NaturenKulturen: Denkräume und Werkzeuge für neue politische Ökologien 9783839440070

What common factor do mosquito nets in Ghana, the coast guard in New Zealand and the production of unpasteurized cheese

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German Pages 516 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
NaturenKulturen-Forschung
(1) Experiment und Kollaboration
Jenseits ökonomischer und ökologischer Standardisierung
Irdische Kräfte und affektive Umwelten
Wilde Experimente in den Oostvaardersplassen
Marginalia: Ästhetik, Ökologie und städtisches Brachland
(2) Praktiken der Klassifizierung
Meine Experimente mit der Wahrheit
Kommt Fleisch von Tieren?
Wie zusammenwächst, was (nicht) zusammen gehört: Knochenschafe im Frakturspalt der Moderne
(3) Zwischen_Arten
Käsekulturen nach Pasteur
„Wer melkt die Kühe in Maesgwyn?“ Animalische Landschaften und Affekte
Kompositionen eingehen
Schleimige Assoziationen im Meer–die Plastisphäre
(4) Politiken der Sorge
Der Kiwi und das Possum: Räume schaffen für Leben und Tod
Dünen schützen (für) Neuseeland
Märkte und Mutationen
Mehr als eine Welt, mehr als eine Gesundheit
Danksagung
Autor*innen
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NaturenKulturen: Denkräume und Werkzeuge für neue politische Ökologien
 9783839440070

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Friederike Gesing, Michi Knecht, Michael Flitner, Katrin Amelang (Hg.) NaturenKulturen

Edition Kulturwissenschaft  | Band 146

Friederike Gesing, Michi Knecht, Michael Flitner, Katrin Amelang (Hg.)

NaturenKulturen Denkräume und Werkzeuge für neue politische Ökologien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagentwurf: Julia Dorenwendt Umschlagabbildung: »Acknowledge a new found grace« von Rune Guneriussen (2013) Satz: Andrea Meier Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4007-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4007-0 https://doi.org/10.14361/9783839440070 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

NaturenKulturen-Forschung Eine Einleitung

Friederike Gesing, Katrin Amelang, Michael Flitner und Michi Knecht | 7

(1) E XPERIMENT UND KOLLABORATION Jenseits ökonomischer und ökologischer Standardisierung

Anna Tsing für die Matsutake Worlds Research Group | 53 Irdische Kräfte und affektive Umwelten Eine ontologische Hochwasserpolitik

Sarah Whatmore | 83 Wilde Experimente in den Oostvaardersplassen Zur Neubestimmung des Umweltschutzes im Anthropozän

Jamie Lorimer und Clemens Driessen | 105 Marginalia: Ästhetik, Ökologie und städtisches Brachland

Matthew Gandy | 139

(2) P RAKTIKEN DER KLASSIFIZIERUNG Meine Experimente mit der Wahrheit Untersuchungen zur Biologie der Invasionen

Banu Subramaniam | 175 Kommt Fleisch von Tieren? Eine Multispezies-Annäherung an Klassifikation und Zugehörigkeit im Hochland Guatemalas

Emily Yates-Doerr | 203 Wie zusammenwächst, was (nicht) zusammen gehört: Knochenschafe im Frakturspalt der Moderne

Martina Schlünder und Pit Arens | 233

(3) ZWISCHEN_ARTEN Käsekulturen nach Pasteur Zur Mikrobiopolitik von Rohmilchkäse in den USA

Heather Paxson | 259 „Wer melkt die Kühe in Maesgwyn?“ Animalische Landschaften und Affekte

Owain Jones | 287 Kompositionen eingehen Tiergestützte Aktivitäten in einem deutschen Pflegeheim

Bettina van Hoven | 321 Schleimige Assoziationen im Meer – die Plastisphäre

Sven Bergmann | 353

(4) P OLITIKEN DER S ORGE Der Kiwi und das Possum: Räume schaffen für Leben und Tod

Michael Flitner | 387 Dünen schützen (für) Neuseeland Weicher Küstenschutz als naturkulturelle Praxis

Friederike Gesing | 415 Märkte und Mutationen Mückennetze, Malaria und Weltgesundheitspolitik

Uli Beisel | 447 Mehr als eine Welt, mehr als eine Gesundheit Gesundheit inter species neu konfigurieren

Steve Hinchliffe | 479 Danksagung | 509 Autor*innen | 511

NaturenKulturen-Forschung Eine Einleitung F RIEDERIKE G ESING , K ATRIN A MELANG , M ICHAEL F LITNER UND M ICHI K NECHT

NaturenKulturen – das ist ein holpriger Begriff, der gleich in mehrfacher Hinsicht irritiert. Warum fehlt der typografische Abstand zwischen den beiden Wörtern, wieso gibt es keinen Bindestrich, warum wird die Trennung zwischen Natur und Kultur sprachlich aufgehoben? Und was bedeutet es, einen doppelten Plural zu verwenden und damit zugleich von der Annahme einer einzigen Kultur wie von der einer universellen Natur abzurücken? Mit dem Zusammenziehen der beiden Begriffe „Natur“ und „Kultur“ werden Verflechtungen, Fusionen und zirkulierende Praktiken zwischen Natur und Kultur ins Zentrum gerückt. Dabei verknüpft das Doppelwort zwei Dimensionen, die in den dominanten Ordnungen des modernen Wissens in der Regel getrennt und als Gegensätze behandelt werden. Behauptet wird damit jedoch nicht einfach das Ende oder die Irrelevanz einer für gesellschaftliche Fragestellungen und wissenschaftliche Untersuchungen zentralen Unterscheidung. Vielmehr soll der neue Begriff helfen, Relationen und Vermischungen zu konkretisieren, neu sichtbar und erforschbar zu machen, so dass Brüche und Kontinuitäten auf beiden Seiten der eingeübten Trennung ins Auge fallen und Amalgamierungen und Verknüpfungen ganz unterschiedlicher Art zu weiteren Erklärungen und Fragen auffordern. In diesem Sinne hat der Begriff für uns zu allererst eine heuristische Funktion. Den irritierenden doppelten Plural hat Bruno Latour in seinem 1995 auf Deutsch erschienenen Essay „Wir sind nie modern gewesen“ aufgebracht. In diesem Buch ist Latour in der Figur des Ethnologen zu Besuch bei „den Modernen“, um zu erforschen, wie diese immer wieder Grenzen zwischen Natur und Kultur aufrichten und begründen, während sie gleichzeitig ständig, heimlich und

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gesellschaftlich unreflektiert hybride Vermischungen von Natur und Kultur produzieren. Latours Essay ist ein Plädoyer dafür, diese Vermischungen anzuerkennen, wodurch sie erst gesellschaftlich problematisierbar und verantwortbar würden. Dafür muss jedoch sowohl die Vorstellung aufgegeben werden, dass eine klare Trennung zwischen Kultur und Natur existiert, als auch die, dass Natur immer und überall gleich ist und universellen Gesetzen gehorcht, während Kulturen nur im Plural gedacht werden können. Latour (1995) spricht von „Naturen/Kulturen“ (im französischen Original 1991 „natures-cultures“), um zu betonen, dass unser Verständnis von Kulturen als vielfältig überhaupt erst durch die Ausklammerung von Natur als universell hervorgebracht wird. Dem gegenüber betont er: „Es gibt ebenso wenig Kulturen – unterschiedliche oder universelle –, wie es eine universelle Natur gibt. Es gibt nur Naturen/Kulturen: sie bilden die einzige Grundlage für einen möglichen Vergleich“ (1995, 139–140). Im Denkraum der NaturenKulturen-Forschung hat sich Latours griffige Formulierung schnell eingenistet. Doch es gibt auch weitere, für uns ebenso bedeutsame Bezugspunkte. Donna Haraway (2000; 2003; 2008) spricht in ähnlicher Weise von „naturecultures“, in der deutschen Version ihres „Manifest für Gefährten“ (2016) mit „Naturkulturen“ übersetzt. Aus der feministischen Wissenschaftskritik kommend, stellt sie die emanzipatorischen Versprechungen und politischen Fallstricke der NaturenKulturen stärker in den Mittelpunkt. Für Haraway ist es eine hoch politische Frage, „was als Natur zählt, für wen, und zu welchem Preis“ (Haraway 1997, 104, Übersetzung d. Autor*innen1; siehe auch Haraway 1987). Wieder andere Stimmen haben die NaturenKulturen in Debatten über multiple Ontologien und „ontologische Konflikte“ (Blaser 2013) überführt. Denn der doppelte Plural bereitet gedanklich und politisch den Boden für die Anerkennung der Möglichkeit, dass nicht nur eine, sondern viele Formen des Weltenmachens, der Analyse und Gestaltung von Wirklichkeit innerhalb und jenseits derer existieren, die auf westlich-philosophischen Traditionen und Wissenschaftsgeschichten fußen (Kohn 2015; Viveiros de Castro 2015). Der Denkraum der NaturenKulturen-Forschung hat sich seit den frühen Arbeiten von Latour und Haraway weiter aufgefächert. Vielfältige Fallstudien, aber auch spezifische Forschungsprogramme wie die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Praxistheorie und der neue Materialismus in ihren Varianten treten dem eingeübten Dualismus von Natur und Kultur mit neuen Formen der Problem- und Gegenstandsbestimmung entgegen. Mit der Behauptung, dass wir in das Anthropozän, ein menschliches Erdzeitalter, eingetreten sind, ist dieser Dualismus fast

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Alle im Original englischen Zitate wurden von den Verfasser*innen ins Deutsche übertragen.

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zeitgleich auch von naturwissenschaftlicher Seite in Frage gestellt worden (Crutzen und Stoermer 2000). Zwar bleibt der Begriff umstritten, unter anderem, weil darin die ganz unterschiedlichen Verantwortlichkeiten für den globalen Umweltwandel nicht zur Geltung kommen (Moore 2016). Dennoch ist die breite Debatte um das Anthropozän ein starkes Zeichen dafür, dass Zusammenhänge und Grenzziehungen von Natur und Kultur heute quer durch wissenschaftliche Felder diskutiert werden und von wachsendem gesamtgesellschaftlichen Interesse sind. Den Denkraum der NaturenKulturen-Forschung kennzeichnet daher weniger eine analytische Abgrenzungsfunktion als vielmehr das Potential, auf Homologien und Konvergenzen in gesellschaftlichen, disziplinären und analytischen Entwicklungen aufmerksam zu machen. NaturenKulturen sind ein Ausgangspunkt, um konzeptionelle Innovationen quer durch verschiedene Forschungsbereiche, Disziplinen und Debatten hindurch nachzuzeichnen und überraschende Dialoge und Schnittstellen herauszuarbeiten. Dies gilt für die Beziehungen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen, für Klima und Meere sowie das, was gemeinhin als „Umwelt“ bezeichnet wird, aber auch für den Zugriff auf menschliche Körper, auf Stamm- und Keimzellen (Compagna 2015; Knecht et al. 2011) sowie weitere Bereiche, die vorrangig in der Medizin und den Lebenswissenschaften behandelt werden. Die Sozial- und Kulturwissenschaften können bei der Bearbeitung drängender gesellschaftlicher Problemlagen und ökologischer Krisen eine zentrale Rolle spielen. Dazu ist jedoch eine Auseinandersetzung mit den Praktiken unabdingbar, die Menschen, andere Lebewesen und die Dinge in der Welt untrennbar verbinden. Weder globale Epidemien noch nachhaltiger Küstenschutz oder die Wirkungsweise imprägnierter Moskitonetze lassen sich allein mit Blick auf Menschen und soziale Tatbestände angemessen erklären. Vielmehr spielen auch Krankheitserreger, Dünenpflanzen und Moskitos eine aktive und eigenen Logiken folgende Rolle. Daher fordert die NaturenKulturen-Forschung „symmetrischere“ Beschreibungen der Beziehungen von Menschen mit anderen Lebewesen, die die Zusammenhänge zwischen sozialen, symbolischen und materiellen Dimensionen besser fassen und beleuchten können. Sie nimmt dabei auch Veränderungen in den Sichtweisen der Naturwissenschaften auf, etwa „kontextualistischere Modelle der Krankheitsentstehung“ (Beck 2008, 186), die Paradigmen der genetischen Determinierung vieler Krankheiten durch Erklärungen ersetzen, in denen genetische, epigenetische, ökologische und sozial-kulturelle Dimensionen verflochten werden. Die NaturenKulturen-Forschung verfolgt jedoch nicht die Absicht, die verschiedenen Formen der Wissensproduktion in den Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und in den Naturwissenschaften andererseits zu einer neuen

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Synthese zu bringen oder gar zu einer umfassenden Einheitswissenschaft zu verdichten. Vielmehr ist sie der Heterogenität und der Multiplizität verpflichtet und zielt gerade auf eine Steigerung epistemologischer, theoretischer und methodischer Vielfalt. Dabei ist die Frage, wie denn die vermehrten Transfers und Verbindungen, die Zirkulationen und Grenzverkehre zwischen Natur und Kultur gefasst werden können, nicht trivial. Es geht zunächst einmal darum, Logiken und Dynamiken dieser Verwicklungen, Vermischungen und Grenzarbeiten auf neue Art zu befragen, um daraus Möglichkeiten der Beschreibung, der Analyse und der Theoretisierung des Nichtdualen zu entwickeln. NaturenKulturen markieren den groben Umriss eines Denkraums, der sich aus unterschiedlichen Quellen speist und in den heterogene Impulse und Entwicklungen Eingang gefunden haben: sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsansätze – von den Environmental Humanities über die sozialwissenschaftliche, feministische und postkoloniale Wissenschafts- und Technikforschung (STS) bis zur politisch-ökologischen Nachhaltigkeitsforschung – aber auch gesellschaftliche, politische und ökologische Entwicklungen, die die Trennung von Natur und Kultur, Materie und Sprache, Person und Ding destabilisieren. Der Begriff will eine heuristische, analytische und ethisch-politische Arbeit anstiften und anleiten, die in den internationalen Debatten auch durch verwandte Konzepte wie „Technonaturen“ (White und Wilbert 2009) oder „soziale Natur“ (Castree und Braun 2001) umschrieben worden ist und die mit der Entwicklung neuer konzeptioneller Zugriffe wie der „mehr-als-humanen Geografie [morethan-human geography]“ (Whatmore 2002), der „Multispezies-Ethnografie“ (Kirksey und Helmreich 2010) und der „ontologischen Politik“ (Mol 2002) einhergeht. Dieses Zusammentreffen von Kultur- und Sozialanthropologie2, Humangeografie und Wissenschafts- und Technikforschung (STS) prägt auch unseren spezifischen Blick auf dieses innovative und kreative Forschungsfeld, der für das Bremen NatureCultures Lab (BNCL) programmatisch geworden ist. Dieses mal fester, mal loser geknüpfte Netz aus etablierten Wissenschaftler*innen und Nachwuchsforscher*innen hat in den vergangenen Jahren nicht nur Bremer Diskussionszusammenhänge gebündelt und neue Kollaborationen gedeihen lassen, sondern uns auch mit einer Reihe internationaler Kolleg*innen ins Gespräch gebracht, die uns für Vorträge und Workshops im BNCL besucht haben. Dieser Band bringt Übersetzungen dieser englischsprachigen Arbeiten mit Beiträgen aus dem Umfeld des BNCL zusammen und führt damit das erfolgreiche Konzept

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Im deutschsprachigen Raum auch als Ethnologie bezeichnet. Wir verwenden in diesem Text beide Begriffe gleichbedeutend.

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des Lab in Buchform weiter.3 Die Auswahl der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder objektive Ausgewogenheit. Sie arbeitet vielmehr die theoretischen, konzeptionellen und empirischen Potentiale dieser spezifischen interdisziplinären Schnittstelle beispielhaft heraus, an Themen, mit denen wir uns in unseren eigenen Arbeiten auf verschiedene Weise beschäftigen. In detaillierten empirischen Fallstudien werden neue Forschungsstrategien entwickelt, die heuristische, methodische und konzeptionelle Momente verbinden. Damit möchten wir im Sinne Foucaults einen Werkzeugkasten anbieten, der weder jemals vollständig gefüllt noch am Aufbau eines umfassenden, in allen Teilen kohärenten theoretischen Gerüsts orientiert sein kann. Die darin enthaltenen Werkzeuge sollen jedoch brauchbar, praktisch und produktiv für den ihnen zugedachten Zweck sein, ethnografisch-empirisches Material zu durchdenken und daraus Konzeptionelles zu entwickeln. Unser Ziel ist es, empirische, aus der Beobachtung materiell-sozial-symbolischer Praktiken gewonnene Erkenntnisse dafür nutzbar zu machen, gegenwärtige gesellschaftliche, politische und ökologische Situationen, Probleme und Gegenstände in ihrer Komplexität angemessener zu verstehen und Ideen für bessere, nachhaltigere und gerechtere Praktiken zu entwickeln. Dies kann eine Kritik vorherrschender Kategorisierungspraktiken bedeuten, die Rekonfiguration von Forschungsgegenständen, oder den Einbezug bislang ausgeschlossener Aspekte und Akteure. NaturenKulturen-Forschung bündelt geteilte Sensibilitäten für die Verflechtungen von Menschen mit anderen Lebewesen und ihren Umwelten und die Verbindungen zwischen sozialen, semiotischen und materiellen Dimensionen, macht diese sichtbar und damit auch politisch verantwortbar und verhandelbar. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung post-anthropozentrischer und multipler neuer politischer Ökologien (Lorimer 2012). Das Editorial fächert im Folgenden zentrale Impulse und Bezugspunkte für die NaturenKulturen-Forschung aus STS, Sozial- und Kulturanthropologie und Humangeografie auf (vgl. u.a. Bakker und Bridge 2006; Castree und Braun 2001; Descola 2013; Haraway 1997; 2008; Latour 2001; Law 2004; Lorimer

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Hinweise zu den Originalfassungen und Erscheinungsorten der übersetzten Aufsätze finden sich im Anschluss an die jeweiligen Beiträge. Diese wurden von den Herausgeber*innen vor der Übersetzung in Absprache mit den Autor*innen teilweise leicht gekürzt. Die Verantwortung für redaktionelle Entscheidungen liegt alleine bei den Herausgeber*innen, die die Übersetzungen gemeinsam und in Zusammenarbeit mit den Übersetzer*innen lektoriert haben. Bei der Übertragung von im Englischen geschlechterneutralen Formulierungen haben wir uns für die Verwendung des GenderSternchens (*) entschieden.

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2012; Strathern 1992). Zusammenfassend identifizieren wir vier ausgewählte Strategien, die wir integriert und konkret beschreiben: (1) Experiment und Kollaboration, (2) Praktiken der Klassifizierung, (3) Zwischen_Arten und (4) Politiken der Sorge. Wir ordnen die Beiträge dieses Bandes hierin provisorisch ein und machen dabei auf Echos, Dialoge und Gemeinsamkeiten zwischen Fallstudien in ganz unterschiedlichen Themenfeldern aufmerksam.

I MPULSE UND B EZUGSPUNKTE : N ATUREN K ULTUREN AN DER S CHNITTSTELLE VON STS, S OZIAL -/K ULTUR ANTHROPOLOGIE UND H UMANGEOGRAFIE Mit dem Etikett NaturenKulturen ist eine Reihe von Absagen verbunden: an die Selbstverständlichkeit von Natur als gegeben, an Kultur als eine lediglich diskursiv oder sprachlich hergestellte Kategorie und an die Annahme einer klaren Grenze zwischen Natur und Kultur. Positiver formuliert enthalten diese Absagen zugleich ein Angebot: eine Einladung, den „Grenzverkehr“ zwischen Natur(en) und Kultur(en), ihre spezifische Kombination, ihre Verflechtung und wechselseitige Hervorbringung in den Blick zu nehmen. Natur und Kultur sind stets aufeinander bezogene Sphären – das gilt auch dann, wenn diese als Dichotomie gedacht werden. Wie dieses Verhältnis ausbuchstabiert wird, ob eher nach der Natur (in) der Kultur gesucht oder das Augenmerk auf das Kulturelle (in) der Natur gelegt wird, das war und ist eine Frage der wissenschaftlichen Zugänge und Anliegen, der disziplinären Selbstverständnisse und der verbreiteten alltagsweltlichen Deutungsmuster. NaturenKulturen in diesem Sinne als Denkraum ernst zu nehmen, heißt für uns, genauer zu sortieren, welche Denkbewegungen und Forschungsfragen mit dem Begriff NaturenKulturen verbunden sind. Die beiden obengenannten Autor*innen Haraway und Latour stehen für zwei nur teilweise aufeinander Bezug nehmende Stränge innerhalb des heterogenen Forschungsfeldes, nämlich einerseits die Akteur-Netzwerk-Theorie, andererseits die feministische Wissenschafts- und Technikforschung. Beide weisen die binäre Gegenüberstellung von Natur und Kultur/Gesellschaft zurück, interessieren sich für die Hybridisierung von Natur, Technik und Kultur und befragen dabei vor allem die Idee einer universellen, kulturfreien Natur. Ausgangspunkt der Wissenschafts- und Technikforschung ist eine Problematisierung des (natur-)wissenschaftlichen Wissens über Natur. Marxistische, feministische und poststrukturalistische Analysen stellten seit den 1970er-Jahren die Verwicklungen von Wissensproduzent*innen und Wissensinhalten mit sozialen Interessen, Normen, Diskursen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen

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heraus. Verhandelt wurde dabei nicht allein die Neutralität oder der Wahrheitsgehalt von Wissen. Gerade die Wissenschaftsforschung, und hier insbesondere die sogenannten Laborstudien, widmeten sich dezidiert den Praktiken der naturwissenschaftlichen Erkenntnisproduktion (Knorr Cetina 2002; Lynch 1985; Latour und Woolgar 1986; Traweek 1992). Sie untersuchten die Herstellungspraktiken der im Labor gewonnen Fakten über Natur und zeigten dabei, dass Natur im Labor nicht einfach erforscht oder beschrieben, sondern auf je spezifische Weise „erzeugt“ wird (Amelang 2012). Ein „biologisches Objekt“ – etwa medizinisch vorbehandelte Samenzellen, genetisch veränderte Organismen, im Labor hergestelltes In-vitro-Fleisch – stellt selbst bereits die Verschmelzung eines Wissenssystems (etwa: der Biologie) mit einem Objekt (Gameten, Proteine, Myoblasten) dar (Franklin 2001, 303), ist NaturKultur, die dann auf vielfältigen Wegen und Weisen aus dem Labor auswandert und sich lebensweltlich manifestiert. Gerade die Objekte von Lebenswissenschaften und Biotechnologien, die in vielfältige biopolitische Diskurse und Mikropraktiken des Körpers eingebunden sind, formen und gestalten deshalb auch außerhalb des Labors Leben und Gesellschaft mit (Rabinow 2004, 138). Latours Untersuchungsgegenstände sind in erster Linie naturwissenschaftliche Praktiken – ob in einem kalifornischen Labor (Latour und Woolgar 2017) oder an der Grenze von Savanne und Regenwald in Brasilien, anhand derer er den Verbindungen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren sowie der Vermittlung und Transformation zwischen materieller und symbolischer „Welt/Ebene“ nachgeht (Latour 1996). Donna Haraway fokussiert dezidierter auf das politische Potential, das aus einem Hinterfragen und Auflösen wirkmächtiger Dualismen von Natur und Kultur, Körper und Geist, Mensch und Nicht/ Mensch oder Organismus und Maschine entstehen kann. In ihrem CyborgManifest (Haraway 1995a) benutzt sie die Figur der Cyborg (Kyborg) – eine hybride Verbindung von Maschinen, Technologie und Organismen oder menschlichen Körpern –, um gegen Binaritäten anzudenken und Grenzziehungen sichtbar zu machen. Haraway propagiert deren „lustvolle Überschreitung“ (Haraway 1995a, 35) und ruft dazu auf, politische Verantwortung für die Konstruktion von Grenzen ebenso wie für entstehende Vermischungen und die daraus resultierenden sozialen Verhältnisse zu übernehmen. Die Cyborg ist zugleich gelebte Realität und wirkmächtige Fiktion, die das Denken über die tatsächlichen „gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse“ (Haraway 1995a, 61) anregen soll. Diese sind zwar durch Herrschaftsverhältnisse geprägt, die technologisch durchsetzt sind, doch warnt Haraway ausdrücklich davor, Macht- und Herrschaftsstrukturen in den Technologien selbst zu verorten. Pointiert schreibt sie vielmehr gegen den damaligen technikkritischen feministischen Zeitgeist an

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und zelebriert förmlich das Potential von Technologien, hartnäckige Dualismen wie Selbst/Andere, Geist/Körper, männlich/weiblich, zivilisiert/primitiv, Schöpferin/Geschöpf grundlegend in Frage zu stellen. In immer neuen Versuchen der Explikation und der Überwindung einengender Kategorisierungen sucht sie nach emanzipatorischen Momenten. Das Denken mit Figuren – Primaten (1990), Kojoten, Trickster (1995b), genetisch veränderten Organismen (1996) oder Hunden (2016) – durchzieht ihr gesamtes Werk. Solche Figuren versteht sie als „materiell-semiotische Erzeugungsknoten“ (Haraway 1995b, 96), die selbst keine reinen Repräsentationen darstellen, sondern Beispiele für „naturkulturelle Kontaktzonen“ sind (Haraway 2008, 4). Natur – als Idee, Kategorie, Forschungsgegenstand, Objekt von Intervention und Manipulation, materielle biophysische Realität – wird im relativ jungen Feld der interdisziplinären Wissenschafts- und Technikforschung in Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von (Natur-)Wissenschaft, Technik und Gesellschaft neu befragt. Die so genannten Mensch-Umwelt-Beziehungen4 und die Frage nach dem Zusammenhang von Natur, Kultur und Gesellschaft sind dagegen grundlegende Forschungsgegenstände der Geografie und der Sozial- und Kulturanthropologie seit ihren Anfängen. Für diese beiden Fächer ist eine innerdisziplinäre Spaltung konstitutiv, die die physische Geografie von der Human- bzw. Anthropogeografie und die physische/biologische Anthropologie von der Sozialund Kulturanthropologie trennt. Diese Spaltung bringt es mit sich, dass beide Fächer über ein reiches Reservoir von – oftmals problematischen – Erfahrungen des Verbindens von Natur und Kultur verfügen. Die Kultur- und Sozialanthropologie setzt sich schon seit vielen Jahrzehnten mit der Unmöglichkeit auseinander, Formen des In-der-Welt-Seins anderer Gesellschaften und ihre Kosmologien und Klassifikationssysteme mit westlichbinären Begriffsstrukturen zu beschreiben, ohne diese selbst auf der Basis von Empirie, Ethnografie und Wissen(schaft)sgeschichte in ihrem spezifischen Geworden-Sein zu explizieren und jenseits universeller Ansprüche zu provinzialisieren (Chakrabarty 2010; Sahlins 2017; Viveiros de Castro 2017). Denn das Fach ist in seiner Geschichte und Gegenwart spezifisch positioniert: in genau jenen Interaktionsräumen, in denen „moderne“ Institutionen, die die Welt, in der wir leben, auf der Grundlage einer tiefgreifenden Unterscheidung und Entgegensetzung von „Natur“ und „Kultur“ hervorbringen, mit anderen Erfahrungen und

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Der Begriff legt Deutungen nahe, die (je nach Kontext) problematisch sein können, die sich aber auch nicht elegant auflösen lassen: ein traditioneller Anthropozentrismus ist unverkennbar, zudem macht der Singular den Menschen zum Gattungswesen, was den Blick auf die Gesellschaftlichkeit der Naturverhältnisse verstellt.

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Produktionsvorgängen von Welt in Austausch treten. Wissenschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationaler Humanitarismus, Tourismus, Weltmärkte, Politik – all diese vom Westen5 dominierten Institutionen und Ordnungsformate globaler Verhältnisse drängen anderen Gesellschaften, Traditionen und Lebensformen, die über eigene und andere Ressourcen des Weltenmachens verfügen, ihre Bedingungen auf, weil sie selbst keine Alternativen dulden oder schlicht unfähig sind, Heterogenität und Differenz überhaupt anzuerkennen (vgl. Ingold 2018; Verran 2017). Ethnolog*innen sind daher mit der grundlegenden Frage konfrontiert, wie man von Traditionen und Wissenspraktiken lernen kann, die der „westlichen“ Natur-Kultur-Entgegensetzung nicht folgen, ohne massive Hierarchien in den Ordnungen des Wissens unsichtbar zu machen oder die Kämpfe und prekären Verhältnisse zu ignorieren, die die modernen Institutionen diesen anderen Formen des In-der-Welt-Seins und Welten-Machens aufzwingen (vgl. Blaser 2013, Schramm 2017). Im Feld der ethnologischen Debatten um NaturenKulturen existiert insoweit eine doppelte Analyse- und Argumentationsstruktur, die für das Fach insgesamt konstitutiv ist. Die ethnologische Forschungspraxis umfasst demnach nicht nur die ethnografische Analyse und das Lernen von anderen Lebensformen, emergenten Phänomenen oder Gesellschaften „anderswo“, sondern damit verbunden immer auch das Offenlegen der Kontexte und Prozesse, durch die spezifische Kategorien und Deutungsschemata der Herkunftsgesellschaften und -milieus von Ethnolog*innen hervorgebracht und geformt wurden. Daher hat für sie die Frage, wie man „Verflechtungen zwischen Natur und Kultur jenseits des ethnozentrisch-wissenschaftlichen Common Senses“ (Beck 2008, 168) konzeptualisieren kann, eine besonders große Rolle gespielt. Mit Stefan Beck lässt sich Bruno Latour darin folgen, dass die Sozial- und Kulturanthropologie in dieser Hinsicht nie modern gewesen ist. Seit den ethnologischen Arbeiten etwa eines Franz Boas und Marcel Mauss im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zieht sich die Auseinandersetzung mit den Grundlagen westlicher Natur-Kultur-Verständnisse und mit alternativen Sichtweisen anderswo wie ein windungsreicher Fluss durch die Fachgeschichte und hat entsprechend vielfältige analytische Sedimente sowie einen großen

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Mit Stuart Hall (1994) verstehen wir den Westen nicht primär als geografische, sondern vor allem als historische Kategorie. Hall arbeitet heraus, wie dieser Westen sich und „die Anderen“ – den „Rest der Welt“ – historisch durch Strategien der Stereotypisierung, der Idealisierung, der Projektion usw. konstituiert hat. Hall zeigt auch, wie dieser Westen häufig als normative Vergleichsfolie und Standard zur Bewertung von Entwicklungen anderswo herangezogen wird.

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Reichtum empirisch-ethnografischer Studien hinterlassen. Im Zusammenspiel dieser Hinterlassenschaften und aktueller sozial- und kulturanthropologischer Forschungen mit feministischen, poststrukturalistischen Strömungen und neuem Materialismus ist eine der interessantesten Kontaktzonen aktueller NaturenKulturen-Forschung entstanden. Von der Ethnologie ausgehende Ontologie-Debatten (Heywood 2017; Holbraad und Pedersen 2017) sind zu wichtigen Impulsgebern gegenwärtiger NaturenKulturen-Forschung avanciert. Autor*innen wie Marilyn Strathern (1988; 1991; 1992), Philippe Descola (2013) oder Eduardo Viveiros de Castro (1998) speisen diesen Reichtum von Beschreibungen anderer Weltverhältnisse und von Konzepten und Studien aus der Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie explizit in die NaturenKulturen-Forschung ein, um dominante Konzepte zu dekolonisieren und die Möglichkeitsräume einer heute immer global verflochtenen Wissenschaft zu erweitern. Auf der Grundlage ihrer Forschungserfahrungen in Mount Hagen, Papua Neuguinea begann Strathern in den 1970er-Jahren, Alterität nicht mehr in den eingespielten Analysemustern von Kultur und kultureller Differenz zu adressieren. Statt die Wissenspraktiken der Menschen in der Gegend von Mount Hagen mit westlichen Konzepten zu klassifizieren und zu analysieren, entwickelte sie ethnografische Darstellungen, in denen die Konzepte und Analyseformen von Welt, die in Mount Hagen zum lokalen Common Sense gehören und die ja nicht nur „Konzepte“, sondern immer auch Modi des In-der-Welt-Seins und des Weltenmachens sind, zur Prüfung und Befragung westlicher Konzepte herangezogen werden können. In ihren ethnografischen Beschreibungen verlieren westliche Vorstellungen von „Person“ und „Ding“, „Kultur“ und „Natur“ (und damit die Grundpfeiler vieler Dichotomien, an die wir uns gewöhnt haben), ihre Stabilität und Universalität. Melanesische Kategorien und Denkweisen werden weniger erzählt als für das Denken der Ethnologin selbst mobilisiert, Annemarie Mol zufolge eine Art Inkorporation ohne Assimilation (Mol 2002, 148) für postplurale, multiple Welten. Indem Strathern Analysen und Wissensformen aus Mount Hagen beispielsweise für die Erforschung britischer Verwandtschaftsverhältnisse im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit nutzt (1992), kreiert sie „postkoloniale Momente“. Machtvolle globale Hierarchien in den Wissensordnungen werden für einen Augenblick außer Kraft gesetzt und es wird möglich, Konzepte, die nicht der europäischen Philosophie und Aufklärung entspringen, für das Denken über NaturenKulturen zu nutzen (vgl. Schramm 2017, 480). Es entstehen Beschreibungen einer „Anthropologie des Anderen Falls“ (Povinelli 2011), die mit nicht-hegemonialen Denkweisen in unseren eigenen Gesellschaften verbunden werden, um auf Alternativen aufmerksam zu machen.

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Auch für die Geografie ist das Verhältnis zwischen Natur und Kultur (oder Gesellschaft) eine Kernfrage, die die Disziplin seit den Anfängen begleitet. Sie manifestiert sich erkennbar in der gängigen, andauernden Aufteilung in eine sozial- und kulturwissenschaftliche Humangeografie und eine naturwissenschaftliche physische Geografie. Dabei war und ist die Annahme verbreitet, die Humangeografie leiste die Analyse gesellschaftlicher und kultureller Aktivitäten aufbauend auf den natürlichen, (unter anderem) durch die physische Geografie beschriebenen Prozessen. Seit den 1980er-Jahren hat sich in der Humangeografie jedoch schrittweise ein komplexeres Verständnis von Natur entwickelt, das Impulse aus poststrukturalistischen und (post-)marxistischen Debatten sowie aus der Wissenschaftsforschung aufnimmt (Flitner 1998; Zierhofer 2004; Bakker und Bridge 2006). Dies hat, wie Castree (2011, 185) formuliert, zu einer „Renaturalisierung“ der Humangeografie in den internationalen Debatten geführt, und so sind in den letzten Jahren interessante Beiträge zur NaturenKulturen-Forschung entstanden, von denen sich mehrere auch in diesem Band finden. Der Grenzverkehr zwischen den beiden Teilen der Geografie war über erhebliche Teile des 20. Jahrhunderts hinweg im gemeinsamen Gegenstand der Landschaft aufgehoben, der das Fach gerade wegen verschiedener theoretischer Wendungen in den letzten Jahrzehnten weiter beschäftigt (Mitchell 2001; Neumann 2011). Insbesondere brachte der breite cultural turn eine vertiefte Auseinandersetzung mit Fragen der Repräsentation (Cosgrove 1984), aber auch mit den Gegenständen und Methoden der geographischen Umweltforschung (siehe Flitner 2003). In genealogischen Erzählungen über dieses Feld wird häufig der (geografischen) Kulturökologie der sogenannten Berkeley School eine wichtige Rolle zugestanden, die in den 1920er-Jahren von Carl O. Sauer (1889–1975) an der kalifornischen Universität begründet wurde und sich durch zahlreiche historische und empirische Arbeiten zur Konzeption der „Kulturlandschaft“ hervorgetan hat. Dabei gab es in der frühen Kulturökologie einen intensiven Austausch mit den Kulturanthropologen in Berkeley (u.a. Alfred Kroeber) und erkennbare Bezüge zu den verwandten Entwicklungen in deren Fach. Die geografische Lesart der Kulturökologie entwickelte sich jedoch wenig weiter; dies lag zum einen an ihrer eher dünnen theoretischen Fundierung, in der kulturelle Praktiken vorrangig als funktionales Element für die Aufrechterhaltung stabiler Ökosysteme verstanden wurden. Zum anderen liefen auch die fachinternen und breiteren politischen Entwicklungen der 1960er- und 1970er-Jahre in andere Richtungen. Die modernere Ökosystemforschung und die „quantitative Revolution“ in der internationalen Humangeografie verfolgten andere Erkenntnisziele: Sie waren zwar an den Funktionalismus der Kulturökologie anschlussfähig, aber im Kern positivistisch und hatten nur wenig Interesse an kultureller Differenz oder Kulturtheorie.

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Gleichzeitig, und für unsere weiteren Überlegungen bedeutsamer, wurde zunehmend kritisiert, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse und politische Prozesse in der Kulturökologie weitgehend ausgeblendet blieben. Ausgehend von dieser Kritik bildete sich die Politische Ökologie heraus, die sich in den 1980er- und 1990er-Jahren zunächst im Kontext der Nord-SüdBeziehungen entwickelte (vgl. Blaikie 1995; Bryant 1998). In der anglofonen Geografie ist sie heute das wichtigste Forschungsprogramm für die kritische, empirisch orientierte Untersuchung der Mensch-Umwelt-Beziehungen (Perreault, Bridge und McCarthy 2015; Robbins 2012). Ihr klares Ziel war es zunächst, die sozialen und politischen Faktoren von Umweltveränderungen offenzulegen und diese sowohl in ihren Ursachen wie in ihren Wirkungen zu untersuchen. Die erste Generation politisch-ökologischer Arbeiten konzentrierte sich dabei auf die Analyse von gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen und strukturellen Machtungleichgewichten, die als tieferliegende Ursachen für Landnutzungskonflikte und Ressourcenausbeutung erkannt wurden (siehe Blaikie und Brookfield 1987; Watts 1983). Untersucht wurde dabei auch, inwiefern die fortdauernd ungerechten und nicht nachhaltigen gesellschaftlichen Naturverhältnisse (Görg 1999) und deren soziale Folgen von ideologischen Erzählungen verschleiert werden. Die Politische Ökologie adressiert also die „Zusammenhänge zwischen Natur, Kultur und Macht“ (Blaser und Escobar 2016, 164). Hinter einem starken Gesellschaftsbegriff blieb jedoch in vielen Fällen eine positivistisch verstandene Natur „an sich“ als unhintergehbare materielle Tatsache bestehen. Bruce Braun argumentiert daher in Anspielung auf Latour (1995), dass die Politische Ökologie zwar zunächst dafür gesorgt habe, dass historische und politische Bedingungen wieder Einzug in die Untersuchung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses gehalten haben, „jedoch zu dem Preis, die moderne Verfassung fraglos zu akzeptieren“ (Braun 2004, 162) – also gesellschaftliche Faktoren von natürlichen zu unterscheiden, um dann deren Verhältnis zueinander zu bestimmen. Noel Castree und Bruce Braun (2001) haben die fortgesetzte Ausblendung der sozialen Dimensionen von Natur thematisiert, die mit einem Konzept von Natur als das abgetrennte, physische, nicht-menschliche, nicht-kulturelle, nichtsoziale Andere einhergeht. Ihr Begriff der „sozialen Natur“ soll vor diesem Hintergrund dreierlei leisten. Zum einen wird der Vorstellung eine Absage erteilt, dass die Fakten der Natur für sich selbst sprächen, und Natur folglich objektiv untersucht werden kann. Vielmehr wird das Wissen von und über Natur als ein von Machtverhältnissen geprägtes „situiertes Wissen“ (Haraway 1988) mit materiellen Effekten konzeptionalisiert. Zum zweiten wird der soziale und lokalisierte Charakter der Mensch-Umwelt-Interaktion hervorgehoben: Möglichkeiten und Zwänge im Umgang mit natürlichen Voraussetzungen sind nicht einfach gege-

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ben, sondern immer abhängig von ökonomisch, kulturell und technologisch vermittelten Naturverhältnissen. Zum dritten wird Natur als aktiv „gemacht“ verstanden, als ein Prozess, bei dem die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen gegeben und gemacht, durch Biotechnologien und andere technowissenschaftliche Entwicklungen verwischt, verschoben und rekonstruiert wird. Diese starke Rolle von Technologie und Technowissenschaft ist jedoch nicht als Symptom einer epochalen Wende im Verhältnis von Gesellschaft und Natur zu verstehen. Während neue technologische Möglichkeiten den Grenzverkehr von Natur und Kultur intensivieren, beschreibt die Diagnose der „Technonaturen“ (White und Wilbert 2009) nicht allein zeitgenössische sozionatürliche Welten. Vielmehr hat die Verwicklung von Menschen und nicht-menschlichen Akteuren schon immer soziale, ökologische und technologische Aspekte (White und Wilbert 2009, 9). Castree betont daher, dass die „post-natürliche“ Geografie „technowissenschaftliche Entwicklungen wie transgene Schweine, intelligente Roboter und Mikrochip-Implantate [...] nur als jüngste Beispiele einer langen Geschichte der Durchdringung und Vermischung von Natur und Gesellschaft [society-nature interfusions]“ versteht (Castree 2005, 225).

AUF DEM W EG ZU NEUEN P OLITISCHEN Ö KOLOGIEN : N ATUREN K ULTUREN ALS M ULTI -S PEZIES -P RAXIS Schon früh haben Forscher*innen aus der Politischen Ökologie einzelne Begriffe und Elemente aus der Wissenschaftsforschung und insbesondere aus der AkteurNetzwerk-Theorie (ANT) übernommen. So hat etwa Erik Swyngedouw eine eigene, historisch-materialistische Lesart der Hybridität entwickelt, die in seinen späteren Begriff einer „Sozionatur“ [socionature] eingeht (u.a. Swyngedouw 1999; siehe auch Bakker und Bridge 2006, 17). Rebecca Lave (2015, 216) argumentiert jedoch, dass die theoretische Verbindung hier (wie in anderen Fällen) eher dünn ist und in erster Linie Metaphern übernommen werden. Ein weitergehendes Engagement mit den oben genannten Debatten fand in der Geografie zunächst außerhalb der Politischen Ökologie statt. Insbesondere hat Sarah Whatmore mit ihrem Buch Hybrid Geographies (2002) die Verknüpfung von Wissenschaftsforschung und Geografie vorangetrieben. Sie hat darin eine „mehr-als-humane Geografie“ [more-than-human geography] begründet, die der Trennung in Menschliches und Nicht-Menschliches eine im Latour’schen Sinne „nicht-moderne“ Ontologie entgegensetzt, die menschliches Sein und Werden als immer schon eingebunden in ein Netz von Körpern und materiellen Dingen versteht. Whatmore unterzieht die Kategorisierungspraktiken von Natur

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und Kultur einer Analyse und arbeitet dabei unter anderem die Gemachtheit und Netzwerkhaftigkeit der Unterscheidung von „wild“ und „gezähmt“ in unterschiedlichen Kontexten heraus, die von den „wilden“ Leoparden der antiken römischen Kampfarenen bis zur Inventarisierung gefährdeter Arten im Rahmen der Biodiversitätskonvention in der Gegenwart reichen. Dazu stützt sie sich methodisch auf die ANT, argumentiert aber zugleich für eine „relationale Ethik“, die sie an Haraway anschließt und die affektive und verkörperte Lebewesen nicht ausschließlich als Netzwerkelemente betrachtet. So zeichnet Whatmore nach, wie eine im antiken Nordafrika gefangene Raubkatze entlang der militärischen und ökonomischen Verbindungslinien des römischen Imperiums transportiert und zugerichtet wurde, um schließlich in der Arena als Verkörperung einer spezifischen Imagination von Wildheit aufzutreten. Dieses „Leopardwerden“ [becoming Leopardus] (Whatmore 2002, 24) ist also ein symbolisch-materieller Prozess, der auch das Leiden, die Körperlichkeit und die Affektivität des Tieres einschließt – auch wenn Whatmore einräumt, über dessen Erleben nur Vermutungen anstellen zu können. Damit nimmt sie zugleich Überlegungen des multispecies turn vorweg (siehe unten). Mit der „mehr-als-humanen Geografie“ wird nun erstmals ganz dezidiert die praktische Herstellung der Kategorien Natur und Kultur/Gesellschaft selbst zum Gegenstand geografischer Forschung. Die Beschäftigung damit, in welchem Verhältnis Natur und Kultur/Gesellschaft stehen oder sich gegenseitig determinieren, wird abgelöst durch die Hinterfragung und Untersuchung der konkreten Praktiken, die die Trennung und Verbindung dieser zwei ontologischen Sphären bewerkstelligen (Braun 2004, 171). Steve Hinchliffe (2007) hat das reziproke Verhältnis von Natur und Gesellschaft als „Koproduktion“ beschrieben. Natur und Gesellschaft hängen wechselseitig voneinander ab; was als Natur und Gesellschaft gilt, ist weder unveränderlich, noch lässt es sich getrennt voneinander verstehen. Dieses Konzept der Koproduktion ermöglicht, die soziale Bedingtheit von Natur und die Materialität des Sozialen zusammen in den Blick zu nehmen. Hinchliffe (2007, 79–101) beschreibt anhand des Beispiels des britischen Ausbruchs von boviner spongiformer Enzephalopathie (BSE oder Rinderwahn), welche fatalen Auswirkungen die Annahme einer singulären Natur auf wissenschaftliche Erkenntnisprozesse und politische Schlussfolgerungen haben kann. Ein zentrales Problem war hier die Identifikation der Übertragungswege. Die krankheitsauslösenden Prionen sind hochinfektiöse Proteine, die zwar virusähnliche Eigenschaften haben, aber im Gegensatz zu Viren keine DNA oder RNA enthalten und dadurch atypische Infektionswege und ungewöhnlich lange Inkubationszeiten zeigen. Die Erreger wurden durch kontaminiertes Tiermehl als Bestandteil von Futtermitteln übertragen, jedoch wurden die Wissensbestände de-

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rer, die mit den tatsächlichen Praktiken in den Schlachthäusern vertraut sind, nicht in die Ursachensuche der Expert*innen einbezogen. Die Expertenkommissionen der britischen Regierung versuchten derweil vor allem, Komplexität zu reduzieren, neue Fragen, Unsicherheiten, Kontroversen und widersprüchliche Aussagen zu vermeiden. Dies führte jedoch zu enormen Fehleinschätzungen: Weder das Überschreiten der Artengrenze zwischen Schafen, Kühen und Menschen, noch die Gefahren auch kleinster Erregermengen wurden vorhergesehen. Hinchliffe versteht die BSE in ihrem konkreten Auftreten daher als eine naturkulturelle Assemblage unterschiedlicher Praktiken und Objekte im Rahmen des „Kollektivexperiments“ (Hinchliffe 2007, 41) der industriellen Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion, durch das die Bedingungen für den BSEAusbruch bereitet wurden. Koproduktion adressiert weder Gesellschaft noch Natur lediglich als passiven Hintergrund und bietet damit eine Alternative sowohl zum positivistischen Verständnis von Natur als einem Ort „da draußen“ als auch zu einem „hyperkonstruktivistischen“ Naturbegriff, der Natur ausschließlich als eine dem Sozialen nachgeordnete, ideologische Konstruktion versteht und dabei deren materiellen Eigensinn aus den Augen verliert (siehe auch Castree 2001). Die koproduzierte Natur ist nicht vorgegeben – sie ist das Ergebnis vielfältiger Praktiken menschlicher und nicht-menschlicher Akteure und Objekte, wobei Repräsentations- und Wissenspraktiken hier nur eine mögliche Form der Aktivität sind – „neben vielen anderen Praktiken (wie wachsen, infizieren, graben, zählen), von denen manche keine Menschen im Zentrum haben“ (Hinchliffe 2007, 1). Dieser auf (multiple) Praktiken bezogene Naturbegriff bedeutet zugleich eine Vervielfältigung von Natur(en). Damit nehmen „multinaturelle Geografien“ (Lorimer 2012) die These von Latour (2001) auf, gemäß der es ebenso wenig eine Natur wie eine Kultur geben kann. Die Natur wird versammelt: Sie ist eine „Politik der Dinge“. Hinchliffe (2007, 165) schlägt hierfür den Begriff der „Ökologien der Aktion“ [ecologies of action] vor, um ebenfalls in Anschluss an Latour zu betonen, dass dieses Versammeln nicht nur „harte Arbeit “ (Hinchliffe 2007, 98) bedeutet, sondern auch immer experimentellen und vorläufigen Charakter hat. Natur wird nicht länger als Ausgangspunkt begriffen, sondern als ein mehr oder weniger stabiles Ergebnis menschlicher wie nicht-menschlicher Akteure. Jamie Lorimer (2011, 197) kommt daher zu dem Schluss, „die Idee einer singulären Natur – als essentieller Kern oder reine Sphäre von Objekten, außerhalb von Gesellschaft und durch die Naturwissenschaft enthüllt“ sei somit an ihr Ende gekommen. Dieses Konzept einer ontologischen Multiplizität ist nicht zu verwechseln mit der Vorstellung, es existierten eben viele verschiedene Perspektiven. Es han-

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delt sich vielmehr um eine Version „ontologischer Politik“, ein Ansatz, der auf die Arbeiten von Annemarie Mol zurückgeht. Die Kernthese Mols (2017, 437) ist es, dass die Dinge jeweils anders sind, je nachdem durch welche Praktiken sie hervorgebracht werden. Am empirischen Beispiel eines Krankenhauses, in dem Patient*innen mit Arteriosklerose von unterschiedlichen Fachabteilungen untersucht und behandelt werden, zeigt Mol auf, dass die Krankheit Arteriosklerose kein „universelles Objekt“ ist (Mol 2017, 96; Sørensen und Schank 2017). Vielmehr werden die Ergebnisse unterschiedlicher Methoden miteinander koordiniert und in Einklang gebracht, etwa die klinische Diagnose der Allgemeinmediziner*innen, der Gehtest der Bewegungstherapeut*innen, die mikroskopische Untersuchung von Gewebeproben in der Pathologie, die Gefäßchirurgie, die Angiografie und die Dopplerdruckmessung. Schmerzen beim Laufen, ein hoher Druckabfall in der Doppleruntersuchung und durch pathologische Verfahren sichtbar gemachte Verkalkungen der Gefäßwände sind allesamt Ausdruck verschiedener Arteriosklerosen. Von diesen gibt es „mehr als eine, aber weniger als viele“ (Mol 2002, 55 in Anschluss an Strathern 1991). Politisch ist dies zum einen, da das Beharren auf der singulären Natur, die hinter unterschiedlichen Perspektiven liegt, eine Form „epistemischer Gewalt“ (Spivak 2007) darstellen kann. Descola (2008) etwa zeigt auf, dass durch internationale Naturschutzpolitiken im globalen Süden entstehende Konflikte ein Ausdruck der Universalisierung eines bestimmten, europäisch geprägten Konzeptes von Natur sein können. So ist das Argument, die Natur sei aufgrund ihres Eigenwertes schützenswert, ein historisch und kulturell spezifisches, das ohne die Praxis und Erfahrung der Zerstörung der Natur wenig Sinn macht. Die europäische Kosmologie des Naturalismus ist jedoch nur eine von vielen Formen, die Welt zu organisieren, so dass lokale Widerstände gegen die nur scheinbar universellen Argumente für Naturschutz nicht unhinterfragt mit unethischem Handeln gleichgesetzt werden sollten (Descola 2008, 72). Descola fordert vielmehr dazu auf, die Partikularität aller Konzepte von Natur als gewordene NaturenKulturen anzuerkennen und ein Konzept „relativer Universalismen“ zu entwickeln, das auf Verhandlungen beruht und heterogene Arten von Naturschutz zulässt (Descola 2008, 73). Zum anderen kann die ontologische Perspektive den von Damian White und Chris Wilbert (2009, 10–11) formulierten Anspruch adressieren, „politische Ökologien zu entwickeln, die expliziter erkennen und anerkennen, wie unsere sozial-ökologischen Welten aktiv durch diverse Herstellungsprozesse, Zirkulationen und Verwicklungen von Menschen mit diversen Nicht-Menschen, Ökosystemen, materiellen und immateriellen Elementen und Artefakten gemacht werden“.

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Mit dem von Eben Kirksey und Stefan Helmreich (2010) beschriebenen Auftauchen der „Multispezies-Ethnografie“ sind diese Verwicklungen auch ins Zentrum der kultur- und sozialanthropologischen Forschung gerückt. Die Rolle von Tieren für menschliche Gesellschaften war schon immer ein wichtiges Thema ethnologischer Untersuchungen. Die Multispezies-Ethnografie jedoch geht davon aus, dass Menschen nur in ihrer transformativen Begegnung mit Pflanzen, Tieren, Pilzen und Mikroben verstanden werden können (Kirksey, Schuetze und Helmreich 2014, 1–2) und versucht sich an deren ethnografischer Dezentrierung. Zentraler Bezugspunkt sind hier die neueren Arbeiten von Donna Haraway zu Gefährt*innenspezies (2008; 2016). Darin geht es Haraway nicht allein um das Verhältnis zwischen Menschen und domestizierten Tieren, sondern um die Infragestellung des menschlichen Exzeptionalismus insgesamt. Sie denkt die Menschheit als „räumliches und zeitliches Netz der Beziehungen zwischen Arten“ (Haraway 2008, 11), das die Mikroorganismen im menschlichen Körper ebenso umfasst wie jene Tiere, mit denen Menschen sich bewusst umgeben und emotional verbinden. Menschen und andere Wesen sind immer im gemeinsamen Werden [becoming with] begriffen, verbunden in einem „Tanz der Begegnung“ und Berührung, bei dem kein Partner unverändert bleibt (Haraway 2008, 4). Kirksey und Helmreich (2010, 555) weisen zudem darauf hin, dass auch in der Biologie zunehmend Grenzverwischungen thematisiert werden und statische Konzepte der Verwandtschaft durch rhizomatische abgelöst werden. Stefan Helmreich (2003) etwa beschreibt, wie die Entdeckung des lateralen Gentransfers bei Mikroorganismen lineare Konzepte der Abstammung und Vererbung problematisiert. Die Multispezies-Ethnografie ist also mehr als eine bloße methodische Neuausrichtung oder eine thematische Erweiterung. Es handelt sich vielmehr um „theoretische Beiträge, die neu konzeptionalisieren, was es bedeutet, Mensch zu sein“ (Ogden, Hall und Tanita 2013, 7). Hier stellen sich auch neue Fragen der Schreibpraxis. Wie schreibt man NaturenKulturen? Als in der Sozial- und Kulturanthropologie der 1980er-Jahre die Writing-Culture-Debatte über die Krise der ethnografischen Repräsentation viele damalige disziplinäre Darstellungsroutinen und Gewissheiten aus den Angeln gehoben wurden, war die Welt in der Perspektive der Ethnologie im Wesentlichen eine soziale Konstruktion (vgl. Clifford und Marcus 1986; Marcus und Fischer 1986; Berg und Fuchs 1993; Behar und Gordon 1995). In der Debatte über ethnologisches Schreiben wurde unter anderem verhandelt, wie unterschiedliche Perspektiven auf und Erfahrungen mit dieser sozial konstruierten Welt angemessen dargestellt werden könnten, wer für wen spricht oder besser nicht sprechen sollte, wie die Autorität zu sprechen sprachlich hergestellt wird und wie im Sinne dialogischen Schreibens und neuer Formen der Vielstimmig-

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keit Heterogenität auf der Ebene von Texten sichtbar zu machen sei. In der NaturenKulturen-Forschung ist die Frage – wie schreiben? – bislang wenig zum Thema gemacht worden.6 Dabei fällt auf, wie viele Autor*innen mit neuen Formen der Beschreibung experimentieren und nach neuen Ausdrucksformen suchen. Die Risiken und Herausforderungen sind beträchtlich. Es geht nicht mehr alleine um die Legitimität und Konstruktion ethnografischer Autorität und die Repräsentation multipler Stimmen und Positionen. Wenn die Welten, in denen wir leben, von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren koproduziert sind, dann geht es auch um Fragen der Darstellbarkeit von Verbindungen und Vermischungen in multiplen Welten und Ordnungen. Über „Writing NatureCultures“ nachzudenken wirft Fragen auf wie: Auf welche Art können Irritation, Verunsicherung und Destabilisierung als Methoden des Anschreibens gegen etablierte Wissensordnungen eingesetzt werden? Wie lässt sich ein empirischer Relationismus (Kenney 2015) sprachlich umsetzen, wie schreiben wir beispielsweise nicht von „Körpern an sich“, sondern von Körpern-in-Umgebung, Körpern-in-Praxis, Körpern-in-Aktion? Wie von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen, die uns in ihre Welt mit einbeziehen? Wie lassen sich jenseits von biologischen oder kulturellen Reduktionismen, aber auch jenseits anthropomorphisierender Versuchungen, hybride Formen der Beschreibung (er)finden? Das Zusammenspiel menschlicher und mehr-als-menschlicher Praktiken der Koproduktion von multiplen Naturen macht zudem konkrete Interventionen möglich und notwendig. Zwar wird politisches Handeln zunächst dadurch verkompliziert, dass es sich nicht länger auf die Idee der einen Natur, also ein universalistisches Naturkonzept als das normative Fundament verlassen kann (Lorimer und Driessen in diesem Band). Doch angesichts der tatsächlichen, vielfältigen Verstrickungen von Natur und Gesellschaft würde dieses, so argumentieren White und Wilbert (2009, 4), ohnehin nur den Wunsch nach einer Rückkehr zur unberührten Natur symbolisieren und zwangsläufig zu einer anachronistischen, „naturalisierten Umweltpolitik“ führen. Dagegen ist beispielsweise Naturschutz unter den Voraussetzungen multipler Natur(en) notwendigerweise mit der Aushandlung der Frage konfrontiert, „welche Natur es denn sein soll“ (Hull und Robertson 2009, 299; siehe auch Gesing in diesem Band) und welche Ein- und Ausschlüsse dabei produziert werden. Auch für Hinchliffe (2007, 181) ist es daher eine sowohl empirische als auch politische Frage, wie nachhaltigere und gerechtere „Räume für Natur“ in der Praxis hergestellt werden können. Hier eröffnen sich neue Möglichkeiten mit unmittelbaren Konsequenzen für die Konzepti-

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Siehe aber Asdal und Ween (2014). Zudem fand im Mai 2017 ein Workshop zu diesem Thema mit Banu Subramaniam im Bremen NatureCultures Lab statt.

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on und das Selbstverständnis sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung, die sich insbesondere in der Hinwendung zu kollaborativen Experimenten mit neuen Formen der Wissensproduktion zeigen. Auffällig oft sind solche experimentellen Herangehensweisen durch ein produktives Moment der Störung und Krise katalysiert (in diesem Band u.a. bei Whatmore, Tsing, Jones, auch Gandy, Lorimer und Driessen). Insgesamt erweitert der NaturenKulturen-Zugang die Politische Ökologie durch einen Fokus auf die Praktiken, in denen die dichotome Ordnung von Natur und Gesellschaft als zwei ontologisch getrennte, aber praktisch dicht verknüpfte Sphären entsteht. Neue politische Ökologien nehmen die Soziomaterialität von Natur, also deren symbolisch-repräsentative, soziale und materielle Aspekte in ihrer Verwobenheit in den Blick (vgl. Bauriedl 2016; Becker und Otto 2016). Den Fokus auf menschliche und mehr-als-menschliche Praktiken zu legen heißt, sich auch mit der Wirkungsmacht [agency]7 der nicht-menschlichen Natur zu befassen. Anna Tsing (in diesem Band; 2018) zeigt in ihrer Arbeit zur Verbindung der als Delikatesse gehandelten Matsutake-Pilze mit den Überresten destruktiver forstwirtschaftlicher Praktiken, wie Bäume und Pilze gemeinsam Landschaft gestalten und damit gleichsam zu historischen Akteuren werden. Die Anliegen der Politischen Ökologie werden durch die Beobachtung naturkultureller Praktiken und ontologischer Multiziplität nicht abgelöst, sondern konzeptionell und praktisch erweitert. So beobachten Ogden, Hall und Tanita (2013, 16) das Aufkommen einer „aufmerksamen politischen Ökologie der Multispezies [...], die auf das Nicht-Menschliche in der Politik bedacht ist“. Dabei besteht eine zentrale Herausforderung empirischer, ethnografischer und geografischer Arbeit darin, immer auch die Linien und Knoten globaler Verstrickungen in den Blick zu bekommen (Ogden, Hall und Tanita 2013, 11). Neben der „ontologischen Politik“ bleibt die analytische Aufmerksamkeit für die „gewöhnlichen Politiken“ der Einund Ausgrenzung, für die Anerkennung von Subjektpositionen, für Fragen der Ressourcenverteilung und der Umweltgerechtigkeit zentrales Anliegen (siehe auch Wilbert und White 2009, 12). Arbeiten, die diese Verbindungen thematisieren, finden sich nicht nur in den naturkulturellen Zugängen, sondern auch im Feld der queeren, feministischen und postkolonialen Politischen Ökologien (Heynen 2018; Mollett und Faria 2013; Sundberg 2011; Verran 2017).

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Für eine Diskussion der Übersetzungsmöglichkeiten des englischen Begriffes „agency“ siehe Roßler (2007).

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S TRATEGIEN DER N ATUREN K ULTUREN -F ORSCHUNG : D IE B EITRÄGE Im letzten Teil dieser Einleitung wollen wir anhand der Beiträge zu den vier Sektionen dieses Bandes – (1) Experiment und Kollaboration, (2) Praktiken der Klassifizierung, (3) Zwischen_Arten und (4) Politiken der Sorge – konkrete und exemplarische Strategien der NaturenKulturen-Forschung aufzeigen. Diese Forschungsstrategien indizieren eine sozial verankerte und positionierte Praxis, die auch politische und normative Aspekte, ihre eigenen Verstrickungen und ihren Interventions- und Herstellungscharakter mitbedenkt. Während konkrete, fallspezifische Strategien durch einzelne Buchbeiträge besonders gut zu verdeutlichen sind, überwiegen doch die Gemeinsamkeiten, allem voran der starke Bezug zum (immer qualitativen, meist ethnografischen) empirischen Material, aus dem heraus Konzepte entwickelt und erläutert werden. Die hier vorgestellten begrifflichen, methodischen und heuristischen Werkzeuge sind themen- und disziplinenübergreifend relevant; sie konstituieren die NaturenKulturen-Forschung im Sinne von Karen Barad (2012, 100) als eine „Ethico-onto-epistemologie“, die quer zu unterschiedlichen Themenfeldern, Problemstellungen und Disziplinen liegt. (1) Kollaboration und Experiment Die erste Forschungsstrategie, die wir hervorheben möchten, ist die Entwicklung experimenteller und kollaborativer Praktiken. Die Erforschung von NaturenKulturen erfordert eine Anerkennung der Existenz diverser, heterogener Praktiken der Wissensproduktion. Um diese aufeinander zu beziehen und ins Spiel zu bringen, sind fast immer Kollaborationen notwendig, die über Partizipation und Zusammenarbeit hinausgehen. Jörg Niewöhner (2014, 211) spricht von neuen „epistemischen Partnerschaften“, um anzuzeigen, dass die Akzeptanz differenter Wissensgemeinschaften und heterogener Wissenspraktiken einen unhintergehbaren Ausgangspunkt darstellt, an den sich für die Zwecke der Kollaboration dann ein gemeinsamer Prozess der Problembestimmung und häufig auch der Entwicklung neuer Methoden anschließen müsse. In ähnlicher Weise hat Braun (2015, 103) einen experimental turn in der Politischen Ökologie als Antwort auf die Herausforderungen des Anthropozäns ausgemacht. Aufbauend auf ihre Forschungen zum Chemieunfall im indischen Bhopal entwickelt Kim Fortun (2012) eine Sichtweise auf Ethnografie als experimentelles System. Ethnografie wird hier nicht nur als ein Prozess verstanden, der die Sprachlosigkeiten und „diskursiven Lücken“ verschachtelter Probleme adressiert. Wie in die soziomateriellen

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Praktiken des Experiments (Rheinberger 2002) sind auch in die Praktiken der Ethnografie systematische Kapazitäten eingebaut zur Entdeckung dessen, was wir nicht wissen und deshalb auch nicht zielstrebig suchen können. Sowohl Labor-Experimente als auch Ethnografien können deshalb als Experimentalsysteme gedacht werden, in denen herumprobiert und getüftelt, moduliert und modifiziert wird. Als in diesem Sinne kollaborative Praxis kann Ethnografie dann neue Räume eröffnen – diskursive Räume, aber auch Räume der Deliberation und Kommunikation. Beispielhaft hierfür ist die Online-Plattform „Asthma Files“ (http://theasthmafiles.org), die ethnografisches Material, gesundheitswissenschaftliche Publikationen und Daten, politische Debatten sowie Medienberichterstattung über Luftverschmutzung für eine kollaborative und komparative Analyse zusammenbringt und dabei eine Vielfalt von Wissensformen und -träger*innen einbindet (Fortun et al. 2014). Um die NaturenKulturen globaler Lieferketten am Beispiel eines in Japan von Gourmets gefragten und deshalb teuren Pilzes erforschen zu können, entwickelt ANNA TSING in ihrem Beitrag eine Methode kollaborativer Team-Ethnografie. Diese verbindet nicht nur unterschiedliche Orte in Oregon/USA, Thailand und Japan, sondern auch unterschiedliche Lebewesen: Rotkiefern, illegalisierte Einwanderer*innen, die als professionelle Pilzsucher Wälder durchstreifen, Mykolog*innen, Pilzhändler und -käufer sowie die Pilze selbst in ihren biosozialen Umwelten. Der von Tsing beobachtete globale Lieferkettenkapitalismus muss zunächst in abseitigen Gegenden, sozialen Verwerfungen und ökologischen Nischen aufgespürt und beschrieben werden, um analysieren zu können, wie er sich unerwartete Formen der Differenz und Vielfalt zu Nutze macht und in Profit verwandelt. Dafür werden Orte und Zusammenhänge aufgesucht, die in ihrer Randständigkeit auch leicht übersehen werden könnten – und die zusammengenommen die zeitlichen und räumlichen Möglichkeiten einer Einzelforscherin schnell überschreiten. Ethnografie ist bezogen auf den Matsutake-Pilz nur noch als Teamforschung realisierbar. Die Forschenden reisen mental, konzeptionell und physisch, und sie schlagen sich so metaphorisch wie tatsächlich durchs Gestrüpp, um den globalen Lieferketten nachzufolgen. Ihrem Anspruch nach ähnelt diese Methode den von Deleuze und Guattari (1992) beschriebenen „nomadischen Wissenschaften“: empirischen Untersuchungen des Verbindens. Doch in den vom Spätkapitalismus ruinierten Landschaften, in denen sich die staatliche Verwaltung weitgehend zurückgezogen hat, treten nicht nur Flüchtlinge und Händler, Gewehre und Kühlwägen zueinander in Beziehung, sondern eben auch Ansammlungen von Rotkiefern und Pilzen, die hier gewissermaßen in den gesellschaftlichen Rissen und Brüchen leben – als Agenten einer globalen Wertschöpfung jenseits von ökologischer und ökonomischer Standardisierung.

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Der Beitrag von SARAH WHATMORE befasst sich ebenfalls mit dem Zusammenbringen neuer Kollektive und schlägt dazu einen „experimentellen Kurs“ in der Wissensproduktion über Hochwasser ein. Dazu reflektiert die Autorin Erfahrungen mit der Bildung einer sogenannten „Kompetenzgruppe“ aus Natur- und Sozialwissenschaftler*innen sowie Einwohner*innen der von Überflutungen betroffenen englischen Stadt Pickering. Das Hochwasserereignis wirkt hier als ein generatives Moment ontologischer Störung, das das Alltagsleben der Betroffenen in seinen materiellen und affektiven Grundfesten erschüttert und ein Nachdenken darüber erzwingt, dass natürliche und kulturelle Faktoren gemeinsam die existentielle Krise hervorgebracht haben. Zugleich gerät das eigentlich hegemoniale Wissen der Expert*innen des Hochwasserschutzes in eine Krise, die den Prozess der Wissensproduktion entschleunigt und in Form von Wissenskontroversen öffentlich befragt. Anschließend an Isabelle Stengers (2010) Konzept des „experimentellen Ethos“ bildet die Kompetenzgruppe einen experimentellen Apparat. Dieser adressiert die Diskrepanzen zwischen den Risikomodellen der naturwissenschaftlichen Experten*innen und der Betroffenheitserfahrung der Einwohner*innen durch ein kollaboratives Verfahren, bei dem die Materialität der durch das Hochwasser mobilisierten Dinge in den Mittelpunkt rückt. In regelmäßigen Treffen, Ortsbegehungen, Archivrecherchen, Videoaufnahmen und in der gemeinsamen Arbeit mit Artefakten – wie etwa einem Stück Teppich, das durch das Hochwasser in Mitleidenschaft gezogen wurde – wird hier alles Wissen als Wissen behandelt, das letztlich an Objekte gebunden ist. Daraus entwickelt sich eine technopolitische Praxis, in der Expertise umverteilt, wissenschaftliche Modelle durch Erfahrungswissen ergänzt und Ideen für andere Hochwasserschutzmaßnahmen getestet werden. Auch JAMIE LORIMER und CLEMENS DRIESSEN verstehen ihr Fallbeispiel, das in einem suburbanen Polder gelegene niederländische Naturschutzgebiet Oostvaardersplassen, als ein experimentelles System. In ihrem Beitrag konzeptionalisieren sie die dortigen Praktiken als eine Serie „wilder Experimente“ mit Naturschutz unter dem Vorzeichen multipler Naturen. Sie schildern die Prozesse der Auswilderung von Heckrindern, Hirschen und Pferden sowie die sich daran anknüpfenden öffentlichen Kontroversen über ein angemessenes Ausmaß menschlicher Interventionen. Für ihre Analyse entwickeln Lorimer und Driessen eine Heuristik mit drei Achsen, die aufzeigt, wie durch das wilde Experiment Oostvaardersplassen gängige Dualismen problematisiert und durchbrochen werden, nämlich die Unterscheidungen in vorgefunden und gemacht, Ordnung und Überraschung, sowie abgeschieden und wild. Lorimer und Driessen zeigen den hybriden und produktiven Charakter experimenteller Orte, an denen eine aktive, menschliche und nicht-menschliche Koproduktion von Natur möglich wird. An

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die Stelle von präskriptiven Plänen und Messungen treten dabei „offene Verhandlungen“ zwischen Menschen und (Wild-)Tieren. Wilde Experimente schaffen damit einen „Raum für Wildheit [wildness]“ ohne die „unmögliche Geografie der Wildnis [wilderness]“. Statt an einer „Biopolitik der Schließung“ festzuhalten, geben sie Überraschungen Raum. Die Idee der „wilden Experimente“ lässt sich selbst als eine vielversprechende Ontologie für das Anthropozän lesen, in dem Natur insgesamt zu einem Experiment geworden ist (Braun 2015). Über den konkreten Fall hinaus stellt sich daher die Frage, wie solche Experimente gestaltet werden können, die „dialogisch sind, offen für neue Akteure, sowohl menschliche wie nicht-menschliche, und [...] Überraschungen [...] generieren, statt zu bestätigen, was schon gewusst und erwartet wird“ (Braun 2015, 109). MATTHEW GANDY befasst sich in seinem Artikel über wilde Natur in der Stadt mit spontanen und nur teilweise gewollten Formen von naturkultureller Kollaboration. Er geht von der Entdeckung wilder Stadtnatur in der westlichen Moderne aus und zeichnet die Entwicklung eines Gegendiskurses zu der lange vorherrschenden, negativen Sicht auf städtische Brachen nach, der sich aus den Praktiken städtischen Naturschutzes ebenso speist wie aus neuen urbanen Ästhetiken. Das wachsende Interesse an spontanen Stadtnaturen steht in Verbindung mit philosophisch-politischen Diskursen über die Natur der Stadt und dem Aufkommen der wissenschaftlichen Stadtökologie in den 1970er-Jahren. Deren wechselseitige Beeinflussung zeigt sich in der Aufwertung marginaler urbaner Räume, verstanden einerseits als Hort der Biodiversität, andererseits als Ort einer neuen Ästhetik der „Nicht-Gestaltung“. Die ökologische Dynamik der Stadt ist geprägt von der spontanen Besiedlung der vielfältigen Störungszonen durch Pionierarten; sie bietet ein Geflecht von Mikronischen und ökologischen Korridoren, die die Ausbreitung von Populationen zum Beispiel entlang von Bahntrassen oder Straßengräben ermöglichen. Als Orte der Entdeckung und des Experiments verkörpern marginale Räume eine lebendige und komplexe Dimension von Stadtlandschaft quer zu der klaren und ideologisierten Trennung von Kulturlandschaft und Brache, von Natur und Kultur. Zugleich hat die Gestaltung von „halb-natürlichen“ oder „halbwilden“ Landschaften die Rekonstruktion einer Brachland-Ästhetik zum landschaftsarchitektonischen Kunstgriff werden lassen. Damit wird auch deren ökonomische Vermarktung möglich, wie das Beispiel des New Yorker High Line Park zeigt. Spontan entstandene Stadtnaturräume sind dagegen durchaus Räume der Ambivalenz und oft Ausdruck der Vernachlässigung und des Niedergangs städtischer Industrien. Gandy begibt sich auf die Suche nach einer Theorie der Ästhetik spontaner Naturstadträume, bei der ökologische Aspekte nicht hinter der Bewertung des landschaftlich Reizvollen zurücktreten, kommt jedoch zu dem Schluss, dass jeder Versuch, eine solche nicht-

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anthropozentrische, „ökologische“ Ästhetik zu definieren, unweigerlich auf die Natur als Bereich außerhalb des Sozialen verweist und damit in der NaturKultur-Dichotomie verhaftet bleibt. (2) Praktiken der Klassifizierung Die Beiträge in diesem Band zeigen alle mit jeweils spezifischen Blickwinkeln auf, dass die Kategorien Natur und Kultur das Ergebnis soziomaterieller Praktiken menschlicher und nicht-menschlicher Akteure sind. Die folgenden Beiträge zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, dass sie explizit Klassifikationspraktiken betrachten: als Teil wissenschaftlicher Wissensproduktion und als Alltagspraxis. Die Strategien der Analyse von Klassifikationspraktiken (in diesem Buch und im weiteren Feld der NaturenKulturen-Forschung) realisieren sich in unterschiedlichen Logiken. Einerseits geht es sehr häufig um die De- und Rekomposition von Klassifikationen (vgl. Strathern 1991) und um eine Erarbeitung der historischen und situativen Spezifik von unterschiedlichen Klassifikationspraktiken. Andererseits werden Spannungsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Klassifikationspraktiken und Zirkulationsnetzwerken in den Blick genommen, die die Ordnungen von Natur und Kultur rekonfigurieren. Helen Verran (2017; siehe auch Kenney 2015) etwa analysiert unterschiedliche Praktiken der Klassifikation, mit denen Umweltwissenschaftler*innen und aboriginale Landbesitzer*innen Feuer- oder Brandrodungsregimes bewerten und bringt sie in eine neue Verbindung. Solche Analysen von Klassifikationspraktiken sind für die NaturenKulturen-Forschung zentral, weil sie zur Sichtbarmachung und Reflexion von Grundlagen beitragen, die ansonsten kaum wahrnehmbar wären. Die Rekonstruktion von Verdinglichungsprozessen (Strübing 2014, 327) führt zu einem besseren Verständnis der Arten und Weisen, durch die nicht nur Denk- und Wahrnehmungsordnungen von Natur und Kultur, sondern auch Standards und Infrastrukturen generiert und kontinuierlich (re-)produziert werden (Bowker und Star 1999). Klassifikationspraktiken ordnen in einem sehr umfassenden, sozialen, symbolischen und materiellen Sinn die Strukturen des Lebens: Sprache, Apparate, Artefakte, Ordnungssysteme, Organisationsmuster und Infrastrukturen, die allesamt häufig unterhalb der Ebene expliziter Alltagswahrnehmung operieren und kaum je zum Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Verhandlungen werden, aber Wissenschaft und Alltag grundlegend prägen. Kein Wunder also, dass die Erkundung von Klassifikationspraktiken zu den wichtigsten Strategien der NaturenKulturen-Forschung zählt. Vor dem Hintergrund der Verknüpfung gesellschaftlicher Kategorien wie Geschlecht, race, Klasse, Sexualität und Nationalität mit der Geschichte der Na-

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turwissenschaften stellt BANU SUBRAMANIAM die Frage, wie die Rolle gesellschaftlicher und politischer Faktoren in den Naturwissenschaften der Gegenwart untersucht werden kann. Dazu verankert sie die Zugänge der feministischen Wissenschaftsforschung in den Praktiken der experimentellen Invasionsbiologie. Hintergrund von Subramaniams Interesse an der Invasionsbiologie ist die wechselseitige Verschränkung der Diskurse über eingeführte Arten (pflanzliche und tierische Organismen) und menschliche Einwander*innen. Sie unterzieht das von ihr gemeinsam mit zwei Biolog*innen in interdisziplinärer Kollaboration durchgeführte Experiment zur Besiedelung von einheimischen und eingeführten Pflanzen mit Mykorrhizapilzen einer kritischen Analyse der darin zugrunde gelegten Kategorien. Die untersuchten Pflanzen und Böden stammen aus Gebieten in Kalifornien, die zum Teil durch langfristig gestörte Ökosysteme und die Ausbreitung invasiver Arten geprägt sind. Banu Subramaniam zeigt auf, wie das grundlegende Vorgehen der Invasionsbiologie, nämlich die Problematik eingeführter Pflanzen vom Kontext gestörter Ökosysteme losgelöst zu betrachten, durch die Einteilung der Pflanzen und Bodensubstrate in einheimisch beziehungsweise eingeführt weiter festgeschrieben wird. Durch den geschärften Blick auf die Rolle der Bodengemeinschaften zwischen Pflanzen und Pilzen jedoch wird diese Kategorisierungspraxis problematisiert und aufgebrochen. Es zeigt sich, dass eingeführte Arten dort invasiv werden, wo Pflanzen- und Bodengemeinschaften bereits gestört sind – etwa durch langjährige Weidewirtschaft. Sie kommt daher zu dem Schluss, dass die Kategorisierung von Arten als invasiv das eigentliche Problem verschiebt, nämlich die Auswirkungen von Zersiedelung, Weidewirtschaft, Bodendegradation, der Fragmentierung von Habitaten, Bodenerosion und Störungen auf die Gemeinschaft inter species. EMILY YATES-DOERR versteht ihren Aufsatz als einen Beitrag zu einer Multispezies-Ethnografie, die sich vom Linné’schen Verständnis der Taxonomie löst, indem sie das Konzept der Art selbst problematisiert. Klassifikationspraktiken – wissenschaftliche wie alltägliche – sind historisch und kulturell spezifisch, so das Argument, und keine Abbildung einer universalen, singulären Wahrheit über die eine Natur der Welt. Anhand von ethnografischem Material aus ihrer Feldforschung im guatemaltekischen Hochland beschreibt Yates-Doerr Alltagspraktiken, in deren Mittelpunkt die Klassifikation von Fleisch steht. Fleisch, so zeigt sie, kann ontologisch vielfältige, lokalisierte Formen annehmen. Teilnehmend beobachtet sie, wie ein Sojaprodukt durch Formen des gemeinschaftlichen Kochens und Essens in der Familie zu einem Fleischgericht verarbeitet wird. Gleichzeitig löst sich in dieser Kommensalität auch jede Unterscheidung zwischen leiblichen und angenommenen Kindern der Gastfamilie auf; wer zur Familie gehört, ist im geteilten Alltag keine Frage von Fleisch und Blut. Die Position

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des Haushundes jedoch ist eine andere: wenn er des Nachts das Haus beschützt, gehört er zur Familie – am Morgen ist er wieder das Tier (aber niemals Fleisch). Durch solche ineinander verschachtelten Geschichten zeigt Yates-Doerr, dass Kategorien und Begriffe keine essentielle, abstrakte, standardisierte Bedeutung haben. Bedeutung entsteht vielmehr immer in spezifischen, situierten Praktiken. Die Frage ist letztlich also nicht, was Fleisch für eine Substanz hat, sondern durch welche Praktiken etwas als Fleisch in Kraft gesetzt [enacted] wird. Für die Multispezies-Ethnografie heißt dies, anstatt einer bloß „pluralistische[n] Addition weiterer (vorgegebener) biologischer Arten zum ethnografischen Kanon“ die vielfältigen Möglichkeiten zu untersuchen, in denen Beziehungen entstehen und damit zugleich die Gewaltförmigkeit dominanter Ordnungen von Natur und Kultur zu überwinden. Wie ist mehr-als-menschliche Kollaboration darstellbar, ohne mit Anthropomorphisierungen zu arbeiten und in diese zurückzufallen? Müssen dafür die menschlichen Autor*innen dezentriert werden und wenn ja, was bedeutet das? Kann man Pflanzen, Steine oder Tiere so beschreiben, dass sie nicht passiv erscheinen, sondern als aktive Partizipanden in den Praktiken und Politiken verbundenen Weltenmachens auftauchen? Und ist das dann noch Wissenschaft? Wie lassen sich Gefüge, partielle Verbindungen (Strathern 1991) und multiple Ontologien textuell und rhetorisch her- und darstellen? Die WissenschaftsBildgeschichte von MARTINA SCHLÜNDER und PIET ARENS kann als visuellecum-textuelle Umsetzung des Konzepts der „ontologischen Choreografie“ (Thompson 2005) gelesen werden. In ontologischen Choreografien kommen nach Charis Thompson Objekte und Aspekte zusammen, die normalerweise unterschiedlichen ontologischen Sphären, verschiedenen Ordnungen der Natur, der Gesellschaft oder der Wirtschaft zugeordnet werden. Wie beschreibt man die komplexen Übergänge und das Zusammenspiel dieser Sphären? Schlünder und Arens transportieren in ihrer Bild-Text-Geschichte diese konzeptionellen Überlegungen auf die Ebene der Darstellung von Mensch-Tier-Beziehungen am Beispiel von Schafen, die Versuchstiere in der Erprobung neuer chirurgischer Werkzeuge und Methoden sind. Beschrieben werden die Verkettungen und Verbindungen zwischen Stall, Labor und Klinik, zwischen agrarwissenschaftlicher (Re-)Produktion und Humanmedizin, zwischen Menschen, Dingen und Tieren, lebendiger und nicht-lebendiger Materie. Die „ontologische Choreografie“ der Versuchstiere wird als Verflechtung von Fotografie, Zeichnung und Schrift repräsentiert, wobei die Zeichen und Zeichnungen ständig die ihnen gesetzten Rahmen sprengen, Textgrenzen übermalt werden und Zeichen und Wörter die Bilder regelrecht überwuchern. Die Schafe bleiben nicht in den für sie vorgesehenen Sprechblasen und Kästen, sondern sie revoltieren gegen diese Grenzset-

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zungen und lassen sich scheinbar kaum kontrollieren. Bild und Schrift gehen neue Verbindungen ein, um Tier-Konzept-Hybriden, Quasiobjekte und Assemblagen darzustellen, in denen Tiere, Autos, Knochen, Ställe, Wissenschaftler*innen, chirurgische Instrumente, Kosten-Pläne und Ethikkommissionen miteinander interagieren. (3) Zwischen_Arten Die postanthropozentrische Perspektive ist vielleicht die charakteristischste konzeptionelle Innovation des NaturenKulturen-Feldes. Teilweise neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse aufgreifend, beispielsweise über die Rolle von Mikroorganismen im menschlichen Körper, teilweise befördert durch ökologische Probleme und Sorgen, sind die Beziehungen zwischen Menschen und anderen Spezies – Tieren, Pflanzen, und Mikroorganismen – verstärkt in den Fokus kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung geraten (Buller 2013 und 2014; Jones und Cloke 2008; Maan 2014; Kirksey 2014; Kirksey und Helmreich 2010; Kohn 2007 und 2013; Lorimer 2016; Ogden, Hall und Tanita 2013; Paxson und Helmreich 2014; Raffles 2013). Auch in diesem akademischen Feld waren Donna Haraways Arbeiten richtungsweisend (insbesondere 2008 und 2016), in denen sie die These einer Koevolution und geteilten Geschichte der Menschen und ihrer mehr-als-menschlichen Begleiter*innen darlegt. „Gefährt*innnenspezies“ [companion species] meint eine größere und heterogenere Kategorie als nur „mit uns lebende Tiere“ und bezieht auch andere Organismen wie beispielsweise Pflanzen mit ein (Tsing 2012). Wichtig ist, dass Haraway und andere Multispezies-Autor*innen auf reziproke und im Werden begriffene Beziehungen zwischen Arten abzielen, beziehungsweise biologische Arten selbst als veränderliche, offene Kategorien verstehen, und keinesfalls lediglich einzelne Spezies auf additive Weise der sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse zuschlagen. Vielmehr geht es ihnen um die Koproduktion von „multi-species agency“ (Locke 2013) als einer dezentrierten Wirkungsmacht, die nicht in Individuen, sondern in Relationen positioniert ist, und um nicht-kontrollierbare Natur, aktive Pflanzen und Umwelten, deren Historizität (Tsing 2018) und Affektivität (Hayward 2010; Hustak und Myers 2012) . HEATHER PAXSON untersucht in ihrem Beitrag die Produktion von handwerklich hergestelltem Rohmilchkäse in Vermont. Paxson kontrastiert diese Praxis mit dem in den USA vorherrschenden „Pasteurismus“, der Ernährungssicherheit durch eine Medikalisierung von Ernährung und eine Bevorzugung großindustrieller Herstellungspraktiken erkauft und dabei Rohmilchkäse vorrangig als biologischen Gefahrenherd betrachtet. Die zunehmende Beliebtheit des in den USA

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eigentlich stark regulierten Rohmilchkäses versteht sie als eine Gegenentwicklung und alternative „Mikrobiopolitik“. Käse-Kultur(en) sind das Ergebnis einer Verwicklung menschlicher und mikrobieller Kulturen, bei der sich bestimmte Mikroben als spezifische Gemeinschaften innerhalb bestimmter menschlicher Praktiken materialisieren und so die Reifung eines definierten Käses ermöglichen. Als mikrobiopolitisches Objekt gedacht, kann der Rohmilchkäse als ein Ökosystem oder mikrokosmischer Bauernhof beschrieben werden. Die Sorge für die richtigen, guten Mikroben steht hier im Mittelpunkt der Produktionspraktiken für schmackhaften und sicheren Käse. Dies unterscheidet die handwerkliche Rohmilchkäseproduktion vom dominanten Pasteur’schen Hygiene-Regime, das auf der anfänglichen Abtötung aller Mikroorganismen in der zur Käseproduktion verwendeten Milch beruht, die dann mit industriell hergestellten Starterkulturen geimpft wird. Vor dem Hintergrund der Vermeidung von Listerien-Infektionen, die besonders für schwangere Konsumentinnen riskant sind, argumentiert Paxson, dass auch die sorgfältigen Hygienepraktiken in der Rohmilchkäseproduktion für Lebensmittelsicherheit sorgen. Als „kultivierte Natur“ ist Rohmilchkäse das Produkt einer kollaborativen, naturkulturellen Praxis, in der Mikroorganismen eine entscheidende Rolle spielen, und zugleich die symbolische und materielle Verbindung mit einer bestimmten Landschaft und einer kleinbäuerlich strukturierten ländlichen Ökonomie. Letztlich, so Paxson, bringt „der Dissens darüber, wie man mit Mikroorganismen zusammenleben soll, eine Meinungsverschiedenheit darüber zum Ausdruck [...], wie Menschen miteinander zusammenleben sollen“. Mit einem Gegenstand, der schon dem Begriff nach ganz grundlegend unnatürlich erscheinen muss, befasst sich SVEN BERGMANN in seinem Beitrag, nämlich mit Kunststoffen. Umgangssprachlich als Plastik bezeichnet, sind die langlebigen synthetischen Polymere schon seit einigen Jahrzehnten in Verruf. Sie stehen heute in Form von Plastikmüll für eines der größten ökologischen Probleme unserer Zeit, und insbesondere ihre Akkumulation in Gewässern wird von Ökolog*innen sehr kritisch gesehen. Im Vorkommen großer Plastik-Müllstrudel in den Weltmeeren verdichtet sich die aktuelle mediale Aufmerksamkeit. Bei genauerer Betrachtung verliert sich jedoch der klare Gegensatz von Natur und Künstlichkeit; das Plastik, so argumentiert Bergmann, ist heute zu einem Teil der Umwelt geworden. Dies gilt besonders für das so genannte Mikroplastik, kleine, persistente Kunststofffragmente, die heute in den entlegensten Biotopen aufzufinden sind. Es ist schwer vorstellbar, dass die unzähligen kleinen Bruchstücke je wieder aus der Umwelt entfernt werden könnten. Doch die „Verschränkung“ von Kunststoff und Lebewelt geht sogar noch weiter, denn die Oberfläche der Plastikteile wird vielfach von Mikroorganismen besiedelt, so dass einige Bio-

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log*innen schon von einer distinkten „Plastisphäre“ sprechen. Bergmann zeigt, wie der jüngere Fokus auf Mikroplastik die gängigen Repräsentationen von Plastikmüll transformiert und sich die Unterscheidung zwischen dem Synthetischen und dem Natürlichen auch im wissenschaftlichen Feld verkompliziert. Was in der konventionellen Problematisierung wie ein klar abgrenzbarer Gegenstand erschien, der nach einer Trennung und Reinigung verlangt, wird so als ein „verwickeltes Objekt“ gezeigt, in dem Akteure und Gegenstände aus verschiedenen Welten neue Relationen eingehen: ein „Experiment mit unklarem Ausgang“. OWAIN JONES führt klassische geografische und kulturhistorische Perspektiven auf die Herstellung von Landschaften weiter, indem er diese als „artübergreifende Verwicklung“ von menschlichen und tierischen Akteuren neu konzeptionalisiert. Am Beispiel britischer Agrarlandschaften zeigt Jones deren materiell-ökologische, symbolische wie auch ökonomische Dimensionen. Die „Tierhaftigkeit“ dieser Landschaften wird durch die Entwicklung der Agrarökonomie und die Einführung neuer landwirtschaftlicher Technologien ebenso verändert wie durch den markanten Rückgang wilder Tierpopulationen oder die steigende Beliebtheit von Freizeit- und Therapietieren. Als Akteure in der Ko-Konstruktion von Landschaften sind Tiere – Nutztiere, Haustiere und Wildtiere – in eine Vielzahl von Praktiken eingebunden. Dabei ist Jones vor allem an der Verflechtung von Tieren mit menschlichen Affekten und Emotionen interessiert, die durch geteilte körperliche Praktiken vermittelt wird. Die Analyse von Dichtung und Fotografie führt ihn zu dem Schluss, dass Tiere Menschen in Raum und Zeit verorten. Um die affektiven Interaktionen zwischen Menschen und Tieren genauer zu erforschen, schlägt Jones zudem mikroethnografische Verfahren vor. Dabei streicht er heraus, dass eine aufmerksame Beobachtung relationaler Praktiken und der so entstehenden affektiven Verknüpfungen zwischen Menschen und Tieren auch die Basis für deren nachhaltigere und ethischere Gestaltung ist. Vor dem Hintergrund des Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien im Jahr 2001 argumentiert Jones, dass die zentrale Bedeutung gewöhnliche Handlungsabläufe, Gerüche und Geräusche erst im Moment traumatischer Unterbrechung wirklich deutlich wird. Die Notschlachtung von über sechs Millionen Tieren wurde für die betroffenen Landwirt*innen zur ökonomischen ebenso wie zur emotionalen Krise. Fotografien von Keulungen und verwaisten Bauernhöfen verdeutlichen den Verlust der alltäglichen verkörperten und affektiven Praktiken als existentielle Störung der „Ökologie des Ortes“. Nicht nur wurde die Identität der Menschen und ihr „Behaustsein“ auf der Farm von den Kühen mitgestaltet: auch die Schwalben finden nicht mehr zurück zum Hof, auf dem nun kaum noch Insekten leben, und neu auf die Farm gekommene Tiere

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sind durch die fehlende Herde orientierungslos. Die Krise ist also eine Krise des Zusammenlebens zwischen den Arten. BETTINA VAN HOVEN experimentiert mit einem auf Beobachtung und Methoden der Fotodokumentation basierenden Forschungsansatz, um sich einer „hundezentrierten Perspektive“ auf die Arbeit eines „Therapie-Hundes“ mit Bewohner*innen eines Pflegeheims anzunähern. Van Hoven argumentiert, dass die bisherige Forschung über den Einsatz von Hunden in der Geriatrie und Psychiatrie lediglich deren Gattungscharakter in den Blick nimmt, es jedoch versäumt, die konkreten Interaktionen von Hunde- und Menschenpersönlichkeiten sowie die Besonderheit jeden Hundes jenseits seiner Gattungszugehörigkeit detailliert zu erforschen. Sie bezieht sich dafür (wie auch Owain Jones) unter anderem auf die sogenannte „tiefe Ethologie“. Jenseits einer rein instrumentellen Haltung interessiert van Hoven sich dafür, wie Menschen und Tiere gegenseitig Wirkungen entfalten, wie sie Affekte gestalten, und wie das multi-direktionale Gefüge bestehend aus dem Therapiehund, seinem Ausbilder und Halter, dem Personal, den Einrichtungen und Infrastrukturen der stationären Pflegeeinrichtung, der beobachtenden Forscherin und den Patient*innen beschrieben und erklärt werden kann. Sie zeigt, wie der Therapiehund Albin mit seinem Halter und den Bewohner*innen der Pflegeeinrichtung eine gemeinsame Choreografie oder Komposition eingeht, innerhalb derer Praktiken und Gefühlslagen entfaltet werden, die nicht allein in einem einzelnen Menschen oder Tier ihren Ausgangspunkt nehmen, sondern sich aus den Beziehungen untereinander ergeben. (4) Politiken der Sorge NaturenKulturen implizieren praktische Politiken der Sorge. Maria Puig de la Bellacasa (2011) versteht Sorge als eine materielle Praxis des Verbindens und der politischen Intervention, die die unbeachteten und vernachlässigten Dinge mit einbezieht. Die Sorge für diese Begegnungen ist eine politische und affektive Praxis. Ideen über gute Sorge sind jedoch häufig stillschweigend in Pflege-, Therapie- oder Kindererziehungspraktiken integriert und sprechen selten für sich selbst. Es lohnt sich deshalb besonders, ein Beschreibungs- und Analysevokabular zu entwickeln, das zum Verständnis der Komplexität, der Temporalitäten und Verlaufslogiken von Praktiken der Sorge beiträgt. Genau dies erarbeitet Annemarie Mol (2008) in ihrer praxeografischen Studie zu den Mustern und Logiken von Sorge in einer Rehabilitationsklinik in den Niederlanden. Die Logik der Sorge wird hier aus einem grundlegenden Spannungsverhältnis zur Logik der Wahl heraus beschrieben. Sorge steht zudem in einem Gegensatz zu Vernachlässigung (Mol 2008, 42). Ihre Logik entfaltet sich grundsätzlich lokal, spezifisch,

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nicht linear, nicht besonders kohärent und jenseits eines rein rationalistischen Repertoires (2008, 84). Sie führt fast zwangsläufig zur permanenten Hinterfragung vorgegebener Kategorien (Mensch – Umwelt, Natur – Kultur) und wird von Mol im Kontext ihrer Forschungen zu Pflegearbeit als ein „fortwährender Prozess’“ beschrieben, in dem es um „ein Sich-Einstimmen und Achten auf sterbliche Körper geht, darum, sie zu hegen und zu ernähren und sogar darum, sich ihrer zu erfreuen“ (Mol 2008, 8). Dies schließt an Haraways (2008) Konzept der „response-ability” an, also der Verantwortung als einer Fähigkeit und Bereitschaft, auf die relationale, im Werden begriffene Verbundenheit der Welt zu antworten (siehe auch Martin, Myers und Viseu 2015). In ihrer Forschung zu Böden, die sie als eine „lebendige Multispezies-Welt“ begreift, fordert Puig de la Bellacasa die Entwicklung von Beziehungen der Sorge, verstanden als „materielle, ethische und affektive Ökologien“, die nicht alleine Menschen zum Vorteil gereichen (Puig de la Bellacasa 2015, 695 und 706). Während dies als ein emanzipatorisches Konzept verstanden wird, weisen Martin, Myers und Viseu (2015, 3) darauf hin, dass Politiken der Sorge auch immer Ausschlüsse produzieren: „Sorge ist eine selektive Form der Aufmerksamkeit: Sie umschreibt und pflegt bestimmte Dinge, Leben oder Phänomene. Dabei schließt sie andere aus. Praktiken der Sorge werden immer von asymmetrischen Machtverhältnissen durchkreuzt: Wer hat die Macht zu sorgen?“ MICHAEL FLITNER untersucht in seinem Beitrag die Sorge für Neuseelands einzigartige Vielfalt von Lebewesen. Um diese Vielfalt zu erhalten, vor allem die charismatische Vogelwelt, erfahren heute auch die verborgensten Arten eine intensive menschliche Unterstützung. Ein Kern dieser nationalen Sorge ist der andauernde Kampf gegen die Feinde der heimischen Tierwelt. Umfassender als in irgendeinem anderen Land wird daran gearbeitet, Räume zu schaffen für das Leben bestimmter Arten und zugleich Angehörige anderer Arten durch Ausschluss oder massenhafte Tötung niederzuhalten. Der Beitrag erkundet die symbolische Organisation dieser radikalen Heterotopien im Hinblick auf die raumstrukturierenden Praktiken der beteiligten menschlichen Akteur*innen und ihrer tierischen Mit- und Gegenspieler. Flitner nutzt das Foucault’sche Konzept der Biomacht, um diese spezifischen Verbindungen von Leben und Töten zu befragen. Die Ausweitung des Konzepts auf mehr-als-menschliche Kollektive rückt das Sterben Machen neu in den Blick, und zwar nicht nur als eine defensive Praxis im Sinne der biologischen Sicherheit, sondern auch als einen produktiven Eingriff zugunsten neuer NaturenKulturen. Um diese erweiterte biopolitische Konstellation zu explorieren, geht Flitner von den symbolischen Zuschreibungen an die zwei Tierarten Kiwi und Possum aus, die im semiotischen Tierreich Neuseelands exemplarische, konträre Positionen einnehmen. Die Kiwis stehen für

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die zu fördernde Natur, die Possums für die auszulöschende „Un-Natur“. Die Bedeutungsanalyse bringt die Ausblendungen und Verschiebungen zum Vorschein, die ihren Ursprung in der kolonialen Erschließung des Landes haben, die auch in den heute dominanten Landnutzungsformen noch klar zum Ausdruck kommt. Die von den Foucault’schen Begriffen ausgehende Deutung wird auf diese Weise mit postkolonialen, politisch-ökologischen Perspektiven erweitert. Der Beitrag von FRIEDERIKE GESING eröffnet eine ethnografische Perspektive auf Küstenschutz als naturkulturelle Praxis. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen und praktischen Konjunktur „weicher“ Ansätze, die eine Alternative zu gängigen Baumaßnahmen im Küstenschutz bieten sollen, untersucht der Beitrag die Renaturierung von Sanddünen durch ehrenamtliche Coast-CareGruppen in Neuseeland. Gesing analysiert die Anpflanzung einheimischer Dünenvegetation, mit deren Hilfe der natürliche Schutzmechanismus der Dünen wiederhergestellt werden soll, als Teil eines ganzen Ensembles von Praktiken zur Rekonstruktion einer als einheimisch definierten Ansammlung von Tieren und Pflanzen, in die diverse menschliche und mehr-als-menschliche Akteure und Objekte eingebunden sind. Die einheimischen Dünenpflanzen sind hier zentrale Akteure, jedoch selbst Ergebnis experimenteller Praktiken der Vermehrung in Gewächshäusern. Dazu kommen die auch von Flitner (in diesem Band) beschriebenen Praktiken der räumlichen Trennung von Fressfeinden und Menschen, ebenso wie konstante Maßnahmen der Unkrautbeseitigung. Nicht zuletzt lässt sich auch das durch Coast Care adressierte Grundproblem, die Küstenerosion, als ein komplexer sozionatürlicher Prozess entfalten, dessen Ursachen und Auswirkungen sich einer klaren Zuordnung in natürliche und gesellschaftliche Faktoren widersetzen. Der Beitrag plädiert dafür, auch dem alternativen Küstenschutz ein pluralisiertes Verständnis von Natur zu Grunde zu legen. So werden sowohl das Problem der Erosion, als auch die Antwort, nämlich ein Küstenschutz „mit der Natur“, als Produkt vielfältiger Verstrickungen und Verbindungen materieller und sozialer Natur(en) erkennbar. An Hand konkreter Projekte lässt sich dann empirisch untersuchen, wie das „Arbeiten mit der Natur“ spezifische Küstennaturen herstellt und erhält. Eine solche Politisierung des weichen Küstenschutzes und der damit verbundenen Praktiken der Renaturierung macht es möglich, Verantwortung für die Gestaltung spezifischer Assemblagen der Küstennaturen in Gegenwart und Zukunft zu übernehmen. Humanitäre NGOs wie die Against Malaria Foundation (AMF) oder World Vision, und auch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) importieren seit einigen Jahren mit Antibiotika imprägnierte Moskito-Netze in afrikanische Länder. Diese Netze werden als „gute Geschenke“ beworben, deren moralische Qualität außer Frage zu stehen scheint, die als sparsam und effektiv gel-

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ten und die sich deshalb besonders gut für Spendenkampagnen als Form westlicher (Für-)Sorge um/für den Globalen Süden eignen. Im Rahmen der NaturenKulturen-Forschung werden solche „kleinen Gebrauchs- und humanitären Hilfsgüter“ (Collier u.a. 2017) nicht nur als „klein“ diskutiert, weil sie auf MikroLösungen jenseits strukturellen Wandels und größerer Infrastrukturen zielen. ULI BEISEL zeigt in ihrem Beitrag auch, dass die Netze klein wirken, weil in ihrer Produktion und Verteilung, in ihren Repräsentationen und Anwendungen umfassendere ökologische und ökonomische Zusammenhänge radikal unsichtbar gemacht werden. Beisels vielschichtige Fallstudie untersucht, was passiert, wenn in diesem Sinne kleine humanitäre Güter ohne ausreichende Kenntnisse über das Alltagsleben, in das sie eingreifen, verabreicht werden. Dabei verbindet sie, was zuvor von den humanitären (Für-)Sorge-Gütern abgetrennt wurde: globale NGOs und lokale Ökonomien, in denen vor Ort produzierte Netze von importierten Netzen verdrängt werden (was zu wirtschaftlichen und sozialen Problemen führt); und Netze, Antibiotika, Menschen, Stechmücken und Parasiten, deren Zusammenwirken den Erfolg der Netze mittel- und langfristig wieder zunichte macht. Indem Beisel natur- und sozialwissenschaftliches Wissen kombiniert, Multispezies-Verbindungen gezielt erforscht und multilokale Materialitäten, Infrastrukturen, soziale Beziehungen und Diskurse zusammen denkt, gelingt ihr ein eigenständiger und innovativer Beitrag zu den laufenden Debatten um Humanitarismus, Entwicklungszusammenarbeit und global health. Auch STEVE HINCHLIFFE befasst sich in seinem Beitrag mit Fragen der Gesundheit. Ausgehend vom „One World One Health“-Ansatz (OWOH), durch den diverse internationale Organisationen die Zusammenhänge zwischen der Gesundheit von Mensch und Tier adressieren, untersucht er Politiken der Biosicherheit [biosecurity] in der Praxis. Hinchliffe zeigt, dass das OWOH-Konzept zu einem an die universalistische Idee der „Einen Welt“ appelliert, und zum anderen die Vermeidung von Krankheit in einem Ausbruchsnarrativ mit der Eindämmung von Krankheitskeimen gleichsetzt. Bei genauerem Hinsehen jedoch erscheint die Gesundheit von Mensch und Tier als in diversen, lokalisierten Praktiken „zusammengeflickt“. Anhand von ethnografischem Material über Praktiken der biologischen Sicherheit in der britischen Landwirtschaft macht Hinchliffe deutlich, inwiefern Gesundheit kontextabhängig ist und sozioökonomische Aspekte einschließt. So beruht etwa die intensive Geflügelhaltung vorgeblich auf einem Prinzip der Minimierung von Kontaktzonen zwischen Menschen und Tieren. Hinchliffe jedoch zeigt Momente der Störung, in sozialer wie natürlicher Hinsicht. Vor dem Hintergrund einer Produktionsweise, die durch enge vertragliche Bindungen an wenige Großabnehmer, geringe Margen und eine minimale Zahl an festen Beschäftigten gekennzeichnet ist, ziehen mobile

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Keulungsteams von Standort zu Standort, um die Bestände vor der endgültigen Schlachtung auszudünnen und so Tierschutzregularien einzuhalten. Diese Teams aus niedrig qualifizierten und gering bezahlten Arbeitskräften, die keinen oder nur begrenzten Zugang zu Gesundheitsleistungen oder bezahlten Krankheitstagen haben, begegnen den Tieren im Moment des äußersten Stresses und erhöhen damit die Gefahr der Übertragung von Pathogenen zwischen Tier und Mensch. Indem Hinchliffe den empirischen Fokus auf die diversen Praktiken von Wissenschaftler*innen, Risikomanagement/Politik, Arbeiter*innen und Landwirt*innen legt, zeigt er die „Konfiguration“ von Gesundheit und Krankheit in soziomateriellen Relationen und operationalisiert damit zugleich die Analyse der Koproduktion von Natur und Gesellschaft in der Praxis.

F AZIT : O NTOLOGISCHE

UND ZUGLEICH GEWÖHNLICHE P OLITIKEN

Die Zugänge und Forschungsstrategien der NaturenKulturen werfen nicht nur neue analytische und methodische, sondern auch normative Fragen auf. Hier sehen wir ihre Bedeutung und Herausforderung für die Weiterentwicklung der Politischen Ökologien. Die NaturenKulturen-Forschung trägt zu einer ReAkzentuierung der Debatten um den normativen Gehalt wissenschaftlichen Wissens aus der Perspektive ungelöster ökologischer Krisen und Probleme bei, indem die grundlegenden Kategorien und Praktiken der Ordnung und Hervorbringung wissenschaftlichen Wissens selbst zum Gegenstand kritischer Analyse werden. Normativität und Politik sind dieser Lesart nach nicht länger als den Wissenschaften äußerlich oder untergeordnet zu verstehen, sondern als in ihrem Herzen angesiedelt. Das Unterfangen, jenseits von tief verankerten Dichotomien und etablierten Trennungen zu forschen, ist nicht bloß eine akademische Übung, sondern immer auch ein politischer Einsatz im Ringen um Alternativen. Zur Analyse von soziomateriellen Praktiken und Verknüpfungen – menschlichen und nichtmenschlichen – gehört dabei auch die Einsicht, dass die Forschung selbst Relationen hervorbringt und damit Gestaltungsmöglichkeiten und Herausforderungen. Dies gilt insbesondere für ontologische Politiken, die auf der Multiplizität möglicher und realer Welten bestehen. Aber es gilt eben weiterhin auch für Fragen der sozioökonomischen Verwerfungen, der gesellschaftlichen Teilhabe und der Umweltgerechtigkeit. Das Verhältnis zwischen ontologischen und solchen „gewöhnlichen“ Politiken lässt sich unterschiedlich konzeptionalisieren. Die Annahme, dass alle gewöhnliche Politik auch auf der ontologischen Ebene sichtbar und angreifbar ist, da Kategorisierungen Realität in Kraft setzen, hat er-

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kennbar andere forschungspraktische Konsequenzen als ein Zugang, der primär an sozialen, ökonomischen und ökologischen Konflikten ansetzt. Der zuletzt vorgestellte Beitrag von Steve Hinchliffe macht vielleicht am besten deutlich, wie eine sozioökonomische und eine semiotisch-materielle Analyse zusammenwirken und gemeinsam die Perspektive der Politischen Ökologie vertiefen können. Hinchliffe verbindet das ontologische Argument, das auf die Entstehung von Gesundheit und Krankheit in relationalen Praktiken abzielt, mit einer Kritik sozioökonomischer Produktionsbedingungen in der landwirtschaftlichen Tierhaltung. So kann er zeigen, dass das Management biologischer Sicherheit auf partiellen, reduktionistischen Erzählungen von der einen Welt und auf der fragwürdigen Annahme eindeutiger räumlicher Trennungen zwischen Gesundheit und Krankheit aufbaut. Das Wissen über die lokalisierten Verstrickungen zwischen Menschen, Tieren und Viren kann aber hochrelevant für diejenigen Akteur*innen sein, die an besseren Gesundheitsregimen und -praktiken arbeiten. Um Gesundheit und Krankheit als kontextuelle Ergebnisse multipler Praktiken zu verstehen, bringt Hinchliffe das praktische Wissen derjenigen, die täglich mit Tieren arbeiten, zusammen und eröffnet damit neue Wege der Kollaboration, die wir für richtungsweisend halten. Mit der Herausgabe dieses Bandes, und insbesondere mit der Bereitstellung sorgfältig bearbeiteter Übersetzungen wichtiger Schlüsseltexte der NaturenKulturen-Forschung, möchten wir zur konzeptionellen und forschungspraktischen Entwicklung neuer politischer Ökologien in diesem Sinne beitragen.

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(1) Experiment und Kollaboration

Jenseits ökonomischer und ökologischer Standardisierung A NNA T SING FÜR DIE M ATSUTAKE W ORLDS R ESEARCH G ROUP

Übersetzung aus dem Englischen von Robin Cackett Dieser Aufsatz greift auf die Aktualität einer Feldforschungserfahrung zurück, um sich mit einer merkwürdigen neuen Konfiguration in der Weltwirtschaft auseinanderzusetzen. Kulturelle und ökologische Vielfalt sind, so meine These, zu neuen Werkzeugen der Kapitalakkumulation geworden. Ich meine damit nicht die Vermarktung kultureller Eigenheiten, obschon es sich dabei um ein verwandtes Phänomen handelt. Meine Argumentation zielt vielmehr auf die Organisation der Produktion – ein Schauplatz, an dem die Anwesenheit von Vielfalt eher überrascht, war doch die Standardisierung der Produktion das Markenzeichen des Industriezeitalters. Wie kommt es also, dass sich zu diesem späten Zeitpunkt im so genannten Spätkapitalismus wieder Vielfalt in die Produktion eingeschlichen hat? Meine Antwort lautet, kurz gesagt: Lieferketten. Lieferketten, die angeblich unabhängige Unternehmen miteinander verknüpfen, sind zu einem neuen Modell der globalen Generierung von Profit geworden. Lieferketten leben von ökonomischer und ökologischer Vielfalt; sie führen neue Formen der Inkommensurabilität in ein System ein, das auf eine durch Standardisierung hervorgebrachte universelle Lesbarkeit angelegt ist. Im vorliegenden Aufsatz gehe ich dieses Problem ethnografisch an, indem ich eine eher ungewöhnliche – aber umso bemerkenswertere – Lieferkette betrachte: die globale Handelskette des Matsutake, eines aromatischen Wildpilzes, der sich in Japan großer Beliebtheit erfreut. Trotz beharrlichster Bemühungen konnte der Matsutake nie erfolgreich kultiviert werden. Die Binnenproduktion in Japan hat seit den 1970er-Jahren rasant abgenommen und inzwischen werden Matsutake in Wäldern der ganzen nördlichen Hemisphäre, insbesondere der Pazifikanrainerstaaten gesammelt. Die Matsutake-Ernte hat dazu beigetragen, die

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traditionelle Architektur in Tibet wiederzubeleben, Dorfkooperativen in Oaxaca zu finanzieren, sie hat zu den Militärsteuern in Nordkorea beigetragen und die First Nations in British Columbia zu Vertragsverhandlungen angeregt. Da es schwierig ist, alle diese Schauplätze zu untersuchen, so verlockend sie als Ensemble auch erscheinen mögen, konzentriert sich das Team meiner Mitarbeiter*innen, die Matsutake Worlds Research Group, auf die kommerziellen, gustatorischen und wissenschaftlichen Beziehungen, die der Matsutake in Japan, China und Nordamerika ermöglicht, sowie auf das dadurch stimulierte Ressourcenmanagement.1 Meine eigene, intensive Feldforschung fand in Zentral-Oregon an der Nordwestküste der Vereinigten Staaten statt, wo jeden Herbst mehrere tausend Angehörige der Mien, Hmong, Lao, Cham und Khmer ihr Zelte aufschlagen, um wilde Pilze zu sammeln, die sie an Händler*innen verkaufen, die sie wiederum nach Japan exportieren. Meine Überlegungen zur kulturellen Vielfalt wurden durch diese befremdliche Szenerie in Oregon angeregt, die alle, die wie ich in Südostasien gelebt und gearbeitet haben, zutiefst verblüffen muss. Wenn ich die materielle Kultur, die Musik, das Arrangement der Dorfgemeinschaft betrachtete, wähnte ich mich irgendwo auf dem Land in Südostasien. Ja, während ich da im Wald bei einem Mittagessen aus Reis und Wildfleisch hockte, fühlte ich mich unversehens in die Meratus-Berge von Kalimantan zurückversetzt, wo ich meine erste Feldforschung durchführte (Tsing 1994). In Wirklichkeit befand ich mich jedoch in den Restbeständen eines industriell genutzten Nadelwalds in den Vereinigten Staaten, aus dem Nutzholz, Holzspäne und Biosprit gewonnen wurden, und wartete auf den ersten Schnee. Der folgende Text versucht ein wenig Licht in diese verblüffenden Gegensätze zu bringen. Das Sammeln von Wildpilzen an der nordwestlichen Pazifikküste der USA veranschaulicht eine neue Form von globalem Kapitalismus, bei der unabhängige Unternehmen zu Ketten verknüpft werden, um ein Produkt zu den Konsument*innen zu bringen. Solche Ketten stehen im Gegensatz sowohl zu den riesigen Konzernen, die sich als singuläre Firmen über die ganze Welt ausbreiten, wie auch zu Franchiseunternehmen, die an allen Orten flexible Kopien entwickeln. Lieferketten verknüpfen vielmehr ungleichartige Unternehmen, die sich häufig an weit entfernten Orten befinden. Ich behaupte, dass diese Form von

1

Siehe Matsutake Worlds Research Group 2009. Die Matsutake Worlds Research Group besteht aus Tim Choy, Lieba Faier, Michael Hathaway, Miyako Inoue, Shiho Satsuka und mir. In Oregon habe ich mit Hjorleifur Jonsson und der University of California, Santa Cruz, sowie den Studierenden Lue Vang und David Pheng zusammengearbeitet.

J ENSEITS ÖKONOMISC HER

UND ÖKOLOGISC HER

S TANDA RDISIERUNG

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„Lieferkettenkapitalismus“ zu einem neuen Modell der Produktion von Reichtum in globalem Maßstab geworden ist.2 Lieferketten sind allgegenwärtig – und werden überall als Fortschritt angepriesen. Nehmen wir zum Beispiel landwirtschaftliche Produkte: Frisches Gemüse, das in Europa verzehrt wird, wird in Afrika angebaut, gewaschen und verpackt (Dolan und Humphrey 2000). In den Vereinigten Staaten kommt das Gemüse überwiegend aus Lateinamerika – wo es manchmal von „traditionellen“ indigenen Bäuer*innen angebaut wird (Fischer und Benson 2006). Der Anbau der Knopfchampignons, die in kalifornischen Supermärkten verkauft werden, wird nach China ausgelagert, statt sie in Gewächshäusern vor Ort zu züchten!3 Produkte für Endkonsument*innen werden bekanntlich häufig in Lieferketten hergestellt. Die Markennamen, die wir kennen, sind nichts als das – Marken ohne eigene Produktionskapazität. Sportschuhe von Nike sind ein viel diskutierter Fall. In den 1990er-Jahren erklärte der Vizepräsident von Nike für den asiatischpazifischen Raum: „Von Produktion haben wir keine Ahnung. Wir betreiben Marketing und Produktdesign“ (zitiert in Koreniewicz 1994). Selbst in den Industrien, die wir mit Arbeitskämpfen in Verbindung bringen, wie etwa dem Kohlebergbau, werden die Arbeitskräfte zunehmend von unabhängigen Vertragsunternehmen gestellt. Die Bergbaugesellschaften sind dann nicht mehr für die Löhne und Sozialleistungen der Bergleute – oder für die Kumpel, die bei Unfällen ums Leben kommen – verantwortlich. Unternehmen, die in der Produktion tätig sind, lagern die Herstellung der meisten ihrer Komponenten aus. Regierungen, Armeen – ja sogar Universitäten – vergeben ihre Dienstleistungen an Außenstehende. Die Mannigfaltigkeit, welche die Lieferkettenmodalitäten kennzeichnet, beruht auf langen und unterschiedlichen Vorgeschichten der wirtschaftlichen Organisation; die Vergabe von Aufträgen an Subunternehmer*innen und verwandte Formen der Auslagerung sind schon sehr alt. Neu ist eine futuristische, ökonomische Vision, in der die Lieferketten die Grundlage für das Erreichen ungekannter Unternehmensgewinne auf globaler Ebene bilden. Manche Apologet*innen sehen die Lieferketten sogar als den Auftakt zu einem neuen Zeitalter globalen Wohlstands an (z.B. Friedman 2005). Aber der Lieferkettenkapitalismus widerspricht allen Vorstellungen über den wirtschaftlichen Fortschritt, die im zwanzigsten Jahrhundert gepflegt wurden. Statt auf Rationalisierung der Wirtschaft und Modernisierung der Natur zu setzen, schlägt der Lieferkettenka-

2 3

Ich diskutiere den Lieferkettenkapitalismus auf abstrakterem Niveau in Tsing 2009. Auf diesen Punkt haben mich mehrere kleine, kommerzielle Pilzzüchter*innen 2006 hingewiesen.

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pitalismus sein Kapital aus kultureller und ökologischer Heterogenität, ja er scheint eine solche Heterogenität sogar zu fördern. Die Ergebnisse sind oft verheerend. In meiner vorletzten Forschung habe ich untersucht, wie durch eine Kombination aus legaler und illegaler Abholzung weite Teile Indonesiens entwaldet wurden (Tsing 2005). Sowohl die legale als auch die illegale Abholzung in Indonesien beruhen auf Lieferketten, und die Kluft zwischen den kleinen Holzfällern und den Großhändler*innen erklärt teilweise, weshalb sich niemand für die Umwelt verantwortlich fühlt. Oder nehmen wir die Ausbeuterbetriebe, die für die globale Textilindustrie typisch sind: Outsourcing und die Auftragsvergabe an Zulieferfirmen sind Formen von Lieferkettenkapitalismus, und die Bekleidungsindustrie verdeutlicht wie keine andere, welche brutalen Ausbeutungspotentiale in diesen Formen stecken (Ross 2004). Lieferketten werden benutzt, um Kosten zu reduzieren, und stehen regelmäßig mit ökonomisch wie ökologisch skandalösen Verhältnissen in Verbindung. Sie sind jedoch nicht durch ihre Skandalträchtigkeit definiert, sondern durch ihre Verweigerung einheitlicher globaler Staats- und Unternehmensstandards, das heißt durch ihre Fähigkeit, aus der globalen Heterogenität Profit zu schlagen. Lieferketten nutzen alle möglichen und unmöglichen ökonomischen und ökologischen Nischen aus, darunter auch solche, die vergleichsweise harmlos sind oder gar Verbesserungen anstreben. Tief erschüttert von der Zerstörung der indonesischen Wälder habe ich als nächstes Forschungsobjekt eine relativ harmlose Lieferkette ausgewählt. Der Lieferkettenkapitalismus hat die Vorstellungen von Modernisierung und Entwicklung mit ihren Zielen einer staatlichen und unternehmerischen Standardisierung nicht ersetzt. Heterogenität der Lieferketten und moderne Homogenisierung bedingen einander vielmehr wie Kette und Schuss, die in ihrer verwickelten Beziehung unsere Zukunft weben. Die Theoriebildung zum Kapitalismus und seiner Beziehung zum Staat hat ihr Augenmerk jedoch ausschließlich auf die globale Standardisierung gerichtet. Das mag zum Teil daran liegen, dass sich unter diesen Theoretikern nicht genügend Ethnolog*innen finden. Oder daran, dass die Ethnolog*innen zu bereitwillig ihre Marschbefehle von den Philosoph*innen übernommen haben, die, den Vorgaben ihrer Disziplin gehorchend, nach einem einzigen Satz von Prinzipien gesucht haben, der für die Hervorbringung der globalen Situation verantwortlich gemacht werden könnte. Wer den Wandel von Ökonomien und Staaten untersucht, folgt in den Fußstapfen von Agamben, Foucault oder Hardt und Negri und findet, selbst in der Ausnahme, nur Standardisie-

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rungen.4 Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass der Lieferkettenkapitalismus eine ethnografische Erforschung erfordert. Sein Prinzip der Nischenheterogenität verlangt von uns, dass wir die Aufmerksamkeit auf ökonomische und ökologische Besonderheiten und auf die kulturellen Praktiken richten, durch welche diese Besonderheiten hervorgebracht werden. Mit diesem Aufsatz möchte ich Ethnolog*innen dazu aufrufen, diese Herausforderung anzunehmen und die Verbindungen zu studieren, die sich zwischen den kulturellen Nischen ergeben, die für den Lieferkettenkapitalismus charakteristisch sind. Wir machen uns dabei die klassischen Kompetenzen unserer Disziplin zunutze und erweitern sie zugleich, um das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Staat in globalem Maßstab neu zu denken. Zur Verdeutlichung dieses Ansatzes widme ich den Großteil dieses Aufsatzes der Ethnografie. Meiner Auffassung nach vermag uns selbst ein kleiner Ausschnitt der Matsutake-Lieferkette zu zeigen, warum die Berücksichtigung der gelebten Erfahrung in konkreten Lieferkettennischen für das Studium der globalen politischen Ökonomie unverzichtbar ist. Die Matsutake-Lieferkette verbindet sehr unterschiedliche Bereiche der Ökonomie und Ökologie. In den nächsten Abschnitten kontrastiere ich die ökonomische und ökologische Wertschöpfung anhand des Matsutake in der Präfektur Kyoto in Japan mit der in Oregon in den USA, und zeige auf, dass sie sich, obwohl sie in der derselben Lieferkette präsent sind, markant voneinander unterscheiden. Die globale Lieferkette wird, wie ich weiter ausführe, durch Händler*innen ermöglicht, die ihre Tätigkeit bewusst als eine Übersetzung von Wert – und nicht als dessen Rationalisierung – begreifen. Diese Art von Verknüpfung über Unterschiede hinweg ist meiner Ansicht nach für den Lieferkettenkapitalismus beispielhaft. Bei dem Pilz Matsutake handelt es sich um eine Gruppe von verwandten Arten der Gattung Tricholoma, die sich alle durch ein süßes, würziges Aroma auszeichnen.5 Es ist der Duft, der dem Pilz in Japan einen so großen Wert verleiht.

4

Zu den Arbeiten dieser Autoren, die auf die Ethnologie der globalen politischen Ökonomie starken Einfluss ausgeübt haben, zählen Agamben 2002, Foucault 2004a, 2004b, Hardt und Negri 2000.

5

Die wichtigste eurasische Art ist Tricholoma matsutake. Der ursprüngliche europäische Name Tricholoma nauseosum lässt bereits die kontroversen Ansichten über den Geruch, die weiter unten diskutiert werden, erahnen. Die wichtigste nordamerikanische Art ist Tricholoma magnivelera. Dieser Name, der zunächst für Exemplare aus dem Osten der USA benutzt wurde, wird derzeit – vielleicht fälschlich – auch für die Populationen im Nordwesten verwendet (David Aurora, persönliche Mitteilung). Der Name Tricholoma caligatim wird für sehr verschiedene europäische und amerikani-

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Die Pilze sind auch unter dem euphemistischen Namen „Herbstduft“ bekannt. Sie werden im Grunde nur um ihres Duftes willen gegessen (Abb. 1). MatsutakeSuchende in Japan bewegen sich immer nahe am Boden, um den schwer zu entdeckenden Pilz zu erschnüffeln. Auch Tiere wie Hirsche und Eichhörnchen erkennen den Pilz am Geruch. Bei dem sichtbaren Pilz handelt es sich um den Fruchtkörper eines unterirdischen Myceliums aus vielfach verflochtenen Zellfäden. Dass die Fruchtkörper gesammelt werden, ist vom Standpunkt des Pilzes aus eine gute Sache, denn so werden seine Sporen verbreitet. Man könnte daher auch sagen, dass der Geruch eine aktive Strategie des Pilzes ist, insofern er nützliche Räuber anlockt. Der Geruch führt in einer aus Ansprache und Reaktion bestehenden Ökologie menschliche und nichtmenschliche Lebewesen zusammen. Dies zumindest war meine Ansicht, als ich nach einer Fachschulung in Japan meine Feldforschung in Oregon begann. Doch wie sich zeigte, ekeln sich die weißen amerikanischen Sammler*innen und Käufer*innen vor dem Geruch der Pilze oder versuchen ihn zumindest nach Kräften zu ignorieren. Matsutake ist keine amerikanische Speise; in Butter gebraten schmecken die Pilze widerlich. Weiße Amerikaner*innen, die verwegen genug sind, den Pilz zu sammeln, versuchen seinen Geruch häufig zu übertünchen, indem sie den Pilz einlegen oder räuchern. Da sie nicht der Nase nachgehen, berichten weiße Pilzsammler*innen über Schwierigkeiten, den Matsutake von anderen, ähnlich aussehenden Pilzen zu unterscheiden, denen der entscheidende Geruch fehlt. Wenn man sie nach einer Beschreibung des Geruchs fragt, antworten weiße Sammler*innen mit Adjektiven wie „schimmelig“ oder vergleichen den Geruch mit Rauch oder Terpentin, und schnell landet das Gespräch beim Gestank fauliger Pilze. 6 Weiße amerikanische Sammler*innen und Käufer*innen pflegen die irrige Ansicht, Japaner*innen schätzten den Pilz trotz seines Gestanks als Aphrodisiakum. Südostasiatische Sammler*innen wiederum glauben, Japaner*innen schätzten den Pilz als Heilmittel. In Südostasien wiederum wird Matsutake traditionell nicht gegessen, aber im Gegensatz zur Ernährung der weißen Sammler*innen hat der Pilz in der Küche ihrer Diaspora einen wichtigen Platz erobert. Südostasiatische Sammler*innen erklären, der Verzehr des Pilzes beruhige die Gelenke und stärke

sche Populationen benutzt; nur die ersteren sind Bestandteil des kommerziellen Matsutake-Handels. 6

David Aurora, Autor eines weithin geschätzten nordamerikanischen Pilzführers, beschreibt den Geruch als „provokative Mischung aus Red Hots [einer Art Smarties mit scharfem Zimtgeschmack, Anm. R.C.] und schmutzigen Socken“ (Aurora 1986, 191). Weiße Käufer*innen in Oregon haben sich in dieser Frage manchmal auf Aurora berufen.

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das Durchhaltevermögen des Körpers. Sie wissen, dass die japanischen Einkäufer*innen an den Pilzen riechen, und manche von ihnen glauben, dass, wie bei Tigerbalsam, bereits der Geruch heilende Kräfte entfalte. Englischsprachige Personen aus Südostasien bezeichnen den Geruch als „gut“, ohne dies weiter zu spezifizieren. In Oregon führt der Geruch Menschen und Nichtmenschen nicht in einer Ökologie der Sinne zusammen. Abb. 1: Ein Koch in Tokyo riecht an den Pilzen. (Foto: Anna Tsing)

Die Verknüpfungen der Wertschöpfungskette sind also von Anbeginn durch Unund Missverständnisse gekennzeichnet. In einer früheren Arbeit habe ich die Metapher der „Reibung“ benutzt, um über die Ungereimtheiten der Globalisierung zu sprechen (Tsing 2005). Der Ausdruck Reibung (friction) erinnert daran, dass globale Verbindungen, selbst wo sie besonders unerschütterlich scheinen, auf recht unterschiedliche und provisorische Weise zusammengehalten werden; Reibung impliziert ebenso sehr Halten wie Gleiten. Während frühere Globalisierungstheorien für uns das Bild einer alles durchdringenden Flüssigkeit zeichneten, die jegliche Vielfalt erstickt, steht Reibung als Metapher für eine Verbindung mit Differenz. Die Wertschöpfung in der Matsutake-Warenkette ist ein Beispiel für die Bedeutung von Reibung im Lieferkettenkapitalismus.

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Statt sich am Geruch zu orientieren, orientiert sich die Sinnesökologie der Menschen in Oregon an einem rastlosen visuellen Durchkämmen der Landschaft nach Spuren, die auf die Anwesenheit des Pilzes schließen lassen. In Oregon wachsen Matsutake unter der Erde und geben sich nur durch kleine Ausbuchtungen oder Risse im Boden zu erkennen. Gesucht wird auf dem Gelände eines riesigen, offenen, staatlichen Waldgebiets, und im Gegensatz zur Situation in Kyoto, wo die Grundeigentümer*innen sich nach und nach mit ihren eigenen Pilzgründen vertraut gemacht haben, verfügen die Sammler*innen in Oregon über keine ausschließlichen Zugangsrechte. In Oregon wandern die Sammler*innen weite Strecken und grasen mit ihren Blicken den Boden ab. „Man sucht nicht Pilze, man liest den Boden“, erklärte einer der weißen Pilzjäger. Ein Sammler aus der Gruppe der Lao bezeichnete seine Tätigkeit als „Suche“. Ein Hmong-Sammler demonstrierte, wie er mit den Augen über den Boden fährt: „Einen Tiger würde ich nicht erkennen, auch wenn er drei Meter entfernt wäre“, meinte er. „Deine Augen sind Scheibenwischer“, schlug ein weißer Sammler vor. Die Matsutake sind daran insofern beteiligt, als sie diesen rastlos fokussierten Blick durch ihre unvorhersehbare Anwesenheit in der Landschaft provozieren. Der Pilz sei „eine Laune der Natur“, wie einer der Einkäufer meinte (Abb. 2).7 Matsutake sind, wie Menschen, flexible Organismen, die an sehr unterschiedlichen Sinnesökologien partizipieren können. Und wie Menschen sind sie

7

Ich habe die unterschiedlichen, an der Pilzsuche beteiligten Ästhetiken in diesem Abschnitt miteinander verschmolzen, weil sie ein gemeinsames Thema haben: die Notwendigkeit, mit den Augen die Landschaft abzusuchen. Weiße Sammler*innen „lesen“ die Landschaft und vergleichen sie mit einem Buch; Hmong dagegen unterscheiden zwischen der auf einen Punkt fokussierten Aufmerksamkeit, die beim Lesen benötigt wird, und der breiten Fokussierung, die bei der Pilzsuche nötig ist. Weiße Sammler*innen vergleichen die Erregung bei der Pilzsuche mit der Suche nach Gold; Hmong-Sammler vergleichen die damit verbundene männliche Geselligkeit mit der Jagd nach Wild. Khmer-Sammler*innen betonen die geschlechtsneutralen und gesundheitsförderlichen Aspekte des Wanderns im Wald, während Mien-Sammler*innen das Zusammentreffen mit Freunden und Verwandten beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher Generationen in einer wiederauferstandenen dörflichen Geselligkeit in den Vordergrund rücken. Viele Sammler*innen unterschiedlichen ethnischen Hintergrunds stellen die Zwangsregeln und Statusspiele der „Lohnarbeit“ der offenen, endlosen Suche beim Gang in die Pilze als zwei unterschiedliche Lebensweisen gegenüber. Es war in diesem Sinn, dass Lao-Sammler*innen ihre Tätigkeit als „Suche” und nicht als „Arbeit“ bezeichneten.

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in der Lage, sich unterschiedlichen Lebensverhältnissen anzupassen. Pilze ähneln in ihrer Abhängigkeit von äußeren Nahrungsquellen Tieren. Die Matsutake beziehen ihre Nahrung aus einer symbiotischen Beziehung mit Wirtsbäumen, überwiegend Koniferen. Die fadenartigen Zellen des Pilzes wickeln sich um die Baumwurzeln, stimulieren das Wurzelwachstum und entziehen dem Baum Zucker. Dabei sondern sie Enzyme ab, die im Boden Nährstoffe freisetzen, und tragen damit zum Wachstum des Baumes bei.8 Man könnte sagen, Matsutake sind eine Art Baumkultivatoren: Sie kultivieren, um sich von dem, was sie anbauen, zu ernähren. Matsutake haben sich darauf spezialisiert, Bäume in kargen, mineralischen Sandböden, auf erodierten Abhängen oder vulkanischem Bimsstein zu kultivieren. Aber solche Verhältnisse können auf sehr unterschiedliche Weise zustande kommen. Abb. 2: „Suche“ unter Ponderosa-Kiefern. (Foto: Hjorleifur Jonsson)

Betrachten wir die Unterschiede zwischen Kyotos zivilisatorischer Erosion und Oregons ungezähmter Landschaft. In ganz Japan ist die Rotkiefer, Pinus densiflora, der bevorzugte Wirt des Matsutake. Die Rotkiefer ist eine Wildpflan-

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Zur Physiologie und Ökologie des Matsutake siehe LeFevre (2002).

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ze, die sich als Spontanvegetation invasiv auf offenen, erodierten Flächen ausbreitet. Gleichzeitig ist sie ein Objekt von hohem ästhetischem Wert. Als Unkraut ebenso wie als Ikone ist die Rotkiefer ein Zeichen der Zivilisation. Neuere Aufforstungen in Zentraljapan bestehen aus Laubbäumen und anderen Nadelbaumarten als Rotkiefern. Aber in der japanischen Frühgeschichte wurden alle diese Bäume geschlagen, wo immer die Eisenverarbeitung und der Holzbau ein zivilisatorisches Zentrum unterhielt. Später benötigte die wachsende Bauernschaft die Harthölzer als Brennholz. Selbst das Laub wurde vom Boden aufgefegt und als Brennstoff, Dünger und Futter verwendet, so dass nur der harte, blanke Boden übrig blieb. Auf diesem blanken Boden siedelte sich die Rotkiefer an und mit ihr der Matsutake. 9 Die Schönheit eines Rotkiefernwalds besteht in seiner parkähnlichen Offenheit und seinem kargen Unterwuchs. Japanische Matsutake-Kenner*innen schwärmten mir vor, dass eine Frau in einem idealen Matsutake-Wald mit Stöckelschuhen und aufgespanntem Sonnenschirm spazieren gehen könne. Dieses Bild verweist zugleich auf die Kultiviertheit und Vornehmheit des Matsutake als einem Emblem der japanischen Kultur und ästhetischer Reinheit. Oder wie ein Matsutake-Händler aus Kyoto witzelte, als er hörte, dass ich Ethnologin bin: „Ah, wie Ruth Benedict. Wie werden sie ihr Buch nennen: ‚Matsutake und das Schwert‘?“10 Japanischen Konsument*innen trennen den Pilz nicht von seiner Produktionsgeschichte, sondern statten ihn, als Objekt, mit der imaginären Kraft japanischer Ästhetik aus. Als Geschöpfe der Zivilisation wachsen Matsutake hauptsächlich in satoyama, Dorfwäldern. Obschon die meisten Dorfwälder der Präfektur Kyoto in Privatbesitz sind, unterstehen sie in mehreren bedeutsamen Hinsichten der Rechtsprechung des Dorfes; so werden etwa die Matsutake-Sammelrechte für diese Wälder öffentlich versteigert. Ein Dorffest vor Saisonbeginn dient als Forum, auf dem die Haushaltsvorsteher*innen ihre Gebote für die Ernte abgeben. Da ein Teil der Einnahmen an das Dorf fließt, steigern die Haushaltsvorsteher*innen den Preis, indem sie andere mit Hilfe von Alkohol und Angeberei zur Erhöhung ihrer Gebote drängen.11 Haruo Saito, der die Auktionen studiert hat, vertritt die Auffassung, dass die Matsutake-Einkünfte der Schlüssel zur

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Diesen historischen Abriss verdanke ich Gesprächen mit Dr. Makoto Ogawa (siehe auch Ogawa 1978); vgl. außerdem Totman (1998).

10 Er spielte damit auf Ruth Benedicts Buch Die Chrysantheme und das Schwert (Benedict 1946) an, das in Japan viel gelesen und bewundert wird und für das, was dort allgemein unter „Ethnologie“ verstanden wird, Maßstäbe gesetzt hat. 11 Diese ethnografischen Details verdanke ich einem Gespräch mit der Ethnologin Megumi Doshita.

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Wiederbelebung des Dorflebens in den Not leidenden Landstrichen Japans sind (Saito und Mitsumota 2008). Die Vorliebe für Matsutake in der städtischen Mittelschicht hat denn auch viel mit der Wiederbelebung der Dorftraditionen zu tun. Die Wertschätzung für Matsutake beschwört das herauf, was Marilyn Ivy „das Verschwindende“ genannt hat: das verblassende Wesen japanischer Kultur, das in den ländlichen Empfindsamkeiten verkörpert scheint (Ivy 1995). Die Matsutake-Produktion in Japan ist in der Tat im Niedergang begriffen. Das Hauptproblem besteht im Verschwinden der Rotkiefernwälder. Ein Fadenwurm aus Nordamerika greift die Gesundheit der Rotkiefern an.12 Auch die Umweltverschmutzung leistet ihren Beitrag. Doch der wichtigste Grund ist, dass die Menschen seit Ankunft der fossilen Treibstoffe aufgehört haben, Laubbäume zu fällen. Die Rotkiefer wird seither sukzessive durch Laubbäume verdrängt. Hügel, die einst von Matsutake übersät waren, sind heute zu dicht bewaldet, als dass die Rotkiefer dort noch gedeihen könnte.13 Dieser Niedergang hat eine Bewegung zur „Wiederbelebung der MatsutakeBerge“ auf den Plan gerufen. Eine Gruppe aus Kyoto mit dem Namen „Matsutake-Kreuzfahrer“ trommelt Freiwillige zusammen, um die Laubbäume mitsamt Wurzeln zu entfernen. Und erstaunlicherweise tragen sie die oberste Erdschicht gleich mit ab. „Erosion ist gut für den Matsutake“, erklärte uns ein Matsutake-Förster. Diese Gruppen zur Matsutake-Wiederbelebung hoffen, die Wälder gleichsam von unten nach oben wieder mit Rotkiefern aufzuforsten. Nichtsdestotrotz macht die japanische Matsutake-Produktion nur einen winzigen Bruchteil des gegenwärtigen Absatzes aus. Die meisten Matsutake, die heute in Japan verzehrt werden, werden importiert und stammen aus Orten, an denen völlig andere Arbeits- und Umweltverhältnisse herrschen. Um an einen solchen anderen Ort zu gelangen, musste ich zunächst die Lieferkette zurückverfolgen. Japan ist bekannt für seine Rohstoffimporte und für die Macht der Handelsfirmen, die diesen Prozess kontrollieren. Aber die japanische Erfahrung spiegelt sich in der Literatur über Lieferketten nicht angemessen wider. Laut einem einflussreichen Modell US-amerikanischer Soziologen lassen

12 Der Schuldige ist ein Rotkiefer-Nematode namens Bursaphelenchus xylophilis, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Japan auftauchte und nach und nach Kiefern im ganzen Land infiziert hat. Siehe Togashi und Shigesada (2006). 13 Über diese viel diskutierte Tatsache sind sich Matsutake-Liebhaber*innen, Wissenschaftler*innen und Ressourcenmanager*innen in Japan weitgehend einig. Eine Reihe älterer Leute, mit denen ich gesprochen habe, erinnerten sich, dass sie auf Hügeln, auf denen sich heute kaum noch oder gar keine Rotkiefern mehr finden, früher Matsutake gesammelt haben.

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sich Lieferketten in zwei Typen unterteilen: käufergetriebene Ketten, die Dinge wie Jeans und Schuhe anbieten, und produzentengetriebene Ketten, die Dinge wie Autos und Computer anbieten (Gereffi 1994). 14 Der „Antrieb“ bezieht sich dabei auf das Vermögen, die Ausgestaltung der Lieferkette zu kontrollieren; eine käufergetriebene Kette wäre demnach eine, in der Designer*innen und Marketingleute, wie bei den Sportschuhen von Nike, den Lieferan*tinnen, die die Schuhe produzieren, Anweisungen geben. Beide Arten von Antrieb sind tief in der Unternehmenskultur der USA verankert, aber, wenn man Japan betrachtet, müsste man händlergetriebene Ketten hinzufügen. Handelsfirmen haben bei der Entwicklung der modernen japanischen Wirtschaft eine überragende Rolle gespielt (Yoshihara 1982). Im Gegensatz zur Tradition in Europa und in der europäischen Diaspora sehen sich Händler*innen – als Vertreter*innen des Marktes – nicht im Widerspruch zu Staat und Gemeinwohl, als stünden sie auf der anderen Seite eines ideologischen Grabens, der zwischen Freiheit und Regulierung verläuft. Dies hat zur Folge, dass sich die Händler*innen auf allen Ebenen sowohl als Repräsentant*innen der Innovation wie als Bewahrer*innen von Tradition und Ordnung begreifen können. Während man die Händler*innen in Amerika im Grunde für überflüssig hält – „lasst uns die Zwischenhändler abschaffen“, lautet dort die Devise –, schätzt man den Handel in Japan als einen Ort der Wertschöpfung. Und während die US-amerikanischen Kettenbetreiber dafür bekannt sind, von einer möglichst weitgehenden Modernisierung und Standardisierung zu

14 Diese Unterteilung wurde im Rahmen eines Modells für „globale Warenketten“ (global commodity chains) entwickelt, das in den 1990er-Jahren besonders einflussreich war. Seither hat sich Gereffi dem zugewandt, was er „globale Wertketten“ (global value chains, GVC) nennt. Dieses neue Modell zielt ganz bewusst darauf ab, Betriebswirtschaftler*innen in eine Diskussion einzuführen, die ehedem von Soziolog*innen dominiert wurde. Befürworter*innen der GVC behaupten außerdem, dass ihr Modell den neuen, komplexen Entwicklungen in der Warenkettenorganisation besser gerecht werde. Laut einer Darstellung können diese Ketten beispielsweise in fünf Organisationskategorien unterteilt werden: Märkte, modulare Wertketten, relationale Wertketten, gefangene Wertketten und Hierarchie (https://globalvaluechains.org/concepttools, letzter Zugriff am 18. Juli 2017 v.d.Hrsg.). Diese Arbeiten sind klug und komplex, tragen jedoch dem, worum es mir geht, keine Rechnung: der japanischen Geschichte der Lieferkettenentwicklung; der Verwendung solcher Ketten, um kulturelle Unterschiede für den Kapitalismus arbeiten zu lassen. Ich habe mich daher hier auf die frühere, immer noch einflussreiche Unterscheidung zwischen käufer- und produzentengetriebenen Ketten bezogen, die mich zu weiteren Reflexionen über die japanische Wirtschaftsgeschichte angeregt hat.

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träumen, hängen die japanischen Händler*innen, denen ich in meiner Forschung begegnet bin, einer lokalen Übersetzungstheorie an, wie ich gleich erläutern werde. In Japan sagen Importeur*innen, Auktionator*innen und Großhändler*innen, dass sie Wert schaffen, indem sie Lieferant*innen und Konsument*innen erfolgreich zum Ausgleich bringen. 15 Ein Gemüsegroßhändler erklärte mir dies in den lebhaftesten Bildern: Wenn er Kohl anbieten wolle, gehe er zu einem Bauern und verschaffe sich einen Eindruck erster Hand von den Methoden, die der Bauer zur Anreicherung des Bodens verwende. Er studiere sogar die Gesichter der Bauernfamilie: Sähen sie glücklich aus, leisteten sie wahrscheinlich gute Arbeit. Erst dann könne er die Qualität der Kohlköpfe dieses Lieferanten beurteilen und sie an eine*n Verbraucher*in vermitteln, der genau diese Qualität von Kohl suche. In diesem System umfasst der Warenfetischismus eine Geschichte über die Produktionsbedingungen; demgegenüber ist uns, wenigstens in den Vereinigten Staaten, ein Warenfetischismus vertraut, bei dem die Objekte aller Spuren ihrer Produktion entledigt als traumhafte Wunscherfüllungen der Konsument*innen erscheinen. Die japanischen Warenhändler*innen machen einen grundlegenden Unterschied zwischen Produkten aus Japan und Produkten, die aus dem Ausland importiert werden; dieser Unterschied ist sogar im Gesetz festgeschrieben. Die japanischen Produkte werden nach den Präfekturen klassifiziert, ausländische Produkte nur nach dem Herkunftsland, ohne weitere regionale Differenzierung. 16 Dieses System zwingt die Händler*innen, sich bei der Beurteilung ausländischer Waren mit landesweiten Stereotypen auseinanderzusetzen. Obwohl auch im Ausland Vor-Ort-Inspektionen der Produkte an der Tagesordnung sind, werden diese dort von lokalen Akteur*innen nach deren eigenen Wertvorstellungen durchgeführt. Die Importeur*innen erklärten ihre Tätigkeit als eine Anpassung an die „Psychologie“ der Ausländer*innen. Das Produkt selbst sei von der Psy-

15 Diese Einsicht verdanke ich Shiho Satsuka. Dr. Satsuka und ich haben im Juni 2006 auf dem Ota- und Tsukiji-Markt in Tokyo mit Großhändler*innen und Auktionator*innen gesprochen. 16 Die „Qualitätskennzeichnungsnorm für verderbliche Lebensmittel“ des Ministeriums für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei (Anzeige No. 514, in der revidierten Fassung vom 14. September 2004) besagt: „Landwirtschaftliche Produkte. Ein inländisches Produkt muss den Namen der Präfektur angeben und ein importiertes Produkt soll den Namen des Herkunftslandes angeben.“ (http://www.maff.go.jp/soshiki/syo kuhin/hinshitu/e_label/file/Labeling/QLS_perishable_food.pdf; letzter Zugriff am 24. Januar 2008).

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chologie seiner Produzent*innen durchtränkt. Ein Importeur lieferte mir einen sehr anschaulichen, rassistischen Beleg für diese Auffassung: Die Matsutake, meinte er, hätten dieselben Merkmale wie ihre Völker. Chinesische Matsutake seien „schwarz“, weil die Chines*innen schwarz seien. Amerikanische Matsutake seien „weiß“, weil die US-Amerikaner*innen weiß seien. Doch japanische Matsutake besäßen den perfekten milden Teint, genau wie die Japaner*innen.17 Die Frage der „Rasse“ führt uns wieder auf den Geruch zurück. Ausländische Matsutake haben nicht ganz den richtigen Geruch. Ein Großhändler erklärte mir, dass nur japanische Matsutake jene besondere Süße aufwiesen. Chinesische Matsutake seien, vielleicht wegen der langen Speditionszeiten, fade. Nordamerikanische Matsutake wurden entweder als zu kräftig, nicht kräftig genug oder als „übelriechend“ beschrieben. Während japanische Matsutake nach Ansicht eines Großhändlers einen „klaren“ (tômeina) Duft besitzen, riechen ausländische Matsutake „trübe“ (dorokusai).18 Das Thema des Geruchs ist sowohl von einer konkreten Sinnlichkeit als auch in weiterem Sinn metaphorisch. In seinem Buch Recentering Globalization (2002) vertritt Iwabuchi die Ansicht, dass japanische Händler*innen für Metaphern des nationalen Dufts besonders empfänglich seien; so hätten beispielsweise die japanischen Händler*innen nach Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Konsumgüter an andere Asiat*innen verkauft, die immer noch am japanischen Imperialismus litten, indem sie diese Waren metaphorisch ihres japanischen Geruchs entkleidet hätten. Im Matsutake-Geschäft stellt sich den Händler*innen die umgekehrte Aufgabe: Sie müssen die ausländischen Matsutake in das Duftsystem Japans übersetzen. Der Geruch ausländischer Matsutake macht den vielschichtigen Prozess des Aufbaus transnationaler Lieferketten deutlich. Auf einer Ebene handelt es sich um einen rein ökonomischen Prozess, insofern es dabei um Verhandlungen über Preise und den Austausch von Geld geht. Allein die Preisgestaltung im Verlauf der Lieferketten ist, wie mir alle Matsutake-Händler*innen versicherten, eine waghalsige und spekulative Angelegenheit. Die Händler*innen versuchen laufend das wechselhafte nationale Ansehen ihrer Pilze einzuschätzen. Die Preise können sich über Nacht, ja sogar im Laufe einer Nacht radikal verändern. Die Profitmargen sind niedrig und hängen davon ab, dass die Händler*innen sowohl die Situation weiter vorne als auch weiter

17 Der Importeur sprach Englisch mit mir. Leiba Faier hat mir bei diesem Interview geholfen. 18 Diese Unterscheidung und die japanischen Ausdrücke verdanke ich Miyako Inoue. Dr. Inoue, Dr. Satsuka, Dr. Faier und ich haben gemeinsam Großhändler*innen in Tokyo interviewt.

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hinten in der Kette richtig einschätzen. Geschwindigkeit ist dabei entscheidend; mit Ablauf jeder Stunde nimmt der Wert des Produkts ab. Die Händler*innen kleben mit den Ohren am Telefon und warten auf günstige Paarungen, unverhoffte Gelegenheiten und „Spezialbestellungen“. Um den richtigen Preis zu finden, lauschen sie wie besessen auf das Marktgeflüster. Ihre Aufgabe ist es, dem Marktgeschehen in ihrer Preiskalkulation Rechnung zu tragen. Sie vergleichen diesen Prozess bewusst mit dem der Übersetzung. Aber Übersetzungen sind unzuverlässig, denn Übersetzer*innen verändern stets die Bedeutung. Neue Worte führen ein unvertrautes Wertkalkül ein und bei mehrfachen Übersetzungen geht leicht der ursprüngliche Kontext der Wertbildung verloren. Man könnte die Arbeit der Matsutake-Händler*innen mit dem Kinderspiel „Stille Post“ vergleichen, bei dem ein Kind dem nächsten einen Satz zuflüstert, der weitergegeben wird, bis am Ende meist eine völlig unverständliche Botschaft herauskommt. Die Händler*innen sind auf den Empfang solcher unverständlichen Botschaften spezialisiert und versuchen, aus den Gelegenheiten, die sie aufschnappen, das Beste zu machen. Auf allen Ebenen beschrieben sie ihre Arbeit als „gefährlich“. Während der Matsutake-Saison kämen sie nie zum Schlafen. Die Übersetzung des Dufts in das Medium des Geldes erfordert vollkommene Wachsamkeit (Abb. 3a, 3b). Jeder Handel weist einige dieser Merkmale auf, aber nach Ansicht der Matsutake-Händler*innen ist ihr Bereich der „gefährlichste“ und anspruchsvollste. Der Gemüseanbau ist vergleichsweise berechenbar. Sobald ein bestimmter Bauer, eine Bäuerin oder ein Bauernverbund dem System beigetreten ist, kann der oder die Händler*in regelmäßige Produktlieferungen erwarten. Im Gegensatz dazu hängt die Matsutake-Produktion von vielen unvorhersehbaren Faktoren wie dem Wetter und den derzeitigen Verhältnissen im Wald ab. Die Pilzsammler*innen sind exzentrisch und hoch spezialisiert und längst nicht so diszipliniert wie Landarbeiter*innen. Außerdem müssen die Händler*innen nicht nur direkt mit tausenden von selbständigen Sammler*innen, sondern statt mit Landwirt*innen und Geschäftsführer*innen auf verschiedenen Ebenen mit wechselnden und unabhängigen Käufer*innen, Spediteur*innen, Exporteur*innen, Importeur*innen, Auktionator*innen, Großhändler*innen und Gemüseläden verhandeln. Da Matsutake ein Luxusgut und kein Grundnahrungsmittel ist, steigen und fallen in einem fort die Preise und bleibt jeder Handel damit grundsätzlich spekulativ. Wetterkapriolen in Japan, Elitehochzeiten, Parlamentswahlen – all dies kann einen riesengroßen Unterschied ausmachen. In diesem Kontext wird die Übersetzung permanent fluktuierender Marktverhältnisse zur entscheidenden Fähigkeit, die den Händler*innen erlaubt, Profite zu machen.

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Außerdem ist jedes Herkunftsgebiet ein Fall für sich. Die Importeur*innen setzen spezialisiertes Personal ein, um die kulturellen und „psychologischen“ Anforderungen jedes Matsutake-Herkunftsgebiets zu bewältigen.19 Laut japanischen Importeur*innen herrscht in Oregon der Geist des Wilden Westens. Die Sammler*innen zögen dort nicht los, solange sie nicht durch die Erregung eines wettbewerbsbetonten Kaufsystems, das die Japaner*innen „Auktion“ (seri) nennen, angelockt würden. Die Oregon-Experten*innen in Japan kommen dieser Anforderung entgegen, indem sie schnelle Preissteigerungen ermöglichen, um mit Konkurrent*innen gleichzuziehen oder sie zu übertrumpfen, auch wenn dies schnell zum Kollaps führen kann. In Oregon wiederum naturalisiert man die raschen Preisveränderungen als japanisches Geschäftsgebaren. Was mich zu guter Letzt in die Wälder von Oregon zurückführt. Abb. 3a: Am Telefon in Vancouver, Kanada. (Foto: Lue Vang)

Oregon ist eine wilde Landschaft, nicht das, was man als Zentrum der Zivilisation bezeichnen würde. Wie ein Sammler der Lao meinte: „Buddha ist hier nicht.“

19 Diese Einsicht verdanke ich Shiho Satsuka. Dr. Satsuka und ich interviewten im Juli 2006 in Osaka mehrere Importeur*innen.

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Es ist ein Ort der Unordnung, wo sich Tausende unabhängiger Sammler*innen einfinden, um ihr Glück zu machen. Oder wie ein anderer Lao-Sammler bestätigte: „Buddha sucht keine Pilze.“20 Pilze besiedeln den wilden, schlecht gepflegten Wald: die Ruinen der industriellen Waldwirtschaft. Die Landschaft in Oregon steht in scharfem Kontrast zu der Produktionsszenerie in Japan. Als der Mount Mazama vor 7700 Jahren ausbrach, hinterließ er auf der Ostseite des Kaskadengebirges eine dicke Schicht Bimsstein. In diese Böden dringt nur wenig organische Materie ein. In diesem unwirtlichen Landstrich, der inzwischen zu den Nationalforsten der USA gehört, kultiviert der Matsutake seine Nadelbäume. Er hat außerdem von einer verfehlten Forstwirtschaft profitiert. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts trafen sich die Interessen der Holzwirtschaft und die staatliche Forstpolitik im Ruf nach der Vermeidung von Waldbränden. Dadurch konnte sich Wildwuchs im Unterholz ausbreiteten und Totholz den Waldboden bedecken. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gegend gründlich abgeholzt. Erstklassige Holzkiefern wurden gefällt, während Tannen mit den dichten Gruppen minderwertiger Drehkiefern zurückblieben, die durch die Waldbrandvermeidung stehen geblieben waren. 21 In den späten 1990erJahren stellte die US-Forstverwaltung in einer Untersuchung fest, dass die Pilze mittlerweile mindestens ebenso viel, wenn nicht mehr wert waren als die Bäume (Alexander et al. 2002). Aber der Pilz widersetzt sich der Kontrolle durch die Forstverwaltung. Die Verwaltung strebt nach einer Rationalisierung und Standardisierung, der sich die Pilze verweigern. Und während die Forstverwaltung an kommerzielle Unternehmen gewöhnt ist, hat sie keine Ahnung, wie sie mit den hunderten, manchmal sogar tausenden von unabhängigen Pilzsammler*innen

20 Hjorleifur Jonsson übersetzte verschiedene Interviews mit Lao-Sammler*innen, darunter auch dieses. Meine Erkenntnisse über Lao- und Mien-Sammler*innen sind das Ergebnis von Diskussionen mit Dr. Jonsson. 21 Die Matsutake wachsen in dieser Gegend unter vielen Nadelbäumen, darunter die Shasta Prachttanne (Abies magnifica var. shastensis), die Drehkiefer (Pinus contorta) und die Ponderosa-Kiefer (Pinus ponderosa). Der für die Forstwirtschaft wichtigste Baum ist die Ponderosa-Kiefer. Nancy Langstons Darstellung der Blue Mountains ist eine höchst aufschlussreiche Lektüre, was die Managementpraktiken der US Forstverwaltung im östlichen Oregon betrifft, und viele dieser Praktiken finden sich auch im östlichen Kaskadengebirge. Wenn ich von „verfehlter“ Forstwirtschaft spreche, ist dies eine Vereinfachung ihrer nuancenreichen Analyse.

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umgehen soll, die im Wald campieren und von denen die meisten kein oder nur wenig Englisch sprechen.22 Ein zweiter Kontrast in den Wertschöpfungsbedingungen besteht darin, dass die Arbeitspraxen hier weniger von romantisierender Nostalgie geprägt sind als vom aktuellen Neoliberalismus. Man kann das Matsutake-Sammeln in Oregon als eine Form von volksnahem Neoliberalismus begreifen, als ein Unternehmertum der Armen. Die einzige Investition, die man dafür benötigt, besteht in einer Campingausrüstung, einem Auto, Essen und Benzin. Die Arbeit ist schwierig und gefährlich. Man kann sich in dem Wald leicht verirren und an Unterkühlung sterben. Zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen bestehen starke Spannungen und alle führen eine geladene Schusswaffe bei sich. Die Erträge sind ungewiss. Aber selbst behinderte, widerständische und traumatisierte Menschen können dieser Arbeit nachgehen. Abb. 3b: Im Zelt des Käufers. (Foto: Lue Vang)

22 Rebecca McLains (2000) aufschlussreiche Dissertation über das Pilzsammeln in einem anderen Teil Oregons erzählt von den Spannungen zwischen den auf ihre Unabhängigkeit bedachten Sammler*innen und der staatlichen Bürokratie, insbesondere in Gestalt der US-Forstverwaltung.

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Die Matsutake-Sammler*innen sind dafür bekannt, dass sie wenig auf Hierarchie, Zuverlässigkeit oder Disziplin geben. Die ersten kommerziellen Sammler, die in den 1980er-Jahren in Zentral-Oregon zu arbeiten begannen, waren Vietnamveteranen, Hinterwäldler und arbeitslose Holzfäller. Es waren Männer, die ihr bisheriges Leben als bezahlte Arbeitskräfte satt hatten und stattdessen lieber in die Wälder zogen. Sie besaßen einen starken Unabhängigkeitsdrang und eine Abneigung gegen die Disziplin von Lohnabhängigen und gegen den geistlosen Konformismus, den viele von ihnen mit dem Leben in der Stadt verbanden. Die Südostasiat*innen trafen gegen Ende besagten Jahrzehnts in den Wäldern Oregons ein und beherrschen seither das Bild. Sie sind vor imperialen oder Bürgerkriegen in Südostasien geflohen. Es handelt sich um ehemalige Soldat*innen oder kleine Händler*innen oder mobile Minderheiten aus den Bergen. Viele von ihnen verstehen kaum Englisch; manche haben wenig oder gar keine Erfahrung mit Lohnarbeit. Sie erreichten die Vereinigten Staaten zu einer Zeit, als in Reaktion auf Kritik am „Wohlfahrtsstaat“ die öffentlichen Dienstleistungen abgebaut wurden. Der Neoliberalismus war neu und verheißungsvoll, die Sozialhilfe wurde auf achtzehn Monate begrenzt, jede Person sollte auf eigenen Beinen stehen und ihre eigenen Wege finden, zu Geld zu kommen. Das, was man bis heute als „geregelte“ Arbeit bezeichnet – ein regelmäßiges Arbeitsverhältnis mit Sozialleistungen –, war für die allermeisten von ihnen keine Option. Die Kunde, dass man durch das Sammeln von Pilzen reich werden könne, machte unter den Flüchtlingsgruppen schnell die Runde und binnen weniger Jahre hatten die Südostasiat*innen die Sammlerszene vollständig umgekrempelt. Die südostasiatische Landbevölkerung fühlt sich von dieser Lebensweise, die sie in mancher Hinsicht an das Leben in der alten Heimat erinnert, besonders angezogen. Khmer-Leute kommen nach Oregon, um die Wunden des Kriegs zu lindern; Lao, um arroganten Vorgesetzten zu entfliehen; Hmong, weil es sie an die Zeit ihrer Dschungelkämpfe erinnert; Mien, um die verlorene Dorfgemeinschaft wiederaufleben zu lassen. „Dies ist ein guter Ort, um zu leben, und ein guter Ort, um zu sterben“, sagte eine ältere Mien-Frau, und die Wärme und flexible Verbindlichkeit der Dorfbeziehungen im Pilzcamp seien besser, als in einer Stadtwohnung zu hocken und auf die Enkelkinder aufzupassen. Dagegen erklärten mir einige Lao-Männer, nicht ohne Genugtuung: „Hier ist jeder habgierig und denkt nur an sich selbst.“ Diese „globalen Hinterwäldler“ (Carruthers 2007) erwecken ihre südostasiatischen Talente zu neuem Leben, um den USamerikanischen Herausforderungen zu begegnen. Der amerikanische Neoliberalismus verwehrt ihnen die Erfüllung des Traums des zwanzigsten Jahrhunderts von einer geregelten Arbeit und nötigt sie, ihren Lebensunterhalt auf eigene Weise zu verdienen und dazu ihre spezifischen kulturellen Fähigkeiten und Ka-

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tegorien einzusetzen, von denen manche in den grausamsten Kriegen erworben worden sind. Lieferketten verstehen die Arbeitskraft von Flüchtlingen gut zu nutzen und tun dies häufig unter wesentlich schlimmeren Verhältnissen als in Oregon. Das Kapital hat eine Verwendung für diese bunten, ohnmächtigen Nischenarbeiter*innen gefunden. Es ist das Verdienst des Pilzes, dass dieser Schauplatz in Oregon auch Vitalität und Lebenskraft verschafft. Ein drittes charakteristisches Merkmal der Wertschöpfung in den Wäldern von Oregon besteht in der Art des Handels. Die Sammler*innen und Käufer*innen in Oregon, die sich den inneren Wert des Pilzes nicht erklären können, konstruieren eine Welt, in der das so genannte „Spiel“ des Kaufens seine ureigensten Regeln annimmt. Die Käufer*innen, die von Geschäftspartner*innen weiter unten in der Lieferkette für listige Preisgestaltungsstrategien belohnt werden, imaginieren eine Welt, in der der Wettbewerb als solcher Wert generiert. Sie verstärken den Nischencharakter der Matsutake-Wirtschaft in Oregon und bewahren diese damit vor ökonomischer Standardisierung. Die Pilze werden tagsüber gesammelt und nachts an unabhängige Käufer*innen veräußert, die am Rand der wichtigsten Ausfallstraßen ihre Zelte und Wagen aufgestellt haben. Die Käufer*innen wiederum verkaufen sie an Spediteur*innen, die sie an Exporteur*innen weiterverkaufen, die sie wiederum an japanische Importeur*innen verkaufen. Alle erinnern sich an das Jahr 1993, als der Preis für Matsutake den Sammler*innen rund eine Stunde lang einen Verdienst von mehr als 500 US-Dollar pro Pfund einbrachte. Seither sind die Preise stetig gefallen, aber es ist einem Sammler oder einer Sammlerin auch heute noch möglich, an glücklichen Tagen bis zu 1000 US-Dollar zu verdienen – während sie an anderen natürlich leer ausgehen. Die Preisunterschiede zwischen den Ankäufern sind für die Sammler*innen wichtig und sie nehmen sich Zeit, um zwischen den Käufer*innen auszuwählen. Die Käufer*innen ringen von der Dämmerung bis zum Ende der Verkäufe mit der Konkurrenz, und ändern mit geradezu surrealem Eifer fortlaufend die Preise und Konditionen, im Versuch, ihre Rival*innen auszustechen. Die Geschäfte werden sämtlich in Bargeld abgewickelt und dabei wechselt viel Geld die Hand. Bei den Verhandlungen werden außerdem Gerüchte, Drohungen und versteckte Andeutungen weitergegeben, die alle Teil des „Spiels“ sind. Wenn ein Käufer die Preise zu niedrig ansetzt, verkauft kein*e Sammler*in an ihn. Setzt er den Preis zu hoch an, schieben ihm die anderen Händler*innen ihre Pilze unter. In einer guten Nacht gehen bis zu zehntausend Pfund Matsutake von einem einzigen großen Umschlagplatz an der Straße zu den Flughäfen an die Küste, von wo aus sie am frühen Morgen per Luftfracht nach Japan spediert werden.

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Die nordamerikanischen Matsutake-Exporteur*innen würden gerne den Wettbewerb reduzieren und verlässlichere Geschäftsstandards etablieren. Verglichen mit anderen Exportgütern wie Meeresfrüchten oder Gemüse sei das Matsutake-Geschäft unvorteilhaft, da zu riskant und aufwändig, im günstigsten Fall allerdings auch hochprofitabel. Bis heute war keiner dieser Versuche von Erfolg gekrönt, was zum Teil daran liegen mag, dass alle Exporteur*innen von einer Kette unabhängiger Spediteur*innen und Käufer*innen abhängt. Die Spediteur*innen und Käufer*innen haben ihre eigenen Spielregeln und widersetzen sich einheitlichen Unternehmensstandards. Auch die Forstverwaltung bemüht sich seit langem um eine Regulierung der Pilzökologie, erzielt aber nur dürftige Fortschritte.23 Sammler*innen und Käufer*innen – und Pilze – arbeiten legal, illegal und sublegal und unterlaufen die Pläne der Verwaltung. Wie lässt sich der Pilzhandel angesichts der Spezialisierung und der Unberechenbarkeit des Handels, der Arbeitskräfte und der ökologischen Verhältnisse in den globalen Kapitalismus einbinden? Kehren wir zu dem rastlosen, mit breitem Fokus suchenden Blick der Sammler*innen zurück, die den Waldboden abgrasen. Matsutake-Sammler*innen suchen nach Anzeichen dessen, was erschienen und vergangen ist, und versuchen darin Verdienstmöglichkeiten zu erkennen. Die expansive Reichweite ihres Blicks steht im Gegensatz zu den eher eingeschränkten Gewohnheiten der Sammler*innen, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen und jedes Jahr in die bekannten Reviere zurückkehren. Um kommerziell zu arbeiten, muss man ausschwärmen und neue Territorien absuchen; keine Menge ist je genug. Es ist der Blick des US-amerikanischen Neoliberalismus – ein nervöser Zustand, der noch in Exkrementen, Ruinen, verlassenen Dingen und Orten nach Verdienstgelegenheiten sucht. Michael Taussig (1992) hat darauf hingewiesen, dass man die sinnliche Erfahrung einbeziehen muss, wenn man begreifen will, warum uns der Kapitalismus gefangen hält und unsere Subjektivitäten und Wünsche formt. Dies wird an diesem Ende der US-amerikanischen Lieferkette besonders deutlich. Das Unternehmer*innentum der Armen gleicht hier einem rastlosem Stöbern, das sich jeder Standardisierung widersetzt (Abb. 4). Standardisierung ist eine Form von Objektivierung, bei der die subjektive und sinnliche Erfahrung als ökonomisch und ökologisch irrelevant vorgestellt

23 Die Sammler*innen müssen an einem Lehrgang teilnehmen, um von der Forstverwaltung ihre Lizenz zu erwerben. Eine beträchtliche Anzahl von Sammler*innen ist vom Sinn der Empfehlungen der Forstverwaltung überzeugt (zum Beispiel, dass das „Durchrechen“ des Boden vermieden werden sollte), manche Bestimmungen werden eher übertreten.

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wird. Im Jargon von Modernisierung und Entwicklung wird subjektive und sinnliche Erfahrung in die Vergangenheit relegiert, in ein Zeitalter der „Kultur“ vor Etablierung einer universellen modernen „Ökonomie“. Doch in den MatsutakeWäldern Oregons bricht die Vergangenheit in ihrer ganzen subjektiven Unordentlichkeit hervor und prägt und artikuliert das Profitstreben. Der Lieferkettenkapitalismus stellt die Fortschrittschronologie auf den Kopf, indem er eine vermeintlich archaische Sammler*innentätigkeit mit der Globalisierung, und einen präindustriellen Merkantilismus mit postindustriellen neoliberalen Überzeugungen vermengt. Die südostasiatischen Pilzsammler*innen benutzen das Vermächtnis der Vergangenheit, einschließlich ihrer Traumata, bei ihrer Suche als Wegweiser. So sind, zum Beispiel, die Hmong-Sammler mit denen ich gesprochen habe, bis heute tief ins das verstrickt, was in den USA als „der geheime Krieg der CIA“ in Laos in den 1960er und 1970er Jahren bezeichnet wird. Die Hmong waren Kanonenfutter für die US-amerikanischen Interessen; sie leiteten vom Boden aus die amerikanischen Flugzeuge an, retteten amerikanische Piloten und trafen leibhaftig mit den Feinden zusammen, die die US-Amerikaner*innen nur vom Bildschirm her kannten.24 Noch als Pilzsammler sprachen die Hmong zwanghaft über ihre damaligen Kriegstechniken – wie man aus einem Schützenloch heraus kämpft oder Granaten zurückschleudert –, und es sei diese Geschichte, die sie dazu befähige, sich in den Wäldern Oregons zurechtzufinden. Hier trat die Kultur in den Dienst der Ökonomie, aber es war nicht die Ökonomie global vereinheitlichter Standards. Und dies führt mich aus den Wäldern Oregons hinaus zu den großen Fragen unserer Zeit, einschließlich des immer noch fortbestehenden imperialen Krieges. Was ist aus den Modernisierungsprojekten des Kapitalismus und des Staates geworden? Betrachten wir für einen Augenblick die Hinweise, die uns die indirekten Auswirkungen des imperialen Krieges liefern, wie den internationalen Strom an Flüchtlingen, ehemaligen Soldat*innen und anderen vertriebenen, benachteiligten und traumatisierten Personen. Diese Menschen sind schwerlich die idealen Subjekte des Monopolkapitalismus. Sie sind in die Dienste des Kapitals

24 Jane Hamilton-Merritt (1993) zeichnet eine antikommunistische Auge-um-Auge-Version dieser Geschichte. Ihre Darstellung ist eine Mixtur aus genauen, wahrscheinlich den Tatsachen entsprechenden Details und ihren eigenen ideologischen und intuitiven Phantasien darüber, was in den Köpfen von Offizieren und Soldaten vorging, aber die Lektüre des Buchs vermittelt einem ein Gefühl dafür, wie der Kampf von vielen Hmong in der Diaspora repräsentiert wird. McCoy (1972) liefert eine ganz andere, weniger auf die Hmong ausgerichtete Darstellung der Mobilisierung der Bergvölker in Laos.

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eingetreten – aber eines besonderen Kapitals, das in Lieferketten organisiert ist. Der Lieferkettenkapitalismus gedeiht in Nischen der Benachteiligung und der Differenz: Sie sind die Quelle seiner Profite. Er bedient sich nicht nur der Geflüchteten; Arbeiter*innen eignen sich ebenfalls für Lieferketten, weil sie nicht den Musterbürger*innen der Modernisierung und Entwicklung entsprechen. Manche sind in Haft; manche werden durch geschlechtliche Arbeitsteilung ans Haus gefesselt; bei manchen handelt es sich um migrantische Unternehmer*innen; manche sind einfach nur Bürger*innen eines benachteiligten Staats. Alle sind eine Ausnahme, ob privilegierter, wie die erfolgreichen Unternehmer*innen, oder weniger privilegiert, wie die Fabrikarbeiter*innen. Aber in beiden Fällen zwingt uns der Lieferkettenkapitalismus, neu darüber nachzudenken, wo wir mit unseren Überlegungen zur globalen Lage ansetzen. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dient vielen Erörterungen über die globale politische Ökonomie als Grundlage. Es war die Zeit des Aufstiegs der USA, und es liegt daher nahe, sich die weltweite Ausbreitung der Erfolge des New Deal aus den 1930er-Jahren etwas genauer anzusehen. Die Fürsprecher*innen des New Deal vertraten die Auffassung, dass man dem nationalen Populismus am besten durch eine Allianz zwischen Großkonzernen und staatlicher Verwaltung begegne. Staat und Industrie entwickelten Standardisierungssysteme, die die Reichweite sowohl der Produktion als auch der Verwaltung erweiterten; diese Normierung schuf Lebens-„Standards“, die sowohl die populistischen Gefühle bedienten als auch die Interessen von Bürokrat*innen und Unternehmenslenker*innen.25 Die Modernisierungs- und Entwicklungsprogramme von Mitte bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sorgten für die Ausbreitung dieser Formel, in der technisches Können, bürokratische Planung und unternehmerische Expansion Hand in Hand gingen.26 Die Natur sollte durch staatliche Ressourcenverwaltung und riesige Konzerne rationalisiert werden mit dem Ziel des „größtmöglichen Wohls für die größtmögliche Zahl von Menschen“, wie die US-Forst-

25 Foucault verweist, von Europa ausgehend, auf eine viel längere Geschichte der „Gouvernementalität“, in der wissenschaftliche Fachkenntnis und die Verwendung standardisierter Kategorien die Regierung innerhalb des Staates und darüber hinaus erleichtert haben (zum Beispiel in Foucault 1991). Der New Deal und seine Folgen sind jedoch, was die Entwicklung staatlicher und korporativer Gouvernementalitätstechnologien anbelangt, nützliche Maßstäbe. 26 Eine klassische Kritik dieser Epoche findet sich bei Sachs (1992), Escobar (1995) und Scott (1998).

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verwaltung formulierte. 27 Dieses größtmögliche Wohl war durch eine Massen produktion zu erreichen, die durch eine Standardisierung sowohl der Arbeitskräfte als auch der von Menschen verwalteten Ökologie ermöglicht wurde. Die Programme dieser Zeit lehren, dass kulturelle und ökologische Vielfalt für die internationale Wirtschaft irrelevant seien, weil die Ökonomie am besten wachse, wenn sie universellen Formeln zur Maximierung von Reichtum und Wohlbefinden folge. Solche Universalien könnten nur um sich greifen, wenn Staat und Kapital zusammengeschirrt würden wie zwei Ochsen vor einem Pflug, der die Furche des Fortschritts in die globale Zukunft grübe. Abb. 4: Elchkot und alte Grabspuren sind typische Anzeichen für Matsutake. (Foto: Hjorleifur Jonsson)

27 Harold Steens (1976) Geschichte der amerikanischen Forstverwaltung (US Forest Service) zeichnet den Aufstieg dieser Stimmung nach.

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Die Bedeutung dieser Zeit für unser Verständnis dessen, was auf der Erde möglich sein könnte, spiegelt sich in dem Umstand, dass Fachleute und Gelehrte angesichts des bröckelnden Zutrauens in dieses System nur von „post“-Phänomenen sprechen konnten: postmodern, postindustriell, postdevelopment. Selbst als man die neuen Entwicklungen in ihrem eigenen Recht zu definieren versuchte, setzten die meisten Darstellungen vielfach immer noch die Bezugssysteme der Nachkriegszeit voraus, namentlich die Vorstellung, dass Staat und Kapital im Gleichschritt unseren Weg in die Zukunft ebnen und neue Furchen der Standardisierung pflügen. Und in diesem Geiste wurden denn auch viele unserer gegenwärtigen Denkmodelle über die Umgestaltung von Ökonomien und den Wandel staatlicher Strukturen geschmiedet.28 Eines der einflussreichsten Bezugssysteme, mit dem mittlerweile über die weltweite Standardisierung sowie über „neoliberale“ Staatsbürgerschaft und Subjektivität nachgedacht wird, ist Foucaults neu aufgelegter Begriff der „Gouvernementalität“ (z.B. Barry et al. 1996a). Die Analysen neoliberaler Gouvernementalität zeigen eine Vervielfachung von Managementtechniken, mit deren Hilfe Subjekte sich selbst beherrschen lernen. Die politische Rationalität neoliberaler Gouvernementalität erlaubt den Individuen, ihren eigenen Weg zu finden, solange sie sich ihr Verhalten als durch das politische Kalkül einer Autorität hervorgebracht vorstellen. „Individuen sind mittels ihrer Freiheit zu beherrschen“, erklärt Nikolas Rose (1996, 41). Weder Staat noch Kapital sind für einen einheitlichen Plan zur Expansion „verantwortlich“, aber erfolgreiche Formationen zeichnen sich in beiden Fällen durch ihre Fähigkeit zur Artikulation dieser sich neu ausbildenden politischen Rationalität aus.29 Obschon dieses Bezugssystem viele Vorzüge aufzuweisen scheint, wirkt es sich oft lähmend auf die ethnografische Vorstellungskraft aus. Die Anthropologie der Gouvernementalität weiß die Antworten allzu oft schon im Voraus: Im

28 Anm. d. Hrsg.: Die ursprüngliche Fassung dieses Texts enthält einen längeren Abschnitt, in dem Tsing die Rolle von Diversität und Standardisierung in den Untersuchungen von Michael Hardt und Antonio Negri über immaterielle Arbeit und das Empire diskutiert (Hardt und Negri 2000; 2005). 29 Berry, Osborne und Rose sind sich bewusst, dass ihr Projekt Fragen der Nation, ethnischen Zugehörigkeit, Sexualität, des Kolonialismus und so weiter ausblendet (1996b, 15). Ein kluger Versuch, die globale Heterogenität wieder in den Blick zu bekommen, ist Aihwa Ongs Neoliberalism as Exception (Ong 2006). Für Ong funktioniert die neoliberale Gouvernementalität aufgrund ihrer Ausnahmen, durch die Herstellung verschiedener Nischen der Exklusion und Inklusion. Meine eigene Analyse hat von Ongs Analyse profitiert.

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besten Fall dokumentiert Ethnografie lokale Formen, derer man jedoch zum Verständnis des größeren Zusammenhangs nicht bedarf. Forschende, die sich dieses Werkzeugs zur Untersuchung globaler Verhältnisse bedienen, fangen mit grandiosen Theorien an, um sie durch ethnografische Anekdoten zu illustrieren. Im Gegensatz dazu plädiere ich für ein Vorgehen, bei dem wir das Urteil über die Gestalt der Beziehungen zwischen den Managementprojekten sei es des Kapitals oder des Staates aufschieben, bis deren Eigenheiten ethnografisch untersucht worden sind. Dieses Vorgehen empfiehlt sich methodisch von selbst. Der Lieferkettenkapitalismus erfordert jedoch außerdem einen ethnografischen Ansatz, weil sich Lieferketten dem Projekt einer Modernisierung und Entwicklung durch Standardisierung verweigern. Der Grund dafür liegt nicht darin, dass Lieferketten ein „postmodernes“ Techno-Regime über die Natur errichtet hätten (Escobar 1999), sondern darin, dass sie in den Rissen und Ruinen staatlicher Verwaltung und unternehmerischen Managements die Nischen der Vielfalt aufsuchen. Für diese neue Welt des Subunternehmer*innentums und verwandter Formen reichen die herkömmlichen Modelle globaler Standardisierung nicht aus. Wir benötigen darüber hinaus dichte Beschreibungen der Nischen, die sich in Handel, Arbeitswelt und Ökologie auftun – sowie der Verknüpfungen, die zwischen ihnen bestehen. Dies ist eine Chance zur Wiederbelebung der Ethnografie, nicht als Dienerin der Philosophie, sondern als einem echten Beitrag zu unserem Verständnis der Welt. Und wie reagiert der Pilz auf all dies? Ich habe einerseits die These vertreten, dass sich der Lieferkettenkapitalismus der ökologischen Vielfalt bedient. Die abseitigen Örtlichkeiten der Matsutake-Ökologie werden vom Handel geschätzt, nicht zerstört. Im Gegensatz zur industriellen Holzproduktion erfordert der Pilzhandel keine Standardisierung und Begradigung der Landschaft, der alles außer der jeweils begehrten Spezies geopfert wird. Dies scheint wirklich erfreulich. Ja, fast ist man geneigt, alles zu begrüßen, was nicht industrielle Landnutzung ist. Andererseits jedoch übernimmt der Handel keinerlei Verantwortung für den Fortbestand des ökologischen Lebensraums. Die Suche bezieht die Sammler*innen in die sinnlichen Charakteristika der Landschaft ein, die zum Teil durch den Pilz selbst geschaffen werden; hier ist der Matsutake ein aktiver Mitspieler. Das sinnliche Eintauchen in die Umwelt – der Duft in Kyoto oder die Bodenspuren in Oregon – kann die Sammler*innen ermutigen, sich des Pilzes anzunehmen und für seinen Lebensraum zu sorgen. Der Wettbewerb bei der Preisgestaltung und die internationalen Telefongespräche zwischen Händler*innen dagegen sind, was den Pilz betrifft, ihrem Wesen nach zutiefst unverantwortlich. Die Preisverhandlungen verleihen dem Lebensraum des Pilzes eine

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Aura, die seinem Verkauf dient – aber sie tun dies um den Preis, den Pilz von seinen materiellen Bedürfnissen zu trennen. Matsutake-Landschaften werden neu als ein symbolisches Merkmal des Produktwerts vorgestellt. In der Übersetzung der Händler*innen verwandelt sich die Materialität der Landschaft in eine Materialität des Geldes. Genau das ist es, worum es beim Handeln geht. Im Gegensatz sowohl zur industriellen Holzproduktion als auch zum Naturschutz übernimmt die Pilzwirtschaft keine Verantwortung für die Steuerung der Waldökologie. Sie nimmt einfach nur mit, was sich dort findet. Der Pilz kann dies kaum billigen: Er braucht seine Bäume und seine mineralischen Böden. Meine moderne Empfindsamkeit erhebt Einspruch: Sollten wir für den Wald nicht besser Sorge tragen? Aber die Pilzwirtschaft – nicht der Organismus, sondern die Lieferkette – könnte erwidern: Warum nicht im Augenblick leben und alle Zukunftspläne über Bord werfen? Wozu Standards, wo doch der Gewinn auf dem Boden liegt? Dies ist die Herausforderung, vor die uns der Lieferkettenkapitalismus stellt: Er zwingt uns, uns eine Welt jenseits ökonomischer und ökologischer Standardisierung vorzustellen – und in zunehmendem Maße auch zu bewohnen. Die Übersetzung gibt eine von den Herausgeber*innen in Abstimmung mit der Autorin leicht gekürzte Fassung wieder. Das Original ist erschienen in The Australian Journal of Anthropology 20, 2009, 347–368 unter dem Titel „Beyond economic and ecological standardisation“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von John Wiley & Sons.

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Irdische Kräfte und affektive Umwelten Eine ontologische Hochwasserpolitik S ARAH W HATMORE

Übersetzung aus dem Englischen von Jennifer Sophia Theodor „[…] Es genügt nicht, zu entscheiden, Nichtmenschen ins Kollektiv aufzunehmen oder anzuerkennen, dass Gesellschaften in einer physischen und biologischen Welt leben – so nützlich diese Schritte auch sein mögen. Der entscheidende Punkt ist, zu lernen, wie neue Arten der Begegnung (und Konvivialität) mit Nichtmenschlichem, die in der Praxis der Naturwissenschaften im Laufe von deren Geschichte entstehen, neue Beziehungsformen zwischen Menschen hervorbringen können, d.h. neue politische Praktiken.“ (Paulson 2001, 112)

E INLEITUNG In seinem Buch Alien Chic (2004) zeigt Neil Badmington einige der Versprechungen und Herausforderungen einer Beschäftigung mit den vielen intellektuellen und kulturellen Gegenströmen, die unter dem Namen des Posthumanismus zusammenkommen. Von Anfang an kommt in dieser Versammlung eine produktive Spannung zwischen zwei Imperativen zum Ausdruck. Der erste speist sich aus der promisken Erfindungsgabe der Lebenswissenschaften und ihren Implikationen für eine Neubevölkerung des Gemeinwesens auf alltägliche und monströse Weisen (z.B. Haraway 1997). Der zweite ist der letzte in einer Reihe kontrapunktischer intellektueller Energien, die mit dem Präfix „post“ in Verbindung gebracht werden und die sich dem philosophischen Vermächtnis der Aufklärung entgegenstellen, die jedoch im gleichen Atemzug übertreffen und aufrechterhalten, was auch immer „vorher“ war (z.B. Simon 2003). In diesem Beitrag möchte ich das politische Versprechen des Posthumanismus als ein Projekt erkunden,

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das auf der koevolutionären Verkörperung und Einbettung des menschlichen Tiers in der Welt beharrt (Wolfe 2009, xv), auch wenn ich infrage stelle, ob dieses Versprechen durch eine Benennung gefährdet wird, die umso stärker anhaftet, je mehr sie zirkuliert. Genauer gesagt untersuche ich, wie ökologische Störungen wie Hochwasser oder Erdbeben die von ihnen betroffenen Menschen „zum Nachdenken zwingen“ und somit zu neuen politischen Verbindungen und Möglichkeiten führen. Anhand von Erkenntnissen aus neueren Konversationen zwischen politischer Theorie und Wissenschafts- und Technikforschung, insbesondere aus der Arbeit der belgischen Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers, argumentiere ich, dass posthumanistisches Denken einen experimentelleren Kurs erfordert, der dazu in der Lage ist, die affektive Kraft solcher ökologischen Störungen zu artikulieren. Das gilt besonders, wenn dieses Denken den – nach Paulson (2001) – „entscheidenden“ Schritt machen möchte, zu formulieren, wie neue Arten der Begegnung mit Nichtmenschlichem, die in der naturwissenschaftlichen Praxis entstehen, zu neuen politischen Praktiken führen können. In einer vorläufigen Kartierung der politischen Implikationen dieser posthumanistischen Imperative führt der Geograf Bruce Braun sie auf eine Reihe von Essays von Jacques Derrida (2002) und Giorgio Agamben (2003) zurück. Die Essays ziehen den „Menschen“ in Zweifel, indem sie erkunden, wie der Humanismus diese Figur durch die Produktion einer anderen hergestellt hat: das Tier. Ohne diese Unterscheidung hat der Humanismus keine Grundlage – eine Einsicht, die für Braun am bündigsten in Derridas Neologismus des animot erfasst wird. Das Wort stellt phonetisch den Plural des französischen Wortes für Tier (animaux) dar und kombiniert ihn mit dem Wort für „Wort“ (mot). Animot zieht so die Aufmerksamkeit auf die Gewohnheit, alle Tierarten in eine zu walzen, und so ein undifferenziertes „Anderes“ zu produzieren, dem das „Menschliche“ gegenübergestellt und in dessen Abgrenzung es definiert werden kann (Braun 2004). Derrida erklärt dann, dass diese „fundamentale Anthropologie“ sich selbst dekonstruiert, da die Unterscheidung des Menschen vom Tier immer ein Supplement erfordert, um die Differenz zu fixieren (Sprache, Vernunft, Werkzeugherstellung etc.), wobei kein Supplement die Aufgabe angemessen erfüllt. Das Argument steht Agambens (2003) „anthropologischer Maschine“ nahe. Braun charakterisiert die politischen Auswirkungen dieser Strömung des Posthumanismus hinsichtlich ihrer „dekonstruktiven Verantwortung“. Sie wache über die Figur des Menschlichen, während diese kontinuierlich in kulturellen, politischen und philosophischen Praktiken angewendet und definiert wird. Die zweite Strömung, die Braun ausmacht, ist mit „bestimmten ontologischen Haltungen“ verknüpft, die das „offene Werden“ der Welt betonen und eine Art „bodenlosen Grund“ bieten, von dem aus die „Fixierung“ des Menschlichen als Problem in

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Sicht kommt (Braun 2004, 1353). Braun nimmt Donna Haraways (1997) „ontologische Choreographie“ zum Beispiel und argumentiert, dass die Autor*innen, die in dieser Richtung schreiben, weniger darauf abzielen, wie die Figur des Menschlichen als eine von anderen Klassen des Seins unterschiedene Identität etabliert wird. Ihr Hauptanliegen ist vielmehr die Entstehung des Menschen und dabei insbesondere seine leibliche Konstitution. Dieser Fokus auf den Bios des Posthumanen bringt hier eine vertraute Science Fiction – eine naturwissenschaftliche Fiktion – ins Spiel, die heute ein zelebrierter theoretischer Prüfstein ist: die Cyborg als eine zwangsweise ambivalente Kreatur, die menschliche, tierische und maschinelle Eigenschaften verbindet und die ausschließlich und selbstevident menschliche Bedingungen stört, in denen das politische Subjekt gerahmt wurde (siehe Haraway 1995). Wie Braun finde ich diese Cyborg-Ontologie provokativ, aber auch problematisch in ihrer Tendenz, das Posthumane und den Posthumanismus zeitlich in einer Epoche oder Situation zu verorten, die von nie dagewesenen technowissenschaftlichen Möglichkeiten eingeleitet wurde, durch die das Menschliche und das Nichtmenschliche auf neue Weisen „miteinander vernäht“ werden.1 Solcher Terminologie wohnt eine bestimmte Art der Historizität inne, die an der Vorstellung festhält, dass Dinge nicht immer schon so waren; dass in vergangenen Zeiten der Mensch selbstverständlicher und verlässlicher Mensch an sich war. Das wirft die Frage auf, ob das Posthumane oder die Posthumanismen selbst „anthropologische Maschinen“ geworden sind, die unabsichtlich vom „Menschen selbst“ in Bann gehalten werden, sogar noch während sie dessen Ableben verkünden. In Hybrid Geographies (Whatmore 2002) habe ich die verdächtige Paarung des „nach“ des Posthumanismus mit beziehungsweise als einer technologischen Errungenschaft der Lebenswissenschaften erkundet, als ebenso uneingeschränkt durch ein Vorbild oder eine Erinnerung wie all die anderen Schönen Neuen Welten, die vorher kamen, seit undenklichen Zeiten. Ich wollte argumentieren, dass das vielversprechendere und dringendere Projekt nicht das ist, was nach dem Menschlichen kommt, sondern das, was es überschreitet – wie auch immer dies in spezifischen Zeiten und Orten figuriert ist. Deshalb bevorzugte ich damals und arbeite weiterhin mit einer anderen Signatur und bevorzuge das „Mehr-alsMenschliche“ (Whatmore 2002, 4) vor dem „Posthumanen“; eine Signatur, die

1

Haraway hat selbst diesen Schritt weg von der Figur der „Cyborg“ vollzogen, die sie in ihrem früheren Werk genutzt hat; am sorgfältigsten in When Species Meet (Haraway 2008). Anm. J.T.: Auch Haraway stellt die Hegemonie und Unabhängigkeit des „Menschen“ grundsätzlich infrage, nicht erst dessen Ergänzungen durch technowissenschaftliche Apparate.

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eine andere Art der Historizität und damit auch der Politik heraufbeschwört. Unter Anwendung verschiedener analytischer und narrativer Mittel, um die Hybridität in der Zeit zurückzuschieben, wollte ich zeigen, dass es keinen Zeitpunkt und keinen Ort gab, an dem das Menschliche kein unfertiger Prozess war – egal ob ich mich mit der lange praktizierten Intimität zwischen menschlichen und pflanzlichen Gemeinschaften beschäftige oder mit den Fähigkeiten, die zwischen Körpern und Werkzeugen konfiguriert wurden. Damals wie heute erscheint mir der Biss des „Posthumanen“ darin zu liegen, dass seine Errungenschaften ebenso stark in alltäglichen Verhandlungen und politischen Ereignissen rund um Lebensmittel, Umweltgefahren oder Gesundheitsversorgung deutlich werden, wie in der dekonstruktiven Wachsamkeit der Geisteswissenschaften oder der rekonstruktiven Kraft der Lebenswissenschaften. Anders ausgedrückt, handelt es sich um einen Moment, der ein deleuzianisches Verständnis von Philosophie als einer „Mechanik“ zum Leben bezeugt (Murphy 1998, 213), als ein Mittel zum Weitermachen statt eines intellektuellen Zeitvertreibs. Solche Verhandlungen und Ereignisse zeugen von der Kraft allerlei irdischer Kräfte – unter anderem Körper, Codes, Geräte, Modelle, Dokumente und Proteine – deren affektive Ladung auf jene, die sie berühren, kaum in den heterogenen Gefügen verzeichnet ist, die in technowissenschaftlichen Praktiken des Hochwassermanagements (und als solche) hervortreten. Die von Braun kartierten dominanten Strömungen im posthumanistischen Projekt werfen wichtige Fragen über biopolitische „Umverteilungen von Differenz“ auf (Esposito 2008). Sie verkomplizieren die Zusammensetzung und Durchführung des Gemeinwesens, nicht zuletzt durch die Hervorhebung der Bedeutung von Körperlichkeit dafür, was/wer als politisches Subjekt zählt. Wo solche Arbeiten wirksam die Unterscheidung zwischen zoe und bios untersuchen, beziehen sie jedoch nur allzu selten auch einen dritten Begriff in ihre Überlegung ein – techne –, ohne den das „Politisch-Werden“ unserer biologischen Existenz nur schwerlich zu ermessen ist. Insofern fokussiert die vornehmliche Beschäftigung des Posthuman/ismus mit dem „Leben“ der Lebenswissenschaften – geblendet von der hyperbolischen Erfindungsgabe von Biotechnik und Bioinformatik (Doyle 2003) – in ihrer politischen Ladung zu verengt auf die Körper-Subjekt-Beziehung und entfernt „das Leben“ von der Situiertheit oder den Umwelten des Lebens. Als Geografin zieht mich die reichhaltige Verbindung zwischen bio (Leben) und geo (Erde) an – oder das, was die Autorin Jeanette Winterson (1997, 85) die „Lebendigkeit“ der Welt nennt. Leben/digkeit ist eine relationale Situation, die das intime Gewebe der Körperlichkeit – einschließlich jenes des menschlichen Werdens – mit dem scheinbar indifferenten Stoff der Welt wieder verknüpft, der Leben möglich macht. Hierin wird eine ökologische

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Vorstellungskraft angeregt, die die bedingte Offenheit oder Immanenz des Lebens auf eine Weise in den Vordergrund rückt, dass es sich bei Ökologie weniger um die Interaktion zwischen vorgängigen Lebensformen / materiellen Entitäten handelt als um deren Entstehung und Veränderung in einem „breiteren Feld der Kräfte, Intensitäten und Zeitspannen, die sie aufkommen lassen“ (AnsellPearson 1999, 154). Das fordert zu einer Fokusverschiebung auf: von einer Biopolitik, die vom „Neuen“ fasziniert ist, hin zu einer Ontopolitik, in der „Menschen immer mit dem Nichtmenschlichen zusammengesetzt sind, nie außerhalb eines klebrigen Netzes aus Verbindungen oder einer Ökologie“, wie die politische Theoretikerin Jane Bennett (2004, 365) es ausdrückt. Das sind die Ausgangspunkte jenes „experimentellen“ Kurses in der Durcharbeitung der politischen Implikationen des Posthuman/ismus für die Umverteilung der affektiven Kräfte ökologischer Prozesse, die ich zuvor erwähnte und denen ich mich nun zuwende.

D IE M ATERIE

VON

P OLITIK

Die Potenz technologischer Objekte und mehr-als-menschlicher Akteur*innen im Gewebe der politischen Zusammenhänge und gesellschaftlichen Abläufe ist in verschiedenen Kontexten mehr oder weniger deutlich. Sie verzeichnet sich am gewaltsamsten in jenen Momenten der ontologischen Störung, in denen die Dinge dahin schmelzen, auf die die Menschen sich als ununtersuchte Bestandteile des materiellen Gewebes ihrer alltäglichen Leben verlassen. Unter den mächtigsten solcher Störungen sind jene Umweltereignisse, in denen die Erde sich ganz buchstäblich bewegt (siehe Clark 2011), wie vulkanische Aktivität, Erdbeben, Hurrikans und – nicht zuletzt und mein Fokus hier – Hochwasser. Mögen solche Kräfte einst als „Akte Gottes“ oder „Naturgewalten“ verstanden und behandelt worden sein, signalisieren sie heute ein ontologisches Bündnis zwischen dem Interesse an den Neigungen, Affordanzen und Affektivitäten mehr-als-menschlicher Phänomene und dem Interesse an der verstärkten Gemachtheit und Bedingtheit menschlicher Verkörperung. Da die Materie von Politik und die Politik von Materie immer systematischer mit der Ausbreitung technowissenschaftlicher Praktiken und Artefakte verflochten sind, die das soziale Leben vermitteln, machen solche Momente der ontologischen Störung diese dichte Infrastruktur der Mediationen zu einem vertrauten Thema von politischem (Un)Ordnen, Regieren und Widerspruch (Barry 2002; Latour und Weibel 2005). Diese Wechselwirkung von Technowissenschaften und Politik hat einen wachsenden Literaturbestand an der Schnittstelle von Wis-

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senschafts- und Technikforschung und politischer Theorie hervorgebracht, der verschiedene Namen trägt: wie Annemarie Mols (1999) „ontological politics“, Bruno Latours (2005) „Dingpolitik“ oder Isabelle Stengers‘ (2003) „cosmopolitiques“. Prägende Denker*innen dieser beiden Bereiche kommen in Political Matter (Braun und Whatmore 2010) ins Gespräch, um die Beschaffenheit der Beziehung zwischen Politik und Technowissenschaft zu untersuchen. Das vielleicht bedeutsamste in diesem Band entwickelte Argument ist, dass Technizität – ob im Rahmen von Sprache, Ausstattung oder Maschine verstanden – nicht bloß eine Ergänzung zum menschlichen Leben ist; vielmehr ist sie „originär“, wie Adrian Mackenzie (2002) es ausdrückt. In dieser Hinsicht ist es ein Fehler, die Menschheit (Kultur) als irgendwie getrennt von der Welt der Dinge (Natur) existierend zu postulieren; vielmehr kommt der Mensch mit dieser Welt erst zustande.2 Eine solche Sichtweise fordert zwangsweise heraus, wie wir über die „Dinge“ nachdenken, die wir als technologisch erachten, und über die Körper, die durch solche Materialien ergänzt werden sollen. Unter Bezug auf die Arbeit von Simondon und Merleau-Ponty argumentiert etwa Mark Hansen (2006), dass die operationalen Fähigkeiten des verkörperten Organismus (er spricht von Körperschemas) unvermeidlich die Kopplung des Körpers mit einer äußeren Umgebung beinhalten – eine Kopplung, die immer durch technische Verfahren erreicht wurde. Die Geschichte des menschlichen Tiers und tatsächlich von „Kultur“ ist somit zwangsweise auch eine Geschichte der Dinge, die von Anfang an fester Bestandteil menschlichen Werdens sind. Es ist diese Kopplung von Verkörperung und Technik im menschlichen und nicht-menschlichen Werden (Technizität) und deren Koevolution (Technogenese), die unsere Konzeption des „Politischen“ als Kategorie herausfordert – ungeachtet der humanistischen Vorannahmen, die in der politischen Theorie vorherrschen (siehe Bennett 2009). Der Philosoph Michel Serres hat versucht, die Konsequenzen des „ausschließlich gesellschaftsbezogenen Vertrages“ anzugehen, durch den „wir die Bande, die uns mit der Welt verbinden, verworfen haben“ und die vertragliche Ordnung umzuarbeiten – in Richtung eines Verständnisses der „Dinge der Welt“ im Sinne der „Kräfte [...], Verbindungen und Interaktionen“, durch die sie zu uns „sprechen“ (Serres 1994, 69–71). Diese Arbeit bringt uns zur politischen Kraft der Technowissenschaft zurück, die jedoch neu geladen ist – nicht mit einem biopolitischen Fokus auf die Erfindungsgabe der Lebenswissenschaften und deren Auswirkungen für politische „Cyborg“-Subjekte, sondern vielmehr mit einem ontopolitischen Fokus auf

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Siehe beispielhaft auch Graham Harmans Kritik des phänomenologischen Vermächtnisses der Heidegger’schen Konzeption des Daseins in Tool-Being (2002).

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die Erfindungsgabe der Politik selbst. Hier wird das Politische als eine ereignisreiche Technogenese refiguriert, die das res in res publica derart verstärkt, dass „die Sachen, die zählen in der res […] ein Publikum um sich schaffen“ und so „neue politische Gelegenheiten und Verbindungen“ hervorrufen (Latour 2005, 16). Solche Dinge umfassen die Machenschaften der Lebenswissenschaften (wie in den Kontroversen um genetisch modifizierte Organismen), doch auf entscheidende Weise sind sie nicht darauf begrenzt und können ebenso gut geophysische Kräfte sein (wie in den ökologischen Kontroversen, die von Erdbeben, Hurrikans oder Hochwasser hervorgerufen werden) oder computervermittelte Technologien (wie in den Kontroversen um die Masten der Mobiltelefonie), in denen Lebendigkeit (menschliche und andere) zusammengesetzt wird. Dieser ontopolitische Kurs verpflichtet eine mehr-als-menschliche politische Ökologie zu einer politischen Erfindungsgabe, die wiederum auch ein Experimentieren in den Forschungspraktiken der Sozial- und Geisteswissenschaften erfordert – hinsichtlich deren Beteiligung an der Ausrichtung und Durchführung neuer Wissenspolitiken, Medien und Apparate, in denen und durch die technowissenschaftlichen Objekte und die von ihnen zusammengesetzten Umgebungen auf politische Weise affektiv wirksam und zugänglich gemacht werden können. Einige solcher Experimente entwickeln im Gewand kollektiver Bemühungen Techniken für das, was Bruno Latour (2004) „Lernen, beeinflusst zu sein [learning to be affected]“ und Donna Haraway (2008) „Verantwortungsfähigkeit [response-ability]“ nennt. Gemeint ist die Art des politischen und ethischen Denkens, die durch die Fähigkeit aller Arten von Dingen – menschlich und nichtmenschlich, organisch und unorganisch – hervorgerufen wird, andere zu bewegen und von ihnen bewegt zu werden. Das zu tun, bedeutet, allerlei Dinge als mächtig und zwingend [forceful] zu verstehen und damit zu experimentieren, was es bedeutet, diese Kräfte [forcefulness] in ethisch-politisches Vorgehen einzubeziehen. Im Rest dieses Aufsatzes möchte ich diese Argumente mittels des anspruchsvollen experimentellen Ethos der Philosophin Isabelle Stengers bearbeiten, für die wissenschaftliche Objektivität eine verteilte (und auf keine Weise gesicherte) Errungenschaft ist, die entsprechend experimentelle Phänomene als verlässliche Zeugnisse (Objekte) für deren experimentelle Artikulation und experimentelle Wissenschaftler*innen als deren verlässliche (objektive) Sprecher*innen konstituiert. Jede dieser Facetten von Objektivität beruht wiederum auf einer dritten: einem experimentellen Apparat, der ihre Beziehung auf eine Weise vermittelt, die wiederholbar ist. Stengers erweitert diesen Ethos des Experimentierens noch radikaler, um ein Verständnis von oder gar einen Test für eine angemessene politische Theorie und Praxis zu erörtern (siehe auch Disch 2010). Hier übersteigt das potenzielle Ensemble aus Zeugnissen und Sprecher*innen die

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Begrenzungen der Laborwissenschaften und schließt all jene mit ein, die von der jeweiligen Angelegenheit betroffen sind – und vermehrt so die Prüfungen, an denen objektive Wissensansprüche gemessen werden. Ich tue das nun in Bezug auf einen jüngeren Versuch in England, diesen Ethos in Forschungspraxis umzusetzen, in dem ich mit Sozial- und Naturwissenschaftler*innen und mit Menschen, die von Hochwasser betroffen waren, zusammenarbeitete.

P OLITISCHE P RAXIS

ALS

E XPERIMENT

„Wenn wir jenes Nichtmenschliche ernst nehmen, das am ehesten als ‚zum Denken zwingend‘ beschrieben werden kann […] dann ist das, worüber wir nachdenken und was wir angehen müssen, nicht die leere Allgemeinheit der Menschen als denkende Wesen, sondern etwas, das wir üblicherweise der Expertise vorbehalten – das Korrelat der klassischen Definition von politischer Handlungsfähigkeit: Menschen als Sprecher*innen, die den Anspruch erheben, dass es nicht auf ihre freie Meinung ankommt, sondern auf die Ursache, die sie zum Denken und widersprechen bewegt; Menschen, die sich dazu bekennen, dass ihre Freiheit in ihrer Verweigerung liegt, mit dieser Verbundenheit zu brechen.“ (Stengers 2010, 5)

Der Zusammenhang zwischen Wissenskontroversen und dem Aufkommen neuer Öffentlichkeiten ist von Wissenschaftler*innen der Wissenschafts- und Technikforschung erörtert worden. So bieten etwa Michel Callons „heiße Situationen“ (1998), Bruno Latours „Dinge von Belang“ (2005) und Isabelle Stengers „Dinge, die zum Denken zwingen“ (2005a) alle ein Vokabular, um jene Momente der ontologischen Störung zu beschreiben, in denen die Dinge zerschmelzen, auf die wir uns als ununtersuchte Bestandteile des materiellen Gewebes unserer alltäglichen Leben verlassen. Solche Situationen, Dinge oder Kräfte machen Wissensansprüche von Expert*innen sowie die Technologien, durch die sie fest in die Arbeitspraktiken von Kommerz und Regierung eingebunden sind, zum Gegenstand intensiver politischer Befragung. Hierin fungieren Kontroversen als Kräftefelder, in denen Expertise mit „einer immer wachsenden, immer unterschiedlicheren Reihe an Figuren“ (Callon 1998, 260) vermischt und durch diese umverteilt wird, die ausreichend vom jeweiligen Thema betroffen sind, um an dessen kollektiver Kartierung ins Wissen – und somit an dessen gesellschaftlicher Ordnung – teilzunehmen. Für Callon, Latour und Stengers sind solche Wissenskontroversen generative Ereignisse – in ihrem Potenzial, die ent-ordnenden Bedingungen zu fördern, in denen das Denken von Expert*innen zwangsweise „entschleunigt“ und so die Möglichkeit entsteht, „ein anderes Bewusstsein über

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die Probleme und Situationen [hervorzurufen], die uns mobilisieren“ (Stengers 2005a, 994). Ihre Beschreibung des politischen Potenzials von Wissenskontroversen beruht auf einer zweifachen Abkehr von den Konventionen der demokratischen politischen Theorie. Die erste ist die Vermeidung der Gleichsetzung demokratischer Politik mit den Institutionen der repräsentativen Regierung und der Maschinerie der Politikgestaltung sowie eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die multiple und im Entstehen begriffene Konstituierung von Öffentlichkeiten und für deren politische Fähigkeiten. Es kann auf eine Reihe von Bemühungen verwiesen werden, eine assoziative Politik zu formulieren, die mit der Fähigkeit der Bürger*innen befasst ist, sich zu verbünden und gemeinsam zu handeln – jedoch eher auf die Weise eines „Schwarms“ als in Folge irgendeiner vorgeformten Kategorie des politischen Interesses (zum Beispiel der Interessensvertreter*innen oder der Klasse).3 Stengers sieht diese neue Art von Öffentlichkeiten im Zusammenhang mit Deleuzes und Guattaris Konzept der „minoritären“ Politik, in der sie „nicht als ihr Ziel, aber eben in ihrem Entstehungsprozess, die Macht [produzieren können], sich zu widersetzen und in Angelegenheiten zu intervenieren, die sie nun als sie betreffend erkennen“ (Stengers 2005b, 161). Die zweite Abkehr liegt in der Überwindung des in der politischen Theorie vorherrschenden Humanismus durch die Anerkennung, dass solche aufkommenden Öffentlichkeiten keine rein menschlichen Errungenschaften sind. Jane Bennett etwa zieht einen aufschlussreichen Vergleich zwischen dem demos (dem Gemeinwesen) der zeitgenössischen politischen Theorie, etwa eines Rancière, und jenem von Latour, um zu argumentieren, dass demokratische politische Theorie begreifen muss, dass Politik mehr vertritt als nur das störende Vermögen von Menschen, anderer Meinung zu sein, bei gleichzeitiger Indifferenz dazu, um was es bei der Meinungsverschiedenheit geht (Bennett 2004). Für Stengers werden neu entstehende Öffentlichkeiten also von Ereignissen wie Wissenskontroversen angeregt, in denen die Phänomene oder Probleme, die „das Nachdenken entschleunigen“, einen Unterschied machen oder – wie Latour (2005) vielleicht sagen würde – von Belang für das Gefüge politischer Verbundenheiten und Möglichkeiten sind. Das dynamische Geschäft, Verbindungen zwischen Wissenskontroversen und aufkommenden Öffentlichkeiten „hervorzurufen“, „auszulösen“, „zu entfachen“, wird manchmal dadurch vertuscht, dass diese Verbindungen behandelt

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Ein gängiger Bezugspunkt ist hier Deweys (1927) Konzept von Öffentlichkeit als „einer Reihe von Akteuren, die gemeinsam von einem Problem betroffen sind […] die sich als eine Öffentlichkeit organisieren, um sicherzustellen, dass das Problem angegangen wird.“

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werden, als seien sie schon immer impliziert gewesen. An anderer Stelle (Whatmore und Landström 2011) haben wir durch eine Forschungsintervention in die Wissenspolitik des Hochwassers in Pickering, einer Marktstadt in Yorkshire im Norden Englands, eine solche Verbindung-im-Werden untersucht. Dieses Projekt sollte Stengers’ experimentellen4 oder erfinderischen Ethos in Forschungspraxis umsetzen, indem die Bedingungen und Möglichkeiten angewendet wurden, wissenschaftliche Vorschläge und Artefakte öffentlich zu erproben. Stengers’ Ansatz fordert Experimente, in denen die Wissensansprüche und Praktiken derjenigen in Gefahr gebracht oder aufs Spiel gesetzt werden, die Wissenskontroversen erforschen, wie auch jene der hiervon betroffenen Menschen, mit denen sie zusammenarbeiten. Unser erstes Arbeitsprinzip war es demnach, alle Arten von Wissen und Fähigkeiten, die wir erforschen, bezüglich der von ihnen hervorgebrachten Auswirkungen konsistent zu behandeln, einschließlich unserer eigenen. Das ist im Kontext von Hochwasser besonders wichtig, wo die Kontroversen sich oft um Diskrepanzen zwischen der persönlichen Erfahrung von Hochwasserereignissen, sowie dem traditionellen, lokal versammelten Wissen der betroffenen Ortschaften einerseits und der Hochwasserforschung andererseits drehen, die das „evidenzbasierte“ Hochwassermanagement prägt. Ein zweites Merkmal von Stengers’ experimentellem Ethos, den wir umzusetzen versuchten, ist ihre Betonung darauf, solche „Dinge, die zum Denken zwingen“ in/als minoritäre/n Praktiken zu artikulieren. Während die vorherrschende Logik von Verfahren zur Bürger*innenbeteiligung eine Ermächtigung der lokalen Bevölkerung beansprucht, ist die Logik hier – in Annemarie Mols (1999) Worten – „ontologisch“. Für Stengers (2010) heißt das, „die Situation“ dazu zu ermächtigen, jene, die von ihr betroffen sind, „zum Denken zu zwingen“ und so die öffentliche Hinterfragung ausreichend zu intensivieren, um die Überlegungen der etablierten Expert*innen zu entschleunigen und die Möglichkeit für anderes Nachdenken zu eröffnen. Die primäre Wissenspraxis, auf der die technischen Maßnahmen und institutionellen Vorgehensweisen im Hochwasserschutz beruhen, ist die mathematische Modellierung, eine computervermittelte Bemühung, zukünftige (unbekannte) Ereignisse auf der Grundlage beobachteter (bekannter) Ereignisse vorherzusagen und so das Wiederkehrintervall eines Hochwasserereignisses einer bestimmten Größenordnung einzuschätzen. Wie Modellierer*innen selbst als Erste anerkennen würden, sind die Wissensansprüche, die durch das prädiktive

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Im Französischen gibt es hier keine klare Unterscheidung zwischen den Begriffen für „experimentieren/versuchen“ und „erfahren“; Stengers’ Verwendung des Begriffs „expérimentation“ (ohne Pronomen) zeigt eine offene, aktive Praxis an, die aufmerksam ist für die Erfahrung, wie wir sie erfahren (Stengers 2008, 109, Fußnote 1).

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Modellieren hervorgebracht werden, zwangsweise vorläufig und unsicher. Doch solche wissenschaftliche Umsichtigkeit wird üblicherweise in der Übersetzung dieser Modelle in die „Evidenzbasis“ abgeschwächt, auf die die für Hochwasserschutz verantwortlichen Regierungsinstanzen sich berufen, wodurch die Modelle gegen öffentliche Hinterfragung immun werden. In der Übersetzung dieser zwei Merkmale von Stengers’ experimentellem Ethos in unsere Forschungspraxis testeten wir einen experimentellen Forschungsapparat: die „Kompetenzgruppe“5. Dieser Versuch war Teil eines Forschungsprojekts zur Untersuchung der Wissenskontroversen rund um Hochwasserforschung und -management in Großbritannien, das vom Rural Economy and Land Use Programme (RELU) finanziert wurde.6 Natur- und Sozialwissenschaftler*innen wurden in das RELU-Projektteam einbezogen, das mit Anwohner *innen in zwei hochwasserbetroffenen Ortschaften zusammenarbeitete, in denen Hochwasserschutz bereits ein Sachverhalt von Belang und öffentlicher Auseinandersetzung war. Im Fall von Pickering bestand die Gruppe aus zwei hydrologischen Modellierer*innen und drei Sozialwissenschaftler*innen (also „Universitätsleuten“, von denen ich eine war), acht freiwilligen Anwohner*innen der Kleinstadt und des stromaufwärts gelegenen Wassereinzugsgebiets („Ortsansässige“), unterstützt von einer engagierten Moderation und einer Kameraperson aus dem Projektteam. Im Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit standen zweimonatliche Treffen, die von einer Reihe anderer Aktivitäten ergänzt wurden, die im Laufe der Gruppenarbeit entstanden, einschließlich Feldbesuchen, Archivrecherchen und Videoaufnahmen. Diese Aktivitäten wurden durch eine passwortgeschützte Webseite unterstützt, auf der die Gruppenmitglieder das von ihnen erzeugte Material hinterlegen konnten (zum Beispiel Karten, Transkripte, Fotos, Zeitungsausschnitte, Positionspapiere etc.), sowie einen gemeinsamen Blog. In

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Für uns wurde der Begriff der „Kompetenzgruppe“ 2001 in einem kleinen Büroraum im Zentrum von Brüssel geprägt, als sich Pierre Stassart und Sarah Whatmore daran machten, eine Forschungspraxis für ein kollaboratives Projekt über „neue Lebensmittel“ aus dem Konzept „kompetenter Öffentlichkeiten“ abzuleiten, das Stengers in einem online veröffentlichten Essay über „nachhaltige Entwicklung“ verhandelt hatte (siehe Whatmore und Landström, 2011). Hierin unterscheidet es sich von der Verwendung, der wir später in medizinischen und rechtlichen Kreisen begegneten, wo Kompetenzgruppen für Fachtreffen professioneller Praktiker*innen spezialisierter Bereiche von Medizin und Recht stehen.

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Mehr Informationen zum RELU-finanzierten Projekt Understanding Environmental Knowledge Controversies finden sich unter: http://knowledge-controversies.ouce.ox. ac.uk/, letzter Zugriff: 18. Juli 2017.

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der Arbeitspraxis von Kompetenzgruppen geht es darum, das Schlussfolgern zu „entschleunigen“. Im Fall der Kompetenzgruppe in Pickering bezog sich diese „Entschleunigung“ auf die jeweiligen Überlegungen der Gruppenmitglieder ebenso wie auf jene der örtlichen Umweltbehörde, um so Erklärungen und Lösungen für die örtlichen Hochwasser, die in der Kontroverse kursierten und/oder auf den Tisch gebracht wurden, kollektiv zu hinterfragen. Ein wesentliches Mittel, um diese Entschleunigung des Nachdenkens zu erreichen, war die Arbeit mit verschiedenen Materialien und Artefakten. Diese dienten dazu, die Wissensansprüche und -praktiken der verschiedenen Gruppenmitglieder und jene, die das örtliche Hochwassermanagement prägten, zu vermitteln oder zu versachlichen – von Foto- und Videomaterial bis zu Computermodellen und Positionspapieren, die von Gruppenmitgliedern eingebracht und/oder erstellt worden waren. Diese Betonung der Objektivierung von Wissensansprüchen und -praktiken hatte auch noch zwei weitere Zwecke. Erstens konnten so die Wissenspraktiken der Universitätsleute und der Ortsansässigen – vielleicht am offensichtlichsten jene der hydrologischen Modellierer*innen – „in Gefahr gebracht werden“, wie Stengers es ausdrückt. Zweitens konnten sich auf diese Weise die Wissensansprüche und -praktiken der Kompetenzgruppe über den Ort und die Zeit der Gruppenaktivität hinausbewegen, besonders durch Mittel der Visualisierung wie Karten und Computermodelle lokaler Hochwasserereignisse. Als eines der fünf universitären Gruppenmitglieder machte ich selbst die Erfahrung des Arbeitens mit ganz unterschiedlichen Objektivierungen von Wissen über Hochwasser, mit Artefakten, die die kollaborative Befragung von Expert*innenwissen vermittelten, und des Experimentierens mit Alternativen, die für die aufkommenden Praktiken und die Identität der Kompetenzgruppe zentral wurden. Von Anfang an war am beeindruckendsten, wie sich die Zusammenarbeit auf die Rekonfigurierung von Hochwasserexpertise unter den Gruppenmitgliedern auswirkte. Die Arbeit mit eingebrachten Objekten (wie Karten, Fotos, Satellitenbildern und sogar einem Reststück schimmligen Teppichs) situierte die Verbindung eines jeden Gruppenmitglieds zum Ereignis des Hochwassers. Eine Gemeinsamkeit der Verbindungen der Ortsansässigen war der Charakter eines Bauchgefühls: Die affektiven Eigenschaften von Hochwasser blieben in ihnen präsent, ob im Sinne des alarmierenden Geräuschs „des tosenden Wassers“ (MP), des verbleibenden Geruchs „wenn du in jemandes Haus gehst, nachdem es wieder fort ist“ (BG) oder des beängstigenden Eindrucks von Hochwasser in der Nacht, das sich „einfach bewegt […], sehr leise, aber bedrohlich, bewegt“ (BG, 11.09.2007). Diese Aktivität half auch dabei, die Universitätsleute von ihren üblichen, ihre Autorität herstellenden Netzwerken zu lösen, und unterstrich, wie alle Wissensansprüche auf dem Zeugnis von Objekten beruhen. Durch diese

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Übung der „mitgebrachten Objekte“ wurde die Anerkennung des Lebens in einer Landschaft, zu der das Hochwasser schon lange als vertraute Besonderheit dazugehört, offenkundig. Eine der ältesten Ortsansässigen in der Gruppe erinnerte sich an ihre Kindheit in dieser Stadt und bemerkte: „Ich erinnere mich an das Hochwasser beziehungsweise an die Bedrohung des Hochwassers als ein jährliches Ereignis im Winter. Es wurde erwartet und wir lebten einfach damit“ (BG, 11.09.2007). Eines der Objekte in dieser Übung war eine Fotografie vom Hochwasser in Pickering im Jahr 1932. Daran entzündete sich eine Unterhaltung unter den ortsansässigen Gruppenmitgliedern über die Dilemmata des Lebens mit der Unausweichlichkeit des Hochwassers in einer Stadt, die in einer Talsohle errichtet wurde, durch die der „Bach“ [beck] (der Fluss Pickering Beck) strömt. Die Frage, mit der die örtlichen Bewohner*innen dann rangen, lautete: Wenn „es immer passiert ist, […] warum haben wir so ein Problem damit, obwohl wir wissen, dass es passieren wird?“ (MP, 11.09.2007). Im Verlauf dieses ersten Treffens wurde ebenso deutlich, dass sowohl die Landschaft als auch die Hochwasseranfälligkeit der Stadt seit undenklichen Zeiten als Ko-Fabrikation von Wetter, Geologie und menschlicher Landnutzung verstanden wurde. Einerseits: „ist Wasser so durchdringend. Es kommt überall hin, es fließt hinein, und wir behandeln es als etwas, das fließt, und manchmal würdigen die Leute nicht, dass dieses Fließen eine solche Kraft haben kann, [außer] wenn wir eines der großen Hochwasser sehen […], wenn es buchstäblich eine Brücke in Stücke reißt.“ (MP, 11.09.2007)

Andererseits: „hatten die Leute früher Häuser mit massiven Böden und wenn es Hochwasser gab, hast du es danach eben ausgewischt, aber jetzt haben wir natürlich unsere Elektrik und Teppiche und Holzfußböden. Warum tun wir das, wenn wir wissen, dass das Hochwasser kommt?“ (MP, 11.09.2007)

Weder das Ereignis des Hochwassers noch das „Problem damit“ schienen hier schlicht einer Naturgewalt zugeschrieben zu werden. Das zweite Treffen begannen wir mit der Arbeit an ausgedruckten Karten der Umweltbehörde vom Hochwasser 2007 als einer Möglichkeit, die individuelle Erfahrung in zusammengesetztes Wissen über die Geschwindigkeit und Ausbreitung des Hochwassers zu übertragen. Solche Karten – merkte eine der Universitätspersonen an – „wurden von der Umweltbehörde auf der Grundlage von Modellen erstellt. Sie basieren nicht auf wirklichen Messungen dessen, wo das Was-

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ser tatsächlich hingeht. Sie kartieren dort unter Anwendung von Modellen, wo sie denken, dass das Wasser hingeht“ (SNL, 06.11.2007). Die ortsansässigen Gruppenmitglieder teilten nun ihre Erinnerungen an die Hochwasser in der Kleinstadt bis in die 1940er-Jahre zurück und machten sich daran, die offizielle Karte vom jüngsten Hochwasser entsprechend ihrer Erfahrungen und Beobachtungen vor Ort zu modifizieren. Wie eine*r von ihnen es im Anschluss ausdrückte, ging es bei der Übung darum, ein Gefühl zu bekommen für den „Unterschied zwischen […] dem Charakter dieses Wissens [die Karte der Umweltbehörde], [das] am Computer erzeugt wurde und eine Art abstrakte Zusammenführung von Dingen ist [… und] den dokumentarischen Daten, die wir hier versammelt haben. Die sind gewissermaßen anekdotisch und einiges davon ist präzise […] doch gibt es hier eine andere Art von Fehler […] nämlich den menschlichen Fehler im Gegensatz zum mathematischen Fehler […]. Wenn wir nach der Wahrheit oder Wirklichkeit oder so etwas Ähnlichem über das Hochwasser suchen, [müssen wir] also anerkennen, dass es jene Fehlerquellen gibt, egal welches System wir benutzen.“ (DQ, 06.11.2007)

In beiden Fällen wurde deutlich, dass das Ausmaß, die Dauer und die Heftigkeit eines Hochwasserereignisses durch die Situiertheit der Betroffenen und/oder durch die Vorannahmen und Berechnungen der Modellierung vermittelt wurden, auf die die für Hochwasserschutz verantwortlichen Behörden zurückgriffen. Auf dieser unvollkommenen Grundlage prägten diese bearbeiteten Karten unsere kollektiven Bemühungen, die vorherrschenden Modelle der Expert*innen zu untersuchen und die auf ihrer Legitimationsgrundlage vorgeschlagene Hochwassermauer zu hinterfragen. Zudem befassten wir uns selbst mit Modellierungen, um so unterschiedliche Formen der Intervention auszuprobieren, die verschiedene Gruppenmitglieder vorschlugen. Bei unserem zweiten Treffen in Pickering hatten die tiefsitzenden Erfahrungen der ortsansässigen Gruppenmitglieder mit dem jüngsten Hochwasser und ihre vergeblichen Bemühungen mit Hochwasserexpert*innen unserem kollektiven Denken bereits das dringende Gefühl verliehen, einen „Unterschied machen“ zu wollen – aus der Sackgasse im Hochwasserschutz heraus zu gelangen. Die anschließende Diskussion verfestigte sich in der Entscheidung, unserer Forschungskollaboration ein öffentliches Gesicht zu geben – die Ryedale Flood Research Group (RFRG). Diese Gruppe übernahm fortan die methodologischen Prinzipien, die ihre Gründung geleitet hatten. Um etwas hervorzubringen, das einen Einfluss auf die Kontroverse in Pickering nehmen würde, diskutierte die RFRG die Notwendigkeit eines Mittels, die kollektiven Wissensansprüche der Gruppe reisen zu lassen – einer Botschaft, die die

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Umweltbehörde und andere institutionelle Akteure würden ernst nehmen müssen, oder die sie zumindest „nicht leicht verwerfen könnten“. In den folgenden Monaten konzentrierten sich unsere Bemühungen auf die Herstellung eines maßgeschneiderten Hochwassermodells für den Pickering Beck, das es anderen ermöglichen würde, unserer Arbeitspraxis zu folgen und verschiedene Ideen zum Hochwasserschutz „auszuprobieren“ – Ausbaggerungen, Entfernung von Vegetation und Abfall im Flusslauf, den Rückbau der Entwässerungskanäle aus dem 19. Jahrhundert im oberen Einzugsgebiet, die Rückgewinnung der Überschwemmungsgebiete von der Landwirtschaft, um nur einige zu nennen – und dann zu sehen, welchen Unterschied diese Strategien für die Bewegung des Wassers im Einzugsgebiet machen. Dieser Prozess aus Versuch und Irrtum verband eine Form der Alltagsphysik mit einer experimentellen Art der Hochwassermodellierung, die von lokalem Wissen geprägt ist (Odoni und Lane 2010). Hier bot die Klempnerei ein praktisches Vokabular, das es der Gruppe ermöglichte, ein maßgeschneidertes Modell des Hochwassers in Ryedale aufzubauen und zu prüfen. Wie ein ortsansässiges Gruppenmitglied es ausdrückte: „Du denkst über eine Regenrinne nach und wie viel da durchlaufen kann und ob es voll werden und überlaufen wird. Wenn du also eine nur halb so große Rinne hast, läuft sie schneller über […] und wenn du Sachen in den Weg legst und Rohre mit geringerem Durchmesser dazwischen baust, dann kann es nicht fließen.“ (MP, 11.09.2007)

Die kollektive Modellierungsarbeit brachte uns dazu, eine Intervention zu entwerfen und vorzuschlagen, die von der Umweltbehörde nicht in Betracht gezogen und von deren Berater*innen als „unrentabel“ abgelehnt worden war: und zwar die stromaufwärts gelegene Wasserspeicherung durch eine Reihe kleinerer Hindernisstrukturen oder Dämme – zum Beispiel aus aufeinanderliegenden Baumstämmen. So kam es, dass unser Vorschlag in der Gruppe auch eine Abkürzung bekam – das „Damm-Modell“. Wir veröffentlichten unsere Arbeit in einer Ausstellung im Bürgerzentrum von Pickering. Die Veranstaltung wurde in der lokalen Presse beworben und fand an einem Dienstag im Oktober 2008 statt – einige Monate, nachdem die Gruppe ihre regelmäßigen Treffen beendet hatte. Der große Ausstellungsraum lag im Erdgeschoss mit Blick auf einen hochwassergefährdeten Abschnitt des Flusses, um den es ging. Es kamen etwa 200 Besucher*innen, einschließlich Menschen aus der Umweltbehörde, Lokalpolitiker*innen und Journalist*innen. Die Ausstellung war als eine Reihe von Postern organisiert, deren Arrangement die Besucher*innen durch die Wissensansprüche der Ryedale Flood Research

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Group (RFRG) über die Beschaffenheit des Hochwassers in Pickering leitete. Sie mündete in unserem Vorschlag der flussaufwärts gelegenen Wasserspeicherung durch eine Reihe kleiner Dämme. Ergänzt wurde dieser Poster-Pfad durch eine Reihe visueller Materialien und Visualisierungsmittel, mit denen die RFRG gearbeitet und/oder die sie gebaut hatte. Das ermöglichte es den Besucher*innen, ein Gefühl für die Arbeitspraktiken zu bekommen, aus denen die präsentierten Wissensansprüche und Vorschläge hervorgegangen waren, einschließlich des „Damm-Modells“. Dieses lief auf einem Computer, so dass Besucher*innen es (mit Hilfestellung durch Mitglieder der Gruppe) selbst ausprobieren konnten. Die Veranstaltung erlangte umfassende Aufmerksamkeit und Berichterstattung durch die lokale Presse und Radiostation: sowohl hinsichtlich des Vorschlags der „vielen kleinen Dämme flussaufwärts“ als auch bezüglich der Modellierungsarbeit, aus der der Vorschlag hervorging – der „experimentellen“ Umverteilung von Expertise in unserer Gruppe (für mehr Details siehe Whatmore und Landström, 2011).

S CHLUSSFOLGERUNGEN Kontroversen über Umweltwissen beziehen sich auf jene Ereignisse, in denen irgendeine Art der ökologischen Störung Menschen dazu zwingt, die ununtersuchten Dinge zu untersuchen, auf die sie sich als materielles Gewebe ihrer Alltagsleben verlassen, und sich dessen Kräften und Auswirkungen zuzuwenden. In solchen Momenten verliert die ontologische Setzung ihren Halt, die das Soziale vom Natürlichen trennt und die in Fachpraktiken des Umweltmanagements vorausgesetzt und verstärkt wird. Unter diesen Umständen werden solche Expertisen und ihre verschiedentlichen soziotechnischen Vermittlungen verschärft durch jene überprüft, die von der entsprechenden Angelegenheit ausreichend betroffen sind, um an deren Kartierung in Wissen und somit in gesellschaftliche Ordnung hinein teilhaben zu wollen. An Orten, wo es zwangsläufig eine Gewohnheit ist, zu lernen, „mit [ökologischen Störungen wie Hochwasser] zu leben“, die von persönlicher Erfahrung und gemeinschaftlichen Erinnerungen geprägt sind, findet sich weder Erklärung noch Trost in einer bereinigten Natur, wenn das „wir“ in einer seit langem besiedelten Landschaft verortet ist, in der sowohl das vergangene als auch das künftige Vermächtnis der mehr-als-menschlichen Lebensräume unausweichlich ist. Die hier skizzierte, experimentelle Forschungszusammenarbeit legt nahe, dass es bestimmter Arten der experimentellen Praxis bedarf, die eine Umverteilung von Expertise erreichen können, um neue politische und technische Mög-

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lichkeiten aus technowissenschaftlichen Kontroversen zu erzeugen. Im Falle der Hochwasserkontroverse von Pickering konnte das Experiment der Kompetenzgruppe zu einer Verschiebung der Bedingungen der Kontroverse führen: erst durch die Wissenspraktiken der Gruppe selbst und in der Folge durch die öffentliche Vermittlung des Damm-Modells, in dem dessen Wissensansprüche und -praktiken versachlicht [objectified] wurden. Der Prozess, „an die Öffentlichkeit zu gehen“ – der die Kompetenzgruppe in die Ryedale Flood Research Group (RFRG) verwandelte, die ihre Arbeit im Bürgerzentrum präsentierte – war eine entscheidende Komponente in dieser, von den lokalen Medien verstärkten Neuformulierung des fraglichen Problems. Erst als Wissenskontroverse ist das Hochwasser zu einem generativen Ereignis geworden, das das Denken der Expert*innen zwangsweise „entschleunigte“ und einen Raum für ein anderes Nachdenken eröffnete, das die Betroffenen in neue politische Möglichkeiten und Verbindungen einbezog. Zuvor war in Pickering kein derart hybrides Forum entstanden – mit den Eigenschaften eines „offenen Raums […] wo Gruppen zusammenkommen können, um technische Optionen zu diskutieren, die die Gemeinschaft einbeziehen – hybrid, weil die beteiligten Gruppen und jene, die für sie sprechen wollen, heterogen sind“ (Callon et al. 2011, 18). Das Damm-Modell ist lange nach dem Ende der Treffen der Kompetenzgruppe weitergereist und hat durch den Vorschlag der „flussaufwärts gelegenen Wasserspeicherung“ durch die RFRG zu neuen Wissenspolitiken beigetragen (siehe Whatmore und Landström 2011). Die Reihe kleiner Dämme aus Alltagsmaterialien, die die RFRG vorgeschlagen hat, werden heute sogar im oberen Wassereinzugsgebiet von Pickering Beck und Ryedale gebaut. Während unser Vorschlag Schwung und gar landesweite Aufmerksamkeit als innovativer Ansatz der Hochwassermanagements bekommen hat, wird er ironischerweise zugleich vom hochwasserpolitisch zuständigen Regierungsministerium DEFRA (Department for Environment, Food and Rural Affairs) als ein „natürlicher Ansatz des Hochwasserschutzes“ charakterisiert.7 Ich habe hier argumentiert, dass eine Arbeit gegen die humanistische Struktur der politischen Theorie uns zum politischen Potenzial der Technowissenschaften zurückführt – jedoch ist es durch einen ontopolitischen Fokus auf die Erfindungsgabe des Politischen neu geladen und neu verteilt. Als ereignisreiche Technogenese rekonfiguriert, verstärkt Politik die Dinge [matters], die politisch gewichtig werden und löst neue Möglichkeiten und Verbindungen aus, sich zu-

7

Siehe DEFRA, Pressemitteilung: „Natural flood protection project in Yorkshire given £235,000 boost“, 19.05.2011. Letzter Zugriff: 18. Juli 2017. http://www.defra.gov.uk/ news/2011/05/19/natural-flood-protection-funding.

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sammen zu tun und einen Unterschied zu machen. Entscheidend ist hier: Wenn originäre Technizität unter diesen Umständen sinnvoll erscheint, dann ergibt es auch Sinn, darauf zu beharren, dass nichtmenschliche und technische Objekte ein unhintergehbarer Teil aller Geschichten des „Seins-Werdens“ des Menschen sind – sowohl individuell als auch kollektiv – und dass dies auch nicht anders sein könnte. Ich habe versucht, ein Gefühl für die Vielfalt der akademischen Arbeit zu geben, die diesen ontopolitischen Zug erkundet – unter anderem in der Wissenschafts- und Technikforschung, in politischer Theorie, Anthropologie und Geografie. Was sie gemeinsam haben, ist ihre Verpflichtung gegenüber einer ontologischen und mehr-als-menschlichen Konzeption von Wissenspraktiken und Wissenspolitiken; ein Interesse an Wissenskontroversen als generativen Ereignissen in der Sozialisierung wissenschaftlicher Wissensansprüche und -technologien; sowie ein nachweisbares Engagement in Forschungspraktiken, die Expertise umverteilen, einschließlich jener von Sozialwissenschaftler*innen. Hierin bürden sie die Last einer mehr-als-menschlichen politischen Ökologie den erfinderischen Praktiken der Konvivalität auf, des Lebens-mit oder der Ko-Fabrikation, in der all jene daran Beteiligten (Menschen und Nichtmenschen) einander beeinflussen können und dies tun. „Lernen, beeinflusst zu sein“ oder „Verantwortungsfähigkeit“ sind wichtige Herausforderungen auch für die wissenschaftliche Praxis. Sie erfordern ein Experimentieren in den Forschungspraktiken der Sozial- und Geisteswissenschaften hinsichtlich ihrer Beteiligung an der Präsentation und der Durchführung neuer Wissenspolitiken, -medien und -apparate, in denen und durch die technowissenschaftlichen Objekte affektiv und zugänglich für wirksame Untersuchungen werden. Die Ausbreitung und Potenz nichtmenschlicher Objekte im sozialen Leben macht heute vielleicht tatsächlich Fragen bezüglich der „Dinge“ der Politik denkbarer als zuvor. Zugleich ist es wichtig, zu betonen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Fragen nicht bloß von jenen Arten der technowissenschaftlichen oder politischen Erfindungsgabe angetrieben wird, die ich beschrieben habe, sondern auch von solchen, die wir womöglich noch immer als ideologisch bezeichnen. Die Schwierigkeiten angesichts dieser Herausforderung sollten nicht unterschätzt werden. Denn der Humanismus ist noch immer außerordentlich fest in den imaginativen Ressourcen und analytischen Praktiken verankert, durch die menschliches Leben gedacht wird und werden kann – und die weiterhin Versuche zu Fall bringen, „gegen den Strich“ zu schreiben. Am offensichtlichsten ist wohl das sture Festhalten des – liberalen wie radikalen – akademischen Diskurses an einem Humanismus, der immer neue Wege findet, alles Nichtmenschliche als „dort draußen“ statt „hier drinnen“ im Kern menschlichen Werdens zu verorten; und an einem Liberalismus, der weiterhin Absicht und Handlung als Attri-

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bute autonomer Individuen setzt, anstatt Individuen und ihre Fähigkeiten in Beziehung zu politischen Ökologien zu verstehen, die die Individuierung einzelner Dinge bedingen. Das verstärkt die Verpflichtung zur Erfindungsgabe, die ich mit der ontopolitischen Ladung posthuman/istisch/er Forschungs- und Wissensstile verbunden habe. Bruno Latours strammer Maßstab für solche Arbeit ist die Evaluierung der „Inhalte der Welt vor und nach der Forschung“ (Latour 2004, 219). „Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist nicht, ob wir irgendwelche vorab existierenden Phänomene oder Entitäten angemessen repräsentiert haben, sondern ob es einen Unterschied zwischen dem neuen Handlungsrepertoire und dem Repertoire gibt, mit dem wir begonnen haben.“ (Latour 2004, 219)

Wie unser Versuch mit der Kompetenzgruppe jedoch zeigt, ist der Charakter eines solchen Experimentierens wahrscheinlich sehr anders als der von naturwissenschaftlichen Interventionen, die unternommen werden, um unter kontrollierten Bedingungen Hypothesen zu prüfen. Die Einrichtung der Kompetenzgruppe kam der Durchführung eines Experiments in einer komplexen „Live“-Situation gleich, um zu sehen, ob und welche neuen politischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten dadurch erzeugt würden. Dass sie Bewegung in die Hochwasserkontroverse in Pickering gebracht hat, bemisst weniger den Erfolg des Kompetenzgruppen-Apparatus qua Methode als die politischen und wissenschaftlichen Nachwirkungen, die nicht zu erwarten waren – geschweige denn im Vorhinein hätten gestaltet werden können. Diesen Nachwirkungen durch die politische Handlungsfähigkeit der RFRG und ihre öffentliche Botschaft – das DammModell – sollte jegliche Erfindungsgabe im Sinne eines „neuen Handlungsrepertoires“ infolge unseres Projektes zugeschrieben werden. Wir wollen Latour hier vielleicht nicht beim Wort nehmen, aber wenn das „mehr-als-menschliche“ Projekt einen Unterschied machen soll, dann kommen jene von uns, die ihm Loyalität schenken wollen, nicht umhin, sich mit den Arten der experimentellen Praktiken zu beschäftigen, die William Paulson im Eingangszitat dieses Beitrags anvisiert. Das Original ist erschienen in Theory, Culture & Society 30 (7/8), 2013, 33–50 unter dem Titel „Earthly powers and affective environments: an ontological politics of flood risk“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von SAGE Publications, Ltd.

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Wilde Experimente in den Oostvaardersplassen Zur Neubestimmung des Umweltschutzes im Anthropozän J AMIE L ORIMER UND C LEMENS D RIESSEN

Übersetzung aus dem Englischen von Robin Cackett

E INLEITUNG Die in jüngster Zeit vorgetragene (und immer noch umstrittene) Diagnose unseres Zeitalters als Anthropozän1 wirft eine Reihe wichtiger Fragen zur Soziologie und Geografie der Wissenschaften auf. Wie ist der Gegenstand der Naturwissenschaft in einer Welt zu begreifen, die durch die Folgen naturwissenschaftlichen Tuns grundlegend verändert wurde? Wo und wie soll Wissenschaft noch betrieben werden, wenn Labore die Welt erobert haben und alle von den Folgen betroffen sind? Wem sollen Umweltschützer*innen vertrauen und was sollen sie noch schützen, wenn „Die Natur“2 an ihr Ende gekommen ist? Dies sind große,

1

Das Anthropozän ist ein umstrittener Begriff, der von Paul Crutzen (2002) für das gegenwärtige Erdzeitalter geprägt wurde, in dem der Mensch zu einer den Planeten verändernden Kraft geworden ist.

2

Anmerkung der Herausgeber*innen: Die Autoren lassen im englischen Original hier und im Folgenden den Begriff „Nature“ mit einem Großbuchstaben beginnen. Das Großschreiben der Natur dient deren Kennzeichnung als universalistisches und singuläres Konzept. Damit soll diese „capital-N Nature“ (Hinchliffe 2007, 3; 88; Castree 2005, 8) für Kritik und Pluralisierung geöffnet werden. Da die Schreibweise so nicht ins Deutsche übertragbar ist, behelfen wir uns an dieser Stelle einmalig mit „Die Natur“, um diesen Schachzug zu illustrieren. Gleiches gilt für die im Original ebenfalls

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unbeantwortete Fragen, die gegenwärtig heftig diskutiert werden. In diesem Aufsatz möchten wir einen bescheidenen Beitrag zu dieser Diskussion leisten, indem wir untersuchen, wie sinnvoll es ist, Umweltschutz als eine Reihe von wilden Experimenten zu begreifen, die nicht auf die Natur zurückgreifen können. Diese Experimente umfassen ergebnisoffene, ungewisse und politische Verhandlungen zwischen Menschen und Tier- und Pflanzenwelt. Sie finden an bewohnten Orten statt und sie beinhalten vielfältige Formen von Expertise, von denen nicht alle menschlich sind. Wir entwickeln den Begriff des wilden Experiments, indem wir Untersuchungen zur Geografie umweltwissenschaftlicher Experimente – zu ihren Orten und den Verläufen, die diese Experimente nehmen (siehe z.B. Kohler 2002; Livingstone 2003) – mit Arbeiten zum Charakter, zum Potenzial und zu den Problemen „experimenteller“ Formen von Umweltwissenschaft und Umweltpolitik (z.B. Evans 2011; Hinchliffe et al. 2005; Latour und Weibel 2005) zusammenführen. Obschon beide Felder ähnliche konzeptionelle Wurzeln und politische Interessen haben, scheinen sie derzeit eher unvereinbar. Wir schlagen zunächst eine Synthese vor, welche drei in Beziehung stehende Achsen identifiziert, die eine kritische Analyse zeitgenössischer Umweltkontroversen ermöglichen. Anhand einer Fallstudie über die anhaltenden Bemühungen zur „Wiederverwilderung“ eines Polders in den Oostvaardersplassen in den Niederlanden und zur „Entdomestizierung“ seiner nichtmenschlichen Bewohner*innen im Interesse des Naturschutzes untersuchen wir sodann das Potenzial dieses analytischen Rahmens. Zum Schluss stellen wir einige Überlegungen zu den Vorteilen eines Denkens in wilden Experimenten für den Umweltschutz im Anthropozän an.

W ILDE E XPERIMENTE Wenn man im Oxford English Dictionary das Substantiv „Experiment“ nachschlägt, stößt man auf Vieldeutigkeit. Laut einer Definition bezeichnet der Ausdruck „eine Aktion oder Operation, die [...] unternommen wird, um eine Hypothese zu überprüfen oder eine bekannte Wahrheit zu bestätigen oder illustrieren“. Eine zweite Definition bezeichnet das Experiment als „tentatives Verfahren; eine Methode, ein System von Dingen oder eine Abfolge von Handlungen, die bei Ungewissheit ergriffen werden“ (OED 2013). Was ein Experiment ist, variiert offenbar beträchtlich. Wissenschaftsgeograf*innen, -historiker*innen und -sozio-

durchgängig groß geschriebenen Begriffe „Natural Science“ (für die Wissenschaften von Der Natur) und „Experiment“ (siehe dazu auch Fußnote 3).

W ILDE E XPERIMENTE IN DEN O OSTVAARDERSPLASSEN

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log*innen haben viel Zeit darauf verwandt herauszufinden, auf was und wen sich diese Definitionen wo und wann beziehen. Sie kartografieren in ihren Arbeiten eine Reihe von „Verortungen“ [locatories] (Guggenheim 2012) oder „Wahrheitspunkten“ [truth spots] (Gieryn 2006); Orte, mit bestimmten epistemischen Eigenschaften, von denen aus, oder über die bestimmte Wissensansprüche erhoben werden können. Nach einer verbreiteten Auffassung wird die erste Definition mit jener exklusiven Bedeutung von Experiment 3 verknüpft, die mit positivistischen Ansätzen der Naturwissenschaft einhergeht. Dieses Bild eines Experiments ist eine theoretische Karikatur, eine wirkmächtige rhetorische Figur, die jedoch vielen Wissenschaftler*innen, deren Arbeit sie angeblich beschreibt, völlig fremd ist. Uns bietet sie eine nützliche Heuristik, um die veränderlichen Vorstellungen und Formen zu kartografieren und spezifizieren, welche die zweite Definition von Experiment nahelegt. Gieryn vertritt die Auffassung, dass der ideale Ort für ein Experiment das Labor sei, weil dessen „Wände den Wissenschaftler*innen eine weitgehende Kontrolle über ihre Untersuchungsobjekte erlauben. Die wilde Natur wird in eine technische und kulturelle Umgebung verlegt, die den Forschern alle Macht gibt“ (2006, 5). Laborforschung ist daher für die Welt, die sie untersucht, „folgenlos“ (Guggenheim 2012), weil zwischen einer kontrollierten Umwelt und dem Objekt der Erkenntnis, das damit nachgebildet werden soll, eine klare räumliche Trennung besteht. Die Laborwände kontrollieren auch, wer zur Produktion von Naturerkenntnis beitragen oder sie anfechten kann. Die Standardisierung der Laborräume ermöglicht Wissenschaftler*innen an unterschiedlichen Orten die Unterstellung, dass die Bedingungen „hier“ dieselben seien wie die Bedingungen „überall“, weshalb die Ergebnisse des Experiments verallgemeinert werden können (Gieryn 2006). Laboratorien werden in Kohlers Worten zu „ortlosen Orten“, die von allen Verunreinigungen durch das Wilde gereinigt scheinen (Kohler 2002). Nicht falsifizierte (aber falsifizierbare) Hypothesen, die im Labor überprüft wurden, werden als objektive Wahrheiten über eine einzige, stabile und transzendente Natur angesehen, die der Politik den Weg weisen, aber nicht von ihr in Frage gestellt werden können (Latour 2004). Verschiedene Forscher*innen (z.B. Bockman und Eyal 2002; Greenhough 2006) haben die Bestrebungen, andere Verortungen zu „laboratorisieren“, kritisch unter die Lupe genommen und dabei die widersprüchlichen epistemischen

3

Die Autoren übernehmen hier im englischen Original den groß geschriebenen Ausdruck „Experiment“ von Lane et al. (2011), die ihn zur Bezeichnung eines bestimmten, mit der modernen Naturwissenschaft assoziierten Modells von Experiment benutzen.

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Eigenschaften von Orten dokumentiert, die durch ein Verhältnis der Unterordnung zum Labor definiert werden. Die für diesen Aufsatz bedeutsamste dieser alternativen Verortungen ist „das Feld“. Gieryn zufolge erscheint das Feld im Gegensatz zum Labor als „vorgefunden“, nicht als „gemacht“. Es geht mit „der Vorstellung einer unverfälschten Wirklichkeit, die gerade jetzt offenbar wird“, einher (2006, 6). Für Kohler (2002) sind „Experimente in der Natur“, die mit kontrollierten Eingriffen arbeiten, aufgrund des unvorhersagbaren und variablenreichen Charakters der untersuchten Phänomene selten. Im Feld betriebene Umweltwissenschaften setzen „Praktiken des Orts“ voraus, die sorgfältige Auswahl passender Örtlichkeiten, an denen die „Experimente der Natur“ beobachtet und gemessen werden können. Die hier wiedergegebene Auffassung von einem umweltwissenschaftlichen Experiment steht der zweiten, oben gegebenen Definition näher – einem tentativen Vorgehen unter Bedingungen der Ungewissheit. Gieryn stellt fest, dass „Wissenschaftler*innen unter freiem Himmel eher für Überraschungen offen sind, welche die Forschungserwartungen auf vielversprechende Weise stören“ (2006, 6). Forschungsfelder sind stärker öffentlich und sichtbarer als Laboratorien und Eingriffe haben Folgen in der wirklichen Welt. Im Feld Autorität zu erwerben, erfordert ganz andere soziale Praktiken, nicht zuletzt muss man bereit sein, mit heterogenen epistemischen Gemeinschaften wie Landwirt*innen, Jäger*innen und anderen Amateurnaturkundler*innen zu verhandeln und manchmal auch von ihnen zu lernen. Callon, Lascoumes und Barthe (2009) geben einen Überblick über die Vervielfältigung von „hybriden Foren“, in denen verschiedene Formen von Expertise zusammenkommen, um über Wissenskontroversen zu beraten, die sich überwiegend auf Fragen der Gesundheit und der Umwelt beziehen. Sie unterscheiden dabei zwischen „Forschung im Wilden“ und „Forschung in Abgeschiedenheit“. Letztere könne sowohl im Labor wie im Feld stattfinden und habe nach wie vor eine wichtige Rolle zu spielen, aber sie könne (und sollte) durch Beteiligung an ersterer mit ihren jeweiligen Öffentlichkeiten in Beziehung treten. Indem sie eine solche politische Verbindung propagieren, unterziehen sie die bestehenden Verfahren zur Beteiligung von Öffentlichkeiten einer kritischen Bewertung, je nachdem, ob sie in der Lage sind, eine „dialogische Demokratie“ zu fördern und unter den sich ergebenden Sachverständigenkollektiven „eine intensive, offene, hochwertige öffentliche Debatte zu ermöglichen und zu strukturieren“ (2009, 178). Es sei diese Fähigkeit, welche die Forschung zu einer „wilden“ mache. Die Örtlichkeiten des Wilden bleiben unspezifisch, aber es wird deutlich, dass diese Wildheit nicht die antimoderne Wildnis meint. Die Akteur*innen in den Experimenten von Callon, Lascoumes und Barthe sind entschieden menschlich. Neuere Arbeiten in der Geografie und der Wissen-

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schafts- und Technikforschung sind dabei, einen „über den Menschen hinausgehenden“ (Whatmore 2006) und räumlich ausgerichteten Ansatz zur wilden Umweltforschung zu entwickeln. Hinchliffe, Whatmore und ihre Forschungskolleginnen und -kollegen beispielsweise berufen sich zur Darstellung ihrer „kosmopolitischen Experimente“ in der Stadtökologie und der Kartierung von Überschwemmungsrisiken auf Stengers und Latour (Hinchliffe et al. 2005; Lane et al. 2011; Whatmore in diesem Band). Diese Experimente sehen Verhandlungen zwischen unterschiedlichsten Formen von Handlungsvermögen, Expertise und Subjektivität vor – von denen manche menschlich sind, andere jedoch einer Abstimmung auf das unterschiedliche Werden [becoming] nichtmenschlicher Formen und Prozesse bedürfen. Diese Experimente finden in einer postindustriellen „urbanen Wildnis“ (Hinchliffe et al. 2005; siehe auch Gandy in diesem Band) in Nordamerika und Europa statt, an allgegenwärtigen Örtlichkeiten, die weder vorgefunden noch gemacht sind. Die Autor*innen beziehen sich dabei auf Rheinbergers (2001) einflussreiche Epistemologie des Experiments als „einem Versuch oder Vorstoß ins Unbekannte“ (Gross 2010a, 4), der darauf abzielt, Überraschungen hervorzubringen. Für Rheinberger ist Wissenschaft spekulativ; er argumentiert, dass ein wohldurchdachtes „Experimentalsystem“ in der Lage sei, Differenzen hervorzubringen und zu ermitteln, anstatt zu bestätigen, was bekannt ist. In seiner Ausdehnung dieses Ansatzes auf das Feld propagiert Gross bei Experimenten in der wirklichen Welt die „öffentliche Prozeduralisierung der Kontingenz“ (2010b, 63), um die Entstehung von Ereignissen zu fördern und aus ihnen zu lernen. Dieses epistemologische Plädoyer für Immanenz stimmt mit Hinchliffes Aufruf zu einer „umsichtigen politischen Ökologie“ (2008, 88) überein, einer Form von Feldwissenschaft, die für das Auftreten oder die „wahrscheinliche Präsenz“ nichtmenschlicher „wilder Dinge“ (Hinchliffe et al. 2005, 643) offen bleibt.

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Tabelle 1: Schlüsseleigenschaften zweier Modelle eines Experiments in den Umweltwissenschaften

Ontologie

Epistemologie Politik

Verortung

Experiment Transzendente Ordnung von Natur und Gesellschaft Hypothetisch-deduktive Methode Delegierend: Wissenschaft schafft Fakten; Politik entscheidet, was zählt Das Labor (und gelegentlich „das Feld“)

Wilde Experimente Immanente und unbestimmte Welt von Menschen und Nichtmenschen Auf Erzeugung von Überraschungen angelegt Dialogisch: in sich ergebenden Kollektiven wird Wissen erzeugt und ausgehandelt Das „Wilde“

Die politischen Implikationen dieses Engagements für ein ergebnisoffenes Experimentieren sind jedoch Gegenstand einer anhaltenden Debatte innerhalb der Geografie und darüber hinaus. Auf der einen Seite liefert eine Verschiebung zur Immanenz und zum Experimentieren ein dynamischeres und demokratischeres Modell von Umweltgovernance, das die Natur-Wissenschaft dezentriert und zu einer politischen Ökologie führt, die weniger mit einer „Verewigung des Gegenwärtigen“ (Hinchliffe 2008; Hinchliffe et al. 2012) verknüpft ist. Auf der anderen Seite laufen Experimente in der wirklichen Welt, die das Ideal einer permanent in Bewegung befindlichen Welt propagieren, ohne die Referenzpunkte einer stabilen Natur, die zu bewahren ist, und einer Naturwissenschaft, die unzweideutig deren Eigenschaften und Grenzen definiert, leicht Gefahr, von den Interessen der Mächtigen in Dienst genommen zu werden (vgl. Evans 2011). Wir kommen in der Schlussbemerkung auf diese Debatte zurück. Das Konzept eines wilden Experiments entwickelt eine bestehende Forschungsagenda weiter, die die im Anthropozän in der realen Welt stattfindenden Experimente spezifiziert und kritisch diskutiert. In den folgenden Abschnitten möchten wir illustrieren und prüfen, inwiefern uns diese Agenda bei der Behandlung der eingangs gestellten Fragen weiterhilft. Wir haben drei Achsen identifiziert, die unsere kritische Analyse leiten. Anhand der ersten Achse, die wir „vorgefunden–gemacht“ nennen, überdenken wir die ontologischen Festlegungen auf Die Natur und die gegensätzlichen epistemischen Eigenschaften, die dadurch für Labor und Feld konfiguriert werden. Die zweite Achse mit dem Namen „Ordnung–Überraschung“ untersucht die epistemologischen und politischen Heraus-

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forderungen, die mit der Antizipation von Überraschungen und der Hervorbringung emergenten Wissens einhergehen. Die dritte Achse mit dem Namen „abgeschieden–wild“ entwickelt die von Callon, Lascoumes und Barthe ausgearbeiteten Rahmenbedingungen zur Beteiligung von Öffentlichkeiten an politischen Entscheidungsprozessen weiter, an denen Umweltwissenschaftler*innen mitwirken. Diese Achsen stellen keine binären Oppositionen dar, sondern benennen Variablen, die in jedem Experiment in der realen Welt auf unterschiedliche Weise zusammentreffen. Bevor wir ihre Bedeutung illustrieren, möchten wir zunächst die Fallgeschichte vorstellen.

W IEDERVERWILDERUNG Im Naturschutz wächst das Interesse an der Theorie und Praxis der „Wiederverwilderung“ bzw. des Rewilding. Obschon zwischen den Vorstellungen und Projekten der Wiederverwilderung in verschiedenen europäischen Ländern und in Nordamerika bedeutsame Unterschiede bestehen (siehe Fraser 2009), eint sie doch der Wunsch, den Bezugspunkt für Naturschutzmaßnahmen auf die ökologischen Verhältnisse zum Ende des Pleistozäns (ca. 11700 Jahre BP) vorzuverlegen. Befürworter*innen solcher Projekte in Europa wie die Nichtregierungsorganisation Wild Europe (deren Programm „Rewilding Europe“ heißt)4 sehen ihr Ziel darin, Analogien zu Landschaften zu schaffen, wie sie nach dem Rückzug der Gletscher und vor dem Beginn land- und forstwirtschaftlicher Nutzung und der Domestizierung von Tieren entstanden. Dies impliziert eine radikale Neuausrichtung des Naturschutzes – weg von der Beschäftigung mit seltenen Arten, welche die Überbleibsel vormoderner, landwirtschaftlich genutzter Landschaften bewohnen, hin zur Betrachtung von ökologischen Prozessen wie Prädation, Beweidung, Sukzession, Ausbreitung und Zersetzung (Rewilding Europe 2012a). Zeitgenössische Projekte richten sich hauptsächlich auf verlassene oder marginale Landstriche in peripheren Hochlandgebieten und/oder in Osteuropa. Hier wird Rewilding als ein Allheilmittel angepriesen, das eine Vielzahl von Ökosystemdienstleistungen erbringt (Förderung der Biodiversität, CO 2-Sequestrierung,

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Wild Europe/Rewilding Europe ist eine Initiative der Organisationen WWF Niederlande, ARK Nature, Wild Wonders of Europe und Conservation Capital. Den Großteil ihrer Gelder erhält die Initiative von diesen Organisationen und von der niederländischen und schwedischen Postleitzahlenlotterie. Auch andere große europäische Umweltschutzorganisationen – wie der britische Vogelschutzverband RSPB und die Wildlife Trusts – haben Interesse an der Wiederverwilderung bekundet.

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Hochwasserschutz) und zudem billig ist – da es staatliche Subventionen verringert, eine nicht-konsumptive Landnutzung (z.B. durch Ökotourismus) fördert und neuen Formen der Finanzierung von Naturschutz und des biologischen Eigentums zum Durchbruch verhilft (z.B. in Form von Ausgleichszahlungen). Rewilding wird als eine besonders dynamische Form des Naturschutzes präsentiert, die sich den ungewissen Ökologien des sich wandelnden Klimas besser anpassen kann (Navarro und Pereira 2012). Diese Initiative hat eine wichtige geopolitische Komponente (siehe Schwartz 2006), und in der Beschwörung von Ökosystemdienstleistungen und biologischem Eigentum erahnt man unschwer die Tentakel einer aufkeimenden neoliberalen Umweltbewegung. Dies sind problematische Entwicklungen, die den Rahmen der weiter unten beschriebenen Experimente abstecken. Aber die Fallstudie, die diesem Beitrag zugrunde liegt – und die man mit Fug und Recht als das profilierteste und am häufigsten zitierte Beispiel einer Wiederverwilderung in Europa bezeichnen kann – bringt einige dieser vertrauten Naturschutzgeografien durcheinander.5 Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Oostvaardersplassen (OVP), einen unmittelbar nördlich von Amsterdam in den Niederlanden gelegenen Polder, der im Besitz der öffentlichen Hand ist (siehe Abb. 1). Der im Jahr 1968 trockengelegte Landstrich war ursprünglich für die Ansiedelung von Industrien vorgesehen. Dazu kam es jedoch nicht. Das Land wurde sich selbst überlassen und von Graugänsen kolonisiert, deren Weideverhalten die Entstehung von Wald verhindert und einen idealen Lebensraum für eine ganze Reihe seltener Stand- und Zugvogelarten geschaffen hat. In den 1970er-Jahren begann die für das rückgewonnene Land zuständige Behörde damit, das Gebiet aktiv als Naturschutzgebiet zu bewirtschaften. In den 1980ern führte das Verwaltungsteam um den Umweltschützer und Naturschutzwart Frans Vera Pferde- und Rinderherden ein, um die „naturnahe Beweidung“ der Gänse durch andere Beweidungsformen zu erweitern. 1992 wurden diese Herden durch Rotwild ergänzt (mehr zur Geschichte der OVP siehe Keulartz 2009). Diese Tiere „entdomestizierten“ sich nach und nach: Sie entwickelten Verhaltensweisen und schufen Ökologien, die denjenigen entsprechen sollen, die

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Methodologisch beruht unser Aufsatz auf einer Aufarbeitung der akademischen, politischen und populären Literatur über die Verwaltung der OVP, einer Reihe von ausführlichen Interviews mit wesentlichen Stakeholdern in Brüssel und den Niederlanden sowie einer teilnehmenden Beobachtung mit dem Ranger in den OVP. Die Daten wurden überwiegend zwischen Februar und August 2011 erhoben, aber das Projektteam hat das Feld seit 2008 regelmäßig besucht.

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am Ende des Pleistozäns in Europa herrschten (siehe Vera, Buissink und Weidema 2007). Auf der Grundlage seiner Erfahrungen mit den OVP und seiner Doktorarbeit veröffentlichte Vera ein Buch (Vera 2000), in dem er ein neues Paradigma für die Paläoökologie und (als Konsequenz) für den Naturschutz skizziert. Er bezweifelt die konventionelle Annahme, dass der Höhepunkt einer ausgewogenen Vegetation in Westeuropa am Ende des Pleistozäns aus einem geschlossenen Laubdach hochstämmiger Bäume bestand und schlägt stattdessen ein alternatives, nicht-lineares Modell vor, das von einem Wechsel von Wald- und Weidelandschaften ausgeht, die teilweise durch die Weidetätigkeit großer Herbivoren offen gehalten wurden. Die zufällige Ökologie der OVP bot Vera eine einzigartige Gelegenheit (Vera 2000, xv), ein „Experiment mit großen, wild lebenden Huftieren“ durchzuführen, um seine alternative ökologische Hypothese zu überprüfen und ihre Konsequenzen für das Wildtiermanagement zu demonstrieren. Die Überlegungen Veras und seiner Mitstreiter*innen und ihr Eintreten für das OVP-Experiment haben im niederländischen Naturschutz einen Paradigmenwechsel Richtung „Naturentwicklung“ eingeleitet, das heißt zur Konstruktion von „neuer Natur“ mit großen Herbivoren in einer vernetzten „übergeordneten ökologischen Struktur“ (siehe Baerselman und Vera 1995; Belt 2004). Die OVP und Veras Alternativhypothese dienen seither als zentrale Legitimationsquelle für Rewilding Europe. Abb. 1: Karte des Naturschutzgebietes Oostvaardersplassen. (Kartendaten: GeoBasis-DE/BKG ©2009 Google; Beschriftung durch die Autoren)

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Veras Theorie, die Verwaltung der OVP und die umfassenderen politischen Veränderungen, die dadurch begründet werden, sind in den Niederlanden und in ganz Europa kontrovers aufgenommen worden. Traditionelle Naturschützer*innen befürchten den Verlust von Lebensräumen für seltene Arten, Tierschützer*innen haben ethische Probleme mit der Entdomestizierung, Bäuer*innen und andere Landbewohner*innen befürchten den Untergang von Kulturlandschaften, während manche Wissenschaftler*innen die Glaubwürdigkeit von Veras Paläoökologie und ihren Nutzen als ökologischen Bezugspunkt in Frage stellen. Die Verwaltung der OVP war Gegenstand zweier, von der niederländischen Regierung eingesetzter und international besetzter Untersuchungskommissionen (ICMO 2006; ICMO2 2010). Ein Großteil dieser Debatte dreht sich um die Konzeption der OVP als Experiment. In der folgenden Analyse hoffen wir zu zeigen, dass Bedeutung, Probleme und potentieller Nutzen des OVP-Experiments besser auseinandergehalten werden können, wenn man sich auf die drei oben von uns eingeführten Untersuchungsachsen bezieht. Abb. 2: Anfang der 1980er Jahren wurden erstmals rückgezüchtete Heckrinder als kostengünstige „Rasenmäher“ freigesetzt. Durch ihr Weideverhalten sollten sie Landebahnen für Gänse schaffen. Sie leben seither unbeaufsichtigt in den Oostvaardersplassen in den Niederlanden. (Foto: Clemens Driessen)

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Abb. 3: Nach einem relativ strengen Winter lösten Bilder von toten und hungernden Pferden, Rindern, Rehen und Hirschen im Frühling 2018 Besorgnis in den sozialen Medien aus. Gruppen von Demonstrant*innen, die ein „Ende des Experiments“ forderten, begannen illegal zusätzliches Heu über den Zaun zu werfen, um hungernde Tiere zu füttern. Dies führte zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nach Angaben der staatlichen Forstverwaltung störte eine solche zusätzliche Fütterung das Herdenverhalten und die physiologische Anpassung der Pflanzenfresser an die saisonale Futterknappheit. Ein Ausschuss wurde gebildet, der vorgeschlagen hat, das Management der Tiere zu verändern. (© picture alliance / ANP, Foto: Marten van Dijl)

Vorgefunden — gemacht Das erste Thema versucht die Unterscheidung zwischen dem Laboratorium als einem „gemachten“ Raum, in dem kontrollierte Experimente zu universell gültigen Ergebnissen führen, und dem Feld als einem besonderen, authentischen Ort, den die Wissenschaftler*innen „vorfinden“, zu entwickeln und gedanklich darüber hinauszugehen. Bei der Durchführung und Beschreibung ihrer Wiederverwilderungsexperimente in den OVP schwanken Vera und seine Kolleg*innen zwischen diesen beiden Positionen; seit neuestem versuchen sie, diese zu überwinden. Auf der einen Seite präsentieren sie die OVP als ideales Laboratorium, um eine wissenschaftliche Hypothese zu überprüfen. Das Land wurde im wörtli-

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chen Sinne gemacht: als Teil der größten künstlichen Insel der Welt aus dem Meer erschaffen. Ungeachtet jeder materiellen Kulturgeschichte können Terrain und Wasserläufe mit Hilfe von Deichen, Pumpen und Baggern gestaltet werden. Abb. 4: Konik-Pferde in den Oostvaardersplassen, die der Spiegel 2001 als „Serengeti hinter den Deichen“ bezeichnet hat. Wie bei den Heckrindern und dem Rotwild war die Haltung der Pferde – insbesondere das Fehlen einer aktiven Bewirtschaftung – Gegenstand heftiger öffentlicher Kontroversen. Dabei ging es um die angenommene Wildheit der Pferde, um ihr Leiden und Sterben am Ende des Winters und um die Legitimität ihres Weideverhaltens als Teil der Ökologie Nordeuropas. (Foto: Clemens Driessen)

Da das Feld eingezäunt und von Gräben umgeben ist, kann der Zutritt von Flora, Fauna und Menschen kontrolliert werden.6 Innerhalb dieser Grenzen kann die Prähistorie simuliert werden wie auf Isla Nublar, der fiktiven Insel in Jurassic Park. Aber die wissenschaftliche Legitimität der OVP als Versuchsgelände zur Überprüfung von Veras paläoökologischer Hypothese (deren Ergebnisse verallgemeinert werden können) hängt davon ab, dass dieses Gelände als ein Gebiet

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Eine kritische Analyse dieses Diskurses über „Formbarkeit“ und seine politischen und kulturellen Auswirkungen auf die „neuen Naturen“ in den Niederlanden gibt Drenthen (2009).

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anerkannt wird, das wilden, „vorgefundenen“ Gebieten (in der Vergangenheit und Gegenwart) entspricht. Dazu ist es nötig, die menschlichen Eingriffe herunterzuspielen und stattdessen die Verlassenheit des Landes, die „eigenwillige“ oder „spontane“ Natur seiner Ökologie und seine nachträgliche Entdeckung durch die Umweltschützer*innen hervorzuheben. Die Geschichtsschreibung über den Ort schreibt den Gänsen (und auf sie folgenden Weidetieren) eine große Wirksamkeit als Architekten des ökologischen Wandels zu (siehe Vera 2000).7 Abb. 5: Das Nest eines weißen Adlers in einer dürren Weide, in einem Polder, der 1968 trockengelegt wurde und nun fünf Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Die überraschende Ankunft von Seeadlerpaaren und ihr erfolgreiches Brüten wurde als Beweis für das Gelingen des ökologischen Experiments gefeiert. (Foto: Clemens Driessen)

Kritiker*innen des OVP-Experiments haben sich tendenziell darauf konzentriert, die angeblichen Paradoxien zu entlarven, die seinen Status als vorgefunden oder

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Dieser Prozess war nicht ohne Erfolg. Inzwischen benutzen Forscher*innen Daten, die in den OVP gesammelt wurden, zur Orientierung ihrer paläoökologischen Untersuchungen über vergleichsweise unveränderte Lebensräume in Europa. Siehe z.B. die Forschung im Oxford Long Term Ecology Laboratorium (http://oxlel.zoo. ox.ac.uk/; abgerufen im Oktober 2012).

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gemacht untergraben. Zum Beispiel weisen Kommentator*innen, die der Bäuer*innen- und Jagdlobby nahestehen, gern auf die Zäune und den Hochwasserschutz hin und argumentieren, dass der artifizielle Charakter der OVP ihre Authentizität untergräbt (Kasteren 2010). Diese Vorbehalte klingen auch in den Einwänden skeptischer Sozialwissenschaftler*innen nach, die sich auf die Techniken der Dekonstruktion verstehen und sich über den Anspruch einer prähistorischen Authentizität lustig machen (siehe Onneweer 2009). Niederländische und britische Umweltschützer*innen stoßen sich im Gegensatz dazu an der Darstellung der OVP als Labor. Sie bezweifeln das Ausmaß an Kontrolle, das in diesem Experiment ausgeübt werden konnte, und damit auch die Verallgemeinerbarkeit seiner Resultate. Sie weisen auf das Eindringen von Pollen und Wirbellosen von außerhalb des Schutzgebiets hin, betonen die außergewöhnlich hohe Fruchtbarkeit des Bodens und unterstreichen die einzigartigen Umstände, welche die Entstehung des Ortes erst ermöglicht haben (siehe z.B. Birks 2005; Hodder et al. 2005). Die OVP erscheinen hier als ein spezifischer Ort, nicht als typisches Laboratorium. Abb. 6: Rotwild am Rande der Oostvaardersplassen. Der abgegrenzte, abgezäunte Charakter des Gebietes, in dem große Pflanzenfresser weitgehend unbewirtschaftet leben, ist Gegenstand eines andauernden Konfliktes. In der Kritik steht die „frühe reagierende Keulung“, bei der hungernde Tiere erschossen werden, von denen nicht erwartet wird, dass sie bis zum Sommer überleben. Die Kritiker*innen argumentieren, dass diese Maßnahme das Leiden der Tiere nicht angemessen verhindert. (Foto: Clemens Driessen)

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Die Befürworter*innen haben sich, teils in Reaktion auf diese Kritiken, darum bemüht, das Hin und Her zwischen Labor und Feld hinter sich zu lassen. Stattdessen preisen sie die OVP und das Wiederverwildern im Allgemeinen als ein Modell für den Naturschutz im Anthropozän an, wo die Unterscheidung zwischen vorgefunden und gemacht ohnehin beständig an Bedeutung verliere. Vera, beispielsweise, präsentiert seinen paläoökologischen Ausgangspunkt mittlerweile nicht mehr als authentische Rückkehr, sondern als dynamischen „Bezugsrahmen“ (2000, 24) für zukünftigen Naturschutz. Für Wild Europe (2010) macht dies eine Diskursverschiebung von der „unberührten“ zur „ungezähmten“ Natur nötig. Die Betonung liegt nun auf dem Prozesshaften. Es gehe nun darum „herauszustellen, dass die Wiederverwilderung als Konzept nicht auf die ausschließliche Erhaltung einer bestimmten Spezies, eines Lebensraums oder zuvor verlorener Landschaften zielt, sondern sich für die fortlaufende und spontane Schaffung von Lebensräumen von Spezies öffnet.“ (Rewilding Europe 2012b, o.S.)

Abb. 7: Ein Konik-Pferd am Rande des feuchten Teils der Oostvaardersplassen, der aus Graswiesen und einem Feuchtgebiet besteht: ein idealer Ort für Gänse, um sich während des jährlichen Vogelzuges zu mausern. (Foto: Clemens Driessen)

Diese Begeisterung für spontane Entwicklungen wirft allerdings eine Reihe von epistemologischen und politischen Fragen auf, die wir in den Abschnitten zur zweiten und dritten Achse behandeln.

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Aber bevor wir uns diesen Themen zuwenden, möchten wir noch auf eine verwandte ontologische Kontroverse zu sprechen kommen, die sich an der Frage nach der Legitimität von Experimenten mit Rindern und Pferden in den OVP entzündete. Da Auerochse und Tarpan ausgestorben sind, wählte Vera als entsprechende Ersatzweidetiere „rückgezüchtete“ Tiere von besonderer Widerstandsfähigkeit und wilder Ästhetik. Diese Tiere wurden weder in der Wildnis vorgefunden, noch haben sie sich aus eigenen Stücken dort angesiedelt. Sie stammten aus zoologischen Gärten, waren einst domestiziert worden und wurden nun in das 6000 Hektar große Reservat entlassen. Hätten sich diese Herbivoren aus eigenem Antrieb in den OVP eingefunden (wie der Biber) oder wären sie gar nie formal domestiziert worden (wie das Wild in den nahe gelegenen Wäldern von Veluwe) – dann hätte die Forschung vielleicht als bloße Beobachtung dargestellt werden können. Es wäre die „Serengeti hinter den Deichen“ gewesen, die sich die Befürworter*innen ausmalten (Bethge 2001; siehe Belt 2004), bar jeder tierärztlichen Verpflichtung und mit einer sehr begrenzten Erlaubnis zur Einflussnahme. Abb. 8: Die Oostvaardersplassen sind als besonderes Vogelschutzgebiet ausgewiesen. Sie werden durch natürliche Prozesse gesteuert, die durch das Weiden, die Bewegungen und die Verwesung großer Pflanzenfresser angetrieben werden. (Foto: Clemens Driessen)

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Abb. 9: Die Konik-Pferde wurden Mitte der 1980er Jahre vom Ökologen Frans Vera freigelassen. Um 2010 erreichte ihre Anzahl innerhalb des Gebiets an die 800 Exemplare. Seither ist sie zurückgegangen, da die Pferde mit 500 Rindern und über 3000 Rehen und Hirschen um Gras konkurrieren. (Foto: Clemens Driessen)

Doch eine Allianz aus Tierschützer*innen, Jäger*innen, Politiker*innen und Journalist*innen vertrat erfolgreich die Auffassung, dass Rinder und Pferde im Grunde gemachte oder zumindest von Menschen „gehaltene“ Tiere seien, die denselben Tierschutzbestimmungen unterliegen, die auch bei Experimenten in anderen gemachten Räumen wie Laboren, Mastbetrieben und Schlachthäusern gelten (siehe z.B. Tweede Kamer 2010). Diese biopolitische Debatte drehte sich vor allem um das Wohlergehen der Rinder und Pferde, wenn das Futter knapp wurde und manche Tiere verhungerten. 2005 strengte die niederländische Tierschutzorganisation Dierenbescherming einen Gerichtsprozess an, in dem die Anwälte der Klägerin bestritten, dass die staatliche Forstverwaltung SBB über die nötige Erlaubnis für Eingriffe verfüge und „ein Ende des Experiments“ in den OVP forderten (Aarden 2005). Der Richter stimmte jedoch dem Argument der SBB zu, dass sie keine „faktische Macht“ mehr über die Tiere in den OVP ausübe und urteilte zu ihren Gunsten (Rechtbank’s-Gravenhage 2006). In diesem Urteil war die An- bzw. Abwesenheit einer Eigentumsbeziehung das ausschlaggebende Kriterium für den Status der Tiere als vorgefundene oder gemachte. Durch die seltene Aufhebung eines Eigentumsverhältnisses an Tieren wurden die

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Rinder und Pferde in den OVP als wild klassifiziert und die SBB von jeder rechtlichen Verantwortung entbunden. Abb. 10: Heckrinder in den Oostvaardersplassen. Sie wurden in den 1930er Jahren von den Berliner und Münchner Zoodirektoren Lutz und Heinz Heck in Anlehnung an die ausgestorbenen Auerochsen in den Höhlenmalereien von Altamira, Spanien gezüchtet. Sie vermehren sich hier seit 1983 ohne menschlichen Eingriff. Die Phänotypen mancher Bullen und Kühe sollen noch immer die Vielfalt der in diesem Rückzüchtungsexperiment verwendeten Rassen widerspiegeln. (Foto: Clemens Driessen)

Was die Öffentlichkeitswirkung anbelangt, wurde diese Sache jedoch zu einem Desaster für die SBB. Man einigte sich auf einen Kompromiss, der den Konflikt zwischen den widersprüchlichen Bedürfnissen eines Lebens mit vorgefundenen und gemachten Tieren auszusöhnen und zu überwinden trachtete. Nun streift ein mit Gewehr und Schalldämpfer bewaffneter Wildhüter durch die OVP, um diejenigen Tiere zu identifizieren und zu töten, bei denen körperliche Konstitution und Verhalten vermuten lassen, dass sie den nächsten Winter nicht überleben würden. Dieses Vorgehen wird gerne als Populationskontrolle „mit dem Auge des Wolfs“ bezeichnet. In der Theorie muss der Wildhüter zu einem Wolf werden, um seine Beute auszuwählen, und er greift dazu auf die Verhaltensforschung und die Fertigkeiten und Kenntnisse der Feldwissenschaften zurück. In der Praxis jedoch weiß man über das Verhalten wild lebender Rinder und Pferde

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(ganz zu schweigen von ihren Interaktionen mit Wölfen) nur sehr wenig, weswegen die wissenschaftlichen Kriterien, die zur Beurteilung des Zustands eines einzelnen Rinds oder Pferds benutzt werden, aus denen zur Einschätzung des Gesundheitszustands von Hoftieren abgeleitet werden.8 Unter Bezug auf Ingold haben Klaver et al. (2002) die Entdomestizierung von Herbivoren in den Niederlanden als ein Ersetzen von Herrschaftsbeziehungen durch Vertrauensbeziehungen beschrieben. Hier wird der Expertise von Tieren ein größerer Wert beigemessen und Organismen und Landschaften erhalten mehr Raum, ihre eigene Zukunft zu bestimmen. Dieser tentative Kompromiss erinnert an Haraways (2008) Kosmopolitik der response-ability gegenüber dem einzelnen Tier, der Spezies, die es repräsentiert, und der umfassenderen Ökologie, die es mitverfasst, wohl wissend, dass die Interessen dieser drei nicht immer übereinstimmen. Es bietet ein Modell für Experimente in wilden Formen von artenübergreifenden Gemeinschaften [interspecies companionship], die die „bestialischen Orte“ (Philo und Wilbert 2000) nichtmenschlichen Lebens aufwerten. Ordnung — Überraschung Es bestehen wichtige Unterschiede zwischen dem Naturschutz in den OVP und den sonst in einem großen Teil Nordwesteuropas vorherrschenden Naturschutzpraktiken, die teilweise mit der unterschiedlichen Wahrnehmung und Einordnung spontan auftretender und unerwarteter ökologischer Eigenschaften (das heißt: von Überraschungen) zu tun haben. Das vorherrschende Gleichgewichtsmodell der europäischen Paläoökologie geht davon aus, dass Landschaften zu einem Wald mit geschlossenem Kronendach tendieren, der gegenwärtig durch Land- und Forstwirtschaft niedergehalten wird. Weniger intensive Varianten der Bewirtschaftung bringen vieles hervor, was als Biodiversität geschätzt wird. Diese geordnete Biogeografie prägt eine umfassende Infrastruktur zur Identifizierung, Überwachung, Erforschung und Pflege verschiedener Spezies und Lebensräume. Die Ökologien sind hier linear und können erkannt und vorhergesagt werden. Man kann Hypothesen daraus ableiten und sie überprüfen. Überraschungen sind anomal. Diese Art von Experimenten produziert die wissenschaft-

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Die Wiedereinführung von Wölfen und die damit zusammenhängende „Ökologie der Furcht“ geht nach Einschätzung der Verwaltung der OVP einen Schritt zu weit; viele Beobachter*innen gehen jedoch davon aus, dass Wölfe in nicht zu ferner Zukunft aus eigenem Antrieb in die Niederlande zurückkehren werden (siehe http://www.wolven innederland.nl; abgerufen im Oktober 2012).

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liche Autorität, die benötigt wird, um politische Maßnahmen gegen die Verheerungen moderner Formen der Landnutzung zu legitimieren. Vera gehört zu einer Reihe von Ökolog*innen und Umweltschützer*innen, die dieses Paradigma in Frage stellen. Sie behaupten, dass die auf diesem Paradigma basierenden paläoökologischen Annahmen nicht zutreffen, und kritisieren, dass sich die daraus abgeleiteten Vorschriften angesichts des beschleunigten Klimawandels und der nichtlinearen Formen, mit denen die ökologischen Prozesse darauf reagieren, fatal auswirken können. In diesen intellektuellen und politischen Kontext brachte Vera seine alternative, nichtlineare „Theorie des zyklischen Wechsels der Vegetationen“ (2000, 376) mit ihrem dynamischen „ökologischen Bezugsrahmen“ der Wald-Weide-Landschaften ein. Am überraschendsten und ungewöhnlichsten an den OVP ist vielleicht das weitgehende Fehlen von Vorhersagen und Management. Bis vor kurzem gab es keine Zielvorstellungen, keine Modelle und keinen expliziten Aktionsplan. Dieser Mangel ist teils ein Resultat von fehlendem Interesses an (und Finanzierung von) ökologischer Wissenschaft seitens der Regierungsbehörden, denen das Gebiet gehört und von denen es verwaltet wird, teils verdankt es sich dem Unwillen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Entbehrungen zu lenken, denen die großen Herbivoren dort in manchen Jahreszeiten ausgesetzt sind (siehe oben). Aber unsere Interviews mit den Verwaltern zeigen noch einen viel tiefgreifenderen Unterschied, der die Einstellung gegenüber Feldexperimenten betrifft. Diese Einstellung ist durch den bewussten Wunsch charakterisiert, einigen der Beschränkungen zu entkommen, denen die Ordnungspraktiken des herkömmlichen europäischen Naturschutzmanagements theoretisch und praktisch unterliegen. Die OVP wurden als Hort der Überraschungen berühmt und wer immer sich für die Ökologie der OVP interessierte, wollte die dort ablaufenden, unabsehbaren ökologischen Prozesse stärken und verstehen. Veras Theorie eines zyklischen Vegetationswechsels hat, wie andere Formen einer Nichtgleichgewichtsökologie, keine linearen Entwicklungslinien zu bieten, die auf eine transzendente ökologische Ordnung oder eine klare Menge von Parametern hinauslaufen, die so simuliert werden können, dass sich zukünftige Veränderungen antizipieren lassen. Stattdessen erklärte Vera, zur Erforschung und Verwaltung der OVP müsse man einen spekulativeren Ansatz kultivieren, der darauf abziele, bestimmten nichtmenschlichen Akteuren und den ökologischen und hydrologischen Prozessen, mit denen sie die Landschaft verändern, ein größeres Einflussvermögen zuzubilligen. Seiner Ansicht nach habe dieser Ansatz eine Vielzahl überraschender ökologischer Ereignisse und neuer ökologischer Kenntnisse hervorgebracht, die das bestehende Paradigma in Frage stellten. So habe zum Beispiel die Rückkehr

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von Aasfressern ein Paar seltener Seeadler dazu veranlasst, unter Meeresspiegelhöhe ein Nest zu bauen – ein Verhalten, das Ornitholog*innen nicht für möglich gehalten hätten. Marris (2011) beschreibt die OVP als Archetypen eines „neuartigen Ökosystems“, das sich durch eine reiche Ökologie ohne Analogien auszeichne. Ganz ähnlich hat auch die Entdomestizierung der großen Herbivoren bei den Tieren sowohl auf der Ebene einzelner Individuen wie auf der Ebene der Herde Verhaltensweisen hervorgebracht, die noch nie zuvor von Wissenschaftler*innen in Europa bezeugt wurden. Die Rinder und Pferde der OVP zeigen demografische Strukturen, Herdendynamiken und individuelle Bewältigungsmechanismen, welche die Fachleute an ihren Haustierverwandten in Staunen versetzen würden (Vulink 2001). Diese Experimente mit Wildheit, die in den OVP durchgeführt werden, nähern sich der von Gross und Hinchliffe et al. vorgetragenen und von Rheinberger inspirierten Epistemologie des Experiments als einer spekulativen Beratung mit nichtmenschlichen Lebewesen, die darauf angelegt ist, Überraschungen hervorzubringen und aufzudecken. Die induktiven Beziehungen, die hier zu den OVP hergestellt werden, lassen den Ort als ein ungewisses „wildes Ding“ erscheinen, das anerkannte Wahrheiten auf den Prüfstand zu stellen vermag. Freundlich gesinnte Umweltbiolog*innen wie Sutherland (2002) begrüßen daran die größere „Offenheit“ im Naturschutzmanagement. Die Herausforderungen, die ein solch spekulatives Naturschutzmanagement stellt, zeigen sich vielleicht am deutlichsten an den Bemühungen der OVPUmweltschützer*innen, den Anforderungen der europäischen Naturschutzgesetzgebung Natura 2000 genüge zu leisten. Natura 2000 schreibt eine natürliche Ordnung vor, die in dem kompositorischen Ideal einer vormodernen Ökologie gründet. Sie definiert eine Liste seltener und/oder gefährdeter Spezies und Lebensräume, die überwacht, gestaltet und verwaltet werden müssen. Die Dynamik ihrer Populationen liefert den quantitativen Rahmen, an dem sich Erfolg oder Misserfolg der Landschaftspflege ablesen lassen. Die OVP beherbergen eine Vielzahl von Spezies, die laut Natura 2000 schützenswert sind, insbesondere Vögel. Aber die Naturschützer*innen der OVP versuchen, nichtlineare ökologische Prozesse zu verstehen; die jährliche Entwicklung seltener Arten ist nicht ihr vorrangiges Interesse. Dies hat zu Problemen geführt. 1996 beispielsweise ist die Population einer seltenen Löfflerart in den OVP von 300 Brutpaaren auf Null gefallen (Bosman 1996). Diese Zahlen lösten unter den außenstehenden Ornitholog*innen, die sie entdeckten, eine Panik aus. Man beschuldigte die OVPVerwaltung, dass der Zuwachs an Füchsen aufgrund der großen Mengen an Aas im Verein mit schlechtem Wassermanagement zu diesem Einbruch geführt habe (Nijland 2008). Es wurden Änderungen der Besatzdichte und des hydrologischen Regimes gefordert. Am Ende erholte sich die Löfflerpopulation und es stellte

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sich heraus, dass sich viele der vermeintlich vertriebenen Tiere aus dem Reservat hinausbewegt hatten, um ein weiteres Netzwerk zu besiedeln. Dennoch brachte dieses Ereignis die SBB in die Bredouille. Sie hatte die Entwicklung nicht vorhergesehen, konnte sie nicht steuern und verfügte nicht über ausreichend umfangreiche Daten, um sie zu erklären. Die unabhängigen Kommissionen, die nacheinander das Management der OVP untersuchten, verlangten größere Anstrengungen zur Einhaltung von Natura 2000. Es wurde eine verbesserte „Erklärung zu den Zielsetzungen des Managements“ und ein „Umweltüberwachungssystem“ gefordert, das auch die nötigen „Analysen und Modellbildung“ einschließen sollte, „um heutige Prozesse zu erkennen, künftige Entwicklungen vorherzusagen und Grenzwerte für akzeptable Veränderungen festzulegen“ (ICMO 2006, 13). Diese Empfehlungen laufen zum größten Teil darauf hinaus, die OVP in Einklang mit der vorherrschenden Praxis zu bringen. Sie versuchen, unsichere Lagen zu umgehen, den stochastischen Charakter des gegenwärtigen Management-Ansatzes zu rationalisieren, und die „politische Epistemologie“ und wissenschaftliche Autorität der Gleichgewichtsökologie zu stärken. Die Empfehlungen laufen auf eine Form von antizipatorischer Steuerung hinaus, die alle Überraschungen, die zu politisch und ökologisch unerwünschten Eventualitäten führen könnten, zu vermeiden sucht. Der fließende, spekulative Ansatz von Wissenschaft und Umweltmanagement, den die OVP an den Tag legen, stellt ihre Kritiker*innen vor eine Reihe von administrativen und politischen Herausforderungen (Hodder et al. 2005). Andere Umweltschützer*innen haben eingewandt, dass die Lockerung von Managementvorschriften mehr Raum für das Auftreten unerwünschter Eigenschaften und damit potentielle Risiken für die Biosicherheit eröffne – sei es in Form von invasiven Arten, gefährlichen Raubtieren oder Anthropozoonosen (Groot Bruinderink et al. 2007). Die Aufgabe einer mit Umsicht komponierten Natur berge ökonomische Risiken in sich und könne lokal und global zu einer Verringerung der Biodiversität führen. Die Kritik der politischen Widersacher*innen erinnert inzwischen an die Einwände, die von James Evans (2011) in seiner Betrachtung einer vergleichbaren Verschiebung zugunsten von Experimenten mit offenem Ausgang in der Stadtökologie vorgebracht wurden. Das spekulative Managementsystem, wie es beispielhaft von den OVP gepflegt wird, wird hier als eine Art trojanisches Pferd gefürchtet, das dem Abbau hart erkämpfter Umweltschutzgesetzgebungen und Förderprogrammen Vorschub leistet und dadurch den Schutz kulturell bedeutsamer Ökologien und marginaler politischer Ökonomien im Hochland oder anderen geopolitisch randständigen Regionen untergräbt; es sei, so das Argument, ein Experiment, dessen Ziele von vornherein feststünden (Turnhout 2003; Zomeren 1993).

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Wie bei den Auseinandersetzungen um den Status der OVP als vorgefunden oder gemacht, stellen die gegenwärtigen Übereinkünfte einen unbehaglichen Kompromiss dar. Die SBB bemüht sich, den Ordnungsanforderungen von Natura 2000 zu genügen, widersetzt sich jedoch jedem Wunsch nach einem proaktiven Eingreifen zugunsten ausgewählter Spezies. In Reaktion auf die Kritik der zweiten ICMO hat die SBB erstmals einen Managementplan zu den OVP veröffentlicht (Staatsbosbeheer 2011). Sie haben ihr Überwachungsprogramm intensiviert, um Überraschungen künftig besser zu antizipieren und zu erkennen (und daraus zu lernen). Wenn man diese Dokumente sorgfältig liest und darauf achtet, wie die im Feld ausgeübten Praktiken artikuliert und angeleitet werden, findet man darin Belege für Wissenspraktiken, die in der Lage sind, auf eine wandlungsfähige und emergente Welt einzugehen und zu reagieren. Um es in den Worten von Steve Hinchliffe und seinen Co-Autor*innen auszudrücken: Man kann hier Anzeichen für ein spekulatives „Auskennen mit“ Wildnis [knowing about] erkennen (an Stelle eines präskriptiven „Wissens über“), das in einer dokumentarischen Infrastruktur gebildet wird, die lediglich in einer lockeren Reihe von „Diagrammen“ erwünschte zukünftige Verläufe anbietet (siehe Hinchliffe et al. 2005; Hinchliffe und Lavau 2013). Abgeschieden — wild Im Gegensatz zu den vergleichsweise offenen Verhandlungen mit nichtmenschlichen Lebewesen, die für das Management der OVP charakteristisch sind, hat sich die SBB nur widerstrebend auf eine Auseinandersetzung mit interessierten Teilen der niederländischen Öffentlichkeit eingelassen, um die erwähnten Spannungen auszuräumen. In der Folge wurden die OVP zu einem kontroversen Ort, der sich durch sehr profilierte und häufig feindselige Debatten zwischen Behördenvertreter*innen, Wissenschaftlerinnen, Vogelfreund*innen, Bauern und Bäuerinnen und Tierschützer*innen auszeichnete. In diesem letzten analytischen Abschnitt nutzen und erweitern wir die von Callon, Lascoumes und Barthe (2009) entwickelten Kriterien zur Beurteilung des Verhältnisses zwischen „abgeschiedener Forschung“ und „Forschung im Wilden“ mit dem Ziel, die politischen Prozesse, welche die OVP regieren, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Wir wollen ihre Schwächen aufzeigen und einige Lehren daraus ziehen. Aufgrund des begrenzten Platzes beschränken wir uns auf die Debatte über den Tierschutz bei den großen Herbivoren, die die Öffentlichkeitsarbeit der SBB vor ihre größten Herausforderungen stellte. Die Sorge um die großen Pflanzenfresser in den OVP trat erstmals Ende der 1990er-Jahre zu Tage, als Bilder von abgemagerten und an Hunger verendenden

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Tieren an die Öffentlichkeit drangen. Aufnahmen von der Not der Tiere verbreiteten sich rasch über das Fernsehen und später auch über das Internet. Damals startete die niederländische Tierschutzvereinigung Dierenbescherming ihre Kampagne, die schließlich in einem Gerichtsprozess gipfelte. Die niederländische Regierung reagierte auf die Kontroverse mit der Bestellung der ersten ICMO. Die Kommission sollte die Verwaltung des Schutzgebiets überprüfen und Verbesserungsempfehlungen für das zuständige Ministerium ausarbeiten. In ihrem ersten Bericht veröffentlichte die Kommission 2006 eine Reihe solcher Empfehlungen. Im strengen Winter des Jahres 2009 drohten Rinder und Pferde erneut Hungers zu sterben. Die Kontroverse entflammte aufs Neue und die verantwortliche Ministerin (für Landwirtschaft, Natur und Lebensmittelqualität) musste im Parlament Rede und Antwort zur Lage in den OVP stehen und sah sich genötigt, eine Notfütterung der hungernden Tiere zu veranlassen. Die ICMO wurde erneut einberufen und um eine Evaluation der Tätigkeit der staatlichen Forstbehörde SBB sowie um weitere Empfehlungen zur Versorgung der Tiere gebeten. In ihrem zweiten, 2010 veröffentlichten Bericht fasste die Kommission die „Managementsituation“ in den OVP wie folgt zusammen: „[Das] Management [durch die SBB] wird im Wesentlichen nicht durch Forschung und Monitoring der Ergebnisse angetrieben, die Stakeholder nehmen nur geringen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse, das Management weist nur eine geringe Offenheit für die laufenden Praktiken auf, was zusammen genommen zu einem starken Widerstand einiger gesellschaftlicher Gruppen gegen die gegenwärtige Managementstrategie für das Gebiet führt.“ (ICMO2 2010, 84)

Die ICMO vertritt dabei die Ansicht, dass die SBB in den OVP kein legitimes Experiment durchführe. Sie verweist zunächst auf die epistemologischen Kriterien, die zur Evaluierung abgeschiedener Forschungen benutzt werden, argumentiert dann, dass die SBB nicht das grundlegende Popper’sche Erfordernis eines Bemühens um künftige Falsifikation erfülle (Popper 1945), und fordert schließlich die Veröffentlichung aller bisher erhobenen Daten. Sie beklagt, dass Erhebung und Veröffentlichung der Daten nicht hinreichend transparent erfolgt seien, um das Experiment als strenges Laborexperiment zu qualifizieren. Da es außerdem kein explizit formuliertes Verfahren zur Überprüfung der Hypothesen gebe, könne das Managementsystem nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Danach wendet sich die Kommission der öffentlichen Kontroverse um die OVP zu und stellt fest, dass die „Stakeholder-Beteiligung“, welche die ICMO in ihrem ersten Bericht ausdrücklich befürwortet hatte, von der SBB nicht umgesetzt worden sei. Die SBB erscheint in dem Bericht als weltfremd, unverantwortlich und undemo-

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kratisch. Dies ist eine vernichtende Kritik. Den Kriterien von Callon, Lascoumes und Barthe (2009) zufolge sind die OVP weder „abgeschieden“ genug, um wissenschaftlich zu sein, noch „wild“ genug, um demokratisch zu sein. Die Organisation bleibt vielmehr in der Mitte zwischen diesen beiden Polen gefangen und versagt in beiderlei Hinsicht. Das Wesen dieser Vorwürfe lässt sich an den fortlaufenden Bilderkriegen um die OVP veranschaulichen. Verschiedene Parteien vertreten hier unterschiedliche Auffassungen, wie die Landschaft und ihre Tiere visualisiert und verstanden werden sollten. Vor der Tierschutz-Kontroverse präsentierte die SBB die OVP gerne als ein abgeschiedenes Laboratorium, einen privaten Raum, wo Wissenschaftler*innen unbeobachtet und ohne Beratungen experimentieren konnten. Aber die OVP liegt in suburbanem Gebiet und ein Großteil des Geländes kann von den angrenzenden Deichen, Straßen und einer Eisenbahnlinie aus eingesehen werden. Ornitholog*innen mit Ferngläsern und Tierschützer*innen mit Filmkameras haben Mittel und Wege gefunden, zu sehen und zu visualisieren, was dort vor sich geht. Die Amateurfilme über die hungernden Tiere, zum Beispiel, wurden offenbar vom Rand der OVP aus aufgenommen. Diese Beiträge beschwören eine „affektive Logik“ (Lorimer 2010), die an die Filmaufnahmen erinnert, die aus Laboratorien oder Schlachthäusern herausgeschmuggelt wurden; sie zeigen verhungernde oder tote Herbivoren, die mit einer Ikonografie von Gefangenschaft und impliziten Verweisen auf Konzentrationslager durchsetzt sind. Die grobkörnige Schock-Ästhetik untermauert den Eindruck einer ungesetzlichen Praxis und betont den Vorwurf verleugneter Verantwortlichkeiten. 9 In Reaktion auf diese Bilder und deren politische Macht haben die SBB und andere Wiederverwilderungsbefürworter*innen ihre Taktik geändert. Sie versuchen eine alternative Bildsprache zu schaffen, die sich an der Ästhetik von freier Wildbahn und Naturschutzgebieten orientiert. Ein Fotograf wurde beauftragt, eine Reihe von Videos zu produzieren und online zu stellen, die das Leben in der Wildnis der OVP erkunden und erklären. Die SBB veröffentlichte außerdem einen Bildband mit Fotos über die OVP (Smit 2010), der der niederländischen Mittelschicht in beispielhaften Porträts die einheimischen Wildpflanzen und -tiere Europas näherbringen soll. Ein abendfüllender Naturfilm mit dem Titel The New Wilderness (Verkerk 2013) wurde in den niederländischen Kinos zu einem Kassenschlager. Inzwischen werden auch Geländewagensafaris und Ausflüge zu Vogelbeobachtungsposten sowie die Buchung exklusiver Privatveranstaltungen angeboten. Eine andere (äußerst populäre) Antwort bestand im Aufstellen von Webcams, die den Zuschauer*innen mit Hilfe von Anthropomor-

9

Siehe http://oostvaardersplassen-sterfte.nl; abgerufen im Oktober 2012.

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phisierungen und familiären Narrativen das Leben der charismatischen Füchse in den OVP näher bringen.10 Diese visuellen Gegenstrategien betonen den vorgefundenen Charakter der OVP als einer „Serengeti hinter den Deichen“. Während diese Bilder und Praktiken einerseits eine Form von Beteiligung der Öffentlichkeit ermöglichen, stellen sie die OVP andererseits als einen Ort dar, der nur von einem kleinen Kader von Wissenschaftler*innen betreten und erforscht wird. Es besteht jedoch ein dringender Bedarf an weiteren Beratungen. Die ICMO ist, um einen Ausdruck von Callon, Lascoumes und Barthe (2009) zu gebrauchen, durch ein „delegatives“ Demokratiemodell charakterisiert, das zur Beantwortung einer vorgegebenen Frage auf eine „Ansammlung“ bestehender Expertise zurückgreift. Darin findet sich wenig von ihrem „dialogischen“ Modell zur Erforschung der Wildnis wieder, bei dem sich Zusammensetzung und Expertise der kollektiven Entscheidungsinstanz im Verlauf eines Beratungsprozesses einstellen. Ein Großteil der Kritik des ICMO an der SBB zielt weniger auf die Managementprozesse als solche, denn auf das vermeintliche Versagen der SBB, Kontrolle über deren Öffentlich- und Sichtbarwerdung auszuüben. Am offensichtlichsten wird dies vielleicht an den Strategien zur Einbindung der Öffentlichkeit, die von der ICMO gefördert und von der SBB umgesetzt werden. Der Fokus liegt hier eindeutig auf der Aufklärung der Öffentlichkeit; es wurden mehrere „Kommunikationsexpert*innen“ angestellt, die dabei helfen sollen, die Ergebnisse für ein externes Publikum aufzubereiten. Obschon diese Versuche einiges dazu beigetragen haben, die niederländische Öffentlichkeit von der Legitimität des Experiments zu überzeugen, erinnert der derzeitige Ansatz noch immer an das „Defizit-Modell“ einer Öffentlichkeit mit mangelndem wissenschaftlichen Verständnis, das von der Wissenssoziologie stark kritisiert wurde. Es gibt hier sehr viel Raum für die Schaffung neuer „hybrider“ Beratungsforen, wie sie etwa von Whatmore und ihren Forschungskolleg*innen in ihren Arbeiten zu den Kontroversen über Umweltwissen entwickelt und dokumentiert wurden (siehe Whatmore in diesem Band). Bijker schlägt mit seinem autobiografischen Bericht über die Durchführung eines Experiments zur „öffentlichen Debatte als offenem Lernprozess“ (2004, 387) in der Entwicklung der niederländischen Naturschutzpolitik der 1990er-Jahre ein extrem relevantes Beispiel für dieses Potenzial vor. Doch weder diese Techniken noch die vergangenen Erfahrungen haben sich in der Aufgabenstellung der ICMO niedergeschlagen. Sie könnten jedoch die Verhandlungskultur, die die SBB in ihren bisherigen Experimenten mit großen Herbivoren entwickelt hat, dahingehend er-

10 Siehe http://www.volgdevos.nl/; abgerufen im Oktober 2012.

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weitern, dass das Kollektiv sozialer Akteur*innen mehr als nur Menschen umfasst und neu entstehende Formen von Expertise einschließt.

S CHLUSSFOLGERUNGEN : W ILDE E XPERIMENTE IM ANTHROPOZÄN Dieser Aufsatz hat ganz unterschiedliche Arbeiten zur Geografie des Experiments und zu experimentellen Ansätzen der Wissenschaftspolitik zusammengeführt und versucht, eine Form von politischer Ökologie zu resümieren und entwickeln, die auf dem Konzept wilder Experimente basiert. Experimente und Experimentieren sind in den Sozialwissenschaften einschließlich der Geografie seit einem guten Jahrzehnt stark en vogue. Dieser Aufsatz begrüßt diesen Enthusiasmus, warnt jedoch vor einer schleichenden lexikalischen Laxheit beim Gebrauch des Ausdrucks Experiment: In der einschlägigen Literatur ist manchmal nicht mehr zu erkennen, welche sozialen Veränderungen nicht experimenteller Natur sind. Es wurden drei von mehreren möglichen Achsen dargestellt, mit deren Hilfe sich Experimente in der realen Welt und die Beziehungen, welche sie zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Fraktionen herstellen, spezifizieren und unterscheiden lassen: vorgefunden–gemacht, Ordnung–Überraschung, abgeschieden–wild. Das Konzept der wilden Experimente nimmt Bezug auf eine umfangreichere Forschungsagenda innerhalb der Geografie und darüber hinaus und hilft, sie weiterzuentwickeln. Wir möchten abschließend auf einige dieser Beiträge eingehen und den Nutzen und die Risiken abwägen, welche die Übernahme dieses begrifflichen Rahmens für die Kritik und Entwicklung von neuen Formen des Umweltschutzes im Anthropozän mit sich bringt. Bei der Betrachtung von Experimenten unter dem Gegensatz vorgefunden– gemacht haben wir uns im Wesentlichen auf die epistemischen Eigenschaften einer bestimmten Verortung, das Naturschutzgebiet, konzentriert. Aber die OVP sind keineswegs beispielhaft für Naturschutzgebiete, die in ihrer Zusammensetzung im Allgemeinen als „vorgefundenes“ Analogon zu einer prähistorischen oder zumindest vormodernen Vergangenheit begriffen werden. Die OVP sind vielmehr ein Naturschutzgebiet für das Anthropozän, insofern es bewusst als ein Ort präsentiert wird, der für die Erkenntnis von und Experimente mit einer ungewissen Zukunft gemacht wurde. Er ist unbewohnt und unkultiviert, aber nicht gereinigt. Er ist hybrid, insofern er eine bewusste Koproduktion der Wirkungsvermögen verschiedenster Spezies ist. Er dient als Inspirationsquelle und Katalysator für die proaktive „Entwicklung“ „neuer Naturen“ unter einer spezifisch niederländischen Form von Naturschutz. Anders als die ähnlich hybriden, aber

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spezifischeren, marginaleren und alltäglicheren Orte, die von Hinchliffe et al. (2005) und Gross (2010a) beschrieben werden, sind die OVP ein renommiertes Forschungsgebiet für die Umweltwissenschaften und dienen zur Demonstration unterschiedlicher Formen von Naturschutzmanagement; es ist ein Hier, das die Befürworter*innen am liebsten überall reproduziert sähen. Wenn man die OVP auf diese Weise begreift, geben sie uns ein Mittel an die Hand, mit dem die lähmende politische Paradoxie, in der ein Großteil des modernen Umweltschutzes und seiner Kritiker*innen gefangen scheinen, überwunden werden kann (siehe Latour 2010). Eine einzige Natur, zu der wir zurückkehren könnten und im Vergleich zu der wir die Authentizität einer vermeintlichen Rekonstruktion in Zweifel ziehen könnten, gibt es nicht und hat es nie gegeben. Die OVP bieten uns eine Alternative zu der abgegriffenen Unterscheidung zwischen vorgefunden und gemacht, von der solche Paradoxien abhängen. Wie wir an der Behandlung der entdomestizierten Tiere und der Zukunftsausrichtung von Veras ökologischem Bezugsrahmen gesehen haben, bieten die OVP einen Raum für Wildheit, ohne dazu auf eine unmögliche Geografie der Wildnis zurückzugreifen. Wir haben es hier mit einer vielversprechenden Ontologie des Anthropozän zu tun, in der das Wilde, um die Terminologie von Callon, Lascoumes und Barthe (2009) abzuwandeln, ein Gemeinwesen aus vielen Arten [multispecies commons] ist. Epistemologisch stimmen diese Betrachtungen zu eigenwilligen, nichtmenschlichen Akteuren am besten mit der zweiten Definition von Experiment überein, die wir in der Einleitung zu diesem Aufsatz gegeben haben. Obschon die gegenwärtige Ökologie der OVP als Überprüfung von Veras Hypothese ausgegeben wird, wird in der Praxis vor allem ihr Überraschungspotential geschätzt. Durch den Wegfall von Managementvorschriften, die mit einer Annäherung des Schutzgebiets an ein transzendentes Gleichgewicht namens Natur verbunden sind, können die OVP nichtanaloge Ereignisse, Verhaltensweisen und Ökologien hervorbringen. In gewisser Hinsicht ähnelt das Management der OVP Rheinbergers Experimentalsystemen – einem Arrangement von Materialien, das dazu dient, Differenzen zu erzeugen und aus ihnen zu lernen. Das Umweltmanagement der OVP bringt eine praktische Expertise mit sich, die auf die vielfältigen und überraschenden Entwicklungen eines jeden ökologischen Komplexes abgestimmt ist. Die OVP vermeiden eine Biopolitik der Schließung [biopolitics of closure], wie sie mit den herkömmlichen Formen des Naturschutzes verknüpft ist, die von einer Gleichgewichtsökologie ausgehen. Angesichts der gegenwärtigen Unsicherheiten, was die nichtlinearen ökologischen Folgen eines beschleunigten Klimawandels betrifft, und der Ungewissheiten, die die Forschungen und Planungen zur Anpassung an diesen Klimawandel charakterisieren, könnte das,

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was sich in den OVP abspielt, für den Umweltschutz im Anthropozän außerordentlich hilfreich sein. Die OVP stellen als Feld ein viel öffentlicheres System dar als die von Rheinberger dokumentierten Laboratorien. Sie sind ein Experiment in Echtzeit und mit noch unklareren Grenzen. Eine Umwelt, die aus einer fixierten Natur herausgelöst wird und die jenseits von Laboratorien (oder den entsprechenden Computermodellen) in der Wildnis funktioniert, ist schon an sich politisch. Eine Nichtgleichgewichtsökologie hat nur wenige universelle Kriterien zu bieten, nach denen sich Misserfolge beurteilen oder unerwünschte Zukunftsszenarien, ob gewollt oder nicht, spezifizieren ließen. Wenn Natur- und Sozialwissenschaften einer Verschiebung zu mehr Immanenz das Wort reden, birgt dies, wie das Beispiel OVP schön zeigt, eigene politische und ökologische Risiken. Viele der lokalen Gegner*innen der Entwicklungen in den OVP verteidigen die Vorstellung eindeutig spezifizierter Naturen, wie sie mit dem Tierschutz, der Zukunft seltener Vögel oder dem Niedergang der von ihnen bewohnten Kulturlandschaften assoziiert werden. Es sind vertraute und lobenswerte politische Projekte, deren juristische und territoriale Erfolge hart erkämpft wurden, und es besteht ein echtes Risiko, dass die Wiederverwilderung mit ihrer vermeintlich zieloffenen Ökologie der Überraschungen unwillentlich jenen in die Hände spielen könnte, die diese Projekte am liebsten beseitigt sähen. Evans (2011) weist zu Recht darauf hin, dass sich fungible, neoliberale Laisser-faire-Naturen und fluide, eigenwillige Ökologien ontologisch kaum unterscheiden. Es ist daher von vitaler Bedeutung, dass wir bei der Konzeption von Wildheit, in der die wilden Experimente in den OVP stattfinden, die umfassenderen Diskussionen über die gegenwärtige und zukünftige politische Ökologie Europas im Auge behalten, die den Rahmen des zukünftigen Vorgehens und der zukünftigen Ziele abstecken. Wie bereits erwähnt, dienen die OVP schon jetzt als Legitimation für die ehrgeizigen, über den gesamten Kontinent verstreuten Wiederverwilderungsstrategien mit dem Namen Rewilding Europe. Es ist einerseits ermutigend, dass die Architekt*innen dieser Initiative als Musterbeispiel ein Projekt auserkoren haben, das sich inmitten Europas befindet. Die OVP sind keiner jener Eingriffe, die geografisch randständigen Gemeinschaften von den Eliten aufgedrängt werden. Doch eine den ganzen Kontinent umfassende Implementierung von Wiederverwilderungsmaßnahmen, wie sie in den OVP konzipiert und umgesetzt werden, würde einen Paradigmenwechsel in der Umweltschutzpolitik (und Förderpolitik) erfordern, weg vom gegenwärtigen Modell einer Verbindung von Landnutzung und Naturschutz [land sharing], hin zu einer stärker räumlichen Trennung [land sparing]. Diese Verlagerung würde eine Intensivierung (oder weitere globale Verlagerung) der Landwirtschaft und das Ende jener Formen von Landwirtschaft

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bedeuten, die heute anderswo betrieben werden. Die ökologischen Verdienste einer solchen Veränderung werden zurzeit heiß diskutiert (z.B. in Phalan et al. 2011). Ihre denkbaren zukünftigen Geografien und politischen Ökologien werden im Rahmen der Reform der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik der EU in den kommenden Jahren in Brüssel hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden. Angesichts des gegenwärtigen Austeritätsklimas könnte die Wiederverwilderung ein willkommenes Feigenblatt für die Streichung kostspieliger Subventionen, die Abschaffung strenger Umweltgesetze und sogar die beschleunigte Einführung von Marktmechanismen im Bereich der Ökosystemdienstleistungen bieten. Obschon die OVP neue, dem Anthropozän angemessenere Formen von Wissenschaft und neue Beziehungsformen zwischen Menschen und Nichtmenschen eröffnen könnten, bleiben sie doch ein Experiment, dessen zukünftige Ergebnisse – ebenso wie viele andere im Anthropozän – durch einen spezifischen, politisch-ökonomischen Kontext begrenzt werden. Da wir in dieser Entwicklung noch ziemlich am Anfang stehen, ist keineswegs ausgemacht, dass es so kommt, aber wir sollten stets darauf achten, zu welchen Zwecken solche Experimente (und die Unterstützung, die sie von den Geografen erhalten) das Mittel sind. Die Übersetzung gibt eine von den Herausgeber*innen in Abstimmung mit den Autoren gekürzte Fassung wieder. Das Original ist erschienen in Transactions of the Institute British Geographers 39(2), 2014, 169–181 unter dem Titel „Wild experiments at the Oostvaardersplassen: rethinking environmentalism in the Anthropocene“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von John Wiley & Sons.

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Marginalia: Ästhetik, Ökologie und städtisches Brachland M ATTHEW G ANDY

Übersetzung aus dem Englischen von Robin Cackett „Nicht die Parks, sondern die Bahndämme sind voller Blumen.“ Richard Mabey, The unofficial countryside1 „Unsere Generation – ich wurde 1967 geboren – hat sehr klare Erinnerungen an ihre Kindheit, wie sie die heutige Jugend nicht mehr hat, weil sie die offenen Räume und die wilde Natur des terrain vague nicht mehr kennt.“ Lokalpolitischer Aktivist in Mantes-la-Jolie, Îlede-France2

Der von den marginalen Landschaften des deindustrialisierten London der frühen 1970er-Jahre angeregte Lobgesang, den der britische Schriftsteller Richard Mabey auf die Üppigkeit spontaner städtischer Natur anstimmte, verweist auf eine alternative Empfänglichkeit gegenüber der Natur, die weder einem engstirnigen Szientismus noch einer neoromantischen Verklärung einer unberührten Natur huldigt. Mabeys Beobachtungen beziehen sich auf einen heterogenen Fundus von Naturbeschreibungen, in dem sich Aspekte der Populärwissenschaft, einer

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Mabey, The unofficial countryside 1973, S. 12. Das Zitat stammt aus Pierre Carles’ Dokumentarfilm über Pierre Bourdieu „La sociologie est un sport de combat“ (2001).

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volkstümlichen Landschaftskultur und eine allgemeinere Neugierde an oder Verzauberung durch alltägliche Gegenstände und Räume verschränken. Etwa zur selben Zeit, als Mabey Deponien, Treidelpfade und andere verborgene Areale der Londoner Stadtlandschaft erkundete, studierte der französische Künstler Paul-Armand Gette die Blumenvielfalt auf den Brachen mehrerer europäischer Städte, schuf der japanische Architekt Arata Isozaki Collagen für zerfallene Städte, und stellten mehrere Teams von emsigen Botaniker*innen einige der umfassendsten Abhandlungen über urbane Flora zusammen, die bisher geschrieben wurden. Die marginalen Räume Berlins, Londons, Montreals und anderer Städte wurden zu einem Brennpunkt kultureller und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, in dem sich eine Reihe von Veränderungen wie die Entstehung neuer künstlerischer Praktiken, ein wachsendes Umweltbewusstsein und der Wandel des Charakters der Städte insgesamt spiegelten. Die Beschäftigung mit spontanen Formen von Natur in der Stadt transzendiert die rein spekulativen oder auf Nutzung bedachten Möglichkeiten solcher scheinbar leeren Räume. Indem man die Natur sowohl in kultureller wie wissenschaftlicher Hinsicht anders betrachtet, kann eine Menge von Gegendiskursen artikuliert werden, welche die vorherrschende Auffassung von Brachland als einem Raum, der einfach nur darauf wartet, beseitigt und erneut bebaut und bewirtschaftet zu werden, in Frage stellen.3 Die Beschäftigung mit dem unabhängigen Handlungsvermögen der Natur lässt die intellektuellen Bezüge zwischen den neueren Auffassungen von Stadtökologie und den philosophischen Entwicklungen in der Epistemologie der Naturwissenschaften hervortreten. Wenn man Natur als eine aktive, dynamische Größe begreift, die für die kulturellen und materiellen Charakteristika des urbanen Raums mit konstitutiv ist, dann wird deutlich, dass die Metropole nicht zu fixieren und in beträchtlichem Maße auch nicht erkennbar ist. Das englische Wort wasteland wird im Oxford English Dictionary als „leeres oder unfruchtbares Stück Land“ definiert und geht über das Französische auf das Lateinische vastus zurück, das unter anderem „unbesetzt“ oder „unbewirtschaftet“ bedeuten kann. Aber dieses im Grunde praktische Verständnis verschleiert eine poetische Grundströmung, die bereits vor T. S. Eliots 1924 veröffentlichtem Gedicht The Waste Land (Das wüste Land) in dem Ausdruck mitklang und die darauf schließen lässt, dass leere Räume eine gewisse Anziehungskraft auf die kulturelle Vorstellungswelt Europas ausüben. Das Interesse

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Zu den Studien, die den kulturellen Reichtum scheinbar „leerer“ Räume hervorheben gehören Collin 2001, Edensor 2005, Hauser 2001, Huyssen 1997, Lévesque 1999, Lizet 2010 und Till 2011.

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an der „Leere“ als einer einflussreichen wissenschaftlichen Metapher hat seit Blaise Pascals Essay von 1647 über die „Leere in der Leere“ (Pascal 1647) vielfältige architektonische und philosophische Wandlungen erfahren. Pascal beschäftigte sich mit dem klassischen Topos des Horror Vacui, der nicht nur im architektonischen Denken Wellen schlug, sondern in den ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts auch zu einem anerkannten Fokus psychoanalytischer Theoriebildung wurde. „Pascals Widerstand gegen die offene Transparenz des Rationalismus wurde als eine Möglichkeit begriffen, sowohl symbolisch wie affektiv die Mehrdeutigkeit von Schatten und Begrenzung auszunutzen, die sowohl außer- wie innerhalb der scheinbar geordneten und stabilen Strukturen der modernen Urbanität als Zeichen potentieller Störung bestehen blieb“,

wie der Architekturhistoriker Anthony Vidler (2000, 21) schreibt. Aber das Interesse an „der Leere“ ist keineswegs auf die europäischen philosophischen Traditionen beschränkt  es findet sein Gegenstück zum Beispiel in dem koreanischen Wort „gong“ (공), das die physischen und metaphysischen Konnotationen von Leere in sich vereint –, und entsprechend ist die Idee auch im Zusammenhang mit der Vermehrung „leerer Räume“, welche die städtischen und Industrielandschaften durchsetzen, immer wieder neu artikuliert worden. Ein weiterer, im Englischen häufig gebrauchter Begriff ist brownfield. Er hat einen etwas technischeren Klang, ist ebenfalls als ein Gelände definiert, das früher einmal genutzt wurde, und wird im Gegensatz zu der sattgrünen Konnotation des greenfield am Stadtrand vor allem mit Spuren industrieller Bodenverunreinigung assoziiert. Diese rhetorische Gegenüberstellung von Braun und Grün wird durch die Strukturen der Interventionen auf dem urbanen Grundstücksmarkt verstärkt, so dass die kulturellen oder politischen Konnotationen von urbanem wasteland im Detail nicht von der umfassenderen Dynamik des städtischen Wandels, der Planungsgeschichte, oder den letzten Auswüchsen urbaner Preiseskalation losgelöst werden können. Diesen im angloamerikanischen Kontext gebräuchlichen Ausdrücken können wir zum Beispiel das deutsche Wort „Brache“, das französische friche urbaine, das japanische arechi (荒れ地 oder 荒地), das chinesische fei (废) und huang-di (荒地) und das koreanische hwang-mooji (황무지) und gong-teo (공터) beifügen. Jeder dieser Ausdrücke enthält mehrdeutige Elemente. Das japanische Wort arechi, zum Beispiel, beschwört unklare Besitzverhältnisse herauf und wird in der Landvermessung als eine kartographische Kategorie benutzt, während die deutsche Brache in der Nachfolge der Debatte um schrumpfende Städte in den 1990er-Jahren größere Bedeutung erlangte.

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Die vielfältigen, manchmal überlappenden Etymologien dieser Ausdrücke strafen die Betonung auf einen allen diesen Orten gemeinsamen und, gemessen an landwirtschaftlichen, industriellen und anderen Formen ehemaliger Landnutzung, „unproduktiven“ Charakter Lügen. Es handelt sich allerdings oft auch um symbolisch bedeutsame und unbehagliche Orte, die weniger leicht zu kategorisieren oder zu identifizieren sind oder die mit bestimmten Erinnerungen verknüpft werden, Orte, die zu Ballard’schen Psychogeographien anregen oder die als Räume eines autonomen sozialen und kulturellen Lebens fungieren. Zu den alternativen Vokabeln, die sich vom Charakteristikum der Nützlichkeit zu entfernen beginnen, zählen im Englischen edgelands [Randgebiete], interim spaces [Zwischenräume], interstitial landscapes [Zwischenlandschaften] und insbesondere der Ausdruck terrain vague mit seinen Verbindungen zu einem radikalen architektonischen Diskurs.4 Dieses alternative Wörterbuch der marginalen Räume korrespondiert mit der wachsenden ökologischen Einsicht in den Wert spezifischer Formen von Biodiversität beziehungsweise in die günstigen ästhetischen Effekte der Abwesenheit von Gestaltung [non-design]. So haben beispielsweise die im Naturschutz arbeitenden Biolog*innen in neuester Zeit damit begonnen, den Ausdruck brownfields durch den Ausdruck open mosaic habitat [offenes Mosaikhabitat] zu ersetzen, um die in der Flächennutzungsplanung vorherrschenden Einstellungen gegenüber leeren Räumen durch eine stärker wissenschaftlich begründete Position zu verändern. 5 Die Anerkennung des Reichtums städtischer Biotope verdankt sich hauptsächlich den Bemühungen urbaner Umwelt- und Naturschützer*innen, die ganze Komplexität der „wilden städtischen Natur“ aufzuzeigen. Orte, die den flüchtigen Blicken von Berufspendler*innen „nutzlos“ erscheinen, können für Künstler*innen, Kinder, Filmemacher*innen und andere Entdecker*innen urbaner Welten Räume des Abenteuers, der Phantasie und der Selbsterkenntnis sein. Dieser Aufsatz beginnt mit der Frage, inwieweit die Anwesenheit von „Unkraut“ und anderen spontanen Manifestationen von Natur in Städten ein entscheidender Auslöser für die Entstehung der Stadtökologie als einem eigenen in-

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Der Ausdruck terrain vague hat vor allem nach seiner begrifflichen Ausarbeitung durch den spanischen Architekten Ignasi de Solà-Morales Rubió (1993) an Geläufigkeit gewonnen.

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Der Ausdruck open mosaic habitat wird inzwischen in Großbritannien in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Studien und auch in manchen Regierungsdokumenten wie den Biodiversity Action Plans ausgiebig an Stelle des Ausdrucks brownfields verwendet. Für einen Überblick über die jüngeren Entwicklungen in der Stadtökologie siehe Gaston 2010, Kowarik et al. 2011, Savard et al. 2000 und Wittig 2010.

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terdisziplinären Unterbereich innerhalb der biologischen Wissenschaften gewesen ist. Dann betrachten wir, wie die besonderen Eigenschaften von Brachland als Teil einer neuen Synthese von Natur und Kultur in der zeitgenössischen Stadt in alternative Konzeptionen der Stadtlandschaft eingearbeitet wurden. Als nächstes wird untersucht, ob sich eine brauchbare ästhetische Theorie der urbanen Natur entwickeln lässt, die über neoromantische Antinomien und die ontologischen Beschränkungen des begrenzten menschlichen Subjekts hinausgehen. Schließlich werden die kulturellen und symbolischen Komplexitäten von Brachland als Angelpunkt benutzt, um die ideologischen Mehrdeutigkeiten der Stadtnatur auszuloten.

S TADT

DES

U NKRAUTS

Das Interesse für die sich spontan entwickelnden Formen urbaner Natur geht auf die frühere Unterscheidung zwischen den in den Städten und ihrer Umgebung auftretenden „Wildpflanzen“ und den wesentlich auf Parks und Gärten beschränkten „Kulturpflanzen“ zurück. Zu den frühen Studien über urbane Flora zählt zum Beispiel Pitton Tourneforts 1698 veröffentlichte Abhandlung über die Pflanzen von Paris und Umgebung, die ein besonderes Gewicht auf Heilpflanzen legte. Unter Verwendung einer vor-linnéschen Nomenklatur dokumentierte Tournefort akribisch alle Pflanzen, die er finden konnte und nahm dabei auf über sechzig andere botanische Werke Bezug, so dass sein Traktat einen lebendigen Querschnitt der zeitgenössischen botanischen Wissenschaft liefert (Tournefort 1698). Das siebzehnte Jahrhundert brachte auch die ersten botanischen „Streifzüge“ durch halbwilde Gebiete in der Nähe von Städten, wie zum Beispiel die Heide von Hampstead bei London, hervor und produzierte Daten, die noch heute ökologisch und historisch signifikant sind (Fitter 1945; Sukopp 2002). Im neunzehnten Jahrhundert stoßen die Eigenheit der urbanen Natur und namentlich die botanischen Besonderheiten von Mauern und Ruinen zunehmend auf wissenschaftliches Interesse. So kompilierte beispielsweise Richard Deakin 1855 einen Band mit dem Titel The Flora of the Colosseum of Rome, in dem er 420 Pflanzenarten dokumentierte, die in der zweitausendjährigen Ruine wuchsen, darunter „einige Pflanzen, die in Westeuropa so selten sind, dass sie vielleicht als Samenkörner im Pelz von Gladiatorentieren aus Nordafrika dorthin gelangt sind“ (Mabey 2010, 219). Bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren für mehrere europäische Städte Führer durch die „wilde Stadtnatur“ erschienen, ein Umstand, der Faktoren wie die verbesserten Verkehrsverbindungen und das Aufblühen wissen-

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schaftlicher Gesellschaften widerspiegelte. Edouard Bonnets 1883 publizierter Band Petite flore parisienne beispielsweise hält die Pariser*innen dazu an, sich an der „Kenntnis der spontanen Vegetation“ zu erfreuen (Bonnet 1883, v). Es ist jedoch der Botaniker Paul Jovet vom Muséum National d’Histoire Naturelle in Paris, der gemeinhin als der erste moderne Wissenschaftler angesehen wird, der seine Aufmerksamkeit ganz der spontanen Flora der Städte widmete (siehe Jovet 1940; Lizet et al. 1997). Jovet erkannte, dass die urbane Vegetation eine besondere ökologische mélange war, die eine verwirrende Vielzahl von Pflanzen aus aller Welt umfasste, und nicht nur die bestehenden Vorstellungen über Pflanzengesellschaften auf den Kopf stellte, sondern selbst durch menschliche Einwirkung, sei es Bautätigkeit oder piétinement (Trittschäden), dauernd im Fluss blieb. Jovet führte in den 1930er- und 1940er-Jahren eine Reihe akribischer Bestandsaufnahmen städtischer Brachen durch, die für eine ganze Generation von Botaniker*innen maßgeblich waren, darunter auch Herbert Sukopp, der ab 1960 mit der Erforschung der Inselstadt Westberlin begann und bis heute die einflussreichste Figur auf diesem Feld geblieben ist. Die Untersuchungen von Sukopp und seinen Mitarbeitern am neu gegründeten Institut für Ökologie der Technischen Universität Berlin haben einige der detailliertesten Darstellungen städtischer Flora hervorgebracht, die es gibt (siehe Lachmund 2013; Sukopp 1990). Diese Untersuchungen haben nicht nur die bestehenden, von Josias BraunBlanquet und anderen ausgearbeiteten phytogeographischen botanischen Forschungsansätze umgekrempelt, sondern außerdem eine Vielzahl von sozialökologischen Einsichten über Strukturveränderungen des urbanen Raums in der Zeit hervorgebracht (Abb. 1). Die Stadtökologie als ein abgegrenztes Untergebiet der biologischen Wissenschaften hat seit den 1970er-Jahren weiter an Bedeutung gewonnen. Der Ökologe Paul Duvigneaud (1974), zum Beispiel, hat die Stadtökologie aus einer Stoffwechselperspektive beschrieben, die sowohl an organizistische Vorstellungen von den Metropolen des neunzehnten Jahrhunderts anknüpft als auch an die systemtechnischen Konzeptionen eines Abel Wolman und seiner Zeitgenoss*innen. Aber die unklare Beziehung zwischen der Wissenschaft der Stadtökologie auf der einen und der beginnenden Umweltbewegung auf der anderen Seite, offenbarte zugleich die Spannungen, die zwischen der Modellbildung über biophysikalische Prozesse und der Herstellung von Raum bestehen. Im Gegensatz zu den zuversichtlichen Äußerungen Duvigneauds über die Kohärenz der Stadtökologie als einer wissenschaftlichen Disziplin bemängelten andere Autor*innen das Fehlen einer klaren theoretischen Grundlage für die Erforschung der urbanen Natur. So stellte etwa der in Berlin arbeitende Ökologe Ludwig Trepl (1996) in einem provokanten Artikel in der Zeitschrift Capitalism, Nature, Socialism fest,

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dass die ökologischen Zusammenhänge zwischen sozialen, kulturellen und ökonomischen Prozessen trotz der beachtlichen Fortschritte, die bei der Erkenntnis biophysischer Prozesse erreicht worden seien, sich nach wie vor im Fluss befänden und sehr verwirrend seien. Gerade die Anwesenheit von Unkraut und anderen Formen von Spontanvegetation stelle, so Trepl im Rückgriff auf Adorno, eine Herausforderung an das ökologische Denken dar, das in der bürgerlichen Vorstellung von einer als Antithese zum städtischen Raum gedachten, absichtslosen Natur verwurzelt bleibe.6 Abb. 1: Chausseestraße, Berlin. Eine der typischen (inzwischen verlorenen) Stadtbrachen, wo einst die Berliner Mauer stand. (Foto: Matthew Gandy, 2009)

Während der 1990er-Jahre versammelten sich viele kritische Stimmen gegen den vorherrschenden ökologischen Diskurs um das, was später zur „städtischen politischen Ökologie“ (urban political ecology) wurde (siehe Heynen et al. 2006). Doch die Dynamik der urbanen Natur als solche bleibt in diesen neomarxisti-

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Theodor W. Adorno hat ein ähnliches Argument vorgetragen: „Noch der vom bürgerlichen Bewusstsein naiv vollzogene Richtspruch über die Hässlichkeit der von Industrie zerwühlten Landschaft trifft eine Relation, die erscheinende Naturbeherrschung dort, wo Natur den Menschen die Fassade des Unbeherrschten zukehrt“ (Adorno 1970, 76).

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schen Ansätzen relativ unterbelichtet. Gerade die entscheidenden ökologischen Einsichten in die Besonderheit des städtischen Raums und die für ihn charakteristischen Formen der Biodiversität sind bisher kaum in historisch ausgerichtete Studien zur kapitalistischen Urbanisierung eingeflossen, ja, diese unterschiedlichen, aber potentiell komplementären Forschungsfelder haben sich fast ein wenig auseinanderentwickelt (siehe Walker 2005). Die Gründe für diese Spaltung liegen sowohl auf epistemologischer wie auf ideologischer Ebene, da die verschiedenen Aspekte der materiellen „Natur“, und die sich entwickelnde wissenschaftliche Praxis der Stadtökologie, im Vergleich zur Kritik der Naturmetaphorik im urbanen Diskurs immer noch wenig ausdifferenziert sind. Ein typischer Aspekt der ökologischen Dynamik von Städten ist die wechselhafte oder immer wieder gestörte Entwicklung vieler Örtlichkeiten, die seit langem im Brennpunkt der kultur- und naturwissenschaftlichen Erforschung des städtischen Raums stehen. Diese marginalen Räume sind durch zahlreiche sogenannte „Pionierarten“ gekennzeichnet, die sich auf die Besiedelung neuer Substrate spezialisiert haben und die zu raschen und unerwarteten Veränderungen im Erscheinungsbild der Stadtlandschaften führen können. Dazu gehören etwa der als „Glanz-Rauke“ bekannte gelbblütige Kreuzblütler Sisymbrium irio, der sich nach dem Großen Feuer von 1666 in den abgebrannten Teilen Londons ausbreitete; das lilafarbene schmalblättrige Weidenröschen Epilobium angustifolium, eine unter natürlichen Bedingungen vergleichsweise seltene Art, die in den 1940er-Jahren mit einem Mal die Bombentrichter in London und anderen europäischen Orten besiedelte.7 „Stellenweise ist in Köln bei Kriegsende das Trümmergelände schon verwandelt durch das dicht auf ihm wuchernde Grün“, schreibt W. G. Sebald, und „wie ‚friedliche, ländliche Hohlwege‘ ziehen die Straßen sich durch die neue Landschaft dahin“ (Sebald 2004, 46, dabei Heinrich Böll zitierend). In Hamburg kam es im Herbst 1943 nur wenige Monate nach dem verheerenden Feuersturm, der große Teile der Stadt zerstörte, zu einer zweiten Blüte „vieler Bäume und Büsche, insbesondere der Kastanien und Fliederstauden“ (Sebald 2004, ebd.). In Sebalds Händen beschwört der Ausdruck „Naturgeschichte“ einen wirkmächtigen Zusammenhang zwischen Materialität, der Produktion von Bedeutung und den Grenzen der Darstellbarkeit herauf – also gerade jenen Elementen, die im Feld der Stadtökologie noch hervortreten müssen. Die Erforschung der natürlichen Regeneration zerstörter Orte in Städten wie Berlin, Bremen und Kiel und

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Richard Fitters erstmals 1945 erschienenes Buch London’s Natural History listet bereits 126 Pflanzenarten auf, die auf „ausgedehnten Gebieten offenen Brachlands“ gefunden wurden (Fitter 1945, 230). Siehe auch Mellor 2004.

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die Entstehung neuer ökologischer Muster und Ensembles führte auch zu einer Umgestaltung mancher Aspekte der ökologischen Wissenschaft und der wissenschaftlichen Klassifikation verschiedener Vegetationstypen (Lachmund 2003). Die Idee einer „Kulturlandschaft“ als einer erkennbaren, regional spezifischen, ästhetischen Einheit wurde dadurch unwiederbringlich überholt, was sowohl methodologische wie ideologische Konsequenzen für die Erforschung von Natur und Landschaft hatte. Die zunehmende Betonung einer kosmopolitischen Ökologie der Städte, welche die Rolle hinzugekommener oder eingeführter Arten unterstrich, beinhaltete zugleich eine Kritik an nativistischen Ansätzen in der Landschaftsplanung und an der antiurbanen Stimmung, die innerhalb der konservativen Strömungen der Umweltbewegung weit verbreitet ist. Die Spuren einer spontanen Natur gewannen eine doppelte Bedeutung, zum einen als Anzeichen eines explizit urbanen ökologischen Paradigmas, zum anderen als symbolische Indizien für die veränderlichen ideologischen Konturen in der Stadtlandschaft. So hat zum Beispiel der Geograph Gerhard Hard seine Studien zur Ruderalvegetation in der Stadt Osnabrück benutzt, um Teile seiner umfassenden Kritik der ästhetischen, epistemologischen und ideologischen Begrenztheit der bestehenden Ansätze der Landschaftsinterpretation zu untermauern (Hard 1995; 1998). Jede nähere Beschäftigung mit der ökologischen und ideologischen Komplexität gewöhnlicher Landschaften wirkt sich laut Hard nicht nur auf unser Verständnis der sozialökologischen Dynamik des Stadtraums aus, sondern unterfüttert zugleich eine umfassendere Kritik am reaktionären Erbe der geographischen Wissenschaften als solcher. Die Überschneidungen zwischen ökologischer Wissenschaft und dem Wandel der Vorstellungen über die Stadtnatur werden vielleicht am eindrücklichsten durch die Betonung von Brachland als dem Inbegriff hoher Biodiversität illustriert. Innerhalb der Stadtökologie richtet sich ein beträchtlicher Teil der Aufmerksamkeit auf Brachen als „ökologische Rückzugsgebiete“ oder „Inseln der Biodiversität“. Diese marginalen Räume werden mittlerweile als ein Teil der „ökologischen Infrastruktur“ der Stadt betrachtet, mit einer wichtigen Funktion für Hochwasserschutz, Wasserreinigung und die Abmilderung des städtischen Wärmeinseleffekts (siehe zum Beispiel Kowarik et al. 2011; Rink 2009; Savard et al. 2000). Eine umfassende Untersuchung von Industriebrachen in der Region Hauts-de-Seine im Umland von Paris hat zu Tage gebracht, dass diese Areale fast sechzig Prozent aller dokumentierten Arten enthalten – wesentlich mehr als man in Parks, Gärten und anderen typischen Beispielen für städtische „Grünräume“ vorfindet (Muratet et al. 2007). Statt klar differenzierter Vegetationszonen, wie sie von den Vordenkern der ökologischen Wissenschaft postuliert wurden, enthält die Stadt ein Geflecht an Mikro-Nischen, die sich nach Substrat, As-

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pekt, Zeitlichkeit und anderen Faktoren unterscheiden. Lineare Räume wie Straßengräben oder Bahndämme können „Ökodukte“ bilden, um diesen zuerst in einem niederländischen Kontext benutzten Ausdruck zu verwenden, Trassen, die kleinen Populationen von anfälligen Arten eine Vernetzung ermöglichen und außerdem eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung neuer Spezies spielen, sodass Pflanzen ihre Samen strahlenförmig über die Stadt ausbreiten können (Mabey 2010; Saint-Laurent 2000). Abb. 2: Flughafen Tempelhof, Berlin. Das trockene Grasland zwischen den verlassenen Landebahnen wurde zu einem wichtigen Nistplatz für die Lerche, Alauda arvensis, einen Vogel, der mittlerweile in seinen „natürlichen“ Lebensräumen – offenen, unkultivierten Feldern – in weiten Teilen Europas stark dezimiert ist. (Foto: Matthew Gandy, 2011)

Das Konzept der Biodiversität schwankt zwischen der Idee einer Diversität der Ökosysteme – die in städtischen Gebieten sehr hoch ist – und der Idee einer Diversität der Arten oder Genome. Außerdem ist die Idee der Biodiversität, wie David Takacs (1996) gezeigt hat, mindestens ebenso sehr ein Spiegel der Verstrickung unterschiedlicher kultureller und wissenschaftlicher Diskurse wie eine Repräsentation einer vermeintlich äußeren Natur. Im städtischen Kontext fällt es noch schwerer, das Konzept der Biodiversität zu bestimmen, vor allem wenn

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man es mit weiter gesteckten Zielen wie dem Erhalt seltener Arten oder bedrohter Lebensräume in Beziehung setzt. Mit anderen Worten: Wie lässt sich das Konzept der Biodiversität auf das anwenden, was Bernadette Lizet (2010) als die „gewöhnliche Natur“, die man in Städten antrifft, bezeichnet? Die Erstellung von Inventaren seltener oder bedrohter Arten zur Einflussnahme auf politische Entscheidungen geht auf die sogenannte „Rote Liste“ zurück, die 1963 vom Internationalen Naturschutzbund IUCN aufgesetzt wurde. Seither hat sich der Gebrauch Roter Listen auf unterschiedliche Ebenen des Regierungshandelns und auf eine viel größere Bandbreite an Lebensformen ausgedehnt. Seit die Erkenntnisse der Stadtökologie sich mit den wissenschaftlich gewandelten Strömungen eines urbanen Umweltschutzdiskurses verbinden, verfügt eine wachsende Zahl von Städten über eigene Rote Listen für Pflanzen, Tiere und sogar Wirbellose. Doch offenbaren diese zunehmenden Überschneidungen zugleich das Spannungsverhältnis, das zwischen der Rolle technischen Fachwissens – in diesem Fall der Stadtökologie – und den vielfach umkämpften Forderungen in den politischen Arenen der Städte besteht.

F LUX , M IMIKRI UND N ICHT -G ESTALTUNG Die wachsende Faszination für die ästhetischen und ökologischen Besonderheiten einer spontanen städtischen Natur schließt Elemente menschlicher Gestaltung oder Intentionalität nicht prinzipiell aus. Ja, die unabhängige Dynamik der Natur ist seit den 1970er-Jahren ein immer wichtigeres Element alternativer Ansätze zur Stadtplanung geworden, welche die Erhöhung der Biodiversität mit einer weniger reglementierten oder formelhaften ästhetischen Erfahrung verbinden. Während die „halbwilden“ ästhetischen Erfahrungen, die im achtzehnten Jahrhundert kreiert wurden und sich an einer Faszination für das Pittoreske zeigten, auf dem rein visuellen Simulacrum einer idealisierten Natur beruhten, geht das gegenwärtige Interesse für die Gestaltungsmöglichkeiten, welche die spontanen Formen von Natur bieten, auf eine Synthese zwischen einer städtischen „Brachlandästhetik“ und neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zurück. Das vergleichsweise schwammige, aber rhetorisch gewichtige Konzept der Biodiversität dient den neuen Ansätzen der Stadtgestaltung und einer ökologisch ausgerichteten Nutzung des städtischen Raums als Orientierungspunkt. Führende Vertreter des natural design und der Nicht-Intervention wie Gilles Clément und Louis Le Roy versuchen, im konzeptuellen Rahmen einer „gesteuerten“ Landschaftsdynamik bestimmte ästhetische oder ökologische Wirkungen zu erzielen (siehe Dagenais 2004; Gandy 2013; Woudstra 2008). Der 1986 fertig gestellte,

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innovative Irchelpark in Zürich, zum Beispiel, hat bei minimalem Mähaufwand und unter Verzicht auf den Einsatz von Herbiziden im Herzen der Stadt die Entstehung eines hohen Maßes an „halbnatürlicher“ Biodiversität begünstigt. Trotz seiner natürlichen Anmutung stellt der Park jedoch eine bis ins Detail geplante Landschaft dar, die von Fußwegen, Wasserflächen und anderen gestalterischen Elementen durchzogen ist. Viele typisch urbane Lebensräume weisen Ähnlichkeiten mit natürlichen Lebensräumen auf: In den Augen von Raubvögeln, Mauerseglern oder anderen Vögeln werden hohe Gebäude zu Felsvorsprüngen oder Bergklippen, verfallene Gebäude übernehmen für Fledermäuse und Spinnen die Rolle von Höhlen oder hohlen Bäumen, und begrünte Dächer ähneln Blumenwiesen. 8 Ob absichtslos oder geplant, sowohl horizontale wie vertikale Oberflächen können in der Stadt ein hohes Maß an Biodiversität beherbergen. In einer jüngeren Studie zu „lebenden Dächern“ benutzt Jamie Lorimer den von Deleuze inspirierten Begriff einer ökologischen „Kerbung“ (Deleuze und Guattari 1997, 657), um das spontane Aktionspotenzial der Natur mit Elementen einer erhaltungsorientierten Gestaltung zusammenzudenken. Lorimer erkennt eine „fluide Biogeographie“, in der sich eine stärker selbstreflexive Wissenschaftspraxis mit einem neuen Verständnis von Materialität im Diskurs der Stadtökologie verbindet (Lorimer 2008). Stadtbotaniker*innen interessieren sich häufig dafür, bereits in der Jugendphase der ökologischen Sukzession die Aussichten auf eine Maximierung der Biodiversität zu verbessern, was auch die Besiedlung mit ungewöhnlichen Arten oder mit Arten, die hochgradig spezialisierte Nischen verlangen, einschließt (siehe Kowarik et al. 2011; Kühn 2006). Aus einer Kombination von ästhetischen und wissenschaftlichen Gründen werden Konzepte und Verfahren wie das der „zeitlichen Schwebe“ [temporal suspension] oder der „stillgestellten Zeit“ [stilled time] eingesetzt, um manche Aspekte in Richtung eines ökologischen Wandels zu modifizieren. Die den Stadtlandschaften eigene Hybridität stellt die in Gestaltungspraktiken wie der ökologischen Restauration weit verbreitete Betonung „einheimischer“ Arten oder „authentischer“ Landschaften in Frage. Aber auf welchen historischen Bezugspunkt verweist eigentlich das Ziel einer solchen ökologischen Authentizität? Handelt es sich dabei um eine typische Kulturlandschaft, wie sie

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Die Arten, die wegen Nahrung, Zuflucht und anderen Bedürfnissen eng an menschliche Ansiedlungen gebunden oder sogar davon abhängig sind, werden als synanthropisch bezeichnet; dazu gehören neben einer Vielzahl von Schädlingen auch viele geschätzte Vögel und Insekten wie der Haussperling Passer domesticus oder die Honigbiene Apis mellifera (siehe Mc Kinney 2006).

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von Hansjörg Küster und anderen beschrieben wurde, oder um einen Naturzustand im frühen Holozän, der kaum von menschlichen Eingriffen geprägt ist, wie ihn die Anhänger einer „Wiederverwilderung“ [rewilding] heraufbeschwören? Handelt es sich um eine Intervention zum Erhalt der artenreichen Frühphasen der ökologischen Sukzession oder lediglich um die Schaffung eines anderen spezifischen Lebensraums, der im Vergleich zu traditionell bewirtschafteten „Grünflächen“ ein vielfältigeres kulturelles und wissenschaftliches Potential aufweist? Eine neuere Studie der Ufergebiete in Chicago, zum Beispiel, weist vier verschiedene historische Bezugspunkte aus, die von dem Zustand der Natur vor Ankunft der Europäer*innen in den 1830er-Jahren bis zu den neueren Umgestaltungen reichen, die in den Vorstellungen der Öffentlichkeit „natürlich“ geworden sind (Gobster 2001). Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Kulturen der Naturen mit ihrer je eigenen Kombination aus ästhetischer Empfindsamkeit und menschlicher Subjektivität entwickelt, die in einer halb-natürlichen Ästhetik gipfelten, welche mit deutlich polyvalenteren Auffassungen von öffentlicher Kultur verknüpft war. In manchen Fällen wurde städtisches Brachland in Freizeiträume mit unterschiedlichen Formen von Natur verwandelt, die von „halbwilden“ Landschaften bis hin zu stark unterhaltsbedürftigen Anteilen in Gestalt konventioneller Parks reichen. Doch diese Betonung der Multifunktionalität „optimaler Landschaften“ weist deutliche Unterschiede in Schwerpunkt und Kontext auf. Neuere Beispiele wie der Landschaftspark Duisburg Nord, der Parc André Citroën in Paris und die High Line in New York City gehen sehr unterschiedlich mit der Kontinuität zu früheren Ansätzen der Parkgestaltung um. So wurden beispielsweise in der neu geschaffenen High Line, die entlang einer stillgelegten Hochbahnstrecke durch Manhattan errichtet wurde, ästhetische Aspekte einer Spontanvegetation wiedererschaffen, indem man, als typisches ökologisches Simulacrum dessen, was sich vor der landschaftsgestalterischen Umwandlung dort angesiedelt hatte, an diesem Ort wieder Birken anpflanzte. Hier wird das „Brachland als Kunstgriff“ zu einem kulturellen Motiv, das die Immobilienspekulation befüttert und die Grenze zwischen privat und öffentlich in Form eines neopastoralen städtischen Spektakels neu zieht (Abb. 3).9

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Ich möchte Tom Baker für den Hinweis auf die „neopastorale“ Dimension der High Line danken.

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Abb. 3: The High Line, New York. Ein ökologisches Simulacrum soll an Elemente erinnern, die früher an dieser Stelle existierten. (Foto: Matthew Gandy, 2011)

Der Park wird in diesem Kontext zu einem gestalteten Naturfragment, das soziale und politische Machtverhältnisse in die Stadtlandschaft einschreibt. In selteneren Fällen werden jedoch auch die Eigenheiten verlassener Orte bewahrt, um Aspekte einer spontanen Stadtnatur zu erhalten – zu den Beispielen zählen der Flughafen Tempelhof und das Südgelände in Berlin –, aber dies sind Ausnahmefälle, denen in der Regel eine durch die Öffentlichkeit unterstützte, jahrelange, intensive politische und wissenschaftliche Lobbyarbeit vorausging (Abb. 2). Die Präsenz einer solchen „Brachlandästhetik“ zeigt, dass selbst Räume, die sich sogar biotisch oberflächlich ähnlich sind, ihre Existenz ganz unterschiedlichen Prozessen verdanken können.

D IE S UCHE

NACH EINER ÖKOLOGISCHEN

ÄSTHETIK

Aber welche Art Landschaftsästhetik wird durch die Ausrichtung auf spontane Stadtnaturräume heraufbeschworen? Brachflächen sind nicht unmittelbar erkennbare Kulturlandschaften im herkömmlichen Sinn, sondern im Verhältnis zur öffentlichen Kultur eher mangelhaft bestimmt. Ihr ästhetischer Reiz liegt ja ge-

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rade in ihrer besonderen kulturellen und wissenschaftlichen Komplexität, die wiederum Fragen zum Verhältnis zwischen Wissen und Erfahrung in der Wahrnehmung von Landschaft aufwirft. Je detaillierter und engagierter unsere Kenntnis solcher Räume  und ihrer ökologischen Dynamiken  ist, desto feiner ist unser Verständnis für deren ästhetische Charakteristika. Laut dem Philosophen Allen Carlson (1993) können wir die ästhetische Wertschätzung der Natur nicht allein auf phänomenologische oder subjektive Erfahrung zurückführen; es besteht vielmehr eine Synergie zwischen wissenschaftlichem und ästhetischem Verstehen, die unsere Wertschätzung der Natur erhöht, insofern die ästhetische Würdigung der Natur durch Fortschritte in der wissenschaftlichen Erkenntnis „fundiert und bereichert“ wird (Carlson 1995, 393). Dennoch steht die Vorstellung, dass Naturerkenntnis jahrelange Geduld und Hingabe verlangt, in einem Spannungsverhältnis zu einer Kultur der Unmittelbarkeit, in der die Wissenschaft von der Biodiversität eintönigeren Diskursen über Resilienz, Nachhaltigkeit oder andere Bereiche subsumiert wird. Wie kann kulturelle oder wissenschaftliche Komplexität unter solchen Umständen kommuniziert werden? Was geschieht, wenn die vergleichsweise autonomen Kriterien einer kulturellen oder wissenschaftlichen Evaluation mit von außen aufgenötigten Programmen zur Wissensreform in Konflikt geraten? Laut dem Soziologen Pierre Bourdieu muss man „sowohl für die jedem Avantgardismus (zwangsläufig) immanente Hermetik eintreten, als auch für die Notwendigkeit, das Hermetische aufzubrechen“, und durch angemessene Strategien für die wissenschaftliche Bereicherung des öffentlichen Raums sorgen (Bourdieu 1998, 94). Im Falle der urbanen Biodiversität fallen die spezielle wissenschaftliche Erkenntnis des Stadtraums und die Diskurse über die der Erbauung oder Erholung dienende Natur auseinander.10 Die politischen Konsequenzen werden dort offensichtlich, wo die Wissenschaft, in diesem Fall die Stadtökologie, alternative gesellschaftliche und kulturelle Diskurse über die Stadtnatur fördert und schützt, so wie archäologische oder kunsthistorische Erkenntnisse die Zerstörung angeblich esoterischer oder unbedeutender kultureller Artefakte verhindern können. Dies trifft in besonderem Maße auf die städtische Biodiversität zu, wo die bemerkenswertesten Konzentrationen an sogenannten bedrohten Arten und andere Kategorien von wissenschaft-

10 Zu den wichtigsten Ausnahmen zählen Berlins „Langer Tag der StadtNatur“, ein seit 2006 alljährlich stattfindendes, wissenschaftlich angeleitetes öffentliches Veranstaltungsprogramm der Stiftung Naturschutz Berlin; siehe www.langertagderstadt natur.de. Zum Wandel der Beziehung zwischen öffentlicher Kultur und wissenschaftlicher Praxis siehe z.B. Hinchliffe et al. 2005, Lachmund 2004, Vaquin 2006 und Wolch 2002.

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lichem Interesse gerade aus kaum erforschten Gruppen wie den aculeaten Hymenopteren (Stechimmen) oder aus anderen Lebewesen von traditionell geringem ästhetischen Reiz bestehen.11 Inwiefern erzeugt die Stadtnatur eine Reihe anderer ästhetischer Sensibilitäten als klassische Objekte der Kontemplation wie Kulturlandschaften oder Wildnis? Die Geographin Natalie Blanc (2008) fordert eine Naturästhetik, die sich aus einer gemeinsamen Sensibilität herleitet statt aus der phänomenologischen Hervorhebung individueller Erfahrungen. Für Blanc ist Naturästhetik immer schon politisch, weil sie den politischen Dialog und das öffentliche Bewusstsein für Umweltprobleme fördert. Aber wo bleiben angesichts ihrer normativen Lesart von ästhetischer Erfahrung die „nutzlosen“, unsagbaren oder esoterischeren Bereiche des kulturellen Umgangs mit Natur? Die neue Betonung einer „ökologischen Ästhetik“ ist häufig durch den Versuch einer Aussöhnung des Unvereinbaren gekennzeichnet, bei der einfach nur Erkenntnisse aus den biophysikalischen Wissenschaften auf andere Felder wie die Verhaltenspsychologie projiziert werden (siehe Daniel 2001; Ewald 2001).12 Aber in diesen naturwissenschaftlich inspirierten Reformulierungen beruht die Idee der Ästhetik auf einem kognitiven oder verhaltenswissenschaftlichen Modell der Interaktion zwischen Mensch und Landschaft, dem jede klar artikulierte Beschäftigung mit der historischen Produktion kultureller Bedeutung oder der symbolischen Resonanz von Raum im gesellschaftlichen Imaginären fehlt. Die Philosophin Cheryl Foster (1998) verfolgt einen anderen Ansatz, indem sie hervorhebt, inwiefern die sinnlichen Aspekte von Natur angesichts der auf überlieferten Vorstellungen über das kulturell Wertvolle beruhenden Dominanz des Narrativen vernachlässigt wurden. Foster beruft sich in ihrer Auseinandersetzung mit den „atmosphärischen“ Dimensionen menschlicher Erfahrung auf Autoren wie Gaston Bachelard und John Dewey. Eine stärkere Betonung der akustischen, taktilen oder olfaktorischen Textur des Raums an Stelle flüchtiger visueller Begegnungen kann das

11 Bei aculeaten Hymenopteren und anderen wärmeliebenden Insekten, die an Sanddünen und Küsten angepasst sind, hat die Forschung in Brachen oft eine große Artenvielfalt nachgewiesen (siehe z.B. Eyre et al. 2003; Gibson 1998; Kadas 2006). Für eine ausführliche Untersuchung der Diversität städtischer Lebensräume siehe zum Beispiel Filoche et al. 2006; Muratet et al. 2007; Rebele 1994; Schadek et al. 2009 und Sukopp 1990. Zum Zusammenhang von „Charisma“ und Naturschutz siehe Lorimer 2007. 12 Der Versuch, eine „ökologische Ästhetik“ zu artikulieren, ist eine Folge der allgemeinen „Ökologisierung“ der Politik durch den wachsenden Einfluss des wissenschaftlichen Diskurses auf öffentliche Entscheidungsprozesse (siehe Evans 2011).

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kritische Potential einer ästhetischen Theorie der marginalen Landschaften erweitern. Die Ästhetik der Natur muss von ihren Assoziationen mit den bestehenden An- oder Aussichten befreit werden, um der sinnlichen Versenkung in die Natur gegenüber der Einrahmung der Natur als einen Raum des Spektakels mehr Gewicht zu verleihen (siehe auch Berleant 1992). Die Betonung der Lust an der Natur wurde jüngst durch den Begriff der „vitalen Schönheit“ fortentwickelt, der auf Beobachtungen über das Leben der Pflanzen zurückgeht, die Gustav Fechner und insbesondere John Ruskin machten, um einen phänomenologischen Zugang zur Ästhetik der Natur zu eröffnen. Diese im neunzehnten Jahrhundert entwickelten Ansätze zu einer unabhängigen Naturästhetik versuchten, die Naturtheologie mit ihrer „vagen pantheistischen Verherrlichung der mystischen Kraft der Natur“ durch eine körperliche Versenkung in die natürliche Welt zu transzendieren (Frost 2012, 137). Für Ruskin war die Lebenskraft, die durch das Wachstum der Vegetation versinnbildlicht wurde, „ein seltsames Zwischenreich des Daseins“ (Frost 2012, 151, Ruskin zitierend). Diese Suche nach einem „inneren Wert“ der Natur unterscheidet sich jedoch von vitalistischen Konzeptionen des Handlungsvermögens der Natur, welche die ontologische Zentralität des begrenzten menschlichen Subjekts aufzulösen suchen. Die Natur wird gleichsam von einem humanistischen Reduktionismus befreit, damit sie, zwar durch die Brille menschlicher Intuition oder Wahrnehmung, aber dennoch in ihrer eigenen Dynamik gesehen werden kann. Henri Bergson dürfte aufgrund seiner Betonung des élan vital als einer von menschlichen Intentionen und Werten unabhängigen Struktur in dieser Hinsicht der entscheidende Denker sein (Bergson 2013 [1907]). Es ist diese innere Lebenskraft, welche die philosophische Verwandtschaftslinie von Bergson bis zu Deleuze ausmacht und neue Möglichkeiten der Deutung der materiellen Realität und eines nichtteleologischen Naturverständnisses eröffnet (Deleuze 2003 [1956]; Grosz 2005). In Bergsons Positivismus werden Unterscheidungen zwischen Ordnung und Unordnung durch die Affirmation eines materiellen Wandels ersetzt, in dem die Menschen ein integrales Element sind. Für Bergson ist Materialität an die menschliche Endlichkeit und Zeitwahrnehmung gebunden: daher auch die poetische Eloquenz, welche durch die unabhängige Dynamik der Natur hervorgebracht wird.13

13 So betont zum Beispiel Merleau-Ponty in seiner Auslegung von Bergsons Naturbegriff die poetische Dimension. „Er [Bergson (Anm. M.G.)] stellt sich sowohl gegen Berkeleys Idealismus, für den alles Repräsentation ist, wie gegen einen Realismus, der zugibt, dass das Ding eine Aseität besitzt, aber zugleich behauptet, dass diese anders sei als es scheint“ (Merleau-Ponty 2003 [1956-1960], 53). An anderer Stelle sucht

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Laut Philosoph*innen wie J. Baird Callicott bringt die anthropozentrische Betonung eines ästhetischen Wohlgefallens an der Natur eine „natürliche Ästhetik“ hervor, welche die Prioritäten des Naturschutzes von weniger spektakulären oder beeindruckenden Orten ablenkt und ästhetische Werte über ethische Werte stellt (Callicott 1992). Ganz ähnlich hat schon der Historiker Ronald Rees festgestellt, dass die weit verbreitete ästhetische Betonung „wilder“ oder abgelegener Räume letztlich dazu diene, die Beschäftigung mit „lokalen Umwelten“ und die Formulierung einer Umweltethik unter Berücksichtigung der Natur als solcher zu untergraben (Rees 1975). Die Problematik dieser Art von Kritik an einer anthropozentrischen Naturästhetik, wie sie von Callicott, Rees und anderen formuliert wird, besteht jedoch darin, dass eine brauchbare Alternative dazu nicht in der Natur als einem autonomen Bereich jenseits menschlicher Interessen zu finden ist. Die ökozentrische Position bekräftigt durch ihre Suche nach einer äußeren Quelle der „Wahrheit“ letztendlich die bestehenden Dichotomien zwischen Natur und Kultur. Diese fehlgeleitete Suche nach einer „Essenz“ der Dinge, die Richard Rorty bereits vor über dreißig Jahren beklagte, ist nach wie vor eine wichtige Grundströmung dessen, was man als „Umweltästhetik“ bezeichnen könnte, einer Ästhetik also, die im Namen einer vermeintlich autonomen Natur artikuliert wird, die als eine Art Quell der „Wahrheit“ figuriert wird (Rorty 1981). Rortys philosophischer Pragmatismus mit seinem ausgiebigen Gebrauch an Ironie weist jedoch seine eigenen Beschränkungen auf, wenn es darum geht, einen Dialog zwischen verschiedenen kulturellen und wissenschaftlichen Feldern zu ermöglichen (siehe zum Beispiel McCarthy 1990). Wenn man von einer unhintergehbaren Inkommensurabilität zwischen verschiedenen Wissensfeldern ausgeht, wird es viel schwieriger, eine ganze Bandbreite von unterschiedlichen ökologischen Argumenten zusammenzuführen. Die Möglichkeit einer „ökologischen Ästhetik“ wird durch das Fehlen einer notwendigen Beziehung zwischen dem „landschaftlich Reizvollen“ oder anderen Formen ästhetischen Genusses auf der einen und dem ökologisch Sinnvollen auf der anderen Seite kompliziert (Gobster et al. 2007). Oder wie der Botaniker Nick Bertrand pointiert meint: „Ästhetik hat mit Umweltschutz nichts zu schaffen.“ 14 Ein verwesender Kadaver mit aberhunderten von Maden ist zwar ein integraler Bestandteil der Ökologie, wird aber gewöhnlich nicht für eine ästhetische Erfahrung gehalten, die in irgendeiner Beziehung zur Kultur der Natur als einer Quelle

Merleau-Ponty (1966 [1945]) seine „phänomenologische Psychologie“ von dem zu unterscheiden, was er Bergsons „introspektive Psychologie“ nennt. 14 So der Botaniker Nick Bertrand in einem Gespräch mit dem Autor im Creekside Centre, London, am 13. November 2011.

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ästhetischen Genusses stünde (siehe Saito 1998). Im Lauf der Zeit können allerdings auch scheinbar unvereinbare Elemente der Stadtnatur wie umgestürzte Bäume oder moderndes Holz zu einem Bestandteil einer wissenschaftlich angereicherten öffentlichen Kultur werden, welche der Förderung von Biodiversität in der Stadtplanung eine breitere Geltung verschafft. Desgleichen gibt es Aspekte des ökologischen Wandels, die zeitlich, räumlich oder aufgrund ihrer Größe außerhalb der Reichweite menschlicher Wahrnehmung liegen: Die Dimensionen unserer Naturerfahrung sind notwendig begrenzt, zum Teil vorgegeben und offen für vielerlei Deutungen.

R ÄUME

DER

AMBIVALENZ

Die ästhetischen Merkmale spontan entstehender Stadtnaturräume rufen komplizierte Assoziationen wach, da diese Räume sowohl Orte des Unbehagens als auch der Freiheit und des schöpferischen Ausdrucks sein können. Die Vielfalt der kulturellen Reaktionen auf wastelands und Industriebrachen ist zum Teil der Unterschiedlichkeit dieser Orte und ihrer Ursprünge geschuldet: Während manche Räume sich spontan an vermeintlich „leeren“ Orten entwickelt haben, sind andere aus der Vernachlässigung oder Aufgabe ehedem gepflegter Räume wie Rasenflächen, Parks oder anderen abgewirtschafteten Überbleibseln planvoller Naturlandschaften hervorgegangen. Diese vernachlässigten Räume spiegeln das spätkapitalistische Auseinandertreten von Landschaftsplanung und kapitalistischer Urbanisierung wider, da gerade die öffentlichen Parks besonders stark von der staatlichen Finanzkrise seit den 1970er-Jahren betroffen waren. Arbeitsintensive, kommunale Landschaften gehen historisch auf die Reformulierung der großstädtischen Naturlandschaft im neunzehnten Jahrhundert zurück, die neue Entwicklungen in der Landschaftsgestaltung, Verbesserungen der Infrastruktur, rechtliche Zonierungen und biopolitische Eingriffe im Bereich der öffentlichen Gesundheit umfasste.15 Die verstärkte Kontrolle des „Unkrauts“ und die Vereinheitlichung der Stadtnatur bilden Elemente dieser besonderen Verschränkung

15 In großen Teilen Londons wurden die städtischen Spezialist*innenteams, die sich um die Baumpflege kümmerten, seit den 1980er-Jahren entweder teilweise oder ganz entlassen, was zu einem großen Verlust an Fachkenntnis in der Baumkultivierung und zur Schädigung und zum vorzeitigen Absterben vieler Stadtbäume mit langfristigen Folgen für den Charakter der städtischen Grünflächen führte; Russell Miller, Baumpfleger und Vorsitzender von Sustainable Hackney, in einer E-Mail an den Autor vom 16. Dezember 2011.

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von Natur, Wissenschaft und Gesellschaft, die ihren Höhepunkt Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erreichte. Die teilweise Auflösung dieser Verschränkung hat Folgen für die Planung, den Unterhalt und die Bedeutung städtischer Landschaften, während gleichzeitig in Nordamerika und andernorts die Rasenflächen und Vorgärten in den Vororten einer verschärften Kontrolle durch sogenannte „Unkrautverordnungen“ unterworfen werden (siehe Feagan und Ripmeester 1999; Valverde 2008). Es scheint, als gäbe es eine zunehmende Divergenz zwischen Landschaften, die einer schärferen Kontrolle (und Überwachung) unterliegen, und neuen Formen von „lockeren Räumen“, in denen ein höheres Maß an ästhetischer, biotischer oder sozialer Heterogenität geduldet oder sogar ermutigt wird (siehe Franck und Stevens 2007). Es gibt in der Ästhetik der spontanen Natur eine „unbestimmte“ Dimension, die ein größeres Maß an Bereitschaft zu Phantasie und Reflexion erfordert als bei den herkömmlichen Komponenten der Großstadtnatur. Diese spontanen Räume sind durch eine Mannigfaltigkeit „ästhetischer Welten“ charakterisiert, die für die Heterogenität des städtischen Raums und die Auflösung einer imaginären „Einheitslandschaft“ zentral sind (Nohl 2001, 224). Die moderne Landschaftsforschung ist gekennzeichnet durch eine Spannung zwischen einerseits dem Impuls zu einer an Mustern orientierten Analyse, welche die kulturellen und historischen Aspekte menschlicher Erfahrung tendenziell herunterspielt, und andererseits den überlieferten Vorstellungen von „Landschaftsindikatoren“ und anderen ideologisch aufgeladenen Bestimmungen von Kulturlandschaften (siehe Cosgrove 1985; Hard 1985). Die jüngste Neufassung des Erhabenen, die sich an der „technologischen Erhabenheit“ im Verhältnis zu Stadt- oder Industrielandschaften orientiert, ist schwer von neoromantischen Auffassungen zu unterscheiden, welche die ästhetische Desorientierung als kulturellen Gegensatz zur Schönheit begreifen. Diese ästhetischen Formulierungen bauen darauf, dass die durch Marginalität oder technologischen Exzess gekennzeichneten zeitgenössischen Landschaften die Fähigkeit besitzen, menschliche Betrachter*innen zu beunruhigen oder zu überwältigen. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde der Ausdruck „Neoromantik“ zur Bezeichnung einer Mischung aus einem für das achtzehnte oder neunzehnte Jahrhundert typischen Interesse an Ehrfurcht gebietenden Landschaften auf der einen und der moderneren Beschäftigung mit psychischem Unbehagen oder Entfremdungsgefühlen auf der anderen Seite. 16 Was den Stadtraum anbelangt, ersetzt das Erhabene im Grunde jedoch die Ökologie durch Ästhetik: ihm wohnt eine immanente Spektakularisierung der Stadtlandschaft

16 Der Ausdruck „Neoromantik“ wird vor allem in der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft verwendet; siehe zum Beispiel Mellor 1987.

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inne, die sich weit von taktilen oder direkten Formen kultureller oder wissenschaftlicher Praxis entfernt. Sich der neoromantischen Ästhetisierung des Raums entledigen, heißt, ihre Produktion zu demystifizieren und ein anderes ästhetisches Register einzuführen, das sein Maß an der menschlichen Erfahrung gewinnt. Verlassene Stadtlandschaften sind immer wieder als Traumorte bewundert und verehrt worden. So werden zum Beispiel in Patrick Kiellers Film Robinson in Ruins (2010) oder in Chris Petits in Kooperation mit dem Schriftsteller Iain Sinclair entstandenem London Orbital (2002) marginale Landschaften Londons als fremdartig und rätselhaft dargestellt. In Kiellers Robinson in Ruins folgt die (von Vanessa Redgrave gesprochene) Erzählerin dem Namensgeber auf seiner Suche nach „marginalen und versteckten Orten“. Robinson leidet, wie uns mitgeteilt wird, an einer nicht näher spezifizierten „Krankheit“, von der er sich befreit, indem er „auf seinen Reisen zu Orten von wissenschaftlichem und historischem Interesse malerische Ansichten“ kreiert. Die Vergrößerung eines Straßenschilds aus Aluminium zeigt eine durch Flechten verkrustete Struktur von Zelloberflächen und andere Lebensspuren, die das Vertraute rätselhaft erscheinen lassen. Die weitestgehend verlassenen Lokalitäten gemahnen an Science-FictionSzenarien, in denen die moderne Welt einer neuen Wildnis anheimgefallen ist. Es gibt eine fast mystische Neigung zur Enthüllung immer neuer Bedeutungsschichten oder gespenstischer Spuren kollektiver Erinnerung. Auch die Städte des nordamerikanischen Rust Belt sind neuerdings ins Blickfeld der Neoromantiker geraten – insbesondere in den fotografischen Darstellungen von Yves Marchand und Romain Meffre, in denen auf unheimliche Weise die Repräsentationen städtischer Ruinen nach den Rasseunruhen von 1943 anklingen (siehe Falck 2010). Diese Darstellungen verbergen jedoch die bedeutsamen Verschiebungen der Klassen-, Geschlechter- und ethnischen Verhältnisse zwischen den „verlassenen“ Räumen, denen wir in der Figur des spätmodernen Flaneurs oder des männlichen Wanderers begegnen, und jenen ausgesonderten Gemeinden in den marginalen Räumen zeitgenössischer Großstädte. Damit soll nicht behauptet werden, dass ästhetische Interaktionen mit den verschiedenen Formen von Brachland notwendigerweise geschlechtsabhängig seien – zumindest nicht in einem essentialistischen Sinn –, es sollen lediglich die je besonderen Kontexte hervorgehoben werden, in denen man ihnen begegnet (siehe Wilson 1992). Obschon das Brachland oft eine gewisse Ambivalenz hervorruft, hat seine „kulturelle Formbarkeit“ seine Überführung in das erleichtert, was der Umweltschützer Oliver Gilbert als „städtische Allmende“ [urban commons] bezeichnet (Gilbert 1992; Jorgensen und Tylecote 2007). Diese politisch aufgeladene, ökologische Formel weitet das „Recht auf Natur“ über die Anlage von Stadtparks

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oder eine Lefebvre’sche Konzeption des öffentlichen Raums hinaus aus, um einen wesentlich breiter definierten Bereich an kulturellen und wissenschaftlichen Vorstellungen zu umgreifen. Diese volksnahen Räume einer „neuen Wildnis“ verdichten sich außerdem häufig in genau jenen Gebieten, die den geringsten Zugang zu formaleren Elementen einer gestalteten Natur haben (siehe Franz et al. 2008; Keil 2005). In Andrea Arnolds Film Fish Tank (2009) begegnen wir dem Kontrast zwischen den trostlosen Landschaften am östlichen Rand Londons und einem außergewöhnlichen Zwischenspiel, in dessen Mittelpunkt der Besuch in einem eingezäunten Gebiet urwüchsiger Natur an einem See steht: einen kurzen Augenblick lang verweilt die Kamera bei einer auf einem Riedgras sitzenden, blauen Libelle, Enallagma cyathigerum – ein häufig von Arnold verwendetes entomologisches Motiv, das dazu dient, ein Moment der Verwunderung bei ihren filmischen Protagonist*innen einzuführen. Fish Tank erinnert uns daran, dass marginale Räume wie städtische und industrielle Brachen ein fundamentales Element der öffentlichen Kultur gerade der ärmsten städtischen Gemeinschaften sind – eine Assoziation, die durch die eingangs zitierten Kindheitserinnerungen des Lokalaktivisten aus dem französischen Banlieue bestätigt wird. Die mehrdeutigen Verbindungen zwischen Natur, Wissenschaft und öffentlicher Kultur standen im Zentrum einer Vielzahl von kulturellen Interventionen seit den 1970er-Jahren. In den Fotografien, welche zum Beispiel die katalanische Künstlerin Lara Almarcegui von marginalen Räumen gemacht hat, wird explizit eine Verknüpfung zwischen dem Begriff des terrain vague und der Verteidigung das Raums gegen die „Exzesse der Architektur“ hergestellt. 17 Ihr ergreifendes Foto mit dem Titel To open a wasteland, Brussels (2000) zeigt im Vordergrund die verschwommene Gestalt eines Kindes, das in den neu eröffneten Raum stürmt (Abb. 4). In diesen Augenblicken wird die genaue Beobachtung oder „das botanische Auge“ zu einer besonderen Form von kulturnaturwissenschaftlicher Praxis, die neue Einsichten in die Produktion von Raum und die oft willkürliche Zuschreibung kulturellen oder ökonomischen Werts zum Vorschein bringt. Wir können uns auf den „botanisierenden“ Impuls von Walter Benjamin berufen, der selbst ein äußerst aufmerksamer Beobachter der Stadtnatur war, um dem Flanieren in der Stadt eine alternative Dimension abzugewinnen, welche die psychogeografische Sackgasse der neoromantischen Distanziertheit und die spätmoderne Männlichkeitsmalaise vermeidet.18 Die fantasievollen Interventionen der Künst-

17 Lara Almarcegui, Vortrag auf der Tagung Art and Environment, Tate Britain, London, 30. Juni 2010. 18 Walter Benjamin beispielsweise beschreibt das Vorgehen des „modernen Flaneurs als Botanisieren auf dem Asphalt“ und zieht Verbindungslinien zwischen Naturgeschich-

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ler*innen, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen gemahnen uns daran, dass eine radikale kulturelle und politische Praxis auch darin bestehen kann, das Vertraute auf unvertraute Art und Weise zu betrachten, zu denken und darzustellen. Abb. 4: To open a wasteland, Brussels. (Foto: Lara Almarcegui, 2000). Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Städtische Brachen bringen das gewohnte Terrain kultureller Landschaften, gestalteter Räume und die Organisationslogik der Moderne durcheinander. Ein Großteil des uns zur Verfügung stehenden begrifflichen Vokabulars ist entweder auf idealisierte Landschaften – mit oder ohne menschliches Zutun – ausgerichtet oder geht auf die neoromantische oder phänomenologische Voreingenommenheit für die ästhetische Erfahrung des begrenzten menschlichen Subjekts zurück. Indem man marginale Räume als eine lebendige Dimension des urbanen Lebens

te und „poetischer Vorstellungskraft“ (Benjamin 1974 [1938], 68). Seine Kindheitserinnerungen an die Stadtnatur in Berlin finden sich in Benjamin 2001 [1932-38]; siehe auch Clark 2000.

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begreift, führt man eine andere Art von Komplexität in die sozialökologischen Stadtlandschaften ein, bei der Fragen des Zugangs, der Planung und des Landbesitzes in einem radikalen Gegensatz zu aufbegehrenden kulturellen und wissenschaftlichen Praxen stehen. Die Anerkennung eines terrain vague im öffentlichen Raum eröffnet Möglichkeiten einer kulturellen und wissenschaftlichen Autonomie, welche die bürgerlichen Naturvorstellungen auf den Kopf stellen oder stören. Aber was ist in einem städtischen Kontext überhaupt „Natur“? Die Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem „Unnatürlichen“ im Sinne der Landschaftsästhetik ist historisch produziert: Indem Marx sich über Feuerbachs Wahrnehmung des Kirschbaums als eines „natürlichen“ Merkmals deutscher Landschaft lustig macht, stellt er zugleich die Begrenztheit des philosophischen Idealismus in Frage (Marx 1969 [1845-46], 43). Eine materialistische Interpretation der Stadtlandschaft macht zwar die Verbindungen zwischen Ästhetik und der historischen Produktion von Raum explizit, sie weist jedoch auch ihre eigenen Leerstellen und Begrenzungen auf, wo es um die Interpretation der menschlichen Subjektivität und das kommunikative Ethos hinter den allgemein geteilten Stadtnaturkulturen geht. Der Ausdruck „Biodiversität“ besitzt als eine kulturelle Konstruktion von Natur im städtischen Kontext eine ähnliche Vieldeutigkeit. Obwohl Städte ein hohes Maß an Biodiversität aufweisen – das manchmal größer ist als in ihrer unmittelbaren Umgebung –, wird die Beziehung zwischen Stadt und Natur in einem umfassenderen analytischen Rahmen problematisch. Die Verstädterung ist auf globaler Ebene eine der Hauptursachen für die Zerstörung von Lebensräumen, so dass jede Hervorhebung der urbanen Biodiversität in größerem Zusammenhang gesehen werden muss: Das Paradox besteht darin, dass einem zunehmenden Maß an regionaler Biodiversität in Verbindung mit einer wachsenden Vielfalt in den städtischen ökologischen Ensembles auf der einen Seite eine schrumpfende globale Biodiversität und ein sich beschleunigendes Aussterben regionaler, bedrohter oder auch erst noch zu beschreibender Arten in den weniger gefährdeten Typen von Lebensräumen auf der anderen Seite entgegensteht (McKinney 2006). Indem wir eine Unterscheidung zwischen städtisch/urban und „nichtstädtisch/nichturban“ treffen, müssen wir uns davor hüten, die Stadt als abgegrenzte Einheit zu fetischisieren, denn der Prozess der Urbanisierung ist zunehmend ubiquitär und umfasst längst auch Räume, die weit außerhalb der Verwaltungsgrenzen der Metropolen liegen. Die Betonung eines „ökologischen Kosmopolitismus“ im Sinne einer lebendigen Konzentration globaler Biodiversität in den Städten ist eine zweischneidige Sache: Während man damit einerseits die Vielfalt und Vitalität städtischer

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Ökosysteme hervorhebt, läuft man andererseits Gefahr, die umfassenderen ökologischen Konsequenzen der Verstädterung herunterzuspielen. Der pejorative Gebrauch, den der Ökologe Charles Elton in den späten 1950er-Jahren von dem Ausdruck „kosmopolitisch“ machte, verweist auf die ideologischen Spannungen, die die Geschichte der ökologischen Bewegung bis heute durchziehen (Clark 2002). Die meisten zeitgenössischen Ökolog*innen gehen von einem Spektrum unterschiedlicher „Invasivität“ aus, das von rein wissenschaftlichen Kuriositäten bis zu realen Bedrohungen bestehender Ökosysteme reicht (Kowarik 2003). Für Uta Eser (1999) bleibt das entscheidende Problem jedoch das weitgehende Fehlen jeder kritischen Reflexion im ökologischen Diskurs, was die „Politik der Neophyten“ mindestens ebenso sehr zu einer Frage der Epistemologie wie zu einer praktischen Herausforderung für den Naturschutz macht (siehe Subramaniam in diesem Band). Welche Folgen hat der Aufstieg der ökologischen Wissenschaft im städtischen Diskurs? Kann die Stadtökologie die öffentliche Kultur auf ihre eigene Weise bereichern und zugleich die verschiedenen epistemologischen Auslassungen vermeiden, an denen frühere Ansätze zu einem sozialökologischen Verständnis des städtischen Raums krankten? Der Niedergang dessen, was Karl Zimmerer (1994, 111) als „ahistorische Systemökologie“ bezeichnet, hat das analytische Interesse auf die Dynamik und Heterogenität biophysischer Systeme verschoben (siehe auch Zimmerer 2000). Führende Stadtökolog*innen wie Marina Alberti, John Marzluff und Steward Pickett (2003) haben ein „neues ökologisches Paradigma“ gefordert, das die „menschliche Dimension“ unmittelbar in den ökologischen Prozess integriert. All diese Reformulierungen durchzieht jedoch eine fortgesetzte Unsicherheit hinsichtlich der analytischen Reichweite der zeitgenössischen Ökologie im Verhältnis zu den besonderen kulturellen, historischen und materiellen Dimensionen der Verstädterung. Trotz der ehrgeizigen Vorsätze einer „angewandten Ökologie“ in der Nachfolge von Rio, das ganze Universum der sozialen und ökologischen Prozesse zu erforschen, gibt es bis heute keine wissenschaftliche Grundlage für ein einheitliches sozialökologisches Modell der Stadtforschung (Evans 2011). Obschon mittlerweile eine ganze Bandbreite von Untersuchungen zur Stadtnatur durchgeführt wurden, bleibt unser derzeitiges Wissen über viele Städte, in denen der Zustand der nichtmenschlichen Natur besonders prekär beziehungsweise schlecht erforscht ist, äußerst lückenhaft. Und innerhalb des Feldes der Stadtökologie selbst besteht die Sorge, dass die Vorherrschaft beobachtender Forschung Gefahr läuft, die ökologische Forschung von den wichtigsten Entwicklungen in den biophysikalischen Wissenschaften auszuschließen, die sich in wachsendem Maße mit molekularen oder gar submolekularen Analysen beschäftigen (Gaston 2010). Die „Molekulari-

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sierung“ der Lebenswissenschaften hat analytische und methodologische Folgen für die Ökologie als einer „Feldforschungswissenschaft“ und ist vielleicht der Vorbote einer neuen Phase der Distanzierung von wissenschaftlicher Praxis und öffentlicher Kultur. Aber warum sollen uns städtische wastelands überhaupt interessieren? Was steht kulturell, politisch oder wissenschaftlich auf dem Spiel, wenn wir uns für deren Anerkennung oder Schutz einsetzen? Wir haben gesehen, dass diese spontanen Manifestationen der Stadtnatur mit einer Reihe von kulturellen und wissenschaftlichen Diskursen zusammenhängen, aber die politischen Implikationen dieser marginalen Räume sind nur zum Teil erforscht. Die Förderung städtischer Biodiversität hat Konsequenzen für die Entwicklung einer wissenschaftlich bereicherten Öffentlichkeit, die durch eine größere Affinität zum nichtmenschlichen Leben in den Städten und zu neuen Formen der Wissensproduktion gekennzeichnet ist. Eine eingehendere Beschäftigung mit der sozialökologischen Dynamik des städtischen Raums dürfte darüber hinaus helfen, manche der ideologisch undurchsichtigeren Aspekte der städtischen Arena als solcher aufzuhellen. Wir haben in diesem Aufsatz einige mögliche Schnittstellen zwischen Stadtökologie und anderen kulturellen Feldern betrachtet, die zusammengenommen eine wirkungsvollere Alternative zu den vorherrschenden funktionalistischen und utilitaristischen Perspektiven auf marginale Räume spontaner Natur abgeben können. Brachflächen stehen in einem dynamischen Spannungsverhältnis zur menschlichen Intentionalität, gleichgültig ob es um ihre Bewahrung – die Verlangsamung der Zeit – oder ihre Beseitigung zugunsten von Neuem geht. Als Orte der Entdeckung und des Experiments stellen diese Brachen auch unsere einheitlichen Vorstellungen von „Kulturlandschaft“ und andere ideologische Motive, die unser zeitgenössisches Denken durchdringen, in Frage. Diese marginalen Orte spontaner Natur ermöglichen eine kulturelle und wissenschaftliche Erkundung der Stadt, die in einem Gegensatz zum Großteil des nach außen gerichteten Umweltdiskurses steht, der sich nur allzu oft um Räume und Orte dreht, die anderswo liegen. Aber vor allem sind solche Brachen in kulturellem wie materiellem und politischem Sinn „Inseln“, die den utilitaristischen Impetus der kapitalistischen Verstädterung sowohl ideologisch wie praktisch in Frage stellen. Der „immanente Wert“ des vermeintlich Nutzlosen ist ebenso sehr eine politische wie eine ästhetische oder wissenschaftliche Frage. Die Übersetzung gibt eine von den Herausgeber*innen in Abstimmung mit dem Autor leicht gekürzte Fassung wieder. Das Original ist erschienen in Annals of the Association of American Geographers 103(6), 2013, 1301–1316 unter dem

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(2) Praktiken der Klassifizierung

Meine Experimente mit der Wahrheit Untersuchungen zur Biologie der Invasionen 1 B ANU S UBRAMANIAM

Übersetzung aus dem Englischen von Jennifer Sophia Theodor „Die Wahrheit wird dich befreien, aber zuerst macht sie dich wütend.“ Gloria Steinem in einer Preisrede, 2005 „So schwierig das auch ist, wage ich es, auf der Suche nach der Wirklichkeit meinen eigenen Weg zu gehen, anstatt den ratternden Zug der Wunschillusionen zu besteigen.“ Zora Neale Hurston, ‚Letter to Countee Cullen‘, 1943

In den letzten drei Jahrzehnten haben feministische Wissenschaftler*innen ausführlich aufgezeigt, dass entscheidende gesellschaftliche Kategorien wie Geschlecht, Rassifizierung, Klasse, Sexualität und Nationalität untrennbar mit den Wissenschaften und ihrer Erforschung von Natur verknüpft sind. Die Naturwis-

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Zu diesem Kapitel merkt Subramaniam an: Ich formuliere diese Kapitelüberschrift mit angebrachter Entschuldigung an M.K. Ghandhis The Story of My Experiments With Truth. Als experimentelle Biologin konnte ich nicht widerstehen! Diese Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium des NSF im Rahmen des Projekts „Impact of Soil Communities on Invasive Plant Species in Southern California“. Anm. J.T.: In dieser Übersetzung wird „experiment/s“ als „Experiment/e“ und als „Versuch/e“ übersetzt.

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senschaften spielten eine zentrale Rolle in der Entstehung dieser Kategorien, die wiederum die Naturwissenschaften geprägt haben. Die Bemühung, dies herauszustellen, war in großen Teilen historisch orientiert. Wenn gesellschaftliche und politische Faktoren in der Vergangenheit immer wichtig für die Naturwissenschaften gewesen sind, dann müssen sie das doch sicherlich auch für die Naturwissenschaften der Gegenwart sein? Wenn die Geschichte der Naturwissenschaften uns lehrt, dass diese immer gesellschaftlich eingebettet waren, dann sind sie das doch sicherlich weiterhin? Wie praktizieren wir Naturwissenschaften – im Wissen um diese Tatsache? Das heißt, wie untersuchen wir die Biologie der NaturenKulturen? Wie ich im vierten Kapitel meines Buches Ghost Stories for Darwin (Subramaniam 2014) aufzeige, dem dieser Aufsatz nachfolgt, ist die Invasionsbiologie als Forschungsfeld zutiefst in ihrer politischen und kulturellen Zeit verankert. Dort zeige ich, dass es sich dabei nicht um ein monolithisches Feld handelt. Die Welt der Naturwissenschaften debattiert weiterhin über die Konzepte und Interpretationen heimischer und fremder biologischer Arten sowie darüber, welche Rolle sie für unsere Umwelt spielen (Hattingh 2011; Larson 2007a). Was würde es bedeuten, feministische Naturwissenschafts- und Technikforschung in der naturwissenschaftlichen Praxis zu betreiben? Dieses Projekt hat mich beschäftigt: die historischen, soziologischen, rhetorischen und philosophischen Einsichten der kulturwissenschaftlichen und feministischen Naturwissenschaftsforschung in den Praktiken der experimentellen Biologie anzuwenden. In diesem Projekt kamen die Naturwissenschaften und die gesellschaftswissenschaftliche Wissenschaftsforschung, die Geisteswissenschaften und die Biologie miteinander ins Gespräch, um gemeinsam Wissen über die natürliche Welt zu produzieren. Ich meinte, in der Erkundung der Biologie der pflanzlichen Invasionen das perfekte Projekt gefunden zu haben. Dieses Kapitel stellt beispielhaft vor, wie wir mit einem interdisziplinären Repertoire an Forschungsfragen, Methoden und Epistemologien experimentieren können, um Wissen über die biologische Welt zu schaffen – ein Experiment über das Experimentieren! Die Experimente in diesem Aufsatz nehmen biologische Invasionen in den Blick. In meinem Buch habe ich gezeigt, dass es einen beachtlichen Hype und regelrecht Panik um invasive Pflanzenarten gibt. Der Alarm wird hinsichtlich der fremden „Identität“ und der Ursprünge der Pflanzenarten formuliert, nicht bezüglich der Ökologien oder Umwelten der Invasion. Der Blick fällt also auf die invasive Pflanze anstatt auf die Zerstörung der lokalen Ökologien. Die Reaktion dreht sich somit darum, die störenden Arten zu identifizieren und zu vernichten. Zum Beispiel führen Umweltorganisationen ganze Nachbarschaften auf Wochenendeinsätze, um die schädlichen Arten auszurupfen. Verbreitete Vorstellun-

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gen von Pflanzenarten neigen dazu, Organismen zu personifizieren und in aufsehenerregende Konzepte von guten heimischen und bösen fremden Arten einzuteilen. Wenn auch weniger aufsehenerregend und kategorisch, durchdringen dieselben Vorstellungen auch naturwissenschaftliche Arbeiten sowie die Ansichten einiger Wissenschaftler*innen. Die vorliegenden Experimente zur Biologie der Invasionen entwickelten sich entlang meines zunehmenden Verständnisses der wachsenden Zahl von Kritiken und alternativen Visionen der Invasionsbiologie, die in den letzten Jahrzehnten aufgekommen sind (Brown und Sax 2004; 2005; Calautti und MacIsaac 2004; Chew und Hamilton 2011; Coates 2003; 2006; Davis 2009; Davis et al. 2011; Gobster 2005; Hattingh 2011; Larson 2007b; Sagoff 2000; 2005; Slobodkin 2001; Subramaniam 2001; Theodoropoulos 2003; Townsend 2005; Warren 2007). Während einige Biolog*innen weiterhin in der Tradition stehen, die Menschen als außerhalb der Natur betrachtet, haben andere hart daran gearbeitet, Menschen in der natürlichen Welt einzubetten und die Welten der Naturwissenschaften und der Gesellschaft zu überbrücken (Bradshaw und Bekoff 2001; Dietz und Stern 1998; Odum 1997; De Laplante 2004). Trotz der heftigen Töne vieler Biolog*innen war sogar Charles Elton, der oft als Vater der Invasionsbiologie erachtet wird, in seinen Ansichten eher moderat: „Ich glaube, dass Naturschutz bedeuten sollte, die Landschaft der größtmöglichen ökologischen Vielfalt zu erhalten oder einzupflanzen – in der Welt, auf allen Kontinenten oder Inseln und soweit es in der jeweiligen Region praktizierbar ist. Sofern gegeben ist, dass die heimischen Arten ihren Platz haben, sehe ich keinen Grund, warum der Wiederaufbau von Gemeinschaften, um sie reichhaltig und interessant und stabil zu machen, nicht eine sorgfältige Auswahl exotischer Formen beinhalten sollte, besonders da viele von ihnen ohnehin zu gegebener Zeit ankommen und eine Nische besetzen werden.“ (Elton 1958, 155)

Für die von uns unternommenen Versuche war es besonders wichtig, eine Möglichkeit zu finden, naturkulturell zu denken. In Südkalifornien, wo das Projekt verortet war, hat die menschenverursachte Störung von Ökosystemen eine sehr lange und destruktive Geschichte. Die Weidewirtschaft hat die Landschaft über die Jahrhunderte beträchtlich verändert. In einem Bundesstaat mit langen Geschichten der biotischen Migration sind Fragen darüber, was als heimisch und was als exotisch zählt, besonders und zutiefst belastet. Wie können wir uns über die Vorstellungen einer malerischen „Natur“ hinausbewegen, die wir künstlich aufrechterhalten? Wie verstehen wir die Spezies Mensch als Teil von Natur, in all ihren Verschiebungen und Evolutionen? Ich habe begonnen, dies als wichtige

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Fragen zu erachten, die Biolog*innen in der Entwicklung experimenteller Forschung anleiten können. Ist es möglich, exotische und heimische Pflanzen zu charakterisieren? Teilen sie gemeinsame lebensgeschichtliche Rahmenbedingungen und ökologische Merkmale? Wie heterogen und divers sind die Arten innerhalb dieser Kategorien? Wie statisch und ko-evolutionär haben sich heimische Gemeinschaften überhaupt entwickelt? In welcher Beziehung stehen Pflanzen und ihre Bodengemeinschaften und welchen Einfluss haben exotische Pflanzen auf diese? Zerstören oder schwächen sie diese Gemeinschaften? Als Ökolog*innen können wir diese Theorien testen, wir können intervenieren und am nationalen Diskurs teilhaben – nicht nur über exotische Pflanzen, sondern auch über Einwanderung und gesellschaftliche Beziehungen im Kontext von Rassismus. Wie wir gesehen haben, ist die binäre Formel von Natur/Kultur sorgfältig kritisiert worden (Demerritt 1998; Valentine 2004). Unsere Definitionen dessen, was natürlich/unnatürlich, unberührt/geschwächt oder echt/künstlich ist, bleiben willkürlich, uneindeutig, umstritten und unklar. Sie sind schlechte Grundlagen für biologische und Umweltpolitiken. Und dennoch bleibt die enorme Macht in den binären Erzählbildern erhalten, die das ökologische Denken prägen. Trotz der Kritiken bleibt die binäre Schwarz/Weiß-Vorstellung bestehen und „entfacht unsere Leidenschaften, aber verdunkelt unsere Sicht“ (Cronon 1996b, 39). Das eigentliche Problem ist, dass eine solche Sichtweise uns schließlich „zur falschen Natur“ zurückführt (Cronon 1996a, 69). Wichtiger ist noch, dass diese Formulierungen nicht nur unsere Sprache geformt haben, sondern auch die Theorien und die Disziplin der Ökologie. Als das Feld der Invasionsbiologie in den 1980er-Jahren im Rahmen des SCOPE (Scientific Committee on Problems of the Environment) entstand, kamen die meisten der beteiligten Biolog*innen aus der Ökologie, besonders aus der Ökologie der Lebensgemeinschaften [community ecology] (Davis 2011). Daraus folgte, dass die Invasionsbiologie sich als ein disziplinärer Sprössling der Ökologie entwickelte und noch immer von den Nischentheorien von MacArthur und Hutchinson dominiert wird. In ihren frühen Jahren wurden deterministische Modelle hervorgehoben, die auf lokale Prozesse fokussierten. Etwa bleibt die Verbindung zwischen Diversität und Invasibilität ein tragender Gedanke – artenreiche Umwelten sind resistenter gegen Invasion als artenarme Umwelten. Wie die Hypothese zur Einbürgerung fremder Arten [naturalisation hypothesis] von Elton und Darwin, fokussieren die Theorien tendenziell auf Artenmerkmale sowie lokale und deterministische Faktoren. Obwohl empirische Studien einer einfachen Verbindung zwischen Artenreichtum und Invasionsresistenz widersprechen, finden Nischentheorien weiterhin übermäßige Anwendung; regionale und historische Faktoren

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werden hingegen vernachlässigt. In der Invasionsbiologie wurde zudem deutlich mehr Theorie erzeugt als abgelehnt – im Ergebnis häufen sich die Erklärungsansätze zu Invasionen. Viele haben den Eindruck, dass diese Faktoren ein tatsächliches Wachsen und Reifen des Feldes behindern (Davis 2011). Denn „jene, die glauben, dass ihre Politiken gegenüber Fremden/m von irgendwelchen objektiven Standards bestimmt seien, leben in einem Elfenbeinturm“ (Mabey 2005, 46). Einige Wissenschaftler*innen hinterfragen die Diskrepanz zwischen den empirischen Belegen der Ökologie und deren theoretischen Behauptungen. Zum Beispiel zeigt die Untersuchung von Begriffen wie der ökologischen Gemeinschaft oder des Ökosystems, dass diese eher schwammig gefasst sind und sich mit der Zeit verändern (Sagoff 2006). Trotz der vielen Literatur in der Ökologie gibt es einen „erstaunlichen Mangel an Belegen, dass ökologische Gemeinschaften oder Ökosysteme irgendeine Form der Organisierung besitzen, die als Gegenstand des ‚Umweltschutzes‘ dienen kann“ (ebd., 157). Tatsächlich gibt es wenig Konsens darüber, was ein Ökosystem ausmacht oder wie natürliche Selektion Ökosysteme strukturiert. Statt einer einhelligen Aussage legen die empirischen Ergebnisse nahe, dass es Ökosystemen und Gemeinschaften an Organisation, Struktur und Funktion fehlt und dass sie ziemlich temporäre, zufällige und flüchtige Unfälle der Geschichte sind (Sagoff 2006). Die Besonderheiten der Ökologien von Gemeinschaften und Ökosystemen könnten in der Tat selbst ein Gesetz bilden. Die normativen Werte, die solchen Konzepten wie Ökosystem oder Biodiversität innewohnen, bleiben besonders in einer Welt der tiefgreifenden menschlichen Intervention problematisch (Hattingh 2011). Dieser Gedankengang – die gesellschaftlichen, kulturellen und ideologischen Vorannahmen biologischer Konzepte ins Wanken zu bringen – ist kraftvoll und viele Biolog*innen haben ihn aufgeworfen. Die Invasionsbiologie enthält viele solcher Problematiken. Jay Gould fasst das gut in der Argumentation zusammen, dass einheimische Pflanzen „nur jene Organismen sind, die zuerst Fuß fassen und sich etablieren konnten. […] In diesem Kontext muss die einzig erdenkliche Begründung für die moralische oder praktische Überlegenheit von ‚Einheimischen‘ (also Erstankömmlingen) in einer romantisierten Vorstellung liegen, dass ältere Bewohner*innen lernen, mit der Umgebung in ökologischer Harmonie zu leben, während spätere Eindringlinge dazu tendieren, Ausbeuter zu sein. Doch diese Vorstellung, wie verbreitet sie auch unter ‚New Agern‘ sein mag, muss als romantischer Unsinn verworfen werden.“ (Gould 1979, 17)

Hinsichtlich invasiver Arten bezweifeln viele Biolog*innen, ob die Aufregung um und Verteufelung von fremden Arten angesichts der empirischen Ergebnisse

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berechtigt ist – vielleicht abgesehen vom Fall kleiner Inseln. Und doch wird immer wieder propagiert, dass invasive Arten die zweitgrößte Bedrohung für das Artensterben seien (Roberts et al. 2013; Richardson 2011; Davis 2009). Invasive Arten haben deutlich mehr Medienaufmerksamkeit erhalten als viele andere Umweltprobleme. Tatsächlich besteht hinsichtlich menschengemachter Umwelteffekte und der Auswirkungen des Klimawandels dringenderer Handlungsbedarf als je zuvor; und das überschneidet sich mit vielen weiteren Bereichen innerhalb der Biologie und darüber hinaus (Richardson 2011). Dieser intellektuelle Kontext mit einer Geschichte der reflexiven Kritik an Sprache, Theorien und Philosophien der Ökologie erschien mir als idealer Kontext, um mit naturkulturellem Denken zu beginnen. Das Projekt zu biologischen Invasionen war eine Zusammenarbeit mit den Biolog*innen James Bever und Peggy Schultz.2 Deren Forschung beschäftigt sich mit arbuskulären Mykorrhizapilzen (AM-Pilze) und ihrer Bedeutung für die Pflanzenökologie. Arbuskuläre Mykorrhiza zeichnen sich durch die Arbuskeln [bäumchenartige Strukturen] oder durch Vesikel [ovale Strukturen] aus, die sie gemeinsam mit den Wurzeln von Gefäßpflanzen ausbilden. Als eigener Stamm der Glomeromycota klassifiziert, entwickeln diese Pilze symbiotische Verbindungen mit Gefäßpflanzen. Die Pilze helfen den Pflanzen bei der Aufnahme von Nährstoffen wie Phosphor, Schwefel, Stickstoff und Spurenelementen aus dem Boden. Die Pflanzen beherbergen dafür den Pilz in ihren Wurzeln. Zudem beeinflussen AM-Pilze die physikalischen Eigenschaften des Bodens durch die Produktion von Glomalin, einer klebrigen Substanz, die Erdteilchen bindet und die Bodenaggregation verbessert (Wright und Upadhyaya 1998; Chaudhary und Griswold 2001). Es wird angenommen, dass mehr als 80 Prozent der Gefäßpflanzenarten Verbindungen mit Mykorrhizapilzen eingehen (Harley und Smith 1983). Mykorrhizapilze wirken nur manchmal leicht pathogen, zumeist stehen sie in hoch entwickelten, wechselseitig vorteilhaften oder mutualistischen Beziehungen mit Pflanzen. AMPilzen wird eine entscheidende Bedeutung in der Evolution von Gefäßpflanzen und ihrer Besiedlung von Land zugeschrieben (Brundrett 2002). Das Labor von James Bever und Peggy Schultz befasst sich mit einem weiten Spektrum der Biologie und Ökologie dieser Pilze. Die Zusammenarbeit mit diesen politisch engagierten Kolleg*innen, die mein Forschungsvorhaben unterstützten, war sehr fruchtbar. Ihre Arbeit begeisterte mich besonders, da ihre Herangehensweise an invasive Arten über den in der Invasionsökologie üblichen Ansatz einer geografischen Ursprungserzählung hinausging; stattdessen nahmen sie die ökologi-

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Jim Bever und Peggy Schultz arbeiteten zu Beginn des Projekts an der University of California, Irvine und wechselten dann an die Indiana University.

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schen Kontexte von Pflanzen ernst. Durch die Aufmerksamkeit für die umgebenden Kontexte von Gewächsen, insbesondere für die Bodengemeinschaften von Pflanzen, barg ihre Forschung aufregende Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Mykorrhizapilze und ihre Beziehung mit einheimischen und exotischen Pflanzenarten erschienen als hervorragender Kontext sowohl für ein naturwissenschaftliches Forschungsprojekt als auch für ein Projekt der Naturwissenschaftsforschung. Ihre Arbeit zu Pilzen in mutualistischen Beziehungen zweifelte zudem an der Bedeutung von Wettbewerb als entscheidendem Antrieb der Ökologie und Evolution von Pflanzen. In Südkalifornien lebend, wo die landschaftlichen Veränderungen durch menschliche Einwirkung beträchtlich sind, interessierten auch Bever und Schultz sich für Invasionsbiologie – und so entstand dieses Projekt über die Bedeutung von Mykorrhizapilzen für die Invasionsbiologie als eine kollaborative Forschungsarbeit. Angesichts der vollen Semester, in denen ich an einem geisteswissenschaftlichen Institut lehrte, bedachte ich dabei besonders den intensiven Zeitbedarf von Feldforschung und anschließender Datensammlung. Es schien beängstigend, dies mit den Herausforderungen der interdisziplinären Arbeit in Einklang zu bringen. Doch ein kollaboratives Projekt mit wohlwollenden Kolleg*innen und deren etabliertem Labor erschien als idealer Kontext für die Erkundung meiner Fragestellungen – und diese Hoffnung erfüllte sich.

I NVASIONSBIOLOGIE

ERFORSCHEN

Wie können wir interdisziplinär zwischen Disziplinen arbeiten, zwischen denen es keine offiziellen Kommunikationskanäle gibt – geografisch getrennte Einrichtungen auf dem Universitätscampus, keine gemeinsamen Konferenzen und wissenschaftlichen Zeitschriften, keine interdisziplinären Gremien, keine Flurgespräche? Es hat sich gezeigt, dass einige Biolog*innen dem Feld der Invasionsbiologie schon lange kritisch und reflektiert gegenüberstehen (Hobbs und Richardson 2011; Preston 2009; Richardson und Pysek 2008; Simberloff 2003; Soulé und Lease 1995; Vermeij 2005), doch das Fachgebiet hat davon ziemlich unbeeindruckt seine Arbeit fortgesetzt. Unsere Strategie war es, interdisziplinär zu arbeiten und dabei Leser*innen aus vielen verschiedenen Disziplinen im Kopf zu behalten. So sollte die Arbeit in mehreren disziplinären Journals publizierbar sein, wobei einige der interdisziplinären Erkenntnisse in die Sprachen der Disziplinen übersetzt werden könnten. Die interdisziplinäre Methodik sollte in interdisziplinären Kontexten veröffentlicht werden. Angesichts der institutionellen Strukturen war das der einzige Weg, um für solcherlei Arbeit eine Finanzierung

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zu erhalten und das Projekt durchzuführen. Wie später im Kapitel deutlich wird, ist eine der tautologischen Herausforderungen der Invasionsbiologie, dass die Prüfung ökologischer Theorien es erfordert, mit den Kategorien heimisch und neobiotisch [native and naturalized] zu arbeiten3. Forschungsfragen Die von uns durchgeführten Versuche waren so gestaltet, dass wir die Beziehung von heimischen und neobiotischen Arten mit ihren Bodengemeinschaften untersuchen konnten, insbesondere mit AM-Pilzen. Wachsen heimische Arten besser als neobiotische Arten, wenn sie in heimischen Bodengemeinschaften gezogen werden? Sind neobiotische Arten weniger abhängig von Bodengemeinschaften als heimische Arten? Bilden sich AM-Pilze besser mit heimischen Arten? Die Versuche prüften also, inwiefern der ökologische Kontext von Pflanzen hinsichtlich ihrer Bodengemeinschaften für den Erfolg von heimischen und neobiotischen Arten eine Rolle spielte. Entsprechend fragten wir, ob die Zusammensetzung der Bodengemeinschaften sich in Abhängigkeit von den in ihnen wachsenden Pflanzen verschob. Können wir wirklich über die breiten Kategorien von heimisch und neobiotisch sprechen, als ob sie in sich homogen wären? Agieren alle heimischen und neobiotischen Arten auf gleiche Weise, wodurch die Kategorien heimisch und fremd/neobiotisch biologisch überhaupt Sinn ergeben würden? Versuchsanordnung und -methoden Im durchgeführten Experiment arbeiteten wir mit einer Reihe heimischer und neobiotischer Pflanzenarten, um festzustellen, ob die Kategorien heimisch und neobiotisch von Bedeutung waren. Zuerst nahmen wir eine floristische Erhebung der Pflanzenfamilien in Südkalifornien vor, um einzuschätzen, ob heimische und neobiotische Arten sich in ihrer Abhängigkeit von AM-Pilzen unterschieden. Ferner entwickelten wir Bodenkulturen, die wir von heimischen und neobio-

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Anm. J.T.: In der deutschen Übersetzung wird der direkte sprachliche Verweiszusammenhang zwischen Einwanderungsdiskurs/Aufenthaltsrecht und Biologie/Ökologie weniger deutlich, der im Englischen durch die parallele Nutzung von Begriffen prägnanter aufscheint: „native“ für heimische Pflanzen und einheimische Menschen, „naturalization/naturalized“ für die Etablierung von Arten und die Einbürgerung von Menschen.

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tischen Arten gewannen, um zu erfahren, ob die Dichte an AM-Pilzen im Boden sich je nach darin wachsender Pflanzenart unterschied. Die Feldversuche wurden in Südkalifornien durchgeführt. Saatgut und Inokulum für den Boden wurden im UCI Ecological Preserve und im Starr Ranch Wildlife Sanctuary im Orange County gesammelt. Wir versuchten, die Bandbreite an Pflanzenfamilien in unserem Versuch maximal zu erhöhen, um Arten einzubeziehen, die sich bekanntermaßen mit AM-Pilzen verbinden, ebenso wie solche, von denen bekannt ist, dass sie dies nicht tun. Samen wurden gesammelt und dann im Gewächshaus vermehrt. Das Saatgut wurde nach dem Zufallsprinzip unterschiedlichen Behandlungen unterzogen, um Einheitlichkeit zu gewährleisten. Ebenso wie die Saat wurden Bodenorganismen in der Erde vermehrt, die an denselben Stellen gesammelt worden waren, um daraus Bodeninokula herzustellen, die zur Entwicklung heimischer und exotischer Bodengemeinschaften genutzt wurden. Um das Inokulum für heimische oder exotische Bodengemeinschaften zu schaffen, sammelten wir Erde an Stellen, die von heimischen oder von exotischen Arten dominiert wurden. In den Versuchen wurde daraus die „heimische“ und „exotische“ Bodenbehandlung. Diese Bodenbehandlungen wurden dann mit einer autoklavierten (sterilisierten) Mischung aus lokaler Erde und Sand vermischt und neun verschiedene heimische Gräser in ihnen gezogen. Alle aus den heimisch und exotisch dominierten Standorten gewonnenen Erden wurden aggregiert, um die experimentelle heimische und exotische Bodenaufbereitung herzustellen. Für sterile Behandlungen wurden dieselben Quellen vermischt, aber autoklaviert, so dass die Erde keimfrei war. Tests belegten, dass die Böden tatsächlich steril waren. Wir arbeiteten mit 14 Arten, sechs heimischen und acht neobiotischen Pflanzenarten (Neophyten).4 Das Experiment wurde in zwei Phasen durchgeführt. In der ersten Phase wurde jede der 14 heimischen und neobiotischen Arten in den drei Bodenaufbereitungen angezogen: heimisch, neobiotisch und steril. Waren heimische Pflanzen erfolgreicher in heimischem Boden als in exotischem oder sterilem Boden? Waren Neophyten in heimischem Boden erfolgreicher oder bevorzugten sie exotische Erde? Jede der 14 Arten wurde in den drei Aufbereitungen gezogen und das Ganze wurde fünf Mal wiederholt (14 x 3 x 5 = 210). Die 210 Töpfe wurden zufällig im Feld platziert und der Wuchs der Pflanzen monat-

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Die heimischen Arten waren Lotus purshianus, Salvia apiana, Nassella pulchra, Achillea millefolium, Galium angustifolium und Isocoma menziesii. Die neobiotischen Arten waren Rumex crispus, Bromus diandrus, Lactuca serriola, Medicago polymorpha, Lolium multiflorum, Marrubium vulgare, Salsola tragus und Sonchus asper.

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lich gemessen. Am Ende des Versuchs wurden die Samen sowie die Biomasse der Pflanzen und Wurzeln vermessen. Während wir in Phase 1 mit breiten Kategorien von Inokulum arbeiteten – heimisch, exotisch und steril –, standen uns an deren Ende spezifische Böden für jede der 14 Arten zur Verfügung. Für Phase 2 des Versuchs verwendeten wir die nun pflanzenartenspezifische Erde als Inokulum und zogen jede Pflanzenart in der Erde jeder anderen Pflanzenart, einschließlich der eigenen. Jede Kombination wurde drei Mal wiederholt. Die Pflanzen wurden außerdem in ihrer eigenen Kulturerde gepflanzt, dies wurde zehn Mal wiederholt. So waren wir in der Lage, nicht nur zu testen, wie heimische und exotische Arten kollektiv in heimischer, exotischer und steriler Erde abschnitten, sondern auch wie heimische Pflanzen in den individuellen Böden anderer heimischer und neobiotischer Pflanzenarten wuchsen. Ging es heimischen Pflanzen am besten in ihren eigenen Böden? Machten sie sich ebenso gut in allen heimischen Böden? Wie war das für die Neophyten? Die 636 Pflanzen wurden nach Zufallsprinzip in drei räumliche Blöcke eingeteilt und der Wuchs der Pflanzen monatlich gemessen. Am Versuchsende wurden erneut die Samen sowie die Biomasse der Pflanzen und Wurzeln vermessen, um so das Wachstum der Pflanzenarten zu bestimmen. Ergebnisse Es ergaben sich einige signifikante Ergebnisse, die hier hervorgehoben werden sollen. Floristische Erhebung Südkalifornien ist eine Region der enormen anthropogenen oder menschenverursachten Veränderung. Das Grasen von Vieh über Hunderte von Jahren hat die Landschaft Südkaliforniens tiefgreifend beeinflusst. Die Untersuchung der Flora zeigte, dass – während alle untersuchten Orte heimische und neobiotische Arten beherbergten – ein größerer Anteil der Neophyten an diesen Stellen zu den nichtmykorrhizalen Familien gehörten (d.h. zu Pflanzenfamilien, die sich nicht mutualistisch mit den Mykorrhizapilzen verbinden). Das galt für alle von uns untersuchten Orte außer für einen, das Gebiet der San Mateo Canyon Wilderness. Bemerkenswerterweise ist dieses Gebiet weitgehend ungestört geblieben und beherbergt zugleich den niedrigsten Prozentsatz an nicht-mykorrhizalen Pflanzenarten. Das stützt die Überlegung, dass ökologische Störungen für den Erfolg nicht-mykorrhizaler Arten relevant sind und dass die verringerte MykorrhizaAbhängigkeit von Neophyten ein Grund für den Erfolg dieser Arten sein könnte (Murray et al. 2010). Das im Versuch entstandene Muster zeigt zudem, dass Ar-

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ten mit schwachen Verbindungen zu Mykorrhizapilzen in Gebieten mit dem stärksten anthropogenen Umweltwandel am stärksten verbreitet sind. Das stellt die entscheidende Rolle der Störung für eine sich verändernde Artenzusammensetzung heraus. Daraus resultiert, dass mykorrhizale Neophyten in unserer Studie unterrepräsentiert sind, was als ein Faktor die Ergebnisse prägt. Versuchsergebnisse Insgesamt bestätigten die Ergebnisse viele der Muster, die in der Literatur vorhergesagt werden. Heimische Pflanzenarten waren häufiger mit Mykorrhizapilzen infiziert als neobiotische Arten. Ihre Wuchsraten waren in heimischer Erde höher als in exotischer Erde. Neobiotische Arten waren weniger abhängig von Mykorrhizapilzen und reagierten schwächer auf sie als heimische Arten (sogar unter den Arten, die sich mit Mykorrhizapilzen verbinden). Neobiotische Arten zeigten keine signifikante Reaktion auf die Bodenbehandlungen, das heißt, sie wuchsen nicht bedeutend besser in einem der Böden (heimisch, exotisch, steril) im Vergleich zu den anderen. Um sicherzustellen, dass wir keine Fehlannahmen über die Böden anstellten, testeten wir die Inokulum-Dichten sowohl an Orten, die von heimischen Pflanzen dominiert wurden als auch an solchen, wo Neophyten überwogen. Wir stellten tatsächlich eine bedeutend höhere Dichte an Mykorrhizapilzen in von heimischen Pflanzenarten dominiertem Boden fest als in von Neophyten dominiertem Boden. Wenn wir die Daten bündeln und die Kategorien heimisch und neobiotisch in den Blick nehmen, dann wuchsen heimische Pflanzenarten insgesamt in heimischem Boden besser und Neophyten zeigten eine größere Anpassungsfähigkeit an eine Bandbreite von Bodentypen. Doch die Nutzung der weit gefassten Kategorien heimisch und neobiotisch verwischt auch die Heterogenität, die der Vielfalt von Arten und der Bandbreite an Lebensgeschichten heimischer und neobiotischer Arten innewohnt. Während die Kategorien heimisch und neobiotisch die groben Muster zeigen, gab es in jedem der Versuche bedeutende Abweichungen unter den heimischen und den neobiotischen Pflanzen. Während einige der heimischen Pflanzen in heimischer Erde besser wuchsen als in exotischer Erde, gab es große Schwankungen: manche wuchsen deutlich besser als andere. Einige Neophyten wuchsen besser in heimischer Erde als in exotischer; manche machten sich besser in sterilem Boden als in heimischem oder exotischem. Die Heterogenität war auffällig und soll hier angemerkt werden. Einer der anderen bedeutenden Aspekte der Ergebnisse war die Ermittlung von Rückkopplungskreisläufen. In einer positiven Rückkopplung wachsen die Pflanzen gut in ihren Bodengemeinschaften, denen es wiederum mit diesen Pflanzen besser geht. Wir können also eine positive Rückkopplung sehen, wo sich Pflanzengemeinschaften

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und Bodengemeinschaften in einem Kreislauf befinden, der den gegenseitigen Wuchs und Erfolg ermöglicht. Doch können Pflanzen auch negative Rückkopplung aufweisen, wenn Pflanzengemeinschaften das Wachstum von Bodengemeinschaften behindern – oder andersherum. In unseren Versuchen zeigten neobiotische Pflanzenarten mehr negative Rückkopplung als heimische Pflanzen, das heißt, ihnen ging es besser im Boden anderer Neophyten als in ihrem eigenen Boden. Während sich dieses Muster deutlicher bei den Neophyten zeigte, wiesen auch einige heimische Arten negative Rückkopplung auf. Störungen des Bodens begünstigen vor allem Pflanzenarten in negativen Rückkopplungsschleifen. Die Komplexitäten der Ergebnisse – eine Diskussion Was in den breiten Kategorien der heimischen Arten und der Neobiota teils verloren geht, ist die Variation und Heterogenität innerhalb einer jeden der Kategorien. Es gibt beachtliche Variation unter heimischen und neobiotischen Pflanzenarten. Insbesondere variiert die Reaktion auf Mykorrhizapilze beträchtlich unter den Neophyten – und das könnte einer der vielen Gründe für ihren Erfolg sein. Ökolog*innen vermuten, dass bestimmte lebensgeschichtliche Merkmale Pflanzen dazu befähigen, in gestörten Habitaten zu gedeihen. Eine hohe Fortpflanzungsfähigkeit, schneller Wuchs, Selbstverträglichkeit und effiziente Ausbreitungsmechanismen sind alles Merkmale, die sich als entscheidend für einen solchen Erfolg erwiesen haben. Nicht alle Neophyten werden invasiv und auch einige heimische Pflanzen können invasiv sein. Die Verbindung mit Mykorrhizapilzen könnte eine weitere prägende Variable von Pflanzen- und Bodengemeinschaften sein (Pringle et al. 2009). Des Weiteren geht es auch Neophyten nicht in allen Kontexten gut – sie gedeihen besonders in Habitaten mit geringer Artenvielfalt, hoher Heterogenität und, am wichtigsten, Störung. Zudem scheint es in der Umgebung von Neophyten weniger Erreger zu geben. Die Ergebnisse legen nahe, dass wir Pflanzeninvasionen nicht verstehen können, ohne die ökologischen Kontexte der Pflanzen in Betracht zu ziehen. Der Erfolg einiger Arten könnte aus der zentralen Rolle der Bodengemeinschaften hervorgehen, insbesondere der Mykorrhizapilze (Stampe und Daehler 2003). Die komplexen Rückkopplungsschleifen, die zwischen individuellen Pflanzenarten und ihrer Präferenz bestimmter AM-Pilzarten entstehen, können die Artenzusammensetzung sowohl der Pflanzen- als auch der Bodengemeinschaften und somit auch deren zukünftige Zusammensetzung grundlegend verändern (Batten et al. 2008; Marler et al. 1999; Zhang et al. 2010). Einige Neophyten machen sich besonders gut in gestörten Habitaten. Wir sollten nicht vergessen, dass Störungen auch die Artenzusammensetzung unter heimischen Arten verändern und

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dass auch heimische Arten invasiv sein können. Doch sind die Arten, die in gestörten Habitaten gedeihen, oft unabhängig von Mykorrhizapilzen und deshalb im Vorteil. Nicht-mykorrhizale Pflanzen erodieren Bodengemeinschaften, was es wiederum heimischen Arten schwer macht, sich wieder anzusiedeln. Die Versuche zeigten auch, dass die geringere Abhängigkeit der Neophyten von Mykorrhizapilzen die Bodengemeinschaften der Pilze beeinflusste. Insgesamt unterhielten die Neophyten geringere Dichten an AM-Pilzen in ihren Böden. Es gab jedoch Variation in der Reaktion der Neophyten auf AM-Pilze. Einige Neophyten wuchsen besser mit AM-Pilzen, boten ihnen aber keinen guten Lebensraum, während andere in Böden mit AM-Pilzen schlecht gediehen, sich aber als exzellente Wirte erwiesen. Die Muster der Ansiedlung und Wiederansiedlung heimischer Arten hingen daher in großen Teilen von der genauen Artenzusammensetzung aus heimischen Pflanzenarten und Neophyten ab. In Südkalifornien mit seiner langen Geschichte der Weidewirtschaft ist die Störung ökologischer Habitate kein neues Phänomen. Einige Biolog*innen haben argumentiert, dass hierdurch ein alternativer ökologischer Zustand entstanden ist. Die Hypothese vom Abbau des Mutualismus legt nahe, dass Neophyten sowohl schlechtere Wirte für die Mykorrhizapilze sind als auch weniger von ihnen abhängig. Beides zusammen erschafft neue Habitate, die arm an Mykorrhizapilzen sind. Die Theorie prognostiziert, dass hieraus neue stabile Zustände entstehen. Die Vegetation, mit ihrer Verbreitung nicht-mykorrhizaler Pilzfamilien erlangt ein neues Gleichgewicht. Am wichtigsten scheint jedoch, dass diese Ergebnisse auch nahelegen, dass das bloße Ausrupfen invasiver Pflanzen und ihr Ersatz durch heimische Gewächse nicht ausreicht. Wir müssen für die einzelnen Arten und ihre Beziehungen mit den Bodengemeinschaften aufmerksam sein, um den ökologischen Kontext als Ganzes zu verstehen. Bodengemeinschaften spielen hier eine wichtige Rolle und können nicht ignoriert werden.

F EMINISTISCHE N ATURWISSENSCHAFTSFORSCHUNG EINBEZIEHEN : F ELDNOTIZEN Wie sind die Versuche und ihre Ergebnisse im Kontext der gesellschaftswissenschaftlichen und feministischen Naturwissenschaftsforschung zu verstehen? In der Vorbereitung der Experimente begann ich, die vielschichtige Geschichte von Biologie und Politik zu erkennen, die in den Strukturen des Versuchs eingebettet ist. Und während das Experiment voranschritt, drehten sich meine Überlegungen um die Komplexitäten der Erforschung natürlicher Systeme. Selbstverständlich sind Pflanzen und Tiere keine Menschen, und es ist gefährlich, zu viel in die

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Muster der Daten hineinzulesen. Doch wie wir bereits wissen, ist die Wissenschaft nicht unschuldig und getrennt von Gesellschaft. Zutiefst in Sprache und Geschichte eingelassen, ist sie durch ihren historischen Kontext geprägt, was der Untersuchung wert ist. Im Verlauf der Experimente kamen verschiedene Problematiken auf. Terminologie Das erste Problem, dem wir unmittelbar begegneten, war die Terminologie (Chew und Hamilton 2011). Das aufgeladene Vokabular von heimisch [native] und fremd [alien] war aus all den Gründen problematisch, die ich in Kapitel 4 von Ghost Stories for Darwin beleuchtet habe (Subramaniam 2014). Doch die Literatur und Theorien zu biologischen Invasionen basierten gänzlich auf diesen Kategorien. Wir entschieden uns dann, mit den Begriffen heimisch und neobiotisch/eingeführt [naturalized/introduced] als weniger reißerischer Terminologie zu arbeiten, die zumal historisch stimmig mit dem Migrationsprozess ist. Es war viel einfacher über neobiotische Pflanzenarten – Neophyten – zu sprechen (der Begriff kommt in der Literatur häufig vor), als über neobiotische [naturalized] Böden. Daraus folgte, dass wir oft mit dem Begriff des exotischen Bodens solche Erde bezeichneten, in der Neophyten wachsen. Sprache Die Sprache der Invasionsbiologie schafft eine Tautologie – von Versuchsbeginn bis -abschluss handelt das Narrativ ununterbrochen vom Heimischen und Fremden. Es ist unmöglich, diesem zweigeteilten Rahmen zu entkommen. Ob mit den Begriffen heimisch und neobiotisch oder etwas Stumpfsinnigerem wie Artentyp A und Artentyp B: Experimenten wie unserem liegt eine Formulierung von Kategorien zugrunde, die auf dem vermeintlichen geografischen Ursprung der Arten basieren. Jedes daraus hervorgehende Ergebnis wird konzeptuell weiterhin auf diese einzige Analysekategorie bezogen sein. Genau diese Formulierung des Rahmens prägt die Versuche und ihre Interpretation. Alle aufkommenden Komplexitäten wurden schnell und einfach in der binären Formel von Natur am richtigen oder falschen Ort eingefasst. Dieses binäre Denken schließt für immer alle Überlegungen in die Muster von heimisch/fremd ein; es bewegt sich nie über diese Formulierung hinaus. Es ermöglichte uns zum Beispiel nie zu erkennen, ob Eigenheiten wie Verbreitungsmechanismen, Reproduktionsstrategien, Heterogenität der Habitate oder lebensgeschichtliche Merkmale womöglich von ebenso großer oder größerer Bedeutung sind. Obwohl dieses Projekt sich mit

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AM-Pilzen befasste, war die Analyse der AM-Pilze immer in den Dualismus von heimisch und neobiotisch eingefaltet. Die Rahmung heimisch/fremd strukturierte das gesamte Denken und begrenzte die weiteren Möglichkeiten. Es gibt auch kaum Zweifel daran, dass dieses Framing akademische, populäre und aktivistische Formulierungen geprägt hat. Da wir das Manuskript publizieren wollten und es uns damit ernst war, mussten wir das Forschungsfeld ansprechen – und dies rahmte schließlich die Geschichte, die wir zu erzählen hatten. Die soziologische Literatur zu akademischen Disziplinen hat die Bedeutung des Framings gut dokumentiert. Die hier vorgestellte Arbeit über Invasionsbiologie wurde finanziert, weil sie sich auf eine lange Forschungsgeschichte beruft, die auf der Gegenüberstellung von heimisch und fremd aufbaut. Sie wird von einer Wissensgemeinschaft gelesen und gebildet, die in der Falle dieses Dualismus steckt. Invasionsbiologie ist etwa seit den späten 1980er-Jahren eine eigene Disziplin (Davis 2009; Davis et al. 2011). Nationale Organisationen wie die National Science Foundation, Naturschutzorganisationen ebenso wie Fachgesellschaften und wissenschaftliche Zeitschriften erkennen dieses Feld als dringlich und wichtig an. Es gibt Bücher, Zeitschriftenausgaben und -titel wie Biological Invasions, die sich gänzlich diesem Feld widmen. Zur Finanzierung dieser Projekte sind Mittel geflossen. Damit unsere Arbeit im Rahmen der Disziplin für das Feld intelligibel und lesbar ist, ist die binäre Rahmung konstitutiv. Eine zentralere Frage hinsichtlich heimischer/exotischer Pflanzen ist jene, was als „heimische“ Art zählt. Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der US-Bevölkerung eingewandert ist, ist die Neuerfindung von „einheimisch“ als Attribut der weißen Siedler*innen anstelle der Native Americans bemerkenswert. Die systematische Marginalisierung und Entrechtung der eigentlich „einheimischen“ indigenen Bevölkerung macht die Ironie umso schmerzlicher. Die Liebe für den Sequoia – den Mammutbaum – in der Naturschutzbewegung ist ein Symbol der Eugenik, sein langes Leben ein Beleg der Herrlichkeit des weißen Siedlers, der heimisch wurde. Es ist bemerkenswert, dass Pflanzen- und Tierarten nie ihrer Bezeichnung entwachsen, während die Menschen, die die Geschichten erzählen (d.h. in diesem Fall, weiße US-Amerikaner*innen) in weniger als wenigen Generationen für einheimisch erklärt wurden. Doch die Kategorien heimisch/exotisch sind im biologischen Sinne nicht so einfach oder klar umrissen.5 Es kann darüber gestritten werden, wie bestimmte Arten beschrieben werden können oder sollten. Während einige den Begriff „invasiv“ eher lose ver-

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Eine Untersuchung der unterschiedlichen biologischen Kategorisierungen verschiedener Arten wäre faszinierend.

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wenden, um die Ausbreitung einer bestimmten Art zu bezeichnen, erfordert die offizielle Definition deren fremde Ursprünge: „Invasive Pflanze: Pflanze, die nicht heimisch ist und in der Lage dazu, sich an vielen Orten auszubreiten, schnell zu wachsen und sich so zu verbreiten, dass Pflanzengemeinschaften und Ökosysteme gestört werden. Definition aus der Presidential Executive Order 13112 (Februar 1999): ‚Eine invasive Art wird als Art definiert, die 1) nicht heimisch (oder fremd) in dem betrachteten Ökosystem ist und 2) deren Einführung wirtschaftlichen, ökologischen oder gesundheitlichen Schaden verursacht oder wahrscheinlich verursacht.‘“ (U.S. Department of Agriculture 2012)6

Im Gegensatz zu fremden invasiven Arten wird in einigen offiziellen Kreisen der Begriff der opportunistischen heimischen Pflanzen verwendet, um heimische Pflanzen zu bezeichnen, die „dazu in der Lage sind, von Störungen des Bodens oder der bestehenden Vegetation zu profitieren, um sich schnell auszubreiten und die anderen Pflanzen in dem gestörten Gebiet zu verdrängen“ (U.S. Department of Agriculture 2012). Ein/Heimische sind also opportunistisch, eine Charakterschwäche; Fremde hingegen sind Invasoren und damit eine ernsthafte Bedrohung! Es hat viele Versuche gegeben, den Begriff neu zu bestimmen, doch es ist zunehmend deutlich geworden, dass eine rigorose Definition von heimisch und fremd unausweichlich zu kontextabhängigen Definitionen, wechselnden Maßstäben und verschwommenen Grenzziehungen führt (Warren 2007; Davis 2009; Davis et al. 2011; Helmreich 2009). In unserem ganzen Projektverlauf war es unvermeidbar, wie die Sprache die Fragestellung im dualistischen Rahmen von heimisch und fremd formulierte und zuweilen beschränkte. Ökologische Kontexte Invasibilität, so scheint es, ist kein Merkmal von Arten; sie muss als Reaktion auf bestimmte ökologische Lebensräume verstanden werden. Auf den ersten Blick unterstützten unsere Ergebnisse die Zuweisung allen Übels zu den fremden Arten. Neophyten schwächten mutualistische Pilze und schufen einen Kontext,

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Amtlicher Text im Original: „Invasive Plant: A plant that is both non-native and able to establish on many sites, grow quickly, and spread to the point of disrupting plant communities or ecosystems. Note: From the Presidential Executive Order 13112 (February 1999): ‚An invasive species is defined as a species that is 1) non-native (or alien) to the ecosystem under consideration and 2) whose introduction causes or is likely to cause economic or environmental harm or harm to human health.‘“

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in dem heimische Pflanzen im Nachteil waren. Sie ebneten also den Weg für Pflanzengemeinschaften aus fremden Arten, die nicht von Mykorrhizapilzen abhängig sind. Doch ein tiefergehender Blick in die Daten gab uns zu denken. Ist der fremde Ursprung der Pflanzen das Merkmal, auf das wir uns konzentrieren sollten? Oder doch eher bestimmte lebensgeschichtliche Merkmale? In der botanischen Erhebung zeigt das einzige Gebiet, in dem keine Störung vorlag, keine bedeutenden Unterschiede zwischen heimischen und neobiotischen nichtmykorrhizalen Pflanzenfamilien. Auch andere Studien haben die zentrale Bedeutung der Störung festgestellt (Hobbs und Richardson 2011; Marvier et al. 2004). Zumal Arten, die außerhalb ihres heimischen Gebiets „invasiv“ sind, dies meist nicht in ihrem heimischen Gebiet sind (Hierro et al. 2006). Invasibilität ist somit eine kontextabhängige Reaktion bestimmter Arten in bestimmten Umgebungen. Störung und die Geschichte der Weidewirtschaft in Südkalifornien erscheinen hier entscheidend für die Verschiebungen in der Ökologie von Pflanzengemeinschaften. Angesichts der Heterogenität, die sowohl heimische als auch neobiotische Pflanzenarten aufweisen, stellt sich die Frage, was es bedeuten würde, wenn diese Eigenschaften statt der fremden/heimischen Ursprünge der Pflanzen in den Fokus gerückt würden. Der Biologe Mark Davis macht diesbezüglich einen nützlichen Vorschlag (Davis und Thompson 2000; Davis 2009). Anstatt Arten als heimisch und exotisch zu klassifizieren – Kategorien, die häufig zu heterogen und mit Komplikationen behaftet sind – empfiehlt er ein komplexeres Schema, das sich der lebensgeschichtlichen Variation von Pflanzen und Tieren zuwendet. Er schlägt drei Kriterien vor: Ausbreitungsdistanz, Einzigartigkeit in der Region und Auswirkungen auf die neue Umgebung. Manche Pflanzen können ihre Samen über kurze oder weite Distanzen verbreiten; Pflanzen sind mehr oder weniger einzigartig in der Region und ihre Auswirkungen auf die Umgebung können groß oder klein sein. Mit diesem (2 × 2 × 2 = 8 Kategorien-)Modell argumentiert Davis, dass nur zwei der so geordneten Gruppen – jene, die in der Region einzigartig sind und sich mit starken Auswirkungen auf die Umgebung nah und fern ausbreiten – das Potenzial haben, dem Konzept von „Invasoren“ zu entsprechen. Wir können uns so von einem Modell lösen, in dem alle exotischen und neobiotischen Pflanzenarten als ein Problem angesehen werden und uns einem Modell zuwenden, in dem wir die Ökologie und lebensgeschichtlichen Merkmale von Pflanzen untersuchen, um ihre Auswirkungen auf die Umgebung zu bewerten. Ein solches Modell, das statt deren Ursprüngen die Biologie von Pflanzen in den Blick nimmt, unterstützt ein mögliches Verständnis von Pflanzengemeinschaften und ihren Ökologien. In unseren Versuchen erschien die Fähigkeit der Pflanzen, gute Wirte für Mykorrhizapilze zu sein, als ein wichtiger Faktor für die ökologische Zu-

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kunft des Ortes. Andere Wissenschaftler*innen wie Woods und Moriarty schlagen vor, heimisch und exotisch nicht mehr als rein geografische Kategorien zu denken, sondern als Cluster-Konzepte, wobei der jeweilige Status entlang mehrerer Kriterien bestimmt wird, nicht nur anhand von Geografie (Woods und Moriarty 2001). Wir könnten „Invasion“ tatsächlich als ein Symptom größerer ökologischer Probleme erkennen, statt als das ultimative Problem, das es zu beheben gilt (Hobbs und Richardson 2011; MacDougall und Turkington 2005; Richardson et al. 2007). Natur, Biologie und Ökologie sind nie statisch, stabil und unveränderlich. Einige haben vorgeschlagen, dass wir uns weg von einer geografischen Kennung wie „heimisch/fremd“ und hin zu einem Denken im Sinne eines Kriteriums der „Schadhaftigkeit“ bewegen – und dann auch nur jene Arten bekämpfen, die Schäden verursachen. Auch das ist bei erneuter Überlegung nicht ganz so einfach, da exotische Arten manchmal positive und manchmal negative Auswirkungen haben. Zum Beispiel wurde vor 125 Jahren der Eukalyptusbaum aus Australien in den Bundesstaat Kalifornien eingeführt. 1979 beschloss Kalifornien, alle exotischen Pflanzenarten zu entfernen, die sich als Neophyten etablieren könnten – das umfasste die Eukalyptusbäume. Während diese viele negative Aspekte haben, wurde deutlich, dass die heimischen Monarchenschmetterlinge in ihrer jährlichen Migration von den Bäumen abhängig geworden waren (Woods und Moriarty 2001). Tatsächlich stellte sich heraus, dass die Eukalyptusbäume von einer ganzen Reihe von Schmetterlings- und Vogelarten genutzt werden und mindestens eine Salamanderart sich an sie angepasst hatte (Woods und Moriarty 2001). In einer Welt mit tiefgreifender, menschenverursachter Fortbewegung von Flora und Fauna erscheint ein plötzlicher Beschluss darüber, was für heimisch und was für fremd befunden wird, ziemlich willkürlich. Lokale Ökologien entwickeln sich fortwährend. Einige neobiotische Arten fungieren als „heimisch“ und einige Biolog*innen sehen das tatsächlich als Kriterium der Etablierung von Neobiota (Carthey und Banks 2012). Zu irgendeiner Vorstellung von vergangenen Zeiten zurückzukehren, erscheint also unproduktiv. Stattdessen müssen wir mit diesen komplizierten und manchmal verwirrenden Geschichten ringen und uns darüber im Klaren sein, auf welche ökologischen Ergebnisse wir hinarbeiten. Dies ist nicht die ökologische Wiederherstellung irgendeiner nostalgischen Vision von der Vergangenheit. Uns von pauschalen Bezeichnungen zu verabschieden und die Dynamik der Pflanzenbiologie in den Blick zu nehmen, ermöglicht es uns, die komplexen naturkulturellen Pfade zu erkennen, die die Welt, wie wir sie kennen, geschaffen haben. Diese Kategorien sind viel poröser, als den meisten bewusst ist. Viele Arten sind beispielsweise aufgrund ihrer langen Verwick-

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lungen mit Landschaften und Kulturen „kulturell heimisch“ geworden (Warren 2007). Betrachten wir etwa die kürzliche Zusammenstellung einer Liste von hundert Bäumen, die als Schottlands schützenswertes Erbe ausgewiesen werden. Davon sind zweiundvierzig technisch gesehen fremde Arten, die aber über die Zeit zu heimischen wurden. Häufig widersprechen sich naturwissenschaftliche Urteile und kulturelle Zugehörigkeiten (Rodger et al. 2003). Ebenso sind beinahe alle US-amerikanischen Nutzpflanzen fremden Ursprungs. Manche wurden durch staatlich finanzierte Reisen in die ganze Welt ins Land gebracht. Die derzeitige, durch Weidewirtschaft geprägte Zusammensetzung südkalifornischer Pflanzengemeinschaften ist viele Jahrhunderte alt. Mit Fokus auf die Biologie der Arten verzeichnen unsere jüngeren ökologischen Geschichten (einschließlich der menschlichen) die komplexen Weisen, durch die Menschen die ökologischen Verschiebungen vermittelt haben. Es ist eine produktive Verschiebung, den Blick von den invasiven Arten als Problem auf die komplexen geopolitischen Geschichten zu lenken, die unsere naturkulturelle Welt geschaffen haben. Auch die Lösungen drehen sich dann weniger darum, bloß die fremden Pflanzen zu vernichten, als um die Aufmerksamkeit für die unmittelbare Ursache ökologischer Verschiebungen – Zersiedelung, Weidewirtschaft, Bodendegradation, die Fragmentierung von Habitaten, Bodenerosion und so weiter. Wenn unser gewünschtes Modell von Natur aus welchen Gründen auch immer (etwa biologischen, politischen, wirtschaftlichen oder ästhetischen) des Managements bestimmter Arten bedarf, so können wir das tun, ohne das Muster auf alle fremden Arten zu verallgemeinern. Ein naturkultureller Ansatz zwingt uns auch dazu, ganzheitlicher über ein solches Management nachzudenken. Der Vorschlag von Mark Davis ist ein mögliches Modell unter vielen, das wir anvisieren können. Während ich nicht notwendigerweise dieses Modell befürworte, ermöglicht uns die Beschäftigung mit der Biologie der Arten, mehrere Dualismen zu verweigern. Der exotisch/heimisch-Gegensatz erscheint schematisch vereinfachter als die Biologie der Arten es nahelegt. Zudem vermeiden wir den Natur/KulturGegensatz. Anstatt diesen Fall als eine rein „kulturelle“ Produktion und somit bloßen Hype zu analysieren, können wir uns den Realitäten der sich verändernden Ökosysteme zuwenden, die allzu vertraut und in manchen Fällen ein Grund zur Sorge sind. Wenn wir entscheiden, die Natur zu „managen“, dann sollten wir erkennen, wie der Ökologe Lawrence Slobodkin es ausdrückt, „dass wir Arten erhalten und solche kontrollieren, die von einem menschlichen Standpunkt aus ‚schlecht‘ sind, aber mit dem Verständnis, dass die ethischen Probleme unsere sind und nicht die der Organismen“ (Slobodkin 2001, 8).

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N ATURKULTURELLE Ö KOLOGIEN N ATUREN K ULTUREN

ALS DYNAMISCHE

Im Nachdenken über unser Experiment ist mir bewusst, dass Biologie nie von Gesellschaft getrennt werden kann, ebenso wenig wie Natur von Kultur. Die Sprache des Heimischen und Fremden selbst, die Erklärungsmodelle zu invasiven Arten sowie das Feld der Invasionsbiologie mit seinen selbstangetriebenen biologischen und politischen Dispositiven sind nicht einfach aufzubrechen. Sollte Südkalifornien zu den Zeiten vor der Weidewirtschaft zurückkehren? Kann es das? Ist das überhaupt möglich? Oder wünschenswert? NaturenKulturen an sich sind nicht statisch, sondern selbst historisch kontingent. Die Kontexte von Pflanzen vor fünfhundert Jahren, fünfzig Jahren und heute unterscheiden sich enorm, was sie zu verschiedenen lebensgeschichtlichen Strategien führt. Was wäre, wenn Südkalifornien sich in einem neuen ökologischen Gleichgewicht befände, wie manche Ökolog*innen annehmen? Auf welcher Grundlage entscheiden wir, was „natürlich“ ist? Für NaturenKulturen aufmerksam zu sein, ermöglicht es uns, die komplexen Zwischenverbindungen zwischen Naturen und Kulturen in unseren Analysen ebenso anzuerkennen wie in unseren Reaktionen. Diese Einsichten sollten uns dazu bringen, die biologische und kulturelle Sprache und Rahmung neu zu konzipieren, in der wir über die Migrationen und Neuverteilungen von Pflanzen- und Tierarten in unserer heutigen Welt sprechen. Jenseits der Schuldzuweisung ans Opfer Das Problem, das uns gegenübersteht, wird in der Sprache der invasiven Arten weder richtig identifiziert noch verortet – es wird verschoben. Diese Sprache macht fremde Arten zum Sündenbock für ein Problem, das sie nicht geschaffen haben. Ihre Vernichtung wird das Problem nicht lösen. Das Problem sind nicht die fremden Arten an sich, sondern die menschengemachten ökologischen Störungen, die ökologische Veränderungen der Pflanzen- und Bodengemeinschaften verursacht haben. Vielleicht, so argumentieren manche, wären wir ohne Neophyten und exotische Pflanzen von kahlen, kargen und leblosen Landschaften umgeben. Wir müssen uns dem Problem wohlüberlegt und reflektiert nähern. Die Parallelen zwischen unserer Herangehensweise an invasive Pflanzen und menschlichen Terrorismus sitzen tief und sind der Betrachtung wert. Mit dem Aufkommen von Vorstellungen und Institutionen der Sicherheit und Grenzsicherheit ist auch der Bereich der biologischen Sicherheit entstanden, der glatt an die Vorstellungen von der durch fremde Menschen und andere Biota gefährdeten Nation anschließt (Hulme 2011; Richardson 2011). Jene mit der Überzeugung,

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dass wir uns nicht in die Rückkehr zu einer falschen Nostalgie eines weißen Heimatlandes versenken sollten, könnten sich fragen, warum wir das in Bezug auf Flora und Fauna tun. Wenn wir achtsam sind, fremde Menschen nicht zu pathologisieren, warum sind wir nicht vorsichtiger hinsichtlich der Pathologisierung von Pflanzen und Tieren? Warum können wir nicht stattdessen die inhärente Diversität und Dynamik von Naturen und Kulturen anerkennen und auf eine Vision zuarbeiten, die allem Leben gegenüber ethisch und respektvoll ist? Eine Rhetorik des „Heimischen“ unterstützt antidemokratische Politiken und bringt am Ende keine tatsächlich verlässlichen Naturwissenschaften. „NaturenKulturen“ zwingen uns dazu, uns den Gesellschaften und Naturwissenschaften, die sich solchen Projekten widmen, zuzuwenden und sie zugleich zu transformieren, sodass sie objektivere und demokratischere Ergebnisse hervorbringen. Für die Heterogenität heimischer und fremder Pflanzen aufmerksam zu sein, ist zumal ökologisch produktiv. Die Kategorien heimisch und fremd sind nicht hilfreich. Wir sollten stattdessen die ökologischen Ursachen solcher Veränderungen in den Blick nehmen, die wir unerwünscht finden oder um die wir uns wirklich sorgen sollten – die Zerstörung von Habitaten, der Schwund von Vielfalt, Bodenerosion, Zersiedelung, Monokulturen, industrielle Landwirtschaft, Luft- und Wasserverschmutzung. Und vor allem sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass unsere Entscheidungen „menschengemacht“ sind – ob zugunsten der Wirtschaft, der Ästhetik oder der Verbesserung bestimmter ökologischer Eigenschaften wie Biodiversität, Harmonie oder Artenreichtum, die Menschen für wichtig erklärt haben. Wir sollten nicht in uralte Erzählbilder der reinen Natur oder des Natürlichen zurückfallen. Wir müssen anerkennen, dass die Natur keiner nostalgischen Vorstellung von einer mythenhaften Vorzeit entspricht. Sie ist vielmehr immer in Veränderung – in Evolution – begriffen, in die wir aufs Engste verwickelt sind. Ob es uns gefällt oder nicht, wir bestimmen Natur durch unser Handeln. Dies soll keinen Rückfall in eine anarchische Welt bedeuten, in der im Namen eines freien Marktes oder der Globalisierung alles möglich ist. Stattdessen geht es darum, Verantwortung zu übernehmen für die Welt, in der wir leben. Als Gesellschaft müssen wir die Werte definieren, die uns in unserer Beziehung mit der natürlichen Welt leiten. Wir sollten nicht zu den naiven und mächtigen Erzählbildern der Angst vor dem Fremden oder zu den Rufen nach einem nostalgisch-mythischen weißen Amerika zurückkehren. Stattdessen sollten wir mit den lästigen, aber entscheidenden Fragen der Variation, Diversität und Differenz umgehen, die uns seit Jahrhunderten in einem größeren Rahmen plagen. Pathologisieren wir invasive Arten oder erkennen wir ihre wertvolle Bedeutung für die Begrünung sonst kar-

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ger und desolater Landschaften an? Verteufeln wir Neobiota oder erkennen wir die grundlegende Bedeutung der Menschen in der Umgestaltung von Landschaften an – von Weide- und Landwirtschaft bis zu den jüngeren Auswirkungen des Klimawandels (Klinkenborg 2013)? Dies ist die naturkulturelle Welt, mit der wir umgehen müssen. Ansonsten übernimmt die immer dynamische naturkulturelle Welt das gewiss für uns – befeuert von falscher Nostalgie, unverantwortlichem Umweltmanagement, ausgebeuteten und zersiedelten Landschaften und hemmungsloser Konsumkultur. Die verheerende Krise des Klimawandels, zu der unter vielem anderen auch die sich schnell verändernden Pflanzen- und Bodengemeinschaften gehören, ist hierfür ein völlig ausreichender Beleg. Der vorliegende Text ist die Übersetzung des fünften Kapitels „My Experiments with Truth – Studying the Biology of Invasions“ in Subramaniams Buch „Ghost Stories for Darwin. The Science of Variation and the Politics of Diversity“ (University of Illinois Press 2014: 125–141). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der University of Illinois Press.

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Kommt Fleisch von Tieren? Eine Multispezies-Annäherung an Klassifikation und Zugehörigkeit im Hochland Guatemalas E MILY Y ATES -D OERR

Übersetzung aus dem Englischen von Jennifer Sophia Theodor Die Taxonomie ist eine Praxis mit Geschichte/n und Kulturen, aber das ist oft nicht leicht ersichtlich.1 Stattdessen stützt sich Taxonomie auf ihren Anspruch, die universelle Wahrheit einer singulären Welt zu katalogisieren. Obwohl viele Biolog*innen die Arten nuanciert als fluide und immer werdend beschreiben (siehe besonders Hey 2006; Margulis und Sagan 2002), beschwört die beharrliche Verwendung des Konzepts der Spezies beziehungsweise der biologischen Arten deren starre und messbare Grade der Verwandtschaft (der Mensch ist näher verwandt mit Tieren als mit Pflanzen, mit Säugetieren als mit Fischen, mit Primaten als mit Vieh, und so weiter; vgl. Ingold 2006). Die Besonderheiten einer Spezies-Kategorie können sich verändern, doch die konventionelle Taxonomie setzt voraus, dass Leben durch starre, objektive Eigenschaften klassifizierbar ist, die mit letztendlicher Gewissheit über ontologisches Sein kartiert und gewusst werden können: das ist eine Kuh, das ist ein Tier, das ist ein Mensch. Dieser Beitrag ist jedoch von der (teilnehmenden) Beobachtung inspiriert, dass Fleisch ontologisch vielfältige Formen annehmen kann – von denen sich nicht alle mit einem Verständnis von Fleisch decken, das von einer mononaturalistischen Phylogenie gestützt ist, in der klar definierbare und gliederbare Teile

1

Zur historischen Entstehung der Taxonomie als wissenschaftlicher Praxis siehe insbesondere Foucault 1974, Raffles 2001 sowie Star und Griesemer 1989. Zur kulturellen Variante der Taxonomie siehe insbesondere Ellen 2006 und Tsing 1997.

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miteinander in einer Welt verknüpft sind2. Während meiner ethnografischen Feldforschung im Hochland Guatemalas lernte ich, dass Fleisch vieles sein kann – und damit auch, dass die Kategorien des Selbst und des Anderen auf ganz unterschiedliche Weisen hergestellt und dekonstruiert werden. In den von mir beschriebenen Begegnungen waren nicht nur die Unterscheidungen zwischen Mensch und Tier häufig irrelevant für die Klassifizierung eines Objekts als Fleisch, sondern auch die Formen der Ein- und Ausschließung, die dieses Objekt konstituierten, waren veränderlich. Diese Beobachtung verortet sich im rasch wachsenden Feld der Multispezies-Studien.3 Dieser Forschungsbereich, der viel den Traditionen der feministischen Anthropologie verdankt, hat sinnvollerweise „den Menschen“ als Ursprungsort aller Beziehung „dezentriert“ (Few und Tortorici 2013) und so lange für selbstverständlich gehaltene Annahmen über Wissen und dessen Träger*innen verunsichert. Wenn sich nun aber die Gesellschaftswissenschaften den biologischen Arten – oder besser, den Multi-Spezies-Beziehungen – zuwenden, um sich von den Beschränkungen des Humanismus zu lösen, dann müssen wir diese Arten nicht als eine natürlich geordnete Essenz aus Blut und Genen verstehen, sondern als ein Vorkommen von Kohärenz inmitten von Teilungen und Verbindungen, die sich immer im Wandel befinden. Viele Autor*innen dieser Forschungsrichtung haben selbst argumentiert oder würden der Aussage zu-

2

Dieser Text basiert auf langjähriger ethnografischer Forschung in Guatemala, die unter anderem durch ein Wenner-Gren Feldforschungs-Stipendium und einen Fulbright Hays Dissertation Award finanziert wurde. Ich danke Emily Martin, Thomas Abercombie, Rayna Rapp, Sally Merry und Renato Rosaldo für ihre Unterstützung bei dieser Feldforschung. Der ERC Advanced Grant AdG09 Nr. 249397 ermöglichte mir das Schreiben dieses Artikels. Annemarie Mol war durchweg eine Inspiration und ich danke zudem Else Vogel, Filippo Bertoni, Pierre Du Plessis, Sebastian Abrahamsson, Cristóbal Bonelli, Tjitske Holtrop, Jeltesje Stobbe, Rebeca Ibáñez Martín, Mercedes Duff und Andrew Roper sowie Friederike Gesing und den Teilnehmenden am NaturenKulturen Lab der Universität Bremen. Des Weiteren bin ich dankbar für zwei großzügige, anonyme Kritiken sowie für das Lektorat durch Angelique Haugerud und Linda Forman. Besonderer Dank gebührt den verschiedenen Tieren, Familien und Gemeinschaften, mit denen ich aß und lebte.

3

In den vergangenen Jahren sind eine Vielzahl von Beiträgen zu biologischen Arten in den Geistes- und Sozialwissenschaften entstanden. Zur Einführung in nur wenige der vielen Sonderausgaben wissenschaftlicher Zeitschriften zu diesem Thema siehe Kirksey und Helmreich 2010; Fernández Bravo et al. 2013; sowie Kim und Freccero 2013.

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stimmen, dass sich der Begriff der „Spezies“ eigentlich auf das Herstellen von Beziehungen richtet (vgl. Bertoni 2013; Hayward 2010; Kohn 2007; Tsing 2010). Doch diesbezügliche Diskussionen werden weiterhin vom Gespenst der linnéschen Taxonomie heimgesucht, die alle Lebewesen in starre Typen katalogisiert, von denen einige Glückliche als natürlicherweise menschlich bestimmt werden und andere nicht. Dieser Text veranschaulicht, dass eben solche stabilen Unterscheidungen zwischen Menschen und anderen Arten angezweifelt werden sollten. Hierbei steht einiges auf dem Spiel. In Guatemala (und anderswo) gibt es heute beachtliche politische Kräfte, die den Multikulturalismus befürworten. In der Sprache dieser Politik verbinden sich die Körper und Überzeugungen mehrerer Kulturen zu einem harmonischen Ganzen (vgl. Latour 2004). Auch Tiere könnten durchaus Teil einer solchen Vision werden. Denn schließlich sind wir alle durch eine zugrunde liegende Wesensähnlichkeit linear miteinander verbunden. Doch entgegen dem Versprechen einer friedlichen Integration gibt es auch Formen der Variation, die nicht so leicht aufgelöst werden können und sollten. Elizabeth A. Povinelli (2002) und Charles R. Hale (2005) haben auf unterschiedliche Weise gezeigt, wie Multikulturalismus den faulen Beigeschmack essentialistischer Diskurse der Abstammung mit sich führt, die Menschen weiterhin auf Stereotype festnageln. Wenn wir den Aufruf zu einer Multispezies-Ethnografie als eine Aufforderung verstehen, unseren sozial- und kulturanthropologischen Blick auf (für Linné) andere-als-menschliche-Spezies zu richten, dann riskiert diese Aufforderung es, auf ähnliche Weise homogenisierende und ontologisch gewaltvolle Ordnungsmuster wieder zu bekräftigen.4 Durch eine ethnografische Analyse von Fleisch und seinen Klassifizierungen in den im Folgenden beschriebenen Fällen veranschauliche ich nicht nur, dass es keine unerschütterliche Gewissheit darüber geben kann, wer Mensch und wer Tier ist, sondern auch, dass die Parameter dieser Kategorien selbst nicht reibungslos auf Reisen gehen. Trotz einer weit verbreiteten Klassifikation von Arten als feststehende, einer einzigen natürlichen Ordnung inhärente Positionen, gibt es kein Äquivalenzregister, in dem Körper und Wesen unumstößlich festgenagelt werden können. Spezies sind nie einfach gegeben, vielmehr bilden sie sich in einem „Tanz der Verwandtschaft und der Arten [kin and kind]“ (Haraway 2008, 17), der nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Orten unterschiedlich ist.

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Mehr zum Konzept der ontologischen Gewalt bei Viveiros de Castro (2013), wo unter Bezugnahme auf das Werk von Claude Lévi-Strauss angemerkt wird, dass „Speziesismus Rassismus antizipiert und ihn vorbereitet“.

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M ETHODEN UND O RIENTIERUNG Um zu betonen, dass die treibende Kraft von Multispezies-Forschung nicht in ihrer Aufmerksamkeit für klassisch begriffene linnésche Arten liegt, beruhen die qualitativen Daten für diesen Text auf Alltagserfahrungen des Lebens und Essens mit Familien in Guatemala. Ich nehme eine Reihe ziemlich alltäglicher Ereignisse rund ums Fleischessen in den Blick und veranschauliche, dass Alltagsinteraktionen uns einiges über die Wissenschaft(en) der Klassifikation lehren können (was wäre es für ein Fehler, sich ausschließlich mit Forscher*innen zu befassen, wenn man Wissenschaft-in-Aktion in Betracht nehmen will!). Meine Argumente werden von ethnografischer Feldforschung gestützt, die ich in den Sommern 1999 bis 2001 in einer Kleinstadt im guatemaltekischen Verwaltungsbezirk Huehuetenango durchgeführt habe, sowie von weiteren Feldforschungen während der Sommer 2003 sowie 2005 bis 2007. Der Großteil des im Folgenden vorgestellten Materials stammt aber aus meiner Forschung zu Ernährungspraktiken in der Großstadt Xela (Quetzaltenango) im Hochland, wo ich in den Jahren 2008 und 2009 über einen Zeitraum von 16 Monaten mit verschiedenen Familien zusammengelebt habe. Sie ließen mich ihre alltäglichen Verhandlungen über die Beschaffung und Zubereitung von Essen kennenlernen, und ich wendete eine Forschungsstrategie an, die vielleicht am besten von Renato Rosaldo als „deep hanging out“ beschrieben wurde (siehe Clifford 1997, 56), [was wörtlich übersetzt „richtig abhängen“ heißen könnte und eine informelle Art der teilnehmenden Beobachtung bezeichnet, Anm. J.T.].5 Da Fleisch ein alltägliches Thema für die Menschen war, mit denen ich einkaufte, kochte und aß, wurde es auch für mich zu einem Gegenstand von Interesse. Indem ich auf Fleisch fokussierte, wurde mir jedoch auch bewusst, dass mein Verständnis von Fleisch als einem stabilen Objekt – das Fleisch vom Tier, als ob Fleisch und Tier so eindeutige Dinge wären – sich nicht dafür eignete, zu kartografieren, auf welche Art und Weise Fleisch in meiner dortigen Umgebung vorkam und verhandelt wurde. Diese Beobachtung beruht auf einem seit Langem bestehenden ethnografischen Interesse an der Herausforderung, Konzepte reibungslos von einem Ort an einen anderen zu übersetzen. Marilyn Strathern artikulierte diese Herausforderung pointiert in No Nature: No Culture (1980). Sie schrieb über ihre Reise nach Papua-Neuguinea, die sie mit der Fragestellung unternahm, wie in der Gesell-

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Seit dieser Feldforschung bin ich per E-Mail und Skype mit der Familie in Kontakt geblieben, um die es in diesem Text geht. Ich bin auch in den Jahren 2010 und 2013 für Nachrecherchen vor Ort zu ihnen zurückgekehrt.

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schaft der Hagen Natur von Kultur unterschieden wird. Während ihrer Feldforschung erfuhr sie jedoch, dass die Menschen, mit denen sie dort lebte, diese Konzepte von „Natur“ und „Kultur“ gar nicht anwendeten. Anstatt die definitorischen Parameter der Konzepte – das heißt, die Bedeutungen der Begriffe – anzuzweifeln, untergrub Stratherns Beobachtung deren Universalität. Das eröffnete die Untersuchung der Relevanz anderer Techniken der Unterscheidung, sowohl in Papua-Neuguinea als auch im sogenannten Westen (vgl. Mol 2014). Eine Lehre aus dieser Forschung, die auch meinen Feldforschungsansatz prägte, ist, dass wir, neben den Kategorien selbst, auch die Praktiken der Verbindung nicht als selbstverständlich erachten können.6

T IER Die Passagiere der Minibusse, die sich in einem müden Strom durch die Straßen voller einkaufender und verkaufender Menschen sowie Kisten voller Waren winden, werden von den Rufen „Demo, Demo, Demo“ über ihre Ankunft auf dem Markt informiert – La Democracia ist der Name dieses Marktes, auf dem Menschen sich versammeln, um das Essen zu verkaufen und zu kaufen, das die Stadt am Leben hält (Abb. 1). Dulce María, mit der ich zusammenlebe, ist heute Morgen, wie an den meisten Morgen, auf La Demo, um die Nahrungsmittel einzukaufen, die ihre Familie an diesem Tag essen wird. Sie beginnt im Außenbereich des Marktes und nimmt sich Zeit, das Obst und Gemüse zu betrachten und zu betasten. Sie handelt mit den ihr bekannten Frauen, während sie ihre Nylonbeutel mit roter Paprika, grünen Bohnen, Sesamkörnern und Kochbananen füllt – und mit einigen Lebensmit-

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Vielleicht kommt beim Lesen die Frage auf: Wer ist das „Wir“ des Satzes, den ich hier geschrieben habe? Ist es das „Wir“ der Akademie? Oder „des Westens“? Oder der Menschheit? Vinciane Despret merkt an, dass „es immer ein ‚Wir‘ gibt, dass sich aufdrängt: eine Einschreibung, eine kollektive Erfassung in einem Problem“ (2008, 124). Von dieser Beobachtung ausgehend, möchte ich vorschlagen, dass es sich um das „Wir“ eines situativen Kollektivs oder einer spezifischen Praxis handelt. Es ist kein stabiles „Wir“ und keines, das mit allzu viel Gewissheit bekleidet werden sollte. Es ist womöglich kein „Wir“, dem zu vertrauen ist. Es ist in diesem Beitrag ganz deutlich nicht mein Ziel, eine allgemeine Argumentation darüber zu führen, wie in der Welt Fleisch kategorisiert wird; und ich mache auch keine allgemeine Aussage über guatemaltekische Überzeugungen zu Fleisch.

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teln, für die eine Übersetzung nur enttäuschend wäre (etwa whiskil oder chilacayote). Abb. 1: Obst- und Gemüsestände am Rande des städtischen Marktes La Democracia. Xela, Guatemala. (Foto: Emily Yates-Doerr, 2008)

Dann bewegt sie sich in Richtung des Marktzentrums, wo die Fleischereien aus Holzständen heraus ihre Ware verkaufen. Für mich rufen die an Stahlhaken hängenden Fleischlappen Bilder der Gewalt auf; die Körper von geköpften Rindern bergen eine gruselige Ähnlichkeit mit den gesichtslosen Menschenleichen, die regelmäßig auf der ersten Seite der Lokalzeitung zu sehen sind (Abb. 2). Doch diese familiäre Ähnlichkeit ist für Dulce María einfach nicht zu sehen. Für sie ist das Innere des Marktes kein Raum des Todes, sondern er ist erfüllt von dem köstlichen Überfluss des Lebens. Die Verbindung, die ich womöglich zwischen Menschen und Tieren herstelle, verliert an Intelligibilität, wenn wir zwischen all den Ständen unsere Lebensmittel einholen; unsere Aktivitäten sind von unterschiedlichen Anliegen organisiert. Es ist gegen Ende der Woche und als wir das Zentrum des Marktes erreichen, wird Dulce Marías Geld knapp. Wir passieren einige Stände, die ganze Fleischstücke verkaufen, und erreichen einen, der carne molida – Hackfleisch – verkauft. Sie wird mit diesem Fleisch eine Lieblingsvorspeise zubereiten, indem sie es separat würzt und Paprikaschoten damit füllt, die sie dann in Eischnee wälzt und frittiert, um das Ganze schließlich mit Weißbrot oder Tortillas zu ser-

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vieren. Wenn ihr Mann und ihre Kinder am Tisch erscheinen, serviert sie ihnen stolz das Fleisch, das als Füllung der Paprika in der Mitte des Tellers arrangiert ist. An diesem Tag auf dem Markt bittet sie den Metzger, ihr mehr carne zu verkaufen als sonst. Es stehen Feiertage an und sie wird für ein saisonales Gericht ein paar Pfund Fleisch zusätzlich räuchern. Nachdem das Fleisch gewogen ist – während es in eine schwarze Plastiktüte verpackt wird – bemerke ich einen Hinweis am Marktstand. De soya lautet ein Schildchen in der Ecke, das anzeigt, dass es sich hier nicht um Fleisch von Rindern handelt, sondern von Sojabohnen. Bevor ihr Mann und die vier Kinder am Nachmittag beginnen, das Festmahl zu verspeisen, das sie für sie vorbereitet hat, bedanken sie sich dafür, Fleisch essen zu können – in einem Land, das den Hunger nur allzu gut kennt. Sie können das nicht jeden Tag – und Tage wie dieser, wenn Fleisch zur Mahlzeit dazu gehört, sind feierlicher als andere. Sie verspeisen das Gericht, kauen zufrieden, genießen die Aromen. Abb. 2: Fleischverkauf von den Ständen im Zentrum von La Democracia. Xela, Guatemala. (Foto: Emily Yates-Doerr, 2008)

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*** Sollte diese Geschichte Sie zu der Vorstellung anregen, dass Dulce María ihrer Familie nachgeahmtes oder künstliches Fleisch anstelle des echten vorgesetzt hat, möchte ich stattdessen nahelegen, dass hier womöglich etwas anderes geschieht. Meiner Ansicht nach zeigt sich hier vielmehr, dass es vielerlei Möglichkeiten gibt, Fleisch entstehen zu lassen – Fleisch auf den Tisch zu bringen, es zu inszenieren, es zu einer Wirklichkeit zu machen 7 –, von denen einige Fleisch zur physiologischen Substanz von Tieren machen und andere nicht. John Dupré argumentiert, dass die stereotype Vorstellung von biologischen Arten als stabilen Kategorien des Seins bis auf John Lockes Theorie der realen und nominalen Essenz zurückreicht, wobei „reale Essenzen die natürlichen Arten auszeichnen“ (Dupré 2002, 20). Doch während taxonomische Prinzipien Spezies in Kategorien unterteilen, die eine zugrundeliegende (reale, wahre) Eigenschaft haben, zeigt Dulce Marías Küche, dass das Leben und seine Substanzen auf andere (ebenso reale und wahre) Weisen arrangiert werden können. Da Mahlzeiten ihre Form durch Zubereitung und Präsentation und nicht durch Genealogie annehmen, muss etwas nicht vom Tier kommen, um Fleisch zu sein. Mein Argument ist hier nicht, dass Ursprünge nie relevant sind. In MayaKosmologien von Fleisch, von denen die meisten Menschen, mit denen ich lebte, leicht erzählen konnten, sind Ursprünge für die Kategorisierung von „Fleisch“ zentral – wobei in diesen Erzählungen jedoch das, was die linnésche Taxonomie als „Pflanze“ bezeichnet, nicht deutlich von dem unterschieden wird, was die linnésche Taxonomie als „Tier“ bezeichnet. Der menschliche Leib etwa setzt sich aus Mais zusammen, der selbst eine leibhaftige, lebendige Person ist. 8 Ur-

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Mehr zum Unterschied zwischen „tun“ (durchführen, in Kraft setzen) und „machen“ (bauen, konstruieren) findet sich in der Literatur zu materieller Semiotik, zum Beispiel bei Mol 2002 sowie Law und Urry 2003.

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In seinem Text über die zapotekischen Wissenschaften bezieht sich Roberto González (2001, 120) auf Mais als eine „Pflanzenperson“ mit eigenem Willen; an anderer Stelle habe ich über die prominente Ablehnung der Kategorie „Gemüse“ im Diskurs der öffentlichen Gesundheit in Guatemala geschrieben, da die K’iche’- und Mam-Sprachen, die in Xela gesprochen werden, Pflanzen nicht auf diese Weise zusammen gruppieren (Yates-Doerr 2012). Es ist wichtig, dies nicht als einen Unterschied zwischen den Klassifizierungsweisen im „Westen“ und „anderswo“ zu lesen (siehe Yates-Doerr und Mol 2012). Die Variation hinsichtlich der Substanz, die ich hier beschreibe, gibt es auch in westlichen Repertoires. Zum Beispiel ermöglichte das Dominican Republic – Central America – United States Free Trade Agreement (CAFTA-DR), das 2006 in

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sprünge können auch in Dulce Marías Küche von Bedeutung sein: Freitags bereitet sie Fisch zu, statt Rindfleisch – carne de res, obwohl das „de res“ (vom Rind) selten näher bestimmt wird. Und Ursprünge sind auch im lokalen Walmart wichtig, der seine Produkte verkauft, indem die Verbindung zwischen Fleisch und dem Tier, von dem es kommt, besonders betont wird (Abb. 3). Die Regale des riesigen Lebensmittelgeschäfts enthalten zunehmend Teile – mechanisch entbeinte Scheiben, Häute und Fette – in denen Lebewesen unsichtbar gemacht wurden. Doch damit diese Produkte für die Kundschaft im Hochland Guatemalas schmackhaft werden, wird der Kadaver des Tierkörpers, von dem sie kommen, dafür als Bild inszeniert, re-präsentiert. Mein Argument ist vielmehr, dass Fleisch eher durch Prioritäten klassifiziert werden kann als durch Ursprünge. Es treten mehrere verschiedene Techniken der Klassifizierung hervor, wenn Dulce María ihrer Familie Soja serviert. Nährwertbezogen wird Soja durch seine biochemische Zusammensetzung als Fleisch denkbar – es enthält vergleichbare Mengen an Protein, Eisen und Vitaminen wie Tierfleisch. Ökonomisch können internationale Politiken bezüglich Futtermittelund Transportkosten eine Rolle spielen, die die Möglichkeiten dessen prägen, was Menschen einkaufen können. Und Fleisch kann auch dadurch an Prestige gewinnen, dass es doppelt reich wirkt: voller Nährstoffe und teuer. Doch für Dulce María ist in der Zubereitung der oben beschriebenen Mahlzeit weder Biochemie noch Preis entscheidend. Stattdessen nimmt das Fleisch, mit dem sie arbeitet, seine Form als Fleisch durch die versierten Techniken an, mit denen sie es zubereitet und ihrer Familie serviert. Während sie das Gericht in ihrer Küche zubereitet, spricht sie über Geschmack und Konsistenz. Wenn sie es ihrer Familie serviert, wird relevant, wie sie es gewürzt und gegart hat, seine Platzierung im Mittagessen (als Hauptgericht in einem zentralen Zusammenkommen des Tages) und seine Positionierung auf dem Teller (im Zentrum). Hier findet keine Nachahmung oder Täuschung statt. Auf dieses Fleisch ist sie stolz. Wenn Dulce María uns Fleisch serviert, tut sie das nicht auf der Grundlage seiner Inhaltsstoffe (Soja oder Rind). Vielmehr bezieht sie sich auf ihre Arbeit und Kunst, innerhalb ihrer Möglichkeiten eine köstliche Mahlzeit vorzubereiten. Ihr Geschäft liegt nicht darin, Phylogenie zu servieren: Sie serviert ihrer Familie Essen.

Guatemala in Kraft trat, eine einzige Kategorie namens „Fleisch (und Tierfutter)“, in der Geflügel, Schweinefleisch, Rindfleisch, Sojabohnenmehl und gelber Mais als Nahrungsmittel zusammengefasst wurden, die von Import-Export-Zöllen ausgenommen werden (Hawkes und Thow 2008). In dieser Ordnungsweise wird Fleisch nicht durch (agrar-)kulturelle Geschichten strukturiert, sondern durch politische und ökonomische Verhandlungen.

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Abb. 3: Auslage im örtlichen Hiper Paiz (der jetzt als Walmart betrieben wird). Xela, Guatemala. (Foto: Emily Yates-Doerr, 2008)

F AMILIE Die Familie versammelt sich täglich um halb zwei. Dann ist die Schule aus. Damit der Unterricht pünktlich zum Mittagessen enden kann, beginnt er früh am Morgen. Auch Martín, der Vater, kommt von der Arbeit nach Hause; in der ganzen Stadt schließen mittags die Geschäfte. Der Tisch ist gedeckt, wenn er ankommt: Gabeln mit verbogenen Zinken und Esslöffel mit hartnäckigen Rostflecken auf der karierten Plastiktischdecke sowie ein Korb voller heißer Tortillas, die in ein abgenutztes Tuch gewickelt sind. Dulce María wird das Essen in mehreren Gängen servieren – beginnend mit einer Schüssel Brühe, dann ein Teller mit Reis und gekochter oder gebratener Kartoffel oder Möhre – dazu gibt es stark gezuckerten Saft. Ein paar Mal die Woche gibt es ein kleines Stück Rind oder Würstchen dazu, was alle am liebsten haben. Aber niemand beklagt sich je, wenn es keines gibt. Die Kinder waschen ihre Hände in dem eisigen Wasser, das aus dem Hahn kommt, bevor sie sich um den Tisch versammeln und mit dem Essen warten, bis sie gemeinsam das Vaterunser gesprochen haben. „Unser tägliches Brot gib uns heute […]“. Wenn das Gebet beendet ist, hält Martín eine

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kurze Rede darüber, wie das gemeinsame Essen am gemeinsamen Tisch uns zur Familie macht. Nachdem ich einige Wochen mit der Familie gelebt habe, beginnen sie einander „deine Mama Dulce“ und „dein Papa Martín“ zu nennen, wenn sie mit mir sprechen. Anfangs fühlt es sich für mich seltsam an, selbst diese Verwandtschaftsbegriffe zu benutzen, aber mit den Wochen wird es normal und vertraut. Die vier Kinder bezeichnen einander als „Bruder“ und „Schwester“ und die Erwachsenen nennen sie „Mutter“ und „Vater“. Doch in einem anderen Raum hängt ein kleines Bild einer anderen Frau, die zwei der Kinder ebenfalls „Mutter“ nennen. Mit der Zeit erfahre ich, dass diese Mutter bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben ist. Ihr Mann, der Vater des Kindes, war nicht in der Lage, für zwei kleine Kinder zu sorgen und brachte sie daher zu seiner Schwester und ihrem Mann, bevor er auf der Suche nach besserer Arbeit das Land verließ. Diese Mutter und dieser Vater haben sie dann neben ihren zwei Kindern großgezogen, ebenso als ihre eigenen. Andere Familienmitglieder helfen aus. Tanten und Onkel kommen regelmäßig mit Essen oder Schulheften oder anderen Waren des täglichen Bedarfs vorbei. Der in der Ferne lebende Vater schickt Geld aus dem Ausland, wann immer er kann. Martín, der Vater, mit dem die Kinder leben, nimmt zusätzliche Arbeit an, verbringt Wochenenden auf Baustellen und auf den Gebäuden, an deren Aufbau er mitwirkt. Er ist erschöpft, aber es sind seine Kinder und niemand bezweifelt, dass er tut, was getan werden muss. Während phylogenetische Formen der Ordnung von Beziehungen vielleicht bedingen würden, dass die adoptierten Kinder weniger zur Familie gehören als jene, die in sie hinein geboren wurden, ist das nicht die Realität an diesem Tisch, um den wir uns versammeln. Martín ist voller Lob für alle vier Kinder. „Iss mehr, mein Liebes, mein Engel, mein Herz, mein Leben“, drängt er sie, während er den Korb mit Tortillas herumreicht, bis alle gegessen haben. Wenn Dulce María Suppe, Reis und das gelegentliche Stück Fleisch aufteilt, beziehen sich die relevant werdenden Unterschiede zwischen den Kindern darauf, wie mit raren Ressourcen die Menschen am Tisch ernährt werden können, und nicht auf die Abstammung der Einzelnen. Nach dem Abendbrot kuscheln sich die Kinder allesamt in das Familienbett und warten darauf, dass ihre Eltern sich dazu gesellen. Ich höre nie die Wörter Neffe, Nichte, Tante oder Onkel zur Beschreibung ihrer Beziehung; auch Cousin ist ein Begriff, den diese Kinder nur für andere, nie füreinander verwenden. Selbstverständlich ist es möglich, dass die phylogenetische Unterscheidung zwischen den zwei Kinderpaaren relevant wird, wenn ich nicht dabei bin, oder, dass sie sich mir einfach nicht offenbart. Doch während ich in den Monaten, in denen ich bei ihnen lebe, nach dem Auftauchen dieser Wahrheit Ausschau halte,

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fällt mir auf, dass ich womöglich jene Wahrheiten übersehe, die hier eine entscheidendere Rolle spielen – etwa die Wahrheit, dass die Mahlzeiten, die Dulce María für ihre Kinder zubereitet, zugleich die Kinder zu den ihren macht. Und obwohl das Bild der anderen Frau an der Wand bleibt, ist die Familie, wenn sie sich zum Essen am Tisch versammelt, nicht unbedingt getrennt oder unvollständig. Hier müssen Dinge kein Ganzes sein, um verbunden zu werden. Dass gemeinsames Essen in dieser Region Verwandtschaft herstellen kann, hatte ich Jahre zuvor auf eine andere Weise gelernt, als ich nicht fähig war, dass in einer Suppe schwimmende Rindfleisch zu essen, das bei einer Einweihungsfeier serviert wurde, an der ich weiter im Norden und höher in den Bergen teilnahm. Als Ausländerin war ich ein Ehrengast. Im Gegensatz zu allen anderen Frauen im Raum wurde mir von den Gastgebenden ein Sitzplatz am Tisch angeboten und ich war eine der ersten, die bedient wurde. Doch ich war mit einem Problem konfrontiert: Es war mehr als ein Jahrzehnt her, dass ich bewusst das Fleisch eines Rindes in meinen Mund geführt hatte, und obwohl ich teilnehmen wollte, konnte ich mich nicht zu diesem Schritt überwinden. Ich aß die Brühe, deren Fettperlen an der Oberfläche glänzten, doch ich konnte nicht auf die Fleischstücke beißen. Die Flüssigkeit konnte ich noch ertragen, Muskel, Zunge und Sehne nicht (Abb. 4). Als die Leute um mich herum realisierten, was ich tat, lachten sie über mich. Das Lachen war nicht gänzlich wohlwollend. Ich war seltsam, aber eben auch unhöflich, und mehrere Leute wollten nichts mit mir zu tun haben, als die Mahlzeit beendet war – sie verließen den Tisch oder reagierten mit Schweigen auf meinen Versuch, mich mit ihnen zu unterhalten. Mir war nicht nur misslungen, familiäre Nähe herzustellen, sondern durch mein Zurückweisen des Fleisches – und durch das merkwürdige Verhalten, meine Mahlzeit zu behandeln, als könne ich sie in verschiedene Teile aufteilen, die akzeptiert oder zurückgewiesen werden können – hatte ich mich auch als der Kommunikation unwürdig erwiesen und damit meinen Status als Mensch gefährdet.9

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Ingold (2006) merkt an, dass in der Logik der Aufklärung Menschen sich in ihrer Art von Tieren unterscheiden, nicht graduell; Menschen konnten so als mehr oder weniger entwickelt kategorisiert werden, doch ihre biologische Menschlichkeit blieb intakt. Die Aussage, dass ich hier meinen Status als Mensch gefährdete, stellt aus der Perspektive dieser Logik womöglich eine Erschütterung dar, doch die von mir beschriebene Erfahrung legte mir nahe, dass die Stabilität „des Menschlichen“ nicht unbedingt so stabil war.

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Abb. 4: Belege für Gewalttaten? Sorgfältige Ressourcennutzung? Delikatesse? Ekel? Die Antwort liegt nicht im Gegenstand, sondern in den Beziehungen dazu. Xela, Guatemala. (Foto: Emily Yates-Doerr, 2008)

Bevor ich die Feldforschung begann, für die ich mit Dulce Marías sechsköpfiger Familie zusammenlebte, versuchte ich, die Reaktion meines Körpers zu verändern. Ich begann, meinen Körper darin zu trainieren, zu essen, was ich zuvor ab-

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gewiesen hatte, sodass ich mich nicht wieder in der Position wiederfinden würde, sowohl Essen als auch die in der Kommensalität ermöglichte Verbundenheit zu verweigern. Dort, wo ich in Guatemala lebte, wird das Essen üblicherweise aus einem gemeinsamen Topf verteilt und es ist ungewöhnlich, dass Mahlzeiten personalisierten Ernährungspräferenzen und -bedürfnissen Rechnung tragen. Wie jene, mit denen ich lebte, aß ich nun, was mir serviert wurde, und wurde dann auch von vielen wie eine Verwandte behandelt.

*** Das Konzept biologischer Arten aus den Biologie-Lehrbüchern wird in Bezug auf a/sexuelle Beziehungen bestimmt. Donna Haraway merkt an, dass die „Fähigkeit, sich miteinander zu paaren, die Faustregel für die Mitgliedschaft in derselben biologischen Art ist“ (2008, 17). Phylogenetische Karten verbinden Arten durch ihre Abstammung von gemeinsamen Vorfahren; carne – seine vielen Arten und ihr Fleisch – entstammt den fleischlichen Beziehungen und der Sprache der „Blutsverwandtschaft“, die darin aufgerufen wird. Erblinien über das „Blut“ zurückzuverfolgen, hat deutliche Auswirkungen darauf, wer im heutigen Guatemala von Mahlzeitentischen ein- oder ausgeschlossen wird (Grandin 2000; Nelson 1999; Stepan 1991; Stolcke 1974; Wertheimer 2006). Doch obwohl Verwandtschaft aus Vorstellungen von Sex und Abstammung heraus geformt werden kann, steckt da noch mehr dahinter. Ich erkannte in meiner Feldforschung deutlich, dass die institutionelle Macht der Blutsbande nicht die entscheidende Instanz für Verwandtschaft war. So stark solcherart Genealogie auch sein kann, Menschen haben schon lange um diese Form der Klassifizierung herum gearbeitet – und Familien und Vererbung auf andere Weise organisiert (siehe auch Abercrombie 2003; Carsten 1997; Farquhar 2002). In Dulce Marías Familie haben auch zeitliche und räumliche Nähe geprägt, was Marshall Sahlins die „Wechselseitigkeit des Seins“ genannt hat (2011, 2). Sexuelle Reproduktion (die Fähigkeit, sich zu paaren – was auch immer das in der Praxis bedeutet) war keine Voraussetzung für die Bildung von Familienbünden. Nicht nur „natürliche Essenzen“ wie Blut oder Samen spielten eine Rolle, sondern auch die gemeinsame Einnahme von Mahlzeiten. Naturwissenschaftliche Arten, die mit politischen Vorstellungswelten von Vererbung auf der Grundlage von Essenzen verwoben sind, sind nicht ohne Wirkung, aber sie sind auch nicht allesentscheidend. In diesem Haushalt, wie in vielen guatemaltekischen Haushalten, produzieren die gemeinsamen Mahlzeiten die Familie. Die Verweigerung, sich am Tisch zu versammeln und daran teilzuhaben, was – und

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wie – andere aßen, war nicht bloß unhöflich; es war auch eine Infragestellung der Art und Weise, wie die Wege der Zugehörigkeit organisiert sind. Während viele Akademiker*innen dazu neigen, die Art der Verbindungen, die durch gemeinsame Mahlzeiten entstehen, als „fiktive Verwandtschaft“ zu beschreiben, nimmt dies eine zugrunde liegende Wirklichkeit von Verwandtschaft an, die mit den Praktiken in Dulce Marías Zuhause nicht zusammenpasst (siehe auch Carsten 2004; Weismantel 1995; Yates-Doerr 2011). In dieser Familie beruhte Verwandtsein nicht primär und materiell auf der Vorstellung von Blut, neben der Verwandtschaft durch Mahlzeiten dann weniger wert, oder bloß symbolisch gewesen wäre. Obwohl die Verwandtschaft des gemeinsamen Essens nicht auf Blut, Fortpflanzung/Sex oder deterministischen Konzepten von Vererbung beruht, handelt es sich nichtsdestotrotz um Verwandtschaft. Doch auch wenn Familie keine natürliche, von der starren Substanz des Blutes bestimmte Kategorie ist, so ist sie auch nicht unendlich dehnbar. Anstatt Familie um abstrakte Konzepte herum zu organisieren, können wir sie auch entlang der Praktiken nachvollziehen, in denen sie relevant wird. Durch das gemeinsame Essen mit Familien erlebte ich in manchen Situationen Zugehörigkeit. Doch der große, wütende Hund, den die Familie am Eingangstor an der Kette hielt, erinnerte mich daran, dass diese Inklusion nicht vollständig war. In all den Monaten meines Lebens dort erkannte mich dieses scharfzahnige Biest nicht als Teil seiner Familie an, sondern bellte auf meinen Anblick hin und stürzte auf mich los. Die eigene Position des Hundes im Haushalt spricht für sich. In der Stille der Nacht, wenn der Hund wachend da lag, bereit, das Haus zu beschützen, gehörte er zur Familie. Am Morgen jedoch, wenn der Hund in seinem Dreck am Pfosten angebunden blieb, während die Familie sich in der Küche zu Bohnen und Eiern versammelte, gehörte er nicht dazu.10 Und sogar, wenn er am deutlichsten „Tier“ war, würde er/es nie in der Kategorie „Fleisch“ landen. Agustín Fuentes argumentiert überzeugend, dass Tierarten und die menschliche Spezies Formen des Person-Seins [personhood] gemein haben können, da diese auf „ähnlichen Physiologien und gemeinsamen, geteilten Sinnesmodalitäten“ basieren (2006, 126). Mir geht es hier aber um etwas anderes: um die Organisierung von Kategorien der Zugehörigkeit durch situierte Praktiken anstatt durch strukturelle Homologie oder Vereinheitlichung eines physischen Bereichs – die beide die Anliegen der Phylogenie beibehalten. In meiner obigen Beschrei-

10 Mehr zur fraktalen Verschachtelung einer Kategorie wie der Familie findet sich bei Gal (2002). Obwohl die meisten Frauen zuhause arbeiten, betreiben und erhalten sie zudem die regionalen Marktplätze; mehr zur Einfaltung von öffentlichen und privaten Bereichen in Lateinamerika bei Seligmann (1993).

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bung ist das Entscheidende das, was getan wird, und nicht eine Ähnlichkeit in Aussehen oder Perspektive. Daraus resultiert, dass sich Familien aus Differenz herausbilden können, nicht bloß aus Ähnlichkeit. Zudem gehen die Implikationen von Familie auseinander: Es kann auch Verwandtschaft ohne Liebe oder Freundlichkeit geben.

K OLLEKTIV Die Kirchenbänke sind schon voller Menschen, als wir uns hinzu quetschen. Einige der Leute um uns sind Nachbar*innen, einige sind weniger vertraut – wir kennen ihre Gesichter, aber nicht ihre Namen. Unterhaltungen füllen den Raum unter der gewölbten Decke, bis der Priester das Heiligtum betritt; und auch dann dauert es noch einen Moment, bis die Unterhaltungen zur Ruhe kommen. Wir sind mitten in den Feierlichkeiten zum Día de Difuntos (Tag der Toten am 31. Oktober) und zum Día de los Santos (Allerheiligen am 1. November) und die Stadt ist laut und festlich. Ab Mittag werden die ruhelosen Toten ihre Gräber verlassen, um den nächsten Sonnenzyklus damit zu verbringen, die Seelen zu suchen, die sich ihnen im nächsten Jahr anschließen werden. Die Feiertage bewegen Menschen in der ganzen Stadt dazu, zu trauern, den Ahnen Respekt zu zollen und für Gesundheit im kommenden Jahr zu beten. Diese Tage kennzeichnen auch den Anbruch einer neuen Jahreszeit. Auf dem Land ziehen Männer und Frauen durch die zerklüfteten Hügel, schneiden den geliebten Mais und bedecken ihre Dächer mit Ähren und Spelzen zum Trocknen (Abb. 5). Was nicht exportiert wird, wird gemahlen und zu einer Paste gekocht, die auf die Tortillas gestrichen wird, die zu fast jeder Mahlzeit serviert werden. Und während der Mais offenbar gegessen wird, ist er ein viel zu wesentlicher Bestandteil des Lebens selbst, um als bloße Nahrung klassifiziert zu werden. Wissenschaftler*innen und Mediziner*innen, mit denen ich unterwegs war, waren verblüfft, wenn Dorfbewohner*innen sich weigerten, Mais unter den anderen Nahrungsmitteln in Fragebögen zum Lebensmittelkonsum aufzulisten. Er ist eine ursprüngliche Substanz der Menschheit – eine Göttin/ein Gott, eine Substanz, die Fleisch wird und die leiblich ist – aber nicht einfach Essen, und ganz sicher nicht Stärke oder Gemüse.

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Abb. 5: Die Ernte trocknen. La Esperanza, Quetzaltenango, Guatemala. (Foto: Emily-Yates Doerr, 2008)

Abb. 6: Fiambre, Festmahl am Día de los Muertos und Día de los Santos. Xela, Guatemala. (Foto: Emily Yates-Doerr, 2008)

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Die dogmatische Lehre des Priesters hallte wie Feuerwerk von den Kirchenwänden wider. Es gibt breiten Enthusiasmus für die Feierlichkeiten, die Mais als Leben und als lebendig auszeichnen – dass er Fleisch hat und anderen Fleisch gibt.11 Zum Ende der Messe hin wird eine weitere Substanz zu Fleisch, die in konventioneller Taxonomie als „pflanzlich“ gilt. Der Priester hält eine Oblate nach oben und bittet uns, vom Leib Christi zu kosten. „Er gab uns Öl, er gab uns Brot und er gab uns Wein; er gab sich selbst. Jetzt nehmen wir von ihm.“ Eines der Kinder neben mir sagt zu Dulce María, er wolle auch sitzen bleiben, doch sie klopft ihm auf die Finger. „Tiene que comer la carne!“ [Du musst den Leib essen!], sagt sie unnachgiebig.12 Es ist wesentlich, dass ihr Sohn das Abendmahl einnimmt, denn durch den Verzehr der Hostie, die Aufnahme der Materie Christi, wird er sich mit Gott vereinen. Wie die anderen um ihn herum. Und auf diese Weise werden sie zur Gemeinde. Kommunion schafft Kommune; sie macht dich gemeinschaftlich. Das ist keine bloße Metapher, sagt seine Mutter; das ist, was geschieht.13 Als die Messe zu Ende ist, machen wir uns auf den Weg zum Haus eines älteren Paares – den Eltern von Dulce María – wo wir den Feiertag begehen. Ihre Eltern und zwei weitere Töchter waren nicht mit uns in der Kirche, weil sie zum Protestantismus konvertiert sind. Sie besuchen nun die evangelischen Gottesdienste, die in einem unscheinbaren Gebäude in einer anderen Nachbarschaft ab-

11 Das Popol Vuh, das gemeinhin als K’iche’-Chronik der Geschichte des Lebens gilt, berichtet, dass die ersten Menschen aus dem tio’jil – unterschiedlich übersetzt als „Leib“, „Körper“ oder „Fleisch“ – des Mais entstanden (Tedlock 1996). 12 Wir begegnen hier noch einem anderen carne, das sich von den zuvor beschriebenen unterscheidet. Es ist in diesem Fall üblich, den Begriff mit „Körper“ oder „Leib“ anstatt mit „Fleisch“ zu übersetzen. Doch trotz des Begehrens, dass Bedeutung sauber in Wörter passen sollte, können Übersetzungen enttäuschend sein; body verliert im Vergleich zum spanischen Wort carne an Lebendigkeit und Fleischigkeit. Anm. J.T.: Im deutschsprachigen Leib ist davon wieder mehr enthalten. 13 Eine verdächtige Ähnlichkeit im Kollaps der Binaritäten zwischen Material und Symbol, Materie und Fleisch, Körper und Praxis, ist in der Lehre des Katholizismus und der Theorie der materiellen Semiotik erkennbar. Obwohl dieses Thema der weiteren Erkundung bedarf, schlage ich vorsichtig vor, dass die katholische Geschichte Lateinamerikas materielle Semiotik zu einem überzeugenden Analysemodus für diese Region macht. Mehr zur Transformation von Körpern durch die Einnahme gemeinschaftlicher Substanzen – von der Eucharistie bis zu selbst angebauten Lebensmitteln – bei Paulson 2006.

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gehalten werden. Sie wissen, was sie mit der Oblate tun sollen, aber sie tun es nicht mehr. Dieses spezifische carne werden sie nicht länger schlucken. Als Dulce María von der Konversion erzählt, sagt sie, sie sei bestürzt gewesen, dass ihre Mutter und Schwestern nicht länger ihren Gott teilten. Sie trauerte, dass sie nicht zusammen in der Kirche saßen, und dass ihre Gemeinschaften – und damit einhergehend, ihre Körper – sich verändert hätten. Doch als wir das Zuhause ihrer Kindheit betreten, ist die Sorge ihrer Erzählung nicht mehr erkennbar. Stattdessen fallen sie und die anderen Frauen schnell in einen Rhythmus der Zubereitung der Mahlzeit für den Nachmittag. Der Hunger wächst und sie haben viel zu tun. Seit einigen Tagen haben sie fiambre zusammengestellt, ein teures saisonales Gericht – der regionalen Zeitung zufolge kostet es mehr als 300 Quetzales (etwa 40 US-Dollar, mehr als ich für mein Zimmer und Mahlzeiten pro Woche bezahle14). In demselben Zeitungsbericht steht, dass die mehr als drei Dutzend Zutaten in fiambre die angestammte Diversität Guatemalas symbolisieren: „Dieser Teller steht für die Plurikulturalität und Multikulturalität des Landes […]. Die Bewohner von Mesoamerika trugen das Gemüse bei, die Spanier die Wurst, die mal von den Arabern gebracht worden war, aber die besondere Kombination von fiambre wird in den Küchen Guatemalas gegessen […]. Eine der wichtigsten Eigenschaften der Mischung ist die Integration von verschiedenen Zutaten mit ihren bestimmten Geschmäckern und Eigenschaften; es ist wie die mestizaje in der Region Guatemalas.“ (Prensa Libre 2008; Abb. 6)

Das Versprechen der multikulturellen Integration, das dieses Gericht bietet, ist verführerisch (siehe auch Hage 1998). Eine Vision, in der Einheit durch „verschiedene Zutaten“ aus vielen Kulturen gebildet wird, hat in den politischen Kreisen Guatemalas große Verbreitung gefunden, eine Suggestion von Toleranz und Inklusion. Doch, wie Hale (2005) anmerkt, hat die Zelebrierung von Multikulturalismus allzu oft die Funktion eines rhetorischen „Alibis“, das durch

14 Ich hatte keine vorbestimmte Regel, wie ich die Familien bezahlte, mit denen ich lebte. Einige Familien, einschließlich derjenigen in diesem Text, haben nie um Geld gebeten, ich habe aber immer genug dort gelassen, um die durch mich offensichtlich anfallenden Ausgaben auszugleichen. Ich danke einer Leserin dieses Textes für das Aufbringen der Frage, wie die Zirkulation von Geld – eine eigene Form der specie [Hartgeld, Münze] – mit der Problematisierung von „Verwandtschaft und Art“ zusammenhängen kann. Diese Überlegung erscheint mir sinnvoll, sie sprengt hier aber meinen Rahmen.

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die Verdinglichung essentialistischer und umgrenzter Artikulationen von Gruppenidentität die Bedingungen für rassistischen Ausschluss wiederherstellt. Darin, wie fiambre hier zusammengestellt wird, erkennen wir beachtlich mehr Variation, als in der Klassifizierung von Differenz in umgrenzte Kulturen deutlich wird. Es kam vor, dass Dulce María es sich nicht leisten konnte, das Gericht allein zuzubereiten. Doch sie konnte ein oder zwei der Zutaten vorbereiten, und in der Kombination mit den von anderen Frauen vorbereiteten Zutaten konnte das Gericht Form annehmen. Was die Frauen beitrugen, war nicht dadurch bestimmt, wer indigen war und wer nicht (angesichts ihrer unterschiedlichen Vorlieben für das Tragen von huipiles und für das Sprechen von K’iche’ waren diese Identitäten ohnehin fluide und überlappend), sondern durch ein anderes Mittel: Wer hatte Hühner mit Eiern? Wer hatte wohlschmeckende Paprika? Wer hatte Zeit, die Rüben einzulegen oder dafür, die Wurst (oder Soja!) in Salzlake zu pökeln. Obwohl dies ein prestigereiches Gericht war, blieb Essen auf den Tellern zurück. Wäre dies eine Mahlzeit aus Mais und Bohnen oder eine Schüssel Rindersuppe gewesen, wäre alles aufgegessen worden. Doch wenn es fiambre gab, dann war es akzeptiert, etwas übrig zu lassen. Die Leute sagten, ihre Toten würden es später verzehren.

*** In den beschriebenen Aktivitäten dieses Nachmittags – der Besuch der Messe und die Mahlzeit mit Verwandtschaft und Familie – gibt es nicht ein Kollektiv, sondern viele. Da ist das Kollektiv der Kirche an diesem bestimmten Tag, wenn durch das Einnehmen der Hostie die Gemeinde hergestellt wird. Doch es sind nicht alle dabei; da einige nicht kommen können und andere nicht kommen wollen, werden weitere Gemeinschaften gebildet. Es gibt ein Kollektiv der Familie; aber mit einer Vielfalt an Religionen, Kleidung, Sprache und so weiter bleibt auch hier Variation. Und dann gibt es noch das Kollektiv der einzelnen Mahlzeit, wobei wir auch hier Differenz sehen. Es gibt nicht nur Unterschiede im kulturellen Geschmack, die bei dieser besonderen Mahlzeit relevant werden, sondern auch die Differenz zwischen den Aktivitäten derer, die das Gericht produziert haben, und der Körper, die es essen. Einige machen das Essen, einige sitzen am Tisch und bekommen zuerst etwas, andere warten darauf, die Reste zu sichten – vielleicht bis die Lebenden schlafen gegangen sind. Die Zeitung preist fiambre als Symbol des guatemaltekischen Multikulturalismus. Doch in diesem Haus sind spanische, arabische und indigene „Kulturen“ keine sauberen Typen, von denen einige von eingelegter Paprika und andere durch gepökeltes oder gesalzenes Schweinefleisch repräsentiert werden könnten.

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Die Brüche und Einheiten sind viel diverser und viel fließender, als die Erzählung von der multikulturellen Integration es erfassen könnte. Obwohl die Familien manchmal einfach zusammenkommen, um die Toten zu ehren, die unter ihnen wandeln, spielen die Teilungen zwischen katholisch und evangelisch in anderen Momenten eine große Rolle. Die Aktivitäten rund um dieses Gericht legen zudem nahe, dass Integration – aus Teilen ein Ganzes machen – vielleicht eine fehlgeleitete Zielsetzung ist. Hier wirken einfach zu viele Kategorien, um anhand von Klassifikationen von Kultur mit irgendeiner Endgültigkeit die Organisation dieser Mahlzeit darzustellen. Die Mahlzeit ist nicht einfach eine symbolische Repräsentation von Identität – sei sie national, regional oder individuell –, sondern sie ist etwas zu essen, wodurch bestimmte Arten der relationalen Differenzen entstehen. Damit dieses Gericht zustande kommen kann, braucht es Frauen, die Fleisch auswählen, einkaufen und in Essiglake pökeln; Schwestern, die das Haus und den Tisch für den Tag vorbereiten; einen in der Ecke angebundenen Hund, der so gut er kann die Tür bewacht, während die Menschen schlemmen; und nicht zuletzt braucht es Mais und Soja, Schwein und Kuh, die geschlachtet werden müssen, damit andere die Fülle des Lebens feiern können. Ebenso wenig wie die Ursprünge dieses Gerichts eindeutig geklärt werden können, können das dessen Auswirkungen. Während der Zubereitung und dem Essen der Mahlzeit kommt zuweilen Kohärenz auf, und es erscheint überaus sinnhaft, von den Menschen, die das Gericht verzehren, als einer Familie zu sprechen. Zuweilen zerfällt die Kohärenz. Einige verlassen die Mahlzeit, um später den Leib Jesu einzunehmen, andere bleiben derweil in der Kirchenbank sitzen oder weigern sich, die Kirche überhaupt zu betreten – und wieder andere dürfen da vielleicht gar nicht hinein. Sowohl in der Wahrnehmung als auch im Ergebnis gibt es Differenzen, ob nun das Fleisch des Mais’, des Rinds oder Christi serviert wird. Da Körper sich unterscheiden und „Ernährung immer stattfinden muss“ (Haraway 2010, 54), ist es weder möglich noch weise, identische Portionen aufzutischen. Das Gericht als multikulturell – oder selbst multinatürlich – zu bezeichnen, führt zu schnell in die Irre, da Kultur(en) und Natur(en) keine starren Objekte sind, die multipliziert werden könnten. Die Art von Ähnlichkeit oder die Art von Unterschiedlichkeit, durch die eine Kohärenz der Kultur oder Kohärenz der Natur gebildet wird, wird nicht stabil sein. Ähnlichkeit im Aussehen, im Keim, im Geschmack, in der Textur, im Timing – sie alle sind auf verschiedene, situierte Weisen von Bedeutung, oder eben nicht. Kollektive gibt es nicht einfach durch ein Schema gesetzter und bestimmbarer Ähnlichkeiten, sie werden vielmehr in der Begegnung von Einnahme, Geschmack und Berührung sowie durch Wege

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der Aktivität, die nicht leicht in Bezeichnungen zu erfassen sind, gebildet – das heißt fleischlich gemacht.

K ATEGORIEN (S CHLUSS ) Ich habe hier eine Reihe von Geschichten darüber erzählt, wie Kategorien zusammengesetzt und biologische Arten in Kraft gesetzt werden. In der ersten Geschichte begegnen wir einem breiten Repertoire an Fleisch, das auf einem Markt im Hochland angeboten wird: Fleisch als Essen von hohem Status; Fleisch, das Eisen und Proteine enthält; Fleisch, das als Nahrung dient. Einiges Fleisch, das an einem hölzernen Marktstand erworben wird, kommt von Kühen und Schweinen; und in diesem Fall ist die Verbindung zwischen dem Tier und dem Gegessenen wichtig. Auf demselben Markt wird jedoch auch eine andere Art von Fleisch dargeboten, bei dem die Generalisierung „Tier“ keine nützliche Kategorie ist. Im Gegensatz zu einer Rahmung von Fleisch als tierischer Substanz (Muskeln mit Fett, Knochen und Blut) kann Dulce María Fleisch servieren, ohne dass dessen Ursprung für die Mahlzeit von zentraler Bedeutung ist. In der zweiten Geschichte begegnen wir Variationen in der Kategorie der Familie. Manchmal sind Abstammung, Genealogie und Genetik – eine Reihe von Verhältnissen, die durch den Begriff Blut zusammengeknüpft werden – zentral dafür, wie wir uns selbst als gleich mit und verschieden von den Menschen um uns herum wahrnehmen. Doch Vererbung, die Weitergabe von Eigenschaften unter Verwandten, kann auch anders stattfinden. Familie kann zum Beispiel durch Nähe entstehen. In dieser Form von Familie, wo der Austausch beim gemeinsamen Essen stattfindet, ist es nicht möglich, lange mit Unbekannten zusammen zu essen. Und doch werden Nähe und Familiarität nicht unbedingt in ähnliche Arten übersetzt. Schließlich zieht in der dritten Erzählung die Einverleibung von carne (das Fleisch von Mais, von Christus und jenes in einem Feiertagsgericht) die Körper verschiedener Kollektive zusammen. Obwohl einige dieser Kollektive strenge Einschlüsse und Ausschlüsse bedingen – nicht alle können einfach katholisch, K’iche’, Frau oder auch lebendig sein –, wird der Prozess der Unterscheidungen kontinuierlich entwirrt und neu zusammengesetzt. Zugehörigkeit kann nicht stabil sein, aber das bedeutet nicht, dass sie immer prekär ist. Der Bruch eines Kollektivs kann ein anderes hervortreten lassen; und neue Kollektive bilden sich auch, wenn keine anderen zerfallen sind. Aus der Multiplizität der Beziehungen, die ich hier vorgestellt habe, ziehe ich verschiedene Lehren über Klassifikation und die Praktiken von Zugehörig-

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keit. Ich habe diese Geschichten erzählt, um zu veranschaulichen, dass es Wege der Herstellung von Kohärenz unter „Verwandten und Arten [kin and kind]“ gibt, die nicht von einem Wissen über Essenz abhängen. Anstatt Arten aus einer zugrunde liegenden, erkennbaren, taxonomischen Wirklichkeit abzuleiten, werden sie in den oben genannten Fällen kontinuierlich zusammengesetzt und auseinandergenommen, wobei aus dem Prozess neue Wirklichkeiten hervorgehen. Der Punkt ist hier nicht, dass Arten nicht existieren. Es geht vielmehr darum, dass sie nicht außerhalb der Praktiken existieren, durch die sie Wirklichkeit werden. Beziehungen sind nicht in einer bestimmten Position oder Perspektive eingeschlossen, sondern werden auf verschiedene Weisen hergestellt und dekonstruiert. Das bringt uns zu einer zweiten Erkenntnis: Die Bedeutung von Begriffen (oder Objekten, oder Inszenierungen von Beziehungen) besteht nicht im Abstrakten, sondern darin, was wir mit ihnen tun (siehe auch Gluck und Tsing 2009). Das Feld der Sozial- und Kulturanthropologie ist versiert darin, die Kategorien von anderen als Objekte unserer Analyse zu benutzen. Aber wir tun das allzu oft durch unsere eigenen Worte und somit in unseren eigenen Begriffen und Konzepten. Fleisch ist nur ein Beispiel dafür, wie ein einzelnes Wort diverse Reaktionen an verschiedenen Orten und Situationen hervorrufen kann. Fleisch/ carne/Körper/Leib kann nicht durch eine universelle, genealogische Taxonomie definiert werden, sondern es ist eine Kategorie, die durch spezifische, situierte Praktiken entsteht. Sogar die Ikone der Genealogie schlechthin – das Verwandtschaftssystem selbst – kann nie durch standardisierte Begriffe funktionieren, sondern ist etwas, das sich lokal herausbildet. Tatsächlich können sich hierbei mehrere differente Logiken variantenreich vermengen (erinnern wir uns, dass sich die Kinder im oben genannten Beispiel auf zwei Männer als Vater beziehen). Ein Verständnis von Verwandtschaft als kartierbares System, in dem abgrenzbare Einheiten (Wesen, Körper oder Identitäten) mit anderen umgrenzten Einheiten über stabile Linien verbunden sind, übersieht die Fluidität von gelebten Pfaden der Zugehörigkeit. Es geht hier grundsätzlich nicht um die ethnografische Auseinandersetzung mit Variationen von Kategorien, sondern um die Auseinandersetzung mit Variation in der Praxis der Klassifizierung. Sie als Leser*in haben sich vielleicht gewünscht, dass aus dieser Diskussion eine Definition von Fleisch oder vom Essen hervorgeht, denn so werden Kategorien oft organisiert (Ellen 2006). Es ist kein Zufall, dass ich das nicht biete. Was als das Objekt „Fleisch“ zählt, was als Praxis des Essens zählt, und sogar, was als Praxis der Beschreibung zählt, ist nicht über Zeiten und Orte hinweg stabil. Es ist auch kein Zufall, dass die hier vorgestellten Geschichten – wie alle Erzäh-

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lungen – Geschichten innerhalb der Geschichten enthalten. Ich habe womöglich Details gestrichen, Textur weggelassen, den Fokus verengt und die Botschaft zugespitzt. Doch diese Geschichten, die aus den unordentlichen Welten der ethnografischen Beobachtungen und Erfahrungen stammen, hängen an Sätzen, Handlungsverläufen und Punkten der Aufmerksamkeit, die nicht immer sauber zu verbinden sind. Sie behalten ein kleines bisschen von dem Detail, das eine jede alltägliche Praxis ausmacht – eine Mahlzeit zubereiten, zu Mittag essen, in die Kirche gehen – weil Praktiken nie geradlinig ausgeführt werden. Analytisch zerteilen wir sie, doch trotz der Einzigartigkeit eines jeden vorgestellten Bestandteils können immer auch andere Schnitte vorgenommen werden (siehe auch Yates-Doerr und Mol 2012). Diese Analyse legt nahe, dass wir es uns mit Verknüpfungen zwischen irgendeiner Identität und deren Praxis besser nicht zu gemütlich machen oder zu viel Bedeutung in sie hineinlegen sollten. Die konventionelle Taxonomie verbindet umgrenzte Einheiten durch stabile Linien, doch das funktioniert in diesen Fällen des Essens einfach nicht. Das Problem ist nicht nur, dass ein essendes Wesen womöglich im nächsten Moment gegessen wird. Nein, es ist komplexer: Das Wesen kann sogar im gleichen Moment verspeist werden, indem es selbst isst. Wir – welches Wir auch immer situativ aufkommt – können nie zu sicher sein in unserer Einschätzung, wer Raubtier und wer Beute ist. Cary Wolfe warnt vor dem „demokratischen Impuls in Richtung einer stärkeren Inklusivität aller Geschlechter, rassifizierten Gruppen, Sexualitäten, oder – nun auch – Spezies“ (2009, 568). Dieser Hang zum Pluralismus tue wenig für die Destabilisierung einer Vorstellung vom wissenden, liberalen, menschlichen Subjekt und führe so – täuschend – auf einen Weg der nur scheinbaren Abkehr, hin zur Wiedereinsetzung gewaltvoller Ausschlüsse (siehe auch Dave 2014, 446). Mein Aufsatz begann mit einer Geschichte von La Democracia (Demokratie), einer Peripherie, die ein Zentrum umgibt. Aber dort endete die Geschichte nicht. Im Zentrum dieses Marktes lag keine stabile Substanz Fleisch, sondern eine Substanz, die als Fleisch in Kraft gesetzt wird – durch ihren Platz zwischen den Kadavern, durch die Mühe um ihre Zubereitung und durch ihre Platzierung im Zentrum des Tellers; es handelte sich nicht um Fleisch, das aus Tieren hergestellt wurde, sondern um Fleisch, das durch die Fähigkeit der Erfahrung und die Mühe der Zubereitung entstand. Unter Bezugnahme auf dieses Fleisch schließe ich mit der Beobachtung, dass die Multispezies-Ethnografie uns dabei unterstützen kann, die Fallen und die Gewalt der euro-amerikanischen Ordnungsformen zu überwinden, indem das Konzept der biologischen Art aus seinen Assoziationen mit starrem taxonomischem Rang herausgelöst wird. Das „Multi“ in Multispezies-Ethnografie sollte

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hier also als Anregung verstanden werden, die vielfältigen Möglichkeiten zu untersuchen, in denen Beziehungen entstehen – und nicht als pluralistische Addition weiterer (vorgegebener) biologischer Arten zum ethnografischen Kanon. Es handelt sich nicht um einen Ansatz jenseits des „Menschlichen“ oder um einen Ansatz, der mehr als, oder anderes als „den Menschen“ adressiert, sondern um einen Ansatz, der deutlich innerhalb von Fragen über die variable und fließende Gestaltung von Menschheit und Menschlichkeit sowie deren Relationen situiert ist, mit denen sich das Feld der Sozial- und Kulturanthropologie bereits seit seinen Anfängen beschäftigt (vgl. Martin 2013; Redfield 2014). Anders gesagt, liegt das Potenzial dieses Ansatzes also in der Ermutigung, sorgfältig darüber nachzudenken, wie Objekte und Ausschlüsse dazu gebracht werden, zu entstehen, sich aufzulösen und wieder aufzutreten – in welcher Gestalt auch immer. Nun zurück zu meiner Ausgangsfrage: Kommt Fleisch von Tieren? Wenn dieser Text erreicht hat, was er soll, dann müsste sich diese Frage – oder zumindest die Erwartung ihrer Beantwortung – nun verschoben haben. Manchmal sind Ursprungsgeschichten von Bedeutung. Wenn wir über den Stadtmarkt schlendern, kann es entscheidend sein, Blut und Knochen zu riechen und die Körper von Schweinen und Kühen ausgehängt zu sehen. Doch manchmal – und sogar zugleich – hat Fleisch nichts mit dem Fleisch vom Tier zu tun, sondern vielmehr mit der Praxis des Lernens, wie eine richtige Mahlzeit aus aromatischen Nahrungsmitteln zubereitet wird. Statt nach allgemeinen Definitionen der Kategorie „Fleisch“ zu suchen, sollten wir eher den Praktiken folgen, in denen die Kategorie Form annimmt. Das wiederum schafft eine Öffnung für alternative Versionen der Entstehung von Kollektivität und Verbundenheit – Versionen, in denen Körper und Wesen sich verschiedentlich vermengen können, ohne zusammenpüriert und zu Einem gemacht zu werden. Diese Einsicht bringt uns dazu, nicht über absolute Antworten auf die Frage zu grübeln, was Fleisch ist, oder woher es kommt, als ob es hierzu eine einzige Wahrheit zu entdecken gäbe. Diese Einsicht veranlasst uns vielmehr zu der Frage, zu was Fleisch gemacht werden kann – nicht in irgendeinem absoluten Sinne, sondern angesichts spezifischer Geschichten und Anliegen. Es ist diese Frage, die uns schlussendlich weg von der natürlichen Essenz hin zu situierter Weisheit führt. Die Übersetzung gibt eine von den Herausgeber*innen in Abstimmung mit der Autorin leicht gekürzte Fassung wieder. Das Original ist erschienen in American Ethnologist 42 (2), 2015, 309–323 unter dem Titel „Does Meat Come From Animals? A Multispecies Approach to Classification and Belonging in Highland Guatemala“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von John Wiley & Sons.

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Wie zusammenwächst, was (nicht) zusammen gehört: Knochenschafe im Frakturspalt der Moderne M ARTINA S CHLÜNDER UND P IT A RENS

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Käsekulturen nach Pasteur Zur Mikrobiopolitik von Rohmilchkäse in den USA H EATHER P AXSON

Übersetzung aus dem Englischen von Robin Cackett Die Bewohner*innen der Vereinigten Staaten leben in einer Pasteur’schen Welt. Viele Menschen machen für ihre Erkältungen Keime verantwortlich, verlangen Antibiotika von ihren Ärzt*innen und trinken pasteurisierte Milch und Säfte, derweil Politiker*innen auf Wahlkampftour gar nicht genug Händedesinfektionsmittel verwenden können. Aber inmitten dieser Menschen gibt es auch PostPasteurianer*innen: Dissident*innen, die darauf beharren, dass nicht alle Keime schlecht sind, ja, dass Mikroben nicht nur zum Leben dazu gehören, sondern das Leben der Menschen sogar verbessern können. Sie widersetzen sich dem hyperhygienischen Traum der Pasteurianer, beschäftigen sich mit Antibiotikaresistenzen und schaffen informelle sozioökonomische Kanäle, um an unpasteurisierte Milch heranzukommen (Altiok 2006; Johnston 2006). Andere PostPasteurianer*innen produzieren Rohmilchkäse oder bezahlen Liebhaberpreise für den damit verbundenen Reichtum an Geschmack und Enzymen. Rohmilchkäse soll denn auch der ethnografische Gegenstand dieses Aufsatzes sein. Im vergangenen Jahrzehnt sind auf US-amerikanischen Bauernmärkten, in Restaurants und in den Medien zahllose neue, handgemachte US-amerikanische Käse aufgetaucht (Ogden 2007; Roberts 2007; Tewksbury 2002; Werlin 2000). Die Mitgliederzahl der American Cheese Society, einer Non-Profit-Organisation aus Produzent*innen von handgemachtem Käse und Käsespezialitäten, Einzelhändler*innen, einigen Molkereiwissenschaftler*innen und Lebensmittelkolumnist*innen, ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Immer mehr US-

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amerikanische Käse werden aus unpasteurisierter Rohmilch hergestellt. 1 Ihre Befürworter*innen hoffen, dass die Besetzung einer Marktnische, die „Rohmilch“ und „handgemacht“ mit „biologisch“ verbindet, die Käseherstellung zu einer Wertsteigerungsstrategie macht, welche die kleinen Milchfarmen am Leben erhalten kann. 1983, im Gründungsjahr der American Cheese Society, zählte man in Vermont noch 3216 Milchfarmen; 2003 waren davon nur noch 1459 übrig. Einige der sichtbarsten Produzent*innen von handwerklich gefertigtem Käse sind Frühpensionär*innen, die mit dem Kapital, das sie in lukrativeren Berufen (als Unternehmer*innen oder Jurist*innen) verdient haben, eine zweite Laufbahn eingeschlagen haben. Oder es handelt sich um junge Erwachsene, die das, was sie an den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten über nachhaltige Entwicklung und die Kritik der globalen Agrarindustrie gelernt haben, in die Praxis umsetzen wollen. Diese Produzent*innen stellen meist hochwertigen Spezialkäse her, der sich in den Städten zu gehobenen Preisen verkaufen lässt. Viele der erfahrensten Käser*innen sind Althippies oder Stadtflüchtige, die schon seit Jahrzehnten Hofkäse für die lokalen Märkte hergestellt haben und sich nun plötzlich als Teil einer „Bewegung“ für gesündere Ernährung wiederfinden. Eine wachsende Zahl der Hersteller*innen von Hofkäse sind Milchproduzent*innen, die (manchmal biologische) Rohmilch zu Cheddar, Gouda, Monterey Jack, Feta und anderen Sorten von „Alltagskäse“ verarbeiten. Nicht alle handwerklich hergestellten Käse sprechen den Geschmack der Gourmets und privilegierte Einkommensschichten an. Doch alle Käseproduzent*innen unterliegen bei der Vermarktung von Rohmilchkäse in den Vereinigten Staaten bestimmten Restriktionen. Laut US-amerikanischem Gesetz muss Käse, der aus Rohmilch hergestellt wird, mindestens sechzig Tage bei einer Temperatur von nicht unter 1,7 Grad Celsius (35Grad Fahrenheit) gelagert werden, bevor er verkauft werden darf. Die Sechzig-Tage-Regel soll Konsument*innen vor pathogenen Mikroben schützen, die im feuchten Ambiente eines Weichkäses gedeihen könnten. Während die staatliche Nahrungsmittel- und Medikamentenaufsicht (FDA) Rohmilchkäse als eine von Keimen verseuchte, potenzielle biologische Gefahr betrachtet, sehen Liebhaber*innen darin ein traditionelles Lebensmittel, das durch die Einwirkung „guter“ Mikroorganismen – Bakterien, Hefen, Schimmelpilzen – auf die in der Milch vorhandenen Proteine sicher gemacht wird. Der vorliegende Aufsatz steckt einen theoretischen Rahmen ab, um die gegenwärtigen Debatten über den kulinarischen Wert, die Gesundheit und die Si-

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80 Prozent des Hofkäses aus Vermont wird aus Rohmilch hergestellt (Sakovitz-Dale 2006, 4). 65 Prozent der Käser und Käserinnen in Neuengland und 50 Prozent in den gesamten Vereinigten Staaten arbeiten mit Rohmilch (Roberts 2007).

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cherheit von Rohmilchkäse in den Vereinigten Staaten zu verstehen, die auf das hinauslaufen, was Sidney Mintz als ein Kernproblem demokratischer kapitalistischer Gesellschaften erkennt: „Wie kann man den Staatsbürgern einerseits Schutz gewähren, andererseits aber die Freiheit der Wahl aufrechterhalten?“ (2002, 27). Ich führe den Begriff der Mikrobiopolitik ein, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Dissens darüber, wie man mit Mikroorganismen zusammenleben soll, eine Meinungsverschiedenheit darüber zum Ausdruck bringt, wie Menschen miteinander zusammenleben sollen. Mikrobiopolitik ist eine Möglichkeit, Fragen nach Ernährungsethik und Regierungsform zu stellen. Während Foucault (1983) die Ansicht vertrat, das 19. Jahrhundert sei das Zeitalter des Aufstiegs der Biopolitik gewesen, der Bildung neuer Kategorien von Personen, die im Wesentlichen via Sexualität und Fortpflanzung die statistische Erfassung und rationale Verwaltung der Bevölkerung erleichtern sollten, beschreibt Bruno Latour in The Pasteurization of France (1988; Original: Les microbes: guerre et paix suivi de irréductions 1984) eine parallele Geschichte der Eingliederung des mikrobiologischen Lebens in die Konstitution dieses sozialen Feldes. Vor Pasteur, schreibt Latour, hätten die Europäer*innen geglaubt, dass ein Metzger nur Fleisch verkaufe, danach entdeckten sie, dass dieses Salmonellen im Gepäck trage. Davor glaubte man, dass an einer Geburt nur drei Teilnehmerinnen beteiligt seien – Hebamme, Mutter und Kind –, danach waren plötzlich weitere Akteure im Spiel (Latour 1988, 35). Nachdem klargemacht worden sei, dass die Mikroben kontrolliert werden mussten, hätten Hygieniker*innen, Verwaltungsbeamt*innen und Ökonom*innen die Fundamente für vermeintlich „reine“ soziale Beziehungen gelegt – Beziehungen, die nicht durch den störenden Einfluss von Mikroben durcheinandergebracht wurden, sondern die vorhergesagt und daher vernünftig geordnet werden konnten. Biopolitik wird so durch Mikrobiopolitik ergänzt: die Ausbildung von Kategorien mikroskopischer biologischer Akteure, die anthropozentrische Bewertung dieser Akteure und die Ausarbeitung angemessener menschlicher Verhaltensweisen im Verhältnis zu den an Entzündungen, Impfungen und Verdauungsprozessen beteiligten Mikroorganismen.2 Pasteur’sche Praktiken konfigurieren Mikroben als Elemente, die eliminiert werden müssen, damit menschliche Gemeinwesen gedeihen können. Außer den Sicherheitsstandards für kommerzielle Nahrungsmittel im Bereich von Kühlung, Pasteurisierung und Bestrahlung zählen dazu beispielsweise der obligatorische

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Zur mikrobiellen Auflösung von Genealogie und zu Formen der Biopolitik, die nicht durch „Geschlecht“, sondern durch Praktiken des organischen und biotechnologischen „Gentransfers“ strukturiert werden, vgl. Helmreich (2003).

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Impfschutz bei Kindern (der zuerst zur Bekämpfung von Milzbrand bei Rindern entwickelt wurde, siehe Salmon et al. 2006) und die Ausrottung von durch Trinkwasser übertragenen Krankheiten (Nelson 2005). An solchen Programmen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge ist vieles lobenswert. Rohmilch kann die für Menschen pathogenen Keime Salmonella, Lysteria monocytogenes, Staphylococcus aureus und Escherichia coli enthalten. Dennoch weist Pasteurs hegemoniale „Keimtheorie“ einige Lücken auf. Obwohl niemand daran denkt, die FDA abzuschaffen – eine sichere Ernährung ist schließlich nicht zu unterschätzen –, werden einige der Motive und Logiken, die dem Pasteur’schen Nahrungsmittelregime in den Vereinten Staaten zugrunde liegen, von einer merkwürdigen Allianz aus politisch Libertären und Feinschmecker*innen in Frage gestellt. Für den Rohmilchaktivisten und Naturheilkundler Ron Schmid (2003, 46) umfasst „die Macht des Einzelnen“, eine Erkrankung durch Rohmilchkonsum zu verhindern, nicht nur gewissenhafte Produktionsverfahren – wie die Verwendung von Milch von kleinen Weidekuhherden, die niemals einen Maststall gesehen haben –, sondern auch die Kultivierung einer vielfältigen Darmflora und -fauna in den eigenen Eingeweiden, die den konsumierenden menschlichen Körper in die Lage versetzen, sich gegen Krankheiten zu wehren. Während der Pasteurismus im Bereich der Ernährungssicherheit zu einer Medikalisierung des Essens und der Ernährung geführt hat, wollen die Post-Pasteurianer*innen in die Möglichkeiten kollaborativer Mensch-Mikrobe-Kulturpraktiken investieren. Die Renaissance handwerklicher Käseherstellung in den Vereinigten Staaten wirft ein Licht auf die sozialen und regulatorischen Aushandlungen einer hyperhygienischen Pasteur’schen Gesellschaftsordnung und einer post-Pasteur’schen Mikrobiopolitik. Während Latours Pasteurianer die Mikroben als etwas ansahen, das zutiefst in die menschlichen Sozialbeziehungen verwickelt war, und damit das Recht der Hygieniker*innen zur Einmischung in das gesamte soziale Leben legitimierten, lassen die Post-Pasteurianer*innen diese antiseptische Haltung hinter sich, um sich mit Schimmel und Bakterien zu verbrüdern. Im Kontext des post-Pasteur’schen Ethos der heutigen handgefertigten Käsekultur, welche Mikroben als allgegenwärtig, notwendig und sogar schmackhaft anerkennt, bringt die Mikrobiopolitik ein neues handwerkliches Wissen hervor und erweitert unsere Vorstellungen über Ernährung. Sie produziert neue Materialien (Mikroben), um die Verschränkungen von kulturellen Traditionen und Agrarlandschaften zu denken, ganz im Sinne dessen, was die Franzosen terroir nennen (siehe Barham 2003; Trubek 2005). Und sie schafft neue Allianzen zwischen Käser*innen und Bauern und Bäuerinnen, Wissenschaftler*innen, Händler*innen und Feinschmecker*innen. Im Jahr 2000 verbündete sich die American Cheese Society mit dem Oldways Preservation and Exchange Trust zur Cheese of Choice Coalition, um

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das Recht der US-Amerikaner*innen auf den Konsum von Rohmilchkäse zu verteidigen. Während der Pasteurismus in Bürger*innen die Erwartung weckt, dass der Staat für eine sichere Nahrungsmittelversorgung einsteht, derart dass jede „Nahrungsmittelpanik [...] die staatliche Fähigkeit zur Regulierung von Geschäftsleben und Körpern“ (Dunn 2007, 36) in Frage stellt, bezweifelt der PostPasteurismus, dass den staatlichen Regulierungsbehörden ausschließlich das Wohl der Bürger*innen als Verbraucher*innen [citizen-consumers] am Herzen liegt. Mikrobiopolitik3 bezieht sich auf die, sei es gouvernementale oder basisbewegte, Anerkennung und das Management der Begegnung des Menschen mit den lebendigen, organismischen Handlungspotenzialen von Bakterien, Viren und Pilzen. Mikroorganismen wie Bakterienkulturen und Käseschimmel ins Zentrum von Darstellungen der Nahrungsmittelpolitik zu stellen, macht deutlich, wie stark die öffentliche Interpretation und Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnis unsere Auffassungen über das Essen, seine Herstellung, seinen Nährwert, seinen kulturellen Wert und die Regulierung seiner Sicherheit überformt (z.B. Nestle 2003). Dieser Ansatz weitet die in Studien zur landwirtschaftlichen Nahrungsmittelproduktion übliche Ausdehnung der Waren-Netzwerk-Analysen über die Achse global-lokal (Barndt 2002; Friedberg 2004; Jarosz 2000) auf den Körper und in den Magen-Darm-Trakt hinein aus. Ich meine, dass die Vernachlässigung der Mikrobe (jedes als Einzelwesen für das menschliche Auge unsichtbaren Organismus) immer noch unsere sozial- und kulturanthropologische Auffassung der sozialen Welt verzerrt (vgl. O’Malley und Dupré 2007). Wenn die philosophische Berücksichtigung der Mikroben – und, mehr noch, des Umstands, dass Mikroben und Menschen Gefährt*innenspezies [companion species] sind (vgl. Haraway 2003) – uns „zu einem besseren Verständnis davon führen [könnte],

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Als Mikrobiopolitik bezeichne ich Formen des sozialen Managements, in denen Mikroben als – schlechte oder gute – Akteure angesehen werden; dieser Ansatz unterscheidet sich daher von der von Nikolas Rose (2006) in seinen Diskussionen der Pharmakogenomik analysierten „molekularen Biopolitik“. Mein Gebrauch des Begriffs unterscheidet sich auch von der von dem Geografen Nigel Thrift entwickelten Auffassung von „Mikrobiopolitik“, welche die affektive Kraft von Medientechnologien beschreibt: Diese Technologien „erfordern eine Mikrobiopolitik des Subliminalen, die sich zum größten Teil in der halben Sekunde zwischen Handlung und Erkennen abspielt, eine Mikrobiopolitik, welche sich auf die in diesem Bereich stattfindende biologisch-kulturelle Gymnastik versteht“ (2004, 70–71). Diese Konzeption erinnert allerdings eher an Bourdieus Begriff des „Habitus“ als an Latours mikrobische Akteure, die meine Prolegomena zu einer Foucaultschen Biopolitik inspirieren.

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inwiefern menschliche Gesundheit, Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten, Entwicklung und Evolution von der Interaktion mit Mikroben abhingen und weiterhin abhängen“ (O’Malley und Dupré 2007, 158), dann könnte die Berücksichtigung der Mikroben in der Sozial- und Kulturanthropologie zu einem besseren Verständnis nicht nur bestimmter menschlicher Artefakte – wie zum Beispiel „biologischer“ Lebensmittel –, sondern am Ende sogar unseres zentralen Untersuchungsgegenstands Anthropos führen, also des Menschen „als solchem“. Ich werde in diesem Aufsatz skizzieren, auf welche Weise Käser*innen, staatliche Kontrolleur*innen, akademische Berater*innen und Konsument*innen ihre Pasteur’schen und post-Pasteur’schen Einstellungen zu mikrobiellen Körpern im Rohmilchkäse miteinander verhandeln. Ich stütze mich dabei auf Interviews mit über 30 Käser*innen sowie Lieferant*innen in Neuengland und auf andauernde teilnehmende Beobachtung bei den Jahresversammlungen der American Cheese Society und bei Workshops zur Käseherstellung.4 Das eigentliche Fundament dieses Aufsatzes bildet eine Feldforschung, die ich von Mai bis Juni 2004 durchführte, als ich bei der Herstellung einer der am meisten gerühmten Käsesorten namens Vermont Shepherd assistierte, einem preisgekrönten, an Pyrenäenkäse angelehnten Schafskäse aus Rohmilch (siehe Abb. 1). Ich arbeitete und wohnte zwei Wochen als Ethnologin auf der Farm der Familie Major in Westminster West, Vermont, und half bei allen Facetten der Herstellung dieses Rohmilchkäses mit: von der Weidehaltung über das Melken der Schafe, die Käseherstellung bis zur Affinage (der Behandlung des Käses während der Reifung). Die folgende Erzählung spiegelt die Verhältnisse auf der Major Farm zur Zeit meines Aufenthalts im Frühjahr 2004 wider. Ich durchsetze meine ethnografische Geschichte jeweils mit der Exegese mikrobiopolitischer Schlüsselmomente während der Entstehung dieses Rohmilchkäses. Ich untersuche die Behauptungen über den Geschmack und die Ortsverbundenheit des Käses, die gegebenenfalls aus einem mikrobiellen Verständnis des Käses folgen (oder auch nicht). Schließlich untersuche ich den Umstand, dass für viele Käser*innen die Herstellung sicheren und gesunden Rohmilchkäses aufs Engste mit Skaleneffekten und Agrarpolitik verquickt ist. Vieles spricht demnach für einen politisch-ökonomischen Zusammenhang zwischen „einwandfreiem“ Käse und „lokalem“ Produktionsort, der nichtsdestotrotz durch Mikroben vermittelt wird. Während ich anhand der Geschichte des Vermont Shepherd die Produktivkraft der Mikro-

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Im Juli 2005 und im August 2007 nahm ich an den Jahresversammlungen der American Cheese Society in Louisville, Kentucky, und Burlington, Vermont, teil. Im März und im Juli 2007 nahm ich jeweils in Vermont an einem von Peter Dixon geleiteten, zweitägigen Workshop zur Käseherstellung teil.

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biopolitik herausarbeite und die veränderten Vorstellungen über Geschmack, Ort, Ernährung und Herstellung untersuche, bleibe ich mir dennoch bewusst, dass auch die Produzent*innen post-Pasteur’scher Nahrungsmittel, wenn sie sich um eine sichere Nahrungsmittelversorgung bemühen, indem sie guten Keimen zum Sieg über böse Keime verhelfen, noch immer an einem, wenngleich revidierten, Pasteur’schen Ethos festhalten. Abb. 1: Die im 19. Jahrhundert erbaute Scheune der Majors, in der sich ein Melkstand für Schafe befindet. (Foto: Heather Paxson)

D IE H ERSTELLUNG

VON

V ERMONT S HEPHERD 1

David Major hütet seine Milchschafe – es sind Nachfahren der Tiere, die seine Familie bereits in seiner Kindheit als Fleisch-, Woll- und Milchlieferanten hielt – auf Weiden, die zu drei verschiedenen Grundstücken gehören. David ist Mitte vierzig und in dem Bauernhaus aufgewachsen, in dem seine Eltern (die keine landwirtschaftlichen Berufe ergriffen haben, sondern in die Bildung und Politik gegangen sind) heute noch leben. Gegenüber auf der anderen Straßenseite steht die Major Farm, das Haus, das David und seine Frau Cindy in den 1980er-Jahren gemeinsam gebaut haben. Nachdem sie sich eine Weile mit dem Verkauf von Wolle über Wasser zu halten versuchten, begannen die beiden die Schafe zu melken und Käse zu machen, zunächst im Selbstversuch, danach indem sie bei baskischen Hirten in Südfrankreich in die Lehre gingen. Im Jahr 2004 lebten die meisten Schafe auf einer benachbarten Farm, die Cindys Eltern erworben hatten, nachdem sich abzeichnete, dass der Vermont Shepherd tatsächlich Davids Traum erfüllen würde, von der Bewirtschaftung dieses Lands zu leben. Ich wur-

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de eingeladen, in einer unbeheizten Wohnung in der Scheune dieses dritten Grundstücks in dem spärlich möblierten Raum zu nächtigen, in dem auch David während der Hochphase der Lammzeit schläft, um den Mutterschafen bei schwierigen Geburten notfalls mitten in der Nacht beizustehen. Jeden Morgen um sechs werde ich durch das Blöken der Schafe geweckt, die in den benachbarten Melkstand trotten. Abb. 2: Die wesentlichen Schritte bei der Herstellung des Vermont Shepherd (von oben nach unten zu lesen)

WEIDEN ROHMILCH Starterkultur > < Lab DICKELUNG SCHNEIDEN & TROCKENLEGUNG DER DICKETE FORMEN BADEN IN SALZLAKE REIFUNG / ALTERUNG Nachdem ich mich bei dem zweistündigen Morgenmelken der 130 Schafe nützlich gemacht habe, treffe ich in der Molkerei auf David. Ich trage Hygienekleidung, die niemals die Käserei verlässt: kniehohe Gummistiefel, eine lange, weiße Plastikschürze, eine weiße Baseballmütze und OP-Handschuhe, die mit Wasser volllaufen, als ich die Milchkannen sterilisiere. David beginnt die rituelle Überprüfung der Milch auf Antibiotika. Die Anwesenheit von veterinärmedizinischen Antibiotika in der Milch würde die guten Bakterien töten, die zur Fermentierung benötigt werden. Da sie außerdem bei den Konsument*innen allergische Reaktionen auslösen können, dürfte Käse mit solchen Rückständen von Gesetzes

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wegen gar nicht verkauft werden. David dokumentiert die Ergebnisse auf einem Klemmbrett an der Tür, „für die Inspektoren“. Es handelt sich weitgehend um eine Formsache. David benutzt Antibiotika ausschließlich zur Entwurmung und hält die Tiere, die einer solchen Behandlung unterzogen werden, von den Milchtieren getrennt. Die staatlich vorgeschriebenen Antibiotikatests, die auch auf Bio-Höfen durchgeführt werden müssen, sind ein Symptom unserer mikrobiopolitischen Zeit, einer undifferenzierten Antwort auf den maßlosen Gebrauch von Antibiotika in der industriellen Landwirtschaft, um die Herden am Leben zu erhalten – eine Praxis, die im Übrigen dazu führt, dass pathogene Erreger mit immer stärkeren und resistenteren Stämmen gegen uns antreten.

P ASTEURISIERUNG Maßgeblich für die Pasteurisierung ist ein Zeit-Temperatur-Verhältnis. Um pathogene (und gutartige) Keime abzutöten, die natürlicherweise in der Milch vorkommen, wird die Flüssigkeit (bei der Kurzzeiterhitzung oder „Blitzpasteurisierung“) für 15 Sekunden auf 72 Grad oder (bei der NiedrigtemperaturPasteurisierung) während 30 Minuten auf 63 Grad erhitzt. Kleine, handwerkliche Käserinnen, die ihre Milch pasteurisieren (wie zum Beispiel Frischkäsehersteller*innen) wenden im Allgemeinen letzteres Verfahren an. Es gibt außerdem einen Kompromiss zwischen Pasteurisierung und dem Verzicht auf jede Behandlung der Milch, der als „Thermisation“ oder „Thermisierung“ bezeichnet wird und bei dem die Milch für 2 bis 16 Sekunden auf 55 Grad erwärmt wird. Während man dieses Verfahren in Frankreich als Wärmebehandlung betrachtet, durch die sich die behandelte Milch von Rohmilch unterscheidet (Sciolino 2007), klassifiziert die US-Nahrungsmittelbehörde FDA thermisierte Milch als „unpasteurisiert“ (das heißt, sie fällt dort in dieselbe Kategorie wie Rohmilch). Während die rohe Vollmilch, die gestern Abend gemolken wurde, schonend in einem Kessel erwärmt wird, rühre ich eine pulverartige „Starterkultur“ aus tiefgefrorenen Milchsäurebakterien (Lactobacilli) in einen Eimer Milch vom heutigen Morgen, die noch die Wärme der Tierkörper aufweist (23 bis 28 Grad). Die Bakterien tragen wesentlich zum Geschmack, zur Konsistenz und zur Erkennbarkeit des Käses bei. Die Starterkulturen, die aus den gutartigen, natürlicherweise in der Milch vorkommenden Keimen ausgewählt werden, übertrumpfen die schädlichen Erreger und sind entscheidend an der Herstellung der Nahrungsmittel beteiligt, deren Verzehr für den Menschen unbedenklich ist. Während des von diesen Keimen in Gang gesetzten und als Säuerung bezeichneten

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Fermentierungsprozesses, durch den die Milch zu Käse wird, verbrauchen die Bakterien Milchzucker (Laktose) und setzen als Abfallprodukt Milchsäure frei. Abb. 3: Die Autorin, links, beim Melken der Schafe. (Foto: David Major, 2004)

Im 19. Jahrhundert wiesen Wissenschaftler am Pasteur-Institut in Frankreich nach, dass der scheinbar magische Prozess der Milchgerinnung und Käsereifung nicht „spontan“ abläuft, sondern das Ergebnis der Tätigkeit mikrobieller Akteure ist. Sie isolierten und kultivierten Stämme der Penicillin-Familie (P. candidum), die für die Milchsäuerung und die Bildung essbaren Schimmels verantwortlich waren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts überredeten die Wissenschaftler die französischen Käser*innen schließlich, das Schicksal ihrer Käse wissenschaftlich zu beeinflussen, indem sie ihnen kommerzielle, im Labor hergestellte „Starter“-Kulturen zusetzten. Die Absicht dieser frühen Pasteurianer war laut Pierre Boisard (2003) nicht, die Käsemacher*innen überflüssig zu machen, sondern ihnen bei der Herstellung eines verlässlichen Produkts, das auf einem breiten Markt angeboten werden konnte, zu helfen. Die kommerziellen Kulturen machten die Industrialisierung der Käseherstellung möglich. Weil die Pasteurisierung als ein bestimmtes Zeit-Temperatur-Verhältnis 95 Prozent aller Bakterien in der Frischmilch abtötet, muss die pasteurisierte Milch wieder mit reinen Kulturen geimpft werden, um den Prozess der Säuerung in Gang zu setzen.

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Abb. 4: Nach einigen Wochen in der Reifungshöhle entwickelt der Käse eine Schimmelrinde. (Foto: Heather Paxson)

In einer 1892 erschienen Ausgabe der Zeitschrift Science prognostiziert ein Biologe der Wesleyan University namens Herbert Conn, dass dieses mikrobielle Impfen zu einer breiteren, sichereren Käseversorgung führen werde. Wenn Da-

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vid Major, ein Erbe dieser wissenschaftlich inspirierten Praxis, Käse fabriziert, impft er seine Rohmilch mit Bakterien, die in einem französischen Labor kultiviert wurden, Enzyme Analogue Lactic (EZAL), um ein möglichst zuverlässiges und sicheres Produkt zu erhalten (würde David seine Milch pasteurisieren, bräuchte er ungefähr die doppelte Menge an kommerziellen Kulturen). Alle paar Wochen wechselt er zwischen den Stammmischungen EZAL 4001 und 4002 ab, um die mikrobielle Vielfalt im Käseraum zu erhalten und dort lauernde Krankheitskeime zu überlisten.5 Vor über einem Jahrhundert versprach Conn der Industrie zwei Vorteile durch den Einsatz von reinen Starterkulturen: Sicherheit und Sortenvielfalt. Nachdem er festgestellt hatte, dass jede der 400 oder 500 bekannten Spezies von Bakterien „unterschiedliche Formen der Zersetzung [...] Gerüche und [...] Geschmäcker“ hervorbrachten, spekulierte er, dass durch mikrobielle Impfung 400 bis 500 Käsesorten hergestellt werden könnten: „Vielleicht kann man heute in fünfzig Jahren [...] in den Laden gehen und eine bestimmte Käsesorte verlangen [...], die von einer bestimmten Sorte Bakterien gemacht wird“ (1892, 260). Natürlich hat die Industrialisierung im zwanzigsten Jahrhundert eher Einförmigkeit hervorgebracht als die gastronomische Vielfalt, von der Conn träumte. Aber genau an dieser Stelle hoffen die heutigen Post-Pasteurianer*innen ein neues Kapitel aufzuschlagen. Sie wollen indigene Kulturen – mikrobielle wie menschliche – vor der industriellen Homogenisierung retten.

M IKROBIOPOLITIK 1: D IE V ERKNÜPFUNG G ESCHMACK UND O RT

VON

Während sich die kommerziellen Kulturen vermehren, schrumpft womöglich die Anzahl indigener Kulturen. In einem in der Zeitschrift Applied and Environmental Microbiology erschienenen Aufsatz über Käseherstellung in Frankreich warnt ein Team aus US-amerikanischen und französischen Mikrobiolog*innen: „Der Industrietrend zu standardisierten Impfungen und Reifungsbedingungen könnte zum Verlust empirisch begründeter Biodiversität führen“ (Marcellino et al. 2001, 4753). Die Forscher*innen haben dazu 64 unterschiedliche Stämme des Mikroorganismus Geotrichum candidum aus sieben Käseregionen Frankreichs isoliert

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EZAL 4001 und 4002 sind mesophile Säuerungskulturen vom Bauernhof, die Lactococcus lactis, Lactococcus cremoris, Lactococcus lactis diacetylactis und Streptococcus thermophilus enthalten.

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und beschrieben. Es ist diese Vielfalt, die David Major durch den Wechsel zwischen EZAL-Stämmen zu replizieren versucht. Die federführende Autorin des Artikels, Mutter Noella Marcellino, die einer breiteren Öffentlichkeit nur als die „Käsenonne“ bekannt ist, begann das Unternehmen zur Bestimmung und Rettung von Käseprofilen mit einem FulbrightStipendium und einem Dispens ihrer Abtei in Connecticut, während der sie durch Frankreich reiste und in vollem Habit Käsefarmen besuchte, wo sie um Proben von Milch, Käsebruch und Käse bat und Mikrobenkulturen von den Wänden der Käsereiräume kratzte. Sie schreibt: „In dem Maße, wie die traditionellen Techniken zur Käseherstellung bedroht sind oder aufgegeben wurden, gewinnt die Sammlung, Charakterisierung und Bewahrung der einheimischen Stämme der für die Käsereifung verantwortlichen Mikroorganismen entscheidend an Bedeutung“ (Marcellino et al. 2001, 4758). Marcellino hat es sich zur Aufgabe gemacht, besser zu verstehen, auf welche Weise die Entstehung von Mikrobenstämmen und Käseherstellungspraktiken ineinandergreifen. In ihrer 2003 verfassten Dissertation erläutert sie, warum sie sich nach zwanzig Jahren Erfahrung mit einem durch Oberflächenschimmel in ihrer Benediktinerabtei gereiften Rohmilchkäse namens Bethlehem für die Mikrobiologie von Käse zu interessieren begann. Bei der Herstellung des Bethlehem folgt Marcellino (2003, 51) einem traditionellen französischen Rezept, das sie in der Auvergne von einem in dritter Generation tätigen Käser gelernt hat. Wie die Wissenschaftler am Pasteur-Institut vor hundert Jahren bemerkte auch Mutter Noella, dass das spontane Auftreten von Pilzen auf der natürlichen Rinde ihres Käses „reproduzierbar und vorhersehbar“ war (2003, 30), obwohl ihr Käse ausschließlich von der Mikroflora seiner Umgebung zehrt (und sie für die Reifung keine bakteriellen oder Pilzkulturen hinzufügt). Aber anders als die Pasteurianer wollte Noella etwas über die Identität der einheimischen Mikroflora herausfinden, um sie zu erhalten, wie sie war, und nicht um sie im Laboratorium zu verbessern. Für Marcellino hat Biodiversität einen historischen und einen kulturellen Wert. Oder wie sie in Pat Thompsons 2006 für den Sender PBS hergestellten Dokumentarfilm The Cheese Nun sagt: „So wie man eine bestimmte Baumart im Regenwald zu schützen sucht, so gilt es auch die Mikroben zu schützen, die Teil einer Region sind, weil sie zum Aroma und dem besonderen und einzigartigen Charakter eines Käses beigetragen haben.“ Es bestehen hier Anklänge an den aus dem Weinbau geläufigen Begriff des terroir, der immer häufiger zur Beschreibung des Umstands benutzt wird, dass Klima und Boden jeweils besondere Weidegründe hervorbringen, deren aromatische Komponenten über die Milch in den handgefertigten Käse eingehen. Im Gegensatz zu Industriekäse, der aus einem hitzebehandelten Milchgemisch aus mitunter mehreren hundert Molkereien

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hergestellt wird und der keine Zeit zur Reifung erhält, kann handgemachter Rohmilchkäse Kenner*innen zufolge durchaus die Komplexität eines bestimmten „Terroirgeschmacks“ zum Ausdruck bringen (Binchet 2002; McCalman 2002; Style 2006). Im Jahr 2003 gründete der amerikanische Zweig der internationalen öko-gastronomischen Slow-Food-Bewegung das American Raw Milk Farmstead Cheese Consortium, um Rohmilchkäse zu fördern, der auf derselben Farm hergestellt wird, auf der auch die Tiere leben, die die dafür verwendete Milch produziert haben. Dabei wird unterstellt, dass diese Käsesorten – mehr als andere – „die Verbindung zwischen Land, Tier und Käser widerspiegeln“. 6 Wie genau sie dies tun, bleibt allerdings ein wenig rätselhaft. In ihrer Doktorarbeit zitiert Marcellino den französischen Käsemeister Pierre Androuët mit folgenden Worten: „Unsere Vorgänger glaubten aus gutem Grund, dass die natürlichen Akteure aus der Umwelt die Persönlichkeit des Käses bedingen und brachten dies verbindlich mit den Kennzeichen des Alters und des Territoriums zum Ausdruck“ (2003, 64). Die Möglichkeit einer Terroir-Zuordnung beim Käse wirft wichtige Fragen über die geografische Kohärenz auf (wie lässt sich ein „Ort“ von einem anderen unterscheiden?), zur Geschichte der Landnutzung, der Geschmacksbildung, der Vermarktung und so fort. Marcellino fragt sich, ob zu Androuëts „natürlichen Akteuren“ auch Mikroben zählen; die Frage, die ich mir in diesem Aufsatz stelle, lautet: Welche Rolle spielen Mikroben – und Mikrobiopolitik – bei der gedanklichen Bestimmung der Verknüpfungen zwischen Land und Nahrung, Ort und Geschmack? Nachdem Marcellino Ähnlichkeiten zwischen ihrem Bethlehem und dem traditionellen, staatlich auf seine Herkunft kontrollierten Käse Saint-Nectaire aus der Auvergne (Appellation d’Origine Contrôlée) festgestellt hatte, fragte sie sich, ob die beiden Käse sich auch mikrobiologisch ähneln (Marcellino und Benson 1992, 3448) – eine provokante Frage, insofern beide Käse auf die Verwendung kommerzieller Starterkulturen oder Sekundärimpfungen verzichten. Im Wissen, dass der hefeähnliche Pilz Geotrichum candidum für die Reifung und den geschmacklichen Charakter eines Käses entscheidend ist, überprüfte Marcellino die Hypothese, „ob die Unterschiedlichkeit von G. candidum von der geografischen Region abhängt, der die Probe entnommen wurde, und/oder von der Käseklasse, der die Probe entnommen wurde“ (2003, 26). Mit anderen Worten: Sind die spezifischen Stämme eines Käses das Ergebnis der Umweltbedingungen oder der handwerklichen Techniken oder einer Mischung aus beidem? Als sie die DNA des G. candidum sequenzierte, den sie aus sieben Regionen Frankreichs gesammelt hatte, konnte Marcellino keine Korrelation „zwischen

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https://www.slowfoodusa.org, letzter Zugriff: 28. Juni 2007.

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den Regionen, in denen die Stämme isoliert wurden, und deren Häufungsmustern entdecken“ und schloss daraus, dass „ähnliche oder identische Stämme in ganz Frankreich und wahrscheinlich der ganzen Welt endemisch sind“ (sie konnte vergleichbare Stämme in ihrem Käse aus Connecticut nachweisen; Marcellino et al. 2001, 4756). Wiewohl französische Käse einen Großteil ihrer Charakteristik der Arbeit von Mikroben verdanken, besteht das mikrobielle „Patrimonium“, wie sie es nennt, nicht im spontanen Auftreten regional unterschiedlicher, für die Käsereifung maßgeblicher Hefen und Schimmelpilze. Nur weil David Major seinem Vermont Shepherd tiefgefrorene Mikroben aus Frankreich beifügt, wird daraus noch kein französischer Käse. Die Herstellungstechnik übt laut Marcellino also einen größeren Einfluss auf die mikrobielle Käseentwicklung aus als die geografische Region. Mikrobiologisch beschreibt sie handgemachten Käse als einen Natur-Kultur-Hybrid: Die Mikroorganismen, mit denen die bekanntesten französischen Käse angereichert werden, kleben an den Wänden vorindustrieller Käsereien und unterirdischer Reifungsgewölbe, in denen seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, oft auf Grundlage von Familienrezepten, auf dieselbe handwerkliche Weise Käse hergestellt wird. Marcellino weist wie Latour auf den sozialen Charakter von Mikroben hin: Es sind Formen natürlicher Flora und Fauna, die sich in spezifischen Gemeinschaften innerhalb von Ökologien konkreter menschlicher Praxis materialisieren. Es ist daher mehr als ein eitler Kalauer, von Käsekulturen im doppelten Sinn zu sprechen – bakteriellen und menschlichen. Mikrobiopolitisch lässt sich die Herstellung von Rohmilchkäse (insofern sie auf dem wissenschaftlichen Einsatz lebender Organismen oder von Teilen solcher Organismen beruht) als eine Biotechnologie des Regionalismus oder, um den neuesten Jargon zu verwenden, des Lokalismus begreifen, als Ausdruck der Verbindung zwischen einer Bevölkerung und einem Stück Land.

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V ERMONT S HEPHERD 2

Wenn die Milch eine einheitliche Temperatur zwischen 21 Grad und 27 Grad erreicht hat, rührt David das Lab ein, das in einer Lösung von mehreren Litern kaltem Wasser aufgelöst wurde. Lab ist ein Enzym, das nach der Säuerung den zweiten entscheidenden chemischen Prozess bei der Käseherstellung einleitet: die Fermentation oder Dicklegung der Milch zu Quark oder Käsebruch. Seit dem BSE-Ausbruch in England benutzt David anstelle des üblichen, aus dem Labmagen von Kälbern oder anderen jungen Wiederkäuern gewonnenen Labs, das er aus England einführte, ein (mikrobielles) Schimmelderivat als Ferment. In Eng-

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land verlangen Vegetarier*innen oft nach Käse, der mit einem aus Schimmelpilzen gewonnen, so genannten „vegetabilen“ Ferment hergestellt wurde; laut David hat „vegetarisches“ Ferment in den USA (zumindest bei den Konsument*innen hochpreisigen Käses) keine große Bedeutung. Die einzige Alternative wäre eine genetisch modifizierte Laborversion, die aber bei manchen Kunden und Kundinnen auf Widerstand stieße. Die Wahl des Ferments und der Wechsel der eingesetzten Starterkulturen belegt zum einen, dass die Käser*innen bestimmte Mikroorganismen unterdrücken, um anderen zur Entfaltung zu verhelfen, und zum anderen ihre permanente Sorge um die verschiedenen, durch die Mikroben verknüpften Wirte: Land, Tier, Milch, Käse, Mensch. Ungefähr zwölf Minuten nachdem das Lab zugesetzt wurde, erreicht die Milch den Ausflockungspunkt und verdickt plötzlich von einer Sekunde auf die andere. Nach dreißig Minuten ist die Dickete ganz ausgefällt. Während David die weiche Maße in zentimetergroße Stücke schneidet, um die Molke abzuschöpfen, nehme ich eine Kostprobe – der Bruch schmeckt süß, satt, cremig. David erhitzt den Käsebruch unter konstantem Rühren dreißig Minuten lang auf 38 Grad (weit unter der für eine Pasteurisierung nötigen Temperatur). Ich helfe, den mittlerweile gummiartigen „gekochten Bruch“ zu einer festen Masse zu verarbeiten, indem wir weiter die protein- und bakterienreiche Molke auspressen, die zur Düngung der Weiden benutzt wird. David schneidet den Bruch in 32 Blöcke, die wir jeweils kneten und in die Plastikschüsseln pressen, die dem Vermont Shepherd seine typische Form geben. Meine Armmuskeln schmerzen schon von den 40-Liter-Milchkannen, die in Seifenwasser getaucht und wieder herausgehoben werden mussten, und ich denke bei mir, dass „handgemacht“ mehr als eine Metapher ist. Ich transportiere die frischen Käselaibe mit einer Schubkarre zu dem einige hundert Meter entfernten Käsekeller, der aus in den Hügel eingelassenen, zweckentfremdeten Betonröhren besteht. Dort werden die Laibe über Nacht weiter entwässern. Am nächsten Tag begleite ich meine Scheunengenossin Lucy, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat und für eine Saison bei Major ein Praktikum absolviert. Wir beginnen mit dem Einlegen in Salzlake. Der Dickete selbst wurde kein Salz zugesetzt, aber Salz, das eine antibakterielle Wirkung hat, ist wichtig für die künftige Entwicklung des Käses. Wir wiegen jeden einzelnen Laib, um festzulegen, wie lange er in der mikrobenreichen Salzlake, die über die gesamte Saison benutzt wird, gebadet werden muss – zwischen 24 und 36 Stunden. Die Laibe werden dann auf Holzbrettern zum Trocknen ausgelegt, bis sie nach ungefähr einer Woche „in die Pubertät kommen“, wie David mir sagte, und auf ihrer Oberfläche ein feiner weißer Schimmel zu wachsen beginnt, der aussieht wie Babypuder.

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Vermont Shepherd hat eine „Naturrinde“, das heißt seine äußere Oberfläche wird durch Exposition an der Luft hart. Eine Naturrinde ist jedoch nicht einfach das Ergebnis von Austrocknung; sie entsteht durch absichtsvoll eingeleitete biochemische Reaktionen – im Wesentlichen eine Art kontrollierte Fäulnis. Zweimal pro Woche tauchen wir unsere behandschuhten Finger in eine Lake aus Salz, Wasser und jeder Menge spezieller Bakterienarten und drücken die neu gewachsene mikrobielle Flora in den Käse, damit sich eine halbdurchlässige Kruste bildet, durch die Gase und Feuchtigkeit entweichen können. Die Rinde, die bis zu zwanzig Prozent aus Salz besteht, schützt das Innere vor pathogenen Keimen und fördert „gute“ Mikroben, wie zum Beispiel das sehr aromatische Brevibacterium linens, die zum komplexen Geschmack eines gealterten Käses beitragen (das Brevibacterium linens ist eng mit Brevibacterium epidermis verwandt, das sich gern in den „warmen, feuchten menschlichen Zehenzwischenräumen“ ansiedelt; Enserink 2002, 90). Maria Trumpler, die einen Naturrindenkäse namens Vermont Ayr herstellt, versicherte mir später: „Es sind Bakterien, die die gesamte Arbeit der Käseherstellung tun – sie machen den Geschmack aus und die Konsistenz. Wir müssen nur darauf aufpassen, dass wir ihnen nicht in die Quere kommen.“ Ich helfe Nicholas, dem stellvertretenden Farmmanager, bei dem, was vereinfachend als das „Wenden“ des Käses bezeichnet wird. Danach fühlen sich mein Hals und meine Lungen gereizt an und ich habe einen leichten Husten. David sagt mir, dass er sich kaum an der Aushärtung beteilige, weil er auf Schimmel allergisch sei. Die intensive menschliche Arbeit, die für die Herstellung eines Käses mit „Natur“rinde aufgewendet werden muss, verdeutlicht, dass Mikrobiopolitik eine Produktivkraft ist, bei der Berechnung, Klassifikation und Kultivierung Hand in Handschuh arbeiten. Die Laibe des Vermont Shepherd werden mindestens dreieinhalb Monate lang auf diese Weise gehärtet, also anderthalb Monate länger als die in den Vereinigten Staaten gesetzlich vorgeschriebene Mindestreifezeit, bevor sie auf den Markt gebracht werden. Zu diesem Zeitpunkt ist die Rinde hart und braun geworden und das Innere sämig und schmackhaft. Die vorgeschriebene Reifezeit soll „ein Maß für die Reduktion von pathogenen Keimen bieten“ (National Research Council 2003, 234) und geht dabei davon aus, dass die mit der Reifung einhergehende Trocknung und Säuerung den Käse für pathogene Keime zunehmend unwirtlich werden lässt. David lieferte mir noch eine weitere Begründung: Falls irgendetwas mit dem Käse nicht stimme, werde dies binnen sechzig Tagen durch platzende Gasblasen, üblen Geruch oder andere sinnlich wahrnehmbare Zeichen sichtbar.

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M IKROBIOPOLITIK 2: D IE V ERKNÜPFUNG VON I NFEKTION UND V ERDAUUNG MIT POLITISCHEN S KALENEFFEKTEN Die Pasteur’schen Kontrollpraktiken produzieren jedoch nicht nur sichere Nahrung, sie tragen auch zur Kultivierung keimfeindlicher Subjekte bei, die durch rationale Entscheidungen ihre Gesundheit zu schützen suchen. Die US-amerikanische Lebens- und Arzneimittelbehörde FDA richtet ihre strengsten Warnungen vor den in Käse enthaltenen Keimen an schwangere Frauen. Der Grund für die Besorgnis ist Listeria monocytogenes, ein für die Krankheit Listeriose verantwortliches Bakterium, das mit Fehl- und Totgeburten in Zusammenhang gebracht wird. Bis 2005 riet die FDA schwangeren Frauen vom Verzehr von Blauschimmel- und Weichkäse „wie Feta, Brie und Camembert“ unabhängig von Alter und Pasteurisierung ab. Die Kategorie „Weichkäse“ ist auch in der Käsewelt keineswegs eindeutig; sie umfasst junge Käse mit hohem Feuchtigkeitsgehalt, die zu bakteriellen Infektionen führen können. Aufgrund der Vagheit dieser Kategorie – und vielleicht der Ambivalenz gegenüber einem schmierigen, fettreichen Käse, dessen Genuss mit ebenso viel Lust wie schlechtem Gewissen verbunden ist – führte die Warnung unter den mikrobiopolitischen Akteuren, welche die FDA eigentlich zu schützen beabsichtigt – das heißt den gefährdeten Konsument*innen – zu einer beträchtlichen Verwirrung. Seit 2005 erlaubt die FDA schwangeren Frauen den Genuss von „Weichkäse“, vorausgesetzt auf der Packung steht, dass er „aus pasteurisierter Milch hergestellt“ wurde. Obwohl diese Feststellung zu einer gewissen Klärung der Verwirrung beiträgt, stellt die Feststellung keinerlei Gesundheitsgarantie dar. Denn wie sich zeigte, wurden in der letzten Dekade etwa die Hälfte der mit Listerien kontaminierten Käse, die die FDA durch Stichproben oder nahrungsmittelbedingte Krankheitsmeldungen entdeckte, aus pasteurisierter Milch hergestellt; diese Kontaminationen waren entweder auf Verunreinigungen nach dem Herstellungsprozess zurückzuführen (in einem Fall wurde eine ungenügend gesäuberte Reibemaschine als Ursache ausgemacht) oder auf industrielle Mengen stark verdorbener Milch, die selbst durch Pasteurisierung nicht mehr gerettet werden konnte (Donnelly 2005). Obschon leichter verständlich, ist die gegenwärtige Empfehlung vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheitsfürsorge nicht rationaler, weil die Pasteurisierung – die mit den „schlechten“ auch die „guten“ Keime abtötet – beim Käse mitnichten das scharfe Schwert ist, für das die Pasteurianer*innen sie halten. Dennoch erhöhten die Pasteurianer just zu dem Zeitpunkt, als immer mehr selbstgemachte – hinlänglich gereifte und ausgehärtete – Rohmilchkäse wie Vermont Shepherd auf den Markt kamen, den Einsatz: In den späten 1990er Jahren setzte die FDA eine Überprüfung der Sicherheitsbestimmungen bei Roh-

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milchkäse, der über sechzig Tage gelagert wurde, auf die Agenda. Obwohl bisher kein epidemiologischer Zusammenhang zwischen pathogenen Erkrankungen und altem Rohmilchkäse bekannt geworden war (Donnelly 2005), hielt die FDA an einer Neubewertung der Sechzig-Tage-Reifung fest, „um sicherzustellen, dass dieses prozessuale Kriterium ausreicht, um die öffentliche Gesundheit zu schützen“ (National Research Council 2003, 226). Ein totales Verbot von Rohmilchkäse würde nicht nur das Aus für Käse wie den Vermont Shepherd bedeuten, sondern auch für Käser wie David Major, die – selbst wenn sie sich einen Pasteurisator leisten können – auf dem Markt einen Ruf für Käse mit besonderem Geschmack und einer eigenen Textur etabliert haben, der sich durch die Pasteurisierung verändern könnte. Eine allgemeine Zwangspasteurisierung aller zur Käseherstellung verwendeten Milch würde außerdem das Ende importierten Greyerzers und englischen Farmhouse Cheddars bedeuten – ja wahrscheinlich auch des Parmigiano Reggiano, eines trockenen Hartkäses, dessen Dickete auf höhere Temperaturen erhitzt wird als zur Pasteurisierung erforderlich und den Donnelly mir gegenüber (2004) als „bombensicher“ bezeichnete. Kurz nachdem die Absichten der FDA bekannt wurden, erklärte der Autor des Käseratgebers Cheese Primer und Käseeinkäufer für die Fairway-Supermärkte in New York, Steven Jenkins, gegenüber einem Reporter der New York Times: „Diese ganze Sache ist hirnverbrannt. [...] Sie wird eine der schönsten und romantischsten Verbindungen zwischen dem Menschen und der Erde zerstören, die es je geben wird, und es wird nicht zu unserem Vorteil sein“ (Wakin 2000, B1). Obwohl ein komplettes Verbot unpasteurisierter Milch unwahrscheinlich erscheint, bleiben die zukünftigen Vorschriften in Sachen Rohmilchkäse ungewiss. Sind angemessen gereifte und in kleinen Mengen handwerklich hergestellte Rohmilchkäse wirklich gefährlicher als industriell produzierte pasteurisierte „Weichkäse“? Während mein lokaler Käsehändler Robert mich einerseits während meiner Schwangerschaft übervorsichtig ausschließlich mit pasteurisiertem Hartkäse versorgte (und es gibt in der Tat exzellenten Käse aus pasteurisierter Milch), hielt er es andererseits für keinen Zufall, dass er in all den Jahren, seit er Rohmilchkäse aß, keine Erkältung oder Grippe mehr gehabt hatte. Nach postPasteur’scher Auffassung können Rohmilchkäse für Personen, die weder schwanger noch immungeschwächt sind, der Gesundheit sogar zuträglicher sein als pasteurisierte Käse, denn was den Käse schützt, das schützt auch uns. Die Sorge um sich kann durch die Sorge um die Mikrobe, die Kultivierung „guter“ Keime unterstützt werden. Die Stoffwechselprodukte von Mutter Noellas Geotrichum candidum, einem Pilz, der fast alle Käse mit Oberflächenreifung besiedelt, kann die Entwicklung von Listeria monocytogenes (Marcellino et al. 2001, 4752) hemmen. Donnelly schreibt: „Die Zwangspasteurisierung von Milch

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kann die Anfälligkeit des Käses für das Wachstum pathogener Keime durch Verunreinigungen in der Postproduktion erhöhen“ (2005, 191). Für Postpasteurianer*innen sind Mikroben kein unsichtbarer Feind, der sich im Käse verborgen hält: sie sind Käse. Oder wie ein Journalist meinte: „Wenn man einen solchen Käse isst, isst man ein sich entwickelndes Ökosystem. Jeder Bissen enthält Milliarden Keime“ (Kunzig 2001). Während die FDA über die Ausweitung eines Verbots von Rohmilchkäse nachdenkt, hat die Fleischverpackungsindustrie ironischerweise Forscher*innen beauftragt, die Möglichkeiten einer „probiotischen“ Verabreichung von Lactobacillus an Fleischrindern zu testen, um deren Widerstandsfähigkeit gegen Bakterien wie zum Beispiel E. coli zu erhöhen – und damit die Gefährdung des Menschen zu verringern (Dunn 2007, 46). Inzwischen gehen die Käsefreunde und Käsefreundinnen noch einen Schritt weiter und behaupten, dass richtig hergestellter Rohmilchkäse nicht nur weitgehend ungefährlich, sondern auch gesünder sei als pasteurisierter Käse, weil er viele Mineralstoffe und B-Vitamine enthalte. Da er außerdem reich an Enzymen sei, sei Rohmilchkäse für Menschen leichter verdaulich und trage, wie maître fromagier Max McCalman schreibt, „weniger zur Verkalkung unserer Arterien“ bei (2002, 62). Aber so wenig Rohmilchkäse eine „natürliche“ Gefahr darstellt, so wenig darf man seine guten Eigenschaften verabsolutieren. Eine erfolgreiche Rohmilchkäseproduktion hängt von sauberer Milch ab. Meine Geschichte über die Herstellung von Vermont Shepherd hätte daher um sechs Uhr früh im Melkstand beginnen sollen. Bevor wir den Mutterschafen die Melkbecher anlegten, hatten Lucy und ich die Zitzen und den umgebenden Euter mit einer Jodlösung eingestrichen und mit ungebleichten Papierhandtüchern gereinigt. Nachdem wir jedes Schaf gemolken hatten, sprühten wir die Zitzen erneut mit Jodlösung ein, um Entzündungen zu verhindern. Die Schafe werden genauestens auf Entzündungen der Brustdrüsen und andere Krankheiten hin beobachtet; infizierte Schafe werden aus der Herde genommen und separat von Hand gemolken; ihre Milch wird weggeschüttet. Die Käser*innen, mit denen ich gesprochen habe, nehmen die Tatsache, dass sie mit einer potenziellen biologischen Gefahr arbeiten, recht ernst. Ein Käser erklärte mir, „neunzig Prozent der Qualität eines Käses besteht aus Putzen“. Ein anderer aus Massachusetts sagte über das Saubermachen: „Ich habe es immer als lästige Pflicht angesehen. Ich habe so wenig darauf gegeben, wie ich konnte, aber es ist eine Wissenschaft für sich. Wenn man eine bestimmte Oberfläche richtig reinigen will, braucht man soundso viel Prozent Seife und soundso viele Minuten – wenn man es von dieser Seite aus betrachtet, ist es weniger Putzen als notwendige und produktive Arbeit.“ Reinigen (von Schmutz) und Desinfizieren

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(gegen Keime) tragen deshalb zur Herstellung hochqualitativen Käses bei, weil sie den Sieg der „guten“ über die „schlechten“ – die Fermentierung hemmenden, übelriechenden, pathogenen – Keime ermöglichen. Desinfektionspraktiken und hygienische Fußbekleidung sind während des gesamten Produktions-, Reifungsund Verpackungsprozesses von großer Bedeutung, weil die Anwesenheit von Umweltpathogenen wie Listeria hauptsächlich auf Verunreinigungen in der Postproduktion zurückgeht (D’Amico, Druart und Donnelly 2006). Für heutige Produzent*innen ist Rohmilchkäse weder eine „Rückkehr zu“ noch eine „erfundene“ Tradition (Bromberger 2005), sondern eine Form von moderner landwirtschaftlicher Produktion unter außergewöhnlich hygienischen Bedingungen (einer der von mir interviewten Käser hatte in seinem früheren Leben als Zahnhygieniker, eine Käserin als Operationsschwester gearbeitet). Manche Käsekeller ähneln mehr einem wissenschaftlichen Labor als etwas anderem. Die Brüder Mateo und Andy Kehler, die im Norden Vermonts 35 Kühe melken und Rohmilchkäse herstellen, schicken freiwillig bei jedem vierten Melken (das heißt alle zwei Tage) eine Probe an ein privates Milchlabor, um die Milch kostspielig (für rund 60 Dollar pro Test oder „hunderte von Dollar im Monat“) auf Keime untersuchen zu lassen. 2005 verkündete Mateo auf der Versammlung der American Cheese Society, dass die Bakterienzahl in der Milch, aus der sie ihren Käse machen, im Allgemeinen unter derjenigen mancher pasteurisierter Milchsorten aus den Regalen im Supermarkt liege (eine Behauptung, die auch andere kleine Milchproduzenten mir gegenüber wiederholt haben). Um ihre Milch zu produzieren und einwandfrei zu halten, verzichten die Kehlers ganz auf die Verfütterung von Silage (fermentiertem Getreide oder Heu), einer notorischen Brutstätte für Bakterien, sie lagern ihre Milch nie länger als 24 Stunden und achten, vom Stall bis zum Käsekeller, peinlich genau auf Hygiene. Käser müssen ihre eigene Gesundheitspolizei sein, wie Mateo sagte. Und meistens sind sie es auch. Dennoch kommt es jedes Jahr zu Rückrufen – und wenn dies passiert, schadet es dem Geschäft aller. 2005 argumentierten einige Produzent*innen auf der Versammlung der American Cheese Society, dass Rohmilchkäse aus Sicherheitsgründen auf kleine Gehöfte beschränkt werden sollte, auf denen die Milch von einer einzigen Herde gewonnen wird, was den Käser*innen einen unmittelbaren Überblick über die Milchproduktion erlaube. Aber die Kennzeichnung „vom Bauernhof“ wird unabhängig von der Größe vergeben; eine Farm in Modesto, Kalifornien, melkt 1500 Kühe und produziert 180.000 Kilo Cheddar pro Jahr (Sarkovitz-Dale 2006, 14), was beinahe an die gesamte Hofkäseproduktion des Staats Vermont mit 215.000 Kilo heranreicht. Ich vermute jedoch, dass hier neben der Nahrungsmittelsicherheit noch eine andere Sorge mitspielt. Wenn Produzent*innen wie die

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Kehlers die Beschränkung der Rohmilchproduktion auf kleine Hersteller*innen verlangen, dann wollen sie die symbolische Verbindung zwischen Rohmilch und kleinen Bauernhöfen sicherstellen in der Hoffnung, Milchviehhalter*innen mit 50 bis 70 Kühen, die kaum noch über die Runden kommen, zur Käseherstellung zu bewegen, ohne dass sie in einen Pasteurisator investieren müssen. Auf diese Weise könnten diese Höfe erhalten und die ländlichen Gemeinden und Ökonomien neu belebt werden. Sie möchten den Rohmilchkäse zu einem Eckpfeiler einer „Landwirtschaft der Bürger“ [civic agriculture] machen (DeLind 2002; Lyson 2004).7

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Käse wie der aus Rohmilch und mit Naturrinde hergestellte Vermont Shepherd verdanken ihren komplexen Geschmack und ihre angenehme Struktur der Einwirkung von Bakterien, Hefen und Schimmelpilzen auf das Milcheiweiß. Käseliebhaber*innen charakterisieren die Differenz zwischen Rohmilchkäse und pasteurisiertem Käse als einen Unterschied in Lebendigkeit: Von einem Rohmilchkäse, dessen Zusammensetzung und Geschmack sich bis zum Verzehr stetig weiter verändert, sagt man, er sei „lebendig“, während ein pasteurisierter, eingeschweißter Käse als „tot“ bezeichnet wird. Die lebendigen Mikroorganismen verrichten bei der Herstellung von Käse und anderer fermentierter Lebensmittel also nicht nur eine gewisse Arbeit, sondern sie verleihen ihnen auch Lebendigkeit. Man spricht vom Rohmilchkäse als einem Organismus, der „reift“, „in die Pubertät kommt“ (wie David Major sagte) und „altert“. Jeder Laib des Vermont Shepherd hat eine Biografie. Wenn man seinen Laib direkt bei der Farm der Majors bestellt, enthält das Paket eine Karte, auf der das Wetter und die besonderen Verhältnisse auf der Farm zum Zeitpunkt der „Geburt“ des Käses beschrieben werden. In einem anderen biologischen Idiom wird der Rohmilchkäse als ein

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Der Originalaufsatz enthält an dieser Stelle einen weiteren Abschnitt mit dem Untertitel „Mikrobiopolitik 3: Käse, Geschlecht und mehr“ [Microbiopolitics 3: Cheese, sex, and beyond]. Darin diskutiert die Autorin den Pasteurismus als eine Spielart der Biopolitik, die durch die Kontrolle mikrobieller Körper auf menschliche Körper zugreift und dabei risikobewusste Subjekte hervorbringt. Als konkretes Beispiel dient ihr die Warnung der FDA vor dem Verzehr von Rohmilchkäse durch Schwangere. Eine PostPasteur’sche Biopolitik verkörpert dagegen der HIV-positive Aktivist Sandor Ellix Katz (2003), der die medikamentöse Therapie bewusst durch probiotische Lebensmittel und selbst produzierten Rohmilchkäse ergänzt.

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Ökosystem oder mikrokosmischer Bauernhof beschrieben, dessen mikrobielle Flora und Fauna sorgfältig gepflegt, kultiviert und veredelt werden. In einem Workshop für angehende Käsemacher*innen erklärte Peter Dixon das Handwerk des Härtens von rindengewaschenem Käse, indem er eine Analogie zur Bodenbearbeitung zog: „Wir wollen, wenn man so will, den Boden richtig kultivieren, damit die richtigen Dinge darauf wachsen.“ Beide Redeweisen rufen bei den Pasteurianer*innen der FDA, die Käse als eine potentielle biologische Gefahr begreifen, die durch Pasteurisierung und industrielle Verarbeitung gezähmt und zu einem sicheren Nahrungsmittel denaturiert werden muss, Unverständnis hervor. Mich selbst durchzuckt ein post-Pasteur’scher Schauer aus Ekel und Ehrfurcht, wenn ich lese, dass 90 Prozent der Zellen im menschlichen Körper Mikroorganismen sind. 2006 wurde in einem Artikel in der Zeitschrift Science berichtet, dass das Genom aller in einem gesunden menschlichen Verdauungstrakt siedelnden Mikroorganismen hundert Mal so viele Gene enthält wie das menschliche Genom (Gill et al. 2006). Eine Sozial- und Kulturanthropologie der Mikrobiopolitik könnte, in diesem Lichte betrachtet, zu einem „vollständigeren Bild des menschlichen Organismus“ beitragen, „indem es ihn als ein ‚Kompositum aus vielen Spezies begreift und unsere genetische Landschaft als ein Amalgam aus den im Genom des Homo sapiens enthaltenen Genen und den Genomen der mit uns verpartnerten Mikroorganismen‘“ (Bäckhed et al. 2005, 1915, zitiert nach O’Malley und Dupré 2007, 157–158) – ein Amalgam, das man inzwischen als „Mikrobiom“ bezeichnet (Hooper und Gordon 2001, 115). Sobald man den Käse als einen lebenden Organismus oder einen mikrokosmischen Bauernhof betrachtet und schätzt – sobald er zu einem mikrobiopolitischen Objekt wird –, muss die Behandlung des Käses und die Sorge [care] für den Käse, die Sorge für die Tiere, die Sorge für das Land und die Sorge um das konsumierende Selbst die Anwesenheit von Mikroorganismen berücksichtigen. Naturkulturelle Praktiken sind sowohl mikrobiell wie menschlich. Käsern wie David Major und Mateo Kehler, die Bakterienimpfungen, Salz und die Feuchtigkeit und Temperatur der Umwelt einsetzen, um mit und nicht gegen die biochemische Natur der Milch zu arbeiten und den Sieg der „guten“ über die „schlechten“ Keime zu erleichtern, sind sich dieses Umstands sehr wohl bewusst. Die mikrobiellen Kulturen in der Käserei sind, wie die menschlichen Kulturen in der Sozial- und Kulturanthropologie, nicht Kontext, sondern, wie Michael Herzfeld (1997, 3) und andere betont haben, Prozess und Relation: ein Verbum (siehe auch Fischer 2007, 39). Die Kultivierung von Käse impliziert nicht nur die Kanalisierung von Milch in eine Ware mit Mehrwert, sondern stellt zugleich die Frage, wie wir in einer Welt leben wollen, in der Mikroorganismen

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ein unvermeidlicher, wenn auch nicht immer sichtbarer Teil der politischen, sozialen und erfahrbaren Landschaft sind. In den letzten dreißig Jahren hat die Sozial- und Kulturanthropologie unsere Vorstellungen über Kulturpraxis, Politik und Ethik erweitert; und auch die Käser*innen integrieren diese Vorstellungen in ihre Auffassung der Käsekultur. Die Arbeit mit David Major hat mich gelehrt, dass die Kultivierung von Käse in einem Netz menschlicher und mikrobieller Praktiken erfolgt, das zwischen den Machtfeldern von Markt, staatlicher Verwaltung und Mikrobiopolitik schwebt. Im Einklang mit einer wachsenden biotechnologischen Sensibilität vertreten Befürworter*innen und Praktiker*innen gemeinsam die Auffassung, dass die Sorge um diese Mikroben den Menschen einen unverhofften Gewinn eintragen kann. Mateo Kehler sieht in gesundheitlich unbedenklichem und in überschaubaren Mengen handwerklich hergestelltem Rohmilchkäse eine Zukunft für landwirtschaftliche Familienbetriebe und den Erhalt der „bearbeiteten Landschaft“ Vermonts, weil er aus sauberer Milch von Tieren hergestellt wird, die auf Weiden grasen oder mit frisch getrocknetem Heu gefüttert werden statt mit kommerziellem Futtergetreide. Es geht hier um eine nachhaltige Biotechnologie im Dienste einer alternativen Landwirtschaft, die der Globalisierung und der Agrarindustrie kritisch gegenübersteht – ja vielleicht sogar um eine Art Biopolitik, die eine Ausweitung ländlicher Praktiken über die Sorge um das (menschliche) Selbst hinaus fordert. Ähnlich wie Enticotts (2003a, 2003b) und Marcellinos (2003) Forschungen bringt auch Kehlers Vision eine lokale Verbundenheit zwischen den Menschen und dem Land, mit einem Ort und mit einer gemeinsamen Lebensweise zum Ausdruck. Der Rohmilchkäse wird dadurch zu einem Bestandteil einer umfassenderen alternativen Landwirtschafts- und Ernährungspolitik. Obschon die post-Pasteur’sche Sorge um uns selbst einer Vielfalt von moralischen Zwecken dienen kann, passiert sie doch zwangsläufig einen Punkt, an dem zugleich die Sorge um die Mikrobe auf dem Spiel steht – um die guten Keime wie Lactobacillus oder Penicillin, die unser Leben begleiten und deren Körper und Kulturen in Verschränkung mit menschlichen Körpern und Kulturen entstehen. Auf diese Weise machen die Post-Pasteurianer*innen deutlich, dass menschliche und mikrobielle NaturenKulturen nicht das Rohmaterial, sondern das fortlaufend produzierte Ergebnis von Geschichte sind. Für manche eröffnet dies neue Möglichkeiten einer – von praktischer Sorge, wissenschaftlicher Bildung und politischem Bewusstsein angeleiteten – Kultivierung einer biologisch, umweltpolitisch, staatsbürgerlich und finanziell vertretbaren kleinbäuerlichen Landwirtschaft.

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Die Übersetzung gibt eine von den Herausgeber*innen in Abstimmung mit der Autorin leicht gekürzte Fassung wieder. Das Original ist erschienen in Cultural Anthropology 23(1), 2008, 15–47 unter dem Titel „Post-Pasteurian Cultures: The Microbiopolitics of Raw-Milk Cheese in the United States“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der American Anthropological Association.

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„Wer melkt die Kühe in Maesgwyn?“ Animalische Landschaften und Affekte O WAIN J ONES

Übersetzung aus dem Englischen von Robin Cackett Vierter Ertrunkener: „Wer melkt die Kühe in Maesgwyn?“ Dylan Thomas 1973, 11

E INLEITUNG Es war meine Mutter, die mich auf die Schmerzlichkeit der obigen Frage aus einem ihrer Lieblingstexte aufmerksam machte. Sie wird von einem ertrunkenen Matrosen gestellt, der sich wundert, wer jetzt die Kühe auf dem Hof melkt, auf dem er selbst einst gearbeitet hat. Das Bild ist fiktiv, aber es beschwört auf eindringliche Weise, wie Ort, Arbeit und praktischer Umgang mit Tieren zu einem Empfinden von Identität und Landschaft verschmelzen können. Auch wir waren eine walisische Bauernfamilie und wussten nur zu gut um die Macht der Tiere in emotionaler, aber auch in anderer, praktischerer Hinsicht. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Dylan Thomas’ „Spiel für Stimmen“ – ein Lobgesang auf eine kleine Landgemeinde in Wales – durchweg von der stillen Präsenz von Tieren – Haustieren, Hoftieren, Wildtieren – geprägt ist. „Die Zeit vergeht. Horch. Die Zeit vergeht. Ein Käuzchen fliegt heim, an Bethesda vorbei, in ein Bethaus in einer Eiche. Und das Morgengrau kriecht herauf.“ (Thomas 1973, 26)

Dies ist nur eine der zahllosen künstlerischen und literarischen Beschwörungen von Landschaften und Landleben in Großbritannien, auf die ich verweisen könnte, in denen Tiere so in kollektive und individuelle Identitätspraktiken eingebun-

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den sind, dass sie menschliche Emotionen und Affekte wecken. Weitere Beispiele und eine Definition dieser Begriffe gebe ich unten. Auf unserem Hof waren Tiere (mit Ausnahme der Haustiere) einerseits Produktionseinheiten, andererseits Charaktere, zu denen Beziehungen aufgebaut wurden. Die räumlichen Grenzen zwischen Haus, Feld und Hof verschwammen oft, etwa wenn Ferkel oder Lämmer im Winter in die Küche an den Herd geholt wurden, um sie warm zu halten, oder wenn sich Haushunde und -katzen und Hofhunde und -katzen auf vielfältige Weise ins Familienleben mischten. Meine familiäre Gemeinschaft, als Kind ebenso wie heute als Vater (und in einem ganz anderen ländlichen Raum), ist stets ein mehr-als-menschliches Kollektiv an einem konkreten Ort, einer konkreten Landschaft gewesen. Dieser Aufsatz entfaltet eine Diskussion der Tierhaftigkeit [animality] von Agrarlandschaften über vier miteinander verknüpfte Stadien. Zunächst lege ich kurz, Ingold (2011) aufgreifend, einen Begriff von Landschaft als einer „Verflechtung“ [meshwork] dar. Danach spüre ich den bislang unterrepräsentierten Aspekten tierlicher Präsenz in britischen Agrarlandschaften nach, indem ich anhand einer Vielzahl von Quellen den Reichtum und die Dichte tierlicher Präsenz in solchen Landschaften und in den darin gelebten (individuellen und kollektiven) Identitäten illustriere. Ich lote aus, inwieweit dieser Reichtum durch verschiedene Darstellungen der Populärkultur (Fernsehen, Film, Kunst, Literatur) widergespiegelt oder gar durch sie hervorgebracht wird, und zeige auf, dass die akademische Beschäftigung mit dem ländlichen Raum diesem Reichtum bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Zuletzt wird die eigentliche These entfaltet, dass ein Großteil des Reichtums und der Bedeutung tierlicher Präsenz sich durch affektive/emotionale Register in Orte, Landschaften und individuelle und kollektive Lebensläufe (Identitäten) einschreibt. Diese Register werden unter den Gesichtspunkten der Berührung, der Interkorporalität, der Leidenschaft, der Liebe, der Macht und der, wie ich es nenne, Ökologie des affektiven Behaustseins [dwelling] betrachtet, die sich durch visuelle Methoden aufdecken lassen und die insbesondere bei Störungen der gewohnten Verflechtungen, zum Beispiel durch Prozesse wie den Ausbruch von Krankheiten, offenbar werden können. Der Aufsatz handelt von Begegnungen zwischen Menschen und Nichtmenschen oder von artübergreifenden Verwicklungen, wie man mit Haraway (2016) sagen könnte, die physisch, kulturell und politisch in konkreten Landschaften verortet sind. Vieles davon steht mit dem in Einklang, was die Landschafts- und Tiergeografie Großbritanniens an lebendigen und detaillierten Darstellungen jener besonderen Begegnungen zwischen Menschen und Tieren zusammengetragen hat, die bestimmten Orten oder Landschaften wie den Norfolk Broads (Matless 2000; Matless, Merchant und Watkins 2005) oder den Weidelandschaften

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des Schottischen Hochlands (Lorimer 2006) ihr je eigenes Gepräge verleihen. Diese aus Materiellem, Praktiken, Tauschbeziehungen und Erinnerungen bestehenden Mensch-Nichtmensch-Ökologien schaffen charakteristische Verflechtungen, welche die Landschaft strukturieren (Harrison, Pile und Thrift 2004). Der vorliegende Aufsatz versucht sich im Grunde an der Entwicklung eines besseren Zusammenspiels zwischen der Tiergeografie generell (Philo 1995; 1998; Philo und Wilbert 2000; Wolch und Emel 1995; 1998; Wolch, Emel und Wilbert 2003) und nichtmenschlichen Geografien bzw. Studien des ländlichen Raums (Jones 2003; 2006; Milbourne 2003; Yarwood und Evans 2000) auf der einen und dem, was man als affektive oder emotionale Wende bezeichnen könnte, auf der anderen Seite (Clough und Halley 2007; Davidson, Bondi und Smith 2005; Pile 2009; Stewart 2007; Thrift 2008; Woodward und Lea 2010), denn nur so lässt sich meinem Empfinden nach die reiche performative Ko-Konstruktion erlebter Landschaften angemessen fassen.

E INIGE B EMERKUNGEN

ZUM

B EGRIFF „L ANDSCHAFT “

Landschaften bestehen (nach üblichem Verständnis) aus einem komplexen Zusammenspiel sich überschneidender Materialflüsse und Handlungsvermögen, in dem Menschliches und Nichtmenschliches (Materialien, Technologien, Pflanzen, Tiere) in einer Reihe von Registern in Zyklen des Werdens und Vergehens miteinander kombiniert, gelöst und rekombiniert werden. Tiere (aller Art wie zum Beispiel Insekten, Säugetiere, Vögel) spielen dabei eine vollwertige Rolle, die mitunter kulturell, politisch, ökologisch und ökonomisch für die laufende Herstellung von Landschaften maßgeblich sein kann. Ingolds Begriff der Verflechtung [meshwork] fängt diese lebendige Komplexität des Landschaft-Werdens ein. Tiere sind in einer Landschaft immer am Werk, werden jedoch häufig aufgrund einer allgemeinen Blindheit gegenüber den Kräften der Natur übersehen. Verflechtungen können kulturelle Formen und Identitäten hervorbringen, und die imaginären Vorstellungen vom ländlichen Raum in Großbritannien sind hierfür ein Beispiel. Das Landleben und die Vorstellungen vom ländlichen Idyll sind dort einflussreiche kulturelle Diskurse (Bunce 1994), in denen Tiere eine zentrale Stellung einnehmen. Tatsächlich setzen sich diese Metakonstruktionen aus vielen regionalen und lokalen Landschaften und dem Leben darin zusammen (die unter Umständen bestimmte Thematiken miteinander teilen). Es ist jedoch wichtig, dass wir über die kulturelle Vorstellung von Landschaft hinausgehen und nicht nur die Tiere berücksichtigen,

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sondern auch deren Handlungsvermögen und die reichen affektiven und emotionalen Assoziationen, in die sie verflochten sind (Philo 2005). Wilde („einheimische“ und „fremde“) Tiere, Haustiere [companion animals] und Nutztiere sind Akteure in der Konstruktion materiell-ökologischer Landschaften, des Imaginären und Ökonomischen. Dies geschieht in wechselseitigen Verbundenheiten, aber auch in mehr oder weniger konflikthaften Auseinandersetzungen (sowohl zwischen menschlichem wie nichtmenschlichem Handlungsvermögen). Vermittelt wird dies durch die im Wandel begriffenen Verflechtungen von Nahrungsmittelproduktion und -konsumption, touristischen Landschaften, Umweltschutz und Biodiversitätsmanagement in Zeiten des Klimawandels, Tierschutz und Tierwohl, und den sich verändernden Lebensstil auf dem Lande. Carolan (2008) fordert für das Landleben die Berücksichtigung verkörperter Wissensformen ein. Dabei gilt es jedoch im Auge zu behalten, dass die körperlichen Praktiken aller Landschaften von Menschen und Tieren ausgeübt werden und in erheblichem Maße durch relationale Gefühls- oder Affektregister vermittelt sind.

T IERHAFTIGKEIT UND AGRARLANDSCHAFTEN ( IN G ROSSBRITANNIEN ) In (Agrar-)Landschaften verkörpern Tiere Natur. Sie ko-konstruieren durch ihr Handeln verschiedene Facetten von Landschaft. Die Geschichte Großbritanniens (und des ländlichen und urbanen Großbritannien nach der industriellen Revolution) ist zum Teil eine Geschichte von Tieren als ökonomischen, ökologischen und kulturellen Vektoren. Eine Reihe von Autor*innen (Ridley 1998; Tapper 1988; Tovey 2003) ist der Ansicht, dass ein Verständnis für die Präsenz der Tiere im ländlichen Raum wesentlich für das Verständnis von Ländlichkeit an sich ist. Andere haben auf die zentrale Bedeutung von Tieren (und anderen Elementen der Natur) in den Praktiken ländlichen Familienlebens hingewiesen (Scruton 2004). Thrift spricht von der Natur im Ländlichen als einer Reihe von „Affektebenen, die auf unterschiedliche Körperteile (und Sinne) ausgerichtet sind“ (Thrift 2003, 319); als Beispiele für solche Facetten der Natur führt er „Bäume, Gras, Himmel, Fluss“ an und vergisst in seiner Darstellung dieser „Wiederverzauberung“ und einer auf dem Land lokalisierten alternativen Biopolitik kurioserweise die Tiere. Phillips et al. (2008) schließlich haben über ihre Forschungen zur affektiven Bedeutung von Tieren und anderen Formen der Natur in gentrifizierten Agrarlandschaften berichtet. In meinem Heimatdorf „Allswell“ spricht die Praxis des „Tiergottesdienstes“, bei dem Gemeindemitglieder ihre

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Tiere feiern und segnen lassen, Bände über die zentrale Bedeutung einer Reihe von tierischen Gefährten, Haus- und Arbeitstieren für das Leben des Einzelnen, der Familien und der Gemeinde (Abb. 1). Abb. 1: Tiergottesdienst in „Allswell“, Süd-West England. (Foto: Owain Jones)

Ich beziehe mich hier auf eine Reihe von Darstellungen von Agrarlandschaften in der Literatur und Populärkultur. Dazu zählen Fotoreportagen in Buchform wie Liberty and Livelihood: A Portrait of Life in Rural Britain (Eede und Mollett 2003); Silence at Ramscliffe: Foot and Mouth in Devon (Chapman und Crowden 2005); literarische und poetische Darstellungen von Tieren in Landschaften (Baker 2005; Hughes 1985; Hughes und Lloyd 1984; Sebald 2001); Dokumentarfilme wie Unser täglich Fleisch (The Lie of the Land, 2007, R: Molly Dineen) und Sleep Furiously (2008, R: Gideon Koppel); sowie das, was in England neuerdings als „Welly Telly“ bezeichnet wird (siehe BBC Television 2012), das heißt, zur Hauptsendezeit ausgestrahlte TV-Sendungen, die sich mit einem ländlichen oder bäuerlichen Thema beschäftigen, wie zum Beispiel Dorset Days: A Year in the Life of Longhorn Jim (BBC 4, 2011) oder Lambing Live (BBC 2 2011 und 2012). Diese Texte, Filme und Programme füllen die Seiten oder Bildschirme beziehungsweise Leinwände mit Tieren in (Agrar-)Landschaft und mit Menschen, die mit diesen Tieren arbeiten, sie beobachten und mit ihnen leben. Die bestehenden Praktiken – etablierte Verflechtungen – kommen oft erst durch Störungen ans Licht (worauf ich im letzten Abschnitt genauer eingehen werde). Das Buch Liberty and Livelihood: A Portrait of Life in Rural Britain (Eede und Mollett 2003) wurde nach dem verheerenden Ausbruch der Maul- und Klauenseuche (MKS) in Großbritannien 2001 und inmitten der politischen Auseinandersetzungen um das Verbot von Hetzjagden mit Hunden veröffentlicht. Es entstand in Assoziation mit der Countryside Alliance (eine Interessensgruppe für

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die Landbevölkerung im Vereinigten Königreich) und versuchte, wie der Titel bereits andeutet, zu zeigen, wie das Landleben in Großbritannien wirklich ist und es gegen eine vermeintlich unempathische, irregeleitete, wenn nicht feindselige, auf das städtische Leben fixierte Gesellschaft und Regierung zu verteidigen. Es umfasst 37 kurze, von „großen und bedeutenden“, dem Landleben freundlich verbundenen Autor*innen verfasste Artikel, die aufs Üppigste mit Schwarzweißund Farbfotografien illustriert sind. Obwohl das Buch etwas von der zutiefst konservativen Aura ausstrahlt, welche der Countryside Alliance zu eigen ist, finden sich darin auch sehr durchdachte Kommentare von so angesehenen Autor*innen wie Simon Schama oder Jeanette Winterson. Besonders deutlich fällt an dem Buch die starke Präsenz von Tieren auf. Auf beinahe jeder Seite und in fast jedem Aufsatz tauchen Tiere (in vielen verschiedenen Rollen und Beziehungen) auf (diese tierlichen Bildinhalte werden unten ausführlicher untersucht). Dieses und ähnliche Bücher führen uns vor, dass das Leben auf dem Land im Grunde ein Leben mit Tieren in Landschaften/Orten/Identitäten ist. Molly Dineens 2007 erschienenem Film Unser täglich Fleisch (The Lie of the Land) liegt eine ganz andere politische Einstellung zugrunde, er beschäftigt sich jedoch mit ähnlichen Fragen und liefert viele ähnliche Bilder von Menschen, die auf unterschiedlichste Weise mit einer Vielzahl von Tieren eine körperliche und emotionale Nähe teilen. Chapman und Crowdens Silence at Ramscliffe: Foot and Mouth in Devon (2005) ist ein schwarzweiß gehaltener Fotoessay mit einer Reihe von Gedichten über die Tötung einer Herde von Milchkühen auf einer Farm in Devon während der Maul- und Klauenseuche-Epidemie im Jahr 2001. Der Film stellt den Verlust der Kuhherde als den Verlust des Herzstücks eines in der lokalen Landschaft verankerten familiären und individuellen Lebens dar. Der Dokumentarfilm Sleep Furiously (2008; R: Koppel) ist ein eher poetisches Porträt einer walisischen Landgemeinde, die oft in rasend schönen Landschaftseinstellungen präsentiert wird, in denen Tiere einmal mehr eine herausragende Rolle spielen. In allen diesen Porträts von Landschaften und Landleben werden Tiere aus nächster Nähe präsentiert und erscheinen als Schlüssel zu den symbolischen, materiellen, emotionalen und ökologischen „Komponenten“ des Ländlichen. Das Ländliche und seine Tierwelt hat in den letzten Jahren in der Populärkultur eine zunehmende Beachtung erfahren, weil seine Verfassung unter dem Druck einer Reihe von eng verzahnten Veränderungen der landwirtschaftlichen, ökonomischen, sozialen (Klassen-) und ökologischen Strukturen einem fortlaufenden Wandel unterliegt. Erstens: Da sich die britische Agrarökonomie im Licht des globalisierten Nahrungsmittelsektors und der Abkopplung von EU-Subventionen fortlaufend

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verändert, verändert sich auch die Präsenz von Nutz- bzw. Hoftieren in den Agrarlandschaften und -ökonomien maßgeblich. Der Bestandsabbau auf höher gelegenen Weidegründen und das Verschwinden kleinerer Milchkuhherden zugunsten von Megaherden ist eine solche Veränderung. Auf der einen Seite verändern neue Technologien wie automatische Melkanlagen einmal mehr die Art und Weise und die Häufigkeit des Kontakts zwischen Menschen und Tieren, während auf der anderen Seite der Aufstieg von Freizeitlandwirtschaft, qualitativ hochwertigen „alternativen“ landwirtschaftlichen Nahrungsmittelnetzwerken und Bauernhoftourismus die Menschen in neue Formen von direkten Beziehungen mit verschiedenen Arten von Tieren bringen. Zweitens sind die Nachwirkungen des Verbots der Hetzjagd mit Hunden im ländlichen Raum immer noch an den veränderten Mensch-Tier-Konstellationen zu spüren. Diese Nachwirkungen sind ein wichtiges Thema in Dineens Film, der sich mit Jäger*innen, Reiter*innen, Landwirt*innen und Jagdhelfer*innen beschäftigt, deren Interaktionen mit Tieren (Pferden, Fuchshunden, Terriern, Hoftieren, wilden Tieren) sich im Zuge des Verbots verändert haben. Drittens ist weiterhin ein markanter Rückgang wilder Tierpopulationen (insbesondere einiger Vogelarten) zu beobachten, während bei anderen Arten gleichzeitig eine (gezielte oder ungesteuerte) Wiederansiedlung oder Erholung der Bestände stattfindet. Es herrscht Besorgnis über die Bedrohungen, die von „invasiven“ Arten für die (emblematische) ländliche Fauna ausgehen (zum Beispiel über „fremde“ graue Eichhörnchen, die die „einheimischen“ roten Eichhörnchen in weiten Teilen Großbritanniens verdrängen). All dies wird neuerdings durch die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und dem Erhalt von Landschaften und Lebensräumen sowie der Schaffung von Migrationsrouten für Fauna (und Flora) noch merklich verschärft. Viertens steigt die Anzahl und Vielfalt der Haus- und Freizeittiere (so gibt es zum Beispiel eine Zunahme des Reitens als Freizeitbeschäftigung; Scruton 2000), was häufig mit einer Art Gegenbewegung zur Urbanisierung und einer „Eroberung“ des Traums vom Leben auf dem Land durch die städtischen Mittelschichten einhergeht. Fünftens steigt das Interesse an den therapeutischen und entspannenden Wirkungen, die durch die Interaktion mit Tieren in ländlichen ebenso wie in städtischen Kontexten erzielt werden können. Es ist klar, dass diese Vorzüge überwiegend durch affektive und nicht durch rationale Register vermittelt und wahrgenommen werden.

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AFFEKTIVE R EGISTER Wie bereits angedeutet, erfreut sich die Präsenz von Tieren im ländlichen Raum in den letzten Jahren einer wachsenden akademischen Aufmerksamkeit. Weit weniger Aufmerksamkeit richtet sich allerdings darauf, wie sich die MenschTier-Interaktionen in affektiven/emotionalen Registern artikulieren. Ich werde diese beiden, eng miteinander verknüpften Begriffe weiter unten genauer erläutern. An dieser Stelle möchte ich lediglich klarstellen, dass Emotionen hier als wichtige (aber nicht die einzigen) Facetten von Affekten verstanden werden; wo also im Folgenden nur von „Affekten“ die Rede ist, stehen diese immer für beides, doch gelegentlich werden die beiden Ausdrücke auch gemeinsam verwandt oder einander abwechseln. Menschen stehen in einem breiten affektiven Austausch mit Tieren, zu dem Emotionen (Gefühle und Leidenschaften), eine körperliche Praxis (Berührungen, sinnliche Wahrnehmungen, Gewohnheiten, Erinnerungen, Bewegungen) und die ganze materielle (technisierte) Beziehungsperformanz des täglichen Lebens gehören. Affekte als solche sind stets relational und haben mit dem Austausch zwischen und durch Körper zu tun (McCormack 2007). Sie haben mit den Funktionsabläufen von Körpern von einem Augenblick zum nächsten zu tun und damit, wie Körper zueinander und zur Umwelt in Wechselbeziehung stehen. Man muss sich klarmachen, dass diese affektiven Register weitgehend außerhalb der Bereiche der Sprache, des Denkens, der Rationalität und des reflexiven Bewusstseins liegen. Die Sozialwissenschaften, die in und mit Hilfe von Repräsentationen arbeiten, die in und mit Hilfe von Sprache und reflexivem Denken konstruiert werden, tun sich daher schwer, das affektive Leben zu „begreifen“ und zu bearbeiten. Dies ist einer der Gründe, weshalb Thrift (2008) bei der Ausdehnung sozialwissenschaftlicher Forschung in den Bereich des Affektiven für die Verwendung einer nichtrepräsentationalen Theorie plädiert. Es muss außerdem darauf hingewiesen werden, dass ökofeministische Denker*innen wie Plumwood (2002) seit langem fordern, dass wir wieder in das Reich der Gefühle eintreten, um stichhaltige Erkenntnisse über die Beziehungen zwischen Mensch und Natur/Tier zu gewinnen. Die Betonung von Affekt und Emotion bedeutet nicht, die Macht und Wichtigkeit der Rationalität und der kulturellen und ökonomischen Dynamiken in den Mensch-Tier-Beziehungen zu bestreiten. Es ist offensichtlich, dass diese Faktoren die Mensch-Tier-Interaktionen und die damit verbundenen räumlichen/ ethischen Muster beeinflussen, aber Affekte und Emotionen werden stets ebenfalls als Kräfte und Prozesse gegenwärtig sein, durch die die anderen Dynamiken und Praktiken kanalisiert werden. Die „affektive“ Wende (Anderson und

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Harrison 2010; Clough und Halley 2007; Pile 2009; Stewart 2007; Thrift 2008; Woodward und Lea 2010) stellt die Sozialwissenschaften und verwandte Disziplinen vor eine große Herausforderung bezüglich der ontologischen, epistemologischen und methodologischen Bestimmung des Sozialen (Law 2004). Unter affektiven Registern verstehe ich jene körperlichen Systeme und Prozesse, die das Leben ermöglichen; sie spielen sich vor, in und jenseits des reflexiven Bewusstseins ab und sind die Grundlage für einen großen Teil unseres von einem Augenblick zum nächsten in unseren jeweiligen Umwelten gelebten Lebens. Gedächtnisfunktionen, Emotionen, motorische Bewegungen (zum Beispiel das Halten des Gleichgewichts) und Wahrnehmungs-Reaktionssysteme sind entscheidende, aber keineswegs ausschließliche Bestandteile von Affekten. Wie die maßgeblichen wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen (z.B. Damasio 1999, 2003) wird unser bewusstes, reflexives, rationales, sprachliches Selbst (das der Gegenstand der meisten Sozialwissenschaften ist) in jedem Augenblick von diesen Prozessen getragen, gerahmt und gefärbt. Diese Erkenntnisse über die biologische (Thrift 2008), körperliche Grundlage des individuellen und kollektiven Soziallebens stellen die cartesianischen Übereinkünfte bezüglich Identität und Handlungsvermögen und damit die entscheidenden Dualismen der Moderne wie Leib/Seele, Natur/Kultur, Subjekt/Objekt in Frage. Beim affektiven Leben geht es wesentlich um Körperlichkeit, Relationalität und Materialität, während das Selbst stets als eine in die besonderen raumzeitlichen Umstände des Jetzt (und der Erinnerung an vergangene Erfahrungen) eingelassene performative Einheit erscheint. Laut Stewart (2007) artikuliert sich die affektiv-performative Auffassung des Sozialen im Alltagsleben wie folgt: „Sich mit gewöhnlichen Affekten zu beschäftigen, bedeutet nachzuzeichnen, inwiefern das Potenzial ihrer Kraft darauf beruht, dass sie Dingen innewohnen, die sowohl flatterhaft wie verankert, sowohl wechselhaft und unstet wie deutlich zu greifen sind. Ebenso abstrakt wie konkret, üben gewöhnliche Affekte einen unmittelbareren Zwang aus als Ideologien; sie sind widerspenstiger, vielfältiger und schlechter vorhersehbar als symbolische Bedeutungen. Sie gehören nicht zu jenen Analyseobjekten, die sich auf einer einzigen, feststehenden analytischen Ebene auseinanderlegen lassen, und sie eignen sich auch nicht für eine perfekte, dreistufige Parallelisierung zwischen analytischem Subjekt, Konzept und Welt. Sie sind vielmehr ein Problem oder eine Frage der Emergenz an den verschiedensten Schauplätzen und in unvereinbaren Formen und Registern; ein Wirrwarr potentieller Verknüpfungen.“ (S. 4)

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Bisher wurde die Affektivität des Lebens im Wesentlichen für urbane soziale Kontexte veranschlagt (z.B. Thrift 2004). Aber wie ich gemeinsam mit Little (Little und Jones 2006) argumentiert habe, sind affektive Prozesse in ländlichen Räumen und Lebensläufen und in Lebensformen, die über den Menschen und das Soziale hinausgehen, nicht weniger wichtig und wirksam. Affektive Prozesse nehmen in ländlichen Kontexten vielmehr eigene, bedeutungsvolle Formen an. Dies gilt insbesondere für besonders verkörperte Praktiken wie den Umgang mit Natur, Gemeinschaft und „ländlicher Materialität“ sowie für den Umgang zwischen Menschen und Tieren, der in ländlichen Gegenden gepflegt wird und auf den ich hier mein Augenmerk richte.

F REMDARTIGE AUSTAUSCHPROZESSE IN AGRARLANDSCHAFTEN „Wann immer sie auf ihrem Zweig eine Pause einlegen, kann ich den Fliegenschnäppern in die Augen sehen und versuchen, darin etwas über ihr Leben zu lesen.“ Dee 2010, 214

Affektiver Austausch ereignet sich auf mehreren Ebenen, durch die Sinne, Bewegung, Berührung, das Unbewusste, den Körper. Zwischen Körper und Material findet ein reichhaltiger Dialog statt, zwischen empfindenden Körpern ist der Dialog noch reichhaltiger. Es ist in diesem Zusammenhang hilfreich, sich die Begegnung mit Tieren als eine Begegnung mit „fremdartigen Personen“ vorzustellen (Ingold 2000; Whatmore 2002). Dies eröffnet die Möglichkeit, Tiere nicht (nur) als Vertreter einer Art oder als Waren oder als soziale Konstruktionen oder als cartesianische Automaten zu denken, sondern als einzigartige Individuen in konkreten Begegnungen, die durch ihre je eigenen körperlichen und räumlichen Narrative artikuliert werden. Der Schriftsteller Sebald (2001) etwa beschreibt Landschaften auf denkwürdige Weise; seine Schilderungen von Begegnungen mit Tieren in der Landschaft veranschaulichen, wie wertvoll es ist, die Aufmerksamkeit auf körperliche, sinnliche, affektive Register zu richten: „Hinter einem niedrigen Elektrozaun lagerte da eine an die hundert Stück zählende Schweineherde auf der von ein paar mageren Kamillenbüscheln bewachsenen braunen Erde. Ich stieg über den Draht und näherte mich einem der schweren, bewegungslos schlafenden Tiere. Langsam öffnete es, als ich mich niederbeugte zu ihm, sein kleines, von hel-

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len Wimpern umsäumtes Auge und blickte mich fragend an. Ich fuhr ihm mit der Hand über den staubbedeckten, unter ungewohnter Berührung erschauernden Rücken, strich ihm über den Rüssel und das Gesicht und kraulte ihm die Kuhle hinter dem Ohr, bis es aufseufzte wie ein von endlosem Leiden geplagter Mensch. Als ich mich wieder erhob, machte es mit einem Ausdruck tiefster Ergebenheit das Auge wieder zu.“ (Sebald 2001, 86–87) „Er musste, während ich mich annäherte, zusammengekauert und mit rasend klopfendem Herzen an seinem Platz ausgeharrt haben, bis es beinahe zu spät war, sein Leben zu retten. Der winzige Augenblick, da die Lähmung, die ihn ergriffen hatte, umschlug in die panische Bewegung der Flucht, war auch der Augenblick, da seine Angst mich durchdrang. Mit unverminderter, ja mit einer über mein Begriffsvermögen gehenden Deutlichkeit sehe ich nach wie vor, was in diesem, kaum den Bruchteil einer Sekunde ausmachenden Schreckensmoment sich ereignete. Ich sehe den Rand des grauen Asphalts, jeden einzelnen Grashalm, sehe den Hasen, wie er hervorspringt aus seinem Versteck, mit zurückgelegten Ohren und einem vor Entsetzen starren, irgendwie gespaltenen, seltsam menschlichen Gesicht, und ich sehe, in seinem im Fliehen rückwärtsgewandten, vor Furcht sich fast aus dem Kopf herausdrehenden Auge, mich selber, eins geworden mit ihm.“ (Sebald 2001, 291–292)

Ein weiteres Beispiel ist das Werk von Ted Hughes, einem Prosaschriftsteller und Lyriker, der für seine Beachtung der Lebendigkeit von Tieren in ihrer Umgebung berühmt ist. Sein wunderschönes Kinderbuch What is the Truth? A Farmyard Fable for the Young (Hughes und Lloyd 1984) enthält eine Reihe von Gedichten und kurzen Prosastücken, die sich mit den verschiedenen Arten von (wilden und domestizierten) Tieren beschäftigen, die auf einem kleinen, traditionellen Bauernhof in Großbritannien zu finden sind, wie zum Beispiel dem Fohlen, der Eule, dem Dachs, dem Floh, der Katze, dem Hund, der Schwalbe, der Krähe, der Ratte, dem Schwein, dem Pferd. Das menschliche Auge und Herz begegnet ihnen hier in exquisiten und präzisen poetischen Bildern. Das neu geborene Füllen: „plötzlich ist es da – ein warmer Haufen / Aus Asche und Glut, von leisen Lüftchen umschmeichelt“. Wirtschaftliche Aspekte und Fragen des Tierwohls werden nicht ausgeblendet, aber sie bleiben hier wie in Hughes’ anderen Tier- und Naturgedichten der Begegnung mit Tieren als lebendigen Wesen in der Landschaft nachgeordnet. Im Kanon der Naturschriftstellerei und der „neuen Naturschriftstellerei“, die für die britische Kultur so kennzeichnend ist (Cowley 2008), finden sich ebenfalls verschiedene Formen der innigen Hinwendung zur affektiven Präsenz von Tieren im ländlichen Bereich: zum Beispiel J. A. Bakers The Peregrine (1967), Mark Cockers Crow Country (2007), Tim Dees The Running Sky (2009) und

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Kathleen Jamies Sightlines (2012). Alle diese Bücher dokumentieren selbsterklärte Obsessionen, Beobachtungen und Aufzeichnungen über Vogel- (und andere) Geografien in britischen (und anderen) Landschaften. Die Beschreibungen sind oft so emotional, dass sich Selbst und Identität von Person, Ort und Kreatur(en) miteinander verschränken. Baker zum Beispiel schildert, warum die Augenblicke der Begegnung mit seiner tierlichen Muse für sein Selbstgefühl in der Landschaft fundamental sind: „Um halb vier hatte ich die Suche nach dem Wanderfalken aufgegeben und hockte finster auf einem Tor nahe der toten Eiche. Als er dann an mir vorbeiflog, hoben mich seine Schwingen unverhofft zu großer Freude empor. In seinem vorbeisausenden, bohrenden, abtauchenden, taumelnden, kurvenreichen Flug lag eine genießerische Hochgestimmtheit, eine beschwingte Eifrigkeit. Er setzte sich im Osten auf einen Baum und blickte zu mir zurück. Ich fühlte mich entdeckt.“ (Baker 2005 [1967], 143, Hervorhebung O.J.)

Hier ist die Begegnung mit dem Tier für die Praktik dieser besonderen ländlichen Identität-in-der-Landschaft zentral geworden. Der Text widmet sich ebenfalls der „Andersartigkeit“ von Tieren und beschäftigt sich insbesondere mit ihrer Art des leiblichen Behaustseins (Ingold 2000). Wolch, Emel und Wilbert (2003, 184) behaupten, die gegenwärtigen „akademischen Denkströmungen haben die Grenzen zwischen Menschen und Tieren verwischt und die Anerkennung von Mensch-Tier-Bindungen auf verschiedenen Ebenen der Analyse und in unterschiedlichen räumlichen Maßstäben gefördert.“ In dem Wort „Bindungen“ steckt offensichtlich eine große Komplexität, doch zugleich klingt in dem Ausdruck ein hohes Maß an affektivem und emotionalem Austausch mit. Die Idee einer „nichtmenschlichen“ Geografie des Ländlichen (Jones 2006) begreift dieses nicht als ausschließlich durch menschliche Präsenz, menschliches Handeln und menschliches Wirkungsvermögen geformt und ausgebildet, sondern vielmehr als aus Myriaden von Verbindungen zwischen separaten Lebewesen, Prozessen und Materialitäten der Welt gewoben. Vor diesem Hintergrund argumentiert Murdoch (2003, 264), dass der Begriff der Hybridität, der in den Studien des ländlichen Raums noch „nicht allgemein verbreitet“ ist, das Potential besitze, „die soziokulturelle Komplexität des Landlebens besser zu erfassen als traditionelle Repräsentationsweisen“. Und Murdoch fügt hinzu: „Kurzum, obschon jede konkrete Vision des Landlebens sich weiterhin auf soziale Formen, natürliche Entitäten oder auch hybride Objekte konzentrieren wird, wird diese, wenn sie die ganze Bandbreite der Prozesse erfassen will, die sich gegenwärtig in ländlichen

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Gebieten abspielen, auch die Wechselwirkungen berücksichtigen müssen, die zwischen diesen Bereichen bestehen.“ (2003a, 280, Hervorhebung O.J.)

Wenn wir die „ganze Bandbreite der Prozesse“ erfassen wollen, ist die Berücksichtigung der tierlichen Präsenzen und der affektiven/emotionalen Dimensionen des Umgangs mit ihnen unverzichtbar. Die Praktiken des ländlichen Raumes und die damit einhergehenden Wechselbeziehungen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Materialien und Technologien sind affektiv/emotional besetzt und diese Besetzungen sind keineswegs marginale, sondern bestimmende Kräfte, wie zum Beispiel die Debatte pro und contra Hetzjagd zeigt. Dort schlagen die Leidenschaften hoch. Wenn die Akteur-Netzwerk-Theorie, die häufig erfolgreich zum Nachzeichnen von Hybridität benutzt wird, die „Hitzigkeit des Ereignisses“ verfehlt (Bingham und Thrift 2000, 299), dann weil diese „Hitzigkeit“ wesentlich affektiv-emotional ist.

I DENTITÄT , P RAXIS

UND I NTERKORPORALITÄT

Um affektive Register zu öffnen, muss man aufs Besondere eingehen – auf situierte Narrative und Relationalitäten – der intimen alltäglichen Begegnungen und die Art und Weise, wie diese durch Körper, Materialien, Prozesse und so fort artikuliert werden. Die Schnappschüsse in Eede und Mollett (2003) geben Einblicke in ebensolche Situationen und zeigen verschiedene Formen von Interkorporalität und Austausch zwischen Nichtmenschen und Menschen in ganz konkreten Umgebungen. Von den rund 266 Fotos in dem Buch schließen 125 Bilder auf die eine oder andere Weise Tiere ein; auf weiteren 20 sind Aktivitäten zu sehen, die mit Tieren zu tun haben (z.B. ein Hufschmied, der ein Hufeisen biegt, oder Bilder von Anglern) und weitere Bilder beziehen sich auf Tierpolitiken. Das sind Bilder von Hoftieren, Wildtieren, Haustieren, Arbeitstieren, Szenen von der Fuchsjagd, von der Jagd auf Rot- und Schwarzwild und vom Angeln sowie Hinweise auf Tiere als Nahrungsmittel und auf Proteste, die in London gegen das Verbot von Fuchsjagden abgehalten wurden. Man sieht Aufnahmen vom Inbegriff britischer Hügellandschaften mit ihren Hecken und dem grasenden Vieh. Es gibt Nahaufnahmen von wilden Vögeln und Insekten. Viele Fotos sind ergreifend, weil der Leib eines Tieres darauf das ganze Bild ausfüllt (Abb. 2).

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Abb. 2: Schlafendes Schwein. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 23. © Pauline Rook)

Identität Bei vielen der Bilder handelt es sich eher um Porträts als um Reportagen oder sie zeigen „Menschen mit Tieren“ und sind im Grunde Aussagen über deren Identität (Abb. 2 und 3). Menschen leben ihr Leben in Partnerschaften mit Tieren und bilden durch diese Partnerschaften individuelle und kollektive Identitäten aus. Praxis und Interkorporalität Besonders hervorzuheben ist die Häufigkeit von Bildern von Praktiken und Handwerk und intimer Interkorporalität. Beispiele sind die Hufschmiede bei der Arbeit (Abb. 4); Farmarbeiter beim Umgang mit Tieren (Abb. 5); Landwirtinnen beim Füttern der Lämmer; Kinder, die mit Haustieren kuscheln; Reiterinnen zu Pferd; Jäger, die eine soeben erlegte Beute in den Händen halten. Solchen interkorporalen Praktiken ist ein affektiver Reichtum zu eigen, der auf dem Handeln der betreffenden Tiere und wiederholten Begegnungen mit ihnen beruht.

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Abb. 3: Der Frettchenmann. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 141. © Becky Griffiths)

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Abb. 4: Praxis – Interkorporalität; ein Hufschmied beschlägt ein Pferd. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 35. © Marilyn Hardman)

Auch das Reiten nimmt bei Eede und Mollett eine prominente Stellung ein. Dieses für selbstverständlich genommene, aber bei genauerer Betrachtung ziemlich außergewöhnliche Beispiel für affektive Interkorporalität zwischen Mensch und Tier ist ein besonders hervorstechendes Merkmal des Landlebens in Großbritannien und darüber hinaus. Es hat aus diesem Grund auch viel öffentliches Interesse auf sich gezogen (Scruton 2000). Sowohl Game (2001) wie Probyn (1996) erörtern gleichsam die relationalen Ontologien und den affektiven Reichtum des Reitens auf Pferden, einer Praktik, bei der sich die Abspaltung des Menschlichen/Sozialen vom tierlichen Anderen aufzulösen beginnt. Game (2001, 1) stellt dazu fest, dass wir „Menschen durch unsere Verbundenheit und durch unsere Teilnahme am Leben der Welt immer schon [mit Tieren] vermischt sind“. Dies scheint gerade in ländlichen Regionen besonders deutlich der Fall zu sein.

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Abb. 5: Praxis – Interkorporalität; Schafe scheren. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 13. © Rose Hubbard)

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L EIDENSCHAFTEN L EBEN UND T OD

UND

T IERPRODUKTION ,

In seinem Appell zur Erweiterung der Geografie um eine Stellungnahme zur „Tierfrage“ legt Murdoch (2003b) nahe, dass die Beschäftigung mit Gefühlen, Leidenschaften und Emotionen dafür unverzichtbar sei. Unter Berufung auf Hacking (2000) erklärt er, es sei höchste Zeit, „sich unseren verworrenen Leidenschaften“ in unseren Beziehungen zu Tieren zu stellen, was so viel heißt wie „sorgfältig durchdachte Theorien und Beschreibungen mit tief empfundenen Sympathien, Engagements und Zugehörigkeiten“ zu verknüpfen“ (S. 289). Mabey argumentiert, dass: „die Beziehung zur Natur überwiegend [...] über unsere Emotionen hergestellt wird. Es sind Gefühle und Vorstellungen und nicht distanzierte wissenschaftliche Darstellungen, die uns Verwandtschaft und Verbundenheit erleben lassen, den Schmerz von Trennung und Vernichtung, die Erneuerung von Frühling und Geburt.“ (2003, 6)

Zahlreiche Bilder in Eede und Mollett (2003) scheinen die Liebe zu Tieren dazustellen und sind mit einer Vielzahl weiterer Leidenschaften aufgeladen. Eines der zentralen Fotos zeigt einen Mann, der eine Kuh küsst, die soeben ein Kälbchen geboren hat, um sie herum eine Schar freilaufender Hühner (Abb. 6). Es gibt Bilder, auf denen Menschen liebevoll ihre Haustiere umarmen, Lämmer füttern, ein neugeborenes Ferkel im Arm halten und so weiter. Wir müssen diese explizit emotionalen Formen der Beschäftigung mit der Natur bzw. mit Tieren mit dem neuen Feld der affektiven Landschaftsstudien verknüpfen, um das theoretische Terrain abzustecken, auf dem die Geografien des „Nichtmenschlichen“, der Tiere, Landtiere und Emotionen sinnvoll zueinander in Bezug gesetzt werden können, um die komplexen emotionalen/affektiven Dynamiken zu erhellen, welche durch die Präsenz von Tieren in Landschaften entstehen. Milton (2002) vertritt die Auffassung, dass Emotionen in Umweltdebatten nicht als Gegenteil oder gar Gegensatz zur Ratio verstanden werden dürfen. Beide basierten auf ähnlichen kognitiven Funktionen, die allerdings in unterschiedlichen Kombinationen und Beziehungen zueinander stünden. Diese Art der Naturverbundenheit beschränkt sich daher nicht auf Fragen des Natur- oder Umweltschutzes (bzw. dessen Abwehr). Sie ist vielmehr, wie man an vielen der bereits zitierten Quellen sehen kann, zutiefst und auf mannigfache Weise mit Landschaftsvorstellungen und -praktiken verwoben.

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Abb. 6: Leidenschaften. Ein Bauer küsst eine Kuh, die soeben gekalbt hat. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 50–51. © Martin Elliot)

Gewiss, Leidenschaften sind oft kompliziert, verwirrend und widersprüchlich. Liebe ist keineswegs immer und auch nicht unbedingt das einzige Gefühl, das im Spiel ist, wenn Menschen mit Tieren zusammen sind. Arbeiten wie diejenigen Holloways (2001; 2002) haben den Unterschied in den Beziehungen untersucht, die „Hobbylandwirt*innen“ und „kommerzielle Landwirt*innen“ zu ihrem Vieh und den damit verbundenen landwirtschaftlichen Praktiken unterhalten, und begonnen, dieses ungleiche emotionale Terrain zu begreifen. Wilkie (2005) und Convery et al. (2005) dehnen die Ansätze zur Emotionalität von Mensch-TierInteraktionen auf andere, weit verbreitete, alltägliche ländliche Produktionsräume aus, die zu Orten der individuellen und kollektiven Identitätsbildung und des Wohlbefindens werden (oder eben auch nicht), um zu verdeutlichen, inwiefern die Mensch-Tier-Beziehungen an bestimmte Orte gebunden sind und erst in bestimmten Räumen zum Tragen kommen. Diese Arbeiten erkunden die emotionalen/affektiven Räumlichkeiten von Tier-Mensch-Begegnungen auf eine Weise, welche zwar Bereiche des Rationalen und Repräsentativen einbezieht, jedoch zugleich über sie hinaus in die performativen, körperlichen Bereiche affektiver Praxis hineinreicht. Sie betrachten problematische und widersprüchliche Konstruktionen des Landlebens und der Landwirtschaft in ihrem Verhältnis zu Tieren. Diese Gedanken wiederum verweisen auf Überlegungen zu den ethisch (nicht) vertretbaren räumlichen Strukturen von Mensch-Tier-Begegnungen und entwickeln diese weiter (Jones 2000; Lynn 1998a; 1998b; Proctor 1998).

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Es dürfte kaum überraschen, dass Eede und Mollett (2003) auch eine große Zahl an Bildern präsentieren, die mit verschiedenen Formen der Jagd zu tun haben. Es sind solche Szenen, welche die Kritik von Organisationen wie der League Against Cruel Sports [Liga gegen grausame Sportarten] oder der Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals [Königlichen Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeit gegen Tiere] auf sich ziehen würden. Ich möchte diese Einwände in diesem Aufsatz weder in der einen noch in der anderen Richtung kommentieren, sondern lediglich darauf hinweisen, dass wir ohne Berücksichtigung der affektiv-emotionalen Register, in denen diese Sportarten ebenso wie die Proteste gegen sie praktiziert werden, weder ihre Macht noch ihre Dynamiken auch nur halbwegs angemessen begreifen werden.

Ö KOLOGIEN DES

AFFEKTIVEN

B EHAUSTSEINS ...

Die Narrative, Fotos und bewegten Filmbilder veranschaulichen Elemente, die in der Zusammenschau die Entwicklung ortsgebundener Ökologien aufzeigen, in denen Behaustsein [dwelling] (Jones 2009), taskscape (Ingold 2000) und ein reiches affektives Leben anklingen. Diese kreisen um die alltäglichen Praktiken und den alltäglichen Austausch, also um Bewegungen, Geräusche, Gerüche, Tätigkeiten, Tiere, Technik, Wetter und so fort (Abb. 7 und 8). Abb. 7: Ökologie des Raums – Klangbewegung. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 36. © Pete Gelly)

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Abb. 8: Ökologien des Raums, der Technik und menschlicher und nichtmenschlicher Interaktionen. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 27. © Thomas Claxton)

Tiere spielen auch eine Rolle in dem, was man als Beschreibungen von Behausteins bezeichnen könnte – also in Darstellungen, welche die Gefühle der Zugehörigkeit zu einer Landschaft und des in ihr Beheimatetseins betonen. Dies ist in Ted Hughes’ „Tiergedichten“ offensichtlich, etwa in dem Gedicht „Mauersegler“, in dem die alljährliche Rückkehr dieser Vögel in die Landschaft (für Hughes) bedeutet, dass „[...] der Globus noch schaffend, die Schöpfung. Noch wachend, erfrischt, unser Sommer. Noch ein Kommender ist –“ (Hughes 1985, 33)

Tiere verorten Menschen in Raum und Zeit, was auch in Henry Williamsons (1948) Schilderung Life in a Devon Village deutlich wird, wo der Autor über die Vögel spricht, die im Reetdach seines Hauses nisten – „Er dachte gern an sie, die so nah an seinem Leben hausten“ (S. 32) –, aber auch an die Eulen, die er nachts über sich rufen hört – „ihr heimliches, rätselhaftes Leben war das Medium, das mich am Leben und mein Sein in der Welt der Wahrheit hielt“ (1948, 30).

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...

UND IHRE

S TÖRUNG

Diese Verflechtungen von Politik, Kultur, Ökonomie und affektiven Registern wurden während eines traumatischen Ereignisses sehr deutlich, das einen maßgeblichen Impuls für die vorliegende Arbeit gegeben hat – dem Ausbruch der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien im Jahr 2001 (Bennett et al. 2002; Chapman und Crowden 2005; Convery et al. 2005). Dieses Ereignis trug wesentlich zur Enthüllung der Anzahl und Wichtigkeit der Tiere in den von der Seuche betroffenen britischen Landstrichen bei und stellte die für selbstverständlich gehaltene Art und Weise ihrer Einbettung in die ländlichen Lebensverhältnisse und Strukturen in Frage, und zwar nicht nur was die Ökonomie, sondern auch was die Konstruktionen und Praktiken des individuellen und kollektiven Alltagslebens in den Gemeinden und Landschaften anbelangte. Im Verlauf der Krise wurden weit über sechs Millionen Tiere gekeult. Manche Höfe, Gemeinden und Landschaften wurden ihres gesamten Bestands an Nutztieren beraubt, während andere wegen der Transportbeschränkungen in merkwürdigen Verteilungsmustern auf ihren Tieren sitzen blieben. Die gesamte Ökologie der Bauernhöfe und Landschaften geriet aus dem Lot. Zwar wird in Großbritannien jeden Tag eine gewaltige Anzahl von Tieren geschlachtet, aber der Ausbruch der Seuche brachte eine völlig andere Art der Schlachtung in die Schlagzeilen und auf die Fernsehbildschirme: Bilder von Höfen voller „weggekeulter“ Tiere, von großen Baggern, welche die Tierkadaver zur Verbrennung auf riesigen Scheiterhaufen zusammenschoben (Abb. 9). Es war ein Moment, in dem die Beziehungen zu den Tieren gestört, entblößt, verroht wurden. Eine Folge von Bildern und Gedichten über die Keulung einer Herde auf einer Farm in Devon bildet den einzigen, absichtlich emotional stark aufgeladenen Inhalt von Chapman und Crowden (2005) und steht damit zugleich für viele andere gefühlsbetonte Bilder der Epidemie, die in den Medien und anderswo kursierten. Es war, in gewissem Sinn, für die Betroffenen ebenso sehr eine emotionale/affektive Krise wie eine ökonomische/den Lebensunterhalt betreffende. Die zeit-räumlichen Routinen – die Geografien – des Lebens und Sterbens der Tiere auf dem Bauernhof und der menschlichen Beschäftigung mit ihnen wurden aus dem Gleichgewicht gebracht und bloßgestellt. Bislang unbeachtete Räume und Produktionspraktiken wie der Handel mit lebenden Tieren über lange Distanzen wurden nun genauer unter die Lupe genommen, doch vor allem wurde die emotionale und ethische Widersprüchlichkeit unserer kollektiven Beziehungen zu diesen Tieren auf brutale Weise deutlich. Dabei wurde nicht nur die Rolle der Tiere in den ländlichen Ökonomien, sondern auch ihre Bedeutung für unsere in-

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dividuellen, kollektiven, lokalen und landschaftlichen Identitäten und Vorstellungswelten offenbar. Abb. 9: Verbrennung von gekeultem Vieh mit MKS. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 52–53. © Martin Elliot)

Das Werk von Chapman und Crowden (2005) (Abb. 10) handelt von der „Stille“, die auftritt, wenn die intime, reiche Interkorporalität, welche die affektiven Alltagspraktiken der Arbeit mit einer Kuhherde bestimmt, mit einem Mal gewaltsam zum Stillstand gebracht, der Hof einer Zwangsquarantäne unterstellt, der gesamte Viehbestand getötet und schließlich das Gelände gereinigt wird. Dann kommt ans Licht, inwiefern die Beziehungen zwischen Landwirt*innen und Vieh in genau artikulierten, intimen, örtlich und körperlich gebundenen Praktiken ausgetragen werden, bei denen die affektiven (sinnlichen) Register eine Schlüsselrolle spielen. Der Hof wird als ein aus Mikro-Räumen oder MikroPraktiken bestehender Raum oder taskscape (Ingold 2000) begriffen, etwa wenn die Gatter auf dem Gelände, je nach Routine, eine andere Funktion annehmen. Die Keulung der Herde zerstört diese taskscape an raumzeitlichen Handlungsabläufen und die darauffolgende erdrückende Stille, das Schweigen, die Abwesenheit von Gerüchen und anderem macht fühlbar, was vor der Keulung hier – unbeachtet – vonstatten ging (Abb. 11 und 12).

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Abb. 10: Ein Tierarzt beruhigt ein Kalb vor seinem Tod während der Keulung auf Ramscliffe Farm. (Quelle: Chapman und Crowden 2005, 66–67. © Chris Chapman)

Abb. 11: Taskscape vor der Keulung. (Quelle: Eede und Mollett 2003, 29. © Becky Griffiths)

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Abb. 12: Taskscape nach der Keulung: der unbelebte, sauber geschrubbte Melkstand auf Ramscliffe Farm. (Quelle: Chapman und Crowden 2005, 90. © Chris Chapman)

So werden, zum Beispiel, die Hände des Bauern nach der Keulung nach und nach ungewohnt sauber, da der Schmutz und die Spuren der Arbeit an ihnen fehlen. Die organischen Hinterlassenschaften der Herde (z.B. Gerüche, trocknender Dung) auf dem Hof und in den Ställen werden mit dem Schlauch weggespült, abgekratzt und desinfiziert. Die Farm riecht anders, sie ist verwaist und still und die Sinne werden sich schmerzlich des Verlusts von all dem bewusst, was zuvor affektiv erfasst und tagtäglich gelebt wurde. Andere sichtbare Spuren wie Kratzer und Dellen in den Hofanlagen jedoch bleiben als Zeugen der verlorenen taskscape zurück. Die Ökologie des Ortes als Ausdruck aufeinander bezogener Körperlichkeiten mit ihren Bewegungen, Gewohnheiten, Sinnen und ihrem Gedächtnis wird durch die Störung offenbar. Wrennalls (2002) Bericht über eine Keulung auf einer anderen Farm beschäftigt sich unter anderem mit dem Behaustsein der Tiere und der menschlichen Bewohner*innen und stellt die Frage, inwiefern die Kühe für das Behaustsein auf der Farm insgesamt ko-konstitutiv sind. Sie schildert, dass andere Tiere, wie zum Beispiel die Hofhunde, nach der Keulung genauso verloren und desorientiert wirkten wie die Landwirt*innen. Sie weist zudem darauf hin, dass auch die „wilden“ Behausungen auf der Farm empfindlich gestört wurden, obschon sie bei Ausbruch der MKS weitgehend unbeachtet blieben. Die Schwalben, die

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jeden Frühsommer an die Kuhställe zurückkehrten, ließen die frisch desinfizierten und eingesprühten Dachbalken, an denen sie normalerweise die Nester des Vorjahres vorfinden, in diesem Jahr links liegen. Sie und andere Vögel fanden auf dem Hof, dessen wilde Ökologie von der Anwesenheit der Kühe abhängt, weniger Insekten vor. Solche Beobachtungen sprechen nicht nur für eine Ökologie des Ortes, sondern auch für eine ortsgebundene Ökologie der Affekte und Gefühle. Höfe, die „ausgekeult“ wurden, konnten auch durch neuen Tierbesatz nicht sofort als lebendige Behausungen und Identitätsorte wiederbelebt werden. Wrennall schildert, wie die neue Herde zum ersten Mal zum Melkstand geführt wird, und ihr Bericht ähnelt den Erzählungen von anderen Höfen, die dasselbe Schicksal durchgemacht haben. Normalerweise werden neue Tiere, die zu einer bestehenden Herde hinzustoßen, durch das kollektive Wissen der Herde in die Räume und Rhythmen der Farm und die Beziehungen zu den Menschen hineinsozialisiert. Aber nachdem alle Tiere neu waren, war dieses Wissen verloren, und der Hof, seine Abläufe und die Menschen auf ihm waren den neuen Tieren unbekannt und unheimlich. Die neue Herde zu melken, ohne sich auf die gewohnten affektiven Wechselbeziehungen verlassen zu können, war zu Beginn für die Farmarbeiter*innen, die eine gemeinsame Routine und einen Kontakt zwischen sich und den Tieren allererst herstellen mussten, ein mühsamer und zeitraubender Kampf. Die wertvollen Einsichten, die uns diese, wiewohl durch ein grauenhaftes Ereignis veranlassten Untersuchungen vermitteln, zeigen deutlich die Komplexität und die feinen Unterschiede, die die Anwesenheit von Tieren im ländlichen Raum und für die ländliche Praxis ausmacht.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Ich habe zu erkunden und illustrieren versucht, inwiefern unterschiedliche und reiche Formen von Tierhaftigkeit eine Schlüsselrolle in den materiellen und nichtmateriellen Konstruktionen von (Agrar-)Landschaften spielen. Ich habe die Ansicht vertreten, dass ein Großteil der Interaktion mit Tieren und der Tragweite ihrer Präsenz in der Landschaft sich in und durch affektive und emotionale Register artikuliert. Diese Register schließen oft einen haptischen und sinnlichen Austausch und eine interkorporale Praxis ein, die in eine Vielzahl von Leidenschaften, Gefühle der Ortsgebundenheit und Identität und politische, ökonomische und kulturelle Prozesse eingebunden sind. Es existieren Ökologien affektiven Behaustseins, in die sowohl Tiere wie Menschen eingebettet sind. Manchmal kommt es in diesen eng verflochtenen Ökologien zu erbitterten Auseinan-

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dersetzungen oder sie werden durch Störungen bloßgelegt, wie im Falle des Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche. Ich habe mich zur Illustration meines Arguments auf autoethnografische Darstellungen und eine breite Palette von literarischen, filmischen und medialen Quellen gestützt. Ich habe mich außerdem auf eine Reihe von neueren theoretischen Perspektiven bezogen: auf (performatives) Behaustsein [dwelling] (Ingold 2000; Jones 2009; Wylie 2003), auf Ökologien leidenschaftlicher Ortsverbundenheit (Game und Metcalf 1996; Thrift 1999), auf offen performative/affektorientierte Ansätze (McCormack 2007; Pile 2009), die in Verbindung mit darauf abgestimmten ethnografischen und ethologischen Methoden dazu benutzt werden können, das affektive Leben in den verschiedenen Landschaften umfassender zu erforschen. Diese Ansätze gruppieren sich um eine Reihe gemeinsamer Analyseebenen, die das Interrelationale, Intermaterielle, Interpraktische und Interkorporelle betreffen. Alle diese Ansätze konzentrieren sich stark auf die intimen, feinfaserigen Interaktionen, die von einem Augenblick auf den nächsten stattfinden und die am relationalen, räumlichen Werden der einzelnen Menschen und Nichtmenschen beteiligt sind (Young 2003). Vor allem hier entfaltet sich der ganze Reichtum der Mensch-Tier-Interaktionen – ihres Ausdrucks, ihrer Bedeutung, Wirkungsmacht, Emotionen und Ethik. Stewart (2007) schlägt vor, Affekte mit Hilfe von bestimmten Formen von Mikroethnografie zu begreifen. Es gibt bereits Untersuchungen der Tierethologie, die Überlegungen zum Tierwohl, zu den Emotionen von Tieren und zu landwirtschaftlichen Praktiken miteinander verknüpfen (z.B. Sandem et al. 2002) und in denen die Bewegungen und Ausdrucksweisen von Tieren in ihrem Verhältnis zu den Menschen sehr detailliert studiert werden. Nicht zuletzt gibt es Bekoffs „Tiefenethologie“ (2002; 2006), die die emotionalen Verknüpfungen und Parallelen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen untersucht. Besonders dringlich erscheint die Erforschung affektiver/emotionaler Register im Hinblick auf die ethischen Fragen der Beziehungen zwischen Menschen und Nichtmenschen in ländlichen Kontexten, wo Tierrechte und Tierwohl nicht nur eine Frage der übergeordneten Werte in Politik, Kultur, Gesetzgebung und Produktionsstandards sind, sondern wo immer auch die intimen Räume und Praktiken alltäglicher Begegnung berührt sind. Mensch-Tier-Interaktionen werden stets von komplexen affektiven Resonanzen begleitet sein. Diese miteinander geteilten Begegnungen führen nicht unbedingt zu empathischen Beziehungen, aber sie sorgen dafür, dass Räume, in denen Tiere präsent sind, wie ländliche Räume, landwirtschaftlich genutzte Landschaften, Landmärkte, häusliche Räume und so weiter, zu Räumen komplexer und bisweilen widersprüchlicher

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Gefühlsaffekte werden. Dieser Umstand sollte, wie Sabloff (2001) zu Recht anmahnt, nicht ignoriert werden, sondern zu einer wissenschaftlichen Öffnung und Auseinandersetzungen führen. Die affektiven/emotionalen Verknüpfungen zwischen Wesen in relationalen Praktiken gehören zu den maßgeblichen Kräften, durch die sich menschliches und nichtmenschliches Wohlbefinden (oder Unwohlsein) artikuliert, und sind daher zugleich eine Grundlage, auf der an Reartikulationen gearbeitet werden kann, die das relationale Wohlbefinden hinsichtlich Handlungsfähigkeit und Ethik verbessern (Whatmore 2002). Im Namen der Tiere gesprochen: Es gibt eindeutige Zusammenhänge zwischen bestimmten Gefühlen, Empathie, Tierwohl und Ethik auf der einen Seite und anderen Emotionen, Ausbeutung, Verachtung und Grausamkeit auf der anderen Seite. Es muss genauer erkundet werden, wie diese Positionen ein- und ausgeübt werden. Ich habe eine Anzahl konzeptueller und inhaltlicher Fragen aufgeworfen, die eine Weiterentwicklung insbesondere in der Landschaftsgeografie (und der Geografie des ländlichen Raums) verdienen, und ich habe darzulegen versucht, wie unverzichtbar eine tiefgründige Kartierung der affektiven/emotionalen Aspekte für jede Tiergeografie im ländlichen Raum ist. Es gibt gewichtige Gründe, die Art und Weise, wie wir Tiere und Mensch-Tier-Beziehungen erforschen, weiterzuentwickeln. Dazu zählen ethische, politische und philosophische Gründe, aber auch eher praktische Motive wie das wechselseitige Wohlbefinden, Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit, Nahrungsmittelqualität, Tierschutz und so weiter. Sie sind darüber hinaus für unser Verständnis der tierlichen Präsenz im ländlichen Raum und damit der umfassenderen Praxen, Konstruktionen, Vorstellungen und Interpretationen des Lebens in Landschaften bedeutsam. Das Original ist erschienen in Landscape Research 38(4), 2013, 421–442 unter dem Titel „,Who Milks the Cows at Maesgwyn?‘ The Animality of UK Rural Landscapes in Affective Registers“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Taylor & Francis.

L ITERATUR Anderson, Ben und Paul Harrison. 2010. Taking-Place: Non-Representational Theories and Geography. London: Ashgate. Baker, John A. 1967. The Peregrine. New York: New York Review Books. Bekoff, Marc. 2002. Minding Animals: Awareness, Emotions, and Heart. New York: Oxford University Press.

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Kompositionen eingehen Tiergestützte Aktivitäten in einem deutschen Pflegeheim B ETTINA VAN H OVEN

Übersetzung aus dem Englischen von Samira Goth

E INFÜHRUNG In Studien tiergestützter Aktivitäten und Therapie lag der Fokus bisher überwiegend auf dem Einfluss von Hunden auf das Wohlbefinden von Menschen, wie es in psychologischen Untersuchungen oder mit biophysikalischen Messmethoden gemessen wird (siehe zum Beispiel Hoffmann et al. 2009; Le Roux und Kemp 2009; Phung et al. 2017). Obgleich solche Studien sich über den vielfältigen Nutzen von Tieren bei der Pflegearbeit einig sind, erscheinen die Tiere selbst größtenteils als „Instrumente“ oder Variablen anstatt als individuelle Wesen, die aktiv zu Interaktionen mit Menschen beitragen und damit im Ergebnis die (menschliche) Erfahrung tiergestützter Aktivitäten und Therapie gestalten. Dieser Aufsatz befasst sich mit dem Beitrag eines speziellen Hundes, dem Berner Sennenhund Albin, zur Pflege in einem deutschen Pflegeheim 1. Ziel der Untersuchung ist es, zur Literatur über tiergestützte Aktivitäten und tiergestützte Therapie beizutragen. Dabei folge ich Hoagwood et al. (2017, 11), die die Notwendigkeit betonten, „den Wirkungsmechanismus zu verstehen, der zu einem

1

Ohne die Zusammenarbeit mit Jaap und Albin, der Heimleitung und den Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen im Pflegeheim wäre dieser Aufsatz nicht zustandegekommen. Paula Prenzel war eine große Hilfe bei der genauen Beobachtung und der Besprechung dieser Beobachtungen im Pflegeheim. Ich möchte allen Beteiligten meinen aufrichtigen Dank zum Ausdruck bringen.

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positiven Effekt [bei tiergestützter Therapie] führt“, und zu beurteilen, „ob es in Bezug auf bestimmte Arten besondere Prozesse gibt, die zu Veränderung führen“. Der Aufsatz beleuchtet einige dieser Prozesse und zeigt, wie Mensch und Tier (Hund) durch ihre „gegenseitige Entscheidungsfindung“ eine Komposition eingehen [enter into a composition], „indem sie eine Art von Choreografie [herstellen], eine gemeinsame Verhaltensgestaltung“ (Buller 2015, 379, dabei Birke, Bryld und Lykke zitierend). Dadurch stehen, wie Power (2008, 538) feststellte, „der besondere Charakter, seine Vorlieben und die Andersartigkeit des Tieres, [in diesem Fall] seine ‚Hundhaftigkeit‘ im Vordergrund. Der folgende Aufsatz befasst sich mit der Art und Weise des Zusammenspiels und bietet ein Beispiel dafür, wie sich Erkenntnisse aus tierorientierten Methoden in Studien über das Verhalten von Tieren (Ethologie) und insbesondere Nico Tinbergens „vier Fragen“ (siehe Krebs und Davies 2009) mit der qualitativen Forschungsmethode der Beobachtung und Dokumentation durch Fotos zusammenführen lassen. Der Aufsatz beginnt mit einer Beschreibung, wie die vorliegende Untersuchung konzipiert wurde. Zuerst erläutere ich kurz die zentralen Erkenntnisse in der bisherigen Forschung zu tiergestützten Aktivitäten und tiergestützter Therapie in Pflegeheimen, um darzulegen, was ich als wichtige Forschungslücke erachte. Dann fasse ich die theoretischen und praktischen Dimensionen des Forschungsansatzes für diese Studie zusammen. Da der Hund Albin eine entscheidende Rolle spielt, gebe ich den Leser*innen eine Vorstellung von seiner Ausbildung und skizziere Albins Arbeit im Pflegeheim allgemein. Schließlich beschreibe ich, wie Hund und Mensch eine Komposition eingehen, indem ich drei individuelle „Choreografien“ zwischen Albin und einigen der beobachteten (und manchmal interviewten) Bewohner*innen des Pflegeheims beschreibe.

F ORSCHUNGSRAHMEN Mensch-Hund-Interaktion unter therapeutischen Bedingungen Der Begriff tiergestützte Aktivitäten bezieht sich auf Aktivitäten von Haustieren, die Pflegeheimbewohner*innen oder Patient*innen ohne spezielle individualisierte Behandlungsziele (wie sie die tiergestützte Therapie verfolgt) besuchen. Tiergestützte Aktivitäten können durch ehrenamtliche Helfer*innen mit Hunden, die zumindest etwas Anleitung und Ausbildung (Geist 2011) erhalten haben, durchgeführt werden. In den letzten 20 Jahren hat eine Reihe von Untersuchungen damit begonnen, die positiven Auswirkungen von tiergestützter Therapie

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und tiergestützten Aktivitäten mit Hunden aufzuzeigen – etwa auf die psychische und physische Gesundheit von Kindern (Geist 2011; Calcaterra et al. 2015). Dies gilt gleichermaßen für Menschen (oft ältere Erwachsene) mit psychischer Erkrankung (Moretti et al. 2011), mit Depression (Colombo et al. 2006; Le Roux und Kemp 2009), manchmal speziell, wie sie von älteren Erwachsene mit kognitiver Störung oder Demenz (Majić et al. 2013; Olsen et al. 2016) oder Krebs (Johnson et al. 2008) erlebt werden oder von Menschen, die sich einsam fühlen (Banks und Banks 2002; Vrbanac et al. 2013). Moretti et al. (2011) fanden beispielsweise heraus, dass Sitzungen mit dem Hund depressive Symptome bei Befragten verbesserten (siehe auch Hoffmann et al. 2009; Le Roux und Kemp 2009; Majić et al. 2013), und die Forscherinnen beschreiben eine bedeutende Verbesserung bei kognitiven Funktionen, motivationalen und emotionalen Aspekten (siehe auch Marx et al. 2010; Geist 2011). Miller und Connor (2000) stellen fest, dass sich die Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung infolge der Mensch-Tier-Interaktion verringern kann. Obgleich Miller und Connor dies der Ablenkung zuschreiben, die die Tiere bieten, weist Odendaals und Lehmanns (2000) Studie auch auf biochemische Gründe hin. Sie konstatieren, dass Interaktionen mit Hunden die Dopamin-, Kortisol-, Oxytocin-, Prolaktin-, Endorphin- und Phenylethylamin-Spiegel positiv beeinflussen, was positive Gefühle, Verbundenheit und eine Stressverminderung hervorrufe (siehe auch Hoffman et al. 2009). Im Hinblick auf diesen Aufsatz ist es bemerkenswert, dass Marx et al. (2010) die spezifischen Qualitäten der Hunde (als Spezies) bei der Arbeit mit älteren Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen hervorheben. Sie beobachteten, dass die Befragten, während der Hund anwesend war, mehr und längeres Sozialisierungsverhalten zeigten, wie etwa Anlehnen, Lächeln, den Hund ansehen, Berührungskontakt und Verbalisierung (zum Beispiel das Aussehen oder Verhalten des Hundes beschreiben oder loben, mit dem Hund reden oder ihm Anweisungen geben, über ein früheres Haustier reden, Fragen stellen) (siehe auch Kovács et al. 2004; Pope, Hunt und Ellison 2016). In ähnlicher Weise stellen Miller und Connor (2000) fest, dass sich als Ergebnis von der bedingungslosen Akzeptanz der Tiere die Körperwahrnehmung der Patient*innen verbessern kann. Und DeCourcey, Russell und Keister heben hervor, dass „Patienten und Patientinnen es zu schätzen wissen, als menschliches Wesen angesehen zu werden, das bedingungslose Liebe und Aufmerksamkeit verdient, und nicht als Maschine, die repariert werden muss oder als nächste, zu bewältigende medizinische Herausforderung“ (2010, 214). Trotz der Relevanz, die Hunden als Spezies bei der Verbesserung des menschlichen Wohlergehens in institutionellen Zusammenhängen zukommt,

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werden die Besonderheiten der Mensch-Tier-Interaktion größtenteils ignoriert. Dies lässt sich wohl, zumindest teilweise, auf die angewandte Methodik zurückführen. Viele (kontrollierte und randomisierte) Studien nutzen Auswahlkriterien für die Gewinnung ihrer Stichprobe. Solche Untersuchungen setzen nur ausgewählte Patienten*innen den festgelegten oder freien Interaktionen mit einem angeleinten (Le Roux und Kemp 2009) oder „freien“ Hund (Kovács et al. 2004) aus, und zwar bei regelmäßigen Treffen innerhalb eines begrenzten Zeitraums. Es besteht kein Interesse daran, die Beziehungen zu beobachten, die sich zwischen Mensch und Tier entwickeln können. Im Gegensatz zu solchen Studien haben wir keine spezifischen Bewohner*innen als Teilnehmer*innen an der Untersuchung rekrutiert, weil das Ziel darin bestand, Albins regelmäßige Arbeit und Aktivitäten zu verfolgen. Anders als beispielsweise bei Phung et al. (2017) hatten die an unserer Untersuchung Teilnehmenden Albin vor der Studie gesehen und unterschiedlich viel Zeit mit ihm verbracht. Wir führten vor oder nach der Interaktion keine Umfrage durch. In Anbetracht der unterschiedlich starken kognitiven Beeinträchtigung vieler Bewohner*innen waren wir der Auffassung, dass dies kein valides Messinstrument wäre. Außerdem nahmen wir keine Intervention vor, die dazu geführt hätte, dass einige Bewohner*innen exklusiv Zeit mit Albin verbracht hätten, während andere, die sich auf den allwöchentlichen Besuch freuten, diesen ungewollt nicht erhalten hätten. Um den Ausdruck der individuellen Beziehungen zwischen Albin und jeweiligen Bewohner*innen des Pflegeheims festzuhalten und zu interpretieren, wurden in dieser Forschungsarbeit eigene Beobachtungen durchgeführt und Fotografien zur Dokumentation angefertigt. Im Pflegeheim Die Datenerhebung für diesen Aufsatz wurde von mir in einem Pflegeheim in Norddeutschland durchgeführt. Unterstützt wurde ich von Paula Prenzel, einer Studentin, die Erfahrung bei der Durchführung qualitativer Forschung sammeln wollte. Als leitende Forscherin wurde ich der Heimleitung und der leitenden Ergotherapeutin durch Albins Halter (und meinen Vater) Jaap 2 vorgestellt, der

2

Albins Halter Jaap ist ein Hundetrainer. Er hat eine Schule und bildet junge Hunde und ihre Besitzer*innen aus und arbeitet mit einem Klickertrainingsansatz, um positives Lernen und Verhalten zu fördern. Zudem berät er Hundebesitzer*innen, die bei ihren Hunden ein problematisches Verhalten erleben. Daneben schult er Leute, die mit ihren Hunden gern als freiwillige Helfer*innen in Pflegeeinrichtungen oder in Schulen

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die Einrichtung als freiwilliger Helfer seit 2009 besucht. Die Heimleitung war entgegenkommend, ja sogar enthusiastisch, die Forschungstätigkeit zu unterstützen, denn sie hatten die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit freiwilliger Helfer*innen mit Hunden sowohl den Bewohner*innen als auch den Mitarbeiter*innen der Einrichtung emotional wie körperlich zu Gute kommt (siehe auch Phung et al. 2017). Somit erteilte das Pflegeheim die Erlaubnis, Bewohner*innen in der Einrichtung zu Studienzwecken zu beobachten und auch Jaap stimmte unseren Beobachtungen von Albin und seiner „Arbeit“ zu. Die Zeitpunkte für die Datenerhebung wurden in Zusammenarbeit mit der leitenden Ergotherapeutin und der Heimleitung geplant, die uns auch gestatteten, Fotos und Videos aufzunehmen. Sie vereinfachten unsere Interviewphase, indem sie Bewohner*innen identifizierten, die sich ihrer Auffassung nach am besten verbal ausdrücken und von ihren Erfahrungen mit dem Hund berichten konnten. Die Vereinbarung zwischen Jaap, der Wissenschaftlerin und dem Pflegeheim besagte, dass diese Fotos zur Analyse und weiteren Entwicklung des Projekts verwendet werden (zum Beispiel um Fragen für die Beobachtungen und Interviews zu generieren). Die Zustimmung zur Verwendung der Fotos bei der Veröffentlichung der Forschungsarbeit musste entweder von den Bewohner*innen selbst gegeben werden, oder gegebenenfalls von ihren Angehörigen. Die vorherrschenden Formen der Datenerhebung waren Beobachtung und Fotodokumentation. Insgesamt führten wir acht Beobachtungen von Albins Arbeit im Pflegeheim durch. Gelegentlich nahmen wir auch aktiv an der Interaktion von Albin mit den älteren Menschen teil (zum Beispiel erleichterten wir Interaktionen, indem wir Albin halfen, auf einem Stuhl neben dem*der Bewohner*in Platz zu nehmen oder Bewohner*innen halfen, Albin Futterstückchen zu geben oder ihn zu streicheln). Doch die überwiegende Art der Datenerfassung erfolgte distanzierter, das heißt über Fotos und nachträgliche Notizen zu gemachten Beobachtungen. Bei neun weiteren Gelegenheiten wurde das Pflegeheim ohne Albin an unterschiedlichen Wochentagen und zu verschiedenen Tageszeiten besucht, um einen Eindruck von der Einrichtung und dem Alltagsleben im Pflegeheim zu gewinnen. Bei diesen Besuchen wurden keine Fotos gemacht. Weitere visuelle Daten wurden von Albins Halter Jaap gesammelt und zur Verfügung gestellt; er hatte im Laufe der Jahre viele Fotos von Albins Training und Arbeit gemacht. Insgesamt sammelte ich 902 Fotos (sowie schriftliche Notizen) aus acht Beobachtungen im Pflegeheim. Fotos waren unverzichtbar, denn sie erleichterten die Analyse davon, wie verschiedene Pflegeheimbewoh-

arbeiten möchten, und er gibt Workshops für Kinder in Grundschulen. Jaap arbeitet seit 2006 ehrenamtlich in Pflegeeinrichtungen.

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ner*innen und Albin unterschiedliche Kompositionen eingehen. Die Fotos halfen zudem, Beobachtungsmomente auf eine Weise „einzufrieren“, die es mir erlaubte, Gegenstände zu identifizieren, die sich als hilfreich erwiesen (wie Futterstückchen, Möbelstücke, Bettlaken usw.). In Anlehnung an Hoagwood et al. halfen die Fotos somit bei der Ermittlung des „Wirkungsmechanismus“ von tiergestützter Therapie (2017, 11). Die Fotos wurden anhand der verschiedenen beobachteten Bewohner*innen sortiert, was 28 Fotosätze ergab, von denen der kleinste drei Fotos enthält und der größte 75. Jeder Fotosatz beinhaltet alle Fotos, in denen die entsprechende Person zu sehen ist, immer zusammen mit Albin, entweder allein mit Albin, mit ein paar anderen Bewohner*innen (zum Beispiel an einem Tisch sitzend) oder im Zusammenhang einer Gruppenaktivität. 20 Fotosätze wurden durch schriftliche Notizen aus Beobachtungen über die*den jeweilige*n Bewohner*in ergänzt. Die Fotos wurden nach Bewohner*in analysiert und mit einem Zeitstempel versehen, um die diversen Interaktionen zwischen Albin und den verschiedenen Bewohner*innen zu beurteilen und mögliche Muster und/oder Veränderungen im Laufe der Zeit zu untersuchen. Zusätzlich zur visuellen Datenerfassung führten wir Interviews durch. Insgesamt wurden sieben Interviews mit neun Mitarbeiter*innen (mit Pflegekräften und Mitarbeiter*innen, die für Aktivitäten mit den Bewohner*innen zuständig waren) und neun Interviews mit Bewohner*innen durchgeführt. Eine Zustimmung zu den Interviews wurde von den Befragten selbst eingeholt. Sie erhielten eine Kopie der Interviews, um es später noch einmal durchlesen zu können. Vor dem Hintergrund der altersbedingten kognitiven Beeinträchtigungen sind wir jedoch nicht sicher, dass alle Bewohner*innen die Details unserer Untersuchung wirklich verstanden haben, einschließlich der Frage, wie und wo die Ergebnisse verfügbar gemacht werden sollten. Während der Interviews verwendeten wir Fotos von Albins Besuch bei den Befragten, um ihnen Informationen über ihre Erfahrungen zu entlocken. Allerdings waren die Interviews schwierig, weil viele der Befragten nicht imstande waren, sich gut oder überhaupt verbal auszudrücken. Hunde erforschen „Wenn ich meine Untersuchung [...] mit einer täuschend einfachen Frage beginne etwa: ,Wie fühlt es sich an, ein Hund in so einer Situation zu sein?‘“, erklärt Bekoff (2010, 37), „dann muss ich versuchen zu verstehen, wie Hunde ihren Tag erleben [...] aus ihrer hundezentrischen Weltsicht“. Ein wichtiger Teil der vorliegenden Untersuchung bestand darin, Albins Rolle bei der Betreuung von Pflegeheimbewohner*innen herauszuarbeiten. Bei dem Versuch zu verste-

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hen, „wie Hunde ihren Tag erleben“, stützte sich die Studie auf Beobachtungen von Albins Halter, Pflegeheim-Mitarbeiter*innen, Bewohner*innen und mir selbst. Eine wichtige Überlegung ist dann die Frage nach den „richtigen“ Qualifikationen der Beobachtenden für das Verständnis des Tieres. Bekoff (2010, 46) zitiert hilfreicherweise eine Untersuchung von Wemelsfelder zum Verhalten von Schweinen, in der eine Wissenschaftlerin anmerkt: „Ob es sich bei den Beobachtern um Studenten, Wissenschaftler, Schweinezüchter, Tierärzte oder Tierschützer handelte, wir fanden einen gleichbleibend hohen Level an Übereinstimmungen [...] wie sie die Schweine einschätzten. Mit ihren eigenen Worten kreierten die Beobachter schlüssige und sinnvolle semantische Bezugssysteme, die sie zur Charakterisierung des Ausdrucks individueller Schweine in präziser und wiederholbarer Weise einsetzen konnten.“3

Im Kontext der durchgeführten Studie sollte nochmals darauf hingewiesen werden, dass ich Albin vor der Untersuchung kannte und Jaaps Arbeit im Pflegeheim als direktes Familienmitglied verfolgt habe, allerdings nicht regelmäßig, da wir in verschiedenen Ländern leben. Um jedoch Albins Verhalten umfassender verstehen zu können (anstatt nur anekdotenhaft), wie ich in diesem Abschnitt erklären werde, erwiesen sich Erkenntnisse aus der Ethologie als hilfreich. Im Zusammenhang mit der Erforschung von Tieren ist es relevant zu erwähnen, dass sich nicht viele Etholog*innen für Hunde (und andere Haustiere) interessiert haben (mit der rühmlichen Ausnahme der Ethologen an der Eötvös Loránd Universität in Ungarn, die das Family Dog Project begründeten) und ihren Arbeiten bis vor kurzem eher auf „ungezähmte“ Tiere in ihrer „natürlichen Umgebung“ konzentrierten. Man kann sagen, dass die Erforschung des Verhaltens von Hunden in den Naturwissenschaften nicht viel Anerkennung erhalten hat, vielleicht weil, wie Koski und Bäcklund (2015, 27) behaupten, „Hunde sich im Grenzbereich einer binären Trennung zwischen Natur und Kultur befinden“. Und bezugnehmend auf Tuan betonen Irvine und Cilia tatsächlich, dass, obgleich „wir sie für ihre Tiernatur und Andersartigkeit wertschätzen […]“, wir versuchen, „sie durch selektive Zucht, Sterilisieren und Kastrieren, Krallenentfernung und Training zu zivilisieren“ (2017, 2). Um Albins Beschäftigung mit den Bewohner*innen im Pflegeheim zu erfassen und zu interpretieren, habe ich mich speziell mit vier vom Ethologen Nico

3

Anm. S.G.: Das deutschsprachige Zitat wurde übernommen von https://www. narayana-verlag.com/homeopathy/pdf/Das-Gefuehlsleben-der-Tiere-Marc-Bekoff.054 61_3Inhalt.pdf; letzter Zugriff: 15. Januar 2018.

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Tinbergen vorgeschlagenen Punkten befasst – der Evolution von Verhalten, der Anpassung, der Ontogenese und der Ursache-Wirkungs-Beziehung, die ich jeweils in Bezug auf Hunde beschreibe. Ich verwende sie in Verbindung mit unseren Beobachtungen im Pflegeheim, denn ich möchte verstehen, welche besonderen Qualitäten der Hund als ein Hund in die Mensch-Tier-Beziehung einbringt. In letzter Zeit haben die Etholog*innen ihre Aufmerksamkeit auf die Kognition und das Verhalten von Haustieren gerichtet und befassen sich allmählich mit der Art und Weise, in der Hunde und Menschen kommunizieren, indem sie „menschenähnliche soziale Fähigkeiten“ bei Hunden untersuchen 4. Merola, Prato-Previde und Marshall-Pescini (2012) führen beispielsweise eine Reihe von Untersuchungen an, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind und die gezeigt haben, dass Hunde menschlichen kommunikativen Gesten folgen, sich auf Menschen verlassen, wenn sie ein gewünschtes Objekt nicht bekommen können, Direktionalität im menschlichen Körper und Blick verstehen, und „mit Menschen gewollt und referentiell in einer Reihe von Situationen kommunizieren“, zum Beispiel um an verstecktes Futter oder Spielzeug zu gelangen. Hunde können auch „zwischen vertrauten und fremden Gesichtern sowie lächelnden und neutralen Gesichtern unterscheiden“ (ebd., 176) und erkennen Gefühlsäußerungen im Gesicht. Hare und Tomasello legen nahe, dass diese Fertigkeiten „als Ergebnis einer Selektion aus Systemen“ entstanden sind, „die Angst und Aggression gegenüber Menschen vermitteln“ (2005, 439) und sich weiterentwickeln konnten, und die Hunde befähigte, den Menschen vor etwa 12.000 oder vielleicht sogar 30.000 Jahren zu folgen und mit ihnen zu leben (Merola, Prato-Previde und Marshall-Pescini 2012; Irvine und Cilia 2017). Hunde haben ihre kooperativen kommunikativen Fähigkeiten sehr spezialisiert und scheinen infolgedessen auf das Vorhandensein, die Art und Richtung des menschlichen kommunikativen Verhaltens eingestellt zu sein. Ergänzend dazu zeigen Studien, dass Hunde referenzielles Sehen nutzen, um zusätzliche Informationen über eine unbekannte, möglicherweise stressige Situation einzuholen und um Hinweise darauf zu bekommen, wie sie reagieren sollen. Beispielsweise zeigt eine Untersuchung von Merola, Prato-Previde und Marshall-Pescini (2012) über soziale Referenzierung bei Hund und Halter*in, dass Hunde nicht nur fragend auf Menschen schauen, sondern sich auch anpassen. Die Studie ergab, dass wenn Besitzer*innen Unsicherheit oder Furcht gegenüber dem unbekannten Gegenstand zeigten (wie einen Ventilator mit flatternden Bändern), sich die

4

Obwohl Wilkie (2015) darauf hinweist, dass „sozial“ zunächst einmal nicht exklusiv menschlich ist.

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Hunde nicht näherten und nah bei dem*der Besitzer*in blieben, während Hunde, deren Besitzer*innen positive Gesichtsausdrücke zeigten, sich dem Objekt selbstbewusst näherten. Es ist hierbei wichtig festzuhalten, dass Hunde wie Menschen nicht als einheitliche Gruppe behandelt werden dürfen. Die Ontogenese oder Entwicklung behandelt daher auf Rasse, Training und Motivation basierende Unterschiede. McKinley und Sambrook (2000) fanden in ihrer Untersuchung zur Nutzung von Menschen gegebener Signale durch Hunde heraus, dass manche Hunderassen Handzeichen leichter verstehen als andere. Berner Sennenhunde wie Albin sollen anhand ihres Rassestandards gutmütig, selbstsicher und fügsam sein. Sie sind für ihre anhängliche und geduldige Art bekannt und arbeiten gut mit anderen Tieren und Unbekannten zusammen. Unabhängig von Größe, Gewicht, Behaarung und dem Maß an Speichelproduktion scheinen die genannten Charakteristiken eine gute Qualifikation für die Arbeit im Pflegebereich zu sein. Im Hinblick auf einige der in den vorherigen Abschnitten erläuterten Entwicklungseigenschaften ist es interessant, dass Berner Sennenhunde dafür bekannt sind, mit ihren Besitzer*innen eine enge Beziehung aufzubauen. Ein letzter von Tinbergen beobachteter Punkt ist die Ursache-Wirkungs-Beziehung, also was dafür sorgt, dass ein bestimmtes Verhalten auftritt. Bekoff (2009) betont, dass fühlende Tiere die Fähigkeit haben, Freude zu empfinden und motiviert sind, diese zu suchen. In der Tat legen Autoren wie Beck und Katcher (2003) nahe, dass bei den entsprechenden Schutzmaßnahmen eine Mensch-TierInteraktion den Hunden die gleichen gesundheitlichen Vorteile bietet. Und Odendaal und Lehmann glauben, dass „die in der Therapie eingesetzten Tiere bei einer gegenseitigen physiologischen Reaktion dasselbe Gefühl der Begeisterung durch den amphetaminähnlichen Neurotransmitter erleben können wie die Menschen. Der Vermittler (Hund) erfährt somit ebenso viele gute Gefühle wie der Patient und dies ist vom Gesichtspunkt des Wohlbefindens des Tieres von Bedeutung (2000, 187).“

Coulters (2016) Text über Haustiere, die „freiwillige Arbeit“ verrichten, untermauert dies. Sie merkt an, dass diese „proaktiv und verantwortungsvoll diverse Fürsorgeleistungen […] durch ihre Anwesenheit, Verhaltensweisen, Interaktionen und Berührungen“ erbringen (Coulter 2016, 204); zumindest teilweise, weil sie eine körperliche Reaktion erleben, beispielsweise wenn sie Menschen in Not hören oder sehen. Ehe ich mich näher mit Albins Rolle in drei spezifischen Mensch-TierInteraktionen befasse, stelle ich im folgenden Abschnitt Albin und seine Arbeit im Pflegeheim vor, damit sich die Leser*innen vergegenwärtigen können, in

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welcher Art tiergestützte Aktivitäten durchgeführt und wie sie im untersuchten Pflegeheim aufgenommen werden.

ALBINS ARBEIT

IM

P FLEGEHEIM

Albin war zum Zeitpunkt der Beobachtung ein ausgewachsener vierjähriger Berner Sennenhund mit einem Gewicht von ca. 50 kg. Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen beschrieben ihn gleichermaßen mit positiven Ausdrücken. Eine Mitarbeiterin sagte: „Der ist groß, zottelig, hat nichts Aggressives an sich und eine freundliche Erscheinung“. Die interviewten Bewohner*innen nannten ihn einen „Liebling“, „lieb […] den muss man streicheln“ und „ein stattliches Tier, schön gepflegtes Haar und guckt immer schon auf die Bonbons (lacht)“. Trotz seiner Größe und des Gewichts betonten die Bewohner*innen seine „Zärtlichkeit“, die sie in der Interaktion mit Albin erleben. Eine Bewohnerin gab an: „Ich fühle mich lebhafter, freudiger.“ Eine weitere erklärte: „[die Atmosphäre] ist was ganz anderes, so Befreiung“. Es ist darauf hinzuweisen, dass Albin ab dem Alter von drei Monaten eine Hundeausbildung in einem Pflegeheim erhalten hatte. Manche Organisationen, die Hunde trainieren, empfehlen, erst mit 18 Monaten damit zu beginnen, nach Absolvierung eines grundlegenden Gehorsamstrainings und sobald der Hund in seinen physischen und geistigen Fähigkeiten gefestigter ist. Im Gegensatz dazu nutzte Jaap die ersten 16-18 Wochen, „wenn soziale Lernerfahrungen für den Rest des Lebens gespeichert werden, auch schlechte Erfahrungen“. Er ist der Ansicht, dass die Vorteile, den Hund mit einer Vielzahl sozialer Bereiche und Situationen vertraut zu machen, der Arbeit des Hundes im Pflegeheim zugute kommt, wo der Hund „freundlich und unaufdringlich sein, aber nicht perfekt parieren muss“. Als Welpe machte er auch ein „Praktikum“ mit einem älteren Hund (Abb. 1). Laut Jaap konnte er so dessen Verhalten nachahmen. Albins Arbeit im Pflegeheim ist in bestimmte Routinen in seinem „Zuhause“ eingebunden, die Albin darüber informieren, dass es ein „Arbeitstag“ im Pflegeheim ist. Er wird zum Beispiel morgens gründlich gebürstet und, je nach Wetter, davor spazierengeführt (sodass er trocknen kann, sich weicher anfühlt und weniger nach der Nässe riecht), er trägt ein spezielles Halsband mit Leine (statt seines üblichen Geschirrs), er wird morgens nicht wie sonst gefüttert (sondern erhält seine Futterstückchen bei seiner Arbeit von den Bewohner*innen des Pflegeheims), und er bekommt nach der „Arbeit“ als Belohnung einen frischen Knochen. Als Teil seines Tagesablaufs zu Hause ruht sich Albin nach der Rückkehr aus dem Pflegeheim mehrere Stunden aus.

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Abb. 1: Albins Welpentraining: Er lernt, auf einem Stuhl zu sitzen. (Foto: Bettina van Hoven)

Albin und Jaap besuchen das Pflegeheim jede Woche am Dienstagmorgen zwischen 10.30 und 11.30 Uhr eine Stunde lang. Wenn er im Pflegeheim ankommt, wird Albin gewöhnlich auf der Treppe zum Aufenthaltsraum von der Leine gelassen und betritt den Raum im eigenen Tempo. Albin besucht die Aufenthaltsräume und Küchen jeder Station und manchmal auch die Zimmer der Bewohner*innen, falls sie den Hund mögen, aber nicht im Aufenthaltsraum sind – wenn noch Zeit ist und Albin noch keine Anzeichen von Müdigkeit oder Stress zeigt. Albin kann nach eigenem Ermessen mit Bewohner*innen in Kontakt treten. Gelegentlich stupst er jemanden an, der nicht reagiert oder zunächst keine Interaktion mit ihm wünscht. Dann gibt Jaap ihm vorwiegend mit Gesten statt mit Worten zu verstehen, dass er weitergehen soll. Albin reagiert häufig auf Augenkontakt, ein Lächeln oder eine ausgestreckte Hand der Bewohner*innen.

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Ein Mitarbeiter beschreibt: „Ja, er kommt halt zu den Bewohnern hin, begrüßt sie entweder durch Nasenstupser oder Pfote geben und da sind die Bewohner sehr angetan von. Dass da irgendein Hund kommt, da haben die Spaß.“ Wie oben erwähnt, folgt Albin bei seinen Besuchen keinem vorgegebenen und statischen Programm und sieht nicht unbedingt jede Woche die gleichen Bewohner*innen, anders als in der Studie von Moretti et al., wo „die Probanden unter Supervision eines Hundetrainers angehalten waren, die Tiere zu halten, zu streicheln und mit den Tieren zu laufen, zu sprechen und zu spielen“ (2011, 126). Die Aktivitäten von Albin und den Bewohner*innen beruhen auf deren persönlichen Vorlieben, Mobilitäten und Charakteristiken sowie der Nähe der Bindung zwischen Albin und dem*der jeweiligen Bewohner*in. Demzufolge streicheln manche von ihnen Albin hauptsächlich (variierend zwischen seinem Kopf, seiner Brust oder seinem Rücken), manche füttern ihn (entweder direkt, mit einem „Trick“, der etwas Übung erfordert hat, oder auf verspielte und etwas neckende Art), manche sind lieber Wange an Wange, einige schmusen mit ihm auf dem Bett und manche sprechen mit ihm. Meistens, wenn ein Stuhl verfügbar ist, stellt Jaap einen Stuhl neben eine*n der Bewohner*innen, legt einen von der Einrichtung bereitgestellten Stoff darauf und gibt Albin ein Zeichen, sich darauf zu setzen. Sobald er auf einem Stuhl sitzt, kann Albin mit seinem Gegenüber direkter in Kontakt treten, da er sich auf der gleichen Augenhöhe befindet. Seine Brust zu kraulen, mit ihm zu sprechen und ihm Leckerchen zu geben, ist einfacher, wenn Albin und der oder die Bewohner*in sich auf ungefähr derselben Höhe befinden. Eine Mitarbeiterin beobachtete: „[Der ist] ruhig und trotzdem ausdrucksstark. Das Tollste ist, ja, wenn der auf dem Stuhl sitzt. Auf dem Stuhl und dann neben den Bewohnern. Für mich ist das schon ein Bild, das ist ganz toll. Und mit dem Knuddeln und mit der Schnauze hier am Nacken und dann kriegt er ein Leckerchen.“

Nur ein paar der Bewohner*innen sind noch imstande, sich nach unten und vorne zu beugen, um Albin zu kraulen, wenn er am Boden sitzt oder liegt. Einige der körperlich mobileren Bewohner*innen können Albins Leine halten und gehen mit ihm den Korridor entlang. Falls Albin eine*n der Bewohner*innen in ihrem oder seinem Zimmer besucht, meistens, wenn diese*r nicht mobil genug ist, um im Aufenthaltsraum dabei zu sein oder sich lieber von gemeinsamen Räumen und Aktivitäten fernhält, springt Albin auf ihr oder sein Bett und erlaubt ihr oder ihm, ihn zu umarmen und mit ihm zu schmusen.

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Als sie gebeten wurden, etwas zu Veränderungen zu sagen, die sie im Verhalten der Bewohner*innen infolge der Interaktionen mit Albin festgestellt hätten, erzählten die Mitarbeiter*innen ein paar Geschichten. Ihre Beobachtungen betreffen eine deutliche Änderung im Verhalten, hauptsächlich bei Bewohner*innen, die in normalen Pflegeabläufen als schwierig wahrgenommen werden. Beispielsweise bei Herrn Schubert: „Wenn der Hund kommt, hat er ganz große Augen. Entspannt, ganz locker, würde ich sagen und guckt und streichelt. Also für den ist das super. [Er ist] angespannt. Fast immer. [Wenn der Hund kommt], kann [er] dann auch so ein paar Wörter reden […] Aufgrund seiner Krankheit, wie soll man das ausdrücken, ist er launisch, mehr so unzufrieden. Oder er schreit, was ihm nicht gefällt, schreit, was ihm gefällt. [Mit den Hunden], da ist er entspannt.“

Oder: „Ich habe eine Bewohnerin, die jetzt quasi ihr eigenes Sofa hat, was sie belagert und wo sie sehr unangenehm werden kann, wenn sich ein Fremder dazusetzt. Sie hat zum Beispiel dem Hund erlaubt, dass er sich zu ihr aufs Sofa setzen darf, was sehr ungewöhnlich ist, dass sich überhaupt jemand oder ein Fremder dort hinsetzen darf, weil es ja ihr Sofa ist. […] Ja, der setzt sich da hin und macht nette kleine Kunststückchen und sie gibt ihm Leckerchen oder so. Also das klappt gut. Sie beschäftigt sich mit dem Hund.“

Ein anderes Beispiel zeigt, dass Albins Gegenwart sich ebenfalls positiv darauf auswirkt, wie Bewohner*innen sich zueinander verhalten: „Sie haben Spaß und man hat wieder was zum Erzählen: Ja, Albin der Hund war wieder da, ganz toll, und wie der sich benimmt und was der alles kann […] Also auf meiner Station ist das schon sehr eingeschränkt, die Kommunikation untereinander.“ Und schließlich „funktioniert“ Albin selbst für Bewohner*innen, die sehr in sich gekehrt, ja sogar isoliert sind: „Die kommt nicht so gerne raus aus ihrem Zimmer. [...] Kontakt mit dem Hund ist dann so Kontakt mit der Außenwelt.“ Obgleich unsere Beobachtungen und Interviews zu Albins Aktivitäten durch unterschiedliche Methoden erhoben wurden, bestätigen sie die Ergebnisse von früheren (quantitativen) Untersuchungen. Die Zitate illustrieren, wie Albin die kognitiven Funktionen, motivationalen und emotionalen Aspekte der Bewohner*innen zu beeinflussen scheint (siehe auch Marx et al. 2010; Geist 2011). Alle von Marx et al. (2010) beschriebenen Aktionen wurden auch von uns und von den Pflegeheim-Mitarbeiter*innen beobachtet. Albins Gegenwart und Interaktion mit Bewohner*innen munterte einige auf und belebte jene, die verschlos-

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sen geworden waren und selbst ihre Stimme verloren zu haben schienen. Wieder andere, die als unangenehm oder launisch beschrieben wurden, profitierten vom beruhigenden Einfluss von Albins Gegenwart. Der Rest dieses Aufsatzes beschäftigt sich stärker und gezielter mit unseren Beobachtungen dazu, wie verschiedene Pflegeheimbewohner*innen unterschiedliche Kompositionen mit Albin eingehen. Während der Beobachtungen und bei der Analyse der Fotografien wurde rasch deutlich, dass Albin imstande zu sein schien, sich auf verschiedene Bewohner*innen zu ihren Bedingungen auf jeweils besondere Art und Weise einzulassen. In diesem Kapitel wird der Begriff „eine Komposition eingehen“ verwendet, um diese Unterschiede zu ergründen, denn wir beobachten, dass Mensch und Tier vor dem Hintergrund unterschiedlich förderlicher Rahmenbedingungen und Materialitäten miteinander in Verbindung treten, eine Art von Konversation etablieren und dadurch die Identität und Handlungsfähigkeit des jeweils anderen beeinflussen (siehe auch Buller 2015; Hinchliffe, Kearns und Degen 2005). Eine Komposition einzugehen bedeutet körperliche Begegnungen, Synchronisationen von Verhalten und Konversation durch (sprachliche und lautlose) Aktion und Reaktion und laut Haraway sogar, „einander mit Liebe [zu] infizieren“ (2008, 16). Auch wenn alle Kompositionen zwischen einem*r Pflegeheimbewohner*in und Albin ablaufen, ist anzumerken, dass keine der anderen gleicht. Anders als frühere Untersuchungen über tiergestützte Aktivitäten und Therapie heben wir diese Unterschiede hervor. Auf diese Weise klingen in unserer Diskussion Arbeiten an, die den Ansatz einer so genannten Multispezies-Ethnografie verfolgen (etwa solche, die am „Werden“ [becoming] interessiert sind, zum Beispiel Bear 2011). Zumindest ein Teil dieser Forschungsarbeiten hat mit Haustieren gearbeitet (zum Beispiel Power 2008) – am bekanntesten ist natürlich Donna Haraways (2008) Arbeit mit ihrer eigenen Gefährtin. Diese Forschungen beschäftigen sich jedoch oft mit den Beziehungen zwischen Besitzer*innen/Familien/Halter*innen und „ihren“ Tieren in den dafür vorgesehenen Räumen, in denen gemeinsame alltägliche Aktivitäten des Zusammenlebens, der Ausbildung, des Arbeitens und der Erholung stattfinden (Power 2008; Maurstad, Davis und Cowles 2013). Diese Tiere und Menschen kennen sich ziemlich gut. In der vorliegenden Untersuchung ist der Hauptort der Interaktion und Beobachtung der Arbeitsplatz des Tieres, also das Pflegeheim. Um Mensch-Tier-Interaktionen zu gestalten, die für unterschiedliche Bewohner*innen im Pflegeheim gut funktionieren, kann sich Albin nicht ausschließlich auf sein enges Verhältnis mit und Wissen über die Persönlichkeit seines Halters verlassen, sondern muss aktiv mit jedem*r Bewohner*in auf unterschiedliche Weise eine Komposition eingehen.

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E INE K OMPOSITION EINGEHEN : F RAU G ERLACH , F RAU W OLTER UND F RAU K IEßLING In den nächsten Abschnitten beschreibe ich drei Mensch-Tier-Interaktionen, und zwar mit Frau Gerlach, Frau Wolter und Frau Kießling (Pseudonyme), die verschiedene Arten „gegenseitiger Entscheidungsfindung verdeutlichen und eine Form [/Formen] der Choreografie [schaffen]“ (Birke, Bryld und Lykke 2004 in Buller 2015, 379). Albin wird in dieser Choreografie, in der Mensch und Hund „als handelnde Individuen, als Subjekte, statt als Subjekt und Objekt verwickelt sind“ (Maurstad, Davis und Cowles 2013, 324), als ein sich seiner selbst bewusster Partner betrachtet. Die folgenden drei Beispiele ergaben sich aus der Fotoanalyse und den beobachteten Interaktionen zwischen Albin und den Pflegeheim-Bewohner*innen als passende Illustrationen der Hund-Mensch-Interaktionen von Bewohner*innen, die eine Komposition mit Albin eingingen. In diesen Fällen etablierten und praktizierten Albin und die jeweilige Bewohnerin Routinen, die bei jedem der beobachteten Besuche stattfanden. Wie Tanzende führten sie spezifische Interaktionen durch, bei denen sie in ihren Handlungen aufeinander reagierten. Frau Gerlach Die Beobachtungen und die von Albin mit Frau Gerlach gemachten Fotos zeigen ein breites Spektrum von Interaktionen. Dabei streichelt Frau Gerlach Albin sanft an der Brust, macht mit ihm den „Nasentrick“ (dabei legt sie ein Futterstückchen auf Albins nach oben gestreckte Nase und befiehlt ihm zu warten, ehe er es fressen darf), fordert Albin auf, ihr die Pfote zu geben oder sogar, ihr Gesicht zu küssen. Sie genießt es, mit ihm zu sprechen, zu flirten, ihn mit Futterwürfeln zu necken und sein haariges Gesicht an ihrer Wange zu spüren (Abb. 2). Bestimmte Objekte spielen bei der Umsetzung der Interaktionen eine wichtige Rolle. Die meisten Fotos zeigen Albin auf einem Stuhl neben Frau Gerlach sitzend in Nahaufnahme – die Einstellungswahl der Fotografin deutet darauf hin, dass sie selbst von der Situation verzaubert war. Tatsächlich beschrieb eine Pflegeheim-Mitarbeiterin die beiden als „Liebende“.

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Abb. 2: Frau Gerlach und Albin Wange an Wange. (Foto: Bettina van Hoven)

Abb. 3: Frau Gerlach und Albin spielen ein Spiel mit Futterstückchen. (Foto: Bettina van Hoven)

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Eine der häufig beobachteten Choreografien umfasst, dass Frau Gerlach einzelne Futterstückchen aufhebt und Albin eine Weile warten lässt, ehe sie ihm erlaubt, diese sanft zwischen ihren Fingern herauszuziehen, um sie zu fressen. Oder sie schiebt einzelne Stückchen zu ihm hin, lässt ihn warten und erlaubt ihm dann mithilfe von Handzeichen, sie eines nach dem anderen zu fressen (Abb. 3). In der Tat drehen sich viele Interaktionen zwischen Frau Gerlach und Albin um ein Spiel mit Futterstückchen. Daher erscheint Albin in den meisten Fotos sehr konzentriert: Er blickt entweder auf Frau Gerlachs Hand, die Futterstückchen auf dem Tisch oder in ihr Gesicht. Sein Ausdruck erscheint entspannt, wie durch seinen entspannten Kiefer und die leicht herausgestreckte Zunge erkennbar ist. Frau Wolter Die Daten, die zu den Interaktionen zwischen Frau Wolter und Albin gesammelt wurden, zeigen ebenfalls eine Reihe von Interaktionen mit Frau Wolter, die Albin an Brust, Hals, Kopf und hinter den Ohren streichelt und krault, ihm eine Massage gibt, ihm Futterstückchen verfüttert und während all dieser Interaktionen lebhaft mit ihm spricht. Sie redet mit ihm über sein gutes Aussehen und Verhalten, doch sie erzählt ihm auch, was sie gerade in ihrem Leben erlebt, als wäre er ein menschlicher Besucher (Abb. 4). In ihren Erzählungen sind sie und Albin häufig nicht mehr im Pflegeheim, sondern sie beschreibt andere Orte und Situationen, die ihre eigene Vergangenheit betreffen sowie Menschen aus dieser Zeit. Während sie mit Albin spricht, stellt sie zwar nicht immer Augenkontakt her, lässt aber oft ihre Hände auf ihm ruhen. Albin sitzt entweder auf dem Stuhl oder Sofa neben ihr, oder aber er sitzt und liegt am Boden, meistens direkt auf Frau Wolters Füßen – er „nagelt“ sie quasi „fest“ und fordert Aufmerksamkeit. Wenn er neben ihr sitzt, lädt sie Albin manchmal dazu ein, auf ihren Schoß zu kommen. Albin macht einen sehr entspannten Eindruck, was man, wie oben bereits erwähnt, an seinem entspannten Kiefer und an der leicht herausgestreckten Zunge erkennen kann, aber auch an der Tatsache, dass er auf Frau Wolters Füßen sitzt, wenn er gekrault wird und sich sogar ganz hinlegt. Außerdem erlaubt Albin Frau Wolter, ihn am Kopf zu berühren, ohne Anzeichen des Unwohlseins zu zeigen, wie den Kopf wegzudrehen oder Jaap anzusehen, und ohne zu hecheln. Bei Fotos, in denen Frau Wolter neben einer anderen Bewohnerin plaziert ist, bleibt Albin bei Frau Wolter sitzen, auf ihren Füßen oder weggedreht von der anderen Bewohnerin. Die Fotos sind meist in einem größeren Winkel aufgenommen und erlauben den Blick auf Frau Wolter und Albin „im Dialog“.

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Abb. 4: Frau Wolter und Albin „im Dialog“. (Foto: Bettina van Hoven)

Frau Kießling Frau Kießling teilt mit Albin eine unverwechselbare Art der Choreografie, bei der sie ein Futterstückchen in einer Faust versteckt, ihre Fäuste vor ihrem Körper herumbewegt, als würde sie einen Zaubertrick durchführen und versuchen, das Futterstück verschwinden zu lassen. Sie legt dann beide Fäuste auf den Schoß und wartet, bis Albin das Futterstück in der richtigen Hand findet. Fotoserien zeigen Albin, der neben Frau Kießling auf einem Sofa sitzt und von Frau Kießlings Händen zu ihrem Gesicht und zurück blickt, als bitte er um Signale über das „magisch verschwundene“ Futterstückchen. Frau Kießling zeigt eine Art von freudiger Anspannung und wenn Albin das Futter nicht schnell „findet“, fängt sie an, breit zu grinsen. Die meisten Fotos zeigen Albin neben Frau Kießling auf einem Sofa oder Stuhl sitzend, eine Positionierung, die für dieses Versteckspiel vorteilhaft ist (Abb. 5a und 5b).

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Abb. 5a und 5b: Frau Kießling und Albin spielen einen Zaubertrick. (Fotos: Bettina van Hoven)

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Albin und Frau Kießling sitzen sich auf Augenhöhe gegenüber. Viele Fotos zeigen einen weiteren Ausschnitt, um die Folge von Aktionen beim Zaubertrick gut aufnehmen zu können. Diese Interaktion ist eine Standard-Interaktion zwischen den beiden und wird bei allen beobachteten Besuchen wiederholt. Frau Kießling krault Albin auch am Kopf und hinter den Ohren. Da sie noch immer recht mobil ist, ist sie eine der wenigen Bewohner*innen, die sich bemühen, ihn am ganzen Körper zu kraulen, wenn er am Boden liegt (Abb. 6). In einem Interview verrät Frau Kießling, dass sie glaubt, seine Lieblingsstellen durch sein Verhalten erkennen zu können. Sie ist auch der Ansicht, dass Albin ihre Gesellschaft gern hat. Abb. 6: Frau Kießling krault Albin am ganzen Körper. (Foto: Bettina van Hoven)

D ER W IRKUNGSMECHANISMUS In Reaktion auf die Forderung von Hoagwood et al. (2017), Wirkungsmechanismen zu verstehen und spezifische Prozesse in Bezug auf bestimmte Arten zu bewerten, die zu Veränderungen führen, beginnt die Untersuchung der drei Choreografien und Aspekte des hundespezifischen Verhaltens beide Punkte zu

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beleuchten. Kurz gesagt beinhaltet der „Mechanismus“, den Hund nicht als Instrument, sondern als „agierendes Individuum“ zu behandeln (Maurstad, Davis und Cowles 2013, 324). Unter Zuhilfenahme von Tinbergens vier Punkten der Aufmerksamkeit interpretiere ich dies, zumindest teilweise, als Ergebnis der langen, gemeinsamen Geschichte, die Hunde mit Menschen als Gefährt*innenSpezies teilen. Mehrere Eigenschaften, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, ermöglichen es Hunden, eine Komposition mit Pflegeheimbewohner*innen auf eine Art einzugehen, die ebenso menschliche Handlungsfähigkeit zu Tage fördert. Nicht alle Hunde sind gleichermaßen in der Lage, gut mit Pflegeheimbewohner*innen zusammenzuarbeiten – das ist abhängig von ihrer Rasse, ihrem Training und ihrer Motivation, das heißt, was für sie dabei herausspringt. In Albins Fall zielt der hundezentrierte Trainingsansatz, der sich genau genommen über den Kontext der Hundeschule hinaus auf alle Bereiche des Lernpotentials erstreckt, auf einen motivierten Hund und schafft somit eine Grundlage für Albin, seine Arbeit zu genießen. Über die Eigenschaften der Rasse hinaus wurden im Pflegeheim Albins Fähigkeit kommunikativen Gesten zu folgen, der Gebrauch des referenziellen Sehens und die Motivation, Vergnügen zu suchen beobachtet. Merkmale wie das Verfolgen menschlicher kommunikativer Gesten oder ein Verständnis der Direktionalität des menschlichen Körpers und Blicks scheinen von Albin bei seiner Arbeit im Pflegeheim mobilisiert zu werden. Er scheint Personen zu erkennen, die bereit sind, sich mit ihm zu beschäftigen, und erkennt gewiss Menschen, mit denen er personalisierte Interaktionen aufgebaut hat. Im „Zauberspiel“ mit Frau Kießling (Abb. 5a und 5b) und im „Futterstückchenspiel“ mit Frau Gerlach (Abb. 3) beispielsweise scheint er Informationen in den Gesichtern zu suchen, um das versteckte Essen von Frau Kießling zu finden oder zu verstehen, wann er auf das Futter von Frau Gerlach warten muss und wann er es fressen darf. In der vorliegenden Untersuchung wurden während der Besuche in verschiedenen Stationen des Pflegeheims immer wieder Anpassungen bei Albin beobachtet. In seiner einfachsten Form erhielt Albin Informationen darüber, wann er bei einem Besuch von einem*r Bewohner*in zu einem*r anderen gehen oder bestimmte Handlungen vornehmen sollte, etwa auf dem Boden oder auf einem Stuhl sitzen. Ein interessantes Beispiel ist in den Abbildungen 7a und 7b zu sehen, wo eine der Bewohnerinnen mit Albin spazieren gehen wollte. Aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität war diese Bewohnerin weder imstande weit noch in gleichmäßiger Geschwindigkeit zu laufen. Sie kam langsam vorwärts und musste häufig anhalten.

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Abb. 7a und 7b: Mit Albin spazieren gehen. (Foto: Bettina van Hoven)

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Die Fotos deuten darauf hin, dass Albin zunächst Anweisungen von der Bewohnerin erbittet. Später hält er an und blickt von der Bewohnerin zu Jaap für ein

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Signal (in diesem Fall ein Nicken), um zu wissen, ob er mit diesem Spaziergang weitermachen soll oder nicht. Die Bindung an seinen Halter Jaap ist wichtig, um mit ungewohnten Situationen umzugehen. Dann bittet Albin um Zeichen von Jaap, ob und wie er fortfahren soll. Solche Vorkommnisse sind bedeutsam für den Aufbau von Beziehungen mit einzelnen Bewohner*innen und für die Arbeit im Pflegeheim generell, da sie jeweils ein Moment sind, in dem das Vertrauen zwischen Albin und seinem Halter Jaap bestärkt wird. Die ständige Sorge um den Aufbau und Erhalt von Vertrauen ist, wie Wipper (in Maurstad, Davis und Cowles 2013) betont, eine Voraussetzung für eine gute „Intraaktion“ [intraaction]. Abb. 8: Albin genießt die Interaktion mit Frau Wolter. (Foto: Bettina van Hoven)

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Was das „Suchen von Vergnügen“ angeht, bestätigte Jaap Albins Motivation bei einem Interview. Scherzhaft bezeichnete er Albin als egozentrisch und hochgradig motiviert, im Pflegeheim zu arbeiten, um Aufmerksamkeit, Liebkosungen und Futter zu bekommen. Zumindest Frau Kießling brachte zum Ausdruck, dass sie glaube, Albin bevorzuge sie gegenüber anderen Bewohner*innen, da sie wisse, wie man ihm angenehm über den Rücken streichelt. Auch Marx et al. (2010) stellen fest, dass ein „Hund ein unvoreingenommener Zuhörer ist und nicht negativ reagiert, wenn er Wiederholungen des gleichen Satzes oder derselben Geschichte hört“ (ebd., 37; siehe auch Geist 2011). Auch die Bilder, die einen entspannten Albin mit Frau Wolter (Abb. 8) zeigen, stützen diese These. Ein wichtiges Anliegen ist, wie es Hunden gelingt, dies sowie die vielfältigen Interaktionen mit mehreren Personen im institutionellen Umfeld in kurzer Zeit „durchzustehen“. Tatsächlich haben sich manche Autor*innen, zum Beispiel Beck und Katcher (2003) oder Cobb und Bennett (2009), Sorgen über die gesundheitlichen Vorteile und Risiken der Tiere gemacht, die in tiergestützter Therapie und entsprechenden Aktivitäten involviert sind. Cobb und Bennet (2009) betonen, dass die Tiere entsprechend sozialisiert und geschult sein sollten, um Stress abzubauen (zum Beispiel weil sie der Launenhaftigkeit und dem Stress von Patient*innen ausgesetzt sind sowie wechselnden Eigenschaften, Erfahrungen und Motivationen, mit einem Tier umzugehen (siehe Fejsáková et al. 2009), aber auch, dass Tierführer*innen imstande sein müssen, Tierverhalten und insbesondere Zeichen von Unbehagen oder Stress (wie Nase lecken, Gähnen, erhöhtes Schwitzen, Starren oder Wegdrehen) zu interpretieren (siehe ebd.).

S CHLUSSFOLGERUNGEN An anderer Stelle haben Creagan et al. behauptet, dass „gebrechlichen, älteren und isolierten Menschen kein Gefallen getan wird, wenn man einen 57 Kilo schweren Golden Retriever ins Heim bringt“ (2015, 103). Allerdings haben wir bei dieser Untersuchung über Albin genau das getan (nur war es hier ein 54 Kilo schwerer Berner Sennenhund). Wir haben mit weiteren etablierten Methoden zur Durchführung von Studien zu tiergestützten Aktivitäten und Therapien gebrochen, indem wir kein Protokoll befolgt haben, das Aktivitäten und Zeitvorgaben vorherbestimmt und festlegt (wie Stefanini et al. 2015), das Proband*innen vorauswählt, überprüft und befragt und mit einer kontrollierten Gruppe von Befragten arbeitet (siehe Phung at al. 2017). In der Tat stimme ich damit überein, was Hoagwood et al. (2017) betonten, nämlich, dass wir mehr brauchen als

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das Wissen über tiergestützte Aktivitäten aus kontrollierten Studien, um die Wirkungsmechanismen zu verstehen, die zu einem positiven Effekt führen. Der vorliegende Aufsatz zeigt anhand eines qualitativen Ansatzes, also mittels Beobachtungen, wie Mensch und Tier eine Wirkung aufeinander haben (siehe auch Haraway 2008). Die vorgestellten Beispiele verdeutlichen, dass die Interaktion mit Albin Menschen dazu anregt, unterschiedliche Mobilitäten und Fähigkeiten zu zeigen. Albin fördert auch Sinneserfahrungen und Selbstwertgefühl, Gespräche und Anzeichen von Fürsorge und Zuneigung. Dies ist vor dem Hintergrund eines kürzlich veröffentlichten Artikels von Gilleard und Higgs (2011, 138) bedeutsam, der besagt, dass „Körperfunktionen die soziale Wirkung untermauern“. Körperliche Funktionen wie Gehen, Beugen, Sprechen, Greifen sind alle Ausdruck von persönlicher Handlungsfähigkeit [agency] und entstehen durch die Interaktion mit dem Hund. Die drei Beispiele veranschaulichen drei „Choreografien“ zwischen Albin und einer Pflegeheimbewohnerin. Sie deuten darauf hin, dass Albins Arbeit eine körperliche und geistige ist. Tatsächlich aber verlangt das Ergebnis der Interaktion, die Choreografie, von den Bewohnerinnen ebenso, dass sie „aus dem anderen klug werden“ (Maurstad, Davis und Cowles 2013, 325). Ähnlich wie bei Haraways (2008) Interaktion mit ihrem Hund müssen die Bewohnerinnen „dem Hund gegenüber geistig offen und zugänglich sein“ und sich Albin „durch Sehen und Vertrauen verständlich machen“ (Maurstad, Davis und Cowles 2013, 325). Indem sie Albins Signale bei der Entwicklung ihrer Choreografien verstehen, stützen sich Frau Gerlach, Frau Wolter und Frau Kießling vielleicht auf ihr vorheriges Wissen über Hunde, vielleicht sogar ihre eigenen Haustiere, aber sie müssen Albin in einer neuen und spezifischen materiell-semiotischen Praxis „kennenlernen“ (siehe Maurstad, Davis und Cowles 2013, dabei Birke, Bryld und Lykke zitierend). Die weiteren Implikationen des Ausdrückens von Handlungsfähigkeit sind ein wichtiger Beitrag zur Literatur über tiergestützte Aktivitäten und Therapie. Zur genaueren Erklärung möchte ich auf die Studie von Gilleard und Higgs (2011, 139) verweisen, in der über Alter und Erniedrigung gesprochen wird. In Anlehnung an Hughes et al. 2005 bezeichnen sie den „Körper als untrennbar aus wechselseitigen Beziehungen bestehend, der vor allem innerhalb einer Ethik der Nähe und Vertrautheit überlebt und gedeiht, wobei [...] Erniedrigung [...] durch Fürsorge wettgemacht werden kann“. In Pflegeheimen ist Fürsorge [care], vor allem aber ein Gefühl der Vertrautheit oft schwer zu erreichen. Die Beispiele in diesem Aufsatz deuten Möglichkeiten an, in denen Hunde innerhalb solch einer Ethik der Nähe, zumindest teilweise, eine Rolle als nichtmenschlicher Zuwendungsgeber einnehmen könnten.

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Der Aufsatz hebt besonders hervor, dass es wichtig ist, die „Hundhaftigkeit“ zu berücksichtigen, um die Vorteile tiergestützter Therapie und Aktivitäten zu beurteilen. In den obigen Abschnitten habe ich dargestellt, wie sich bestimmte Charakteristika, die im Laufe der Zeit in Verbindung mit menschlicher Aktivität entstanden sind, nutzbringend in tiergestützte Aktivitäten integrieren lassen und förderlich für die Pflegebeziehungen mit Pflegeheimbewohner*innen sind. Durch die Hervorhebung der Wirkungsmechanismen und die Ethologie in den drei Choreografien bietet die vorliegende Studie darüber hinaus Einblicke in den Hund Albin als „eigenständiges Subjekt, das einer epistemologischen, politischen und ethischen Unterscheidung würdig ist“ (Wilkie 2015, 330, dabei Jones 2003 zitierend). Natürlich könnte man fragen, ob die „Hundhaftigkeit“ (das heißt, dass Albin „nur ein Hund ist“) tatsächlich in der Studie zu beobachten ist. Man könnte argumentieren, dass Albin, selbst wenn er klar ohne Leine ist, unsichtbar angeleint bleibt, da er durch sein Training geformt wurde und jederzeit von seinem Halter zurückgerufen werden kann (siehe auch Koski und Bäcklund 2015). Die „Hundhaftigkeit“, die Albin in die Beziehung zu den Pflegeheimbewohner*innen einbringt, mag anders sein als das, was er ins „Feld“ mitbringen würde, wo sich hündische Aggression oder „negative“ Tiernatur manifestieren mag (Koski und Bäcklund, 2015). Dies mag zwar der Fall sein, doch in dieser Studie geht es darum, dass Albin imstande und willig ist, diese fürsorgliche Version der „Hundhaftigkeit“ in Zusammenarbeit mit Pflegeheimbewohner*innen (und seinem Halter) auszudrücken. Damit zeigt das Kapitel im Rückgriff auf Maurstad, Davis und Cowles (2013, 323), dass „naturkulturelle Praktiken für das menschliche und [hündische] Wesen, Zusammensein und Wohlergehen [being, co-being and well-being] von Bedeutung sind.“ Die auf der Grundlage der Studie vorgeschlagenen Ergebnisse können nur als vorläufig angesehen werden. Man sollte nicht vergessen, dass die Untersuchung in einem institutionellen Kontext durchgeführt wurde, der bereitwillig und entgegenkommend war. Trotz der zahlreichen Vorteile der tiergestützten Aktivitäten und Therapie haben einige Autor*innen (zum Beispiel DeCourcey, Russell und Keister 2010) auf mögliche Risiken und Bedenken hingewiesen, denen Rechnung zu tragen ist, wie die Angst vor Tieren, Allergien oder kulturelle Vorurteile aus Perspektive der Bewohner*innen und Patient*innen, und aus institutioneller Perspektive Befürchtungen über mögliche Unfälle, Verletzungen und hygienische Bedenken. Sie schlagen daher vor, die Tiere sollten nicht in Bereiche gelassen werden, in denen Essen zubereitet wird und sich Wäscheschränke befinden, T-Shirts tragen und nur auf zusätzlich abgedeckten Flächen liegen. In unserem Fall hatte die Einrichtung enorm viel Vertrauen ins Verhalten des Hundes (und seines Halters), während er durch die Stationen lief.

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Was die Art der Ergebnisse betrifft, muss auch betont werden, dass wir weitgehend Fälle der Interaktion mit Bewohner*innen beobachtet haben, die sich mit diesem sehr großen, haarigen (und Speichel absondernden) Hund abgeben wollten. Dennoch und trotz der Arbeitsintensität einer solchen Studie und der Herausforderung, geeignete und willige Hundehalter*innen und Pflegeheime für die Teilnahme zu finden, ermutigen die Ergebnisse zu weiteren Studien an unterschiedlichen Orten, um die erhobenen Behauptungen weiterzuentwickeln und einen rigorosen theoretischen Rahmen für die zukünftige Arbeit mit Hunden in der stationären Pflege zu erarbeiten.

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Schleimige Assoziationen im Meer – die Plastisphäre S VEN B ERGMANN

What can it be, what is the reason Is this the end to all that we’ve done? Is it something in your head? Will you believe it when you’re dead? Green slime, green slime, green slime Richard Delvy: The Green Slime Theme, 1968

1972 erschien in Frankreich das Bilderbuch La maison de Barbapapa. Es schildert, wie die Barbapapas, knuffige knetartige Figuren, aus ihrem Haus vertrieben werden, weil das Altbauviertel, in dem sie leben, einer neuen Wohnsiedlung aus Beton weichen muss. In der Neubausiedlung fühlt sich die Familie Barbapapa nicht wohl. Sie verlässt die Stadt und folgt einem Flusslauf in Richtung einer weniger bebauten und von Menschen beeinflussten Welt. Zunächst lässt sich am Zustand des Gewässers – verschmutzt mit Industrieabfällen und Schadstoffen – noch deutlich die Nähe zur menschlichen Zivilisation ablesen. Nach einer Weile finden die Barbapapas noch einen Flecken „unberührter Natur“ und bauen sich ein Haus aus Barbaplast, einem anrührbaren Kunststoff, der nach den besonderen Bedürfnissen der Familie formbar ist und sich ihnen anpasst. Das entspricht ihrer eigenen Konstitution als Gestaltenwandler: Ähnlich wie thermoplastische Kunststoffe besitzen die Barbapapas eine flexible und anpassbare Formbarkeit. Als die Maschinen aus der Stadt (in Gestalt quasi selbsttätiger Bagger und Abrissbirnen) auch diesen Lebensraum bedrohen, erhitzen die Barbapapas den Kunststoff und schießen das klebrige Resultat mit Katapulten auf die Maschinen, die daraufhin ihren Rückzug antreten. In der Geschichte der Barbapapas kommen zwei der Materialien vor, die zusammen mit Aluminium zu den quantitativ bedeutendsten menschlichen Hinter-

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lassenschaften der letzten 70 Jahre zählen: Beton und Kunststoffe (vgl. Waters et al. 2016).1 Ausgerechnet Kunststoff wird in dieser Geschichte zum Verbündeten im Kampf gegen die kalte technisierte Welt und ein Mittler hin zu einem Leben im Einklang mit der Natur, was dem Plastik-Utopismus dieser Zeit durchaus entsprach: In den Konstruktionen von Richard Buckminster Fuller und Zeitgenoss*innen wurde der Einsatz von Kunststoff als Anpassung an natürliche Strukturen gesehen (Meikle 1997, 216). 40 Jahre später, so ist anzunehmen, hätten die Kinderbuchautor*innen Details ihrer Geschichte wahrscheinlich anders ausbuchstabiert. Heutzutage gilt der Eintrag langlebiger synthetischer Polymere in die Landschaft und insbesondere deren Akkumulation in Gewässern als eines der größten ökologischen Probleme unserer Zeit. Ebenfalls 1972 wurde in Science ein Artikel der Meeresbiologen Edward J. Carpenter und Kenneth L. Smith publiziert. Den Forschern war während einer Expedition in der Sargassosee eine große Anzahl von Kunststofffragmenten aufgefallen, die durchschnittlich zwischen 0,25 und 0,5 Millimeter groß waren und auf denen Kieselalgen und Hydrozoen (Nesseltierchen) siedelten (Carpenter und Smith 1972). Zwar waren seit den späten 1960er-Jahren einige Studien erschienen, welche die Aufnahme von Kunststoffen durch Seevögel dokumentierten, doch es gab keine Erkenntnisse über die Akkumulation von Plastik in weit entfernten Regionen des Ozeans (Ryan 2015, 3–8). Eine größere Bekanntheit (jenseits wissenschaftlicher Forschung) erfuhr das Phänomen Plastikmüll in den Meeren allerdings erst seit Ende der 1990er-Jahre, als explorative Forschungen Hypothesen von einer großen Akkumulation von Plastik in den Ozeanwirbeln bestätigten, medial als „Great Pacific Garbage Patch“ popularisiert (De Wolff 2014).

1

Wurden in den 1940er-Jahren noch weniger als eine Million Tonnen Plastik produziert, belief sich die Weltproduktion 2013 auf geschätzte 299 Millionen Tonnen (Gourmelon 2015). Wie Heather Davis (2015, 349) präzise bemerkt, ist die gesamte Infrastruktur und die Geschwindigkeit des derzeitigen Kapitalismus sowie dessen unbegrenzte Wachstumslogik komplett von Kunststoffen abhängig. Weil Kunststoffe aus langen Molekülketten, den Polymeren, bestehen, die durch Verkettung von immer gleichen Monomeren entstehen, ist dieses Material sehr lange haltbar. Deshalb wird Plastik von Geolog*innen auch schon als Techno-Fossil bezeichnet, das in den Schichten des Planeten seine Einschreibungen hinterlässt (Zalasiewicz et al. 2014; 2016) und das in einer Archäologie der Zukunft als Signatur der heutigen Zeit gelesen werden kann (Taffel 2016; Westermann, in Druck), wenn Forscher*innen beispielsweise einen Bohrkern aus dem Meeresboden analysieren werden.

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Von Carpenter und Smith wurden bereits zwei Topoi angesprochen, die auch in der aktuellen Forschung zu Meeresmüll virulent sind: Erstens die Persistenz von Kunststofffragmenten, mittlerweile als Mikroplastik bezeichnet, zweitens die Nutzung der Oberfläche von Kunststoffteilen als Substrat durch neue Lebensformen. So wie sich die Barbapapas aus Kunststoffen eine neue Wohnung schaffen, nutzen Meereslebewesen die Oberflächen von Plastik als neues Habitat. 2013 hatte ein Team von Meeresforscher*innen aus Woods Hole in Massachusetts die mikrobielle Besiedlung von synthetischen Polymeren im Meer als die Entstehung eines neuen Ökosystems, der Plastisphäre, bezeichnet (Zettler, Mincer und Amaral-Zettler 2013). Während die Nutzung von Kunststoffen durch die Barbapapas eine übersetzende Perspektive für die Betrachtung von Plastik als einem Material, das zwischen Natur und Kultur vermittelt, bietet, zeichnet sich die Dimension des Eintrags von Kunststoffen ins Meer als parasitär und hybride aus: Plastik ist zu einem Teil der Meeresumwelt geworden. Die Besiedlung von Plastik mit Mikroben, aber auch die Assoziation von Kunststoffen mit Plankton verkomplizieren die Aufteilung der Welt in zwei Sphären: hier das Natürliche, dort das Synthetische. In diesem Aufsatz werde ich nachzeichnen, warum Plastik zu einem Problem geworden ist, das die Idee der Trennbarkeit von Natur und Kultur herausfordert, weil die Verteilung von Kunststoffen im Meer, in der Atmosphäre und im Boden diese Idee der Trennbarkeit schon seit einer ganzen Weile unterlaufen. Ich werde zunächst darstellen, wie der Eintrag von Kunststoffen ins Meer problematisiert wird und wie die Etablierung des Begriffs Mikroplastik für sehr kleine Fragmente die bisherige Wahrnehmung der Materialität von Plastikmüll irritiert. Der Fokus auf mikroskopisch kleine Partikel ist eine andere Sichtweise auf das Phänomen als die übliche mediale Darstellungsweise. Das Heranziehen anderer Maßstäbe der Betrachtung rückt das Werden von etwas Diffusem und Zerstreutem in den Vordergrund. Danach beschreibe ich, wie die Wissensproduktion über die Plastisphäre als neues Substrat oder Habitat für kleine und kleinste Lebewesen zeigt, dass sich das Synthetische und das Natürliche schon längst assoziiert haben. Im Ozean entstehen „mutierende Ökologien“ (Masco 2004), in denen die fragmentierten Kunststoffe nie alleine sind, sondern immer von Mikroben besiedelt werden.2 Dies stellt im Sinne Donna Haraways ein Werden-mit [becoming-

2

Masco entwirft diesen Begriff ausgehend von seiner Forschung über radioaktiv verseuchte Orte auf dem Land, wo nukleares Material lokal begrenzt werden kann (2004, 532). In Gewässern sind diese Stoffe aber höchst mobil: Radionuklide, Schwermetalle, persistente organische Schadstoffe und Mikroplastik legen, wenn sie in den Ozean eingetragen werden, dort häufig lange Strecken zurück.

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with] dar, ein Werden, dass auf Verbindungen gründet, nicht auf Trennungen von der Welt und ihrer Ökologie (Wright 2014, 278). Diese Art der Problematisierung, die Verknüpfungen, Verwicklungen und Verschränkungen [entanglements] in das Blickfeld rückt, verschiebt den Gegenstand von einem vermeintlich einfach zu lösenden Problem hin zu einem verwickelten Objekt und in Richtung miteinander verwobener Welten. Das impliziert sowohl eine Kritik an den gängigen Repräsentationen von Plastik im Meer als auch an den vorgeschlagenen Lösungen für das Phänomen, die meist von einer modernen Idee der Reinigung und Trennung von Natur und Kultur geleitet sind (siehe Latour 2008). Diese kritischen Perspektiven auf Natur/Kultur sind wichtig und hilfreich, um die Fallstricke konventioneller Problematisierungen und Lösungsansätze zu erkennen, die immer noch suggerieren, das Meer ließe sich einfach wieder von Plastik reinigen.

D AS AUFTAUCHEN

VON

M IKROPLASTIK

Im September 2016 war ich im Rahmen meiner ethnografischen Forschung in Neufundland.3 Ich nahm eine Woche an den Aktivitäten des Civic Laboratory for Environmental Action Research (CLEAR) teil, einem transdisziplinären und feministischen Labor, das überwiegend mit preiswerten Citizen Science-Methoden und einem Do-it-yourself-Ethos Forschung betreibt. An einem windigen Samstagvormittag fuhren wir an den Strand des Fischerortes Petty Harbour. Dort hatte das Team von CLEAR bereits mithilfe eines manta trawls, einem Netz für Samples von der Wasseroberfläche, Proben in Küstennähe entnommen. Ein Teil unseres Teams sammelte größere Fundstücke, ich beteiligte mich am Monitoring eines quadratmetergroßen abgesteckten Bereichs im steinigen Küstensaum, bei dem wir versuchen sollten, jedes von uns erkennbare Kunststofffragment aufzusammeln.

3

Die Forschung, auf der dieser Aufsatz basiert, wurde von 2016–2017 von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderinitiative „Originalitätsverdacht? Neue Optionen für die Geistes- und Kulturwissenschaften“ gefördert und seit 2017 von der Universität Bremen im Rahmen des M4 Explorationsprojektes: „Knowing the Seas as Nature Cultures“ (mit Michi Knecht und Britta Hamann) finanziert.

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Abb. 1: Monitoring am Strand von Petty Harbour-Maddox Cove. (Foto: Sven Bergmann 2016)

Abb. 2: Fotografie eines Gebiets im Südatlantik mit einer hohen Konzentration von Plastik. (mit freundlicher Genehmigung von Max Liboiron, zuerst abgedruckt in: Liboiron 2016)

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Ich war anfangs sehr unsicher. Ich hatte bisher vor allem an Strandaufräumaktionen von Umweltschutzorganisationen teilgenommen, bei denen das Aufsammeln von größeren Plastikteilen wie Verpackungsmüll oder PET-Flaschen im Fokus stand. Am Strand von Petty Harbour drehte ich hingegen Steine um und erkannte auf ihnen zunächst eine schmierige Sandschicht. Zudem hatten die Algen an diesem Küstenabschnitt auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit mit Kunststofffolie. Ich zog nach einer Weile die Gummihandschuhe aus, um besser fühlen zu können, ob es biologische, mineralische oder synthetische Materialien waren. Nach einer Weile kam Max Liboiron, die Leiterin von CLEAR, zu unserem Quadrat und erklärte uns, dass wir jeden Stein umdrehen sollen. Sie fand sofort zwei etwa einen Millimeter große Teile, die sie umgehend als Mikroplastik identifizierte. Daraufhin gingen wir noch genauer vor und hatten nach einer halben Stunde an zwei Stellen 85 Teilchen gesammelt. Die sehr kleinen Partikel von den Handschuhen oder der Fingerkuppe in den Plastikbeutel gleiten zu lassen, erwies sich als schwierig. Ich war mir nur bei einem ein bis zwei Millimeter großen Partikel wirklich sicher, dass es Plastik war, weil es spezifische Bruchkanten hatte und weil die Farbe, ein transparentes Rubinrot, sich deutlich vom Sand und der Algenumgebung abhob. Die anderen Teile mussten im Labor unter dem Mikroskop bestimmt werden. 4 Im Labor hatte ich bereits Erfahrungen gemacht mit der Suche nach Mikroplastik in Magen und Darm von Kabeljau. Auch dort lernte ich, dass es für die Charakterisierung von synthetischen Teilchen einige Erfahrung braucht, um diese von Splittern von Muschelschalen oder Sandkörnern zu unterscheiden. Im Kontrast zur relativ einfachen Identifikation von größeren Kunststoffteilen ist die Suche nach Mikroplastik sowie dessen Abgleich mit biologischen und mineralischen Teilchen aufwendiger, weil sie im Millimeter- bzw. im Mikrometer-Bereich stattfindet. Der Begriff Mikroplastik wurde 2004 von dem Meeresbiologen Richard Thompson als Bezeichnung für Kunststofffragmente, die kleiner als fünf Millimeter sind, eingeführt (Thompson et al. 2004). Obwohl es keinen allgemeinen Konsens über den Begriff gibt, wurde er von den meisten Meeresforscher*innen übernommen, zum Teil wurde die Skalierung ausdifferenziert –

4

Im Civic Lab wurden die Partikel mikroskopisch gesichtet und als synthetisch oder nicht-synthetisch bestimmt. Um in Zweifelsfällen einen exakten Nachweis zu bekommen, bedarf es aber des Verfahrens der Raman-Spektroskopie, mit der auch identifiziert werden kann, ob es sich bei Mikroplastik beispielsweise um Polyethylen, Polypropylen oder Polystyrol handelt. Das Civic Lab schickt für diese Nachweise Proben in Labore, welche die dafür notwendigen, aber kostspieligen Apparate besitzen.

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der Begriff verhalf auch der Verwissenschaftlichung und Etablierung der Meeresmüllforschung. In der Literatur wird Mikroplastik unterteilt in (1) Primäres Mikroplastik, das in dieser Form eingetragen wird: z.B. PlastikPellets, die Rohstoffe der Kunststoffindustrie oder microbeads in Kosmetika; und Emissionen von Mikroplastik (Abrieb von Reifen, beim Waschen gelöste Synthetikfasern) (2) Sekundäres Mikroplastik, das erst durch die Fragmentierung von größeren Plastikgegenständen (im Meer) entstanden ist (vgl. Cole et al. 2011; Hidalgo-Ruz et al. 2012). Nach dieser Einteilung werden Teile oder Entitäten aus Kunststoff, die größer als fünf Millimeter sind, als Makroplastik bezeichnet. Mikro- und Makroplastik sind daher keine Terminologien aus der Materialwissenschaft – in der Kunststoffproduktion wird das, was hier als primäres Mikroplastik bezeichnet wird, als preproduction pellets, nurdles oder im Deutschen als Granulat bezeichnet und als Rohstoff oder Ausgangsmaterial verstanden –, sondern Definitionen, die erst in den Meereswissenschaften geschaffen wurden. Die Unterteilung nach fünf Millimetern lehnt sich an eine häufig verwendete Standard-Maschenweite von Laborsieben von 4,75 Millimetern an. Während Kunststoffgranulat bei der Herstellung, dem Transport oder der Weiterverarbeitung aus Infrastrukturen entweichen kann oder sich Partikel von fertigen Produkten lösen, ist sekundäres Mikroplastik erst im Meer durch Umwelteinflüsse entstanden. Werden Kunststoffe in das Meer eingetragen, so sind sie Meeresströmung und UV-Strahlung ausgesetzt, was zu ihrer physikalischen und chemischen Zersetzung beiträgt. 5 Nach den Schätzungen von Eriksen et al. (2014, 7) befinden sich in den Meeren 5,25 Billionen (1012) Plastikpartikel (mit einem Gewicht von 268.940 Tonnen), von denen über 92,4 Prozent kleiner als 4,75 Millimeter sind. Die Einführung einer Unterscheidung zwischen Mikroplastik und Makroplastik hat Auswirkungen darauf, wie Kunststoff grundsätzlich wahrgenommen und definiert wird, sowohl im Bereich des Meeresmülls, für den die Begrifflichkeiten eingeführt wurden, als auch an Land. Wird der Blick auf Makroplastik gelenkt, insbesondere auf Dinge aus Kunststoffen, die noch als solider Gegenstand

5

Allerdings dauert die endgültige Mineralisierung der Polymere in ihre molekularen Bestandteile je nach Kunststoffart teilweise Jahrhunderte, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass zurzeit noch jedes Stück Plastik, dass einmal produziert wurde und nicht in einer Verbrennungsanlage landete, noch in der Umwelt überdauert (Andrady 2015, 146).

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erkennbar sind, so werden sie im Meer als „Plastikmüll“ bezeichnet, als etwas, was hier fehl am Platze ist – ganz im Sinne der Definition von Abfall als „matter ouf of place“ bei Mary Douglas (1966, 36). Eine PET-Flasche, die im Meer treibt, entspricht diesem Bild, wie auch größere Fragmente von Kunststoffprodukten. Auf der bewegten Meeresoberfläche relativ unsichtbares Mikroplastik fordert diese Form der Repräsentation aber heraus. Mikroplastik, das in der Wassersäule sinkt, ist sehr schwer vom restlichen marine snow (Partikelregen) – wie beispielsweise den Ausscheidungen von Ruderfußkrebsen – zu unterscheiden. Außerdem geht Mikroplastik, wie neuere Forschungen zeigen, Verbindungen mit Plankton und dem Partikelregen ein, die solche Unterscheidungen zusätzlich verkomplizieren (Long et al 2017; Galloway, Cole und Lewis 2017). Darüber hinaus lassen sich die Auswirkungen von Makroplastik auf marine Umwelt und Lebewesen prägnanter darstellen und sind besser erforscht (vgl. Gregory 2009). Seehunde oder Schildkröten, die sich in Netzen oder den Sixpack-Ringen von Dosengetränken verheddern, sind die traurigen Kampagnen-Stars für die Rettung der Meere geworden; der Eissturmvogel dient in den nördlichen Meeren, für die das OSPAR-Meeresschutzabkommen gilt, mittlerweile als Indikator für die Belastung mit Plastikmüll, weil er neben seiner hohen Verbreitung im Vergleich zu anderen Spezies aufgenommenes Plastik im Magen akkumuliert (Van Franeker, Kühn und Meijboom 2017, 17). Über die lokale Konzentration von Mikroplastik in verschiedenen Gewässern erscheinen immer mehr Studien, auch darüber, welche Lebewesen besonders viel Mikroplastik zu sich nehmen, doch über die Langzeitwirkungen der Aufnahme von Mikroplastik liegen noch zu wenig gesicherte Daten vor (Wagner et al. 2014, 2). Was Sorge bereitet ist, dass die meisten Kunststoffe versetzt mit Additiven (z.B. Weichmachern, Flammschutzmitteln oder Bisphenol A, das als endokriner Disruptor gilt) in die Gewässer gelangen. Dadurch können sich die nicht an die Polymer-Matrix gebundenen Monomere im Wasser oder im Magen von Fischen lösen und von dort ins Gewebe gelangen (Galloway 2015). Weiter neigt die wasserabweisende Oberfläche von Plastik dazu, im Meer auch persistente organische Schadstoffe (POPs) anzuziehen. Darunter fallen hochtoxische Stoffe wie DDT oder PCB, die zwar seit 2001 durch das Stockholmer Übereinkommen verboten wurden, aber dennoch jahrelang ins Meer gelangten und seitdem dort überdauern. Während die Folgen von Makroplastik im Meer also klarer benannt und dargestellt werden können, weist Mikroplastik stärker auf die noch unbekannten Konsequenzen, das Unheimliche der Diffusion von Kunststoffen und der mit ihnen assoziierten Chemikalien in der Umwelt hin. Plakate von Umweltschutzverbänden rücken vor allem die langsame Abbaubarkeit von Plastik im Meer in den

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Vordergrund,6 dagegen wird in der Meeresforschung mittlerweile die schnelle Fragmentierung in Mikro- oder Nano-Plastik-Partikel als das zentralere Problem angesehen. Synthetische Polymere werden zu Plastik-Konfetti und treiben im Partikelregen aus Plankton und anderen Stoffen in der Wassersäule des Meeres. Wenngleich Plastik schon in seiner festen Form ein nicht einfach zu kontrollierender Stoff ist, so wird mit dem Begriff Mikroplastik die Möglichkeit der Diffusion und Mobilität von Plastik ins Zentrum der Analyse gestellt. Sekundäres Mikroplastik oder Emissionen von synthetischen Fasern können überall sein: Funde von Plastikfragmenten an den Küsten entlegener Inseln und Atolle sowie in der Arktis zeigen, dass Plastik an Orte gespült wird, die meilenweit vom Eintragsort liegen. Über die Belastung von Süßwasser liegen mittlerweile auch Ergebnisse vor, dazu Daten über die Konzentration von Mikroplastik in relativ entlegenen Seen (Free et al. 2014). Darüber hinaus wurden in Erde und Kompost erhöhte Plastikkonzentrationen nachgewiesen (Bläsing und Amelung 2018). Eine Feldstudie in Paris untersuchte den atmosphärischen Fallout von Plastikpartikeln, wofür vor allem losgelöste Kunstfasern in Frage kommen (Dris et al. 2015; 2016). Doch die mediale Darstellung des Phänomens tendiert weiterhin dazu, Makroplastik in den Vordergrund zu stellen und eine enorme lokale Ansammlung von Plastikmüll durch Bilder von „Garbage Patches“, „Plastikinseln“ oder „Müllteppichen“, die so groß wie Texas sein sollen, auszumalen. Diese Repräsentationen beeinflussen die Wahrnehmung des Problems und besonders der lancierten Lösungen. Daher bezeichne ich diese Problematisierung – angelehnt an Henri Lefebvres Raumtheorie und die politische Geografie – als Politik der Maßstäbe (vgl. Brenner 2000; Wissen et al. 2008), die „Maßstabsebenen“ und „Maßstabsverhältnisse“ (Flitner und Görg 2008) zwischen Groß und Klein, kaum übersehbar und unsichtbar oder nah und fern ins Spiel bringt. Die Metapher des Müllteppichs führt dazu, Plastik als etwas wahrzunehmen, das in der Meeresumwelt wie ein Meteorit gelandet ist: einerseits als eine enorme Ansammlung von Dingen, die dort nicht hingehören, andererseits aber genau deshalb auch als etwas, das relativ einfach zu entfernen scheint. Auf Fotos von Expeditionen in die Mitte der Ozeanwirbel ist indes nicht viel zu erkennen, sie zeigen meist nur eine mehr oder weniger bewegte Meeresoberfläche (Abb. 2). Die Wissenschaftsforscherin Kim de Wolff ist in ihrer Dissertation der zwischen Absenz und Präsenz oszillierenden Materialität von Plastik in den Ozean-

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Siehe beispielsweise die Grafik „How long until it’s gone?“ Verfügbar unter: https:// www.plasticgarbageproject.org/en/plastic-sea (Letzter Zugriff: 24. März 2018).

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wirbeln gefolgt. Auf der Grundlage der ethnografischen Begleitung einer Expedition zum Great Pacific Garbage Patch stellt sie dar, wie die hohe Plastikkonzentration in dieser Akkumulationszone eigentlich erst durch die Entnahme von Wasserproben und deren Analyse im Labor hergestellt und bestimmt werden kann (De Wolff 2014, 112–113). Auf der einen Seite ein Fokus auf gigantische Maßstäbe – die Imagination von Plastikinseln und Müllteppichen so groß wie Subkontinente –, auf der anderen Seite das Zoomen auf winzige Partikel im Reagenzglas, die unter dem Mikroskop analysiert werden, deren Konzentration im Ozean aber erschreckend hoch ist. Um den einmal lancierten Begriff des Garbage Patches wieder loszuwerden, wurden von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen alternative Metaphern wie Plastik-Suppe oder Plastik-Konfetti vorgeschlagen, die anerkennen, dass die treibenden und sinkenden Fragmente zum größten Teil schon Mikroplastik sind. Auf einer Expedition der Meeresschutzorganisation 5Gyres in den Südatlantik einigte sich die Crew auf den Begriff des Plastik-Smogs, der auf die Belastung des Ozeans mit kleinsten Partikeln herunterskaliert, aber auch an das Erbe industrieller Verschmutzung anknüpft (Liboiron 2016). Die Mobilisierung von maßstabsgetreuer Repräsentation, so schreibt Erik Swyngedouw (2004, 134), macht die Frage des Maßstabes zu einem zentralen Schauplatz ökologischer Politik. Die Fokussierung auf eine kleinere Maßstabsebene wie Mikroplastik verkompliziert und abstrahiert das Problem indes, denn ein Bild von Mikroplastik im Reagenzglas steht für eine abstraktere und wissenschaftlichere Darstellungsweise, die weniger XXL-Formate in den Vordergrund stellt, sondern beispielsweise mit dem Begriff des Plastik-Smogs an die schleichende Form der Verschmutzung durch atmosphärische Emissionen erinnert und so neben Maßstab auch eine andere Temporalität in die Diskussion einbringt. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht gerade Begriffe wie Garbage Patch oder Müllteppich das Problem viel stärker auf Distanz halten – vielleicht vergleichbar mit dem Eisbären auf der treibenden Scholle in der Klimawandel-Debatte. Diese Bilder implizieren nach wie vor die Vorstellung von „Reinigungspraktiken“ (Latour 2008, 19) zwischen Natur und Kultur: hier die synthetischen Polymere, ein von Menschen geschaffener Gegenstand – dort die vermeintlich unberührte Natur des Ozeans. Die Vorstellung von großen Plastik-Akkumulationen in den Ozeanen transportiert ein terrestrisches Bild vom Müll ins Meer und wird in schwimmende Abfallhaufen und Müllberge übersetzt. Die alternativen Bezeichnungen für Mikroplastik orientieren sich stärker an dessen Auftrieb- und Sinkverhalten: Konfetti ist eine Analogie zum marine snow. Damit wird gezeigt, dass die Partikel schon stark im Ozean diffundiert sind. Diese Tatsache lässt Vorstellungen, das Mikroplastik könne wieder aus den Meeren entfernt werden, als wenig rea-

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listisch erscheinen: Ozeane lassen sich nicht als eine Einheit durch ein Sieb gießen. Auch die Forschung mit Nanomaschinen (Nanobots) ist bisher einerseits noch nicht weit entwickelt (Gao und Wang 2014) und andererseits aufgrund ihrer Potenziale und Risiken sehr umstritten (Maynard 2014). Im nächsten Teil dieses Essays werde ich den Blick stärker in Richtung von Verschränkung, Interaktionen und Hybridisierung lenken. Darin wird Plastik als Störfigur – im Sinne des Parasiten bei Michel Serres (1987) – im Meer nicht nur zum Gast, sondern gleichzeitig auch zum Gastgeber für die Entstehung von Netzwerken neuartiger Relationen und Lebensformen.

D IE P LASTISPHÄRE : VON P ARASITEN , MIKROBIELLEN R IFFS UND NEUEN R ELATIONEN IM M EER An einem sonnigen Tag im September 2016 besuchte ich Tracy Mincer in seinem Labor auf dem Campus der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) am Cape Cod in Massachusetts. Als die marinen Mikrobiolog*innen Linda Amaral-Zettler und Erik Zettler sowie der Meereschemiker Tracy Mincer Kunststoff-Partikel, die sie auf einer Expedition in der Sargassosee gesammelt hatten, untersuchten, stellten sie eine hohe Konzentration und Vielfalt von Mikroben fest, die sich deutlich von den mikrobiellen Gemeinschaften im umgebenden Seewasser unterschied. Die Bakterien bildeten auf den Mikroplastik-Partikeln Habitate in Form von Biofilmen7 heraus; dieser neuen Lebensform gaben die drei Forscher*innen daraufhin den Namen Plastisphäre. Die Idee der Plastisphäre inspirierte meine Forschung, Plastik im Meer nicht nur als passiven Fremdkörper [matter out of place] wahrzunehmen, sondern ebenso die Interaktionen und Netzwerke zu betrachten, die nicht nur von großen Plastikteilen, sondern eben auch durch Mikroplastik geschaffen werden. An diesem Vormittag kam ich mit Tracy Mincer über verschiedene Themen ins Gespräch. Wie bei vielen anderen Meeresforscher*innen merkte ich, wie die Beschäftigung mit Plastik

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„Biofilme sind Lebensgemeinschaften von Bakterien, Pilzen oder Algen, die sich an Oberflächen anheften und dort aufwachsen. Sie sind an die jeweilige Umgebung angepasst und verfügen über eine höhere Resistenz gegenüber Umgebungsbedingungen als freischwimmende Zellen. Der Stoffwechsel von in Biofilmen organisierten Individuen unterscheidet sich von dem planktonischer Zellen.“ (Fraunhofer IGB) „Alle Arten von Biofilmen werden von einer mehr oder weniger dicken Schleimhülle umgeben, den EPS [extrazellulären polymeren Substanzen].“ (Flemming und Wingeder 2012, 715)

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im Meer über die marine Grundlagenforschung hinausgeht und sich zunehmend an sozioökologischen Fragen orientiert. Der Meereschemiker erwähnte, dass er es für unwahrscheinlich halte, dass es im Meer einen Organismus gebe, der noch keine Begegnung mit Kunststoffen hatte. Drei Tage später traf ich Tracy Mincer, Linda Amaral-Zettler und Erik Zettler am Marine Biological Laboratory (MBL) in Woods Hole. Während des Interviews führte Linda Amaral-Zettler Tracy Mincers Gedanken, diesmal aus der Perspektive des Plastiks, weiter: Im Ozean gebe es kein „unberührtes“ Plastik, denn jedes eingetragene Stück Kunststoff werde im Meer innerhalb kürzester Zeit von Mikroben besiedelt. 8 Abb. 3: Diatomee auf Mikroplastik. Zu sehen ist eine Diatomee (eine Kieselalge) mit der Größe von wenigen Mikrometern, die auf einem winzigen Stück Polyethylen siedelt – alles vergrößert durch ein Elektronenmikroskop. Zwar hatte man schon vielerlei größere Lebewesen auf Plastik identifiziert – Muscheln, Krebse, Algen –, doch wurde bis zu dem Erscheinen des Artikels über die Plastisphäre nichts über die mikrobielle Vielfalt auf Plastik publiziert. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Erik Zettler, zuerst abgedruckt in: Zettler, Mincer und Amaral-Zettler 2013)

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Alle Interviewzitate und Zitate aus englischsprachiger Literatur wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt, falls nicht anders angegeben.

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Hier lässt sich die doppelte Wertigkeit, die Plastik im Meer als Parasiten par excellence nach Serres auszeichnet, erkennen. Auf der einen Seite diffundiert Plastik als Störfigur in die marine Lebenswelt, von der Wasseroberfläche bis zum Sediment in tiefsten Tiefen und wird so zu einem neuen Gast, mit dem, wie Tracy Mincer argumentiert, alle Meeresorganismen Kontakt haben. Auf der anderen Seite wird die Oberfläche von Plastik zu einem Gastgeber beziehungsweise Wirt; es zieht nicht nur andere hydrophobe Stoffe an, sondern wird zu einem Habitat für mikrobielle Lebensformen. „What is pollution to some is opportunity to others“, konstatierte der Economist (2013). Das führt zu zwei Bewegungen: Weder ist der Ozean noch ungestört durch das Synthetische, noch bleiben die Kunststoffe alleine. Es entstehen vielmehr neue Relationen, in denen die Vorstellungen einer Trennbarkeit des Natürlichen und des Synthetischen erodiert werden. Obwohl die Besiedlung von Plastik mit Lebewesen schon seit langem bekannt war – der bereits eingangs angeführte Artikel von Carpenter und Smith aus dem Jahre 1972 zeugt davon –, hatte bislang niemand über die mikrobielle Vielfalt dieses Habitats publiziert. Linda Amaral-Zettler, die den Begriff Plastisphäre kreierte, lehnte sich damit an den Begriff der Phyllosphäre an, der die Oberfläche von Blättern als Lebensraum für Organismen bezeichnet. Im Interview erläutert sie, wie eine Plastisphäre entsteht: Linda Amaral-Zettler: „Einigen Mikroben fällt es leichter, ein Stück Plastik zu besiedeln und auf ihm zu leben als anderen. Wir wissen, da ist Wettbewerb, Prädation, Parasitismus, Photosynthese. All diese chemischen Zyklen, die stattfinden. Aus dieser Perspektive betrachtet ist der Begriff Plastisphäre zutreffend, denn in mancher Hinsicht ist es eine eigene kleine Welt, um es mal so auszudrücken. Da findet wirklich eine beachtliche metabolische Aktivität statt. Es ist nicht tot (lacht). Es ist sehr lebendig (lacht). Sehr lebendig. Tracy hat es als ein mikrobielles Riff bezeichnet, nicht wahr?“ Tracy Mincer: „Ja, genau.“ Linda Amaral-Zettler: „Stell dir ein üppiges Korallenriff vor, nur, dass es im Ozean schwimmt. Das ist wirklich etwas, dass diese Lebensgemeinschaften [communities] dort beschreibt, diesen Mikrokosmos des Lebens.“

Tracy Mincer hatte mir am Vormittag desselben Tages bei einem Gespräch in seinem Büro erklärt, dass Kunststoff-Fragmente für bestimmte Bakterien eine attraktive Oberfläche zum Siedeln bieten, weil das Polymer langlebiger ist als Al-

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gen. Die mikrobielle Besiedlung vollzieht sich dabei in Etappen: Zunächst werden die Fragmente von Kieselalgen besiedelt, die dann von Mikrophagen konsumiert werden; schließlich bildet sich die Matrix der Biofilm-Formation aus – mit Serres gesprochen: „ineinander verschachtelte Festmähler“ (1987, 279), „eine Kette von Parasiten“ (ebd., 12). Gerade in extrem nährstoffarmen und kompetitiven Regionen wie der Sargassosee, aus der die Proben für die PlastisphäreForschung stammten, bieten synthetische Polymere als Habitat entschiedene Vorteile.9 Das ist der Grund, warum Linda Amaral-Zettler hervorhebt, dass die Plastikpartikel eine neue Lebensform zum Erscheinen gebracht haben. Der Abfall führt ein Nachleben im Ozean. So wie ein Schiffswrack von Meereslebewesen als Habitat oder Zuflucht genutzt werden kann, Holz oder andere Materialien zur Ausbreitung und Mobilität von Arten führen, so wird Plastik in die Lebensräume auf und unter dem Meer eingebaut – ein synthetisches Material wird Teil dessen, was gemeinhin als Natur betrachtet wird. Die Plastikfragmente werden, um in der Sprache der Meeresforscher*innen zu bleiben, kolonisiert beziehungsweise besiedelt und von den mikrobiellen Communities beherrscht, die sich in diesen Prozessen als am durchsetzungsfähigsten erweisen und die in der Lage sind, ihren Stoffwechsel umzustellen und sich Veränderungen und extremen Lebensbedingungen kongenial anzupassen (Helmreich 2009, 236). Wenn Tracy Mincer von einem „mikrobiellem Riff“ spricht, dann gibt er der Plastisphäre den Stellenwert eines neu auftauchenden Ökosystems, eines Mikrokosmos, dessen Gesetzmäßigkeiten erst noch zu erforschen sind. Im weiteren Verlauf des Interviews kamen die Meeresforscher*innen aus Woods Hole auf die relationalen Aspekte ihrer Forschung zu sprechen: Bisherige Forschung zu Meeresmüll habe sich nur auf die Nahrungsaufnahme von Plastik durch Meereslebewesen konzentriert, aber die bakterielle Besiedlung der Kunststoffe vernachlässigt; dabei bilde sich auf jedem Stück Plastik in kürzester Zeit ein Biofilm aus. Durch die Aufnahme, aber auch die Ausscheidung von Mikroplastikpartikeln ändert sich die Zusammensetzung der bakteriellen Biofilme. Außerdem sind Biofilme wiederum Nährböden für größere Organismen, woraufhin biofouling-Prozesse entstehen, die eine Auswirkung auf das Fressverhalten von Seevögeln haben könnten, weil diese sich von dem Geruch angezogen

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Miriam Goldstein und ihre Kolleginnen (2012) haben z.B. die durch Plastik gesteigerte Eiablage des Wasserläufers, eines Hochsee-Insekts, untersucht. Sie stellen fest, dass der Eintrag von Mikroplastik zu einer gesteigerten Dynamik zwischen pelagischen und substratgebundenen assemblages führt.

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fühlten, wie Erik Zettler ergänzte.10 Die Forscher*innen sehen hier eine Mannigfaltigkeit von Prozessen, die neue relationale Perspektiven bieten und herkömmlichen Narrativen über die Verwechslung von Plastik mit Nahrung durch Albatrosse oder Eissturmvögel widersprechen (vgl. Savoca et al. 2016; Dell’Ariccia et al. 2017).11 Nach dem Erscheinen des Plastisphäre-Artikels im Jahr 2013 hat sich ein Teil der Meeresmüllforschung stärker der bakteriellen Besiedlung von synthetischen Polymeren zugewandt, außerdem der Aggregation von Mikroplastik mit Phytoplankton (Long et al. 2017) und der Interaktion von Mikro- und Nanoplastik mit den Ausscheidungen von Meeresorganismen im marine snow (Summers et al. 2017). Diese Studien weisen deutlich über die Bildung von einfachen Verwicklungen mit Plastik hinaus und beschreiben die Imprägnierung der Ökosysteme in der uferfernen Hochsee (Pelagial) und den Meerestiefen (Benthos) mit Mikro- und Nanoplastik.

S CHLEIMIGE L EBENSWELTEN : P LASTIK -N ATUREN K ULTUREN Die Plastisphäre ist ein Begriff, der über das Gebiet der naturwissenschaftlichen Meeresforschung hinausweist, ein Supplement, das zusätzliche Bedeutungen transportiert und aufwirft. Linda Amaral-Zettler beschrieb zwar, dass sie den Begriff rein naturwissenschaftlich verstanden hat, doch die transdisziplinären Debatten um das Anthropozän sind auch an den Wissenschaftler*innen aus Woods Hole nicht spurlos vorbeigegangen. Tracy Mincer berichtete erheitert, dass man auf Google Trends fabelhaft die Verbreitung des Begriffs erkennen

10 Ebenso wurden in Laborstudien meist nur neue handelsübliche Plastik-Pellets für die Versuche eingesetzt und die Formation von Biofilmen, wie sie im offenen Meer vorkommt und eine entscheidende Rolle für die Nahrungsaufnahme von Mikroplastik spielen könnte, ignoriert (Rummel et al. 2017, 262). 11 So gehören Chris Jordans Fotos von verendeten Albatrossen auf den Midway Islands mittlerweile zur Standard-Illustration von Artikeln über Plastikmüll im Meer. Stacy Alaimo (2012) interpretiert diese Fotos im Dualismus Natur/Kultur: Die verwesten Vögel werden den starken Farben der Plastikteile, oft simple Konsumgüter wie Feuerzeuge, gegenübergestellt. Für Alaimo ist dies ein Sinnbild, wie menschlicher Konsum in die Körper von Tieren eindringt. Max Liboiron sieht die Fotos von Jordan kritischer, denn die Bilder selbst erklären nichts, insbesondere nicht über die chemische Problematik von Meeresplastik (Liboiron 2012, 134–144).

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könne. Daher fragte ich die drei im Interview, ob sie die Plastisphäre mehr im Reich der Natur oder im Reich der Kultur ansiedeln. Nach einer kurzen Denkpause begann zunächst Tracy Mincer mit einem relativ robusten Begriff von Natur zu argumentieren. Er beschrieb die Plastisphäre als „reine Natur“ und dass Natur immer die Fähigkeit habe, sich an alle Umstände anzupassen. „Reine Natur“ ist das Konzept einer Natur, die schon lange vor der Kultur dar war und damit ein größeres Reich als das Soziale ist – und es vermutlich überdauern wird. Hier ist Natur adaptiv, dynamisch und persistent; sie passt sich an die extremsten Lebensbedingungen an. Dies ist gerade aus Sicht der Meeresforschung verständlich, denn in den Ozeanen lässt sich auch unter extremsten Bedingungen (z.B. hydrothermale Quellen, „schwarze Raucher“) Leben finden (Helmreich 2009). Aus der Perspektive der Mikroben bietet Plastik daher, wie Linda Amaral-Zettler anfügte, lediglich eine andere Oberfläche, die sie besiedeln können. Hier ist interessant zu sehen, wie die Meeresbiologin die Dinge aus der Perspektive des Mikrokosmos verstehen will – während die Plastisphäre aus der menschlichen Perspektive eine deutliche Differenz schafft. Auch Tracy Mincer ironisierte die anthropozentrische Sicht auf Natur und Umwelt, denn bakterielle Lebensformen waren vor dem Menschen dar und werden die Menschheit vermutlich überdauern. Nach den Äußerungen seiner Kolleg*innen gab Erik Zettler jedoch zu bedenken, dass ohne menschliches Zutun die Plastisphäre eben nicht entstanden wäre und bewirkte so im Gespräch einen Perspektivwechsel. Daraufhin bemerkte Linda Amaral-Zettler, dass es sicherlich verstörend sei, dass wir Menschen einen derart starken Einfluss auf weit entlegene Regionen haben. Die Frage, ob die Plastisphäre nur ein anderes Substrat oder eine neue Oberfläche zum Besiedeln ist oder aber eine andere Qualität hat, wird gleich wieder aufgegriffen. Die Meeresforscher*innen changieren zwischen verschiedenen Versionen von Natur: zum einen eine robuste und dynamische Deutung einer Natur, in der der Mensch machen kann, was er will, selbst die atomare Verseuchung des Planeten würde neue Lebensformen hervorbringen; zum anderen eine Version von Natur, die gefährdet und schutzbedürftig ist, und in der die Reichweite des anthropogenen Faktors gravierender ist. Wenn Natur als etwas zu Schützendes betrachtet wird, dann ist, wie Marilyn Strathern (1992, 177) weitsichtig formulierte, die symbolische Beziehung zwischen Natur und Kultur ins Wanken geraten und Natur kann nicht mehr länger als gegeben und selbstverständlich betrachtet werden: Die Rolle von Natur als Basis für Kultur kann dann eher als Wechselwirkung analysiert werden. Diese verschiedenen Versionen von Natur privilegieren jeweils unterschiedliche Natur-Kultur-Verhältnisse, sind aber relational auf die Stellung des Menschen bezogen. Plastik selbst wird hingegen von Linda Amaral-Zettler nur als „eine weitere Oberfläche zum Besiedeln“ beschrie-

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ben – hier wird die Sichtweise auf die Aktivität von mikrobiellem Leben verschoben. Nichtsdestotrotz beschreiben die drei an anderen Stellen des Interviews die Spezifik der Materialität von synthetischen Polymeren und den verwendeten Additiven, die mit noch weitgehend unbekannten Wirkungen die chemische Zusammensetzung des Ozeans verändern. Dennoch, auch die Plastisphäre-Forscher*innen trennen das Synthetische von den darauf entstehenden Lebensformen. Mit dem Begriff Plastisphäre wird ausdrücklich die spezifische mikrobielle Gemeinschaft bezeichnet (Amaral-Zettler et al. 2015; Zettler, Mincer und Amaral-Zettler 2013), nicht die Verbundenheit der Mikroben mit dem synthetischen Polymer. Dabei beeinflusst das Substrat die spezifische Zusammensetzung der Plastisphäre und differenziert diese von Biofilmen auf pelagischen Substraten (Zettler, Mincer und Amaral-Zettler 2013, 7138). Ist das marine Plastik-Treibgut also nur ein Substrat für die Plastisphäre oder zeigen sich deutlichere Formen der Verstrickung oder Verwicklung? Dafür war meine Frage im Interview sicherlich ungeschickt gewählt, denn ich hatte nicht nach der Vermischung gefragt, sondern gerade nach der Trennung (von Natur und Kultur) und diese damit erneut vorausgesetzt. Die „Verschränkung“ von menschlichen Akteuren mit anderen Arten und der Umwelt, von Bedeutung und Materialität ist ein begriffliches Konzept, das seit einigen Jahren durch die Wissenschafts- und Technikforschung und die Kulturwissenschaften zirkuliert (Barad 2015; Myers 2012). Wenn Lebendiges mit Nicht-Lebendigem verschränkt oder verwickelt ist, dann impliziert dies, dass diese Dinge und Arrangements stärker beachtet werden sollten, auch entlang der Frage, wie Verantwortlichkeit und Sorge für diese entstehenden Entitäten und Welten problematisiert werden können (Martin, Myers und Viseu 2015). Impliziert die anfangs dargestellte – meist quantitativ arbeitende – Wissensproduktion zu Mikroplastik eine Sichtweise auf Plastik als Kontaminierung und als Zeichen des Schadens (Masco 2004, 526), so entwirft die Forschung über die Plastisphäre einen Blickwinkel auf Emergenz und neue Lebensformen, wie sie auch im Rahmen einer Multispezies-Ethnografie (Kirksey und Helmreich 2010) oder einer Anthropologie des Lebens (Kohn 2007) bezüglich ihrer Potenziale diskutiert werden: Was sind Alternativen zur Aufteilung der Welt in Naturen und Kulturen angesichts dessen, dass diese Dichotomien nicht mehr länger geeignet erscheinen, um gegenwärtige Phänomene wie Klimawandel oder Meeresmüll zu untersuchen? Denn Natur und Gesellschaft sind, wie Swyngedouw (2004, 129) formuliert, „Netzwerke von verflochtenen Prozessen, die zugleich menschlich und natürlich, echt und fiktional, technisch und organisch sind.“ Oder wie es der Literaturwissenschaftler Timothy Morton (2016, 286) zuspitzt: Wir stehen nicht außerhalb des Bildes, sondern sind in die Umwelten verwickelt wie in einem

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Film noir, wo die Erzählerstimme von einem neutralen Standpunkt beginnt, um dann zu merken, wie sie selbst in die Handlung verstrickt ist. Nun stellt sich bei der Betrachtung der Plastisphäre die Frage, ob die Metaphorik der Verschränkung oder Verstrickung für die Beschreibung des Einbaus von Plastik in marinen Umwelten beziehungsweise die Entstehung von neuen Lebensformen noch griffig genug ist. Selbst im Bild des Fadenspiels bei Haraway (2016, 34) lässt sich ein vollkommen verwickelter Faden mit viel Geduld wieder entwirren. Für eine in Plastiknetzen verwickelte Schildkröte geht es um Leben oder Tod, doch sie ließe sich befreien (wenn gerade zufällig eine freundliche Taucherin vorbeikäme). Demgegenüber stellt die Aggregation von Plastik mit Plankton und die Bildung von Biofilmen eine andere Form der Amalgamisierung von Kunststoffen im Ozean dar. Die Plastisphäre verlangt nach anderen Bildern, um alternative Möglichkeiten der Problematisierung aufzuzeigen. Inspirationen für einen anderen Begriff haben sowohl ein Artikel von Astrid Schrader (2012), eine Passage in Stefan Helmreichs Alien Ocean (2009) und ein B-Movie von Kinji Fukasaku aus dem Jahre 1968 gegeben: Schleim. In meinem Feld steht Schleim für die zähe Matrix der Biofilme. Nach Helmreich irritiert oder unterbricht Schleim herkömmliche Darstellungsformen, weil Schleim keine festen Grenzen hat und sich deswegen schwer messen und eindämmen lässt (Helmreich 2009, 129–130). Fukasakus billig produzierter, aber mit großartiger Surf-Musik unterlegter Science-Fiction-Film The Green Slime spielt mit dieser Unheimlichkeit und Unberechenbarkeit von Schleim. Er erinnert uns an die dunkle und spekulative Dimension der Plastisphäre als ökologischer und sozialer Herausforderung. Trashige popkulturelle Referenzen mögen darauf hinweisen, dass die Entstehung der Plastisphäre durch ein billiges Massenprodukt wie Kunststoff und dessen unkontrolliertes Zirkulieren erst ermöglicht wurde. Der Science-Fiction Roman Mutant 59: The Plastic Eaters (Pedler und Davis 1971) behandelt hingegen, wie mutierte Bakterien die auf Kunststoffen aufgebauten Infrastrukturen von Städten auffressen und wie Rohre, Leitungen oder solide Kunststoffverkleidung plötzlich kollabieren und schleimartig schmelzen. Die britische Soziologin Jennifer Gabrys schreibt in diesem Zusammenhang, dass Bakterien auf die „spekulativen Aspekte von Organismen hin[weisen]: ihre Fähigkeit, sich nicht einfach nur am Leben zu erhalten, sondern ihre Umgebung umzuwandeln und in diesem Prozess ein anderer Organismus zu werden“ (2014, 57). Die unkontrollierten Einträge von Plastik ins Meer sind nach Gabrys „ein Experiment mit unvorhersehbaren Folgen geworden“ (ebd.). Effekte menschlicher Lebensweisen, nämlich die enorme Kunststoff-Produktion und -Konsumption und die gescheiterte Entsorgung des Materials bringen dabei neue Formen des Lebens im Ozean hervor.

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Abb. 4: Cyanobakterium auf Mikroplastik. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Erik Zettler, zuerst abgedruckt in: Zettler, Mincer und AmaralZettler 2013)

Plastik spielt daher auch eine Rolle bei der Verbreitung von Arten im Meer (Kiessling, Gutow und Thiel 2015). In der Diskussion um die sogenannte Invasion fremder Arten wird die Verbreitung und Mobilität von Neobiota meist als negativ für die Erhaltung von biologischer Vielfalt herausgestellt. Banu Subramaniam betrachtet diesen alarmistischen Diskurs der Invasionsbiologie kritisch. Die Ähnlichkeit der Muster, wie über menschliche Migration und das Einbringen von Neophyten gesprochen wird, ist für sie frappierend, weshalb sie dafür plädiert, diese Debatten unter einer Perspektive von „naturkulturellen Migrationen“ zu betrachten, die kritisch die Produktion von Kategorien wie „einheimisch“ und „fremd“ hinterfragt (Subramaniam 2014, 100–102 sowie in diesem Band). Auch Helmreich (2009, 149) stellt die Relationalität dieser Kategorien heraus, in denen einheimische Arten meist mit Natur, fremde Arten meist mit Kultur assoziiert werden. Durch die dichotome Trennung von Natur/Kultur wird Natur als passives Element vorgestellt, dass zu Kultur transformiert werden kann, wie es schon früher von der feministischen Anthropologie kritisiert wurde (MacCormack 1993). Die bakterielle Besiedlung der Plastisphäre durchkreuzt diese Kategorisierungen, denn diese hybriden Lebensformen sind ein schleimiges Werden

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von NaturenKulturen mit Plastik. Plastik ist mehr als ein bloßes Substrat für die Herausbildung der Plastisphäre oder ein neuer Bestandteil von Aggregationen mit Plankton: Das synthetische Material muss zunehmend als neuer Partizipant in NaturenKulturen gedacht werden. Im Gegensatz zur eher quantifizierenden Forschung über Mikroplastik-Konzentrationen verweist die Beschäftigung mit der Plastisphäre auf die unbestimmbaren Potenziale der Plastik-NaturenKulturen und die Entstehung von Leben in gestörten Umwelten (Tsing 2018) – das zwar durch menschliche Einflüsse ausgelöst ist, sich aber weiterer Planung und Einhegung entzieht. Die Diskussion über die Plastisphäre und die Wissensproduktion über bakterielle Biofilme ist überfrachtet mit Metaphern, welche zwischen den Sphären dessen, was als Natur und dessen, was als Kultur/Gesellschaft gilt, oszillieren. In einem Vortrag im Haus der Kulturen der Welt im Jahr 2014 stellte die Mikrobiologin Regine Hengge dem interessierten Publikum bakterielle Biofilme als die „unsichtbaren Städte“ der Mikroben vor. In diesen Städten werden Zellen in ein von den Mikroben produziertes Netzwerk eingewoben, dessen Matrix aus Zellulose (dem „bakteriellen Stahl“) und stärkeähnlichen Fasern (dem „bakteriellen Beton“) gebildet werden. Der Gebrauch des Begriffs der „colonization“ (in deutschen Artikeln eher als Besiedlung bezeichnet) in Bezug auf die Ausbildung von bakteriellen Biofilmen verstärkt wiederum die Assoziation dieses Prozesses mit etwas Überfallartigem (der aggressiven Landnahme) oder etwas Infektiösem. Es führt zumindest nicht dazu, die Bakterien lieb zu gewinnen – dabei versuchen Mikrobiolog*innen gerade die Menschen von der Diversität bakteriellen Lebens zu begeistern und wollen zeigen, dass nur ein Teil dieser Bakterien wirklich problematisch für die Menschen ist, wie es folgender Interviewausschnitt mit Linda Amaral-Zettler unterstreicht: „Dank des Human Microbiome Project beginnen die Leute nun zu begreifen, dass nicht alle Mikroben schlecht sind. Davor wurde diese Gleichung aufgemacht: Mikrobe gleich Bakterie gleich Keim gleich schlecht. [...] Jetzt merken Menschen, dass wir die Bakterien brauchen, dass wir sie für Prozesse in der Umwelt und auch in unseren Körpern brauchen. Eine ganze probiotische Bewegung! Wir müssen aufhören, die Bakterien zu beseitigen, weil viele von ihnen wirklich gut sind. Wir tun uns selbst mehr Schlechtes als Gutes, wenn wir alle Bakterien eliminieren wollen. Plötzlich fragen Leute, was das für bakterielle Gemeinschaften dort draußen im Ozean sind, die auf Plastik wachsen. Ich habe ihnen das Bild gezeigt: Schaut, da draußen ist diese verborgene Welt. Das ist sehr beeindruckend für eine Mikrobiologin. Darüber hinaus freut es mich auch, wenn mich mein Schwager beim Thanksgiving-Dinner nach Plastik im Ozean fragt. Das ist ziemlich cool, weil es nicht so

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oft passiert. Insofern ist diese Forschung ein gutes Mittel andere zu erreichen, für Bildungsarbeit und auch für ein Verständnis für Grundlagenforschung.“

Dass Plastik im Ozean ihre Forschung bekannter macht, davon berichteten mir auch deutsche Meeresforscher*innen. Während Grundlagenforschung wie das Sink- oder Schwebeverhalten der Ausscheidungen von Zooplankton in der Wassersäule selten zu Anrufen von Radiosendern führt, verhält es sich mit der Forschung zu marinem Plastikmüll anders. Was Linda Amaral-Zettler im vorhergestellten Zitat beschreibt, zeigt auch die Genugtuung, dass die öffentliche Wahrnehmung von Bakterien sich verändert, dass Menschen lernen, dass nur ein sehr kleiner Teil der Bakterien problematisch für sie ist und dass Bakterien helfen, so leckere Dinge wie Käse herzustellen (Paxson in diesem Band) oder die mikrobielle Zusammensetzung des Terroir beim Wein zu beeinflussen (Zarraonaindia et al. 2015) – wohingegen mir mein Textverarbeitungsprogramm in diesem Moment als Synonym für Bakterien ausschließlich „Bazillen“ oder „Krankheitserreger“ vorschlägt. Heather Paxson und Stefan Helmreich (2014) beschreiben, dass nicht mehr eine Sprache von Risiko die Repräsentation von Bakterien dominiert, sondern dass zunehmend Hoffnung in die Potenziale der Mikroben gesetzt wird, was die beiden Anthropolog*innen in Anlehnung an Foucault als Mikrobiopolitik bezeichnen. Die Zettlers sprachen z.B. Tracy Mincers aktuelle Forschungen an: Ihm gelang es, ein Medikament zur Therapie von Mukoviszidose zu entwickeln, das auf der Forschung mit marinen Mikroben beruht.

D IE Ö KONOMISIERUNG DER P LASTISPHÄRE T RANSFORMATION DER D OMÄNEN

UND DIE

Naturwissenschaftler*innen, die sich sonst eher mit Themen der Grundlagenforschung beschäftigen, argumentieren im Feld der Meeresmüllforschung häufig sozioökologisch bis aktivistisch. Auch die Plastisphäre-Forscher*innen verbinden ihre Erkenntnisse aus der Meeresforschung mit einer Problematisierung, wie Kunststoffeinträge ins Meer verhindert oder verringert werden könnten. Allerdings halten sie wenig davon, ihre Ergebnisse dahingehend zu interpretieren, dass die Bakterien zur Lösung der Plastikentsorgung beitragen könnten, weder in der See, noch an Land. Dies legte wiederum ein im März 2016 in Science erschienener Artikel nahe, in dem japanische Forscher*innen erklärten, sie hätten ein Bakterium identifiziert, das Polyethylenterephthalat (PET) zerlegen könne, dem sie den Namen Ideonella sakaiensis gaben (Yoshida et al. 2016). Im selben Jahr wurde in Kalifornien ein Start-Up-Unternehmen gegründet, das vorgibt,

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mithilfe von Bakterien PET zu mineralisieren. Auch die Forscher*innen aus Woods Hole gehen davon aus, dass die Kerben, die sie auf den Polyethylen- und Polypropylen-Partikeln fanden, darauf schließen lassen, dass die Mikroben an der mechanischen und durch Stoffwechselprozesse verursachen Zersetzung von Plastik mitwirken (Zettler, Mincer und Amaral-Zettler 2013, 7144). Trotzdem sind sie der Ansicht, dass auch wenn sich diese Hypothese bestätigen ließe, diese langsam wirkenden Zersetzungsprozesse in keinem Verhältnis zum Eintrag von Kunststoffen in den Weltmeeren stehen. Der biologische Abbau von Plastik durch Mikroben würde zudem, wie Erik Zettler bemerkte, sicherlich einen schlechteren CO2-Fußabdruck kreieren als die vorteilhaftere Option des Recyclings. Die japanische Forschung und das kalifornische Start-Up legen nahe, dass durch plastikzersetzende Bakterien Bioremediation, die ökologische Sanierung mithilfe biologischer Organismen, effektiv betrieben werden könne. Die Idee, die Plastisphäre ökonomisch produktiv zu machen, d.h. die metabolischen Aktivitäten von Bakterien zum Abbau von potenziellen Sekundär-Rohstoffen zu nutzen, ist eine erneute parasitäre Bewegung. Die Ökonomisierung der Plastisphäre könnte dabei in Analogie an Marx’ Begriff der formellen und reellen Subsumtion der Arbeit (Marx 1986, 533) als formelle und reelle Subsumtion der Natur analysiert werden. Zunächst wird ein biologischer Prozess, der unabhängig vom Kapitalverhältnis besteht, diesem untergeordnet (formelle Subsumtion), was der Extraktion von Biofilmen aus dem Meer entspräche. Wenn ein Unternehmen die Kultivierung von bakteriellen Biofilmen als gesteigerte Form von (biologischer) Produktivität kapitalisiere, wäre die reelle Subsumtion erreicht (Boyd et al. 2001, 567). Es ist aber nach wie vor die Wissensarbeit der Forscher*innen, die damit in Wert gesetzt wird und neue Produkte schaffen kann (Birch und Tyfield 2015, 30). Ein Zufallsfund einer Biologin aus Nordspanien (Bombelli et al. 2017) im April 2017 trat Schlagzeilen wie diese los: „Forscher haben eine Raupe entdeckt, die unseren Plastikmüll frisst“ (Hölter 2017). Zufällige Wissensproduktion, Hoffnung auf Problemlösungen und potentielle Ökonomisierung können neue spekulative Hypes erzeugen, die relativ weit vom eigentlichen Problemgegenstand entfernt sind, es aber schaffen, das Potenzial einer noch nicht abgesicherten Entdeckung oder Hypothese auf aberwitzige Weise hochzuskalieren und so Lösungen im Weltmaßstab zu postulieren.

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Abb. 5: Whiteboard im Mincer Lab (WHOI) mit spontaner Zeichnung von Biofilm und Bakterie. (Foto: Sven Bergmann 2016)

Die Problematisierung von Plastik im Ozean wie an Land führt zu unterschiedlichen Gegenständen. Neben einer Einordnung als globales Umweltproblem existiert die Tendenz, es auch als Gesundheitsproblem für Menschen zu definieren. Wenn, wie die Plastisphäre-Forscher*innen belegen können (Schmidt et al. 2014), Biofilme auf Plastik als Vektoren für die Verbreitung von Pathogenen der Vibrio-Gruppe verantwortlich sind (zu denen auch der Cholera-Erreger zählt), so könnten sich diese Bakterien außerhalb tropischer Gebiete ausbreiten, wie eine aktuelle Studie in der Nord- und Ostsee belegt (Kirstein et al. 2016). Diese Bakterien könnten über die Aufnahme von Plastikpartikeln in Fische oder andere Lebewesen gelangen.12 Erik Zettler erwähnte im Interview, dass das meiste Equipment für Aquakultur-Zucht aus Kunststoffen besteht und dieser Aspekt noch relativ unerforscht ist. Wiederum kann die Forschung über die Plastisphäre dazu beitragen, die Wissensproduktion zur Entstehung von Biofilmen voranzutreiben. Tracy Mincer erklärte mir in seinem Labor, dass er in Kooperation mit der Harvard Medical School plant, der Frage nachzugehen, welche Rolle Kunststoffe als Habitate bei der Entstehung und Verbreitung von multiresistenten Keimen auf Intensivstationen spielen könnten. Um zu erklären, wie Bakterien in

12 Während Zettler, Mincer und Amaral-Zettler (2013) bakterielle Biofilme auf Polyethylen und Polypropylen untersucht haben, haben deutsche Meeresforscher*innen festgestellt, dass insbesondere Polystyrol die Biofilme verändern kann (vgl. Kesy et al. 2016).

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Kunststoffschläuchen oder auf anderen synthetischen Oberflächen haften bleiben, malte er mir zur Illustration eine Bakterie auf sein Flipchart, ausgestattet mit feinen Härchen zum Festhaken (Abb. 5). Wenn Anna Tsing (2018) feststellt, dass es mitunter kontaminierte und ruinierte Orte sind, die neue Habitate und Lebensräume hervorbringen, dann sind die Plastisphäre im Ozean und Ansammlungen von Plastikmüll in Flüssen und an Land spezifische Versionen dieser gestörten Umwelten oder mutierenden Ökologien (Masco 2004). Einerseits wird Plastik als Vektor für die sogenannte Invasion fremder Arten als Gefährdung für Biodiversität angesehen, andererseits ist Mikroplastik als Parasit (Gast und Wirt) im Ozean aber auch ein Ort der Produktion von etwas, das Differenz schafft. Es ist das Plastik als schleimiges Habitat, das neuen Lebensformen Raum und Potenziale bietet.

S CHLUSS „Wir müssen anerkennen, dass die Natur keiner nostalgischen Vorstellung von einer mythenhaften Vorzeit entspricht. Sie ist vielmehr immer in Veränderung – in Evolution – begriffen, in die wir aufs Engste verwickelt sind.“ (Subramaniam in diesem Band)

Wenn schleimige Biofilme winzige Plastikfragmente überziehen, wird die Unterscheidung zwischen dem, was als synthetisch und dem, was als natürlich gilt, zunehmend kompliziert – denn der Schleim schafft eine Differenz. Statt Naturen und Kulturen scharf voneinander abzugrenzen, gerät Hybridität in den Vordergrund der Analyse. Hybridität charakterisiert – im Sinne der postkolonialen Theorie – keine Form der fröhlichen Vermischung, sondern verweist auf Konfigurationen und Grenzräume außerhalb der geläufigen Ordnungen: Der Begriff stellt im Sinne Derridas die Bewegung der Differenz und nicht die Diversität in den Vordergrund (siehe Bhabha 2000, 58; 326–327). Im Plastikschleim lauert ein Begriff von Differenz und Hybridität, der über die Entstehung von neuen Oberflächen und Substraten hinausgeht. Er betont die Relation, die Akteure und Gegenstände aus verschiedenen Welten eingehen: ein von Menschen ausgelöstes und von Mikroorganismen weitergeführtes Experiment mit noch unklarem Ausgang. Die Besiedlung von Plastikpartikeln mit Algen und Mikroben zeigt die Entstehung neuer Habitate und Lebensformen sowie hybrider Verbindungen zwischen dem Synthetischen und dem Natürlichen, die Swyngedouw als „sozioökologischen Cyborg“ (2004, 147) bezeichnet. So wie durch Haraways feministische Cyborg-Metapher eine „Post-Gender-Welt“ (1995, 35) ermöglicht wird,

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welche die „profanen Fiktionen ‚Mann‘ und ‚Frau‘“ (ebd., 70) herausfordert, so verweisen die Cyborgs in der Plastisphäre auf die Auflösung und Neu-Verschaltung des Organischen und Technischen, auf neue Versionen der Welt jenseits eines Dualismus von Natur/Kultur. Synthetische Polymere und marine Lebensformen gehen dabei nicht nur neue schleimige Lebensformen und Relationen ein, sondern sie verändern sich dadurch selbst: Nichts bleibt unverändert beim Prozess des Verbindens. Die sofortige bakterielle Besiedlung von Kunststoffteilen im Ozean bezeugt das, unabhängig davon, dass wir noch gar nicht in der Lage sind, die Potenziale und Auswirkungen dieser Prozesse vollends einzuschätzen. Ich habe in diesem Aufsatz auf zwei Formen der Wissensproduktion hingewiesen. Zuerst habe ich dargestellt, wie die Skalierung auf Mikroplastik die gängigen Repräsentationen von Plastik im Meer herausfordert. In einem zweiten Schritt habe ich gezeigt, dass Plastik als Fremdkörper im Meer nicht lange alleine bleibt, sondern neue Habitate und Lebensformen erzeugt und unterstützt. Die Grenzen zwischen dem Natürlichen und dem Synthetischen verwischen, wie eine Zeichnung, die in den Küstensand gemalt wird, durch die Flut verschwindet. Die zurzeit lancierten Lösungsvorschläge zum Phänomen Plastik im Meer rekurrieren aber nach wie vor auf eine moderne Vorstellung der Reinigung und eine starke Trennung von Natur und Kultur, beispielsweise auf die Idee der Filtrierung von Meerwasser im großen Maßstab. Latours Kritik an der modernen Verfassung dieser Trennung ist hilfreich, um diese Reinigungsideen und End-ofpipe-Technologien zu verstehen, aber auch um sie zu kritisieren, da sie oftmals mehr Schaden anrichten können als sie verhindern wollen. Weil die Reinigungsansätze mit großen Skalen arbeiten, ignorieren sie die hybriden und mikrokosmischen Interaktionen zwischen dem Synthetischen und dem Lebendigen – ein Verständnis für Verwickeltheit, Sorge und Verantwortung in (Um-)Welten kann aber auch bedeuten, erst einmal abzuwägen und manchmal auch nicht einzugreifen (Martin, Myers und Viseu 2015, 635). Während Latour für diese Art der Problematisierung von Reinigungsideen nützlich ist, sind seine Überlegungen für eine Kritik an den diesen Problemen zugrundeliegenden Produktions- und Lebensweisen weniger hilfreich. Kim Fortun stellt daher fest, dass „auch wenn wir nie modern waren, wir immer noch ein modernes und konkretes Schlamassel vor uns haben, das teilweise von der industriellen Theorie von Bedeutung und Wert“ (2014, 312) hervorgebracht wird – oder, anders ausgedrückt, von der hegemonialen kapitalistischen Produktionsweise. Eine Perspektive auf NaturenKulturen muss bei aller Betonung von Ambiguität nicht zwingend davon ablenken, auch wenn sie zum Teil erst den Raum zum Denken öffnet, um zu einfache Problematisierungen und Lösungen zu kritisieren. Dennoch lässt sich beispielsweise die

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exzessive globale Immer-Weiter-Produktion von Kunststoffen infrage stellen, die über jede Art von sinnvollem gesellschaftlichen Bedarf hinausgeht.

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(4) Politiken der Sorge

Der Kiwi und das Possum: Räume schaffen für Leben und Tod M ICHAEL F LITNER

Wer sich anschickt, neuseeländischen Boden zu betreten, wird schon frühzeitig mit Geboten und Hinweisen versorgt, die verhindern sollen, dass gebietsfremde, potenziell invasive Lebewesen in das Land kommen. Bereits im Flugzeug werden erste Warnungen lanciert, und spätestens vor dem Zoll am Flughafen verdichten sich die Schilder, die auf Englisch wie auf Chinesisch den Eintritt in eine Zone zur Kontrolle der Biosicherheit [biosecurity] verheißen. Sie bieten eine letzte Chance, sich zu erklären, bevor Fragen und Untersuchungen des Gepäcks folgen, unterstützt von schnüffelnden Beagle-Hunden. Deren Spürsinn gilt hier nicht wie anderenorts Drogen oder terroristischen Bedrohungen, sondern mitgebrachtem Obst und gebrauchten Camping-Utensilien, die neue Schädlinge und Kleinstlebewesen ins Land bringen könnten, ganz zu schweigen von größerem Getier. Jede fehlende Deklaration hat eine Geldbuße von mehreren Hundert neuseeländischen Dollar zur Folge, absichtlich in Kauf genommene Risiken können jahrelange Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Die Besorgnisse an der Landesgrenze, die in Neuseeland zugleich einen großen räumlichen Abstand zu anderen Ländern und Ländereien garantiert, betreffen vor allem die Gesundheit landwirtschaftlich genutzter Arten. Der Obst- und Weinbau, und ebenso die Tierzucht, können von Insekten, Bakterien, Pilzen und Viren schweren Schaden nehmen. Sauber und grün soll das Land bleiben, clean and green, wie ein oft zitierter Slogan reimt, und darin verbinden sich die sanitären Anliegen mit den Weiden für die Viehzucht, mit den Wäldern und mit der großen Natur da draußen, wegen der die meisten internationalen Reisenden hierher kommen. Das Wissen darum, im weiten Ozean auf einer Insel gelandet zu sein, die eine Eigenständigkeit gerade ihrer natürlichen Verhältnisse reklamiert, wird auch im weiteren Verlauf des Aufenthalts im Land stetig aktualisiert, vor allem entlang der touristischen Infrastrukturen, die das Land durchziehen. Neu-

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seeland präsentiert sich hier als Natur, wilde Natur, wo immer es geht, mit unendlichen Küsten, aktiven Vulkanen und Geysiren, Nebelwäldern, Baumfarnen und eigenartigem Getier. Reine Natur: 100% Pure New Zealand lautet seit 1999 das zentrale Motto der nationalen Tourismusagentur. Neuseeland ist berühmt für seine Landschaften und Lebewesen, vor allem für die Vögel, die in besonderer Vielfalt und Eigenart vorkommen. Staatliche Organisationen, aber auch private Vereine, Artenschützer*innen und Vogelfreund*innen unternehmen große Anstrengungen, um Tiere und Pflanzen einheimischer Arten zu schützen oder lokal wieder einzuführen, und diejenigen anderer, aus ihrer Sicht gefährlicher Arten zu bekämpfen. Einige Säugetiere, die als entscheidende Bedrohung für seltene Vögel gelten, werden zu dem Zweck in hoher Zahl getötet, sie sollen in wenigen Jahrzehnten nach dem Willen der Regierung sogar ganz ausgerottet sein. Der folgende Beitrag befasst sich vorwiegend mit zwei Tierarten, die exemplarisch für dieses irritierende, polarisierte gesellschaftliche Naturverhältnis stehen. Ich lasse mich dabei von Michel Foucaults Überlegungen zur Biopolitik anregen. Foucault sieht bekanntlich die Verschiebung hin zu einem produktiven Fokus auf das Leben in den modernen Kollektiven als wesentliches Kennzeichen einer neuen Macht, die sich im 18. Jahrhundert herausbildet. Während die alte europäische, souveräne Macht die Menschen im Großen und Ganzen leben lässt und, wo es ihr zur Aufrechterhaltung der Macht angezeigt scheint, Abweichende und Aufbegehrende in den Tod schickt, da will die neue biopolitische Macht oder Biomacht gerade das Leben regulieren. Der neue Machttypus reorganisiert und bildet Normalitätsstandards für die Sexualität, für die Fügsamkeit der Körper, die Gesundheit – produktive Normalitätsstandards, die in die tiefsten Schichten des Gesellschaftlichen und Biologischen hineinreichen (die Selbststeuerung, die Fortpflanzung). In der berühmten Vorlesung vom 17. März 1976 hat Foucault diese Verschiebung in den oft zitierten Sätzen verdichtet: „Das Recht der Souveränität besteht demgemäß darin, sterben zu machen oder leben zu lassen. Danach installiert sich dieses neue Recht: das Recht, leben zu machen und sterben zu lassen“ (Foucault 2014, 90). Dieses Leben Machen, so will ich argumentieren, findet sich heute auf größere, mehr-als-menschliche Kollektive ausgeweitet, die Foucault selbst nicht im Blick hatte (siehe Flitner und Heins 2002, 337). Es erfasst auch Teile der äußeren, nichtmenschlichen Natur einschließlich der Tierwelt. Im Zuge dieser Ausweitung taucht auf der anderen Seite jener polaren, gesellschaftlichen Naturverhältnisse jedoch zugleich das Sterben Machen wieder auf, und zwar nicht nur am Rande oder als Residuum einer alten Macht über die Natur, sondern in einer historisch neuen Systematik und Größenordnung, als ein ungekannt produktives

D ER K IWI UND DAS P OSSUM: R ÄUME SCHAFFEN FÜR L EBEN UND TOD

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Sterben Machen zugunsten neuer sozio-natürlicher Assemblagen oder NaturenKulturen. Um diese erweiterte biopolitische Konstellation zu explorieren, gehe ich im Folgenden von den symbolischen Zuschreibungen an die zwei Tierarten Kiwi und Possum aus, die im semiotischen Tierreich Neuseelands exemplarische, konträre Positionen einnehmen. Die Kiwis stehen für die zu fördernde Natur, die Possums für die auszulöschende „Un-Natur“. Das zeige ich an den aufwändigen Programmen und Praktiken zu ihrer Förderung beziehungsweise ihrer Ausrottung. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den räumlichen Formen und Zusammenhängen. So werden abgegrenzte experimentelle Räume sichtbar, in denen ein spezifisches Wissen über Leben und Tod generiert werden kann. Dieses Wissen setzt sich in der Folge in neue NaturenKulturen um. Die semiotische Bedeutungsanalyse bringt im Schlussteil weitere Tiere in den Blick, die erst eine zusammenhängende Deutung ermöglichen: Die sprichwörtlichen und landschaftsprägenden neuseeländischen Schafe und die kaum weniger berühmten, ausgerotteten Moa-Vögel. Sie sind die latenten Gegenspieler zu den primären, offensichtlichen Opponenten Kiwi und Possum. In einer Zusammenschau dieses Bedeutungsgefüges werden die Ausblendungen und Verschiebungen deutlich, die ihren Bezugspunkt in der historischen Siedlergesellschaft und deren Erschließung des Landes haben. Die von den Foucault’schen Begriffen ausgehende Deutung wird auf diese Weise mit postkolonialen, politisch-ökologischen Perspektiven erweitert.

K IWIS

UND

K IWINESS

Allgegenwärtig, ikonisch und namensgebend stehen Kiwis für Neuseeland und seine verschiedenen Bewohner: die flugunfähigen Kiwi-Vögel (Apteryx sp., in neuseeländischem Englisch: kiwi, im englischen Plural gelegentlich mit -s), die Kiwi-Pflanze (Actinidia deliciosa) mit der Kiwi-Frucht (neuseeländisch immer kiwifruit) und nicht zuletzt die menschlichen Bewohner*innen Neuseelands (Homo sapiens), die – auch von sich und ihresgleichen – geläufig Kiwis genannt werden (englisch wiederum Kiwi/s, aber mit großem K und im Plural stets mit – s; vor allem üblich für Neuseeländer*innen europäischer Herkunft). Die KiwiVögel, die genealogisch den anderen Kiwi/s vorausgehen, sind das nationale Tier. Das wird durch viele Texte, Bilder und Internetauftritte heute ausdrücklich so gesagt. National bird, national pride, auch our national icon heißt es auf einschlägigen Seiten.

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Der durchaus merkwürdige Vogel fand bereits bei den frühen polynesischen Siedler*innen Interesse, unter anderem wurden aus seinen Federn bei den Māori rituell bedeutsame Kleidungstücke (kahu kiwi) hergestellt. Auch unter den europäischen Siedler*innen fand der Vogel Aufmerksamkeit und bald darauf unter Naturkundler*innen in Europa. Schon im 19. Jahrhundert wurde er auch auf militärischen Abzeichen neuseeländischer Bataillone verwendet und mit dem ersten Weltkrieg schließlich Symbol der Nation und Namensgeber für die Neuseeländer*innen, zunächst für die neuseeländischen Soldaten im Kreis der Truppen des britischen Empire.1 Der Kiwi-Vogel ist also schon vor gut hundert Jahren zu einem Symbol von Heimat und Nation geworden, und auch als Bezeichnung für die Menschen dieser Zugehörigkeit ist das Wort seitdem geläufig. Das jüngste der Kiwi-Wesen ist die bei uns mindestens so bekannte Frucht, die erst Ende der 1950er-Jahre aus Vermarktungsgründen so benannt worden ist. Amerikanische Importeure hatten den neuseeländischen Produzenten nahegelegt, die bis dahin übliche Bezeichnung chinese gooseberry (deutsch: chinesische Stachelbeere) zu überdenken: Weder Hauptwort noch Adjektiv seien für amerikanische Kund*innen ein Kaufanreiz. Die neuseeländischen Exporteure führten daraufhin kiwifruit als neue Bezeichnung ein, weil das Wort Kiwi bekannt war und bereits zuverlässig auf Neuseeland verwies, und angeblich auch, weil die braune, pelzige Haut der Frucht an das Federkleid des großen braunen Kiwi erinnert (Lui 2017). Dieses Branding klappte so ausgezeichnet, dass bis heute (nicht nur in Deutschland) viele Menschen meinen, die Kiwi-Früchte kämen ursprünglich aus Neuseeland. Inzwischen hat die identitätsorientierte Werbebranche zahlreiche weitere Kiwi-Verbindungen hervorgebracht, die KiwiBank etwa oder das KiwiSaver-Programm, einen neuseeländischen Rentenfonds. Mit der Wortschöpfung Kiwiana werden im Land zudem alle Dinge, Bilder, Eigenschaften und touristischer Nippes zusammengefasst, die sich auf die neuseeländische Identität beziehen. Diese wird ihrerseits auch als Kiwiness bezeichnet, ein Begriff, der im letzten Jahrzehnt Eingang in die sozial- und kulturwissenschaftliche Literatur gefunden hat (Thornley 2009; Rocha 2012, 686). Der bedeutungsvolle Kiwi und die Kiwiness der Neuseeländer*innen stehen heute also symbolisch und materiell auf mehreren Stützen: Vögel, Menschen,

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In Erinnerung an ihre Taten ritzten die Soldaten ein mehrere hundert Quadratmeter großes Kiwi-Bild in einen Kreideberg im englischen Wiltshire, wo sie nach Kriegsende in einem Lager auf ihre Heimfahrt warteten. Dieses als Bulford Kiwi bekannt gewordene Stück Land Art wurde 2017 offiziell unter Schutz gestellt (BBC online, 13.06.2017).

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Früchte und zahlreiche Kiwiana verweisen wechselseitig aufeinander und verdichten sich zu einem nationalen Kiwi-Komplex. Die hohe Wertschätzung der Kiwi bei den Māori tut dabei auch dem Selbstbild einer bikulturellen Nation genüge. Die Kiwi-Vögel präsidieren dieser Kiwi-Welt, auch wenn sie lebend und bei Tage kaum anzutreffen sind. Sie sind es, die der Kiwiness die nötige Tiefe verleihen, indem sie ihre symbolischen Valenzen in ursprünglichen und natürlichen Verhältnissen fest verankern. Dass Tiere auf eine solchermaßen nationalistische Weise bedeutsam werden können, ist nicht neu, der Bundesadler zeugt davon im Parlament und auf Reisepässen. Meist sind solche Symbolwesen oder Wappentiere allerdings Raubtiere, königliche Löwen, wilde Bären oder eben Adler, und im deutschen Alltag stehen sie inzwischen eher für Sportvereine als für Imperien. Der Kiwi ist von solchen Tieren denkbar weit entfernt, er funktioniert anders in seiner Popularität. Das hat wohl auch etwas mit der Biologie dieser Vögel zu tun, mit ihrer Anatomie, ihrem Verhalten und vor allem mit ihrer Verbreitung. Der charakteristische Körperbau hat einen hohen Wiedererkennungswert. Kiwis sehen nach verbreiteter Ansicht knuddelig aus mit ihrem felligen Federkleid, wie etwas plumpe Schnepfen, die nicht fliegen können. Wegen ihres Aussehens und ihrer verborgenen, überwiegend nächtlichen Lebensweise gelten sie als eher zurückhaltende und liebenswerte Zeitgenossen, nicht ganz zu Recht, denn sie wissen ihre Krallen gut einzusetzen und zeigen ein starkes, bisweilen aggressives Territorialverhalten. Entscheidend für ihren symbolischen Aufwuchs dürfte jedoch ihre Verbreitung sein: Kiwi-Vögel gibt es einzig und allein in Neuseeland, sie gehören – anders als die oben genannten Wappentiere – ganz und gar zu diesem Stück Erde, sie gelten mit dem Fachbegriff als eine endemische Art. Der Endemismus, für den die Kiwis stehen, ist zugleich Dreh- und Angelpunkt aller Programme und Praktiken des Artenschutzes in Neuseeland. Der Anteil endemischer Organismen ist in Neuseeland unvergleichlich hoch, weil sich die Landmasse, aus der sich die neuseeländischen Inseln formiert haben, nach Stand der geologischen Wissenschaft sehr früh vom Urkontinent Gondwana abgespalten hat, nämlich vor circa 85 Millionen Jahren. Sehr früh heißt hier: in einer Phase der biologischen Evolution, in der Säugetiere im engeren Sinne noch kaum vorhanden waren. Vor etwa 55 Millionen Jahren, in einer Zeit, als sich viele moderne Säugetiergruppen erst herausbildeten, betrug die Entfernung zum australischen Kontinent zudem bereits um die 2.000 Kilometer. Das heißt: der Austausch mit anderen Landmassen war minimal, Neuseeland eine Art „Mikrokontinent“ (Daugherty, Gibbs und Hitchmough 1993, Übersetzung hier und im folgenden Text durch M. Flitner), der evolutionär über Jahrmillionen weitgehend isoliert blieb. Bis zur Ankunft der ersten polynesischen Siedler*innen, das heißt

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bis vor knapp 1.000 Jahren, gab es in Neuseeland so gut wie keine landlebenden Säugetiere, nur einige Arten von Fledermäusen und primär wasserlebende Säuger wie Seehunde und Seelöwen. Unter diesen Bedingungen sind einzigartige Reptilien, Insekten und andere Tiere entstanden und erhalten geblieben, und vor allem eine Vielfalt endemischer Vogelarten, die nach gängiger Vorstellung auch ökologische Nischen einnehmen, die sonst von Säugetieren besetzt sind. Mehr als zwei Drittel der 245 Vogelarten, die nach heutigem Wissen hier schon vor der menschlichen Besiedlung gebrütet haben, kommen allein auf den neuseeländischen Inseln vor.2 Die Kiwi-Vögel sind die Repräsentanten dieser Vogelwelt, dieser eigenständigen Welt. Sie sind nicht nur in kultureller Weise aufgeladen und symbolisch besetzt, sie sind auch ein wissenschaftlich gesättigter, biologischer Ausweis der neuseeländischen Größe, und zugleich der historischen Tiefe neuseeländischer Einzigartigkeit. Das macht auch ihre eigene Größe aus, so klein und knuddelig sie daherkommen. Es leuchtet ein, dass es heute ein weithin geteiltes, nationales Anliegen geworden ist, sie zu schützen und zu hegen.

K IWIS L EBEN M ACHEN Die Kiwis sind vielzähligen Gefahren ausgesetzt, seit mehr Menschen und neue Tiere im Land sind. Mit der großflächigen agrarischen Umgestaltung Neuseelands im 19. und 20. Jahrhunderts wurden ihre Habitate reduziert und zerschnitten; zugleich haben verschiedene importierte Raubtiere den Beständen zugesetzt und tun dies nach wie vor. Durch das ganze 20. Jahrhunderts hindurch gingen die Bestände rapide zurück, von mehreren zehn Millionen sind heute keine 100.000 Exemplare geblieben. Diese verteilen sich auf fünf Arten, den Südlichen Streifenkiwi (auch Tokoeka, Apteryx australis, nach einer Schätzung aus dem Jahr 2010 noch etwa 30.000 Exemplare), den Nördlichen Streifenkiwi (auch Brauner Kiwi, A. mantellii, 25.000), den Großen Fleckenkiwi (A. haastii, 16.000), den Kleinen Fleckenkiwi (auch Zwergkiwi, A. owenii, 1.500) und den Rowi oder Okarito-Streifenkiwi (A. rowi, 300) (Blue und Blunden 2010, 110). Die Bemühungen, diese Vögel zu schützen, reichen in das 19. Jahrhundert zurück, doch erst mit dem Wildlife Act von 1953 wurde es verboten, Kiwis zu töten, in Gefangenschaft zu halten oder überhaupt zu stören. Dieser generelle rechtliche Schutz änderte nichts am weiteren Rückgang der Vögel, der überwie-

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Stellvertretend für die reichhaltige Literatur zu diesen Fragen Daugherty, Gibbs und Hitchmough 1993, für eine populäre Gesamtdarstellung auch Gibbs 2006.

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gend andere Gründe hatte, wie den rapiden Landnutzungswandel. Erst mit der intensiven ökologischen Forschung der 1980er- und 1990er-Jahre fanden sich Ansatzpunkte für weitere Schutzmaßnahmen. Einerseits wurden nun die Ansprüche der einzelnen Arten an ihr jeweiliges Habitat deutlicher. Damit gab es zumindest theoretisch die Grundlagen für eine Verbesserung der Lebensräume und für Programme zur Umsiedlung von Tieren. Andererseits wurde auch die Gefährdung durch Raubtiere, sogenannte Prädatoren, genauer für die verschiedenen Lebensphasen charakterisiert, wodurch altersspezifische Schutz- und Pflegemaßnahmen in den Fokus rückten, etwa gezielte Aufzuchtprogramme. Schließlich wurden auch weitere Gründe für den Niedergang einzelner Arten genauer bestimmt, wie das Überfahren im Straßenverkehr, das Ertrinken in Schwimmbädern und Viehtränken und andere mehr. Anfang der 1990er-Jahre wurden auf dieser Grundlage erstmals nationale Initiativen entwickelt, um die Lage der Kiwis gezielt zu verbessern. Zu diesem Zweck bildeten die Naturschutzbehörde (Department of Conservation, DOC) und die (private) Bank of New Zealand (BNZ) einen eingetragenen Verein, der die meiste Zeit unter dem Namen BNZ Save the Kiwi Trust operierte. Dieser Verein und seine Nachfolger wie Kiwis for kiwi werben finanzielle Mittel ein, um lokale Gruppen zu unterstützen, sie betreiben Brut- und Aufzuchtprogramme und machen kontinuierlich Öffentlichkeitsarbeit für den Schutz der Vögel. Für die Jahre 2017 bis 2020 stellt die Regierung alleine jährlich knapp zwei Millionen Euro zum Schutz der Kiwis bereit. Ein neuer Rahmenplan für die nächsten zehn Jahre wurde Ende 2016 in die öffentliche Diskussion gebracht (Germano et al. 2016). Die Programme zum Erhalt und zur Förderung der Kiwis umfassen zahlreiche Maßnahmen, die das Vorkommen der Tiere direkt oder indirekt beeinflussen. Eine herausragende Rolle spielt dabei die Ausweisung von Naturschutzgebieten unterschiedlicher Art, ob als genereller Flächenschutz oder gezielt als kiwi sanctuaries. Dieser klassische Ansatz galt bis vor kurzem als Königsweg eines effektiven Kiwi-Schutzes; um die Jahrtausendwende richtete das Umweltministerium fünf solcher Schutzgebiete ein, größtenteils auf staatlichem Land (Blue und Blandon 2010, 112). In diesen Gebieten können die Lebensbedingungen der Tiere verbessert werden, wozu nicht nur die allgemeine Ausstattung des Habitats gehört, sondern auch gezielte Maßnahmen gegen Feinde und Konkurrenten. Um entsprechende Maßnahmen zu entwickeln, die von dauerhafter, nachhaltiger Wirkung sind, müssen allerdings sowohl die Bedürfnisse der jeweiligen Kiwi-Art wie die notwendigen Voraussetzungen erfolgreicher Intervention hinreichend bekannt sein. Dies hat seit den 1980er-Jahren zu intensiven Forschungen über die Ökologie

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der Kiwis und das Management entsprechender Gebiete geführt, die in wissenschaftlichen Artikeln wie in zahlreichen Reports von Ministerien und Vereinen vorliegen. Die besondere Zuwendung hat dabei zur Herausbildung eigener Praktiken und Hilfsmittel geführt, so etwa neuer Methoden zur Zählung und Registrierung von Kiwi-Rufen. Diese wirken in den ersten Jahren noch sehr improvisiert, wenn Wissenschaftler*innen mit Handzetteln mehr oder weniger gleichmäßig verteilt von „einem hohen Punkt aus nach Anbruch der Dunkelheit eine Stunde lang“ in die Landschaft lauschen (Miller und Pierce 1995, 204); sie werden im folgenden Jahrzehnt aber zunehmend standardisiert und teilweise automatisiert (Colbourne und Digby 2016). Ebenso werden Formulare entwickelt und verbreitet, um Daten von kranken oder verletzten Kiwi aufzunehmen und Funde von toten Vögeln und Eiern systematisch zu registrieren (Pierce et al. 2006, 38–39). In einem Bericht für die Naturschutzbehörde werden zahlreiche Punkte diskutiert, die anzeigen sollen, ob ein Gebiet sich dafür eignet, Kiwis „leben zu machen“, das heißt Kiwi-Populationen zu erhalten und zu vergrößern (Pierce et al. 2006). Was die äußeren Voraussetzungen angeht, wird zunächst der Flächenanspruch skizziert. Demnach ist ein geschlossenes Waldgebiet oder ein Mischgebiet mit hohen Wald- und Buschanteilen nötig, das möglichst größer als 1.000 Hektar sein sollte und zudem über „sichere“ Korridore verknüpfbar mit anderen Management-Gebieten (Pierce et al. 2006, 17). Als wünschenswert wird zudem festgehalten, dass schon viele Kiwis in dem Gebiet anwesend sind, die eine hohe Reproduktionsrate vorzuweisen haben. Sind diese äußeren und inneren physischen Voraussetzungen schon schwer genug zu erfüllen, kommen noch politische und soziale Ansprüche hinzu. Zum einen wird die zivilgesellschaftliche Unterstützung in der Region als eine Erfolgsbedingung entsprechender Initiativen benannt. Zudem sollen möglichst auch andere Aktivitäten zum Schutz endemischer Tiere in der Region schon etabliert sein. Günstig wäre es, wenn die Gebiete frei von Haustieren wie Katzen sind und Wildschweine wenig präsent. Letztere gibt es heute jedoch in großen Teilen des Landes, und Zeitschriften wie der New Zealand Pig Hunter zeugen von einem soliden Stamm an eifrigen und begeisterten Jäger*innen, die der Schweinejagd in der Regel mithilfe von Hunden nachgehen. Hunde, zumal Jagdhunde, sind eine der größten Gefahrenquellen für Kiwis, es sei denn, sie sind speziell auf die Vermeidung dieser Vögel konditioniert. Wo dies nicht der Fall ist, und genereller, wo eine oder mehrere der genannten Bedingungen nicht zu erfüllen sind, versprechen auch die Versuche Schutzräume aufzubauen wenig dauerhaften Erfolg (Pierce et al. 2006, 17). Da die Wirksamkeit der offenen oder halboffenen Schutzgebiete mithin prekär bleibt, wurden schon frühzeitig weitergehende Optionen gesucht, um die

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Vögel und andere Lebewesen wirksam zu schützen und zu vermehren. In einer Welt aus vielen hundert Inseln war es naheliegend und einleuchtend, zu diesem Zweck einige kleinere Inseln zu strikten Naturschutzgebieten zu erklären und schädlichen menschlichen Einfluss dort radikal zurückzudrängen. Diese Schutzinseln, island sanctuaries, sind ein zentraler Baustein des neuseeländischen Naturschutzes seit seinen Anfängen, und sie präfigurieren die weiteren räumlichen Strategien des Naturschutzes in dem Land bis zum heutigen Tag. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Stimmen von Ornitholog*innen und Botaniker*innen laut, die sich für Naturreservate einsetzten und dafür bald auch Inseln als besondere Schutzräume in den Blick nahmen. So schlug etwa Thomas Potts, ein Viehzüchter und Vogelliebhaber aus dem neuseeländischen Canterbury, schon 1872 in einem Leserbrief an die Zeitschrift Nature vor, dass zum Schutz der Vögel einige Inseln „unter Tapu gestellt werden, um Belästigung durch Hunde und Schusswaffen“ zu verhindern (Potts 1872, 6 – Tapu ist das maorische Wort für den aus dem Polynesischen kommenden Begriff Tabu). Knapp zwei Jahrzehnte später wurde die von Potts genannte Resolution Island tatsächlich zum ersten Insel-Schutzgebiet erklärt, und es folgten schon bald weitere Inseln im Süden – Secretary Island (1893) –, in der Mitte – Kāpiti Island (1897/1912) –, sowie ganz im Norden des Landes – Little Barrier Island (1894/1897). Zur selben Zeit wurde eine zunehmende Zahl von Vogelarten als „eingeborenes Wild“ (native game) von der Jagd ausgenommen und unter Schutz gestellt, darunter Kōkako (Callaeas cinereus, deutsch Lappenkrähe), Kākāpō (Strigops habroptila, ein flugunfähiger Papagei), Tui (Prosthemadera novaeseelandiae) und die Kiwi-Arten (vgl. Star und Lochhead 2013, 145). Sir Walter Buller (1838–1906), ein Rechtsanwalt und zugleich der führende Ornithologe Neuseelands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat in einem Appell an die Wellington Philosophical Society am Beispiel der Kiwi im Jahr 1891 die Hoffnung formuliert, die sich mit den Insel-Schutzgebieten damals verband. Er geht hierbei vom Reproduktionsverhalten der Zwergkiwi aus und benennt den historischen Kontext sehr klar, der jene Hoffnung so dringlich werden lässt: „Ich habe festgestellt, dass sich Apteryx owenii [der Zwergkiwi, M.F.] seit dieser Zeit im letzten Jahr im Abstand von etwa sieben Wochen nicht weniger als fünf, wenn nicht sogar sechs Mal fortgepflanzt hat. Wenn dies der Fall ist, sollte es keine Schwierigkeiten geben, die Art zu erhalten […]. [Doch] eine flügellose Art hat angesichts von Hermelinen, Frettchen und Wieseln, von denen in letzter Zeit einige Tausend von der Regierung eingeführt und in allen Teilen des Landes freigelassen wurden, in der Hoffnung, die Kaninchen niederzuhalten, keine Chance. Die einzige Chance, die verschiedenen Vogelarten zu retten,

396 | M ICHAEL FLITNER besteht jetzt in ihrer völligen Isolation. Wenn [der] Vorschlag umgesetzt wird, Little Barrier Island im Norden und Resolution Island im Süden als unantastbare Schutzgebiete einzurichten, sie von Zeit zu Zeit mit allen erwünschten Arten zu besetzen und sie unter den strengsten Schutz zu stellen, dann können wir hoffen, einige, wenn nicht alle dieser interessanten Formen vor dem Aussterben retten zu können. Andernfalls ist ihre endgültige Ausrottung nicht weit entfernt, und zukünftigen Studierenden wird nichts anderes zurückgelassen als die getrockneten Exemplare in europäischen und kolonialen Museen […].“ (Buller 1905, zitiert nach Colbourne 2005, 2)

Tatsächlich wurden nach der Einrichtung von Resolution Island als Schutzgebiet schon in den ersten Jahren hunderte von Kiwis und Kākāpō vom nahegelegenen Festland überführt. Unterschätzt wurden in diesem Fall jedoch die schwimmerischen Fähigkeiten der eingeführten Hermeline, die die wenige hundert Meter breite Wasserstraße, die die Insel vom Festland trennt, bald überwanden und den Kiwis zusetzten (Butler, Lindsay und Hunt 2014, 14). Viele Inseln lagen jedoch deutlich weiter vom Festland entfernt, und so wurde die Inselstrategie durch das 20. Jahrhundert hindurch weiter ausgebaut. Insbesondere waren die Inseln das Ziel einer wachsenden Zahl von Umsiedlungen, die eng an die Zuchterfolge von Kiwis und anderen Vögeln in Gefangenschaft gekoppelt waren. Ab den 1970erJahren wurden Kiwis in Schutzstationen gezüchtet und an andere Orte transferiert; später wurden auch größere Programme wie Operation Nest Egg aufgelegt, in denen die Möglichkeiten systematisch erforscht wurden, Eier aus Gelegen von Wildvögeln zu entnehmen, kontrolliert auszubrüten und die Jungvögel erst nach mehreren Monaten auszuwildern, um ihre Überlebenschancen zu verbessern (Colbourne et al. 2005, 16–18). Insgesamt lassen sich die Insel-Schutzgebiete nach den Kriterien des Artenschutzes als ein Erfolg bewerten, zumal sie oft mit maßvoller Pflege erhalten werden können (Campbell-Hunt 2013, 79). Mit der starken Zunahme von Umsiedlungen gerade von Kiwis wurden allerdings auch die Inseln langsam knapp, auf die die Vögel relativ leicht mit Erfolg verbracht werden konnten, das heißt ohne massive Eingriffe und umfassende Kontrollmaßnahmen auf diesen Inseln, wie sie für Schutzgebiete auf dem Festland nötig wären. Zugleich müssen die Inseln eine gewisse Größe haben, um überhaupt tragfähige Populationen beherbergen zu können. Anfang der 2000er-Jahre waren Kiwi bereits auf 28 Inseln vertreten und ein Report aus der Naturschutzbehörde kam zu dem Schluss, es sei „klar, dass nicht mehr genug Inseln für alle Taxa [von Kiwis und anderen Vögeln, M.F.] übrig sind“ (Colbourne 2005, Diskussion, o.S.). Und die Idee der island sanctuaries war ja von Beginn an nicht nur für Kiwis gedacht, sondern auch für unzählige andere Vogelarten; später auch für endemische Echsen, die Tuata-

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ras oder Brückenechsen (Sphenodon punctatus), und sogar für Insekten wie die mit Heuschrecken verwandten Riesenweta (Deinacrida heteracantha). „Es sind keine Inseln mehr da […], die sind alle dicht und was wir da hauptsächlich noch machen, ist Vögel herumzuschieben, um ihre genetische Stärke zu erhalten.“ (Campbell-Hunt 2013, 76) Als konsequente und inhärent notwendige Fortentwicklung der island sanctuaries unter neuseeländischen Bedingungen sind daher auch stark kontrollierte Schutzgebiete auf den beiden großen Hauptinseln entstanden, und zwar insbesondere eingezäunte Gebiete, die als inland islands oder fenced sanctuaries bezeichnet werden. Zäune spielen in dem viehreichen Neuseeland schon seit dem 19. Jahrhundert eine große Rolle, sie stehen praktisch und symbolisch für die aneignende Landnahme, für die Kontrolle der Tiere und im öffentlichen Diskurs auch für die Mentalität der Neuseeländer*innen, die von diesen selbst nicht ohne Stolz als No. 8-wire-mentality charakterisiert wird: Die Fähigkeit mit einem einfachen, starken Draht allerlei Dinge zu reparieren, für sich selbst zu sorgen, autark, unkompliziert und innovativ zu sein – wenn auch nicht unbedingt filigran oder elegant.3 Drahtzäune waren ab den 1870er-Jahren die übliche Ein- und Abgrenzungsmethode in ganz Neuseeland, sie bestimmten die Landschaft und die Praktiken der Viehzucht, zumal in den offenen, waldarmen Teilen der Südinsel. Erst ein Jahrhundert später wurden Zäune auch vermehrt zu Zwecken des Artenschutzes genutzt, indem Populationen stark gefährdeter Tierarten beziehungsweise ihre Habitate in Teilen oder zur Gänze eingezäunt wurden. In den 1980er-Jahren entstanden entsprechende Anlagen etwa für bedrohte Schnecken und Käfer. In beiden Fällen waren es von den Siedler*innen eingeführte Nutztiere, die den bedrohten Arten zusetzten: Wildschweine, die die Schnecken fraßen, Kaninchen und Igel im Fall der Käfer (Burns et al. 2012, 67). Doch erst in den 1990er-Jahren wurden systematische empirische Tests zu der Frage durchgeführt, ob und mit welchen Elementen und Designs Zäune herzustellen sind, die gegen sehr viele Feinde bestimmter Tierarten Sicherheit gewähren, etwa gegen alle bekannten natürlichen Feinde der Kiwis unter den Wirbeltieren. Die potenziellen Feinde – Mäuse, Ratten, Wiesel, Kaninchen, Schweine und so weiter – mussten sämtlich bei diesen Experimenten kollaborieren, indem sie die verschiedenen Hindernisse zu überwinden versuchten, unter wechselndem Druck durch die beobachtenden Wissenschaftler- und Techniker*innen (Day und McGibbon 2007, 423). Materialien, Maschengröße, Auskragung der

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Siehe zur Bedeutung von Zäunen und Drähten in Neuseeland den Eintrag „Farm Fencing“ in der Te Ara Online-Enzyklopädie (https://teara.govt.nz)

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Bodenstruktur, Höhe des Zauns, Form und Breite des Überhangs nach außen am oberen Zaunrand, Wirkung elektrischer Elemente: Jede dieser Komponenten wurde in laborartigen Situationen mit zahllosen Tierarten und Individuen in mehreren Ländern vielfach untersucht, mit springenden Katzen, kletternden Frettchen und grabenden Ratten. Am Ende der fast zehnjährigen Versuchsreihe stand die Entwicklung des Xcluder® Kiwi Fence, der heute von der fast gleichnamigen Firma international vertrieben wird. Die Firma bezeichnet sich heute als Weltmarktführer für Zäune, um Tiere abzuhalten oder auszuschließen. Eines ihrer größten und bekanntesten Projekte ist der Maungatautari Sanctuary Mountain auf der Nordinsel nahe Hamilton gelegen, bei dem mit fast 48 Kilometern Zaunlänge etwa 3.400 Hektar Fläche geschützt werden (Abb. 1). In solchen Gebieten soll sich die endemische Fauna entwickeln und regenerieren – Voraussetzung dafür ist freilich, dass in diesen Gebieten die anderen, feindlichen Tiere nicht vorkommen, und dass sie auch nicht mehr dahin gelangen können. Abb. 1: Zaun und mehrfach gesicherte Eingangsschleuse am Nordeingang zum Maungatautari Sanctuary Mountain. (Foto: Michael Flitner)

U NSER F EIND ,

DAS

P OSSUM

Das Possum (Trichosurus vulpecula, auf deutsch zoologisch korrekt: der Fuchskusu) ist die bête noire Neuseelands, das am häufigsten negativ themati-

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sierte Tier. Es wird von vielen Neuseeländer*innen geradezu gehasst, vor allem als Schädling einheimischer Fauna und Flora. Die kleine Bestie gilt als „invasive Art“, als „eingewandert“, was oft betont wird. Entgegen seinem geläufigen Namen ist das Possum aber nicht mit dem amerikanischen Opossum verwandt, auch wenn es eine gewisse äußere Ähnlichkeit besitzt und beide Beuteltiere sind; es kommt vielmehr aus Australien, dem großen Nachbarland, das meist kritisch beäugt wird. Die Rede von Einwanderung und Invasion ist jedoch nicht nur ideologisch und moralisch aufgeladen, sondern bei genauer Betrachtung auch irreführend. Denn wie dutzende andere Tier- und Pflanzenarten sind die Possums ja gerade nicht eingewandert, vielmehr wurden sie im 19. Jahrhundert ganz gezielt von europäischen Siedler*innen eingeführt, individuell von Pelzjägern und Trappern, später organisiert von so genannten acclimatisation societies und Regierungsstellen. Diese nahmen absichtliche Freisetzungen vor, mit einem durchschlagenden Erfolg, dessen Nebenwirkungen sich erst Jahrzehnte später in ganzem Umfang zeigten. Heute sollen noch rund 30 Millionen Possums in Neuseeland leben, mehr Exemplare als von den wohl gelittenen, nicht minder eingeführten Schafen (Potts 2009, 1–2). In vieler Hinsicht ist das Possum ein glattes Gegenstück zum Kiwi und nimmt in seiner öffentlichen Bedeutung eine konträre Position zu diesem ein. Es ist nicht einheimisch, sondern fremd, es ist nicht selten, sondern allzu häufig, es ist nicht sensibel und standortgebunden, sondern renitent und ökologisch flexibel, modern gesprochen: äußerst resilient. Das Possum kann überall leben, wo es ein paar Bäume gibt, in Gärten und Wäldern, in Plantagen und sogar auf Dachböden. Und, negativer Höhepunkt: Das Possum frisst so gut wie alles, die Triebe seltener Bäume, endemische Schnecken, Käfer und Echsen, auch Kiwi-Eier und sogar junge Kiwis, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Zu allem Überfluss überträgt das Possum auch noch die Rindertuberkulose. Mit diesen Stichworten hat sich in Neuseeland ein öffentlicher Diskurs entwickelt, in dem die Possums als feige Feinde der einheimischen Natur dargestellt werden, die Krankheiten verbreiten, andere Tiere infizieren, in Lebensräume eindringen, angreifen und töten. Der Satz „Das einzige gute Possum ist ein totes Possum” ist denn auch sprichwörtlich in Neuseeland (Potts 2009, 1–3), und touristische Besucher*innen werden früher oder später mit dieser Haltung konfrontiert (Abb. 2). Eine Portion schwarzer Humor kann dabei sein, etwa in Werbespots, die jungen Autofahrer*innen nahelegen, Possums zu überfahren („It’s either us or the possums“), oder auf ländlich-derben Schulfesten, die jährlich eine Possumjagd veranstalten, manchmal ergänzt durch einen best dressed possum contest, bei dem Possumkadaver mehr oder weniger lustig verkleidet und die am besten befundenen sodann prämiert werden.

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Abb. 2: Possum-T-Shirt und andere Kiwiana in einem Touristenbüro. (Foto: Michael Flitner)

Wenn man die natürlichen Feinde der Kiwis betrachtet, so ist das Possum jedoch keineswegs das Tier, das die meisten Kiwis tötet und frisst. Die wichtigsten Räuber sind Hermeline (Mustela erminea) und Hauskatzen für junge Tiere, während adulte Kiwis vor allem von Frettchen (Mustela putorius furo) und wildernden Hunden zur Strecke gebracht werden (Parkes und Murphy 2003, 344; Blue und Blandon 2010, 112). Dessen ungeachtet sind die Possums der große und populäre Gegenspieler der Kiwis; in Kinderbüchern und Online-Spielen müssen Possums sterben, damit Kiwis leben können.

P OSSUMS S TERBEN M ACHEN Possums müssen sterben, sie müssen getötet werden, um Leben zu machen. Der Schutz für Kiwis und andere Arten in Schutzgebieten, auf den Inseln und erst recht auf den eingezäunten inland islands verspricht wenig Ergebnis, wenn nicht zugleich die Räuber und Schädlinge dieser Arten in diesen Gebieten dauerhaft niedergehalten werden. Mit dem etwas euphemistischen Fachbegriff: Prädatorenmanagement ist gefragt. Im Wesentlichen besteht dieses „Management“ aus

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den seit altersher üblichen Grundtechniken der Schädlingsbekämpfung, nämlich dem Fallenstellen, dem Jagen, und dem Vergiften. Diese Techniken sind jedoch wesentlich verfeinert und mit wissenschaftlichen Mitteln weiterentwickelt worden. Sie werden in Neuseeland heute meistens kombiniert; zudem werden sie territorial skaliert und in neue Maßstäbe übersetzt. Die übergeordneten Ziele der Tötungsoperationen können dabei variieren; es kann darum gehen, Populationen klein zu halten oder eine weitere Ausbreitung einzelner Arten zu verhindern. Wo es um die genannten Sanktuarien und Inland-Inseln geht, lautet das weitergehende, herausfordernde Ziel jedoch in aller Regel, bestimmte Arten in einem definierten Gebiet komplett auszurotten. Abb. 3: Von einem Naturschutzverein aufgestellte Falle, geschmückt mit der Bemalung durch ein Grundschulkind: „Kiwi sind geliebte Engel – Bring die Ratten um.“ (Foto: Mara Ort)

Das Fallenstellen, erstens, ist weit verbreitet und die Herstellung, Verteilung und vor allem die Leerung von Fallen wird von einer großen Zahl von Privatleuten und Freiwilligen in weiten Teilen des Landes bewerkstelligt. Die Fallen selbst sind auf alle erdenklichen Weisen erprobt und verändert worden; die Naturschutzbehörde bietet selbst verschiedene Typen und Bausätze an, von denen etwas der Typus DOC 250 „auf humane Weise vier schädliche Prädatoren umbringt – Frettchen, Hermeline, Ratten und Igel“, wie es auf der zugehörigen Website heißt (http://www.predatortraps.com, Hervorhebung im Original Fett-

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druck). Freilich sind auch die bodenlebenden Kiwi durch die Fallen gefährdet, wenn diese eine gewisse Größe haben; auf Possums spezialisierte Fallen werden daher bevorzugt an Bäumen angebracht, etwa die konventionellen SchnappModelle Master Kill und Sentinel Possum Kill Trap. Eine neue Generation von selbständig nachladenden Fallen stellt die Firma mit dem programmatischen Namen Goodnature her. Das auf Possums zugeschnittene Modell (A12) wird direkt an den Baumstamm montiert und funktioniert wie ein Bolzenschussgerät, welches das getötete Tier wieder freigibt, so dass es zu Boden fällt. Über eine Gaspatrone lädt die Falle automatisch nach, so dass maximal bis zu 12 Tiere nacheinander getötet werden können, ohne dass die Falle geleert werden muss. Lässt sich mit dieser Falle auch der notwendige Kontakt zu den getöteten Tieren in seiner Frequenz reduzieren, so bietet die Herstellerfirma mit ihrer Goodnature App zugleich die Möglichkeit der „konstanten Kontrolle“ mit dem Smartphone, auf dem sich Anzahl und Standort der Tötungen abrufen lassen, Daten zur Gasversorgung, Möglichkeiten der Nachbestellung von Gas und Köderpaste sowie fachliche Ratschläge von Expert*innen. Außerdem wird der Austausch mit Nachbar*innen und Gleichgesinnten durch die Präsenz in sozialen Netzwerken befördert.4 Diese und andere Fallen sind nach wissenschaftlich-technischen Standards getestet, soll heißen: in Labor- und Freilandversuchen mit statistischer Auswertung und in Einklang mit den einschlägigen ISO-Richtlinien über die akzeptable, „humane“ Tötung von Säugetieren. Zudem ist auch ein beträchtliches Wissen erzeugt worden, wie diese Fallen am effektivsten zu platzieren sind, an welchen Standorten, in welchen Dichten und Abständen; entsprechende Informationen werden auf Workshops und in „Foren für Biodiversität“ ausgetauscht, die von der Naturschutzbehörde DOC veranstaltet werden (Butler, Lindsay und Hunt 2014, 371). Auch die Jagd auf Possums, zweitens, ist weit verbreitet und in manchen Gegenden eine Art Volkssport, oft auch als Nebenprodukt von Freizeitjäger*innen, die größeres Wild jagen, etwa Wildschweine. Die Jagd spielt jedoch auch eine Rolle bei den systematischen Operationen zur Ausrottung von Possums in bestimmten Gebieten, wie den Naturschutzinseln vor der Küste. Ein instruktiv beschriebener Fall, bei dem die Jagd großflächigem Fallenstellen folgte, ist die bereits erwähnte Insel Kāpiti, welche der großen Nordinsel im Südwesten vorgelagert ist. Sherley (1992) berichtet von der umfassenden Operation zur

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Siehe den Internetauftritt der Firma unter https://www.goodnature.co.nz/ (zuletzt am 05. April 2018). Dort finden sich auch das Zitat, zahlreiche Faltblätter, „eine großartige Reihe von Videos“ sowie Hinweise auf die Präsenz in sozialen Netzwerken.

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Ausrottung der über 20.000 Possums auf der Insel in den Jahren 1980–1986: Schon seit der formellen Einrichtung des Schutzgebietes im Jahr 1912 waren die Possums immer wieder bekämpft worden. Anfang der 1980er-Jahre wurden sieben kommerzielle Fallensteller auf die knapp zwanzig Quadratkilometer große Insel gebracht, die hier zwei Jahre mit jeweils bis zu 120 Fallen arbeiteten. Dabei war bei der Positionierung der Fallen besonders zu beachten, dass weder die Kleinen Fleckenkiwis, noch die gleichfalls seltenen, flugunfähigen Wekarallen (Gallirallus australis) zu Schaden kämen. Die Fallen wurden auf einem extra geschaffenen Netz von Pfaden in regelmäßigem Muster angeordnet, so dass in jede Richtung maximal ein Umkreis von 50 Metern ohne Fallen entstand. Allerdings hielten sich nicht alle Trapper an diese Vorgaben und experimentierten in einer Art und Weise, die „fallenscheue“ Tiere erzeugte, was die weitere Arbeit generell erschwerte. Einer der Fallensteller ließ sogar junge Tiere wieder laufen, weil ihre Felle noch zu wenig wert waren. Ungeachtet dieser Mängel wurden in der genannten Periode mehr als 15.000 Possums gefangen und getötet (Sherley 1992, 6–8). Nach zwei Jahren kommerzieller Fallenstellerei wurde ein genauer Plan erarbeitet, um die verbliebenen Possums vollends auszurotten. Ein wissenschaftlicher Beirat wurde gegründet, ein Gutachten geschrieben. Anschließend wurde das Terrain gemäß dem Plan bearbeitet, durchaus systematisch, jedoch zugleich mit experimentellen Komponenten, die dauernde Korrekturen forderten. Zunächst wurde das systematische Netz an schmalen Wegen etwa verdoppelt, so dass eine Wegstrecke von fast 800 Kilometer Länge entstand, an der weitere Fallen nach den gewonnenen Erkenntnissen aufgebaut wurden. Nach dieser Infrastrukturierung der gesamten Insel begann nun auch die Jagd mithilfe von Hunden. „Hunde sind das einzige zuverlässige Mittel, die An- und Abwesenheit von Possums bei niederen Dichten festzustellen“, schreibt Sherley (1992, 30), – hier dienten sie nicht nur dem Aufspüren, sondern in den meisten Fällen auch dem Töten der Possums. Jagdwaffen wurden zwar immer mitgeführt, jedoch nur gelegentlich eingesetzt. Während der Jagd auf Kāpiti arbeiteten – manchmal tags, häufiger nachts – mehrere Mann-Hund-Teams, anfangs meist mit einem Hund, später mit zweien, was sich als effizienter erwies. Normalerweise wurde ein Planungs-Block von etwa 45 Hektar eine Woche lang intensiv bejagt. Eine der größten Herausforderungen in dem Projekt bestand in der Abrichtung der Hunde. Zentrale Aufgabe war es, eine komplette Fixierung auf die Possums zu erreichen und alle anderen Tiere von Angriffen freizuhalten. Es stellte sich im Laufe der Jahre heraus, dass eine Vermeidung von Vögeln – hier vor allem der Kiwis – am besten Hunderassen wie dem Labrador beigebracht werden konnte, der eigentlich gerade ein

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Hund für die Vogeljagd ist und vielleicht deshalb schon recht stabil „weiß“, was ein Vogel ist. Die Hunde mussten jeweils zwei bis drei Monate an einem anderen Ort trainiert werden und wurden dorthin auch später gelegentlich gebracht, um das Gelernte aufzufrischen, und auch um heiß gemacht zu werden, als die Zahl der Possums auf Kāpiti immer weiter abnahm (Sherley 1992, 18–22). Die zweite Phase dieser Operation dauerte fast zwei Jahre und beanspruchte ein mehr-als-menschliches Arbeitsvermögen von sieben Mann-Hund-Jahren. Aufwand und Kosten wuchsen umgekehrt proportional zur Zahl der erlegten Possums. Wo die kommerziellen Fallensteller in zwei Jahren noch 15.000 Possums erlegt hatten, erreichten das Ausrottungsteam in seiner letzten Kampagne mit dem zehnfachen Aufwand nur noch 48 Tiere. Entsprechend kamen auch die größten Ausgaben in dem Projekt zum Schluss: „Die Beseitigung der letzten 80 Possums auf Kāpiti kostete etwa 300.000 Dollar“ (Sherley 1992, 29). Seit dem Frühjahr 1987 gelten die Possums auf Kāpiti als ausgerottet. Die dritte große Technik des Sterben-Machens neben dem Fallenstellen und Jagen ist das Vergiften. Auf Kāpiti spielte dies nur eine nachgeordnete Rolle. National jedoch ist die Bedeutung des Gifteinsatzes in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen und dabei zum kontroversesten Thema in der Bekämpfung von Säugetieren in Neuseeland geworden (Parliamentary Commissioner for the Environment, 2011). Der Gifteinsatz ist zentral, weil er die Kosten für die Ausrottung und erst recht für die Niederhaltung bestimmter Arten extrem senken kann und weil er sich – unabhängig von den Kosten – auch technisch in große und sehr große Maßstäbe übersetzen lässt. Derzeit sind in Neuseeland 15 Giftstoffe für die Bekämpfung von Säugetieren zugelassen; in der Praxis und im öffentlichen Diskurs hat jedoch vor allem eine Substanz große Bedeutung, Natriumfluoracetat, das hier nur unter dem Handelsnamen „1080“ (sprich: ten-eighty) bekannt ist.5 1080 ist ein extrem giftiger Stoff, schon die Einnahme von wenigen Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht führt bei den meisten Tieren und auch beim Menschen zum Tod. Herzstillstand, Krämpfe, Blutungen und Erbrechen wurden als Giftwirkungen bei vielen Tieren beobachtet, die weithin als Indikatoren für tierisches Leiden gewertet werden. Der Bericht der Parlamentsbeauftragten aus dem Jahr 2011, der den Einsatz des Stoffes insgesamt rechtfertigt, be-

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Natriumfluoracetat wurde bereits 1930 von der deutschen I.G. Farbenindustrie als Mittel gegen Mottenfraß patentiert (RPA Nr. 504886) und bald auch gegen Nagetiere eingesetzt; als „1080“, nach einer Chargennummer benannt, wird das Mittel nach dem 2. Weltkrieg unter amerikanischem Patentschutz von der Monsanto Company hergestellt (Hüter 1950, 49).

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zeichnet die Tötungsweise mit 1080 denn auch als nur „maßvoll human“, die Substanz sei immerhin nicht das „am meisten inhumane Gift“ zur Schädlingsbekämpfung (PCE 2011, 52–53). Abb. 4: Warnschild mit Hinweis auf verschiedene Giftköder am Haupteingang zum Maungatautari Sanctuary Mountain. (Foto: Michael Flitner)

Ein weiterer Kritikpunkt an der Ausbringung des Gifts sind die Wirkungen auf Nicht-Ziel-Organismen, insbesondere Hunde, Fische und auch Vögel. Diese Wirkungen lassen sich eingrenzen, wenn das Gift nur an genau bestimmten Punkten ausgebracht wird. In den letzten zwei Jahrzehnten sind jedoch vielfach flächige Ausbringungen vorgenommen worden, meist durch luftgestützte Operationen, bei denen präparierte Pellets über große Gebiete ausgebracht werden. Vorerfahrungen mit der Ausbringung von Giftködern aus der Luft gab es schon in den 1950er-Jahren, doch erst seit den 1990ern kann dank spezieller Dosieranlagen und genauer GPS-Steuerung vom Hubschrauber aus eine sehr gleichmäßige Bestreuung der Landschaft mit den Giftködern erreicht werden. Bei optimaler Vorbereitung (vor allem einer Anfütterung vor der eigentlichen Giftaktion) werden mit diesem Verfahren sehr hohe Tötungsraten erzielt, die mehrere der als Schädlinge definierten Tierarten zugleich reduzieren, vor allem bei Nagetieren (Ratten und Mäuse bis zu 100 Prozent), nicht ganz so zuverlässig bei Possums und den genannten Marderarten.

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Die Kosten für solche Operationen sind ungleich niedriger als für das Jagen und Fallenstellen; Parkes et al. (2017, 157) schätzen den finanziellen Bedarf für eine flächige „Prädatorenkontrolle“ mit diesem Verfahren auf nur etwa 12 Euro pro Hektar. Allerdings kann damit keine Ausrottung erzielt werden, und eine Wiederbesiedelung geht gerade bei Mäusen und Ratten sehr schnell vonstatten. Auch sind die ökologischen Beziehungen in den Nahrungsketten schwer zu kontrollieren – die vermehrte „Kontrolle“ von Possums führt zum Anwachsen der Ratten, die Bekämpfung von Ratten zu einer höheren Zahl von Mäusen (Parkes et al. 2017, 157). Zudem stößt die Ausbringung starker Gifte aus der Luft auf verschiedenste soziale Bedenken: sie wird tierethisch oft als besonders bedenklich eingestuft; sie stört die Jäger*innen mit ihren Hunden; sie hat unerwünschte Folgen auch für seltene Vogelarten; zudem gibt es Befürchtungen, sie könnte Tourist*innen vergraulen, die auf ihren Wanderungen mit entsprechenden Warnschildern konfrontiert werden (Abb. 4). In einem Land, in dem die Bekämpfung von „Schädlingen“ ansonsten sehr hohe Zustimmung und vielfältige praktische Unterstützung von Freiwilligen erfährt (vgl. Gesing 2016, Kap. 9), bleibt der großflächige Einsatz von Gift einstweilen umstritten und hat wiederholt zu Protesten, Demonstrationen und künstlerischen Interventionen geführt (Abb. 5). Abb. 5: „1080“ von Angela Singer (2006–2007). Aufgearbeitetes präpariertes Possum, gemischte Materialien (550 x 260 x 180 mm). Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. (Foto: Angela Singer)

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„Wir sind gut darin, die Dinger umzubringen“, wird die Naturschutzministerin des Landes, Maggie Barry, 2017 in der Zeitschrift Nature zitiert, „aber wir brauchen wissenschaftliche Durchbrüche um ins Ziel zu kommen“ (Owens 2017, 149). Das Ziel, dem sich die neuseeländische Regierung im Jahr 2016 verschrieben hat, lautet, die „invasiven Prädatoren“ in Neuseeland bis zum Jahr 2050 auszurotten; ausdrücklich genannt werden die Ratten, die Hermeline und die Possums. Das Logo der Kampagne ziert ein Kiwi, der stolz auf einer erlegten Ratte thront.6 Die konträren Positionen von Kiwi und Possum, von Tieren, die leben sollen und Tieren, die dafür sterben müssen, werden heute in einer Reihe von Praktiken zur Geltung gebracht, die neue NaturenKulturen erzeugen, welche ironischerweise als „reine Natur“ vorgestellt und vermarktet werden. Wie schon gezeigt, ist eine vielfältige Zusammenarbeit in heterogenen Kollektiven notwendig, um diese neuen Welten hervorzubringen: mechanische und planerische Infrastrukturierungen des Territoriums, der Einsatz von natürlich-technischen Hybriden in Gestalt von Baumfallen und organischen Lockmitteln, alte und neue, tierische, pflanzliche und menschliche Bewohner*innen, die mit großem Aufwand versammelt, experimentell arrangiert und rearrangiert werden, um bestimmte Tiere leben zu machen und andere umzubringen. Öffentliche Investitionen und wissenschaftliche Erkenntnisse werden mobilisiert, Dinge und Hunde, und vor allem viele freiwillige Helfer*innen. „Wir sind in einer ziemlich einzigartigen Position hier in Neuseeland, wo die Leute wirklich, wirklich bereit sind, für den Naturschutz zu töten“, so der Biologe James Russell von der Auckland University, und er fügt hinzu: „Das ist eine Art nationaler Zeitvertreib.“ (Owens 2017, 150) Wie aber geht das zusammen, wie entsteht dieses soziale Gebräu, in dem sich das Aufpäppeln kleiner Kiwis mit dem seriellen Töten von Säugetieren zu einem „Zeitvertreib“ verbindet? Wie kann aus jener angenehmen Langeweile, die sich an sonnigen Nachmittagen noch in den belebteren neuseeländischen Städtchen breit macht, ein nationaler Ausrottungsplan werden, ein wahrhaft existenzieller Ennui, der nicht nur vernichten, sondern Welten erschaffen will, gewissermaßen: ein ontopolitischer Impuls?

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Siehe die Selbstdarstellung der Initiative Predator Free NZ 2050 in dem zugehörigen Internetauftritt unter https://predatorfreenz.org/about-us/pf-2050/. Dort finden sich auch Auskünfte und Filme zur Entstehung der Initiative.

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Bausteine für eine Antwort auf diese Frage lassen sich finden, wenn wir die neuseeländische Tierwelt nach den Regeln der semiotischen Bedeutungsanalyse 7 noch weiter explorieren. In der bisher betrachteten konträren Relation stehen sich Kiwi und Possum – beziehungsweise die zugehörigen normativen Appelle – gegenüber; sie schließen sich aber nicht aus. Vielmehr lassen sich die einen auch ein wenig fördern (Bruthilfe für die Kiwis) oder die anderen nur eine wenig niederhalten (gelegentliche Giftkampagnen gegen die Possums). Dieses konträre Bild lässt sich durch die kontradiktorischen Positionen ergänzen. Dem Kiwi, der leben muss, stehen dann die Tiere gegenüber, die nicht leben müssen, die hier leben dürfen, zeitweise vielleicht auch hier leben sollen, aber auch getötet werden können: Das sind die landwirtschaftlichen Nutztiere, die für Neuseeland so bedeutsam sind, die Millionen von Schafen, die in diesem Land leben, bis sie zur Schlachtbank trotten, und auch die Kühe, die vor allem ihrer Milch wegen gehalten werden und deren Zahl in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen ist. Diese Tiere spielen im öffentlichen Diskurs als Gegner der Kiwis kaum eine Rolle, obwohl sie doch wesentliche Agenten des Landnutzungswandels sind. Schafe und Kühe hatten und haben in Neuseeland entscheidenden Einfluss auf das Verschwinden geeigneter Habitate für Kiwis und andere endemische Tiere, doch sind sie sakrosankt als Sinnbild einer „grünen“ Agroindustrie. Auf der anderen Seite: Dem Possum, das sterben muss, stehen die Tiere gegenüber, die nicht sterben dürfen, und früher schon nicht hätten sterben dürfen. Auch da wird man schnell fündig in Neuseeland: dies sind die aussterbenden und bereits ausgestorbenen Tierarten, vor allem die zahlreichen Vögel, die im 19. und 20. Jahrhundert ausgerottet wurden, etwa die Neuseelanddrosseln (Turnagra capensis und T. tanagra, zuletzt gesichtet in den 1960er-Jahren), der Waldschlüpfer (Xenicus longipes, zuletzt in den 1970ern), der einst auch auf Kāpiti lebte, oder die Süd-Insel-Lappenkrähe (Callaeas cinerea, zuletzt 2013). Die berühmtesten Tiere, die ausgestorben sind und bis heute die Gemüter bewegen, sind die Moas (Dinornithiformes), zum Teil sehr große, straußenähnliche Vögel, die nach heutiger Kenntnis wohl schon im 14. Jahrhundert von den frühen polynesischen Siedler*innen ausgerottet worden sind. Diese Ausrottung wird im kollektiven Gedächtnis der Nation vielfach wachgehalten, durch ihre Präsentation in Museen und naturschutzpädagogischen Einrichtungen, durch zahlreiche Moa-

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Ich folge hier dem semiotischen Viereck nach A. J. Greimas; eine Darstellung dieser und verwandter Varianten der Bedeutungsanalyse findet sich bei Ohno (1995).

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Skulpturen in den Ortschaften und neuerdings auch durch virtuelle Neuschöpfungen.8 Die erweiterte Rekonstruktion des normativen, neuseeländischen Tieruniversums fördert somit eine interessante zweite Ebene zutage, nämlich die Genese der heutigen gesellschaftlichen Naturverhältnisse in der Siedlerkolonie. In den letzten Jahren sind einige Arbeiten entstanden, die die kolonialen und postkolonialen Dimensionen der neuseeländischen Umweltgeschichte herausarbeiten. 9 So hat jüngst Anna Boswell (2017) die Versuche zur Ausrottung bestimmter Schädlinge (hier: der Hermeline) mit den inneren Widersprüchen der Siedlerkolonie in Verbindung gebracht. Dabei spielt die Idee des Sanktuariums, des heiligen oder geweihten Schutzraums, eine zentrale Rolle. Ein solcher Raum, ein sanctuary state habe den europäischen Neusiedler*innen in Neuseeland (und anderen Siedlerkolonien) insgesamt vorgeschwebt, und sie haben sich solche Räume dann auch erschaffen, zunächst inselartig, mit ihren eigenen, heimischen Tieren und Pflanzen (Boswell 2017, 117–118). Gerade die Tatsache, dass Neuseeland – das Neuseeland der europäischen Siedler*innen – als ein Sanktuariums-Staat nationale Form angenommen hat, kann demnach erklären, wie sehr die „Arbeit des Sanktuariums“, das Schaffen von Schutzinseln, Teil der nationalen Identität werden konnte. Die Skalierung von Schutzinseln bis auf die nationale Ebene, die Forderung und die Praktiken eines Predator Free New Zealand sind aus dieser Perspektive nur konsequent, auch und gerade in räumlicher Hinsicht. Die postkoloniale Kondition impliziert in Neuseeland (wie in anderen Siedlerkolonien) zweierlei: Erstens bringt sie extrem veränderte gesellschaftliche Naturverhältnisse mit sich. Neuseeland gilt, nur scheinbar paradoxerweise, als „eines der am meisten biologisch transformierten Länder der Erde“ (Pryde und Cocklin 1998, zitiert nach Blue und Blandon 2010, 107). Die politische Ökonomie der Siedler war und ist mit dieser radikalen Transformation des Landes eng verknüpft; Schafe, und in den letzten Jahrzehnten Kühe sind, wie schon gesagt, die wichtigsten Faktoren landschaftlicher und ökologischer Veränderung. Es passt hierzu, dass der größte finanzielle Beitrag zur Bekämpfung der Possums seit den 1990er-Jahren nicht etwa von der Naturschutzbehörde kam, sondern vom Animal Health Board, das

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Siehe besonders die virtuellen Moas, die das Otorohanga Kiwi House präsentiert hat (https://www.kickstarter.com/projects/themoaisagoer/we-are-bringing-the-moas-backnzs-1st-virtual-bird?lang=de).

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Siehe stellvertetend, mit unterschiedlichen theoretischen Bezügen und Positionierungen, die Beiträge in Pawson und Brooking (2014). Mit Bezug zu Tieren auch die anregenden Beiträge in Potts, Armstrong und Brown (2013).

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die Possums nicht als Feinde der Kiwis vernichten will, sondern als Überträger der Rindertuberkulose (Cowan 2010, 21; 23). Zugleich sind es die Weidetiere und die mit ihnen verbundene, großflächige Landnutzungsänderung, die die „Invasibilität“ des Territoriums erst herstellen (vgl. Robbins 2004). Zweitens bringt es die Logik der Siedlerkolonie mit sich, dass die Suche nach einem „Platz für Tiere“ nicht exterritorialisiert werden kann, wenn wir Boswell folgen, und zwar weder praktisch noch konzeptionell. Die island sanctuaries und die inland islands sind experimentelle Räume, in denen Leben und Tod im Kleinen gemacht werden können. Im Großen gibt es aber weder polnische Sümpfe noch afrikanische Savannen, an die Wildnis adressiert werden könnte. 10 Die Kolonie, die Sanktuarium ist schon mit der Ankunft, muss ganz Sanktuarium werden. Abb. 6: Moa-Jagd: Diorama im Canterbury Museum Christchurch. (Foto: Michael Flitner)

Es liegt in der historischen Logik der Sanktuarien, dass sie einem bereits besiedelten Land Ansprüche anderer Bewohner*innen grundlegend verneinen. Das gilt dann auch für die Reservate (vgl. Flitner 2012), in denen verdrängte Tiere überleben sollen: Schon aus dem ersten Schutzgebiet Resolution Island wurden

10 Zum Erfolg des entsprechenden bundesdeutschen Diskurses in den 1950er- und 1960er-Jahren siehe Flitner (2000).

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Māori vertrieben; und die frühen Vogelschutzmaßnahmen kollidierten direkt mit deren Jagdpraktiken (Star und Lochhead 2013, 155). Der Legitimationsbedarf, der sich aus den heute unleugbaren – und anhaltenden – Zerstörungen der Siedlergesellschaft ergibt, findet zugleich seine vielleicht wichtigste mythische Ressource in der Ausrottung der Moas durch die Māori (Abb. 6). Die moralische Ökonomie unseres tierisch-menschlichen Beziehungsgefüges lässt sich entsprechend in den Beziehungen abbilden, die sich aus dem Verhältnis der latenten, kontradiktorischen Elemente zu den beiden Protagonisten ergeben, die im Diskurs ganz dominant sind.11 Der Kiwi wird dabei als eine neue Verkörperung des Moa deutbar, für dessen Aussterben die Māori verantwortlich sind. Dem Kiwi – dem Symboltier der modernen Nation – soll und darf dies nicht passieren. Das Possum auf der anderen Seite zeigt sich nun als schädlicher Verwandter der Schafe, nicht nur als schwarzes Schaf, sondern als ein irrtümlich und schuldhaft eingeführtes Un-Tier. Die Härte, und der kollektive Furor, mit dem das Possum in Neuseeland verfolgt wird, würden demnach verständlich als Ausdruck der schuldhaften Verstrickung der neuseeländischen Siedlergesellschaft in die schwierigen, postkolonialen, sozio-natürlichen Verhältnisse. Aus dieser Verstrickung resultiert der unbedingte Wille, die Verwerfungen zum Guten zu zwingen, am Possum die eigenen Fehler zu rächen und zugleich in der aktuellen, postkolonialen Situation zu zeigen, wer die Herr*innen einer neu intakten, bikulturellen nationalen Natur sind. Oder besser: einer neuseeländischen NaturenKultur. Die Forschung zu diesem Beitrag wurde durch die DFG im Rahmen des internationalen Graduiertenkollegs INTERCOAST (Integrated Coastal Zone and ShelfSea Research) unterstützt.

L ITERATUR Boswell, Anna. 2017. „Settler Sanctuaries and the Stoat-Free State“. Animal Studies Journal 6 (2): 109–36. Blue, Lyndsay und Greg Blunden. 2010. „(Re)Making Space for Kiwi: Beyond ‚Fortress Conservation‘ in Northland”. New Zealand Geographer 66 (2): 105–23.

11 Im semiotischen Viereck werden diese als „komplementäre Beziehungen“ oder „Implikationen“ bezeichnet (–s2/s1 und –s1/s2, siehe Ohno 1995).

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Dünen schützen (für) Neuseeland Weicher Küstenschutz als naturkulturelle Praxis F RIEDERIKE G ESING

E INLEITUNG : ARBEITEN MIT DER N ATUR STATT K AMPF MIT DEN E LEMENTEN Das Verhältnis zwischen Natur und Kultur wird an der Nordseeküste vorrangig als eine Geschichte des Kampfes der Menschen gegen das Meer erzählt, der symbolische und materielle Dimensionen verbindet. Das wortwörtliche Eindämmen der von Sturmfluten ausgehenden Gefahren und die Verteidigung des dem Meer abgewonnenen Landes haben hier eine lange Tradition. Küstenschutz ist ein allgegenwärtiger Inbegriff dieses fortwährenden Kampfes gegen eine als übermächtig und bedrohlich erfahrene Natur. Maßnahmen wie der Bau von Seedeichen oder Ufermauern sind dabei ein dauerhafter, materieller Ausdruck gesellschaftlicher Naturverhältnisse (Görg 1999), die einer langfristigen Stabilisierung der Küsten hohe Priorität einräumen. Das unbedingte Trennen von Land und Meer, von Menschen und Natur ist jedoch nur eine mögliche Erzählung und Praxis. Im pazifischen Kontext hat der Anthropologe Epeli Hau’ofa (1994) den Begriff der „sea of islands“ als alternatives Bild für einen Ozean der Verbindungen zwischen seefahrenden (indigenen) Gemeinschaften geprägt. Doch auch in Ozeanien wurden und werden besiedelte Küsten vor Erosion und Überflutung geschützt, wenn auch historisch weniger systematisch, staatlich reguliert und finanziell unterstützt als in der Nordseeregion. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich jedoch im Küstenschutz weltweit ein bemerkenswerter Trend zu „weicheren und weniger auffälligen Strukturen“ entwickelt (Sorensen 2006, 5). Das US Army Corps of Engineers, deren Coastal Engineering Manual ein international anerkanntes Referenzwerk ist, beobachtet gar einen „Übergang von harten zu weichen Alternativen des Küstenschutzes“

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(US Army Corps of Engineers 2008, V-3-91)1. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen vom Scheitern traditioneller Ansätze und steigenden Kosten unter den Bedingungen des Klimawandels bis hin zu ästhetischen Erwägungen. Innerhalb des Küstenmanagements, aber auch im öffentlichen Diskurs wird diese Entwicklung übersetzt in die Forderung, künftig solle im Küstenschutz mehr „mit der Natur“ gearbeitet werden (Cooper und McKenna 2008b; Defra 2005; Eurosion 2004; Inman 2010). „Wir haben lernen müssen, mit der Natur zu planen, nicht gegen sie“, äußert sich etwa Helge Jansen, Vorsitzender der Stiftung Küstenschutz auf Sylt in der Wochenzeitschrift Der Spiegel (Bojanowski und Martin 2016). Auf den deutschen Nordseeinseln wird bereits seit einigen Jahren mit Sandvorspülungen gearbeitet, bei denen in regelmäßigen Intervallen neuer Sand an der Küste aufgebracht wird.2 Auch in Aotearoa Neuseeland3 geraten „harte“ Küstenschutzbauwerke an öffentlichen Stränden zunehmend in die Kritik. Die Förderung alternativer Maßnahmen, besonders die Wiederherstellung der durch Umweltwandel teils stark beeinträchtigten Dünen, ist auch hier politisch gewollt. Dieser Beitrag greift die gegenwärtige, weltweite Konjunktur des weichen Küstenschutzes auf und situiert sie anhand konkreter empirischer Beispiele im neuseeländischen Kontext. Das dazu verwendete Material ist das Ergebnis einer längerfristigen, multilokalen ethnografischen Forschung, die ich in den Jahren 2010-2011 und 2015 auf der Nordinsel von Aotearoa Neuseeland durchgeführt habe.4 Insbesondere stütze ich mich auf die empirische Beobachtung von Projek-

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Hier und im weiteren Text wurden alle Zitate aus der englischsprachigen Literatur von der Autorin ins Deutsche übersetzt. Dies betrifft auch die in englischer Sprache geführten Interviews.

2

In den Niederlanden, die als Vorreiter eines solchen „weichen“ Küstenschutzes gelten, wurden derartige Vorspülungen in bislang einzigartigem Ausmaß angelegt. Eine künstliche Halbinsel aus Sand soll durch die natürlichen Strömungen über mehrere Jahre an die Küste getragen werden und dort Erosion ausgleichen – der sogenannte Delflander „Sandmotor“.

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Aotearoa ist die Bezeichnung für Neuseeland in der neben Englisch offiziellen Landessprache Te Reo Māori. Die hier von mir verwendete Schreibweise „Aotearoa Neuseeland“ nimmt die in Neuseeland zunehmend übliche Form „Aotearoa New Zealand“ (gelegentlich auch mit Schrägstrich oder Bindestrich) auf.

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Insgesamt habe ich 16 Monate Feldforschung durchgeführt (Februar-April 2010, Oktober 2010-November 2011, sowie Februar-April 2015). Das Forschungsprojekt wurde im Rahmen des internationalen interdisziplinären DFG-Graduiertenkollegs INTERCOAST (Integrated Coastal Zone and Shelf-Sea Research) verwirklicht.

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ten sogenannter Care-Gruppen (Coast Care und Beachcare), die ehrenamtlich im Bereich der Dünenrenaturierung arbeiten. Der Schwerpunkt liegt auf der Region Bay of Plenty, wo das erste solcher Programme als „Teil eines neuen Paradigmas des Küstenmanagements, das sich darauf konzentriert, mit natürlichen Prozessen zu arbeiten, nicht gegen sie“ entwickelt wurde (Jenks o.D.). Die soziomateriellen Praktiken alternativer Küstenschutzmaßnahmen und -politiken sind ein vielversprechender Forschungsgegenstand für eine neue politische Ökologie der Küste, die herausarbeitet, wie hier menschliche und mehrals-menschliche Akteure zusammen, mit- und gegeneinander arbeiten. Eine kulturwissenschaftliche Küstenforschung, die sich allein auf menschliche Wahrnehmungen und Bedeutungskonstruktionen beschränkt, würde hier zu kurz greifen. Der NaturenKulturen-Fokus liegt vielmehr auf den relationalen Praktiken der Assemblage unterschiedlicher Akteure. Diese sind weder alle nur menschlicher Natur, noch bleiben die menschlichen Praktiken alleine auf Wissen und Repräsentation beschränkt (Hinchliffe 2007). Im Versuch, sich diesem Anspruch empirisch anzunähern, untersucht der Beitrag in der Beobachtung weicher Küstenschutzpraktiken in Aotearoa Neuseeland das Zusammenwirken von menschlichen und mehr-als-menschlichen Praktiken, Verbindungen und Forcierungen. Damit einher geht die Erkenntnis, dass eine strikte – auch disziplinäre – Trennung zwischen natürlichen Prozessen und menschlichen Einflüssen auf die Küste den komplexen Zusammenhängen nicht gerecht wird, in denen Küsten-Naturen Kulturen entstehen, und denen die Entwicklung gerechter und tragfähiger Küstenschutzpraxen Rechenschaft tragen muss.

K ÜSTENSCHUTZ : E INE

PRAKTISCHE

N ATURPOLITIK

Küstenschutz ist keine rein technologische oder technokratische Angelegenheit. Es handelt sich vielmehr um eine praktische Naturpolitik, die weitreichende politische und normative Fragen eröffnet: Was soll geschützt werden, warum, und mit welchen Methoden? Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse der Küste geraten durch den Aufschwung „weicher“ Ansätze potenziell in Bewegung. Die aufgeworfenen Fragen werden noch deutlich komplexer, analysiert man die Küste als einen Schauplatz intensiver Aktivitäten und Austauschbeziehungen menschlicher und mehr-als-menschlicher Akteure und Objekte. Vor diesem Hintergrund wirft die Untersuchung der Praktiken des „Arbeitens mit der Natur“ die noch grundsätzlichere Frage auf, wie die Natur, mit der gearbeitet werden soll, hier eigentlich gedacht und gemacht wird. Aktuelle Debatten über Meeresspiegelanstieg und extreme Wetterereignisse haben den öffentlichen Blick für Gegenwart

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und Zukunft des Küstenschutzes deutlich geschärft. Zunehmend rückt dessen politischer Charakter in den Blick, da Entscheidungen über konkrete Küstenschutzmaßnahmen mit hohen ökonomischen, ökologischen und sozialen Kosten für gegenwärtige und künftige Generationen verbunden sein können (Cooper und McKenna 2008a). So hat etwa die Versiegelung der Küsten Auswirkungen auf die verfügbaren Sandmengen, was sich durch verstärkte Erosion jenseits der baulich geschützten Stellen bemerkbar machen kann. Durch harte Deiche und Deckwerke wird zwar das Land gesichert, die davor gelegenen Sandstrände erodieren jedoch weiter (Dean und Dalrymple 2004) – ein Problem, dass in Aotearoa Neuseeland besondere Besorgnis auslöst (Jacobson 2005). Nicht zuletzt beeinträchtigen solche Bauwerke das ästhetische Erleben der Küstenlandschaft. Die Küstenwissenschaftler Cooper und McKenna haben zahlreiche Ansätze für das „Arbeiten mit natürlichen Prozessen“ unter die Lupe genommen und entlang eines Kontinuums zwischen einer „engineering perspective“ und einer „ecosystem perspective“ angeordnet (Cooper und McKenna 2008b, 318). Die Verfasser kommen jedoch zum Schluss, dass ein wirklich ökosystemarer Ansatz nur dort gegeben ist, wo den natürlichen Prozessen von Erosion und Anlagerung ausreichend Raum zugestanden wird. Dagegen stehen Küstenschutztechniken – harte wie weiche – im Gegensatz zum „spirit of working with natural processes“, so das Fazit (ebd., 330). Nun könnte man argumentieren, dass diese Einschätzung auf einer Vorstellung von Natur als einem Bereich außerhalb des Sozialen basiert, den es entsprechend vor menschlicher Intervention zu schützen gilt. Castree (2001) unterscheidet drei gängige Verständnisse von Natur: Die „intrinsische“ Natur, die den essentiellen Charakter der Dinge und Menschen beschreibt, die „universelle Natur“ als Gesamtheit alles Lebendigen einschließlich des Menschen, sowie die „externe“ Natur als der Bereich außerhalb menschlicher Kultur und Gesellschaft (Castree 2001; siehe auch Gregory et al. 2009). Dieses dritte Verständnis von Natur scheint hier aufgerufen, wenn der Mensch „mit der Natur“ arbeiten soll – und nicht „gegen sie“. Doch auch das menschliche Nichteingreifen – „letting nature take its course“ – repräsentiert in der Lesart von Cooper und McKenna eine Spielart des „Arbeitens mit natürlichen Prozessen“ (Cooper und McKenna 2008b, 315). Somit steht Cooper und McKennas Systematik keineswegs im Widerspruch zu der für die NaturenKulturen-Forschung zentralen These, dass eine „reine“ Natur ganz außerhalb menschlicher Einflussnahme gar nicht auffindbar sein wird. Denn auch der Natur räumlich begrenzt freien Lauf zu lassen ist eine menschlich moderierte und eingehegte Entscheidung. Wenn Natur und Kultur nicht als ur-

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sprünglich getrennte Domänen gedacht werden (Latour 1995), kann auch das Verhältnis von Natur und Kultur im Küstenschutz nicht länger als Nullsummenspiel konzeptionalisiert werden: Mehr Gesellschaft heißt eben nicht gleich weniger Natur, was im Übrigen auch umgekehrt gilt (Hinchliffe 2007). Damit bietet das NaturenKulturen-Denken einen Ausweg aus den verwandten Fallen, die Natur entweder als das radikal Andere zur Gesellschaft zu denken, als Wildnis „da draußen“ (Braun 2009, 20), die es vor menschlichem Einfluss zu bewahren gilt, oder aber als „sozial durch und durch“ (Hinchliffe 2007). Denn ein solcher radikaler Sozialkonstruktivismus bleibt bei der Erkenntnis stehen, dass Natur nur mittels menschengemachter Konzepte verstehbar ist und bekommt so den materiellen Eigensinn der Natur nicht zu fassen (Braun 2015, 105; Castree 2001). Das Konzept von sozialer (Castree und Braun 2001) oder koproduzierter Natur (Hinchliffe 2007) dagegen lenkt den analytischen Fokus auf die NaturenKulturen im Plural, die aus den soziomateriellen Praxen und Relationen menschlicher und mehr-als-menschlicher Akteure entstehen.

AOTEAROA N EUSEELAND : S ORGE ( N ) UND FÜR DIE K ÜSTE

UM

Die heutige Situation erschlossener Küsten ist das Ergebnis einer langen Geschichte intensiver Austauschbeziehungen menschlicher und mehr-als-menschlicher Akteure, Objekte und Prozesse. Diese Geschichte hat Neuseelands Strände zu naturkulturellen Kreuzungspunkten von großer symbolischer wie materieller Bedeutung werden lassen. Aotearoa Neuseeland ist eine Inselnation im Südpazifik, bestehend aus einer Nord- und einer Südinsel sowie einigen kleineren Inselgruppen. Die Küstenlinie hat eine Gesamtlänge von etwa 18.200 km (NIWA 2012, 16). Da Strände auch in unwegsamen, gebirgigen und stark bewaldeten Küstengebieten einen Zugang vom Meer her ermöglichten, dienten sie als Landeplatz für die Kanus der ersten polynesischen Siedler*innen, und wurden während der europäischen Kolonisierung im 19. Jahrhundert als Transportrouten genutzt (Hickford 2012). Im 20. Jahrhundert wurde die Küste als Ort außerhalb urbaner Zwänge zu einem bedeutenden Symbol von Freizeit und Freiheit (Hayward 2008; Peart 2009). Der vielzitierte neuseeländische beach bach-Mythos verklärt noch heute die einfachen Strandhütten, die sich in den Aufschwungsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg rasant verbreiteten und erstmals einer breiten Bevölkerung Urlaub am Meer ermöglichten. Ein originales Exemplar gibt es sogar – in voller Größe – im Auckland Maritime Museum zu bestaunen (Grigor 2008; Kearns und Collins 2006). Steigender Wohlstand ging schließlich einher

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mit einer Zunahme von strandnahen Zweitwohnsitzen und exorbitant steigenden Immobilienpreisen (Freeman und Cheyne 2008). Die Mehrheit der ca. 4,5 Millionen Einwohner*innen des Landes lebt heute in Küstennähe, davon fast 1,5 Millionen im städtischen Ballungsraum Auckland (Statistics New Zealand 2006, 4). Der Rückbezug auf und Rückzug in eine originale, unberührte und ursprüngliche Natur bleibt dennoch identitätsstiftend und zentral für das Selbstverständnis der Inselnation (Clark 2004). Kearns und Collins bescheinigen den Neuseeländer*innen daher die Überzeugung, ein „,angeborenes Recht‘ auf den Genuss unerschlossener Küsten“ zu besitzen (Kearns und Collins 2012, 943). Dieses Paradox – der hohe Stellenwert einer maritimen Lebensweise einerseits, und der Wunsch nach Rückzug in ursprüngliche Natur andererseits – zeigt sich in einer seit den 1970er-Jahren zunehmenden Besorgnis über den fortschreitenden Ausbau der Küsten, die Umwandlung landwirtschaftlich genutzter Flächen in Bauland und den Verlust natürlicher Strände (Morton, Thom und Locker 1973; Peart 2009; Collins und Kearns 2010). Etwa ein Viertel der neuseeländischen Küsten sind von Erosion betroffen (De Lange 2012) – vielerorts betrifft dies Wohngebiete in unmittelbarer Strandlage (Blackett, Hume und Dahm 2010). Die zunehmende öffentliche Besorgnis über Verlust und Verknappung der Strände spiegelt sich auch in einigen über den lokalen Kontext hinaus wahrgenommenen Konflikten über die Notwendigkeit harter Küstenschutzmaßnahmen, die zum Schutz privater Anwesen öffentlichen Raum beanspruchen (Gesing 2017). Die aktuellen Richtlinien der neuseeländischen Küstenpolitik verpflichten die Kommunen, die Notwendigkeit von hartem Küstenschutz zu prüfen und Alternativen zu fördern – einschließlich sogenannter „natürlicher Schutzmaßnahmen“5. In der Praxis betrifft dies vor allem Dünenschutz und -renaturierung, worunter hier auch das Aufschütten neuer Dünen fällt. Zudem wurden einige wenig erfolgreiche künstliche Riffe gebaut (Gesing 2016, 287–309) sowie Versuche unternommen, den Rückbau bestehender Siedlungen voranzutreiben [managed retreat]. Dieser Ansatz ist jedoch äußerst umstritten und in der rechtlichen wie politischen Umsetzung schwierig (Hayward 2008). Die zahlreichen von Ehrenamtlichen getragenen Projekte der neuseeländischen Coast Care und Beachcare-Gruppen zur Dünenrenaturierung erfreuen sich dagegen großer Popularität. Deren Sorge-Arbeit für Strände und Dünen steht im Folgenden im Fokus dieses Beitrages. Dünenrenaturierung als natürlicher Küstenschutz findet in Aotearoa Neuseeland vor dem Hintergrund eines massiven Umweltwandels statt, in Folge dessen

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Im Wortlaut: „to discourage hard protection structures and promote the use of alternatives to them, including natural defences“ (Department of Conservation 2010, 24–25).

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die Dünen ihre natürliche Pufferwirkung gegen das Meer teilweise verloren haben. Die Ursachen sind vielfältig und durch menschliche und mehr-alsmenschliche Einwirkungen entstanden: Entwaldung, Winderosion aufgrund beeinträchtigter Dünenvegetation, Schäden durch Fahrzeuge, Trittschäden durch Weidevieh und Fußgänger, küstennahe Bebauung und die Auswirkungen neu eingeführter Tier- und Pflanzenarten (Dahm, Jenks und Bergin 2005). Neben der Verdrängung einheimischer und Ausbreitung exotischer Pflanzenarten sind Fressschäden durch ausgewilderte Kaninchen hier besonders relevant. Das grundlegende Ziel der Renaturierung, so erklärt ein Interviewpartner, der als Berater für Coast Care arbeitet, liegt darin, die Dünen wieder in den Zustand zu versetzen, „wie sie waren, bevor Menschen kamen“. Auf den Strand deutend führt er aus: „Wir erinnern uns noch immer daran, vor nur 100 oder 150 Jahren war dies eine natürliche, unveränderte Umwelt“ (Feldnotizen, Februar 2010). Diese Auffassung entspricht zwar nicht dem Stand der Wissenschaft, ist jedoch nicht untypisch darin, dass sie den ersten polynesischen Bewohner*innen von Aotearoa Neuseeland per se ein harmonischeres, nachhaltigeres MenschUmwelt-Verhältnis zuschreibt (Mc Glone 1989). Tatsächlich ist es mittlerweile unstrittig, dass schon die erste Besiedlung durch die Māori vor 700-1000 Jahren signifikante Veränderungen der neuseeländischen Umwelt zur Folge hatte. 6 Jedoch hat der Umweltwandel durch die europäische Besiedlung im 19. Jahrhundert eine massive Beschleunigung und Intensivierung erlebt (Star 2009). Heute gehören Sanddünen zu den am stärksten beeinträchtigten Ökosystemen in Aotearoa Neuseeland (Dahm, Jenks und Bergin 2005, 12). Die Renaturierung der Küste ist nicht nur darauf ausgerichtet, diesen historischen Umweltwandel rückgängig zu machen, sondern bezieht sich ebenso auf die aktuellen gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Angesichts der zunehmenden öffentlichen Besorgnis über den Ausbau auch entlegener Küstenstriche in den vergangenen Jahrzehnten erklären Ehrenamtliche, sie wollten „schützen, was übrig ist“. Die regionalen Coast Care- und Beachcare-Programme stellen öffentliche Mittel für lokale Dünenrenaturierungsprojekte zur Verfügung. Die bereitgestellten Ressourcen umfassen im Wesentlichen Pflanzen, Düngemittel, Werkzeuge und anderes Material (zum Beispiel zum Anlegen von Absperrungen und Zäunen), Informationstafeln, Broschüren, Reports und Bildungsmaterialien. Ehrenamtliche setzen die Projekte mit logistischer und organisatorischer Unterstützung einiger weniger professioneller Koordinator*innen um. Nicht alle adressieren zu

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Dies betrifft u.a. die Einführung der ersten Säugetierarten (polynesische Ratten und Hunde) und Kulturpflanzen, sowie eine weitreichende Feuerrodung für den Gemüseanbau in fast allen Küstengebieten (Wilmshurst et al. 2004; Peart 2009, 33–51).

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gleichen Teilen die definierten Ziele vom Coast Care: öffentliche Bewusstseinsbildung, Bürgerbeteiligung, Biodiversität und Küstenschutz (De Monchy 2010). Lokale Anwohner*innen, Urlauber*innen, Schulkinder und Pfadfinder*innen, Māori, Betriebsausflügler*innen, internationale „voluntourists“ (Callanan und Thomas 2005) und verurteilte Straftäter*innen, die Sozialstunden ableisten, beteiligen sich in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Motivlagen an der Aufgabe, die neuseeländischen Dünen wieder in einen angemessenen Zustand zu versetzen (Gesing 2016, 177–203). Was diese Akteure verbindet, ist eine Vorstellung davon, was diesen angemessenen Zustand auszeichnet, sowie die Kenntnis der entsprechenden Praktiken des Umwandelns und Pflegens von Dünen, die in den jeweiligen Projekten unter Aufsicht der professionellen Koordinator*innen eingeübt und ausgeführt werden. Die geteilten Praktiken des Pflanzens, Düngens, des Unkrautjätens und der Schädlingskontrolle machen diese Projekte zu Coast Care-Projekten und haben einen Wiedererkennungswert für die Teilnehmenden.

P RAKTIKEN

DER I NSTANDHALTUNG VON

N ATUR

In Coast Care-Projekten arbeiten Menschen mit und gegen menschliche, pflanzliche und tierische Praktiken und Logiken (siehe Beisel in diesem Band). Die bei den Ehrenamtlichen mit Abstand populärste Aufgabe ist das Bepflanzen mit den einheimischen Dünenpflanzen Spinifex und Pīngao.7 Das Dünengras Spinifex sericeus ist auf der Nordinsel von Aotearoa Neuseeland, der nördlichen Hälfte der Südinsel sowie in Australien und auf den pazifischen Inseln verbreitet. Die Sandsegge Desmoschoenus spiralis, bekannt unter dem Māori-Namen Pīngao, wächst nur in Aotearoa Neuseeland und ist im gesamten Land zu finden (Wassilieff 2012). Beide Arten sind salzwassertolerant und entwickeln teils meterlange Ausläufer, sogenannte Stolonen, die umherwehenden Sand auffangen und damit zum Wachstum der Primärdünen beitragen. Diese Eigenschaft führt dazu, dass sich durch Erosion abgetragene Sanddünen mit einer solchen Bepflanzung schneller neu bilden. Die Pflanzen werden von den Freiwilligen – zusammen mit einer Handvoll Langzeitdünger – in tiefe Pflanzlöcher gesetzt, damit die Wurzeln von leichten Sandbewegungen nicht wieder freigelegt werden. Auch wenn die öffentliche Wahrnehmung Coast Care häufig mit dem Pflanzen von Spinifex und Pīngao gleichsetzt, stellt dies nur einen kleinen Teil der an-

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In den wasserabgewandten Dünenzonen werden z.B. Muehlenbeckia complexa, Euphorbia glauca und Coprosma acerosa angepflanzt.

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fallenden Arbeiten dar. Neue Coast Care-Projekte beginnen meist mit der Entfernung der bestehenden Vegetationsdecke aus eingeführten Arten. Doch Unkrautbeseitigung bleibt eine kontinuierliche Aufgabe. Pim de Monchy, Coast Care-Koordinator in der Region Bay of Plenty, schätzt, dass diese eher unbeliebte Aufgabe etwa 80 Prozent der benötigten Arbeitszeit umfasst.8 Er berichtet: „Das Pflanzen ist das erste, woran die Leute denken. Du kannst einen ‚community planting day‘ ansetzen und eine Menge Leute sind interessiert und kommen. Aber ein ‚community weeding day‘? – das ist was Anderes.“ (Feldnotizen 26.05.2011)

Entfernt werden zum Beispiel südafrikanische Zierpflanzen wie Mittagsblume (Carpobrotus edulis) und Agapanthus (Agapanthus praecox), die sich aus benachbarten Gärten oder in den Dünen entsorgten Gartenabfällen verbreiten. Von Coast Carern werden diese Pflanzen auch als „Gartenausbrecher“ bezeichnet. Besonders mühsam ist das Ausgraben des widerstandfähigen Kikuyu-Grases (Pennisetum clandestinum), das undurchdringliche Teppiche und rhizomartige Wurzelballen bildet, die zudem nur schwer von benachbarten Spinifex-Exemplaren zu unterscheiden sind.9 Neben der Unkrautbeseitigung ist die Schädlingsbekämpfung ein ständig präsentes Thema. Hier zielen die Coast Care-Praktiken vor allem auf die in den 1830ern aus Europa eingeführten und zu Jagdzwecken freigelassen Kaninchen, die sich aufgrund fehlender Fressfeinde in Aotearoa Neuseeland fast ungebremst vermehrt und zu einem wachsenden Problem für Umwelt und Landwirtschaft in Aotearoa Neuseeland entwickelt haben (Peden 2008). Für die Pīngaopflanzen stellen sie eine echte Gefahr dar, denn „die Kaninchen lieben es!“ (Interview Kenny Cooper von Pukehina Beach Coast Care). Deshalb werden Kaninchen im

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Während für Pflanzarbeiten ausschließlich ehrenamtliche Helfer*innen herangezogen werden, sind in der Unkrautvernichtung auch Vertragsarbeiter*innen mit Herbiziden im Einsatz. Coast Care Bay of Plenty bemüht sich jedoch zunehmend darum, Ehrenamtliche in der Unkrautvernichtung einzusetzen und ermöglicht ihnen dafür die kostenfreie Teilnahme an Kursen, in denen sie sich für die Anwendung von Herbiziden auf öffentlichen Flächen qualifizieren. Im Rahmen meiner Feldforschung habe ich selbst ein solches Zertifikat erworben.

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Kikuyu wurde in den 1920er-Jahren wegen seiner großen Widerstandfähigkeit für die Weidewirtschaft auf schlechten Böden eingeführt (Northland Kikuyu Action Group o.J.); dies ermöglichte extraktive forst- und landwirtschaftliche Praxen. Doch im feuchten neuseeländischen Klima hat sich die Ausbreitung der Pflanze als von Menschen kaum noch kontrollierbar erwiesen.

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Rahmen von Coast Care mit Zäunen von Pflanzungen ferngehalten, mit vergifteten Ködern und Fallen getötet und außerhalb der dichtbesiedelten Vororte in nächtlichen Jagdaktionen unter Einsatz von Nachtsichtgeräten erschossen. Das Töten von Tieren ist ein allgegenwärtiger Teil von Coast Care, durch die englische Terminologie der pest control zugleich technokratisch und normativ beschrieben. Pim, der Coast Care-Koordinator, sieht in der Unkrautvernichtung, der Kaninchenbekämpfung und in Gesetzen gegen das Befahren von Dünen – also dem Ausschluss menschlicher Schäden – die größten Möglichkeiten. Das Pflanzen sei dagegen „fast der Gutfühl- und Mitmach-Aspekt“, so Pim. Coast Care bedeutet also niemals endende Sorgearbeit für bestimmte Pflanzen, die zu einem großen Teil aus Schädlings- und Unkrautbekämpfung besteht. Durch immer wiederkehrende Routinen wird die Küstennatur von Coast CareFreiwilligen instandgehalten. Die Renaturierung der Küste ist hier also keinesfalls so zu verstehen, dass die Natur – durch etwas menschliche Anschubhilfe – in einen Zustand (zurück)versetzt wird, in dem sie sich selbst erhalten kann. Die ehrenamtlichen Helfer sehen sich daher gelegentlich dem Argument ausgesetzt, ihre Arbeit sei durch diesen Zwang der ewigen Wiederholung letztlich nutzlos. Eine Ehrenamtliche widerspricht dem vehement: „Ich denke, es ist wie mit einer Menge Sachen: man geht stückchenweise vor und tut was man kann. Manche Leute sagen zu uns, dass wir nur unsere Zeit verschwenden, wenn wir unten [am Strand] sind und arbeiten. Dass das Meer es wegspülen wird, dass die Leute drübertrampeln werden, oder dass die Pflanzen vom Klimawandel eingehen werden und sowas. Aber ich sage ihnen nur, zu Hause mähen wir auch den Rasen, jedes Mal wenn er gewachsen ist. Wir sagen nicht, es ist Zeitverschwendung, nur, weil er wieder wachsen wird. Ich meine, Sie streichen Ihr Haus, wenn die Farbe abblättert oder es einen neuen Anstrich braucht. Sie sagen nicht einfach, das muss doch in 10 Jahren sowieso wieder gestrichen werden, ich lasse es sein. Es ist wie Haare [...] waschen, es wird wieder dreckig, aber ich finde es einfach dumm zu sagen, etwas ist Zeitverschwendung, nur, weil man es zu einem anderen Zeitpunkt wieder tun muss, oder weil neues Unkraut wachsen wird, ich meine, so ist das Leben, oder?“ (Interview mit Elise Vanderbek, Waihi Beach Coast Care)

Diese Notwendigkeit andauernder, langfristiger Sorgearbeit ist auch der Grund dafür, warum die Dünen oft gerade dort in einem ökologisch besseren Zustand sind, wo viele Menschen leben, trotz der negativen Auswirkungen von Bebauung und Strandnutzung. Die Hafenstadt Tauranga ist die am schnellsten wachsende Stadt in Aotearoa Neuseeland; wegen des milden Klimas ist die Gegend beliebt bei Rentner*innen, die besonders aktiv in den Coast Care-Gruppen sind. Der massive Flächenverbrauch für die auch im städtischen Ballungsraum übliche

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Bebauung mit freistehenden, einstöckigen Einfamilienhäusern führt zu einer immer größeren Ausdehnung der Vororte. Diese Suburbanisierung könnte aus der Sicht des regionalen Coast Care-Koordinators für die Dünen jedoch letztlich von Vorteil sein. Denn suburbane Coast Care-Projekte sind besonders erfolgreich: Hier wird das Befahren der Strände und Dünen mit Autos und Motorrädern konsequenter unterbunden, es findet keine Beweidung statt und die Gruppe möglicher Coast Care-Freiwilliger ist vergleichsweise groß. Die Rolle der Menschen im Projekt Coast Care ist also zwiespältig. Einerseits werden menschenzentrierte Nutzungspraktiken – und zwar sowohl gegenwärtige als auch historische, deren Auswirkungen noch immer präsent sind – klar für die Zerstörung der Dünen und ihrer natürlichen Schutzfunktion verantwortlich gemacht. Menschliche Sorgearbeit ist jedoch anderseits zugleich ein wesentlicher Faktor erfolgreicher Renaturierungsprojekte. Entscheidend ist aber auch der zur Verfügung stehende beziehungsweise von Coast Care in der Praxis hergestellte „Raum für Natur“ (Hinchliffe 2007). Für die Zukunft hat der Coast Care-Koordinator eine Vision einzelner „Gold-Standard-Strände [...] mit denen wir eine vollständig wiederhergestellte Dünensequenz zeigen können, von der Vorder- bis zur Rückseite, ohne Unkraut drin, quasi wie der Endpunkt: das ist, was Dünenrenaturierung in dieser Umgebung erreichen kann mit den entsprechenden Ressourcen.“ (Interview mit Pim de Monchy, BOP Coast Care)

Die Umgebungen unterscheiden sich dabei wesentlich in der vorherigen Nutzung und Ausdehnung: ein kleines abgezäuntes Gebiet an einem Surfclub in Waihi Beach, ein forstwirtschaftliches genutztes Gebiet auf der Insel Matakana, ein breiter unbebauter Küstenstreifen im Māori-Land außerhalb der Hafenstadt Tauranga oder der belebte Hauptstrand des Badeortes Mount Maunganui. Pim unterscheidet dabei grob zwischen zwei unterschiedlichen Zielvorstellungen für das Verhältnis von menschlichen und mehr-als-menschlichen Akteuren und Praktiken. In Gebieten intensiver menschlicher Nutzung sollen renaturierte Dünen in „bestmöglicher Verfassung“ als materielle Repräsentationen angemessener Küstennatur dienen: „So, dass die Strandbesucher sagen, wie sieht eigentlich ein Strand aus in der Bay of Plenty? Ah ja, Spinifex, Pīngao, und ein paar Pohutukawabäume, okay. So dass sie das richtige Bild vor Augen haben, was eine Sandstrandumgebung ist.“ (Interview mit Pim de Monchy, BOP Coast Care, Hervorhebung F.G.)

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Demonstriert werden sollen also die Möglichkeiten im Hier und Jetzt. Der „Gold-Standard-Strand“ schafft einen Ort, in dem Küstennatur ist, was (und wie) sie sein soll (siehe Jasanoff 2004). Ein zweites Anliegen betrifft ausschließlich größere Flächen, in denen eine Gemeinschaft einheimischer Pflanzen und Tiere wiederhergestellt werden soll, die zunehmend weniger auf menschliche Sorge angewiesen ist. Dies soll das Potential von Renaturierung zeigen, die Küstennatur näher an den Zustand zu bringen „wie es gewesen wäre“: „[D]iese anderen Orte, wo es ein natürliches Dünensystem gibt, das weiter zurückreicht: Das ist, wo du auf einer ökologischen Ebene zeigen kannst, wie man eine funktionierende Gemeinschaft wiederbekommen kann. Und ich denke, fünf oder zehn Jahre in die Zukunft geblickt, das sollten nicht nur Pflanzen sein, sondern auch Tiere [...] Der kaninchensichere Zaun entfernt eine der tierischen Gefahren für den Versuch, die Tiergemeinschaft ebenso wie die Pflanzengemeinschaft wiederaufzubauen. Und dann könnte man vielleicht noch Wiesel, Igel-, und Katzen-Kontrolle drüberlegen [...] Ich denke, die Eidechsenpopulation wird an all unseren Stränden von den Katzen niedergemacht. Und es wäre eine schöne Vorstellung, dass einige Orte voll von Eidechsen wären, und so wie es gewesen wäre.“ (Interview mit Pim de Monchy, BOP Coast Care)

Das weiter zurückreichende Dünensystem kann hier also durchaus sowohl örtlich wie auch zeitlich verstanden werden. Pim erklärt hierzu, dass der ebenfalls weitreichende Verlust von in den Dünen heimischen Tierarten die Prozesse der Samenverbreitung und Bestäubung unterbrochen und damit wahrscheinlich auch den Rückgang der einheimischen Flora beschleunigt hat. An Stelle der natürlichen Verteilungsmechanismen sind also neue Konstellationen getreten, in denen menschliches Handeln wesentlich für die Reproduktion und Verbreitung von Dünenpflanzen geworden ist. Da letztlich nur wenig über die Interaktionen zwischen einheimischen Tier- und Pflanzenpopulationen bekannt ist, bleibt abzuwarten, wie Dünenrenaturierung langfristig die Entwicklung des Dünenökosystems beeinflussen wird, so Pim.

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Abb. 1: Umhegte Natur: Coast Care Waihi Beach. (Foto: Friederike Gesing)

Abb. 2: Der „Wohlfühl-Aspekt“: Pflanzarbeiten am Strand von Papamoa Beach. (Foto: Friederike Gesing)

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E INGEBORENE ODER E INDRINGLINGE ? K ATEGORISIERUNGSPRAKTIKEN Renaturierung im Kontext von Coast Care meint also nie die Bepflanzung alleine, sondern besteht aus einem ganzen Ensemble von Praktiken, zu dem auch Einschluss und Ausschluss bestimmter Akteure gehören. Zudem geht es hier um sehr spezifische Formen der Bepflanzung, nämlich die Entfernung als eingeführt oder invasiv klassifizierter Pflanzen und die anschließende Anpflanzung erwünschter, „einheimischer“. Einst haben Gesellschaften zur „Akklimatisierung“ die Einführung neuer Arten nach Aotearoa Neuseeland systematisch betrieben (Star 2009). Heute jedoch sind Schutz und Erhalt einheimischer Biodiversität die höchste Priorität des neuseeländischen Naturschutzes. Symptomatisch hierfür sind etwa die massiven Maßnahmen zum Schutz endemischer Vogelarten, wie die vollständige Entfernung eingeführter Arten aus Insel-Habitaten oder der großflächige Einsatz von Giftködern (siehe Flitner in diesem Band). In den Sozial- und Kulturwissenschaften gibt es mittlerweile eine ausdifferenzierte Auseinandersetzung mit Unterscheidungen zwischen einheimischen und eingeführten Arten und damit verbundenen soziomateriellen Praxen (Comaroff und Comaroff 2001; Warren 2007; Helmreich 2009; Subramaniam 2014). Unstrittig ist, dass die Kategorie der „einheimischen“ Pflanzen eine historische und damit immer auch kulturelle Kategorie ist. In „Alien Ocean“, einer Ethnografie über marine Mikrobiologie, beobachtet Stefan Helmreich (2009) unter anderem die Klassifikationen, mit denen nicht-menschliche Spezies im hawaiianischen Kontext kategorisiert und in Einheimische und Fremde eingeteilt werden. Die nicht-einheimischen Arten werden dabei als fremde, eingeführte oder invasive Arten bezeichnet, je nachdem, ob sie Hawaii mit absichtlicher oder unabsichtlicher menschlicher Hilfe erreicht haben, und ob sie aus heutiger Sicht als schädlich eingestuft werden. Diese Klassifikationen werden also immer auch durch Bezugnahme auf menschliches Handeln strukturiert (ebd., 150). Dies lässt sich besonders gut am Status der sogenannten „Kanu-Arten“ aufzeigen, die von den polynesischen Siedler*innen bereits lange vor der europäischen Kolonialisierung eingeführt worden. Sind diese als einheimisch oder aber als eingeführt zu klassifizieren? Invasionsbiolog*innen bewerten die Ankunft Kapitän Cooks – der Aotearoa Neuseeland 1769 erreichte – im Pazifik unterschiedlich: entweder als epochale Wende, die den natürlichen Ausgangszustand der Inseln markiert, der dann durch die Einführung neuer Arten grundlegend verändert wurde, oder aber als eine Beschleunigung eines Prozesses, der bereits viel früher durch polynesische Siedler*innen begonnen wurde. Von dieser Einschätzung hängt ab, ob die Wissenschaftler*innen Kanu-Arten als einheimisch oder als eingeführt klas-

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sifizieren (ebd., 160). Daraus folgt auch die Definition des angenommenen „natürlichen“ Ausgangszustandes [baseline], der auch für Projekte ökologischer Restaurierung von entscheidender Bedeutung ist (Lorimer 2012). Helmreich zeigt hier zum einen, dass nicht alles menschliche Handeln gleich eingeordnet wird. Zum anderen wird deutlich, dass das „Einheimische“ wie das „Fremde“ historisch kontingente Kategorien sind, die zugleich die Trennlinie zwischen Natur und Kultur auf anschauliche Weise nachvollziehen und reproduzieren. Durch die Analyse solcher Klassifizierungen, so Helmreich, lässt sich zeigen, wie „die Definitionen von Natur und Kultur selbst, von Figur und Grund, in Flux geraten“ (Helmreich 2009, 150). Hier schließt Helmreich an eine an den Schnittstellen von Humangeografie, Kulturanthropologie und Wissenschafts- und Technikforschung geführte Debatte an, die weniger die Schwierigkeiten einer Klassifizierung von Arten entlang räumlicher und zeitlicher Achsen zum Thema hat, sondern diese vielmehr als Symptom einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Definition des Eigenen und des Fremden untersucht (Comaroff und Cormaroff 2001; Lien und Davison 2010; Trigger et al. 2008; Trigger und Head 2010). Subramanian (2014) untersucht die rassistischen und rassifizierenden Untertöne im Diskurs um eingeführte und invasive Arten, der Ähnlichkeiten zur Klassifizierung von Menschen als nicht zugehörig aufweist. Mastnak, Elyachar und Boellstorff (2014) argumentieren jedoch, dass eine solche Analogie zwischen der Abwertung eingeführter Tier- und Pflanzenarten und unerwünschter menschlicher Migration im Kontext postkolonialer Siedlergesellschaften nur bedingt trägt. Sie setzen dagegen eine Lesart, die invasive Arten als ein vitales Erbe der Kolonialisierung als „multispecies colonial endeavor“ beschreibt (ebd., 363). Die Autor*innen plädieren aus dieser Perspektive für eine „Verteidigung einheimischer Arten“ als Bestandteil einer politischen Strategie „botanischer Dekolonialisierung“ im Anthropozän (ebd.).10 Lien und Davison (2010) sehen Renaturierung in Siedlergesellschaften ebenfalls als eine immer auch moralische Praxis, die auf eine Wiedergutmachung von Sünden der Vergangenheit abzielt. Die Wiederherstellung von Natur ist also ein politisch aufgeladenes Feld, das nicht nur rückwärtsgewandt ist, sondern immer aus einer kontingenten Gegenwart herausoperiert und deren gesellschaftliche Naturverhältnisse problematisiert.

10 Subramaniam (2014, 121) argumentiert ähnlich für den US-amerikanischen Kontext, dass mit „natives“ implizit auf die weißen Siedler Bezug genommen wird, und nicht auf die „original natives“, d.h. „Native Americans“.

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S PINIFEX

UND P ĪNGAO : TROTZDEM IN G EFAHR

P ERFEKT

ANGEPASST UND

Auch im Coast Care-Kontext wird der Einsatz einheimischer Pflanzen nicht ausschließlich mit restaurationsökologischen Argumenten begründet, also nicht allein damit, einen angenommenen natürlichen Ausgangszustand wiederherstellen zu wollen. Der Gründer von Coast Care Bay of Plenty äußert sich enthusiastisch über die „unglaubliche funktionale und ästhetische Überlegenheit von Neuseelands einheimischen Dünenpflanzen“: „Nicht alle in Sand wachsenden Pflanzen sind gleich geschaffen, und einheimische Dünenpflanzen zeigen zum ersten Mal in über 100 Jahren ihre klare Überlegenheit in jeder Hinsicht. Die Unterschiede in Dünenfunktion und der ästhetische Reiz von einheimischen gegenüber eingeführten Pflanzen sind sehr deutlich und eindeutig zu Gunsten der perfekt angepassten indigenen Arten.“ (Jenks 2007, 293)

Jenks’ Argument der funktionalen und ästhetischen Überlegenheit einheimischer Dünenpflanzen basiert auf deren perfekter Angepasstheit an ihre Habitate. Doch die Habitate haben sich verändert, neue Pflanzen und Tiere versammeln sich hier, und menschliche Praxen haben sich geändert. Neu ist dabei auch der menschliche Anspruch, dass die Dünen als Elemente eines natürlichen Küstenschutzes „funktionieren“ sollen, der strandnahe Bebauung vor den Auswirkungen von Erosion abschirmt. Die programmatische Literatur argumentiert, dass mit einheimischen Dünenpflanzen bewachsene Dünen aufgrund der beschriebenen Fähigkeiten von Spinifex und Pīngao, Salzwasser zu tolerieren und Sandkörner einzufangen, auch für Küstenschutzzwecke besser geeignet seien als möglicherweise bereits bestehende Vegetation: „Während viele exotischen Arten benutzt wurden, um Dünen zu stabilisieren, wie Strandhafer (Ammophila arenaria), Mittagsblume (Carpobrotus edulis) und Kikuyu-Grass (Pennisetum clandestinum), hat die Erfahrung gezeigt, dass diese Arten nicht so effektiv wie Spinifex und Pingao beim Beheben von Sturmschäden in der Dünenfront sind. Ohne eine gute Bedeckung mit Spinifex und Pingao in der seezugewandten Seite der Düne ist die natürliche Wiederherstellung der Dünen zwischen Stürmen sehr begrenzt. Das kann dazu führen, dass der nächste Sturm dort weitermacht, wo der letzte aufgehört hat, was zu schlimmerer Dünenerosion führt als im Fall natürlicher Regenerierung zwischen zwei Sturmereignissen.“ (Dahm, Jenks und Bergin 2005, 9)

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Einheimische Dünenpflanzen sollen also eine bessere Schutzfunktion bieten – und zwar nicht nur im Vergleich zu Pflanzenarten, für die die Sanddünen kein natürliches Habitat bieten, sondern auch im Vergleich zu dem aus Europa eingeführten Strandhafer. Dieser wurde in der Vergangenheit ebenfalls zur Stabilisierung von Dünen gepflanzt. Jedoch bilden mit Strandhafer bewachsene Dünen eine andere Form als solche mit Spinifex und Pīngao. Ein Mitarbeiter des Beachcare-Programms in der Region Waikato erklärt: „[Strandhaferpflanzen] erzeugen wirklich steile und schmale Dünen, während Spinifex eine wirklich breite Düne erzeugt. Je breiter, desto besser. Also ist Strandhafer besser als nichts, aber [...] er ermöglicht kein Fortschreiten der Anlagerung. Und er ist außerdem so robust, dass er den Spinifex gewissermaßen aus dem Feld schlägt. Also landest du bei diesen Strandhafer-Dünen, die einfach riesengroß sind. Sie sind nicht schlecht, es ist besser als keine Düne, es ermöglicht einfach nur keine natürlichen Dünen.“ (Interview mit Lucas Pinnacles, Waikato Beachcare)

Diese Definition der „natürlichen“ und damit richtigen Dünen verbindet Ästhetik und Funktion: Diese Dünen sehen besser aus und funktionieren besser, denn sie wachsen in die Breite und nach vorne, nicht nach oben. Zur gleichen Zeit ist hier auch ein Diskurs der Gefährdung am Werk. Während einheimische Pflanzen für ihre ganz spezifische Anpassung an ihre ursprüngliche Umwelt, einschließlich der Dynamik von Erosion und Anlagerung, gepriesen werden, weisen Expert*innen für Dünenrenaturierung zugleich auf deren existentielle Bedrohung durch invasive eingeführte Pflanzen hin, die als kompetitiver und durchsetzungsfähiger beschrieben werden: „Invasive Pflanzen haben eine Tendenz, einheimische Pflanzen aus dem Feld zu schlagen, die daher durch Restaurierungsarbeit, besonders Schädlingsbekämpfung, unterstützt werden müssen.“ (Bergin 2011, 3)

Hier ist ein bemerkenswerter innerer Widerspruch zu verzeichnen, der einheimische Pflanzen zugleich als perfekt angepasst und als bedroht und hilfsbedürftig beschreibt. Sinn ergibt dies erst, wenn die Pflanzen nicht isoliert betrachtet werden, sondern als Teil einer größeren naturkulturellen Assemblage. Unter den postkolonialen Bedingungen, die unter anderem von menschlicher Nutzung der Küsten und der Verbreitung neu hinzugekommener Arten gekennzeichnet sind, haben sich die Kräfteverhältnisse verändert und die einst perfekt angepassten Pflanzen haben das Nachsehen.

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Abb. 3: Handgewebte Puti Puti-Blume aus Pīngao. (Foto: Friederike Gesing)

Wenn hier von der Funktion einheimischer Pflanzen die Rede ist, ist jedoch nicht allein das Festhalten der Dünen angesprochen. Pīngao ist eine endemische Art, die also ausschließlich in Aotearoa Neuseeland vorkommt und deren großflächige, grüngelbe Pflanzen ein sehr auffälliges und unverwechselbares Bild abgeben. Pīngao wurde von Māori traditionell als Material für Webarbeiten verwendet. Hierauf nehmen Coast Care-Broschüren explizit Bezug (Bay of Plenty Regional Council 2013), obschon zeitgenössische Weber*innen nur noch selten Pīngao verwenden. Pīngao ist durch seine relativ kurzen und unregelmäßigen Halme für Anfänger*innen nur schlecht geeignet, die fast ausschließlich mit Harakeke, dem neuseeländischen Flachs (Phormium tenax) arbeiten (Feldnotizen 5.11.2011, Webschule Te Teko). Traditionell wurden aus Pīngao unter anderem tuku tukuWandbehänge für Gemeinschaftshäuser hergestellt, die jedoch heute zumeist aus Plastik gewebt werden, das sich ebenfalls leichter handhaben lässt und haltbarer ist. Zudem macht sein enormer Rückgang Pīngao auch für Weber*innen schwer auffindbar. Dennoch hat Pīngao als Dünenpflanze eine wichtige symbolische Funktion. Eine Ursprungsgeschichte der Māori sieht den Pīngao als Verkörperung der Augenbrauen des Waldgottes Tane:

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„Er [Tane] und Tangaroa, der Gott des Meeres, haben immer miteinander gekämpft, bis Tane eines Tages entschied, dass er genug hatte. Er riss seine Augenbrauen aus und gab sie Tangaroa als Zeichen des Friedens. Aber Tangaroa war nicht bereit, Tane zu vergeben und warf die Augenbrauen an die Küste, und dort wachsen sie heute als Pīngao, der die Grenze zwischen Wald und Meer ist.“ (McFadyen 2009, 6)

Auch die programmatische Coast Care-Literatur greift diese Erzählung auf (Dune Restoration Trust of New Zealand [DRTNZ] 2011c). Die Anpflanzung einheimischer Dünenpflanzen ist also weit mehr als die bloße funktionale Wiederherstellung von Sanddünen als einer natürlichen Barriere gegen das Meer. Coast Care, das zeigen die Überlegungen zu „richtigen“ Dünen ebenso wie der Bezug auf Pīngao, ist ebenso eine Praxis der (Re-)Etablierung typisch neuseeländischer Küstennaturen und -landschaften, die der Pīngao auf charakteristische Weise verkörpert.

„N ATURALLY N ATIVE “ – E XPERIMENTE K ULTIVIERUNG VON N ATUR

ZUR

Dünenpflanzen sind in der Coast Care-Praxis zentral. Jedoch sind die Pflanzen immer nur Teil einer Assemblage von soziomateriellen Praktiken, Akteuren und Objekten. Die Pflanzen, die als Setzlinge an die Coast Care Gruppen verteilt werden, können nicht nur als „natürliche“, einheimische Natur beschrieben werden; sie sind zugleich das Ergebnis experimenteller Praktiken, ja expliziter Pflanzenkultivierung. Denn bevor Coast Care überhaupt mit der Wiederanpflanzung beginnen konnte, musste zunächst ein ganz grundsätzliches Problem gelöst werden: die Produktion der entsprechenden Pflanzen. Tatsächlich gab es vor der Gründung der ersten neuseeländischen Coast Care-Programme Mitte der 1990erJahre weder praktisches noch theoretisches Wissen über oder Erfahrung mit der Vermehrung von Spinifex und Pīngao. Ungefähr zur gleichen Zeit bildete sich in der Bay of Plenty-Region eine Gruppe von Leuten, die ein berufliches Interesse am Einsatz einheimischer Pflanzenarten teilten.11 Auch ein Vertreter der Gärtnerei Naturally Native besuchte eines der regelmäßig stattfindenden Treffen. Diese Firma sollte schließlich eine Methode zur Vermehrung von Spinifex und damit zugleich ihre eigene Marktnische entwickeln. Der Firmengründer Mark Dean er-

11 Diese Gruppe war das Coastal Dune Vegetation Network (CDVN), aus dem später der Dune Restoration Trust of New Zealand hervorging. Inzwischen wurde die Stiftung unbenannt in Coastal Restoration Trust of New Zealand.

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innert sich daran, wie sein Angestellter ihm vorschlug, am nächsten Treffen lieber auch teilzunehmen, denn „es war nicht wirklich eine Verkaufsveranstaltung. [Er] stellte fest, dass es nicht wirklich ums Verkaufen von Pflanzen ging. Es hatte damit zu tun herauszufinden, wie man sie kultiviert.“ (Interview mit Mark Dean) Mark Dean hatte bereits seit Mitte der 1970er Jahren eine nebenberufliche Pflanzenzucht im Hinterland der Bay of Plenty betrieben. Er verkaufte vor allem Kiwipflanzen für den damals in der Gegend aufkommenden Kiwi-Anbau. Die verfügbare Fläche schien auch für einen Vollzeitbetrieb ausreichend. Die Frage war nur, was anbauen? „Ich sagte zu meiner Frau, dass wir etwas bräuchten, was sich immer verkauft, denn Kiwi wäre nicht gut, da eines Tages die Bay of Plenty voller Kiwipflanzen sein würde und niemand mehr weitere Pflanzen bräuchte. Und dann waren wir zufällig im Urlaub, nördlich von Auckland, im Januar 1979. Wir kamen an einer Farm vorbei, die ein Schild am Zaun hatte: ‚Native plants for sale‘. Und ich sagte, das ist es.“ (Interview mit Mark Dean)

Das Paar fand heraus, dass nur wenige Gärtnereien zu diesem Zeitpunkt überhaupt einheimische Pflanzen produzierten, meist nur zum informellen Verkauf an Botanik-Liebhaber*innen. Kommerzieller Verkauf und Großhandel von einheimischen Pflanzen war eine Neuheit. Alle rieten ab von der Idee, denn niemand hielt es für möglich, dass man allein mit der Produktion einheimischer Pflanzen seinen Lebenshalt verdienen könnte. Mark erklärt: „Denn damals war [...] die Haltung der Farmer, ‚ich habe 40 Jahre damit verbracht die einheimischen Pflanzen von meiner Farm runterzuhacken, warum sollte ich die anpflanzen?‘ Und die Leute dachten an einheimische Pflanzen nur als Busch, sie dachten nicht an sie als etwas, das in Gärten benutzt werden könnte.“ (Interview mit Mark Dean)

Doch es funktionierte. Als der Vertrieb einheimischer Pflanzenarten populärer wurde und Mitbewerber den Markt eroberten, kam die neue Spezialisierung auf Dünenpflanzen gerade recht. Die Produktion von Dünenpflanzen zu Renaturierungszwecken wurde zum neuen Alleinstellungsmerkmal von Naturally Native. Es stellte sich jedoch zunächst heraus, dass die konventionellen Praktiken der Pflanzenzucht auf Spinifex nicht anwendbar waren. Die ersten Versuche zeigten, dass die Technik des Pikierens – das Verpflanzen der eng gesetzten Keimlinge in neue Gefäße – nicht richtig funktionierte, da die Pflanzen am besten dort weiterwuchsen, wo die Samen auch gekeimt hatten. Der erste Freilandtest war zugleich

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die erste konzertierte Pflanzaktion des inzwischen ins Leben gerufenen Coast Care-Programms in der Bay of Plenty. Kurz danach erwarb die Firma eine weitere Gärtnerei, die zuvor im Besitz der Kommune gewesen war. Diese lag in direkter Küstennähe, eine Umgebung, die sich als äußerst vorteilhaft für das Heranziehen der Dünenpflanzen erwies. Heute produziert die Filiale in Whakatane Hunderttausende Spinifex, Pīngao und andere Dünenpflanzen und verkauft sie fast ausschließlich auf Vorbestellung an Coast Care und Beachcare-Programme. Dabei wird das Prinzip des Ecosourcing befolgt, das heißt dass Coast CareGruppen gewöhnlich nur Pflanzen verwenden, die aus „lokalen“, vor Ort gesammelten Samen gezogen wurden. Die Pflanzen müssen daher schon ein Jahr vor dem Auspflanzen bestellt werden. Das „Lokale“ wird hier in der Praxis hergestellt: Es ist durch das Gebiet definiert, in dem eine Coast Care-Gruppe jeweils aktiv ist. In der Gärtnerei werden die Setzlinge entsprechend räumlich angeordnet und mit Etiketten versehen. Mark akzeptiert diese Coast Care-Praxis, die darauf angelegt ist, lokale Unterschiede zwischen den Pflanzenpopulationen zu erhalten. Besonders prominent ist die Differenz zwischen Pflanzen der geschützten Ost- und der deutlich raueren Westküste; die Pflanzen von dort sind robuster und auch optisch deutlich unterscheidbar. Aus seiner Perspektive wäre daher eine ganz andere Logik denkbar: „Aus gartenbaulicher Sicht sollten wir den größten, am schnellsten wachsenden Spinifex finden, den wir in die Hände kriegen und ihn überall anpflanzen, so dass wir viel bessere Fähigkeiten bekommen, den Sand zu halten.“ (Interview mit Mark Dean)

Die spezifische Kombination aus Produktion auf Vorbestellung und Ecosourcing garantiert einen regulierten und sicheren Absatzmarkt. Dies ist ein Wachstumsgeschäft: Das Geschäft mit den einheimischen Pflanzen wächst beständig, Dünen wachsen und im Fall von Erosionsereignissen benötigt Coast Care neue Pflanzen, um damit die Wiederherstellung der Dünen zu unterstützen: „Es wird immer Stürme geben, und die Leute wollen mehr Pflanzen. Der Strand fängt an, sich zu erholen, und sie wollen immer ein paar mehr da hinpflanzen, um sicherzugehen, dass sie den Spinifex und Pīngao zum Wachsen kriegen, um den Sand aufzufangen. Also das ist eine der Sachen, die ich denke nie aufhören wird [...] Bei der ganzen Coast CareSache geht es darum, einen Puffer zu bauen, damit er abgetragen wird, und dann dabei zu helfen, ihn später wieder aufzubauen [...] [Das sind] Opferpflanzen! [sacrificial plants].“ (Interview mit Mark Dean)

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Abb. 4: Pīngaopflanzen, im Hintergrund Strandhafer und forstwirtschaftlich genutzter Kiefernwald, Matakana Island. (Foto: Friederike Gesing)

Abb. 5: Spinifex und Pīngao im Naturally Native-Gewächshaus in Whatakane. (Foto: Friederike Gesing)

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Abb. 6: Mark demonstriert die Pflanztiefe von Spinifex-Setzlingen. (Foto: Friederike Gesing)

E ROSION –

EIN GANZ NATÜRLICHER

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Ein zentrales Ziel von Coast Care ist es also, die Dünen durch verschiedene soziomaterielle Praktiken der Sorgearbeit zu unterstützen und so wiederherzustellen, dass sie als natürlicher Küstenschutz funktionieren. Dazu gehört auch die von Coast Care betriebene Verbreitung des Wissens darum, dass „an jedem

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Strand der Welt“ ein natürlicher und immer wiederkehrender Prozess der Erosion und Anlagerung am Werk ist (Feldnotizen, DRTNZ Jahreskonferenz 2011). In Broschüren und bei Vorträgen eingesetzte Schaubilder demonstrieren, wie Sand durch Brandungserosion in Folge von Stürmen vom Strand gespült, vor der Küste auf dem Meeresboden abgelagert und von dort durch die Wellen langsam zurück zum Strand transportiert wird (DRTNZ 2011b). Dabei wird auch hervorgehoben, dass dieser sichtbare, „trockene“ Bereich nur einen Teil des Strandes ausmacht, der eben zu weiten Teilen „nass“ ist, also unter Wasser liegt. Das Alltagsverständnis, was ein Strand ist, wird also durch das Konzept eines Strandsystems von deutlich größerer Ausbreitung ersetzt. Wissenschaftlich sind diese Thesen unstrittig; die Küstenwissenschaft spricht von einem dynamischen Gleichgewicht, bei dem der Strand trotz stetiger Veränderung auf größerer räumlicher und zeitlicher Skala weitgehend stabil bleibt (Dean 2005). Zyklische Erosion heißt also, dass Schäden reversibel sind. Aus Sicht von Coast Care braucht es dafür nur Pflanzen, Platz und die richtige Haltung: „Wenn alle drei Faktoren an ihrem Strand vertreten sind – ausreichend Dünenbreite, Bedeckung mit einheimischen Sandbindern, und das Verständnis, das Erosion und Regenerierung natürlich ist – dann können Sie sich zurücklehnen und das natürliche Spektakel von Erosion und Regeneration genießen!“ (DRTNZ 2011b, 4)

Zwar können Dünenpflanzen Erosion nicht verhindern (ebd.). Doch wie beschrieben, können die Ausläufer der Spinifex- und Pīngaopflanzen angeschwemmten oder vorbeifliegenden Sand festhalten, die steilen Sturmabbrüche abmildern und damit zum Wiederaufbau der Dünen beitragen (DRTNZ 2011a). Durch das Ersetzen weggespülter Pflanzen soll dieser Prozess zusätzlich beschleunigt werden. Dieses Konzept von zyklischer Erosion und der unverzichtbaren Rolle der einheimischen Dünenpflanzen beim Festhalten des Sandes formt die Basis aller Versuche, Coast Care zu Küstenschutzzwecken einzusetzen. Umgekehrt gilt den Renaturierungsexperten*innen das mangelnde öffentliche Verständnis dieser Vorgänge als Ursache für den übermäßigen Gebrauch harter Küstenschutzmaßnahmen: „Brandungserosion in Zusammenhang mit Sturmereignissen [storm cut erosion] ist vermutlich der weitverbreitetste und beeindruckendste natürliche Prozess, der an den Sandstränden der neuseeländischen Küstenlinie stattfindet. In nur wenigen Stunden kann er Strände radikal umformen, die Strandhöhe absenken und die Dünen ernsthaft erodieren. Das Ergebnis sind hoch aufragende, senkrechte Sandklippen, wo zuvor sanft abfallende bewachsene Dünen existierten, und das Äquivalent von Hunderten LKW-Ladungen Sand,

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die aus dem Blickfeld verschwunden sind. Dies kann starke Gefühle und sogar Angst auslösen. Gewöhnlich führt es zu Forderungen danach, ‚etwas zu unternehmen‘ und die Erosion ‚unter Kontrolle zu bringen‘. Die Befürchtung ist, dass die Erosion, wenn sie nicht ‚angehalten‘ wird, immer weitergehen wird. Dieses Missverständnis führt gewöhnlich zur Platzierung von Steinwällen und anderen Ufermauern.“ (DRTNZ 2011b, 1)

Daher setzen die hier zitierten Materialien des neuseeländischen Dune Restoration Trust auf Aufklärung mit dem Ziel, „die natürlichen Prozesse von Brandungserosion und Wiederherstellung, und wie man am besten mit diesem natürlichen Prozess lebt, zu erklären und die Notwendigkeit zu vermeiden, unsere Strände mit Steinmauern und anderen Strukturen zu überziehen“ (ebd.). Dramatische Reaktionen, insbesondere der Einsatz von permanenten, harten Küstenschutzmaßnahmen sind dieser Ansicht nach dann nicht notwendig. Durch die Übernahme einer solchen Perspektive auf Erosion werden auch die Coast CareFreiwilligen in die „community of practice“ (Wenger 1998) eingemeindet, die eine Abkehr vom harten Küstenschutz unterstützt. Der Coast Care-Koordinator dazu: „Ich denke, da hätte ich Coast Care-Ehrenamtliche und Küstenbewohner generell gerne in ihrem Denken: dass Erosion und Regeneration ein großartiger natürlicher Prozess ist und ein Beispiel der Natur. Und dass Erosion nicht zwangsläufig eine schlechte Sache ist.“ (Interview mit Pim de Monchy, BOP Coast Care)

Dies ist zugleich ein klarer Versuch der normativen Neubewertung von Erosion. Eine ähnliche Auffassung, die natürliche Vorgänge und menschliche Reaktionen darauf zu trennen versucht, wird auch von den eingangs zitierten Küstenwissenschaftlern Cooper und McKenna vertreten, die argumentieren, dass „Küstenerosions-Probleme durch das Vorhandensein menschlicher Infrastrukturen in von Erosion bedrohten Gebieten erwachsen; Erosion als Problem zu identifizieren ist daher ein menschliches Werturteil.“ (Cooper und McKenna 2008a, 296, Hervorhebung im Original)

Diese Intervention geht mit dem impliziten Versuch einher, die Abtragung und Anlagerung von Sedimenten vom sozialen, politischen und kulturellen Kontext loszulösen, in dem Erosion „problematisiert“ wird (siehe Rabinow 2002). Demnach kann es nur einen universalen, ganz und gar natürlichen Prozess der Erosion geben – und viele daraus resultierende, menschengemachte Probleme. Die eine Natur, auf die hier rekurriert wird, ist klar unterscheidbar von den politischen, ethischen und normativen Entscheidungen von Menschen darüber, in welcher

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Welt sie – wir – leben wollen. Die hier reinszenierte Trennung von Natur und Kultur der Küste übersetzt sich zudem in eine räumliche Grenze menschlicher Handlungsmacht. Erosion ist dabei Ausdruck eines Strandsystems, dessen natürliches dynamisches Gleichgewicht durch den Menschen in mindestens dreierlei Hinsicht gestört ist: durch zu wenig Raum, falsche oder beeinträchtigte Vegetation und fehlende Gelassenheit. Die Aufforderung, man solle sich zurücklehnen und den natürlichen Prozess genießen mag nicht nur aus der Warte der von Erosion betroffenen Hausbesitzer*innen zynisch klingen. Sie läuft auch darauf hinaus, eine explizite Trennlinie zwischen den Räumen für Menschen und den Räumen für Natur einzuziehen. Das Ziehen dieser Trennlinie ist jedoch im vorgestellten Feld nicht als mangelndes Verständnis für die vorgefundene Komplexität der Küstenerosion, sondern als ein bewusster, politischer Akt der strategischen Naturalisierung zu verstehen. Aus der Perspektive der Coast Carer und ihrer Unterstützer*innen begründet sich die eigene Handlungsfähigkeit gerade daraus, durch universelle Lösungen und Strategien in die Versiegelung der Küsten zu intervenieren und so eine alternative Praxis zu etablieren. Der Bezug auf einen ausschließlich natürlichen Prozess legitimiert also einen Einsatz von Praktiken zur Wiederherstellung der Küstennatur, die eine von politischen Entscheidungen oder kulturellen Präferenzen unabhängige Lösung des Erosionsproblems versprechen. Der Versuch dieser trennscharfen Unterscheidung zwischen Natur und Kultur der Küste ist also geradezu eine Reaktion auf deren so grundlegende Vermischung, wie sie häufig in Erosionsproblemen zu Tage tritt. Deren Komplexität liegt eben genau darin, dass sich Ursachen und Auswirkungen einer klaren Zuordnung in natürliche beziehungsweise gesellschaftliche Faktoren nachhaltig widersetzen. Die Effekte des Meeresspiegelanstiegs und die Häufung extremer Wetterereignisse spielen für die Problematisierung von Erosion ebenso eine Rolle wie die zunehmende Bebauung der Küsten weltweit, der steigende materielle und immaterielle Wert der Küste für Menschen und mehr-als-menschliche Natur und die ungewollten Nebeneffekte von Küstenschutzbauwerken selbst. Das macht den NaturenKulturen-Ansatz, der eine solche Trennung in natürliche und „menschliche“ (politische, soziale, kulturelle) Faktoren nicht vorschnell unternimmt, hoch relevant für das Verständnis und die normative Bewertung von spezifischen Erosionsproblemen. Dieser Ansatz pluralisiert Erosion und verabschiedet sich damit von einem universellen Konzept der Erosion als durch und durch natürlich und nur durch menschliche Wahrnehmung (oder Praxis) zum Problem gemacht. Erosion ist vielmehr immer ein Produkt vielfältiger Verstrickungen und Verbindungen materieller und sozialer Natur(en). Für ein Verständnis dessen, was hier jeweils – für wen und unter welchen Vorausset-

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zungen – zum (Erosions-) Problem wird, und damit auch dafür, welche Lösungen realistisch und politisch gewollt sind, ist es notwendig, diese Verstrickungen von Fall zu Fall genau zu untersuchen.

*** Küstenschutz, das habe ich in diesem Beitrag versucht zu zeigen, ist eine naturkulturelle Praxis. Menschliche und mehr-als-menschliche Akteure und Objekte werden dabei in jeweils spezifische Ensembles soziomaterieller Praktiken eingebunden. Das gilt für die permanenten Sorge- und Instandhaltungsarbeiten der Coast Care-Gruppen, mit denen eine als ursprünglich einheimisch definierte Assemblage von Tieren und Pflanzen wiederhergestellt wird, indem bestimmte Spezies angepflanzt, andere entfernt oder ausgesperrt werden – durch das Errichten von Zäunen, den Einsatz von Gift, konstante Unkrautbeseitigung und andere Maßnahmen. Das gilt ebenso für die Kategorie der native plant, die zunächst als das Allernatürlichste und selbsterklärend richtig am Platz erscheint, bei näherer Betrachtung aber historisch kontingent und unter den Umständen postkolonialen Umweltwandels immer in Gefahr ist; zudem beruht die konkrete Form und Existenz der von Coast Care verwendeten Pflanzen auf experimentellen Praktiken der Pflanzenproduktion, wie etwa dem Ecosourcing. Und dies gilt auch für das zuletzt adressierte Grundproblem, die Küstenerosion, die sich als komplexer sozionatürlicher Prozess entfalten lässt. Auch der alternative Küstenschutz, der mit (und nicht gegen) die Natur arbeiten will, kann sich nicht einfach auf ein zeitloses und universales Konzept von Küstennatur verlassen – obwohl sich seine Vertreter*innen teilweise genau darauf berufen, um ihren Forderungen politischen Nachdruck zu verleihen. 12 Im Gegensatz zu dieser strategischen Naturalisierung zeigt die empirische Untersuchung konkreter Projekte, dass es sich beim „Arbeiten mit der Natur“ um ganz spezifische, situierte Praktiken menschlicher und mehr-als-menschlicher Akteure handelt, aus denen bestimmte Küstennaturen immer erst entstehen. Letztlich geht es also vielmehr darum, spezifische Küstennaturen herzustellen, zu erhalten und dafür auch Verantwortung zu übernehmen. Ein erster Schritt in diese Richtung liegt darin, die NaturenKulturen der Küste und die Versammlung der daran beteiligten Akteure, Praktiken und Objekte sichtbar zu machen. Dies ermöglicht überhaupt erst die Beschäftigung mit der Frage, „wie die Dinge auf nachhaltigere Weise zusammengebracht werden können“ (Hinchliffe 2007, 186), also wie

12 Lorimer und Driessen (in diesem Band) haben gezeigt, dass Biodiversitätspraxen auch ohne eine statische, vorgängige Formel von „Der Natur“ auskommen können.

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Verbindungen zwischen menschlichen und mehr-als-menschlichen Akteuren auf eine bessere Art und Weise praktiziert werden können. Ein solcher relationaler und experimenteller Ansatz politisiert den weichen Küstenschutz und die damit verbundenen Praxen der Renaturierung, in dem er die drängende Frage in den Mittelpunkt rückt, welche naturkulturellen Assemblagen der Küste sich für die Gegenwart und Zukunft als tragfähig erweisen.

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Märkte und Mutationen Mückennetze, Malaria und Weltgesundheitspolitik U LI B EISEL

Übersetzung aus dem Englischen von Jennifer Sophia Theodor Stechmücken gehen nur schwerlich als Gefährt*innenspezies des Menschen durch (Haraway 2008; Beisel 2010a; 2010b). Da Stechmücken tödliche Infektionskrankheiten auf Menschen übertragen können, sind sie und ihr Lebensraum schon seit Jahrhunderten Gegenstand von Umweltmanagement (z.B. Mitchell 2002; Packard 2007; Ross 1902). Dieser Aufsatz erforscht Mückennetze als ein Werkzeug der Weltgesundheit, das Menschen vor unerwünschten Begegnungen mit Stechmücken und Parasiten bewahren soll. Neuere Forschungen in Geografie, Anthropologie und verwandten Disziplinen haben den über den Menschen hinausgehenden oder speziesübergreifenden Charakter des biosozialen Lebens herausgearbeitet (Whatmore 2002; Hinchliffe 2007; Kirksey und Helmreich 2010). Menschliches, tierisches und pflanzliches Leben sind in dieser Denkweise nicht eindeutig in einerseits menschliches und andererseits natürliches Leben trennbar. Stattdessen fokussieren sogenannte Multispezies-Analysen auf die Verwobenheit, oder die „materiell-semiotischen Knoten“ zwischen Menschen und anderen Lebensformen – und verstehen beispielsweise Hunde und Menschen als Gefährt*innenspezies oder Bakterien als wesentlichen Bestandteil menschlicher Körper (Haraway 2008). Während es anfänglich um jene Momente ging, „wenn Spezies sich begegnen“ (ebd.) oder um nicht-menschliche „Anwesenheiten“ in Stadtzentren (Hinchliffe et al. 2005), wenden sich jüngere Arbeiten schwierigeren Formen der speziesübergreifenden Koexistenz zu: etwa den gefährlichen Begegnungen zwischen Menschen und Raubtieren (Buller 2008; Collard 2012), den „schwankenden Ökologien“, die Menschen, Elefanten und Alkohol aneinander binden (Barua 2013) oder der „unmenschlichen Natur“ samt ihrer Katastrophen, wie Tsunamis (Clark 2011; Tironi und Farías 2015). Doch

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auch ohne besonders aggressive Säugetiere oder ungestüme physikalische Kräfte gibt es ungemütliche Begegnungen zwischen Mensch und Nichtmensch. Auch menschliche Beziehungen mit scheinbar harmloseren Kreaturen können heikel sein – wie mit schleimigen Gartenschnecken oder gefährlichen Krankheitserregern (Ginn et al. 2014; Beisel et al. 2013; Ginn 2013; siehe auch Candea 2010). Wie Alex Nading zeigt, sind die Stechmückengattung Aedes und der DengueVirus zutiefst verschränkt mit „Veränderungen in Körpern, die in wechselseitiger Rückwirkung mit Landschaften stehen“ (Nading 2014, 10). Entsprechend charakterisieren Kelly und Lezaun Malariabekämpfung als eine Aufgabe der „mühsamen Trennung“ von Stechmücken, Menschen und Parasiten und stellen die hierfür mobilisierten Politiken und Praktiken in einen breiteren Zusammenhang mit Stadtplanung und Umweltmanagement (Kelly und Lezaun 2014). Mein Beitrag ist in dieser Literatur sowie in einem Ethos der MultispeziesVerwobenheit [entanglement] verortet, doch befasst er sich mit einer weiteren Art der Trennung, die ich hier mit Callon als Entkopplung [disentanglement] konzeptualisiere. Unter Bezugnahme auf wirtschaftssoziologische Überlegungen (Callon 1998; 2007; Çalışkan und Callon 2009) analysiere ich Malariamanagement, indem ich politisch-ökonomische Prozesse der Produktion und Verteilung von Mückennetzen und das Aufkommen der Insektizidtoleranz1 von Stechmücken zusammen diskutiere. Mich interessiert, wie die Rahmung von Mückennetzen als „humanitäre Güter“ (Redfield 2012) sie in bestimmten Märkten und Logiken verwebt und sie von anderen entkoppelt (Callon 1998). Wie verbergen vorherrschende Logiken im Weltgesundheitsdiskurs und in der Malariabekämpfung lokale Wirtschaftspraktiken und wie spielen sie die Bedeutung sich verändernder Ökologien herunter? Welche Auswirkungen haben bestimmte Konzeptionen von Mückennetzen auf situierte Praktiken des Umweltmanagements: auf Menschen, die Netze herstellen, verkaufen, kaufen und unter ihnen schlafen; sowie auf Stechmücken, die von Netzen und ihren eingewebten Insektiziden abgestoßen oder getötet werden? Die erste Ebene, die ich entflechte, liegt in der politischen Ökonomie von Mückennetzen. Insektizidbehandelte Mückennetze sind Objekte der Weltgesundheit, sie sollen die Gesundheit von Bevölkerungen erhalten, indem sie ein mechanisches und chemisches Hindernis zwischen Menschen und Stechmücken errichten. In der Logik der Weltgesundheit ist es nachrangig, wie die Netze pro-

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Ich benutze hier den wissenschaftlich genaueren Begriff der Insektizidtoleranz statt dem populärwissenschaftlich bekannteren Begriff der Resistenz. In der Fachliteratur verwendet man den Begriff der Resistenz nur, wenn Organismen komplett gegen eine Substanz immun sind, bei teilweiser Immunität spricht man von Toleranz.

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duziert und verteilt werden und wer von ihrem Verkauf profitiert. Der Fokus liegt auf der oft beworbenen Fähigkeit der Netze, „Leben zu retten“. Der Werbespruch der humanitären Organisation Nothing but Nets, „Send a Net. Save a Life“ (Nothing but Nets 2015), veranschaulicht das ebenso wie die Aufzählung des Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria: „450 Millionen insektizidbehandelte Netze verteilt“ (The Global Fund 2015). Ich gehe zunächst der Frage nach, wie dieses Verständnis von Netzen als einzelnem Objekt2, als humanitärem Gut, die potenzielle Macht der Netze als Wirtschaftsgut ausblendet. Mückennetze werden von internationalen Firmen hergestellt, nicht vor Ort, wo sie genutzt werden. Das bedeutet, dass von den internationalen Spenden für Mückennetze vor allem Firmen aus Industrienationen profitieren und nur ein einziger Nutzen den Endnutzer*innen zukommt, die vornehmlich in Regionen ohne die betreffende Industrie leben: der Schutz vor Mückenstichen. Den ökonomischen Wert der Netze nicht als Ressource zu verstehen, erscheint als verpasste Gelegenheit mit (wenn auch unintendierten) Nebeneffekten: Die Einführung insektizidbehandelter Netze hat Menschen arbeitslos gemacht – unter anderem in Ghana, wo das Nähen von Mückennetzen vormals eine Einnahmequelle von Schneider*innen war.3 Diese Unsichtbarkeit kann im ökonomischen Sinne als „negativer externer Effekt“ verstanden werden, in Callons Worten als „Entkopplung“ (Callon 1998). Meines Erachtens kann die Sichtbarmachung solcher entkoppelnder Praktiken uns lehren, Mückennetze als Weltgesundheitswerkzeug und als Wirtschaftsgut zu verstehen. Die zweite Entkopplung, die ich diskutiere, beeinflusst Politiken auf etwas andere Weise. In Malariaregionen auf dem afrikanischen Kontinent wurden zunehmend Mutationen bzw. die genetische Anpassung der Stechmücken an die in den insektizidbehandelten Netzen verwendeten Giftstoffe festgestellt, was deren Wirksamkeit bedeutend verringern kann (WHO 2012). Das in den Netzen ver-

2

Ich spreche hier im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie von einem „Objekt“ nicht als unveränderlichem materiellen Ding, sondern als Ergebnis soziomaterieller Zusammenhänge (Latour 2005) – „viele (wahrscheinlich alle) Objekte, die sich mutmaßlich im physischen Raum befinden, können nur in einem Netzwerk aus Beziehungen erkannt werden, das sie sichtbar macht“ (Law und Singleton 2003, 4; Hervorhebung im Original). Das betont den abhängigen Charakter von Objekten ebenso wie die Bedeutung einer „ontologischen Politik“ (Mol 1999).

3

Das Schneidern von Netzen ist weiter verbreitet. Ich konzentriere mich in diesem Artikel jedoch auf Ghana, wo ich 2007/2008 und 2009/2010 eine neunmonatige ethnografische Forschung durchgeführt habe.

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wendete Insektizid hat Mutationen beschleunigt, da es den Selektionsdruck auf die Stechmücken erhöht und deren Populationen somit kollektiv dazu angetrieben hat, ihre Körper an die Bekämpfungsmaßnahmen anzupassen. Diese Vitalität der Stechmücken gefährdet jedoch nicht nur die Wirksamkeit einer bestimmten Technologie der Krankheitsprävention, sondern bedroht umfassend die Bekämpfung der Malariaübertragung, da Insektizide nicht nur für Netze verwendet werden, sondern auch für Sprühanwendungen in Innenräumen. Diese beiden Technologien bilden das Rückgrat der aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung von Stechmücken. Deren Toleranzen gegen die Mittel könnten somit dramatische Auswirkungen haben. Insektizidtoleranz verweist außerdem auf die Grenzen menschlicher Handlungsfähigkeit oder Handlungsmacht im Umweltmanagement. In diesem Sinne können Stechmücken und ihre mutierenden Genome und Körper als eine zweite Entkopplung des gegenwärtigen Malariamanagements verstanden werden. Mit ihrem Versuch, Stechmücken passiv, natürlich und kontrollierbar zu halten, erreichen Menschen paradoxerweise oft das Gegenteil: Stechmücken behaupten ihre Vitalität und passen sich den veränderten Umwelten an. Meine Analyse der Entkopplung mutierender Stechmücken von aktuellen Mückennetzpolitiken soll hervorheben, was Clark (2011) die „unmenschliche“ Beschaffenheit der Natur nennt: Stechmücken stellen sich als dynamischer heraus als in den menschlichen Kontrollbemühungen angenommen. Wir leben auf einer Erde, „die ihr eigenes Ding macht, was auch immer wir ihren Mobilisierungen und ihrer Hartnäckigkeit hinzufügen“ (ebd., 26).

M ÜCKENNETZE

ALS ÖKONOMISCHES

O BJEKT

DENKEN

Das Zusammendenken der Politischen Ökonomie und der Biologie von Mückennetzen ermöglicht ein Verständnis der unerwünschten Auswirkungen von Politikgestaltung. Denn beide Dimensionen zusammen – die politisch-ökonomische und die biologische – können von gegenwärtigen Praktiken der MalariaBekämpfung nicht kontrolliert und genutzt werden. Für Shaw et al. bieten Stechmücken ein Lehrstück der Unmöglichkeit, das „Leben zu kontrollieren“: Ihre „Monstrosität ergibt sich aus den Exzessen und Diskontinuitäten zwischen der Umwelt der Stechmücken und den menschlichen Bemühungen, sie zu vernichten“ (Shaw, Jones und Butterworth 2013, 260). Wie die jüngere sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung (STS) (vgl. Law 2004; Mol 2003; 2008), richte ich meine Aufmerksamkeit auf jene Auswirkungen, die den Interventionen des Stechmückenmanagements entgehen – die darin als bedeutungslos gelten. Ich untersuche vorherrschende sowie alternative Logiken der

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Weltgesundheitsdiskurse und deren Eingriffe in Lebensrealitäten. „Logik“ verweist hier nicht auf eine umfassende Kohärenz, sondern auf „eine lokale, zerbrechliche und doch einschlägige Kohärenz“ (Mol 2008, 8). Biomedizinische Anliegen sind die vorherrschende und prägende Logik in den Interventionen der Malariabekämpfung als Krankheitsprävention. Diese Logik ist aus der Wissensproduktion der Biomedizin und vor allem der Öffentlichen Gesundheit abgeleitet, einem Feld, das mehr und mehr als „Weltgesundheit“ bezeichnet wird. Obwohl einer Begriffsanalyse Fassins zufolge einige Neuerungen in der Verschiebung von internationaler Gesundheitspolitik zum Nexus der Weltgesundheit gar nicht so neu sind (Fassin 2012), lohnt sich dennoch ein Blick auf einige ausgewählte Veränderungen: (1) Mit dem Eintreten der Weltbank in Gesundheitsangelegenheiten im Zuge der Strukturanpassungsprogramme gab es eine Verschiebung hin zu einer numerischen Logik, zu Vergleichen und Äquivalenzen zwischen Kontinenten und Ländern (Pfeiffer und Chapman 2010; Erikson 2012). (2) Hiermit ging eine Verschiebung hin zu einer Fragmentierung von Akteur*innen einher, eine neue Dominanz öffentlich-privater Initiativen und anderer parastaatlicher Akteur*innen über nationale Akteur*innen (Geissler 2013; 2015; Rees 2014) sowie eine Bewegung hin zu „Projekten“ als Handlungseinheiten (Whyte et al. 2013; Krause 2014). (3) Alldem liegt eine ungleiche Geografie des „Weltgesundheitskomplexes“ zugrunde (McGoey, Reiss und Wahlberg 2011): Das betrifft Technologietransfers (Behrends, Rottenburg und Park 2014), koloniale und postkoloniale Machtverhältnisse (Keller 2006), fortwährende Vernachlässigung (Kelly und Beisel 2011) sowie Kollaborationen und Experimente in der Weltgesundheitsforschung (Rottenburg 2009; Crane 2013; Geissler und Owkaro 2014). In diesem Rahmen kommen immer mehr „humanitäre Güter“ zum Einsatz (Redfield 2012): unterschiedliche Objekte der humanitären Hilfe – mobile Technologien wie Wasserfiltersysteme, Plastiktüten als Toilettenersatz oder Erdnusspaste gegen Mangelernährung. Peter Redfield argumentiert, dass diese mobilen Technologien humanitärer Hilfe und globaler Gesundheit dazu beigetragen haben, neue Formen von „Bio-Erwartungen“ [bioexpectations] hervorzubringen. Damit ist der Versuch gemeint, die drängendsten Probleme der Welt nicht durch neue Regierungsweisen, sondern durch eine „Alchemie von innovativem Design und empirischer Überwachung“ anzugehen (ebd., 158). Was diese Objekte vereint ist nicht nur ihre Gestaltung, die darauf abzielt, fehlende Gesundheits- und Ernährungsinfrastrukturen sowie fehlende sanitäre Anlagen zu ersetzen, sondern auch die Tatsache, dass sie als Waren in humanitären Märkten fungieren. Als solche, so argumentiert Redfield weiter, stellen sie „eher moralische und medizinische als wirtschaftliche Werte in den Vordergrund“ (ebd., 159).

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Mir geht es nun um Mückennetze, die ein solches humanitäres Gut darstellen, das schon lange für die Malariaprävention steht. Unter dem Schirm der Millenniums-Entwicklungsziele machten internationale Organisationen Malariabekämpfung wieder zur Priorität. Insektizidbehandelte Netze sind seit den 1990erJahren ein Kernelement der Malariabekämpfung – „insgesamt 427 Millionen [Netze] werden zwischen 2012 und 2014 in afrikanischen Ländern südlich der Sahara verteilt“ (WHO 2014, 12).4 Die WHO schätzt, dass der Anteil der dortigen Haushalte, die mindestens ein insektizidbehandeltes Netz besitzen, von 3 Prozent in 2004 zu 49 Prozent in 2013 angestiegen ist (WHO 2014, 10). Es wird angenommen, dass insektizidbehandelte Netze deutlich zur Verringerung von Malariainfektionen beigetragen haben und sie gelten weithin als kostenwirksamstes Werkzeug der Malariabekämpfung. Mein Fokus auf diese Mückennetze und ihre Auswirkungen auf lokale Ökonomien und Ökologien bietet einen ethnografischen Einblick in jene Bereiche, die von der verbreiteten Weltgesundheitslogik – samt ihrer Privilegierung von moralischen und medizinischen Werten über ökonomische Fragen (Redfield 2012) – unsichtbar gemacht oder vernachlässigt werden (Kelly und Beisel 2011). Die Verhandlung der verteilten Netze als „gerettete Leben“ macht deren ökonomische und ökologische Folgen zum „Hinterland“ (Law 2004, 14). Sie treten hinter der dominanteren Logik im Gefüge der Bezugnahmen, die ein Objekt ausmachen, zurück und werden irrelevant. In der ökonomischen Theorie spricht man von „negativen externen Effekten“, von unerwünschten Nebenwirkungen, die behoben werden können, sobald sie erkannt werden. Callon widerspricht dieser optimistischen Annahme der Kontrollierbarkeit und argumentiert, dass es keine „totale Kontextualisierung“ geben kann, da jeder Versuch, externe ordnungschaffene Momente ins Spiel zu bringen neue „Überläufe“ oder „Entkoppelungen“ hervorbringt. Stattdessen sollten die Wirtschaftspraktiken und -objekte in ihrer Performativität untersucht werden, um zu erkennen, was eine Logik verkoppelt (oder internalisiert) und was sie entkoppelt (und externalisiert) (Callon 1998).

4

Eine Publikation aus den frühen 1990er-Jahren behauptete, dass insektizidbehandelte Netze einen Rückgang der Kindersterblichkeit um 42 Prozent bewirkten (Alonso et al. 1991). Dieses spektakuläre Ergebnis bewegte die WHO-Forschungsabteilung TDR zur Durchführung einer großangelegten Studie über die Wirkung insektizidbehandelter Netze in Gambia, Ghana, Kenia und Burkina Faso. Die positiven Ergebnisse dieser Studien lösten einen Maßnahmenumschwung zur allumfassenden Abdeckung mit insektizidbehandelten Netzen in Malariaregionen aus (Binka et al. 1996; d’Alessando et al. 1995; Nevill et al. 1996).

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Dies ist Ausgangspunkt meiner Analyse von Mückennetzen als humanitären Gütern, denn auch humanitäre Güter sind Waren, die „einen Markt herstellen und diesen Markt zu einem Raum der humanitären Praxis machen“ (Cross 2013, 19). Wie Cross aufzeigt, besteht dieser Markt nicht nur aus Produzent*innen, Spender*innen und Endnutzer*innen, sondern zudem aus Risikokapitalfonds und Investmentgesellschaften (ebd., 7). Auch mich interessiert, wie humanitäre Güter hergestellt werden, aber mein Hauptaugenmerk liegt auf Endnutzer*innen – Menschen und Stechmücken. Im Folgenden spüre ich den Auswirkungen der Produktionsbedingungen von Mückennetzen auf lokale Ökonomien sowie ihren ökologischen Konsequenzen nach. Ein genauer Blick darauf, was humanitäre Güter womöglich vernachlässigen, indem sie als moralische und medizinische Objekte konstruiert werden, nuanciert hoffentlich die Strukturen, in denen humanitäre Güter „Gutes tun“.

M ÜCKENNETZ -M ÄRKTE Insektizidbehandelte Netze sind ein beliebtes Wohltätigkeitsobjekt: Für eine Spende von 10 US-Dollar kann ein Netz erworben und ausgegeben werden. Spender*innen können schon durch einen sehr kleinen Beitrag spürbar wirken: „Send a Net. Save a Life“ (Nothing but Nets 2009). Die Verbindung zwischen der Beschaffung eines Mückennetzes und dem „Retten eines Lebens“ erscheint direkt und überzeugend in ihrer Einfachheit – sie wird entsprechend im Marketing diverser Kampagnen genutzt. Die Werbung für Mückennetze als Weihnachtsgeschenk zur Rettung eines „gefährdeten Kinderlebens in Afrika“ (SFU 2008, o.S.) knüpft besonders deutlich an die etablierte Verknüpfung von Christentum, Kommerz und Zivilisation an – ganz in der Tradition des missionarischen Kolonialismus (Guha 1997). Der nicht-staatliche Politikberatungs- und Wohltätigkeitssektor ist eng mit Politiker*innen und Prominenten verbunden und gemeinsam „überfluten sie Afrika mit Mückennetzen“, wie es ein lieber anonym bleibender ghanaischer Entomologe formuliert. Entscheidend ist, dass dieses gesundheits- und entwicklungspolitische Handeln auch einen Markt erschafft, in dem multinationale, kapitalistische Geschäftsregeln gelten – allerdings unter den besonderen Bedingungen der humanitären Industrie. Zunächst einmal werden in diesem Markt die Mückennetze von großen internationalen Spendeninstitutionen (wie etwa UNICEF) gekauft – nicht von individuellen Endnutzer*innen. Doch können diese Spendeninstitutionen die Mückennetze nicht von jeder Firma kaufen: Die WHO zertifiziert die Produktion der Netze anhand von

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Sicherheits- und Qualitätsstandards (im Pesticide Evaluation Scheme, WHOPES) und UN-gebundene Organisationen können nur diese empfohlenen Netze beschaffen. In der Praxis schließt dieses Verfahren kleinere Produktionsstätten vor Ort aus, nicht, weil deren Produkte unbedingt von schlechterer Qualität sind, sondern weil die meisten kleinen Firmen sich den Lizensierungsprozess nicht leisten können. NetMark, eine soziale Marketinginitiative, formuliert die Probleme der afrikanischen Hersteller*innen so: „Viele Länder würden gern ihre eigenen Kapazitäten der Netzherstellung ausbauen, doch erfordert die Herstellung Millioneninvestitionen in einem Bereich mit hoher Konkurrenz und knappen Margen“ (NetMark, o.D.). Nach ihrer Produktion müssen die Netze zu jenen gebracht werden, die sie am Ende nutzen. In Ghana waren 2007 die Hauptakteure hinsichtlich der Implementierung von Mückennetzen die ghanaische Gesundheitsbehörde und UNICEF, die zusammen Netze kostenlos an gefährdete Gruppen verteilten. Im Allgemeinen gehört die Verteilung von Netzen zu den Routinemaßnahmen der Malariabekämpfung und spiegelt die Prioritäten internationaler Spendeninstitutionen wider. Die Verteilung kostenloser Netze zielt strategisch auf gefährdete Gruppen, und zwar schwangere Frauen und Kinder unter fünf Jahren. Sie versorgt also nur einen spezifischen Ausschnitt der Bevölkerung. Insektizidbehandelte Netze einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist wiederum die Arbeit anderer Organisationen. Zwischen 1999 und 2009 zielte NetMark darauf ab, insektizidbehandelte Netze in acht afrikanischen Ländern südlich der Sahara breiter kommerziell erhältlich zu machen; Ghana war eines dieser Länder. NetMark, gegründet und finanziert von der US-amerikanischen Entwicklungsbehörde USAID, betreibt in Zusammenarbeit mit kommerziellen Partner*innen sowie dem staatlichen ghanaischen Programm zur Malariabekämpfung ein Gutschein-System samt Nutzungsberatung und 50-prozentigem Preisnachlass auf insektizidbehandelte Netze für schwangere Frauen. 2007 erklärte mir eine Koordinatorin des National Malaria Control Programme, dass NetMark für sie vor allem wegen der möglichen Spendenmüdigkeit wichtig sei. Sie argumentierte, dass Ghana durch die Hilfe von NetMark bald über ein etabliertes kommerzielles Vertriebssystem in den Städten und Dörfern verfüge, das von der Finanzierung und Verteilung von Netzen durch Spendenorganisationen unabhängig ist. Interessanterweise erachtete die Interviewpartnerin das kommerzielle System als nachhaltiger als das Weltgesundheitssystem mit seiner Spendenabhängigkeit: „NetMark ist eine Möglichkeit, die kommerziellen Partner an Bord zu halten“, sagt sie, „insbesondere, wenn wir bedenken, dass die Spenden von insektizidbehandelten Netzen häufig eine Marketingstrategie sind, was nicht endlos so weitergeht.“ Einige Weltgesundheitsspezialist*innen widersprechen;

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sie argumentieren, dass Netze kostenlos und nur durch öffentliche Kanäle verteilt werden sollten, um eine flächendeckende Versorgung und Nutzung sicherzustellen (Teklehaimanot et al. 2007, 2146). Das Argument lautet, dass die Finanzierung nicht „in dem Versuch umgeleitet werden sollte, neue Märkte zu schaffen, die es nicht gibt“, weil die Menschen sich die Netze nicht leisten können und die freie Verteilung die einzige Möglichkeit ist, sie mit Netzen zu versorgen (ebd.). Während es richtig ist, dass viele Menschen die Netze nicht bezahlen können, ist die Behauptung, dass es keinen Markt gebe, falsch: Diese Märkte gab es tatsächlich schon vor der Sozialmarketing-Kampagne und lange bevor mit Insektizid behandelte Netze verteilt wurden. Ein ghanaischer Freund erzählte mir im Februar 2009 die Geschichte seiner Mutter, die früher in Tamale Mückennetze herstellte und verkaufte, aber durch die Verteilung von kostenlosen Insektizidnetzen arbeitslos wurde: Nicht nur seine Mutter ging dieser Beschäftigung nach, sondern auch viele andere Leute in Tamale. Es handelte sich um ein lokales und gut etabliertes Geschäft, eine eigene lokale Ökonomie. Daniel erklärte mir diesen lokalen Wirtschaftszweig wie folgt: Die Materialien kamen aus Europa, gemeinsam mit gebrauchter Bekleidung. Das Material für die Netze wurde in großen Ballen importiert, von denen einige eine gröbere Netzstruktur aufwiesen – die wurden für Kleidung und Vorhänge verwendet. Jene mit dem feineren Netz wurden für die Mückennetze genutzt. Das Material wurde zur Schneiderei gebracht, wo aus dem Rohmaterial aufhängbare Netze genäht wurden. Daniel zufolge hatte dieser Schneidereizweig seine eigenen Besonderheiten. So waren hier oft Männer die Schneider, während die Kleidungschneiderei größtenteils in Frauenhand liegt. Die Netze wurden dann an lokale Vertriebsstrukturen ausgeliefert, entweder an Leute, die sie auf dem Markt verkauften oder an Leute, die sie in ländliche Gebiete brachten und an Bäuer*innen verkauften. Es handelte sich hier nicht um ein geringfügiges informelles Zusatzeinkommen für wenige Menschen, sondern um ein eigenständiges, etabliertes, lokalwirtschaftliches Produktions- und Handelsnetz. Die Verkäufe waren gut, wenn auch saisonal – besonders hoch in den Regen- und Erntezeiten, wenn es viele Stechmücken gibt und die Leute zudem Geld haben, um die Netze zu kaufen. (Beisel, meine Feldnotizen, London, 2009)

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Abb. 1: Mückennetzausgabe als Teil der Grundimmunisierungskampagne in Ghana, 2007. (Foto: Uli Beisel)

Abb. 2: Mückennetzgutscheinausgabe, Ananekrom, Ghana, 2007. (Foto: Uli Beisel)

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Abb. 3: Mückennetztransport, Ananekrom, Ghana, 2007. (Foto: Uli Beisel)

Es liegt Ironie in der Tatsache, dass NetMark hart daran arbeitete, einen Markt aufzubauen, den es bereits gab. Genauer betrachtet, handelt es sich hier jedoch nicht um einen, sondern um zwei Märkte. NetMark ging es darum, insektizidbehandelte Netze auf dem ghanaischen Markt zu platzieren und durch Steuerminderung, Gutscheine und mehr Produkte im Umlauf deren Preis zu verrin-

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gern. NetMark baute so einen Markt für importierte insektizidbehandelte Netze auf, anstatt mit dem lokalen informellen Schneidereimarkt zusammenzuarbeiten, in den mein Freund Daniel mir Einblick verschaffte. Diese lokale Kapazität ist also für NetMark nicht relevant und die unschöne Nebenwirkung der Einführung international produzierter insektizidbehandelter Netze in den ghanaischen Markt war, dass viele lokale Mückennetzproduzent*innen ihr Einkommen verloren. Hier werden im Namen von Entwicklung und Weltgesundheit lokale Praktiken und Netzwerke zerstört. Dieses Phänomen ist selbstverständlich nicht neu, sondern wird schon lange im Kontext verschiedener entwicklungspolitischer Initiativen kritisiert (vgl. Escobar 1995; Scott 1998; Rottenburg 2002). Diese etablierten Kritiken an Entwicklungsideologien und -industrien sind aber im Falle der insektizidbehandelten Mückennetze noch immer richtig. Das wirft die Frage auf, ob wir uns Afrika weiterhin als leeren Kontinent vorstellen, der an Ressourcen reich, aber an funktionierenden Gesellschaftsstrukturen, Handelsnetzwerken und Wirtschaft arm ist. Um diese koloniale Haltung zu überwinden, müsste in der Produktion, im Vertrieb und in der Vermarktung von Mückennetzen mit und nicht parallel zu, beziehungsweise gegen, bestehende lokale Strukturen gearbeitet werden. Doch in der Schaffung eines Marktes für Mückennetze kommen die Rhetoriken der Notwendigkeiten der Weltgesundheit, der Wohltätigkeit und der Effizienz zusammen – und resultieren in der Priorisierung internationaler Märkte über die lokale Wirtschaft. In ihrem Buch Dead Aid (2009) identifiziert Dambisa Moyo dasselbe Dilemma. Ihr Lösungsvorschlag sind Mikrokreditinitiativen, die auf lokaler Wirtschaftsentwicklung aufbauen und diese fördern (Moyo 2009, 130–131). Dieser wichtige Ansatz fehlt nicht nur hinsichtlich der Mückennetze, sondern auch in vielen anderen Bereichen auf dem afrikanischen Kontinent.5 Doch ein genauerer Blick auf die Besonderheiten der insektizidbehandelten Netze (ITNs) und der Malariabekämpfung zeigt, dass das hier schwieriger ist als gedacht. Erstens sind

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Trotz einer deutlichen Zunahme von Mikrokreditinitiativen im Stile Grameens, „hat die Mikrofinanzindustrie noch keine 5 Prozent der Kundschaft in der verarmten Welt erreicht“ (Moyo 2009, 132). Mikrokreditinitiativen sind zumal keinesfalls als Allheilmittel der Armutsbekämpfung, der wirtschaftlichen Stimulation und der gerechten Entwicklung zu verstehen. Kritisiert werden sie unter anderem dafür, durch aggressive Rückzahlungsregelungen gesellschaftlich repressiv zu sein (Montgomery 1996; Rahman 1998), die ärmsten und gefährdetsten Gruppen nicht zu erreichen (Amin et al. 2003; Datta 2004) und größere Entwicklungsziele aus dem Blick verloren zu haben (wie etwa die Verbesserung der Lebenssituation, die Stärkung von Frauen und die Veränderung von Institutionen) (Fisher und Sriram 2002).

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heutige Mückennetze High-Tech-Produkte, die mit Insektiziden imprägniert sind. Bei der neuesten Version von Netzen namens „long-lasting insecticidetreated nets“ (LLINs) sind die Insektizide in das Textil des Netzes eingewebt und das Insektizid bleibt für die gesamte angenommene Nutzungsdauer des Netzes von vier bis fünf Jahren wirksam, ohne dass diese regelmäßig nachbehandelt werden müssen. Die Produktion von ITNs und LLINs findet in Fabriken statt und bedarf deutlich mehr als einem Zusammennähen von Maschen-Material. Das macht nicht nur die Herstellung zu einem teuren industriellen Prozess, sondern erfordert auch Sicherheits- und Qualitätsstandards für die Nutzung der Insektizide. So wäre eine Herstellung von ITNs/LLINs nicht auf die früher lokal etablierte Weise möglich, auch wenn die Spendengemeinschaft bereit wäre, in lokale Mückennetzproduktionen zu investieren. Die allermeisten der ITN/LLINProduktionsfirmen stellen nicht auf dem afrikanischen Kontinent her; Sumitomo Chemicals ist der erste Hersteller, der in Afrika produziert hat und davon überzeugt war. Der Werbeslogan der Firma lautet: „Made in Africa, by Africans, for Africans“ – „owned by Japanese“ wäre dem allerdings noch hinzuzufügen.6 Während es also nicht möglich sein mag, insektizidbehandelte Netze auf die gleiche Art und Weise herzustellen, in der früher in Ghana Netze gefertigt wurden, so ist es durchaus möglich, die Netze auf dem afrikanischen Kontinent oder in den jeweiligen Ländern ihrer Nutzung herzustellen. Ich habe hier argumentiert, dass Mückennetze entlang von einer Weltgesundheitslogik produziert und implementiert werden, in der nur die Endnutzung der Netze zur Malariabekämpfung in Betracht gezogen wird. Während das Weltgesundheitsargument, dass Mückennetze für alle frei verfügbar sein sollten, prinzipiell richtig sein mag, bereitet es in der Praxis Probleme. Erstens ignoriert es die post-/neokolonialen Dimensionen, etwa die Tatsache, dass Ghanaer*innen es schätzen, Strukturen aufzubauen, die das Land unabhängiger von Spenden machen. Zweitens geht die Argumentation davon aus, dass es genug Geld und internationalen politischen Willen gibt, um die Finanzierung zu erhalten, die nötig ist, um jeden der eine Milliarde Menschen auf dem afrikanischen Kontinent mit einem ITN auszustatten – ganz zu schweigen von den vielen Menschen in Malaria-Risiko-Regionen in Asien und Südamerika. Schätzungen zufolge werden jedes Jahr 150 Millionen Netze benötigt, um alle Malaria-gefährdeten Men-

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Der größte Konkurrent von Sumitomo Chemicals, Vestergaard-Frandsen produziert sein „Permanet“ in Vietnam und Thailand, wo die Netze auch vor Ort gebraucht werden. Der überwältigende Großteil von Malariainfektionen geschieht jedoch in Afrika südlich der Sahara, dem Hauptmarkt für die in Vietnam und Thailand hergestellten Netze.

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schen in Afrika südlich der Sahara mit Netzen zu versorgen (WHO 2013). Doch der Weltmalariabericht 2013 zeigt, dass die internationale und lokal-nationale Finanzierung 2012 weit unter den benötigten Ressourcen lag. In Mückennetzen gerechnet, stiegen die Ausgaben deutlich von 6 Millionen im Jahr 2002 auf 145 Millionen im Jahr 2010, sanken 2012 aber wieder auf 70 Millionen Netze. Die Zahlen stiegen 2013 wieder auf geschätzte 136 Millionen (WHO 2013, ix-x) und 2014 sollten 214 Millionen Netze verteilt werden (WHO 2014, 12). Die langfristige Aussicht bleibt jedoch unsicher. Sobald die internationale Spendenfinanzierung zurückgeht oder andere Krankheiten oder Strategien bevorzugt werden, werden vor Ort weniger Netze verfügbar sein. Somit ist die Sorge meiner Interviewpartnerin aus dem ghanaischen National Malaria Control Programme über die wirtschaftliche Nachhaltigkeit des Verlasses auf Spendengelder überaus berechtigt. Und auch Dambisa Moyo argumentiert mit gutem Grund, dass wir mit – und nicht parallel zu – bestehenden Strukturen arbeiten müssen, wenn wir wirtschaftliche Entwicklung fördern wollen. In den aktuellen Mückennetzpolitiken werden internationale Märkte über lokale Entwicklungen privilegiert und Weltgesundheitsanliegen dienen der Legitimierung solcher Politiken. Mit Callon (1998) können wir dies als Entkopplung von Mückennetzen durch ihre ökonomische Bewertung als humanitäre Güter der Weltgesundheit verstehen. Insektizidbehandelte Netze nicht als einen Gegenstand von ökonomischem Wert, sondern als Weltgesundheitswerkzeug zu betrachten, verdeckt die Politiken des Marktes, die sich mit und um Mückennetze abspielen. Indem sie lokale Ökonomien als unverknüpft mit den Gesundheitszielen der Netze erachten, marginalisieren internationale Spendeninitiativen im Endeffekt die lokalen Ökonomien. In Ghana hat dies zur Schaffung einer parallelen Marktstruktur geführt, die mit den älteren Organisationsweisen der Produktion, des Einkaufs und des Vertriebs von Mückennetzen konkurriert. Die unintendierten und negativen Effekte der Organisationsweisen des Mückennetzmarktes offenbaren sich angesichts der unbeachteten lokalen Strukturen – die Weltgesundheitslogiken und die Marktpolitiken stehen hier in Konflikt. Dennoch findet dieser Konflikt in den gesundheitspolitischen Debatten zu insektizidbehandelten Netzen nicht statt, in denen lokale Wirtschaftspolitik schlicht keine Rolle spielt. Er wird in den Diskursen, in der Politikgestaltung und in den Regelungen der Weltgesundheit ignoriert.

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M UTIERENDE M ÜCKEN Der folgende Abschnitt befasst sich mit einem zweiten nicht-intendierten Effekt der dominanten Politiken um Mückennetze. Hier geht es um die Verwendung von Insektiziden in Mückennetzen und deren Auswirkungen auf Stechmücken und deren Körper – eine zweite entkoppelte Wirklichkeit von Mückennetzen. Der analytische Blick auf Insektizide ist von kritischer Forschung zur Pestizidnutzung und Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft inspiriert (Shiva 1991; 1993; Magdoff et al. 2000; Harrison 2011). Doch während diese Literatur sich mit den schädlichen Auswirkungen der Pestizidnutzung auf Menschen und Umwelt befasst, geht es mir hier um die „Antwort“ der Stechmücken auf und ihre körperlichen Konfigurationen in Begegnungen mit insektizidbehandelten Netzen. „Antwort“ verweist hier im Sinne Donna Haraways auf die vitale Wirkmacht von Stechmücken und betont deren Fähigkeit, zu re- und inter-agieren – zu antworten (Haraway 2008; siehe auch Beisel 2010a). Ich verstehe Stechmücken nicht bloß als durch Pestizide „beschädigt“, sondern sie mutieren, sind veränderlich, entziehen sich dem Zugriff der Pestizide und Vektorkontrollstrategien. Callon (1998; 2007) folgend, können die Stechmücken sowie deren genetische und Verhaltensveränderungen als zweite Entkopplung – oder negativer externer Effekt – der moralischen Ökonomie humanitärer Güter verstanden werden. Doch anders als bei der ersten Entkopplung wird diese Externalität nicht von Menschen geschaffen, sondern Mückenkörper selbst entkoppeln sich aktiv von der Weltgesundheitsformulierung von Mückennetzen als „Problemlösung“ und Intervention – als Verhinderung der Malariaübertragung durch Stechmücken. Das erinnert an umwelthistorische Arbeiten, die die menschlichen Beziehungen mit Umweltkräften als „unvermeidbare Ökologien“ (Nash 2007) oder als „Ökologien der Komplexität“ verstehen, die die Eradikation von Krankheiten „unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich“ machen (Tilley 2004, 21). Meine Analyse ähnelt hier der von Nigel Clark’s, der das geläufige Verständnis von Umweltgerechtigkeit ausweitet: von der Vorstellung, dass etwas mit der Umwelt getan wird, hin zu der Frage, was geschähe, wenn wir Umwelten in ihrer Aktivität verstünden – als etwas, das selbst Gerechtigkeit herstellt (Clark 2011, 107–136). Clarks Einsicht betrifft Fragen, mit denen sich auch die Entomologie beschäftigt. Hier hört die Debatte über Mückennetze nicht mit der politischen Ökonomie der Produktion und Verteilung auf, sondern erfordert eine weitere, subtilere Zukunftsperspektive. In den anonymisierten Worten eines ghanaischen Entomologieprofessors:

462 | ULI B EISEL „Wenn etwas in einem Ökosystem manipuliert wird, wird sich auch etwas anderes verändern. Das ist ein Konkurrenzkampf, die Stechmücken brauchen ihre Blutmahlzeit, sie werden reagieren. Hinsichtlich etwa der Überflutung Afrikas mit Bettnetzen müssen wir uns fragen: Was werden die Stechmücken tun? Wir müssen uns die Perspektive der Stechmücken auf die Netze anschauen. Sie bekommen ihre Nahrung nicht. Wenn wir Glück haben und es genügend Kühe oder andere Tiere im Umfeld gibt, werden sie vielleicht anfangen, diese zu stechen. Wenn nicht, dann stechen sie vielleicht einfach früher, z.B. gegen 18 Uhr, wenn die Bettnetze keine Hilfe sind. Wir müssen diesen subtilen Dingen Beachtung schenken.“ (Interview mit A., 2008)

Die Stechmücke der Unterfamilie Anopheles braucht Blut, um ihre Eier zu ernähren. Menschliches Blut ist für die Stechmücke somit ein Mittel, ihren Nachwuchs und die Zukunft ihrer Art abzusichern. Nicht nur für die Menschen steht hier viel auf dem Spiel. Insektizidbehandelte Netze errichten ein physisches und chemisches Hindernis zwischen Stechmücken und Blut, sie töten die Mücken und stoßen sie ab. Wie mein Interviewpartner erläutert, haben die Stechmücken also keine große Wahl: Wenn es zu viele Netze gibt, müssen sie reagieren. Es gibt zwei Hauptanpassungen seitens der Stechmücken: Verhaltensanpassungen und körperliche Insektizidtoleranz. Erstere verweisen hier auf nachgewiesene Verhaltensänderungen bei der Blutsuche, wie Anpassungen in den Stechzeiten oder in der Auswahl des Wirtskörpers. Bevor ich dies weiter ausführe, möchte ich aber auf die Veränderungen im Mückenkörper selbst eingehen. Insektizide sind ein wichtiges Werkzeug der Malariabekämpfung, sie dienen den zwei wesentlichen Maßnahmen der Vektorkontrolle – insektizidbehandelte Netze und Sprühanwendung in Innenräumen. Zudem sind Insektizide in der landwirtschaftlichen Schädlingsbekämpfung zum Einsatz gekommen. Es gab also bereits eine hohe Insektizidbelastung, was zu einer großflächigen Verbreitung von Toleranzen geführt hat. Es gibt derzeit drei bekannte körperliche Toleranzmechanismen: (1) Toleranz an der Zielstelle des Insektizids, d.h. Mutationen im Nervensystem des Insekts, das vom Insektizid angegriffen wird (im spannungsgesteuerten Natriumkanal); (2) stoffwechselbedingte Toleranz, d.h. erhöhte Aktivität der Enzyme, die das Insektizid entgiften, bevor es das Nervensystem erreicht; und (3) Oberhauttoleranz, d.h. Veränderungen der Kutikula, die zu einer verringerten Insektizidaufnahme in den Mückenkörper führt (die bei Stechmücken vor allem über die Gliedmaßen stattfindet) (Ranson et al. 2011, 91–93). Für insektizidbehandelte Netze werden Elemente einer bestimmten Pestizidklasse empfohlen (Pyrethroide) (Enayati und Hemingway 2010). Bereits vor der breiten Einführung insektizidbehandelter Netze gab es Berichte über die Toleranz von Stechmücken gegen Pyrethroide in Westafrika – etwa in mehreren Re-

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gionen der Côte d’Ivoire seit 1993 (Tia et al. 2006) und in Benin (Akogbéto et al. 2010). Heute ist Pyrethroidtoleranz nicht nur in Westafrika weit verbreitet, sondern wurde in 64 Ländern mit fortwährender Malariaübertragung nachgewiesen (WHO 2012). Es wird angenommen, dass die Toleranz aufgrund der langwährenden und weit verbreiteten Anwendung von Insektiziden vor allem in Westafrika entstand – Insektizide wurden gegen Malaria versprüht, aber in weit größerem Umfang in der exportorientierten Landwirtschaft. Und hier kommt eine weitere Komplikation ins Spiel. Das Repertoire von Insektiziden, die sowohl wirkungsvoll als auch toxikologisch sicher sind, ist begrenzt, was zum Anstieg einer insektizidübergreifenden Toleranz bei Stechmücken geführt hat. Während für insektizidbehandelte Bettnetze nur Pyrethroide genutzt werden, werden für die Sprühanwendung zwölf Insektizide aus vier verschiedenen Klassen empfohlen (WHO 2012, 6). Die kosteneffizientesten sind Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT), Malathion und Deltamethrin (ein Pyrethroid) (Sadasivaiah et al. 2007, 254). Das Problem ist, dass die vier Insektizidklassen insgesamt nur auf zwei Stellen im Nervensystem abzielen (Brooke 2008). DDT und Pyrethroide greifen das Nervensystem der Stechmücken auf gleiche Weise an; sie zielen auf die spannungsgesteuerten Natriumkanäle (Santolamazza et al. 2008). Die genetischen Mutationen, die Stechmücken gegen eines der Insektizide tolerant werden lassen, machen auch das andere Insektizid unwirksam – die Mücken sind kreuztolerant. Hier kommen sich die landwirtschaftliche und gesundheitliche Nutzung von Insektiziden in die Quere. Beispielsweise war Ghana in den 1960er-Jahren der weltweit größte Anbaustandort für Kakao; DDT und Pyrethroide waren in den 1960er- und 1970er-Jahren vielgenutzte Pestizide/Insektizide auf diesen Plantagen (Pinto et al. 2007; Interview mit A. 2008). Seit 1985 ist die Schädlingsbekämpfung durch das Sprühen von DDT in Ghana verboten (EPA 2006). In der Folge haben Pyrethroide – einschließlich Deltamethrin, dem Insektizid in behandelten Mückennetzen – an Bedeutung auf ghanaischen Kakaoplantagen gewonnen und werden bis heute verwendet (Bateman 2008). Zudem gab es in Ghana seit 2007 einen bedeutenden Anstieg von Sprühanwendungen im Innenraum zum Schutz vor Malaria, was die Entwicklung der Toleranzen in Stechmücken weiter beeinflussen wird. Diese kommen also nicht nur durch die insektizidbehandelten Netze oder Innenraumsprays in Kontakt mit Pyrethroiden, sondern die Insektizidnutzung in Weltgesundheit und Landwirtschaft steigert gemeinsam den Selektionsdruck. Die regionalen Geschichten der Landwirtschaft und der Vektorkontrolle überschneiden sich und sind in das Genom der Stechmücken eingeschrieben.

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Es wird angenommen, dass verschiedene Mutationen vornehmlich eine hohe Toleranz gegen DDT und eine niedrige Toleranz gegen Pyrethroide zufolge haben (Enayati und Hemingway 2010, 579). Die Mutationen sind jedoch in einem großen Teil der Stechmückenpopulationen vorhanden. In einer Studie mit Anopheles gambiae (dem wichtigsten Malariaüberträger in Afrika südlich der Sahara) wurde der mutierte Genotyp in mehr als 98 Prozent der Exemplare nachgewiesen (Santolamazza et al. 2008, 8). Die praktische Wirkung auf insektizidbehandelte Netze bleibt unklar. In Benin wurde festgestellt, dass die Wirksamkeit insektizidbehandelter Netze in einer Region mit Pyrethroid-toleranten Stechmücken um 70 Prozent verringert war (N’Guessan et al. 2007). Eine spätere Studie in Benin kam zu der Schlussfolgerung, dass „an Orten mit resistenten Stechmücken das Schlafen unter einem insektizidbehandelten Netz nicht mehr schützt als das Schlafen unter einem unbehandelten Netz“ (Asidi et al. 2012). Frühere Studien von Darriet et al. (2000) und Asidi et al. (2004; 2005) zeigten hingegen, dass insektizidbehandelte Netze trotz der regelmäßigen Feststellung von Toleranz in Anopheles gambiae weiterhin wirksam Stechmücken töteten und deren Blutsaugen verhinderten. Im Allgemeinen sind solche Ergebnisse nur wenig vorhersehbar, da die Evolution bei Stechmücken überaus schnell sein kann: „Ein schneller Generationswechsel und damit einhergehende genetische Rekombination bedeutet, dass unter starkem insektizid-bedingten Selektionsdruck die Insektizidtoleranz in Überträgerpopulationen rasant zunehmen kann“ (Brooke 2008, 225). Gegenwärtig verbreitet sich die Toleranz in einer „außergewöhnlich rapiden Geschwindigkeit“ (Ranson et al. 2011, 91). Malariaexpert*innen sind sich einig, dass Toleranz und Kreuztoleranz sehr wahrscheinlich eine bedeutende praktische Wirkung auf die Wirksamkeit insektizidbehandelter Netze haben (WHO 2012). Um das Ganze noch komplexer zu machen, können Stechmücken nicht nur eine körperliche Toleranz gegen insektentötende Gifte entwickeln, sondern auch auf andere Weise insektizidbehandelte Netze vermeiden. Eine beobachtete Verhaltensveränderung ist die Verschiebung der üblichen Zeiten des Blutsaugens auf frühere Abendstunden, wodurch die Stechmücken die Netze umgehen. Ich spreche hier von Verhaltensanpassungen, weil es sich um Veränderungen handelt, die vom Verhalten – vom Handeln – der Stechmücken abgelesen werden. Solche Veränderungen sind nicht das gelernte Verhalten einer einzelnen Stechmücke. Sie finden vielmehr auf der Ebene von Teilpopulationen statt und sind für die Forschung durch verschiedene Verbreitungsraten von Teilpopulationen erkennbar. Teilpopulationen der Anopheles-Stechmücken mit leicht verändertem Blutsaugeverhalten – etwa jene, die früher Blut saugen – haben einen Überlebensvorteil und verschieben ihre ökologische Nische. So überleben mehr Stech-

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mücken mit früheren Blutsaugezyklen und entwickeln dominante Merkmale, was schlussendlich zur Anpassung in einer Population führt. Das klingt nach einem langsamen Prozess; doch bei einer Lebenserwartung der Stechmücken von 10-20 Tagen gibt es einen schnellen Generationswechsel. Solche Verhaltensanpassungen im Blutsaugezyklus von Anopheles wurden im Norden Ghanas bereits beobachtet (Interview mit W. 2008): Während im Süden des Landes die meisten Anopheles-Stiche gegen 22 Uhr sowie zwischen 0 und 1 Uhr morgens stattfinden, entwickelt sich im Norden offenbar eine dritte Hauptzeit zwischen 5 und 6 Uhr morgens. Zudem berichtet der hier forschende Entomologe, dass sich hier jene Stechmücken umstellen, die die meisten Parasiten übertragen. Diese Ergebnisse sind „sehr besorgniserregend“, da sie bedeuten, dass die Wirksamkeit der Netze schon jetzt eingeschränkt ist. Denn viele Menschen (insbesondere in den ländlichen Regionen) haben um 5 bis 6 Uhr morgens bereits den Schutzraum der Netze verlassen. Die von diesem Forschungsteam untersuchte Region ist zumal jene in Ghana, in der insektizidbehandelte Netze erstmals getestet wurden (Binka et al. 1996). Die Forscher*innen befürchten daher, dass jene Stechmücken, die nun frühmorgens zwischen 5 und 6 Uhr stechen, sich womöglich bereits an die insektizidbehandelten Netze angepasst haben. Um diese Hypothese zu überprüfen, erforscht das Team des Noguchi Research Institute nun das Stechmückenverhalten im Nachbardistrikt, wo es weniger insektizidbehandelte Netze gibt. Der Vergleich der Datenreihen kann womöglich Aufschluss über den Zusammenhang zwischen veränderten Blutsaugezyklen und insektizidbehandelten Netzen geben. Auch eine Studie aus Tansania ermöglicht derartige Einsichten. Die Studie wurde in einer Gegend durchgeführt, in der vor der Einführung insektizidbehandelter Netze die unbehandelten Netze weit verbreitet waren. So konnte die Wirkung beider Arten von Netzen untersucht werden. Die Studie zeigt, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Einführung insektizidbehandelter Netze und den veränderten Aktivitäten von Stechmücken gibt. Seit der Einführung der insektizidbehandelten Netze saugen Stechmücken häufiger draußen Blut und ihre Stechzeiten verändern sich. Die Einführung unbehandelter Netze hatte das Blutsaugen in Innenräumen (also im Innenraum, aber außerhalb des Netzes) in dieser Gegend verringert, jedoch nicht maßgeblich. Mit Einführung der insektizidbehandelten Netze änderte sich das drastisch: „Es war sehr deutlich, dass nach der Einführung der insektizidbehandelten Netze der Kontakt zum Menschen im Innenraum reduziert wurde, während der Kontakt, der am frühen Abend draußen stattfand, proportional anstieg“ (Russell et al. 2011, 4). Insgesamt wird die Entwicklung der Insektizid-Toleranz also durch die Verwendung von Insektiziden in den Netzen deutlich beschleunigt. Mückennetze

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ohne Insektizide gab es seit Jahrhunderten und sie boten schlafenden Menschen einen guten Schutz. Warum wurden also überhaupt insektizidbehandelte Netze eingeführt? Gut erhaltene unbehandelte Netze (also Netze ohne Löcher) schützen die Person, solange sie sich unter dem Netz befindet, und sie reduzieren die Malariaverbreitung nachweislich signifikant (um 51 Prozent im Vergleich zur Nichtnutzung von Netzen) (Clarke et al. 2001). Diesem Schutz fügen die insektizidbehandelten Netze hinzu, dass sie die Stechmücken töten, die mit dem Netz in Kontakt kommen und jene abweisen, die sich nähern. Das Abstoßen ist der Hauptvorteil der Nutzung von Insektiziden: Sie weiten so die Schutzzone des Netzes aus. Die Anzahl der Stechmücken, die sich im Innenraum aufhalten, war in Räumen mit unbehandelten Netzen deutlich höher als in Räumen mit behandelten Netzen (Snow et al. 1987). Das bedeutet, dass insektizidbehandelte Netze auch das Risiko der Mückenstiche im Innenraum, aber außerhalb des Netzes senken, was einen bedeutenden Vorteil gegenüber unbehandelten Netzen darzustellen scheint. In einer groß angelegten Vier-Länder-Studie der WHO-Forschungsabteilung TDR über die Auswirkung insektizidbehandelter Netze auf die allgemeine Kindersterblichkeit in den 1990er-Jahren wurde jedoch merkwürdigerweise kein systematischer Vergleich zur Nutzung unbehandelter Netze angestellt. Die Wirkung der insektizidbehandelten Netze wurde nur mit der Nichtnutzung von Netzen verglichen (Binka et al. 1996; d’Alessando et al. 1995; Nevill et al. 1996).7 In Gegenden mit guter Abdeckung durch insektizidbehandelte Netze ist die Übertragungsrate von Malaria deutlich gesunken. In der oben besprochenen Gegend in Tansania hat die Nutzung von insektizidbehandelten Bettnetzen die Übertragungsrate im Vergleich zur Nicht-Nutzung von Netzen um 94 Prozent gesenkt (Russell et al. 2011). Zugleich sind bedeutende Veränderungen in den Stechzeiten und im Muster des Drinnen- und Draußen-Stechens beobachtet worden, die die Wirksamkeit der Netze und Sprühanwendungen drastisch verringern: Die Zunahme der Stiche draußen und die Abnahme der nächtlichen Stiche bedeutet, dass sowohl Netze als auch Sprühanwendungen im Innenraum ihre umfassende Wirksamkeit verlieren, was zusätzliche Maßnahmen erforderlich macht (ebd.). Es ist aber wichtig, diese Veränderungen als Folge des Erfolgs von insektizidbehandelten Netzen zu interpretieren. Weil diese Netze so starke Werkzeuge gegen das Blutsaugen von Stechmücken sind, verändern diese ihre

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Die Kontrollgruppen der Studie setzten ihre Lebensführung fort wie bisher. Das Protokoll der Studie enthält keine detaillierten Informationen zu den Mückenschutzpraktiken, doch aus den Kommentaren in den Artikeln ist ersichtlich, dass vornehmlich keine Netze verwendet wurden.

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Populationsmuster (ebd.). Wir können hier und auch in der Vergangenheit (gescheiterter) Eradikationsversuche (Packard 2007) sehen, dass Stechmückenpopulationen sich schnell anpassen, Interventionen umgehen und sofort wieder zuschlagen, sobald diese beendet werden (Molineaux und Gramiccia 1980). Die stabilste Eigenschaft der Stechmückenkontrolle scheint deren Veränderlichkeit zu sein. Das Umweltmanagement rund um Malaria umfasst also nicht nur Menschen als wirkende Aktanten (aktive Teilhabende) – Stechmücken sind würdige Sparringspartner. In einem Spiel zwischen Intervention und Reaktion provozieren die Mutationen der Stechmücken weitere menschliche Interventionen. Insofern legt der Umgang mit Stechmücken ein Verständnis der „heterogenen Steuerung [engineering]“ (auf die Arbeit von Lucy Suchmann verweisend) nahe – bei der es nicht um „die Konfigurationen [geht], die sie auftreten lassen, sondern vielmehr um die Praktiken dieses Gestaltens und kontinuierlichen Umgestaltens – um die Versuche, einen bestimmten Kurs zu halten“ (Krause 2015, 9). Ich habe hier mutierende Stechmücken und ihre Insektizidtoleranz als eine zweite Entkopplung aus der Malariabekämpfung eingeführt. Doch entziehen sich mutierende Stechmücken den Maßnahmen nicht auf gleiche Weise wie Marktpolitiken sich der Weltgesundheitslogik entziehen. Insektizidtoleranz findet in der Malariabekämpfung durchaus Beachtung (etwa im Global Plan for Insecticide Resistance Management in Malaria Vectors, WHO 2012). Dennoch entziehen sie sich dem Zugriff der Maßnahmen und des Umweltmanagements, denn „Stechmücken werden sich allem anpassen, was die Menschen tun“ (Interview mit A. 2008) – und diese Reaktion bleibt immer auch unvorhersehbar (Gross 2010). Auch bei einer enormen Verstärkung der Forschung können Wissenschaft und Umweltmanagement bestenfalls gut informiert raten – nicht wissen –, wie die Stechmücken ihr nicht-menschliches Wirkungsvermögen nutzen. Der aktuelle Umgang der WHO mit Toleranzen zielt vor allem auf eine Eindämmung der Toleranzen beziehungsweise eine Beschränkung von ihrer Verbreitung in der Stechmückenpopulation ab, um so die Wirksamkeit der Werkzeuge zur Vektorkontrolle zu erhalten, bis neue Technologien entwickelt sind. 8 Die mutationsfördernden Eigenschaften der anfänglichen Bekämpfungsaktivitäten werden also nicht nachhaltig angegangen. Obwohl Insektizidtoleranz die Maßnahmen der Malariabekämpfung verändert, kauft diese Reaktion den Menschen bloß Zeit.

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Hierfür sollen Insektizide abgewechselt und Interventionen kombiniert werden, in Grenzregionen vielerlei unterschiedliche Insektizide zum Einsatz kommen (Mosaikmethode) und Insektizide verschiedener Klassen in einem Mittel vermischt werden (WHO 2012, 44).

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S CHLUSSFOLGERUNGEN Was folgt nun aus der Einsicht in die ökonomischen und ökologischen Entkopplungen der Mückennetzpolitiken? Erstens ist deutlich geworden, dass die Konstruktion der Mückennetze als ausschließlich technische Angelegenheit einen Raum geschaffen hat, in dem ein Bündnis aus Industrie, internationalen Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Regulierungsbehörden einen internationalen Markt für Mückennetze aufbauen konnte, der die lokalen Ökonomien der Netzschneiderei entkoppelt/externalisiert und marginalisiert. Das Verständnis von Mückennetzen als „frei verfügbaren“ humanitären Gütern, und als ein Werkzeug der Weltgesundheitsbemühungen, das „Leben rettet“, verdeckt die Marktpolitiken, die dennoch um die Mückennetze stattfinden. Internationale Firmen aus Europa und Japan sind die Hauptproduzenten von Mückennetzen, während afrikanische Firmen kaum involviert sind. Diese industrielle Herstellung von Mückennetzen hat zudem eine lang etablierte, dezentralisierte, lokale und kleinteilige Ökonomie der Schneiderei, des Verkaufs und Vertriebs von Netzen aus dem Geschäft gedrängt. Angesichts des Ideals, dass die meisten der eine Milliarde Menschen auf dem afrikanischen Kontinent ein Mückennetz besitzen sollten, hätte die Netzproduktion auch mit einer der unzähligen Initiativen zur Wirtschaftsentwicklung verknüpft werden können (von denen viele aus den gleichen Mitteln finanziert werden, die auch die Mückennetze subventionieren). Von den Mückennetzspenden profitieren nun stattdessen Firmen aus wieder einmal bereicherten Ländern; den afrikanischen Endnutzer*innen bringen die Mückennetze von den vielen möglichen Vorteilen nur einen einzigen: den Schutz vor Mückenstichen. Zweitens habe ich aufgezeigt, dass insektizidbehandelte Netze von der „Logik“ der Stechmücken selbst herausgefordert werden. Die landwirtschaftliche und gesundheitliche Nutzung von Insektiziden schränkt deren Überlebenschancen ein und wird zur Bedrohung der Spezies. Die Stechmücken reagieren auf die insektizidbehandelten Netze durch die Entwicklung von Toleranzen gegen Insektizide und durch netzvermeidendes Verhalten auf der Blutsuche – beides bedroht langfristig den Erfolg der Maßnahme. Dies zeigt eine grundlegende Dynamik der Krankheitsbekämpfung und ermöglicht uns eine Hinterfragung der gegenwärtigen Strategien der Malariabekämpfung: Ist der Vorteil der Verwendung von Insektiziden in Mückennetzen, die Nachteile, die mit ihrer Verwendung einhergehen, wirklich wert? Könnte die Wirkung nach hinten losgehen – durch gesteigerten Selektionsdruck und die Evolution der insektizidtoleranten Stechmücken? Die altmodischen, handgenähten und insektizidfreien Netze, die die Mutter meines Bekannten lokal hergestellt hat, erinnern uns daran, dass die

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gemäßigteren Strategien der Malariabekämpfung sich vielleicht als langfristige Werkzeuge der Malariakontrolle anbieten und dass eine Entschleunigung (statt einer Beschleunigung) uns vielleicht zu einer anderen Kosmopolitik der Begegnungen zwischen Mensch und Nichtmensch führen kann (Bingham 2008; Stengers 2010). Wie wäre es, wenn es im Umgang mit Stechmücken nicht darum ginge, wie sie am besten zu vernichten sind, sondern um Wege, die es ermöglichen, miteinander zu leben, gemeinsam zu existieren? Die lokalen Mückennetze halten uns dazu an, die Strategien der Malariabekämpfung zu überdenken – weg von der Ausrottung, hin zu bescheideneren und verorteteren Strategien der Koexistenz (Beisel 2010b; Tironi und Farías 2015). Dies stellt dem übergroßen Narrativ von der Vernichtung der Stechmücken eine andere raumzeitliche Politik entgegen: eine Politik, die die Wirkmächtigkeit der Stechmücken in spezifischen sozioökonomischen und ökologischen Kontexten anerkennt und ernst nimmt, anstatt mit ihnen (und den Parasiten) Krieg zu führen; eine Politik, die vorsichtig, langsam und schrittweise die komplexen Knoten der Verflechtungen zwischen Stechmücke, Mensch und Parasit umarbeitet – wobei einige Fäden auseinander gelöst und andere neu verknüpft werden. Wie die Insektizidtoleranz zeigt, bietet ein solch langsamerer und „kleinerer“ raumzeitlicher Ansatz womöglich bessere und nachhaltigere Überlebensstrategien. Dieser Text hat die politische Ökonomie und die gesellschaftliche und ökologische Wirkung von Mückennetzen in den Blick genommen, um besser zu verstehen, wodurch welche Mückennetze für wen wertvoll sind. Ich habe argumentiert, dass die Weltgesundheitslogik zwar eindeutig die größte Bedeutung in der Stechmückenbekämpfung mit insektizidbehandelten Netzen einnimmt, dass diese Logik jedoch Überläufe beziehungsweise Entkopplungen produziert hat. Solche „vergessenen“ Marktlogiken sowie die Logik der Stechmücken selbst lassen Zweifel an der ausschließlichen Bewertung von Mückennetzen als humanitäre Güter sowie am gegenwärtigen Umgang mit Stechmücken durch insektizidbehandelte Netze aufkommen. Eine Weltgesundheitslogik, die auf die Anzahl verteilter Netze und durch diese „gerettete Leben“ fokussiert, verdeckt deren breitere sozioökonomische Auswirkungen und ökologische Folgen. Die systematische Aufmerksamkeit für Entkoppelungen im Umgang mit insektizidbehandelten Netzen, die als Waren globaler Gesundheitspolitik eingesetzt werden, kann dabei helfen, die Textur der Vor- und Nachteile guter Absichten herauszuarbeiten: die unbeabsichtigten Effekte der moralischen und medizinischen Bewertung humanitärer Güter, die als Lösungen für Probleme erdacht werden, die dem Weltgesundheitsdiskurs zufolge nicht von Staaten gelöst werden können (Redfield 2012). Dies soll jedoch keine Kritik oder Verwerfung von Mückennetzen als Werkzeug der Malariabekämpfung sein (Latour 2004). Stattdessen argu-

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mentiere ich, dass Mückennetze weit mehr bewirken könnten, als sie es jetzt tun: Sie haben das Potenzial, nicht nur Menschen vor Malariainfektionen zu bewahren und Stechmücken in Schach zu halten, sondern zudem zur wirtschaftlichen Stärkung der betroffenen Regionen und zu einer bescheideneren ökologischen Haltung von Menschen gegenüber (nicht nur) Stechmücken beizutragen. Die Übersetzung gibt eine von der Autorin leicht gekürzte Fassung wieder. Das Original ist erschienen in Geoforum 66, 2015, 146–155 unter dem Titel „Markets and Mutations: mosquito nets and the politics of disentanglement in global health“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

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Mehr als eine Welt, mehr als eine Gesundheit Gesundheit inter species neu konfigurieren S TEVE H INCHLIFFE

Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Flader und Friederike Gesing

E INLEITUNG – GEMEINSAME E RKRANKUNGEN UND C OMMON S ENSE One World One Health (OWOH)1 signalisiert eine stärkere Kollaboration angesichts gemeinsamer Gesundheitsrisiken an den Schnittstellen von Tier, Mensch, und Umwelt. Als Konzept hat es im letzten Jahrzehnt besondere Prominenz erlangt, zum Teil als Antwort auf den wahrgenommenen Anstieg an neuentstandenen und wiederauftauchenden Infektionskrankheiten, die mehrheitlich zoonotisch sind (Taylor et al. 2001) und von denen viele durch Lebensmittel oder Vektoren übertragen werden und/oder mit Tier- und Umweltgesundheit zusammenhängen. Insbesondere in der Variante „Eine Medizin – eine Gesundheit“ (Kaplan et al. 2009) werden viele Krankheiten als gemeinsame Bedrohung für Mensch und Tier angesehen, was mit überzeugenden Zahlen untermauert wird. So sind

1

OWOH unterscheidet sich institutionell von anderen Initiativen wie „Eine Medizin – Eine Gesundheit“, obwohl diese alle ihren Schwerpunkt auf interdisziplinäre Arbeit unter den Bedingungen einer gemeinsamen Verwundbarkeit von Mensch, NichtMensch und Umwelt legen. Dieser Beitrag konzentriert sich auf OWOH, es sollte aber im Auge behalten werden, dass die Betonung einer singulären Medizin für eine singuläre Welt gemeinsames Merkmal all dieser Ansätze ist.

480 | STEVE HINCHLIFFE „etwa 60 Prozent der 1461 beim Menschen heutzutage festgestellten Krankheiten auf Pathogene mit multiplen Wirten zurückzuführen, die durch ihre Bewegung über Speziesgrenzen hinweg charakterisiert sind. Außerdem wurden in den letzten drei Jahrzehnten etwa 75 Prozent der neu auftauchenden menschlichen Infektionskrankheiten als zoonotisch definiert. Unsere zunehmende Interdependenz mit Tieren und ihren Produkten könnte tatsächlich der kritischste Risikofaktor für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden im Hinblick auf Infektionskrankheiten sein.“ (AVMA 2008, 3)

One World One Health hat etwas Faktisches und unmittelbar Ansprechendes an sich, das an den Common Sense appelliert. Niemand kann gegen ein Set von Diskursen und Praktiken sein, das die gemeinsame Gesundheit von Menschen, Tieren und Umwelt betont. Und doch gibt es aus sozialwissenschaftlicher Sicht wichtige Einschränkungen dieses Gemeinplatzes, die berücksichtigt werden müssen, wenn OWOH seine Ziele erreichen soll. Dieser Beitrag geht in drei Schritten vor. Nach einer kurzen Geschichte und Darstellung des Konzeptes wird zunächst argumentiert, dass OWOH dazu neigt, ein bestimmtes Verständnis von und eine Herangehensweise an Krankheit zu implizieren und zu verstärken, während das Konzept gleichzeitig Gefahr läuft, alternative Formulierungen und Methoden des Umgangs mit gemeinsamen Gesundheitsproblemen zu verdecken. Darauf aufbauend führe ich zweitens ein theoretisches Argument ein, dass das Konzept der „einen Welt“ hinsichtlich seiner räumlichen und ontologischen Simplizität und Reduktionismen kritisiert. Dieser politische und theoretische Kontext wird, drittens, als Grundlage für die Ausarbeitung eines sozialwissenschaftlichen Ansatzes verwendet, der die Vielfalt der Logiken, Objekte und Wissenspraktiken, die an der Herstellung von Gesundheit beteiligt sind, in den Vordergrund stellt. Um die Notwendigkeit unterschiedlicher Ansätze bezüglich gemeinsamer Gesundheitsprobleme aufzuzeigen verwende ich empirisches Material aus einem größeren Projekt, das sich damit beschäftigt, wie Leben sicher gemacht wird (biologische Sicherheit). Dabei liegt der Schwerpunkt durchgehend auf Formen der Influenza, die zwischen Vogel-, Schweine- und menschlichen Wirten zirkulieren und sich hin- und her bewegen. Vorgeschlagen wird ein alternativer Common Sense, der die Möglichkeit unterstreicht, Gesundheit durch die praktische Artikulation von mehr als einer Welt herzustellen.

C OMMON S ENSE

UND SEINE

AUSSCHLÜSSE

Ein zwar nicht neuer, aber vereinheitlichter und holistischer Ansatz von Gesundheit nahm im Jahr 2004 bei einem Treffen der US-Naturschutzorganisation

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Wildlife Conservation Society in New York Form an. Bei diesem Treffen wurden die zwölf „Manhattan-Prinzipien“ festgelegt, die fachübergreifende, integrierte Ansätze zur Gesundheit definieren, die dort als One World One Health gekennzeichnet wurden. Das Konzept fasste sofort Fuß bei nationalen und internationalen Organisationen im Bereich der Gesundheit von Mensch und Tier. OWOH eröffnete den Raum für konzeptionelle Übereinkünfte (schließlich war und ist es Common Sense) und zugleich die Chance, institutionelle, disziplinäre und andere Hindernisse für seine Verwirklichung zu hinterfragen und zu überwinden. Dennoch ist der Common Sense selten simpel, geschweige denn kohärent. Den von Gramsci (1971) beeinflussten Sozialwissenschaftler*innen ist es schon lange zur Gewohnheit geworden, den Common Sense immer als einen zweifelhaften Segen zu denken. Auf der einen Seite basiert er auf populärem Verständnis, ist demokratisch, und kann den Weg für neue Praktiken ebnen. Auf der anderen Seite geht der Common Sense auch oft einher mit der Zustimmung zu etablierten und oft eher biederen Verständnissen der Welt, in der wir leben. Es ist eben dieser zweifelhafte Segen, den dieser Beitrag hinterfragt. Das OWOH-Konzept wurde am bereitwilligsten in nationalen und internationalen Tier- und Gesundheitsorganisationen beziehungsweise in angrenzenden Bereichen übernommen, wo Praktiker*innen die Vorteile darin erkennen, Fragen von Gesundheit und Krankheit auf eine Weise zu behandeln, die herkömmliche disziplinäre und institutionelle Grenzen überwindet (FAO, OIE und WHO 2010). In der Tat, wenn das OWOH-Konzept etwas bewirkt hat, dann, dass es seine Verfechter*innen dabei unterstützt hat, sich um Finanzierungsmöglichkeiten zu bemühen und interdisziplinäre Lösungen für die langjährigen epistemischen und politischen Spannungen innerhalb und zwischen Organisationen des Gesundheitswesens, der Tiergesundheit und der Landwirtschaft voranzubringen. Internationale Organisationen, einschließlich der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) haben traditionell die Tendenz, jeweils innerhalb ihrer jeweiligen Kompetenzbereiche Medizin/Gesundheit, Tiermedizin/Handel und Landwirtschaft/Entwicklung zu handeln. Chien (2012) erläutert, dass während der ersten großen Panik um die hochgradig ansteckende Vogelgrippe (H5N1) in den frühen Jahren dieses Jahrhunderts die WHO die PandemieVorsorge priorisierte und die OIE sich auf die Sicherstellung der Virusbekämpfung bei Geflügel konzentrierte, während die FAO das Augenmerk zunächst darauf legte, die potenzielle Übertragung der Krankheit von Wildvögeln auf Geflügel und von Geflügel auf Menschen in der „Hinterhofhaltung“ zu verhindern. Spannungen nahmen zu, als Meinungsverschiedenheiten über die Notschlachtung von Geflügel Differenzen hinsichtlich der Prioritäten und Mittel der Seu-

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chenkontrolle aufdeckten. Diese Spannungen fanden sich ebenso sehr innerhalb der Organisationen wie zwischen ihnen. Zusammengefasst lässt sich jedoch sagen, dass die innerhalb der WHO bevorzugte Methode der flächendeckenden Keulung von potenziell infizierten Geflügelbeständen auf Widerstand innerhalb der FAO und der OIE stieß, da dort unter anderem Ökonom*innen die Wirksamkeit der Keulung und ihre Konsequenzen für Lebensunterhalt, Ernährungssicherheit und letztendlich menschliche Gesundheit infrage stellten. In dieser Hinsicht wurde deutlich, dass besser integrierte Ansätze für geteilte Dinge von Belang notwendig sind. Abb. 1: How safe is your town? – Poster der US-Gesundheitsbehörden, ohne Datum. Eine kontingente wilde Welt und eine häusliche Kultur sind als klar räumlich getrennt gekennzeichnet. Dass auf der rechten Seite der Mauer nur ein nicht-menschliches Wesen zu sehen ist, mit angelegten Schwanz auf zwei Beinen stehend, ist sinnbildlich für die Binarität von Natur und Kultur, die hier im Spiel ist. (Virginia Health Bulletin, 1908: 216)

Scoones und Forster (2011) gehen in ihrer Analyse noch weiter. Sie stellen Unterschiede zwischen den Institutionen fest, betonen jedoch gleichzeitig die Ähnlichkeiten und die kollektive Billigung einiger simpler und reduktionistischer Darstellungen und Narrative von Krankheit. Dabei identifizieren sie zunächst ein potentielles Problem, das mit der Suche nach Vereinheitlichung über Disziplinen und Fächer hinweg verbunden ist. Aufbauend auf Interviewmaterial mit Interviewpartner*innen aus einer ganzen Reihe von internationalen Gesundheitsorga-

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nisationen sowie auf Walds (2008) Identifikation dominanter Krankheitsnarrative, beziehen sie sich auf drei „Ausbruchsnarrative“, die innerhalb internationaler Gesundheitsinstitutionen vorherrschen. Sie argumentieren, dass die jeweiligen Narrative sich überschneidende, jedoch relativ klar unterscheidbare Anliegen haben. Das erste Narrativ bezieht sich auf Tiergesundheit. Demzufolge ist die Vogelgrippe eine Krankheit von Vögeln, die die Geflügelindustrie und die Existenzgrundlage von Menschen gefährdet. Die Reaktion hierauf war eine stärkere Absicherung der Produktion durch eine Umstrukturierung der Industrie, vor allem im globalen Süden, wo zumindest die anfänglichen Maßnahmen gegen die Vogelgrippe auf Hinterhofhaltung und informelle Tausch- und Vogelmärkte abzielten (Hinchliffe und Bingham 2008). Zweitens gibt es das Public HealthNarrativ, das sich auf die Übertragung der Vogelgrippe auf den Menschen beziehungsweise von Mensch zu Mensch bezieht. Die entsprechende Antwort basiert auf der Bereitstellung von Virostatika, der Entwicklung von Impfstoffen und Verhaltensänderungen. Drittens gibt es das Narrativ der Pandemie-Vorsorge [pandemic preparedness], die sich auf „zivile Notfallplanung, betriebliches Kontinuitätsmanagement und Eindämmungsstrategien“ (Scoones und Forster 2011, 21) konzentriert. Eine breite Vielfalt an Akteuren ist hier eingebunden in eine szenariobasierte Abstimmung zwischen Regierung, Polizei, Gesundheitswesen, Wirtschaft, Schulen, Zivilgesellschaft etc. mit dem Ziel, Einsatzbereitschaft zu entwickeln. Trotz ihrer Unterschiede und trotz des Wettbewerbs um Aufmerksamkeit und Ressourcen (zwischen und innerhalb von Organisationen), teilen alle diese Narrative eine Schnittmenge an Grundwerten. Sie alle gehen von dem überzeugenden Ausbruchsnarrativ aus, bei dem auf die Anerkennung der Interdependenz und der gemeinsamen Krankheitserreger von Mensch und Tier sogleich die menschliche Überlegenheit folgt (Wald 2008). Mehr noch, sie beziehen sich auch auf ein bestimmtes Verständnis von Krankheit, das die Betonung darauf legt, was Rosenberg (1992) „Kontaminierung“ nennt. Dieser Ansatz sieht in der Frage des Kontakts das Hauptproblem und legt damit die Aufmerksamkeit auf eine Verhinderung der Krankheitsübertragung (oder zumindest darauf, auf eventuelle Übertragungsfälle vorbereitet zu sein). Rosenberg stellt dem einen Ansatz der „Konfiguration“ von Krankheit gegenüber, dessen Fokus weniger auf Krankheitserregern und ihren unregulierten Bewegungen liegt, sondern vielmehr auf dem Kontext und damit der Pathogenität der Krankheit selbst (siehe auch Farmer 2004; Leach et al. 2010). Diese Konfiguration – so argumentieren Scoones und Forster – wurde ohne Weiteres aus den Krankheitsnarrativen des 20. und 21. Jahrhunderts und den mit ihnen verbundenen Managementregimen gelöscht und wird in Reaktionen auf

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die Vogelgrippe regelmäßig heruntergespielt. Vulnerabilität, Unterschiede in der sozialen und ökologischen Resilienz, Verantwortlichkeiten und Geografien des Risikos, Möglichkeiten des Herunterspielens von Krankheit – all dies hängt von den Lebensbedingungen und dem ungleichen Zugang zu politischen und anderen Ressourcen ab und führt dazu, dass jegliche Antworten, die sich ausschließlich auf Krankheitsausbrüche und Kontaminierung beziehen, im besten Fall unvollständig, im schlimmsten Fall völlig verfehlt sind. Diese Analyse kann ebenso auf Programme wie „Eine Grippe für eine Gesundheit“ [One Flu for one Health] angewendet werden, deren Protagonisten argumentieren, dass dies ein Modell für die Umsetzung der One-Health-Vision in Hinblick auf eine Verbesserung der Überwachung und des Verständnisses epizootischer und zoonotischer Krankheitsdynamiken ist (Capua und Cattoli 2010; Peiris et al. 2012). Auch hier liegt der Fokus auf viraler Entwicklung und Übertragung, ohne dass viel investiert wird, um die sozioökonomischen Bedingungen zu verstehen, die Krankheiten „konfigurieren“. Im Gegensatz dazu betonen ethnografische Arbeiten zu Grippe die Art und Weise, wie lokale politische Ressourcen sowie ökonomische und soziale Beziehungen die Vogelgrippe konfigurieren und sie zu einem mehr oder weniger lenkbaren Problem machen. Die Ethnografie von Forster (2011) zur Vogelgrippe in Indonesien hebt hervor, wie diese der Steuerung durch top-down umgesetzte Technologien des Kontaminationsschutzes widersteht (etwa durch neue, zentralisierte Marktgebäude, die die informellen Frischmärkte ersetzen sollen). Vielmehr wird Krankheit konfiguriert in den informellen sozialen und ökonomischen Beziehungen zwischen Landwirt*innen und Zwischenhändler*innen (die oft auf Motorrädern herumfahren, um Geflügel von Kleinbauern einzusammeln und so Risiken bündeln), zwischen den Verbraucher*innen und dem Geflügel (wobei viele Verbraucher*innen frisch geschlachtetes Geflügel bevorzugen und deshalb Märkte für lebendiges Geflügel als Garantie für Herkunft und Geschmack gelten) und durch unterschiedliche Risikokategorien (unter denen die Vogelgrippe von den Landwirt*innen nur als eines unter vielen anderen, oft dringlicheren Risiken ihres in vieler Hinsicht bereits marginalisierten Lebens betrachtet wird). Porters (2013) Ethnografie der Vogelgrippe in Vietnam und Lowes (2010) Studie der „viralen Cloud“ von HPAI in Indonesien heben eine ähnliche Vielfalt an Verflechtungen zwischen Menschen, Geflügel und Viren hervor. Daraus folgt, dass die Vogelgrippe eine sozioökonomische Krankheit ist, die von verschiedensten sozialen, kulturellen und ökonomischen (Handels-)Beziehungen durchzogen ist. Um es klar zu sagen: es gibt durchaus Hinweise darauf, dass saisonale Kontrollen und Notfallkontrollen der Übertragungswege zu einer Verringerung der

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Krankheitslast beitragen können. Zum Beispiel haben periodische Schließungen von Märkten für Lebendgeflügel scheinbar das stark pathologische H5N1 in Hongkong (Peiris et al. 2007) und die gering pathologische Vogelgrippe H7N9 in China reduziert (Yu et al. 2014). Sobald jedoch Krankheit hauptsächlich als eine Frage der Kontamination aufgefasst wird – etwas, das scheinbar im Prozess der Einigung unter verschiedenen Disziplinen geschieht – riskieren wir, die Vielfalt der zentralen Probleme für Tiergesundheit und Gesundheitswesen zu vernachlässigen. Der Punkt, den es weiterzuverfolgen gilt, ist, dass ein One-WorldAnsatz ebenso wie der Common Sense oder gesunde Menschenverstand verkündet, Übertragung und Kontamination seien die Kernfragen von Krankheitsbekämpfung. Dieser Common Sense verharmlost unter Umständen die essentielle Bedeutung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Kontextes – oder, mehr epidemiologisch gesprochen, die komplizierten Beziehungen zwischen Wirt, Krankheitserregern und Umwelt, die zur Entwicklung der Krankheit beitragen (und die natürlich den Komplex der kulturellen und sozialen Beziehungen einschließen). Um diesen Punkt noch weiter auszuführen und um damit zu beginnen, die Tendenz zu erklären, dass soziale Beziehungen im One-Health-Ansatz verloren gehen, werde ich im Folgenden den Ansatz der einen Welt zunächst allgemeiner untersuchen, bevor ich in Teil 3 auf die sozioökonomische Natur der Krankheit und die multiplen Dynamiken von Gesundheit zurückkomme.

E INE -W ELT -ANSCHAUUNG [O NE

WORLD - ISM ]

Der verstorbene Kulturgeograf Denis Cosgrove schrieb vor zwei Jahrzehnten über die Symbolik und die implizite geografische Imagination der ApolloMissionen (Cosgrove 1994). Laut Cosgrove war die inhaltliche Einschreibung der einen und gesamten Welt in die Weltraumfotografien mit einem beherrschenden Blickregime und einem imperialen, besonders christlichen und USamerikanischen geopolitischen Projekt verknüpft. All dies konfiguriere weiterhin die geografische Imagination des Westens.2

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Die Analyse von Cosgrove ist überzeugend, jedoch besteht auch die Gefahr, die imperiale Macht zu reproduzieren, indem sie wiederum als singulär inszeniert wird. Das Ziel dieses Beitrages ist es, nicht nur zu zeigen, dass diese Eine-Welt-Geschichten andere Geschichten auslöschen können, sondern auch, dass sie selbst aus einem Mischmasch von Praktiken bestehen. Das Ziel ist daher eher, Aufmerksamkeit von der EineWelt-Geschichte abzulenken, anstatt ihr noch mehr Gewicht beizumessen. In diesem Sinne schließe ich mich Kollegen der STS wie Law, Mol und Moser an.

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Springen wir von den Weltraummissionen der 1960er und 70er Jahre zur Jahrhundertwende, so ist wiederum die gleiche Sprache im Spiel. Der OneWorld-One-Health-Ansatz bezieht sich ebenfalls auf einen singulären Raum, auf eine „kleine“ Weltanschauung [a small world-ism], mit dichten Querverbindungen (Colizza und Vespignani 2010).3 In der Tat, in der Postulierung der materiellen Verknüpfung zwischen Menschen, wilden Tieren, Haustieren und Ökosystemen fällt die Unantastbarkeit der Vorstellung eines einzigen Planeten der biologischen Übertragbarkeit auf, organisiert um WHO-Verfahrensstrukturen (Briggs 2005) und mit dem bekannten Szenario des ehemals gemeinschaftlichen oder geteilten „Lebens“. Ein Huhn kann in Indonesien brutzeln und ein Cytokinsturm kann in einem Krankenhausbett in Großbritannien ausgelöst werden. Der virale Sturm ist sowohl Symptom als auch Mitwirkender an einem solchen Ansteckungsfall, dessen katastrophales Potenzial wohlbekannt ist. Wie Braun (2007), Cooper (2008) und andere skizziert haben, gibt es eine Geopolitik zu dieser Version der Eine-Welt-Anschauung, die ebenso schädlich sein kann wie die von Cosgrove geschilderte. Während Prävention, Eindämmung und Vorsorge gegen Übertragungen zu den wichtigsten Dimensionen der Krankheitsbekämpfung geworden sind, verbreiten sich Abriegelungstechniken und Hygienemaßnahmen über soziale und landwirtschaftliche Praktiken hinaus (letzteres wird unter der Rubrik der „krankheitsfreien Landwirtschaft“ geführt; eine Ausweitung, die oft kapitalintensiv ist und gleichzeitig eine mögliche Bedrohung für alle etablierten Formen von agrarökologischer Praxis und Erwerb). Tatsächlich ist die Ausweitung einer globalen modernen Landwirtschaft vom Zentrum zur Peripherie in Form von krankheitsfreien Zonen nur ein Beispiel dieser Durchsetzung eines singulären biosicheren Planeten4, die jedoch zwei Welten produziert – den globalen Norden der sich

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Man muss aber anmerken, dass sich aus dieser stark miteinander verbundenen Welt kein relationaler Ansatz ergibt. In ersterer treffen selbst-identische Objekte häufig aufeinander, um Effekte (wie Krankheiten) zu erzeugen. In letzterem gehen sowohl Dinge als auch ihre räumlichen Eigenschaften aus Beziehungen zueinander und mit vielen anderen hervor. Gesundheit und Krankheit beziehen sich aufeinander und entstehen durch die Konfiguration von Relationen.

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Das Übereinkommen über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen (SPS) der Welthandelsorganisation (WTO) ermöglicht diesen Prozess, indem es den Mitgliedsstaaten das Recht verwehrt, den Handel mit Lebensmitteln zu verweigern, es sei denn, es gibt Hinweise auf Qualitäts- oder Sicherheitsbedenken. Nationalstaaten, deren Landwirtschaft dadurch regelmäßig durch meldepflichtige Krankheiten in anderen Bereichen beeinträchtigt würde, können die Einrichtung krankheitsfreier Zonen beantragen. Dies

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selbst kontrollierenden, rechtschaffenen ökonomischen Akteure und den Süden der Intimität (Shukin 2009) und Kontingenz inter species. Wie Law (2011) akkurat erfasst, beinhaltet diese Eine-Welt-Anschauung einige der folgenden ontologischen Voraussetzungen. Erstens: Dies ist eine Welt der Oberflächen, Volumen und Kollisionen. Es ist eine Welt, die durch eine bestimmte (euklidische) Geometrie erst verständlich wird. Es ist eine Welt der Objekte anstatt miteinander verwobener Dinge (Ingold 2011), in der Krankheit und Gesundheit oft als getrennte Räume mit klar definierten Objekten und Eigenschaften (Pathogenen und Immunreaktionen) gedacht werden und in der die Vorstellung einer Gesundheit für alle eine räumliche Trennung von Formen des guten und schlechten Lebens impliziert (Hinchliffe et al. 2013). Zweitens ist dies eine Welt, in der die Möglichkeit, diese Welt zu kennen, systematisch in jeder Erzählung ausgelöscht wird. Die eine Welt muss sich nicht rechtfertigen für das Wissen, das sie möglich macht – sie existiert einfach. Das ist Naturalismus oder eine Version des Realismus; eine Beschreibung wie die Dinge sind, in der jede Abweichung von der Wirklichkeit auf Ideologie, Mythos oder unzulängliches Wissen reduziert wird. Darüber hinaus gilt diese Realität als Schicksal, es ist, wie die Dinge sein werden – es gibt keinen Raum für Politik, außer in der Form von vermutlich kurzlebigen Diskussionen über Meinungsverschiedenheiten oder epistemologische Debatten, die zügig durch den Rückgriff auf die eine Welt gelöst werden, die alle nötigen Beweise liefert. Drittens und letztens, ist dies eine Welt, die trotz ihres Anspruchs auf Universalismus im globalen Norden produziert wird. Sie ist eingebettet und naturalisiert in Wissenspraktiken des Nordens und wird durch eine Mischung aus der Einzigartigkeit westlicher Wissenschaft und dem Triumphalismus des dazugehörigen Modernismus in andere Geltungsbereiche exportiert (siehe auch Harding 2008). Stellen wir dies einer Welt gegenüber, die ständig produziert und reproduziert wird – zum Teil durch Geschichten, die wir über sie erzählen. Oder wie Mol (2002) es eingängig formuliert, eine Welt, die durch verschiedene, manchmal überlappende, aber selten kohärente Praktiken produziert wird. Das heißt, wenn wir glauben, dass die Dinge durch ihre Beziehungen hervorgebracht werden oder sich in ihren Beziehungen zu einander verändern (etwas, das die Dinge nicht aufeinander reduziert, sondern ihnen einfach eine komplexere Geschichte und Geografie gibt) (Hinchliffe 2007), dann folgt daraus, dass die Dinge, in unterschiedlichen Weisen und Räumen praktiziert, auch mehr als Eins werden. Oder besser gesagt, daraus ergibt sich, dass die gleiche Sache unterschiedliche –

sind territoriale Einheiten, in denen ausreichende Sanitär- und Überwachungsstandards vorhanden sind, um die Bedingungen für die WTO-Zulassung zu erfüllen.

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auch widersprüchliche – Eigenschaften annehmen kann, je nachdem wie sie performiert wird. Dies legt nahe, dass Gesundheit weniger eine Angelegenheit der Produktion einer Welt ist, als eine Angelegenheit des Zusammenflickens [patching together] verschiedener Realitäten (Mol und Law 1994). Demnach ist Realität nicht so sehr Schicksal als vielmehr ein Komplex aus manchmal miteinander konkurrierenden – immer koinzidenten – Koproduktionen, aus denen sich mehr oder weniger festgelegte Handlungsprogramme entwickeln können. Durch die Entwicklung dieser mehr oder weniger kohärenten Vorgehensweisen gibt es kein vorgegebenes Schicksal. Stattdessen gibt es Kontingenzen, die sich aus einer heterogenen Welt ergeben. In der Praxis gibt es also mehr als eine Welt und ebenso mehr als eine Gesundheit. Das Ergebnis sind kontinuierliche Anstrengungen, Gesundheit durch verschiedene nicht-kohärente Verfahren und Praktiken unter Bedingungen herzustellen, die wir selten selbst gewählt haben. Bevor wir dies empirisch beleuchten, sind zwei Implikationen hervorzuheben, die unterstreichen, warum dieser Ansatz von Gewicht ist. Erstens ist es entscheidend, dass wir aufzeigen, dass Gesundheit durch verschiedene Praktiken zusammengeflickt wird, die lokale Bedingungen berücksichtigen (dabei bezieht sich lokal auf die spezifische Mischung aus Materialien, Wissen und „Anderswos“, die eigene und bestimmte Situationen und Orte hervorbringen) (Massey 2005). Diese Heterogenität der Praktiken nicht zu berücksichtigen würde bedeuten, die entscheidenden Mittel zu übersehen, mit denen Gesundheit hergestellt wird. Law (2011, 9) drückt dies noch eindringlicher und politischer aus: „Die Metaphysik der einen Welt ist katastrophal [...]. Sie reduziert Differenz. Sie entleert die Realität der nicht-dominanten Wirklichkeiten“. Es sind diese nicht-dominanten Wirklichkeiten, die gefährdeten Praktiken innerhalb dieser Ökologie von Gesundheitspraktiken (Stengers 2010), die betont werden müssen. Zweitens versuche ich dies „zu Hause“ zu tun, im sogenannten Kern der Eine-Welt-Anschauung. Ich tue dies nicht nur, um zu zeigen, dass das sogenannte Moderne immer schon von mehreren Realitäten abhängig ist (wir sind natürlich noch nie modern gewesen) (Latour 1995) – was jeglichen Export von Praktiken selbst zu einer Frage sorgfältiger Übersetzung macht, statt einer Erweiterung en gros – sondern ich tue es auch um darzustellen, dass die Geschichte der einen Welt selbst performiert und dabei Gesundheit auf neue Weise zusammengeflickt wird (möglicherweise auch mit schädlichen Auswirkungen). Es ist dann Teil der Analyse, sich darauf zu konzentrieren, wie diese Geschichte weder zu einem Universum noch zu einem Pluriversum, sondern zu einem Fraktiversum (oder zu einer Vermehrung von Praktiken) beiträgt. Oder um es wieder in der Sprache der Onto-Politik zu formulieren (Mol 1999): wie diese Geschichte dazu beiträgt,

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dass es mehr als eine Welt gibt, aber weniger als viele. Law (2011, 2) fasst die politischen Implikationen wie folgt zusammen: „Sollten wir in einer einzigen Container-Welt des globalen Nordens leben, innerhalb eines Universums, dann könnten wir uns eine liberale Art vorstellen, die machtgesättigten Begegnungen zwischen verschiedenen Menschen zu handhaben. Aber sollten wir stattdessen in einer Welt multipler Inszenierungen [enactments] leben, sollten wir an einem Fraktiversum beteiligt sein, dann wird und kann es keine übergreifende Logik oder liberale Institutionen geben, die zwischen den verschiedenen Realitäten vermitteln. Es gibt nichts ‚Übergreifendes‘. Stattdessen gibt es kontingente, lokale und praktische Verbindungen [engagements].“

Nun wende ich mich eben diesen kontingenten, lokalen und praktischen Verbindungen zu.

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UND I MMUNITÄT MACHEN

Wenn die Eine-Welt-Anschauung eine spezifische Ontologie impliziert – eine Welt selbstidentischer Objekte, die sich in einem vorkonstituierten Territorium bewegen und aufeinandertreffen – dann wird ein One-World-One-HealthProgramm, der gleichen Logik folgend, von einer spezifischen Version globaler Gesundheit beeinflusst. In den Antworten der Biosicherheit auf neu auftauchende und wiederkehrende Infektionskrankheiten floriert die Eine-Welt-Anschauung. Ich habe dies bereits als ein System der Ausweitung charakterisiert, in dem Barrieren gegen Übertragung und Kontamination die wesentliche Gesundheitstechnologie darstellen. Diese Barrieren sind natürlich teilweise durchlässig. Gemäß den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) müssen diese Barrieren die Zirkulation von Gütern [the goods] zulassen, während sie das Schlechte [the bads] aussondern; eine Logik der Sicherheit, die Foucault als eine Regulierungsweise beschreibt (Foucault 2004; 2007). Das Resultat ist eine materielle Übersetzung von körperlichem Kontakt, Bewegung und Kommunikation in regelmäßigere und stärker regulierte Formen des Austauschs, der Zirkulation und des Handels (Mitropoulos 2012). Demzufolge wird Mobilität nicht so sehr angehalten, als vielmehr gereinigt oder geordnet. Im Folgenden geht es zunächst darum, empirisch darzustellen, dass solche Praktiken nicht dazu in der Lage sind, ihre eigenen hohen Standards zu erfüllen und deshalb möglicherweise sogar das anfällig machen, was sie zu schützen suchen. Zweitens nutze ich die empirische Beschäftigung mit Praktiken der Tierge-

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sundheit, um zu zeigen, wie Gesundheit auf Arten und Weisen hergestellt wird, die mehr als eine Welt und eine Gesundheit implizieren. Ausgehend von einer Darstellung von „viralem Geschwätz“ (Wolfe 2011), bei der ortsbezogene Aspekte der Entwicklung von Krankheit betont werden, stelle ich kurze Verdichtungen dreier Forschungsfelder vor, in denen Mensch/Tier-Gesundheit praktiziert wird. Ich fasse dabei eine Reihe von Fallstudien zusammen, um deren Heterogenität und praktische Errungenschaften zu betonen. Schlussendlich lege ich dar, inwiefern die Herstellung gesunden Lebens notwendigerweise an eine Aufmerksamkeit für die Vielfalt dieser Praktiken gebunden ist. Methodisch basiert diese Arbeit auf mehreren Jahren ethnografischer und Multispezies-Feldforschung (durchgeführt in Großbritannien zwischen 2010 und 2013). Dies beinhaltete 70 halbstandardisierte Interviews mit britischen Landwirt*innen, Landarbeiter*innen, Tierärzt*innen, Einzelhändler*innen, Vertreter*innen der weiterverarbeitenden Industrie und anderen, Besuche und Beobachtungen in Betrieben, Feldforschung in einem internationalen Influenza-Referenzlabor sowie teilnehmende Beobachtungen bei der Seuchenüberwachung auf Bauernhöfen und in Naturschutzgebieten. Alle Interviews wurden transkribiert und gemeinsam mit den Feldnotizen in eine qualitative Datenbank eingetragen, kodiert und mit Hilfe von Software analysiert. Die Stichprobe wurde notwendigerweise nach Zeit- und Zugangsgesichtspunkten ausgewählt, jedoch wurde während der Forschung alles Mögliche getan, um jegliche Verzerrung aufgrund unterschiedlicher Zugangsmöglichkeiten zu vermeiden: zum Beispiel dadurch, dass nicht kooperationsbereite Betriebe und Firmengelände besucht wurden, indem Personen mit unterschiedlicher Positionen in der Produktkette (vom Züchter*innen bis zu Einzelhändler*innen) interviewt und beobachtet wurden, die ihre Erfahrungen aus der gesamtem Branche mit uns teilen konnten, und indem halb-standardisierte Interviews mit wichtigen Vermittler*innen in der Branche durchgeführt wurden (Tierärzt*innen, Gewerkschaften etc.). Wir sind daher überzeugt, nicht nur fundierte Berichte über die Praktiken generiert zu haben, sondern die relevanten Sektoren in der Breite abgedeckt zu haben. Die Rückkehr der Konfiguration Auch innerhalb der biologischen Wissenschaften beginnt sich die Unterscheidung zwischen den Herangehensweisen an Krankheiten aufzulösen, die Rosenberg als dominanten „Verunreinigungansatz“ beziehungsweise vernachlässigten „Konfigurationsansatz“ bezeichnet. Eine Quelle dieser Veränderung ist die Virologie, und darin das Konzept des sogenannten „viralen Geschwätz“ [viral chatter] (Wolfe et al. 2005; 2007; Wolfe 2011). Wie dessen Hauptvertreter ein-

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räumt, geht die Metapher des Geschwätzes in erster Linie auf die Sicherheitslogik nach dem 11. September zurück. Sie bezieht sich auf die umstrittene Möglichkeit, online chatter zur Gewinnung persönlicher Daten und zur Identifizierung von Personen einzusetzen, die als Bedrohung für die öffentliche Sicherheit angesehen werden (Wolfe 2011, 255). Der Begriff wird jedoch auch verwendet, um den kontinuierlichen semiotischen und materiellen Austausch zu fassen zu bekommen, den Viren in Konversation mit potenziellen Wirten erfahren und unternehmen. Das meiste Geschwätz führt natürlich nirgendwo hin, aber die selbsternannten Virusjäger argumentieren, dass viel Geschwätz sowohl die virale Vielfalt als auch die Wahrscheinlichkeit der Übertragung eines vermehrungsfähigen Virus erhöht. Demnach sind zum Beispiel Krankheiten, denen der Übergang von Tieren zum Menschen gelingt, keine simple Folge von Kontakt oder viraler Kontaminierung, sondern beinhalten wiederholte Übergänge, einen ständigen Austausch – eine sich wiederholende materielle Semiotik, oder die Entwicklung einer neuen Realität. Demzufolge ist Ansteckung mehr als eine Frage des Kontakts und Viren verbreiten sich nicht durch einfache Übertragung durch den Raum oder in die Fläche. Sie werden in Beziehungen konfiguriert. Die Anthropologinnen Brown und Kelly (2014) gehen hier noch weiter. Sie sehen virales Geschwätz als eine Möglichkeit, um zu betonen, dass Krankheitsrisiken nicht einfach verortet sind, sondern vielmehr ortsabhängig – abhängig von einer spezifischen Mischung aus sozialen, biotischen und materiellen Bedingungen. Ansteckung wird demnach in intensiven Beziehungen hergestellt (Hinchliffe et al. 2013), in denen Wiederholung und Differenz ebenso viel zählen wie Berührung. In diesem Sinne, geht es – und wir folgen dabei wieder Rosenberg – ebenso sehr um Konfiguration wie um die Kontamination. Dennoch wird in Biosicherheits-Programmen (beziehungsweise dem Schutz von Produktionssystemen vor Krankheiten) eher eine Geografie der punktuellen Verortung und des Kontakts zum Ausdruck gebracht und reproduziert, und keine Logik der Wiederholung und Differenz in der Übertragung. Die so erzeugte Version von Immunität baut auf zwei Hauptpfeilern auf: einer vertraglich geregelten Ökonomie der krankheitsfreien Landwirtschaft voller Technologien, die im Einzelhandel und im Lebensmittelsicherheitssektor verfeinert wurden, und auf Überwachung oder Viren-Frühwarnsystemen. Ich werde nun auf drei Fallstudien eingehen, die diese Ansätze und ihre Grenzen veranschaulichen. Vertrag und Übertragung bei Geflügel In Großbritannien werden Geflügelfarmen hauptsächlich von fünf weiterverarbeitenden Unternehmen für die Produktion von Geflügelfleisch (Masthähnchen)

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unter Vertrag genommen, die wiederum in feste Lieferverträge mit dem Einzelhandel, vor allem den großen Supermarktketten, gebunden sind. Nach Auffassung der an dieser Produktionskette Beteiligten ermöglicht dies eine logistische und administrative Kontrolle des Produktionsprozesses, die wenn schon nicht vom Stall zur Gabel, so doch angeblich von der Züchtung, dem Ausbrüten und der Aufzucht bis hin zur Verarbeitung und in die Supermarktregale reicht. „Wie auch immer Sie vorgehen, [ob Sie landwirtschaftliche Betriebe besitzen oder Aufzuchtunternehmen unter Vertrag nehmen], stellen Sie sicher, dass Sie die volle Kontrolle haben, Veränderungen auf den Höfen vorzunehmen [...] Biosicherheit lässt sich mit Ihrer Managementstruktur gradliniger umsetzen.“ (Bedeutender britischer Geflügel-Verarbeiter, Interview 2011, Betonung im Original) „[Der Einzelhändler] Tesco [eine führende britische Supermarktkette] weiß wahrscheinlich mehr über die Höfe als die Integratoren [die Akteure, die Höfe für die Aufzucht von Geflügel unter Vertrag nehmen, Anmerkung F.G.] über die Höfe wissen. Sie haben zu jeder Farm, die sie beliefert, eine Akte; sie kennen ihre Sterblichkeitsraten, ihre Protokolle, sie wissen welche Antibiotika verwendet werden – weil sie eine riesige Angst davor haben, dass jemand nach dem Verzehr ihrer Lebensmittel irgendwelche Beschwerden äußert, denn die finanziellen Auswirkungen wären für sie enorm.“ (Fachtierarzt für Geflügel, Interview 2011)

Während die Hauptakteure die Aspekte der Bio- und Lebensmittelsicherheit eines durch Vertragsbeziehungen geregelten beziehungsweise integrierten Umfelds betonen, in dem es eine unternehmerische Kontrolle und eine als nichtsozial und de-lokalisiert imaginierte Herangehensweise an Landwirtschaft gibt, sind diese Beziehungen doch in erster Linie auch ein Mittel, um das finanzielle Risiko zu verwalten und zu verteilen. Das vertragliche Umfeld übt Druck aus, um alles außer der Lohnarbeit in die Höhe zu treiben, das heißt Bestand, Durchlauf- und Wachstumsraten, Besatzdichte und Logistikmaßnahmen werden allesamt aufskaliert, während die Lohnarbeit im Umfang reduziert wird (Godley und Williams 2008; 2009; Hinchliffe 2013). Die Größe von kommerziellen Geflügelfarmen in Großbritannien liegt zwischen 20.000 und 300.000 Tieren (ähnliche Zahlen gelten für den ebenfalls vertraglich eingebundenen chinesischen Markt für Geflügelfleisch, siehe Swayne 2013), wobei jede Farm üblicherweise ein bis zwei Arbeiter*innen beschäftigt. Die Zusammensetzung der Gewinnmarge aus hohem Bestandsvolumen und niedrigem Gewinn pro Einheit führt für die Hühner zu einem komprimierten Leben, da sie von der Brut bis zur Schlachtung in sehr stark regulierten Ställen und mit minimalsten Kontakt zu Menschen gehal-

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ten werden, um so das Krankheitsrisiko zu minimieren. Die Hühner sind wie „Rennpferde“, argumentiert ein Tierarzt aus dem Gewerbe im einem Interview, in diesem Fall darauf vorbereitet, den Esstisch so schnell und billig wie möglich zu erreichen. Das Ergebnis ist ein Vogel, der an der „Grenze des Biologischen“ lebt und dabei eine Rate des Gewebewachstums erlebt, die vor wenigen Jahrzehnten noch unvorstellbar war. Abgeschlossen und angeblich biosicher gehalten, sind die Vögel aufgrund der beschleunigten Wachstumsraten und dem ständigen Durchlauf an Futtermitteln unter Umständen immungeschwächt (Humphrey 2006; Humphrey et al. 2007). Abb. 2: Überwachung und Disziplinierung von Hühnern – durch den Fokus auf Übertragung kann “One Health” die Ausübung von Macht über Leben bedeuten. (Foto: Steve Hinchliffe) Chicken surveillance and discipline – with its focus on contagion, one health can become an exercise in power over life. (Foto: Steve Hinchliffe)

Allerdings werden die Kompromisse zwischen Gewinnmarge, Produktionsvolumen, Wachstumsraten und der Krankheitsanfälligkeit von Vögeln und Menschen in den Momenten der Bestandsausdünnung und Schlachtung vorübergehend offengelegt, wenn zusätzliche, informelle Arbeit benötigt wird, um das Geflügel zu fangen und in den Verarbeitungsbetrieb zu bringen. Die Ausdünnung der Stallbestände ist erforderlich in einer Branche, in der es enge Gewinnmargen notwendig machen, die Ställe bis an ihre Kapazitätsgrenzen zu füllen, und somit

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den Durchlauf und die Produktion von Fleisch maximieren, ohne die Tierschutzbestimmungen zu verletzen. Daher besteht eine reguläre industrielle Geflügelfarm aus rund zehn Ställen, jeweils besetzt mit etwa 30.000 eintägigen Küken. Der Bestand wird dann nach etwa vier bis fünf Wochen ausgedünnt, wenn die Vögel soweit gewachsen sind, dass die gesetzlich zugelassene Bestandsdichte überschritten wird. Diese Ausdünnung beinhaltet die Entfernung von rund 15-25 Prozent des Bestandes durch Schlachtung (der genaue Prozentsatz wird vom Verarbeiter und durch die Wachstumsraten bestimmt), wobei das restliche Geflügel für eine weitere Woche gehalten wird, um mehr Körpermasse anzusetzen und um die Inkubationszeit möglicher Krankheiten im Zusammenhang mit der Ausdünnung zu überbrücken, und dann mit vollem Gewicht geschlachtet zu werden. Bei der Ausdünnung und der Schlachtung wird den Tieren, die bislang an ein reguliertes Tageslichtregime und kontinuierliche Fütterung gewöhnt waren, die Nahrung verweigert und für 24 Stunden der Schlaf entzogen, um sie fügsam zu machen. Sie werden dann von einem Fangteam aus Leih- und Gelegenheitsarbeiter*innen eingefangen, das von Farm zu Farm reist und deren Angehörige über wenig oder gar keinen Zugang zu Krankengeld verfügen, und die unter einem rigiden Zeitplan arbeiten, um die Produktionskapazität des Verarbeitungsbetriebs voll auszuschöpfen. An dieser Stelle verbindet sich die Sozioökonomie der Gewinnmargen mit der Soziobiologie von Lohnarbeit und Geflügel und bringt die notwendig ortsgebundenen Elemente für virales Geschwätz hervor. Während gestresste Gedärme mit Noradrenalin überschwemmt werden und dadurch die Aufnahme von Mikroben in den Muskel erleichtert wird, und prekäre menschliche und Hühnerkörper sich Haut an Haut berühren, erscheint die „Immunität“, die Wände und Türe verleihen sollen, etwas abwegig. Auch bei hochgradiger Regulierung ist der Versuch einer ordnungsgemäßen Überführung von Mobilität in Austausch, Zirkulation und Handel bei weitem nicht vollkommen. Kontakt, Bewegung (selbst in und aus dem Darm) und Kommunikation (Geschwätz) tauchen in diesem stark vertraglich geregelten und daher intensiv komprimierten oder „zusammengezogenen“ Netzwerk der Produktion wieder auf. Die Krankheitsübertragung ist in diesem Sinne nur ein Teil des Problems, da die intensive Konfiguration der Geflügelwirtschaft und der Soziobiologie neue Krankheitsrisiken hinzufügt. Was an dieser Stelle betont werden muss ist, dass es sich der One-WorldOne-Health-Ansatz nicht erlauben kann, einem Modell von Krankheit stattzugeben, bei dem allein die Übertragung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Es ist ganz eindeutig, dass Gesundheit selbst im Kern der modernisierten landwirtschaftlichen Praxis von mehr abhängt als nur von regulatorischen Lösungen und einer Reduktion der Übertragung. Gesundheit ist sozioökonomisch und deshalb

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muss jedes Gesundheitsprogramm darauf eingehen, wie Krankheitsrisiken unter den jeweiligen sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen konfiguriert sind. Überwachung für die Grippe Wenn die modernisierte Geflügelproduktion kaum als immun gegen Infektionen gelten kann, dann ist das Frühwarnsystem der Überwachungsscans die zweite Verteidigungslinie gegen sich neu entwickelnde oder wiederauftauchende mikrobiologische Bedrohungen. Aus mehreren Gründen ist dies jedoch komplizierter, als es zunächst klingt. Erstens ist die Messung von Mikroben selten eine Frage der Anwesenheit oder Abwesenheit bekannter Viren (Hinchliffe und Lavau 2013). Studien zu Geflügel etwa führen in der Regel serologische Untersuchungen von Blutproben in Form des Hämagglutinationshemmtests (HHT) durch, um Spuren früherer Infektionen zu identifizieren: Antikörper im Blut zufällig ausgewählter Tiere, die als Reaktion auf bestimmte Proteine – Hämagglutinine (HA) – in der Außenhaut der Viruspartikel produziert werden. Diese Tests sind jedoch abhängig von einer klaren und deutlichen Immunreaktion der Wirtsvögel, die in der Intensiv-Geflügelhaltung nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Immunreaktion und Antikörperproduktion können geschwächt sein. Umgekehrt können durch mütterlicherseits vererbte Immunität, Ko-Infektionen und vorangegangene Impfungen starke, aber uneindeutige Reaktionen hervorgerufen werden. Es ist auch üblich, dass serologische Tests positive Ergebnisse liefern, aber dennoch keine Lebendviren in der Probe nachgewiesen werden können (sogenannte kryptische Infektionen), was darauf hindeutet, dass die Infektion entweder bereits abgeklungen ist, oder dass die Antikörper in Reaktion auf einen Komplex von Bedingungen und mikrobiellen Herausforderungen produziert wurden. Gleichzeitig müssen die Tests selbst kontinuierlich angepasst werden, da sie zu sensitiv sein können und dadurch falsch-positive Ergebnisse erzeugen – oder umgekehrt nicht sensitiv genug. Wenn sie zu spezifisch auf bestimmte Erregerstämme eingestellt sind, können sie leicht gefährliche Veränderungen oder Verschiebungen im Virus und den entsprechenden Immunreaktionen übersehen. Die Komplexität dieser Krankheitsökologie und der damit verbundenen Wissenspraktiken macht Überwachungsscans weniger zu einem Aufspüren bekannter Feinde, sondern eher zu einem Verfahren, bei dem aus einer Vielzahl von Tests Beweise zusammengestückelt werden und bei dem man lernt, mit Hilfe von verschiedenen epistemischen Objekten einschließlich HA, Proteinen, Viren, roten

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Blutkörperchen sowie Populationsdaten und Krankheitsmodellen zu reagieren und so virale Zirkulationen darzustellen. Zweitens ist Überwachung teuer und neigt in den meisten Fällen dazu, passiv zu sein, weil sie einsetzt, nachdem bereits Symptome bei Haus- und Wildtierherden gemeldet wurden. Dennoch ist es bei zoonotischen Grippeerkrankungen zunehmend offensichtlich, dass viele – wenn nicht die meisten – Infektionen asymptomatisch sind oder sich zumindest in einer Vielzahl von oft wenig bedeutsamen klinischen Symptomen ausdrücken. Diese Uneinheitlichkeit im Ausdruck der Symptome der Influenzavirenstämme und -unterstämme, Variationen in der Lokalisierung der Virusanheftung und damit auch der Symptome bei unterschiedlichen Gruppen von Vogel- und Säugetierarten macht die Überwachung eines segmentierten und hochgradig wandelbaren Virus zu einer kontinuierlichen Herausforderung. Die Wahrscheinlichkeit ist daher groß, dass in großen Haustierpopulationen unentdeckt Viren zirkulieren, die für Menschen gefährlich sind. Die neue „Vogelgrippe“ H7N9 etwa, die im Frühjahr 2013 über 100 Menschen in China das Leben gekostet hat, wird bei Hühnern als gering pathogen eingestuft und würde von einem passiven Überwachungssystem für Tiergesundheit nicht unbedingt registriert werden. Eine aktive Überwachung mit randomisierten oder risikoorientierten Stichproben von scheinbar gesunden Tieren kann Teil der Antwort sein. Allerdings bedeutet dies in einer Branche, die bereits mit engen Gewinnmargen und Kürzungen der öffentlichen Ausgaben zu kämpfen hat, dass, abgesehen von einigen wichtigen Forschungsprogrammen5, die Aufrechterhaltung – geschweige denn die Ausweitung – der Überwachung einer großen und wachsenden Biomasse von grippe-anfälligem Leben schwierig ist. In diesem Zusammenhang gibt es Forderungen nach schlauer Überwachung [smart surveillance] (Daszak 2009), etwa einer Bündelung der knappen Ressourcen auf zentrale Risiko-Orte. Allerdings kann es nicht nur darum gehen, die knappen Ressourcen auf bestimmte risikoreiche Standorte zu lenken. Schlau wäre auch eine Akzeptanz der systematischen Produktion von lokalisierten Risiken. In diesem Sinne sollte eine solche Überwachung darauf abzielen, die vorhandenen Daten in einer Art und Weise zu bündeln, die eine Interpretation verschiedener Anzeichen und ein Verständnis für die Unbestimmtheiten wissenschaftlicher Praxis erlaubt (Fish et al. 2011) und – das ist entscheidend – eine transdisziplinäre Herangehensweise an Krankheitswissen entwickelt, die das Wissen von Tier-

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In der Schweinebranche ist das von der EU finanzierte ESNIP3 – das Europäische Überwachungsnetzwerk für Schweine – aus der Schweinegrippe-Pandemie in Jahr 2009 hervorgegangen. OFFLU ist eine größer angelegte Kollaboration von Forschungslaboren im Bereich der Tiergesundheit.

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ärzt*innen, Mediziner*innen, Landwirt*innen, Arbeiter*innen, Ornitholog*innen etc. miteinbezieht (Hinchliffe und Lavau 2013). Diese Notwendigkeit für ein Spektrum von verschiedenen Wissenspraktiken und Objekten von Belang (vom Organismus zum Virus, zu den Hämagglutininproteinen und den Reagenzien; von Populationen bis hin zu klinischen Anzeichen bei einzelnen Hühnern) verweist auf den Bedarf an einer anderen Ontologie der Krankheit – einer Ontologie, die multipel statt universell ist, und die die Anzeichen von Gesundheit und Krankheit anerkennt und sorgfältig kombiniert. Ein transdisziplinärer Ansatz etwa, der Gesundheitsdaten über Verläufe und Anomalien verwendet, verknüpft eine breite Palette an Wissensformen, um Frühwarnungen zu ermöglichen, die sonst unter Umständen versäumt werden. Eine solche nicht erreger-spezifische Überwachung vertraut auf die Mitwirkung von „Produzent*innen, Tiergesundheitstechniker*innen und Tierärzt*innen [sowie Schlachtpersonal und Laborwissenschaftler*innen], die Tiere direkt und fortlaufend beobachten“ (Scott et al. 2012). Die Spezifität des Systems entsteht in diesem Fall nicht durch einen erreger-spezifischen Fokus, sondern durch das wiederholte Lesen und die Bestätigung oft subtiler Anzeichen in unterschiedlichen Orten und Situationen. Dies bedeutet, verschiedene Praktiken und Praktiker*innen mit jeweils unterschiedlichen Verpflichtungen, Traditionen und eingeschriebenen Unsicherheiten zusammenzufügen. Gesundheit bedeutet mehr als nur die Lokalisierung drohender Krankheiten oder Verunreinigungen. Es geht darum, die Ökologien und Konfigurationen von Viren, Wirten, reagierenden Körpern, Reagenzien und die Belastungen des gesamten Produktionssystems zu verstehen. Der übergeordnete Punkt ist, dass eine kollektive Herangehensweise an Gesundheit nicht nur interdisziplinär sein muss (was das OWOH-Konzept betont), sondern dass sie Disziplinen überschreiten sollte. Dazu bedarf es zahlreicher Objekte, Fähigkeiten sowie einer sorgfältigen Zusammensetzung der Anzeichen dessen, was Gesundheit möglich macht. Mit anderen Worten, es bedarf eher einer multiplen als einer singulären Herangehensweise an Krankheit (Mol 2002); einer, die nicht auf einfache Objekte reduziert werden kann, die reguliert und überwacht werden müssen, sondern eine sorgfältige und hochgradig geschulte Zusammenführung der zahlreichen Auseinandersetzungen mit Gesundheit und Krankheit, um eine geeignete Diagnose abzugeben und gesunde Praktiken anzuleiten.

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Schweine sicher halten Im folgenden letzten Fallbeispiel zu Gesundheitspraktiken bei Schweinen werde ich noch weiter auf die Notwendigkeit eingehen, diejenigen zusammenzubringen, die täglich Tiere und Mikroben beobachten und mit ihnen zusammenarbeiten. Schweine haben eine „potenziell erhöhte Infektionsbereitschaft für Influenzaviren aviaren oder humanen Ursprungs“ (Brown und Done 2013, 8) und fungieren daher als „Mischkessel“ für Grippen (Smith et al. 2009). Die weiten Strecken, die heute von Schweinen, Menschen und Schweineprodukten zurückgelegt werden bedeuten, dass sich diese Grippen schnell fortbewegen können. Die im Jahr 2009 aufgetretene pandemische Schweinegrippe (H1N1) zum Beispiel breitete sich schnell vom ersten Ort des Übergangs zum Menschen in Mexiko aus und wurde zur globalen Pandemie für Menschen. Inzwischen ist sie in Schweinepopulationen auf der ganzen Welt etabliert und in Folge der umgekehrten Zoonose vom Menschen auf Schweine und einer hochgradig effektiven Übertragung von Schwein zu Schwein höchstwahrscheinlich endemisch geworden (Brown und Done 2013). Dieser Flux und diese Geschwindigkeit sind bekannt, dennoch ist es schwierig, ein detailliertes Bild zu gewinnen. Die Überwachung von Schweinegrippe und deren Verständnis ist mit einer Reihe von Herausforderungen verbunden. Die Komplexität liegt unter anderem in der Ko-Zirkulation hochgradig segmentierter Influenza A-Viren begründet, die schnellen Prozessen der Neudurchmischung unterliegen und zu Antigendrift neigen, in komplexen Immunreaktionen, die zu Unsicherheiten in serologischen Tests führen, und in einer Branche, die möglicherweise zögert, diese Krankheitswerte zu untersuchen und publik zu machen. Diese Komplexität bedeutet, dass die Serologie-Panels in regelmäßigen Revalidierungen ihre Eignung beweisen müssen. Testergebnisse müssen über verschiedene Herden oder Populationen hinweg verglichen werden, um „qualitativ korrekte Auswertungen zu erzielen“ (Brown und Done 2013, 9). In diesem Sinne sind Schweine- wie Vogelgrippe alles andere als kohärente Objekte, die auf gesunde Körper treffen. Sie sind vielmehr verzwickte und sich ständig verändernde Überschneidungspunkte von Tieren, Menschen, Viren und Ökonomien, mit denen es schwierig ist, Schritt zu halten. Diesem Bild der Komplexität und des Risikos wird in der Industrie mit der Behauptung entgegnet, man habe die höchste Stufe von Biosicherheit. Die kommerzielle britische Schweinebranche wird hauptsächlich als ein System von geschlossenen Herden betrieben, bei dem Ersatzbestand von Zuchtunternehmen bereitgestellt wird, die eine Zucht-Pyramide geografisch voneinander getrennter Zellkerne, Vermehrer und kommerzieller Bestände nutzen, um die Genstruktur

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einer Herde entweder mit künstlicher Befruchtung zu planen und zu liefern oder Ersatzkälber (junge Weibchen) von sicheren oder krankheitsfreien Anlagen auf die Farmen zu senden. 98 Prozent der zur Schlachtung vorgesehenen britischen Schweine werden unter hochregulierten Bedingungen in geschlossenen Räumen getötet (BPEX 2013). Die Branche hat sich in den letzten Jahrzehnten konsolidiert, wobei sie in etwa einem US-amerikanischen Modell gefolgt ist, bei der die Anzahl der Betriebe verkleinert und die jeweilige Herdengröße erhöht wird, so dass die Produktion nun größtenteils auf etwa 1400 Höfen mit einer durchschnittlichen Größe von 500 Tieren stattfindet (House of Commons 2009). Die Zuchtunternehmen nutzen ein internationales Netzwerk weit voneinander entfernter biologischer Zellmaterialien und Vermehrungsanlagen, um biosichere Schweine zu produzieren, die in der Zuchtindustrie häufig als krankheitsfrei oder „high health“ bezeichnet werden. Und doch übersetzen Landwirt*innen diese Begriffe schnell in Praktiken (siehe Hinchliffe und Ward 2014). Krankheitsfrei, zum Beispiel, wird von Tierärzt*innen alsbald in „frei von spezifischen Erregern“ übersetzt, während Tierärzt*innen und Landwirt*innen eine Vielzahl von Mitteln verwenden, um sicherzustellen, dass die unbedarften Schweine, die in den Höfen eintreffen oder dort geboren werden, die lokal zirkulierenden Erreger erwerben, so dass sie Immunität entwickeln können und keinen seronegativen Teilbestand bilden, der die virale Zirkulation beschleunigen könnte. In der Tat werden die Neuankömmlinge in einem Schweinehaltungsbetrieb (wo es die baulichen Strukturen erlauben) als Erstes in Isolation gebracht, um sicherzustellen, dass die neuen Schweine keine kranken Schweine sind. Dem folgt eine Akklimatisierung, bei der regelmäßig makellose, biosichere Schweinekörper mit Schweinemist vom Hof bedeckt werden, um sie – und den Betrieb – sicher zu machen. Auch hier ist Gesundheit keine singuläre Welt der Sicherheit. Sie ist keine Übersetzung von Kontakt, Bewegung und Kommunikation in die planmäßigeren und regulierteren Kategorien des Austauschs, der Zirkulation und des Handels. Tatsächlich tauchen Kontakt, Bewegung und Kommunikation (oder ein geteilter „munus“ als Bedingung für die Herstellung von Immunität, siehe Esposito 2011) alle in den Praktiken wieder auf, die das Leben sicher machen. Wie die Überwachung und das Verstehen von Krankheit, so ist auch die landwirtschaftliche Praxis nicht so sehr die Sache einer singulären Welt oder eines Universums von selbst-identischen Objekten, die miteinander kollidieren und Wirkungen erzeugen, sondern ein Komplex an Dingen, die das Leben attackieren und konditionieren können (Napier 2012). Das sichere Halten von Schweinen bedeutet gleichfalls nicht nur Grenzen zu ziehen und Mikroben auszuschließen oder Übertragungen zu stoppen. Es erfordert vielmehr eine Herangehensweise an Gesundheit, die Leben zusammenflickt oder verwaltet (im Sinne der Sorge, der

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kontinuierlichen Überwachung und Anpassung). In der Tat kann es gut sein, dass das Streben nach einer singulären Welt der krankheitsfreien Landwirtschaft die höchst lokalisierten und kontingenten Praktiken gefährden könnte, die ein sicheres Leben ermöglichen (Hinchliffe und Ward 2014). Hypertrophische Sicherheit, das ist wohlbekannt, erzeugt oft die Bedingungen der Möglichkeit neuer Gefahren. Und wie die Kritik der Einen-Welt-Anschauung bereits aufzeigt, läuft das singuläre Verständnis von Gesundheit Gefahr, biologische und soziale Differenzen zu reduzieren, anstatt ihre Rolle bei der Konditionierung des Lebens zu steuern und so Gesundheit möglich zu machen. Abb. 3: Schweine, die in biosicheren Anlagen aufgezogen wurden, müssen oft in das Biom des aufnehmenden Betriebes akklimatisiert werden, um Immunität zu entwickeln. Dabei werden neu ankommende Ferkel oft mit Gülle vom Hof in Berührung gebracht. (Foto: Steve Hinchliffe)

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S CHLUSSFOLGERUNG Die Ontologie der einen Welt – um Laws Charakterisierung wieder aufzugreifen – bedeutet eine Welt der Objekte und Kollisionen, der singulären Wahrheiten und des Triumphalismus des Westens. Darin gibt es wiederum eine Tendenz, bestimmte Verständnisse oder Umsetzungen [enactments] von Krankheit zu priorisieren, die Kontaminierung statt Konfigurierung betonen, und ein normatives Programm der Ausweitung kontrollierter Formen von landwirtschaftlicher Praxis und Überwachung. Ich habe erwähnt, dass dies zwangsläufig zwei Welten produziert, aufgeteilt entlang des Tugendhaften und des Pathologischen. Und dennoch ist das Leben, wie die empirischen Ausführungen gezeigt haben, sogar im angeblichen Kern dieser eindimensionalen Welt pathologisch. Das heißt, die Objekte von Krankheit sind niemals eindeutig; Virtuosität und Regulierung beseitigen Kontingenz und Bewegung niemals ganz, und gute Landwirtschaft erfordert Praktiken, die sich mit biologischen Differenzen auseinandersetzen, anstatt sie zu eliminieren. Demnach finden sich kranke Vögel und HPAI-Risiken nicht nur im Hinterhof oder in unregulierten Systemen. Die Konfigurationen stark vertragsgebundener Märkte können die Bedingungen für virales Geschwätz erzeugen. In der Tat bedeutet modernisierte Hightech-Landwirtschaft nicht, dass es sich um ein System der Nahrungsmittelproduktion außerhalb des Sozialen handelt. Im Gegenteil: Krankheitsobjekte werden so sehr mit den biosozialen und technologischen Herangehensweisen an die Landwirtschaft verschränkt, dass neue Risiken und Krankheiten entstehen können. Solche Objekte sind schwer zu fassen, schwierig zu überwachen und erfordern das Bündeln nicht nur von tierärztlicher und medizinischer Expertise, sondern von einer ganzen Reihe von Praktiker*innen – Wissenschaftler*innen, Laien, Fachleuten und Amateur*innen – um die lokalisierten Aspekte des Krankheitsrisikos zu identifizieren. Schließlich deutet das Zusammenflicken von Gesundheit, auf Farmen und an anderen Orten darauf hin, dass Krankheit und Gesundheit in der Praxis nicht als vollständig trennbare Dinge betrachtet werden. In diesem Sinne arbeiten die Landwirt*innen, die ihre biosicheren Schweine mit Mist bedecken, näher an dem, was Georges Canguilhem als eine quantitative Herangehensweise an Gesundheit bezeichnet hat (1991). Das heißt, statt eines Gefühls, dass es eine einzige Version von Gesundheit oder eine klare Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit gibt, haben Schweinehalter*innen und ihre Tierärzt*innen ein Verständnis von Gesundheit als Errungenschaft, als einem Zusammenflicken oder einer Re-Konfigurierung verschiedener guter Haltungspraktiken, der Förderung

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von Immunreaktionen, Impfungen, der Beschaffung und der Anpassung des Bestands und so weiter. Um es klar zu stellen, nichts, was ich hier ausgeführt habe, disqualifiziert die Intention des OWOH-Ansatzes, sich auf die Synergien und wechselseitigen Vorteile in der Verbesserung der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt zu konzentrieren. Der Common Sense, auf den ich mich am Anfang bezogen habe, gilt weiterhin. Ebenso wird der Wille, interdisziplinäre Arbeitsweisen zu entwickeln, die über zuvor getrennte Bereiche von Gesundheit hinweg arbeiten, durch meine Ausführungen im Grunde bestärkt. In der Beschäftigung mit einigen Praktiken, die an der Herstellung von Gesundheit beteiligt sind, habe ich die Notwendigkeit betont, die Metaphysik der einen Welt von diesem Aspekt der singulären Gesundheit abzukoppeln. Dies gilt besonders dann, wenn eine solche Metaphysik Kontamination, simple Objekte und räumliche Trennungen für wichtiger hält als die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen, komplexen Dingen und Beziehungen, die Gesundheit und Krankheit ausmachen. Ich habe argumentiert, dass die Arbeit an geteilter Gesundheit über Speziesgrenzen und standortbezogene Besonderheiten hinweg eine Anerkennung der vielfältigen Dimensionen der Gesundheit erfordert. Dies bedeutet nicht, Gesundheit als kulturell verschieden zu verstehen, sondern die kontinuierliche Arbeit anzuerkennen und zu würdigen, die auf Bauernhöfen, in Laboren und anderswo geleistet wird, um gesunde Ergebnisse zu erzielen. Dies erfordert einen neuen Common Sense oder gesunden Menschenverstand; einen, der die verschiedenen Wissenspraktiken, die quer zu diesen Bereichen Gesundheit möglich machen, vereinigt und hinterfragt, anstatt sie zu romantisieren. Dies regt vielleicht auch dazu an, das physikalische Modell der Einen-Welt-Anschauung, bei dem Objekte aufeinandertreffen und Wirkungen verursachen, durch ein eher chemisches Modell zu ersetzen. Darin verwandeln sich die Objekte beim Eingehen neuer Beziehungen und formen Verbindungen, die sich in der Bewegung verändern. Es ist diese Dynamik, oder besser dieser Polymorphismus, der die Idee der mehr als einen Gesundheit und mehr als einen Welt untermauert. Das Original ist erschienen in Social Science & Medicine 129, 2015, 28–35 unter dem Titel “More than one world, more than one health: Re-configuring interspecies health“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Elsevier.

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Danksagung

Unser Dank gilt den Wissenschaftler*innen, die das Bremen NatureCultures Lab an der Universität Bremen als Denkraum tragen, sowie unseren Gästen, die uns für Vorträge und Workshops besucht haben. Außer den in diesem Band Vertretenen haben in den letzten Jahren unter anderem auch Aníbal Arregui, Nick Bingham, Tanja Bogusz, Koray Çalışkan, Kim und Mike Fortun, Stefan Helmreich, Anna-Katharina Hornidge, Werner Krauss, Tahani Nadim, Jörg Niewöhner, Jan Scheve, Ruth Schilling, Astrid Schrader, Rapti Siriwardane-de Zoysa, Annekatrin Skeide, Melanie Stilz, Martin Weiss und Martina Winkler aus ihren Forschungen berichtet. Unser ausdrücklicher Dank gilt den beteiligten Übersetzer*innen, insbesondere Robin Cackett und Jennifer Sophia Theodor für ihre kenntnisreichen und schönen Übersetzungen und den produktiven Prozess des gemeinsamen Lektorats. Wir danken Andrea Meier für die Erstellung der Druckvorlage, ihr wachsames Auge und die wie immer ausgezeichnete Zusammenarbeit. Wir danken unserer studentischen Mitarbeiterin Antonia Zeich für ihre sorgsame Arbeit am Manuskript, wie auch den Studierenden Lilli Hasche, Elisabeth Nöfer und Alex Meinert, die das BNCL in unterschiedlichen Phasen begleitet haben. Für die finanzielle Unterstützung danken wir der Zentralen Forschungsförderung der Universität Bremen, dem artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit, dem Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft und dem Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen, dem Projekt ZenTraClim, einer gemeinsamen Initiative der Stiftung Mercator, der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und der Universität Bremen, sowie dem interdisziplinären Graduiertenkolleg INTERCOAST, einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) getragenen Kooperation der Universität Bremen mit der University of Waikato in Neuseeland. Schließlich gilt unser Dank dem norwegischen Fotografen Rune Guneriussen für seine freundliche Bereitschaft, uns sein Werk Acknowledge a new found grace (2013) für das Buchcover zur Verfügung zu stellen.

Autor*innen

Katrin Amelang ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen. Sie forscht an der Schnittstelle von Kulturanthropologie und Wissenschafts- und Technikforschung, aktuell zu Algorithmen, Daten und Software in und als Kultur. Pit Arens ist freischaffender Künstler, hat an der Kunstakademie München studiert und lebt und arbeitet seither in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kunst im öffentlichen Raum und die Zusammenarbeit mit dem Ludwik-FleckKreis. Uli Beisel ist Juniorprofessorin für Kultur und Technik in Afrika an der Universität Bayreuth. Sie arbeitet derzeit zu Multispezies-Verschränkungen im Kontext von Stechmücken- und Insektenkontrolle, sowie zu soziomateriellen Infrastrukturen in der Weltgesundheit. Sven Bergmann ist Kulturanthropologe und arbeitet zurzeit am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen. Er forscht zur sozialund kulturwissenschaftlichen Problematisierung von Plastik(müll) im Meer und anderen Lebenswelten. Clemens Driessen ist Assistant Professor für Kulturgeografie an der Universität Wageningen in den Niederlanden. In seiner Arbeit experimentiert er mit menschlichen Beziehungen zu Tieren und Ökologien in domestizierten Räumen und im Wilden. Michael Flitner ist Professor für Humangeografie und Sprecher des artec Forschungszentrums Nachhaltigkeit der Universität Bremen. Er arbeitet zu Umwelt-

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gerechtigkeit, zum globalen Wandel an Küsten sowie zur Politischen Ökologie von Infrastrukturen. Matthew Gandy ist Professor für Geografie an der Universität Cambridge in Großbritannien. Seine kulturgeografische Stadt- und Umweltforschung widmet sich schwerpunktmäßig den Themen Landschaft, Infrastruktur und Biodiversität. Friederike Gesing ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen. Derzeit erforscht sie politische, wissenschaftliche und landwirtschaftliche Praktiken im Zusammenhang mit Stickstoffemissionen. Steve Hinchliffe ist Professor für Geografie und Vizedirektor des Wellcome Centre for Cultures and Environments of Health an der Universität Exeter sowie Mitglied der Sozialwissenschaftlichen Expertengruppe des Umweltministeriums und des Wissenschaftlichen Beirats für Exotische Krankheiten in Großbritannien. Seine Forschungsarbeit konzentriert sich auf Räumlichkeiten und Politiken des Lebens und der Materialität. Bettina van Hoven ist assoziierte Professorin für Kulturgeografie an der Universität Groningen in den Niederlanden. Sie arbeitet mit qualitativen – visuellen und partizipativen – Forschungsmethoden zu Themen wie Ortsbindungen, wellbeing sowie In- und Exklusion. Owain Jones ist Professor in den Environmental Humanities an der Universität Bath Spa in Großbritannien. Er befasst sich mit der Kulturgeografie gesellschaftlicher Naturverhältnisse und arbeitet schwerpunktmäßig zu non-human agencies sowie Ökologie, Affekt und Erinnerung in einem weiten Sinn. Michi Knecht ist Professorin für Ethnologie und geschäftsführende Direktorin des Instituts für Ethnologie und Kulturwissenschaft und Sprecherin der Verbundplattform „Worlds of Contradiction“ an der Universität Bremen. Sie arbeitet u.a. zu Anonymitätsregimen, Welfare Bricolage und zu sozial- und kulturanthropologischen Praktiken der Wissensproduktion. Jamie Lorimer ist Associate Professor für Humangeografie am Institut für Geografie und Umweltforschung der Universität Oxford in Großbritannien. Seine Forschung befasst sich mit sozialen Dimensionen des Natur- und Artenschutzes in unterschiedlichsten Maßstäben – von Elefanten bis Mikroorganismen.

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Heather Paxson ist William R. Kenan, Jr. Professor für Anthropologie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA. Ihre Forschung widmet sich den Alltagspraktiken, durch die Menschen sich selbst als moralische Wesen erleben – insbesondere im Kontext von Familie und Ernährung. Martina Schlünder ist Wissenschaftshistorikerin und arbeitet als Marie Curie Fellow an den Universitäten Bremen und Toronto. Aus der Perspektive feministischer Wissenschaftsforschung untersucht sie zurzeit die Geschichte der Reproduktion im 20. Jahrhundert und Tier-Mensch Beziehungen in den Lebenswissenschaften und der Umwelt- und Technikgeschichte. Banu Subramaniam ist Evolutionsbiologin und Professorin für Women, Gender und Sexuality Studies an der Universität von Massachusetts in Amherst, USA. Als feministische Wissenschaftsforscherin untersucht sie Praktiken der experimentellen Biologie und arbeitet unter anderem zu Xenophobie und Nativismus im Umgang mit invasiven Pflanzenarten sowie zur Beziehung zwischen Wissenschaft und religiösem Nationalismus in Indien. Anna Tsing ist Professorin für Anthropologie an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz sowie Niels Bohr Professor und Ko-Direktorin des Forschungsprogramms Research on the Anthropocene an der Universität Aarhus in Dänemark. Das von ihr ko-organisierte interaktive digitale Projekt Feral Atlas untersucht, wie lebende und nicht-lebende Wesen die Spielräume industrieller und imperialer Infrastrukturen nutzen, um mehr-als-humane Lebensmöglichkeiten zu zerstören. Sarah Whatmore ist Professorin für Umwelt und Politik an der Universität Oxford in Großbritannien. Sie forscht an der Schnittstelle zwischen Umweltwissenschaften, Umweltmanagement und demokratischer Politik, insbesondere zur Rolle und Aushandlung von Expertise sowie zu Möglichkeiten, effektivere umweltpolitische Öffentlichkeiten zu fördern, um so transformative Prozesse der Wissensbildung und Politikgestaltung voranzutreiben. Emily Yates-Doerr ist Assistant Professor für Anthropologie an der Universität Amsterdam in den Niederlanden sowie der Oregon-State-Universität in den USA. Zurzeit arbeitet sie an einem vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderten Projekt mit dem Titel „Global Future Health: A Multi-sited Ethnography of an Adaptive Intervention“, in dem sie sich mit den Konzepten der Evidenz und der Entwicklung in den Ernährungswissenschaften befasst.

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)

Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7

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