermas, KH Bd. I, S. 114-152. 45 Vgl. Habermas, KH Bd. I, S. 141ff. ^

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explizit einräumen, indem er das abstrakte Ein Aktor-eine- Welt-Modell 1 zum fundamentalen erklärt, das in allen komplexeren Verhältnissen voraus­ zusetzen sei.46

Nun wird man schwerlich rechtens behaupten können, die »utilitari­ stische«47 bzw »positivistische« Auffassung von Handlung und Gesellschaft, gegen die Parsons seine eigene Position mit Hilfe der prominenten Gewährsleute formuliert, leugne schlankweg die Be­ deutung der Handlungssubjekte für die Etablierung eines sozialen Zusammenhangs. Auf den ersten Blick scheint vielmehr das genaue Gegenteil der Fall zu sein. Denn die vergleichsweise autoritäre Hobbes'sche wie die liberale Variante des neuzeitlichen Gesellschaftsver­ trags gehen ja zunächst gerade von für sich seienden Individuen aus, die mit natürlichen Rechten ausgestattet zu sein scheinen, um als­ dann die Einrichtung einer gemeinschaftlichen Ordnung auf das klu­ ge zweckrationale Kalkül eines jeden zurückzuführen. Genau in die­ sem abstrakten Atomismus aber sieht Parsons, ein entschiedener Sittlichkeitstheoretiker unter den Klassikern der modernen Soziolo­ gie, in »The Structure of Social Action« das unverzeihliche theoreti­ sche Manko, das letztlich in einen behavioristischen bzw. biologisti­ schen Reduktionismus führe. Wenn nämlich soziale Integration ausschließlich als zweckrationale Vermittlung des Individuellen und Allgemeinen betrachtet werde, bei der unterschiedliche Zielsetzun­ gen überhaupt keine Rolle spielten48, werde nicht nur die Rationalität faktischen Handelns maßlos überschätzt49 und der essentiell norma­ tive Charakter alltäglicher Vergesellschaftung verkannt. Das sozial­ wissenschaftliche Grundproblem, wie es überhaupt zu stabilen sozia­ 46 Vgl. Habermas, KH Bd. I, S. 151. 47 Ich halte mich hier an die von Parsons gewählte Terminologie und nehme sie in ihrer systematischen Bedeutung, ohne die historische Triftigkeit der Zuordnungen, die Par­ sons mit ihrer Hilfe vornimmt, zu prüfen. Wie schon erwähnt sind es Durkheim, Pareto und insbesondere Marshall, auf deren Positionen Parsons die Prädikate »utilitaristisch« bzw. »positivistisch« anwendet. Das Handlungsmodell, das er entsprechend bezeichnet, findet sich aber wohl vor allem bei Hobbes und schon nicht mehr bei Mill, als dessen Nachfolger Parsons Marshall ansieht (vgl. Str., S. 161). 48 Vgl. Parsons, Str, u. a. S. 702, S. 773. Parsons spricht hier vom utilitaristischen Dilem­ ma im Hinblick auf die Zielsetzung von Handlungen. Er sieht also ganz richtig, daß Handlungsziele entweder völlig zufälligen Charakter bekommen oder auf eine Stufe mit den unveränderlichen Bedingungen des Handelns geraten, wenn dessen Rationalität konzeptionell auf die zweckmäßige Entscheidung über Mittel eingeschränkt wird. Vgl. Parsons, Str, u.a. S. 56, S. 59f., S. 64, S. 699f. 49 Vgl. Parsons, Str, S. 61. 188

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len Ordnungen komme, werde durch die Unterstellung einer natürli­ chen Identität der Interessen aller50, mit der sich der Hinweis auf die Kontrollmacht sozialer Zwangsgewalten leichtfüßig verbinden kann, in einer Art theoretischem Kurzschluß aus der Welt geschafft. Parsons Klage ist also durchaus nicht aus der Luft gegriffen: Strikt uti­ litaristische Konzeptionen marginalisieren die Rolle individueller Einstellungen wie Wertorientierungen. Der Handelnde, so die Spitze des Vorwurfs, auf die ich vorhin schon gegen Habermasens gegen­ läufige Unterstellung aufmerksam gemacht habe, fungiere schließ­ lich als eine Art exakter Wissenschaftler in Sachen der eigenen Le­ bensgestaltung51, der in Wahrheit keinen Freiheitsspielraum mehr genieße, sondern bloß zuverlässig allgemeingültigen Handlungs­ regeln instrumentellen Charakters folge. Parsons moniert zu Recht, was Weber noch begrüßt und zur Bestimmung des spezifischen Gegenstandes der Soziologie genutzt hatte: Unter dem Vorzeichen idealtypischer Zweckrationalität, die sich als kluge Interessenverfolgung äußert, gibt es nur einen einzigen verbindlichen Standard der Wahl: den (jeweiligen) Kenntnisstand naturwissenschaftlicher Erschließung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen.52 Menschliches Verhalten, das sich nicht in dieses Schema einfügt, muß unter diesen rigiden hermeneutischen Voraus­ setzungen schlechterdings unverständlich bleiben. Es kann nur als Abweichung erfaßt werden, die offenbar auf Unkenntnis beruht. Es ist dann durchaus naheliegend, diesen scheinbar simplen Defekt, die mangelhafte Ausbildung kognitiver Fähigkeiten nämlich, determini­ stisch auf das Zusammenspiel von Erbanlagen und unausweichlichen Milieueinflüssen zurückzuführen. Der eigensinnige Gegenstand einer verstehenden Sozialwissenschaft verwandelt sich durch diesen Zugriff unter der Hand in ein gleichgültiges Objekt quasi-biologi­ scher Erklärung.53

50 Vgl. Parsons, Str, S. 702, S. 773. 51 »Being rational consists in these terms precisely in becoming a scientist relative to one's own action«. Parsons, Str, S. 66. 52 Vgl. Parsons, Str, S. 61. 53 Vgl. Parsons, Str, u.a. S. 64, S. 67f., S. 79, S. 86. ^

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Akteur und Organismus Während das utilitaristisch-positivistische Handlungsschema als Ab­ kömmling einer generellen biologischen Theorie anzusehen sei, die problemlos auch auf Reiz-Reaktionen von Einzellern angewendet werden könne, weil es die subjektive Perspektive des Handelnden hinterrücks verschwinden lasse54, besteht Parsons darauf, zwischen dem Akteur und seinem Organismus zu unterscheiden. Im Verlauf der zahlreichen Renovierungsarbeiten an seinem Theoriegebäude hat er diese Differenz allerdings immer wieder etwas anders zu fas­ sen versucht. Die fortwährenden, wenngleich in kleinen Schritten erfolgenden konzeptionellen Umbauten haben ihren Grund in einer unvermeidlichen Komplikation, die keine umfassende Handlungs­ theorie ignorieren darf. Denn es gibt nun einmal keinen handelnden Menschen ohne den dazugehörigen Organismus55, und eine gewisse Analogie zwischen den Relationen Handelnder-Situation und Orga­ nismus-Umwelt ist nicht zu leugnen.56 Parsons gibt sich zunächst zwar als überzeugten Anti-Naturalisten, insofern er von der Über­ zeugung ausgeht, nicht der Organismus oder Teile von ihm seien als die Instanz aufzufassen, die handele, sondern einzig das Ich oder Selbst, während der dazugehörige Organismus zu den Bedingungen und Mitteln für den Akteur zu zählen sei.57 Aber er leugnet doch nie, daß wir es alltagsweltlich wie in empirischen Handlungswissenschaf­ ten immer nur mit Verkörperungen dieses Selbst zu tun haben, wenn wir unseren Mitmenschen oder vielleicht auch anderen Lebewesen Handlungen zuschreiben.58 Es ist eine Konstruktionsleistung des (Selbst- wie Fremd-)Verstehens, die dem hinreichend komplexen Verhalten eines anderen eine subjektive Perspektive unterstellt und 54 Vgl. Parsons, u. a. Str, S. 68, Anm. 1. Die Biologie kennt nach Parsons zwar teleologi­ sche Elemente, sie integriert diese aber nicht in eine subjektive Perspektive. Vgl. Str., S. 58. 55 Vgl. Parsons, Str, S. 84. 56 Vgl. Parsons, Str, S. 47 u. S. 50. 57 Vgl. Parsons, Str, S. 46f. 58 Parsons betont deshalb, der Handlungswissenschaftler müsse sich für das Handlungs­ subjekt und insbesondere seinen »state of mind« interessieren (vgl. Str, u.a. S. 46, S. 81 f., S. 745), räumt aber gleichwohl ein, dieses Innere sei für einen Beobachter gar nicht direkt zugänglich, sondern lasse sich seinerseits nur an den Merkmalen seiner Äußerung ablesen (vgl. Str, S. 733). Wir fassen ein Äußeres aber anders auf, wenn wir es nicht als bloße Oberfläche vermessen, sondern als (absichtliche oder entlarvende) Äußerung eines Inneren deuten. 190

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auf diese Weise das Handeln einer Person in einer Situation von dem Funktionieren und Reagieren eines Organismus in einer Umwelt un­ terscheidet. Was das Phänomen »Handeln« spezifiziert, ist deshalb nicht zu entschlüsseln, indem dieser subjektiven Instanz, die in normativer Orientierung diese oder jene Absichten verfolgen mag und damit einen Kontingenzspielraum ausschöpft, ein bestimmter Ort im Or­ ganismus bzw. dessen Nervensystem zugewiesen und suggeriert wird, hier könne man ihrer endlich objektiv habhaft werden. Die po­ puläre Suche nach der »Gehirnstelle des Geistes«, deren erleuchten­ dem Abschluß die gegenwärtige Neurobiologie immer noch ent­ gegenfiebert, setzt in Wahrheit voraus, was sie glaubt ersetzen und nicht bloß, mit unvermeidlichen Metamorphosen, in ihre Sprache übersetzen zu können: die verbindliche (alltagsweltliche bzw. psy­ chologische) Unterscheidung der Phänomene, die sie (physiologisch) lokalisieren will.59 Der frühe Parsons hat dieses Problem gesehen. Ich fürchte allerdings, er hat es nicht ganz richtig eingeordnet. Es ist nämlich nicht die methodische Beschränktheit der Suche nach psy­ chologischen Korrelaten, die er gegen ein solches Unternehmen ins Feld führt, sondern der Glaube an seine schiere Unmöglichkeit. Die subjektiven Perspektiven, denen die voluntaristische Handlungs­ theorie gerecht werden will, sind der in »The Structure of Social Action« vertretenen Position zufolge schlicht nicht in biologischen Kategorien bestimmbar, »precisely because they are not reducible to terms of location in space»60. Daß Parsons seine soziologische Begrifflichkeit dennoch alsbald auf Kosten der Bemühung um Sinnverstehen biologischen Modell­ vorstellungen anpaßt und eine Kontinuität in den Gesetzmäßigkei­ ten registriert, die das Verhalten lebender Systeme in organischer wie soziokultureller Hinsicht bestimmen61, die es ermögliche, nor­ mative Handlungsorientierungen im Paradigma kybernetischer Re­ gulation zu erfassen62, ist, so vermute ich, nicht zuletzt der Untaug­ lichkeit dieses Abgrenzungskriteriums geschuldet. Allzu kurzsichtig 59 Als unfreiwilliger Beleg für diese Schwierigkeit läßt sich Mario Bunges materialisti­ sche »Auflösung« des Leib-Seele-Problems lesen, die in nichts anderem besteht, als in der (technischen) Umformulierung phänomenaler Intuitionen. Vgl. Mario Bunge, Das Leib-Seele-Problem, Tübingen 1984. 60 Parsons, Str, S. 86. 61 Vgl. Parsons, u. a. Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems, a. a. O., S. 7. 62 Vgl. Parsons, u. a. Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems, a. a. O., S. 30. ^

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vertraut es nämlich auf einen ontologischen Dualismus cartesischer Provenienz.63 Die berüchtigte Entgegensetzung einer »res cogitans« als subjektiver Innenwelt und einer »res extensa« als außenwelt­ lichen Objekts empirischer Naturwissenschaft wirft aber nicht nur das kaum überzeugend lösbare Problem auf, wie denn geistige und materielle Substanz im menschlichen Erkennen und Handeln über­ haupt vermittelt sind. Das Pochen auf die Nicht-Räumlichkeit geisti­ ger bzw. subjektiver Phänomene versagt außerdem angesichts einer erfolgreichen funktionalistischen Biologie, die Gesetze homöostati­ scher Regulation untersucht, wie sie für organische Ordnungs­ zusammenhänge charakteristisch zu sein scheinen, ohne detailliert auf die örtlichen physiko-chemischen Gegebenheiten ihrer jeweili­ gen Implementation einzugehen. Ohne daß Parsons seine Gründe für die Verlagerung der kon­ zeptionellen Leitdifferenz »Akteur-Organismus« geltend macht, zeigt sie folgende nivellierende Tendenz: Zunächst schwächt der Theoretiker des Sozialen, offenkundig in Erinnerung der Kantischen Erkenntniskritik, die duale Ontologie der frühneuzeitlichen Meta­ physik der Subjektivität zu einer vergleichsweise unproblematischen epistemologischen Unterscheidung ab. Verschiedenen Konstruk­ tionsprinzipien wissenschaftlichen Wissens entsprechen demnach unterschiedliche Phänomenbereiche. In einem zweiten Schritt wird dann die in den Debatten des 19. Jahrhunderts verwurzelte klassische Dichotomie eines handlungswissenschaftlichen Ansatzes, der seinen temporalen Gegenstand als intentionale Äußerung eines Inneren be­ greift, und eines naturwissenschaftlichen Zugriffs, der räumliche Zu­ standsveränderungen durch kausale Gesetzmäßigkeiten erklärt, in eine innersystemtheoretische Unterscheidung von Aspekten einer zwar beliebig komplexen, jedoch prinzipiell homogenen Wirklichkeit überführt. Unter dieser, wiederum ontologischen, Voraussetzung ist es dann ohne weiteres möglich, die Ordnungsprinzipien, die den in­ ternen Prozessen funktioneller Selbsterhaltung einerseits und den Interaktionen zwischen solchen Einheiten andererseits eigen sind, in einer einheitlichen Terminologie zu fixieren und strukturelle Ana­ logien zu behaupten. Diesen Standpunkt hat Parsons bereits in seinem zweiten Hauptwerk »The Social System« (1951), erreicht, obwohl er auch hier immer wieder die unaufhebbare Differenz von voluntaristischer 63 Vgl. Parsons, Str, S. 85, S. 763, S. 765. 192

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Handlungstheorie und naturwissenschaftlichen, insbesondere biolo­ gischen, Modellhildungen beschwört und zugleich ihre ontologische, epistemologische und sogar methodologische Gleichwertigkeit her­ ausstellt.64 Eindringlich warnt der Soziologe im Resümee des Werks (»The Theory of Action And The Natural Sciences«65) zwar noch davor, sozialwissenschaftliche Phänomene in einem naturwissen­ schaftlichen Vokabular oder gar nach Maßgabe entsprechender Kate­ gorien zu beschreiben und mit der Konfusion theoretischer Rahmen­ begriffe auch die phänomenalen Unterschiede einzuebnen, denen der »analytische Realismus« gerecht werden will.66 Fast im selben Atem­ zug jedoch erliegt er selber dieser Versuchung. Das läßt sich meines Erachtens an der neuen Fassung zeigen, die die Akteur-Organismus­ Differenz in ebendiesem Argumentationszusammenhang erhält. »Each individual actor«, so heißt es in »The Social System« erstmalig unverblümt, »is a biological organism acting in an environment«.67 Auch menschliches Handeln sei daher, so wird diese Aussage im späteren Resümee erläutert, und niemand wird dem im Ernst widersprechen wollen, weitgehend von physikalischen, che­ mischen und biologischen Gegebenheiten im Organismus wie in des­ sen Umgebung abhängig. Es sei allerdings nur ein Ausschnitt oder ein bestimmter Aspekt des Organismus-Umwelt-Verhältnisses, der Handlungswissenschaftler interessiere: das Handeln oder Verhalten des Organismus als einer Aktionseinheit in Situationen, in denen anderen Organismen eine besondere Bedeutung zukomme, weil sie ebenso als Aktionseinheiten aufträten.68 In einer systemtheoreti­ schen Terminologie stellt sich diese Unterscheidung sodann folgen­ dermaßen dar. Während ein Physiologe den Organismus selber als ein System ansehe und nach den homöostatischen Regulativen fahnde69, die ihn zu einem in seinen Teilen und Teilprozessen wohlorga­ nisierten Ganzen machten, fungiere der nämliche Organismus in handlungswissenschaftlichen Studien als einfacher Bezugspunkt 64 Vgl. Parsons, The Social System, London 1951, im folgenden zitiert als TSS, S. 16. 65 Vgl. Parsons, TSS, S. 541-545. 66 Vgl. Parsons, TSS, S. 542f. 67 Parsons, TSS, S. 16. 68 Vgl. Parsons, TSS, S. 541 ff. »A system of action, then, is a system of relations of organisms in interdependence with each other and with non-social objects in the envi­ ronment or situation.« TSS, S. 543. 69 Hier ist der Einfluß Walter B. Cannons spürbar. Vgl. Parsons, Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems, a.a.O., S. 7. ^

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(»a unit point of reference«70) in einem komplexen Beziehungs­ geflecht, das seinerseits erst als System aufzufassen sei und den ei­ gentlichen Untersuchungsgegenstand darstelle. Genau das aber ist auch die Hinsicht, in der die Ökologie Organismen betrachtet, frei­ lich ohne auf das voluntaristische Handlungsschema zurückzugrei­ fen und subjektive Perspektiven und Entscheidungen ins Kalkül zie­ hen zu müssen. Parsons versucht hier also eine intradisziplinäre, nämlich inner­ biologische Unterscheidung als interdisziplinäres Abgrenzungskrite­ rium zwischen Natur- und Handlungswissenschaften zu nutzen. Das kann schon deswegen nicht gelingen, weil Physiologie und Ökologie gar nicht, wie augenscheinlich unterstellt, strikt zu sondern sind. Be­ trachtet man nämlich, wie es einem Organismus gelingt, seine phy­ siologische Homöostase als energetisch offenes System in einer Um­ welt zu behaupten, die natürlich immer auch Organismen wie Sexualpartner, Freßfeinde und im Falle der Karnivoren nicht zuletzt lebendige Lieblingsspeisen umfaßt, so wird umgehend sichtbar, daß die Prozesse der Interaktion mit lebenden oder toten Umweltkom­ ponenten und die Mechanismen der Aufrechterhaltung eines inne­ ren Gleichgewichts, das sich nun einmal nur im permanenten Mate­ rie- und Stoffaustausch mit der Umgebung einstellt, bruchlos ineinandergreifen. Es ist daher bestenfalls naiv, wenn der Autor von »The Social System« schließlich behauptet, die Eigenschaft, seine Grenzen in Verhältnissen zu anderen aufrechtzuerhalten, sei genau die Leistung, die Handelnde vor Organismen auszeichne und die Un­ abhängigkeit des handlungstheoretischen Bezugsrahmens von biolo­ gischen Modellvorstellungen garantiere.71

70 Parsons, TSS, S. 542. 71 Auch Parsons ist die oben beschriebene Komplikation nicht völlig entgangen. Er legt daher großen Wert auf die Feststellung, daß physiko-chemische Austauschprozesse in Organismen nicht als Handlungen anzusehen seien. (Vgl. Parsons, TSS, S. 542.) Den richtigen Hinweis, subjektive Perspektive und normatives Orientierungsschema seien die spezifischen Merkmale von Handlungen, unterläuft er jedoch umgehend mit der Behauptung, die Leistung der Grenzerhaltung sei als das gesuchte Spezifikum (vgl. ebenda) handelnder Subjekte anzusehen, obwohl das physiologische Fließgleichgewicht in einem Organismus nicht nur ein besonders augenfälliges Beispiel für eine derartige Leistung darstellt (vgl. ebenda, S. 36, Anm. 7), sondern geradezu das Paradigmavorgibt. 194

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Systeme von Handlungen und ihre emergenten Eigenschaften Es sind soziale Systeme oder deren Teile, die Parsons in »The Social System« als den eigentlichen Gegenstand der Soziologie auszeich­ net.72 Die Verwendung des Wortes »System« ist indessen kein hinreichendes Indiz für eine folgenreiche Verlagerung des wissen­ schaftlichen Interesses. Sie sollte jedenfalls nicht vorschnelle sozial­ technokratische Assoziationen und Mißtrauen gegen die Theorie wecken, der zunächst nichts anderes vorzuwerfen wäre, als daß sie sich eines vieldeutigen Terminus' vergleichsweise unbefangen be­ dient. Das gilt im übrigen schon für »The Structure of Social Action«. Parsons verwendet den Begriff »System« hier zunächst, um das VierKomponenten-Schema einer Einzelhandlung zu bezeichnen, das er dem Reduktionismus in Sozialphilosophie und Sozialwissenschaft entgegensetzt. Gemeint ist damit also in erster Linie das theoretische Schema, das die charakteristischen Aspekte bzw. Parameter zusam­ menfaßt, die berücksichtigt werden müssen, um empirische Phäno­ mene in ihrer jeweiligen Eigenart angemessen zu erfassen. Die klassische Mechanik eines Massenpunktes wird zwar aus­ drücklich als Vorbild eines solchen theoretischen Systems heraus­ gestellt. Sie fungiert aber keineswegs als die universelle Schablone, der sich jedweder wissenschaftliche Untersuchungsgegenstand fügen müßte. Die Analogie liegt für Parsons einzig darin, daß wohlüberleg­ ter und gut austarierter begrifflicher Voraussetzungen bedarf, wer einen Sachverhalt analytisch durchdringen und empirische Daten überzeugend aufbereiten will. In diesem Blickwinkel bereitet es des­ halb nicht die geringste Mühe, Handlungs- und Naturwissenschaften voneinander zu unterscheiden. Sie thematisieren unterschiedliche Phänomenbereiche im Rahmen unterschiedlicher epistemischer »Sy­ steme«.73 Während der exemplarische Zustand eines einfachen me72 Vgl. Parsons, TSS, S. 548. 73 Die Analogie von naturwissenschaftlichem (physikalischem) und soziologischem Sy­ stembegriff ist daher nicht von vorneherein »bezeichnend(er)« für ein sozialwissen­ schaftliches Programm, das von vorneherein auf funktionalistische Ordnungsbegriffe setze und der »Logik der Isomorphie« vertraue, statt den wirklichen Vermittlungsfor­ men zwischen individuellem strategischen Handeln und gesellschaftlichen Strukturen nachzugehen, wie Klaus Müller meint. Vgl. Klaus Müller, Allgemeine Systemtheorie, Geschichte, Methodologie und Sozialwissenschaftliche Heuristik eines Wissenschafts­ programms. Opladen 1996, S. 276-310, insbesondere S. 286, S. 296, S. 301, S. 305 u. S. 308. ^

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chanischen Objekts durch die Meßgrößen Masse, Ort, Geschwindig­ keit und Bewegungsrichtung empirisch vollständig bestimmbar sei, komme es, so formuliert Parsons sein ursprüngliches methodologi­ sches Credo, im Falle des willentlichen Handelns nun einmal auf die Beachtung ganz anderer Aspekte an. Das utilitaristische »System« sozialen Handelns, das nur die rationale Zuordnung von Mitteln zu Zwecken wahrnehme, versage daher bei dieser Aufgabe, während das voluntaristische Handlungsschema Parsons'scher Machart ihr ge­ wachsen sei74, weil es auch die subjektiven Perspektiven der Han­ delnden und ihre normative Orientierung ernst nehme. Das sind prima vista eindeutige programmatische Aussagen. Dennoch verschwimmen ihre Konturen im Verlauf einer detaillier­ ten Lektüre der umfangreichen Studie, und eine markante Zwei­ deutigkeit wird sichtbar. Der Begriff des Systems oszilliert in Parsons Frühwerk wie in allen folgenden Schriften durchgängig in einer Weise, die man mit einem Ausdruck Kants »Amphibolie« nennen könnte. Ohne den erkenntnistheoretischen Rahmen einer transzen­ dentalen Konstitutionslehre des Empirischen bewußt verlassen und die Einheit der Denkbestimmungen und der Bestimmungen der Wirklichkeit im Sinne der Identitätsphilosophie des absoluten Idea­ lismus erweisen zu wollen, spricht Parsons alsbald völlig unbe­ kümmert und nicht weniger selbstverständlich als von analytischen bzw. theoretischen auch von konkreten, empirisch auffindbaren Sy­ stemen.

74 Vgl. Parsons, Str, u.a. S. 43-45, S. 727. Parsons betont, im analytischen System der voluntaristischen Handlungstheorie stelle der Aspekt der normativen Orientierung der Handlung gleichsam den Leitparameter dar, dem im Falle der Mechanik die Lokalisie­ rung des Objekts entspreche. (Vgl. Str, 76f.) Ohne dieser Analogisierung allzu viel Be­ deutung beimessen zu wollen, fürchte ich allerdings, der Soziologe erlaube sich in bei­ den Fällen eine zweifelhafte Gewichtung. Schon die klassische Physik Newtons formuliert Gesetze der Massenanziehung (als Wechselwirkung zwischen Körpern), die Massen- und Ortsbestimmung als gleich wichtig erscheinen lassen. Parsons' Auffassung scheint sich dagegen einer Vor-Newtonischen Ontologie der Natur zu verdanken, weil diese Ausdehnung und Ort als Wesensattribute der Körperdinge herausstellt. Ganz im Sinne der Cartesischen Zwei-Substanzen-Lehre unterstreicht Parsons ja auch die we­ sentliche Unräumlichkeit handelnder Subjektivität. Warum deren normativer Orientie­ rung größere Bedeutung zukommen soll als ihrer bewußten individuellen Entschei­ dung, geht aus dieser Zuordnung allerdings nicht hervor. Parsons begründet diese Ansicht leider nicht näher, obwohl die systemtheoretische Weiterentwicklung seiner Konzeption des Sozialen auf dieser Voraussetzung beruht. 196

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Ich bin mir dessen bewußt, daß Parsons Vertauschung von Begriff und Ge­ genstand sich nicht auf der kategorialen Ebene abspielt, die Kant im Blick hatte, als er vor allem gegen Leibniz den Vorwurf erhob, der transzenden­ talen Amphibolie der Reflexionsbegriffe zu erliegen. Nach Kant hat Leibniz die Gegenstände objektiver Erfahrungserkenntnis mit Gegenständen des rei­ nen Denkens verwechselt und Dinge für ununterscheidbar erklärt, die sich durch die Raum/Zeit-Stelle ihres Erscheinens sehr wohl auseinanderhalten lassen. Parsons Quid-pro-Quo scheint sich dagegen allein auf der empiri­ schen Ebene dessen abzuspielen, was Kant »Erscheinung« genannt hat. Doch während er das Systemkonzept einerseits in unverkennbarer terminologi­ scher Beschwörung Kants als eine Art kategoriales Konstrukt präsentiert, das zur Ordnung bestimmter empirischer Daten unvermeidbar ist, behandelt er es andererseits wie eine empirische Generalisierung von handfesten Ge­ genständen der Erfahrung. Dem entspricht ein methodologisches Schwanken zwischen konstruktivistischen und empiristischen Grundsatzbehauptungen. Parsons durchaus sympathischer »analytischer Realismus« beruft sich zwar immer wieder auf Kants transzendentalphilosophischen Kritizismus, gibt aber keinen näheren Aufschluß über das hier schwelende Problem der Ver­ mittlung von Begriff und Wahrnehmung. Auch in der komplexen Erkennt­ nistheorie Kants bleibt allerdings fragwürdig, in welcher Weise die Materie der Empfindung, die in der Erfahrung begrifflich organisiert wird, unter­ schiedliche Formen dieser Organisation erzwingen oder doch nahelegen kann. Parsons jedenfalls versichert einerseits immer wieder, von begrifflichen Voraussetzungen auszugehen, die sich allererst empirisch bewähren müßten, und rechtfertigt andererseits begriffliche Vorentscheidungen mit dem Hin­ weis, sie würden ganz einfach von den empirischen Gegebenheiten selbst er­ zwungen.

Empirische Systeme von Handlungen erscheinen demgemäß als komplexe Zusammensetzungen von Einzelhandlungen, die sich zwar analytisch sollen isolieren lassen75, faktisch aber immer in ein dichtes Netz einer Vielzahl von Handlungen verwoben seien76, in dem sie so etwas wie Knoten bildeten. Das Schema der Einzelhandlung, das konzeptionelle »System« freiwilligen Handelns, wird daher als ana­ lytische Abstraktion gekennzeichnet. Sie isoliere das kleinste über­ haupt sinnvoll beschreibbare Element konkreter »Systeme« von Handlungen. Im weiteren unterscheidet Parsons dann noch zwei Achsen der faktischen Verbindung von Einzelhandlungen zu Hand­ 75 Vgl. Parsons, Str, S. 48 u. S. 741, außerdem u.a. S. 59, Anm. 1 auf S. 71, S. 77, S. 731, S. 734. 76 Parsons spricht von konkreten Handlungssystemen als einem »>web< of intervowen Strands«. Parsons, Str, S. 740. ^

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lungssystemen. Verschiedene Akte können als Aktionen eines ein­ zigen Individuums ebenso einen Zusammenhang bilden wie als Handlungen verschiedener Individuen. Es dürften also zu einem gu­ ten Teil dieselben Handlungen sein, die in der ersteren Hinsicht den Zusammenhang einer Person sichtbar machen, den die Psychologie zu ihrem Gegenstand erhebt, während sie sich im Blickwinkel der Soziologie zu einem sozialen System verknüpfen und nach anderen Mustern ordnen. An dieser Stelle stoßen wir meines Erachtens auf den zweiten entscheidenden Schritt zum Umbau der voluntativen Handlungs- in eine funktionalistische Systemtheorie. Denn Parsons glaubt zeigen zu können, daß in beiden Fällen, der Integration von Einzelhandlun­ gen zu Persönlichkeitssystemen wie der Integration von Einzelhand­ lungen zu sozialen Systemen (unterschiedlicher Reichweite), neuarti­ ge Eigenschaften auftreten, die prinzipiell nicht beobachtbar seien, wenn man die jeweiligen Einzelhandlungen isoliert betrachte. Ihr Auftreten sei zwar aus dem Systemkonzept als solchem nicht logisch ableitbar, in der Empirie aber einfach nicht zu übersehen.77 Solche »emergenten« Eigenschaften aufzuweisen, sei charakteristisch für organisierte Ganzheiten, ihr Auftreten geradezu ein Maß für die je­ weilige »Organizität« eines Systems, weil sie auch bei Aufwendung größten Scharfsinns nicht aus den Eigenschafen der analytischen Ele­ mentareinheiten des Systems ableitbar seien.78 Parsons bestimmt die Organisationsweise konkreter Handlungssysteme also von Anfang an in Analogie zum Organismus79, dem Prototypen eines biologi­ schen Systems, und seinen ganzheitlichen Erhaltungsleistungen.80 Um die These von der Emergenz systemischer Eigenschaft zu belegen, stützt sich Parsons in »The Structure of Social Action« im wesentlichen auf ein Beispiel, das er als besonders »einfach« und dementsprechend wohl einleuchtend herausstellt. Es handelt sich um die »ökonomische Rationalität«, die man Gesellschaften, Inter­ 77 Vgl. Parsons, Str, S. 734. 78 Vgl. Parsons, Str, S. 747. 79 Jürgen Habermas irrt also, indem er das Modell des sich selbst erhaltenden Organis­ mus erst der General Theory of Action zuordnet. Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 338. 80 Pareto ging dagegen noch vom thermodynamischen Systemmodell und dem entspre­ chenden Verständnis von entropischen Gleichgewichtsmechanismen aus. (Vgl. Pareto, a.a.O., §2074, S. 158.) Nach Parsons' Auskunft war es Henderson, der den sozialwis­ senschaftlichen Systembegriff als erster am Modell des Organismus ausgerichtet hat. Vgl. Parsons, Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems, a.a.O., S. 7. 198

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essengruppen und sogar einzelnen wie Robinson Crusoe zuschreiben könne, niemals aber einer isolierten Einzelhandlung.81 82Während letztere sehr wohl technologische Rationalität unter Beweis stellen könne, sei es vollkommen unmöglich, »from the data describing a single rational act with a single clearly defined immediate end and a specific Situation with given conditions and means, to say whether or in what degree it is economically rational. The question is meaningless, for the economic category involves by definition the re­ lation of scarce means to a plurality of different ends«.82 Gilt das nicht aber ebenso für überzeugende technische Problemlösungen? Müssen nicht auch sie unterschiedliche Handlungsalternativen ge­ geneinander abwägen, absehbare Nebenfolgen eines mutmaßlich er­ folgreichen Mitteleinsatzes in Rechnung stellen, die langfristige Ge­ brauchstauglichkeit des Produkts zumindest ins Auge fassen und in allen diesen Hinsichten den beschränkten Fokus der Abstraktion »Einzelhandlung« überschreiten? Parsons dagegen glaubt offenkun­ dig, das Attribut »technische Rationalität« im Rahmen dieser Ab­ straktion völlig hinreichend bestimmen zu können. Er scheint anzu­ nehmen, technische Rationalität könne allein dadurch bewiesen werden, daß eine Handlung ihr intendiertes Ziel überhaupt erreicht, egal für wie lange und was sie dabei sonst noch anrichten mag. Während Parsons also den Scheuklappencharakter zweckratio­ naler Techniken und die ihnen inhärenten Momente unvermeid­ licher Unbestimmtheit noch weniger gewahr wird als Max Weber, traut er augenscheinlich auch seinem eigenen analytischen Paradig­ ma, dem Vier-Komponenten-Schema der freiwilligen normativ ori­ entierten Einzelhandlung, nicht wirklich zu, was es doch zu leisten versprach: die utilitaristische Reduktion der Komplexität sozialen Handelns rückgängig zu machen. Er bezeichnet nämlich auch die Werte-Integration in Person und Gesellschaft als eine emergente 81 Vgl. Parsons, Str, insbesondere S. 739-742, S. 767. Ökonomische Rationalität kann also auch von einzelnen Personen unter Beweis gestellt werden. Das berechtigt den Interpreten von Parsons jedoch nicht zu dem Schluß, den Stichweh glaubt ziehen zu können, »Rationalität« werde in Str prinzipiell nur einzelne Akteure und ihre Handlungssysteme betreffend ausgesagt. (Vgl. Stichweh, a.a.O., S. 60.) Die Behauptung, der frühe Parsons gehe von einer Dichotomie des Sozialen und Nicht-Rationalen einerseits und des Rationalen und bloß Individuellen andererseits aus (vgl. ebenda, S. 61), halte ich schon deswegen für überspitzt und irreführend, weil ja die instrumentellen Regeln der Zweckrationalität nichts anderes darstellen als intersubjek­ tiv verbindliche Standards empirischer Kausalwissenschaft. 82 Parsons, Str, S. 739. ^

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Eigenschaft von Handlungssystemen.83 Sollte diese Behauptung zu­ treffen, dann hätte Parsons jedoch die Elementareinheit aller Hand­ lungswissenschaften nach seinen eigenen methodischen Maßstähen falsch gewählt.84 Er hätte die analytische Atomisierung einfach zu weit getriehen, wenn sich auf den konkreten Ehenen der Integration der angehlich konstitutiven Elemente tatsächlich völlig unvorhersehhare Eigenschaften zeigten. Indessen: Fungieren denn die heiden Rahmenkomponenten des »unit act«, die das interne Zweck-Mittel­ Schema einhetten und zum voluntaristischen Handlungsschema er­ weitern, die suhjektive Perspektive und die normative Orientierung also, nicht als unverkennhare Platzhalter, ja als verläßliche, in jeder Einzelhandlung selher wirksame, Momente der Integration mit an­ deren Handlungen, eigenen wie fremden? Persönlichkeit und Soziales System Der Tendenz, Eigenschaften konkreter Handlungssysteme unter dem Vorzeichen ihrer theoretisch erzeugten Emergenz konzeptionell zu verselhständigen, ist Parsons in »The Social System« und seinen spä­ teren Veröffentlichungen noch weit deutlicher erlegen als in seinem primär handlungstheoretisch ausgerichteten ersten Hauptwerk. Und wiederum stellt sich die Frage, oh es üherzeugende sachliche Gründe dafür giht oder theoretische Vorentscheidungen hzw. die mangelnde Konsequenz ihrer Interpretation die entsprechenden Artefakte er­ zeugen. Ich möchte vor allem die Evidenzen üherprüfen, die Parsons dazu hewegen, die personale und die soziale Integration von Hand­ lungen zu Zusammenhängen oder Systemen strikt zu dissoziieren, um auf diesem Wege schließlich der Behauptung Vorschuh zu lei­ sten, Stahilität wie Fragmentierung sozialer Ordnungen hingen üherhaupt nicht von den Intentionen der interagierenden menschlichen Suhjekte ah. 83 Vgl. Parsons, Str, S. 743, S. 768. 84 Vgl. Parsons, Str, S. 731, wo Parsons den »unit act« mit seinen vier Komponenten als die kleinste sinnvolle Einheit der Handlungswissenschaften hestimmt. Str, S. 737 hetont der Autor, wie wichtig es ist, die kleinste analytische Einheit im Rahmen eines theo­ retischen Konzepts richtig zu wählen. Es ist ein wesentlicher Gesichtspunkt seiner Kritik am positivistischen/utilitaristischen Handlungsschema, daß ihm die Eigenschaft der werthaften Integration von Einzelhandlungen völlig entgehe, weil in ihm die theoreti­ sche Elementareinheit in Gestalt der heschränkten Relation »ein vorgegehenes Ziel-ein geeignetes Mittel« unzulänglich hestimmt sei. 200

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Niemand wird bestreiten, daß die Identität einer Person und die Identität einer Gesellschaft zu unterscheiden sind. Das augenfälligste Indiz für diese Differenz ist vielleicht, daß Gesellschaften sich in weltgeschichtlichen Zeiträumen behaupten, während ihre sterb­ lichen Mitglieder einem stetigen Prozeß der Auswechslung unterlie­ gen. Aber auch das Umgekehrte ist an der Tagesordnung: Individuen überleben Aufstieg und Niedergang sozialer Ordnungssysteme un­ terschiedlicher Größenordnung, von der Kegelrunde über Wirt­ schaftsbetriebe bis zu ganzen Staatswesen. Diese Tatsache mag Parsons zu dem Bemühen inspiriert haben, sämtliche Einzelhandlungen dem einen oder dem anderen Typus von Handlungssystem und den ihnen entsprechenden Handlungswissenschaften, nämlich der Psy­ chologie bzw. der Soziologie, zuzuordnen.85 Die programmatische Aufteilung von Einzelhandlungen auf Sy­ steme von Persönlichkeiten bzw. soziale Systeme setzt zweierlei vor­ aus. Nicht nur soziale Systeme, sondern auch Personen oder was immer wir für Subjekte von Handlungen halten mögen, sind Hand­ lungssysteme, die aus nichts anderem bestehen als aus Einzelhand­ lungen, in deren Verknüpfung ein charakteristisches Organisations­ prinzip wirksam ist. Individuen werden von Parsons also nicht als Einheiten reiner Innerlichkeit im Sinne des Kantischen guten Wil­ lens bestimmt oder als der idiosynkratische Erlebnisstrom eines in sich verschlossenen individuellen Zeitbewußtseins genommen, das von außen und damit für andere prinzipiell unzugänglich ist, son­ dern als spezifische Gestalten der sinnhaften Integration von Einzel­ handlungen in einer intersubjektiv geteilten Wirklichkeit. Diese Sicht ist im übrigen weder so neu, wie Parsons wohl glaubt, noch so reduktionistisch, wie Verächter systemtheoretischer Modellbildung immer schon geargwöhnt haben mögen. Schon Hegel, dessen Geist­ philosophie den Nachweis zu erbringen versucht, daß die soziale Wirklichkeit nichts anderes ist als die von den handelnden Subjekten gebildete lebendige sittliche Substanz, wartete mit der Einsicht auf, ein Mensch sei »nichts anderes als die Reihe seiner Taten«.86 Denn 85 Vgl. Parsons, TSS, u.a. S. 17f., S. 26. 86 So heißt es im Zusatz zu §140 der Enzyklopädie, der das Reflexionsverhältnis von Innerem und Äußerem zum Thema hat. (Vgl. Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, Bd. I, Hegel Werke, a.a.O., Bd. 8, S. 275 ff., dies S. 278.) Es sei der gewöhnliche Irrtum des reflektierenden Verstandes, diese Kategorien als leere Formen in ihrer Trennung festhalten zu wollen. Indessen müsse sich Inneres in adäquater Weise äußern, um wirklich zu sein, und Äußeres als Äußerung eines entsprechenden Inneren ^

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nur handelnd treten wir für einander überhaupt in Erscheinung, stel­ len uns dem Urteil der anderen und gehen in das ein, was allein den Namen Wirklichkeit verdient. Für erheblich zweifelhafter halte ich dagegen die zweite Vor­ aussetzung, von der Parsons Separation von Person und Gesellschaft ebenso ausgeht wie Luhmanns Radikalisierung dieser Disjunktion: Soziale Systeme sollen nicht, wie man als selbstverständlich zu un­ terstellen geneigt ist, aus Personen bestehen. Problematisch, ja inkonstistent, wird diese Behauptung nämlich gerade unter der ersten Voraussetzung, soziale Systeme wie Personen bestünden aus demsel­ ben Material, nämlich Einzelhandlungen.87 Nun mag es durchaus Fälle von Handlungen geben, die zwar als Äußerung von einer Per­ son ausgehen, aber entweder von vornherein gar keinen mitmensch­ lichen Adressaten haben oder unglücklicherweise keinerlei soziale Resonanz finden, also in kein soziales System von Handlungen ein­ gehen. Aktionen mögen auch soziale Anschlüsse finden, die weder beabsichtigt waren, noch überhaupt erwartet werden konnten. Tra­ gen sie nicht trotzdem immer den Stempel einer Person? Das ist übrigens in »The Structure of Social Action« auch noch Parsons ei­ gene Auffassung. Denn er insistiert hier noch darauf, Einzelhandlun­ gen könnten zwar in analytischer Abstraktion aus dem Netz sozialer Beziehungen herausgerissen werden, keinesfalls jedoch seien sie der perspektivischen Zuordnung zu den jeweils handelnden Subjekten zu entkleiden.88 Letzteres ist jedoch gefordert, wenn die systemtheoreti­ sche Separation von Person und Gesellschaft greifen soll, die Parsons proklamiert, ohne sie in den eigenen Werken ausnahmslos durchhal­ ten zu können.89 Unter der Voraussetzung, daß Personen wie soziale Systeme begreifbar werden. Was ein Mensch innerlich und äußerlich in Wahrheit sei, zeige sich dementsprechend weder in seinen erklärten guten Absichten und wohlfeilen Gesinnun­ gen, noch in »seiner leiblichen Äußerlichkeit« (vgl. ebenda, S. 275), sondern in der Dy­ namik seines (un)sittlichen Handelns, in der er sein Inneres nun einmal nicht dauerhaft verbergen könne. Vgl. ebenda, S. 278. 87 Vgl. Parsons, Str, S. 734ff., insbesondere auch S. 746. Vielleicht hat Luhmann diese Komplikation gesehen. Er bestehtjedenfalls darauf, sozia­ len Systemen und psychischen Systemen unterschiedliche Elementareinheiten zuzu­ ordnen, nämlich Kommunikationsereignisse bzw. Bewußtseinserlebnisse. 88 Vgl. Parsons, Str, S. 745. In diesem Sinne ordnet Parsons hier das soziale Beziehungs­ schema dem voluntaristischen Handlungsschema unter. 89 Er schreibt gelegentlich nämlich sehr wohl - versehentlich? - soziale Systeme bestünden aus Akteuren. Vgl. u.a. TSS, S. 4 ff. 202

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spezifisch organisierte Zusammenhänge von Handlungen darstellen, erschiene es mir einigermaßen plausibel, letztere als genau die Teil­ menge individueller Aktionen anzusehen, die zugleich gesellschaft­ liche Interaktionen darstellen. In diesem Sinne unterscheidet Parsons in »The Social System« in der Tat die soziale Person, als individuelle Konfiguration von Statuszuweisungen und Rollenübernahmen, von der Person überhaupt.90 Er besteht dennoch darauf, daß Persönlich­ keitssysteme und soziale Systeme prinzipiell nicht aufeinander redu­ ziert werden könnten91, also weder in der einen, noch in der anderen Richtung. Offenbar fürchtet der Soziologe, anderenfalls der Psycho­ logie den Primat unter den Handlungswissenschaften einräumen zu müssen.92 Das Interesse, die Unabhängigkeit und Dignität der eige­ nen Disziplin zu verteidigen, entbehrt indessen nicht eines Fun­ daments in der Sache. Ich möchte nur bezweifeln, daß dieses Fun­ dament die strikte konzeptionelle Dissoziation von Individuum und Gesellschaft wirklich trägt, die in letzter Konsequenz zur Entsubjektivierung und Verselbständigung des Begriffs sozialer Ordnung führt. Parsons will den atomistischen Fehlgriff um jeden Preis vermei­ den, den er der utilitaristisch-positivistischen Auffassung gesell­ schaftlicher Integration mit Recht vorgeworfen hat. Für ihn gibt es keine Individuen in einem vorgesellschaftlichen Naturzustand. Per­ sonen sind ihm zufolge weder die von der Natur komplett vorgebakkenen asozialen Bausteine sozialer Ordnung, noch das behavioristische Resultat überlegter Konditionierung von Einzelhandlungen, sondern wie soziale Systeme Resultate von Interaktionen93, in denen Sozialisierungs- und Individualisierungsprozesse feingliedrig inein­ andergreifen. Dennoch: Wer interagiert da überhaupt, wenn nicht »unfertige« Personen, Subjekte, die Erwartungen anderer überneh­ men, erfüllen, enttäuschen und auf diese Weise zeitlebens in unüber­ 90 Vgl. Parsons, TSS, S. 17f. Rolle und Status sind nach Parsons die elementaren Formen der sozialen Integration von Einzelhandlungen. Sie bilden auf der nächst höheren Ebene gesellschaftliche Institutionen. Vgl. ebenda, insbesondere S. 25 f. und S. 39, auch ders., Social Interaction, S. 170. 91 Vgl. Parsons, TSS, S. 26. 92 Vgl. Parsons, TSS, S. 18. Parsons begründet diese Zurückweisung mit der inkohären­ ten Überzeugung, nicht Personen seien das Material (»stuff«), aus dem soziale Systeme bestünden, sondern Handlungen, die einerseits zu sozialen Systemen, andererseits zu Persönlichkeitssystemen organisiert würden. Vgl. auch ebenda, S. 45. 93 Vgl. Parsons, TSS, S. 539 f. ^

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sichtliche Bildungsgeschichten verstrickt sind und hleihen? Parsons hat recht: Individuum und Gesellschaft durchdringen einander, ohne sich wie Mikrokosmos und Makrokosmos zu gleichen.94 Vieles spricht zudem dafür, daß Personen nicht völlig in den gesellschaftli­ chen Rollen aufgehen95, deren lebendiger Ausgestaltung sie unver­ meidlicherweise eine individuelle Nuance geben. Aber: Folgt daraus, wie der Systemtheoretiker seinen Lesern gelegentlich nahezulegen versucht, daß soziale Ordnungszusammenhänge emergente Eigen­ schaften aufweisen, die man in den vielfältigen Interaktionen zwi­ schen Personen vergeblich sucht, und anonymen Gesetzen gehor­ chen, kurz: etwas ganz anderes darstellen als das - keineswegs individuell kontrollierbare und überdies beliebig unübersichtliche Resultat der Aktivitäten handelnder Individuen?96 Die doppelte Kontingenz der Interaktion Es ist schwierig, eine hinreichend geschmeidige Begrifflichkeit zu entwickeln, um die verzwickte Wirklichkeit individualisierender Ver­ gesellschaftung schlüssig zu beschreiben.97 Der Terminus der »dop­ pelten Kontingenz« bietet aber immerhin einen vielversprechenden und unzweideutig handlungstheoretischen Ausgangspunkt für ein solches Unternehmen. Parsons expliziert ihn, wie wohl aus metho­ dischen Gründen zunächst kaum anders möglich, an einem quasiatomistischen Modell: dem simpelsten Fall sozialer Interaktion, die sich zwischen nur zwei Handelnden abspielt.98 Die einfache Kontin­ 94 Vgl. Parsons, TSS, S. 18. 95 Deswegen sind Personen bereits nach Parsons zumindest teilweise, nicht in der ent­ schlossenen Radikalisierung wie später bei Luhmann, als »Umwelt« des sozialen Sy­ stems aufzufassen. Vgl. Parsons, Social Interaction, a.a.O., S. 171. 96 Vgl. Parsons, TSS, S. 539f., auch S. 17. 97 Meines Erachtens ist Hegel einer Lösung dieser Aufgabe am nächsten gekommen. Vgl. seine Bestimmung der »Bildung« als der doppelten Entfremdung von Substanz und Subjekt in der Phänomenologie des Geistes, Werke, a.a.O., Bd. III, S. 359ff. 98 Das dyadische Modell sozialer Interaktion ist eine methodische Abstraktion, die, wie Parsons ausführt, »is convenientfor clarifyingcertainfundamentals ofinteraction phenomena generally«. Verallgemeinernde Schlüsse aus diesem begrenzten Fall seien aber nur »with care« zu ziehen. (Parsons, Social Interaction, a.a.O., S. 167.) Parsons warnt vor allem davor, die Interaktion zwischen zweien als die typische Keimzelle gemein­ schaftlicher Ordnungen anzusehen. (Vgl. ebenda, S. 167.) Wer zu dieser Annahme nei­ ge, sei jedenfalls in Gefahr, der utilitaristischen Suggestion zu erliegen und die Rolle zu unterschätzen, die Formen affektiver Solidarität und normative Orientierungen bei der Sozialintegration spielen würden, und irgendeine Version kluger individueller Inter­ 204

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genz allen Handelns läßt sich dagegen ja bereits erweisen, wenn man die Abstraktion eines einsam seine Zwecke verfolgenden Einzelnen untersucht. Handeln als Sich-tätig-zwischen-Alternativen-Entscheiden kann ein jeder nun einmal überhaupt nur, insofern die Welt, in der er aktiv wird, nicht vollständig bestimmt ist, sondern Möglich­ keiten birgt, die ergriffen oder verworfen, aber auch verpaßt und ver­ spielt werden können. Wer sich auf dem unübersichtlichen Feld des­ sen, was (so) sein kann oder auch nicht, bewegt, muß daher immer darauf gefaßt sein, daß ihm nicht völlig gelingt, was er beabsichtigt hat, und daß sein Tun Wirkungen und Reaktionen auslöst, die er dem Versuch gewissenhafter Antizipation zum Trotz nicht hat absehen können. Für das soziale Handeln gilt das in einem gesteigerten Maße. »Not only, as for isolated behaving units, animal or human, is a goal outcome contingent on successful cognition and manipulation of en­ vironmental objects by the actors, but since the most important ob­ jects in interaction act too, it is also contingent on their action or interaction of events.«99 Im ökonomischen Interesse an sicherer Selbsterhaltung und gewinnbringendem Gütertausch wie in Sehn­ sucht nach Liebe, dem Werben um Achtung oder dem Streben nach Macht haben wir es mit einem Gegenüber zu tun, das sich nicht in gleicher Weise kontrollieren läßt, wie ein bloß physisch vorhandener Gegenstand, weil es selber über einen Handlungsspielraum ver­ fügt.99 100 Dieser andere, so folgert Parsons, trete also nicht nur als Be­ essenverfolgung an ihre Stelle zu setzen. (Vgl. ebenda, S. 169.) Die Differenz zwischen der voluntaristischen und der als positivistisch bzw. utilitaristisch geschmähten Hand­ lungskonzeption sollte freilich Parsons' eigenen Ansprüchen gemäß schon im elemen­ taren Handlungsschema und dessen interaktiver Verdoppelung erkennbar sein, wenn­ gleich ihre Konturen in aller Schärfe erst hervortreten mögen, sobald die konkreten Figuren der intersubjektiven Bewältigung sozialer Kontingenz gezielt in den Blick ge­ nommen werden: die kulturspezifischen Formen rationaler bzw. nicht-rationaler Sozial­ integration. 99 Parsons, Social Interaction, a.a.O., S. 167. Parsons verwendet den Term »contingent on« hier zunächst im Sinne von »abhängig von«. Ohne die modal-ontologischen Aspek­ te des Handelns explizit zu seinem Thema zu machen, ist er sich ihrer aber offenbar durchaus bewußt, wie beispielsweise TSS, S. 37 zeigt. 100 Interaktion ist also etwas anderes als Wechselwirkung. Es gibt sie nach Parsons nur zwischen zwei Subjekten, die Motive und damit einen Freiheitsspielraum für Aktionen haben. Vgl. TSS, S. 544. Nur weil uns die anderen in diesem entscheidenden Punkt ähneln, können wir bei ihnen etwas anderes suchen als in beliebigen Objekten, nämlich ein Gegenüber, das unsere Wünsche und Regungen spiegelt und erwidert, wie Aristote­ les es der Freundschaft zusprach. Parsons thematisiert diese Erwartung zwischen­ ^

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standteil der Situation auf, der als Mittel des eigenen Handelns ge­ nutzt werden könne bzw als seine Bedingung hinzunehmen sei, son­ dern ebenso als Subjekt, als ein aktiver Mit- oder Gegenspieler, der sich in unterschiedlicher Weise auf die objektive Situation und ande­ re Subjekte beziehen und seine Wahl an diversen Selektionskriterien orientieren könne. Es ist daher jedenfalls zweckmäßig, sich in die jeweilige Perspektive des anderen zu versetzen und seine wahr­ scheinlichen (Re)Aktionen zu antizipieren, soweit das überhaupt möglich ist. Deswegen ist der Handelnde nicht nur faktisch beides, »knower and object of cognition, utilizer of instrumental means and himself a means, emotionally attached and an object of atachement, evaluator and object of evaluation, Interpreter of smbols and himself a symbol«.101 Er erscheint auch nicht nur dem anderen, sondern ebenso sich selbst in dieser Doppelgestalt.101 102 Nach Parsons ist die doppelte bzw. multiple Kontingenz103 sozia­ ler Interaktion und folglich auch das, was er immer wieder als das »Hobbes'sche Problem der Ordnung«104 bezeichnet, in der Wirklich­ menschlicher Reziprozität auch unter dem Freud'schen Stichwort der »libidinösen Be­ setzung«. Vgl. Parsons, Das Über-Ich und die Theorie sozialer Systeme, in: ders., Sozial­ struktur und Persönlichkeit, Frankfurt/Main 1968, S. 25-45, vor allem S. 31. 101 Parsons, Social Interaction, a.a.O., S. 167. Daß alle Auswirkungen des Handelns anderer für mich zu den Bestandteilen der Handlungssituation gehören, aufdie ich mich einstellen muß, hatte Parsons schon in »The Structure of Social Action« notiert. Vgl. Str, S. 50. 102 Jedenfalls scheint mir, daß es diese interaktive Verschränkung der Blicke von Ego und Alter ist, die die Kernzelle des Sozialen darstellt und zugleich alle Selbstverhältnisse (als Fürsichsein, das zugleich für andere ist) charakterisiert. Parsons sagt das nicht ganz so deutlich, wie ich mir das wünsche, sondern hält nur das Resultat dieser Überlagerung der Perspektiven fest: »The crucial reference points for analyzing interaction are two: (1) that each actor is both acting agent and object of orientation both to himself and to the others; and (2) that, as acting agent, he orients to himself and to others and, as object, has meaning to himself and to others, in all of the primary modes or aspects.« Parsons, Social Interaction, a. a. O., S. 167. 103 In dem Maße, wie die Abstraktion einer isolierten Interaktion zwischen zwei Sub­ jekten rückgängig gemacht und dem konkreten Reichtum sozialer Beziehungen Rech­ nung getragen wird, steigert sich daher der Grad der Kontingenz, nämlich in direkter Proportion zur Anzahl der interagierenden Einheiten. Vgl. Parsons, Social Interaction, a. a. O., S. 168. 104 Nach Parsons ist es genau dieses Problem sozialer Ordnung, an dem sich die Unzu­ länglichkeit des utilitaristischen/positivistischen Verständnisses sozialen Handelns und somit auch des Hobbes'schen Problemlösungsversuchs (vgl. Str, S. 90, TSS, S. 36 ff. u. insbesondere S. 43) erweisen läßt. Durch sein gesamtes Werk zieht sich wie der eigent­ liche rote Faden die in immer neuen Varianten formulierte Einsicht, es könne sich kein 206

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keit unseres alltäglichen Handelns meist bereits weitgehend bewäl­ tigt. Denn wir leben großenteils in vergleichsweise stabilen gesell­ schaftlichen Ordnungszusammenhängen. Es sind kulturelle Selbst­ verständlichkeiten, die das soziale Handeln je schon zuverlässig tragen105 und von ihm zugleich aktualisiert und der Dynamik persön­ licher Bedürfnisse wie systemischer Konfigurationen angepaßt wer­ den.106 Die Sprache als solche stellt Parsons zufolge den Prototypus solcher kulturellen Orientierungsmuster dar.107 Denn jeder Sprache eignet ein bestimmter Code, ein System von generalisierten Normen oder Regeln, die festlegen, was als korrektes Schreiben oder Sprechen durchgehen kann. Natürlich, räumt Parsons ein, gebe es jede Menge Abweichungen von derartigen Regeln. Dennoch formierten sie ver­ bindliche soziale Erwartungen, deren Erfüllung bzw. Enttäuschung Sanktionen nach sich ziehe, nämlich zu gelingender Verständigung bzw. zu Mißverständnissen führe.108 In hochdifferenzierten sozialen Systemen haben sich laut Parsons nach diesem Muster der Umgangs­ sprache überdies einige Spezialsprachen herausgebildet, Inter­ aktionsmedien, die der Normierung intersubjektiver Verständi­ gungsprozesse dienen und unterschiedliche Funktionen erfüllen können.109 »Geld«, das symbolische110 Vermittlungsmedium und stabiles soziales System herausbilden, wenn die interagierenden Individuen allein auf die zweckrationale Verfolgung ihrer jeweiligen Interessen eingeschworen seien. Vgl. u.a. Str, S. 402, Social Interaction, a.a.O., S. 168. 105 Parsons spricht von »the >guidance ofactiom«. Vgl. Social Interaction, a.a.O., S. 169. 106 Normen können nur durch konkrete Handlungen, die sich an ihnen orientieren, in Geltung gesetzt werden. Es bedarf dazu einer Anstrengung der Individuen, eines »efforts«, wie Parsons diese Seite der persönlichen Integration von Normen und Bedürf­ nisdispositionen nennt. (Vgl. u. a. Str, S. 719, ähnlich TSS, S. 42.) Kulturelle Muster der Verhaltensorientierung, »Kultursysteme«, sind daher sowohl Bedingung wie Produkt wirklichen Handelns. Vgl. u.a. Str, S. 76 sowie TSS, S. 15. 107 Vgl. Parsons, u.a. TSS, S. 5, S. 10f.; auch Das Über-Ich und die Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 29f., sowie HC, S. 395. 108 Die Tatsache erfolgreicher oder mißlingender Verständigung als solche hat also be­ reits den Charakter einer Sanktion. Vgl. Parsons, TSS, S. 42. 109 Vgl. Parsons, u.a. Social Interaction, a.a.O., S. 174. Überzeugend ordnet Stichweh den Parsons'schen Medien als »Institutionen der Wertrealisierung« die generelle Dop­ pelfunktion zu, zwei Klüfte zu überbrücken: die zwischen allgemeinen Regeln und spe­ zifischen Handlungssituationen sowie die zwischen normativen Verpflichtungen und faktischen Erfordernissen. Vgl. Stichweh, a.a.O., S. 74f. 110 Symbolischen Charakter hat das Medium »Geld«, weil es immer für etwas anderes steht, als Tauschwert ohne Gebrauchswert diverse Güter, menschliche Arbeitskraft ein­ geschlossen, repräsentiert und den Umgang mit ihnen erleichtert. Denn ein solches generalisiertes Medium »expresses and communicates messages havingmeanings with ^

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Wertmaß ökonomischen Austauschs, der universelle Tauschwert ohne Gebrauchswert, sei das von Sozialwissenschaftlern am besten verstandene Mitglied dieser Familie, zu der auch »Macht«, »Ein­ fluß«111 und sogar »Intelligenz« gehörten. Es mag sein, daß Parsons die bleibende Kontingenz konkreter intersubjektiver Verständigungsprozesse unterschätzt. Dennoch überzeugt sein Hinweis, die unterschwellige Wirksamkeit kultureller Normen schränke den Kontingenzspielraum individuellen Handelns immer schon ein. Außerdem ist aus seiner Analyse der Interaktion zu lernen, daß wirksame soziale Kontrolle ohne die explizite Fixie­ rung von Normen in Dekalogen und die gewissermaßen behördliche Überwachung ihrer Einhaltung auskommt. Denn ihre geschmeidig­ ste Form ist die gelungene Persönlichkeitsbildung, die zur einver­ ständigen Teilhabe an einem gemeinschaftlichen Ethos führt. Hier nämlich ist normenkonformes Verhalten zu einer freiwilligen Lei­ stung der Handelnden112 geworden, die primär intern sanktioniert ist, also beispielsweise in Gestalt von Gewissensbissen oder glück­ licher Selbstachtung. Paradoxien der Rationalisierung: Habermas als Kritiker von Parsons Hier steckt auch der Kern des Dissenses zwischen Parsons und Ha­ bermas und nicht auf der elementaren Ebene der Handlungskonzep­ tion als solcher, wo die »Theorie des kommunikativen Handelns« ihn gefunden zu haben glaubt. Es sind nämlich erst die unterschiedlichen Annahmen über die Rationalisierungsfähigkeit der verschiedenen Aspekte sozialen Tuns, die zu einer Frontstellung von Systemtheorie und Kritischer Gesellschaftstheorie führen. Zwar ist in der Tat be­ merkenswert, in welchem Maße die Habermas'sche Variante der letzteren bereit und fähig ist, begriffliche Anleihen beim Gegner auf­ reference to a code - that is, a set of rules for the use, transformation, and combination of symbols«. Parsons, Generalized Media of Interchange, Unterkapitel von Social Sy­ stems, in: der., Social Systems And The Evolution of Action Theory, a. a. O., S. 188-191, dies S. 189. Vgl. auch ders., The Media of Interchange Revisited, a.a.O., S. 198-202. 111 Vgl. Parsons, u. a. The Media of Interchange Revisited, S. 199. 112 Kulturelle Orientierungsmuster, die in der Verschränkung von subjektiver Perspek­ tive und normativer Ausrichtung jeder Einzelhandlung wirksam werden, sind nach Par­ sons also nicht einfach zu den objektiven Gegebenheiten der Handlungssituation zu zählen, wie Habermas unterstellt. Sie gehören allenfalls in dem Maße hierzu, wie sie nicht durch Internalisierung zu einem konstitutiven Moment der Person geworden sind. Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 328 und dagegen Parsons, u. a. TSS S. 4 und S. 552. 208

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zunehmen und der eigenen Konzeption einzuverleihen. Dennoch wird sie meines Erachtens dem erklärten Anspruch nicht gerecht, systemtheoretische Erwägungen schlüssig mit handlungstheoreti­ schen Prohlemstellungen zu verhinden und heiden ihren wohlhestimmten Platz in einer anspruchsvollen Theorie moderner Gesell­ schaften zuzuweisen. Der wiederholten Versicherung zum Trotz, er unterziehe Parsons Positionen nur einer »immanente(n) Kritik«113, gelingt es Hahermas nicht, die mangelnde innere Konsequenz des Systemfunktionalismus unter Beweis zu stellen, den er im Gegenteil in der entscheidenden Streitfrage nur an den von außen herangetra­ genen prohlematischen theoretischen Optionen des Kritikers mißt. Es ist ein prinzipieller Vorhehalt, unter dem Hahermasens Aus­ einandersetzung mit der Soziologie Parsons auf ihrem Weg von der Handlungs- zur Systemtheorie steht. Von vorneherein steht für den Kritischen Theoretiker fest, daß moderne Gesellschaften Pathologien114 aufweisen, die offenkundig die konzeptionelle Nachfolge des­ sen antreten, was der historische Materialismus als »Krise« heschriehen hat.115 Der »Theorie des kommunikativen Handelns« zufolge wurzeln diese Pathologien nicht mehr in der kapitalistischen Organi­ sationsform ökonomischen Handelns, sondern im paradoxen Prozeß der neuzeitlichen Rationalisierung als solchem. Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno, die diesen Prozeß ähnlich wie Max Weher als einseitigen technischen Fortschritt charakterisieren, der verhindlicher Zweckstiftung enthehrt, weil die formale suhjektive Vernunft der Aufklärung an dieser von ihr selhst gestellten Aufgahe schei­ tert116, setzt Hahermas auf die positive Möglichkeit, das Projekt der Moderne zu vollenden und Vernunft auch im umfassenden Sinne als universalistische sozialintegrative Kraft zu verwirklichen.117 Aus die­ 113 Hahermas, KH Bd. II, S. 419. 114 Hahermas kann Parsons nur vorwerfen, er hahe kein Interesse an Pathologien. Im­ manenter Kritik dagegen müßte der Nachweis gelingen, daß die entsprechenden Phäno­ mene auch im Blickwinkel der Ausgangstheorie auftreten, aher eine schlüssigere Kategorisierung erzwingen. Vgl. Hahermas, KH Bd. II, u.a. S. 303, S. 423ff. 115 Vgl. in dieser Hinsicht frühere Werke von Jürgen Hahermas, inshesondere Legitimationsprohleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/Main 1973 und Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/Main 1976. 116 Vgl. dazu meine Studie Vernunft und Selhsthehauptung, a.a.O. 117 Vgl. meine Kritik an diesem Unternehmen in dem Aufsatz Widersprüche der Mo­ derne - Einwände gegen Hahermas' Konzept kommunikativer Rationalität, in: Gerhard Gamm (Hrsg.), Angesichts ohjektiver Verhlendung - Üher die Paradoxien Kritischer Theorie, Tühingen 1985, S. 252-281. ^

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sem Grunde übersetzt er die aporetische Grundfigur der »Dialektik der Aufklärung« in ein vergleichsweise übersichtliches Konzept zweistufiger gesellschaftlicher Rationalisierung und schwächt den emphatischen Pessimismus ihrer Ko-Autoren zur Diagnose einer permanenten inneren Gefährdung moderner Gesellschaften ab. Im beschränkten Fokus der Parsons'schen Systemtheorie, so lautet daher einer der Hauptvorwürfe, werde diese Gefährdung eben­ sowenig sichtbar wie die bemerkenswerten kommunikativen Ratio­ nalisierungsleistungen, die die Mitglieder einer kulturellen Lebens­ welt in der aufgeklärten Moderne alltäglich erbrächten. Während Parsons der Ansicht ist, normative Orientierungen brächten Wert­ präferenzen zur Geltung, die spezifische, sozusagen gewachsene, Identitäten sichern, ohne den Mitgliedern einer Lebewelt je vollkom­ men durchsichtig zu werden, glaubt Habermas, hier eröffne sich eine Sphäre universeller Geltungsansprüche, die auf dem Wege ihrer konsensuellen Begründung, von Fall zu Fall und immer unter dem Vor­ behalt der Fallibilität, auch einlösbar sein sollen. An die Adresse des Systemtheoretikers richtet die »Theorie des kommunikativen Han­ delns« deswegen den Vorwurf, die Prozeduren kommunikativer So­ zialintegration einerseits und entsprachlichter, durch Medien wie Geld und Macht vermittelter, Systemintegration andererseits zu ver­ mischen und die rational verpflichtende Kraft überzeugender Gründe mit dem empirisch wirksamen Zwang von Sanktionen gleichzuset­ zen.118 Parsons dagegen schwebt, wie ich schon angedeutet habe, eine dritte Alternative vor, die einiges für sich hat. Soziale Integration hat ihm zufolge in der Regel nämlich weder Zwangscharakter, noch steht sie als absichtsvolle Leistung in der vollbewußten Verfügbarkeit der Individuen, die sich vergesellschaften bzw. ihre faktisch immer schon in Gang befindliche und vollzogene Vergesellschaftung nachträglich billigen. Deswegen spricht Parsons von nicht-rationalen, nämlich weder zweckrationalen, noch irrationalen, Orientierungen, wenn er die normative Einbettung und Ausrichtung von Handlungen be­ schreibt. Habermas dagegen beruft sich auf ein zweistufiges Konzept ge­ sellschaftlicher Integration und verspricht, die modernen Formen sy­ stemischer bzw. medialer Integration sozialen Handelns schlüssig aus dem umfassenderen Prozeß neuzeitlicher Rationalisierung herzulei­

118 Vgl. Habermas, KH Bd. II, u. a. S. 317, S. 419. 210

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ten.119 Parsons kulturelle Regulationsmedien werden dabei in entsprachlichte Mechanismen der Handlungskoordination transfor­ miert und, wie ich wenigstens andeuten möchte, mit einer paradoxen Rolle bedacht. Die »Theorie des kommunikativen Handelns« charak­ terisiert die schon von Aristoteles gefürchtete zweckrationale Ver­ selbständigung ökonomischen Handelns, die zur Etablierung des Me­ diums »Geld« führe, als Ausdifferenzierung eines funktionellen Subsystems der Gesellschaft, das von nun an eigenen Gesetze folge, und begrüßt sie als »Entlastung« der lebensweltlichen Kommunika­ tion120, die allerdings zugleich das Risiko ihrer Technisierung herauf­ beschwöre. Die Struktur menschlichen Handelns erlaube solche »medien­ gesteuerte Subsystembildung«121 nämlich nur für bestimmte gesell­ schaftliche Funktionen122. Systemische Mechanismen seien eigent­ lich nur geeignet, die reibungslose materielle Reproduktion einer Gesellschaft zu gewährleisten, der Habermas mit Parsons die Funk­ tion der »Anpassung« des Sozialen Systems an seine natürliche Um­ welt zuweist.123 Dem Medium »Geld« wird dabei zugetraut, die 119 Vgl. Habermas, KH Bd. II, u.a. S. 420 u. S. 347. 120 Und zwar als Entlastung »von Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungs­ ansprüchen«. (Habermas, KH Bd. II, S. 394.) Aus diesem Grunde, weil sie also nicht in der Sphäre reiner Geltung angesiedelt sind, wo es um Begründung und Kritik univer­ salistischer Ansprüche gehe, faßt Habermas die Parsons'schen Regulationsmedien nicht als Spezifikationen von Sprache, sondern als Ersatz für spezielle Funktionen der Sprache auf. (Vgl. u.a. ebenda, S. 393f.) Diese Entscheidung beruht auf einer Idealisierung menschlichen Sprechens, die immerhin diskutabel ist. Das gilt nicht mehr für Haberma­ sens Unterstellung, Parsons reduziere die »Strukturen der sprachlich erzeugten Inter­ subjektivität (...) auf Mechanismen wie Tausch und Organisation, die den Zusammen­ halt eines Systems über die Köpfe der Aktoren hinweg sicherstellen«. Ebenda, S. 384. 121 Habermas, KH Bd. II, S. 388. 122 Vgl. Habermas, KH Bd. II, u.a. S. 420 u. S. 347. 123 Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 348. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es scheinen mag. Gewiß regelt eine Gesellschaft durch das ökonomische Handeln ihrer Mitglieder ihren »Stoffwechsel mit der Natur«. In ebendieser Sphäre monetär geregelter gesell­ schaftlicher Arbeitsteilung bildet sich aber auch die innere Organisation einer bürger­ lichen Gesellschaft heraus, die weitgehend bestimmt, was ein jeder wirklich tut und hat. Für den Ausgangspunkt der gesamten Kapitalismuskritik hält Habermas immerhin die Frage, ob die Monetarisierung der Arbeitskraft nicht doch »einen Eingriff in die Lebens­ verhältnisse und Interaktionsbereiche bedeutet hat, die selber nicht medienförmig in­ tegriert sind und auch nicht schmerzlos, d. h. ohne sozialpathologische Auswirkungen von Strukturen verständigungsorientierten Handelns abgehängtwerden können«. (KH Bd. II, S. 400.) Dennoch hält die »Theorie des kommunikativen Handelns« an einer Dichotomie von blankem materiellem Austausch einerseits und symbolischer Verstän^

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Verfügbarkeit knapper Güter auf unüberbietbar rationale Weise zu regulieren.124 Das ökonomische Regulativ, das »lautlos durch die Ori­ entierungen der beteiligten Akteure« hindurchzugreifen125 scheint, bedürfe allerdings der Einbindung in rechtliche Institutionen, die für Parsons freilich in Gestalt des Eigentums- und Vertragsrechts ohnehin zu den Funktionsbedingungen des Mediums Geld gehört.126 Wenn die Mechanismen systemischer Integration dagegen in den Bereich des gesellschaftlichen Lebens vordrängen, den Habermas als die eigentliche Sphäre kommunikativer Verständigung vom hand­ festen Bereich ökonomischen Handelns glaubt absondern zu können, drohe die Kolonialisierung der kulturellen Lebenswelt. Die kulturelle Lebenswelt dürfe aber keinesfalls medial organisiert werden, sondern sei auf den begründeten Konsens und somit die ausdrücklichen sprachlichen Interpretations- und Kommunikationsleistungen ihrer Mitglieder angewiesen. Adäquat rationalisiert werde die Lebenswelt daher nur in dem Maße, wie der überlieferte Hintergrundkonsens, den traditionales Handeln in blinder Selbstverständlichkeit in An­ spruch nimmt, kommunikativ verflüssigt und im Lichte universaler Geltungsansprüche mündig ausbuchstabiert werde. Was im all­ gemeinen Interesse liege, gemeinschaftliche Zielsetzungen und Nor­ men der Gerechtigkeit, werde nicht länger bloß als gültig voraus­ oder faktisch durchgesetzt, sondern unterliege endlich intersubjektiv verbindlichen Verfahren vernünftiger Legitimation. In dem Argument, mit dem Habermas die erst von ihm selbst völlig entseelten Formen der sogenannten systemischen Handlungsdigung andererseits fest, die ich für trügerisch halte. In der Tat weist allerdings bereits Parsons der Wirtschaft als funktionalem Teilsystem der Gesellschaft die »adaptive Funktion« zu, allgemein zugängliche Mittel des Lebens hervorzubringen. (Parsons, u.a. Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems, a.a.O., S. 25.) Seine reife Theorie gliedert auch das Allgemeine Handlungssystem, das alle Handlungen überhaupt theo­ retisch umfassen soll, in vier Subsysteme und weist ihnen dementsprechende Funktio­ nen zu: dem Organismus die der Adaption an die Umwelt, der Persönlichkeit die der Zielverwirklichung, dem Sozialen System die der Integration und dem kulturellen Sy­ stem die der Mustererhaltung. (Vgl. ebenda, S. 28; auch ders., Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 12 ff.) Diese Spezialisierungen führen aber nicht zu einer Verselbständigung der analytischen Subsysteme, die sich laut Parsons vielmehr in konkreten Handlungszusammenhängen wechselseitig zu durchdringen pflegen. Vgl. u. a. Das System moderner Gesellschaften, a. a. O., S. 14. 124 Vgl. Habermas, KH Bd. II, u. a. S. 387. 125 Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 302. 126 Vgl. Parsons, Generalized Media of Interchange, a. a. O., S. 190. 212

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Integration auf den Bereich des Ökonomischen glaubt einschränken zu können, wird die Paradoxie dieses »Projekts der Moderne« in nuce greifbar. Frappierenderweise ist es nämlich ausgerechnet ihre un­ überschaubare Komplexität, die dafür sprechen soll, daß die materia­ le Reproduktion einer Gesellschaft getrost entsprachlichten Medien soll überlassen werden können. Nicht einmal in Grenzfällen, konsta­ tiert Habermas, sei die materielle Reproduktion heute noch so über­ schaubar, »daß sie als intendiertes Ergebnis einer kollektiven Zusam­ menarbeit vorgestellt werden dürfte«. »Normalerweise« vollziehe sie sich vielmehr »als Erfüllung latenter, über die Handlungsorien­ tierungen der Beteiligten hinausreichender Funktionen«.127 Deswe­ gen lasse sich diese Sphäre nicht mehr aus der (Frosch-)Perspektive der Interagierenden erschließen, sondern allein aus der eines wissen­ schaftlichen Beobachters, der offenbar einem göttlichen in nichts nachsteht, weil er zur methodischen Objektivierung befähigt ist.127 128 Aus dieser Behauptung muß man im Umkehrschluß wohl folgern dürfen, die Sphäre kultureller Reproduktion, die nicht medial orga­ nisiert werden dürfe und keines Beobachtungsspezialisten bedürfe, müsse von Haus aus erheblich übersichtlicher verfaßt sein, da sie ja dem uneingeschränkt bewußten Regime absichtsvoller kommunika­ tiver Rationalisierung durch alle Betroffenen zugänglich sein soll. Von dieser Unterstellung hängt die Möglichkeit ab, Systemund Sozialintegration, Empirisches und Rationales, in dem Sinne zu separieren, wie Habermas das gegen Parsons einklagt. Ich kann ihm hier nicht folgen. Relativ plausibel erschiene mir allenfalls die An­ nahme, das ökonomische Zusammenwirken vergesellschafteter Indi­ viduen könne, falls es durch verbindliche Zweckvorgaben begrenzt wäre, getrost entsubjektivierten Regulationsmedien überlassen wer­ den, weil es dann vergleichsweise simplen Regeln zu gehorchen hät­ te. Warum sich hingegen soziale Kontingenzen spurlos auflösen sol­ len, wenn Fragen umfassender praktischer Vernunft erörtert werden, während die schiere Komplexität zweckrational organisierter ökono­ mischer Handlungszusammenhänge die Aussicht unwiderruflich verstellt, sie eines Tages doch noch in die absichtsvolle Regie der Weltgemeinschaft zu nehmen, bleibt das Geheimnis der »Theorie des kommunikativen Handelns«. Es mutet wie ein Akt verzweifelter Verleugnung von Kontingenz an, wenn unter diesen Umständen das 127 Habermas, KH Bd. II, S. 348; vgl. auch eb., S. 302. 128 Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 348f. ^

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schon von Aristoteles ja keineswegs zu Unrecht ambivalent charak­ terisierte Tauschmittel Geld für eine völlig neutrale Vermittlungs­ instanz ausgegeben wird, auf die in all der mißlichen Unübersicht­ lichkeit allein noch blinder Verlaß wäre. Und es ist nicht weniger kurzsichtig, der Verselbständigung des gesellschaftlichen Funktions­ systems Wirtschaft die emphatische Eigengesetzlichkeit einer scheinbar autonomen Sphäre konsensueller Handlungskoordination und kultureller Verständigung entgegenzusetzen129, in der wir uns von allen Vorurteilen sollen freimachen und der unangefochtenen Ägide praktischer Vernunft anvertrauen können. Während Parsons das Prädikat »rational« im Frühwerk für die interne Zweck-Mittel-Beziehung reserviert, auf die sich die utilitari­ stische Sicht von Handlungszusammenhängen seines Erachtens zu Unrecht beschränkt130, beruft sich Habermas also auf einen Begriff umfassender Rationalität, der auch die normative Integration von Handlungen betreffen soll. Zwar hat der reife Parsons erkannt, daß sogar die wissenschaftliche Rationalität der Moderne selber eine an­ spruchsvolle Werthaltung und nicht das schlichte Vehikel egoisti­ scher Interessenverfolgung darstellt131, er gibt jedoch nicht befriedi­ 129 Richard Münch, der als Wahrer Parsons'scher Orthodoxie auftritt, hat ganz richtig gesehen, daß eine solche Aufspaltung mit Parsons' Einsicht in die Bildungsmechanis­ men sozialer Ordnungen nicht vereinbar ist. Vgl. Münch, Theorie des Handelns, Frank­ furt/Main 1988, S. 43. Es zeigt sich an diesem Punkt übrigens, daß Parsons sehr wohl über begriffliche Mittel verfügt, um gesellschaftliche Pathologien zu diagnostizieren. Wo nämlich die pure Zweckrationalität herrscht, droht ihm zufolge, was schon Durkheim »Anomie« nennt: gesellschaftliche Fragmentierung und Zerfall von Ordnung. Nur wenn kategorische Werthaltungen auf der elementaren Ebene materieller Bedürfnis­ befriedigung, in der Sphäre des alltäglichen eigennützigen Handelns, wirksam werden, können sich stabile soziale Ordnungszusammenhänge etablieren und bewähren. 130 Habermas wird dieser Position Parsons nicht gerecht. Er glaubt nämlich auch bei Parsons den »in der empiristische(n) Tradition oft wiederholte(n) und immer wieder gescheiterte(n) Versuch« erkennen zu können, »praktische Vernunft auf die Fähigkeit zweckrationaler Mittelwahl zu reduzieren«. Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 317. 131 Es ist vor allem das Studium des professionellen Selbstverständnisses der akademi­ schen Berufe, das Parsons zu dieser terminologischen Revision führt, die der Sache nach schon im voluntaristischen Handlungsschema angelegt ist. Vgl. Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems, a.a.O., S. 21 und S. 58f. sowie insbesondere Parsons/Gerald M. Platt, Die amerikanische Universität, Frankfurt/Main 1990, 2. Kapitel, S. 51ff. Vielleicht indessen ließe sich Parsons' Entdeckung, daß die intelligente Berufsausübung sich nicht auf die zweckrationale Wahrung egoistischer Interessen beschränkt, sondern zugleich eine »nicht-rationale« Wertverpflichtung auf Sachgerechtigkeit zum Ausdruck bringt, mit dem Hinweis auf den unvermeidlichen Doppelcharakter aller Arbeit relativ mühelos entzaubern. 214

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gend Aufschluß darüber, warum derartige Wertorientierungen den Schatten der Kontingenz nicht abschütteln können. Wie Max Weber hat er es versäumt, sich mit Konzeptionen umfassender praktischer Vernunft überhaupt ernsthaft auseinanderzusetzen. Deshalb sind ihm die rationalitätstheoretischen Argumente verborgen geblieben, die zeigen, warum normative Einstellungen nur begrenzt rationali­ sierungsfähig sind. Seine sozialisationstheoretischen Überlegungen geben aber immerhin einige luzide Hinweise auf die rationale Unhintergehbarkeit kulturspezifischer Formen sozialer Selbstfindung wie ihrer sozialwissenschaftlichen Erfassung. In kritischer Anleh­ nung an die entsprechenden Auffassungen Sigmund Freuds besteht Parsons darauf, nicht nur moralische Verhaltensregeln würden in den elementaren Interaktionen des Kindes mit seinen frühen Bezugs­ personen gelernt. Auch die basalen Affekte gewönnen allererst in sozialen Handlungssystemen persönliche Konturen und die generelle Gestalt, in der sie für das sich herausbildende Ich im Lichte intersub­ jektiver Symbolsysteme wahrnehmbar, wiedererkennbar und von einer Situation auf eine etwas andere übertragbar würden. Schließ­ lich sind nach Parsons auch die kognitiven Kategorisierungen, mit deren Hilfe wir Objekte voneinander unterscheiden, weder vom Himmel gefallen, noch angeboren, sondern in Interaktionsprozessen erworben.132 Kognitive Leistungen und evaluative Präferenzen sind gar nicht strikt voneinander ablösbar, denn wir können auch kategorial nur einordnen, was seinem kulturell geprägten Begriff wenig­ stens ungefähr entspricht.133 Soziale Institutionalisierung und per­ sönliche Internalisierung kultureller Normen reduzieren so die 132 Parsons wirft daher Freud vor, übersehen zu haben, daß der Begriff der Verinnerli­ chung auf den kognitiven Bezugsrahmen, der in interpersonalen Beziehungen wirksam ist, und das gemeinsame System »des expressiven Symbolismus« ausgeweitet werden kann und muß. (Vgl. Parsons, Das Über-Ich und die Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 35.) Diese Einsicht eröffnet nicht nur ein neues Forschungsfeld: das der kulturspezi­ fischen Prägung divergenter Wissensformen. Sie muß auch auf die sozialwissenschaft­ liche Theorie selber zurückwirken, die diese Unterschiede analysieren will. Auch ihre Aussagen stehen dann unter Kategorien, in denen so etwas wie ein soziales Apriori wirksam ist, ohne Kontingenzen letztgültig in Notwendigkeiten überführen zu können. 133 Parsons beschreibt dieses Amalgam aus Deskription und Normierung an einem Spe­ zialfall einmal folgendermaßen: »Insofern dieser relative Status in der Sprache einer gemeinsamen Kultur definiert und reguliert wird, gilt die folgende, anscheinend para­ doxe Feststellung: was Personen sind, kann nur verstanden werden im Rahmen von Überzeugungen und Gefühlen, die definieren, was sie sein sollen.« Parsons, Das ÜberIch und die Theorie sozialer Systeme, a.a.O., S. 31. ^

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multiple Kontingenz der Interaktion, ohne sie gänzlich aus der Welt schaffen zu können.134 Diese Fähigkeit spricht dagegen Habermas der von allen empi­ rischen Bedingungskontexten scheinbar losgelösten rationalen Bin­ dungskraft überzeugender Gründe zu, die seiner Auffassung nach im Verlauf der gesellschaftlichen Rationalisierung der kulturellen Le­ benswelt an die Stelle kontingenter Entscheidungen zwischen Alter­ nativen treten sollen.135 Daß verbindliche Handlungszwecke auf dem Wege ihrer rationalen Begründung nur gefunden werden können, wenn sich die an der Suche Beteiligten »im Grunde« kontingenter­ weise schon vorher einig sind, habe ich bereits im vierten Kapitel dieser Studie darzulegen versucht. Begründungsgänge, wie sorgfältig auch immer sie abgeschritten werden mögen, können keine gemein­ samen Überzeugungen stiften, sondern solche bestenfalls aufdecken. Sie zehren, das räumt sogar Habermas ein, von lebensweltlich schon geteilten, kulturell tradierten Verbindlichkeiten.136 Selbst wenn diese auf dem Wege ihrer ausdrücklichen Versprachlichung und bewußten Anerkennung durch mündige Individuen weitgehend in so etwas wie praktisches Wissen überführbar wären, bliebe dieses durch Voraus­ setzungen bestimmt, die weder restlos erhellt werden können, noch unbedingt von allen geteilt werden müssen.137 »Rationales« und »Empirisches« sind nicht ein für allemal verbindlich zu entmischen. Mögen die perfekten sprach- und handlungsfähigen Kommunika­ tionsteilnehmer auch in jeder konkreten Verhandlungssituation ein jeder für sich unterscheiden können, wann sie nur der inneren Über­ 134 In diesem Sinne spricht Parsons von »unausschaltbare(r) Kontingenz«. Parsons, Rückblick nach 35 Jahren, in Alfred Schütz/Talcott Parsons, Zur Theorie sozialen Han­ delns, Ein Briefwechsel, Frankfurt/Main 1977, S. 127-136, dies S. 132. 135 Vgl. Habermas, KH Bd. II, u. a. S. 320f., S. 333, S. 417. Die »Theorie des kommunikativen Handelns« bleibt also in dem schlechten Dualismus des Rationalen und des Empirischen befangen, von dem die Kantische Konzeption reiner praktischer Vernunft ausgeht. Sie kleidet diesen nur in ein für heutige Interpreten gefäl­ ligeres Gewand sprachpragmatischer Erwägungen, in denen der menschlichen Sprache das Telos grenzenloser Verständigung unterstellt (vgl. KH Bd. I, S. 387) und sie zum reinen Medium unverfälschten Ausdrucks von Individuen idealisiert wird, denen es vernünftigerweise nicht um die erfolgreiche Durchsetzung egoistischer Interessen gehe, sondern um unparteiische Verständigung an sich. Vgl. Habermas, KH Bd. II, u. a. S. 392. 136 Vgl. Habermas, KH Bd. II, u. a. S. 392. 137 Um diese These zu belegen, habe ich diesen Problemzusammenhang im 2. Teil dieser Studie ausführlich dargelegt und an den ontologischen Positionen Platons und Aristo­ teles' einerseits ebenso diskutiert wie an der nominalistischen von Hobbes und der for­ malistischen von Kant andererseits. 216

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zeugungskraft guter (logischer) Gründe nachgehen, ohne äußerem Druck zu erliegen oder auf trügerische rhetorische Kunstgriffe her­ einzufallen, so sind doch die grundlegenden Vorurteile, die sie unver­ meidlicherweise mithringen, durch Gründe, die ihre Evidenz nur im Lichte ehendieser Vorurteile gewinnen können, letztlich gar nicht erschütterhar. In dem mehr oder weniger steilen Evidenzgefälle zwi­ schen jenen Argumenten, die der einen oder dem anderen einleuch­ ten, und solchen, die das gerade nicht tun, spiegelt sich die weiterhin kontingente Dynamik der Unterschiede zwischen kulturspezifischen gemeinschaftlichen Lehensformen und idiosynkratischen Präferen­ zen. Die funktionalistische Reduktion Die hleihende Kontingenz menschlichen Handelns hat Parsons im Gegensatz zu Hahermas nicht verleugnet. Dennoch hat auch er der Versuchung nicht konsequent widerstanden, einen theoretischen Blickwinkel zu suchen, in dem sie möglichst verschwindet, und alshald die Flucht in systemfunktionalistische Strategien ihrer Bewälti­ gung angetreten. Denn diese stellen methodisches Handwerkszeug hereit, um die verwickelten Verhältnisse der vergesellschafteten In­ dividuen (oder Persönlichkeitssysteme) zueinander, in denen kultu­ relle Orientierungsmuster wirksam sind, mit einem Schlag erhehlich zu simplifizieren. Als ahstrakter Zusammenhang von Elementen kann ein soziales System strukturell mit einem lehenden System gleichgesetzt werden. Das funktionalistische Tertium Comparationis ist dann die nackte Leistung der Systemerhaltung, der alle Teilfunk­ tionen untergeordnet sind. Sie ist nicht sofort in Gefahr, wenn Ele­ mente des Ganzen rehellieren, versagen oder zerstört werden. Par­ tielle Dysfunktionalitäten hiotischer Organe oder ahweichendes Verhalten von Teilen der Bevölkerung sind vom jeweiligen System ehenso zu verkraften wie der Verlust einzelner Glieder, die nicht strikt üherlehenswichtig sind. In diesem Sinne können auch soziale Ordnungszusammen­ hänge ihre relative Eigenständigkeit gegenüher der Gesamtheit ihrer Bausteine, der verwirrenden Fülle von Einzelhandlungen interagie­ render Individuen, unter Beweis stellen. Sie können sich als ver­ gleichsweise heständige Formen der Integration von Handlungen verschiedener und wechselnder Personen funktionell hewähren, ohne den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht werden zu müssen, ^

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also zu gewährleisten, daß ein jeder das wohlverstandene Seinige tue und habe. Es genügt, wenn ein relevanter Teil der Bevölkerung eini­ germaßen zufrieden gestellt ist, damit das soziale Ordnungsgefüge Bestand hat.138 Desintegrative Tendenzen und potentiell destruktive Aktionen (wie Rückzug in Krankheiten, Selbstmord oder offener Wi­ derstand) müssen also unter einem solchen Regime nicht völlig aus­ geschlossen, sondern nur marginalisiert werden.139 Weil das Maß funktionalistischer Toleranz sich erst im Phasenübergang von erfolg­ reicher zu scheiternder Systemerhaltung faktisch ergibt, dürften sich die potentiellen sozialtechnologischen Konsequenzen dieser Betrach­ tungsweise jedoch recht bescheiden ausnehmen. Parsons treibt den Versuch der systemtheoretischen Reduktion von Kontingenz in »The Social System« jedoch weiter als es die Ein­ führung übergeordneter funktionalistischer Gesichtspunkte erfordert und plausibel macht. Und Luhmann radikalisiert diese Tendenz bloß, indem er dafür plädiert, die sinnhaften Intentionen der Handelnden schlicht zu ignorieren und die sozialen Systeme ihrer Interaktionen als je funktionell codierte Gefüge faktischer Auswirkungen und An­ schlüsse von Kommunikationsereignissen zu nehmen, seien sie nun von irgendjemandem beabsichtigt oder nicht. Für den Bestand eines sozialen Systems, diese Erfahrung kann jeder schon auf der Ebene elementarer sozialer Organisation in Familie, Gruppen oder Ver­ einen machen, ist nicht jede Artikulation materieller Bedürfnisse oder evaluativer Präferenzen gleich wichtig. Die ausschlaggebende Rolle spielt vielmehr, je nach Lage der Dinge, der statistische Durch­ schnitt, die hierarchische Machtverteilung, ein synergetischer Effekt oder gelegentlich auch der chaotische Tropfen, der das Faß zum Über­ laufen bringt. Für Parsons verbindet sich mit diesem ersten, quasi 138 Vgl. Parsons, TSS, S. 28. Parsons bietet hier die funktionalistische Perspektive aus­ drücklich als Ausweg aus einer allzu komplizierten Sachlage an: Er betont zunächst, daß »there is no simple relation between personalities and social Systems« und es beim augenblicklichen Stand des Wissens daher unmöglich sei, to define precisely what are the minimum needs of individual actors, so only certain rather general things can be said. From the point of view offunctioning of the social system, it is not the needs of all the participant actors which must be met, nor all the needs of any one, but only a sufficient fraction of the population.« Vgl. auch ebenda, S. 18. 139 Es ist bemerkenswert, daß auch Habermas seine Diagnose gesellschaftlicher Patho­ logien in ebendiesem funktionalistischen Blickwinkel stellt. Zu Krisen oder Pathologien kommt es ihm zufolge nämlich erst, »wenn relevante (! H. H.) gesellschaftliche Grup­ pen Strukturwandlungen, die systemisch induziert sind, als bestandskritisch erfahren und ihre Identität bedroht fühlen«. Habermas, KH Bd. II, S. 434, vgl. auch S. 350. 218

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probabilistischen Reduktionsschritt jedoch unmittelbar ein zweiter, von dem er sich eine noch größere Erleichterung sozialwissenschaft­ licher Forschungsarbeit zu versprechen scheint. Vom funktionalistischen Standpunkt der Systemerhaltung aus glaubt er die subjektre­ lativen Kategorien des Verstehens nun prinzipiell vernachlässigen zu können. Denn die funktionelle Bedeutung, die individuelles Handeln für die Bewahrung sozialer Ordnung habe, sei nun nicht mehr direkt und vorrangig »in terms of its motivation« zu verstehen, »but of its actual or probable consequences for the system«.140 Die Hoffnung, auf diesem Wege zu einer nachhaltigen Reduk­ tion sozialer Kontingenz gelangen zu können, ist freilich trügerisch. Was könnte unter den erkenntniskritischen Prämissen, die Parsons sich nach wie vor zu eigen macht, denn überhaupt dafür sprechen, irgend etwas bloß Faktisches könne leichter zu erkennen sein als et­ was Gewolltes? Sind denn Handlungsfolgen überhaupt als solche identifizierbar und von natürlichen Gegebenheiten unterscheidbar, ohne als freiwillige Äußerungen eines Inneren Personen zugerechnet zu werden? Wenn das im Ernst möglich wäre, dann wären die her­ meneutischen Errungenschaften des voluntaristischen Handlungs­ schemas nichts als begrifflicher Luxus, auf den Verzicht zu leisten ist, sobald es wirklich zur Sache geht. Ich möchte jedoch bezweifeln, daß sich die funktionalistische Signifikanz sozialer Interaktionen völlig unabhängig von der symbolisch-intentionalen Verfassung erheben läßt, in der sie für die Akteure selbst gegeben sind. Ich will versuchen, diese These an einem Beispiel zu verdeut­ lichen. Man kann das Versprechen, das Kant in moralphilosophischer Absicht als vornehmste Tugendpflicht auszeichnet, die keine einzige Ausnahme dulde, auch als eine faktisch vorhandene gesellschaftliche Institution betrachten und nach funktionalistischen Maßstäben beur­ teilen. Damit diese Institution gesellschaftlich Bestand habe, ist es nicht nötig, daß alle Versprechen auch eingehalten werden und je­ dem, der etwas verspricht, vertraut wird. Es genügt vielmehr, wenn das für eine kritische Prozentzahl gilt, ein hinreichend großer Anteil der Handelnden also hinreichend oft seinen Versprechungen nach­ kommt. Die soziale Praxis des Versprechens wird durch gelegentliche Enttäuschungen, die jeder von uns schon erlebt und anderen bereitet haben wird, nicht wirklich untergraben. Deswegen kann von diesen

140 Parsons, TSS, S. 29. ^

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Devianzen unter funktionalistischen Prämissen, anders als unter de­ nen der Kantischen Metaphysik der Sitten, abgesehen werden. Als soziale Institution erfassen und beschreiben läßt sich das interaktive Phänomen des Versprechens, mit dem eine Person der anderen die zukünftige Erfüllung einer Erwartung zusichert, hingegen nur, wenn der charakteristischen Verschränkung der subjektiven Perspektiven kategorial Rechnung getragen wird. Es hängt im übrigen nicht nur von deiner faktischen Verläßlichkeit, sondern auch von der Überzeu­ gungskraft deiner gelegentlich fälligen Ausreden ab, ob und in wel­ chem Maße ich dir weiterhin traue und dementsprechend Aktionen mit den deinen koordiniere. Handlungen schließen nun einmal nicht wie kausalgesetzliche Ereignisse aneinander an, sondern in einem intersubjektiven Wechselspiel von Erwartungen, Entscheidungen und Erfüllungen bzw. Enttäuschungen, dessen Ende nicht absehbar ist, weil niemand je das letzte Wort hat. Soziale Zusammenhänge sind daher offene Deutungszusammenhänge. Sie bleiben das, genau besehen, auch in einer funktionalistischen Perspektive, wie sich nicht zuletzt an dem Modellfall erweisen läßt, den der frühe Parsons, von Durkheim angeregt, zur Unterscheidung von »sozialen« und »physi­ kalischen« Tatsachen heranzieht. Denn selbst für das äußerst be­ schränkte Interesse an der Erhaltung eines sozialen Systems kann es einen wichtigen Unterschied bedeuten, ob der freie Fall eines menschlichen Körpers aus großer Höhe nun als Unfall oder als Mord oder als Selbstmord einzustufen ist bzw. von einer relevanten Menge sozialer Akteure für das eine oder andere gehalten wird. In den funktionalistischen Kontext, der den Sozialwissenschaft­ ler zu einer reduktionistischen Programmatik verleitet, gehört nicht zuletzt die aufschlußreiche Unterscheidung von manifesten bzw. la­ tenten Funktionen von Handlungen. Parsons übernimmt sie in »The Social System« nach eigener Auskunft von Robert K. Merton, der sich seinerseits auf Freuds Entdeckung des Unbewußt-Intentionalen bezieht, aber auch Bacons Idolenlehre als Aufweis latenter Funktio­ nen anerkennt.141 Die Differenz von bewußt ins Auge gefaßten

141 Vgl. Parsons, TSS, S. 30, Anm. 5 sowie Robert K. Merton, Social Theory And Social Structure, 19491 , zitiert nach New York 19683, insbesondere S. 114-138. Merton setzt den sozialwisssenschaftlichen Funktionalismus ausdrücklich in Beziehung zum biologi­ schen und verweist in diesem Zusammenhang auf den Begründer der organismischen Biologie und der sogenannten Allgemeinen Systemtheorie, Ludwig v. Bertalanffy. Vgl. ebenda, S. 75. 220

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Handlungszielen und objektiven Handlungskonsequenzen, die der Sache nach in der Endlichkeit handelnden In-der-Welt-Seins wurzelt, ist nach Merton in den Sozialwissenschaften vor allem von unschätz­ barer heuristischer Bedeutung. Sie kann nämlich unter Umständen verständlich machen, warum Handelnde hartnäckig an Praktiken festhalten, die oberflächlich betrachtet als vollkommen sinnlos er­ scheinen, etwa weil die verfolgte Absicht überhaupt unklar bleibt, die erklärte Intention wiederholt nicht erreicht wurde oder das er­ strebte Ziel nach Maßgabe überlegenen technischen Wissens auf die­ se Weise sowieso nicht erreichbar sein kann. Im Lichte der Unter­ scheidung von manifesten und latenten Funktionen können solche Handlungen den Verdacht bodenloser Irrationalität abschütteln, den sie nicht nur beim aufgeklärten wissenschaftlichen Beobachter, son­ dern schlechthin bei jedem erregen mögen, der die fragliche Praxis nicht teilt. Solange sie als manifeste zweckrationale Maßnahmen be­ trachtet werden, erscheinen die Rituale der Regenbeschwörung bei den Hopi, die Merton als Beispiel anführt, bloß als irrige Phantasmen des Aberglaubens, während sie im Hinblick auf die latente Funktion der Befestigung des Gemeinschaftsgefühls sehr wohl den Charakter veritabler kommunikativer Handlungen annehmen können. Latente Funktionen sind also, was wahrlich nicht verwunderlich ist, auch für einen unbeteiligten Beobachter keineswegs leichter zu erkennen als manifeste. Beide lassen sich nur erfassen, indem der Interpret dem als sinnvoll gedeuteten Verhalten eine verbindliche Regel unterstellt. Im Falle der latenten Folgen muß überdies zweifel­ haft bleiben, ob die jeweiligen Akteure sie nicht doch insgeheim be­ absichtigen oder bewußt in Kauf nehmen, ohne dies explikativ recht­ fertigen zu wollen oder zu können. Etwas anders mag die Sache im Fall von sozialen Dysfunktionen bzw. unabsichtlichen oder unabseh­ baren Handlungsfolgen liegen. Denn sie fallen ohnehin auf die Akteure selbst zurück, die niemals die souveränen Herrscher über die tatsächliche Ausführung ihrer Absichten sein können. Erwartun­ gen können enttäuscht werden, gute Vorsätze am eigenen Unvermö­ gen, der Widerständigkeit der Dinge, dem Eigensinn der Adressaten scheitern. Wie sein Tun von anderen gedeutet wird und im Zusam­ menspiel vieler Subjekte wirkt, hat kein Individuum in der Hand. Nicht nur die zweckrationale Verfolgung egoistischer Interessen, auch wertrationales, ethisch oder religiös gebotenes Verhalten kann sich, wie Parsons betont, auf der »emergenten« Integrationsebene eines sozialen Systems als provokant, gefährlich, ja zerstörerisch er­ ^

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weisen, ohne diese Folgen bewußt ins Auge gefaßt oder gar absicht­ lich angestreht zu haben.142 Die verborgenen Variablen des Sozialen Das Phänomen, das Parsons sein gesamtes Werk hindurch vor­ nehmlich fasziniert, ist die auffällige Stabilität sozialer Handlungs­ zusammenhänge. Warum ist überhaupt gesellschaftliche Ordnung und nicht vielmehr Unordnung? Parsons beantwortet diese Leitfrage der theoretischen Soziologie dieses Jahrhunderts mit dem Aufweis der faktischen Wirksamkeit kultureller Normen, die soziale Inter­ aktionen tragen und ihre multiple Kontingenz erträglich machen, indem sie individuelle Identitäten formen. Aus ebendiesem Grunde jedoch entziehen sie sich der vollständigen Rationalisierung. Sie sind für die Handelnden weder als Bedingungen ihres Tuns restlos objek­ tivierbar, noch als fallible Überzeugungen in eigens etablierten Ver­ balisierungsritualen rational prüf- und universell legitimierbar. Es ist vielmehr eine Form pragmatischer Bewährung, der kulturelle Wert­ muster unterliegen, denn sie verlieren ihre Wirksamkeit, wenn sie nicht in das ungezwungene Handeln der Individuen eingehen, aus dem sich die sozialen Systeme speisen. Soziale Systeme sind also nicht das rational kalkulierte und be­ herrschbare Ergebnis absichtlicher Vergesellschaftung. Ihre Ordnung und Stabilität verdanken sich vielmehr der Wirksamkeit latenter Bindungsfaktoren. Es sind diese verborgenen Variablen des Sozialen, deren Rang Parsons seit Mitte der fünfziger Jahre immer wieder in einer kybernetischen Terminologie zu kennzeichnen versucht, die technokratische Assoziationen weckt.143 Aber wer zugesteht, evaluative wie kognitive Präferenzen unterlägen bleibender Kontingenz, kann nicht zugleich auf ihre Konditionierbarkeit setzen. 144 Betrachtet 142 Parsons wendet den Begriff der »Latenz« vor allem auf soziale Funktionen und Dys­ funktionen an, insbesondere auf diverse Formen abweichenden Verhaltens wie Rückzug oder Krankheit oder offene politische Rebellion. Vgl. Parsons, TSS, S. 29 ff. Es ist bemer­ kenswert, daß er auf Folgen technischen Handelns in diesem Zusammenhang überhaupt nicht eingeht. Ein wesentlicher Grund dafür mag darin liegen, daß er, wie schon Weber, den Bestimmtheitsgrad naturwissenschaftlicher Kausalbehauptungen und dementspre­ chend auch zweckrationaler Wahl erheblich überschätzt. 143 Das gilt gewiß auch für die eigentümliche Ordnungswut, in der Parsons immer neue Vierfunktionen-Schemata von Handlungssystemen und Subsystemen aufstellt und den einzelnen Komponenten übersichtliche Funktionen zuzuordnen versucht. 144 Schon aus diesem Grunde allein muß Habermasens Vorwurf fehlgehen, Parsons ver­ 222

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man Parsons Spätwerk, so schält sich heraus, daß der Verdacht eines sozialtechnologischen Zugriffsinteresses ohnehin nicht den Kern der Sache trifft. Die kybernetischen Formeln, in denen der Autor der »Human Condition« der eigenen Auskunft nach den Begriff der La­ tenz aus seiner handlungstheoretischen Verankerung zu lösen und systemtheoretisch umzudeuten versucht145, fungieren hier nicht als Krücken für den ebenso suggestiven wie aussichtslosen Versuch tech­ nischer Kontingenzbewältigung. Sie erweisen sich vielmehr als eine Art Platzhalter für eine weit enigmatischere Figur der tentativen Positivierung des Unbestimmbaren.146 Hinter wirksamen normativen wandele rationale Geltungsansprüche in kontingente Entscheidungen, die konditioniert werden könnten. (Vgl. Habermas, KH Bd. II, S. 417.) Denn konditionieren läßt sich nur, was nach einer Regel unfehlbar hervorgebracht werden kann. Oder, wie Parsons einmal festhält, ohne diese Möglichkeit für erfüllt oder ausgeschlossen zu erklären, erst wenn das Nicht-Rationale rational begriffen wird, stellt sich die praktische Frage seiner be­ wußten Kontrolle, aber auch ihrer mögliche Zwecke. Vgl. Parsons, Die Entstehung der Theorie des Sozialen Systems, a.a.O., S. 57f. 145 Vgl. Parsons, A Paradigm of The Human Condition, a.a.O., S. 363. Was Parsons an der Kybernetik vor allem fesselt, ist ohnehin ihre Verwendung des Begriffs der Infor­ mation. Parsons sieht in der Kybernetik primär eine Bedeutungstheorie. (Vgl. Parsons, u.a. HC, S. 374ff. sowie Relations between Biological And Socio-Cultural-Theory, in ders., Social Systems And The Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 118-121.) Die Analogie von kybernetischen Regelungsmechanismen und normativen Orientie­ rungen liegt ihm zufolge darin, daß Systeme mit viel Information und wenig Energie unter den passenden Bedingungen Systeme mit hoher Energie und wenig Information kontrollieren können. (Vgl. insbesondere Biological And Socio-Cultural Theory, a. a. O., S. 120.) In seiner Begeisterung für die Theorie der Steuerung durch Information über­ sieht Parsons meines Erachtens jedoch zweierlei. Erstens ist die Entdeckung, daß All­ tagshandeln den Stand seiner Zielverwirklichung laufend situativ überprüfen und dem jeweilig neu auftauchenden Stand der Dinge anpassen kann, nicht der Kybernetik zu verdanken. (Vgl. dagegen Parsons, Rückblick nach 35 Jahren, a.a.O., S. 131f.) Im Ge­ genteil: vieles spricht dafür, daß die Flexibilität des Alltagshandelns mit Hilfe kyberne­ tischer Erwägungen annäherungsweise endlich auch technischen Konstruktionen im­ plementiert werden kann. (Vgl. Norbert Wiener, Kybernetik, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 127.) Zweitens bietet die Informationstheorie als solche weder irgendein Kau­ salmodell, noch eigentlich eine Theorie der Semantik an, sondern nur ein quantitatives Konzept für die möglichst störungsfreie Übertragung von für Sender wie Empfänger einheitlich fixierten Bedeutungsgehalten. (Vgl. Wiener, a. a. O., S. 31 ff. und vor allem Shannon/Weaver, Die mathematische Theorie der Kommunikation, München/Wien 1976.) Wenn der Empfänger eine unverstümmelte Nachricht des Senders erhält und diese auch (richtig) versteht, verliert er daher keineswegs die Freiheit, darauf nach Be­ lieben zu reagieren. Ich gehe im nächsten Kapitel in Auseinandersetzung mit Maturanas Theorie operativ geschlossener autopoietischer Systeme noch einmal auf den Ansatz der Informationstheorie ein. 146 Ich verwende die Formel »Positivierung des Unbestimmbaren« also in einem ande­ ^

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Orientierungen und moralischen Prinzipien wie dem Kantischen Kategorischen Imperativ, so wagt Parsons nun nämlich zu vermuten, sei ein allumfassendes »telisches System« wirksam, das die transzen­ dentalen Bedingungen der menschlichen Existenz bestimme und als sinnhafter Grund aller Ordnung in Natur und Gesellschaft von han­ delnden Menschen weder gemacht noch instrumentalisierbar, son­ dern allenfalls verstehbar sei.147 Man muß Parsons, der sich selbst als einen »Un-, nicht Irrgläu­ bigen«148 bezeichnet, freilich nicht auf diesem Höhenweg in die reli­ giöse Spekulation folgen, um der Einsicht in die Kontingenz unseres Handelns und Wissens Rechnung zu tragen. Es gibt keine erfah­ rungswissenschaftliche Perspektive, in der Wirklichkeit in unver­ stellter Notwendigkeit erkennbar würde. Ob handlungstheoretisch motiviert oder systemfunktionalistisch zugespitzt, auch konkurrie­ rende sozialwissenschaftliche Theoreme sind selber historische Ge­ stalten mehr oder weniger gelingender intersubjektiver Verständi­ gung, die einem sozialen Apriori unterliegen und kognitiven wie Wertpräferenzen folgen. Nach Parsons kann es daher keinen prinzi­ piellen Hiatus zwischen der Perspektive eines Handelnden überhaupt und der eines wissenschaftlichen Beobachters und Analytikers von Handlungen geben. Ebensowenig wie der erstere in einfacher Unmit­ ren Sinn als Gerhard Gamm die Zwillingsform »Positivierung des Unbestimmten« in seiner interessanten Studie »Flucht aus der Kategorie«, Frankfurt/Main 1994. Auch Gamm geht es allerdings um die theoretische Rehabilitation unausweichlicher Kontin­ genz. Er spricht von »unbestimmter Bestimmtheit«, weil er den Nachweis erbringen kann, daß alle »Schließungsmechanismen« versagen und die Objektivierungsversuche scheitern, die uns vollständig bestimmtes Wissen versprechen. Es sind also nur relative, von uneinholbaren Voraussetzungen abhängige Bestimmungen, derer wir uns ver­ sichern können. Diesen verzwickten Sachverhalt endlich vollbewußt zur Kenntnis zu nehmen und Unbestimmtheit als unersetzlich anzuerkennen, also zu »positivieren«, hält Gamm für das Ergebnis (den »Ausgang«) modernen Denkens. Ich möchte den Ter­ minus »Positivierung«, vielleicht weil mir die Positivismus-Debatte der 60er Jahre noch kräftig in den Ohren klingt, hier im nahezu entgegengesetzten Sinne verstanden wis­ sen: als Verleugnung eines in Wahrheit Unbestimmbaren durch seine positive Fixierung und Ausstaffierung. 147 Vgl. Parsons, A Paradigm of The Human Condition, a. a. O., S. 371. Parsons versucht hier u.a. auch dem Begriff des »Sinns«, der bei Max Weber durchaus säkulare intersub­ jektiv verbindliche Regeln bezeichnet, einen prinzipiell religiösen »Dreh« zu geben (ins­ besondere S. 390 ff.), charakterisiert den kategorischen Imperativ als Output des telischen Systems (S. 413) und dieses als den bedeutungsvollen letzten Grund von Ordnung überhaupt (insbesondere S. 391 f.), den Handelnde immerhin verstehen können (S. 317). 148 Parsons, Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems, a.a.O., S. 58. 224

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telbarkeit quasi bewußtlos dahinlebt, gelangt der andere auf dem Wege distanzierender Reflexion zu unanfechtbarem Wissen. Wis­ senschaft und Handeln nähern sich in diesem Blickwinkel einander an, nicht weil die Handelnden in der Gegenwart endlich vollkommen exakte Wissenschaftler bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen oder autonome Richter über gewachsene Überzeugungen geworden wären, sondern weil noch die gründlichsten und genauesten Wissen­ schaftler als alltagsweltliche Akteure wie in ihrer Berufsrolle als Wis­ senschaftler handelnde Individuen bleiben.149 Wer handelt, hat immer eine Wahl. Er bewegt sich in einem Horizont von Möglich­ keiten, der durch spezifische kulturelle Orientierungsmuster zwar eingeschränkt und vorstrukturiert ist, aber weder aus der subjektiven Perspektive der jeweiligen Akteure, noch auf dem Wege ihrer schein­ baren Umgehung durch verwissenschaftlichte Beobachtung vollstän­ dig erschlossen werden kann.150

10. Autopoietische Systeme Naturalisierte Selbstbezüglichkeit Luhmanns Ausarbeitung einer Theorie sozialer Systeme knüpft an Parsons Theorie der Handlungssysteme an, indem sie Gewichte ver­ lagert und Revisionen vornimmt. Aus ihrer Perspektive blieb die Parsons'sche Soziologie nämlich noch allzu eng dem »alteuropäischen« 149 Deswegen ist die räumliche Metaphorik von Innen- und Außenperspektive, die han­ delndes Subjekt und »objektiven« wissenschaftlichen Beobachter dichotomisiert und von Habermas wiederholt als Differenzierungsschuld von Parsons eingeklagt wird (vgl. Habermas, KH Bd. II, u.a. S. 420), irreführend. Denn die Kluft, die mit dieser Unter­ scheidung erfaßt werden soll, kann überhaupt nur aufbrechen, wenn Ego und Alter verschiedenen Regeln der (Selbst- wie Fremd-) Wahrnehmung und (—) Beurteilung fol­ gen. Gemeint ist in Wahrheit also wohl die Differenz von bloß idiosynkratischen Ori­ entierungen einerseits und intersubjektiv verbindlichen andererseits. 150 Im Rückblick (1974) auf seinen Briefwechsel mit Alfred Schütz räumt Parsons zwar ein, daß in der Moderne mit weit verbreiteter »generalisierter« (S. 135) Rationalität gerechnet werden dürfe, er rügt jedoch vor allem die »unrealistische Dichotomie«, in die der Kollege Alltagserfahrung und wissenschaftliche Beobachtung (S. 134) wie un­ mittelbares Handeln und reflektierendes Urteil (S. 133) bringe und betont, der »Vollzug der Wissenschaft« sei selbst nichts anderes als »ein extremer Typus des Han­ delns«^. 134). Parsons, Rückblick nach 35 Jahren, a.a.O. Daß die Wissenschaft selber eine Form des Handelns darstellt, ist eine frühe Einsicht Parsons. Vgl. TSS, S. 544. ^

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Denken und seiner Leitfigur, der »Subjektivität«, verhaftet, als daß sie ihre bestmögliche Form hätte finden können.151 Ob und inwiefern es dagegen Luhmann wirklich gelungen ist, diese Tradition produktiv zu überwinden und den Begriff sozialer Ordnung von allen subjek­ tiven Reminiszenzen zu befreien, werde ich im nächsten Kapitel abschließend prüfen. Hier ist zunächst ein Zwischenschritt zu dis­ kutieren, mit dem sich das reife Theorieprogramm Luhmanns ent­ schlossen von dem Vorbild Parsons verabschiedet. Es handelt sich um die Aufnahme der biologischen Theorie autopoietischer Systeme, die Luhmann alsbald seiner Theorie der zentrifugalen Ausdifferenzie­ rung autonomer gesellschaftlicher Funktionssysteme unterlegt, die seiner Diagnose zufolge mit der Neuzeit einsetzt und die Gegenwart soziologisch bestimmt. Die Theorie autopoietischer Systeme, wie sie sich insbesondere mit den Namen Humberto Maturana und Francisco Varela, der Maturanas Schüler war, verbindet, markiert nach Luhmann die höchste Stufe der innersystemtheoretischen Paradigmenentwicklung. Mit den ersten Ansätzen zu einer biologischen Systemtheorie, wie sie sich schon bei Ludwig v. Bertalanffy finden, habe zunächst die Leit­ differenz System-Umwelt das ältere Ordnungsmuster Teil-Ganzes verdrängt, das nicht nur für das kosmologische und das philosophi­ sche Systemdenken ausschlaggebend gewesen ist, sondern beispiels­ weise auch noch für die systemtheoretische Modellbildung in der Thermodynamik. Der letzte und für alles gegenwärtige Theoretisieren entscheidende Entwicklungsschritt beruhe allerdings erst auf der Entdeckung der selbstreferentiellen Operationsweise der beobachte­ ten Systeme, die sich auf diese Weise aktiv von ihrer jeweiligen Um­ welt zu unterscheiden scheinen.152 Diese Charakterisierung erinnert an den unhintergehbaren Ausgangspunkt der neuzeitlichen Philosophie, die sich auf sich selbst beziehende Subjektivität, und modifiziert ihn zugleich in einem ent­ scheidenden Punkt. Während nämlich die Identität von Denken und Sein, als die sich das Selbstbewußtsein im cartesischen Zweifel an aller inhaltlichen Bestimmtheit möglicher Urteile gewahr wird, ein­ zig aus der Perspektive der ersten Person unmittelbar zugänglich ist,

151 Vgl. dazu N. Luhmann, Talcott Parsons - Zur Zukunft eines Theorieprogramms, in: Zeitschrift für Soziologie 9/1980, Bielefeld, S. 5-17, dies insbesondere S. 5. 152 Vgl. Luhmann, SS, insbesondere S. 21-25. 226

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versichern Luhmann153 wie Maturana154, in der Daseinsweise biolo­ gischer Systeme die primären Formen objektiv vorhandener Selbst­ referenz jedermann empirisch vor Augen führen und auf diesem We­ ge die harte biologische Basis höherer kognitiver Leistungen wie sprachlicher Kommunikation oder wissenschaftlicher bzw. philoso­ phischer Reflexion vom Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters, der 3. Person also, unzweifelhaft aufdecken zu können. Schon Parsons, so hatten wir am Ende des vorigen Kapitels ge­ sehen, thematisiert zumindest einen Aspekt des Phänomens der »Selbstreferenz«, das Luhmann und Maturana zu naturalisieren ver­ suchen. Es tritt bei ihm als das Eingeständnis zutage, daß handlungs­ wissenschaftliche Aussagen selber soziale Handlungen sind und als solche zu eben dem Gegenstandsbereich gehören, über den die Sozio­ logie verbindliche Aussagen zu machen verspricht. Diese Aussagen selbst müssen daher wohl auch denselben Existenz- und Gestaltungs­ bedingungen unterliegen, die sie in objektivierendem Gestus auf­ zuklären versprechen. Erst in dem Blickwinkel, den die biologische Theorie autopoietischer Selbstreferenz einnimmt, meint Luhmann jedoch die epistemologischen und rationalitätstheoretischen Kon­ sequenzen dieser Paradoxie hinreichend differenziert erfassen zu können.155 Maturana, von Haus aus Neurobiologe und in den fünfziger Jahren an einigen klassischen neurowissenschaftlichen Arbeiten be­ teiligt156, versucht sich seit Beginn der sechziger Jahre als Architekt 153 Luhmann bekennt sich ausdrücklich zum Projekt einer Naturalisierung der Episte­ mologie (vgl. u.a. SS, S. 10). Seine Charakterisierung der modernen Gesellschaft als eines autopoietisch geschlossenen Systems, das sich in ebenso geschlossene Funktions­ systeme ausdifferenziert hat und keinesfalls aus Menschen bestehen soll, basiert auf der These, »daß Selbstreferenz nicht eine Eigentümlichkeit des Bewußtseins ist, sondern in der Erfahrungswelt vorkommt.« (Luhmann, SS S. 648, vgl. u.a. auch eb. S. 58.) 154 Ich stütze meine Darstellung der Position Maturanas vor allem auf folgende Publi­ kationen: Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985; H. Maturana/F. Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern/München/Wien 1987 und H. Maturana, The Biological Foundations of Self-Consciousness and the Physical Domain of Existence, in: Luhmann/Maturana/Namiki/Redder/Varela, Beobachter - Konvergenz der Erkenntnistheorien? München 1990, S. 47­ 117, jetzt auch in deutscher Übersetzung: Ontologie des Beobachtens. Die biologischen Grundlagen des Selbst-Bewußtseins und des physikalischen Bereichs der Existenz, in: H. Maturana, Biologie der Realität, Frankfurt/Main 1998, S. 145-225. 155 Vgl. Luhmann, Talcott Parsons - Zur Zukunft eines Theorieprogramms, a.a.O., S. 12 f. 156 Vgl. Y. J. Lettvin, H. R. Maturana, W. S. Mc Culloch and W. H. Pitts, What the Frog's ^

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einer umfassenden Biologie der Erkenntnis.157 Sie ist in Verbindung mit verwandten kognitionspsychologischen Ansätzen unter dem Eti­ kett »Radikaler Konstruktivismus« zu bemerkenswerter Popularität gelangt158 und will dem heute wohl unumgänglichen Eingeständnis ausdrücklich Rechnung tragen, daß wir, die wir unter anderem über biologisches Wissen verfügen oder uns solches doch wenigstens an­ eignen können, wenn wir wollen, selber primär biologische Wesen sind. Wissenschaftliches Erkennen, so scheint daraus zwingend zu folgen, ist eine spezifische Verhaltensweise komplexer biologischer Organismen, die geordnet miteinander interagieren und ein gemein­ sames Symbolsystem ausgebildet haben. Wer die Bedingungen der Möglichkeit wie die Grenzen menschlicher Erkenntnis bestimmen möchte, müsse daher untersuchen, welche Rolle diese Fähigkeit bzw. Leistung im Rahmen der basalen Selbsterhaltung der entsprechend ausgerüsteten organischen Systeme spiele. Dieser Aufgabe, eine na­ turalistische Erklärung menschlicher Kognitionsleistungen zu lie­ fern, versucht Maturana mit seiner terminologisch äußerst aufwen­ digen Theorie autopoietischer Systeme gerecht zu werden.159 Es kann hier nicht meine Pflicht sein, diesem Programm aus­ führlich nachzugehen, seine Verheißungen Wort für Wort zu prüfen und die Fallen minutiös zu analysieren, in die man tappt, wenn man ihm zu folgen bereit ist. Ich muß auch darauf verzichten, den idiosynkratischen Ansatz Maturanas detailliert ins rechte Verhältnis zu konkurrierenden Unternehmungen naturalistischer wie anti-natura­ listischer Erkenntnistheorie zu setzen.160 Das Augenmerk ist viel­ Eye Teils the Frog's Brain , Reprint in G. L. Shaw/G. Palm, Brain Theory, Singapore 1988, S. 271-282. 157 Vgl. Maturana, Erkennen ..., a.a.O., S. 15. 158 Zur überaus regen interdisziplinären Diskussion der Erkenntnistheorie Maturanas vgl. u.a. Fischer, Hans Rudi (Hrsg.), Autopoiesis - Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik, Heidelberg 1991; Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig, Materialien der Kommunikation, Frankfurt/Main 1992; Riegas, Volker/Vetter, Christian (Hrsg.), Zur Biologie der Kognition, Frankfurt/Main 1990; Rusch, Gerhard/Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.), Konstruktivismus und Sozialtheorie, Frankfurt/Main 1993; und vor allem Ziemke, Axel, System und Subjekt, Braunschweig/Wiesbaden 1992. 159 Vgl. zum selben Thema auch meinen Aufsatz Autopoiese und Autonomie, Zu eini­ gen erkenntnistheoretischen und ethischen Mutmaßungen Humberto Maturanas, in: G. Gamm/G. Kimmerle (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft, Tübingen 1991. 160 Zu denken wäre dabei auch an Quines empiristischen Aufruf zur Naturalisierung der Erkenntnistheorie (vgl. ders., Naturalisierte Erkenntnistheorie, in: ders., Ontologi­ sche Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, S. 97-126), insbesondere jedoch an verwandte konstruktivistische Positionen wie die von Ernst von Glasersfeld (Wissen, 228

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mehr auf nur zwei grundsätzliche Aspekte dieser Theorie zu richten, die Luhmann in seiner Konzeption sozialer Systeme weiterverarheitet hat. Es handelt sich um den Topos der geschlossenen Operations­ weise autopoietischer Systeme und die daran angelehnte Vorstel­ lung, Erkennen hestehe nicht im Ahhilden einer vorgegehenen Welt von Tatsachen, sondern in der Konstruktion einer Wirklichkeit, die, solange sie gelingt, dem erkennenden System die Fortsetzung seiner Operationen, also das Üherlehen, ermöglicht. Operationale Geschlossenheit Maturanas Konzeption autopoietischer Systeme ist im Kern nichts anderes als ein Modell des lehenden Organismus. Wenngleich der chilenische Neurohiologe sich nicht zu dieser Tradition hekennt, so läßt sich seine Theorie wissenschaftsgeschichtlich doch als termi­ nologische Renovierung und erkenntnistheoretische Ausweitung der sogenannten organismischen Biologie einordnen, die Ludwig von Bertalanffy hereits Anfang der 30er Jahre entwickelt und nach dem Zweiten Weltkrieg selher zu einer »Allgemeinen Systemtheo­ rie«161 ausgehaut hat. In einer Reihe von Aufsätzen aus den späten Zwanziger Jahren sowie im ersten Band seiner »Theoretischen Bio­ logie« hezieht Bertalanffy zunächst entschieden Position im damals noch nachhaltig schwelenden Streit zwischen Vitalisten und Mechanizisten.162 Beiden Seiten wirft er vor, den spezifisch hiologischen Phänomenen nicht gerecht zu werden, sondern sie auf psychologi­ sche hzw. physikalische Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren. Ange­ sichts dieser irreführenden Alternative heschreitet Bertalanffy einen dritten Weg. Einerseits verwirft er den Begriff der Zweckmäßigkeit Sprache und Wirklichkeit - Arheiten zum radikalen Konstruktivismus, Braunschweig/ Wieshaden 1987), Heinz von Foerster (Sicht und Einsicht, Braunschweig/Wieshaden 1985), Gerhard Roth (Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/Main 1994), aher auch an einschlägige Darlegungen der »realistischen« Sicht der Evolutionären Erkennt­ nistheorie, wie sie von Konrad Lorenz (Die Rückseite des Spiegels, München 1977) und Rupert Riedl (Biologie der Erkenntnis, München 1988) hegründet wurde und heute vor allem von Gerhard Vollmer (Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1994), aher heispielsweise auch Eve-Marie Engels (Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur Evolu­ tionären Erkenntnistheorie, Frankfurt/Main 1989) vertreten wird. 161 Vgl. Ludwig v. Bertalanffy, General Systems Theory, New York 1968. 162 Vgl. Astrid Schwarz, Aus Gestalten werden Systeme: Frühe Systemtheorie in der Biologie, in. K. Mathes/B. Breckling/ K. Ekschmitt (Hg.), Systemtheorie in der Ökolo­ gie, Landsherg 1996. ^

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als einen in der Biologie untauglichen Anthropomorphismus. Die wirklichen Ordnungsgesetze des Lebendigen müßten sehr wohl im räumlich-zeitlich ausgebreiteten Kausalgefüge natürlicher Prozesse auffindbar sein. Sie könnten andererseits jedoch nicht umstandslos mit den bekannten Gesetzen identifiziert werden, denen physiko­ chemische Abläufe nun einmal nicht nur in lebenden Systemen ge­ horchen, sondern auch in abiotischen Zusammenhängen. Allererst der, wie Bertalanffy betont, sehr wohl »ganzheitliche« Blick auf den Organismus erfasse die besondere Leistung, die ein lebendes System erbringt. Es ist die Erhaltung seiner spezifischen Organisation im permanenten Stoff- und Energieaustausch mit seiner Umwelt. Im lebenden System sei die Vielzahl gewöhnlicher physiko-chemischer Teilprozesse in charakteristischer Weise hierarchisch geordnet und dem Systemgesetz der Selbsterhaltung unterworfen. Auch Maturana weist alle Mystifizierungen des Lebendigen zu­ nächst entschieden zurück. Er erklärt Organismen zu kausalen Me­ chanismen, die aus Molekülen bestehen und ihre Funktionsweise der Wechselwirkung gewöhnlicher physiko-chemischer Prozesse ver­ danken. Lebende Systeme mögen ihm zufolge zwar große Komplexi­ tät aufweisen, sind aber prinzipiell naturwissenschaftlich zu ent­ schlüsseln, und das heißt für Maturana wie schon für Kant: nach einer verbindlichen Regel technisch zu reproduzieren163, ohne den prekären Rückgriff auf teleologische Kategorien beziehungsweise 163 Nur soviel, so resümiert Kant nämlich im teleologischen Teil der »Kritik der Urteils­ kraft« sehe »man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen« könne. Daher sei »das Studium der Natur nach ihrem Mechanism an demje­ nigen festzuhalten, was wir unserer Beobachtung oder den Experimenten so unterwer­ fen können, daß wir es gleich der Natur, wenigstens der Ähnlichkeit der Gesetze nach, selbst hervorbringen könnten«. (Kant, Kritik der Urteilskraft, §68, Hamburg 1968, S. 248.) Im Gegensatz zu Maturana war Kant aber bekanntlich der Ansicht, das sich die spezielle Formvollendung und Organisationsweise lebendiger Organismen einer Erklä­ rung nach ausschließlich mechanischen Gesetzmäßigkeiten widersetzen. Es sei »für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.« (Kant, ebenda, §75, a.a.O., S. 265.) Die moderne Biologie hat Kant in diesem Punkt widerlegt. So begrenzt ihr Wissen auch immer noch sein mag und so groß nach wie vor die Versuchung, mit teleologischen Gesichtspunkten zu liebäugeln und ihnen nicht nur einen heuristischen Status zuzuschreiben, die moderne biologische Forschung ist in allen Sparten, in denen sie über die bloß deskriptive Erfassung von Erscheinungen des Lebendigen hinausgelangt ist, de facto ein Unternehmen, das auf die ungebrochene Lei­ 230

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die mehr oder weniger verdeckte Zuschreibung intentionaler oder überhaupt irgendwie bedeutungsvoller Zustände zu erfordern.164 Mechanistische Zusammenhänge dieser Art bezeichnet Maturana als Maschinen. Es mag sein, daß es vor allem der Aspekt ihrer technisch-experimentellen Reproduzierbarkeit ist, der ihn zu dieser Wortwahl verführt hat. Man wird sie allerdings für etwas un­ glücklich halten dürfen, denn Maschinen sind ja in aller Regel Arte­ fakte, die bestimmten menschlichen Zweckvorgaben dienen. Ihre Konstruktionsanweisung entspringt also gerade einem intentionalen Verwendungszusammenhang. Weil sie, solange sie wunschgemäß funktionieren, etwas anderes herzustellen pflegen als sich selbst, eine Waschmaschine etwa saubere Wäsche und ein Computer übersicht­ liche Texte, spricht Maturana von ihnen als »allopoietischen« oder »heteropoietischen« Maschinen. Lebende Systeme dagegen verdan­ ken sich nach heutigem Stand des Wissens nicht der absichtsvollen Herstellung durch einen intelligenten Konstrukteur. Und wenngleich sie mancherlei Müll und andere Stoffwechselendprodukte in der Welt hinterlassen mögen, so ist ihr allein notwendiges und hinrei­ chendes Merkmal dennoch, daß sie sich permanent selbst (repro­ duzieren. Organismen haben nun einmal nur solange Bestand, wie es ihnen gelingt, ihre spezifische Organisation im Wechsel der fort­ laufend selbsterzeugten strukturellen Elemente und dynamischen Prozesse, die sie jeweils aktualisieren, zu erhalten. Deswegen kenn­ zeichnet Maturana lebende Systeme als »autopoietische«165 Maschi­ nen. Zwei Momente sind es im wesentlichen, durch die sich diese Bestimmung der autopoietischen Organisation von anderen heute geläufigen Definitionen des Lebendigen unterscheidet. Zum einen ist es in Maturanas Sicht sekundär, ob sich eine derartige Einheit er­

stungskraft der Phänomenerklärung durch kausal-mechanistische Gesetzlichkeiten ver­ traut. 164 Vgl. u.a. Maturana, Erkennen a.a.O., u.a. S. 15, S. 199, S. 217f. 165 Die Wörter »autopoietisch« und »Autopoiese« sind terminologische Prägungen Ma­ turanas. Sie verdanken sich einer Rückübersetzung des Begriffs der »Selbstherstellung« ins Griechische. Es ist daher nur nebenher anzumerken, daß der Terminus auch in Pla­ tons Dialogen gelegentlich vorkommt. So bezeichnet Platon beispielsweise im Sophistes, 266 a, die wahrhaft herstellende Kunst der Götter wie der Menschen im Gegensatz zu den bloß nachbildenden Technai, über die beide verfügen, als »ahtortoi^tixov«. Das Wort meint hier »Herstellung von etwas anderem im eigentlichen Sinne«, nicht »Her­ stellung einer Entität durch sich selbst«. ^

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folgreich fortpflanzt oder nicht.166 167 Es müsse ihr nämlich in jedem Fall gelingen, sich zuvörderst selbst zu erhalten. Sodann und vor allem jedoch liegt dem biologischen Erkenntnistheoretiker daran, das un­ bestrittene Phänomen der organismischen Selbstreproduktion als »operationale Geschlossenheit« zu beschreiben. Das mag zunächst verwundern und hat auch schon zu hartnäckigen Verständnis­ schwierigkeiten geführt. Man muß sich indessen nur klar machen, was mit diesem Terminus wirklich gemeint ist, um ihn als Bezeich­ nung für eine vergleichsweise unumstrittene biologische Gegeben­ heit zu durchschauen. Offenheit, und zwar thermodynamische, und Geschlossenheit, ihres Zeichens operationale, widersprechen einan­ der nämlich keineswegs. Im Gegenteil: Lebende Organismen zeich­ nen sich geradezu durch die Kombination beider Prinzipien aus. Denn sie überleben nur, solange sie Stoffe aus ihrer Umgebung auf­ nehmen und diese zugleich nach Maßgabe ihrer internen Organisa­ tion verarbeiten und umwandeln. Die allgemein akzeptierte Tatsache, daß Lebewesen die innere Ordnung ihrer reproduktiven Prozesse bei ständigem Materie- und Energiefluß aufrechterhalten, hat Ludwig v. Bertalanffy überzeu­ gend als »Fließgleichgewicht« beschrieben. »Ein lebender Organis­ mus ist«, so definiert er, »ein in hierarchischer Ordnung organisier­ tes System von einer großen Anzahl verschiedener Teile, in welchem eine große Anzahl von Prozessen so geordnet ist, daß durch deren stete gegenseitige Beziehung innerhalb weiter Grenzen bei stetem Wechsel der das System aufbauenden Stoffe und Energien selbst wie auch bei durch äußere Einflüsse bedingten Störungen das Sy­ stem in dem ihm eigenen Zustand gewahrt bleibt oder hergestellt wird oder diese Prozesse zur Erzeugung ähnlicher Systeme füh­ ren.»167 Operationale Geschlossenheit ist nur ein anderer Terminus für diesen wohlbekannten Sachverhalt. Er besagt nichts anderes, als daß es die immanenten Eigengesetzlichkeiten eines lebenden Sy­ stems seien, die seinen Stoffwechsel, seine Entwicklungsdynamik und sein aktuelles Verhalten determinieren. Es ist also die Beschaf­ fenheit des Organismus, die darüber entscheidet, was als Umweltreiz überhaupt auf Resonanz im System stoßen kann und festlegt, welche

166 Vgl. Maturana, Erkennen a.a.O., S. 157. 167 L. v. Bertalanffy, Theoretische Biologie I, Berlin 1932, S. 80; vgl. auch Bertalanffy/ Beier/Laue, Biophysik des Fließgleichgewichts, Braunschweig 1977. 232

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Störgrößen in welcher Weise verarheithar sind hzw. unausweichlich destruktiv und zuletzt tödlich wirken müssen. In seiner erkenntnistheoretischen Zuspitzung handelt es sich hei dem Theorem von der »autopoietischen Geschlossenheit« daher nicht um ein solipsistisches Credo, sondern um eine dezidiert antihehavioristische Einsicht. Sie akzentuiert, daß die Interaktionen lehender Systeme mit ihrer Umwelt wesentlich durch die je gegehene Struktur des Systems hestimmt werden und nicht primär von den unüherschauharen ohjektiven Gegehenheiten des Milieus ahhängen können. Ein hiotisches System hildet demzufolge auch durch seine kognitiven Leistungen keine an sich vorhandene, in sich ohjektiv hestimmte Außenwelt passiv ah, sondern konstruiert sich seine je­ eigene umwelthafte Wirklichkeit. Die »Strukturdeterminanz«, die autopoietisch geschlossene Sy­ steme aufweisen, ist nicht einmal das Privileg lehender Organismen. Maturana räumt jedenfalls ein, daß alle üherhaupt experimentell zu­ gänglichen ohjektiven Phänomene in gewisser Weise strukturde­ terminiert sein müssen.168 Daß Kochsalz sich heispielsweise in Was­ ser löst, läßt sich in diesem Sinne wesentlich auf die Struktur des Kochsalzes zurückführen. Jede in kontrollierten Wechselwirkungen experimentell ohjektivierhare Eigenschaft eines Gegenstands oder Systems ist also als »strukturdeterminiert« aufzufassen, insofern sie ehen nicht hloß eine Art Verschmutzung darstellt, eine hloß zufällige und vermeidhare Zugahe von außen, die irregulären Bedingungen geschuldet ist. Gähe es diese Strukturdeterminanz nicht, so wäre ex­ perimentelle Wissenschaft ein völlig illusionäres Unterfangen. Wir hätten es als Erkennende immer nur mit unseren eigenen Artefakten zu tun, aus deren Auftreten keinerlei Rückschlüsse auf die ohjektiven Eigenschaften des jeweiligen Untersuchungsgegenstands gezogen werden könnten. Für lehende Systeme ist jedoch darüher hinaus charakteristisch, daß sie ihre operationale Organisation, die Strukturdeterminanz zeigt, aktiv gegen ein intern festgelegtes Spektrum möglicher Stör­ größen aufrecht erhalten. Diese Leistung glauht Maturana »Auto­ nomie« nennen zu dürfen. Mit diesem Ehrennamen wird hier jedoch nicht etwas ausgezeichnet, das der uns lehensweltlich vertrauten Er­ fahrung der Handlungsfreiheit oder gar dem von Kant geprägten philosophischen Begriff der Autonomie im Ernst nahekäme. Wenn 168 Vgl. inshesondere Maturana, The Biological Foundations

a.a.O., S. 61ff. ^

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man Maturanas Beschreibung folgt, dann sieht sich ein autopoietisches System nämlich durchaus nicht, wie menschliche Subjekte doch alltäglich, in Entscheidungskonflikte gestellt. Ihm scheinen prinzipiell keine alternativen Handlungsmöglichkeiten offenzuste­ hen, zwischen denen es schwanken, die es aus dieser oder jener Laune heraus ablehnen, im Bewußtsein drohender Sanktionen widerwillig ergreifen oder sich gar in praktischer Selbstgesetzgebung achtungs­ voll zur Pflicht machen könnte. Autopoietische Systeme sind als de­ terministische Systeme konzipiert, die keinerlei Kontingenz kennen. Stur gehorchen sie ihrer mechanistischen Eigengesetzlichkeit, die sich allein darin zeigt, daß sie »alle ihre Veränderungen der Erhal­ tung ihrer eigenen Organisation«169 unterwerfen. Unterschiedliche Außenreize sind im Rahmen dieses inneren Determinismus, der mit dem Terminus »operationale Geschlossenheit« weit einfühlsamer be­ zeichnet ist als mit dem spekulativen Prädikat der Autonomie, also keineswegs völlig belanglos. Sie sollen immerhin die Macht haben, strukturdeterminierte Zustandsveränderungen auszulösen und so aus der durch die eigentümliche Organisation des Systems festgeleg­ ten Menge überhaupt möglicher Veränderungen auszuwählen oder die Fortsetzung der Autopoiese vollständig zu unterbinden. Ein autopoietisches System lebt immer in derartigen strukturel­ len Koppelungen mit seiner Umwelt. Wenngleich es sich fortwäh­ rend in Veränderung befindet, in permanenter »struktureller Drift«, wie Maturana diesen Wandlungsprozeß nennt, so soll sich doch sein je aktueller Zustand von (infinitesimalem) Moment zu Moment ganz zwangsläufig aus seiner eindimensionalen kausalen Verzahnung mit dieser Umwelt ergeben. Maturana scheut sich, nach anfänglichem Zögern, inzwischen nicht mehr, diese unvermeidliche strukturelle Kopplung von System und Milieu auch mit dem Begriff »Anpas­ sung«170 zu belegen. Er insistiert allerdings weiterhin darauf, daß dieser hier nicht im Sinne der Evolutionären Erkenntnistheorie zu verstehen sei. Die Anpassung durch strukturelle Koppelung stellt zwar auch in der Sicht Maturanas eine biologisch fundierte kognitive Leistung dar, sie wird aber nicht abbildrealistisch, sondern exklusiv erhaltungsfunktionalistisch gedeutet. Die Schwimmbewegungen eines Fisches, sein gesamter Körperbau scheinen in gewisser Weise den Eigenschaften des Mediums »Wasser« zu entsprechen, objektive 169 Maturana, Erkennen a.a.O., S. 186; vgl. auch ebenda S. 159, S. 180. 170 Vgl. Maturana, The Biological Foundations ..., a.a.O., S. 64. 234

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Eigenschaften des Mediums ahzuhilden, mit dem dieses besondere autopoietische System Fisch strukturell verkoppelt ist. Ein guter Teil der modernen biologischen Forschung verdankt sich im übrigen einer entsprechenden »evolutionsökologischen« Heuristik. Doch Maturana warnt nachdrücklich davor, den offenkundigen Überlebens-Erfolg oder -Mißerfolg eines Individuums, einer Population oder eines spe­ zifischen Typus autopoietischer Organisation mit ihrer größeren bzw. mangelhaften passiven Annäherung an die scheinbar objektiv gegebene Realität erklären zu wollen. Auch die Existenz eines funktionierenden Nervensystems än­ dert ihm zufolge nichts daran, daß Lebewesen prinzipiell in keinerlei Abbildrelation zu ihrer Lebenswelt stehen. Denn auch das neuronale Netzwerk eines Organismus stelle für sich betrachtet nichts anderes dar als ein operational in sich geschlossenes System, das nicht einmal zwischen innen und außen zu unterscheiden wisse.171 Betrachtet die erfolgreiche neurobiologische Forschung Gehirne denn aber nicht zu Recht als informationsverarbeitende Maschinen, die nicht zuletzt verläßliche Repräsentationen der Außenwelt des Organismus auf­ bauen? Versetzen wir uns, um diese Frage einer Beantwortung zu­ zuführen, doch einfach einmal an der Seite Maturanas in ein funk­ tionierendes Nervensystem, und machen wir die Probe aufs Exempel. Auf unserem Weg durch das dichte Gewirr der Nervenzellen regi­ strieren wir nun in der Tat, daß ein arbeitsfähiges Neuronennetz eine ganz eigenartige geschlossene Gesellschaft bildet. Nirgendwo finden sich raffinierte Spiegel, auf denen naturgetreue Repräsentationen der Dinge draußen sichtbar werden. Hier gibt es außerdem niemanden, der diese Repräsentationen betrachten und interpretieren könnte. Kein identifizierbares Subjekt, nach Art des sprichwörtlichen kleinen Manns im Ohr, ist auffindbar, das Informationen aufnehmen, mit­ einander vergleichen, verallgemeinern und bewerten könnte, ge­ schweige denn Erwartungen formulieren würde, Handlungen planen und wohlgeformte symbolische Anweisungen an geeignete Aus­ führungsorgane erteilen. Hier generiert vielmehr ein neuronales Er­ 171 Strenggenommen aber wohl kein autopoietisches, denn es stellt die Elemente, aus denen es besteht, die Nervenzellen, nicht selbst her. Das wendet meines Erachtens zu Recht Gerhard Roth gegen Maturana ein. Vgl. G. Roth, Selbstorganisation - Selbst­ erhaltung - Selbstrefentialität: Prinzipien der Organisation der Lebewesen und ihre Folgen für die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt, in: A. Dress/H. Hendrichs/G. Küppers (Hrsg.), Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, München/Zürich 1986, S. 149-180, dies S. 157. ^

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regungsmuster nach mechanistischen Gesetzen das nächste, jeden­ falls solange es nicht zu einem Nervennetzzusammenhruch kommt. Das Nervensystem erweitert in dieser Sicht also bloß den Be­ reich möglicher innerer Zustände, die ein autopoietisches System annehmen kann, weil sich mit der Steigerung der Anzahl von Ele­ menten und Prozessen, die zu einem System gehören, natürlich auch mehr Möglichkeiten ergeben, diese zu kombinieren. Außerdem muß sich auf diese Weise auch der Bereich möglicher struktureller Koppe­ lungen an das Medium oder andere unabhängige Systeme auto­ matisch vergrößern. An dem kausalgesetzlichen Charakter der Ver­ zahnung von System und Umwelt aber ändert diese zunehmende Komplexität offenkundig erst einmal nichts. Daß die Ausstattung des Menschen mit einem bestimmten Kategorienapparat beispiels­ weise als Ergebnis evolutionärer Selektion in solchen strukturellen Koppelungen aufgefaßt werden kann, ist unter der Voraussetzung der prinzipiellen selbstreferentiellen Geschlossenheit lebender Sy­ steme folglich kein Indiz für die bewährte Realitätsgerechtigkeit die­ ses biologischen Apriori, sondern nur ein Beweis für seine bisherige Nützlichkeit im Rahmen der organischen Autopoiese menschlicher Individuen. Empirische Evidenzen Maturana glaubt also empirische Evidenzen biologischer wie neurobiologischer Machart für einen erkenntnistheoretischen Perspekti­ vismus und Relativismus vorweisen zu können, den er selber »radi­ kalen Konstruktivismus« nennt. Ihm zufolge sind menschliches wie tierisches Erkennen Aspekte struktureller Koppelung, auf die sich keinerlei Anspruch auf objektive Wahrheit gründen kann. Kognitive Leistungen bestünden faktisch in senso-motorischen Korrelationen, die nach systeminternen Kriterien relativ konstant gehalten würden. Sie seien daher nichts anderes als Konstruktionen, die der erfolgrei­ chen Autopoiese eines Organismus dienten, ohne irgendwelche Auf­ schlüsse über eine davon unabhängige Wirklichkeit geben zu können. Spätestens an dieser Stelle aber läßt sich wohl die Frage nicht länger unterdrücken, welcher epistemologische Status eigent­ lich der naturalistischen Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruk­ tivismus selber zukommt. Läßt sich eine derartige Position über­ haupt kohärent vertreten? Beansprucht sie nicht, die biologischen Tatsachen intersubjektiv verbindlich und objektiv richtig zu erfassen, 236

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aus denen sie die prinzipielle Beschränktheit allen unseren Erkennens glaubt folgern zu müssen? Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen, möchte ich zunächst einige kritische Anmerkungen zu den empirischen Be­ legen machen, auf die Maturana seine Sichtweise stützt. Er und mit ihm seine überzeugten Mitstreiter halten das Nervensystem nämlich aus einem allzu einfachen Grund für ein kognitiv geschlossenes Sy­ stem. Er trägt den Namen »unspezifische Codierung«. Gemeint ist damit, daß es in Gehirnen, welcher Species auch immer, nur eine Kategorie von Ereignissen gebe, chemo-elektrische Signale, die scheinbar keinen Unterschied zwischen sinnesspezifischen Wahrneh­ mungen und unterschiedlichen Empfindungsqualitäten machen. Ge­ rüche, Töne, Stöße, Gedanken, Visionen, Schmerzen, was immer neuronale Erregungsmuster in realistischer Perspektive repräsentie­ ren sollen, scheinen sich in der einheitlichen Sprache der Neuronen also gar nicht voneinander zu unterscheiden. In der Tat ist es für die neurobiologische Forschung bis heute ein unlösbares Rätsel172, wie neuronale Gegebenheiten eigentlich in die unterschiedlichen Emp­ findungsqualitäten und dezidierten Wahrnehmungen umgesetzt werden, mit denen wir alle introspektiv vertraut sind. Eines aber kann die psycho-physische Korrelationsforschung durchaus zeigen: daß es im Gehirn sehr wohl eine reizspezifische Form der Codierung gibt, nämlich eine topologische. Natürlich ist sie störanfällig. Als Lichtreiz beispielsweise werden nicht nur Photonen erlebt, die von den Rezeptoren der Netzhaut erfaßt werden, sondern auch Schläge, die das Auge treffen und elektrische Stimulationen, die an einer nachgeschalteten Stelle der optischen Bahnen vorgenommen wer­ den.173 Die topologische Codierung von Sinnesreizen unterläuft also die These von der völligen informationellen Geschlossenheit des Ner­ vensystems. Sie widerspricht dem Radikalen Konstruktivismus, in­ dem sie eine kleine realistische Korrektur nahelegt. Die neurobiologisch erfaßbare Arbeitsweise funktionierender Gehirne zeigt in erkenntnisrealistischer Perspektive nämlich bemerkenswerte Eigen­ schaften, die zumindest mit dem simplen empiristischen Vorurteil, 172 Ich vermute übrigens, das wird auch in Zukunft so bleiben. 173 Jedenfalls operiert die »Berührungsfläche des Nervensystems mit der Außenwelt« keineswegs »ganz reizunspezifisch«, wie auch Luhmann im Gefolge Maturanas glaubt. Siehe Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, a.a.O. S. 522, Anm. 86. ^

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unsere realitätsgerechten Vorstellungen schrieben sich proportional zu den je aufgenommenen Eindrücken in die tabula rasa ein, die der Erkennende anfangs darstelle, nicht vereinbar sind. Offenkundig spielen programmatische Erwartungen und aktive Leistungen selbst im elementaren Wahrnehmungsgeschehen eine große Rolle.174 Es ist im übrigen genau dieses empiristische Vorurteil, das Maturana dem in der heutigen Neurobiologie ubiquitären informations­ theoretischen Ansatz unterstellt, um ihn vehement zu befehden. Mir ist allerdings nicht recht verständlich, wie der Begründer des Radika­ len Konstruktivismus zu dieser groben Verzeichnung einer Position kommt, die seine frühen Forschungen noch ganz selbstverständlich bestimmt hatte. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, daß die neurobiologische Applikation informationstheoretischer Kategorien zumindest implizit die Anerkennung dessen bedeutet, was Maturana zu Recht, doch nur scheinbar originell und in irriger Opposition ge­ gen jede Input-Output-Analyse als die konstruktive Leistung opera­ tional geschlossener Nervensysteme herausstellt.175 Zugegeben, die komplexen Kontexte sind eher verwirrend, in denen der Begriff der Information heute geläufig Verwendung fin­ 174 Aktive Leistungen des Nervensystems, die sich beispielsweise in den gut untersuch­ ten sinnvollen Sinnestäuschungen zeigen, müssen im übrigen nicht im Sinne der Er­ kenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus interpretiert werden. Das gilt auch für Maturanas Paradebeispiel, die sogenannte »Größenkonstanz«. (Vgl. Maturana, Erken­ nen ..., a.a.O., S. 81-87.) Mit diesem Terminus wird der Sachverhalt bezeichnet, daß die bildliche Größe außenweltlicher Gegenstände in unserer Wahrnehmung konstant zu bleiben pflegt, obwohl sich das ihnen entsprechende Bild auf der Netzhaut und damit der elektrische Input für das Nervensystem nicht nur bei jeder Relativbewegung ver­ schiebt, sondern beispielsweise mit zunehmender Entfernung vom Gegenstand deutlich verkleinert. Dieser Mechanismus ist sicherlich ein Hinweis auf eine bemerkenswerte konstruktive Leistung des Nervensystems. Indessen hatte Erich von Holst in einem 1957 erschienenen Aufsatz über »Aktive Leistungen der menschlichen Gesichtswahr­ nehmung« (in: ders., Zentralnervensystem, München 1974, S. 84-112) keine Mühe, ihn in einem abbildrealistischen Rahmen nicht weniger schlüssig zu interpretieren als Maturana einige Jahre später in dezidiert anti-objektivistischer Perspektive. Dieses her­ meneutische Patt ist meines Erachtens ein Indiz dafür, daß über divergierende Voraus­ setzungen wissenschaftlicher Phänomeninterpretation, die von derart prinzipieller Bedeutung sind wie die Wahl eines objektivistischen oder eines radikal konstruktivisti­ schen Deutungsrahmens, eine experimentelle Entscheidung durch Wahrnehmungsevi­ denzen nicht erzwungen werden kann. 175 Es ist daher schlüssig, daß Luhmann von Maturana zwar das Grundkonzept autopooietischer Geschlossenheit übernimmt, nicht aber die Frontstellung gegen Modelle und Vokabular der Informationstheorie. Vgl. Luhmann, SS u.a. S. 102f., S. 194, S. 557, S. 624. 238

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det. Sehen wir vom alltagssprachliche Umgang einmal ah, ergibt sich immer noch eine ungeheure Bandbreite der fachwissenschaftlichen Verwendung des Terminus. Sie reicht von der molekularhiologischen Zuordnung von Proteinen zu Nukleinsäuren über neurohiologische Berechnungen von Kanalkapazitäten in Neuronennetzen his zu ma­ thematischen Theorien des quantenphysikalischen Meßprozesses.176 In allen diesen Fällen findet jedoch, mehr oder weniger modifiziert, das mathematische Konzept des Informationsgehalts Anwendung, das Shannon und Weaver in den 40er Jahren entwickelt haben.177 Bekanntlich hearheiteten sie das hegrenzte Prohlem, wie viele ver­ schiedene digitalisierte Nachrichten sich durch ein Telefonkahel schicken lassen, ohne daß man Nachrichtensalat anrichtet. Um die entsprechenden Kapazitäten von Ühertragungskanälen zu herechnen, erwies es sich als unumgänglich, den Informationsgehalt einer Nachricht quantitativ zu hestimmen. Er giht die Länge der kürzest­ möglichen Kodierung der zu ühermittelnden Nachrichten in Binär­ zeichen an und entspricht der Anzahl der Ja-/Nein-Antworten, die hei optimaler Fragestrategie zur Identifizierung eines Elements einer endlichen Menge möglicher Signale führt. Die Menge der Elemente und damit die genaue Anzahl der möglichen Alternativen sollte dahei Sender wie Empfänger hekannt sein.178 Diese Andeutungen mögen hereits genügen, um die These zu stützen, daß die Verwendung informationstheoretischer Kategorien nichts mit der von Maturana hartnäckig unterstellten einseitigen In­ struktion oder Determination eines heliehig hestimmharen Systems durch sein reizvolles Medium zu tun hat. Im Gegenteil: Ohwohl der quantitative Begriff des Informationsgehalts naturgemäß nichts üher den je situativen semantischen Gehalt aussagt, der einer Nachricht im Verständnis von Sender und Empfänger zukommen mag,179 setzt 176 Vgl. z.B. Eigen/Winkler, Das Spiel - Naturgesetze steuern den Zufall, München 1975; Louis Brillouin, Science And Information Theory, New York 1962. 177 Vgl. C. E. Shannon/W. Weaver, Die mathematische Theorie der Kommunikation, München/Wien 1976. 178 Vgl. zu diesem Thema den luziden Aufsatz von Günther Palm, Information und Entropie, in: H. Hesse (Hrsg.), Natur und Wissenschaft (Konkurshuch 14), Tühingen 1985, S. 95-109. 179 Sender und Empfänger können z. B. ein Klingelzeichen für den Fall vereinhart hahen, daß einer Lust hekommt, gemeinsam einen Kaffee zu trinken, oder auch für den Fall, daß Feuer ausgehrochen ist. Was auch immer indessen ein verahredetes Zeichen hedeuten mag, daß Verhalten des Adressaten wird durch die Ühermittlung einer Nachricht nicht kausal auf eine hestimmte Reaktion festgelegt. ^

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seine angemessene Verwendung eigentlich Interaktionen zwischen zwei Subjekten voraus, die eine gemeinsame Sprache sprechen. Inso­ fern überschreitet ein informationstheoretischer Ansatz tatsächlich allemal die Ebene strikt kausaler Wechselwirkungen, auf der Maturana seine autopoietischen Systeme ansiedelt. Ob sich jeder Anwen­ der informationstheoretischer Modellvorstellungen dieser Implikati­ on bewußt ist, kann ich hier offenlassen. Festhalten möchte ich dagegen, daß es letztlich wohl niemand anderes als der den Standards einer Scientific Community folgende wissenschaftliche Beobachter selbst sein kann, der sich in dieser System und Umwelt, Subjekt und Objekt in Wahrheit verbindenden Sprache bewegt und nur jene Ele­ mente und quantifzierbaren Unterscheidungen in der Analyse von Input-Output-Beziehungen oder der Korrelation von System- und Milieuzuständen wiederzufinden weiß, die ihm unter diesen per­ spektivischen Voraussetzungen der Konstruktion unserer Wirklich­ keit nun einmal zugänglich werden. Ein verkappter Realismus? Meine Überlegungen zu den epistemologischen Voraussetzungen, von denen die erfahrungswissenschaftliche Anwendung informa­ tionstheoretischer Modelle abhängt, sollten ebenso wie die voraus­ gehenden Hinweise auf den zweideutigen Status der empirischen Evidenzen, die Maturana, von skeptischen Anfechtungen unberührt, in Anspruch nimmt, Zweifel an der Schlüssigkeit seiner erkenntnis­ theoretischen Position wecken. Die zuletzt zur Diskussion gestellte Erwägung sieht indessen, zumindest auf den ersten Blick, einer Poin­ te des Radikalen Konstruktivismus zum Verwechseln ähnlich. Diese Pointe besteht in dem, was Maturana »logische Buchführung« nennt und gegen die geläufigen neurophysiologischen Theorien geltend zu machen versucht, die im neuronalen Geschehen im Gehirn nach zu­ verlässigen Repräsentationen der Gegebenheiten einer systemexter­ nen Realität suchen. Maturanas Aversion gegen die informationstheoretisch model­ lierte Analyse von Input-Output-Relationen des Nervensystems gip­ felt nämlich in der Warnung, die Konstruktionsleistungen wissen­ schaftlicher Beobachtung ja nicht für die operative Wirklichkeit zu halten, die für die selbstreferentiell geschlossenen Nervensysteme selber gegeben sei. Es ist allerdings nicht zu sehen, wie diese dezidiert abbildrealistische Aussage über die durch Beobachtung unverzerrte 240

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faktische Funktionsweise von Nervensystemen180 mit den erkennt­ nisrelativistischen Behauptungen, die sie stützen soll, überhaupt vereinbar sein könnte. Wenn es nämlich zutrifft, daß Erkennen die Realität nicht abbildet, sondern Erfahrung perspektivisch konstru­ iert, dann muß das auch für jene Aussagen gelten, die über die em­ pirischen Bedingungen des Erkennens und die Operationsweise autopoietischer Systeme gemacht werden. Maturanas empirischen Behauptungen über die operationale Geschlossenheit lebender Orga­ nismen und ihre strukturellen Koppelungen mit einer spezifischen Umwelt kann daher nicht im Ernst, wie anscheinend jedoch ins­ geheim beansprucht181, ein völlig anderer epistemologischer Status zukommen als informationstheoretischen Aussagen über die neuro­ nale Verarbeitung von Sinnesreizen zu verläßlichen Repräsentatio­ nen der Außenwelt. Beide Pole der Divergenz von strikt kausalge­ setzlich faßbarer sogenannter Systemperspektive einerseits und sogenannter Beobachterperspektive andererseits, in der auch von Be­ 180 Besonders schön greifbar wird dieser basale Objektivitätsanspruch, den Maturana mit seinen neurobiologischen Aussagen, jedenfalls zunächst, erhebt, im vorhin darge­ legten Begriff der Strukturdeterminanz. 181 Das hat auch H. J. Wendel richtig gesehen. Er setzt Maturanas Verfahren, das fak­ tisch auf den Versuch hinausläuft, eine metaphysische Option (gegen eine abbildreali­ stische Auffassung von Erkenntnis) als schlichte Frage der Empirie auszugeben und auf problematische empirische Evidenzen zu stützen, jedoch mit Kants ganz anders gelager­ tem transzendentallogischen Rückgang auf die intersubjektiv verbindlichen Bedingun­ gen bereits anerkannt allgemeingültiger Urteile gleich. (Vgl. H. J. Wendel, Moderner Relativismus - Zur Kritk antirealistischer Sichtweisen des Erkenntnisproblems, Tübin­ gen 1990, S. 226 ff.) Ich will gar nicht bestreiten, daß Kants Erkenntniskritik jede Menge Probleme birgt, in theoretischer Hinsicht nicht zuletzt die Schwierigkeit einer angemes­ senen oder auch der unmöglichen Vermittelbarkeit von transzendentaler Urteilslogik und empirischer Psychologie. Während jedoch Maturanas naturalistische Variante der Erkenntnistheorie, jedenfalls in ihrer anfänglichen Gestalt, in den Zirkel tappt, den Ob­ jektivitätsbezug wissenschaftlicher Urteile mittels wissenschaftlicher Urteile bestreiten zu wollen, die ebensolche objektive Gültigkeit beanspruchen, zeigt die transzenden­ talphilosophische Reflexion den performativen Widerspruch auf, in den wir uns bege­ ben, sobald wir beistimmte Urteile für unstrittig halten, ohne die Voraussetzungen ak­ zeptieren zu wollen, auf denen sie beruhen. Kant zeichnet also gerade nicht, wie Wendel unterstellt, mutwillig und im Sinne eines heute schlechterdings unvertretbaren Letz­ begründungsanspruchs bestimmte metaphysische Urteile vor anderen möglichen aus, sondern nützt die transzendentallogische Analyse neuzeitlicher Erfahrungswissen­ schaft, um ein vorbildliches Paradigma menschlichen Wissens aufzustellen, das im übri­ gen mit dem modernen Fallibilismus gut verträglich ist, und es gegen alle Versuchungen zu haltlosen Spekulationen (nämlich mit den Mitteln theoretischer Vernunft geführte Gottesbeweise, Unsterblichkeitsbeweise, Freiheitsbeweise), die den Bereich möglicher Erfahrung und damit empirischer Überprüfbarkeit überschreiten, abzugrenzen. ^

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deutungen, Intentionen, Repräsentationen und zweckgerichtetem Verhalten die Rede ist und sein darf, können nach konsequenter Maßgabe der konstruktivistischen Erkenntnistheorie nur den unter­ schiedlichen Konstruktionsleistungen der Beobachtenden geschuldet sein. Es mag dann immerhin der versiertere Beobachter sein, der es versteht, beide Blickwinkel abwechselnd einzunehmen. Jedenfalls aber verfügt Maturana über kein Kriterium, aus dem sich erschließen ließe, warum die eine Perspektive elementarer sein sollte als die an­ dere und quasi der Sache selbst gleichzusetzen. Die elementare »Systemperspektive«, die Maturana konstruiert, entspricht bezeichnenderweise gerade nicht der (vermittelten) Unmittelbarkeit unseres intuitiven Alltagsverständnisses, sondern stellt einen ausgeklügelten Gegen­ entwurf zu dessen, zugegeben naivem, Realismus dar. Der Kunstgriff neurobiologischer Verfremdung läßt sich schnappschußartig an dem eindrucksvol­ len Bild verdeutlichen, daß Maturana zur Veranschaulichung seiner These von der operationalen Geschlossenheit des basalen kognitiven Systems, also des Nervensystems, heranzieht.182 Folgen wir dem naturalistischen Erkennt­ nistheoretiker also noch einmal und stellen wir uns vor, jemand verbringe sein ganzes Leben als Steuermann in einem Unterseeboot, ohne es je zu ver­ lassen.183 Hier hinkt dieses Bild natürlich schon etwas, wie es sich für ein Bild gehört, weil es einen Steuermann in einem Nervensystem gar nicht geben soll. Aber es geht bei dieser Geschichte um einen anderen Punkt. Während wir als Beobachter nämlich beispielsweise auf einer Düne sitzen und verfol­ gen können, wie das Boot vorsichtig einen Kurs durch das Wattenmeer steu­ ert, hier einer Sandbank ausweicht, dort einem Krabbenkutter, und auf sei­ nem Weg zwei oder drei Seehunden begegnet, bis es schließlich im Hafen auftaucht, sind alle diese Phänomene im Boot selber überhaupt nicht wahr­ zunehmen. Der Steuermann hat nämlich nichts anderes vor Augen als die Zeigerausschläge und diverse andere Anzeigen seines Armaturenbrettes und nichts anderes in Händen als irgendwelche Hebel und Knöpfe, an denen er sich auch ausgiebig zu schaffen macht. Er hat also überhaupt keine Möglich­ keiten, an irgendwelchen externen Gegebenheiten zu überprüfen, was seine Instrumente anzeigen und welche objektiven Auswirkungen seine Handgrif­ fe zeitigen. Um das Boot erfolgreich zu steuern, muß er nur gewissenhaft darauf achten, daß bestimmte Relationen zwischen den unterschiedlichen Ar­ maturen konstant bleiben. Und wenn wider Erwarten doch auf einmal ein tödlicher Schlag den Bootskörper treffen und aufreißen sollte und ein Was­

182 Vgl. Maturana, Der Baum ..., a. a. O., S. 149 f., ein ähnlicher, viel knapperer, Hinweis findet sich auch in ders., Erkennen ., a. a. O., S. 51. 183 Ich variiere Maturanas Bild ein wenig, ohne seine Botschaft zu verändern, indem ich es mir vertrauten maritimen Gegebenheiten anpasse. 242

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serschwall seine Innereien ertränken und mit sich fortreißen, dann wäre eben irgend etwas gewaltig schief gelaufen, aber nun auch nicht mehr zu ändern. Obwohl unser Nervensystem es in der Weise dieses U-Bootes anschei­ nend nur mit seinen eigenen Erregungszuständen zu tun hat und es diese Zustände nie mit den Zuständen der Außenwelt vergleichen kann, durch die es den Organismus steuern mag, sondern seine Arbeitsweise einzig darin be­ steht, bestimmte senso-motorische Korrelationen einigermaßen konstant zu halten, glauben wir jedoch im allgemeinen, uns in einer wirklichen Welt zu bewegen, die in der Regel unseren Erwartungen und manchmal sogar unse­ ren Wünschen entspricht, uns aber auch lehrreiche Enttäuschungen bereiten kann und neue Erfahrungen aufzwingt. Im Großen und Ganzen, so scheint es uns zumindest, ist auf unsere Wahrnehmungen Verlaß. Natürlich gibt es Streitfälle, in denen wir uns mit anderen nicht darüber verständigen können, was gerade für uns sichtbar ist oder wohl noch häufiger, was gerade eben noch wahrnehmbar war. Die neuzeitliche Philosophiegeschichte kennt zwei prominente in ganz unterschiedliche Richtungen weisende Wege, die darum konkurrieren, einen solchen Dissens vielleicht doch einer verbindlichen Entscheidung zuzu­ führen. Die klassische experimentelle Methodologie empfiehlt, das Phäno­ men regelgerecht zu reproduzieren. Es versagt also von vorneherein bei Sin­ gularitäten und setzt in jedem Fall gemeinsame Standards der Beobachtung und Deutung von Phänomenen immer schon voraus. Vielleicht wollte die empiristische Erkenntnispsychologie etwa eines Hume auch diesem Problem Rechnung tragen, indem sie eine grundsätzliche Alternative empfahl. Sie glaubt nämlich, über die Triftigkeit von Wahrnehmungs- und Erfahrungs­ urteilen entscheiden zu können, indem sie die dort verknüpften Eindrücke oder Vorstellungen auf ihren Ursprungsort in der Psyche (wie heute im Ge­ hirn) zurückverfolgt. Wie Hume unter bitteren Klagen bekennen mußte, führt ein derartiges Programm naturalistischer Erkenntnistheorie fast zwangsläufig in einen Skeptizismus, der empfindlich an der prinzipiellen Möglichkeit von Wissenschaft nagt. Wenn wir unsere Urteile und Ideen nämlich im Sinne einer realistischen Kausaltheorie der Wahrnehmung auf ihren naturalen Ursprungsort zurückführen wollen, um sie im Lichte dieser Genealogie zu rechtfertigen oder zu verwerfen, müssen wir alsbald feststel­ len, daß es uns selbst gar nicht anders geht als den von Maturana beschriebe­ nen operational geschlossenen Nervensystemen. Auch wir können unsere Vorstellungen nie mit ihren fraglichen externen Verursachern vergleichen, die Wahrnehmungen einer Banane beispielsweise mit der Banane selbst, son­ dern nur mit anderen Sinneseindrücken, Erinnerungen, Erwartungen.184 Es ist also die Konstruktion dieser naturalistischen Erkenntnistheorien, ihr spe­ 184 Vgl. hierzu meinen Aufsatz Eindrücke und Ideen - Die Funktion der Wahrnehmung, in: J. Kulenkampff (Hrsg.), Klassiker auslegen: Humes »Untersuchung des mensch­ lichen Verstandes, Berlin 1997, S. 37-52. ^

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zieller objektivierender Zugriff, der uns allererst zu U-Booten macht, die von ihren Realitätskontakten nichts wissen können. Wenn wir unter diesen Vor­ aussetzungen an einer realistischen Interpretation unserer Wahrnehmungen festhalten wollen, müssen wir unterstellen, daß die interne Kohärenz ein ver­ läßliches Indiz für Realitätsgerechtigkeit ist. Beweisen aber läßt sich diese Annahme nicht. Daher läßt sich Maturanas Mutmaßung nicht widerlegen, daß unsere Urteile und Überzeugungen, wenn wir denn mit ihnen erfolgreich leben können, nichts anderes anzeigen, als daß wir erfolgreich mit ihnen le­ ben können, und auch das nur solange, wie wir erfolgreich mit ihnen leben können.

Aus der Trennung von angeblicher System- und offenkundiger Be­ obachterperspektive ergibt sich eine weitere Schwierigkeit. Als natu­ ralistische Erkenntnistheorie muß uns die Theorie autopoietischer Systeme versprechen, die uns selbstverständlich erscheinende Fähig­ keit, uns und andere zu beobachten und Urteile über solche Beobach­ tungen auszutauschen, aus der selbstreferentiell geschlossenen Funktionsweise unseres biologischen Organismus herleiten zu kön­ nen.185 Es gelingt ihr indessen nicht, uns den biologischen Stamm­ baum des Beobachters lückenlos vor Augen zu führen. An die Stelle 185 Daß Maturana, Varela und alle übrigen »radikalen Konstruktivisten«, deren Sug­ gestionen Luhmann in diesem Punkt folgt, den Terminus der Selbstreferentialität »in einer sehr merkwürdigen und irreführenden Weise« verwenden, hat H. J. Wendel ange­ merkt. Der Vorwurf stützt sich auf den korrekten Hinweis, daß die formale Semantik Selbstbezüglichkeit nur dann diagnostiziert, wenn der fragliche Term selber ein Element der Klasse von Extensionen ist, die er bezeichnet. Das treffe beispielsweise auf das Wort dreisilbig zu, nicht aber auf Akte, in denen sich das Gehirn auf seine eigenen Zustände beziehe, denn diese seien ja gerade nicht das Gehirn als Ganzes. (Vgl. H. J. Wendel, a. a. O., S. 193, Anmerkung 28.) Nun wird man sich gewiß fragen dürfen, ob denn über­ haupt je das Gehirn als Ganzes sich auf seine Teilzustände oder seine Teilzustände sich auf das räumlich-zeitliche Ganze, zu dem sie gehören, beziehen und wie sie das bewerk­ stelligen könnten. Wendels Argument trifft meines Erachtens jedoch gar nicht den kri­ tischen Punkt, an dem sich entscheiden muß, ob der konstruktivistische Versuch über­ zeugen kann, der Figur der Selbstreferenz ein naturalistisches Fundament zuzuweisen. Sollte unser je aktualisiertes Verständnis des Gehirns als eines Ganzen nämlich wie die geläufigen neurokognitivistischen Ansätze unterstellen, jeweils auf einen dieser Ge­ hirnzustände zurückzuführen sein, wäre es sehr wohl als ein Element der Klasse von Bedeutungen anzusehen, die es zum Ausdruck bringt. Maturana wie Luhmann spitzen den Terminus der Selbstreferenz allerdings nicht auf diesen überaus problematischen Schritt vom biologischen Funktionieren zum symbolischen Bezeichnen zu, sondern sie­ deln ihn bereits auf der Ebene elementarer systemischer Operationen an. Auf diese Weise wird, so vermute ich, ein einschneidender Kategorienwechsel in vergleichsweise harmlosen biologischen Aussagen versteckt. Denn was die Theorie autopoietischer Sy­ steme als selbstreferentielle Geschlossenheit von Nervensystemen bezeichnet, ist nichts 244

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des experimentellen Nachweises für den zwingenden Übergang von der autopoietischen Systemerhaltung zu den uns alltäglich vertrau­ ten semantisch verfaßten Formen der Weltorientierung, den der Bio­ loge uns seinem eigenen Verständnis von Naturwissenschaft nach eigentlich liefern müßte, treten allzu trockene Versicherungen und arbiträre Umbenennungsaktionen186, die immer schon voraussetzen, was angeblich genetisch erklärt werden soll: soziale Interaktionen, in denen wir nicht kausal aufeinander einwirken, sondern uns mit sym­ bolischen Mitteln aufeinander beziehen. Perspektivismus und Beobachtung Zweiter Ordnung Offenbar ist Maturana schließlich selber aufgefallen, daß die strikte logische Buchführung, die er zunächst als Ausweis gewissenhafter Wissenschaft betrachtet hat, in einer verkappten realistischen Meta­ physik der Erkenntnis wurzelt, die sich nicht mit der relativistischen Botschaft verträgt, die der biologische Konstruktivismus im selben Atemzug ausspricht. Er verzichtet jedenfalls inzwischen darauf, die empirischen Evidenzen, die er zur Untermauerung dieser Sicht glaubte anführen zu können, als schlechterdings zwingend anzuse­ hen und rät uns dazu, alle Objektivitätsansprüche ein für allemal einzuklammern, die wir mit wissenschaftlichen oder auch alltags­ weltlichen Behauptungen für gewöhnlich zu verbinden pflegen.187 Unter dieser Prämisse kann es dann keine wahren und falschen Ur­ anderes als der triviale Sachverhalt, daß im Gehirn prinzipiell gleichartige neuronale Zustände nach internen dynamischen Gesetzen ununterbrochen aufeinander folgen. 186 Vgl. dazu Maturana, insbesondere Erkennen ..., a.a.O., S. 221-223. Maturana be­ hauptet hier einfach, operational geschlossene autopoietische Systeme, die strukturell eng miteinander verkoppelt seien, erzeugten unter gewissen Bedingungen einen »konsensuellen Bereich«, der als »Sprachbereich« zu betrachten sei. (S. 222) Die Fähigkeit der Beobachtung und Selbstbeobachtung schließlich entwickle ein »autopoietisches Sy­ stem, das imstande ist, mit seinen eigenen Zuständen zu interagieren (wie etwa ein Organismus mit einem Nervensystem), und das außerdem imstande ist, mit anderen einen sprachlichen konsensuellen Bereich zu entwickeln«, daher »seine eigenen Sprachzustände als Ursachen von Deformationen verarbeiten« könne »und folglich sprachlich in einem geschlossenen Sprachbereich interagieren«. (S. 223.) Mit dem von Maturana selbst geprägten Bild resümiert: es bleibt rätselhaft, wie der U-Boot-Fahrer es auf ein­ mal fertigbringt, sein Gehäuse zu verlassen und den realistischen Blick zu teilen, den der vorausgesetzte Beobachter auf die Dinge zu werfen weiß. 187 Vgl. Maturana, The Biological Foundations ..., a.a.O., S. 115. Auch hierin ist ihm Varela gefolgt. Vgl. insbesondere Francisco J. Varela, Kognitionswissenschaft - Kogni­ tionstechnik, Frankfurt/Main 1990. ^

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teile mehr gehen und auch keine Theorien, die einer komplexen Rea­ lität alles in allem hesser gerecht werden als andere. Theorien können sich dann nur noch insofern hewähren, als sie sich im wissenschaft­ lichem Diskurs und der sozialen Lehenswelt hehaupten können oder ehen nicht. Wer immer diese Biologie der Erkenntnis kritisiert, hestätigt sie folglich ihrem eigenen Verständnis nach, weil er unver­ meidlicherweise dazu heiträgt, daß sie im Gerede hleiht. In dieser letzten Konsequenz hestimmt uns die hiologische Theorie autopoietischer Systeme also als operational geschlossene Entitäten, die unterschiedliche Konstruktionen der Wirklichkeiten, in denen sie lehen, entwerfen und individualdarwinistischen Pro­ zeduren der Bewährung aussetzen. Den Selhstwidersprüchen eines erkenntnistheoretischen Perspektivismus, der keine anderen Sicht­ weisen nehen der seinen dulden will, ist auf diese Weise in der Tat zu entrinnen. Guten Willens, aher ohne zureichendes argumentati­ ves Fundament preist Maturana diesen Schritt der Relativierung so­ gar als Garanten universeller Toleranz und friedvoller Harmonie.188 Denn Streit, so meint er, könne ja nur aufkommen, wenn wir heanspruchten, etwas Wahres üher eine Welt zu äußern, die wir mit an­ deren teilen.189 Warum aher, ist dagegen zu fragen, sollten wir den Blickwinkel eines anderen, seine individuelle Weltkonstruktion, sei­ nen Lehensentwurf üherhaupt respektieren, wenn wir doch unsere Konstruktion erfolgreich hehaupten könnten, indem wir seine phy­ sisch aus der Welt räumten? Ist es nicht doch der Begriff der von einem jeden angezielten Sache selhst, in dessen Licht eine Sichtweise üherhaupt als gleichrangige Perspektive nehen möglichen anderen kenntlich ist? In dieser letzten und, dem ehen henannten Prohlem eines moralisch guten Perspektivismus zum Trotz, konsequentesten Variante als lehensweltlicher Pragmatismus, der jedem ohjektiven Wahrheitsanspruch entsagt hat, kommt der radikale Konstruktivismus Maturanas also entgegen dem Vorwurf Wen-

188 Autopoietische Systeme gleichen den Leihniz'schen Monaden also nicht nur durch ihr Charakteristikum, keine Fenster zu hahen. Wenn sie sich zu ihrem leihgehundenen Perspektivismus hekennen, scheint es ihnen üherdies ehenso wie diesen vergönnt zu sein, in einer Art prästahilierter Harmonie zu lehen, ohwohl in Maturanas hiologischer Welt kein göttlicher Uhrmacher am Werk war, der die Bewegungen aller Individuen in unüherhietharer Vernünftigkeit vorhergesehen und aufeinander ahgestimmt hat. Vgl. G. W. Leihniz, Monadologie, in: ders., Kleine Schriften, Frankfurt/Main 1965, inshesondere S. 441 (7), S. 443 (11). 189 Vgl. Maturana, ehenda. 246

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dels, »ohne bestimmte, realistisch zu deutende Annahmen aus«190 und ent­ geht der »Aporie (...), sich nicht bestimmter absolut-metaphysischer Thesen enthalten zu können, die sein Programm jedoch gerade ausschließt«191. Es ist in der Tat eine instrumentalistische Auffassung von Erkenntnis, die nun end­ lich ohne jedes Wenn und Aber vertreten wird, und Wendel ist beizupflich­ ten, wenn er die konstruktivistische Theorie der Kognition aus diesem Grun­ de dem »modernen Relativismus«192 zuschlägt. Er irrt meines Erachtens dennoch in zwei Punkten, die unmittelbar mit dieser Diagnose zusammen­ hängen. Auch eine solche instrumentalistische Auffassung von Erkenntnis kennt nämlich durchaus Bewährung und Falsifikation.193 Letztere kann in diesem Rahmen im Unterschied zu ihrer methodologisch weit anspruchsvol­ leren Popper'schen Variante jedoch nicht als kontrollierter Schritt in einem unstrittigen Prozeß wissenschaftlichen Fortschritts fungieren, der in einer Art asymptotischer Annäherung unserer Erkenntnis an die objektive Wirk­ lichkeit bestehen soll. Das hat seinen Grund jedoch allein in dem Umstand, daß es im konstruktivistischen Blickwinkel keinerlei Äquivalent für Poppers Begriff des »Gehalts« einer Theorie geben kann. Zweitens scheint mir bemer­ kenswert, mit welchen Argumenten Wendel den Lesern seiner Habilitations­ schrift seine anti-konstruktivistische Option für einen kritisch-rationalisti­ schen Realismus schmackhaft machen will. Beide Positionen, so gesteht er nämlich ein, beruhten gleichermaßen auf metaphysischen Voraussetzungen. »lm Gegensatz zum Relativismus« sei »der Realismus eine sinnvolle Annah­ me, die es uns erlaubt, Erklärungen für die Möglichkeit von Erkenntnis zu finden«194. Einwände, die sich auf die Nicht-Begründbarkeit dieser Überzeu­ gung stützten, würden nur einen dogmatischen Standpunkt treffen können. Sie seien insofern hinfällig, als zugestanden sei, daß die Voraussetzung des Realismus nur »solange berechtigt« sei, wie »sie sich als fruchtbarer als ihre etwaigen Konkurrenten erweist«.195 Es ist jedoch gar nichts anderes als solche Konkurrenzfähigkeit, die auch der Konstruktivismus konsequenterweise zum letzten Bewährungskriterium kognitiver Leistungen, welcher Reichwei­ te und Komplexität auch immer, erhebt, sobald er sich von seinem Rest-Rea­ lismus verabschiedet und die Gestalt eines naturalistischen Pragmatismus angenommen hat.

Obwohl sich auch Luhmann mit Maturanas Vorschlag zur Auflösung der Paradoxien, in die ein erkenntnistheoretischer Perspektivismus zwangsläufig gerät, nicht zufrieden geben will, führen seine erkennt-190 191 192 190 191 192 193 194 195

H. J. Wendel, a.a.O., S. 184. H. J. Wendel, a.a.O., S. 218. H. J. Wendel, a.a.O., S. 202. Vgl. dagegen H. J. Wendel, a.a.O., S. 199ff. H. J. Wendel, a.a.O., S. 232. H. J. Wendel, a.a.O., S. 232. ^

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nistheoretischen Äußerungen nicht wesentlich über sie hinaus.196 197 198 Luhmann knüpft ausdrücklich an den Radikalen Konstruktivismus an, wenngleich er zunächst bemängelt, dieser habe »seine Hausauf­ gaben noch nicht zureichend erfüllt«197. In Anbetracht der langwie­ rigen traditionellen Debatte über erkenntnistheoretische Fragen genüge es nun einmal nicht, »sich gleichsam naiv zu stellen und einmal mehr nachzuweisen, daß sich keine Übereinstimmung von Erkenntnis und Wahrheit nachweisen läßt«.198 Nötig sei nicht nur eine genauere Analyse des Kognitionsvorgangs selbst.199 Geklärt werden müsse vielmehr, in welchen Hinsichten es keine Überein­ stimmung oder Entsprechung von interner Konstruktion und exter­ ner Außenwelt geben könne.200 Diese Frage stelle sich allerdings erst auf der Ebene der Beobach­ tung zweiter Ordnung. Was Luhmann unter Beobachtungen zweiter Ordnung versteht, läßt sich nicht ganz eindeutig fixieren. Einesteils scheint er mit diesem Namen ein Erkennen zu belegen, das aus der Unmittelbarkeit des naiven alltagsweltlichen Realismus herausgetre­ ten und sich seiner konstruktiven Leistungen nachträglich prinzipiell bewußt geworden ist.201 Anderenteils deutet Luhmann an, daß auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sozusagen »mehr« zu erkennen sei als auf der primär gegebenen Beobachtungsebene der unmittelbaren Systemreproduktion und nicht dasselbe nur in dem relativierenden Licht prinzipieller Kontingenz. Während elementare Beobachtungen selbstverständlicherweise einer bestimmten Leit­ unterscheidung folgten (wie z.B.: Sein oder Nichts), lasse sich diese 196 Alle Arbeiten Luhmanns, die mit der Ausarbeitung des in Soziale Systeme erstmalig ausführlich präsentierten neuen systemtheoretischen Paradigmas befaßt sind, enthalten entsprechende erkenntnistheoretische Betrachtungen. 197 Luhmann, WG, 521. 198 Luhmann, WG, 521. 199 Diese sei auch von den neurophysiologischen Vorarbeiten, die die Ausbildung der erkenntnistheoretischen Position des Radikalen Konstruktivismus angeregt hätten, nicht geleistet worden. Luhmann glaubt aber sehr wohl, es sei ihnen gelungen, die klassische Epistemologie zu torpedieren. Vgl. Luhmann, WG, S. 522, Anm. 86. 200 Luhmann übernimmt also prinzipiell einen erkenntnispsychologischen Ansatz, während sich ein soziologischer bzw. historischer Perspektivismus auch aus transzen­ dentallogischen Fragestellungen entwickeln ließe. 201 Aus der Perspektive dieser Arbeit könnte man daher auch gegen die Intentionen Luhmanns sagen, auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sei dem Beobachter der Handlungscharakter seiner Beobachtungen bewußt. Luhmann hängt übrigens inso­ fern einem nicht-konstruktivistischen Wissensverständnis an, als er Erleben und nicht Handeln für die Basis des Wissenschaftssystems erklärt. Vgl. Luhmann, WG, S. 145f. 248

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vorausgesetzte Unterscheidung auf der höheren Ebene nicht nur als Voraussetzung erinnern, sondern mit Hilfe einer anderen Unter­ scheidung (z. B. System-Umwelt) so beobachten, daß sichtbar werde, was nach Maßgabe der primären Unterscheidung gerade nicht in den Blick geraten könne. Luhmann bleibt seinen Lesern allerdings eine klare Auskunft darüber schuldig, wie sich verschiedene Leitunter­ scheidungen des Beobachtens oder Erkennens in diese hierarchische Ordnung bringen lassen könnten, ohne den radikalen Perspektivis­ mus des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus in Wahrheit zu überwinden.202 Es kann nur konstatiert werden, daß seine erkennt­ nistheoretischen Betrachtungen auch diese Konsequenz scheuen. In uneindeutiger Weise soll sich die sogenannte Beobachtung zweiter Ordnung also nicht in der relativistischen Reflexion auf die perspektivischen Voraussetzungen von Urteilen über Wirkliches er­ schöpfen, indem sie in allem Beobachten die Einsicht festhielte, daß sich die Sache selbst aus einem anderen Blickwinkel, im Lichte einer anderen Leitunterscheidung anders darstellen könnte. Die Beobach­ tung zweiter Ordnung beansprucht vielmehr, einen größeren Über­ blick zu haben. Von höherer Warte aus soll nicht nur wißbar203 wer­ den, daß der beobachtete Beobachter (man selbst oder ein anderer, wie Luhmann meint) nur sehen kann, was er sehen kann, sondern darüber hinaus sichtbar, was er nicht sehen kann.204 Auf diese Weise soll die Beobachtung zweiter Ordnung Latenzen aufklären können. Sie tut das, so Luhmanns Programm, am besten in Gestalt soziologi­ scher Analyse, indem sie sich der Frage stellt, »was daraus folgt, daß man sehen kann, was man nicht sehen kann, sofern man nur zeit-

202 Zwar hat Luhmann jüngst einmal eingeräumt, auch für den Beobachter zweiter Ord­ nung gelte, »daß er weniger und anderes sehen kann als der beobachtete Beobachter« (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1997, im folgenden zitiert als GG, S. 1119), und in diesem Zusammenhang wiederum den Kontingenzeffekt der Beobachtungen von Latenzen betont (ebenda, S. 1119ff.). Es bleibt aber zweifelhaft, ob diese Äußerungen als eindeutige Relativierungen der Leistungsfähigkeit der Beobach­ tung zweiter Ordnung gedeutet werden dürfen. 203 Allerdings schwanken Luhmanns Äußerungen auch in diesem Punkt. Vgl. Luh­ mann, Wie lassen sich latente Strukturen beobachten? In: Paul Watzlawick/Peter Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters, München 1991, S. 61-74, insbesondere S. 61. Luh­ mann spricht hier davon, auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung könne man wissen, nicht sehen, daß man nicht sehen könne, was man nicht sehen könne. 204 Vgl. Luhmann, u.a. Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 76, S. 90. ^

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liehe und/oder soziale Differenzen (also Gesellschaft) in Anspruch« nehme.205

11. Die Wirklichkeit sozialer Systeme Die Autopoiese der Gesellschaft Luhmann hat von Maturana nicht nur den erkenntnistheoretischen Perspektivismus übernommen, ohne die Folgeprobleme dieser Wahl im soziologischen Blickwinkel wirklich einer überzeugenderen Lösung zuführen zu können als es dem Biologen Maturana vor und nach seiner pragmatischen Wende möglich war. Er kann die Sozio­ logie vielmehr nur als den Ort anbieten, an dem auch erkenntnis­ theoretische Paradoxien wenigstens in einer angemessenen Form zu entfalten sind, weil er das Modell der operational geschlossenen Selbstherstellung und Selbstreproduktion, das Maturana zur Cha­ rakterisierung lebender Systeme und ihrer spezifischen Leistungen entworfen hat, verallgemeinert, um es auch auf soziale wie psychi­ sche Entitäten anwenden zu können.206 Soziale Systeme207 bestehen nach Luhmann also nicht, wie man 205 Luhmann, WG, S. 522. 206 Luhmann scheint weniger an einer Lösung oder raffinierten Bearbeitung der er­ kenntnistheoretischen Paradoxien des perspektivistischen Konstruktivismus interessiert zu sein, als an den Plausibilitätsgewinnen, die er sich von einer Übertragung des Modells der deterministischen Geschlossenheit auf soziale Einheiten erhofft. Er resümiert seine Auseinandersetzung mit Maturana einmal folgendermaßen: »Der Konstruktivismus re­ flektiert Erkenntnis als geschlossenes System ohne ZugangzurAußenwelt. Er reduziert den Außenkontakt auf eine nur für Beobachter sichtbare strukturelle Kopplung, die im System (und nur dort) Irritationen erzeugen kann, die sich an dessen Strukturen zeigen und zu Neuspezifikationen dieser Strukturen mit den Mitteln der systemeigenen Ope­ rationen führen können. Damit ist ein System beschrieben, das genau dem entspricht, was eine Theorie funktionaler Gesellschaftsdiffenzierung erwarten ließe: ein durch Ausdifferenzierung geschlossenes, funktionsspezifisch codiertes Teilsystem. Der Kon­ struktivismus bietet mithin der Wissenschaft eine für die moderne Gesellschaft adä­ quate Reflexionstheorie. Das ist natürlich ein zirkuläres Argument, keine Begründung der WahrheiU der konstruktivistischen Theorie.« Luhmann, WG, S. 530f. 207 Meine Darstellung von Luhmanns Theorie der Wirklichkeit sozialer Systeme stützt sich vor allem auf sein Hauptwerk »Soziale Systeme«. Nur gelegentlich verweise ich auf differente Akzentsetzungen bzw. aufschlußreiche parallele Belege in den weiteren Ar­ beiten, die dieser Grundlegung folgten und sich vor allem auf die funktionsspezifische Konkretisierung des dort entworfenen Paradigmas sozialer Systeme konzentrieren. Nämlich: Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1988; ders., Die 250

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zunächst im Gefolge Maturanas glauben möchte, aus autopoietischen Systemen in Gestalt menschlicher Individuen.208 Sie müßten viel­ mehr selber als autopoietische Systeme sui generis angesehen wer­ den, weil sie ihre speziellen Elemente nicht in Form von Organismen, Menschen oder Personen vorfänden, sondern sie nach Maßgabe ei­ gengesetzlicher Organisationsprinzipien selbst anfertigen würden.209 Die Elemente des Sozialen, die systemrelativen Letzteinheiten, durch deren spezifische Machart sich soziale Systeme von anderen unter­ scheiden, nennt Luhmann Kommunikationen. Bei ihrer Herstellung, so die provokante These, träten Menschen bzw. psychische Syste­ me210 nur als Systemumwelt in Erscheinung, indem sie also sozusa­ gen das Material der Stoff- und Energieflüsse abgäben, die soziale Systeme ebenso wie lebende Organismen zum Aufbau struktureller Eigenkomplexität nutzen würden. Psychische Systeme seien aller­ dings als ein für die Bildung sozialer Systeme in besonderem Maße relevanter Teil dieser Umwelt anzusehen.211 Eine besondere Affinität von psychischen und sozialen Syste­ men, deren Spektrum von nur vorübergehend zustande kommenden Interaktionssystemen unter Anwesenden über Organisationen und spezialisierte Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht, Politik bis zur alles umfassenden Weltgesellschaft reiche, sei gleichwohl in einer Eigenschaft zu sehen, die soziale Kommunikationen wie Bewußt­

Wissenschaft der Gesellschaft (WG), a.a.O.; ders., Das Recht der Gesellschaft, Frank­ furt/Main 1993; ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995 und schließlich als Schlußstein des Theoriegebäudes ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft (GG), a.a.O. 208 Vgl. Luhmann, SS, S. 298, Anm. 13 sowie WG, S. 523, Anm. 88. 209 Bemerkenswert ist, welch einen anspruchslosen Begriff von Selbstreferenz Luh­ mann verwendet. Er nennt Systeme selbstreferentiell, »die bei der Änderung ihrer ei­ genen Zustände immer selbst mitwirken müssen«. Luhmann, SS, S. 103. 210 Luhmann charakterisiert die in seinem Hauptwerk »Soziale Systeme« »getroffenen Theoriedispositionen« an einschlägiger Stelle wie folgt: »Wir behandeln soziale Syste­ me, nicht psychische Systeme. Wir gehen davon aus, daß die sozialen Systeme nicht aus psychischen Systemen, geschweige denn aus leibhaftigen Menschen bestehen. Dem­ nach gehören die psychischen Systeme zur Umwelt sozialer Systeme.« (SS, S. 346.) Der Mensch ist dagegen nach Luhmann überhaupt kein System und eine Vielzahl von Menschen erst recht nicht. Vgl. SS, S. 67 f. 211 Vgl. SS, S. 286ff. Luhmann spricht von der »Interpenetration« psychischer und so­ zialer Systeme, weil sie einander für ihren jeweiligen Systemaufbau Komplexität zur Verfügung stellten (vgl. SS, S. 290), und widmet der Darstellung dieser Wechselbezie­ hung das ganze sechste Kapitel von »Soziale Systeme«. ^

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seinsakte212 gleichermaßen charakterisieren soll: sie fungierten, so Luhmann, als Elementarereignisse in einem Prozeß, der das Merk­ mal der Sinnhaftigkeit213 aufweise, was beispielsweise für neuronale Impulse in Nervennetzen nicht gelte. Die unbefangene Rede von Sinnsystemen und dem »Prozessieren« von Sinn erinnert unver­ meidlicherweise an Webers Konzept des gemeinten Sinns einer Handlung, dem die verstehende Soziologie gerecht werden müsse. Luhmann schöpft den Begriff der eigenen Auskunft nach allerdings aus einer anderen Quelle, nämlich der Phänomenologie Husserls. Die Transformation, die der bewußtseinsphilosophische Terminus in der Perspektive einer erklärtermaßen anti-subjektphilosophischen Theo­ rie Sozialer Systeme erfährt, liefert daher ein Musterbeispiel dafür, mit welchen Kunstgriffen Luhmann sein Programm der kategorialen Erneuerung gesellschaftstheoretischer Analyse realisiert. »Sinn« ist dieser Ansicht nach überall da gegeben, wo Ereignisse214 einen Ver­ weisungsüberschuß aufweisen. Das aber sei nicht nur der Fall, wenn ein intentionales Bewußtsein bestimmte Gedankeninhalte im offe­ nen Kontext anderer Bedeutungsmöglichkeiten zu fixieren versuche, sondern überall dort, wo Ereignisse zwar in sich bestimmt, ihre möglichen Anschlüsse aber nicht vollständig determiniert, sondern in einem offenen Horizont unübersichtlicher Alternativen anzusie­ deln seien. Wo Sinn im Spiel ist, sind folglich Selektionen, Entscheidungen, nötig.215 Luhmann glaubt also, den Begriff des Sinns aus der »psychi­ schen Systemreferenz« herauslösen zu können, auf die er im Blick­ winkel der Husserl'schen Phänomenologie fixiert ist216, und macht ihn zu einer Chiffre für die objektiv vorhandene Kontingenz auch 212 Luhmann bestimmt psychische Systeme in ausdrücklicher Anlehnung an Husserl als in sich geschlossene Bewußtseinsströme (vgl. SS, S. 356) und behauptet überdies, psy­ chische Prozesse seien nicht sprachlich verfaßt. Vgl. SS, S. 367). 213 Vgl. Luhmann, SS, u.a. S. 64. 214 Die Wirklichkeit sozialer Systeme besteht nach Luhmann aus Ereignissen, die, kaum aufgetaucht, alsbald wieder verschwunden sind. Die Theorie sozialer Systeme vertritt also sehr wohl eine ontologische Option. Sie ist allerdings nicht zu einer kohärenten Ontologie des Sozialen ausgearbeitet und birgt im Detail viele ungelöste Fragen. Diese betreffen nicht nur die von Luhmann selbst als prekär herausgestellte »Anschlußfähig­ keit« derartig temporalisierter Systemelemente (»wie man überhaupt von einem Ele­ mentarereignis zum nächsten kommt«, SS, S. 62), sondern vor allem auch ihre unter­ stellte Selbstbezüglichkeit. 215 Vgl. Luhmann, SS, u.a. S. 11, S. 80, S. 94, S. 100. 216 Vgl. Luhmann, SS, S. 94. Vgl. dazu Lutz Ellrich, Die Konstitution des Sozialen, Phä­ 252

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Die Wirklichkeit sozialer Systeme

dynamischer sozialer Prozesse. Wie in psychischen Systemen ein Be­ wußtseinsereignis dem anderen folge, ohne je aus der Immanenz des Bewußtseinsstroms entlassen und mit andersartigen Entitäten in Berührung gebracht werden zu können, so sollen auch Kommunika­ tionsereignisse nicht nur den Stempel ihrer jeweiligen System­ zugehörigkeit tragen, sondern in die Immanenz des Kommunika­ tionsprozesses eingeschlossen sein, der dieses System ist. Diese Übertragung ist gewiß gewagt. Und ich werde im folgenden auf schwerwiegende Ungereimtheiten hinweisen, die der Versuch mit sich bringt, Gesellschaft nicht mehr als problematische soziale Inte­ gration handelnder menschlicher Subjekte, sondern in struktureller Analogie zu einem Modell der Immanenz eines solitären Bewußt­ seins zu konzipieren. Die ideengeschichtliche Herkunft eines Paradigmas allein ist al­ lerdings kein Argument gegen seine entfremdende Verwendung in entfernten Sachzusammenhängen. Es scheint mir jedoch allenfalls in einer beschränkten Hinsicht schlüssig, sinnförmige Zusammen­ hänge dem Begriff autopoietischer Systeme zu subsumieren: inso­ fern damit nämlich angedeutet werden soll, nur sinnhafte Elemente gleicher Bauart könnten aufeinander verweisen, einander folgen und problemlos aneinander anschließen, also Bewußtseinsereignisse nur an Bewußtseinsereignisse und Kommunikationen nur an Kommunikationen.217 Die emphatische Behauptung dagegen, Sinnprozesse nomenologische Motive in N. Luhmanns Systemtheorie, in: Zeitschrift für philosophi­ sche Forschung, Bd. 46 (1992), 1, S. 24-43. 217 Ich sehe jedenfalls keine prinzipiellen Schwierigkeiten darin, soziale Systeme im Sinne Luhmanns auch als grenzerhaltende Systeme zu verstehen. Man darf den Begriff der Grenze nur nicht zu naiv nehmen und auf eine räumliche Barriere festlegen, wie sie die Haut der Organismen darstellt. Die Grenzen sozialer Systeme sind funktionaler Art. Es sind »Sinngrenzen« . (SS, S. 265.) Im Falle des alle anderen sozialen Systeme umfas­ senden Gesellschaftssystems (vgl. SS, S. 555) trennen sie die »Kommunikation von al­ len nichtkommunikativen Sachverhalten und Ereignissen, sind also weder territorial noch an Personengruppen fixierbar«. (SS, S. 557.) Nach demselben Modell der Abgren­ zung eines Systems von seiner Umwelt stellt sich Luhmann auch den Vorgang der inneren Systemdifferenzierung, d. h. die Ausbildung von Funktionssystemen vor. Diese würden sich von anderen Funktionssystemen abgrenzen, indem sie nur Kommunikatio­ nen produzieren, die einem systemspezifischen binären Code gehorchten, im Falle des Rechtssystems etwa dem Code Recht/Unrecht, im Falle des Wissenschaftssystems dem Code Wahr/Falsch. »Umwelt« ist etwas folglich immer nur aus der Perspektive des jeweiligen Systems, das sich selbst, wie das Fichte'sche Ich vom Nicht-Ich, von seiner Umwelt ab- und ihr in der autopoietischen Ordnung seiner Operationen fortwährend entgegensetzt. Luhmann spricht von der Umwelt daher als »Negativkorrelat« des Sy­ ^

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stellten geradezu eine »Autopoiesis par excellence«218 dar, weckt Zweifel. Denn, wie auch Luhmann wiederholt sehr wohl einräumt, bezeichnet der Terminus Autopoiesis ursprünglich ein kausaldeter­ ministisches Geschehen.219 Der Sinnbegriff dagegen steht auch in sei­ ner künstlich entsubjektivierten Fassung in der Theorie sozialer Systeme für das Phänomen unausschaltbarer Kontingenz, die Un­ umgänglichkeit einer aktualen Wahl, wessen auch immer, zwischen diversen Möglichkeiten. Das macht die systematische Verbindung der Begriffe Autopoiesis und Sinn zu einem prekären Unterfangen. Meines Erachtens markiert sie einen prinzipiellen konzeptionellen Konflikt, den die Luhmann'sche Variante systemtheoretischer Sozio­ logie nicht überzeugend aufzulösen vermag. Er ist dem Versuch ge­ schuldet, begriffliche Figuren, mit denen wir vertraut sind, weil wir uns als denkende und handelnde Wesen in ihnen selber zu deuten pflegen, als natürliche Eigenschaften von Systemen anzusehen, die von diesen unseren Selbstdeutungen völlig unabhängig sein sollen. stems. Gemeint sei damit »einfach >alles andereReine< doppelte Kontin­ 257 Das räumt inmitten seiner Rede über prinzipielle Unbestimmtheit und Unbestimm­ barkeit des Verhaltens in der sozialen Situation doppelter Kontingenz auch Luhmann einmal ein: »Unbestimmbar wird das Verhalten anderer erst in der Situation doppelter Kontingenz und speziell für den, der es vorauszusagen versucht, um eigene Verhaltens­ bestimmungen anhängen zu können.« SS, S. 171. 258 In der Fassung, die Luhmann dem Problem der Doppelten Kontingenz gibt, ist dieses, wie Weyma Lübbe angemerkt hat, in der Tat ein »Theorieprodukt«. Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität. Sinnverstehen und Institutionenanalyse bei Max Weber und seinen Kritikern, Tübingen 1991, S. 144. Denn Luhmann unterstelle fälschlicher­ weise, die Selektion des Handelns werde bloß von Erwartungen und nicht auch von Präferenzen gesteuert. Lübbe widerspricht bei dieser Gelegenheit jedoch auch der Erläu­ terung der doppelten Kontingenz als eines speziell intersubjektiven Phänomens, die Luhmann in seiner frühen Rechtssoziologie (Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, Opladen 19933, S. 32) im Anschluß an Max Webers Ausführungen über die Rolle von »sinn­ haften« Erwartungen für das Gemeinschaftshandeln (vgl. Weber, Über einige Katego­ rien .. .,a. a. O., S. 441 f.) gibt, und besteht darauf, die Erwartungsstrukturen Handelnder seien im Hinblick auf andere Akteure keineswegs riskanter als im Hinblick auf Objekte. Daß Luhmann selbst, im Unterschied zu Parsons, längst diese Meinung vertritt, zeigt nicht erst die Erläuterung des Phänomens anhand der Gegenüberstellung zweier »black boxes«. Bereits in der Arbeit »Soziologie der Moral« behauptet Luhmann, daß es nicht der Freiheitsspielraum, sondern die bloße Komplexität, also faktische Unberechenbar­ keit, sei, die als Kontingenz bewußt und bearbeitbar werde. Die Unterstellung von Frei­ heit sei nichts anderes als »eine notwendige Kalkulationsvereinfachung«. Luhmann, Soziologie der Moral, in: ders./Stephan H. Pfürtner, Theorietechnik und Moral, Frank­ furt/Main 1978, S. 8-116, dies S. 44. ^

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genz, also eine soziale vollständig unbestimmte Situation«, so räumt auch Luhmann ein, komme »in unserer gesellschaftlichen Wirklich­ keit zwar nie vor«259, das hochahstrakte Modell hiete aber doch einen guten Ausgangspunkt für die Beantwortung der alten Frage, wie so­ ziale Ordnung möglich sei, die Luhmann im Unterschied zu Parsons259 260 wesentlich als Frage nach Ursprung und Genese sozialer Or­ ganisationsformen nimmt. Parsons' Hinweise auf die normativen Bindungskräfte, die in faktischen Gesellschaften immer schon wirksam zu sein scheinen, weil Menschen nur als soziale Wesen aufwachsen können, legen dagegen den Verzicht auf Ursprungsspekulationen nahe. Nach Luhmanns Urteil stellt Parsons' Modell der normativen Integration so­ zialer Handlungssysteme zwar einerseits einen nicht zu verspielen­ den »Theoriegewinn« dar, weil es »über bloße Konformitäts- oder Koordinationstheorien« hinausführe261, andererseits aber keine über­ zeugende Lösung des gestellten Problems sozialer Ordnung.262 Denn Moral ist in Luhmanns Augen ein gefährliches universales Medium263, dessen Nutzung in der Realität zu sozialen Spaltvorgän­ gen264 und die funktionelle Ordnung irritierenden Protestbewegun­ gen265 führe. Luhmann behauptet nicht, daß Moral, die Alter wie Ego nach Maßgabe des binären Codes von Achtung und Mißachtung be­

259 Luhmann, SS, S. 168. 260 Vgl. insbesondere Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich? in: ders. Gesell­ schaftsstruktur und Semantik II, Frankfurt/Main 1981, S. 195-285. Luhmann unter­ stellt hier, Parsons habe diese Frage in einer anderen Variante gestellt, nämlich wie Handlungen überhaupt möglich seien, und darauf geantwortet: nur als System. Vgl. ebenda, S. 260. Diese Darstellung scheint mir eher für Luhmanns eigene Theorieent­ wicklung in Anknüpfung an Parsons interessant zu sein als Parsons Sicht der Dinge korrekt wiederzugeben, mit der ich mich im 9. Kapitel ausführlich befaßt habe. Von der Frage, wie Handlungen möglich sind, ist dagegen, wie man vielleicht sagen könnte, Aristoteles ausgegangen. Seiner Einsicht, Handlungen seien nur im Bereich des ontolo­ gisch Kontingenten möglich, steht Parsons freilich näher als Luhmann. 261 Luhmann, SS, S. 149. 262 Vgl. Luhmann, SS, S. 175. 263 Vgl. Luhmann, GG, S. 400. 264 Vgl. Luhmann, SS, S. 312. 265 Vgl. Luhmann, SS, S. 313. Protestbewegungen versteht Luhmann als Negation des Systems im System (vgl. GG, S. 405, auch S. 864), als Widerstand der menschlichen Systemumwelt gegen das System, der nur wahrgenommen werden kann, soweit er sich im System »als Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation« (GG, S. 865) äußere. 266

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handle266, in modernen Gesellschaften keine Rolle mehr spiele.267 Das Moralisieren, so seine Beobachtung, sei vielmehr weit verbreitet, wenngleich man sich gerade dann nicht auf die Moral verlassen könne, wenn es wirklich darauf ankäme.268 269 Vor 270allem sei die Moral jedoch überfordert, wenn sie als gesellschaftliche Integrationsinstanz beansprucht werde. Was fehle, sei ein verbindliches Programm zur konkreten Operationalisierung des moralischen Codes: »Es fehlt der Konsens über die Kriterien, nach denen die Werte gut bzw. schlecht zu verteilen sind.«269 Der moralische Code gut/schlecht bzw. gut/böse laufe daher »gleichsam leer«270, und die Moral könne nicht mehr dazu dienen, »die Gesellschaft im Blick auf ihren bestmöglichen Zu­ stand zu integrieren«271 Es ist offenbar die von Parsons anerkannte bleibende Kontin­ genz normativer Sozialintegration, die Luhmann an ihrer Verläßlich­ keit als Ordnungsmacht zweifeln läßt. Nichts zwinge Parsons dazu, »die Lösung des Problems der doppelten Kontingenz ausschließlich

266 Vgl. Luhmann, u.a. GG, S. 245. Es sind daher letztlich moralische Gründe, die Luh­ mann dazu bewegen, der Ethik die Aufgabe zuzuerkennen, heute vor Moral warnen zu müssen. Vgl. Luhmann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, in: Luhmann/Spaemann, Paradigm lost, Frankfurt/Main 1990. S. 9-48, dies S. 41. Inwiefern sich Luhmann mit dieser Sichtweise nicht zuletzt in die Nähe Nietzsches begibt, deutet W Stegmaier an. Vgl. W. Stegmaier, Niklas Luhmanns Systemtheorie und die Ethik, in: Ethica 6,1998,1, S. 57-86. 267 Vgl. Luhmann, u.a. GG, S. 248, S. 400. Vgl. dagegen O. Höffes Kritik an Luhmanns Theorie der Moral in Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, a.a.O., S. 53-62. Auch in seiner Hegelpreisrede »Paradigm lost«, auf die sich Höffes Kritik wesentlich bezieht, behauptet Luhmann nicht, Moral sei in der Moderne funktionslos geworden. Er spricht ihr nur die Fähigkeit ab, die ausdifferenzierten Funktionssysteme einer verbindlichen Programmatik entsprechend integrieren zu können. Vgl. Luhmann, Paradigm Lost, a.a.O., insbesondere S. 23, S. 37, S. 39. Der Gegenbeweis zu dieser These würde nicht nur den empirischen Nachweis der moralischen Steuerungsfähigkeit der Gesamtgesell­ schaft erbringen müssen, sondern eine moralische Programmatik aufstellen, die tatsäch­ lich verbindlich anerkannt würde. Auf welche prinzipiellen Schwierigkeiten dabei auch Höffes eigener Moralbegründungsversuch stößt, habe ich im Kapitel 7 dargelegt. 268 Vgl. Luhmann, GG, S. 1044. 269 Luhmann, GG, S. 248. 270 Luhmann, GG, S. 248. 271 Luhmann, GG, S. 403. Luhmann unterstellt dabei, daß die stratifikatorischen alt­ europäischen Gesellschaften wesentlich im Medium der Moral integriert wurden. In­ wieweit das empirisch zutrifft, ist hier nicht zu prüfen. Daß zumindest die Ethiken, als rationale Reflexionstheorien der Moral, nie solche unzweifelhafte Geltung beanspru­ chen konnten, habe ich im zweiten Teil dieser Studie exemplarisch zu zeigen versucht. ^

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in der Sozialdimension«272 prozessierten Sinns zu suchen. Während hier ein anspruchsvoller Konsens der Beteiligten nötig sei, komme es in der Zeitdimension allein auf die faktischen Anschlüsse an, die die Fortsetzung der Kommunikation gewährleisten.273 Weil Moral ein besonders komplizierter Mechanismus sozialer Koordination sei, der wegen seiner »Streitnähe und Gefährlichkeit präpariertes Terrain mit guten Plausibilitäten«274 voraussetze, habe die Gesellschaft funk­ tionale Äquivalente in Gestalt der funktionssystemspezifischen Me­ dien ausgebildet, die geradezu auf »Neutralisierung moralischer Zu­ mutungen angewiesen«275 seien. Während die antiken Ontologien des Handelns den Grund be­ ständiger sozialer Ordnung, wie man unter Benutzung der Luhmann'schen Unterscheidung von Sinndimensionen vielleicht über­ spitzt sagen könnte, in der Ausrichtung auf die Sachdimension suchen, die neuzeitlichen Konzeptionen dagegen auf Verständigung über formale Regularien in der Sozialdimension setzen, zeichnet die Luhmann'sche Theorie Sozialer Systeme also die Zeitdimension als die entscheidende und einzig verläßliche Integrationsebene aus, in der nur eine abstrakte Alternative gilt: Anschließen oder nicht. Es ist diese Dimension, in der Luhmann gesellschaftliche Ordnung emergieren sieht. Weil die bloß zeitliche Koordination von Inter­ aktionen naturgemäß weit anspruchsloser ist als ihre normative In­ tegration formaler oder gar substantieller Art, die aufwendige Bil­ dungsprozesse erfordert, sieht Luhmann die temporale Organisation von Ereignissen als die grundlegende Ebene der Entstehung gesell­ schaftlicher Ordnung an. Hier nämlich komme jeder Aktivität über­ haupt, egal wie sie bestimmt sein mag, strukturbildender Charakter272 27

272 Luhmann, SS, S. 150. 273 Vgl. Luhmann, SS, S. 316. Vgl. auch ders., GG 874. 274 Luhmann, GG, S. 317. 275 Luhmann, GG, 371. Der jeweilige Code der Funktionssysteme Recht, Wissenschaft, Politik etc. darf Luhmann zufolge nicht moralisch, also durch den Entzug von Achtung, sanktioniert sein. Eine wissenschaftliche Hypothese aufgestellt zu haben, die falsifiziert wird, dürfe nicht als moralisch schlechter angesehen werden, als eine Hypothese auf­ gestellt zu haben, die noch nicht falsifiziert ist. Und ebenso müsse es unter Gesichts­ punkten der Achtung gleich sein, ob man die Opposition oder die Regierung im politi­ schen System stelle. Gleichwohl gebe es auch funktionsspezifische Moralleistungen und entsprechende strukturelle Anlässe für Moralisierungen, wenn die Codierung der Funk­ tionssysteme bedroht sei: beispielsweise durch Bestechung in der Politik oder Fälschung von Daten in der Wissenschaft. Vgl. Luhmann, GG, S. 245, S. 402, S. 752, S. 1043. 268

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zu.276 Wie auch immer der Anfang gemacht sei, er führe jedenfalls aus dem Zirkel der doppelten Kontingenz heraus und eröffne die ele­ mentare Alternative: Weitermachen oder Aufhören. Die für die Moderne charakteristischen Funktionssysteme kom­ plizieren Luhmann zufolge dieses allereinfachste »Differenzschema« gesellschaftlicher Sinnprozession nur in unterschiedlicher Weise, indem sie alle Kommunikationen, die sie produzieren, einem be­ stimmten binären Code unterwerfen.277 Die für das Rechtssystem konstitutive und alle andersartigen Kommunikationen aus diesem Funktionssystem ausschließende Frage lautet also beispielsweise: Weitermachen mit der Unterscheidung Recht/Unrecht oder nicht?278 Die Theorie der gesellschaftlichen Dezentrierung legt es nahe, auch den Gerechtigkeitsbegriff der »alteuropäischen« Tradition, der auf die gute Ordnung der Gesellschaft im Ganzen zielte, einer system­ theoretischen Transformation zu unterwerfen.279 Ob ein institutio­ neller Ordnungszusammenhang gerecht sei, weil er den Menschen, die ihn handelnd verwirklichen, distributiv gerecht wird, ist unter diesen Voraussetzungen keine sinnvolle Frage mehr. Denn das funk­ tional geschlossene Rechtssystem, das den Code Recht/Unrecht handhabt, ist nach Luhmann auf keinerlei Legitimation von außen angewiesen. Es legitimiert sich sozusagen im faktischen Operieren selbst, solange es funktioniert. Umwelten von Systemen müssen den Systemen Nahrung liefern, sie können Systeme irritieren und sogar vernichten, legitimieren können sie sie keinesfalls.280 Luhmann ordnet den Begriff der Gerechtigkeit daher allein dem operational 276 Vgl. Luhmann, SS, u.a. S. 150, auch S. 165. 277 Vgl. Luhmann, SS, S. 315. 278 Während im Falle der funktionsspezifischen Codes beide Werte anschlußfähig seien und daher integrativ wirkten, gelte das nicht für den binären Schematismus moralischer Kommunikation. Er wirke nicht nur integrativ, sondern zugleich ausgrenzend, weil er normenkonformes bzw. normativ gerechtfertigtes und abweichendes Verhalten unter­ scheide. Vgl. Luhmann, SS, S. 312f. 279 Vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, a.a.O., S. 401f. 280 Wer diese These Luhmanns angreifen will, wird nicht darum herumkommen, die systemtheoretische Grundkonstruktion als solche in den Blick nehmen. Er läuft sonst Gefahr, Luhmanns Position mit seiner Kritik überhaupt nicht zu treffen. Dieses Problem sehe ich in dem Insistieren Höffes gegen Luhmann, es könne nur eine institutionelle Moral sein die den Funktionssystemen eine Legitimationsgrundlage verschaffe - und das kann im Kontext der Höffe'schen Legitimationstheorie nur heißen: Institutionen wird das Prädikat moralisch verliehen, wenn sie dem distributiven Vorteil der Menschen dienen. Vgl. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, a.a.O., S. 63, sowie ders., Politische Gerechtigkeit, a.a.O., S. 171-187, insbesondere S. 184f. ^

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geschlossenen Funktionssystem des Rechts zu. Als Kontingenzfor­ mel des Rechtssystems hat der Begriff Gerechtigkeit mit der mög­ lichen oder fragwürdigen moralisch-ethischen Fundierung geltenden Rechts281 nichts mehr zu tun. Er erfüllt im Gegenteil die latente Funktion, das Rechtssystem intern gegen externe moralische Zu­ mutungen zu sichern. »Das Rechtssystem«, so Luhmann, »will sich selbst, was immer die Fakten sind, als gerecht«.282 Luhmann rechnet es sich als Verdienst zu, auf dem angedeute­ ten Wege der Abstraktion auf eine Theorieehene vorgestoßen zu sein, auf der sich das Problem sozialer Ordnung stellen wie lösen lasse, ohne daß Handlungssuhjekte, ihre Bedürfnisse, Erwartungen und normativen Einstellungen akribisch erfaßt werden müßten. Autopoietische Sozialsysteme etablieren in dieser Sicht eines den Parsons'schen üherhietenden extremen funktionalistischen Reduk­ tionismus' autonome283 Ordnungen, die auf ihre menschliche Um­ welt angewiesen hleihen, ohne ihre Komplexität voll erfassen und sich auf sie einstellen zu können. Auf der anderen Seite können sich die an den hasalen Interaktionen beteiligten psychischen Systeme an sozialen Systemen orientieren, ohne deren Funktionieren zu durch­ schauen oder gar steuern zu können, aber auch ohne einander zu verstehen oder gar miteinander in Vernunft einig zu sein.284 »Die Mensch-Semantik«, so erklärt Luhmann dementsprechend, werde im kategorialen Rahmen der Theorie autopoietischer Systeme »frei­ gegeben für einen neuen Freiheitssinn und eine darauf aufgebaute selbstreferentielle Individualität. Aber daraus folgt nun kein Ord­ nungsversprechen mehr«.285 Es ist ein seltsam spannungsloser Dua­ lismus von autopoietischer Systemnotwendigkeit und abstrakter »Freiheitskonzession«286, den Luhmann an die Stelle der bleibenden 281 Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., S. 232f. 282 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., S. 217. 283 Vgl. Luhmann, SS, S. 172. 284 Vgl. Luhmann, SS, S. 157. 285 Luhmann, SS, S. 428. Oder, wie Luhmann auf S. 289 von SS schreibt: »Gewonnen wird mit der Unterscheidung von System und Umwelt aber die Möglichkeit, den Men­ schen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt zugleich komplexer und ungebundener zu begreifen, als das möglich wäre, wenn er als Teil der Gesellschaft aufgefaßt werden müßte; denn Umwelt ist im Vergleich zum System eben derjenige Bereich der Unter­ scheidung, der höhere Komplexität und geringeres Geordnetsein aufweist. Dem Men­ schen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner Umwelt konzediert, ins­ besondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem Verhalten.« 286 Luhmann, SS. S. 159. 270

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Kontingenz normativer Sozialintegration setzt, deren Realität Parsons gegen die Hobbes'sche Abstraktion des Gesellschaftsvertrags zur Einsetzung von Herrschaft geltend zu machen versuchte. In die­ sem Blickwinkel erweist sich Luhmanns Konzeption sozialer Ord­ nung als eine terminologisch äußerst aufwendige Erneuerung des klassischen neuzeitlichen Liberalismus und seiner atomistischen Vor­ aussetzungen.

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Resümee

Ich will abschließend versuchen, zusammenfassend auf den Argu­ mentationsgang zurückzuhlicken, den diese Studie beschritten hat. Aus den Gründen, deren ausführliche Darlegung dieser Argumenta­ tionsgang selber war, hat sie kein einfaches Resultat. Ihre Intention lag vielmehr darin, einen komplexen Prohlemzusammenhang ahzuschreiten, nämlich zu prüfen, wie soziale Ordnung aus handlungs­ theoretischer hzw. aus systemfunktionalistischer Sicht kategorial entworfen wird, um unangemessenen Verengungen des theoreti­ schen Blickwinkels (insbesondere auf Seiten der Systemtheorie) ebenso entgegentreten zu können wie der voreiligen Gewißheit, das Problem rationaler verbindlicher Sozialintegration sei längst praxis­ philosophisch (von Platon bzw. Aristoteles) gelöst bzw. unter Verzicht auf substantialistische Unterstellungen im Sinne formalisti­ scher Rationalitätskonzeptionen (sozusagen von Hobbes bis Haber­ mas) ohne weiteres überzeugend lösbar. Luhmanns provozierende These, gesellschaftliche Ordnung las­ se sich prinzipiell und erst recht nicht unter den hyperkomplexen Bedingungen der Moderne als ein bestenfalls wohlorganisierter Zusammenhang handelnder Menschen verstehen, gründet sich zu­ nächst auf eine kritische Aneignung der Konzeption des neuzeit­ lichen Rationalisierungsprozesses, die Max Weber entworfen hat. Was Luhmann als Systemrationalität ansieht und von jedem menschlichen Vernunftgebrauch glaubt ablösen zu können, ist das Resultat einer Transformation des von Weber geprägten Begriffs der Zweckrationalität. Weber hatte die zunehmende Zweckrationalität der technischen Mittelwahl wie der Integration handelnder Individu­ en in soziale Ordnungszusammenhänge als typisches Charakteristi­ kum der Moderne angesehen und zugleich resigniert angemerkt, Zwecksetzungen könnten nicht den gleichen Grad an Rationalität aufweisen, ohne sich die rationalitätstheoretischen Gründe für diesen Sachverhalt in zureichender Form zu vergegenwärtigen. Luhmann folgt ihm in diese Überzeugung. Sein Verdienst ist es jedoch, auf ein weit elementareres Versagen der Zweckrationalität aufmerksam ge­ 272

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Resümee

macht zu haben, das Weher schlicht entgangen ist, weil er an die voll­ ständige naturwissenschaftliche Bestimmbarkeit kausalgesetzlicher Abläufe glaubt, die technisches Handeln nur klug nützen müsse, um die richtigen Mittel zu mobilisieren und seines Erfolges gewiß zu sein. Diese Illusion hat Luhmann durchschaut. Es hat den Scheuklap­ pencharakter des zweckrational genutzten Zweck-Mittel-Schemas aufgedeckt, dessen latente Funktion es ist, unerwünschte Handlungs­ folgen zu vergleichgültigen oder sogar gänzlich unsichtbar zu ma­ chen. Weil es nicht einmal eine angemessene Schematisierung tech­ nologischer Risiken zuzulassen scheint, hat Luhmann dem hand­ lungstheoretischen Konzept zweckrationaler Mittelwahl vorgewor­ fen, für die Beschreibung gesellschaftlicher Zusammenhänge in dem Maße untauglicher zu werden, wie deren Komplexität zunimmt. Aus diesem Manko folgt für den Systemtheoretiker, daß soziale Zusam­ menhänge überhaupt nicht (mehr) aus der Sicht handelnder Subjekte zu erschließen seien. Diese Konsequenz drängt sich aber allenfalls auf, wenn man den Begriff des Handelns wie schon Weber vor Luhmann kategorial auf technisches Handeln, das gezielte Bewirken von Wirkungen also, beschränkt. Die antike Ontologie menschlichen Handelns weiß dagegen, insbesondere in der ausgefeilten Version des Aristoteles, zwischen Poiesis und Praxis, nämlich zweckrationaler herstellender Tätigkeit einerseits und zweckerfüllter Lebensführung andererseits, zu unter­ scheiden. In Rückbesinnung auf diese Differenz wird deutlich, daß technisches Handeln in gemeinschaftliche Zweckverbindlichkeiten eingelassen sein muß, wenn es im großen und ganzen gelingen und wahrhaft gut sein soll. Die ausführliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Hinweisen Platons und Aristoteles' zeigt indessen, daß auch die antiken Handlungstheorien keine unstrittige Einsicht in solche Zweckwahrheit bieten. Zumindest in dieser Hinsicht hat Platons Idee des Guten den Charakter einer Vision. Denn von dem Nachweis, ein jeder strebe nach dem, was er für das Beste halte, und wolle sich darin keinesfalls täuschen (lassen), führt kein zwingender Weg zu der gegen jeden Irrtum gefeiten Erkenntnis und Beherzigung dessen, was wirklich das Beste für einen jeden und alle zusammen ist. Die je schon übliche Tugendhaftigkeit ist im übrigen auch Aristoteles zufolge nicht die gute Praxis, in die sich die einzelnen nur zu fügen hätten, um richtig zu leben. Die normative Bestimmung der Eudaimonia jedoch fußt auf anspruchsvollen ontologischen und anthro­ ^

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Resümee

pologischen Annahmen, die sich nicht erst im Blickwinkel des neu­ zeitlichen Nominalismus des Guten als problematisch erweisen. Vor allem in seiner Hobbes'schen Variante ist er es allerdings, der das eindrücklichste Beispiel jener fatalen Verkehrung von Mittel und Zweck bietet, die Aristoteles schon einem Großteil seiner Zeitgenos­ sen als Pleonexia ankreidet. Indessen macht auch das naturrechtliche Plädoyer für den pragmatischen Vorrang der Sicherung der Selbst­ erhaltung eines jeden nicht die unhintergehbare Voraussetzung aller konkreten Zwecksetzung und jedermanns Chance zur Selbstverwirk­ lichung ordnungspolitisch geltend, sondern nur eine spezifische Prä­ ferenz, die niemand sich zu eigen machen muß, um seine Vernunft unter Beweis zu stellen. Die Ordnung des Sozialen scheint also weder durch eine je schon gegebene gemeinschaftliche Zweckorientierung, noch durch die gründliche Abstimmung der Zwecke aller Handelnden zustande zu kommen. Sie ist aber auch nicht schlüssig auf die einverständige Be­ schränkung der erlaubten Mittel egoistischer Interessenverfolgung zurückzuführen, wie die Legitimationsfigur des klassischen Libera­ lismus suggeriert. Wenngleich Luhmann sich aus den in diesem Teil der Studie dargelegten Feinheiten des »alteuropäischen Denkens« er­ klärtermaßen nicht allzu viel macht und sie in seinen häufigen histo­ rischen Exkursen mit allzu großer Nonchalance behandelt, bietet die beschriebene Sachlage ein hinreichend starkes Motiv, sich prüfend auf den durchgreifenden Perspektivenwechsel einzulassen, der unter dem Etikett Systemtheorie firmiert. Wie stellt sich das gesellschaft­ liche Gefüge dar, wenn man es einmal als völlig unabhängig von menschlichen Absichten ansieht und als eine Ordnung sui generis zu beschreiben versucht? Talcott Parsons, den Luhmann gelegentlich seinen Lehrer nennt, war der erste, der eine hochkomplexe Systemtheorie sozialer Ord­ nung konzipiert und von emergenten Eigenschaften sozialer Syste­ me gesprochen hat. Im Gegensatz zu Luhmann betrachtet er soziale Systeme indessen als Handlungssysteme. Parsons schwankt dabei zwischen einer verstehenden Soziologie, der es darauf ankommt, die Intentionen der Handelnden zu erfassen, und einem funktionalistischen Reduktionismus, der dem Sozialwissenschaftler diese Mühe erspart und sein Geschäft erheblich zu erleichtern verspricht. Jürgen Habermas hat dieses Schwanken bemerkt. Er hat es aber nicht triftig beschreiben können, weil er selber von einem unhaltbaren Konzept der kommunikativen Rationalisierungsfähigkeit moderner Lebens­ 274

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Resümee

weiten ausgeht. Parsons wesentliche theoretische Leistung liegt da­ gegen in dem hartnäckigen Insistieren auf der multiplen »Kontin­ genz« sozialer Interaktion und dem Nachweis, daß gesellschaftliche Ordnung unmöglich wäre, wenn individuelles Handeln einzig die zweckrational helehrte egoistische Interessenverfolgung im Sinn hätte. Er ist gewissermaßen der Sittlichkeitstheoretiker unter den modernen Soziologen. Denn es sind gemeinschaftliche Formen nor­ mativer Orientierung, in denen er die entscheidenden Bindungskräf­ te sieht, die in einem stahilen sozialen Gefüge von Handlungen wirk­ sam sind, ohne je den Schatten hleihender Kontingenz ahschütteln zu können. Luhmann ist den Fingerzeigen in Richtung auf einen komplexe­ ren Handlungshegriff, die sich hei Parsons finden, nicht nachgegan­ gen. Leider kann er in ihnen offenhar nichts anderes sehen als eine lästige Hypothek, der sich eine konsequente Systemtheorie des So­ zialen möglichst umgehend zu entledigen hahe. Es ist daher nur der funktionalistische Reduktionismus Parsons', den Luhmann kon­ sequent weiter aushildet. In diesem Interesse greift er das Konzept autopoietischer Systeme auf, das der Neurohiologe Humherto Maturana entwickelt hat, um die Funktionsweise von Organismen und ihren Nervensystemen zu charakterisieren und daraus eine naturali­ stische Erkenntnistheorie zu entwickeln. Luhmanns reife Theorie so­ zialer Systeme krankt nicht nur daran, einen erklecklichen Teil der erkenntnistheoretischen Prohleme und Ungereimtheiten zu ühernehmen, die diese hiologische Theorie der Kognition aufwirft. Sie leidet latent vor allem unter dem Umstand, die vielfältige Kontin­ genz des Sozialen, die sie ausdrücklich anerkennen will, im Rahmen eines Paradigmas thematisieren zu wollen, das die Eigengesetzlich­ keit sich selhst erhaltender Systeme als strikte deterministische Not­ wendigkeit charakterisiert. Die modernen systemtheoretischen Ansätze von Parsons und Luhmann stellen sich eine klassische sozialphilosophische Frage in einer charakteristisch veränderten Fassung. Sie fragen danach, wie gesellschaftliche Ordnung üherhaupt möglich ist, und nicht, wie eine gerechte gesellschaftliche Ordnung möglich wäre. Was zunächst wie ein einfacher Perspektivenwechsel von präskriptiven zu deskriptiven Fragen aussieht, läßt sich aher auch als funktionalistische Reduktion der Schwierigkeiten lesen, in die die klassischen handlungstheoreti­ schen Konzepte hei dem Versuch geraten, Sozialintegration durch rationale Normativität zu gewährleisten. Wie sich in Auseinander^

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Resümee

Setzung insbesondere mit dem Lösungsvorschlag Luhmanns zeigt, verspricht die Systemtheorie jedoch mehr, als sie kategorial zu halten vermag. Ohne Rückgriff auf handlungstheoretische Kategorien, auf die zu verzichten Luhmann seinen Lesern nahelegt, läßt sich die Fra­ ge, wie gesellschaftliche Ordnung wirklich wird, sei sie nun stabil, weil substantiell gerecht oder in einem formalen Sinne gerecht, weil stabil, nicht einmal kohärent stellen. Luhmanns Darstellung der Wirklichkeit sozialer Systeme und ihrer unübersichtlichen Ausdifferenzierung in eine Vielzahl eigenge­ setzlicher Funktionssysteme beeindruckt durch aufwendige termino­ logische Neuerungen. Sie beweist außerdem einen ausgeprägten Sinn für die reale Komplexität moderner Gesellschaften und eine achtbare moralische Skepsis gegenüber den Rationalitätsverheißun­ gen anspruchsvoller Moralphilosophien. Im Unterschied zu Parsons aber schlägt sich Luhmann faktisch auf die Seite des frühneuzeitli­ chen Liberalismus und plädiert für einen seltsam spannungslosen Dualismus von autopoietischer Systemnotwendigkeit einerseits und abstrakter Freiheitskonzession für die Menschen, die als Umwelt der sozialen Systeme fungieren, andererseits. Zu beklagen sind jedoch vor allem die elementaren kategorialen Inkohärenzen der Theorie Sozialer Systeme.1 Sie sind, so scheint mir, großenteils dem durch und durch paradoxen Versuch geschuldet, soziale Kontingenzen end­ lich ernst zu nehmen, die indessen spurlos verschwinden, sobald der handlungstheoretische Bezugsrahmen konsequent verlassen wird, in dem Menschen sich vor Möglichkeiten gestellt sehen, die eine Ent­ scheidung erzwingen. Wer die unaufhebbare Kontingenz sozialer Ordnung in den Blick nehmen möchte, wird sich daher auch nach Prüfung systemtheoretischer Ansätze auf eine handlungstheoreti­ sche Perspektive einlassen müssen.

1 Sie sind auch nicht mit dem Eingeständnis zu entschuldigen, es handele sich hier eben um eine »relativ lockere Form des Theoriedesigns«. So Luhmann, GG, S. 1138. 276

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Literaturverzeichnis

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https://doi.org/10.5771/9783495997451 .

Personenregister

Adorno, T. W. 209 Ackrill,J. L. 129f. Albert, Hans 84 Anscombe, G. E. M. 58, 136 Arendt, Hannah 43 ff., 147 Aristoteles 32-58, 59-61, 85f., 122-148, 149f., 151-154, 156, 159,167,173, 205 Aubenque, Pierre 138 Bacon, Francis 60, 220 Bertalanffy, Ludwig v. 220, 226, 232 Bubner, Rüdiger 40,42f., 53 ff., 58,115f., 127, 146 Bunge, Mario 191 Dahrendorf, Ralf 97 Davidson, Donald 48f., 51, 57f. Descartes 61, 87,184,196 Dewey, John 175f. Dilthey, Wilhelm 20 f. Ebert, Theodor 42, 45 f., 47,135 Ferber, Rafael 109 Figal, Günter 101, 103, 115 Fischer, Peter 154 Flashar, Hellmut 154 Freud, Sigmund 206, 215 Gadamer, Hans-Georg 59 f., 100f., 115f., Gaiser, Konrad 111 Gamm, Gerhard 224 Gephart, Werner 16 Habermas, Jürgen 11, 27 f., 77 f., 166, 168 f., 183 f., 187 f., 198, 208-217, 218, 222f. Hegel 82, 84, 87f., 163, 166,171,185, 201, 204, 259

Heidegger, Martin 34, 53 Hempel, Carl G. 50 Höffe, Otfried 64,126f., 159, 164-172, 267, 269 Hobbes, Thomas 155ff., 161ff., 172,177, 188, 206, 271 ff. Hofmann, Michael 110f. Holst, Erich von 238 Horn, Christoph 106f. Horkheimer, Max 83, 209 Hubig, Christoph 47, 49 Hume, David 243 Husserl, Edmund 29 f., 252 Irwin, Terence 145 Jacobi, Klaus 140,144f. Kant, Immanuel 53, 60f., 87,130, 157-161,186 f., 197, 219f., 230, 233, 241 Kaulbach, Friedrich 47, 77 Kenny, Anthony 47, 136 Kersting, Wolfgang 169 Koller, Peter 170 Kühn, Wilfried 112 Kuhn, Helmut 138 Krämer, H. J. 106,108,111 Leibniz, G. W. 35,197,246 Locke, John 152 f. Lübbe, Weyma 265 Luhmann, Niklas 64ff., 79 ff., 143f., 148, 156,177ff., 202, 204, 225 f., 227, 237, 247ff., 250ff. Luckmann, Thomas 54 ff. MacIntyre, Alasdair 128, 146 Markus, György 39f., 47 Maturana, Humberto 225 ff.

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Ordnung und Kontingenz https://doi.org/10.5771/9783495997451 .

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Personenregister

Marx, Karl 149ff., 152,154f., 173 Mauss, Marcel 170f. Merton, Robert K. 81, 220f. Müller, Anselm Winfried 38, 47 Müller, Klaus 195 Münch, Richard 214 Nietzsche, Friedrich 89 Obermeier, Peter 72 Ott, Konrad 16, 85 Palm, Günther 239 Pareto, Vilfredo 181,198 Parsons, Talcott 81, 97,181ff., 262, 266 Patzig, Günther 21 Perger, Mischa von 110f. Platon 36 f., 90-122,125,141f., 146, 150f., 173, 177, 231 Popper, Karl R. 60,119-122, 247

286

Ritter, Joachim 128,132 Rohbeck, Johannes 45,175 ff. Rousseau, Jean Jacques 166 Roth, Gerhard 235 Santas, G. X. 99 Schiller, Friedrich 43 Schütz, Alfred 29 ff., 54ff. Sophokles 93 Spaemann, Robert 11 Stegmaier, Werner 267 Stichweh, Rudolf 182, 199 Sukale, Michael 25 Szlezak, T. A. 106,111-114 Varela, Francisco 226 Vlastos, Gregory 93 f.

Rapp, Christoph 137f., 140 Rickert, Heinrich 27

Weber, Max 15ff., 36, 50ff., 63, 66f., 70, 173, 181, 185, 189, 199, 222, 265 Wendel, Hans Jürgen 241, 244, 246f. Wiener, Norbert 223 Wieland, Wolfgang 102, 108, 116-119 Wright, Georg Henrik von 136

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Heidrun Hesse

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Sachregister

Absicht (Intention) 20, 27, 32ff., 5l££., 57££., 7l, 98, (178) Arbeit 16, 37, 44, 153 Autonomie 158, 233 Bedürfnisbefriedigung 151 Begründung 83ff., 216 Black Box 263£. Erwerbskunst 96 Eudaimonia 43, 49, 128,140ff., 149 Freiheitskonzession, abstrakte 270 Freundschafr 145 Geld 152£., 207, 211 Gerechtigkeit 93ff., 149,153, 154,162£., 164££., 269£. Glückseligkeit 157£. ln£ormations(theorie) 223, 235, 238£. Kontingenz 32ff., 59, 69, 71,123, 126, 139,146,157,213, 248, 254 - doppelte 204££., 262££. Latenz (latent) 82, 213, 220£., 222£. Lust 42,129, 142 Methode 59, 61 Moderne, Projekt der 83, 209 Naturwissenschaft, empirische 61£. Nominalismus 149,155 ££.

Prohairesis 51,129,137,138 Rationalität - begründende 87 - beweis£ührende 85 - ökonomische 199 - technologische 199 - Tauschrationalität 164££. - Wertrationalität 22, 186 - Zweckrationalität 15££., 21ff., 64, 121, 189 Rechtssystem 157£., 269££. Rechtssicherheit 17, 162 Schließung, £unktionalistische 256 Selbstbewußtsein 87 Selbsterhaltung 78,149, 151,167 Selbstre£erenz 75, 226£., 244 Sinn 27££.,259 - Prozessieren von 254 - Verstehen , 27££., 181££. Sprache 48 £., 207 - Sprachhandeln 28 Subjekt 179, 201 Subjektivität, endliche 72 Substanz 72 Syllogismus, praktischer 135 £. System 73 - autopoietisches 225 £. - soziales 250££. - epistemische 195 £.

Organismus 192££., 229£.

Techne 134 Teleologie 72 Tugend, ethische 48,127ff., 139, 161

Phronesis 130,133ff., Poiesis-Praxis 36ff., 46,132, 133,

Unbestimmtheit 65, 224, 259, 265 Ursache-Wirkungs-Relation 23

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Ordnung und Kontingenz https://doi.org/10.5771/9783495997451 .

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Sachregister

Vernunft, instrumenteile 93,148 Zweck - Zweck-Mittel 36, 46,147,185, 214 - Verkehrung 77,155,174f. Zweckprogramme 74

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Zwecksetzung - Scheuklappenfunktion der 64ff., 81, 199 - Selbstzweck 42, 69, - Wahrheitsunfähigkeit der Zwecke 72, 80, 119

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Heidrun Hesse

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