Nachhaltige Stadtplanung: Lebendige Quartiere – Smart Cities – Resilienz 9783955534318, 9783955534301

Strategies for the city of tomorrow Life in the city is popular and creating liveable urban space is undoubtedly a pri

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German Pages 280 [281] Year 2018

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Table of contents :
Impressum
Inhalt
Vorwort der Herausgeber zur 2. Auflage
KAPITEL 1 Einführung
1.1 Ziele und Motivation des Buchs
1.2 Nachhaltigkeit und Resilienz
1.3 Das Quartier
1.4 Die Smart City
1.5 Mehrwert nachhaltiger Stadtquartiere
KAPITEL 2 — HERAUSFORDERUNGEN & HANDLUNGSFELDER
2.1 Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung
Herausforderung
Handlungsfeld
2.2 Prozesse und Beteiligung
Herausforderung
Handlungsfeld
2.3 Mensch und Soziokultur
Herausforderung
Handlungsfeld
Herausforderung
Handlungsfeld
2.4 Ökologie
Herausforderung
Herausforderung
Handlungsfeld
Herausforderung
Handlungsfeld
Herausforderung
Handlungsfeld
Herausforderung
Handlungsfeld
Herausforderung
Handlungsfeld
Herausforderung
Handlungsfeld
Herausforderung
Handlungsfeld
KAPITEL 3 Umsetzungsstrategien
3.1 Ganzheitliche Konzepte entwickeln
3.2 Akteure, Leitbilder und Instrumente
3.3 Kommunale Umsetzungsstrategien
3.4 Projektspezifische Umsetzungsstrategien
KAPITEL 4 — WERKZEUGE
4.1 Computerunterstützte Planungswerkzeuge
4.2 Simulation
4.3 Visualisierung
4.4 Zertifizierungs- und Bewertungssysteme
KAPITEL 5 — PROJEKTE
Einführung
Übersicht
Potsdamer Platz
Carlsberg City District
ecoQuartier Pfaffenhofen
Bo01 – Western Harbour
Dockside Green
Neckarbogen
Hammarby Sjöstad
Möckernkiez
NEST – New Ethiopian Sustainable Town
GWL-Terrein
Barangaroo
NDSM-Werft
Berlin TXL
Viertel Zwei
Weitere Projekte
ANHANG
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Autoren
Projektbearbeiter
Recommend Papers

Nachhaltige Stadtplanung: Lebendige Quartiere – Smart Cities – Resilienz
 9783955534318, 9783955534301

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Nachhaltige Stadtplanung

Nach haltige Stadt planung Lebendige Quartiere Smart Cities Resilienz

Impressum

Herausgeber und Autoren Helmut Bott, Gregor C. Grassl, Stephan Anders

Co-Autoren Martin Altmann, Jürgen Baumüller, Julia Böttge, ­ Sigrid Busch, ­Dominic Church, Thorsten Erl, Manal ­El-Shahat, ­Johannes Gantner, Philipp Groß, Tilman Harlander, ­Gerhard Hauber, Thomas Haun, Dietrich Henckel, Olaf Hildebrandt, Jürgen ­Laukemper, Rolf Messerschmidt, Peter Mösle, Marcel Özer, Christopher Vagn Philipsen, Waltraud ­Pustal, Christina Sager-Klauß, Daniela Schneider, Mario Schneider, Antonella ­Sgobba, Stefan Siedentop, Guido Spars, Antje ­Stokman, Alyssa ­Weskamp, ­Bastian Wittstock, ­Andreas von Zadow

DETAIL Business Information GmbH, München www.detail.de © 2018, zweite Auflage (überarbeitet und aktualisiert) 2013, erste Auflage ISBN: 978-3-95553-430-1 (Print) ISBN: 978-3-95553-431-8 (E-Book) ISBN: 978-3-95553-432-5 (Bundle)

Die Abschnitte »Wohlbefinden und gesundes Raumklima« (S. 138 – 139) und »Energie- und ressourcenschonendes Gebäudedesign« (S. 139 – 141) sind der Publikation »Green Building. Leitfaden für nachhaltiges Bauen« von Michael Bauer, Peter Mösle, Michael Schwarz (Berlin 2013) entnommen. Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science ­­+ ­Business Media.

Mitarbeiter der Ausgabe 2013: Alexander Sailer, Isabelle Willnauer

Redaktion Projektleitung: Steffi Lenzen Lektorat und Layoutbearbeitung: Eva Schönbrunner Korrektorat: Sandra Leitte, Valley City Redaktion der Ausgabe 2013: Cornelia Hellstern, Sandra Leitte, Yvonne Bruderrek, ­Andrea Kohl-Kastner, Jana Rackwitz; Carola Jacob-Ritz, Florian Köhler, Kai Meyer, Eva Schönbrunner, Theresa Steinel, Lisa Wenz Zeichnungen: Ralph Donhauser Herstellung / DTP: Roswitha Siegler, Simone Soesters Cover und Gestaltungskonzept: Maria Fischer und Christoph Kienzle Rose Pistola GmbH, München Reproduktion: ludwig:media, Zell am See Druck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die ­dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetz­lichen Bestimmungen des Urheberrechts­ gesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen un­­terliegen den Strafbestim­mungen des Urheberrechts. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese ­Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; ­detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ­abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die CO2-Emissionen dieser Publikation, die bei der Produktion des Papieres, beim Drucken, Binden und den Transporten anfielen, wurden über die Klimainitiative des Bundesverbandes Druck und Medien e. V. durch first climate-Zertifikate zu 100 % ausgeglichen.

ID-No. 1874791

Die für dieses Buch verwendeten FSC ®-zertifizierten ­Papiere werden aus Fasern hergestellt, die nach­ weislich aus umwelt- und ­sozialverträglicher Herkunft stammen.

Inhalt

Vorwort der Herausgeber zur 2. Auflage  6

KAPITEL 3 — UMSETZUNGS­STRATEGIEN  168 Darstellung übergeordneter Prinzipien, die bei der Planung berücksichtigt werden sollten und Strategien zur Umsetzung der in den Handlungsfeldern aufgezeigten Lösungen im Ent­wicklungsprozess

KAPITEL 1 — EINFÜHRUNG  10 Erläuterung des Begriffs Nachhaltigkeit und seine ­Verwendung in der Stadt- und Quartiersplanung

1.1 Ziele und Motivation des Buchs  11 1.2 Nachhaltigkeit und Resilienz  13 1.3 Das Quartier  21 1.4 Die Smart City 25 1.5 Mehrwert nachhaltiger ­Stadtquartiere 

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3.1 Ganzheitliche Konzepte entwickeln  169 3.2 Akteure, Leitbilder und Instrumente  179 3.3 Kommunale Umsetzungsstrategien  188 3.4 Projektspezifische Umsetzungs­ strategien  195

KAPITEL 4 — WERKZEUGE  200 KAPITEL 2 — HERAUS­FORDERUNGEN & HANDLUNGSFELDER  32 Problemstellungen und konkrete Lösungsansätze relevanter Themenfelder für die nachhaltige Stadt- und Quartiersplanung

2.1  Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung Herausforderung 33 Handlungsfeld 42 2.2 Prozesse und Beteiligung Herausforderung 51 Handlungsfeld 54 2.3 Mensch und Soziokultur • Soziales Gefüge Herausforderung  61 Handlungsfeld 66 • Lebensstile und ­Verhaltensweisen Herausforderung  73 Handlungsfeld 77 2.4 Ökologie • Arten- und Biotopschutz Herausforderung  83 •  Freiräume und Stadtklima Herausforderung 85 Handlungsfeld 88 • Wasser- und Bodenschutz Herausforderung 96 Handlungsfeld 99 • Stoffströme Herausforderung 106 Handlungsfeld 108 • Mobilität und Verkehr Herausforderung 114 Handlungsfeld 117 • Energie Herausforderung 126 Handlungsfeld 130 • Emissionen Herausforderung 142 Handlungsfeld 146 2.5 Ökonomie Herausforderung  153 Handlungsfeld 158

Überblick über Methoden und Werkzeuge für die ­Planung und Umsetzung von nachhaltigen Quartieren

4.1 Computerunterstützte Planungs­ werkzeuge  201 4.2 Simulation  206 4.3 Visualisierung  214 4.4 Zertifizierungs- und Bewertungs­ systeme  218

KAPITEL 5 — PROJEKTE  224 Auswahl an nachhaltigen Quartieren weltweit mit ­spezifischen Schwerpunkten

Einführung  225 Übersicht  226 Potsdamer Platz  228 Carlsberg City District  232 ecoQuartier Pfaffenhofen  234 Bo 01 – Western Harbour  238 Dockside Green  240 Neckarbogen  242 Hammarby Sjöstad  244 Möckernkiez  246 NEST – New Ethiopian Sustainable Town  248 GWL-Terrein  250 Barangaroo  252 NDSM-Werft  254 Berlin TXL  256 Viertel Zwei  260 Weitere Projekte  262

ANHANG  266 Literaturverzeichnis  266 Bildnachweis  275 Autoren  278 Projektbearbeiter  280

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Vorwort der Herausgeber zur 2. Auflage

Vorwort der Herausgeber zur 2. Auflage

Nachhaltigkeit – ein alter Hut?

B

ereits als 2012 die erste Auflage des Buchs »Nachhaltige Stadtplanung – Konzepte für nachhaltige Quartiere« entstand, schien der Begriff Nachhaltigkeit manch einem schon abgestanden oder gar längst überwunden zu sein. Das Thema »nachhaltige Stadt« sei veraltet, konnte man gelegentlich hören, es gehe nun um die »resiliente Stadt« und in der Zielsetzung »Resilienz« sei das Thema der Nachhaltigkeit aufgehoben. Der Begriff »nachhaltig« war in der Tat zu oft – und auch falsch – in allen möglichen und unmöglichen Zusammenhängen benutzt worden. Dennoch wurde das Buch in all seiner Komplexität sehr gut nachgefragt und war nach etwa drei Jahren ausverkauft. Nunmehr liegt die überarbeitete und aktualisierte zweite Auflage vor. Wir haben die Inhalte neu gegliedert, aktuelle Themen wie Digitalisierung und Stadt ergänzt sowie den Umfang insgesamt gestrafft. In der ersten Hälfte der 2000er-Jahre deutete in Deutschland vieles auf eine Wende in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit hin. Nach Jahrzehnten andauernder Konflikte und teilweise heftiger Auseinander­setzungen kam es unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 sogar bei konservativen Politikern zur Abkehr von der damaligen Energiepolitik, die »Energiewende« wurde eingeläutet. Deutschland schien sich zum Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit zu entwickeln, von außen bewundert und belächelt – je nach politischer Position. Nun, einige Jahre später, sieht es schon wieder etwas anders aus. Der Atomausstieg Deutschlands war zwar ein großer Meilenstein in Richtung umweltfreundlicher und sicherer Energieerzeugung, zur Verbesserung der CO2-Bilanz konnte er jedoch kaum beitragen. Die deutschen Städte haben zudem vermehrt mit neuen Herausforderungen wie Hoch-

wasser durch extreme Niederschlagsereignisse oder Feinstaubalarm durch den immer noch zu­ nehmenden Pkw-Verkehr zu kämpfen. Und es zeigt sich, dass auch alternative Energiegewinnung starke Eingriffe in Stadt- und Dorfgestalt, Natur und Landschaft verursachen kann (riesige Photovoltaikanlagen, gigantische Windräder, breite Hochspannungsstromtrassen, Spei­ cherbecken, Monokulturen für die Gewinnung von Biodiesel etc.), wogegen sich oft Bürgerproteste wenden. Dies verweist unmittelbar auf die Mehrdimensionalität des Prinzips Nachhaltigkeit, auf bessere Analysen von Wechsel- und »Neben«wirkungen, auf die Notwendigkeit von ganzheitlich interdisziplinär erarbeiteten Planungskonzepten jenseits eindimensionaler Optimierungen. Im Zentrum des Buchs steht die Stadtplanung. Der Fokus der Betrachtung richtet sich zwar auf das Quartier als sozialräumliche Einheit der alltäglichen Lebenswelt sowie als Interventionsebene bei Stadtumbau und Stadterneuerung. Viele Aspekte lassen sich jedoch nicht auf klar abgrenzbare räumliche Untereinheiten der Stadt einschränken, weshalb sich der Blick vom Quartier auf die Stadt oder gar die Region weitet, in manchen Fällen gar auf die Gebäudeebene zurückführt. Ganz gleich, aus welchem Betrachtungswinkel und in welcher Dimension man die Stadt analysiert – ökologisch, soziokulturell oder ökonomisch –, es geht immer um den zeitlichen Ablauf und den Stadt- und Landschaftsraum, in dem sich die Prozesse der menschlichen Lebenswelt vollziehen. Selbst wenn kein ökonomischer und technologischer Wandel stattfände, so würden die Menschen dennoch älter werden, neue Generationen kommen, Gebäude und technische Systeme verschleißen, die Pflanzen wachsen und absterben und/oder Sukzessionsfolgen entstehen.

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Vorwort der Herausgeber zur 2. Auflage

Die Nachhaltigkeit räumlicher Strukturen lässt sich also nur im Lebenszyklus definieren und beurteilen – von der Errichtung und Einbringung der Baumaterialien und Bauteile über die Nutzung und Unterhaltung von Gebäudestrukturen bis gegebenenfalls zu deren Entsorgung bzw. Wiederverwendung. Ganz wichtig und immer entscheidender wird dabei die intelligente Vernetzung aller Elemente in den verschiedensten Dimensionen. Da Stadt kein abgeschlossenes, sondern ein komplexes, offenes und dynamisches System ist, geht es in der Einschätzung seiner Qualitäten auch um seine Anpassungsfähigkeit (Resilienz) an sich ändernde Rahmenbedingungen. Dies gilt umso mehr, als Wirtschaft und Gesellschaft auf dem räumlich und in den verfügbaren Ressourcen begrenzten Planeten Erde immer noch auf ständiges Wachstum ausgerichtete sind, da scheinbar nur Wachstum die Folgen der bisherigen Verteilungsprinzipien in der Wirtschaft zumindest partiell zu überdecken vermag. Wir wissen seit Langem, dass es Grenzen des Wachstums gibt, was sich längst noch nicht im Mainstream der ökonomischen Theorien und politischen Strategien niedergeschlagen hat. Auch die normierten Verfahren der Bauleitplanung und gängigen Planungsstrategien müssen infrage gestellt und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf »Resilienz« und »Nachhaltigkeit« überprüft werden. Dies gilt auch für die Investitionsstrategien der Kommunen und öffentlichen Körperschaften. Es werden sicher große Aufwendungen für intelligente technische und soziale Infrastruktureinrichtungen erforderlich sein: Sanierung und/oder Neustrukturierung von Aquädukten, Straßen, ÖPNV- und Energienetzen sowie der sozialen Infrastrukturelemente, die schon immer eine wesentliche Grundlage der europäischen Stadt waren. Dies sind, in Verbindung mit der offenen, sozialen Interaktion der Stadtbewohner, die unver-

zichtbaren und dauerhaften »sozialen Netzwerke« – und nicht die von wenigen globalen Konzernen beherrschten Datennetze. Die vorliegende Publikation kann ein so komplexes Thema selbstverständlich nicht in allen Einzelheiten behandeln. Ziel ist es vielmehr, einen fundierten Überblick zu geben, aus dem ein Grundverständnis für die Komplexität der Zusammenhänge und Wechselwirkungen entsteht. Vielfältige Hinweise auf weiterführende und vertiefende Literatur sowie Projektbeispiele s­ ollen dem Leser die Möglichkeit geben, Kenntnisse zu vertiefen und sich mit Details der jeweiligen Fachdisziplinen zu befassen. Um dem Anspruch der ganzheitlichen Betrachtung gerecht werden zu können, war es notwendig, ein Team aus Wissenschaft, Planungspraxis und Wirtschaft zusammenzustellen. Das Thema ist zu komplex und die zu behandelnden Aspekte zu vielfältig, als dass sie eine kleine Gruppe oder gar nur ein einzelner Autor behandeln könnte. Die Vielfalt der Autoren ermöglicht es, das Thema Nachhaltigkeit aus sehr unterschiedlichen Positionen zu untersuchen. Der Begriff Nachhaltigkeit wird in der fachlichen und politischen Diskussion von den verschiedensten Positionen aus sehr unterschiedlich, oft gar gegensätzlich verstanden und eingesetzt. Die einen beziehen sich unter dem Motto »Nachhaltigkeit ist nichts Neues« auf alte Methoden und Werte, während andere gemäß der Devise »Nachhaltigkeit ist die Vision einer besseren Zukunft« auf Innovation und technischen Fortschritt setzen. Zahlreiche Diskussionen und auch Publikationen beschäftigen sich mit Hightech- und LowtechStrategien – von Städten mit Lehmhäusern und Schafwolldämmung auf der einen und Smart Cities mit vollautomatisierten Gebäuden und Dienstleistungsrobotern, steuerbar per Smartphone

Vorwort der Herausgeber zur 2. Auflage

sowie autonom fahrenden E-Autos auf der anderen Seite. Beide Ansätze sind interessant, die Debatte aber ist oft sehr stark ideologisch geprägt. Dies zeigt in aller Deutlichkeit, dass der Weg zum nachhaltigen Wirtschaften steinig ist und ganz bestimmt nicht nur geradeaus, sondern in manchen Fällen gar in Sackgassen führen wird – denken wir nur an Desertec. Manche heute gefeierten technischen Systeme werden sich nur als Zwischenlösung erweisen und durch neuere Erkenntnisse und geänderte politische Strategien und gesellschaftliche Entwicklungen früher oder später obsolet werden. Ihre Reversibilität wird somit zu einem wichtigen Kriterium. Das vorliegende Buch soll zur ergebnisoffenen, sachlichen Diskussion beitragen. Wir gehen davon aus, dass ohne technische Innovation eine nachhaltige Zukunft nicht möglich sein wird. Technik­ entwicklung allein wird jedoch die großen Probleme des »Anthropozäns« nicht lösen können. Denn technische Innovation ist in Bezug auf die Wohlfahrt der Gesellschaft ebenso wie in ihren Auswirkungen auf die Natur kein Wert an sich. Ganz im Gegenteil wurde ein großer Teil der heutigen Probleme erst durch die nicht bedachten oder falsch eingeschätzten »Nebenwirkungen« technischer Systeme erzeugt. Selbstverständlich kann in dieser Diskussion niemand die Position der Objektivität beanspruchen. In unserem Buch werden vielmehr Ziele und Maßnahmen formuliert, wie z. B. das Prinzip der sozialen Mischung, der Dichte und der Nutzungsmischung, die die Autoren der jeweiligen Beiträge nachvollziehbar begründen. Letztendlich basieren diese Betrachtungen aber nicht nur auf Fakten, sondern auch auf Werturteilen. Dies erschließt sich dem Leser aus den Argumentationen und er mag den Gedankengängen zustimmen – oder auch nicht.

Um Visionen Realität werden zu lassen, ist es notwendig, Erfahrungen in der Praxis zu sammeln, daraus zu lernen und entsprechende Umsetzungsstrategien zu konzipieren. Einerseits wurden in den letzten Jahrzehnten mit vergleichsweise geringen Forschungsmitteln in Teilbereichen große Fortschritte erzielt – etwa bei der Entwicklung vom Niedrigenergie- zum Passiv- und schließlich zum Plusenergie- bzw. Aktivhaus. Andererseits aber zeigt sich, dass gerade die realisierten Projekte in aller Regel eben nicht den ganzheitlichen Ansatz verfolgen, den dieses Buch fordert. Das wird auch in den dargestellten Praxisbeispielen in Kapitel 5 deutlich. Die komplexe, vieldimen­ sionale Analyse und Planung steht unseres Erachtens erst am Anfang, daher ist dies nicht weiter verwunderlich und es spricht keineswegs gegen Projekte, dass sie nur einige der im Buch angesprochenen Dimensionen beachten. Jedes Projekt, das es ermöglicht, neue technische und/oder sozioökonomische Erkenntnisse zu gewinnen, ist wichtig, und so glauben wir, dass sich an den dargestellten Planungsbeispielen Vieles lernen lässt. Zusammen mit den zahlreichen renommierten Autoren der unterschiedlichen Fachdisziplinen sind wir überzeugt, ein informatives Buch für die Tätigkeit als Planer oder als Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft vorlegen zu können. Wir danken an dieser Stelle allen Autoren für ihr großes Engagement und die freundliche Bereitschaft, ihre Texte zu aktualisieren. Besonderer Dank gilt dem Unternehmen Drees & Sommer, ohne dessen finanzielle Unterstützung dieses Buch nicht entstanden wäre.

Stuttgart, im August 2018 Helmut Bott, Gregor C. Grassl, Stephan Anders

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K A P ITE L 1

Einführung

1.1 — Ziele und Motivation des Buchs

1 .1

Ziele und Motivation des Buchs Ste fan Anders, Hel mut Bott, Gregor C . Gras s l

Z

iel dieses Buches ist es, das Prinzip »Nachhaltigkeit« in seiner Komplexität und Mehrdimensionalität in Bezug auf die Stadt- und Quartiersentwicklung darzulegen. Dies erklärt seinen Umfang und die Vielzahl der Co-Autoren, die jeweils aus ihrer fachlichen Perspektive sowie Expertise den Stand der Forschung und Entwicklung fundierter und detaillierter aufzeigen können, als es ein kleines Team oder gar nur ein einzelner Autor leisten könnten. Im Einführungskapitel der Publikation werden der Begriff der Nachhaltigkeit und seine Verwendung in der Stadt- und Quartiersplanung erläutert, historisch eingeordnet sowie Nachhaltigkeit in ihrer grundlegenden Dimension und ihrer strategischen Wirkung dargestellt. Gegliedert nach den drei Säulen der Nachhaltigkeit – Ökonomie, Ökologie, Soziales, – jeweils bezogen auf die Stadt- und Quartiersentwicklung, werden anschließend die wichtigsten Herausforderungen und Handlungsfelder von Experten der jeweiligen Themenbereiche aufgezeigt, detailliert erläutert und mit Zahlen und Fakten belegt. Dabei geht es um Klärung und Erläuterung der Grundbegriffe, die im Zusammenhang mit der Zielsetzung nachhaltiger Stadtplanung relevant sind, aber auch um die Klarstellung des Verhältnisses von Nachhaltigkeit und Resilienz sowie um die Einordnung des Leitbilds Smart City. Entscheidend für den Projekterfolg sind aber nicht nur die richtigen fachspezifischen Lösungsansätze, sondern vor allem auch Umsetzungsstrategien, bei denen die komplexen Wechselwirkungen der Zielsetzungen und Maßnahmen in den Teilsektoren mitbedacht werden. Nachhaltige Planungsansätze müssen immer auch integrativ sein, ohne

einseitige Optimierung von Teilsektoren – wie etwa die »Energiespar-Stadt« oder die »autogerechte Stadt« – und dies umso mehr bei größeren und komplexen Projekten, wie es Stadt- und Quartiersentwicklungen immer sind. Zusätzlich erhält der Leser einen kurzen Überblick, welche teilweise noch relativ neuen Werkzeuge für nachhaltiges Planen und Bauen zur Verfügung stehen. Abschließend werden geplante und bereits realisierte Beispiele vorgestellt, die Anregungen für konkrete Aufgabenstellungen geben und einen Einblick erlauben, was heute unter der Zielsetzung der nachhaltigen Stadtplanung bereits durchsetzbar ist. Auswahlkriterien für die Projektbeispiele waren u. a. die Internationalität und der Anspruch, ein breites Spektrum unterschiedlichster Konzepte zu präsentieren, bei denen jeweils verschiedene Handlungsfelder problembezogen im Vordergrund stehen. Die Gliederung der Kapitel ermöglicht es, jederzeit schnell Informationen zu Teilgebieten zu erhalten. Wir haben uns zwar bemüht, das Thema möglichst in der gebotenen Breite zu behandeln und deshalb ein interdisziplinäres Autorenteam zusammengestellt, das die jeweiligen Themenbereiche in der erforderlichen Tiefe auf dem Stand von Wissenschaft und Technik darlegen kann. Gleichwohl ist die Zahl der Seiten, gemessen am Umfang der Aufgabenstellung, eng begrenzt. Die einzelnen Kapitel können also einen Überblick bieten, vertiefende Fachliteratur jedoch nicht ersetzen. Deshalb werden am Kapitelende jeweils in einem Block zusammengefasst Hinweise auf wichtige Quellen, Forschungsstudien und ver­ tiefende Fachliteratur gegeben. Leser, die sich intensiver mit Themen wie Wasser- und Bodenschutz, Prozesse und Beteiligung oder Stoffströme beschäftigen möchten, können dort wertvolle Hinweise für ihre Arbeit finden.

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Kapitel 1 — Einführung

Das Buch betrachtet das Thema Nachhaltigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Beiträge beleuchten städtebauliche und stadtplanerische Entwicklungsziele, die weit über den heutigen Zustand vieler Städte hinausweisen müssen, wenn Nachhaltigkeit das formulierte Ziel ist. Deshalb betrachtet es ökonomische Aspekte ebenso wie sozialpolitische Ziele und die Probleme sozialer Integration oder Segregation. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist nicht mehr nur ein soziales, sondern längst schon ein ökonomisches Problem. Wo sollen die dringend benötigten Erzieher/innen, Pflegekräfte und Fachkräfte mit mittlerem Einkommen, die dringend für die Weiterentwicklung unserer Wirtschaft benötigt werden, in Zukunft noch Wohnungen finden, wenn die Boden- und Immobilienpreise weiter so ansteigen? Kurzfristige Profite stehen hier eindeutig gegen die nachhaltige Stadtentwicklung und erzeugen ein soziales Ungleichgewicht mit unabsehbaren Folgekosten für unser Sozialsystem. Auf der anderen Seite kommen auch die ökonomischen Belange von Investoren zur Sprache, denn dies sind nicht nur Hedgefonds, deren über den Globus verteiltes Kapital nach Anlage mit schnellem Profit sucht, oder Heuschrecken, die alles Verwertbare »fressen« und nach der Zerstörung weiterziehen. Investoren sind auch Bauherrengemeinschaften, lokal gebundene Mittelständler, Genossenschaften und Wohnungsbauunternehmen oder Träger des sozialen Wohnungsbaus sowie Firmen mit langfristigen Investitionszielen, sozialer und lokaler Verantwortung. Deren Investitionen müssen und können in die Ziele nachhaltiger Stadtentwicklungsstrategien eingebunden werden. Folglich werden auch die übergreifenden ökonomischen Effekte nachhaltigen Handelns diskutiert. Mit deren positiven Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft lässt sich begründen, warum einzelne Maßnahmen, die bei kurzfristiger, nur sektoraler Betrachtung unrentabel erscheinen, auch betriebswirtschaftlich betrachtet mittel- und langfristig sinnvoll sein können. Des Weiteren beschäftigt sich das Buch mit Immobilienzertifikaten für Stadtquartiere sowie dem Leitbild der europäischen Stadt als ein funktionsfähiges, sich in eigener Verantwortung verwal­

tendes Gemeinwesen, das seine Zukunft zum Wohle aller Mitbürger plant. Wie viele Kommunen in Deutschland üben ihre Planungshoheit und Daseinsvorsorge wirklich noch umfassend von A wie Ankauf von Grundstücken zur Stadtentwicklung bis Z wie Zahlung von Handwerkerrechnungen aus? Im Gegenteil – neoliberale Politik hat viele Städte dazu getrieben, ihre Immobilien an Investitionsfonds zu verkaufen, um Finanzlücken zu schließen – dadurch aber über kurz oder lang große Sozialprobleme generiert, die nun, wie eben angesprochen, auch zu ökonomischen Engpässen führen. Für Versäumnisse in der Stadt- und Quartiersentwicklung müssen alle Bürger früher oder später – wenn das nächste Hochwasser, die nächste Finanzkrise kommt oder ein schlecht geplantes Quartier nach einiger Zeit zum sozialen Brennpunkt wird – als Steuerzahler oder Versicherungsnehmer oder als von den Problemen betroffene Eigentümer die Folgekosten tragen. Ziel ist es, mit diesem Fachbuch aufzuzeigen, wie sich nachhaltige Planungs- und Realisierungs­ prozesse organisieren lassen. Dem Leser werden unterschiedliche Methoden und Werkzeuge zur Realisierung der Projektziele angeboten. Die vorgestellten Projekte zeigen, dass – zumindest in Teilbereichen – auch in den letzten Jahren schon nachhaltige Ziele in der Stadt- und Quartiersplanung umgesetzt werden konnten und machen somit deutlich, dass auf diesem Gebiet bereits heute wichtige Beiträge zum nachhaltigen Handeln existieren. Es ist nicht notwendig, auf geänderte Rahmenbedingungen aus Politik und Wirtschaft zu warten. Gerade jetzt erleben wir neue Hitzerekorde, ex­­ treme Dürre, Gletscher und Polareis schmelzen immer schneller oder sind in den Alpen bereits größten Teils verschwunden. Dennoch behaupten manche Politiker und Lobbyisten, es gäbe keinen Klimawandel. Und selbst Politiker, die die Komplexität der Probleme erkennen, zögern, diese klar zu benennen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen – aus Angst um ihre Mandate. Umso notwendiger wird das Handeln im Sinne der vorliegenden Untersuchungen zu Herausforderungen und Handlungsfeldern nachhaltiger Stadtplanung.

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1.2 — Nachhaltigkeit und Resilienz

1.2

Nachhaltigkeit und ­Resilienz Ste p han Anders, Helmut Bott, Gregor C . Gras s l

D

er im Jahr 1987 veröffentlichte Brundtland-Bericht definierte erstmals das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung und zwar als »eine Entwicklung, die die Lebens­ qualität der gegenwärtigen Generation sichert und gleich­ zeitig zukünftigen Generationen die Wahlmöglichkeit zur Gestaltung ihres Lebens erhält«.1 Dies ist die grundlegende Prämisse für eine nachhaltige Stadtquartiersentwicklung. Sie steht auf den folgenden zwei ethischen Fundamenten: •• Die Zukunftsverantwortung gegenüber den kommenden Generationen ist das bewahrendstatische Element. Sie sichert die menschlichen Bedürfnisse auf lange Zeit. •• Die ständige Verteilungsgerechtigkeit als optimierend-dynamisches Element beugt Konflikten vor. Sie ist das stabilisierende Moment einer Gesellschaft. Dieses Leitbild spiegelt sich auch in dem häufig verwendeten Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit wider – andere Bezeichnungen sind das Nachhaltigkeitsdreieck, das magische Dreieck oder im Englischen der Begriff Triple Bottom Line. Das Drei-Säulen-Modell besagt, dass eine Entwicklung nur nachhaltig sein kann, wenn ökologische, ökonomische und soziale Aspekte gleichermaßen Berücksichtigung finden. Die drei Dimensionen sind dabei eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Kurz gesagt: Ohne den Schutz der Umwelt und die nachhaltige Nutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen ist langfristig eine Gesellschaft nicht überlebensfähig. Diese Definition bildet auch die Grundlage für dieses Buch. Es sei angemerkt, dass in der Fachwelt auch diskutiert wird, weitere Dimensionen, wie die Kultur, in das Modell zu integrieren.  SA

Nachhaltigkeit und/oder ­Resilienz? Ausgelöst durch die Debatten um die problematischen Folgen des Klimawandels (Zunahme der Sturmschäden, Überschwemmungen, Hitze- und Trockenperioden) sowie die Zunahme terroristischer Attacken nahmen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Diskussionen, Forschungsprojekte und Publikationen zum Thema Resilienz auch in der Stadtplanung exponentiell zu. Manch einem schien gar das Prinzip der Nachhaltigkeit durch das der Resilienz aufgehoben zu sein.2 Dieser Auffassung widersprechen wir, die Herausgeber dieses Buches, grundsätzlich. Resilienz ist eine der Bedingungen, jedoch keineswegs hinreichend für Nachhaltigkeit.3 Dies lässt sich an Maßnahmen verdeutlichen, die z. B. als Reaktionen auf die Folgen des Klimawandels denkbar sind: Um ein Skigebiet auch weiterhin ökonomisch zu betreiben, könnte man als Anpassungsmaßnahme Schneekanonen oder gar klimatisierte Indoor-Skianlagen einsetzen, was den Ort oder die Region zweifellos »resilienter« gegen die Folgen des Klimawandels macht. Dem Prinzip der Nachhaltigkeit würde aber eher eine Neuorientierung der Region auf andere Sport- und Freizeitaktivitäten entsprechen, sofern sie ökonomisch davon und von Tourismus im Allgemeinen abhängig ist und bleiben möchte. Um eine Stadt anpassungsfähiger (resilienter) an zunehmende Hochwasserspitzen zu machen, wird man z. B. Schutzmauern gegen Hochwasser errichten müssen, am besten demontierbar. Im Sinne der Nachhaltigkeit sind allerdings Maßnahmen sinnvoll, die im gesamten Flusssystem zu Regenwas-

1  Hauff 1987, S. 46 2 »Resilienz wird in den nächsten Jahren den schönen Begriff der Nachhaltigkeit ablösen. Hinter der Nachhaltigkeit steckt eine alte Harmonie-Illu­ sion.« Horx 2011, S. 309 3 vgl. Lukesch 2016, S. 303

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Kapitel 1 — Einführung

 4 vgl. hierzu auch Fekete/ Grinda/Norf, S. 226  5 »Eine resiliente Stadt oder eine resiliente Gesellschaft verfügt über eine hohe Anpassungskapazität und ist in der Lage, sich sowohl reaktiv als auch proaktiv an sich wandelnde Umweltbedingungen anzupassen und sich von den negativen Folgen schnell zu erholen. Somit kann Resilienz als ein umfassender, holistischer Problemlösungsansatz verstanden werden, dessen Ziel es ist, die generelle Widerstands- und Regenerations- und Entwicklungsfähigkeit von natürlichen und gesellschaftlichen Systemen zu erhalten.« Fekkak 2016, S. 11  6 »Daher wird von Seiten evolutionärer Wirtschaftsgeographen vorgeschlagen, Resilienz in erster Linie zu verstehen als die Fähigkeit einer Region, in Antizipation oder Reaktion auf Schocks ihre Strukturen derart zu reorganisieren, dass der Einfluss der Störungen auf die Funktionalität des Systems minimiert wird. Der Aspekt der Funktionserhaltung, welcher eingangs in der Definition der Resilienz angesprochen wurde, wird also nicht als Erhaltung der Systemstruktur interpretiert, sondern als die Fähigkeit des Systems, seine Struktur an geänderte Umfeldbedingungen anzupassen.«     Strambach 2016, S. 269  7 vgl. Lukesch 2016, S. 303  8 vgl. Libbe 2012, S. 29  9 vgl. Beckmann 2012a, S. 13 10 Deutsche Bundesregierung 2008, S. 13

serretention beitragen, wie z. B. Flächenentsiegelungen und Umgestaltungen der Flussauen mit Überflutungsbereichen zur Dämpfung der Hochwasserspitzen.4 Resilienz bedeutet in Bezug auf komplexe Systeme wie Städte oder gar größere räumliche Einheiten eine hohe Anpassungsfähigkeit, um sowohl proaktiv wie auch reaktiv auf wandelnde Bedingungen reagieren zu können.5 Dabei müssen immer äußerst komplexe Wirkungszusammenhänge beachtet und analysiert werden, also ganzheitliche Lösungsansätze und nicht isolierte Einzelmaßnahmen angestrebt werden. Eigentlich ist der Begriff der Resilienz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung (resiliere = zurückspringen, ab­­ prallen) bei komplexen dynamischen Systemen ungeeignet, da es bei ihnen kein einfaches »Zu­­ rückspringen« in den vorherigen Zustand geben kann, wie z. B. bei einer mechanischen Feder. Anpassungsfähigkeit bei komplexen »lebendigen« Systemen bedeutet vielmehr eine Reaktion des Systems auf äußere Einwirkungen, wobei mit großer Wahrscheinlichkeit einige Strukturelemente geändert werden müssen oder gar wegfallen. Es wird also ein Wandel des Systems eintreten müssen, um seine Überlebensfähigkeit zu sichern.6 In Untersuchungen von Wirtschaftsgeografen zur Erneuerungs- und Wandlungsfähigkeit von Regio­ nen bei Struktur- und Wirtschaftskrisen – man mag dies auch als »Resilienz« bezeichnen – erweisen sich die in der Nachhaltigkeitsdiskussion bekannten Prinzipien von Vorteil: keine Monopolisierung, sondern Dezentralität und Diversifizierung, Offenheit und Vernetzung, hohe Ausbildungsstandards und Lernbereitschaft.7 Es geht dabei dann gerade nicht um das »Zurückspringen«, sondern um Wandel, um Evolution. Auf der Ebene des Quartiers lassen sich diese Prinzipien analog anwenden und erweisen sich als kongruent mit vielen Zielsetzungen nach­ haltiger Quartiersplanung. So ermöglichen dezentrale oder semizentrale Abwassersysteme eher die Nutzung der Abwärme und die Speisung von ­Biogasanlagen. Kleinere, vernetzte Kraftwerke (BHKW mit Biogas) können bei Katastrophen oder terroristischen Anschlägen die Versorgung eher aufrecht halten, da sie nicht so angreifbar sind wie große, zentrale Anlagen. Dies gilt analog für kleinere Zwischenspeicher von Frischwasser.8 Dezentrale Regenwasserretention kann als Pufferung der Abflussmengen Überflutungen, ausgelöst durch Überläufe aus den Hauptsammelkanälen bei Starkregenereignissen, stark abmildern. »Das erforderliche neue Denken in den Regionen, Städten und Quartieren sowie in ihren technischen

und sozialen Infrastrukturen muss vermehrt von folgenden Prinzipien geleitet sein: Dezentralität, Vernetzung, Diversifizierung (von Leistungsangeboten, Strukturen und Verfahren), Fehler­freund­ lichkeit/-toleranz, Sichern von Rückkopplungen, Gewährleisten von Pufferkapazitäten. Monostrukturen und zentrale Großeinrichtungen oder Monopolanbieter wirken mit Blick auf die Förderung der Resilienz eher kontraproduktiv.«9 Diese Zielsetzungen stimmen weitgehend mit den Prinzipien der Nachhaltigkeit überein und lassen sich auch in die »Smart City«-Konzeption einbinden (siehe Die Smart City, S. 25ff.) – dennoch bleibt Nachhaltigkeit das übergreifende Konzept.  HB

Nachhaltigkeitsdefinitionen und -strategien Für den ehemaligen Vorsitzenden des Rats für Nachhaltige Entwicklung, Volker Hauff, ist eine Nachhaltigkeitsstrategie immer auch eine Zukunftsstrategie.10 Welchen Grundsätzen diese Strategie folgt, ist abhängig von den individuellen Wertvorstellungen und der damit einhergehenden Interpretation des Begriffs Nachhaltigkeit.

Schwache und starke ­Nachhaltigkeit Beim schwachen Nachhaltigkeitsverständnis können natürliche gegen künstliche Ressourcen ausgetauscht werden. Ein Rückgang an Naturkapital, also der Abbau von Rohstoffen oder der Rückgang natürlicher Lebensräume ist auch dann noch nachhaltig, wenn dieser durch steigendes Kapital in den anderen Bereichen ausgeglichen wird. Bei der starken Nachhaltigkeit steht dagegen die Bewahrung der Umwelt im Vordergrund. In der Praxis ist die Einteilung in natürliche und künstliche Ressourcen nur schwer anwendbar. Der Umweltökonom Jürgen Kopfmüller schlägt vor, eine »mittlere Position« zu vertreten: Für die natürlichen Ressourcen sollten keine unveränderbaren, sondern kritische Grenzen gelten, die ein Minimum beschreiben. Auf diese Weise könnte z. B. das Aussterben einer Art oder eine Klimakatastrophe verhindert werden, ohne eine menschliche Entwicklung der Wohnbedürfnisse gänzlich

15

1.2 — Nachhaltigkeit und Resilienz

Bei den Modellen, die auf mehreren Säulen beruhen, hat sich in der Praxis das »magische Dreieck« etabliert. Dieses basiert auf einer gleichberechtigen Behandlung von ökologischen, ökonomischen und soziokulturellen Aspekten (Abb. 1).16 In der konkreten Umsetzung ergeben sich allerdings häufig Probleme aufgrund unterschiedlicher Wertevorstellungen17. So gibt es beispielsweise bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie dem Umgang mit Minderheiten je nach Kultur unterschiedliche Sichtweisen. Vier-Säulen-Modelle beleuchten zusätzlich die Beteiligungsformen der Öffentlichkeit. Als pro­ blematisch erweist sich dabei, dass das demokratische System mit Wahlperioden von überwiegend vier bis fünf Jahren keinen Langfristigkeitscharakter besitzt und durch die Aufspaltung in Ministerien, Referate, Ausschüsse, Kommissionen etc. eine geringe Konsensfähigkeit aufweist.

11  Grunwald  /Kopfmüller 2006, S. 39 12 Deutscher Bundestag 1998, S. 16 13 Willke 1993, S. 102ff. 14 Klemmer et al. 1998, S. 45ff. 15  WBGU 1996, S. 4f. 16 SRU 1998, S. 11ff. 17 Grunwald/Kopf­müller 2006, S. 49f.

Integrative Nachhaltigkeitskonzepte

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Integrative Nachhaltigkeitskonzepte berück­ sichtigen alle zuvor genannten Bereiche und setzen einen Fokus auf generelle Ziele der Nachhaltigkeit. Zentrale Prämissen sind die Sicherung der menschlichen Existenz, die Erhaltung des gesell-

ie

Das Ein-Säulen-Modell basiert einzig und allein auf einer ökologischen Grundlage. Der moderne Mensch wird darin als aktiver Systemfaktor für den Planeten Erde und Teil der Umwelt betrachtet. Durch den Bau von Siedlungen und Städten erzeugt er nicht nur lokal begrenzte ökologische

Mehr-Säulen-Modelle

Ök

Ein-Säulen-Modell

Abb. 1 Nachhaltigkeitsdreieck

les

Eine substanzielle Interpretation des Nachhaltigkeitsbegriffs liegt vor, wenn bereits zu Beginn einer Entwicklung konkrete Zielvorgaben als unveränderlich festgelegt werden. Dagegen werden beim prozeduralen Ansatz die Ziele ständig weiterentwickelt und angepasst. Die substanzielle Umsetzungsstrategie erarbeitet klare Ziele und eindeutige Kriterien. In der Praxis lässt die Komplexität des ganzheitlichen Planens jedoch Zweifel an dieser Eindeutigkeit aufkommen. Ein möglicher Ansatz ist deshalb, nachhaltige Entwicklung als eine »regulative Idee« im Sinn von Immanuel Kant zu verstehen – als ein Ziel, auf das man sich orientiert, das man jedoch nie ganz erreichen wird, das aber dennoch das Handeln in moralischer Hinsicht reguliert.12 Beim primär prozeduralen Vorgehen werden keine langfristigen Ziele verfolgt, sondern zeitnah und konkret die aktuellen Probleme bewältigt. Diese Haltung findet in der soziologischen Systemtheo­ rie Unterstützung, da von ihr teilweise die Steuerbarkeit der Gesellschaft im Generellen bezweifelt wird.13 Im sozialen Bereich der Planung kann diese Herangehensweise zielführend sein, was sich aktuell in der regen Diskussion um Beteiligungsverfahren in der Planung von Stadtquartieren und anderen Großprojekten widerspiegelt. Der Erfolg eines Quartiers ist in diesem Zusammenhang weniger von der Qualität der Quartiersplanung abhängig als von der Art und Weise der Kommunikation mit allen Beteiligten (siehe Prozesse und Beteiligung, S. 50ff.).

zia

Substanzielle und prozedurale Nachhaltigkeit

Schadstellen, sondern wirkt auf den gesamten Funktionsablauf der Erde ein. Die ökologischen Belastungsgrenzen sind durch Experimente genau zu definieren, was jedoch im Fall des Systems Erde die Zerstörung des Planeten zur Folge hätte. Damit das Ein-Säulen-Modell trotzdem anwendbar ist, wurde ein Leitplankenmodell entwickelt, bei dem durch Erfahrungswerte ein sicherer Korridor mit Ober- und Untergrenze erzeugt wird.14 Das Ziel der Bundesregierung, im Jahr 2020 nicht mehr als 30 Hektar pro Tag zusätzliches Land für jegliche Stadtentwicklung in Deutschland zu beanspruchen, stellt beispielsweise eine solche Obergrenze dar. Alternativ besteht der Syndromansatz: »Global relevant sind Syndrome dann, wenn sie den Charakter des Systems Erde modifizieren und damit direkt oder indirekt die Lebensgrundlagen […] spürbar beeinflussen.«15 Die CO2-Diskussion beschreibt ein solches Syndrom, da der CO2-Ausstoß eine weltweite Klimaerwärmung verursacht und somit der Charakter der Erde verändert wird.

So

zu blockieren.11 Das Verfahren ist in der Deutschen Umweltgesetzgebung und Baurechtsschaffung durchaus üblich. So ist es trotz stagnierender Bevölkerungszahl und ausreichend großer Anzahl an Brachflächen weiterhin erlaubt, Freiflächen zu bebauen. Handelt es sich dabei allerdings um Lebensräume vom Aussterben bedrohter Arten ist eine Bebauung meist unmöglich.

Ökologie Abb. 1

16

Kapitel 1 — Einführung

substanzielle Regeln Sicherung der menschlichen ­Existenz

Erhaltung des gesellschaft­lichen Produktionspotenzials

Bewahrung der Entwicklungsund Handlungsmöglichkeiten

• Schutz der menschlichen ­Gesundheit • Gewährleistung der Grundver­ sorgung (Nahrung, Bildung etc.) • selbstständige Existenz­sicherung • gerechte Verteilung der Umwelt­ nutzungsmöglichkeiten • Ausgleich externer Einkommensund Vermögens­unterschiede

• nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen • nachhaltige Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen • nachhaltige Nutzung der Umwelt als Senke • Vermeidung unvertretbarer ­technischer Risiken • nachhaltige Entwicklung des Sach-, Human- und Wissens­kapitals

• Chancengleichheit hinsichtlich ­Bildung, Beruf, Informa­tion • Partizipation an gesellschaft­ lichen Entscheidungspro­zessen • Erhaltung des kulturellen Erbes /der kulturellen Vielfalt • Erhaltung der kulturellen ­Funktion der Natur • Erhaltung der sozialen ­Ressourcen

instrumentelle Regeln • Internalisierung der externen ökologischen und sozialen Kosten •  angemessene Diskontierung •  Begrenzung der Staatsverschuldung •  faire weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen •  internationale Kooperation

• Resonanzfähigkeit gesellschaftlicher Institutionen • Reflexivität gesellschaftlicher Institutionen • Steuerungsfähigkeit • Selbstorganisationsfähigkeit • Machtausgleich

Abb. 2 Abb. 2  System der Nach­ haltigkeitsregeln Abb. 3  Stadtwachstum von ­London 1840  –1929

18 Grunwald/Kopf­müller 2006, S. 52ff. 19 Weber/Winckelmann 1985, S. 727 20  Strudwick 1995 21 Kiang 2007; Thomas 1997 22  Kloft 1992, S. 115 23  ebd., S. 117

schaftlichen Produktivitätspotenzials sowie die Bewahrung der Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten der Gesellschaft (Abb. 2). Dieses grundlegend erweiterte Gerechtigkeitsprinzip ist in einem System der Nachhaltigkeitsregeln auf allen Ebenen nach dem Subsidiaritätsprinzip umzusetzen.18 Das würde eine Nachhaltigkeit von der Basis aus bedeuten: Jeder bewirkt selbst, was er kann, und nur wenn er sich außer Stande sieht, ein Problem allein zu lösen, wird die nächst höhere Ebene eingeschaltet. Da alle Bereiche in die Betrachtung integriert sind, um diese anschließend wieder auf das Wesentliche zu fokussieren, ist dieses Konzept auch für eine nachhaltige Quartiersentwicklung interessant.  GCG

Ressourcenbedarf – historische Betrachtung Natur kann nicht, wie in religiösen Schöpfungsmythen oder romantischen Naturverklärungen suggeriert, als abgeschlossenes, harmonischperfektes und statisches System verstanden werden. Natur ist ein manchmal labiles, manchmal eher stabiles Ökosystem, in dem unterschiedlichste Arten manchmal in Symbiose, manchmal in Konkurrenz sich wechselseitig beeinflussen. Im Gegensatzpaar Natur – Kultur drückt sich der Kern der menschlichen Lebenstätigkeit aus, die sich die ursprüngliche Natur aneignet und diese umgestaltet. Während in der Zeit der Jäger und Sammler über Jahrtausende bis in das Neolithikum trotz vielfältiger Beute die Gesellschaften klein blieben und damit ihr Einfluss auf die Flora und Fauna weitaus geringer war als der der großen Herden wilder

Weidetiere, erhöhten sich die Einwirkungen auf das Ökosystem durch die Lebensform des Nomadentums mit Viehzucht bereits erheblich. Die Einführung des Ackerbaus vor etwa 10 000 Jahren in Kleinasien und die damit verbundene feste Ansiedlung und dauerhafte Umgestaltung der Natur zur Kulturlandschaft bewirkten eine starke Zunahme der verfügbaren Nahrungsmittel auf kleinerem Lebensraum und ermöglichten im Vergleich zu früheren Lebensformen eine enorme Siedlungsdichte. Mit Ackerbau und Viehzucht ließen sich dauerhaft mehr Produkte erwirtschaften, als die ackerbauenden Familien und Gesellschaften zum Überleben benötigten. Freiwillige (Opfer für religiöse Zentren) oder erzwungene Abgaben (Steuern) ermöglichten die Entwicklung von Arbeitsteilung und Spezialistentum. Dadurch konnten große Siedlungsanlagen entstehen, deren Bewohner weitgehend ohne Einbindung in die Landwirtschaft, also städtisch, lebten.19 Die oberägyptische Tempel- und Königsstadt Theben z. B. hatte nach Schätzungen bereits zur Zeit des Neuen Reichs im 2. Jahrtausend v. Chr. 500 000 Einwohner.20 Chang’an, die alte Hauptstadt Chinas, soll in ihrer Blütezeit in der TangDynastie (7. – 10. Jahrhundert n. Chr.) weit über eine Million Einwohner gehabt haben.21 Städte solcher Größenordnungen waren bereits dauerhaft von den Zulieferungen großer Mengen an Nahrungsmitteln aus einem sehr großen Einzugsgebiet abhängig, was wiederum zuverlässige Transportsysteme, große Lagerbauten, Speichereinrichtungen und die Haltbarmachung von Nahrungsmitteln voraussetzte. Die Städte der griechischen Antike waren dagegen vergleichsweise klein, die Einwohnerzahlen der Stadt Athen in der klassischen Zeit werden beispielsweise mit 120 000 – 190 000 angegeben.22 Das Hinterland, die Halbinsel Attika, konnte damals schon den Stadtstaat nicht mehr ernähren; der über die Eigenproduktion hinaus notwendige Getreideimport aus dem Schwarzmeerraum, Sizilien und Nordafrika wird für die klassische Zeit auf etwa ein Viertel des Gesamtbedarfs, d. h. etwa 8000 t, geschätzt. Diese Versorgung erforderte eine enorme Handelsflotte der Griechen, zumal der Gesamtbedarf für das griechische Mutterland auf 100  000 t geschätzt wird. Im Gegensatz zu den riesigen asiatischen Zentralstaaten verfügte Griechenland nicht über ein ausreichend großes, einheitliches Staatsgebiet und so mussten die Nahrungsmittel über Handel in die Städte gelangen.23 Bereits in der Stadtkultur der griechischen Polis begann also die Ausdehnung des ökolo­ gischen Fußabdrucks der Stadtbürger über das

17

1.2 — Nachhaltigkeit und Resilienz

­ igentliche Stadtgebiet und den unmittelbaren e Landbesitz der Stadtbürger hinaus. Das antike Rom erhielt Steuern und Abgaben aus einem Reichsgebiet, das in seiner weitesten Ausdehnung mehr als 6000 km umfasste. Rom hatte im 2. Jahrhundert n. Chr. in der Regierungszeit des Kaisers Mark Aurel bereits über eine Million Einwohner, die oströmische Hauptstadt Konstantinopel in der Spätantike ca. 500 000 Einwohner.24 Bereits im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. deckte die Stadt den größten Teil ihres gewaltigen Wein- und Ölbedarfs aus spanischen Importen.25 Die Getreideversorgung hingegen erfolgte im We­­ sentlichen durch Lieferungen aus den Provinzen Afrika, Ägypten und teilweise Sizilien, bei einer Einwohnerzahl von etwa einer Million geht man von einem Bedarf von jährlich etwa 250 000 t aus. Da die umliegende Provinz Latium, also das römische Kernland, nur in geringem Umfang die Produkte für den wachsenden Lebensstandard Roms liefern konnte, waren der Seehafen Ostia und der nur im Winterhalbjahr gut schiffbare Tiber als Zubringer starkem Wirtschaftsverkehr ausgesetzt. Roms Wirtschafts- und Sozialsystem basierte auf permanentem Wachstum sowie der wachsenden Ausbeutung der Provinzen. Die Eroberung neuen Landes für die Veteranen und für noch mehr Steuereinnahmen aus noch mehr Provinzen erforderten ein noch größeres Heer und Bauinvestitionen zur Verteidigung der langen, sich mit jeder Eroberung vergrößernden Grenzen. Alternativ hätten die Steuern erhöht und die Ausbeutung der Provinzen verstärkt werden müssen. Beide Wege entbehren langfristig jeder Nachhaltigkeit. Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städte Europas vor der industriellen Revolution waren, von wenigen Ausnahmen wie Venedig und Konstantinopel abgesehen, wesentlich kleiner als die Hauptstädte der alten Kulturen und der Antike. In Bezug auf die Nahrungsmittelversorgung bauten sie in hohem Maß auf der Tragfähigkeit des engeren oder weiteren Umlands auf. Zwar gab es auch Fernhandel mit Lebensmitteln, doch blieben die Mengen weit hinter denen der Antike zurück. Im Hochmittelalter und in der frühen Neuzeit gab es durchaus Gegenden, in denen es durch Bergbau (Holzkohleherstellung zur Verhüttung) zu flächenhaften Abholzungen kam. Insgesamt war das Ausmaß der Eingriffe jedoch noch geringer als in späteren Jahrhunderten. Der Verbrauch an Nahrungsmitteln und Rohstoffen blieb in hohem Maße an die Tragfähigkeit der Region gebunden. Produktion und Konsum der täglichen Lebensmittel erfolgten im Handel zwischen Stadt und Umland und waren damit an regional und jahreszeitlich

verfügbare Produkte und Nahrungsmitteln gebunden. Gleichwohl gab es bereits einen bedeutenden Fernhandel und zunehmende Nachfrage nach Luxusgütern.26 Das schnelle Stadtwachstum im 19. Jahrhundert, zunächst in Europa und später in den USA – London erreichte die Grenze von einer Million Einwohner um 1800 (Abb. 3), Paris um 1840, New York um 1855 und Berlin in der Gründerzeit nach 1871 –, war eines der Resultate der industriellen Revolution und der Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gingen die physiokratischen Volkswirtschaftstheorien davon aus, dass das Wachstum einer Volkswirtschaft letztlich von der Produktivität der Landwirtschaft abhänge. Der Schotte Adam Smith jedoch veröffentlichte 1776 eine dynamische Theorie gesamtwirtschaftlicher Entwicklung, nach der Arbeitsteilung und Spezia­ lisierung zunehmende Produktivität in den einzelnen Produktionssektoren ermöglichten; in Verbindung mit der einsetzenden Mechanisierung schien ein schier grenzenloses Wachstum der Volkswirtschaft möglich. Der Einsatz neuer Transportmittel, zunächst der Eisenbahn und der Dampfschifffahrt, machten die gewerblich-industrielle Entwicklung dann unabhängig von lokal verfügbaren Rohstoffen und der Agrarproduktion des Hinterlandes einer Stadt. Rohstoffe und Lebensmittel aus Kolonien und vom sich im 19. Jahrhundert bereits ausbildenden Weltmarkt ermöglichten den Ankauf scheinbar beliebig vieler Produkte, sodass jegliche tradi­ tionelle Vorstellung von der »natürlichen Trag­ fähigkeit« einer Region – also davon, wie viele Menschen in einer Region von dieser Region selbst ernährt werden können – verloren ging. Die über den Markt vermittelte kapitalistische Ökonomie löste sich in unendlich viele einzelne Kauf- und Verkaufsakte auf, von denen jeder einzelne scheinbar gerecht und von der »unsichtbaren Hand des Marktes« (Adam Smith) geregelt war. Für soziales Elend, Umwelt- und Naturzerstörung, zunächst in den Industrieländern selbst und dann in zunehmendem Maße in den involvierten Kolonien und späteren Entwicklungsländern, war in dieser Theo­ rie niemand verantwortlich. Es kam zu bis dahin unvorstellbaren Umwandlungen ganzer Regionen zu Industrielandschaften. Der im 19. Jahrhundert entstehende und im 20. Jahrhundert ständig weiter ausgebaute Weltmarkt ließ nicht mehr erkennen, wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die Naturzerstörung an dem Ort, an dem Rohstoffe abgebaut wurden, mit dem Ort des Konsums zusammenhängen.

1840

1900

1929 Abb. 3

24  Kloft 1992, S. 20f. 25  ebd., S. 194 26 vgl. Trentmann 2017

18

Kapitel 1 — Einführung

27  von Carlowitz/Rohr 1732 28 Friedman 1998, S. 55 29  Pufé 2012, S. 34

Abb. 4  Cover des Buchs »Silent Spring« von Rachel Carson Abb. 5  Cover des Buchs »The Limits to Growth« Abb. 6 Tankstellenbesitzer in Perkasie, Pennsylvania (USA) während der Ölkrise 1973 Abb. 7  Vision eines auto­ nomen landwirtschaftlichen Betriebs in Form einer Pyramide aus der Publikation »Ökologisches Bauen«

Abb. 4

Abb. 5

Durch die Globalisierung im sogenannten Informationszeitalter wurde schließlich die vollständige internationale Arbeitsteilung eingeführt, bei der nicht mehr nur Fertigprodukte und Rohstoffe ausgetauscht, sondern kleinste Teile immer komplexerer Maschinen und Geräte aus unterschiedlichsten Teilen der Welt an einem anderen Ort montiert werden – nach Plänen und Kalkulationen, die wiederum woanders erstellt worden sind. Dabei wurde die Rohstoffgewinnung und die Produktion mit den entsprechenden Belastungen wie Landschaftszerstörung und Emissionen in wachsendem Umfang aus den hoch entwickelten Ländern Europas und Nordamerikas in Schwellen- und Entwicklungsländer verlagert. Schlecht bezahlte Arbeiter stellen unter oft sehr schlechten Lebensund Arbeitsbedingungen Produkte her, mit denen die nordamerikanischen und europäischen Firmen, die die Produkte entwickelt haben, mit großem Gewinn handeln. Der Ertrag dieser globalen Arbeitsteilung kommt also zu größeren Teilen nicht den Produktionsorten zugute, vielmehr tragen sie vor allem die negativen Aspekte dieser Art des Wirtschaftens. Diese Form der ungleichen Arbeitsteilung hat im Weltmaßstab gesehen die Umweltprobleme verschärft, während es gleichzeitig gelang, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die Umweltstandards in den hoch entwickelten Zentren des Westens zu verbessern. Möglich wurde dies durch die Informationstechnologie, die internationalen Netze, die es erlauben, die extrem ausdifferenzierte Arbeitsteilung und das schnelle Versenden von Daten und Informationen im Weltmaßstab zu organisieren. Gerade diese Netze bieten aber auch die Möglichkeit der schnellen, detaillierten und kritischen Aufklärung von Zusammenhängen. Über die Medien erfahren wir heute sehr schnell von den Arbeitsbedingungen in Fabriken in Asien. Wir können genau sehen, wo unsere billigen Kleidungsstücke herkommen und warum sie so günstig sind, wohlwissend, dass die dortigen Arbeiter­innen unter unmenschlichen Bedingungen tätig sind und die entsprechenden Firmen trotz der niedrigen Preise noch »gute« Gewinne machen. Wir erfahren auch, mit welchem Aufwand (z. B. Treibstoffverbrauch) und welchen negativen Auswirkungen auf die dortigen Ökosysteme landwirtschaftliche Produkte aus armen in die hochentwickelten Ländern geflogen werden, damit zu jeder Jahreszeit immer jede Art von Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse zu niedrigen Preisen zur Verfügung steht. Auf diese Weise hat sich eine globale Wirtschaftsweise durchgesetzt, die gerade das Gegenteil von Nachhaltigkeit darstellt.  HB

Das Erwachen des Nachhaltigkeitsbewusstseins Die Ursprünge des Begriffs Nachhaltigkeit reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück, als der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645 – 1714) »eine beständige und nachhaltende Nutzung des Waldes«27 postulierte. Der Kern seiner Überlegungen war, dass dem Wald nicht mehr Holz entnommen werden darf, als nachwachsen kann. Heutzutage würde diesem Prinzip jeder zustimmen, jedoch war diese Vorgabe in Zeiten, in denen der Bedarf an Holz aufgrund der Verwendung im Schiff- und Hausbau, bei der Verhüttung und allen metallurgischen Arbeiten sowie für das Kochen und Heizen noch unermesslich groß schien, durchaus eine weitsichtige Entscheidung. Im Zuge der Industrialisierung und des weltweiten Ölhandels häuften sich auch die damit verbundenen Naturkatastrophen. Beispiele hierfür sind der unter dem Namen Lakeview Gusher ­be­kannte erste Ölunfall in den USA, aber auch die seit 1960 bis heute andauernde Ölpest im Nigerdelta, die Quecksilberkatastrophe Mitte der 1950er-Jahre im japanischen Minamata oder die stetig fortschreitende Austrocknung, Versalzung und Verschmutzung des Aralsees, dem ehemals viertgrößten Binnensee der Erde. Seit den 1960er-Jahren formierte sich in der Gesellschaft verstärkt eine Umweltbewegung, die mit dem 1962 erschienen Sachbuch »Silent Spring« (Abb. 4, deutscher Titel »Der stumme Frühling«) von der amerikanischen Biologin Rachel Carson eine Stimme gefunden hatte. In ihrem Buch beschreibt Carson, welche Auswirkungen der starke Pestizideinsatz in der Landwirtschaft auf die Umwelt und damit langfristig auch auf den Menschen haben kann. Die Publikation gilt als eine der einflussreichsten des 20. Jahrhunderts,28 sie löste in den USA eine heftige politische Debatte aus und führte letztendlich zum späteren Verbot des Insektizids DDT.29 Zehn Jahre später, 1972, setzte ein Forschungsteam aus den USA rund um Dennis L. Meadows mit dem Buch »The Limits to Growth« (Abb. 5, deutscher Titel »Die Grenzen des Wachstums«) einen weiteren wichtigen Meilenstein in der Nachhaltigkeitsdiskussion. Die Erkenntnisse bauen auf der von Jay W. Forrester, einem amerikanischen Pionier der Computertechnik, entwickelten Sys-

19

1.2 — Nachhaltigkeit und Resilienz

tem-Dynamics-Methode auf, die mithilfe von Simulationsverfahren die Interaktionen zwischen Objekten in komplexen dynamischen Systemen untersucht.30 Mit dieser Methodik konnten die Forscher erstmalig den Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen simulieren. Das Ergebnis stellte den damaligen Glauben an das ständige Wachstum und den Lebensstil der Industriena­ tionen infrage: Sollten die mit dem Wachstum einhergehende Umweltverschmutzung und die Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe unverändert anhalten, seien die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten 100 Jahre erreicht.31 1973 zeigte sich bei der ersten Ölkrise, ausgelöst durch ein von den OPEC-Ländern verhängtes Ölembargo, wie abhängig die Industrienationen von fossilen Rohstoffen sind und welche Folgen die Ressourcenknappheit auf die Volkswirtschaften habe kann (Abb. 6). In Deutschland markierte die erste Ölkrise das Ende des durchgehend hohen Wirtschaftswachstums vergangener Jahre und führte zu Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und steigenden Sozialausgaben. Befördert durch die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung beschäftigten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren verstärkt auch Architekten und Stadtplaner mit dem Bauen nach ökologischen Prinzipien. Eines der wichtigsten Bücher, das Generationen von Planern nachhaltig beeinflusst hat, ist dabei der Band »Ökologisches Bauen«.32 Angefangen vom klimagerechten Bauen über ökologische Entwurfsprinzipien und Technologien bis hin zu Energie- und Stoffkreisläufen spricht das Buch viele Aspekte an, die noch heute eine hohe Relevanz besitzen. Zur damaligen Zeit waren die in dem Buch skizzierten Visionen reine Fiktion (Abb. 7), heute lässt sich jedoch feststellen, dass viele der futuristisch anmutenden Gedanken Realität geworden sind. Als Beispiel hierfür können die vielen ländlichen Gegenden genannt werden, die sich als Ziel gesetzt haben, sich zu 100 % aus regenerativen Energien zu versorgen,33 oder auch das an der Universität Stuttgart weiterentwickelte Verfahren der Baubotanik, das es ermöglicht, mithilfe von Pflanzen »lebendige« Tragkonstruktionen zu realisieren.34 1986 kam es zu einem der schrecklichsten Unfälle in der jüngeren Geschichte – dem Kernkraftunglück von Tschernobyl in der Nähe der ukrainischen Stadt Prypjat, das weitreichende Folgen für die Umwelt und die Gesundheit der Menschen

hatte bzw. bis heute hat. Der in den 1970er-Jahren entstandenen Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland verschaffte dieses Ereignis einen erneuten Aufschwung. Aufgrund der nicht mehr endenden Diskussion, welche gesellschaftliche Entwicklung unter der Berücksichtigung ökologischer Probleme zukünftig anzustreben sei, gründeten die Vereinten Nationen 1983 die World Commission on Environment and Development (WCED) unter dem Vorsitz der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Die Kommission musste die schwierige Aufgabe bewältigen, Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Entwicklung zu erarbeiten. Als Ergebnis wurde 1987 der auch Brundtland-Bericht genannte »Our Common Future Report« veröffentlicht, der Nachhaltigkeit wie folgt definiert: »Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.«35 In den darauffolgenden Jahren setzte sich diese Definition einer nachhaltigen Entwicklung mehr und mehr durch und ist zum globalen Leitbild geworden. In Deutschland wurde die Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung explizit in der Gesetzgebung verankert. So heißt es in § 1 Abs. 5 des Baugesetzbuchs (BauGB): »Die Bauleitpläne sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung gewährleisten. Sie sollen [u. a.] dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern [sowie] die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln.«36 Der Brundtland-Bericht stellte die Diskussionsgrundlage für die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) dar, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand und als Meilenstein in der weltweiten Nachhaltigkeitsdiskussion gilt. Um die im Brundtland-Bericht formulierten Ziele einer nachhaltigen Entwicklung umzusetzen, wurden als Ergebnis der Konferenz vielfältige Vereinbarungen getroffen. Die wichtigsten darunter waren die Deklaration von Rio über Umwelt und Entwicklung, die KlimaschutzKonvention, die Walddeklaration, die Biodiversitäts-Konvention, die Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung und die Agenda 21. Letztgenannte beinhaltet globale Maßnahmen auf der Ebene von Politik, Wirtschaft und Gesell-

30 Forrester 1961; Forrester 1969; Forrester 1971 31 Meadows et al. 1972, S. 17 32  Krusche et al. 1982 33  www.null-emissionsgemeinden.de de Bruyn et al. 2009 34  35  Hauff 1987, S. 51 36  Baugesetzbuch 2011

Abb. 6

Abb. 7

37  Pufé 2012, S. 48 38  Stern 2007

1950 ab 1960 1961 1962

Quecksilbervergiftung Minamata (JP)/ Clean Air Act Ölpest Nigerdelta (1,5 Mio. t Öl) Austrocknung, Versalzung, Pestizide im Aralsee / Gründung OECD Buch »Silent Spring« (R. Carson)

Abb. 8  historische Ent­ wicklung und Rahmen­ bedingungen der Nach­ haltigkeitsdiskussion

schaft und wurde als Aktionsplan für das 21. Jahrhundert verstanden. Darauf aufbauend initiierten viele Gemeinden und Regionen der Welt lokale Agenda-21-Prozesse nach dem Motto »Global denken – lokal handeln«. In Deutschland besteht derzeit in rund 2600 Kommunen ein Beschluss zur Erarbeitung einer lokalen Agenda 21.37 Eines der Hauptziele der dritten UN-Klimakonferenz 1997 in Kyoto war es, konkrete, messbare Klimaschutzziele zu vereinbaren. Als Ergebnis wurde das sogenannte Kyoto-Protokoll veröff­ entlicht, in dem erstmalig verbindliche Ziele für den Klimaschutz festgesetzt werden. So sollten z. B. die Treibhausgase der Industrieländer bis 2012 um 5,2 % gegenüber dem Jahr 1990 reduziert ­werden. Für Schwellen- und Entwicklungsländer wurden keine Reduktionsziele festgelegt. Aktuell haben 191 Staaten sowie die Europäische Union das Kyoto-Protokoll ratifiziert. Die USA als einer der Hauptemittenten klimaschädlicher Gase

>150 kWh/m2a

Abb. 8

haben sich dem Protokoll nie angeschlossen. Auf den darauffolgenden Klimakonferenzen konnten keine neuen globalen Reduktionsziele ver­ einbart werden – trotz zahlreicher Veröffentlichungen zu dem Thema wie z. B. die Berichte von Nicholas Stern über die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels38 und dem sehr erfolgreichen Dokumentarfilm »An Inconvenient Truth« (2006) des ehemaligen US-Präsidentschaftskandidaten Al Gore sowie Ereignissen wie die atomare Kata­ strophe von Fukushima im Jahr 2011. Erst auf der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris konnte der Nachfolgevertrag für das Kyoto-Protokoll vereinbart werden. Es wurde beschlossen, die Erwärmung der Welt auf weniger als 2 °C zu begrenzen. Die globalen Netto-Treibhausgasemissionen sol­ len hierzu in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts auf null reduziert werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Mitgliedstaaten die ambitionierten Ziele entschieden umsetzen.  SA

EU Niedrigstenergiehaus (Nearly Zero Energy Buildings) für öffentliche Gebäude 2019 Prognose: erneuerbare Energien decken 47% des Strombedarfs in Deutschland 2020

> 200 kWh/m2a GreenStar C

TÜV / THS CASBEE UD OnePlanet C BREEAM C Estidama LEED ND SMEO Q DGNB NSQ

LEED

HQE

BREEAM 1990

1980

1970

1960

DGNB 2010

Green Globe 2000 CASBEE Green Star

> 300 kWh/m2a

EnEV 2014 2014 UN-Klimakonferenz, Paris 2015

1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

Weltcharta für die Natur/Buch »Ökologisch Bauen« 1982

1976 1977 1978 1979 1980

> 350 kWh/m2a

2. WSchV (DE) /Chemieunfall Bhopal (IND) Wiener Abkommen zum Schutz der Ozonschicht Nuklearkatastrophe Tschernobyl (UA) Giftmüllskandal Love Canal (USA )/ Brundtland-Bericht Brand Bohrinsel Piper Alpha (Nordsee)/Gründung IPCC Ölpest Exxon Valdez (Alaska) Brand Ölquellen Kuwait Verpackungsverordnung (Grüner Punkt) Umweltgipfel in Rio de Janeiro/Agenda 21 Menschenrechtskonferenz in Wien Bericht Enquete-Kommission/Grundgesetz Artikel 20a (DE)/Aalborg-Charta 1. Klimakonferenz, Berlin (Berliner Mandat)/3. WSchV 2. Klimakonferenz, Genf/UN-Habitat II, Istanbul 3. Klimakonferenz, Kyoto (Kyoto-Protokoll) 4. Klimakonferenz, Buenos Aires (Arbeitsplan) 5. Klimakonferenz, Den Haag /nukleare Kettenreaktion, Tokaimura (JP) Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG)/ UN-Millenniumgipfel, New York 6. + 7. Klimakonferenz Bonn + Marrakesch (Verhandlungen) 8. Klimakonferenz, Neu Delhi/Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung, Johannesburg 9. Klimakonferenz, Mailand 10. Klimakonferenz Buenos Aires (Jahrestag)/ EnEV 2004 UN-Klimakonferenz, Montreal/Hurricane Katrina UN-Klimakonferenz Nairobi/ Film: »An Inconvenient Truth«/ Stern-Bericht UN-Klimakonferenz, Bali/ EnEV 2007/ Leipzig-Charta UN-Klimakonferenz Posen / Gründung Masdar-City, Abu Dhabi EnEV 2009/ Energiepass/UN-Klimakonferenz, Kopenhagen Ölpest Golf von Mexiko (1 Mio. t Öl)/ UN-Klimakonferenz, Cancún Atomunfall Fukushima/Atomausstieg Deutschland/ UN-Klimakonferenz, Durban UN-Klimakonferenz, Doha

globale Temperaturentwicklung (Quelle: Weltbank 2010) weltweite Rohölförderung (Quelle: King 1971, S. 39) Anzahl Naturkatastrophen pro Jahr (Quelle: Munich RE) Heizwärmebedarf Dioxinunfall Seveso (IT)/UN-Konferenz HABITAT, Vancouver 1. Wärmeschutzverordnung (WSchV; DE) Ölpest Amoco Cadiz (FR) Kernschmelze Three Mile Island (USA) Gründung der Partei »Die Grünen« (DE)

UNO-Umweltkonferenz Stockholm/Studie »The Limits of Growth« 1972 Ölkrise, Washingtoner Artenschutzübereinkommen 1973

Anti-Atomkraft-Bewegung ab 1970

europäische Wassercharta 1968

18. Jhd. ab 1850 1865 1910 ab 1911 1929 1946 1948

erstmalige Verwendung des Begriffs Nachhaltigkeit Beginn des weltweiten Ölhandels erste Ölpipeline in den USA Ölunfall Lakeview Gusher (USA; 1,2 Mio. t Öl) Beginn Fließbandproduktion / individuelle Mobilität Weltwirtschaftskrise internationale Konvention zur Regelung des Walfangs Gründung der Welt-Naturschutzunion

20 Kapitel 1 — Einführung

Peak Oil

>120 kWh/m2a >100 kWh/m2a > 75 kWh/m2a > 40 kWh/m2a

21

1.3 — Das Quartier

1 .3

Das Quartier He l m ut Bott

U

nabhängig von der historischen Herkunft des Begriffs wird unter Quartier heute ein räumlicher Teil eines städtischen Gefüges verstanden, der in den Gesamt­zu­sam­ men­hang der Stadt eingebunden ist, sich aber aufgrund seiner Strukturmerkmale sowohl von außen betrachtet als auch von den Bewohnern und Benutzern empfunden von der Umgebung unterscheidet.1 Der Begriff impliziert bereits, dass es um mehr geht als nur eine bestimmte Anzahl von beliebig nebeneinander aufgereihten und über ein gemeinsames Straßennetz erschlossene Wohneinheiten. Vielmehr umfasst ein Quartier neben einer größeren Zahl von Wohneinheiten auch öffentliche und private Versorgungseinrichtungen sowie Arbeitsplätze und bietet damit Nutzungsmischung und soziale Vielfalt. In Anlehnung an einschlägige Definitionen und Modelle der Quartiersforschung2 soll hier das Quartier als die Überlagerung von drei Ebenen verstanden werden: •• städtebaulich-physisch: Gebäude, öffentlicher Raum (Straßen, Plätze, Parks und Grünan­ lagen) und private Freiräume erzeugen eine jeweils spezifische Baustruktur und charakteristische Stadträume. •• sozio-ökonomisch: Wohnungen, Versorgungseinrichtungen und sonstige Arbeitsplätze werden von den Bewohnern und Einpendlern in wechselnden Rollen – mal als Anwohner, mal als Beschäftigte – genutzt. Sie bewegen sich dabei in den unterschiedlichsten Ak­­ tionsräumen, die sich jedoch zumindest partiell überlagern – Aufenthalt in Teilbereichen (Wohnung, Spielplatz, Straßencafé, Arbeitsplatz, Wohnumfeld), Wege von der Wohnung zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Kindergarten, zur Schule, zum Restaurant, zum Verein, zum Spielplatz, zur Kirche, zum Bolzplatz etc. und

zurück. Bewohner und Nutzer des Quartiers haben regelmäßig Kontakte untereinander, die vom Blickkontakt, Grüßen und informellem Gespräch bis zu intensiverer Kommunikation und gemeinschaftlichem Engagement in Initiativen, Vereinen oder etwa in der Selbstverwaltung (z. B. Elternbeirat, Trägerverein von Institutionen, Kirchengemeinde, Parteiuntergliederungen) reichen können. •• symbolisch: In der Überlagerung dieser Ak­­ tionsräume entstehen räumliche Schnitt­ flächen – der US-amerikanische Stadtplaner Kevin A. Lynch bezeichnet diese als »Brennpunkte«3 –, die den Bewohnern und Nutzern des Quartiers vertraut sind (z. B. Marktplatz, Umsteigepunkte des ÖPNV, Einkaufszentren). Innerhalb des Quartiers gibt es sichtbare und unsichtbare Elemente (nach Lynch »Merkzeichen«) und/oder regelmäßige Ereignisse und Rituale, die als Symbole für das Quartier und seine Geschichte stehen, mit dem Quartier verbunden sind sowie in der kollektiven Erinnerung und der Erinnerung der meisten Quartiersbewohner existieren, die aber auch von Außenstehenden mit dem Quartier assoziiert werden (z. B. der Name, bestimmte markante Bauten, sehr spezielle Bautypologien, ein ausgeprägtes Landschaftselement, Stadtteilfeste, Umzüge, Vereine mit dem Namen des Quartiers). Die baulich-räumliche Struktur ist die Basis des Quartiers. Dabei handelt es sich häufig um historische Einheiten, die als eingemeindete Dörfer oder Vorstadtsiedlungen oder als Stadterweiterungsabschnitte ihren historischen Charakter bewahren konnten. Es können aber auch Gebiete sein, wie etwa die Stadterweiterungen der Gründerzeit, die innerhalb kurzer Zeit mit ähnlichen Bautypologien zusammenhängend bebaut wurden, oder Stadtteile, die als ganzheitliche Erwei-

1  Schnur 2008 2 Vogelpohl 2008; Schnur 2008 3  Lynch 2001

22

Kapitel 1 — Einführung

Häufigkeit Weg Grenzlinie Brennpunkt Bereich Merkzeichen über 75 % 50 – 75 % 25 – 50 % 12 – 25 %

Abb. 1 Abb. 1  Mental Map von ­Boston nach Kevin Lynch Abb. 2  Aufteilung in Teil­ gebiete mit ganz unterschiedlichen Charakteristika, HafenCity Hamburg (DE) Abb. 3  Luftbild der Altstadt von Lübeck (DE)

terungen nach einem Gesamtkonzept errichtet sind. In diesen Fällen weisen die baulichen Elemente des Quartiers interne Ähnlichkeiten auf. Diese unterscheiden sich möglicherweise von den umliegenden Gebieten (nach Lynch »Bereiche«), was beim Betreten bzw. bei der Einfahrt erlebbar ist. Es wäre also möglich, eine Grenzlinie zu ziehen, die auch physisch sehr stark ausgeprägt sein kann (z. B. Bahndamm, Fluss oder Kanal, extrem stark befahrene, breite Straße). Quartiere entstehen aber auch ohne klare Grenzen in einem kontinuierlichen Straßenraster wie etwa in vielen amerikanischen Städten, wo sie sich an Versorgungszentren oder an Straßen mit einer hohen Dichte von Versorgungseinrichtungen orientieren. In diesen Fällen sind Quartiersgrenzen manchmal wenig ausgeprägt und von einem Quartier zum anderen findet ein fließender Übergang statt (Abb. 1). Der Stellenwert des Quartiers als Raum der alltäglichen Lebenswelt hat durch die Regionali­ sierung der Stadt und die wachsende berufliche Mobilität sowie die Globalisierung der Ökonomie einerseits an Bedeutung verloren. Andererseits haben selbst global operierende Firmen stets einen lokalen Bezug, mindestens durch die Mitarbeiter der Verwaltung, Forschung und Entwicklung, häufig gilt das ebenfalls für die Produktion. Globale Aktivitäten sind immer auch lokal verortet, selbst international orientierte Fachleute haben in der Regel ein »Basislager« an einem konkreten Ort und nicht im abstrakten Raum.

Quartier als Handlungsebene Im Baugesetzbuch (BauGB) wird der Begriff Quartier bei der Festlegung von Sanierungs- oder Ent-

wicklungsgebieten, Maßnahmen des Stadtumbaus oder der sozialen Stadt nicht verwendet. Hier ist lediglich gefordert, dass die Gebietsgrenzen für Sanierungen oder den Stadtumbau so festzulegen sind, dass sich die Maßnahmen »zweckmäßig durchführen« lassen. Das Städtebauförderungsprogramm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt«, das der Bund und die Länder 1999 initiiert und 2012 weiterentwickelt haben, verbindet beispielsweise die unterschiedlichsten Maßnahmen der Sozialpolitik mit der städtebaulichen Entwicklung und bezieht sich auf räumliche Teilgebiete der Stadt. Die Interventionsebene für den nachhaltigen Stadtumbau bilden Gebiete, bei denen es sich schon aus verwaltungstechnischen Gründen sowie aufgrund der Konzentration von Investitionen und der Bündelung von sozial-, bildungs- und inte­grationspolitischen Maßnahmen um räumlich definierte Teilbereiche handelt. Bei Stadtumbaumaßnahmen werden im BauGB neben sozialen und ökonomischen Zielsetzungen nachhaltige städtebauliche Strukturen und Klimaschutz gefordert. § 171a Abs. 3 listet die Ziele von Stadtumbaumaßnahmen auf: »Stadtumbaumaßnahmen dienen dem Wohl der Allgemeinheit. Sie sollen insbesondere dazu beitragen, dass 1. die Siedlungsstruktur den Erfordernissen der Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft sowie den allgemeinen Anforderungen an den Klimaschutz und die Klimaanpassung angepasst wird, 2. die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sowie die Umwelt verbessert werden, 3. innerstädtische Bereiche gestärkt werden, 4. nicht mehr bedarfsgerechte bauliche Anlagen einer neuen Nutzung zugeführt werden, 5. einer anderen Nutzung nicht zuführbare bauliche Anlagen zurückgebaut werden, 6. brachliegende oder freigelegte Flächen einer nachhaltigen, insbesondere dem Klimaschutz

23

1.3 — Das Quartier

und der Klimaanpassung dienenden oder einer mit diesen verträglichen Zwischennutzung zugeführt werden, 7. innerstädtische Altbaubestände nachhaltig erhalten werden.« Quartiere als sozial-räumliche Einheiten sind eine geeignete Interventionsebene für solchermaßen integrierte Planungs- und Maßnahmenkonzepte des nachhaltigen Stadtumbaus.4 In § 166 Abs. 2 heißt es in Bezug auf Entwicklungsmaßnahmen allerdings weiterhin: »Die Gemeinde hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein funktionsfähiger Bereich […] entsteht, der nach seinem wirtschaftlichen Gefüge und der Zusammensetzung seiner Bevölkerung den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme entspricht und in dem eine ordnungsgemäße und zweckentsprechende Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen sichergestellt ist.« Diese funktionsfähigen Stadtoder Ortsteile werden im Kontext dieser Publikation als Quartiere bezeichnet. Gerade bei der Entwicklung neuer Stadtteile sind einzelne Entwicklungsabschnitte mit unterschiedlichen Charakteristiken gebräuchlich. So weisen größere neue Stadtteile wie München-Riem oder die HafenCity Hamburg in ihrem Entwurfskonzept (München) oder ihrer Realisierungsstrategie (Hamburg) eine Gliederung in Teilbereiche auf. Die HafenCity auf 157 ha mit über 7000 geplanten Wohneinheiten sowie mehr als 45 000 Arbeitsplätzen besteht aus zehn Teilbereichen, hier Quartiere genannt, die jedoch sehr unterschiedliche Nutzungsmischungen und Zuschnitte aufweisen (Abb. 2). Inwieweit diese Teilbereiche schließlich einen Quartierscharakter in der komplexen, oben beschriebenen Bedeutung entfalten können, wird die zukünftige Entwicklung zeigen.

Historische ­Entwicklung Historisch betrachtet reicht die Vorstellung von der Vierteilung der Stadt und die daraus entstehenden ursprünglich vier Quartiere weit zurück. Das Achsenkreuz mit den vier Hauptrichtungen ist ein archaisches Symbol für die Stadt insgesamt, es stellt in vielen Hochkulturen die Grundlage der städtischen Ordnung dar und wird mit der Einbindung des Lebensraums der Stadtbewohner

in die »kosmische Ordnung« verknüpft.5 Der Gliederung der Stadt in räumlich-soziale und verwaltungstechnische Unterabteilungen, z. B. in Phylen (Stämme), widmet schon Platon in seinem Werk »Politéia« (dt. »Der Staat«, um 370 v. Chr.) längere Abhandlungen. Die römischen Gründungsstädte in den Kolonien waren durch die Nord-Süd- und Ost-West-Achsen – Cardo maximus und Decumanus maximus – in vier Quartiere geteilt, woher der Begriff Viertel kommt. Auch in mittelalterlichen europäischen Städten war die Unterteilung in kleinere Einheiten üblich, z. B. in Pfarrbezirke, in Teile unterschiedlicher Funktionen (z. B. Gerberviertel), in historische Ent­wicklungsabschnitte (z. B. Köln oder Hildesheim) oder eine systematische Vierteilung mit einem zentralen Schnittpunkt (z. B. Lübeck, Abb. 3). Siena hatte eine Dreiteilung in »terzi«, weiter unterteilt in je fünf bis sechs »contrade«. Mit dem Stadtwachstum wurde die Viererteilung oft verlassen. So hatte die Großstadt Venedig bereits im Mittelalter die Sechserteilung (»sestiere«) eingeführt. Im 19. Jahrhundert sprengten die raschen Wachstums- und Urbanisierungsschübe die Maßstäblichkeit der europäischen Stadt und es wurden neue, nach verwaltungs- und versorgungstechnischen Prinzipien entstandene Gliederungen vorgenommen. Paris beispielsweise wurde mit dem Umbau und der Erweiterung unter Baron Hauss­ mann ab 1860 in 20 Arrondissements aufgeteilt, die jeweils ein eigenes Rathaus und Selbstverwaltungsaufgaben erhielten (Abb. 4, S. 24). Diese neuen Verwaltungseinheiten setzten sich aus mehreren bestehenden oder neu geplanten Quartieren zusammen. Eine ähnliche Gliederung erfolgte in allen Großstädten, zu nennen sind hier z. B. die Wiener Bezirke oder später, 1920, die Gliederung Groß-Berlins in Bezirke mit Selbstverwaltungsaufgaben, die sich aus vielfältigen, oft sehr unterschiedlichen Stadtteilen oder Quartieren (Kieze) zusammensetzten.

Abb. 2

4  Franke 2011 5  Rykwert 1988

Bereits im 19. Jahrhundert gab es, weitverbreitet durch die von England ausgehende Gartenstadtbewegung, den Ansatz, die Großstadt in kleinere Einheiten aufzulösen und als Basis der Siedlungsgliederung Nachbarschaften zu planen (Abb. 5, S. 24). In diesen sollte die Anonymität der Großstadt aufgehoben und soziale Kontrolle sowie gegenseitige Hilfe ermöglicht werden – als Verbindung städtischen Komforts mit der sozialen Integration in dörflichen Strukturen. Diese Nachbarschaftskonzepte finden sich in den unterschiedlichsten Formen, teilweise überlagert mit politiAbb. 3

24

Kapitel 1 — Einführung

Abb. 4

 6  Simmel 1903  7  Bahrdt 1961  8  Borchardt 1974; Müller 1979  9 Göderitz/Rainer/ Hoffmann 1957 10  Hecker 2007 11 Berndt 1971; Mitscherlich 1965; Rossi 1966; Rowe /Kötter 1978

Abb. 4  Plan von Paris mit 20 Arrondissements mit eige­ nen Verwaltungseinheiten, 1864, Baron Haussmann Abb. 5  Konzept der Garden City, 1902, Ebenezer Howard

Abb. 5

schen Zielsetzungen und Epochen bis hinein die Planung mancher Siedlungen der Nachkriegszeit. Die Stadtsoziologie sah diese Entwicklung damals allerdings durchaus kritisch, hatte doch ihr berühmter Begründer in Deutschland, Georg Simmel, gerade das anonyme Verhalten, das Wegsehen als die Voraussetzung des Überlebens in der Großstadt betrachtet.6 Dieses spezifische großstädtische Verhalten, das den Stadtmenschen in die Polarität von Privatheit und Intimität in der Familie und im Freundeskreis auf der einen und von Anonymität in der Öffentlichkeit auf der anderen Seite einspannt, wurde gerade auch in der Phase der Planung großer Stadtrandsiedlungen als Wesen städtischer Kommunikation und Interaktion propagiert.7 Unter anderem auch die steigende Häufigkeit von Wohnungswechseln bewirke in Verbindung mit den Bedingungen großstädtischer Anonymität, dass der Bezug zu den Nachbarn und den Menschen im Wohnumfeld zunehmend an Bedeutung verliere, die Planung von Nachbarschaften sei somit Wunschdenken und überholte Ideologie. In Lehrbüchern und Regelwerken jener Zeit basiert die Gliederung der Stadt häufig nicht auf räumlichsozialen Einheiten wie Nachbarschaften oder Quartieren, sondern eher auf Einzugsbereichen und erforderlichen Nachfragemengen für Versorgungseinrichtungen auf verschiedenen Hierarchieebenen (z. B. die notwendige Einwohnerzahl für eine kleine Ladengruppe mit Bäckerei und Milchladen oder für einen Kindergarten und eine Grundschule).8 Mit diesem Ansatz war es möglich, die »gegliederte und aufgelockerte Stadt«9 scheinbar unideologisch und befreit vom konservativen Ballast der Großstadtkritik zu planen, ganz eingebunden in die funktionalistischen Städtebaukonzepte jener Zeit. Zwar hatten bereits innerhalb des CIAM, der Kerngruppe der modernen Architektur- und Städ-

tebaubewegung, kritische Stimmen gegen den technisch orientierten Funktionalismus opponiert. Namentlich das Team 10 hatte die soziale und kulturelle Dimension der Stadt, insbesondere die Bedeutung des Stadtraums als Ort von Kommunikation und Interaktion und die symbolische Dimension von Architektur, in die Diskussion eingebracht.10 Spätestens jedoch mit der in den 1960er-Jahren einsetzenden fachlichen Kritik am Funktionalismus11 und an den anonymen Großsiedlungen sowie, verstärkt durch den Protest von Bürgerini­ tiativen am geplanten Abriss von Altbauquartieren im Zuge von Flächensanierungen, begann die intensive Beschäftigung mit dem historischen Bestand. Es kam zur Wiederentdeckung der traditionellen europäischen Stadt und des europäischen Stadtraums. Die Vorstellung, die moderne Stadt sei lediglich eine räumliche Struktur, die die Bewohner je nach momentanem Bedarf beliebig nutzten, ihre Wohnung häufig wechselten und dabei keinerlei emotionalen Bezug zum Wohnumfeld entwickelten, traf nur für einen Teil der Einwohner und je nach Stadtteil in unterschiedlicher Weise zu. Es zeigte sich vielmehr, dass ein beachtlicher Teil der Bewohner eines Stadtteils sehr lange, manche sogar ihr ganzes Leben in den älteren Bestandsquartieren verbrachte und es häufig eine sehr starke emotionale Bindung an den Stadtteil und eine ausgeprägte Stadtteilkultur gab. Diese Tradition wurde durch vielfältige Initiativen reaktiviert – was in der Folge teilweise mit sozialen Umstrukturierungen (Gentrifizierung) verbunden war. Diese Wahrnehmung und Wertschätzung sozial-räumlicher Zusammenhänge der alltäglichen Lebenswelt fanden ihren Niederschlag in der Planung und Forschung und führten sogar zur Etablierung eines Arbeitskreises zur Quartiersforschung bei der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG).

25

1.4 — Die Smart City

1.4

Die Smart City Gre gor C. Grass l, Phil ip p Gro ß

I

n den vergangenen Jahrzehnten ließ sich eine unglaubliche Zunahme der Veränderungsgeschwindigkeit bei technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen beobachten. So war es vor 20 Jahren noch nicht denkbar, dass heute fast jeder mit einem Smartphone als allumfassendem Kommunikations- und Steuerungsmedium, Alltagshelfer und Informationszentrum ausgerüstet ist. Der rasante Fortschritt im Bereich der Digitalisierung macht vor Gebäuden und Städten nicht halt. Fast jedes neue Projekt möchte inzwischen »smart« sein und die Nutzer mit neuen Features locken. Dabei fehlt der Gesellschaft aktuell noch ein einheitliches Verständnis zur »Smart City«. Der Fingerabdruckscanner an der Haustür, der Breitbandausbau im Land, das Smartphone in der Tasche oder das E-Bike in der Garage – was hiervon ist wirklich smart? Wissenschaftlich unterscheidet man zwischen zwei zentralen Definitionen für eine smarte Stadt: •• Der ganzheitliche »Holistic Smart City«Ansatz schließt neben der Nutzung von In­ formations- und Kommunikationstechnologie (IKT) auch nachhaltige und innovative Lösungswege unter Berücksichtigung sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Gesichtspunkte ein.1 •• Der etwas jüngere IKT-basierte »Connected Smart City«-Ansatz betrachtet als Schwerpunkt hingegen den Einsatz moderner Technik als »Enabler« für die Verbesserung möglichst vieler Themenfelder einer Stadt.2 Im Detail unterscheiden sich beide Ansätze nur in der Betrachtungsebene. Der Connected Smart City Approach kann durchaus als ein Bestandteil des holistischen Ansatzes gesehen werden. Er fokussiert aber auf eine technische Methode ohne

klare Zielvorgaben, wie wir sie im holistischen Ansatz finden. Es stellt sich folglich die Frage, ob die holistische Smart City die logische Weiterentwicklung bisheriger Nachhaltigkeitsstrategien ist oder nur ein weiterer möglicher Ansatz unter vielen. Die Reboundeffekte der fortschreitenden Digitalisierung sind nicht absehbar und das Thema Datenschutz sowie die Frage, wie gläsern ein Mensch sein darf, müssen schnell und trotzdem in aller Tiefe geklärt werden. Denn die technische Umsetzung der Smart City birgt zahlreiche große Gefahren. Es bleibt fraglich, ob eine HightechStadt überhaupt einen wertvollen Beitrag zur nachhaltigen Stadtentwicklung liefern kann oder nicht viel mehr der erste Schritt in eine unmenschliche Welt ist? Gleichzeitig muss man die Frage stellen, ob traditionelle Nachhaltigkeitsmodelle allein die anstehenden Probleme einer explodierenden Weltbevölkerung lösen können? Wie kann die Versorgung einer explodierenden Erdbevölkerung von zwei Milliarden im Jahr 1927 auf knapp zehn Milliarden im Jahr 2050 mit den endlichen Ressourcen des Planeten Erde sichergestellt werden?3 Und wie kann das Streben nach Wohlstand und der soziale Frieden der Weltbevölkerung gesichert werden? Die Smart City bietet hier Ansätze, bisher nicht lösbare Konflikte einfach zu berechnen und über künstliche Intelligenz vorauszusagen. Wir umfahren heute schon die Staustelle ohne diese jemals gesehen zu haben. Eine smarte Stadtplanung könnte folglich ein flexibles Planungsmodell für eine positive Stadtentwicklung sein. Die Funktio­ nen einer Stadt und deren Infrastruktur sind dann flexibel und können auf Sonne wie Regen und auf Bevölkerungswachstum wie Leerstand reagieren. Aktuelle Smart-City-Konzepte, wie die Stadt Songdo in Südkorea, versuchen in diese Richtung zu gehen. Sie sehen aber oft zu sehr den umfassenden Einsatz von Sensoren als Allheilmittel. Ob das im

1  Otto 2016 2 ebd. 3  United Nations 2011

26

Kapitel 1 — Einführung

1. Ziele Effizienz Nachhaltigkeit Lebensqualität Standortvorteile etc.

1. Stressoren Demografie Ressourcen Mobilität Infrastruktur Energie Ökologie etc.

2. Handlungsfelder Energie Planung Infrastruktur Mobilität Umweltschutz Prozess /Organisation Wirtschaftlichkeit Gesellschaft etc.

3. Technologie Sensoren M2M-Kommunikation Mobilfunk Big Data Internet der Dinge (IoT) etc.

Hochleistungsbreitband Infrastruktur etc.

Technologie muss immer dem Nutzer und den definierten Zielen dienen sowie die vorhandenen Herausforderungen lösen. Abb. 1

4 www.slideshare.net/ IBMIoT/unlocking-hiddeninsights-with-cognitive-iot (Folie 8; Stand: 03.08.2018) 5 vgl. z. B. www.dreso.com/ de/leistungen/integratedurban-solutions/ (Stand: 03.08.2018) 6  Otto 2016

Weitere Informationen

•  Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.): Smart City Charta. Digitale Transformation in den Kommunen nachhaltig gestalten. Bonn 2017 •  Soike, Roman; Libbe, Jens: Smart Cities in Deutschland – eine Bestandsaufnahme. Herausgegeben vom Deutschen Institut für Urbanistik (difu). Berlin 2018 •  Harm, Corvin: Smart City und Klimaschutz. Der Smart City Ansatz in den Klimaschutzstrategien von Berlin, Hamburg und München. Saarbrücken 2018

Sinne der Nutzer ist, bleibt zunächst einmal offen. Das ist insofern bemerkenswert, da aktuell weltweit gerade einmal etwa 12 % aller durch das Internet of Things (IoT) heute schon erfassten Daten tatsächlich verwendet werden. 88 % aller Informationen haben also noch gar keinen Nutzen.4 Bei der Planung von neuen Städten, Quartieren und Gebäuden ist es daher umso wichtiger, zunächst zu prüfen, welche Herausforderungen bei dem jeweiligen Projekt vorhanden sind und welche Ziele durch den Einsatz von Technologie erreicht werden sollen. Gerade bei der Smart City als holistischem Ansatz, wie wir ihn verstehen, steht der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt und die Technik ist lediglich die treibende Kraft. Es geht nicht darum, wie man die neueste Technologie in eine Stadt integrieren kann. Vielmehr ist zu prüfen, ob man die individuellen Herausforderungen einer Quartiersentwicklung durch neue Technologien besser als bisher lösen kann (Abb. 1). Egal, wie viel Technologie man letzten Endes in die Stadt bringt, so müssen doch die Rahmenbedingungen stimmen. Ohne ein stabiles und leistungsfähiges Netz, ein Smart Grid, können am Ende auch die besten Konzepte und Anwendungen nichts nützen. Darauf aufbauend hat die Smart City in Zukunft die zentrale Aufgabe, eine nachhaltige Stadtentwicklung durch den gezielten und nutzerorientierten Einsatz von Technologie und künstlicher Intelligenz zu unterstützen. Der Megatrend Smart City wird auf Ebene der Stadtplanung aber bisher nicht oder nur sehr unzureichend aufgenommen. Es fehlen unabhängige Fachplaner für Smart Grids und neue Integrated Urban Solutions. Infrastruktur kann weder rein der Industrie, noch allein den lokalen Stadtwerken überlassen werden. Große Quartiersentwicklungen aus einer einzigen Entwicklerhand zeigen, dass ganzheitliche Lösungen möglich sind. Dabei ist die Gebäudeplanung vom Städtebau und der

Infrastruktur nicht mehr trennbar. Es wird die beste Lösung gesucht und gefunden, egal ob zentral oder dezentral. Dazu ist jedoch ein unabhängiger Planer notwendig, der sowohl Kompetenz im Stadtplanungs- und Infrastrukturbereich besitzt als auch auf Ebene des Einzelgebäudes. Auf diese Weise können Synergien auf Quartiers­ebene gehoben werden.5 Dabei hilft ein modernes Datenmanagement in der Planung und zur besseren Visualisierung zeitgemäße Tools wie City-BIM und Virtual Reality. Der Stadtplaner bzw. das Architektenteam wird in einer Smart City die Quartiersplanung nicht nur nach dem StandardLeistungsbild der HOAI abwickeln, sondern die Gesamtkoordination der Quartiersplanung übernehmen. Der smarte Stadtplaner wird so vom Richtliniengestalter in der Bauleitplanung und Visionenentwickler in der informellen Planung zum wirklich verantwortlichen Architekten der Stadt der Zukunft. Zu einer ganzheitlichen Quartiersplanung zählt dann auch die Planung und Umsetzung der gesamten Infrastruktur, bis hin zum Smart Grid für das Smart Home als integralem Bestandteil der Quartiersplanung. Dabei ist eine Smart City der moderne Weg, durch die Möglichkeiten der Digitalisierung die Herausforderungen der nachhaltigen Stadtplanung über Synergieeffekte effizienter zu meistern. Es geht nicht um die Digitalisierung um der Technik willen, sondern um die Planung eines wirklich smarten Quartiers mit einem hohen »Level of Smartness« (Abb. 2).6 Abschreckend für die Umsetzung sind meist noch die Komplexität und der enorme Umfang von Quartiersplanungen. Diese Komplexität kann man leider nicht leugnen und darf man entsprechend in der Planung auch nicht ignorieren. Es gibt jedoch zahlreiche neue Planungsinstrumente, die auf dem Weg zur Smart City hilfreich sein können. Geografische Informationssysteme (GIS) sind in der Stadtverwaltung und Planung bereits

Level of  Smartness

1.4 — Smart City

digitale Kommunikation durch vernetzte Technologien wie beispielsweise Sensoren, Maschinen, Programme, Steuereinheiten etc.

Datenverarbeitung, Abgleich der Daten mit vordefinierten Zustandsparametern und Interpretation

IT-gestützte automatisierte Reaktion anhand der vorhandenen Daten Level 3

Level 2

27

Level 5

Level 4 Mehrwert für andere Handlungsbereiche durch gemeinsame Datennutzung

Analyse, Diagnose und Vorhersage von Zuständen, frühzeitige Veranlassung korrigierender Maßnahmen

Level 1

Datenübertragung

Datenverarbeitung und Auswertung

Reaktion und Steuerung

Synergien zwischen den Systemen

Vorhersage und Planung

Abb. 2 ÖGNI POSITIONSPAPIER SMART CITIES

Abb. 1 Der Nutzer definiert Ziele und Stressoren, das richtige Vorgehen führt zum Erfolg. Abb. 2 Was ist eigentlich smart? – die Level of Smartness Abb. 3 ÖGNI-Tachometer Smart City – Prozesse und Beteiligungen sind nötig, um in Fahrt zu kommen.

Seite 12 von 14

Abb. 3

weit verbreitet. Building Information Modeling (BIM) setzt sich zunehmend durch und verbindet Planung und Datenmanagement. Virtuell-RealityAnwendungen lösen alte Gipsmodelle ab. Und wenn man diese Möglichkeiten zukünftig smart miteinander vernetzt, können bisher komplizierte Abläufe deutlich vereinfacht werden. Erste Beispiele wie das Klimaschutzkonzept des Landkreises Ludwigsburg auf 3D-GIS Basis zeigen, dass digitale Instrumente auch erfolgreich zur CO2Bilanzierung und der dazugehörigen Partizipation genutzt werden können.7 Im Projekt Maidar EcoCity+, der geplanten neuen Hauptstadt der Mongolei, wurde mit Unterstützung der Deutschen Entwicklungsgesellschaft (DEG) ein CityBIM Modell entwickelt. Es vereint die moderne Welt von Virtuell Reality (VR) mit den zahlreichen Daten und Informationen aus CAD und

© ÖGNI

GIS-Systemen. Auf diese Weise wird eine Stadt der Zukunft bereits virtuell begreifbar und Emotionen für ein nachhaltiges Projekt werden mit Zahlen und Fakten verbunden. Am Ende können diese neuen Instrumente, vor denen die meisten – oft aus Unwissenheit – noch großen Respekt haben, so selbstverständlich wie ein Taschenrechner sein und uns spielerisch Möglichkeiten für eine nächste Generation von nachhaltigen Quartieren aufzeigen.8 Bis dahin wird uns aber die Smart City vor allem herausfordern, wie es die Österreichische Gesellschaft für Immobilienwirtschaft (ÖGNI) in Ihrem ersten Positionspapier zur Smart City beschreibt.9 Es bleibt offen, aber doch entscheidend, wie und wie schnell sich unsere Art zu planen, zu bauen und schließlich zu leben in eine ehrlich smarte Richtung entwickelt (Abb. 3).

7 Landkreis Ludwigsburg 2015 8 Meier/Portmann 2011 9 ÖGNI 2017

28

Kapitel 1 — Einführung

1 .5

Mehrwert nachhaltiger ­Stadtquartiere Ste p han Anders

D 1  Klein et al. 2011 2  Stern 2007

er Mehrwert nachhaltiger Stadtquartiere ist vielfältig, kann jedoch nur teilweise anhand quantitativer Kri­terien erfasst werden. Zwar lassen sich die erheblichen Einsparungen bei den Kosten und Emissionen von nach­haltigen Quartieren objektiv messen, jedoch spätestens, wenn es um Themen des Artenschutzes, der Sicherstellung des sozialen Gleichgewichts oder der Steigerung der Lebensqualität geht, lässt sich der Gewinn für die Gesellschaft nur noch schwer in Zahlen ausdrücken – obwohl dieser immens sein kann. Zudem ruft die unterschiedliche, teils isolierte Herangehensweise an die Bereiche Ökologie, soziale Verträglichkeit und Ökonomie bezüglich der natürlichen und gebauten Umwelt je nach Blickwinkel unter Umständen sowohl positive als auch negative Auswirkungen hervor. Wie komplex sich das Zusammenspiel verschiedener Faktoren generell gestaltet, zeigt z. B. das Thema Bienensterben. Als man begann, neue Düngemittel in der Landwirtschaft einzusetzen, war man sich nicht im Klaren über deren Wechselwirkungen, die schlussendlich den Menschen selbst in seiner Existenz gefährden. Wissenschaftliche Untersuchungen an der Leuphana Universität Lüneburg haben ergeben, dass durch die intensive Nutzung der Agrarlandschaften weltweit ein massiver Rückgang an Bienen zu verzeichnen ist, der direkte Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit hat. Die Forscher rechnen damit, dass, wenn die Entwicklung weiter anhält und zahlreiche Nutzpflanzen nicht mehr bestäubt werden, 40 % der durch Pflanzen bereitgestellten essenziellen Nährstoffe verloren gehen könnten.1 Welche weiteren Auswirkungen und Wechselwirkungen mit dem Verlust verbunden sind und welche Folgen dies auf das gesamte Ökosystem der Erde hat, ist nur schwer einzuschätzen.

Das Beispiel der Jahrhundertflut 2013 in Deutschland machte deutlich, dass viele Stadt- und Quartiersentwicklungen das Thema Hochwasserschutz stark und – teilweise aus optischen Gründen – sogar bewusst negiert haben. Dabei ist es nicht möglich, dieses komplexe Thema nur auf den Ausbau von Deichen und Flutmulden zu beschränken. Auch die allgemeine Siedlungsentwicklung und die damit einhergehende steigende Versiegelung verschärfen die Situation spürbar. Trotzdem werden Regenwasser rückhaltende Gründächer und Parkanlagen mit Regenwassermanagementsystemen oft aus Kostengründen bereits in der Projektphase verworfen. Hier stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, bereits frühzeitig in eine entsprechende Planung mit einem ganzheitlichen, nicht auf ein einzelnes Projekt ausgerichteten Planungsansatz unter Einbindung der Allgemeinheit zu investieren und damit hohe Kosten im Schadensfall zu vermeiden. Der ehemalige Ökonom der Weltbank Nicholas Stern kam in seinem 2007 veröffentlichten Bericht »The Economics of Climate Change«2 zu dem Fazit, dass die Vorteile eines entschiedenen frühen Handelns die Kosten des Nichthandelns langfristig bei Weitem überwiegen. In seinen wirtschaftswissenschaftlichen Modellen hat er errechnet, dass die Menschheit, sollte sie keine Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen, in Zukunft jährlich 5 – 20 % des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufbringen müsse, um die Kosten für häufig auftretende Überschwemmungen, Sturmkatastrophen oder auch Krankheiten zu begleichen. Nur ein Beispiel: 20 % des globalen BIPs in Höhe von 79 Billionen US-Dollar entsprechen ungefähr dem BIP der EU mit 17 Billionen USDollar im Jahr 2017. Im Gegensatz dazu, so rechnet Stern vor, könnten mit dem Einsatz von ca. 1 % des jährlichen globalen BIPs für Präventionsmaßnahmen die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels vermieden werden – dies entspricht

29

1.5 — Mehrwert nachhaltiger S ­ tadtquartiere

dem BIP der Niederlande mit 0,8 Billionen USDollar im Jahr 2017. Die Berechnungen des SternReports sind zwar global, lassen sich jedoch durchaus auch auf die Stadtebene herunterbrechen. Diese eher allgemeine Betrachtung des Mehrwerts einer nachhaltigen Entwicklung auf globaler Ebene soll im Folgenden durch eine quartiersspezifische und damit für den Nutzer unmittelbar erfassbare Ebene ergänzt werden.

Ökologischer Mehrwert 2001 führten die Bauhaus-Universität Weimar und das Öko-Institut in Freiburg eine Untersuchung zur städtebaulichen und ökologischen Qua­ lität autofreier bzw. autoarmer Quartiere durch.3 Die Ergebnisse der Studie sind relativ eindeutig: In den verkehrsarmen Stadtquartieren lassen sich eine Vielzahl positiver Effekte beobachten. Beispielsweise ist es möglich, aufgrund der reduzierten Verkehrsflächen (Straßen, Parkplätze) enorme Kosten für deren Erstellung, Instandhaltung, Pflege und Reinigung einzusparen. Die dadurch frei werdenden Flächen ermöglichen eine bauliche Nachverdichtung ohne Verlust der Wohnqualität oder durch eine Umnutzung zusätzliche Freizeitflächen. Eine weitere Qualität verkehrsreduzierter Stadtteile sind die damit verbundenen positiven Folgen für die Gesundheit der Bewohner z. B. dank geringerer Belastung durch Lärm und Schadstoffe sowie eine erhöhte Sicherheit. Zudem sind der öffentliche Raum und die Gebäude dort vielfältiger und flexibler nutzbar – als Spielfläche, zum Gehen oder Fahrrad fahren – und können bei Bedarf auch für Veranstaltungen gesperrt werden, was auf einer stark befahrenen Stadtstraße nur bedingt möglich ist. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass sich durch nur eine Maßnahme – hier die Reduzierung des Verkehrs im Quartier – enorme Effekte erreichen lassen. Zu einem geringeren Verkehrsaufkommen im Quar­ tier kann auch die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur in fußläufiger Entfernung für den täglichen Bedarf sowie die gute Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz beitragen. So lassen sich Pkw-Fahrten vermeiden und Fahrtzeit einsparen. Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen – häufig sind die Eltern einen Großteil des Tags damit beschäftigt, ihre Kinder zu diversen Freizeitaktivitäten zu fahren. Selbstverständlich müssen in der Zwischenzeit noch die Einkäufe und Behördengänge getätigt werden – und dies im Regelfall mit dem privaten Pkw. Die Lage eines Quartiers ist somit ein wichtiger Bestandteil der Nachhaltigkeit,

denn sie beeinflusst maßgeblich die Möglichkeiten der Nutzer, sich schnell und umweltverträglich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Personennahverkehr fortzubewegen. Grundsätzlich ist die Einsparung von Ressourcen eines der wichtigsten Ziele bei der Planung nachhaltiger Quartiere. Darunter fallen Energie, Wasser, Baustoffe und andere wertvolle Rohstoffe, im weiteren Sinne aber beispielsweise auch Böden, Kosten und der Faktor Zeit. So entscheidet z. B. die Lage eines Stadtquartiers auch über die durch jeden Bewohner täglich zurückgelegten Entfernungen und damit über den Verbrauch der Ressourcen Zeit und Energie.4 Boden ist, insbesondere in dicht besiedelten Ländern wie Deutschland, eine sehr wichtige Ressource, die nicht vermehrt werden kann. Böden erfüllen in unserem Ökosystem eine überlebenswichtige Funktion, sie bilden die zentrale Lebensgrundlage für Pflanzen, Tiere und Menschen und sind für die Säuberung des Niederschlags und die Anreicherung des Grundwassers verantwortlich. Allerdings gehen wir derzeit alles andere als sparsam mit Böden um. So wurden in Deutschland in den Jahren 2012– 2016 durchschnittlich ca. 62 ha pro Tag für Siedlungs- und Verkehrsflächen verbraucht, dies entspricht beinahe der gesamten städtebaulichen Entwicklungsfläche von Stuttgart 21. Laut Statistischem Bundesamt liegen die Gründe hierfür in der Ausdehnung der Städte in das Umland, der zunehmenden funktionalen ­Trennung von Wohnen und Arbeiten, Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen sowie der wachsenden Mobilität.5 Die Nutzung brachliegender oder unter­ge­ nutzter Flächen in der Stadt ist daher eine Möglichkeit, außerhalb liegende Flächen zu schonen und somit den Flächenverbrauch zu senken.

Mehrwert für Mensch und Gesellschaft Neben diesen ökologischen Vorteilen nachhaltiger Quartiere lassen sich noch eine ganze Reihe weiterer positiver Auswirkungen nennen. Diese hängen teilweise eng mit den ökologischen Aspekten zusammen und bedingen sich gegenseitig. So bieten ausreichend große Grün- und Freiräume nicht nur einen Lebensraum für Tiere und Pflanzen, sondern haben auch eine positive Wirkung auf das Mikroklima und damit direkt auf den Menschen. Das Wohlbefinden einer Person im öffentlichen Raum hängt jedoch nicht nur vom Mikroklima ab, auch wenn in Städten wie Abu Dhabi, wo die Oberflächentemperatur der Straße

3 Christ et al. 2001, S. 105 4 Fuchs  /Schleifnecker 2001, S. 55; Jenks / Dempsey 2005, S. 24; OECD 2008, S. 115 5 Statistisches Bundesamt 2012, S. 20

30

Kapitel 1 — Einführung

bis zu 70 °C erreicht, die gefühlte Temperatur im Außenraum zu einem entscheidenden Faktor werden kann (Abb. 1). Eine zusätzliche Rolle spielen viele subjektive Faktoren wie beispielsweise die Gestaltung, die Barrierefreiheit, die Vitalität, der Lärmpegel bis hin zur gefühlten Sicherheit, um nur einige wenige Punkte zu nennen. Welchen Stellenwert das Thema Lärm beim Wohlbefinden einnimmt, zeigt beispielsweise eine repräsentative Umfrage des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2011. Demnach sind 83 % der befragten Teilnehmer von Straßenverkehrslärm belastet, 36 % davon sogar stark bzw. äußerst.6 Diesem Aspekt sollte man somit in Zukunft verstärkt Be­­ achtung schenken. Abb. 1

a

b

6 UBA 2011, S. 5 7  Mercer 2012 8 Rotermund, S. 10f.

Eine nachhaltige Quartiersplanung verfolgt das Ziel, Wohnraum und Arbeitsplätze für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen anzubieten sowie die Funktionen Wohnen und Arbeiten wieder stärker miteinander zu mischen. Dies hat nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten Vorteile, sondern macht das Quartier auch anpassungsfähig bei sich ändernden Rahmenbedingungen und damit langfristig (wert)stabil. So werden heutzutage in vielen monofunktionalen Gebieten wie z. B. der Bürostadt Niederrad in Frankfurt am Main oder dem Märkischen Viertel in Berlin die Nutzungen wieder stärker durchmischt und die Quartiere gleichzeitig energetisch und gestalterisch aufgewertet. Auch wenn die sozialen Faktoren teilweise stark subjektiv und nur begrenzt quantifizierbar sind, übernehmen sie für die nachhaltige Entwicklung eines Quartiers oder einer Stadt eine entscheidende Rolle. Nicht umsonst sind Städte mit einer hohen Lebensqualität wie z. B. Wien, Zürich, München oder Auckland7 auch wirtschaftlich erfolgreich, denn sie ziehen gut ausgebildete Menschen und damit auch international agierende Unternehmen an.

Ökonomischer Mehrwert Die dritte Dimension der Nachhaltigkeit ist die Ökonomie. Deren Vorteile sind im Bezug auf eine nachhaltige Stadtentwicklung schwer zu berechnen, lassen sich aber auf der Ebene des Quartiers bzw. Gebäudes durchaus mit konkreten Zahlen verknüpfen. So fallen bei Büro- und Industriegebäuden fast 90 % der Lebenszykluskosten während der Nutzungsphase an;8 gleiches gilt auch für Grün-, Frei- und Verkehrsflächen. Es ist wichtig, schon frühzeitig nicht nur die Kosten für den

31

1.5 — Mehrwert nachhaltiger S ­ tadtquartiere

Stadtklima Gesundheit Freiraumangebot

Durchlüftung

Bau, sondern ebenso für die Nutzung und auch den Rückbau eines Gebäudes oder einer Freifläche in die Kalkulation einzubeziehen. So weist ein Artikel zum Lebenszyklus von Grünräumen darauf hin, dass Freiflächen allzu oft »in der Vergangenheit nach wenigen Jahren zurückgebaut oder angepasst werden [mussten], weil der Pflegeaufwand personell und finanziell nicht zu bewältigen war. Oder das Erscheinungsbild der gesamten Anlage entsprach aufgrund fehlender Ressourcen in der Pflege nicht den Vorstellungen und Ansprüchen der Nutzenden.«9 Am Beispiel der Lebenszykluskosten zeigt sich sehr deutlich, dass nachhaltige Stadtquartiere einen enormen Mehrwert gegenüber konventionell geplanten Quartieren haben, auch wenn sich dieser nicht immer in Zahlen darstellen lässt. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig noch mehr Quartiere unter nachhaltigen Gesichtspunkten geplant werden, auch wenn dies bei der Planung und im Bau höhere Kosten verursachen kann – langfristig gesehen wird sich diese Entwicklung auszahlen.

Komplexität und Wechsel­ wirkungen Verfolgt man die Diskussion über nachhaltige Stadtplanung der letzten Jahre, ließe sich diese unter dem städtebaulichen Leitbild der Stadt München »kompakt, urban, grün« zusammenfassen. So einfach und charmant dieses Leitbild zunächst klingt – die Realität ist weitaus komplexer, da unzählige Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen städtebaulichen Parametern bestehen (Abb. 2). So kann z. B. eine Nachverdichtung der Stadt neben den positiven Effekten auf die Effizienz von Energie- und Verkehrssystemen oder die Auslastung der sozialen Infrastruktur10 auch negative Auswirkungen mit sich bringen. Eine hohe Dichte und die damit verbundene Versiegelung der Böden stören den natürlichen Wasserhaushalt und können die Gefahr von Überschwemmungen erhöhen.11 Der Freiflächenanteil reduziert sich, zudem wird das Stadtklima negativ beeinflusst, was z. B. zu erhöhten Temperaturen in der Stadt führt, die für die Bewohner sehr belastend sein können.12 Weitere negative Effekte sind die Abnahme der solaren Gewinne durch die gegenseitige Verschat-

Versiegelung

Wohlbefinden Verschattung

Dichte

Kompaktheit Effizienz Infrastruktursysteme Verkehrsaufkommen

Energiebedarf Lebenszykluskosten

Abb. 2

tung der Gebäude sowie der zunehmende Ressourcenbedarf bei steigender Gebäudehöhe aufgrund der speziellen statischen Anforderungen und des höheren Strombedarfs u. a. für Aufzüge und technische Lüftung.13 Bei der energetischen Sanierung eines fernwärmeversorgten Stadtquartiers kann z. B. unter Umständen der Fall auftreten, dass die Effizienzverluste des nicht mehr voll ausgelasteten Fernwärmenetzes die energetischen Effizienzgewinne auf Gebäudeebene aufheben.14 Gleiches gilt für die Reduzierung des Abwassers: Eine Maßnahme, die unter ökologischen Gesichtspunkten zu begrüßen ist, kann langfristig gesehen zu höheren Kosten für Wartung und Instandhaltung der Infrastruktur führen, da z. B. in Deutschland aufgrund der Reduzierung des Abwassers Leitungen häufiger von dauerhaften Ablagerungen gereinigt und dazu mit Trinkwasser durchspült werden müssen. Auch kann es aufgrund der l­ängeren Fließzeit des Abwassers zu Fäulnisprozessen kommen, die dann im weiteren Verlauf c­hemische Prozesse auslösen können, die gegebenenfalls zu Korrosionen der Leitungen und Pumpwerke führen.15 Nicht zu vergessen sind die möglichen Auswirkungen baulicher Dichte auf das menschliche Verhalten. Empirische Untersuchungen zeigen eine enge Korrelation von steigender Dichte und sinkender Geburtenzahl, höherer Sterblichkeit, Jugend- und Erwachsenenkriminalität sowie psychischen Störungen.16 Pauschale Aussagen über die Auswirkungen von planerischen Eingriffen auf das gesamte Stadtgefüge sind nicht möglich. Vielmehr gilt es, die Faktoren bei jedem Projekt ganzheitlich zu bewerten und je nach Situation und Standort abzuwägen.

Abb. 1  Wärmebilder zum Vergleich der Temperaturen a  Central Abu Dhabi: mitt­ lere Oberflächentemperatur Straße 57 °C, mittlere Tem­ peratur Straßenraum 52 °C b  Masdar City: mittlere Oberflächentemperatur ­Straße 33 °C, mittlere Tem­ peratur Straßenraum 37 °C Abb. 2  komplexe Wechselwirkungen zwischen städtebaulichen Parametern

 9 Blaser/Buser/Borer 2009, S. 2 10 Fuhrich et al. 2006, S. 42 11 Henninger 2011, S. 17 12 Jendritzky 2007, S. 108 13 Hegger et al. 2008, S. 63 14 Koziol 2011, S. 24 15 Koziol et al. 2006, S. 18 16 Friedrichs 1983, S. 134f.

K A P ITE L 2

Heraus forderungen & Handlungsfelder 2 .1

Regional -, Stadt - und Quartiers entwicklung

33

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Herausforderung ­Regional -, Stadt - und Quartiersentwicklung He l m ut Bott, Ste fan Sieden top

G

roße Städte sind keine autark funktionsfähigen Systeme – sie importieren große Mengen an Ressourcen aus einem näheren und weiteren Umland und sind auf die Abführung und Entsorgung von gasförmigen, flüssigen und festen Abfallstoffen angewiesen. Städte sind im globalen Stoffstromsystem die Netzknotenpunkte der Produktion, Distribution und des Konsums materieller Güter. Obwohl sie nur etwa 2–3 % der Landfläche der Erde beanspruchen, sind städtische Siedlungen für drei Viertel des weltweiten Ressourcenverbrauchs und 80 % der Treibhausgasemissionen verantwortlich.1 Längst besteht in der internationalen Global-Change-Debatte eine Übereinkunft dahingehend, dass die Urbanisierung – hier verstanden als ein Prozess der Bevölkerungskonzentration in Städten, verbunden mit der physischen Ausdehnung primär baulich genutzter Flächen – als einer der zentralen Faktoren des globalen Wandels der Umwelt anzusehen ist.2 Das Wachstum der Städte und die in ihnen heute praktizierten flächen-, energie- und material­ zehrenden Lebensweisen basieren auf dem Prinzip der »angeeigneten Tragfähigkeit«.3 Die natürliche Tragfähigkeit eines Raums, unter der man eine der natürlichen Umwelt dauerhaft entnehmbare und eine in die natürliche Umwelt dauerhaft rückführbare Menge an Stoffen pro Flächen- und Zeiteinheit versteht und die somit begrenzt ist, wird durch die »Aneignung« von Tragfähigkeit ergänzt. Für die Entwicklung moderner Ökonomien war die Emanzipation von den begrenzenden Bedingungen lokaler und regionaler Ressourcenausstattungen essenziell, da erst dies ein arbeitsteilig organisiertes Wirtschaftssystem in über­ regionalen Maßstäben ermöglichte.4 Aus ökologischer Perspektive ist das Konsumniveau einer Stadt, das die natürliche Tragfähigkeit überschrei-

tet, aber nur dann aufrechtzuerhalten, wenn es gelingt, die Ressourcen- und Entsorgungspotenziale anderer Räume dauerhaft in Anspruch zu nehmen. Nachhaltigkeit verlagert sich dann »von nachhaltigen Einzelsystemen, d. h. den ortsgebundenen (lokalen) natürlichen Ökosystemen auf regionale Systeme höherer Ordnung«.5 Die Urbanisierung beinhaltet damit ein Dilemma: Angesichts steigender Bevölkerungszahlen in den meisten Teilen der Welt (Abb. 1, S. 34), wachsender Wertschöpfung und zunehmendem Wohlstand ist die räumliche Ausdehnung der Siedlungsräume schiere Notwendigkeit. Dieses Wachstum vollzieht sich aber häufig auf Flächen, die für die Ver- und Entsorgung der Städte eine wichtige Bedeutung haben. Es sind nicht selten gute Agrarböden und Flächen mit wertvollen Umweltfunktionen (wie die Retention oder die bioklimatische Regulierung), auf denen sich die Siedlungsentwicklung vollzieht. Der Verlust biologisch aktiver Flächen im Umland der Städte steigert deren Abhängigkeit von exterritorialen Ressourcen und verfestigt ihre »ökologische Defizitwirtschaft«.6 Es wäre jedoch verfehlt, urbane Systeme generell als »parasitäre« oder als per se nicht nachhaltige Systeme zu diskreditieren. Bei gegebenem Wohlstandsniveau können Städte aufgrund ihrer größen- und dichtebedingten Effizienzvorteile produktive und reproduktive Aktivitäten ressourcenschonender organisieren als ländliche Siedlungsformen.7 So weist Dodman8 darauf hin, dass der ökologische Fußabdruck Londons zwar 125mal größer ist als die administrative Stadtfläche, dass aber der Pro-Kopf-Fußabdruck der Londoner Bevölkerung nur etwa 50 % des Durchschnittswerts Großbritanniens beträgt.9 Ähnliches kann für andere europäische oder nordamerikanische Großstädte und die jeweiligen Länder aufgezeigt werden, da in größeren Städten das Wohnen und die Mobilität ressourcensparender erfolgen kann als in suburbanen oder ländlichen Regionen.

1 Giradet 1996; OECD 2010; UN 2007 2 Seto/Sanchez-Rodríguez/ Fragkias 2010; Angel/ Sheppard/Civco 2005; ­McGranahan  /Marcotullio 2005 3  Rees 1992 4 Einig/Siedentop/Petzold 1998 5  Haber 1992 6  Rees 1992 7  z. B. OECD 2010 8  Dodman 2009 9 zum Konzept des ökologischen Fußabdrucks siehe WWF 2008

34

Kapitel 2 — Herausforderungen

unter 0 % 0 bis unter 0,5 % 0,5 bis unter 1,0 % 1,0 bis unter 1,5 % 1,5 bis unter 2,5 % 2,5 % und mehr keine Werte Abb. 1

10 OECD 2010; Naess 2006; Frank /Kavage/ Appleyard 2007 11  Crutzen 2002 12  United Nations 2010 13  UN Habitat 2008, S. 24f. 14  UN Habitat 2008 15  Forsyth 2012 16 Schneider/Woodcock 2008

Komparativer ­Kostenvorteil

Als komparativer Kostenvorteil wird in der Volkswirtschaftslehre eine Situation bezeichnet, in der eine Region ein Gut zu geringeren Kosten herstellen kann als die Konkurrenz in anderen Regionen. Im Zusammenhang hier verweisen komparative Kostenvorteile auf standortbedingte Kostenvorteile des suburbanen Raums, insbesondere bei ­flächenextensiven ­Branchen des produzierenden Gewerbes.

Neben größenbedingten Skaleneffekten (z. B. Effizienzvorteile bei der Energieversorgung mit Kraft-Wärme-Kopplung) ermöglichen die höhere bauliche Dichte und das höhere Maß an Nutzungsmischung in Städten vergleichsweise energiesparende Wohn- und Mobilitätsformen.10 Vor diesem Hintergrund muss es bei einem gegebenen Wohlstandsniveau das Ziel nachhaltiger Stadtentwicklung sein, die Effizienzvorteile von Städten konsequenter zu nutzen und das Ausmaß der ökologischen Defizitwirtschaft urbaner Systeme auf ein verantwortbares Maß zu beschränken. Metropolen und Städte sind somit keinesfalls als Hemmnisse einer nachhaltigen, menschlichen Entwicklung anzusehen, im Gegenteil, sie sind der entscheidende Lösungsbeitrag. Allerdings setzt dies ein radikales Umdenken in der Planung und Gestaltung von Städten voraus. Der Umbau von Städten mit dem Ziel, Dichte, Kompaktheit und Nutzungsmischung zu bewahren und zu fördern sowie wertvolle Freiräume zu schützen, muss als wichtiger Beitrag zur Nachhaltigkeit angesehen werden.  HB

Urbanisierung Nach Meinung vieler Wissenschaftler leben wirlängst im neuen Erdzeitalter des Anthropozäns, in dem menschliche Einflüsse die Erde prägen.11 Einer der wirkmächtigsten Prozesse ist dabei die Urbanisierung (Abb. 2). Die Mehrheit der Weltbevölkerung wird in Zukunft in städtisch geprägten Siedlungsräumen leben.12 Antrieb findet die Urbanisierung in zwei eng miteinander verbunden Faktoren, dem natürlichen Wachstum der in Städten lebenden Bevölkerung und der Zuwanderung von Bevölkerung aus ländlichen Gebieten.13 In frühen Urbanisierungsstadien dominieren

häufig einzelne Städte, nicht selten die Hauptstädte, was als Urban-Primacy-Phänomen bezeichnet wird.14 In diesen Städten konzentrieren sich die politischen und ökonomischen Steuerungsund Kontrollfunktionen eines Lands, sie sind die Kraftzentren der wirtschaftlichen Entwicklung und Zielgebiete von intrastaatlichen und internationalen Migrationsströmen. Dieses Phänomen dominiert die aktuellen Urbanisierungsprozesse in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Nicht zuletzt aufgrund übermäßiger Agglomerationskosten in den Primärstädten haben sich in den stärker entwickelten Ländern hingegen meist mehrpolige Städtesysteme herausgebildet. Das physische Wachstum großer Städte findet weltweit in den suburbanen15 Gebieten statt, die meistens ein gegenüber dem städtischen Kern geringeres Maß an baulicher Verdichtung, eine diskontinuierliche, disperse Siedlungsform und eine geringere räumliche Mischung städtischer Funktionen aufweisen.16 Nicht nur in entwickelten Staaten, auch in Entwicklungs- und Schwellenländern ist ein Rand-Kern-Gefälle des demografischen und wirtschaftlichen Wachstums zu beobachten. Während für suburbane Gebiete hohe Wachstumsraten typisch sind, lässt sich für innerstädtische Gebiete eher eine stagnative oder schrumpfende Bevölkerung feststellen. Die Entstehung suburbaner Gebiete geht auf komparative Kostenvorteile dieser vorstädtischen Standorte zurück. Sowohl für private Haushalte als auch für Unternehmen sind suburbane Standorte aufgrund geringerer Bodenpreise, besserer Flächenverfügbarkeit oder auch geringerer Umweltbelastungen attraktiv. Suburbanes Wachstum wird aber nicht selten auch durch aktive staatliche Politiken, vor allem den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und staatliche Fiskalpolitiken, gefördert. Mit der Suburbanisierung entstand ein funktionaler Raum (Suburbia) mit spezifischen baulichen,

35

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Kernstadt Stadtregion insgesamt

Umland weiteres Umland (außerhalb der Stadtregion)

Dekonzentration

Dekonzentration

Konzentration

Urbanisierung

Suburbanisierung

Desuburbanisierung

Resuburbanisierung

Bevölkerungsabnahme

Bevölkerungszunahme

Konzentration

Umland Kernstadt weiteres Umland Bevölkerungszunahme

Stagnation

Bevölkerungsabnahme

Abb. 1  jährliche Bevölkerungsentwicklung, Durchschnittswerte 2005 –2015 Abb. 2 Phasenmodell der Stadtentwicklung (nach Schmitz-Veltin 2012, basierend auf van den Berg et al. 1982)

Abb. 2

ökonomischen und sozialen Eigenschaften.17 Durch die veränderte Siedlungsstruktur verändern sich auch die Mobilitäts- und Interaktionsmuster stadtregionaler Akteure. Die Nutzung von Wohn-, Arbeits-, Konsum- und Freizeitstätten in einem ausgedehnten stadtregionalen Handlungsraum prägen den Lebensalltag der Menschen. In zahlreichen Industriestaaten ließen sich in den 1970er- und 1980er-Jahren zudem sogenannte Deurbanisierungsprozesse feststellen (Counterurbanisierung).18 Danach waren ländlich-periphere Gebiete für standortungebundene Indus­ trien wie auch für private Haushalte zunehmend attraktiv. Das ubiquitär ausgebaute Verkehrssystem und negativ bewertete Standorteigenschaften wie hohe Bodenpreise oder überalterte Infrastruktursysteme in den verdichteten Stadtregionen gelten als entscheidende Bedingungen für ein derartiges räumliches Übergreifen des Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstums in ländliche Gebiete. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Wachstumsschwerpunkt jedoch wieder in städtisch

geprägte Gebiete zurückverlagert. Im Zuge des Bedeutungszuwachses von Wissen für die Ökonomie gelten Metropolregionen mit interna­ tionaler Bedeutung als die wirtschaftlichen Taktgeber (Metropolisierung). In vielen west­euro­ päischen und nordamerikanischen Stadt­regionen ist zudem eine Reurbanisierung zu beobachten, die sich in einem erneuten Wachsen der Kern- und Innenstädte äußert.19 Die Renaissance historischer Zentren vollzieht sich jedoch eingebettet in die Herausbildung polyzentrischer Stadtregionen, in denen sich komplexe Muster funktionsräumlicher Arbeitsteilungen innerhalb eines stadtregionalen Zentrensystems ausbilden. Suburbane Gemeinden profitieren von derartigen Entwicklungen durch funktionale Anreicherungs- und Verdichtungsprozesse, was Vermutungen einer zunehmenden Angleichung von Kernstadt und Suburbia Nachdruck verleiht. Sogenannte postsuburbane Räume ähneln danach in funktionaler Hinsicht zunehmend den Kernstädten, sie emanzipieren sich teilweise von deren hegemonialem Anspruch und ihrer funktionalen Abhängigkeit.20

17 van den Berg et al. 1982; ­Champion 2001 18  Champion 2001 19  Herfert /Osterhage 2012; Siedentop 2008 20  Aring 1999

36

Kapitel 2 — Herausforderungen

über 10 % 5,1 –10 ,0% 2,1– 5 ,0% unter 2 % kein Wachstum keine Daten verfügbar

Abb. 3

Abb. 3  Wachstum der be­­ siedelten Flächen in Europa ­1990 – 2006 (basierend auf Daten des EU-Forschungs­ projekts CORINE Land Cover) Abb. 4  Flächenverbrauch in Deutschland 1993 – 2015 [in ha/Tag]

21 SRU 2002 22  Siedentop et al. 2007 23  EEA 2006 24 Angel/Sheppard/Civco 2005 25  Angel 2011 26  Sieverts 1997 27 Überblick bei Siedentop 2005 28  Gardner 1996 29  EEA 2006; EEA 2011 30 Naess 2006; Gutsche 2003; Banister 1999 31 Schiller/Gutsche 2009; Preuß 2009; ­Schiller/­Siedentop 2005

Flächenverbrauch Die Inanspruchnahme von bislang nicht für Siedlungs- und Verkehrszwecke baulich genutzten Flächen ist der physische Ausdruck von Urbanisierung, Sub- und Deurbanisierung. Der Flächenverbrauch gilt als erhebliche umweltpolitische Herausforderung und zudem als ein sogenanntes persistentes Problem der Umweltpolitik,21 weil politische Bemühungen der Eindämmung bisher wenig erfolgreich blieben. Der Flächenverbrauch hat zahlreiche negative Wirkungen, vor allem den Verlust oder die Beeinträchtigung von bodengebundenen Umweltfunktionen. Dabei ist allerdings der rein quantitative Umfang umgenutzter Fläche allein wenig aussagekräftig. Von Bedeutung ist auch die Vornutzung und Lage der Flächen, ihr landschaftsökologisches Funktionsprofil und die Intensität der bisherigen Bodennutzung, z. B. in Bezug auf die Versiegelung.22 Die flächenhafte Ausdehnung urbaner Siedlungsräume ist ein globaler Prozess mit regional sehr unterschiedlicher Dynamik (Abb. 3). Die Europäische Umweltagentur schätzt, dass das Wachstum der Siedlungsfläche in den am stärksten wach-

senden europäischen Regionen in den vergangenen 20 Jahren bis zu 2 % pro Jahr betrug, in anderen Teilen Europas hingegen sehr gering war.23 Den Schätzungen Shlomo Angels zufolge betrug die jährliche Wachstumsrate der bebauten Flächen in den 1990er-Jahre rund 3,6 % in den Entwicklungsländern und 2,9 % in den Industriestaaten, wobei im östlichen Asien noch weitaus höhere Wachstumsraten ermittelt wurden.24 Die Wachstumsrate der Siedlungs- und Verkehrsfläche fällt deutlich höher aus als die der Bevölkerung. Das daraus resultierende weltweite Sinken der Siedlungsdichte beträgt 2 % und mehr pro Jahr.25 Dabei entstehen keine konzentrischen, sondern eher diskontinuierlich-disperse Wachstumsmuster, mit stark fragmentierten Siedlungsund Freiraumstrukturen.26 Die am intensivsten diskutierten Wirkungen des Flächenverbrauchs sind:27 •• fortschreitender Verlust hochwertiger landwirtschaftlicher Böden28 •• Reduzierung der biologischen Vielfalt29 •• Herausbildung autoabhängiger Siedlungsstrukturen und Zuwachs des Pkw-Verkehrs30 •• Erzeugung von Folgekosten für die Erstellung und den Betrieb von technischen Infrastruktureinrichtungen31

37

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Flächenverbrauch [ha / Tag]

Erholungsfläche, Friedhof Verkehrsfläche

Gebäude- und Freifläche gleitender Vierjahresdurchschnitt

140

Datenumstellung

120 100 80 62

60 40

Ziel 2030: unter 30 2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

0

1993 – 1996

20

Abb. 4

Die anhaltende private Nachfrage nach Wohn-, Gewerbe-, Freizeit- und Verkehrsflächen stellt eine zentrale Triebkraft des Flächenverbrauchs dar (Abb. 4). Aber auch das (Bauflächen-)Angebotsverhalten lokaler Gebietskörperschaften, flächenverbrauchsbegünstigende staatliche Steuerund Subventionssysteme sowie ökonomische Interessen (z. B. Developer) tragen in erheblichem Maße zum Flächenverbrauch bei.32 In Deutschland steigt der Flächenverbrauch vor allem durch den weiteren Rückgang der Belegungsdichte im Wohnungsbestand, was zu relevanten Anteilen auf den Alterungsprozess der Bevölkerung zurückzuführen ist (Remanenzeffekt). Hinzu kommt die teilweise durch Nutzerpräferenzen erklärbare Dominanz gering verdichteter Bauformen im Wohn- und Gewerbebau. Daher ist auch bei schrumpfender Bevölkerung mit steigender Nachfrage nach Wohnraum zu rechnen. Häufig fehlen baureife Flächen im Siedlungsbestand, während die Neuerschließung von Siedlungsflächen nach wie vor von der subventionierten Baulandbereitstellung auf der »grünen Wiese« und dem damit forcierten Bodenpreisgefälle zwischen Bestands- und Neubaustandorten sowie der mangelhaften Abstimmung der kommunalen Baulandpolitiken angetrieben wird.33

Wachsen und Schrumpfen Während die Metropolen in Asien, Afrika und Lateinamerika zum Teil exzessiv wachsen, erlebten zahlreiche Städte in den westlichen Indus­ triestaaten eine längere Phase der Stagnation oder

gar Schrumpfung.34 In Ländern, die sich im zweiten demografischen Übergang befinden, war bei erheblichen Varianzen und teilweise festzustellender Reurbanisierung lange Zeit Schrumpfung oder Stagnation zu erkennen. Die Bewältigung von anhaltenden strukturellen Schrumpfungsprozessen war als gleichberechtigte Aufgabe neben die Steuerung und Gestaltung von Wachstum getreten. Reurbanisierungsprozesse, eine neue Landflucht und anhaltende Immigration haben in vielen Städten eine Trendumkehrung bewirkt, die die Planung unter der zuvor genannten Bedingung des Baulandmangels vor schwierige Aufgaben stellt.35 In Deutschland und anderen europäischen Ländern vollzieht sich ein tiefgreifender demografischer Wandel. Seit Anfang der 2000er-Jahre sind dadurch die Bevölkerungszahlen rückläufig. Dieser grundlegende Trend wird nun vor allem in den Städten durch die Reurbanisierung und hohe Immigrationszahlen überdeckt. Verbunden mit der Zunahme kleiner Haushalte, steigen die Wohnungspreise in vielen Regionen, insbesondere in den Großstädten bei hoher Nachfrage in kaum noch bezahlbare Höhen. Ein Trend, der in Me­­ tropolen weltweit feststellbar ist. In städtebaulicher Hinsicht entsteht daher ein enormer Bedarf an Stadtumbau und großer Druck hinsichtlich Nachverdichtung. Gleichzeitig schrumpfen aber insbesondere ballungsferne ländliche Regionen. In solchen Räumen ist eine stärker bestandsorientierte Siedlungs­ entwicklung auch aus infrastruktureller Hinsicht geboten. Weiterer Flächenverbrauch unter demografischen Stagnations- oder Schrumpfungs­ bedingungen könnte bereits mittelfristig zu erheblichen Problemen bei der Finanzierung infra­ struktureller Leistungen führen. Ein gebremster Flä­chenverbrauch könnte diesen Prozess in seiner

32 Schiller/Gutsche 2009 33  Siedentop et al. 2009 UN Habitat 2008, S. 12; 34  auch Wiechmann/­ Pallagst 2012 35  Wiechmann/Pallagst 2012

Demografischer Übergang

Der demografische Übergang beschreibt ein global beobachtbares Phänomen, wonach hohe Geburtenund Sterberaten von geringen Geburten- und Sterbe­ raten abgelöst werden. Durch das frühere Sinken der Sterberaten steigt die Bevölkerungszahl im ersten demografischen Übergang stark an. Das Wachstum verlangsamt sich im weiteren Zeitverlauf, wenn auch die Geburtenraten sinken. In einigen Gesellschaften wie Deutschland sinkt die Geburtenrate auf ein Niveau, das die natürliche Reproduktion der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet. Dies wird als zweiter demografischer Übergang bezeichnet. Es kommt zu einer langfristig negativen natürlichen Bevölkerungsentwicklung.

38

Kapitel 2 — Herausforderungen

Intensität begrenzen und zum Einlenken auf einen Kurs der Flächenkreislaufwirtschaft beitragen. 36  Siedentop 2010 37 Hüchtker et al. 2000 38 UBA 2003 39  Siedentop 2003 40 siehe exemplarisch Ministerium für Wirtschaft, Energie, Klimaschutz und Landes­ planung Rheinland-Pfalz 2010; BBSR 10/2013 41 ausführlich hierzu OECD 2012, S. 27f. 42  Siedentop 2005 43 Cervero /Murakami 2010; Gutsche 2003 44 Ecoplan 2000; Doubek / Zanetti 1999 45 Motte-Baumvol/Massot / Byrd 2010 46 beispielhaft Breheny 1997

Abb. 5

Innenentwicklung Einer der wichtigsten Ansätze für eine Stadtentwicklung, die den Flächenverbrauch reduziert, ist die sogenannte Innenentwicklung.36 In der städtebaulichen Praxis werden mit diesem Begriff zumeist drei Maßnahmentypen angesprochen: •• Schließung von Baulücken auf Flächen in zusammenhängend überbauten Ortsteilen •• Flächenrecycling, womit die Um- und Wiedernutzung brachgefallener Siedlungsflächen gemeint ist •• Nachverdichtung, die auf die Erweiterung oder Ergänzung der baulichen Nutzung eines oder mehrerer Grundstücke abzielt, sei es durch Neuerrichtung, Erweiterung oder Umbau von Gebäuden Neben primär quantitativen Aspekten hat Innenentwicklung auch eine qualitative Dimension. Maßnahmen der Innenentwicklung können dazu beitragen, die innerstädtische Freiraumsituation zu verbessern sowie den städtebaulichen Bestand zu stabilisieren und zu optimieren. Vor diesem Hintergrund wurde das Bild einer »doppelten Innenentwicklung«37 entworfen, die den offenen Landschaftsraum vor weiteren baulichen Eingriffen schützt, gleichzeitig aber den Siedlungsraum u. a. durch Freiraum mobilisierende und aufwertende Maßnahmen qualifiziert. Trotz umfassender Bemühungen zur Mobilisierung von Baulandpotenzialen im Bestand bleibt der Flächenverbrauch in Deutschland hoch. Schätzungen gehen davon aus, dass der Brachflächenbestand bundesweit derzeit täglich um mehrere Hektar anwächst – insbesondere in ländlichen Gebieten und strukturschwachen Großstädten.38 Nur etwa 30 % des jährlichen Wohnbaus entstanden in den 1990er-Jahren innerhalb des Siedlungsbereichs, z. B. durch Brachflächenrevitalisierung oder Baulückenschließungen.39 Vorsichtige Schätzungen quantifizieren die inneren Siedlungsreserven jedoch auf über 5 % des Nettowohnbaulandbestands – ein erheblicher Teil davon unmittelbar oder mittelbar marktverfügbar.40 Innenentwicklungsprojekte können allerdings Risiken bergen: nicht erkannte Altlasten, komplexe Akteursstrukturen, schwierige nachbarschaftliche Planungssituationen oder überhöhte Buchwerte von Lie-

genschaften in den Bilanzen von Unternehmen und Banken. Auch entziehen sich Innenentwicklungsprojekte den vertrauten Routinen der Bauleitplanung, die in ihrer Hauptzielrichtung jahrzehntelang auf die Schaffung von Baurechten im Außenbereich fokussiert war.

Leitbilder Die Diskussion zu Leitbildern und Strategien einer flächensparsamen, energieeffizienten und sozial gerechten Stadtentwicklung hat sich im Zuge der globalen Nachhaltigkeitsdebatte der 1990er- und 2000er-Jahre spürbar intensiviert. Im Mittelpunkt steht dabei die kompakte Stadt, deren wesentliche Prinzipien eine höhere Dichte und zentrumsorientierte Entwicklung sowie die Mischung städtebaulicher Nutzungen sind.41 Dichte, Mischung und Kompaktheit gewährleisten – so die Befürworter kompakter Stadtentwicklung – günstige Voraussetzungen für nicht motorisierte Mobilität und den öffentlichen Verkehr und verringern damit die Abhängigkeit von motorisierten Verkehrsmitteln. Vorteile werden zudem in positiven Skaleneffekten bei der Vorhaltung öffentlicher Infrastrukturleistungen, einem geringeren Maß an sozialer Segregation und Exklusion sowie im Schutz von Agrar- und Naturflächen gesehen.42 Die Befürworter kompakter Städte stützen sich auf empirische Forschungsergebnisse, die die verkehrliche Relevanz städtebaulicher Eigenschaften wie Dichte und Mischung nachweisen konnten.43 Unter sonst gleichen Bedingungen gilt, dass mit höherer Dichte, Kompaktheit und Mischung die motorisierte Verkehrsleistung sinkt, während der Anteil des Fußgängerverkehrs und des öffentlichen Verkehrs steigt. In zahlreichen Studien konnte ferner aufgezeigt werden, dass verdichtete innerstädtische Gebiete geringere Pro-Kopf-Kosten der Infrastruktur aufweisen als suburbane und ländliche Gebiete mit niedrigerer Dichte und disperser Siedlungsstruktur.44 Geringe Dichte und damit einhergehende Defizite der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen und Dienstleistungsstandorten ohne eigenen Pkw können schließlich zu sozialen Exklusionseffekten von nicht motorisierten Haushalten führen.45 Demgegenüber stehen kritische Stimmen, die auf negative Begleiterscheinungen höherer städtebaulicher Dichten und Akzeptanzdefizite der Bevölkerung hinweisen.46 Hohe Dichten – so die verbreitete Einschätzung – hätten negative Wir-

39

Bevölkerungsentwicklung

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Wachstum

0

Schrumpfung Zeit

kompakte Stadt

Zersiedelung

Perforation und Auflösung

Abb. 5  Der »Fingerplanen« ist ein regionaler Entwicklungsplan für den Großraum Kopenhagen (DK), der 1947 ­ausgearbeitet wurde. Er ­verhinderte das städtische Wachstum in alle Richtungen und lenkte es stattdessen in »Finger« zwischen den Grünflächen. Abb. 6  von der kompakten zur dispersen und perforierten Stadtstruktur der Zukunft Abb. 7  erstes zertifiziertes Museum in Passivhaus-­ Bauweise, Kunstmuseum Ravensburg (DE) 2013, ­Lederer + Ragnarsdóttir + Oei

Abb. 6

kungen auf die lokale Umwelt- und Lebensqualität, sie entsprächen nicht den mehrheitlichen Wünschen der Bevölkerung nach Wohnformen mit individueller Verfügbarkeit von Freiraum. Darüber hinaus wird in Städten mit starkem Wachstumsdruck auf die Gefahr steigender Bodenpreise und hoher Wohnkosten verwiesen, wenn durch eine restriktive Flächenpolitik ein Mangel an Bauland entstehe.47 Es sei illusorisch, dem Wachstumsdruck der Städte aufgrund von steigendem Wohlstand und Zuwanderung allein durch eine Verdichtung nach innen zu begegnen. Vor diesem Hintergrund wird daher die kompakte Stadt als Leitbild für die schnell wachsenden Me­­ tropolen der Entwicklungs- und Schwellenländer eher kritisch gesehen. In solchen Städten erscheint eine gesteuerte Außenentwicklung als der geeignetere Weg, um den Wachstumsdruck zu bewältigen, ohne prekäre ökologische oder soziale Effekte in Kauf nehmen zu müssen. Ein international viel diskutierter Ansatz ist dabei die punkt­ axiale Entwicklung, die im Englischen meist als Transit-Oriented Development (TOD) bezeichnet wird. Verwiesen sei auf den »Fingerplanen« für die Region Kopenhagen48 (Abb. 5) und die Siedlungsstrukturkonzepte vieler deutscher Regionalpläne. Der Grundgedanke ist dabei, neue Siedlungsgebiete im fußläufigen Einzugsgebiet der Haltepunkte des stadtregionalen öffentlichen Schienenschnellverkehrs zu entwickeln. Neben derartigen axialen Entwicklungskonzepten kann auch die Planung größerer Städte im weiteren Umland der Metropolkerne (new towns) zu deren Entlastung beitragen. In jüngster Vergangenheit orientierten sich diesbezügliche Planungen häufig an ehrgeizigen ökologischen Zielen (eco-cities).49 Eine Evaluation solcher Ansätze erscheint noch verfrüht. Die langfristigen Erfahrungen mit der Planung von New Towns sind indes nicht immer positiv. Häufig konnten die ursprüng-

lichen Planungsideale einer integrierten Standortentwicklung mit ausreichender Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen und Dienstleistungen (selfcontained cities) nicht erreicht werden. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass es kein allgemeingültiges, für alle Städte und großstädtischen Regionen gleichermaßen geeignetes Leitbild geben kann. Während für stagnierende oder sogar schrumpfende Großstädte in Europa die kompakte Stadt als adäquate Antwort gilt, werden die Boomstädte in Asien, Afrika und Lateinamerika auf eine räumlich geordnete Expansionsplanung setzen müssen. Wesentliche Prinzipien der kompakten Stadt wie eine gute Erreichbarkeit durch den öffentlichen Verkehr und eine fußgängerfreundliche Stadtgestaltung (walk­ ability) können aber auch bei der Planung von Entlastungsstädten und suburbanen Siedlungen handlungsleitend sein.  STS

z. B. Angel 2011; 47  ­Bengston  /Youn 2006 48  Vejre et al. 2007 Joss 2010; Joss 2011 49 

Baukultur Stadtumbau und Stadterneuerung können nur nachhaltig sein, wenn die Interventionen nicht als eindimensionale Optimierung eines Teilziels, sondern im Rahmen eines ausgewogenen Gesamtkonzepts durchgeführt werden. Städtebauliche Leitbilder, die nur einen Sektor ins Zentrum stellen (z. B. die autogerechte Stadt), erzeugen in aller Regel Defizite in den anderen Sektoren. Eine nur auf Energieeinsparung fokussierte Stadterneuerung hat schon in den vergangenen Jahren zur Verunstaltung historischer Gebäude, die das Erscheinungsbild von Quartieren prägen, geführt. Der gestalterische Charakter eines Stadtteils trägt – ganz abgesehen von der kulturhistorischen und baugeschichtlichen Bedeutung – zur Identität Abb. 7

40

Kapitel 2 — Herausforderungen

Abb. 8 Dreifamilienhaus im Minergie-P-ECOStandard, Liebefeld (CH) 2006, Halle 58 Architekten Abb. 9  ehemalige Großwäscherei, Darmstadt (DE) Abb. 8

Weitere Informationen

•  Behnisch, Martin; Kretschmer, Odette; Meinel, Gotthard (Hrsg.): Flächeninanspruchnahme in Deutschland. Auf dem Wege zu einem besseren Verständnis der Siedlungs- und Verkehrsflächenentwicklung. Berlin 2018 •  Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raum­ forschung (BBSR): Trends der Siedlungsflächenentwicklung. Status quo und Projektion 2030. BBSR Analysen kompakt 09/2012. Bonn 2012 •  European Environment Agency (EEA): UrbanSprawl in Europe. The Ignored Challenge. EEA Report 10/2006. Kopenhagen 2006 •  OECD (Hrsg.): Rethinking Urban Sprawl. Moving Towards Sustainable Cities. Paris 2018; ­ www.oecd-ilibrary.org/environment/rethinkingurban-sprawl_9789264189881-en •  Nuissl, Henning; Siedentop, Stefan: Landscape Planning for Minimizing Land Consumption. In: Meyers, Robert A. (Hrsg.): Encyclopedia of Sustain­ability Science and Technology. New York et al. 2012, S. 5758–5817 •  Rink, Dieter; Haase, Annegret: Handbuch Stadtkonzepte. Analysen, Diagnosen, Kritiken und Visionen. Stuttgart 2018 •  UN Habitat: State of the World’s Cities 2008/2009. Harmonious Cities. London 2008

eines Quartiers und der Identifikation mit ihm bei (Abb. 7, S. 39). Auch das ist eine Bedingung für Lebensqualität. Baukultur ist ein wesentlicher Be­­standteil der Kultur einer Stadt und ihrer Teilbereiche. Die Ertüchtigung eines Quartiers unter der komplexen Zielvorstellung der Nachhaltigkeit, so wie in diesem Buch dargelegt, muss deshalb u. a. auch dem Kriterium der Gestaltungsqualität genügen und darf nicht zur Zerstörung des baukulturellen Erbes oder zur Aufgabe von Gestaltqualität führen. Das Aufbringen einer aus energetischer Sicht leistungsstarken Außendämmung auf differenzierte, plastisch gegliederte Fassaden der Gründerzeit oder des Jugendstils kann die Zerstörung eines gestaltprägenden und identitätsstiftenden Ensembles bedeuten. Vor einer solchen Maßnahme muss untersucht werden, ob sich nicht mit anderen Mitteln die gleichen Einspareffekte beim Primärenergieverbrauch erzielen lassen. Es könnte in diesem Fall beispielsweise sinnvoller sein, ein kleines Blockheizkraftwerk (BHKW) zu installieren, das Strom erzeugt und mit der Abwärme die Heizenergie sowie die Warmwasserbereitung sichert. Dies hätte einen enormen Einspareffekt an Primärenergie zur Folge, da herkömmliche Kraftwerke ca. zwei Drittel der Primärenergie über ein Kühlsystem an die Umwelt abgeben, diese also noch zusätzlich belasten. In den letzten Jahren wurden auch Erfolg versprechende Versuche mit Innendämmung durchgeführt, sodass man davon ausgehen kann, dass auch auf diesem Weg in Zukunft erhebliche Einspareffekte möglich sind, ohne dabei größere bauphysikalische Probleme wie z. B. Dampfkondensation in der Außenwand zu erzeugen. Voraussetzung dafür sind natürlich eine vorangehende sorgfältige Analyse, Planung und Berechnung. Eine ganz ähnliche Problematik stellt sich bei der Erneuerung von Fenstern. Feingliedrige Fensterrahmen und Fensterteilungen in Bauten der klas-

sischen Moderne gehören ganz wesentlich zum Gestaltkonzept der formal einfachen kubischen Bauten. Diese durch breite Rahmen und großflächige Scheiben zu ersetzen, wie es oft geschehen ist und immer noch geschieht, kann die Anmut dieser Bauten zerstören und in die Banalität versinken lassen. In diesem Fall müssen alternative konstruktive Lösungen gefunden werden. Es könnte beispielsweise sinnvoller sein, mit Doppelfenstern zu arbeiten und in der Fassadenebene die Originalkonstruktion zu erhalten bzw. sie hinsichtlich Materialstärke und Material möglichst originalgetreu zu erneuern. Im Beispiel des Umbaus der ehemaligen Großwäscherei in Darmstadt handelte es sich bei den Fenstern um Einscheibenverglasungen, in sehr feinen T-Stahlprofilen gefasst und sehr kleinteilig gegliedert – ein charakteristisches Merkmal von Industriebauten des 19. Jahrhunderts mit ihrem typischen Fassadenausdruck. Zum Zeitpunkt des Umbaus Ende der 1970er-Jahre gab es jedoch noch keinerlei thermisch getrennte Metallprofile für Fenster. Eine feinteilige Metallfassade als Rekonstruktion der Industriebaufassade mit einer thermischen Verbesserung schien unter den finanziellen Bedingungen der Eigentümer unmöglich zu sein, eine großflächige Doppelfensteranlage ebenfalls. Deshalb wurden damals Holzfenster mit einer kleinteiligen Gliederung eingebaut, die jedoch nicht dem Fabrikcharakter der alten Anlage entsprechen (Abb. 9). Unter heutigen Bedingungen würde die Aufgabe möglicherweise anders gelöst werden – in ästhetischer Hinsicht wahrscheinlich befriedigender. Hier zeigt sich einmal mehr, dass Konzepte eben immer auch von den jeweiligen ökonomischen, technischen und sozialen Randbedingungen abhängig sind. Auch auf anderen Gebieten der Stadtplanung muss das Prinzip der vieldimensionalen Betrachtung und der Integration unterschiedlichster

41

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Bereiche eingehalten werden, wobei Gestaltqualität und Baukultur immer Berücksichtigung finden sollten. Beim Rückbau von für den Autoverkehr optimierten Straßen zu verkehrsberuhigten oder Shared-Space-Zonen ist es beispielsweise erforderlich, das historische Profil der Straße, den Rhythmus der Bebauung und die Grundprinzipien der Raum bildenden Baustruktur zu reflektieren und in die Konzeptionsfindung einzubeziehen. Selbstverständlich müssen auch Überlegungen z. B. zur Aufenthaltsqualität, Verbesserung des Stadtklimas, Artenanreicherung und Entsiegelung von Oberflächen einfließen. Der Umbau darf eben nicht ausschließlich unter Verkehrsaspekten nach zeitgemäßen Vorstellungen erfolgen.

Technischer Fortschritt In die Forschung zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur Energieeinsparung wurde bisher – dies gilt es zu bedenken –, verglichen mit den Forschungsmitteln, die einst in die Nuklearindustrie gesteckt wurden, noch recht wenig investiert. Wir sind heute dennoch in der Lage, Passiv- oder gar Plusenergiehäuser zu bauen (Abb. 8). Gerade aber bei der energetischen Ertüchtigung des enormen Bestands fehlt es noch an der Entwicklung wichtiger Bauteile, Komponenten und Systeme, die auch gestalterischen Anforderungen gerecht werden – oder aber die Kosten für solche Elemente sind noch sehr hoch. Findet sich für eine gegebene Aufgabe zurzeit noch keine angemessene Lösung, so kann es durchaus sinnvoll sein, zu warten und zu überprüfen, ob nicht Weiterentwicklungen (z. B. Innendämmung) eine gute Lösung sein können. Das Beispiel der Abwägung von Außendämmung oder BHKW zeigt, dass es sinnvoll und notwendig ist, stets Alternativen zu entwickeln und dabei kreativ in verschiedenen Sektoren und Dimensionen zu denken, also sich nicht von vorneherein nur auf das Ziel der Verbesserung des Wärmedurchgangskoeffizienten (U-Wert) der Außenwand festzulegen. Neue technische, aber auch organisatorische oder andere Lösungen können sich abzeichnen, und es kann sogar sinnvoll sein, eine Maßnahme vorübergehend zurückzustellen, da es einfach noch keine wirklich überzeugende Lösung gibt. Von entscheidender Bedeutung wird es zukünftig

sein, nicht mehr einzelne Gebäude als Projekt zu betrachten, sondern Quartiere, Stadtteile und ganze Städte wieder als ein System zu verstehen. Dementsprechend sind auch die Herausforderungen des einzelnen Gebäudes meist durch Quartiersansätze einfacher und effektiver zu lösen. So kann beispielsweise ein neu errichtetes Plus­ energiegebäude sein benachbartes, unter Denkmalschutz stehendes historisches Anwesen mit regenerativer und lokaler Energie versorgen und damit zu einer ausgeglichenen Quartiersbilanz beitragen. Die Komplexität der Anforderungen steigt dabei ständig. Smart Grids und der mit zunehmender Geschwindigkeit fortschreitende Technologiewandel werden hier neue Perspektiven eröffnen. Besonders wichtig ist es jedoch, in Prozessen und nicht in abgeschlossenen und perfekten Lösungen zu denken. Eine Stadt, ein Quartier und auch ein Gebäude sind immer im Wandel. Menschen, Gebäude, Bäume – alles wird älter, Neues kommt hinzu. Stadt und Quartier sind niemals fertig. Gebäude, Straßen und öffentliche Freiräume werden erweitert, umgebaut, müssen erneuert und neuen Anforderungen und Bedürfnissen angepasst werden. So wird heute unter dem Schlagwort »Resilienz« verstärkt darüber diskutiert, wie Gebäude oder ganze Städte aufgebaut sein müssen, um auf Änderungen der äußeren Rahmenbedingungen flexibel reagieren zu können. Ein Beispiel hierfür stellen etwa unter der Straße liegende begehbare Infrastrukturkanäle dar, die es ermöglichen, neue Rohre und Leitungen ohne großen Aufwand zu installieren. Die Umrüstung auf Nachhaltigkeit ist ebenfalls als ein Prozess zu sehen, bei dem Maßnahmen in unterschiedlichen Zyklen erfolgen. Dabei muss immer auch über den zu erwartenden technischen Wandel nachgedacht werden. Feinstaub und Lärmprobleme, die ganz wesentlich durch den motorisierten Individualverkehr verursacht werden, sind heute von dringlicher Relevanz, da sie die Wohn- und Lebensbedingungen im Quartier unerträglich machen und gesundheitliche Probleme verursachen können. Deshalb mag der Einbau von Lärmschutzfenstern vielerorts unerlässlich und gesetzlich geboten sein. Elektromobilität könnte diese Problematik aber in absehbarer Zeit lösen. Vielleicht kann hierauf jedoch erst beim nächsten Zyklus der Fenstererneuerung reagiert und dann auf Lärmschutzfenster verzichtet werden. Wichtig ist es, über die zukünftige Reversibilität von Maßnahmen und den damit verbundenen Aufwand nachzudenken – z. B. recyclingfähige Lärmschutzwände.  HB

Abb. 9

Ehemalige industrielle Großwäscherei

Die Anlage in Darmstadt aus dem späten 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde 1978 von einer Eigentümergemeinschaft gekauft, die zuvor als studentische Mieter die Anlage zum Wohnen und Arbeiten genutzt und zu Maisonette-Eigentumswohnungen sowie Büros umgebaut und teilrenoviert hatten. 2010 wurden erhebliche Renovierungsarbeiten erforderlich, da Dächer undicht waren und Fenster erneuert werden mussten. Bei einem kleineren Teil der ehemaligen Großwäscherei ließ sich mit außen liegender Wärmedämmung der U-Wert der gemauerten Außenwände erheblich verbessern. Zuvor war überprüft worden, inwieweit es insbesondere an den Anschlusspunkten zu anderen Bauteilen, die nicht gedämmt werden konnten, zu Kondensatbildung kommen könnte. Teile der Dachhaut wurden völlig neu mit einer Dämmung zwischen und Holzweichfaserplatten auf den Sparren aufgebaut. Den größeren Teil der Anlage prägt jedoch Sichtmauerwerk, das noch im alten Reichsformat ge­­ mauert wurde. Kein Mitglied der Eigentümergemeinschaft konnte sich vorstellen, diese Sichtmauerwerkfassaden nun mit Wärmedämmung zu bekleiden. Der Mauerziegelbau mit einem hohen Schornstein ist ein Quartiersmerkmal und ein wichtiges Element des ehemals dörflichen, sozialund nutzungsgemischten Stadtteils. Nach längeren Beratungen und der Einholung von Fachgutachten wurde entschieden, stattdessen ein mit Naturgas be­­triebenes BHKW zu installieren, das Strom er­­ zeugt und mit der Abwärme Heizung und Warmwasserbereitung speist. Nach dessen erfolgreicher Implementierung wurde dann nach einigen Jahren ein zweites BHKW eingebaut. Positiver Nebeneffekt dieser Maßnahme war die Gründung einer von den Eigentümern getragenen Energiefirma, was zur sozialen Kohärenz der Nachbarschaft beitragen kann. Der im BHKW erzeugte Strom wird in das Netz gemäß dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) einspeist und in der Bilanz einer alternativen Gesellschaft im südlichen Schwarzwald, die seit Langem die regenerative und lokale Strom­ erzeugung fördert, als Ökostrom zugerechnet.

42

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Handlungsfeld ­Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung Helmut Bott, Ste fan Siedentop

A

ufgabe der Stadtplanung ist einerseits die Entwicklung des gestaltgebenden Entwurfs, andererseits die integrierende Organisation des komplexen Planungsverfahrens und dessen Moderation. Gerade im Laufe der letzten Jahrzehnte müssen immer mehr fachwissenschaftliche und technische Teiluntersuchungen und sektorale Fachplanungen einbezogen werden, die es untereinander abzuwägen gilt. Während bei der Entstehung und Abstimmung des Planungsprogramms zunächst die politische Willensbildung und die Beteiligung der Öffentlichkeit im Vordergrund des Prozesses stehen, ist es bei den weiteren Schritten wichtig, möglichst frühzeitig alle Fachplaner (Landschaftsplanung, Verkehr, Wasserwirtschaft, Energieversorgung etc.) in den Entwurfs- und Planungsprozess zu integrieren. Stadtplanung findet auf den unterschiedlichsten Maßstabs- und Hierarchieebenen statt – von der Stadtentwicklungsplanung bis zum Entwurf kleiner Ensembles. Dabei dominiert in der deutschen Gesetzgebung, basierend auf dem Grundgesetz, parteiübergreifend die Auffassung, dass die gestaltende Planung der räumlichen Entwicklung des Gemeinwesens demokratisch, d. h. durch die Bürger und deren Repräsentanten in den Parlamenten, legitimiert sein muss. Die gestaltende Planung darf nicht allein der Marktentwicklung, also den oft kurzfristigen Interessen einzelner Investoren, überlassen bleiben. Es gilt vielmehr das im Baugesetzbuch (BauGB) in § 1 Abs. 7 definierte Abwägungsgebot: »(7) Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen.« In § 1 Abs. 5 wird die nachhaltige städtebauliche Entwicklung gefordert: »(5) Die Bauleitpläne sol-

len eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln sowie den Klimaschutz und die Klimaanpassung, insbesondere auch in der Stadtentwicklung, zu fördern, sowie die städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln.« Die Gemeinden müssen zwar die übergeordneten Planungen der Landes- und Regionalplanung berücksichtigen, sind darüber hinaus jedoch im Rahmen der Gesetze in ihren Planungsentscheidungen frei. Diese kommunale Planungsautonomie ist ein hohes Gut der deutschen Verfassung, das aus historischen Traditionen und Erfahrungen resultiert und keineswegs selbstverständlich ist. In sehr vielen Staaten werden Planungen in zentralen Institutionen erarbeitet und/oder von zentralen Behörden gesteuert bzw. kontrolliert; in anderen Staaten wiederum dominieren die Interessen der Projektentwickler und des Immobilienmarkts die Planungen.  HB

Nachhaltige Stadt- bzw. Regionsmodelle In Wissenschaft und Politik herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Standortentscheidungen von Haushalten und Unternehmen, die sich nur

43

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

gebietsscharfe Darstellung Entwicklungsachse des Landesentwicklungsplans 1983 regionale Entwicklungsachse Siedlungsbereiche der Entwicklungsachse Abb. 1

über Marktmechanismen ergeben, eine nachhaltige Entwicklung von Städten allein nicht gewährleisten können. Die Steuerung von städtischen Wachstums- oder Schrumpfungsprozessen durch Instrumente der Stadt- und Regionalplanung gilt als wesentliche Voraussetzung für eine ökonomisch effiziente, ökologisch verantwortbare und sozial gerechte Stadt- und Regionalentwicklung. Mit dem Verweis auf das Leitbild der kompakten Stadt wurden bereits wichtige Ziele raumplanerischer Steuerung und Gestaltung erörtert (siehe Leitbilder, S. 38). Von zentraler Bedeutung ist es dabei, den andauernden Flächenverbrauch einzudämmen, fußgänger- und ÖPNV-freundliche Stadträume zu erhalten und zu fördern sowie ökologisch sensible Flächen zu schützen. Darüber hinaus besteht ein Konsens, dass die Koordination der kommunalen Entwicklungsplanungen auf regionaler Ebene (Regional Governance) für eine effektive Wachstumssteuerung unerlässlich ist.1 Neben konventionellen hierarchischen Steuerungsmechanismen kommt dabei der Aktivierung und Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in Form von kooperativen, informellen Politikformen vermehrte Bedeutung zu.2 Auch wenn die Bezeichnungen international variieren – häufig anzutreffen sind Growth Management3 und Smart Growth4 –, erweisen sich die Kerninhalte wachstumssteuernder Politikinstrumente meist als sehr ähnlich. Ziel ist es, dem Wachstum der bebauten Stadtfläche Grenzen zu setzen (Urban Containment) und die Erschließung neuer Baugebiete auf die aus raumplanerischer Sicht geeigneten Standorte zu lenken. In Deutschland sind die Regional- und Flächennutzungsplanung die wichtigsten Planungsebenen, während in anderen Ländern auch staatliche Institutionen maßgeblich an der Entwicklungssteuerung beteiligt sind. In den USA haben beispielsweise die State-Growth-Management-Programme häufig direkte Steuerungsrelevanz,5 in England nimmt

Oberzentrum Mittelzentrum Unterzentrum bzw. ­Kleinzentrum Grenze des Mittelbereichs

Abb. 2

der Staat mit inhaltlichen Vorgaben unmittelbaren Einfluss auf das lokale Planungshandeln (Planning Policy Guidance).6 In Bezug auf den Einsatz wachstumssteuernder Instrumente kann eine grobe Kategorisierung nach der Art ihrer prinzipiellen Wirkungsweise vorgenommen werden (Abb. 3, S. 44).7 Mit positivplanerischen Instrumenten wird die Ausweisung von Bauland für Siedlungszwecke unmittelbar gesteuert. Dies kann die mengenmäßige Regulierung der Flächenausweisung der Kommunen wie auch Vorgaben zur Standortwahl beinhalten. In Deutschland zählen die Ausweisung von zentralen Orten und Siedlungsachsen verbunden mit der Maßgabe einer Konzentration der Siedlungsentwicklung auf höherrangige Zentren und ÖPNV-erschlossene Achsenräume zu den wichtigsten Instrumenten der Positivplanung (Abb. 2). In einigen Regionalplänen werden da­­ rüber hinaus quantifizierte Ziel- oder Orientierungswerte für die maximale Wohnbautätigkeit oder Baulandausweisung auf gemeindlicher Ebene formuliert. Dies betrifft meistens kleine, ländlich geprägte Gemeinden, deren Wachstum über die Nachfrage der örtlichen Bevölkerung und Gewerbetreibenden hinaus (Eigenentwicklung) als nicht wünschenswert betrachtet wird. Zahlreiche Regio­ nalpläne benennen zudem Mindestdichten, an denen sich die kommunale Bauleitplanung orientieren soll. Dichtekonzepte finden sich aber auch in der kommunalen Flächennutzungsplanung (z. B. in Berlin). Negativplanerische Steuerung zielt demgegenüber darauf ab, bestimmte Gebiete vor einer baulichen Nutzung zu schützen. Hierbei kann es sich um Funktionsflächen für den Biotop- und Artenschutz, aufgrund von Grundwasservorkommen zu schützende Gebiete, Agrar- und Forstflächen oder mi­­ kroklimatisch wirksame Flächen handeln. Die wichtigsten Instrumente sind planerisch definierte Siedlungsgrenzen (urban growth boundaries),

Abb. 1  Grünzüge im Regionalplan Stuttgart 2009 Abb. 2  Wohnbaustandorte im Regionalplan Stuttgart 2009

1  Einig 2003 2  Benz 2005 3 Landis 2006; Carruthers 2002 4 Ye et al. 2005; Downs 2005 5 Carruthers 2002 6 Ganser / Williams 2007 7 Einig 2005; Siedentop 2012

44

Kapitel 2 — Handlungsfelder

positivplanerische Instrumente

negativplanerische Instrumente

Vorranggebiet für ­Siedlungsentwicklung (Wohnen)

Die betreffenden Flächen stellen priorisierte Gebiete für die Neuausweisung von Bauland (z. B. Wohnbauland) dar. Innerhalb des Gebiets sind keine ­Nutzungen zulässig, die einer späteren Wohnnutzung zuwiderlaufen.

Mengenwerte für die ­Baulandausweisung

In Gemeinden ohne ausreichende Erwerbsbasis und Infrastrukturver­ sorgung soll sich die Baulandaus­ weisung am Bedarf der örtlichen ­Bevölkerung ­orientieren (»Eigenent­ wicklung«). Den betreffen­den Gemeinden werden maximale Wohnungsbauoder Bauland­ausweisunskontingente als Orientierungs- oder Richtwerte ­vorgegeben.

Mindestdichten

Für bestimmte Gemeindetypen (z. B. ­orientiert am »Zentrale Orte System«) werden ­Mindestdichten bei der Erschließung von Bauland angegeben. Die Werte haben meist nur orientierende Funktion und sind als Wohneinheiten je Hektar oder Einwoher je Hektar angegeben.

regionale Grünzüge

Regionale Grünzüge sind zusammenhängende Freiraumflächen, in denen bauliche Vorhaben in der Regel unzu­ lässig sind. Grünzüge beanspruchen im Vergleich zu Vorranggebieten multifunktionalen Freiraumschutz, da nicht eine einzelne Umweltfunktion den Schutzanspruch begründet.

Grünzäsuren

Grünzäsuren sind gliedernde Freiraumflächen in unmittelbarer Randlage zu hochverdichteten Siedlungsräumen. Sie sollen ein Zusammenwachsen benachbarter Siedlungsflächen verhindern und wichtige Umweltfunktionen schützen.

Vorranggebiete für ­Freiraumfunktionen

In Vorranggebieten wird eine definierte Freiraumfunktion vor Beeinträchtigungen durch bauliche Vorhaben geschützt. Neben Vorranggebieten für Natur und Landschaft wird dieses Instrument auch für den Schutz von Wasserressourcen, Agrarflächen, klimatisch wirksamen ­Ausgleichsflächen und abbauwürdigen Bodenschätzen eingesetzt.

Abb. 3

 8 Bengston et al. 2004  9 Domhardt et al. 2006 10 Bock et al. 2011; Innenministerium SchleswigHolstein 2011; Bragado et al. 2001 11 Distelkamp et al. 2011 mit weiteren Nachweisen 12 Pendall et al. 2002; Dawkins  /Nelson 2002; Landis 2006; Pfeiffer 2005 13 Downs 2001 14 Steinacker 2003 15 Korthals Altes 2006; ­Levine 1999 16 Dawkins  /Nelson 2002 17 Aring 2005 18 Pendall et al. 2002; Dawkins /Nelson 2002 19 Landis 2006 20 Nelson et al. 2002

regionale Grünzüge (Green Belts) und umweltfunktionale Vorrang- und Schutzgebiete. Dabei kommen z. B. in den USA8 und in Deutschland9 unterschiedliche Instrumente zum Einsatz. Siedlungsgrenzen definieren die maximale Ausdehnung des bebauten Stadtraums. Sie umgrenzen den entwickelten Siedlungsraum einer Stadt, schließen dabei aber auch Freiräume als zukünftige (bauliche) Entwicklungsflächen ein. Grünzüge sind dagegen abgegrenzte Freiraumflächen in städtischer Randlage mit hohem Siedlungsdruck, in denen jegliche bauliche Aktivitäten unzulässig sind (Abb. 1, S. 43). Ausnahmen betreffen lediglich bauliche Vorhaben mit explizitem Freiraumbezug, wie z. B. Bauten der Landwirtschaft, der Freizeitoder der Energiewirtschaft. Negativplanung findet sich auch auf kommunaler Ebene, wenn z. B. bestimmte Freiraumflächen aus städtebaulichen Gründen und/oder aufgrund von Anliegen des Natur- oder Immissionsschutzes im Flächennutzungsplan als Erholungs-, Naturschutz- oder Immissionsschutzfläche dargestellt werden. In der Stadtplanung rückt die Innenentwicklung zur Begrenzung des Flächenverbrauchs verstärkt ins Blickfeld (siehe Innenentwicklung, S. 38).10 Immer mehr Kommunen versuchen, ihre zum Teil erheblichen inneren Flächenreserven zu aktivieren. Neben der Nutzung von Baulücken kommt Brach- und Konversionsflächen dabei eine hervorgehobene Bedeutung zu. Die Nachverdichtung in bestehenden Siedlungsgebieten ist dagegen aufgrund von Akzeptanzproblemen eher nachrangig. Natürlich sind wachstumssteuernde Planungen in ihrer Effektivität umstritten.11 Mehrheitlich wird dabei die Meinung vertreten, dass

raumplanerische Wachstumsbeschränkungen zu höheren Bauland- und Hauspreisen sowie Mieten führen können.12 Dies gilt vor allem dann, wenn solche Strategien in Gebieten mit wirtschaftlichem Wachstum und hohen Einkommen verfolgt werden.13 Eine Politik der Baulandverknappung führt nachweislich zu höheren Dichten im Neubau und einer Konzentration des Neubaus in Kern- und Innenstädten,14 in bestimmten Fällen aber auch zu einer geringeren regionalen Neubautätigkeit.15 Zudem können Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen infolge steigender Mieten von einer derartigen Politik negativ betroffen sein. Allerdings wird darauf verwiesen, dass noch weitere Faktoren preissteigernde Effekte zur Folge haben können, deren Wirksamkeit sogar größer sein kann als die planerisch erwirkte Verknappung der Baulandverfügbarkeit.16 Genannt werden u. a. die Zahlungsbereitschaft für Wohneigentum oder Mieten, die wiederum stark vom Einkommen abhängig ist, sowie die von den Eigentümern erwarteten Preise.17 Verschiedene Quellen weisen darauf hin, dass die Preissteigerungen beim Bauland vor allem von der Art und Weise abhängen, wie wachstumsbegrenzende Instrumente implementiert werden.18 Es komme nur dann zu einer Preissteigerung, wenn durch Maßnahmen des Wachstumsmanagements eine wirkliche Verknappung – gemessen an der tatsächlichen Nachfrage – entstehe.19 Außerdem können in höher verdichteten Siedlungsgebieten steigende Immobilienpreise, verursacht durch Wachstumsmanagement, durch niedrigere Fahrt- und Energiekosten, besser erreichbare Arbeitsplätze, Infrastruktur und Dienstleistungen kompensiert werden.20

45

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Quartiersplanung Emissionen

Energie

uliche Q teba ua äd Mensch, Soziokultur

Mobilität

Arten-/ Biotopschutz Stadtteilklima

Wasser-/ Bodenschutz Stoffströme

Städtebauliche Qualität Zur Schaffung eines gelungenen Quartiers bedarf es eines sehr guten städtebaulichen Entwurfs, in dem durchdachte Abfolgen öffentlicher Freiräume (Straßen- und Platzräume, Gärten und Parks), Regel- und Sonderbausteine und charakteris­ tischer Bauensembles ebenso wie Grünzüge, Gewässer und Topografie in einen spannungsvollen räumlichen Gesamtzusammenhang eingebunden sind. Alle Einzelaspekte wie Energie- und Wassersysteme, die Beachtung von Stoffkreisläufen oder die Sicherstellung von Artenvielfalt auch im Siedlungsgebiet müssen in diesen Entwurf integrierbar sein. Das heißt, alle diese Disziplinen sollten schon im frühen Stadium ihren Input, ihre Forderungen und die Bedingungen für die Umsetzung ihrer Teilziele in den Entwurfs- und Planungsprozess einbringen. Aber ein schlechter städtebaulicher Entwurf wird auch durch das gewissenhafte Abarbeiten aller Teilaspekte nicht zu einem guten. Ein nachhaltiges Quartier muss zuallererst auch ein städtebaulich gelungenes Quartier sein. Es muss nicht alles »schön« sein, und vor allem ist es nicht nötig, dass es viele formal aufwendige und auffällige Gebäude aufweist. Gerade die architektonische Qualität gelungener, sich einfügender Bauten bildet eine gute Voraussetzung dafür, dass ein eigener urbaner Charakter entstehen kann, denn eine gewisse Grundordnung, erzeugt durch sogenannte Regelbausteine, bildet die Grundlage für die Entwicklung eines Quartiers. Durch die Aneinanderreihung extrem individualistischer Bauten mit höchst unterschiedlichen Materialien, Farben und Gebäudehöhen formt sich nur schwerlich ein Zusammenhang, eine wiedererkennbare Baustruktur. Und schließlich gilt: Erst vor dem Hinter­grund der Regelbausteine fallen Sonderbauten – heute oft modisch »Iconic Architecture« genannt – auf.

Planung, Prozesse

Ökonomie

st

Nachhaltige Quartiersplanung bedeutet zuallererst das Entwerfen und Realisieren funktionierender Stadträume mit hoher Aufenthaltsqualität und guten, anpassungsfähigen Baustrukturen. Selbst bei Beachtung aller in diesem Buch zusammengestellten Ziele und Maßnahmen, die im Kapitel »Handlungsfelder« von den einzelnen Wissenschaften und Planungsdisziplinen beschrieben werden (Abb. 4), entsteht allerdings keineswegs automatisch ein gutes Quartier.

t litä

Bei wachstumsbegrenzendem Eingreifen auf lokaler oder regionaler Ebene besteht die Gefahr von Ausweichreaktionen zugunsten entfernter Räume.21 Instrumente wie lokale Wachstumsmoratorien, Wachstumsgrenzen (Urban Growth Boundaries) oder regionale Grünzüge können – bei zu enger Bemessung des im Kernbereich der Stadtregion marktverfügbaren Baulands – Haushalte und Unternehmen auf periphere Standorte in verkehrsungünstiger Lage verdrängen, was zur Zunahme sowohl von Verkehrs- als auch Siedlungsflächen beitragen kann.22 Hieraus leitet sich die Schlussfolgerung ab, dass wachstumsbegrenzende Planungen bei Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum stets von positivplanerischen Instrumenten begleitet sein sollten. Die Siedlungsexpansion im Umland der Städte strikt zu beschränken, ist nur dann zu verantworten, wenn die Verfügbarkeit von anderen entwicklungsgeeigneten Flächen, z. B. im Rahmen der kernstädtischen Innenentwicklung, gewährleistet ist. Die Akteure der Stadt- und Regionalplanung sollten mit geeigneten Monitoring-Systemen die Marktverfügbarkeit von Flächen und etwaige Preisreaktionen infolge der Verknappung von Bauland kontinuierlich überwachen. In Deutschland wird die Effektivität der raumplanerischen Wachstumssteuerung insgesamt als gering oder allenfalls moderat eingeschätzt.23 Die geltenden flächen- und bodenschützenden Normen des Planungsrechts gelten unter den gegenwärtigen bodenrechtlichen und bodenökonomischen Bedingungen als nicht ausreichend, um zu einer stärkeren Eindämmung des Flächenverbrauchs beizutragen. Als zu übermächtig erweisen sich die ökonomischen Anreize für eine bauliche Bodennutzung, zu schwach erscheinen hingegen die Gegenkräfte der räumlichen Planung auf ­überörtlicher und örtlicher Ebene.24 Das kommunale Steuerrecht belohnt das Wachstum einer Ge­­meinde mit höheren Einnahmen und Zuweisungen.25 Ein Wachstumsverzicht wird meistens mit der (vermeintlichen) Folge eines rückläufigen Einnahmen- und Steueraufkommens gleichgesetzt. Restriktive Steuerungsbemühungen der Regionalplanung stoßen daher meist auf starken Widerstand der Kommunalpolitik. Darüber hinaus hat die in den vergangenen Jahren in vielen Bundesländern verfolgte Kommunalisierung der Regionalplanung deren Verbindlichkeit ge­­ schwächt. Vor diesem Hintergrund wird seit einigen Jahren über die Ergänzung des raumplanerischen In­­ strumentariums durch ökonomische Anreize diskutiert.26  STS

Abb. 4

Abb. 3  ausgewählte positivund negativplanerische ­Instrumente der Regional­ planung zur Steuerung der Siedlungsentwicklung Abb. 4  Grundlagen einer nachhaltigen Quartiersplanung sind eine hohe städtebauliche Qualität und die Fokussierung auf den Menschen. Ergänzend sind weitere Themen wie Energie, Wasser und Mobilität bei der Planung zu berücksichtigen und zu einem integralen Gesamtkonzept zu verbinden.

21 Ogura 2010; Levine 1999 22 Jun 2004; Bae /Jun 2003 23 Siedentop 2012; Einig et al. 2011 24 Einig  /Siedentop 2005 25 Schiller/Gutsche 2009; Preuß 2009 26 Krumm 2004; Bizer et al. 2011

46

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Abb. 5  Stadtcollage von Collin Rowe/Fred Koetter Abb. 6  dichte Blockstrukturen am Beispiel von Paris (FR) Abb. 7  unterschiedliche Dichte in verschiedenen städtebaulichen Strukturen mit gleich vielen Wohneinheiten Abb. 5

27 Rowe  /Kötter 1978 28  Lynch 2001 29 Bott 2000; Bott 2004

Abb. 6

Der Quartierscharakter entsteht auf mehreren Ebenen – städtebaulich-physisch, sozioökonomisch und symbolisch. Dabei konstituiert die baulich-räumliche Struktur das Grundgerüst, auf dem sich ein ausgeprägter Quartierscharakter entwickeln kann. Die heutigen Städte sind in der Regel viel zu groß, um sie als Ganzes, als Einheit zu erleben. Sie fügen sich aus unterschiedlichsten Teilen verschiedener Epochen der Stadtentwicklung zusammen, die im günstigen Fall lebendige Stadtquartiere mit starkem Eigenleben und ausgeprägter Identität bilden. Insbesondere die europäische Stadt kann man als »Collage City« verstehen (Abb. 5)27 – eine Collage bestehend aus heterogenen, identifizierbaren Elementen verschiedener Materialität und Farbe, die sich zu einer gestalteten, neuen Einheit mit innerer Vielfalt zusammenfügen. Begreift man ein Quartier in seiner städtebaulich-physischen Dimension als ein solches Element der Collage Gesamtstadt, setzt man es einerseits in gestalterische Beziehung zu den Nachbarquartieren und zur ganzen Stadt, gesteht ihm jedoch andererseits eine gewisse Eigenständigkeit zu, fordert sogar die Identifizierbarkeit und den Unterschied zu den anderen Quartieren. Erst das ermöglicht die Wiedererkennung. Unabhängig von der Qualität der Stadträume und der Baustrukturen kann die städtebauliche Gestaltung durch geeignete Konzepte dazu beitragen, dass sich ein Quartierscharakter bildet: In den Kategorien Lynchs beschrieben (siehe Das Quartier, S. 21ff.), sind Grenzlinien – und als Teil davon Eingangssituationen –, charakteristische Wege, Brennpunkte, Merkzeichen und erlebbare Bereiche mit einer gewissen inneren Kohärenz in der Lage, durch ihre räumliche Erlebbarkeit einen Stadtquartierscharakter entstehen zu lassen und/ oder zu festigen.28 Bauten, bauliche Objekte und Stadträume können auch zu Symbolen werden, die das Quartier repräsentieren.

Dichte Dichte ist in mehrfacher Hinsicht ein notwendiges Kriterium der Nachhaltigkeit, wie bereits an­­ gesprochen. Sie wird als Baudichte (in der Baunutzungsverordnung – BauNVO § 16 »Maß der baulichen Nutzung«) mit den Angaben Grundflächenzahl (GRZ), Geschossflächenzahl (GFZ) und Geschosszahl gemessen (Abb. 7). Um eine Stadt der kurzen Wege zu planen, in der sich ein Großteil der Besorgungen zu Fuß oder per Rad erledigen lässt, ist Dichte eine der Grundvoraussetzungen: Höhere Siedlungsdichte bedeutet höhere Nach­ fragedichte von Produkten und Dienstleistungen pro Hektar und bietet dadurch die Chance eines engeren Besatzes mit Geschäften und Dienstleistungsunternehmen, mit Kindergärten und Schulen sowie sonstigen Versorgungseinrichtungen. Natürlich spielen dabei die Größe der Wohneinheiten und die Belegungsdichte eine wichtige Rolle. Bei hoher baulichen Dichte, jedoch extrem großen Wohneinheiten und sehr kleinen Haushaltsgrößen kann kaum ein lebendiges Quartier entstehen. Eine größere Dichte, auch Bewohnerdichte, trägt selbstverständlich auch zur Belebung des öffentlichen Raums bei, was wiederum eine positive Rückkoppelung auf das Dienstleistungsangebot (Cafés, Bars, Restaurants, Geschäfte) bewirkt. Andere Menschen in der städtischen Öffentlichkeit zu beobachten, mit ihnen Blickkontakt aufzunehmen und in nonverbale Kommunikation zu treten sowie umgekehrt die Reaktion auf das eigene Verhalten wahrzunehmen, ist immer noch eine der spannendsten Aktivtäten in der Stadtgesellschaft – trotz und gerade wegen der wachsenden Bedeutung der Medien. In jüngster Zeit scheint allerdings die permanente Beachtung der sozialen Medien oft wichtiger zu sein als die Beobachtung des sozialen Umfelds im Stadtraum. Bisher ließ sich der »urbane Rückkoppelungseffekt« beobachten:29 Belebte Straßen und Plätze ziehen Passanten und Beobachter an, wodurch

47

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Ökologie Kultur

Ökologie Flächeneffizienz

soziales Umfeld

Nutzungsmischung

Typologie Block mittlere Versiegelung 60 Wohneinheiten/ha

Typologie Reihenhaus hohe Versiegelung 60 Wohneinheiten/ha

Typologie Hochhaus geringe Versiegelung 60 Wohneinheiten/ha

Individualität

Kultur

Ökologie Flächeneffizienz

soziales Umfeld

Nutzungsmischung Individualität

Kultur

Flächeneffizienz

soziales Umfeld

Nutzungsmischung Individualität

Abb. 7

sie noch belebter werden. Gerade bei Jugendlichen ist die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit ausgeprägt und ein wichtiger Bestandteil der Sozialisation und der Identitätsbildung. Das Bedürfnis zur Selbstdarstellung befriedigen nur belebte Orte, in einem verödeten Stadtteil ohne Passanten ist das nicht möglich. Lebendige Quartiere bieten die Chance der sozialen Einbindung, was nicht automatisch als Folge der hohen Frequenzzahlen erreicht wird, sondern zusätzlich der Erfüllung weiterer, auch individueller Bedingungen (Bereitschaft und persönliche Offenheit zur Kommunikation) bedarf. Sie ermöglichen aber auch eine angemessene soziale Kontrolle, die die Intimität der engen Nachbarschaft ebenso wenig bieten kann wie die leere Anonymität (Abb. 8 und 9, S. 48). Inwieweit der öffentliche Raum durch die sozialen Medien diese Bedeutung nachhaltig verlieren wird, bleibt abzuwarten.

Dichte und Funktions­ mischung Bauliche Dichte allein bietet keineswegs die Garantie für die Entstehung eines lebendigen Stadtquartiers, wie die Probleme der Stadtrandsiedlungen aus den 1960er- und 1970er-Jahren mit dem städtebaulichen Leitbild der Urbanität durch Dichte gezeigt haben. Wenn ein Quartier keinen attraktiven öffentlichen Raum bietet, keine Nutzungen in Verbindung mit zum Verweilen einladenden öffentlichen Aufenthaltsräumen zur Verfügung stellt und die alltäglichen Wege und Aktivitäten des sozialen Lebens nicht in den öffentlichen Raum eingebunden sind, so kann kein belebtes Quartier entstehen. Dies zeigt sich beispielsweise bei vielen extrem verdichteten Wohnsiedlungen in China, in denen aus eben diesen Gründen nicht einmal die Spielplätze und kleinen Parks in der Nachbarschaft frequentiert

werden, sofern sie nicht in den sozialen Lebenszusammenhang, die alltäglichen Wege der Be­­ wohner eingebunden sind.30 »A city is not a tree«, schrieb der US-ameri­ka­ nische Architekt und Architekturtheoretiker ­Christopher Alexander bereits 196531 , womit er ausdrücken wollte, dass es nicht möglich ist, städtisches Leben hierarchisch-funktional zu organisieren – vom Stamm über die Hauptäste zu den feinen Ästen bis hin zum letzten Blatt. Eine Straße in einer Stadt ist nicht nur ein Raum für Transport, von dem man die Aufenthaltsfunktion, seine soziale Funktion und seine Gestaltungsdimension abkoppeln darf. Eine Stadtstraße ist genau das Gegenteil dessen, was der funktionalistische Städtebau propagierte. Städtisches Leben und Stadtkultur im Allgemeinen entstehen gerade aus der Überlagerung und Durchdringung vielfältiger Aktivitäten und Funktionen und nicht aus deren feinsäuberlicher Trennung und Sortierung (Abb. 10, S. 48). Dies betrifft alle Lebensbereiche. Die Stadtbewohner sind nicht entweder Beschäftigte oder Verbraucher, Fußgänger oder Autofahrer, Anwohner oder Passanten, Kunden von Imbissbuden oder Restaurantgäste, Teilnehmer an einem lauten Event oder stille Hörer eines Kammerorchesters. Eine Pkw-Fahrt ist oft nicht nur eine Pkw-Fahrt, sondern mit einem Fußweg von und zum Parkplatz, mit einer Fahrt im Fahrstuhl etc. verbunden. Jeder Stadtbewohner kann viele dieser Aktivitäten ausüben und Rollen übernehmen, nur eben nicht gleichzeitig und meist jeweils an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Und gerade diese Vielfalt der Rollen, Funktionen, Angebote und Aktivitäten macht die Qualität des Stadtlebens aus. In der klassischen Moderne wurde die komplexe soziale Lebenswelt der Stadt in Teilfunktionen zerlegt, für die dann jeweils teiloptimierte Pla-

30 Zhou 2009 31 Alexander1965, S. 58 – 62

48

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Abb. 8

Abb. 9

Weitere Informationen

•  Bock, Stephanie; Libbe, Jens; Hinzen, Ajo (Hrsg.): Nachhaltiges Flächenmanagement. Ein Handbuch für die Praxis. Ergebnisse aus der REFINA-Forschung. Deutsches Institut für Urbanistik GmbH (Difu). Berlin 2011 •  Innenministerium Schleswig Holstein (Hrsg.): Qualitätvolle Innenentwicklung. Eine Arbeitshilfe für Kommunen. Kiel 2010 •  Krumm, Raimund: Nachhaltigkeitskonforme Flächennutzungspolitik. Ökonomische Steuerungs­ instrumente und deren gesellschaftliche Akzeptanz. IAW-Forschungsbericht. Tübingen 2004 •  OECD: Compact City Policies. A Comparative Assessment. OECD Green Growth Studies. Paris 2012 Abb. 10

32 siehe z. B. Mitscherlich 1965 33 Zur Entstehung und Entwicklung des deutschen Bau- und Planungsrecht vgl. z. B. die kurze Zu­­ sammenfassung der Akademie für Raumforschung und Landesplanung/Leibnizforum für Raumwissenschaften, www.arl-net.de/de/ commin/deutschlandgermany/11-diegeschichte-des-baurechts-0 34 Boeddinghaus 2005

nungen (Verkehr, Wohnen, Freizeit) konzipiert wurden. Hieraus resultieren vielfältige Probleme der heutigen Städte, die schon früh kritisiert wurden.32 Funktionstrennung und Teiloptimierung einzelner Funktionen führen nicht zuletzt auch zu den weltweit bekannten Verkehrsproblemen. In einer vollständig funktionsgetrennten Stadt sind Ziel- und Quellverkehrsaufkommen maximiert. Gleichzeitig entsteht asymmetrischer Verkehr – morgens von der Wohnung zur Arbeit, abends zurück,– was die Ausnutzung der Kapazitäten des ÖPNV erschwert und diesen unwirtschaftlicher macht. Dichte und Funktionsmischung sind also zwei grundlegende Ziele der nachhaltigen Stadtplanung, die dem Leitbild der »gegliederten und aufgelockerten Stadt« der Nachkriegszeit diametral gegenüberstehen.

und aufgelockerten Stadt weithin anerkannt. Die Definitionen der Baugebiete – reine Wohngebiete (WR), allgemeine Wohngebiete (WA), Kerngebiete (MK), Gewerbegebiete (GE) – spiegelten 1962 bei der ursprünglichen Fassung der Baunutzungsverordnung (BauNVO) die funktionsgetrennte Stadt wider.33 In reinen und allgemeinen Wohngebieten sowie Mischgebieten (MI) war gemäß BauNVO eine maximale GFZ von 1,0 möglich bei einer Bebauung mit vier oder mehr Geschossen, dabei musste allerdings eine GRZ von 0,3 eingehalten werden. Die Dichte-Obergrenzen wurden seit 1987 mit der Einführung des Baugesetzbuchs BauGB erhöht, lassen also mittlerweile eine dichtere Bebauung zu. Die zulässige GFZ liegt mit 1,2 in WR und WA heute um 20 % höher, die GRZ stieg bei Mischgebieten um 50 % auf 0,6.34

Bauliche Dichte ist aber auch, wie bereits mehrfach angesprochen, ein Gebot der Flächeneinsparung. Die Baudichte, das »Maß der baulichen Nutzung« ist in Deutschland nach Baugebieten geregelt. Als das Bundesbaugesetz (BbauG) 1960 verabschiedet wurde, war das Leitbild der gegliederten

Nach der Abkehr von der Flächensanierung – d. h. Abriss von Altbausubstanz – hin zur erhaltenden Stadterneuerung wurde schon 1990 aufgrund der Erfahrungen mit den Bestandsquartieren die Definition der »Gebiete zur Erhaltung und Entwicklung der Wohnnutzung (besondere Wohngebiete – WB)« eingeführt, in denen bereits eine GFZ

49

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Flächennutzung

Grundflächenzahl (GRZ)

Geschossflächenzahl (GFZ)

reines Wohngebiet (WR)

0,4

1,2

allgemeines Wohngebiet (WA)

0,4

1,2

besonderes Wohngebiet (WB)

0,6

1,6

Dorfgebiet (MD)

0,6

1,2

Mischgebiet (MI)

0,6

1,2

Kerngebiet (MK)

1,0

3,0

urbanes Gebiet (MU)

0,8

3,0

Abb. 11

Abb. 8  »Wasserspiegel« (Miroir d’Eau), Place de la Bourse, Bordeaux (FR) Abb. 9  Grasbrookpark mit Blick in Richtung MagellanTerrassen, HafenCity Hamburg (DE) Abb. 10  Überlagerung verschiedener historischer Bestandteile in der Stadt, Highline Park, New York (USA) Abb. 11  Obergrenzen der GRZ und GFZ in Abhängigkeit zur Flächennutzung nach BauNVO § 17 Abs.1

von 1,6 und eine GRZ von 0,6 zulässig wurde – (Abb. 11) eine um 30 % höhere Dichte (GFZ 1,6) als bei Mischgebieten (GFZ 1,2). Das Ziel Flächeneinsparung ist im Sinne der Nachhaltigkeit unverzichtbar. Gleichwohl trifft die Einschränkung zu, dass Dichte allein keine Qualität ist. Es gilt beim Entwurf nachzuweisen, dass trotz hoher Dichte angemessene Besonnung und Belichtung gewährleistet sind und dass durch den hohen Versiegelungsgrad, der bei einer GRZ von 0,8 beim urbanen Gebiet (MU) leicht bei 90 % liegen kann, kein problematisches Mikroklima entsteht. Dies wird kaum ohne zusätzliche Dachund Fassadenbegrünung möglich sein. Nicht zuletzt muss überlegt werden, wie mit den großen Mengen an abfließendem Regenwasser umgegangen werden kann. Bei solch hohen Dichten ist es nicht praktikabel, mit offenen Retensionsmulden zu arbeiten. Es müssen aufwendigere unterirdische Retentionseinrichungen im Quartier geschaffen oder entsprechende Maßnahmen in angrenzenden Grünzügen getroffen werden. Wie immer gilt auch hier, dass der Einzelfall und seine spezifischen Bedingungen analysiert und berücksichtigt werden müssen. So ist beispiels-

BauNVO

In § 17 (1) der BauNVO, der die Obergrenzen für die Bestimmung des Maßes der baulichen Nutzung regelt, heißt es im Absatz 2: »(2) Die Obergrenzen des Absatzes 1 können überschritten werden, wenn 1. besondere städtebauliche Gründe dies erfordern, 2. die Überschreitungen durch Umstände ausgeglichen sind oder durch Maßnahmen ausgeglichen werden, durch die sichergestellt ist, dass die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht beeinträchtigt, nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt vermieden und die Bedürfnisse des Verkehrs befriedigt werden, und 3. sonstige öffentliche Belange nicht entgegenstehen.« 2017 wurde unter dem Eindruck des dramatischen Wohnungsmangels in den deutschen Großstädten und den schwierigen Bedingungen für Nachverdichtungen im Be­­stand eine neue Gebietskategorie in der Baunutzungsverordnung eingeführt, das urbane Gebiet (MU). In urbanen Gebieten ist nunmehr eine hohe Dichte für Wohnungsbau bei gleichzeitiger Nutzungsmischung möglich. Mit der zulässigen Dichte einer GRZ von 0,8 und einer GFZ von 3,0 kann Wohnungsbau in urbaner Mischung realisiert werden.

weise die Nachfrage nach sehr dichten Baustrukturen in Ballungszentren sicher größer als am Stadtrand und in ländlichen Gebieten. Das Mikroklima hingegen ist in einer windreichen Gegend an der Küste oder auf einer Kuppenlage eher beherrschbar als im Rheintal, in der Kölner Bucht oder im engen Stuttgarter Talkessel. Ein hochverdichtetes Quartier in der Nachbarschaft eines großen Parks oder Grünzugs bietet bessere mikroklimatische Bedingungen als Gebiete ohne dieses Angebot von Grünflächen. Letztendlich kommt es aber auch auf das soziale und städtebauliche Umfeld und auf die Qualität des Entwurfs an. Dichte in Blockstrukturen mit ruhigen Blockinnenbereichen ist eher vertretbar als bei frei stehenden Solitärbauten, die von allen Seiten durch Verkehrslärm beeinträchtigt werden. Dichte wird in einem Wohnumfeld mit gesicherter Privatheit der Wohnung und wohnungsnahen Freiräumen (Terrassen, Loggien, Balkone) als angenehmer empfunden als dort, wo die Wohnung unmittelbar vom frequen­tierten öffentlichen Raum aus einsehbar ist und die privaten Freiflächen gestört werden können.  HB

BauNVO § 6a Urbane Gebiete (1) Urbane Gebiete dienen dem Wohnen sowie der Unterbringung von Gewerbebetrieben und sozialen, kulturellen und anderen Einrichtungen, die die Wohnnutzung nicht wesentlich stören. Die Nutzungsmischung muss nicht gleichgewichtig sein. (2) Zulässig sind 1. Wohngebäude, 2. Geschäfts- und Bürogebäude, 3. Einzelhandelsbetriebe, Schank- und Speisewirtschaften sowie Betriebe des Beherbergungsgewerbes, 4. sonstige Gewerbebetriebe, 5. Anlagen für Verwaltungen sowie für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke. (3) Ausnahmsweise können zugelassen werden 1. Vergnügungsstätten, soweit sie nicht wegen ihrer Zweckbestimmung oder ihres Umfangs nur in Kerngebieten allgemein zulässig sind, 2. Tankstellen. (4) Für urbane Gebiete oder Teile solcher Gebiete kann festgesetzt werden, dass in Gebäuden 1. im Erdgeschoss an der Straßenseite eine Wohnnutzung nicht oder nur ausnahmsweise zulässig ist, 2. oberhalb eines im Bebauungsplan bestimmten Geschosses nur Wohnungen zulässig sind, 3. ein im Bebauungsplan bestimmter Anteil der zulässigen Geschossfläche oder eine im Bebauungsplan bestimmte Größe der Geschossfläche für Wohnungen zu verwenden ist, oder 4. ein im Bebauungsplan bestimmter Anteil der zulässigen Geschossfläche oder eine im Bebauungsplan bestimmte Größe der Geschossfläche für gewerbliche Nutzungen zu verwenden ist.

K A P ITE L 2

Heraus forderungen & Handlungsfelder

2.2

Prozesse und Beteiligung

51

2.2 — Prozesse und Beteiligung

Herausforderung Prozesse und Beteiligung Ro l f Messerschmidt, Andreas von Zadow

D

ie Anforderungen an die Prozesse der Stadt- und Quartiersplanung sind durch die aktuellen Aufgaben in der Innenentwicklung, beim Um- bzw. Rückbau von Städten sowie bei großmaßstäblichen Stadtentwicklungen erheblich gestiegen. Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Entwicklung von Mobilitätskonzepten unter Berücksichtigung lokaler und regionaler Stoffkreisläufe spielen zunehmend eine bedeutende Rolle. Gleichzeitig sind soziokulturelle Aspekte wie die demografische Entwicklung, der Umgang mit sich verändernden Sozialstrukturen und neuen Formen des bürgerschaftlichen Engagements einzubeziehen. So besteht bei der Stadtund Quartiersplanung eine erhebliche Herausforderung darin, für die hohe Komplexität, die aus diesen Ansätzen resultiert, sowie die notwendige und sinnvolle Beteiligung einer großen Anzahl von Akteuren adäquat strukturierte, integrative Planungs- und Umsetzungsprozesse zu etablieren. Das heißt, die Organisation der Planung entscheidet immer mit über die Qualität des Er­­gebnisses.

Integrierte Planung Um ambitionierte Quartierskonzepte z. B. in den Bereichen Energie oder Verkehr erarbeiten und umsetzen zu können, ist die Beteiligung der im lokalen Projektzusammenhang relevanten Fachplaner und Experten möglichst vom Projektstart an in einem integralen Planungsprozess notwendig (Abb. 1, S. 52).1 Dazu gehören u. a. die zu einem

frühen Zeitpunkt notwendigen Beauftragungen der Experten und die Bereitstellung der benötigten Honorare. Zudem muss den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Planungsdisziplinen und -inhalten mit angemessenen Verfahren zur Konzeptentwicklung Rechnung getragen werden. Durch die wechselseitige Integration der Fachkonzepte der einzelnen Disziplinen und in Verbindung mit der klassischen Stadtplanung während des Planungsprozesses lassen sich Synergieeffekte erzielen. Erst so wird eine ganzheitliche Quartiersplanung und -umsetzung durchführbar und die ökonomische Realisierung der Nachhaltigkeitsansprüche z. B. durch multifunktionale Nutzung von Quartiersflächen und -gebäuden gerade im verdichteten innerstädtischen Kontext ermöglicht. Klassische, linear angelegte Planungsprozesse, bei denen die verschiedenen Fachplanungen nacheinander abgearbeitet werden, bieten diese wichtige Integralität in der Regel jedoch nicht. Die Stadt- und Quartiersentwicklung muss unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten langfristig angelegt werden. Bei der ökonomischen Betrachtung über einen längeren Zeitraum (Lebenszykluskostenrechnung) können beispielsweise ökologische Maßnahmen trotz höherer Investitionskosten wirtschaftlich sein. Dazu bedarf es einer möglichst umfassenden Betrachtung des Lebenszyklus des Quartiers von der Planung über die Realisierung und Nutzung bis hin zu einem späteren Weiterund Umbau. Auch über Bürgerbeteiligungs­ modelle sollte bereits frühzeitig nachgedacht werden und die Bürger schon bei der Festlegung der Projektziele miteinbezogen werden. Die Prozessqualität in der frühen Planungsphase und bei der besonders wichtigen Festlegung des städtebaulich-funktionalen Quartierskonzepts stellt die Basis dar für einen später optimalen Betrieb und ein konstruktives bürgerschaftliches Engagement während der Nutzungsphase.

1  Gaffron /Huismans/ Skala 2005; DGNB 2012

52

Kapitel 2 — Herausforderungen

Interessengruppen, Öffentlichkeit

Verwaltung

integrierte Planung

Projektentwickler, Eigentümer

Planer, Experten

Abb. 2

Abb. 1

Bürgerbeteiligung

2  Scholz /Selle 1996 3  Selle 2000

Weitere ­Informationen

•  Campion, Charles: 20|20 Visions – Collaborative Planning and Placemaking. London 2018 •  Blundell Jones, Peter; Petrescu, Doina; Till, Jeremy (Hrsg.): Architecture and Participation. London/New York 2005 •  Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW (Hrsg.): Neue Formen der Kommunikation und Kooperation im Städtebau. Bausteine Nr. 23. Düsseldorf 2001 •  Rösener, Britta; Selle, Klaus (Hrsg.): Kommunikation gestalten. Beispiele und Erfahrungen aus der Praxis für die Praxis. Kommunikation im Planungsprozess, Bd. 3. Dortmund 2005 • www.akbw.de/recht/vergabe-und-wettbewerb/ rpw-2013.html

Die gesetzlich vorgeschrieben Verfahren zur Bürgerbeteiligung leisten, im Sinne einer aktiven Einbeziehung der Bürger, keinen ausreichenden Beitrag, sondern haben in erster Linie legitimierende Bedeutung und wirken als demokratisches Korrektiv.2 In der Regel dienen sie dem Handling von Richtungsentscheidungen, vorwiegend mit Ja/Nein-Optionen, und fördern aufgrund dieses häufig konflikthaften Charakters gerade nicht die Zusammenarbeit oder Kooperation zwischen Beteiligten, Experten, Betroffenen und Genehmigungsbehörden. Statt einer gemeinsamen Suche nach der besten Lösung gehen die Interessenparteien oft in Stellung gegeneinander. So entsteht in der Regel eine Gewinner- und Verliererdynamik, die sich noch jahrzehntelang negativ auf das Image und die Umsetzung einer Planung auswirkt. Entsprechend herrscht eine zunehmende Frustration darüber, dass gesetzliche Instrumentarien für eine kompetente Diskussion und Suche nach plausiblen Lösungen zu kurz greifen. Großprojekte wie Stuttgart 21, der Flugroutenstreit beim Großflughafen Berlin Brandenburg oder die Infrastrukturplanungen für dezentrale Energieprojekte haben sowohl im politischen als auch im bürgerlichen Lager die Suche nach zielführenderen Partizipationsverfahren neu eröffnet. Das große Medieninteresse an dieser Thematik, aber auch das Potenzial neuer Medienund Kommunikationskanäle können dazu bei-

tragen, eine neue Verfahrensqualität für nachhaltige Planungen zu etablieren.

Beteiligungs­ verfahren Die Herausforderung liegt also in der Anwendung von Verfahren, die dazu geeignet sind, einen fachlichen Diskurs aller Beteiligten mit dem Schwerpunkt auf Informationsaustausch, Kreativitätsanregung und Konsensorientierung gezielt zu fördern, damit auf der Suche nach integrierten Lösungen im Ergebnis ein Höchstmaß an Plausibilität für eine Planung bzw. Verständigung über die Planungsziele erreicht werden kann. Dies dient sowohl einer gezielten Qualifizierung der Planungen als auch einer Verringerung des Umsetzungsrisikos und der Vergrößerung der Akzeptanz. Ziel ist es, Win-Win-Situationen zu suchen und zu entwickeln, die positive Effekte für möglichst viele verschiedene Beteiligte haben.3 Dazu gibt es keine Blaupausen, zumal die Methoden situationsbezogen angepasst werden müssen. Allerdings liegen bereits vielfältige ermutigende Erfahrungen vor, dass diese Aufgabenstellung realistisch bewältigt werden kann. Eine besondere Aufgabe bei der Durchführung kreativer und kooperativer Verfahren fällt dabei einer vermittelnden Moderation und/oder dem

53

2.2 — Prozesse und Beteiligung

Abb. 4

Abb. 3

»neutralen« Planungsteam zu. Deren Rolle ist es – in weit umfangreicherem Maße als bei den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren –, einen breiten Austausch zwischen allen Beteiligten herzustellen und zu fördern.4 In einer offenen Entwicklungssituation und bei der Diskussion neuer Lösungsansätze sind zunächst die Vorstellungen und Grundsätze der beteiligten Seiten zu akzeptieren, aber auch regelmäßig im Verlauf des Verfahrens zu hinterfragen. Ein solches Verfahren zu einem tatsächlich kreativen und transparenten Prozess zu machen, der gegenseitige Wertschätzung zwischen den Beteiligten, ein sachlich akzeptiertes Fundament, zielführende Ergebnisse und neue Koalitionen zur Projektumsetzung produziert – darin liegt die eigentliche praktische Herausforderung. Denn nur so lässt sich eine hohe Prozess­qualität erreichen. Klassische Wettbewerbsverfahren genügen diesen Anforderungen nicht. Mehrstufige Wettbewerbsverfahren gehen in die richtige Richtung, fördern den Dialog, nicht aber eine wirkliche Zusammenarbeit. Für dauerhaft nachhaltige Quartiere und Planungskonzepte müssen kreative, konstruktive und kooperationsfördernde Verfahren eingesetzt werden wie beispielsweise Planungs-Charrettes im rein fachlichen Kontext oder Perspektivenwerkstätten, wenn Öffentlichkeitsbeteiligung beabsichtigt ist.5 Diese können aber durchaus sinnvoll mit verschiedenen Formen klassischer Wettbewerbsverfahren verknüpft werden und so einen entscheidenden Lösungsbeitrag zur Quartiersentwicklung liefern.6 In diesen Verfahren zur

Konzeptentwicklung sind die gewünschten Nachhaltigkeitskriterien bei der Definition der Projektziele, der Auslobung und der weiteren Umsetzung zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass die dafür notwendigen Experten und Fachleute sowohl auf der Planungsseite wie auch auf der Seite der Entscheidungsträger kompetent vertreten, einbezogen bzw. beteiligt werden müssen. Besonders gilt dies für solche nachhaltigen Planungen, die gezielt innovative Zielsetzungen verfolgen, indem sie mit der konzeptionellen Aufgabenstellung für die Region oder die Beteiligten Neuland betreten. Oft bekommen solche Vorhaben den Charakter von Pionierprojekten, bei denen man sich auf eine technisch, organisatorisch oder sozial experimentelle Umsetzung in die Praxis einlässt. Gerade bei diesen wirklich neuartigen Konzepten sind die Anforderungen und Hürden im Vergleich zu vielfach erprobten Planungen und Realisierungen erheblich größer. Hier muss mit einer höheren Komplexität, einer größeren Anzahl von Akteuren und einem größeren Abstimmungsbedarf umgegangen werden. Das verlangt von vielen Beteiligten auch in finanzieller und politischer Hinsicht mehr Risikobereitschaft. Dieses Bauen auf »unsicherem Grund« erfordert also einen umso gründlicheren Vorbereitungsprozess, ein besonders umsichtiges Vorgehen und eine möglichst breit aufgestellte Trägerschaft.7 Insofern gilt auch und gerade in diesen Fällen: Der methodisch entscheidende Ansatz, um nachhaltige Quartiere zu realisieren, ist eine hohe Prozessqualität.

Abb. 1  Zusammenarbeit bei einer inte­grierten Planung Abb. 2  moderierte Planungs­ workshops ermöglichen Dia­ log und Ideenaustausch ­zwischen Experten und betroffenen Bürgern anhand der konkreten Planung, St. Clement’s Hospital, Lon­ don (GB) 2012 Abb. 3, 4  offene Planungs­ werkstatt zum Thema Stadt­ entwicklung im Rahmen der Erstellung eines integrierten städtebaulichen Entwick­ lungskonzepts (ISEK), Markt­ oberdorf (DE)

4 von Zadow 1997; Wates 2008 5 Ley/Weitz 2009 6  von Zadow 2009 7 Thompson/von Zadow 2009, S. 48

54

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Handlungsfeld Prozesse und Beteiligung Rolf Mes s ers chmidt, Andreas von Zadow

D

er entscheidende Faktor bei der Realisierung nachhal­ tiger Stadtquartiere ist die Prozessqualität. Durch Optimierung des Planungsprozesses mithilfe von Partizipationsmodellen, Verfahren zur Konzeptfindung und einer Projektsteuerung mit Nachhaltigkeitsmanagement kann die Basis für eine lange, wertsteigernde Nutzungszeit eines Stadtquartiers gelegt werden, die durch ein Quartiersmanagement weiter unterstützt werden sollte. Der Quartiersentwicklungs- und -nutzungsprozess beginnt mit der Projektentwicklung und der Planung, gefolgt von der Realisierung von Infrastruktur und Hochbaumaßnahmen sowie der Freianlagen. Daran schließt sich die lange Nutzungsphase von Stadtquartieren an, die nach einem Transformations- und Alterungsprozess in einen Umbau- und Recyclingprozess übergeht. Mit den dann notwendigen Interventionen beginnt im Sinne einer zyklischen Betrachtung die Projektentwicklung und -planung mit geänderten Vorzeichen wieder von vorne. Eine Lebenszyklusbetrachtung des gesamten Quartiers über einen langen Nutzungszeitraum ist daher sinnvoll, um dem Ziel eines ganzheitlichen und langfristig nachhaltigen Stadtquartiers nahezukommen (Abb. 1).

Verlauf von Pla­ nungsprozessen 1 DGNB 2012

Der Verlauf und die Organisation des Planungsprozesses für ein Stadtquartier haben entscheidende Auswirkungen auf die Qualität der Planung, Realisierung und späteren Nutzung. Dieser Pro-

zess beginnt mit der Projektentwicklung und beinhaltet die Rahmenplanung und/oder den städtebaulichen Entwurf, die Bauleitplanung sowie die Erschließungsplanung, wobei jede dieser Planungsphasen so organisiert und pla­nerisch angelegt werden muss, dass die relevanten Nachhaltigkeitsaspekte in eine ganzheitliche Quartiersrealisierung integriert werden können (Abb. 3, S. 56). Im Rahmen der Projektentwicklung ist es erstrebenswert, Nachhaltigkeitsaspekte bereits bei der Definition der Projektziele zu berücksichtigen und durch entsprechende Voruntersuchungen und Gutachten zu bekräftigen. Übergeordnete Flächennutzungs-, Stadtentwicklungs- und Rahmenpläne für das Plangebiet sollten mit einer Analyse der lokalen Potenziale und Restriktionen gerade auch unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit überlagert werden. Dazu gehören u. a. auch stadtklimatische Systeme, Biotopvernetzungsstrukturen und die vorhandenen örtlichen Potenziale der Energieversorgung. Eine frühe Beteiligung aller Akteure und ein Abstimmen gemeinsamer Ziele zwischen Grundstückseigentümern, Investoren, Gemeinderat und kommunaler Stadtplanung sowie interessierten Bürgern macht es möglich, einen auf den speziellen Fall angepassten integralen Planungsprozess zu entwickeln. Besonders wichtig ist das städtebaulich-funktionale Quartierskonzept. Es definiert die zukünftige Nutzung, die Gestaltung sowie die grundlegenden Ansätze der Nachhaltigkeit des Projekts und legt die Basis für die Lebensqualität im Quartier, für dessen Auswirkungen auf die Umwelt und auch dafür, wie die Bewohner und Nutzer das Quartier annehmen. Aufgrund seiner Bedeutung für das Gesamtprojekt ist es vorteilhaft, dieses Konzept über konkurrierende und kooperierende Planungsverfahren (siehe Beteiligungsverfahren, S. 52f.) zu entwickeln.1

55

2.2 — Prozesse und Beteiligung

Notwendigkeit Intervention

Transformation + Alterung

Betrieb + Unterhalt

Umsetzungsprozess

Festlegung von Projektzielen (Grundlage)

Rahmenplanungsprozess

Bauleitplanung/ Erschließungsplanung

Abb. 1

Da wesentliche Planungsentscheidungen mit erheblichen Auswirkungen auf Ökonomie, Ökologie und soziokulturelle Aspekte bereits zu Beginn der Planungsphase gefällt werden, ist die Bildung und Zusammenarbeit eines interdisziplinären Planungsteams schon in diesem frühen Stadium von hoher Bedeutung und eine strukturelle Voraussetzung dafür, nachhaltige Quartiersplanungen zu generieren (Abb. 3, S. 56). Deshalb sollten alle im lokalen Projektzusammenhang relevanten Fachplaner und Experten daran beteiligt sein.2 Über die Erarbeitung hochqualifizierter Fachplanungen z. B. in den Bereichen Energie oder Verkehr hinaus ist es unbedingt erforderlich, diese dann auch mit der klassischen Stadtplanung zu einem ganzheitlichen Quartiersplanungs- und -umsetzungskonzept zu verknüpfen. Beispielsweise kann eine besonders energieeffiziente Bebauungsstruktur entwickelt werden, wobei sich Maßnahmen zur Wasserbehandlung in attraktive und für die Bewohner nutzbare Quartiersfreiräume integrieren lassen und neue Potenziale für die Energienutzung aus der Abwasserbehandlung ausgeschöpft werden können. Gerade durch die Integration und Vernetzung verschiedener Fachplanungen entstehen Synergieeffekte, die es oft überhaupt erst ermöglichen, Nachhaltigkeitsansprüche durch die multifunktionale Nutzung von Quartiersfreiflächen und Gebäuden im verdichteten innerstädtischen Kontext auf ökonomische Weise zu realisieren. Dazu müssen der Vorentwurf und Teile des Entwurfs für die Erschließungsplanung – Verkehrsanlagen, Freianlagen, Ver- und Entsorgungstechnik – vorgezogen und parallel zum städtebaulichen Konzept bearbeitet werden. Dieses Zusammenwirken von städtebaulichem Entwurf und Erschließungsplanung bildet dann die Grundlage für die ebenfalls früh zu beginnende Bauleitplanung. Nur mit dieser parallelen, integrierten Planung sind im Gegensatz zu den klassisch linear angelegten

Planungsprozessen die notwendigen Integrationsleistungen in effizienter Weise möglich (Abb. 4, S. 56 und Abb. 1, S. 52). Innerhalb der Erschließungsplanung ist ein besonderes Augenmerk auf die Schnittstellen zwischen den Disziplinen zu legen, da z. B. eine attraktive Straßenraumgestaltung mit Straßenbäumen, Belagswechseln und gliedernden Pflasterrinnen nur zu erreichen ist, wenn Straßen-, Freiraum- und Entwässerungsplanung einbezogen werden (Abb. 2). Nach der Baurechtschaffung mit dem Inkrafttreten des Bebauungsplans erfolgt die Fertigstellung der Erschließungsplanung, bei der besonders auf eine ressourcenschonende Material- und Konstruktionswahl der Infrastruktur sowie auf einen nachhaltigen Bauprozess geachtet werden sollte. Für die Baurechtschaffung ist die enge Abstimmung von Bauleitplanung, städtebaulichem Entwurf und vorgezogener Erschließungsplanung notwendig. Die Beteiligung der Träger öffentlicher Belange und die Erarbeitung eines Umweltberichts sollten möglichst frühzeitig erfolgen, um z. B. Naturschutz oder eine Altlastensanierung von Anfang an in der Quartiersplanung berücksichtigen zu können. Es empfiehlt sich, Nachhaltigkeitsmaßnahmen soweit möglich im öffentlichen Baurecht über den Bebauungsplan verbindlich festzulegen. Auch darüber hinausgehende ­Maßnahmen im Rahmen von städtebaulichen Verträgen und privatem Recht, z. B. Grundstückskaufverträge, sind einzubeziehen (siehe Um­­ setzungsstrategien, S. 168ff.). Für die Vermarktung und Realisierung der Hochbauten sollte der Nachhaltigkeitsansatz ebenfalls berücksichtigt und die Rahmenbedingungen für die Realisierung der im Quartier vorgesehenen Bausteine geschaffen werden, z. B. mit Grundstückskaufoptionen zur Projektentwicklung für Mehrgenerationenwohnen, mit kleinkörnigen Mischnutzungsprojekten oder unterschiedlich großen Baugemeinschaftsprojekten.3 Zum einen

Abb. 1  integraler Planungs­ prozess Abb. 2  Straßenraum mit ­integrierter Entwässerung im Quartier

2 Gaffron/Huismans/Skala 2005; DGNB 2012 3 DGNB 2012

Abb. 2

56

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Beeinflussbarkeit Grundlagenermittlung

Vorplanung

Entwurfs- und Genehmigungsplanung

Ausführungsund Detailplanung

Ausschreibung, Vergabe

Beginn

Aufwand der Änderungen Bauausführung

Fertigstellung Vorzertifizierung

Abb. 3

Analyse

städtebaulicher Entwurf

Bebauungsplan Fachplanungen

Träger öffentlicher Belange

linearer Planungsprozess

Beteiligung Öffentlichk. Analyse

städtebaulicher Entwurf Bebauungsplan Fachplanungen Träger öffentlicher Belange

integrativer Planungsprozess Abb. 4

4 DGNB 2012

Abb. 3 Beeinflussbarkeit der Nachhaltigkeit eines ­Projekts: Je später eine ­Planung verändert wird, desto höher ist der damit verbundene Aufwand. Abb. 4 Gegenüberstellung unterschiedlicher Planungs­ prozesse: Lineare Planungs­ prozesse benötigen in der Regel mehr Zeit. Eine inte­ grative Querkommunikation kombiniert mit zeitnahen Beteiligungsangeboten kann Planungsergebnisse erheb­ lich beschleunigen. Abb. 5 Gegenüberstellung Wettbewerbsverfahren zu konsensorientierte/koopera­ tive Planung

unterstützt ein aktives, zielgruppengerechtes Marketing eine schnelle Umsetzung und damit aus Nachhaltigkeitssicht eine rasche Nutzung der gebauten Infrastruktur. Zum anderen sollten bei der Vermarktung besonders auch die Nachhaltigkeitsaspekte als Bestandteile des Leitbilds und Images des Quartiers präsentiert werden. Dies kann neben der klassischen Öffentlichkeitsarbeit z. B. auch über ein Gestaltungs- und Nachhaltigkeitshandbuch geschehen. Idealerweise begleitet eine Projektsteuerung den gesamten Prozess. Dabei sind gerade bei komplexen Quartiersentwicklungen die klassischen Funktionen der Steuerung von Qualität, Terminen und Kosten wichtig, aber auch ein Nachhaltigkeitsmanagement mit speziellen Navigations- und Koordinationsaufgaben im Rahmen eines integralen Planungsprozesses über alle Planungs- und Realisierungsphasen hinweg. Eine Nachhaltigkeits­ zertifizierung auf Quartiersebene und andere Planungs­werkzeuge sollten diesen Prozess unterstützen.

Verfahren zur Konzeptfindung In allen Planungsphasen sind Verfahren zur Konzeptfindung wichtig, wobei die Auswahl des städtebaulich-funktionalen Quartierskonzepts besondere Bedeutung hat. Deshalb sollte dieses über konkurrierende und kooperierende Planungsverfahren entwickelt werden, um auch alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen und lokales Wissen einbinden zu können, damit über ein schrittweises Vorgehen eine Konzeptoptimierung gerade auch bezüglich der Nachhaltigkeitsaspekte möglich ist.4 Insbesondere für den Umgang mit der system­ immanenten Komplexität von Nachhaltigkeit und bei vielschichtigen Aufgaben bieten mehrstufige Verfahren, z. B. mit Kolloquien und Zwischenpräsentationen, oder teilöffentliche Werkstattverfahren gute Möglichkeiten, lokales Wissen auch zu Nachhaltigkeitsthemen vertieft einzubeziehen. Dabei ist es ebenso möglich, Bürger und Interessenvertreter aktiv in ein laufendes Verfahren einzubinden. Mehrstufige Verfahren erlauben es zudem, neue Erkenntnisse und Bedürfnisse auch nach Beginn des Verfahrens einzubringen und zu berücksichtigen. Für nachhaltige Projekte ist neben der Mehrstufigkeit entscheidend, dass das Verfahren interdisziplinäres Arbeiten unterstützt. Dies bedeutet für konkurrierende Verfahren, dass bereits in der Auslobung Nachhaltigkeitsaspekte und -kriterien zu verankern sind und für die Bearbeitung der Planungsaufgabe eine Kooperation von Stadtplanern z. B. mit Landschaftsplanern, Verkehrsplanern und Energieexperten in Arbeitsgemeinschaften verlangt wird. Fachkonzepte müssen bereits

57

2.2 — Prozesse und Beteiligung

Beteiligung der Öffentlichkeit

Vorbereitung, Auslobung

städtebaulicher Wettbewerb

Jury

Preiskrönung, Weiterbearbeitung

Perspektivenwerkstatt, öffentliche Ideenentwicklung

Planer, Experten

integrierte Vision, Bebauungsplan

Umsetzung in Bebauungsplan

Wettbewerbsverfahren

Ausschreibung, Vorbereitung, Teambriefing

Architektur-/ Freiraumwettbewerb

konsensorientierte/kooperative Planung Abb. 5

in der Vorprüfung der eingegangenen Arbeiten durch entsprechende Fachplaner, die dann in der Preisgerichtssitzung als Sachverständige oder besser noch als stimmberechtigte Jurymitglieder vertreten sein sollten, intensiv geprüft werden. Nur so bekommen die Nachhaltigkeitsaspekte bei der Entscheidungsfindung auch das notwendige Gewicht. Mit Wahl des Wettbewerbssiegers ist es von großer Bedeutung, das gesamte Planungsteam inklusive der beteiligten Fachplaner für die Umsetzung der im Verfahren entwickelten Konzepte zu beauftragen. Dies sollte bereits im Auslobungstext sichergestellt werden.5 In bestimmten Fällen, wenn der Auslober eine Aufgabe oder seine Ziele zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig definieren kann, z. B. bei städtebaulichen Projekten, ist es auch denkbar, ein formalisiertes kooperatives Verfahren zu wählen. Besonderes Kennzeichen ist die schrittweise Annäherung an Aufgabe und Ziele in einem Meinungsaustausch zwischen den Beteiligten, z. B. in Planungswerkstätten. Dabei müssen alle Teilnehmer auf dem gleichen Informationsstand gehalten werden.6 Im Hinblick auf Nachhaltigkeit haben kooperative Planungen verschiedene Vorteile. Sie lassen sich beispielsweise mit einer aktiven und intensiven Bürgerbeteiligung auf Städtebauebene verbinden. Durch den kreativen Diskurs entsteht ein Mehr an sozialen und ökologischen Ideen, gleichzeitig können die Veranstaltungen auch als Vermarktungsbeitrag sowie zur Öffentlichkeitsarbeit und frühen Gewinnung von Interessenten genutzt werden. Die vor der Entscheidung zu einem solchen kooperativen Verfahren manchmal infrage gestellte Gewährleistung von Vielfalt und Q ­ ualität lässt sich durch die Beteiligung von unterschiedlichen Fachplanern, verbunden mit der Integration von Stadtverwaltung, Bürgern,

Interessenvertretern, Experten und Lokalpolitik sicherstellen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung nachhaltiger Stadtquartiere sind Verfahren, deren explizite Zielsetzung die Konsensfindung ist, besonders geeignet. Einen hochinteressanten Ansatz stellen deshalb spezielle interdisziplinäre Workshops wie Charrettes dar. Darunter versteht man einen intensiven und oft mehrere Tage dauernden Entwurfsworkshop, der auf einen Präsentationstermin hinarbeitet. Mit dieser Methode lassen sich Planungsteams, Interessensvertreter, Auftraggeber, Städte etc. durch ständige Abstimmungen und Zwischenpräsentationen ein­be­ ziehen. Die Kombination von Einzel- und Teamarbeit ermöglicht eine gute interdisziplinäre Kooperation und durch Arbeiten vor Ort eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gebiet und den lokalen Gegebenheiten (Abb. 6, S. 58). Zur Erkundung des Handlungsspielraums mittels alternativer Entwürfe ist ein Planen mit verschiedenen Szenarien wichtig.7 In einem weiteren Schritt können dann die mit den verschiedenen Vorschlägen verbundenen Qualitäten untersucht und diskutiert werden. Dabei besteht das Ziel darin, umfassende Szenarien mit unterschiedlichen Fachplanungskonzepten und Nachhaltigkeitsansätzen zu entwickeln und nicht nur Varianten der Bebauungsstruktur8 oder eines Planungssektors wie z. B. eine alternative Zufahrt im Verkehrsbereich. Entscheidend für alle Verfahren nachhaltiger Planung ist, dass die entwickelten Konzepte nicht den Endpunkt einer Planung darstellen, sondern entwicklungsoffen sind, d. h. sie sollen flexibel an neue Erkenntnisse und Bedürfnisse anpassbar sein und so für nachfolgende Entwicklungsschritte ausreichend Spielraum bieten.

5 BMVBS 2013: RPW 6 ebd. 7 Albers 1996 8 Müller-Ibold 1997

58

Kapitel 2 — Handlungsfelder

3 – 6 Monate Vorbereitung und Analyse

1 Woche öffentliche Veranstaltungen

1 Monat Ergebnisbericht

3 – 9 Monate Masterplanung

Wettbewerbe und Realisierung

UK = Unterstützerkreis UK

UK

UK

UK

UK

UK Projekt

öffentliche Perspektivenwerkstatt

Einarbeitung, Aktivierung

Vision und Präsentation

Detaillierung des Masterplans

Bericht

Ausstellung

Projekt

Projekt SP

SP

SP

SP

SP

SP

SP = Steuerungsgruppe Stadtplanung Abb. 6

Abb. 6  typischer Planungs­ ablauf mit öffentlicher Per­ spektivenwerkstatt Abb. 7  lebendiger Außen­ raum bereits vor Fertig­ stellung, Carlsberg, Kopen­ hagen (DK) Abb. 8  Auswahl des Kon­ zeptfindungsverfahrens und deren Auswirkung auf Ergebnis und Umsetzbarkeit der Planung. Durch eine hohe Kommu­nikationsbreite und Kon­sensorientierung bringen die Charrette-Ver­ fahren und Perspektiven­ werkstätten umsetzungs­ fähigere Er­­gebnisse als Wettbewerbsverfahren.

Partizipation und Bürgerbeteiligung Was nützt ein noch so grandioses Nachhaltigkeitskonzept auf dem Papier, wenn es angesichts praktischer und/oder politischer Realitäten aufgegeben wird? Und wie viele Wettbewerbsergebnisse sind mit erheblichem Aufwand gekürt, aber nie gebaut worden? Die besondere Herausforderung bei professionellen Verfahren zu einer nachhaltigen Quartiersgestaltung besteht darin, den breiten Verständigungsprozess über Zielsetzung und Rah­ ­menbedingungen mit der eigentlichen städte­ baulichen Planung zu koppeln. Viele Beispiele zeigen, dass sich komplexere Projekte erst verwirklichen lassen, wenn es gelingt, Informationsdefizite und unnötiges Misstrauen bis hin zu Konfrontationsdenken durch eine offene und transparente Zusammenarbeit abzubauen. Erst die gemeinsame Suche ganz unterschiedlicher Interessenvertreter legt die Grundlage für hochqualifizierte, nachhaltige und umsetzbare Ergebnisse. Auf diese Weise lassen sich Zeit und Mittel einsparen und Fehlentwicklungen bereits frühzeitig vermeiden. Einige Gegenbeispiele sind weltweit bekannt: Stuttgart 21, der Flughafen Berlin Brandenburg, der Taksim-Platz in Istanbul. Aber auch viele kleine Projekte scheitern am Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Partizipation und Verständigung sind deshalb die zentralen methodischen Ansätze, die mit der entsprechenden inneren Haltung zum Gelingen einer nachhaltigen Quartiersplanung beitragen. Das gilt umso mehr, wenn es um wirklich innovative

Abb. 7

Aufgaben geht, also um Pionierprojekte, die für die Beteiligten neu, herausfordernd und auch unternehmerisch riskant sind. Dann kommt es darauf an, in einem kreativen Prozess verfügbares Wissens in seiner ganzen Breite konstruktiv zu aktivieren, sowohl vonseiten der Fachleute und Planer als auch seitens der Entscheider, Eigentümer, Investoren, Betreiber, Träger öffentlicher Belange und Fachverwaltungen. Hinzu kommen Interessenverbände, Betroffene und die weitere Öffentlichkeit, die es in geeigneter Weise zu beteiligen und im Idealfall als Mitwirkende zu gewinnen gilt. Verfahren zur Konzeptfindung leisten in dieser Hinsicht unterschiedliche Beiträge und lassen sich je nach Aufgabenstellung differenziert einsetzen. Dabei bildet der klassische Wettbewerb das Schlusslicht in Sachen Partizipation und Verständigung (Abb. 5, S. 57). Seine Stärke besteht darin, eine große Anzahl von Planungsalternativen zu erzeugen, die aber überwiegend theoretisch sind. Mehrstufige Wettbewerbe mit diskursiven und kooperativen Workshop-Phasen leisten bereits eine erheblich größere Querkommunikation und führen somit auch zu einer erhöhten Umsetzungswahrscheinlichkeit der Ergebnisse. Das Charrette-Verfahren hingegen setzt von Beginn an auf ein Maximum an Kooperation der Planungsbeteiligten und kann daher bereits im Konzeptfindungsstadium sowohl die Bearbeitungstiefe als auch die Plausibilität und Umsetzbarkeit eines nachhaltigen Quartierskonzepts deutlich steigern. Dadurch verdichten sich bei der Charrette erste Ideen bereits in der Frühphase der kooperativen Bearbeitung, sodass sich die Anzahl der zu vertiefenden Alternativen auf wenige, aber umsetzbare Szenarien reduziert.

59

2.2 — Prozesse und Beteiligung

Perspektivenwerkstatt

Charrette-Verfahren

einstufiger Wettbewerb

mehrstufiger Wettbewerb

Umsetzbarkeit [%]

100

Umsetzbarkeit

Leistungstiefe

Nachhaltigkeitstiefe

lokales Wissen

interdisziplinäres Team

Konsensorientierung

Kommunikationsbreite

Bürgerbeteiligung

Aufgabenstellung

0

Abb. 8

Die Perspektivenwerkstatt schließlich nutzt die Vorzüge des Charrette-Verfahrens und ergänzt sie mit weiteren Bausteinen zu einer konsens­ orientierten öffentlichen Bürgerbeteiligung, wodurch das Verfahren auch die größte poli­ tische Unterstützung mobilisieren und eine zügige Genehmigung am besten befördern kann (Abb. 6). In diesem Kontext ist festzuhalten, dass die gängige Praxis zur Durchführung gesetzlich vorgeschriebener Bürgerbeteiligungsmaßnahmen nach § 3 BauGB, z. B. mit Erörterungen, Anhörungen, Stellungnahmen, Abwägungsverfahren und öffentlichen Auslegungen, meist nicht zur Förderung von Kooperation, Verständigung, Konsensfindung oder der kreativen Suche nach integrierten Lösungen zur Quartiersplanung im Sinne einer besseren Qualifizierung der Planungen, Reduktion des Risikos, Vergrößerung der Akzeptanz oder Förderung von Win-Win-Situationen beiträgt. Vielmehr haben die hier genannten Beteiligungsmaßnahmen in erster Linie einen legitimierenden Charakter und sollen als Korrektiv wirken. Sie kommen nach § 3 BauGB im Planungsprozess meist zu einem Zeitpunkt zum Einsatz, in dem wesentliche Richtungsentscheidungen bereits gefallen sind, sodass damit vor allem bereits entstandene Planungskonflikte ausgetragen werden. Eine wesentliche Rolle bei der Durchführung kreativer und kooperativer Verfahren spielt eine brückenbauende Moderation und das neutrale Planungsteam. Dessen Aufgabe ist es, den offenen Austausch zwischen allen Beteiligten herzustellen, das Hierarchiegefälle zu überwinden, den Informationsfluss zu fördern und die Plausibilität der Vorschläge zu erhöhen. Es sollte ein

Dialog auf Augenhöhe entstehen, um gegebenenfalls verhärtete Fronten aufzulösen oder abzumildern, eingefahrene Denkweisen zu überwinden und Grenzen zu überschreiten. In einer offenen Entwicklung und Diskussion neuer Lösungsansätze sind die Setzungen der jeweiligen Seiten zu akzeptieren, aber auch immer wieder zu überprüfen. Genau diese Haltung und Übung im Prozess ermöglicht auch das Zustandekommen neuer Lösungen. Die beschriebenen Partizipationsansätze können durch unterstützende Aktivitäten dazu genutzt werden, die Kommunikation anzuregen, die Transparenz zu erhöhen und einen kreativen Diskurs zu fördern. Dabei bieten sich verschiedene Möglichkeiten an: •• Aufbau einer Projektseite im Internet, auf Facebook und/oder Twitter •• themenzentrierte Arbeitsgruppen, Informationsveranstaltungen •• Befragungen, Meinungserkundungen •• interne Projektzeitung, Newsletter etc. bis zur Postwurfsendung an alle Haushalte •• Ausstellungen vor Ort, Roadshows •• visualisierte Darstellung von Grundlagen, Analysen, Konzepten, Planentwürfen und Ansichtszeichnungen zur Illustration und Kommunikation stadtplanerischer, wirtschaftlicher, sozialer Themen und Nachhaltigkeit •• Ausarbeitung unmittelbar vor Ort, um kurze Ansprechwege und Einsichtnahmen zu ermöglichen Es ist wichtig zu betonen, dass diese und ähnliche Aktivitäten ihre Wirkung jedoch erst im Kontext moderierter Verfahren entfalten können, als einzelne Angebote sind sie nicht ausreichend.

Weitere Informationen

•  Duijvestein, Kees: Building and Environment. Thinking in Systems, Designing in Variants. TU Delft, 1995 •  Duijvestein, Kees: The Environmental Maxi­ misation Method. In: De Jonge, Taeke M.; Van der Voordt, D. J. M. (Hrsg.): Ways to Study and Research Urban, Architectural and Technical Design. TU Delft, 2002 •  Gaffron, Philine; Huismans, Gé; Skala, Franz (Hrsg.): Ecocity Book 1. A Better Place to Live. Hamburg/Utrecht/Wien 2005 •  Gaffron, Philine; Huismans, Gé; Skala, Franz (Hrsg.): Ecocity Book 2. How to Make it Happen. Hamburg/Utrecht/Wien 2008 •  Löhnert, Günter; Dalkowski, Andreas; Römmling, Uwe: sol·id·ar Planungswerkstatt Berlin. Integrale Planung. Zusammenhänge – Zielkonflikte – Meilensteine. In: XIA Intelligente Architektur 09/2011 •  Messerschmidt, Rolf: NetzWerkZeug Nachhaltige Stadtentwicklung/Anwendung Karlsruhe ­Südost. In: Wohnbund Informationen 01/2003 •  Thompson, John; von Zadow, Andreas (2009): Stadtentwicklung ist eine Gemeinschaftsleistung. In: Wolfgang Christ (Hrsg.): Access for All. Zugänge zur gebauten Umwelt. Basel/Boston/­ Berlin 2009 •  von Zadow, Andreas: Perspektivenwerkstatt. Hintergründe und Handhabung des Community Planning. Berlin 1997/2007 •  von Zadow, Andreas: Konzertierte Aktionen für einen integrativen Stadtumbau. In: Salzburger Institut für Raumordnung & Wohnen (Hrsg.): Stadt im Umbau. Neue urbane Horizonte. Tagungsband zum Symposium. Salzburg 2009 • www.communityplanning.net • http://cordis.europa.eu/easw/home.html • www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/FP/ExWoSt/ Forschungsfelder/2004undFrueher/3stadt2/05_ Veroeffentlichungen.html • www.perspektivenwerkstatt.de • www.werkstatt-stadt.de

K A P ITE L 2

Heraus forderungen & Handlungsfelder

2 .3

Mensch und Soziokultur

61

2.3 — Mensch und Soziokultur

Herausforderung Soziales Gefüge Ti l m an Harlander

S

oziale Stadt- und Quartiers­poli­ tik hat in europäischen Städten angesichts der Her­aus­forderun­ gen des demo­grafischen Wandels, der Integrationsaufgaben aufgrund wachsender Migrationsströme, aber auch zunehmender wirtschaftlicher Ungleichgewichte und einer sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich einen herausgehobenen Stellenwert erlangt.1 In der im Mai 2007 verabschiedeten und zehn Jahre später zur Fortschreibung anstehenden »Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt« haben die beteiligten EU-Minister unterstrichen, dass wirtschaftliche, ökologische und soziale Dimensionen der Nachhaltigkeit »gleichzeitig und gleichgewichtig« zu berücksichtigen seien.2 Es sind vor allem der soziale Zusammenhalt (social cohesion) und der gewünschte soziale Ausgleich, die sich insbesondere in den europäischen Randländern, aber auch innerhalb Deutschlands in den benachteiligten Regionen und Quartieren zunehmend schwerer erreichen lassen. Ähnlich wie in den anderen mittel- und nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten haben allerdings in Deutschland Armut, Ausgrenzung und Segregation ein (noch) vergleichsweise geringes Ausmaß.

Sozialer und wirtschaftlicher Strukturwandel Bisher ist nicht wirklich abzusehen, welche sozialen und sozialräumlichen Folgen der gegenwärtige Übergang von der Industriegesellschaft zur

Wissens- und Informationsgesellschaft langfristig nach sich ziehen wird. Wechselnde, oft prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Patchwork-Biografien lösen Vollbeschäftigung und klassische industriegesellschaftliche Erwerbsbiografien ab – der »flexible Mensch«3 ist gefordert. Die neuen Unsicherheiten erfassen dabei auch die gesellschaftliche Mitte in Deutschland – sozialer Abstieg und Deklassierung »sind keine Rand- und Ausnahmephänomene mehr, sondern lassen sich breit beobachten und betreffen immer häufiger auch Angehörige der Mittelschicht«.4 Regional verläuft der soziale und wirtschaftliche Strukturwandel höchst ungleichgewichtig. Wachsende und schrumpfende bzw. stagnierende Räume weisen mittlerweile extrem divergierende Dynamiken und Problemlagen auf. Während die Städte in stark deindustrialisierten Regionen wie den neuen Bundesländern, dem Ruhrgebiet oder dem Saarland mit sinkenden Einwohnerzahlen und hohem Wohnungsleerstand zu kämpfen haben, sind für die Städte der Wachstumsregionen mit ihrer gegenläufigen Aufwertungsdynamik Ansiedlungsdruck, Flächenknappheit und boomende Wohnungsmärkte typisch. Vor allem der anhaltende Immobilienboom und die begleitenden rasanten Miet- und Kaufpreissteigerungen haben sich zu einer zentralen sozial- und wohnungspolitischen Herausforderung entwickelt, die über die Wachstumszentren hinaus auch die Mittel- und Universitätsstädte erreicht hat.5 Einheitliche Stadtentwicklungs- und Quartierspolitiken lassen sich vor einem solchen Hintergrund nicht verfolgen. Anders als zunächst vielfach erwartet,6 führt der Übergang zur Informations- und Wissensgesellschaft in sozialräumlicher Hinsicht nicht zu einem allgemeinen Bedeutungsverlust der Städte, zu Dezentralisierung und Dispersion. Im Gegenteil, vieles spricht dafür, dass gegenwärtig die genuin städtischen Standortvorteile eine neue, auch öko-

1  BBSR 2017a; WBGU 2016 2  BBSR 2017b 3  Sennett 1998 4 Conze 2009, S. 933; Nachtwey 2016 5  von Einem 2016a 6  Cairncross 1997

62

Kapitel 2 — Heraus­f orderungen

 7 Läpple 2008, S. 25  8 Florida 2002  9  Aktuell gilt die 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung 10 Simon-Philipp 2017 Dömer/Drexler/Schultz11  Granberg 2016; ­SLR 04/17 12  Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung 2011 13  Kuhn 2010 14  Beck 1994

nomisch begründete Wertschätzung und Bedeutung erfahren. Nach Jahrzehnten der Suburbanisierung zeige sich in den westlichen Industrieländern in einem eindrucksvollen »urban turn­around« eine zunehmend deutlichere »Herausbildung einer neuen Form städtischer Zen­tralität und einer neuen Attraktivität der Stadt«.7 Insbesondere die sogenannte creative class,8 also diejenigen, die im Bereich wissens- und kulturbasierter Dienstleistungen tätig sind wie Softwareentwickler, Medienleute, Wissenschaftler und deren Umfeld seien auf die soziale und räumliche Dichte des »privilegierten Innovationsfelds« innerstädtischer Quartiere mit seinen vielfältigen urbanen Milieus angewiesen und brächten damit neue städtische Standortkonzentrationen hervor.

Demografischer Wandel Wir werden weniger – auf lange Sicht rechnet das Statistische Bundesamt in seinen Bevölkerungsvorausberechnungen9 aufgrund der seit ca. 45 Jahren anhaltend niedrigen Geburtenrate (zur Zeit ca. 1,5 statt der zum einfachen Ersatz der Elterngeneration notwenigen 2,1 Kinder je Frau) deutschlandweit grundsätzlich immer noch mit einem (regional allerdings sehr stark divergierenden und zeitversetzten) deutlichen Rückgang der Bevölkerungszahlen. Vorausgehende Prognosen und Vorausrechnungen, die diesen Schrumpfungsprozess schon in der Gegenwart einsetzen sahen, wurden allerdings durch die in ihrer Höhe völlig unerwarteten Zuwanderungsgewinne seit etwa 2010 zu Makulatur. Bis etwa 2014 handelte es sich dabei – im Kontext der EU-Osterweiterung – vor allem um die Zuwanderung von Ost- und Südeuropäern, seit 2015 schnellten dann die Flüchtlingszahlen in die Höhe. Insgesamt lagen die Wanderungssalden in Deutschland 2015 bei 1,1 Mio. und 2016 bei ca. 0,75 Mio. Personen. Vor allem die wirtschaftsstarken (Groß-)Städte wachsen besonders schnell und müssen sich auf weiter emporschnellende Einwohnerzahlen einrichten. Stuttgart z.B. hat in den wenigen Jahren zwischen 2010 und 2016 ca. 43 000 Einwohner hinzugewonnen.10 Doch der Wohnungsneubau kann damit noch in keiner Weise Schritt halten. Das dringend notwendige Umsteuern insbesondere bei der Schaffung von bezahlbaren Neubauwohnungen, fällt diesmal schwerer als bei Wohnungskrisen der

Vergangenheit. Als Hauptengpass erweist sich das Fehlen von geeignetem Bauland – kaum eine Kommune hatte unter den Vorzeichen von Stagnation und Schrumpfung eine vorausschauende maßvoll-expansive Flächennutzungsplanung und Bodenvorratspolitik betrieben.11 Aber selbst bei einem künftigen deutlichen Rückgang der Zuwanderungszahlen ist schon allein aufgrund der zu erwartenden weiteren Verkleinerung der Haushaltsgrößen mit anhaltendem Nachfragedruck auf den Wohnungsmärkten zu rechnen. Bezieht man darüber hinaus zusätzliche Nachfragekomponenten mit ein wie eine wachsende Eigentumsquote, die Alterung, Wohnflächenzuwächse etc., dann erscheint, wie das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung12 bereits 2011 in einer Studie für Baden-Württemberg herausgestellt hat, im Zeitraum bis 2030 auch aus diesen Gründen eine ganz erhebliche Steigerung der Neubauleistungen erforderlich. Dies umso mehr, als der allgemeine Zuwanderungsboom nach vorheriger Stagnation und langem Rückgang seit 2010 auch in Baden-Württemberg wieder zu erheblichen Bevölkerungszuwächsen geführt hat (Abb. 1). Wichtiger noch sind die qualitativen Veränderungen, die sich aus dem sozialen Wandel mit der Verkleinerung der Haushaltsgrößen (in Deutschland durchschnittlich auf nur noch etwa zwei Personen) ergeben und große Herausforderungen für eine sozial nachhaltige Quartierspolitik mit sich bringen. Der typische städtische Haushalt wird nicht mehr durch den klassischen Familienhaushalt repräsentiert, sondern durch Ein- und Zweipersonenhaushalte, die mittlerweile in den Großstädten bereits 75 bis 80 Prozent der Haushalte ausmachen.13 Mit dem anhaltenden Anstieg der Zahl der Singles, Alleinerziehender, (nicht) ehelicher Lebensgemeinschaften mit oder ohne Kinder, Wohngemeinschaften und Ähnlichem hat sich eine Pluralisierung der Haushaltstypen mit je eigenen Ansprüchen an das Wohnen und das urbane Umfeld Bahn gebrochen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind komplex und wurzeln u. a. in der Verlängerung der Ausbildungszeiten, dem Bedeutungsverlust der Ehe und erhöhten Scheidungsraten, dem allgemeinen Wertewandel und nicht zuletzt auch der steigenden Lebenserwartung. Befördert, begleitet und überlagert wird dieser Prozess der Pluralisierung von einer zunehmenden Individualisierung, in deren Gefolge sich die Lebensstile unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen immer weiter ausdifferenzieren.14 Wir werden älter – nicht wenige Planer und Kommunalpolitiker sehen in der Alterung auch in

63

Tausend Personen

2.3 — Mensch und Soziokultur

Wanderungssaldo

220

Geburtensaldo

200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 2015

2014

2012

2013

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

1990

-20

Abb. 1  Entwicklung der Geburten- und Wanderungssalden in Baden-Württemberg 1990 –2015 Abb. 2  Pflegebedürftige in Deutschland nach Altersgruppen 1999, 2013 und 2030

Abb. 1

stadt- und quartiersentwicklungspolitischer Hinsicht eine der größten Herausforderungen des demografischen Wandels.15 Tatsächlich geraten durch die demografische Alterung, also die gegenläufige Entwicklung von Bevölkerungswachstum bei den Älteren und Schrumpfung bei den Jüngeren (üblicherweise durch den sogenannten Altenquotienten ausgedrückt), nicht nur die sozialen Sicherungssysteme in eine gefährliche Schieflage, sondern es erwächst hieraus auch die Herkules­ aufgabe eines altengerechten Umbaus des Wohnungsbestands und der Bewältigung des steigenden Pflegeaufwands (Abb. 2). Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts ist bis 2060 mit einer deutlichen Steigerung der Lebenserwartung (um sechs bis sieben Jahre) und mit mehr als der Verdoppelung der Zahl der Hochaltrigen über 80 Jahre (von gegenwärtig ca. 4,8 Millionen auf rund 10 Millionen) zu rechnen. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt damit immens, während die Akzeptanz traditioneller Heimunterbringung weiter sinkt und zugleich die Tragfähigkeit familiärer Netzwerke, die die Pflegeleistungen bislang noch überwiegend erbracht haben, immer weiter abnimmt. Wir werden »bunter« – nicht zuletzt vor dem ­Hintergrund des Zustroms von Flüchtlingen seit 2015 und der damit einhergehenden politischen ­Kontroversen ist die erfolgreiche Integration der ­Zu­­gewanderten zu einer der zentralen Heraus­ forderungen und stadt- und sozialpolitischen Zukunftsaufgaben geworden. Mittlerweile haben in Deutschland etwa 22,6 % der Bevölkerung – ca. 18,6 Millionen Menschen – einen Migrationshintergrund, knapp neun Millionen davon sind Ausländer ohne deutschen Pass.16 Dass Deutschland längst zum Einwanderungsland geworden ist, hat mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 und durch das Zuwanderungsgesetz von 2005 auch rechtliche Anerkennung gefunden. Den Städten und Quartieren kommt

in der Praxis der Integrationspolitik eine Schlüsselrolle zu.17 Ganz neue quantitative und qualitative Herausforderungen haben die Kommunen bei der Integration der schutzsuchenden Asylantragsteller (2015: 442 000 Asylerstanträge, 2016: 722 000) zu bewältigen. Am Anfang der Aufgabe Integration steht sicherlich die Sorge um das »Dach über dem Kopf« und die Sicherung des elementaren Lebensunterhalts. Aber dann geht es um die Entwicklung eines »Dreiklangs« aus Integration in den Arbeitsmarkt, aus Bildungsangeboten, kultureller Teilhabe und Sprachförderung sowie einem Wohnen, das nicht nur adäquaten Wohnraum im engeren Sinn, sondern auch die Integration in das umgebende Quartier einschließt. Im Idealfall greifen diese Prozesse ineinander und unterstützen sich gegenseitig. Integration ist ein komplexer Prozess, der sich auch im günstigen Fall über ein bis zwei Generationen hinzieht und ganz verschiedene Phasen durchläuft.

3 495 000

2 626 000 2 016 000 299 000

420 000 1 308 000 1 022 000

715 000 732 000

852 000

406 000

453 000

439 000

1999

2013

2030

596 000

90 Jahre und älter 80 bis unter 90 Jahre Abb. 2

Sozialer Zusam­ menhalt – ­Segregation Nicht erst mit dem Blick auf die Nachbarländer, auf die brennenden Banlieues in Frankreich 2005 und 2007 oder die Unruhen in England 2011, hat die Sorge um den sozialen Zusammenhalt in den Städten bzw. um das viel zitierte Auseinanderdriften der Stadtgesellschaften auch in Deutschland einen zuvor ungeahnten Stellenwert erhalten.18 Die OECD-Studien sowie die »Armuts- und Reichtumsberichte« der Bundesregierung19 bestätigen die sich zunehmend öffnende Schere zwi-

897 000

15  Harlander 2010 16 Statistisches Bundes-

amt, Pressemitteilung Nr. 261 vom 01.08.2017 17 Gesemann/Roth 2009 18 Stadtbauwelt 196/2012 19 Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017

65 bis unter 80 Jahre unter 65 Jahre

64

Kapitel 2 — Heraus­f orderungen

Abb. 3 20 von Einem 2016b 21 Herfert  /Osterhage 2012, S. 107 22 BBSR 2011, S. 3 23 Harlander et al. 2007 24 Holm 2016 25 Difu 2017 26 Jung 2012, S. 84 27 Harlander /Kuhn /Wüstenrot Stiftung 2012

Abb. 3 abgeschirmtes ­Wohnen, Rosenpark, ­Stuttgart-Vaihingen (DE) 2006, Leon Wohlhage Wernik Archi­tekten Abb. 4 Neugestaltung Georg-Büchner-Platz, ­Darmstadt (DE) 2010, ­LRO Lederer + Ragnarsdóttir + Oei

schen Arm und Reich nach Einkommen und Vermögen, die inzwischen auch in Deutschland ihre nicht mehr zu übersehenden sozialräumlichen Korrelate gefunden hat. Im Extremfall stehen auf der einen Seite die mehr oder weniger abgeschlossenen, gegenwärtig stark expandierenden Enklaven des urbanen Luxuswohnens, auf der anderen Seite die sozial einseitig belegten »überforderten« Nachbarschaften vieler Großwohnsiedlungen der 1960er- und 70er-Jahre sowie noch nicht aufgewerteter, vernachlässigter Altbauquartiere. Wirkliche »gated communities« wie den Aachener Barbarossapark gibt es hierzulande allerdings nur in einer verschwindend geringen Zahl. Anders als in den USA, China, Südamerika, Südafrika oder den osteuropäischen Transformationsstaaten ist die Anlage ausgedehnter abgeschlossener Wohnkomplexe wohnkulturell wie planungsrechtlich mit den deutschen Traditionen wenig kompatibel und bislang auch kaum gewünscht. Aber ähnlich wie in einigen unserer europäischen Nachbarländer expandieren auch in Deutschland neue Formen eines durch architektonische und städtebauliche Mittel abgeschirmten und sozial oftmals weitgehend homogenen Wohnens (Abb. 3). Die neuen Luxusprojekte sind Teil einer allgemeinen, empirisch deutlich belegbaren Renaissance der Städte.20 Selbst wenn Ursachen, Stabilität und Verlaufsformen des Trendwechsels im Einzelnen

unter Wissenschaftlern immer noch umstritten sind, so fassen die Stadtforscher Günter Herfert und Frank Osterhage die Ergebnisse ihrer Untersuchung von 78 deutschen Stadtregionen dahingehend zusammen, dass man »von einem neuen Leittrend der stadt-regionalen Entwicklung in Deutschland sprechen [kann]. Die Reurbanisierung hat demnach die Suburbanisierung als dominantes Raummuster der 1990er-Jahre weitgehend abgelöst.«21 Bei näherem Hinsehen erweist sich die Reurbanisierung allerdings keineswegs als stadtentwicklungspolitischer Selbstläufer, sondern als ein höchst selektiver Prozess, an dem Städte je nach ökonomischer Stärke, großräumiger Lage und nicht zuletzt aufgrund ihrer jeweiligen Bodenund Wohnungspolitik in sehr unterschiedlicher Weise teilhaben.22 Das neue Stadtwohnen23 ist quantitativ erfolgreich, doch in Wachstumszentren wie München, Hamburg, Frankfurt am Main oder Berlin scheint der Preis hierfür in sozialer Hinsicht durch die damit einhergehende Fragmentierung des Stadtraums und die tendenziell flächenhafte Verdrängung der auf niedrige Mieten angewiesenen Bevölkerungsgruppen hoch. 24 Während die Städte in den Schrumpfungsregionen mit Haltestrategien um die verbliebenen Einwohner kämpfen, droht in den Boomregionen mit den Preissteigerungen, die die Renaissance des Stadtwohnens begleiten, und Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozessen eine neuerliche Vereinseitigung der Sozialstrukturen – diesmal in umgekehrter Richtung.25 Entwickelt sich, so die seit einigen Jahren auch zunehmend von den Medien aufgeworfene neue soziale Frage in den Städten, das Stadtwohnen zu einer Domäne der Reichen und Superreichen, in der für Arme, ja selbst für klassische mittelständische Familien kein Platz mehr sein wird? »Stadtluft macht arm«, so titelte der Spiegel im November 2012 und konstatierte: »Deutsche Metropolen erleben einen beispiellosen Immobilienboom. Gebaut werden meist Luxusobjekte, bezahlbarer Wohnraum wird Mangelware. Jetzt treibt die Knappheit die Mieten in die Höhe – und die Bürger aus den Zentren.«26 Offensichtlich geht es in den wachstumsstarken Städten im Umgang mit den Bestandsquartieren um eine nicht leicht zu justierende Balance: Die Aufwertung degradierter Altstadtquartiere ist ja grundsätzlich erwünscht und eröffnet mit dem Zuzug einkommensstärkerer Gruppen zumindest anfänglich neue soziale Mischungsoptionen,27 muss aber, wie etwa der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude wiederholt unterstrichen hat, durch den Einsatz aller verfüg-

65

2.3 — Mensch und Soziokultur

baren Schutzinstrumente flankiert werden, um unerwünschte soziale Folgen wenigstens abzuschwächen. Darüber hinaus gilt es, auch weiterhin die überforderten Nachbarschaften der Großsiedlungen28 mit ihren städtebaulichen und infrastrukturellen Defiziten sowie die oft durch einen überproportionalen Anteil an Migranten, Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern geprägten einseitigen Sozialstrukturen behutsam zu stabilisieren und aufzuwerten. Das 1999 gestartete Bund-LänderProgramm »Soziale Stadt« (bis 2016 wurden 783 Programmgebiete in 441 Kommune gefördert) hat sich hierbei vor allem durch seine sozial besonders effektiven nicht-investiven Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Integration und Teilhabe zum wichtigsten städtebaulichen Instrument in diesem Bereich entwickelt.

Lokale Identität und öffentlicher Raum Eine der großen Herausforderungen der Gegenwart besteht in der Sicherung einer unverwechselbaren Stadt- und Quartiersidentität, die für die Stadtbürger eine je eigene »Heimat« stiften kann.29 Bestandteile dieser Identität sind gleichermaßen der historische Stadtgrundriss, die Bauten und Räume einer Stadt wie das gesamte Gewebe aus Geschichte, Tradition, kollektiver Erinnerung, Selbstbildern und Mentalitäten – all das, was mit einem neueren Begriff als »Eigenlogik der Städte« bezeichnet wird.30 Eben diese Unverwechselbarkeit ist in der Gegenwart durch die Prozesse eines uniformen Umbaus der Städte, der die kulturellen Unterschiede nivelliert, massiv gefährdet. So entstehen mit den überall gleichartigen, zum Teil privatisierten Räumen der Flughäfen, Einkaufszentren und filialisierten Fußgängerzonen »Nicht-Orte«31 ohne Geschichte und Identität. Für eine behutsame, nachhaltige Stadtentwicklungspolitik und Stadtbildpflege geht es in der Bewahrung des kulturellen und baulichen Erbes um den schwierigen Balanceakt zwischen konservierendem Denkmalschutz und einer »qualifizierten Weiterentwicklung« von Stadt. Ähnlich diffizil ist bei der Planung und Gestaltung der öffentlichen Räume, insbesondere in den histo-

rischen Altstädten, der konfliktträchtige Interessenausgleich zwischen dem Wunsch nach Inszenierungen, Festivals, Stadtevents und dem mit der Wohnnutzung verknüpften Ruhebedürfnis der Anwohner.32 Ein solcher Interessenausgleich zwischen einer Übernutzung und möglicherweise auch einer Unternutzung der Stadt ist nur im Dialog mit allen Beteiligten – Anwohnern, Gewerbetreibenden und öffentlicher Hand – erreichbar: »Eine bürgerschaftlich akzeptierte und mitge­ tragene Aufwertung des öffentlichen Raums ist nicht möglich ohne Partizipation«, resümieren die Autoren einer Studie zu Projekten und kommunalen Strategien einer Aufwertung der öffentlichen Räume in Baden-Württemberg.33 Generell erfährt der öffentliche Raum als Erweiterungsfläche des privaten Wohnens, als Erholungsfläche und als Kommunikations- und Begegnungsraum für Menschen aller Altersgruppen heute wieder eine starke und wachsende Beachtung. Ein gelungenes, mit dem Deutschen Städtebaupreis 2012 ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist die Neugestaltung des Georg-Büchner-Platzes in Darmstadt (Abb. 4). Mit der Schaffung eines urbanen, kommerzfreien und öffentlich bespielbaren Platzes gelang es nicht nur, für das Staatstheater ein attraktives Entree zu schaffen, sondern auch die verloren gegangene städtebauliche Verbindung zur Innenstadt wiederherzustellen. Die überkommene starre Trennung von öffentlichen und privaten Räumen wird zunehmend obsolet. Größte Bedeutung gewinnen die transitorischen Zonen des Übergangs von innen und außen, von privaten Innen- und öffentlichen Freiräumen, also Fassaden und Erdgeschosszonen, aber auch etwa (halb-)öffentliche Innenhöfe oder temporär zwischengenutzte Lückengrundstücke und Brachen. Gut funktionierende Sozialräume entstehen immer dann, wenn Spielräume zur Aneignung und kreativen Selbstgestaltung bestehen und eine Nutzerbeteiligung stattgefunden hat. Freie, ungehinderte Zugänglichkeit und kommunikative Qualitäten des öffentlichen Raums haben dabei zweifellos eine Schlüsselfunktion für den sozialen Zusammenhalt und die (nachbarschaftliche) Identitätsbildung im Quartier. Ebenso wichtig ist der Aufbau und die Sicherung bezahlbarer Zugänglichkeit insbesondere zu Bildungs-, Kultur-, Gesundheits-, Versorgungs-, Freizeit- und Serviceeinrichtungen auf Quartiersebene, die all den Bewohnergruppen eine gleichberechtigte Teilhabe am städtischen Leben ermöglichen, die sich über den Markt aus eigener Kraft nicht in angemessener Weise versorgen können.

Abb. 4

28 Kompetenzzentrum Großsiedlungen 2015 29 Hassler 2016 30 Löw/Terizakis 2011; zur Kritik Häussermann 2011 31 Augé 1994 32 Siebel 2015 33 Kuhn/Dürr/Simon-Philipp 2012, S. 202

Weitere ­Informationen

•  Barboza, Amalia et al. (Hrsg.): Räume des Ankommens. Bielefeld 2016 •  Brake, Klaus; Herfert, Günter (Hrsg.): Reurbanisierung. Materialität und Diskurs in Deutschland. Wiesbaden 2012 •  Cachola Schmal, Peter; Elser, Oliver; Scheuermann, Anna (Hrsg.): Making Heimat. Germany, Arrival Country. Ostfildern 2016 •  Gehl, Jan: Städte für Menschen. Berlin 2016 •  Organisation for Economic Co-operation and Development – OECD: Divided We Stand. Why Inequality Keeps Rising. Paris 2011 •  Siebel, Walter: Die Kultur der Stadt. Berlin 2015 •  Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen – WBGU (Hrsg.): Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte. Berlin 2016 •  Wehler, Hans-Ulrich: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland. München 2013

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Kapitel 2 — Handlungsfelder

Handlungsfeld Soziales Gefüge Til man Harlander

S

1  2  3  4  5 

Becker/Jessen 2014 Feldtkeller 2012 Jessen 2004, S. 99 Pätzold/Spars 2015 Mayer-Dukart 2010, S. 75f.

tädte, Wohnungswirtschaft und engagierte Bürger haben im Sinne einer sozial nachhaltigen Quartiersplanung eine Vielzahl an Strategien, Projekten und Einzelmaßnahmen entwickelt, um auf die Herausforderungen des demografischen Wandels, die wachsenden Integrationsaufgaben und die Gefährdungen des sozialen Zusammenhalts zu reagieren. Grundsätzlich geht es darum, die städtischen Quartiere als Wohn- und Arbeitsort, Lebens- und Begegnungsraum für alle Bevölkerungsgruppen lebenswert, attraktiv und sicher zu gestalten. Einheitliche Strategien und Patentrezepte kann es dabei angesichts der Unterschiedlichkeit der Problemlagen und der Vielfalt an Quartierstypen nicht geben: Gründerzeitliche Innenstadtquartiere, Kleinsiedlungen am Stadtrand, Großsiedlungen der 1960er- und 70er-Jahre, Einfamilienhausgebiete oder auch seit den ­1990er-Jahren errichtete Stadtquartiere weisen ganz verschiedene Stärken und Schwächen und daraus folgenden Interventionsbedarf auf. Nicht zuletzt muss die Gestaltung des Sozialraums Quartier in eine übergreifende, integrierte und partizipativ gestaltete Stadt(teil)entwicklungsplanung eingebunden sein, in der soziale, ökologische, wirtschaftliche und städtebaulich-architektonische Aspekte zu einem ganzheitlichen Handlungskonzept zusammengeführt werden.

Nutzungs­ mischung Was charakterisiert ein sozial nachhaltiges Stadtquartier? Die Antwort hierauf fällt seit der »Leit-

bildrenaissance der europäischen Stadt«1 gänzlich anders aus als im Siedlungsbau und den städtebaulichen Konzepten des Funktionalismus der Moderne. Grundsätzlich gilt heute – zumindest in Gesetzestexten, Programmen, Memoranden und Weißbüchern – die an der Tradition der europäischen Stadt orientierte dichte, kompakte Stadtstruktur der kurzen Wege mit kleinteiliger funktionaler und sozialer Mischung als tragfähiges und zeitgemäßes Modell. In städtebaulicher Hin­ sicht steht dies im Gegensatz zu den fließenden Räumen und dem Zeilenbau der Moderne und ist, im Rückgriff auf den Parzellenstädtebau der vormodernen Stadt, vielmehr dessen kleinräumiger Blockrandbebauung in einem netzförmigen Straßensystem verbunden.2 In Abkehr von den Monokulturen der Moderne sollen Wohnungen, Arbeitsstätten und Dienstleistungseinrichtungen wieder enger verflochten werden, der öffentliche Straßenraum durch die Öffnung der Erdgeschosszonen eine nachhaltige urbane Belebung erfahren und damit zugleich der (Arbeits-)Pendelverkehr eine deutliche Reduzierung erfahren. In der Praxis sind die bisherigen Ergebnisse allerdings eher ernüchternd. Blieb schon bei neuen Stadterweiterungen das Ziel der kleinräumigen Nutzungsmischung meist ein frommer Planerwunsch,3 so zeigte sich auch beim Stadtumbau im Bestand, dass die Realisierungschancen einer kleinteiligen Verflechtung von Arbeiten und Wohnen hier zwar höher liegen, aber doch in vielen Fällen mit der Maßstabslogik großer (internationaler) Investoren konfligieren.4 Auch die anhaltenden Konzentrations- und Flächenerweiterungsprozesse im städtischen Einzelhandel erweisen sich als schwer zu überwindende Hürde.5 Spielhallen, Wettbüros, 1-Euro-Läden und Call-Shops, die stattdessen in die kleinteiligen Ladenflächen drängen, wirken dagegen dem Ziel urbaner, kleinteiliger Nutzungsmischung entgegen. Am erfolgreichsten waren bislang jene Ansätze,

67

2.3 — Mensch und Soziokultur

die die angestrebte funktionale und soziale Mischung auch mit einer Vielfalt verschiedener Bauträger, insbesondere Baugemeinschaften und neuer Genossenschaften, zu erreichen versuchten.6 Die Tübinger Planungen können dabei als ein Pionierprojekt gelten. Hier wusste man die sich bietenden Chancen zur Entwicklung eines attraktiven Stadtquartiers »von unten« auf einem ehemals militärisch genutzten Konversionsgebiet, dem Französischen Viertel bzw. Loretto-Areal, zu nutzen.7 In der gezielt als Mischgebiet und nicht als allgemeines Wohngebiet ausgewiesenen Tübinger Südstadt sind Wohnen und Arbeiten beispielhaft funktional miteinander verflochten: Für jedes Erdgeschoss musste eine gewerbliche Nutzung nachgewiesen werden. Da die üblichen Bauträger auf die städtischen Vorgaben nicht eingehen wollten, blieb der Stadt gar nichts anderes übrig, »als die Verwirklichung einer kleinteiligen und vielfältigen Nutzungsmischung mit den künftigen Nutzern selbst zu versuchen«.8 Bei den Folgequartieren (Alte Weberei, Güterbahnhof-Areal u. a.) hat man die anfänglich strikten Regularien flexibilisiert. Kleinteilige Nutzungsmischung im Quartier gilt als Schlüsselbaustein für urbane Vielfalt, Lebendigkeit, Sicherheit und soziale Qualitäten des öffentlichen Raums. Ideale Modelle gibt es nicht. Nutzungsmischung ist horizontal und vertikal, im Einzelgebäude, Block oder Quartier möglich – ihre jeweilige Ausgestaltung ist im Austausch mit Betroffenen und Nutzern individuell vor Ort zu erarbeiten.

Stadtquartiere – Wohnen für alle Die Herausforderungen des demografischen Wandels haben dazu geführt, dass die Kommunen verstärkt bemüht sind, ihre Stadtquartiere zu gleichermaßen gut nutzbaren Räumen für Menschen aller Altersgruppen und Nationalitäten weiterzuentwickeln (Abb. 1).9 Zu einer ganz besonderen, nur durch die Zusammenarbeit von Verwaltungen und ehrenamtlichen Helfern zu bewältigenden Aufgabe ist vor dem Hintergrund des Flüchtlingszustroms der letzten Jahre deren (möglichst) dezentrale Unterbringung, Versorgung und Betreuung geworden. Zunächst gilt es, die Geflüchteten in den Erstaufnahmeeinrichtungen und dann in der sogenannten vorläufigen Unterbringung zu versorgen. Mit der Anerkennung bzw.

Abb. 1

der Gewährung »subsidiären Schutzes« (»Gesamtschutzquote« durch das Bundesamt für ­Migration 2017: 43,4 %) wechseln die Flüchtlinge dann in die Anschlussunterbringung und sind grundsätzlich deutschen Wohnungssuchenden gleichgestellt. Die dabei entstehenden Konkurrenzen und Sozialneid könnten vor allem in den Ballungsräumen und Wachstumsregionen eine gefährliche Sprengkraft entfalten. Über die Anmietung von Wohnungen hinaus stehen die Kommunen bei der Neuschaffung von menschenwürdigem und zugleich kostengünstigem Wohnraum vor der Wahl, übergangsweise entweder temporäre »Systembauten« (Abb. 2, S. 68) oder sozial langfristig nutzbaren – zunächst aber dichter belegten – »Wohnraum für alle«10 zu schaffen. Noch immer fällt trotz des allgemeinen, vor allem jedoch auf den Zuzug jüngerer »Bildungswanderer« gegründeten Reurbanisierungstrends der Wanderungssaldo zwischen Stadt und Umland bei älteren Menschen und Familien mit Kindern in der Regel für die Städte negativ aus. Für diese Gruppen gibt es dort nach wie vor zu wenig geeigneten und vor allem bezahlbaren Wohnraum und in vielen Fällen auch nur unzureichende Wohnumfeldbedingungen. So sind die Möglichkeiten für ein wohnungsnahes, gemeinschaftliches Spielen von Kindern mit Gleichaltrigen im Straßenraum nach Jahrzehnten der Dominanz des Autoverkehrs heute weitgehend verschwunden und der städtische Kinderalltag ist oft durch stadt-

Abb. 1  Siedlung mit Alterswohnungen, Kinderkrippe und Eltern-Kind-Zentrum, Zürich (CH) 2011, pool Architekten

 6 Kuhn/Harlander 2010  7 Soehlke 2014  8 Feldtkeller 2012, S. 104  9  Steffen/Baumann/Fritz 2007 Werkbund Bayern 2016; 10  Friedrich et al. 2015

68

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Abb. 2 Abb. 2  Systembauten für Geflüchtete in Stuttgart-Plieningen (DE) Abb. 3  Siedlung für Demenzkranke »De Hogeweyk«, Weesp (NL) 2012, Molenaar & Bol & Van Dillen architekten

11 ARGE 2008 12 Jocher/Loch 2010 13 www.martin-riedlingen. de/senioren/seniorenhomepage.htm 14 ARGE BW 2012, S. 15; BMVBS/BBSR 2010

räumliche »Verinselung« und »Medialisierung« geprägt. Gerade in den letzten Jahren ist ein Umdenken zu erkennen und das Ziel einer kindgerechten Wiedergewinnung des Stadtraums genießt heute einen hohen Stellenwert. Wie innovativ hier beispielsweise Kommunen in BadenWürttemberg mit unterschiedlichen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen, Spielplatzgestaltungen, Schulhoföffnungen, dem Ausbau von Betreuungsinfrastrukturen, Kinder-Kultur-Werkstätten oder Kinderstadtplänen und Ähnlichem experimentieren, dokumentieren entsprechende Wettbewerbsinitiativen.11 Die Anpassung des Wohnungsbestands und der Stadtquartiere an die sich ausdifferenzierenden Bedürfnisse des Alterns ist ein weiterer Punkt und gehört zu den anspruchvollsten Aufgaben sozial nachhaltiger Stadtpolitik (Abb. 3). Insbesondere ältere Menschen können in der Stadt von der Nähe zu Fachärzten, Apotheken, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie von einem breiten Einzelhandelsangebot und einem gut ausgebauten ÖPNV besonders profitieren. Wohnwunschbefragungen unterstreichen deutlich das Anliegen, so lange wie möglich in der vertrauten Wohnumgebung zu verbleiben. Auch statistisch gesehen entspricht dieser Wunsch der Realität: Mehr als 95 % der über 65-Jährigen leben in Deutschland in den eigenen vier Wänden, weniger als 5 % in Heimen. Selbst von den Pflegebedürftigen werden zwei Drittel zu Hause gepflegt. 2016 gab es in Deutschland etwa 2,9 Millionen Pflegebedürftige und ca. 7,6 Millionen Schwerbehinderte. Je altersgerechter und barriereärmer die Wohnung und das Wohnumfeld gestaltet sind,12 desto länger kann die eigene Wohnung trotz wachsender Einschränkungen genutzt werden. Völlige Barrierefreiheit kann dabei allerdings nicht das Ziel sein. Barrieren gliedern auch Räume oder schaffen, wie etwa beim umzäunten Kinderspielplatz, im Einzelfall

Sicherheit. Zudem ist das Überwinden von Barrieren für Kinder eine wichtige Erfolgserfahrung in der körperlichen Entwicklung, in der Ausbildung des Bewegungsapparats und der allmählichen Ausweitung des Erfahrungshorizonts. Auch für ältere und behinderte Menschen sind angemessene Anforderungen an den Bewegungsapparat durchaus förderlich. Bei dem Bemühen um die Reduktion von Barrieren geht es also immer um einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen und Ansprüche an den Quartiersraum bzw. um die Gleichberechtigung beim Zugang zu Möglichkeiten, Räumen und um Wertschätzung. Mit der An­­ passung der Wohnungen an die Anforderungen der Barrierefreiheit, der Verbesserung der verschiedenen Formen des betreuten Wohnens, der Ini­tiierung innovativer generationenübergreifender Wohnprojekte und der Einrichtung von ambulant betreuten Wohngemeinschaften steht Deutschland allerdings noch weitgehend am Anfang. Die altengerechte Ausstattung ist zudem nur eine der Bedingungen, damit ältere Menschen in ihrer angestammten Wohnumgebung verbleiben können. Die andere ist die entsprechende Anpassung des Wohnumfelds und eine qualitativ hochwertige – und bezahlbare – Pflege- und Versorgungssicherheit im Quartier. Als beispielhaft für einen innovativen, inzwischen mehrfach kopierten Ansatz gilt die bereits 1991 gegründete preisgekrönte Seniorengenossenschaft Riedlingen mit den Seniorenwohnanlagen »Rösslegasse« und »Am Stadtgraben« mit ihrem auf gegenseitiges Geben und Nehmen gegründeten Betreuungskonzept.13 Im Rahmen sozial nachhaltiger Quartiersplanung geht es grundsätzlich nicht um Sondermaßnahmen für einzelne Alters- oder ethnische Gruppen, sondern um Qualitätssteigerungen, die letzten Endes allen Bewohnern zugutekommen.14 Gleichsam rahmensetzende Bedeutung kommt dabei der

69

2.3 — Mensch und Soziokultur

Abb. 3

Aufwertung des öffentlichen Raums zu. Er dient laut Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zugleich »als Bühne der Quartiersgesellschaft, der Bildung sozialer Netze, aber auch als Austragungsort von Konflikten zwischen sozialen Gruppen. Deshalb ist der Freiraum das ideale Erprobungsfeld für eine neue Planungskultur«.15 Gefragt ist die Kreativität der Beteiligten in der Entwicklung und Erprobung neuer Verkehrs- und/ oder Grünkonzepte (z. B. Shared Spaces, Urban Gardening), eines veränderten Umgangs mit Wasser (z. B. Freilegungen von Bächen), mit Kunst im öffentlichen Raum (z. B. temporäre Installationen, gestaltende Lichtplanung etc.) oder auch neuer Interpretationen des Übergangs von privaten und öffentlichen Räumen.16 Ebenso wichtig wie die Planung der Freiräume ist der komplementäre Ausbau der Gemeinschaftseinrichtungen auf Quartiersebene.17 Auch hier haben sich Trägerschaften, Akteurskonstellationen, bauliche Formen, inhaltliche Ausrichtung und Größe enorm ausdifferenziert und vielfältige Bezeichnungen etabliert: Nachbarschaftszentrum, Bürgerhaus, Stadtteiltreff, Mehrgenerationenhaus, Haus der Kulturen und Generationen, Nachbarschaftsbörse, Bewohnertreff, Haus der ­Familie und Community Center.18 In erfolgreichen Projekten wie dem genossenschaftlichen Wohn­projekt »Wagnis 1« in München entwickelten sich beispielsweise ein Café und ein Nachbarschaftstreff zu einem sozialen Bezugspunkt für das gesamte Quartier.

Sichere Quartiere Eine sozial nachhaltige Stadt ist auch eine sichere Stadt und wird als solche empfunden. Raumstruk-

turen determinieren das Verhalten nicht, aber sie schaffen auf vielfältige Weise sowohl Handlungsmöglichkeiten als auch Handlungsbeschränkungen. Architektur und Städtebau können wesentlich dazu beitragen, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu erhöhen. Im öffentlichen Raum wie im Gebäude heißt dies die Beseitigung von Angsträumen, bessere Einsehbarkeit, gute Beleuchtung, ausreichende Orientierungshilfen und generell übersichtliche, gepflegte und gut gestaltete Räume. Entscheidend im Sinne der Stärkung funktionsfähiger sozialer Nachbarschaften ist dabei nicht so sehr der Ausbau von polizeilicher Kontrolle oder Überwachung, sondern die Stimulation von informeller sozialer Kontrolle und die Übernahme von Verantwortung durch die Bewohner selbst. Im Bereich Sicherheit geht es, so der Stadtsoziologe Walter Siebel, um eine in der Praxis schwer zu findende Balance: »Zu wenig Kontrolle kann den öffentlichen Raum ebenso gefährden wie zu viel Kontrolle.«19 Unsicherheit sei ein Strukturelement des öffentlichen Raums. Vollständig kontrollierte Räume seien keine öffentlichen Räume mehr, aber umgekehrt können unsichere Parks und Straßenräume sehr schnell ihren Öffentlichkeitscharakter verlieren.

Smart Cities? Mit eben diesem Problem sind weltweit Ansätze zur Schaffung sogenannter Smart Cities wie etwa im südkoreanischen Songdo massiv konfrontiert. Mit dem Ziel der Ressourcenschonung und des Energieverbrauchs, aber auch der Herstellung von Sicherheit im öffentlichen Raum wird das gesamte Leben in Songdo durch ungezählte Kameras und Sensoren überall und rund um die Uhr bis

15 BBSR 2009, S. 6 16  Kuhn/Dürr/Simon-Philipp 2012 17  BBSR 2008 18  BMVBS/BBSR 2010 19  Siebel 2006, S. 11

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Kapitel 2 — Handlungsfelder

Abb. 4 Abb. 4  sozialer Mietwohnungsbau als Neuinterpretation des vorherigen Zeilenbaus, Buchheimer Weg, Köln (DE) 2012, ASTOC Architects and Planners

20 www.lemonde.fr/smartcities/article/2017/05/29/ songdo-ghetto-for-theaffluent_5135650_ 4811534.html 21 Weiß 2017 22 Harlander/Kuhn/Wüstenrot Stiftung 2012 23 BWSV NW/DIFU 2015 24 Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 2010, S. 9 25 ILS 2018 26 Gans 1974, S. 197 27 Spiegel 1983, S. 88

hinein in den privaten Bereich überwacht und kontrolliert. Bislang zieht dieser Stadttypus offenbar, wie die französische Tageszeitung »Le Monde« recherchiert hat, allenfalls junge, wohlhabende Familien mit Kindern an: »Steril und seelenlos, die Stadt sieht nicht so aus wie andere koreanischen Städte. Es gibt keine armen Menschen, keine Straßenhändler, keine alten Leute.«20 Hier wie in anderen Smart Cities bleiben die Probleme aus dem Spannungsverhältnis einer rasend schnell voranschreitenden Digitalisierung und Vernetzung aller Lebensbereich und dem Datenschutz bzw. dem Schutz der Privatsphäre (vorerst?) noch ungelöst. Dies gilt selbst – eingeschränkt – für den Bereich der Entwicklung von Assistenzsystemen für ältere und behinderte Menschen. Die Optionen und die Zahl potenziell nützlicher Produkte erweitern sich zwar ständig, aber hier treten zu den Fragen des Datenschutzes noch die innerhalb dieser Klientel keinesfalls zu unterschätzenden Bedienungsprobleme im Alltag hinzu.21

Soziale Mischung, Wohnungs- und Bodenpolitik Im Kontext des gegenwärtigen Immobilienbooms überwiegt in der baulichen Praxis der meisten Städte die Konzentration auf gehobene und hochpreisige Wohnungsmarktsegmente. Es wächst die Sorge über die negativen Folgen der zu beobachtenden forcierten Entmischungs- und Gentri­ fizierungsprozesse. Über wachsende soziale ­Wohnungsnöte hinaus wird der Schwund an bezahlbarem Wohnraum auch für Teile der Mit-

telschichten, Angestellte und Fachkräfte der Wirtschaft und aus den Dienstleistungsberufen immer häufiger zu einem gravierenden wirtschaftlichen Standortnachteil. So ist das Thema der sozialen Mischung wieder zu einem zentralen Topos geworden.22 Das Ziel sozialer Mischung, das auch das Baugesetzbuch (BauGB § 1) und das Wohnraumförderungsgesetz (WoFG § 6 ) mit der Absicht der »Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen« fordern, trifft auf einen breiten Konsens bei Kommunalpolitikern wie innerhalb der Wohnungswirtschaft.23 Dabei wird im Rahmen moderner Integrations- und Diversitätspolitik auf kommunaler Ebene unter »Mischung« nicht (mehr) die Einebnung und Nivellierung kultureller und ethnischer Unterschiede verstanden, sondern gerade umgekehrt eine Balance von Integration und Diversität, von geteilter Gemeinsamkeit und individueller Vielfalt angestrebt.24 Die Grenzen des Mischungsziels sind freilich im Blick zu be­­ halten.25 Räumliche Nähe schafft nicht automatisch auch soziale Nähe; Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung werden nicht in erster Linie durch Mischungspolitiken, sondern mithilfe aktiver Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken erfolgreich bekämpft. Hinsichtlich der Zusammensetzung bzw. der »Mischung« der Wohnbevölkerung eines Quartiers stellt sich grundsätzlich die Frage, auf welcher städtebaulichen Maßstabsebene und in welcher städtebaulichen Körnung sich Mischung als am sinnvollsten, am wirkungsvollsten erwiesen hat und in welchem Verhältnis (Quartier, Block, Haus) dabei sozial und ethnisch heterogene und homogene Strukturen zueinander stehen sollen. Eine klassische, viel zitierte Antwort gibt darauf der amerikanische Sozialforscher Herbert J. Gans in einem bereits 1961 erstmals publizierten Aufsatz: Grundsätzlich seien beide, homogene und heterogene Strukturen, per se weder als gut oder schlecht zu qualifizieren. Lediglich ihre extremen Formen seien gleichermaßen unerwünscht. Im Ergebnis postuliert er ein im konkreten Fall auszubalancierendes Ideal, in dem ausreichende Homogenität gegeben sein sollte, um Konflikte zu verhindern und um positive Beziehungen mit den Nachbarn aufzubauen, und in dem zugleich genügend Heterogenität bestehen müsse, um auch einer gewissen Vielfalt Raum zu geben.26 In der Praxis führte das zu der wiederholt geäußerten Empfehlung, das unmittelbare Umfeld der Wohnung bzw. den Wohnblock eher homogen, größere Einheiten wie das Quartier aber nach Möglichkeit heterogen zu halten.27 Gemeinden und Wohnungsbaugesellschaften experimentie-

71

2.3 — Mensch und Soziokultur

ren in der Frage sozialer Mischung auf Haus-, Block- oder Quartiersebene bis heute mit unterschiedlichsten Projekten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Mischung in der Regel umso mehr Fingerspitzengefühl, Einsatz und vor allem Bereitschaft zur aktiven Beteiligung der Bewohner aufseiten der Projektentwickler erfordert, je feinkörniger und kleinteiliger sie konzipiert ist.28 Mischung im Wohnen ist nur dann möglich, wenn nach Größe, Ausstattung und vor allem nach Preis geeigneter Wohnraum für alle Bevölkerungsgruppen zur Verfügung steht (Abb. 4). Vielleicht liegt die größte Hypothek für eine nachhaltige Mi­­ schungspolitik auf Quartiersebene in dem unaufhaltsamen, förderungstechnisch bedingten Ab­­ schmelzen der früheren Sozialwohnungsbestän­ ­de, das durch die gegenwärtigen Neubauraten im geförderten Wohnungsbau in keiner Weise kompensiert wird. Als Reaktion auf die sich verschärfenden Probleme auf den unteren Wohnungsteilmärkten haben quer durch die Republik die Städte vor allem der Wachstumsregionen begonnen, das Ziel der Sicherung und Schaffung bezahlbaren Wohnraums durch neue Initiativen und »Bündnisse für das Wohnen« in Angriff zu nehmen. Sozialquoten, also die Verpflichtung für private Investoren, bei der Entwicklung neuer Baugebiete bzw. der Schaffung neuen Baurechts auch in ei­­ nem gewissen Umfang geförderten Wohnraum für einkommensschwächere Gruppen zu schaffen, haben sich in den letzten Jahren in zahlreichen Städten zum wichtigsten Instrument sozial verpflichteter kommunaler Wohnungspolitik entwickelt. München war mit seiner SOBON-Politik und einer Sozialquote von 30 % (auf städtischen Flächen 50 %) hier seit den 1990er-Jahren Vorreiter29, aber inzwischen haben zahlreiche Städte mit ähnlichen Initiativen nachgezogen. Immer deutlicher wird, dass eine sozialorientierte kommunale Stadt- und Quartierspolitik durch eine sozialgerechte und gemeinwohlorientierte Bodenpolitik flankiert werden muss. Der Mangel an Bauland und – vor allem in den Wachstumszen­ tren – immense Bodenpreissteigerungen ha­­ben sich zu den größten Hemmnissen bei der Schaffung von »bezahlbarem Wohnraum« entwickelt. Alle bodenreformerischen Ansätze zur Abschöpfung von Bodenwertsteigerungen zugunsten der Allgemeinheit sind in Deutschland in der Vergangenheit auf politischer Ebene gescheitert. Nun hat sich unter dem Zwang der Verhältnisse in Fachkreisen eine neue Bodenreformdebatte entwickelt. Auf kommunaler Ebene werden vor allem die Vergabe von Bauland nach den besten Konzepten (keine »Höchstpreisvergabe«), die Ein-

richtung von Bodenfonds, eine expansive Bodenvorratspolitik, die Vergabe städtischen Bodens (nur noch) in Erbbaurecht, eine zeitgemäße Grundsteuerreform und die Weiterentwicklung von Instrumenten des besonderen Städtebaurechts wie etwa die »Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme in der Innenentwicklung« gefordert.30 Was den Wohnungsbestand betrifft, so steht die Debatte um geeignete Instrumente zur Begrenzung sozial unerwünschter Mietendynamiken sowie von Entmischungs- und Verdrängungsprozessen noch weitgehend am Anfang. Die »Mietpreisbremse«, 2015 zur Begrenzung spekulativ überhöhter Mietsteigerungen bei Neuvermietungen in durch die Landesregierungen festzulegenden »angespannten Wohnungsmärkten« eingeführt, hat sich, jedenfalls in ihrer bisherigen Ausgestaltung, als stumpfe Waffe erwiesen. Auch der Einsatz von Erhaltungssatzungen (Milieuschutzsatzung, BauGB § 172) kann Verdrängungs- und Gentrifizierungsprozesse nur bremsen, aber nicht dauerhaft verhindern.31 Luxussanierungen und Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen können kaum verhindert werden. Immerhin hat etwa das Land Baden-Württemberg 2013 eine (Umwandlungs-)Verordnung erlassen, nach der in Gebieten mit einer geltenden Erhaltungssatzung für die Umwandlung von Miet- in Eigentums­ wohnungen ein Genehmigungsvorbehalt besteht: Die Genehmigung wird in der Regel nicht erteilt, »wenn die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung aus städtebaulichen Gründen gefährdet erscheint«32.

Programm ­»Soziale Stadt« Einen komplexen Ansatz zur Aufwertung von Problemquartieren in Großsiedlungen und Innenstadtrandlagen33 verfolgt das 1999 aufgelegte Bund-Länder-Programm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt«. Verschiedene Länderprogramme, aber auch die Studie des Bundesverbands deutscher Wohnungsund Immobilienunternehmer (GdW) »Überforderte Nachbarschaften« hatten bereits wichtige Vorarbeiten geleistet.34 Die Finanzierung erfolgt durch Bund, Länder und Kommunen. Das Programm basiert auf dem Grundgedanken, dass der befürchteten Abwärtsspirale durch Abwanderung, mangelnde Unterhaltungsinvestitionen, Vernach-

28 Harlander/Kuhn/Wüstenrot Stiftung 2012, S. 402f.; Hegger et al. 2015 Landeshauptstadt 29  ­München 2017 SLR 04/17 30  31  Reiß-Schmidt 2012, S. 415 32  https://wm.baden-wuerttemberg.de/de/bauen/ wohnungsbau/umwandlungsverordnung/ Weeber 2016 33  GdW 1998 34 

72

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Abb. 5 Abb. 5  hochpreisiges ­Wohnen, Marco Polo Tower, Hamburg (DE) 2010, Behnisch Architekten

35 Weidemüller/Hunger 2016, S. 5 36 Harlander et al. 2007 37 Wüstenrot Stiftung 2016 38 Roskamm 2011, Stadtbauwelt 12/2016 39 Herzog 2016, S. 61 40 https://dejure.org/gesetze/ BauNVO/6a.html 41 Wüstenrotstiftung 2017

Weitere ­Informationen

•  BBSR (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung): Zehn Jahre Leipzig-Charta. Die Bedeutung integrierter Stadtentwicklung in Europa. Bonn 2017 •  BBSR (Hrsg.); Jocher, Thomas: Zukunft Bauen. Ready – vorbereitet für altengerechtes Wohnen. Bonn 2014 •  Harlander, Tilman; Kuhn, Gerd; Wüstenrot Stiftung (Hrsg.): Soziale Mischung in der Stadt. Stuttgart/Zürich 2012 •  Städtebau-Institut: Stadtquartiere für Jung und Alt. Europäische Fallstudien. Werkstatt: Praxis, Heft 63. Hrsg. vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und dem BBSR. Bonn 2009 •  Weeber, Rotraut et al.: Sozialer Zusammenhalt in der Stadt. Integrierte Ansätze zur Aufwertung benachteiligter Stadtteile in Europa – ein Leitfaden. Stuttgart/Berlin 2016 •  Wüstenrot Stiftung (Hrsg.): Wohnvielfalt. Gemeinschaftlich wohnen – im Quartier vernetzt und sozial orientiert (Bearb.: Dürr, Susanne; Kuhn, Gerd). Ludwigsburg 2017

lässigung, Vandalismus etc. in den betroffenen Quartieren aufgrund der multiplen Problemlagen nur durch einen integrierten Ansatz umfassender Quartiersentwicklung begegnet werden kann. Dieser beinhaltet sowohl bauliche wie nicht investive Maßnahmen in Bereichen wie z. B. Spracherwerb, Verbesserung von Schul- und Bildungsabschlüssen, Betreuung von Jugendlichen in der Freizeit und Förderung der lokalen Ökonomie. Dem in besonderer Weise auf den Erhalt lebendiger Nachbarschaften und den sozialen Zusammenhalt gerichteten Programm kommt auch in der Praxis der Integrationspolitik eine Schlüsselrolle zu. Es hat sich in Deutschland zum wichtigsten Instrument der Stabilisierung benachteiligter und benachteiligender Quartiere entwickelt und umfasste im Jahr 1999 in 124 Gemeinden 161 Gebiete. Bis Ende 2016 wurden 783 Gesamtmaßnahmen in 441 Städten und Gemeinden in das Programm aufgenommen, Alle zwei Jahre werden bundesweit besondere Modellprojekte mit dem Preis »Soziale Stadt« aus­ gezeichnet. Gemein ist den bisherigen Preisträ­gern bei allen Unterschieden der Problemlagen im Einzelnen der gewählte Ansatz, bauliche, soziale und ökonomische Maßnahmen zu verbinden. Sie setzten beispielhaft das von den Auslobern formulierte Ziel um, das Zusammenleben der Menschen in ihren Nachbarschaften im Sinne eines solidarischen Miteinanders zu unterstützen.35

Neue urbane Wohnformen Urbane Quartiere erweisen sich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und demografischen Wandels als ein komplexer sozialer Kosmos mit außerordentlich differenzierten, zum Teil auch auseinanderstrebenden und schwer kompatiblen sozialen Milieus und Wohnwünschen. Die überkommenen Angebote der Wohnungsmärkte entsprechen dieser Vielfalt längst nicht mehr. In typologischer Hinsicht experimentieren Städte und Wohnungswirtschaft mit einer Vielzahl teilweise wiederentdeckter, zum Teil weiterentwickelter, aber auch neuer verdichteter urbaner Gebäudetypen.36 Die Bandbreite hierbei ist groß und reicht von einfachen Remakes historischer Vorbilder über gestapelte Maisonette-Wohnungen und andere »Haus-im-Haus-Lösungen« bis hin zu neuen Turm- und Wohnhochhäusern wie z. B.

dem Marco Polo Tower in Hamburg (Abb. 5). Demgegenüber können die gelegentlich als »vergessene Räume der Stadtentwicklung« apos­ trophierten Einfamilienhausgebiete der 1950erbis 1970er-Jahre als zunehmend »gefährdete Räume« angesehen werden.37 Mit dem demografisch bedingten drastischen Rückgang der Nachfrage für diesen Gebäudetypus und den parallelen Veränderungen des Bedarfs durch die Pluralisierung der Lebensstile hat ein Attraktivitätsverlust der Wohnform des frei stehenden Einfamilienhauses eingesetzt, der vor allem an peripheren Standorten und in Schrumpfungsregionen zu gravierendem Wertverfall und Leerständen zu führen droht. Die Suche nach kompakten, dichteren Bauformen sowohl in der Innenentwicklung als auch in aktuellen neuen Stadterweiterungen wird begleitet durch eine »Umwertung« des Dichtebegriffs,38 bei dem die früher geläufigen negativen Assoziationen von schlechter, »ungesunder«Dichte und »Dichtestress« mehr und mehr abgelöst werden von Zuschreibungen einer guten, »urbanen« Dichte, die, wie die Fachzeitschrift »Stadtbauwelt« 2016 schwärmte, in den besten Beispielen wie dem Projekt »Mehr als Wohnen« im Züricher HunzikerAreal geradezu in »Dichteglück« umschlagen kann.39 Ein Ausdruck dieser Neubewertung von Dichte war 2017 die Einführung einer neuen Gebietskategorie »Urbanes Gebiet« (MU) in die BauNVO, mit der dichter und höher gebaut und die Mischung von Gewerbe und Wohnen in den Städten erleichtert werden kann (siehe Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung, S. 49).40 Die Suche nach der idealen städtischen Wohnform in Block, Zeile, Stadthaus, Stadtvilla, Townhouse, Loft oder Wohnhochhaus ist, wenn sie verabsolutiert wird, ein Irrweg – städtisches Bauen ist Bauen in typologischer Vielfalt. Grundlegende Qualitätsmerkmale eines attraktiven Stadtwohnens sind neben der Lage flexible, nutzungs­ neutrale Grundrisse, eine möglichst hochwertige Ausstattung und vor allem großzügige, geschützte private Freibereiche. Typologische Vielfalt entsteht nicht im großmaßstäblichen Investorenstädtebau, sondern konvergiert am besten mit einer Mischung unterschiedlicher Bauträgertypen. Viele Kommunen geben dabei neuen gemeinschaftsorientierten Bauträgerformen wie Baugruppen oder Genossenschaften eine Chance. Sie besitzen ein hohes Identifikationspozential und haben sich in vielen Fällen über mögliche Kosten­ einsparungen hinaus als Instrumente einer sozial und ökologisch innovativen Stadtentwicklungspolitik bewährt.41

73

2.3 — Mensch und Soziokultur

Herausforderung Lebensstile und ­Verhaltensweisen Ma r i o Schneider

I

n allen Kulturen stehen die Menschen in Wechselwirkung mit der Natur und verändern diese in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Folgen. Mit der industriellen Revolution, insbesondere durch den Einsatz fossiler Brennstoffe seit der Erfindung der Dampf­ maschine im 18. Jahrhundert, hat diese Entwicklung exponentiell zugenommen. Der in den hoch entwickelten Ländern extrem hohe Konsum von Energie, Wasser, Nahrungsmitteln und Konsumgütern sowie der wachsende Anspruch auf Wohnflächen und Mobilität haben durch die globalisierte Ökonomie nicht nur in diesen Ländern, sondern weltweit teilweise weitreichende Folgen. Ein Sechstel der Weltbevölkerung in einkommensstarken Ländern ist für fast ein Drittel der Treibhausgase in der Atmosphäre verantwortlich und zeichnet sich durch einen sehr ressourcen- und energieintensiven Lebensstil aus.1 Konsum in Mitteleuropa führt z. B. in Südamerika oder Afrika zu Abholzungen oder Landschaftszerstörung für die Rohstoffgewinnung. Damit schaden die Menschen durch ihre Konsumgewohnheiten und Lebensstile der Umwelt immer mehr. Dies gilt besonders für die Bevölkerung der westeuropäischen Industrienationen, trotz eines dort allgemein hohen Umweltbewusstseins und trotz des Wissens um den Klimawandel. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen menschlichem Verhalten, Umwelt und Klima sind komplex und vielfältig. Erwiesenermaßen hängt der Klimawandel stark mit dem Verbrauch fossiler Brennstoffe zusammen.2 Die Klimaerwärmung wirkt sich dann wiederum auf die Verfügbarkeit anderer natürlicher Ressourcen wie etwa Wasser und die Produktion von Nahrungsmitteln aus. Wir leben nach Auffassung mancher Wissenschaftler bereits heute im Anthropozän, einem neuen Erdzeitalter, in dem die Erde durch an­­

thropogene, also vom Menschen verursachte Einflüsse, geprägt ist. Durch das Wachstum der Weltbevölkerung müssen in Zukunft nicht nur quantitativ mehr Menschen versorgt werden, auch die Zahl der Menschen, die einen res­sour­ cen­intensiven Lebensstil pflegen, wie er in den heutigen Industrienationen bereits üblich ist, wird steigen.3

Einfluss auf den ökologischen ­Fußabdruck Der Einfluss verschiedener menschlicher Verhaltensweisen bzw. Lebensstile auf die Umwelt lässt sich mit dem sogenannten ökologischen Fußabdruck darstellen. Dieser ermöglicht es, das Angebot und die Nachfrage an Biokapazität innerhalb eines räumlichen Bereichs direkt zu vergleichen. Die Biokapazität gibt an, wie viel biologisch produktive Fläche zur Ressourcengewinnung sowie zum Abbau von Abfallstoffen und CO2 zur Verfügung steht. Der Flächenverbrauch an Biokapazität, also der ökologische Fußabdruck, wird dabei in globalen Hektar (gha) angegeben.4 Um beispielsweise den jährlichen ökologischen Fußabdruck eines Landes zu ermitteln, werden der Verbrauch und die Inanspruchnahme an biologisch produktiven Flächen mit der zur Verfügung stehenden Biokapazität des Landes verglichen. Dabei finden sowohl Flächen zur Entnahme von erneuerbaren Ressourcen wie landwirtschaftlichen Erzeugnissen Berücksichtigung als auch der Verbrauch von biologisch produktiven Flächen durch Versiegelung oder Abbau nicht erneuerbarer Rohstoffe. Die Fläche der zur Verfügung

1 Weltbank 2010, S. 3 2 Debiel et al. 2010, S. 262f. 3 Campbell 2007, S. 78 4 Beyers et al. 2010, S. 19f.

74

Kapitel 2 — Heraus­f orderungen

Anzahl der Erden

ökologischer Fußabdruck

moderates Business as Usual

zügige Reduktion

2,5

2

1,5 Abb. 1  ökologischer Fuß­ abdruck der Menschheit Abb. 2  Verbrauch von ­Biokapazität pro Person im Jahr 2018 [in gha] Abb. 3  ökologischer Fussabdruck pro Person für unterschiedliche Länder im Jahr 2018 [in gha] Abb. 4  Anteile am öko­ logischen Fuß­abdruck eines Deutschen im Jahr 2018

Katar 15,7

USA 8,4 Deutschland 5,0 China 3,7 theoret. Verfügbarkeit pro Person 1,7 Indien 1,1

Abb. 2

5 WWF 2010, S. 34 6 Schulte 2008, S. 3 7 WWF 2011 8  Beyers et al. 2010, S. 75 9 Lehmann 2010, S. 148

1

0,5

0 0

1970

1980

1990

2000

2010

2020

2030

2040

2050

Abb. 1

stehenden Biokapazität sollte im Idealfall der Fläche des ökologischen Fußabdrucks entsprechen oder diese sogar übersteigen. Zurzeit verhält es sich allerdings genau umgekehrt. Der ökologische Fußabdruck der Menschheit übersteigt die vorhandene Biokapazität bei Weitem. Abb. 1 zeigt die Entwicklung des weltweiten ökologischen Fußabdrucks der Menschheit von 1960 bis 2018 sowie mögliche zukünftige Entwicklungen. Sein starkes Wachstum hängt vor allem mit dem steigenden Ausstoß von Treibhausgasen zusammen. Bereits heute ist das in die Atmosphäre entlassene CO2 für über 50 % des ökologischen Fußabdrucks verantwortlich.5 Im Durchschnitt stünden jedem Erdbewohner – ausgehend von einer Erdbevölkerung von sieben Milliarden Menschen – 1,8 gha zur Erzeugung von Nahrung, Energie und Konsumgütern so­wie zum Abbau von CO2 zur Verfügung.6 Selbstverständlich variiert die Biokapazität der ein­ zelnen Länder stark, so steht den Bewohnern Bra­siliens pro Kopf wesentlich mehr Biokapa­ zität zur Verfügung als den Bewohnern SaudiArabiens. Die Lebensweisen der Menschen bestimmen, wie stark ihr Einfluss auf ihre Umwelt ist. Ein durchschnittlicher Deutscher benötigt (bei seinem heutigen Lebensstil) 5,0 gha, ein Inder 1,1 gha, der weltweite Durchschnitt liegt bei 2,2 gha (Abb. 2). Innerhalb Deutschlands steht

jedem Bürger rechnerisch lediglich eine Biokapazität von 1,7 gha zur Verfügung.7 Um diesem ökologischen Defizit entgegenzuwirken, müsste entweder die Biokapazität Deutschlands erhöht oder aber der ökologische Fußabdruck der Bevölkerung reduziert werden. Der größte Anteil des ökologischen Fußabdrucks eines Deutschen entfällt mit über 50 % auf Flächen zum Abbau von CO2.8 Der durchschnittliche CO2-Ausstoß eines deutschen Vierpersonenhaushalts lag im Jahr 2009 bei 43,5 t. Betrachtet man diesen genauer, so wird deutlich, welche Bereiche des täglichen Lebens die größten Verursacher von CO2 sind: Bei der Herstellung, dem Verbrauch und der Entsorgung von Konsumgütern wie Kleidung, Elektronik und Ähnlichem entstehen die meisten CO2-Emissionen (11 t/ Jahr). Die Erzeugung und Bereitstellung von Heizwärme, Nahrungsmitteln und individueller Mobilität stellen die nächst größeren Verursacher dar.9 Abb. 4 zeigt die Anteile von Ernährung, Wohnen, Mobilität sowie Erzeugung und Verbrauch von Konsumgütern am ökologischen Fußabdruck Deutschlands (CO2 ist jeweils miteingerechnet). Die Ernährung hat dabei den größten Anteil, gefolgt von den Bereichen Wohnen und Infrastruktur sowie Mobilität. Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, wie wir wohnen und wann wir welche Transportmittel nutzen, ist dafür verant-

75

2.3 — Mensch und Soziokultur

> 6,7 5,1– 6,7

3,4– 5,1 1,7– 3,4

< 1,7

Abb. 3

wortlich, dass der ökologische Fußabdruck die national in Deutschland vorhandene Biokapazität um fast das Dreifache übersteigt.

Verhaltensmuster Die Lebensstile und die damit verbundenen Verhaltensweisen der Menschen beeinflussen also deren ökologischen Fußabdruck. Obwohl die Bevölkerung der westeuropäischen Industrienationen über ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein verfügt, werden umweltschädliche Verhaltensweisen weitgehend beibehalten. Die Menschen in den entwickelten Industriegesellschaften wissen, dass keineswegs unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen und deren Verbrauch reduziert werden muss, fahren aber dennoch immer größere, leistungsfähigere Fahrzeuge und ihre Urlaubsreisen führen zu entferntesten Orten. Und Produkte aus ressourcenschonendem biologischem oder regionalem Anbau werden oft nur dann gekauft, wenn sie kostengünstiger sind als konventionelle Erzeugnisse.10 Um diese Diskrepanz zu erklären, gibt es verschiedene Ansätze: In der Umweltpsychologie wird zwar davon ausgegangen, dass ein hohes Umweltbewusstsein

ein stärker umweltorientiertes Verhalten bedingt. Das Verhalten fällt aber deutlich hinter das Bewusstsein zurück und das Umweltverhalten verändert sich nur langsam. Es müssen also noch andere Überzeugungen und äußere Faktoren als Ursachen für umweltschädliches Verhalten vorliegen.11 Diese spielen beispielsweise bei der Wahl des Verkehrsmittels eine Rolle. Eine positive Wertschätzung des öffentlichen Nahverkehrs und das Bewusstsein um die Umweltfreundlichkeit dieser Transportmöglichkeit führen beispielsweise nicht zwangsläufig zu seiner Wahl, wenn nicht auch ausreichende und komfortable Transportverbindungen und -möglichkeiten zur Verfügung stehen.12 Es gibt unterschiedliche Ursachen für die feststellbaren Diskrepanzen: eingefahrene Verhaltensweisen und Gewohnheitsmuster, situative Gründe, die das Umweltverhalten anderen Faktoren unterordnen, eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten, mangelnden Anreiz, geringe Rückmeldung über die Verhaltensfolgen, keine öffentliche Selbstverpflichtung und Kontrolle oder mangelndes Wissen über die tatsächliche Verhaltensrelevanz.13 Eine Studie der ETH Zürich zum Konsumverhalten und zur Förderung des umweltverträglichen Konsums kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Menschen für ein nachhaltiges Verhalten nicht zwingend der Konsequenzen ihres Konsumver-

10 Kuckartz 2005, S. 5 11 Jaeggi et al. 1996, S 181 12 Preisendörfer 1999, S. 78 13 Weber 2008, S. 121f.

18%

22%

25% 35%

Mobilität andere Konsumbereiche Wohnen und Infrastruktur Ernährung und Getränke Abb. 4

76

Kapitel 2 — Heraus­f orderungen

Raumwärmebedarf pro m2 Wohnfläche 350 70

7000

300

6000

250

5000 200 4000 150 3000 100

2000 Abb. 5  Entwicklung von Wohnfläche und Raum­ wärmebedarf in Deutschland 1960 – 2050 (ab 2015 Prognose)

14 Visschers 2009, S. 5 15 Diekmann/Franzen 1996, S. 137; BMU 2010, S. 17 16 Visschers et al. 2009, S. 17 17 Jevons 1865, S. 108–113 18 Maxwell et al. 2011, S. 82 19 www.umweltbundesamt.de/daten/private-haushalte-konsum/wohnen/energieverbrauch-privater-haushalte (Stand: 12.07.2018)

Weitere ­Informationen

•  Beyers, Bert et al.: Großer Fuß auf kleiner Erde? Bilanzierung mit dem Ecological Footprint. An­­ regungen für eine Welt begrenzter Ressourcen. Heidelberg 2010 •  Madlener, Reinhard; Alcott, Blake: Herausfor­ derungen für eine technisch-ökonomische Ent­ koppelung von Naturverbrauch und Wirtschaftswachstum unter besonderer Berücksichtigung der Systematisierung von Rebound-Effekten und Problemverschiebungen. Berlin 2011 •  Santarius, Tilman: Der Rebound-Effekt. Über die unerwünschten Folgen der erwünschten Energie­ effizienz. Wuppertal 2012 •  Wackernagel, Mathis; Beyers, Bert: Footprint: Die Welt neu vermessen. Neuausgabe 2016 mit aktuellen Zahlen. Hamburg 2016 • www.footprint-deutschland.de

1000

»Ölschock« 1973

0 1960

1970

1980

Wiedervereinigung 1990

50

Prognose

0 2000

2010

2020

2030

60 50 40

Wohnfläche pro Kopf [m2]

8000

Raumwärmebedarf pro m2 Wohnfläche [kWh/a]

Raumwärmebedarf pro Kopf [kWh/Kopf]

Wohnfläche pro Kopf Raumwärmebedarf pro Kopf

30 20 10 0

2040 2050

Abb. 5

haltens bewusst sein müssen.14 Da viele Käufe ohne langes Nachdenken getätigt werden, kann auf solche Automatismen nur schwer durch Informationsvermittlung und Bewusstseinsschärfung Einfluss genommen werden. Sie lassen sich allerdings durch politische oder infrastrukturelle Maßnahmen beeinflussen. Der Preis von Produkten und Dienstleistungen ist ebenfalls ein wichtiger Faktor in Bezug auf umweltfreundlichen Konsum und umweltfreundliches Verhalten. Es gibt nicht nur einen großen Widerspruch zwischen Umweltbewusstsein und Umweltverhalten, sondern auch eine Konkurrenz zwischen der Bewertung ökologischer und ökonomischer Zielen. Ist ihre ökonomische Lage gut und führen die Menschen einen von ihnen angestrebten Lebensstil, gewinnt der Umweltschutz an Bedeutung. Treten allerdings ökonomische Probleme auf, die den Lebensstandard zu senken drohen, verliert der Umweltschutz an Bedeutung.15 Außerdem verhindert der meist höhere Preis eines umweltfreundlichen Produkts oft die Entscheidung für dessen Kauf. Generell scheinen Menschen eher bereit zu sein für technologische Maßnahmen zu bezahlen, als ihr Verhalten zu ändern oder auf bestimmte Konsumgüter oder Komfort zu verzichten. Verhaltensänderungen oder eine Senkung des Lebensstils sind für viele Menschen unattraktiv.16

Rebound-Effekte Die tendenzielle Ablehnung des Verzichts sowie die Bevorzugung technischer Lösungen, die keine oder nur geringfügige Umstellungen der Verhaltensweisen verlangen, führen häufig zur Optimierung vorhandener Systeme. Diese lässt sich

z. B. durch technische Steigerung der Effizienz erreichen, indem etwa der Energieverbrauch reduziert wird (Abb. 5). Bei unveränderten Verhaltensweisen führt mehr Effizienz aber nicht automatisch zu Einsparungen. Es kann im Gegenteil sogar zu verstärktem Verbrauch kommen, indem sich der Konsum von Ressourcen durch eine oder mehrere Produktivitätssteigerungen erhöht oder erst ermöglicht wird.17 Dieses Phänomen wird als Rebound-Effekt bezeichnet. Eine Effizienzsteigerung beim Kraftstoffverbrauch im Gütertransport kann z. B. zur Folge haben, dass sich Frachtkosten verringern und dadurch mehr Güter über längere Strecken transportiert werden können. Im Zuge der gestiegenen Transportleistung könnten so 30–80 % der eigentlichen Einsparungen wieder verbraucht werden.18 Ähnliches lässt sich auch in den Bereichen Wohnen und Industrie beobachten. In den letzten Jahren ist die Bevölkerungszahl in Deutsch­land konstant geblieben, gleichzeitig wurden Maßnahmen ergriffen, um den Energieverbrauch der Haushalte zu reduzieren. Trotzdem kam es seit den 1990er-Jahren zu einem Anstieg des Energieverbrauchs in den Haushalten.19 Dies hängt u. a. mit der Zunahme der Einpersonenhaushalte, dem Wunsch nach mehr Wohnfläche und einer wachsenden Ausstattung mit elektronischen Geräten zusammen. Ähnliches gilt für die industrielle Produktion, die zwar in den letzten Jahren einerseits energieeffizienter wurde, andererseits aber durch zunehmende Auto­ matisierungsprozesse immer mehr Strom verbraucht. Durch Effizienzsteigerungen allein wird sich also der Ressourcenverbrauch nicht beeinflussen lassen. Erst wenn auch Maßnahmen ergriffen werden, um die dem Verbrauch zugrunde liegenden Verhaltensweisen zu ändern, wird es möglich sein, den Ressourcenverbrauch langfristig zu reduzieren.

77

2.3 — Mensch und Soziokultur

Handlungsfeld Lebensstile und ­Verhaltensweisen Ma r i o Schneider

R

äumlich-infrastrukturelle Maßnahmen greifen häufig zu kurz, wenn es um die Veränderung von Lebensstilen und Verhaltensweisen geht. Diese folgen komplexen Mustern, sind über längere Zeiträume eingeübt, verlaufen unbewusst und haben sich emotional tief eingeprägt. Eine erfolgreiche Einflussnahme, um diese »Automatismen« aufzulösen, kann sowohl mithilfe struktur- als auch personenfokussierter Maßnahmen wie Kampagnen gelingen. Im Gegensatz zu strukturfokussierten städtebaulichen bzw. architektonischen Maßnahmen, bei denen es darum geht, durch die Umgestaltung der äußeren physischen Rahmenbedingungen Verhaltensänderungen zu bewirken,1 sollen auf Personen fokussierte Maßnahmen eine intrinsische und freiwillige Verhaltensänderung erreichen. Ziel ist, dass ein Individuum seine Haltung nicht nur aufgrund kurzfristiger Vorteile verändert, sondern aufgrund von Einsicht und Verständnis. Konkret heißt das in Bezug auf einen nachhaltigen Lebensstil, dass der Mensch sich der ökologischen Krise und seiner eigenen Verantwortung bewusst ist, da die Krise nur begrenzt technologisch, wirtschaftlich und politisch zu bewältigen ist. Dies setzt aktuelles Wissen über den Zustand der Umwelt und ökologische Zusammenhänge voraus sowie die Bereitschaft, das persönliche Handeln entsprechend zu gestalten und die Umweltprobleme als Bedrohung anzuerkennen.2 Um dauerhafte Verhaltensänderungen zu bewirken, sind beide Maßnahmen erforderlich, struktur- und personenfokussierte. Erstere sind An­­ gebote und Anreize, neue Verhaltensweisen anzunehmen, letztere sollen bewirken, dass Individuen alte Verbrauchsmuster zugunsten neuer aufgeben. Den physischen Strukturen und räum-

lichen Rahmenbedingungen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Denn gerade die gebaute Infrastruktur (Gebäude, Straßen, Großkraftwerke etc.) bleibt über Jahre in Betrieb und verändert sich nur langsam (Abb. 1, S. 79).3 Die heutige Gestalt der Städte mit ihren ressourcenund CO2-intensiven Wirtschaftsstrukturen wird sich noch für lange Zeit auf die Lebensstile und die Energieverbrauchsmuster der Bevölkerung auswirken.

Möglichkeiten der Einflussnahme In der räumlichen Planung gibt es bereits In­­ strumente, die dabei helfen sollen, unterschiedliche Eingriffsarten und mögliche Auswirkungen zu berücksichtigen. Die »Planungsquadriga« z. B. bietet vier Möglichkeiten (Abb. 3, S. 79): Ausweisen von Standorten, Errichten von Anlagen, Ausrichten von Einrichtungen sowie Steuern von Verhaltensweisen.4 Die Punkte »Standorte ausweisen« und »Anlagen errichten« beziehen sich auf Sachgebilde, z. B. Gebäude oder andere bauliche Infrastrukturen. Bei diesen können die Eingriffe in materieller Form erfolgen, indem neue Strukturen geschaffen oder vorhandene verbessert werden. Die Punkte »Ausrichten von Einrichtungen« sowie »Steuern von Verhaltensweisen« dagegen sind keine räumlichen Kategorien, sondern Sozialgebilde. Dabei handelt es sich um nicht räumliche Strukturen wie die Organisation von Einrichtungen oder um individuelle Verhaltensweisen, bei denen Eingriffe oft auf nicht materielle Weise erfolgen wie etwa durch den Erlass von Gesetzen oder die Einführung von Steuern.

1  K  aufmann-Hayoz et al. 2010, S. 698 2  S  cheuthle et al. 2010, S. 643 3  Wackernagel  /Beyers 2010, S. 117 4  Jung 2008, S. 78

78

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Eingriffe in Sachgebilde können Auswirkungen auf die Sozialgebilde haben, und umgekehrt kann sich eine Veränderung der Sozialgebilde auf die Sachgebilde auswirken. Verbessert der Neubau einer Straße die Erreichbarkeit eines Orts, ändert sich das Pendlerverhalten, es werden z. B. längere Wege in Kauf genommen und der motorisierte Individualverkehr (MIV) nimmt zu. Anreizsysteme wie die Pendlerpauschale können diesen Effekt zusätzlich verstärken. Die Antizipation zu erwartender Verhaltensweisen in der Planung ist ein sehr wichtiger Aspekt, wobei die gesellschaftlichen und materiellen Strukturen dazu dienen können, das Verhalten von Personen zu verändern.5

Veränderung von Verhaltensweisen Nur die wenigsten Menschen sind bereit, ihren erreichten Lebensstil durch Verzicht auf umweltschädliche Produkte und Dienstleistungen ihrem Bewusstsein und Kenntnisstand anzupassen.6 Sie nehmen jedoch gerne technische Lösungen an, die keine oder nur sehr geringe Umstellungen ihrer Verhaltensweisen erfordern (Steigerung der Energieeffizienz von Häusern, Erwerb eines sparsameren Hybridfahrzeugs). Technische Lösungen sind aber erst dann effektiv, wenn sich auch die für den Ressourcenverbrauch grundlegenden Verhaltensweisen verändern, sodass kein Rebound-Effekt eintritt (siehe S. 76). Interventionen müssen deshalb auch auf Veränderung der Gewohnheiten abzielen.

Strukturfokussierte Interventionen  5  Kaufmann-Hayoz et al. 2010, S. 698  6 Visschers et al. 2009, S. 17  7 Kaufmann-Hayoz et al. 2010, S. 698  8 BBR 2005, S. 27; INFAS /DLR 2010, S. 122  9 Visschers et al. 2009, S. 47 10 Kaufmann-Hayoz et al. 2010; Visschers et al. 2009, S. 13

Äußere Strukturen können das Verhalten von Menschen beeinflussen, ein gewünschtes Verhalten unterstützen oder ein unerwünschtes erschweren. Materielle und gesellschaftliche Strukturen stehen in Wechselwirkung zu der Bildung von Intentionen und der Umsetzung von umweltrelevanten Verhaltensweisen. So beeinflussen auf der einen Seite soziokulturelle Faktoren (Lebensstil und soziale Normen) sowie sozioökonomische Aspekte (Marktverhältnisse und Preisrelationen) das Verhalten. Andererseits haben aber auch institutionelle sowie technisch-

infrastrukturelle Faktoren einen erheblichen Einfluss.7 Die siedlungs- und infrastrukturellen Rahmenbedingungen wirken sich z. B. erheblich auf die individuelle Verkehrsmittelwahl aus. Dies hängt ab von der Nutzungsmischung innerhalb einer Siedlung, der Verfügbarkeit eines Autos und von Parkplätzen, der Erschließungsqualität durch ÖPNV oder auch von der Gestaltung des Straßenraums.8 So ist z. B. durch die Verknappung von Parkflächen und attraktive Alternativen zum Pkw eine Veränderung im Mobilitätsverhalten zu erreichen. Auch die räumliche Kombination verschiedener Nutzungen wie Arbeiten und Kinderbetreuung kann zur Reduzierung von Wegen und somit zu einem reduzierten Verkehrsaufkommen führen (Abb. 2). Die Auswirkung der siedlungs- und infra­strukturellen Rahmenbedingungen auf das Verhalten lässt sich auch bei der Wahl des Wohnorts aufzeigen: Teurer Wohnraum sowie hohe Immissionen in den Städten und der Wunsch, im Grünen zu wohnen, führen zur Suburbanisierung. Dieser Prozess wird durch die Subventionen der Pendlerpauschale verstärkt. Man könnte stattdessen die bisherige Subventionierung des MIV auf ökologische Alternativen umlenken, z. B. auf bezahlbaren Wohnraum in der Nähe von Arbeitsplätzen oder auf einen schnellen, günstigen und komfortablen ÖPV. Warum sich eine Person in einer bestimmten Situation nicht umweltfreundlich verhält, liegt aber nicht nur an infrastrukturellen, ökonomischen, rechtlichen oder gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch an den Bedürfnissen und Einstellungen des Individuums. Aufgrund persönlicher Präferenzen werden Handlungsoptionen nicht wahrgenommen, obwohl sie durchaus möglich und sinnvoll wären. Das geschieht besonders bei gewohnheitsmäßigem Verhalten. Dieses wird nicht mehr bewusst hinterfragt und schränkt somit den Möglichkeits- bzw. Handlungsraum einer Person ein.9 Ihr Möglichkeitsraum erweitert sich erst dann wieder, wenn sich Routinen abschwächen. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn sich die äußeren Umstände der Person verändern, wie etwa durch einen Berufs- oder Wohnortwechsel, durch Veränderung der Familienstruktur oder Brüche der Lebensgewohn­ heiten – vielleicht auch durch traumatische ­Erfahrungen wie etwa dramatische Unfälle in Kernkraftwerken. Diese Veränderungen öffnen Gelegenheitsfenster, in denen neue Verhaltens­ alternativen erprobt werden können.10 Durch die Umgestaltung der Umwelt oder die

79

2.3 — Mensch und Soziokultur

minimal

maximal

Solarkraftwerk Straße Abb. 1  Lebensdauer verschiedener Infrastrukturen Abb. 2  Beeinflussung der Handlungsmöglichkeiten durch unterschiedliche Angebote und stadträum­ liche Gestaltungen am Beispiel der Verkehrsmittelwahl Abb. 3  PlanungsinstrumentQuadriga und die Möglichkeiten, in die Planung einzugreifen

Brücke Kohlekraftwerk kommerzielles Gebäude Windkraftwerk Eisenbahnstrecke, Haus, Damm 0

20

40

60

80

100

120

Jahre

Abb. 1

planerische Einflussmöglichkeiten

politische/kommunale Einflussmöglichkeiten

Nutzungsmischung (Distanz zwischen Wohnen, Arbeiten, soziale Einrichtungen und Nahversorgung)

finanzielle Anreize (Pendlerpauschale, City-Maut, Fahrpreisermäßigungen etc.)

Gestaltung Straßenraum (Verkehrswege, Grünzüge etc.)

ÖPNV-Angebote (Anzahl Haltestellen, Taktung, Anzahl Linien etc.) Parkplatzangebot (Verfügbarkeit, Preis, Lage etc.)

Abb. 2

Einführung neuer Produkte kann es ebenfalls zur Wahrnehmung neuer Handlungsmöglichkeiten kommen und somit zu einer Erweiterung oder Verminderung individueller Handlungskompetenzen. Dies begünstigt umweltfreundliche Handlungsalternativen systematisch.11 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch das britische Umweltministerium, Department for Environment, Food and Rural Affaires (Defra), in seiner Studie »A framework for pro-environmental behaviours«.12 Darin wurden innerhalb der britischen Gesellschaft sieben unterschiedliche Konsumententypen ausgemacht. Jede dieser Bevölkerungsgruppen hat ganz verschiedene Einstellungen zur Umwelt. Das Defra kam zu dem Ergebnis, dass man die Bevölkerung generell nicht dazu zwingen könne, ihren Lebensstil radikal zu ändern. Stattdessen sollte man sich auf Maßnahmen konzentrieren, die einen Wandel der Verhaltensweisen der unterschiedlichen Konsumententypen unterstützen.13 Dies kann neben vielen anderen Maßnahmen über die Schaffung von Möglichkeitsräumen für umweltfreundliches Verhalten sowie über die Erschwerung umweltschädlichen Verhaltens geschehen.

Preissteigerungen bei umweltschädlichen Produkten sind beispielsweise eine einfache Möglichkeit, um umweltschädliches Verhalten zu erschweren. Die Effektivität solcher Maßnahmen ist aber meist nur dann hoch, wenn gleichzeitig umweltfreundliche Alternativen angeboten werden. So führt eine Erhöhung der Kraftstoffpreise und Abschaffung der Pendlerpauschale nicht zwangsläufig zu einem veränderten Mobilitätsverhalten, wenn nicht entsprechende sowie ausreichend Mobilitätsalternativen zur Verfügung stehen.

Sozialgebilde: Förderung / Verhinderung von Tätigkeiten Verhaltensweisen steuern (Bahnung und Lenkung)

Einrichtungen ausrichten (Gründung und Gestaltung)

Sachgebilde: Ausbau von Stätten Anlagen errichten (Bau und Instandhaltung)

Personenfokussierte Interventionen Ob Menschen Möglichkeitsräume für umweltfreundliches Verhalten nutzen, hängt auch von ihrem Überzeugungssystem ab, also von individuellen Werten und Einstellungen. Diese bestimmen, wie die Umwelt wahrgenommen und bewertet wird. So kann das Fahrrad für eine Person mit hohem Umweltbewusstsein auch für einen mehrere Kilometer langen Arbeitsweg eine Option

Standorte ausweisen (Eignung und Nutzung) Abb. 3

11  Kaufmann-Hayoz et al. 1996, S. 88 12  Defra 2007 13  ebd., S. 47

80

Kapitel 2 — Handlungsfelder

1 Oberschicht / obere Mittelschicht

2 mittlere Mittelschicht

3 untere Mittelschicht / Unterschicht

Sinus C1 Sinus B1 Performer Liberal-Intellektuelle Sinus AB12 (aufgeklärte Bildungs- (multioptionale, Sinus C12 Konservativeffizienzorientierte elite) 7% Expeditive Etablierte Sinus B12 Leistungselite) 7% (unkonventio(das klassische Sozialökologische (idealisnelle, kreative Establishment) Sinus C2 tisches, konsumkritisches / Avantgarde) 10 % Adaptivebewusstes Milieu) 6% Pragmatische (zielSinus B23 7% strebige junge Mitte bürgerliche Mitte mit LebenspragmaSinus AB23 (leistungs- und tismus und NutzenTraditionelle anpassungsbereiter kalkül) 9 % Sinus BC23 (sicherheits- und bürgerlicher Mainstream) ordnungsliebende Kriegs- / Hedonisten 14% Nachkriegsgeneration) (spaß-/erlebnisorientierte Sinus B3 15 % moderne Unterschicht / Prekäre (um Orientierung untere Mittelschicht) und Teilhabe bemühte Unter15 % schicht mit Zukunftsängsten / Ressentiments) 9%

soziale Lage Grundorientierung

A Tradition

B Modernisierung / Individualisierung

C Neuorientierung

Abb. 4 14 Bamberger/Kühnel 1998, S. 15 15  Scheuthle /Frick /Kaiser 2010, S. 655 16  Stern 2000, S. 421 17 Scheuthle /Frick /Kaiser 2010, S. 648; Visschers et al. 2009, S. 7 18 Scheuthle /Frick /Kaiser 2010 19  BMU/BDI 2010, S. 6 20  Visschers et al. 2009, S. 10 21  Scheuthle /Frick /Kaiser 2010, S. 647

Sinus-Milieus

Die Sinus-Milieus verbinden demografische Eigenschaften wie Bildung, Beruf oder Einkommen mit den realen Lebenswelten der Menschen, d. h. mit ihrer Alltagswelt, ihren Lebensauffassungen und Lebensweisen: Welche grundlegenden Werte sind von Bedeutung, wie sehen die Einstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Ökologie, Geld oder Konsum aus? Dadurch wird der Mensch innerhalb ­seines Bezugssystems ganzheitlich wahrgenommen. Die Sinus-Milieus sind als wissenschaftlich fundiertes Modell etabliert und werden kontinuierlich durch Begleitforschung und Beobachtung soziokultureller Trends aktuell gehalten. Auf ihrer Basis arbeiten führende Markenartikelhersteller und namhafte Dienstleister aller Branchen, viele öffentliche Auftraggeber aus Politik, Medien und Verbänden sowie Werbe- und Mediaagenturen in der strategischen Planung wie in der operativen Umsetzung – national wie international. Sinus-­ Milieus werden für jedes Land einzeln entwickelt und validiert, sie liegen aktuell für 18 Nationen vor. Die Einteilung der Gesellschaft in »Gleich­ gesinnte«, die in den Sinus-Milieus abgebildet ­werden, hat sich bewährt, sie sind heute Bestandteil der wichtigsten Markt-Media-Studien.

sein, während eine Person mit niedrigem Umweltbewusstsein diese Möglichkeit schon im Vorfeld ausschließt.14 Die ideologischen Überzeugungen sind sozusagen die »Brillen«, durch die Menschen bestimmte Gelegenheitsstrukturen wahrnehmen. Personenzentrierte Maßnahmen zeichnen sich primär durch Freiwilligkeit der Verhaltensänderung aus. Diese setzt Systemwissen voraus, um die Zusammenhänge und Prozesse von Umweltproblemen zu erkennen.15 Dieses Wissen allein, das beispielsweise bereits in der Schule vermittelt werden könnte, führt aber nicht zu einer Verhaltensänderung, wenn die jeweiligen Personen nicht auch über das entsprechende Handlungswissen verfügen, wie sie negative Konsequenzen für Mensch und Umwelt vermeiden können.16 Zusätzlich kann Wissen um die konkrete Wirksamkeit des eigenen Handelns gewisse Verhaltensweisen fördern. Denn Personen, die davon überzeugt sind, dass sich ihr Verhalten positiv auf die Umwelt auswirken kann, verhalten sich allgemein umweltfreundlicher.17 Gängige Interventionswerkzeuge, um das Verhalten von Personen zu ändern, sind Argumente, Vorbilder, unmittelbare und verhaltensspezifische Hinweise sowie Erinnerungshilfen, Selbstverpflichtung, »Foot-in-the-door«-Technik und ­ex­­terne Anreize oder Sanktionen.18 So könnten z. B. Smartphone-Apps via QR-Code dabei helfen, die Konsequenzen individuellen Verhaltens aufzuzeigen, indem sie die Umweltverträglichkeit unterschiedlicher Produkte sichtbar machen und damit eine neue Entscheidungsgrundlage für das Kaufverhalten abbilden. Eine ähnliche Herangehensweise empfehlen das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) und der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI): Sie favorisieren ein Siegel, das die Umweltbelastung von Produkten bewertet (und zwar von der Rohstoffgewinnung über die Produktion zur Distribution bis zum Einkauf und

der Entsorgung) und so den ressourcenschonenden Konsum vereinfacht. Durch einen solchen »Product Footprint« könnten die Konsumenten die Klima- und Umweltverträglichkeit eines Produkts direkt erkennen und entsprechend handeln.19 Die Wahl der Maßnahmen hängt auch stark von der zu beeinflussenden Zielgruppe ab. Allgemein sollten Anreizsysteme und Sanktionen mit Bedacht eingesetzt werden. Zwar können letztere dabei helfen, das Auftreten bestimmter Verhaltensweisen zu verringern, ebenso kann es aber auch zu einer Reaktanz der Betroffenen kommen. In diesem Fall würden sich die von Sanktionen betroffenen Personen bewusst gegenteilig verhalten. Beispiele gab es in der Geschichte oft, wie etwa bei der Alkoholprohibition in den USA oder dem relativen Misserfolg der AntiRaucher-Kampagnen. Umgekehrt können auch Anreize für umweltfreundlicheres Verhalten die persönliche Motivation untergraben, indem sich die Betroffenen nur dann umweltfreundlich verhalten, wenn sie im Gegenzug dafür eine Belohnung erhalten.20 Anstatt spezifisches Verhalten lediglich zu belohnen oder zu bestrafen, muss daher parallel das Umweltbewusstsein der Menschen gefördert werden. Es ist davon auszugehen, dass Menschen dann auf ihre Überzeugungen zurückgreifen, wenn sich ihnen eine neuartige Situation stellt oder das übliche Vorgehen nicht zum gewünschten Ziel führt. Dies ist z. B. der Fall, wenn sich durch politische oder wirtschaftliche Entscheidungen jene äußeren Strukturen verändern, die bestimmte Verhaltensweisen erleichtern oder unerwartet verhindern.21 Um das Problembewusstsein zu fördern, sind zielgruppenspezifische Kampagnen und Argumente erforderlich. Diese sind dann besonders effektiv, wenn die Rezipienten den Willen haben, die Botschaft aufzunehmen und zu verarbeiten.

81

2.3 — Mensch und Soziokultur

1 Oberschicht / obere Mittelschicht

Liberal-Intellektuelle 68 % Konservativ-Etablierte 55 %

AdaptivePragmatische 42 % Traditionelle 40 %

bürgerliche Mitte 43 % Hedonisten 59 %

3 untere Mittelschicht / Unterschicht

orientierung

Expeditive 64 %

Sozialökologische 62 %

2 mittlere Mittelschicht

soziale Lage Grund-

Performer 51%

Prekäre 51%

A Tradition

B Modernisierung / Individualisierung

C Neuorientierung

Abb. 5

Ohne diese Bereitschaft wird sich kaum eine Verhaltensänderung einstellen.22 Je spezifischer und personenbezogener Interventionen geplant werden, desto wahrscheinlicher ist ihr Erfolg. Denn Umweltbewusstsein und Umweltverhalten variieren von Person zu Person. Die jeweilige Ausprägung von Bewusstsein und Verhalten hängt dabei u. a. von der Verfügbarkeit materieller und zeitlicher Ressourcen, der aktuellen Lebensphase, der geografischen Lage (Urbanisierungsgrad, Einkaufsmöglichkeiten) und Werteinstellung ab.23 In der Stadt- bzw. Quartiersplanung ist es allerdings kaum möglich, auf jede einzelne Person abgestimmte spezifische Maßnahmen zu ergreifen, gruppenspezifische Maßnahmen scheinen hier erfolgversprechender. Bei der Planung von gruppenspezifischen Interventionen kann beispielsweise auf bestehende Forschung zu Konsumententypen (z. B. Defra 2007) oder Milieus (z. B. Sinus-Milieus, Abb. 4) zurückgegriffen werden. So liefert die Milieu-Forschung nützliche Einsichten, wie aufgeschlossen bzw. ablehnend bestimmte Bevölkerungsgruppen einzelnen Maßnahmen gegenüberstehen. Mit der genauen Er­­ fassung der Zielgruppe lassen sich die entsprechenden Maßnahmen zur Verhaltensänderung ergreifen. Eine Studie des BMU von 2010 zu Umweltbewusstsein und Umweltverhalten in Deutschland liefert hierzu interessante Erkenntnisse: So stehen z. B. besonders Menschen mit höherem Bildungsstand dem Ausleihen von Gebrauchsgegenständen (wie Werkzeug oder Gartengeräte) sehr offen gegenüber (Abb. 5). Zusammen mit der großen Akzeptanz von Carsharing-Angeboten in diesen umweltbewussten Milieus bietet sich hier die Gelegenheit der Einflussnahme sowohl durch struktur- als auch personenfokussierte Maßnahmen. Die Umsetzung des Prinzips »Teilen statt besitzen« könnte dabei zur Einsparung von Energie und Ressourcen führen. Gleichzeitig würden die Mitglieder dieser

Gruppen eine Vorbildfunktion übernehmen und so Verhaltensänderungen in anderen Milieus anregen.24 Um den Problemen des Klimawandels, des hohen Ressourcenverbrauchs und der Umweltverschmutzung und -zerstörung entgegenzuwirken, ist ein Eingreifen auf mehreren Ebenen notwendig. Das bedeutet, dass sich mögliche Maßnahmen sowohl auf Sachgebilde als auch auf Sozialgebilde beziehen müssen. Es geht also nicht nur um technologische Lösungen wie die Steigerung der Energieeffizienz, sondern es müssen auch die den Problemen zugrunde liegenden Verhaltensmuster überwunden werden. Das verlangt unterschiedliche Maßnahmen, die u. a. die äußeren Situationen und Strukturen dergestalt verändern, dass sich neue Handlungsräume für um­­weltfreundliches Verhalten bilden. Gleichzeitig muss die Wertvorstellung der Menschen so ge­­prägt sein, dass sie diese Möglichkeitsräume erkennen und nutzen. Denn das Überzeugungssystem und damit individuelle Werte und Einstellungen bestimmen, wie die Umwelt wahrgenommen und bewertet wird.25 Es geht dabei auch um den Aufbau alternativer Vorbilder für den Lebensalltag, mit denen gängige, durch die Werbung angeheizte Konsummuster neutralisiert werden können. Hohes Umweltbewusstsein führt jedoch nicht unbedingt zu einem besseren Umweltverhalten, wenn nicht auch die strukturellen Rahmenbedingungen so angepasst sind, dass entsprechende Möglichkeitsräume für umweltfreundliches Verhalten geöffnet werden.26 Um Verhaltensweisen erfolgreich zu beeinflussen, bedarf es ganzer Bündel aus verschiedenen Maßnahmen und Eingriffsarten, zu denen auch die Gegenoffensive zu Konsum anheizenden Werbestrategien zählt, wie etwa Pkw-Werbung mit glitzernden Neuwagen auf leeren Straßen in unberührten Landschaften.27

Abb. 4  Milieu-Konzept des Sinus-Instituts Abb. 5  Attraktivität des ­Ausleihens von Gebrauchs­ gegenständen im Milieu­ vergleich (Bevölkerungsdurchschnitt 51 %)

Weitere Informationen

•  Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit; Umweltbundesamt (Hrsg.): Umweltbewusstsein in Deutschland 2016. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. Berlin 2017 •  Umweltbundesamt (Hrsg.): Marktbeobachtung Nachhaltiger Konsum: Entwicklung eines Instrumentes zur Langzeit-Erfassung von Marktanteilen, Trends und Treibern nachhaltigen Konsums. Dessau-Roßlau 2015 •  Hilary Byerly et al.: Nudging Pro-environmental Behavior: Evidence and Opportunities. In: Frontiers  in  Ecology and the  Environment Vol. 16 Issue 3 April 2018 •  Department of Environment, Food and Rural Affairs – Defra (Hrsg.): A Framework for Pro-­ Environmental Behaviours. Report. London 2007 •  Linneweber, Volker; Lantermann, Ernst-Dieter; Kals, Elisabeth (Hrsg.): Spezifische Umwelten und umweltbezogenes Handeln. Göttingen 2010 •  Visschers, Vivianne et al.: Konsumverhalten und Förderung des umweltverträglichen Konsums. Bericht im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt BAFU. Zürich 2010

22 Visschers et al. 2009, S. 10 23  BMU 2010, S. 13 24  Defra 2007, S. 11, 48 25  Bamberger/Kühnel 1998, S. 9 26  Preisendörfer 1999, S. 78 27  Stern 2000, S. 419

K A P ITE L 2

Heraus forderungen & Handlungsfelder

2.4

Ökologie

83

2.4 — Ökologie

Herausforderung Arten- und ­Biotopschutz G e rhard Haub er, Wal traud Pus tal

D

as hochkomplexe Thema Biodiversität kann vereinfacht als die »Vielfalt des Lebens auf der Erde« definiert werden.1 Dabei umfasst dieser Begriff Komponenten wie Gene, Arten, Populationen, ökologische Systeme, natürliche Lebensräume und berücksichtigt alle geografischen Maßstäbe von der lokalen bis hin zur globalen Ebene.2 Es handelt sich also um unsere wesentlichen Lebensgrundlagen. Diese zu schützen und nachhaltig zu erhalten ist überlebenswichtig. Obwohl es mittlerweile Wirtschaftlichkeitsberechnungen gibt, die dies aus ökonomischer Sicht als sinnvoll nachweisen,3 sind ein Viertel aller Tierarten in der EU vom Aussterben bedroht. Nur 17 % der EU-rechtlich geschützten Lebensräume und Arten und 11 % der Ökosysteme befinden sich in einem guten Zustand; alle anderen sind gefährdet – hauptsächlich durch das Verhalten des Menschen (Abb. 1, S. 84).4

Biodiversität Im Bundesnaturschutzgesetz 2009 (BNatSchG) wurde die biologische Vielfalt als eigenständiger Punkt in § 1 Abs. 1 Nr. 1 aufgenommen. Dabei handelt es sich um die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten einschließlich der innerartlichen Vielfalt sowie die Formen von Lebensgemeinschaften und Biotopen, die in engem Bezug zueinander stehen. Die langfristige Existenzsicherung einer Art ist nur möglich, wenn sowohl ein Minimum an genetisch differenzierten Populationen als auch das Gefüge zugehöriger Ökosysteme erhalten bleiben. Der Begriff der biologischen Vielfalt ist auch Bestandteil des 1992 auf der UN-Konferenz für

Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro geschlossenen Übereinkommens, der »Convention on Biological Diversity« (CBD, Biodiversitäts-Abkommen) zum Schutz von Lebensräumen und Arten. Neben 191 weiteren Staaten ist auch die Bundesrepublik Deutschland Vertragspartei. Wesentliche Ziele der CBD sind: •• die Erhaltung der biologischen Vielfalt (der Ökosysteme, der Arten sowie der genetischen Vielfalt) •• die ökologische nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile •• die gerechte Aufteilung der aus der Nutzung der genetischen Ressourcen resultierenden Gewinne5 Grundsätzlich umfasst der Begriff der Biodiversität alle Lebewesen, neben den wild lebenden Organismen auch die in Gefangenschaft gehaltenen und die gezüchteten. § 1 des BNatSchG beschränkt sich jedoch auf diejenigen, die Teil von Natur und Landschaft sind.6

Verdrängung Die täglich neu ausgewiesene Siedlungs- und Verkehrsfläche betrug in Deutschland in den Jahren 2013–2016 ca. 62 ha.7 Diese Siedlungen, Straßen, Industriegebiete und Parkplätze zerstören z. B. Lebensräume und Wanderungsrouten von Tieren oder verändern den Wasserhaushalt eines Gebiets. Auch die unter dem Aspekt der Flächeneinsparung positiv zu bewertende Nachverdichtung von Innenstädten und Siedlungen kann natürliches Schutzgut zerstören.8 Wesentliche Gefährdungsursachen der Biodiversität sind neben dem Flächenverbrauch für die Bebauung auch schädliche

1 Millennium Ecosystem Assessment 2005 2 Werner/Zahner 2009 3 Bateman 2012 4 Europäische Kommission 2011, Lebensversicherung und Naturkapital, S. 1 5 Schumacher/Fischer-­ Hüftle 2011, § 1, Rdnr. 30, 35 6 ebd. Rdnr. 39 7 Statistisches Bundesamt 8  z.B. LUBW 2013

84

Kapitel 2 — Herausforderungen

Verlust > 30% 25 – 30% 20 – 25%

10 – 20% 5 – 10% 0 – 5%

Anstieg

Abb. 1  Weltweite Entwicklung der Biodiversität für das Jahr 2090 (Szenario: »Business as usual«, Daten abgeleitet von Newbold et al., 2015) Abb. 1

 9  Schumacher/Fischer-­ Hüftle 2011, § 1, Rdnr. 6, S. 82f. 10  ebd., § 40, Rdnr. 2– 4 11 Diese sind unter www.bfn.de einzusehen. 12 Schumacher/Fischer-­ Hüftle 2011, § 1, Rdnr. 77f.

Weitere Informationen

•  Endlicher, Wilfried: Einführung in die Stadtöko­ logie. Stuttgart 2012 •  Sukopp, Herbert; Wittig, Rüdiger (Hrsg.): ­Stadtökologie. Stuttgart 1998 •  Werner, Peter; Zahner, Rudolf: Biologische ­Vielfalt und Städte. BfN-Skripten 245, 2009 •  Wittig, Rüdiger; Streit, Bruno: Ökologie. ­Stuttgart 2004 •  www.cbd.int: Originaltext des CBD-Abkommens von 1992 und aktuelle Informationen der UN •  www.biodiv.de: deutscher Verein mit ­aktuellen und übersichtlichen Informationen rund um das Thema Artenvielfalt •  uknea.unep-wcmc.org: Eco System Assessment • www.umweltbundesamt.de

Stoffeinträge (Luftschadstoffe, Überdüngung, Pflanzenschutzmittel, Arzneimittelrückstände in Böden und Gewässern etc.), die immense Pro­ bleme und Kosten (z. B. Trinkwasseraufbereitung) verursachen. Auch die Gefährdung durch Neobiota (gebietsfremde und invasive Arten) nimmt zu,9 was häufig zum Aussterben endemischer und zur Verdrängung heimischer Arten, zum Einschleppen von Krankheitserregern oder zur Zerstörung bestimmter Biotoptypen führt.10 Zur Bestimmung des Gefährdungsgrads dienen z. B. sogenannte Rote Listen für alle Artengruppen auf nationaler und internationaler Ebene.11 Da nicht alle Be­­ standteile der Biodiversität in gleichem Maße gefährdet sind, müssen an Art und Umfang der Gefährdung angepasste Schutzstrategien entwickelt werden.

Schutzstrategien Langfristiges Überleben von Arten ist nur möglich, wenn einerseits ausreichende Habitat­

größen und -qualitäten zur Verfügung stehen und andererseits genügend Möglichkeiten für Wanderungen, Austausch und Ausbreitung gewährleistet sind. Der Austausch zwischen Populationen verhindert die genetische Verarmung und somit das drohende Aussterben. Vor dem Hintergrund des Klimawandels erlangen der Erhalt der genetischen Vielfalt und damit die Verbesserung der Anpassungsmöglichkeiten von Arten besondere Relevanz.12 Die Schutzstrategien für Lebensgemeinschaften und Biotope als Teil der biologischen Vielfalt er­­ strecken sich sowohl über die Naturlandschaft als auch über die Kulturlandschaft und umfassen somit ebenfalls die besiedelten Bereiche oder Stadtlandschaften. Je reicher diese Landschaften an Strukturen sind, desto höher ist der Artenreichtum. Der Schutz spezieller, besonders be­­ drohter oder streng geschützter Lebensräume und Arten und der Umgang mit ihnen im Rahmen der Stadtplanung hilft in der Regel auch anderen Arten und ist deshalb ein Mittel der Wahl, um erfolgreich Artenschutz zu betreiben. Geregelt ist dies im BNatSchG § 3 1–36 zum »Netz Natura 2000« sowie in § 44–47 zum besonderen Artenschutz.

85

2.4 — Ökologie

Herausforderung Stadtklima Jü r gen B aumül ler

S

eit die Menschen begonnen haben, sesshaft zu werden und Städte zu bauen, gibt es das Phänomen des Stadtklimas. Je­ de Stadt schafft sich aufgrund ihrer örtlichen Lage ein eigenes Klima, das sich zum Teil erheblich von den Klimabedingungen der Region unterscheidet. Die Unterschiede hängen von vielen Faktoren ab, insbesondere von der Größe und Dichte der Stadt. Städte haben ein zum Umland verändertes Klima, das sich im Wesentlichen gegenüber der freien Landschaft durch die unterschiedliche Energiebilanz und die Verminderung der Windgeschwindigkeit, also der Durchlüftung, ergibt. Gewöhnlich ist es in Städten windstiller, wärmer, trockener und schmutziger. Sämtliche meteorologischen Parameter einschließlich der Luftzusammensetzung sind in einem Stadtgebiet im Vergleich zur umgebenden Landschaft verändert. Das Stadtklima ist jedoch prinzipiell kein Schönwetterphänomen, wenngleich bei autochthonen (durch lokale Einflüsse geprägten) Wetterlagen die Unterschiede zum Umland besonders deutlich werden können. Die verschmutzte Stadtatmosphäre einer Großstadt schwächt die einfallende Sonnenstrahlung ab, insbesondere im UV-Bereich, die Windgeschwindigkeit wird reduziert, die Anzahl der Windstillen steigt, die relative Luftfeuchtigkeit ist geringer und die Temperaturen sind höher (Abb. 2, S. 86). Besonders große Temperaturunterschiede treten in klaren Nächten auf. Für Millionenstädte kann der maximale Temperaturunterschied in der ­Minimumtemperatur der Nacht gegenüber dem Umland über 10 °C betragen. Man spricht deshalb auch von der »Wärmeinsel Stadt«. Eine der größten Veränderungen in einer Stadtatmosphäre ist die Anreicherung der Luft mit Schadstoffen aller Art, die bei ungünstigen Wetterlagen zu gesundheitsschädlichen Konzentrationen führen kann.

Hohe Schadstoffkonzentrationen treten bevorzugt im Winter auf (»London Smog«), wenn bei hohem Schadstoffanfall durch Heizung, Industrie und Verkehr eine austauscharme Wetterlage vorherrscht, oder im Sommer bei hohen Temperaturen und starker Sonneneinstrahlung durch Autoabgase (»Los Angeles Smog«). Ein nicht zu vernachlässigender Faktor in Städten ist die anthropogene Wärmeerzeugung, die ebenfalls zu einer zusätzlichen Erwärmung speziell auch im Winter während der Heizperiode führt. Abhängig von der Stadtgröße, der Lage und der Jahreszeit muss man mit ca. 10 – 70 W/m2 rechnen.1

Globale Herausforderung Derzeit leben über 50 % der Menschen in Städten, bis 2050 werden es 70 % sein.2 Bei dann ca. 9 Milliarden Menschen auf der Erde sind dies 6,3 Milli­ arden in Städten. Die Anzahl der Megastädte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern nimmt ständig zu. Mit der Stadtgröße wachsen auch Luftverschmutzung und Überwärmung (Abb. 3, S. 87). Diese Entwicklung geschieht vor dem Hintergrund eines Klimawandels mit deutlich ansteigenden Temperaturen, die global gesehen bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 5 °C in der Jahresmitteltemperatur betragen können.3 Schon heute ist die Erwärmung innerhalb der letzten 100 Jahre mit ca. 0,9 °C deutlich messbar. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren und die Anpassung an den Klimawandel in den Städten und Regionen zu planen. Welche Probleme auf uns zu­­kommen, zeigen die Auswirkungen des Hitze­sommers 2003 in Europa.

1  Kuttler 2010 2 UN 2008 3  IPPC 2007

86

Kapitel 2 — Herausforderungen

Element

Maßzahl

Unterschied zum Umland

Strahlung

Globalstrahlung Ultraviolettstrahlung Sonnenscheindauer

bis 20 % weniger Sommer: bis 5 % weniger Winter: bis 30 % weniger bis 15 % weniger

Temperatur

Jahresmittel nächtliches Minimum Heiztage Dauer der Frostperiode Bodeninversion

bis 1,5 K höher bis 12 K höher bis 10 % weniger bis 25 % kürzer kaum vorhanden im Stadtbereich

Feuchte

Jahresmittel (relative Feuchte)

Sommer: bis 10 % weniger Winter: bis 2 % weniger

4,5

Verdunstung

Mittelwert

bis 60 % weniger

4,0

Windgeschwindigkeit

Jahresmittel Böen Windstille (Kalme)

bis 30 % niedriger bis 20 % weniger bis 20 % häufiger

Bewölkung

Bedeckungsgrad

bis 10 % höher

Sichtweite

Nebelhäufigkeit Sicht bis 5 km

etwas geringer deutlich schlechter

Niederschlag

Niederschlagshöhe Tage mit mehr als 5 mm Tage mit Schneefall Tau

bis 10 % größer bis 10 % häufiger bis 5 % weniger bis 65 % weniger

Luftbeimengungen

Konzentration

stark erhöht

[K]

a

6,0 5,5 5,0

3,5 3,0 2,5 2,0

b

Abb. 1

Abb. 1  prognostizierter ­Temperaturanstieg in Europa von heute bis zum Ende des 21. Jahrhunderts a  im Winter b  im Sommer Abb. 2  Stadtatmosphäre im Vergleich zum Umland Abb. 3  Einflussgrößen des urbanen Wärmehaushalts Abb. 4  Ablaufschema für notwendige Stadtklima­ untersuchungen Abb. 5  Beispiel für eine ­Analysekarte aus dem ­»Klimaatlas Region Stuttgart«: Wärmebelastung der Region Stuttgart im Jahr 2000

4  BUM 2008

Abb. 2

Nationale Herausforderung Die Klimaveränderung wird sich in Europa außer im Niederschlagsbereich insbesondere auch auf die Lufttemperatur auswirken, wobei sich im Winter gegenüber dem Sommer räumliche Unterschieden ergeben (Abb. 1). Auf nationaler Ebene hat das Bundeskabinett daher bereits 2008 die »Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel (DAS)« beschlossen.4 Der Bund formuliert hier einen Handlungsrahmen und bietet damit Orientierung für konkrete Umsetzungsstrategien. In einem mittelfristigen Prozess sollen schrittweise mit den Bundesländern und anderen gesellschaftlichen Gruppen die Risiken des Klimawandels bewertet, der mögliche Handlungsbedarf benannt, die entsprechenden Ziele definiert sowie mögliche Anpassungsmaßnahmen entwickelt und umgesetzt werden. Ergänzt wurde diese Anpassungsstrategie 2011 durch den »Aktionsplan Anpassung (APA)« zur DAS. Die Bundesregierung sieht dabei vier Schwerpunkte: •• Wissen bereitstellen, informieren, befähigen •• Rahmensetzung durch den Bund

•• Aktivitäten in direkter Bundesverantwortung •• internationale Verantwortung Seit 2008 gibt es außerdem diverse Pilotprojekte zur Klimaanpassung, gefördert durch das Bundes­ ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), das Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (BBSR) sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Bei KlimaMORO handelt es sich um regionale Modellvorhaben, während bei den ExWoSt-Projekten die Stadt im Vordergrund steht. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) leistet mit der Förderung des Forschungsprogramms »KLIMZUG – Klimawandel in Regionen zukunftsfähig gestalten« einen Beitrag zur Stei­ gerung der Anpassungskompetenz in Deutschland.

Regionale Herausforderung Die in Deutschland vorhandenen Regionalpläne, die in der Regel alle zehn Jahre fortgeschrieben

87

2.4 — Ökologie

effektive terrestrische Ausstrahlung (langwellig)

Sonnenstrahlung (kurzwellig)

Reflexion und Absorption durch Dunst, Wolken, Staubpartikel, andere luftfremde Beimengungen vom Boden reflektierter Anteil

diffuse Himmelsstrahlung + direkte Sonnenstrahlung = Globalstrahlung

be Al

künstlich erzeugte Wärme

vom Boden ausgehende Wärmestrahlung konvektiver Transport fühlbarer und latenter Wärme

atmosphärische Gegenstrahlung advektiver Transport fühlbarer und latenter Wärme

do Windrichtung Wärmespeicherung, Verdunstung, Photosynthese in Pflanzen Abb. 3 Messung Berechnung Analyse Diagnose Verletzbarkeit Anpassungsmaßnahmen Therapie

umweltfreundliche Planung und Stadtentwicklung

Untersuchung

Gegensteuermaßnahmen

Abb. 4

Abb. 5

werden, sind ein gutes Instrument, um Klimaanpassungsmaßnahmen an den Klimawandel auf regionaler Ebene sicherzustellen und voranzutreiben. Eine raumbezogene Entwicklung muss das Ziel haben, ökologische Schutzgüter und Ausgleichsfunktionen dauerhaft zu sichern, um, wie es vom Gesetzgeber verlangt wird, eine umweltverträgliche Entwicklung von Siedlungen und Infrastruktur zu gewährleisten. Klima, Klimaschutz und Luft sowie seit 2011 auch die Klimaanpassung sind wichtige Belange der räumlichen Planung im Rahmen einer sachgerechten Abwägung der Regionalplanung und der Bauleitplanung. Für eine entsprechende Berücksichtigung dieser Belange sind flächenbezogene kommunale Untersuchungen und Informationen erforderlich mit Schwerpunkten in den Bereichen Stadtumbau, Stadtgestaltung und Denkmalpflege, Grün- und Freiflächenplanung, klimaangepasste Siedlungsentwicklung und Gewerbeentwicklung. Regionale planungsbezogene Klimaatlanten wie z. B. der »Klimaatlas Region Stuttgart«5 stellen ein wertvolles Hilfsmittel zur Bewältigung dieser Aufgabe dar (Abb. 5). Im Vordergrund der Anpassung stehen neben Maßnahmen zum Hochwasserschutz die Sicherung von regionalen Grünzügen und Grünzäsuren.

Lokale Heraus­ forderung Die größte Verantwortung bezüglich des Stadtklimas und des Klimawandels liegt bei den Städten und Gemeinden, da sie die Planungshoheit innehaben. In einigen Städten in Deutschland wie beispielsweise Berlin, Hannover, Hamburg, Stuttgart oder Nürnberg werden bereits erfolgreich Klimaanpassungsstrategien entwickelt. Die konkrete Umsetzung von Maßnahmenkonzepten wird jedoch noch einige Zeit dauern. Als inhaltliche Schwerpunkte haben sich das Problem der Überhitzung im Sommer, Hochwasser an den Flüssen und Küsten sowie lokale Hochwasser durch Starkniederschläge herauskristallisiert. Grundlegende Voraussetzungen für Maßnahmenkonzepte und Betroffenheitsanalysen sind gesamtstädtische Klimauntersuchungen der aktuellen Situation und Szenarien der zukünftigen Entwicklung. Da die Betroffenheit von Region zu Region und von Stadt zu Stadt verschieden ist, sind lokalbezogene Untersuchungen und Maßnahmenkonzepte notwendig (Abb. 4).

5  VRS 2008

Weitere Informationen

•  Baumüller, Jürgen; Baumüller, Nicole: Städte im Klimawandel. Anpassung in der Region Stuttgart. In: PlanerIn 02/2010 •  Baumüller, Nicole: Stadt im Klimawandel. Klima­ anpassung in der Stadtplanung. Grundlagen Maß­ nahmen und Instrumente. Dissertation an der Uni­ versität Stuttgart 2018 (https://elib.uni-stuttgart. de/handle/11682/9838) •  IPCC Fifth Assessment Report Climate Change 2013/14 (AR5) •  Kuttler, Wilhelm: Klimawandel im urbanen Bereich. Teil 1: Wirkungen. Environmental ­Sciences Europe 2011 •  Kuttler, Wilhelm: Klimawandel im urbanen Bereich. Teil 2: Maßnahmen. Environmental ­Sciences Europe 2011 • www.klimamoro.de • www.umweltbundesamt.de/themen/klima-ener­ gie/klimafolgen-anpassung/werkzeuge-der-anpas­ sung/projektkatalog/klimzug-klimawandel-in-regi­ onen-zukunftsfaehig

88

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Handlungsfeld Freiräume und Stadtklima Ste p han Anders, Gerhard Hauber, Walt raud Pus ta l

D 1 Watson 2011 2 National Ecosystem Assessment 2011

ie Gestalt einer Stadt wird aus den landschaftlich-morphologischen Bedingungen sowie den Bau- und Infrastrukturen geformt. Die Neu­ schaffung und Vernetzung multifunktionaler grüner Freiräume spielt dabei eine entscheidende Rolle. In Zukunft wird es notwendig sein, Freiräume noch viel konsequenter zu schützen und als lebensnotwendige Elemente urbanen Lebens zu entwickeln und zu erweitern – und sie nicht nur wie bisher häufig auf »Restflächen« zwischen der Bebauung zu reduzieren. Neben der Erholungsfunktion kommt den Freiflächen eine entscheidende Aufgabe bei den Strategien zur Klimaanpassung unserer Städte zu: Sie sind essenziell für die Artenvielfalt und deren Stabilisierung im urbanen Umfeld. Als attraktive Frei- und Bewegungsräume für alle Generationen müssen weitere Freiflächen ge­­schaffen bzw. die bestehenden ausgebaut werden.

Maßstabsebene Region Regionalplanung der Zukunft Die Regionalplanung ist das zwischen übergeordneter Landesebene und kommunaler Ebene vermittelnde Planungsinstrument. Ihre Aufgabe ist es – oft in langwierigen Prozessen, Verhandlungen und Abstimmungen –, auf der Basis von hochspezialisierten Gutachten die Grundlagen der räumlichen Entwicklung eines Gebiets als Lebens- und Wirtschaftsraum, Erholungslandschaft und Natur-

raum für die nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte festzulegen. Grundlegende Anforderung ist dabei immer die Abschätzung der Folgen der menschlichen Eingriffe in die natürlichen Gegebenheiten und die Abwägung dieser Auswirkungen gegen die städtebaulichen Nutzungsanforderungen. Dabei war bisher der Wert von Arten und Biotopen von eher allgemeinerer gesellschaftlicher Bedeutung und nur schwer präzise zu formulieren. Der 2011 von der britischen Regierung vorgelegte Bericht »National Ecosystem Assessment« (NEA) zeigt eine neue Herangehensweise auf.1 Im NEA wird versucht, Ökosysteme und deren Entwicklungsprozesse in monetäre Werte zu übersetzen. Nur so lässt sich eine Vergleichbarkeit von Bewirtschaftungsszenarien herstellen. Die Ergebnisse sind eindeutig: So zeigt eine vergleichende Studie, dass eine konventionell betriebene, im Wesentlichen auf das Einkommen der Bauern bezogene Landwirtschaft gegenüber einer nachhaltigen, auch den Biotop- und Artenschutz berücksichtigenden Bewirtschaftung gesamtwirtschaftlich betrachtet gravierende Unterschiede aufweist. Die erste Variante kostet langfristig sehr viel mehr Geld als sie einbringt, und hinterlässt zudem eine geschädigte Umwelt. Dagegen sorgt die nachhaltige Bewirtschaftung für eine monetär positive Bilanz und erhält langfristig das bewirtschaftete Gebiet für die Gesellschaft. Ein Beispiel hierfür ist der reduzierte Eintrag von Dünger, Pestiziden und Sedimenten (Erosion) in Flüsse aufgrund einer naturnahen Bewirtschaftung. Das bedeutet einen geringeren Aufwand und somit weniger Kosten für die Aufbereitung dieses Wassers als Trinkwasser.2 Die Regionalplanung der Zukunft wird diese Art der Herangehensweise weiterentwickeln und das Kosten-Nutzen-Verhältnis einzelner Entscheidungen unter diesem veränderten Blickwinkel neu ermitteln müssen. Dabei sollte der Arten- und Biotopschutz als gesellschaftliche Notwendigkeit höchste Priorität genießen.

89

2.4 — Ökologie

Abb. 1  begrünte Dach­ fläche, auf der in mehreren ­Bienenstöcken auch Honig produziert wird, City Hall, Chicago (USA) Abb. 2  Vernetzung der Grünräume durch die Re­­ naturierung eines Kanals, Seoul (ROK) Abb. 1

Biotopschutz und Artenvielfalt in urbanen Gebieten Der Artenvielfalt in urbanen Gebieten kommt eine zunehmend wichtigere Rolle beim Erhalt der gesamten Artenvielfalt zu. In Europa findet man in der Regel mehr als 50 % aller Arten einer ­biogeografischen Region in den Städten.3 Überleben ist dort für viele Arten, vor allem für die »urban adapters« und »exploiters«,4 besser möglich als in unserer ausgeräumten, intensiv genutzten Agrarlandschaft. Trotzdem sind die StadtUmland-Beziehungen ebenfalls ein wichtiger Faktor für die Entwicklung einer nachhaltigen Biodiversität.5 Ausreichender Austausch, Nachschub- und Rückzugsräume sowie der Anschluss an andere Populationen zur genetischen Auffrischung sind dabei entscheidend. Allerdings sind Städte problematische Standorte: hochdynamisch, laut, mit vielen Störungen und extremen Emissionen. Starke Veränderung der Lichtverhältnisse in Städten beeinflussen u. a. Gesangsrhythmus, Brutaktivität und Nahrungsaufnahme sowie teilweise auch die Flugaktivität einiger Vogelarten.6 Toxische Einflüsse können Stress für den Organismus bedeuten sowie Veränderungen in Flora und Fauna bewirken. Die Forderung nach ausreichend großen, spezifisch strukturierten und vernetzten Flächen für die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt bekommt deshalb im Kontext des Gesamtkomplexes »Artenschutz in der Stadt« eine neue Wertigkeit (Abb. 2). Artenschutz muss angesichts der erwiesenen Bedeutung von Biotopen für die (Wert-)Erhaltung unserer Umwelt zu einem wichtigen strategischen stadtplanerischen Ziel werden. In der Praxis hat es sich bewährt, einige Leitarten aus Flora und Fauna zu definieren und konkret die zu deren Schutz und Entfaltung erforderlichen Biotopräume und Vernetzungssysteme zu schaffen. Dabei kommt es nicht nur auf perfekte und groß angelegte Szenarien an. Vielmehr müssen auch mit einer Vielzahl kleinerer Maßnahmen die bestehenden Potenziale ausgeschöpft und gefestigt werden. So können z. B. Siedlungen mit einem hohen Grünanteil unter

Abb. 2

Gesichtspunkten des Artenschutzes optimiert oder die Pflegemaßnahmen für das Straßenbegleitgrün auf die Bedürfnisse der dortigen Flora und Fauna abgestimmt werden. Es gibt unzählige Möglichkeiten auf allen Maßstabsebenen, wichtig ist es zunächst, den Artenschutz als grundlegendes Thema im Bewusstsein und in der täglichen Praxis zu verankern (Abb. 1).

Grünsysteme und ihre ­Integration Die Vernetzung und Gestaltung von Grünräumen in Städten ist eine wichtige Grundlage für die Akzeptanz des Wohnumfelds und für die Identifikation der Bürger mit ihrem Quartier, also ein zentrales Element für Zufriedenheit und Lebensqualität. Grünsysteme umfassen Grünflächen wie Parkanlagen, Spiel- und Sportplätze, Straßenbegrünung, Straßenbäume, Alleen, Kleingärten, Friedhöfe, Gewässer- und Uferzonen, Naturschutzflächen, Stadtwälder, Gehölzinseln, aber auch private Gärten und Parks, Wege- und Treppenanlagen, die z. B. über alte Trockenmauern (Abb. 4, S. 90) private und öffentliche Grünbereiche verknüpfen. Besonders bedeutende Grünsysteme sind Gewässer, vor allem Fließgewässer. Aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass Grünund Freiraumsysteme in ihrer Zusammensetzung ausgesprochen inhomogen sind und sich sehr individuell in jeder Stadt oder Siedlung oft über viele Jahrhunderte entwickelt haben. Nach klassischen quantitativen Bewertungsmaßstäben sind Bewohner der Innenstädte oder erweiterter Innenstadtlagen in der Regel mit Grün- und Freiflächen unterversorgt. Für die Stadt Berlin z. B. heißt das nach den in Abb. 3 aufgeführten Richtwerten, dass annähernd eine Million Einwohner nur unzureichend Zugang zu Grün- und Erholungsflächen haben.7 In sehr dicht besiedelten Bestandsgebieten ist eine Verbesserung durch neue Freiflächen kaum möglich. Das von der Greater London Authority für London entwickelte Freiraumkonzept »All London Green Grid« konzentriert sich deshalb konsequent auf

3  Werner 2009 4  nach Blair 2001 5  Werner 2009 6 Klausnitzer 1998 7  SenStadtUm 2013

90

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Bezugsgröße

maximale Entfernung

Größe der Freifläche

m2 pro Einwohner

Wohnung

250 m

< 1 ha

4

Quartier

500 m

1,1–10 ha

6

Stadtteil

1000 m

10 – 40 ha

7

Gesamtstadt

5000 m

> 40 ha

8

Abb. 3

8 Reuter/Kapp/Baumüller 2012, S. 192

Abb. 4

Abb. 5

die Qualifizierung bestehender Rest- und Zwischenflächen sowie auf die Zugänglichkeit und Verbindung vorhandener Grünflächen. Dabei wird nicht nur auf die Vernetzung von öffentlichen Parks und Grünflächen gesetzt, sondern auf jede Art von durch Flora und Fauna besiedelbare Räume. Denn nur durchgängige Verbindungen schaffen qualitative Verbesserungen in dicht besiedelten Gebieten. Neuere Flächennutzungspläne, Grünordnungspläne und die Verpflichtung zu Ausgleichsmaßnahmen haben zu einer nachhaltigeren Entwicklung geführt. Über die Festlegung der Grundflächenzahl (GRZ) im Bebauungsplan beispielsweise wird in der Regel ein Freiflächenanteil von ca. 40 % gesichert, womit zumindest das Potenzial zur Erweiterung des Grünflächenanteils festgeschrieben ist. Ein Grünsystem ist ein sich ständig veränderndes, nie fertiges Konstrukt. Als Grundlage für die weitere Entwicklung eines vorhandenen Systems bieten sich folgende Möglichkeiten an: •• konsequenter und radikaler Schutz jeglicher Biotopflächen, -systeme und -strukturen als Grundlage eines stabilen Natursystems (siehe Herausforderung Arten- und Biotopschutz, S. 83f.) •• Betrachtung und Einbeziehung aller Freiflächen, ob gepflegt oder nicht, öffentlich oder privat •• konsequente Vernetzung von Grünflächen zur Schaffung der Durchgängigkeit für Mensch und Tier und damit auch für Pflanzen •• Erarbeitung einer Vision für ein Grünsystem als Grundlage für die weitere städtebauliche Entwicklung •• Motivation der Bewohner zu Mikromaßnahmen wie z. B. die Naturgartenbewegung, Essbare Gärten in Andernach (Abb. 5), Prinzessinnengarten in Berlin, UrbanFarmers in Zürich  GH, WP

Stadtklimatisch angepasste Bebauungsstruktur Spätestens seit dem Hitzesommer in Europa 2003 ist der Einfluss des Stadtklimas auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Menschen in das allgemeine Bewusstsein gerückt. In Anbetracht des fortschreitenden Klimawandels und der damit verbundenen Zunahme von extremen Wetterereignissen wird eine stadtklimatisch angepasste Baustruktur vermehrt an Bedeutung gewinnen. Mit Blick auf den planerischen Handlungsbedarf sollten folgende Ziele klimagerechter Planung verfolgt werden: •• Verbesserung der Aufenthaltsbedingungen bezüglich Behaglichkeit bzw. Bioklima •• Verbesserung der Siedlungsdurchlüftung •• Förderung der Frischluftzufuhr durch Ausnutzung lokaler Windsysteme •• Verminderung der Freisetzung von Luftschadstoffen und Treibhausgasen •• Ermittlung und sachgerechte Bewertung vorhandener oder zu erwartender Belastungen (z. B. zusätzlicher Verkehr, Klimaveränderung) •• sachgerechte Reaktion auf Belastungssituatio­ nen durch Anpassung von Nutzungskonzepten8 Welche Maßnahmen im Einzelnen sinnvoll sind und gegenüber anderen Nachhaltigkeitsaspekten wie beispielsweise der flächensparenden Bauweise favorisiert werden sollten, hängt stark von den lokalen Rahmenbedingungen ab. So ist die Freihaltung von Kaltluftbahnen und ein Verzicht auf Hochhäuser, die die Durchlüftung negativ beeinflussen können, z. B. im Talkessel von Stuttgart weitaus wichtiger als beispielsweise in der Hafenstadt Helsinki, die eher mit zu vielen kalten Luftströmungen zu kämpfen hat. Dabei gilt es jedoch nicht nur Richtung und Menge der Luftströmung

91

2.4 — Ökologie

Die Struktur des Stadtbauprojekts Masdar City im Emirat Abu Dhabi (Abb. 6) ist beispielsweise auf die Windsysteme des Standorts hin konzipiert. Das Straßenraster ist um 45° aus der Nord-Süd-Rich­ tung gedreht. Die von Nordost nach Südwest durchgehenden Straßen leiten so die kühle Luft in den Abendstunden durch die Stadt. Gleichzeitig werden aufgrund der zueinander versetzen Stra­ ßen von Nordwest nach Südost die heißen Winde aus der Wüste über die Stadt hinweggelenkt bzw. abgeblockt. Außerdem wurde insgesamt bei der Ausrichtung darauf geachtet, dass die öffentlichen Räume maximal verschattet werden. Abb. 6

gen (Simulation, Windkanaluntersuchungen, Messungen, Gutachten)

Die »Städtebauliche Klimafibel«9, ein Standardwerk für den Bereich der stadtklimatisch angepassten Bebauungsstrukturen, enthält Empfehlungen für die stadtklimatisch optimierte Planung von Städten und Quartieren: 1. Erhaltung und Gewinnung von Vegetations­ flächen: • Bewahrung von Vegetationsflächen durch Landschafts- und Grünordnungspläne (Verwirklichung der Ziele von Naturschutz und Landschaftspflege) • Vermeidung der Bodenversiegelung (z. B. Verminderung der thermischen Belastung bzw. des Heat-Island-Effekts) • Dachbegrünung • Fassadenbegrünung 2. Sicherung des lokalen Luftaustauschs: • Kaltluftentstehung (grünes Freiland, Gewässer, Wälder) • Frischluftzufuhr (Abb. 7) • Grünzüge (z. B. klimaregulierende Funktion, Abstandshalter) • günstige Siedlungs- und Bebauungsformen (z. B. abnehmende Dichte zu den Rändern, Frischluftschneisen; Abb. 8) 3. Maßnahmen zur Luftreinhaltung (Verringerung der Emissionen): • im Bereich Gewerbe und Industrie z. B. Schutzabstände durch trennende Grünzüge an der windabgewandten Seite der Siedlungen • im Bereich Gebäudeheizung z. B. Verbot von Brennstoffen mit hohen Staubemissionen, wie Holz • im Bereich Verkehr z. B. Förderung des Um­­ weltverbundes, Verlagerung von Durchgangsverkehr aus Wohngebieten 4. planungsbezogene Stadtklimauntersuchun-

Um diese Anforderungen erfüllen zu können, müssen stadtklimatische und lufthygienische Aspekte schon auf der Ebene der Flächen­ nutzungs- und Verkehrsplanung berücksichtigt werden.  SA

Maßstabsebene Quartier Integration und Gestaltung von Freiräumen Wesentliches Ziel nachhaltiger Planung ist der sparsame und schonende Umgang mit Grund und Boden. Deshalb werden heute Neubausiedlungen wesentlich dichter geplant und bestehende Quartiere nachverdichtet. Große Gärten lassen sich teilen, dadurch neu entstehende (Teil-)Grundstücke werden auch in Villengegenden mit Doppel-, Reihen- oder Mehrfamilienhäusern neu bebaut. Das schont einerseits Natur und Landschaft im Außenbereich der Stadt, fordert aber den äußerst sensiblen Umgang mit den Freiflächen im städtischen Innenbereich. Gerade dort, wo Menschen dicht zusammenleben, ist es notwendig, die ökologischen Funktionen auch bei Nachverdichtung zu berücksichtigen. Die städtebauliche Planung muss somit nicht nur eine dem Quartierscharakter angemessene Dichte der Bebauung gewährleisten, sondern auch die ökologischen und gestalterischen Qualitäten der verbleibenden Freiräume deutlich erhöhen. Das gelingt nur, wenn die Grün-

9  Reuter/Kapp/Baumüller 2012, S. 192 – 248 Abb. 3  empfohlene Grünund Freiflächen je Einwohner Abb. 4 Trockenmauer, Trochtelfingen (DE) Abb. 5  Integration von städtischer Grünraumplanung und Urban Farming, Essbare Gärten, Andernach (DE) Abb. 6  Durchlüftung mittels »grüner Finger«, Masdar City, Abu Dhabi (UAE), Masterplan: Foster + Partners Abb. 7 städtebauliche ­Prinzipien zur Erhaltung der Frischluftschneisen bei einer Hangbebauung Abb. 8 Zusammenhang ­zwischen städtebaulicher Dichte und Durchlüftung a hohe Dichte an den ­Rändern der Stadt b abnehmende Dichte zu den Rändern der Stadt hin

Abb. 7

AAbb Ab sstatasta nndd nd

zu berücksichtigen, sondern auch deren Eigenschaften (Temperatur, Feuchte, Schadstoffe).

a

Abb. 8

b

92

Kapitel 2 — Handlungsfelder

10  vgl. Frentzen 2006

planung und die Berücksichtigung aller Umweltbelange kontinuierlich fester Bestandteil der Stadtplanung sind. Diese integrierte Grünplanung muss Leitbilder für die Gesamtstadt formulieren und systematisch umsetzen. Dabei sollte ein »grünes Rückgrat« innerhalb der Gesamtstadt als Hauptelement dienen, sei es als »grüner ­Gürtel« aus vernetzten Parks, Gärten, Gewässern oder als durchgängig renaturiertes Flusssystem mit verbundenen Park-, Sport- und Spielanlagen, Fuß- und Radwegenetzen sowie ein- und angebundenen öffentlichen Einrichtungen. In den Quartieren muss an dieses System angedockt und über Vorgaben der Stadtverwaltung hinsichtlich privater Bauvorhaben (Quartiere oder Einzelgebäude) die Bebauung entsprechend gesteuert werden. Zur Förderung ökologisch orientierter, naturnaher Stadtentwicklung empfiehlt es sich, folgende allgemeine Grundsätze zu beachten, die sich teilweise mit denen für die stadtklimatisch optimierte Planung decken: •• flächensparende Erschließung, möglichst geringe Bodenversiegelung •• sorgsamer, DIN-gerechter Umgang mit dem Oberboden, Vermeidung von Bodenverdichtung •• Erhaltung der Bodenfunktion zur Neubildung von Grundwasser durch geringe Versiegelung •• naturverträglicher Umgang mit Regenwasser •• Dachbegrünung •• Fassadenbegrünung (Haus- und Mauerberankungen) •• umweltfreundliche Beleuchtung •• Vermeidung von großflächigen Fensterfas­ saden oder Verwendung von Vogelschutzglas •• Belassen und Ermöglichen von spontaner Vegetation auf Brachflächen, Straßenbanketten, Baumscheiben und anderen nicht genutzten Bereichen •• abgestimmtes Pflegekonzept in öffentlichen Grünanlagen zur Förderung naturnaher Bereiche •• Förderung naturnaher Parks und Stadtwälder, Wald- und Gehölzsäume •• intensive Straßenbegrünung mit standortgerechten, möglichst gebietsheimischen Bäumen (Baumreihen, Alleen) •• naturnahe Gestaltung und extensive Pflege von mindestens 50  % der öffentlichen Grünflächen

•• Öffentlichkeitsarbeit für naturintegrierte Stadtentwicklung •• Patenschaften von Anwohnern und Schulen für bestimmte Grünbereiche •• Förderung des Angebots für Naturerfahrung im urbanen Bereich Eine ökologische, naturnahe Stadtentwicklung ist dann erfolgreich, wenn das Ziel eines funktionierenden Naturhaushalts politisch gewollt ist und dies in der Öffentlichkeit deutlich dargelegt wird. Planungen und Interventionen müssen als multidisziplinäre Projekte in Angriff genommen werden. Mittel- und langfristige Erfolge wird es nur geben, wenn sich die Bewohner durch aktives Mitgestalten und durch Übernahme von Verantwortung mit »ihrer« ökologischen Stadt identifizieren.  GH, WP

Sonneneinstrahlung Das natürliche Licht der Sonne spielt für das Wohlbefinden der Menschen eine sehr wichtige Rolle. Viganella, ein Dorf in den Bergen des italienischen Piemont, ist topografisch bedingt nur an wenigen Stunden am Tag direkt besonnt und an 83 Tagen im Jahr sogar ganztätig verschattet. Insbesondere in den Wintermonaten sorgte das bei den Bewohnern des Dorfs für gedrückte Stimmung, viele wanderten ab. Um diesen Missstand zu beheben, beschloss der Bürgermeister, an einer Felswand in 1100 m Höhe 14 bewegliche Spiegel zu installieren, um das Sonnenlicht in das Dorf zu lenken. Mittlerweile wird der Ansatz auch in anderen lichtarmen Dörfern diskutiert.10 In der traditionellen arabischen Architektur hingegen versucht man durch enge Straßenräume, Gebäudestaffelung oder Lichtsegel so wenig direktes Sonnenlicht wie möglich in den Außenraum zu lassen, um der extremen Aufheizung vorzubeugen. Diese beiden Extrembeispiele zeigen deutlich, dass je nach Standort des Quartiers spezifische Strategien für den Umgang mit der Sonneneinstrahlung entwickelt werden müssen. Dabei sei angemerkt, dass im Zuge der Klimaerwärmung auch in gemäßigten Klimazonen zukünftig verstärkt über temporäre Maßnahmen zur Reduzierung der Hitzebelastung wie Sonnensegel, Begrünung, Luftbefeuchtung oder Wasserelemente nachgedacht werden muss.

93

Rückstrahlvermögen (Albedo) [%]

2.4 — Ökologie

100 90 80 70 60 50

frischer Schnee

weißer Anstrich

alter Schnee trockener Sand

40 Eis 30 20

Wände

Wüste

roter, brauner, grüner Anstrich

Dächer Wiesen

10 Wasser

Stadt

Wald

Straßen

0

Abb. 9 Rückstrahlvermögen (Albedowert) verschiedener Oberflächen Abb. 10  Platanenkubus im Rahmen der Landesgartenschau 2012, Nagold (DE), ­Ferdinand Ludwig/IGMA der Universität Stuttgart, Daniel Schönle Abb. 11  begrünte Lärmschutzwand, Frankfurt am Main (DE) 2013

Abb. 9

Oberflächen Neben der Intensität der direkten Solarstrahlung haben auch die verwendeten Oberflächen einen wesentlichen Einfluss auf den Wärmeeintrag in der Stadt. Im Gegensatz zu Schnee, Sand oder hellen Farben absorbieren Wasser, Dächer und Straßen einen Großteil der eintreffenden Sonnenstrahlen und weisen damit ein geringes Rückstrahlvermögen (Albedowert) auf (Abb. 9). Je geringer der Albedowert ist, desto mehr Solarstrahlung wird von den Oberflächen absorbiert und desto mehr heizen sie sich und ihre Umgebung auf (Heat-Island-Effekt). Nicht ohne Grund werden die Häuser in Griechenland traditionell weiß gestrichen. Jedoch ist der Albedowert einer Oberfläche nicht automatisch gleichzusetzen mit dem Beitrag zum Heat-Island-Effekt. So haben Grünflächen zwar ein geringes Rückstrahlvermögen und absorbieren somit einen Großteil der eintreffenden Solarstrahlung, jedoch wird die eintreffende Energie im Photosynthese-Prozess umgewandelt und trägt deshalb nicht zur Aufheizung bei. Gleichzeitig haben Grünflächen, aber auch versickerungsfähige Oberflächen wie Rasengittersteine oder wassergebundene Decken durch die Verdunstung des gespeicherten Wassers eine Art Pufferfunktion für das Mikroklima. Dabei müssen Grünflächen nicht immer nur auf die Horizontale beschränkt sein, sondern können durchaus auch, wie bei einer Fassadenbegrünung oder einem Baum, als vertikale Begrünung eingesetzt werden (Abb. 10 und 11). Für die nachhaltige Planung von Quartieren ist es wichtig, Materialien nicht nur im Hinblick auf ihre gestalterische Qualität, Beständigkeit und Kosten auszuwählen, sondern auch deren Auswirkungen auf das Mi­­ kroklima zu berücksichtigen.

Thermischer Komfort und Wohlbefinden Die Lufttemperatur für sich betrachtet lässt noch keine Aussage über den thermischen Komfort im Außenraum zu. Dieser wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren wie direkte Sonnenstrahlung, Windgeschwindigkeit, Luftfeuchte oder auch Wärmestrahlung der Umgebungsoberflächen bestimmt. So macht es beispielsweise einen großen Unterschied, ob man sich bei 35 °C in der direkten Sonne oder im Schatten aufhält. Für den Wärmehaushalt des Menschen kann dies bei Windstille soviel wie ein Lufttemperaturunterschied von 15 °C bedeuten,11 was klimatologisch etwa der Temperaturamplitude im Tagesverlauf an einem Tag ohne Bewölkung entspricht. Zur quantitativen Beschreibung der komplexen Bedingungen des menschlichen Wärmehaushalts dient ein Wärmebilanzmodell, das sogenannte Klima-Michel-Modell nach VDI 3787 (Abb. 12, S. 94),12 aus dem sich interessante Schlussfolgerungen ableiten lassen. So hängt die gefühlte Temperatur (preceived temperatur – PT) u. a. von der Windgeschwindigkeit und der Luftfeuchte ab, die den Wärmefluss vom Körper zur Umgebung beeinflussen. Führen selbst geringe Windgeschwindigkeiten (z. B. durch Ventilatoren) im Sommer zu einer ausreichenden Verdunstung und einem damit verbundenen angenehmen, kühlenden Effekt, verstärkt Wind im Winter die eisigen Temperaturen, wodurch sich 0 °C wie -15 °C anfühlen können. Simulationen zu Windgeschwindigkeiten in Bodennähe zeigen, dass diese in einzelnen Bereichen stark voneinander abweichen können. Dies sollte bei der Planung und Nutzung berücksichtigt werden.

11 Jendritzky/Nübler 1981; Jendritzky/Sievers 1987 12 Helbig et al. 1999, S. 136f.

Abb. 10

Abb. 11

94

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Abb. 12 menschlicher ­Organismus als thermischer ­Wirkungskomplex (KlimaMichel-Modell) Abb. 13  Sonnensegel in der Fußgängerzone »Calle ­Sierpes«, Sevilla (ES) Abb. 14  Wasservernebler im Außenraum, Hiroshima (JP) Abb. 15  Renaturierung eines Flusslaufs und naturnahe Gestaltung des an­­liegenden Bishan Parks, ­Singapur (SG) 2012, Atelier Dreiseitl

D A

EKM

B

R QRE QL E QH

R EKM

M

E QSW

E

R

M Gesamtenergieumsatz QH turbulenter Fluss fühlbarer Wärme Gesamtenergieumsatz turbulenter Fluss latenter Wärme QM SW turbulenter Fluß fühlbarer Wärme QQL  H turbulenter Fluss latenter Wärme durch turbulenter Fluß latenter Wärme QSW ­Wasserdampfdiffusion turbulenter Fluß latenter Wärme durch QL über Atmung (fühlbar und latent) QRE Wärmefluss Wasserdampfdiffusion

Wärmefluß über Atmung (fühlbar und latent) QRE Komponenten der Strahlungsbilanz Q der Strahlungsbilanz Q I Komponenten direkte Sonnenstrahlung Sonnenstrahlung diffusedirekte Sonnenstrahlung D I D diffuse Sonnenstrahlung (kurzwellig) R R Reflexstrahlung Reflexstrahlung (kurzwellig) der Atmosphäre A A Wärmestrahlung Wärmestrahlung der Atmosphäre E E Wärmestrahlung der Umgebungsoberflächen Wärmestrahlung der Umgebungsoberflächen Wärmestrahlung des Menschen Wärmestrahlung des Menschen EE KM KM

Abb. 12

13 z. B. Stadt Reutlingen, 1979, 1984, 1989, 1994, 2000, 2010

Verschattende Elemente wie enge Straßenzüge und Sonnensegel (Abb. 13) oder die Berücksichtigung der lokalen Windgeschwindigkeiten stellen eine Möglichkeit dar, die gefühlte Temperatur zu beeinflussen. Eine weitere Möglichkeit ist die Veränderung der Luftfeuchte. So tragen Grün- und Wasserflächen durch Verdunstung auf ganz natürliche Art und Weise dazu bei, die gefühlte Temperatur zu senken. Solarbetriebene Sprühnebelanlagen für Außenbereiche erzielen ähnliche Effekte (Abb. 14) und werden in manchen Ländern teilweise auch schon im öffentlichen Straßenraum eingesetzt. Insbesondere im Hinblick auf die Klimaanpassung von bestehenden Stadtstrukturen stellen sie eine interessante Lösung dar.  SA

Einfluss von Freiräumen auf das Mikroklima

Abb. 13

Abb. 14

Relevante Klimaveränderungen wie ansteigende Durchschnittstemperaturen und veränderte Niederschlagsverteilungen verändern und beeinflussen unsere Städte und das Leben ihrer Bewohner nachhaltig. Als Folgen treten voraussichtlich häufigere und längere Hitzeperioden im Sommer sowie weniger, aber heftigere Regenereignisse auf. Die Auswirkungen sind dramatisch, lokale und regionale Überflutungen aufgrund von überforderten Kanalsystemen nehmen bereits zu. Außerdem ist mit einem deutlichen Anstieg von klimabedingten Gesundheitsproblemen zu rechnen. Dem können Grün- und Freiräume positiv entgegenwirken. Sie sind eines der wesentlichen Elemente, um die Klimaanpassung in Städten überhaupt zu ermöglichen. Sie senken (Spitzen-) Temperaturen im Sommer, filtern die Luft und reduzieren dadurch Luftverschmutzungen, sie sind in der Lage, Regenwasser zu klären, gereinigt ins Grundwasser abzugeben oder temporär einzustauen und damit Kanal- wie auch Flusssysteme zu entlasten.

Pflanzen helfen, die vorhandenen Probleme zu erkennen und zu bewerten. So reagieren z. B. manche Pflanzengruppen auf erhöhte städtische Temperatureinflüsse, andere auf Luftverschmutzung bzw. auf bestimmte Bestandteile der verschmutzten Luft. Zur Bioindikation von Luftverschmutzung in Städten werden in standardisierten Untersuchungsverfahren z. B. Flechten eingesetzt, da sie sehr weit verbreitet und umfassend untersucht sind. So lassen sich sogar über Jahrzehnte Veränderungen in der Zusammensetzung der Luftbelastung dokumentieren.13 Allerdings ist der Wirkungszusammenhang Vegetation – Klima – Lufthygiene sehr komplex. Bäume können zwar einen Teil der Luftschadstoffe entweder direkt aufnehmen oder an der Blattoberfläche deponieren. Dies kann aber in Straßen bei geringer Durchlüftung dazu führen, dass hier sogar erhöhte Schadstoffkonzentrationen auftreten. In Fußgängerbereichen, auf Plätzen und in Park- und Grünflächen ist die positive Wirkung von Bäumen jedoch mess- und spürbar. Die typischen, extrem erhöhten innerstädtischen Temperaturen treten tagsüber nicht so sehr im Aufenthaltsbereich der Menschen (bis ca. 2 m über dem Boden), sondern vor allem auf Dachniveau auf. Insbesondere die Verschattung durch Gebäude hält die Temperaturen auf einem Niveau, das sich kaum vom Umland unterscheidet. Nachts jedoch, insbesondere bei sommerlichen Strahlungswetterlagen, findet keine Abkühlung statt. Die tagsüber in Gebäudefassaden und Straßenbzw. Wegeoberflächen gesammelte Wärmeenergie wird abgegeben und es bleibt unangenehm warm. Hier können Bäume an der richtigen Stelle natürlich die Wärmeaufnahme tagsüber reduzieren, dürfen aber nachts nicht den Luftaustausch zum Erliegen bringen. Ein geeigneteres Mittel wäre hier die Dach- und Fassadenbegrünung. Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen der TU Berlin über die Kombination von Fassadenbegrünung und Fassadenaufbauten:

95

2.4 — Ökologie

Abb. 15

Die Belaubung hält die Fassaden im Sommer kühl und reduziert den Aufwand für die Innenraumklimatisierung, während die Begrünung ihre Belaubung im Winter verliert und sich bei entsprechend exponierten Wänden die Sonneneinstrahlung erhöht. Am deutlichsten werden die Gewinne durch Grünflächen beim Regenwassermanagement (siehe Handlungsfeld Wasser und Boden, S. 99ff.). Jeder Liter Regenwasser, der nicht oder zeitlich verzögert in die Kanäle und städtischen Flusssysteme eintritt, trägt insbesondere bei starkem Regen zu einer Entspannung bei. Kanalüberläufe in die Flüsse aufgrund überlasteter Kläranlagen verursachen große Schäden an Flora, Fauna und speziell in Biotopen. Kontrollierte Versickerung sowie Rückhaltung und Überflutung von Parkanlagen können dem entgegenwirken und lassen sich auch nachträglich kostengünstig in die Parkgestaltung integrieren. Dabei ändert sich ihre Benutzbarkeit als Naherholungsraum nur geringfügig, da sich bei Regen meist nur wenige Menschen im Park aufhalten. Das im Boden gespeicherte Regenwasser wirkt sich durch erhöhte Verdunstung klimatisch positiv aus. Gespeichertes Regenwasser kann gegebenenfalls im Sommer zur Bewässerung genutzt und somit durch die gezielte Verdunstung die Klimafunktionen noch gesteigert werden. Aus den angesprochenen Themen ergibt sich folgender Maßnahmenkatalog für eine Klimaanpassung in den Städten: •• exzessiver Einsatz von Dach- und Wandbegrünungen •• Integration von Regenwassermanagement in alle Grünflächen und andere Freiflächen •• Vorbereitung der Begrünung von Straßen durch entsprechende Untersuchungen und Simulationen zur Vermeidung nachteiliger Effekte •• möglichst hoher Einsatz von Grünvolumina in Parks und fußgängerdominierten Bereichen

•• Entwicklung von breit gestreuten »Klimainseln« im Stadtraum zur Schaffung öffentlicher Erholungsflächen

Mehrfachnutzung von Freiflächen Grünflächen und andere Freiräume müssen zukünftig erweiterte Funktionen zur Klimaanpassung übernehmen. Unproblematisch ist z. B. die Einbindung der Grünflächen in das Regenwassermanagement. Die Einrichtung von Schutzzonen bzw. Schutzzeiten zum Erhalt der Artenvielfalt schränkt jedoch die Nutzungsmöglichkeiten für den Menschen ein. So benötigt beispielsweise die an innerstädtischen Flüssen angesiedelte Tierund Pflanzenwelt möglichst viele natürliche Uferbereiche und geschützte Flachwasserzonen. Hier muss eine Abwägung der Interessen mit der Freizeitnutzung von Flussufern (»Urban Beach«) stattfinden. Kleingärten und Urban Farming bzw. Gardening sowie Privatgärten in Einzelhaussiedlungen können zusätzlich zu ihrem eigentlichen Nutzen auf die jeweiligen Biotopsysteme bzw. auf zu schützende Arten ausgerichtet werden. Multifunktionalität ist ein wichtiges Grundprinzip nachhaltiger Planung und kann sich ausgesprochen positiv auf die »Ökologisierung« unserer Städte auswirken. Ideen und Konzepte sind vorhanden, allerdings steigt mit der intensiven multifunktionalen Nutzung der Unterhaltungsaufwand. Ganz entscheidend für eine erfolgreiche Durchsetzung derartiger Konzepte wird die Einbeziehung der Bewohner und Nutzer in die Planung sein. Denn nur in einem offenen, breit angelegten Dialog mit dem Ziel eines gesellschaftlichen Konsens kann die Umsetzung solch ambitionierter Projekte gelingen.  GH, WP

Weitere ­Informationen

•  Bingham-Hall, Patric: Garden City Mega City. Singapur 2016 •  Bruse, Michael: Stadtgrün und Stadtklima. In: LÖBF-Mitteilungen 01/2003 •  Fezer, Fritz: Das Klima der Städte. 54 Tabellen. Gotha 1995 •  Kemper, Tobias; Riechel, Robert; Schuller, Tobias: Klimaanpassung in Mittel- und Südhessen. Modell­ vorhaben der Raumordnung. Raumentwicklungs­ strategien zum Klimawandel. Gießen 2011 •  LA.BAR Landschaftsarchitekten in Kooperation mit der TU Berlin Fachgebiet Landschaftsbau – Objektbau: Leitfaden nachhaltiges Bauen – Außen­ anlagen. Endbericht. Im Auftrag des BMVBS und des BBSR. Hrsg. vom BBR. Berlin 2011 •  Landeshauptstadt München: Grünplanung in München. München 2005 •  Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz Berlin: Versorgung mit öffentlichen, wohnungsnahen Grünanlagen. In: Umweltatlas ­Berlin. Berlin 2013 • www.london.gov.uk/what-we-do/environment/ parks-green-spaces-and-biodiversity • www.stadtklimalotse.net • www.staedtebauliche-klimafibel.de • www.umweltbundesamt.de/daten

96

Kapitel 2 — Herausforderungen

Herausforderung Wasser- und Bodenschutz Antje Stokman

D

ie Qualität von Böden und die Verfügbarkeit von Wasser sind eine zentrale Voraussetzung für die menschliche Besiedlung von Landschaft. Ihr Erscheinungsbild ist Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Wasserhaushalt und Böden im globalen Wasserkreislauf – ohne Wasser kein Boden und ohne Boden kein Wasser. Im Gegensatz zu anderen Ressourcen, die in einem degenerativen Materialstrom darzustellen wären, wird Wasser – global gesehen – nicht verbraucht, sondern befindet sich in einem dauerhaften Kreislauf, der von der Sonnenstrahlung angetrieben wird. Ständig verdunstet flüssiges Wasser und bildet in der Atmosphäre Wolken, deren Wasservorräte in Form von Niederschlägen wieder auf die Erde fallen und dadurch sowohl Gewässer wie auch Grundwasser entstehen lassen. Das fließende Wasser formt durch fortwährende Erosion wiederum Böden und Topografie, und gleichzeitig wirken diese über viele Faktoren auf die Gestalt der Gewässer ein. Gewässer und Böden verändern sich innerhalb unterschiedlicher Zeiträume und in unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung – sie sind also Ausdruck komplexer natürlicher Prozesse der Landschaftsveränderung. Den Wassersystemen und Böden kommen vielfältige natürliche Funktionen als Lebensgrundlage für Menschen, Tiere, Pflanzen und Bodenorganismen zu, die im Wasserhaushaltsgesetz (WHG) und Bundes-Bodenschutzgesetz (BBodSchG) genau beschrieben werden (Abb. 1). Gewässer sind die Grundlage für menschliches Trinkwasser, Brauchwasser für die Industrie und Bewässerungswasser für die Landwirtschaft. Gleichzeitig haben sie wichtige Funktionen für die Fischerei, den Warentransport, die Erholung sowie die Biodi-

versität und leisten durch ihre biologische Selbstreinigung einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Schadstoffen. Neben den aquatischen Ökosystemen der Gewässer stellen die Böden als terrestrische Ökosysteme einen wichtigen Lebensraum für Flora und Fauna dar, dienen als Grundlage der Land- und Forstwirtschaft sowie als Baugrund und Rohstofflieferant für die urbane Entwicklung. Sie wirken wie ein Schwamm und speichern in ihren Poren das Regenwasser, was zu einer Reduzierung des oberflächigen Niederschlagsabflusses führt und so Hochwasserereignisse in den Flüssen reduziert. Das gespeicherte Wasser stellen sie der Vegetation zur Verfügung, ohne diese im Boden gespeicherten Wasservorräte gäbe es keine grünen, produktiven Landschaften. Gleichzeitig können Böden im Wasser gelöste Schad- und Nährstoffe aufnehmen, an Bodenpartikel binden und durch Stoffumwandlungsprozesse entfernen. So entsteht durch die Versickerung von Niederschlagswasser durch die reinigende Wirkung der Bodenpassage in der Regel sauberes, für die Trinkwassergewinnung geeignetes Grundwasser. Je höher der Nutzungsdruck und damit der ökonomische Wert von Grund und Boden, umso brisanter ist die Frage, wie viel bzw. welcher Raum den natürlichen Wassersystemen zugestanden werden soll und wie viel Boden als versiegelter Baugrund benötigt wird. Die daraus resultierenden Auswirkungen auf den urbanen Boden- und Wasserhaushalt werden im Folgenden beschrieben.

Urbane ­Veränderungen Durch die starke globale urbane Veränderung und das Wirtschaftswachstum der letzten ca. 150 Jahre

97

2.4 — Ökologie

Funktion als Lebensgrund­ lage für Menschen, Tiere, Pflanzen und Bodenorganismen (BBodSchG § 2 (2) 1 a)

Lebensgrundlage für Menschen

Baugrund, Rohstofflieferant

Lebensgrundlage für Tiere

natürliche Bodenfruchtbarkeit

Lebensgrundlage für Pflanzen

Potenzial für ­Biotopentwicklung

Lebensgrundlage für Boden­organismen Nitratrückhalte­vermögen

Grundwasser­neubildung natürliche Funktion als Bestandteil des Naturhaushalts, insbesondere mit ­seinen Wasser- und Nährstoffkreisläufen (BBodSchG § 2 (2) 1 b)

Nährstoffhaushalt Oberflächenabfluss Rückhalte­vermögen bei Niederschlag

Wasserhaushalt

Wasserspeicherung für Vegetation

wurde ein großer Teil der Gewässersysteme und Böden maßgeblich überformt. Land- und Forstwirtschaft waren seit der Einführung des Feldbaus in der neolithischen Revolution vor 10 000 Jahren in der Regel auf den Erhalt bzw. eine Steigerung der Produktivität natürlicher Ökosysteme ausgerichtet. Dies hat sich durch den Wandel der Landwirtschaft zur Agrarindustrie in vielen Regionen geändert. Durch Großmaschinen werden die Böden verdichtet und sind dadurch in ihren ökologischen Funktionen partiell gefährdet. In Städten dienen die Böden im Wesentlichen als Baugrund, die Gewässer als Kanalisation und beide als Möglichkeit zur Deponierung und Entsorgung fester und flüssiger Abfälle. Diese Eingriffe bewirken gravierende Veränderungen ihrer maßgeblichen natürlichen Eigenschaften und Funktionen. Im Bereich von Städten wird der ursprüngliche Boden häufig abgetragen und durch industriell hergestellte Bodenbeläge überdeckt. Dies führt zu einer Verdichtung und Versiegelung des Bodens, d. h. er ist vom Kreislauf aus Regenwasserversickerung, Schadstofffilterung und Pflanzenwachstum abgeschnitten. Es lassen sich drei verschiedene Gruppen von urbanen Böden unterscheiden:1 •• veränderte Böden natürlicher Entwicklung, die insbesondere in weniger dicht bebauten Bereichen bzw. im Bereich von Parkanlagen und Gärten zu finden sind •• Böden künstlicher Aufträge, geprägt durch umgelagerte natürliche Substrate (Sand, Kies, Schotter etc.), technogene Substrate (Bauschutt, Müll, Schlamm etc.) oder Mischungen daraus •• versiegelte Böden, deren Versiegelungsgrad entweder extrem (100 % unter Gebäuden/ Asphalt) oder mäßig (80 % unter Pflaster mit geringem Fugenanteil, 40 % mit hohem Fugenanteil) einzustufen ist (Abb. 2)

Festlegung und Pufferung anorg. Schadstoffe/Schwermetalle natürliche Funktion als Abbau-, Ausgleichs- und Aufbaumedium für stoffliche Einwirkungen aufgrund der Filter-, Puffer- und Stoff­ umwandlungseigenschaften, insbesondere auch zum Schutz des Grundwassers (BBodSchG § 2 (2) 1 c)

Abbau organischer Schadstoffe Grundwasserschutz Säurepufferung Niederschlags­ wasserspeicher

Filter für nicht sorbierbare Stoffe

Reduzierung Oberflächenabfluss

Abb. 1

Da das in den urbanen Böden nicht versickernde Wasser anderweitig aus der Stadt abgeführt ­werden muss, wird der Niederschlag durch oberund unterirdische Kanäle abgeleitet. Dadurch beschleunigt sich der Abfluss des Wassers enorm, und es steht weder für Grundwasserneubildung noch für Pflanzen und Menschen zur Verfügung. Das Wasser fließt sehr schnell und in großen Mengen über die Kanäle in die Flüsse, wobei es insbesondere bei Starkregenereignissen oder lang anhaltenden Niederschlägen zu extremen Abflussspitzen kommt. Während sich bei einem natürlichen Flusslauf die Wassermassen bei Hochwasser in den breiten Auenbereichen in der Fläche verteilen können und dadurch langsamer abfließen, steht im urbanen Raum nicht genug Platz für die Gewässer zur Verfügung. Diese werden so begradigt, eingedeicht und kanalisiert, dass sie möglichst viel Wasser in kurzer Zeit möglichst schnell ableiten können. Das führt weiter flussabwärts zu immer höheren Hochwasserspitzen und Überflutungsgefahren. Gleichzeitig sinkt durch den hohen Versiegelungsgrad das Grundwasser im urbanen Raum immer weiter ab. In niederschlagsarmen Zeiten können deshalb bestimmte Gewässer bzw. Gewässerabschnitte komplett trockenfallen – diese Phäno-

Abb. 1  hierarchische ­Struktur natürlicher Bodenfunktionen Abb. 2  Versiegelung von Stadtböden

1  Sukopp/ Wittig 1996, S. 169 –176

Flächenanteile bei Versiegelungen 0 –15 %

gering

Agrarland, Wald, Park, Schrebergärten, Friedhof, Flug- und Sport­ plätze (z. T. mäßig)

10 – 50 %

mäßig

frei stehende und ­ eihenhäuser mit Garten R

45 –75 %

mittel

Zeilenbau mit Gemeinschaftsgrün, öffentliche Gebäude

70 – 90 %

stark

dichte Blockbebauung, Gewerbe und Industrie

85 –100 %

sehr stark

Stadtkerne, z. T. Industrie

Abb. 2

98

Kapitel 2 — Herausforderungen

Verdunstung

saubere Niederschläge Niedrigwasser [l/s·km2] Hochwasser [l/s·km2]

Oberflächenabfluss Versickerung Grundwasser

709

Grundwasserstand

Trennhorizont Grundwasserspeicher

Grundwasser

307 202

3

2 Wald

Brache Landwirtschaft

1 Bebauung

Talaue

Fluss Talaue mit Niederterrasse Auwald mit Landschaftsnutzung natürliches Überflutungsgebiet

Siedlung

bewaldeter Hang

Versickerungsflächen wasserspeichernde Freiflächen

versiegelte Fläche

Versickerung Anreicherung des Grundwassers

Abb. 3

landwirtsch. Hochfläche

verschmutzte Niederschläge Wasserentnahme

Abb. 3  Zunahme von Hochwasserereignissen bei gleichzeitiger Zunahme von Niedrigwasserphasen bzw. Austrocknung von Gewässern (Abflussschere) als besonderes Problem in Siedlungsgebieten Abb. 4  natürlicher (a) und urbaner (b) Wasserhaushalt

Grundwasserdefizit

Wasser- kanalientnah- sierter me = Fluss = zusätzl. ÜberAbsenflutungskung gefahr VersiUferfiltrat ckerung

Industriegebiet

Stadtgebiet

wasserundurchlässige Schichten

a Verdunstung Oberflächenabfluss versiegter Grundwasserstrom

schwacher Grundwasserstrom

Wohngebiet

Abwasser und verschmutztes Regenwasser gelangen über die Kanalisation in den kanalisierten Fluss und von dort zu schnell in die Meere versiegelte Fläche

Abb. 4

versiegelte/teils offene Fläche b

2 UNESCO 2003

Weitere Informationen

•  Henninger, Sascha (Hrsg.): Stadtökologie. ­Paderborn 2011 •  Hüttl, Reinhard; Bens, Oliver (Hrsg.): Geores­ source Wasser. Herausforderung Globaler Wandel. Beiträge zu einer integrierten Wasserressourcen­ bewirtschaftung in Deutschland. Heidelberg 2012 •  Hurck, Rudolf; Raasch, Ulrike; Kaiser, Mathias: Wasserrahmenrichtlinie und Raumplanung. Berüh­ rungspunkte und Möglichkeiten der Zusammen­ arbeit. In: Alfred Toepfer Akademie für Naturschutz (Hrsg.): Fließgewässerschutz und Auenentwick­ lung im Zeichen der Wasserrahmenrichtlinie. Kom­ munikation, Planung, fachliche Konzepte. Schne­ verdingen 2005, S. 37– 50. •  Sukopp, Herbert; Wittig, Rüdiger (Hrsg.): Stadt­ ökologie. Ein Fachbuch für Studium und Praxis. Stuttgart 1996 •  Versteyl, Ludgar-Anselm; Sondermann, Wolf ­Dieter: BBodSchG. Bundes-Bodenschutzgesetz. Kommentar. 2005 •  UNESCO: The United Nations World Water ­Development. Report 1. 2003 •  WWF International et al.: Living Planet Report 2012. Biodiversity, Biocapacity and Better Choices. Gland 2012

mene sind sonst nur für aride bzw. semiaride Gebiete typisch. Während die Wasserpegel bei Hochwasserereignissen in den Flüssen immer weiter zunehmen, sacken die angrenzenden entwässerten Bodenschichten in sich zusammen, und durch das Eindringen von Sauerstoff zersetzt sich der Boden. Diese Bodensenkungen sind eine typische Folge von Entwässerungen und Eindeichungen und insbesondere in wasserreichen Gegenden wie z. B. den Niederlanden ein großes Problem. Die Absenkung wiederum verstärkt zusätzlich die Hochwassergefahr: Einmal eingedrungenes Wasser kann nicht auf natürlichem Wege abfließen und überschwemmt wesentlich größere Bereiche des durch die Senkungen tiefer liegenden Landes als vor der Eindeichung und Entwässerung. Gleichzeitig verschärft sich das Problem der globalen Wasserknappheit durch die wachsende Weltbevölkerung und den Klimawandel. Die UNESCO geht davon aus, dass sich der weltweite Wasserverbrauch zwischen 1930 und 2000 etwa

versechsfacht hat. Hierfür sind die Verdreifachung der Weltbevölkerung und die Verdoppelung des durchschnittlichen Wasserverbrauchs pro Kopf verantwortlich.2 Gleichzeitig rechnet die UNESCO damit, dass durch Effekte des Klimawandels bis Ende dieses Jahrhunderts die Hälfte der Weltbevölkerung unter Wassermangel leiden und ein Drittel der globalen Landfläche nicht mehr für die Landwirtschaft nutzbar sein könnte. Die große Herausforderung der Stadtplanung besteht folglich darin, kompakte Städte zu entwickeln, die keine weiteren großen Freiflächen versiegeln und selbst noch in ihrer urbanen Bebauung dem natürlichen Wasserhaushalt mit Verdunstung, Versickerung und Abfluss möglichst nahekommen. Außerdem muss das Ziel sein, den weltweiten Trinkwasserverbrauch in den von Wassermangel betroffenen Gebieten zu reduzieren, d. h. die Süßwassermenge, die direkt oder indirekt zur Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen verwendet wird, möglichst gering zu halten.

2.4 — Ökologie

Handlungsfeld Wasser- und Bodenschutz Antje Stokman

E

in nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen Wasser und Boden sowie ihr nachhaltiger Schutz erfordern eine ganzheitliche Betrachtung der vielfältigen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den Aspekten Grundwasser-, Boden- und Gewässerschutz. Dafür sind integrierte Ansätze auf wissenschaftlicher, rechtlicher, politischer und planerischer Ebene unverzichtbar, die die verschiedenen Faktoren als Teile eines Gesamtsystems betrachten und einbeziehen. Die Basis für die Formulierung konkreter Strategien und Maßnahmen im Handlungsfeld Wasser und Boden bilden die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und gültigen Gesetze. Die Ressource Boden ist aufgrund der sehr geringen Bodenneubildungsraten ein nicht vermehrbares Gut. Insofern stellt der Bodenschutz einen elementaren Bestandteil von Nachhaltigkeitsstrategien dar, die darauf ausgerichtet sind, die wichtigsten Bodenfunktionen zu erhalten. Diese sind: •• Lebensraum: Lebensgrundlage und Lebensraum für Menschen, Tiere, Pflanzen und Bodenorganismen •• Nutzung: Rohstofflagerstätte, land- und forstwirtschaftliche Produktion, Baugrund und Standort für sonstige wirtschaftliche und öffentliche Nutzungen, Verkehr, Ver- und Entsorgung etc. •• Regelung, Speicher und Filter: Speicherung und Filterung des Niederschlagswassers, Rückhalt von Nährstoffen, Einlagerung von Schadstoffen in die Bodenmatrix und Abbau organischer Schadstoffe durch Bodenorga­ nismen, Speicherung klimarelevanter Spurengase etc. •• erdgeschichtliches und kulturhistorisches Archiv

Rechtliche Grundlage für die Berücksichtigung und den Schutz dieser Bodenfunktionen sind das Bundes-Bodenschutzgesetz (BBodSchG) und die Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung (BBodSchV), die durch länderspezifische Bodenschutzgesetze ergänzt werden. Auf EU-Ebene gibt es bislang noch keine Einigung zu einer kohärenten Bodenschutzpolitik: Der erstmals 2006 vorgelegte Entwurf einer europäischen Bodenschutzrahmenrichtlinie konnte bisher noch nicht verabschiedet werden. Ziel der europäischen Union ist es jedoch, die bereits bestehenden Regelungen der Mitgliedsstaaten zusammenzuführen, zu vereinheitlichen und für alle Mitglieder verbindlich zu machen. Auch auf internationaler Ebene thematisiert die United Nations Conference on Environment and Development (UNCED) in ihren umweltpolitischen Grundsätzen und Zielen den vor- und nachsorgenden Bodenschutz als eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft. Die Ressource Wasser ist im urbanen Bereich sowohl durch die Verschmutzung des Oberflächenund Grundwassers als auch durch Grundwasserabsenkungen sowie extreme hydraulische Schwankungen der Gewässer zwischen Niedrig- und Hochwasser gefährdet. Insofern ist das integrierte Wasserressourcenmanagement (IWRM) darauf ausgerichtet, nachhaltige Anstrengungen zur koordinierten Entwicklung und Bewirtschaftung der vorhandenen Wasser- und Landvorkommen und der damit verbundenen natürlichen Ressourcen zu fördern. Im Gegensatz zum Bodenschutz wurden die Prinzipien des IWRM durch die Einführung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) im Jahr 2000 zur Leitlinie für die Wasserwirtschaft in Deutschland und Europa (Abb. 2, S. 101). Ziel der WRRL ist es, die Wasserpolitik in der EU auf eine umweltverträgliche, nachhaltige Wassernutzung auszurichten. Die Richtlinie stellt die natürlichen Wassereinzugs-

99

100

Kapitel 2 — Handlungsfelder

vom Land

vom Meer

Niederschlag oberirdischer Abfluss

Verdunstung

menschliche Cd Nutzung

H+ Pb speichert Wasser Cd Ni Pb dämpft Hochwasserspitzen Haftwasser H+ filtert (z.B. Schwermetalle)

Filtration

Sickerwasser kapillarer Aufstieg

Maßstabsebene Stadt und Region

Pb

Altlast Hg Pb Cd

puffert (z.B. saure Einträge) wandelt Stoffe um (z.B. anorganische Schadstoffe)

H+ Cd Grundwasser Pb Hg Pb

Cd

Cd = Cadmium Pb = Blei Ni = Nickel Hg = Quecksilber H+ = Wasserstoff (positiv)

Abb. 1

gebiete als Betrachtungseinheiten in den MittelAbb. 1  wichtige Bodenfunktionen (Filter und Puffer) punkt und fordert damit einen an den natürlichen Abb. 2 FlussgebietseinheiZusammenhängen des Wasserkreislaufs orienten in Deutschland, die als tierten räumlichen Handlungsrahmen, der nicht Basis für die Umsetzung an administrativen Grenzlinien wie Stadt-, Kreisder europäischen Wasser­ oder Landesgrenzen haltmacht. Für alle Fließgerahmen­richt­linie dienen wässereinzugsgebiete wurden umfassende Be­­ Abb. 3 Qualitätsverlust vom Land vom Meer des Bodens im Quartier standsaufnahmen sowie integrierte BewirtschafLangen­äcker-Wiesert, Stuttmenschliche tungspläne erarbeitet, die die Wechselwirkungen gart (Berechnung mit­hilfe Nutzung Cd der oberirdischen Gewässer, des Grundwassers Verdunstung der Software »Verlust von und gegebenenfalls auch der Küstengewässer Niederschlag Bodenressource« auf Pb berücksichtigen. Der Bearbeitungsprozess erfolgte G ­ rundlage der Bodenqualioberim Dialog zwischen Verwaltungen, Nutzern und irdischer tätskarte und des BodenInteressengruppen der jeweiligen WassereinzugsAltlast H+ Pb Abfluss schutzkonzepts) speichert Wasser Filtration a  Bodenwerte momentaner Cd Hg Einzugsgebieten wurden sogegebiete. In vielen Pb Ni Pb dämpft Hochwasserspitzen Zustand nannte Gewässerbeiräte gegründet, in denen Haftwasser + H b  Bodenwerte mit neuem filtert (z.B. Schwermetalle) Interessenvertreter Cd ganz unterschiedlicher gesellBebauungsplan Sickerwasser schaftlicher puffert (z.B. saure Einträge)Gruppen mitarbeiten. Ziel der WRRL war es, bis 2027 die ökologische Funktionsfähig-

wandelt Stoffe um keit der Oberflächengewässer wieder in guten Cd = Cadmium (z.B. anorganische Schadstoffe) PbErhaltung = Blei Zustand zu bringen sowie die der NutzH+ Ni = Nickel Cd Cd barkeit des Grundwassers. Grundwasser Pb Hg = Quecksilber Hg Pb 1 Statistisches Bundesamt H+ =dem Wasserstoff (positiv) Auf Bundesebene wurde mit 2010 in Kraft 2015 getretenen Wasserhaushaltsgesetz (WHG) eine 2 Gunreben/Dahlmann/Frie deutschlandweit einheitliche und auf die europä2007, S. 34ff. ische Wasserrahmenrichtlinie abgestimmte 3 Statistisches Bundesamt Grundlage für die Umsetzung des Wasserrechts 2017 4  BBR 2004 geschaffen. Auch auf internationaler Ebene hat kapillarer Aufstieg

das Prinzip des integrierten Wasserressourcenmanagements in nahezu alle Nachhaltigkeitsstrategien und wasserpolitischen Deklarationen Eingang gefunden, so auch in die 2001 von den UN-Mitgliedsstaaten verabschiedeten Millenniumszielen sowie in die Weltwasserberichte der UNESCO seit 2003, die einen Überblick über die Wasserressourcen weltweit geben, auch im Zusammenhang mit anderen Aspekten wie Bevölkerungswachstum oder Klimawandel.

Für eine nachhaltige Entwicklung von Städten und Regionen sind Maßnahmen des vorsorgenden Bodenschutzes sowie des integrierten Wasserressourcenmanagements eine grundlegende Voraussetzung. Dafür bedarf es umfassender Grundlageninformationen und Planungswerkzeuge.

Bodenschutz und nachhaltiges Flächenmanagement Im Vergleich zur land- und forstwirtschaftlichen Bewirtschaftung von Böden stellen die Urbanisierung und die damit einhergehende Überformung des Bodens einen wesentlich gravierenderen Eingriff in den Naturhaushalt dar. Deshalb fordert der Bundesgesetzgeber einen sparsamen und ressourcenbewussten Umgang mit Grund und Boden (BauGB § 1 Abs. 6). Trotz dieser gesetzlichen Vorgaben hat sich der Anteil der Siedlungsund Verkehrsfläche an der Gesamtfläche der Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit kontinuierlich vergrößert. Ihr Anteil beträgt heute rund 13 %,1 fällt jedoch regional sehr unterschiedlich aus und erreicht in den Verdichtungsräumen mehr als 50 %. Der mittlere Versiegelungsgrad der Siedlungs- und Verkehrsflächen liegt bei ca. 46 %,2 das entspricht also ca. 6 % des Bundesgebiets. Während bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die tägliche Inanspruchnahme neuer Flächen in Deutschland angestiegen ist, zeichnet sich nun eine Trendwende ab: Im Vier-Jahres-Durchschnitt von 1993 bis 1996 betrug diese noch 120 ha pro Tag und ging seitdem kontinuierlich auf 62 ha pro Tag (2015) zurück. Gemessen an der seit 2003 sinkenden Bevölkerungszahl ergibt sich jedoch eine steigende Flächenbelegung pro Kopf: 606 m2 pro Einwohner im Jahr 2015 im Vergleich zu 505 m2 pro Einwohner 1992.3 Das bedeutet, dass trotz der sich abschwächenden Zunahme des Verbrauchs bisher unbebauter Flächen die Effizienz der Flächennutzung immer geringer wird. Ziel der Bundesregierung ist es, den Flächenverbrauch bis zum Jahr 2020 auf 30 ha pro Tag zu begrenzen. Um eine schrittweise Verringerung des Flächenverbrauchs und der Bodenversiegelung zu erreichen und die Überbauung naturnaher Böden zu begrenzen, muss die Innenentwicklung aktiviert und im Innen- wie auch im Außenbereich flächensparendes Bauen gefördert werden.4 Ent-

101

2.4 — Ökologie

scheidend hierfür sind die Einführung eines Systems zum Flächenressourcenmanagement und kommunale Bodenschutzkonzepte auf der Basis eines kommunalen Neubauflächen-, Baulückenund Brachflächenkatasters. Eine weitere wichtige Planungs- und Entscheidungshilfe für Kommunen ist die Erstellung eines regionalen bzw. kommunalen Fachinformationssystems Boden inklusive einer flächendeckenden Bodenversiegelungskartierung zur Bewertung der Funktionserfüllung nach Bundesbodenschutzgesetz. Um die Bodenversiegelung zu reduzieren, sollten Maßnahmen umgesetzt werden, die eine Entsiegelung befördern bzw. die weitere Zunahme der Versiegelung des Stadtgebiets konsequent unterbinden. Dieses lässt sich sowohl durch Festsetzungen im Bebauungsplan, durch finanzielle Anreize zur Entsiegelung privater Flächen, konsequente Entsiegelungsmaßnahmen auf stadteigenen Grundstücken und öffentlichen Verkehrsflächen sowie durch die Einführung einer erhöhten kommunalen Regenwassergebühr für die Entwässerung versiegelter Privatflächen erreichen. Darüber hinaus müssen unerwünschte Stoffeinträge in den Boden soweit wie möglich vermieden sowie bereits vorhandene Altlasten und altlastverdächtige Flächen umfassend erfasst, untersucht, bewertet und gegebenenfalls saniert werden (Abb. 3).

Integriertes Wasser­ ressourcenmanagement Ziel des IWRM auf regionaler und kommunaler Ebene muss es sein: •• die Abflussgeschwindigkeit des Niederschlagswassers und damit das Hochwasserproblem der urbanen Gewässer zu verringern •• die Grundwasserabsenkung und den Rückgang der Grundwasserneubildung zu reduzieren •• der Verschlechterung der Qualität von Niederschlagswasser, Gewässern und Grundwasser entgegenzuwirken •• die Struktur der Gewässer und ihre ökologische Durchgängigkeit zu verbessern Für den urbanen Bereich stellt das Prinzip der was­sersensitiven Stadtentwicklung ein wichtiges Leitbild dar, um die Berücksichtigung des urbanen Wasserkreislaufs in Städtebau und Landschaftsplanung zu gewährleisten. Darüber hinaus ist die Verbesserung der Erlebbarkeit von Wasser und Gewässern in der Stadt und ihre gestalterische,

multifunktionale Integration in die Stadt- und Freiraumgestaltung ein übergeordnetes Ziel. Dies alles kann nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Wassermanagement, Städtebau und Freiraumplanung gelingen, da diese zusammen gedacht werden müssen, um Synergien für eine ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Nachhaltigkeit zu ermöglichen und nutzen zu können (Abb. 4, 102).5 Für die Umsetzung der wassersensitiven Stadtentwicklung ist es erforderlich, regionale bzw. kommunale Entwicklungspläne zu erarbeiten, um zu einer integralen Herangehensweise an die Bewirtschaftung von urbanen Wasserkreisläufen zu gelangen. Dabei ergeben sich Synergieeffekte mit den im Handlungsfeld Bodenschutz genannten Maßnahmen zur Reduzierung des Anteils versiegelter urbaner Flächen. Darüber hinaus gebotene Maßnahmen betreffen: •• die Aufbereitung, Wiedernutzung, Versickerung und verzögerte Ableitung des Niederschlagswassers (integriertes Regenwassermanagement) •• die Schaffung von Räumen zur Ableitung und Speicherung von Niederschlagswasser für extreme Regenereignisse und Hochwasserresilienzmaßnahmen (integriertes Hochwasserrisikomanagement) •• die Reduzierung des Trinkwasserbedarfs, Reduzierung des Abwasseranfalls und die Wiederverwertung von gereinigtem Abwasser (integriertes Abwassermanagement) •• die Renaturierung bzw. den gewässerstrukturellen Umbau urbaner Fließgewässer (integrierte Gewässerentwicklung) Die Umsetzung und Konkretisierung der jeweiligen Einzelmaßnahmen wird im folgenden Abschnitt auf der Maßstabsebene des Quartiers näher erläutert. Wichtig ist jedoch, dass diese auf regionaler bzw. gesamtstädtischer Ebene integriert konzipiert werden. Ziel muss es sein, Möglichkeiten zur Reduzierung der Überflutungswahrscheinlichkeit (z. B. Entsiegelungsmaßnahmen und integriertes Regenwassermanagement) mit Mitteln zur Verbesserung der ökologischen Gewässerstruktur (Renaturierung, mehr Raum für Auen und Hochwasserrückhalt) und Schutzmechanismen vor Hochwasser (Speicherräume, an Überflutungen angepasste Bauweisen) synergetisch zu verbinden. So kann ein System aus gebäude-, grundstücks-, quartiers- und stadtteilbezogenen sowie gesamtstädtischen bzw. regionalen Maßnahmen entstehen: Gründächer, Pflanzenkläranlagen, Versickerungsmulden entlang von Straßen,

5  Hoyer et al. 2011, S. 18

Abb. 2

a

b fehlend sehr gering Abb. 3

gering mittel

hoch sehr hoch

102

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Komponenten

Aufgaben

Akteure

Wasserversorgung sichern Umweltingenieure Regenwassermanagement nachhaltige ­Wasserwirtschaft

Abwasserbehandlung

Umweltwissenschaftler

Wasser­abläufe verbessern Schutz von Oberflächenund Grundwasser wassersensible Stadtplanung

Betrachtung der öko­logischen Anforde­rungen Stadtplanung

Betrachtung der öko­nomischen Anforde­rungen Betrachtung der ­ sozialen Anforde­rungen Betrachtung der kulturellen ­Anforderungen

Landschafts­planung

Sicherung der Gestaltungsqualität Beitrag zur städtischen Attraktivität

Umweltplaner

Stadt- und Landschaftsplaner Akteure der ­Verwaltung

Integration

• Management des gesamten ­Wasserkreislaufs • Beitrag zur Nachhaltigkeit in Städten • Schaffung von Rahmenbedin­ gungen für attraktive und humane Lebensumge­ bungen

Architekten und ­Bauingenieure Landschafts­ architekten Stadtplaner und ­Architekten

Abb. 4 Abb. 4 Komponenten, ­Aufgaben und Akteure einer wassersensiblen ­Stadtentwicklung Abb. 5  Komponenten des integrierten Regenwassermanagements

übergeordnete Grünkorridore und Gewässerauen lassen sich zu einem integrierten, wassersensiblen Gesamtsystem der Stadtentwicklung verbinden. Gleichzeitig werden die technischen, gestalterischen, sozialen und ökonomischen Potenziale von unterschiedlichen wasserbezogenen Bewirtschaftungsmöglichkeiten genutzt, um urbane Räume attraktiv und erlebbar zu machen.

Maßstabsebene Quartier Das Handlungsfeld des integrierten Wasserressourcenmanagements und der wassersensitiven Stadtentwicklung bietet vielfältige Möglichkeiten, die die nachfolgend beschriebenen Aspekte als Ausgangspunkte für die Entwicklung integrierter, interdisziplinärer Konzepte auf Quartiersebene zu nutzen.

Integriertes Regenwassermanagement Traditionell ist die Gestaltung des öffentlichen urbanen Raums darauf ausgelegt, trockene und damit jederzeit begeh- und nutzbare Oberflächen z. B. in Form von Straßen, Plätzen oder Rasenflächen zu schaffen. Das Regenwasser wird durch ein engmaschiges System von Einläufen mit einer maximalen Abflussleistung so schnell wie möglich von den versiegelten Flächen in die unterirdische Regen- oder Mischwasserkanalisation geleitet und direkt über die entsprechenden Einleitungsstellen oder indirekt über die Klärwerke den Gewässern zugeführt. Doch schon seit Jahren hat

ein Paradigmenwechsel hin zu einer dezentralen Regenwasserbewirtschaftung eingesetzt, bedingt durch wasserwirtschaftliche Strategien zur Vermeidung von Hochwasser, hydraulischen Belastungen der Fließgewässer, Grundwasserabsenkungen sowie zur Kostensenkung beim Bau und der Unterhaltung der technischen Systeme. Das Konzept der naturnahen Regenwasserbewirtschaftung besteht im Allgemeinen aus einer Verknüpfung von vier grundsätzlichen Prinzipien: dem Auffangen und damit der direkten Nutzung von Regenwasser, der Verdunstung, der Versickerung und der Drosselung (Abb. 5). Die Nutzung von Regenwasser verringert die jährliche Abflussmenge von Niederschlägen und kann je nach Volumen des Wasserspeichers auch zu einer Kappung der Abflussspitzen beitragen. Zusätzlich liegt darin ein großes Potenzial zur Einsparung von Trinkwasser. Durch Verdunstung und Versickerung des Niederschlags reduziert sich die abzuleitende Wassermenge. Die Verdunstung von Wasser befördert ein gutes Mikroklima, die Versickerung sorgt für die Grundwasserneubildung. Diese kann bei gut durchlässigen Böden in flachen Mulden oder Gräben erfolgen. Bei Böden mit undurchlässigerem Untergrund helfen beispielsweise Rigolensysteme, das abgeleitete Wasser durch unterirdische Kieskörper in zur Zwischenspeicherung geeignete Schichten zu befördern. Das Prinzip der Drosselung sorgt für eine Reduzierung der oberflächigen Spitzenabflüsse. Dafür muss ein entsprechendes Rückhaltevolumen zur Verfügung stehen, in dem das Wasser eine gewisse Zeit zwischengespeichert werden kann. Durch eine dosierte, zeitlich verzögerte Regenwasserableitung lassen sich die lokalen Hochwasser­ spitzen von Gewässern abmindern. Aus planerischer Sicht müssen Ansätze entwickelt werden, die das Regenwasserableitungs-, Sammel-

103

2.4 — Ökologie

Verdunstung

Drosselung

Nutzung

Versickerung Abb. 5

und Reinigungssystem zu einem erlebbaren und attraktiven Teil der räumlichen Gestaltung machen. Das bedeutet auch, dass Wasserwirtschaftler und Stadt- bzw. Freiraumplaner bereits von Anfang an in der Entwurfs- und Planungsphase zusammenarbeiten müssen. Dabei bilden die topografischen Rahmenbedingungen, die Fließwege des Wassers und die technischen Komponenten seiner Reinigung, Nutzung, Speicherung und Ableitung die Ausgangspunkte für die Gestaltung urbaner Stadt- und Freiräume.

Integriertes Hochwasser­ risikomanagement In der Vergangenheit war die Flucht vor dem Wasser und damit die Umsiedelung oftmals die letzte Möglichkeit der Anrainer, der Gefahr durch Überflutungen und Hochwasser zu entgehen. Heute ist es in vielen Fällen nicht möglich oder auch nicht gewollt, auf sichere Gebiete auszuweichen. Die wirtschaftliche Entwicklung und der Siedlungsdruck, aber auch die Attraktivität der Lage am Wasser haben dazu geführt, dass tief liegende Gebiete und Flussauen häufig als Siedlungsfläche ausgewiesen und genutzt werden. Hochwassergefährdete Gebiete sind oft landwirtschaftlich und wirtschaftlich interessantes Bauland und beherbergen inzwischen viele Menschen und hohe Sachwerte. Für die bauliche Entwicklung am Wasser gibt das Wasserhaushaltsgesetz (WHG) Bedingungen für festgesetzte Überschwemmungsgebiete vor. Grundsätzlich ist dort die Ausweisung von neuen Baugebieten sowie die Errichtung oder Erweiterung baulicher Anlagen untersagt (WHG § 78 Abs. 1). Ausnahmen sind nur möglich, wenn sämtliche im WHG aufgeführten Auflagen eingehalten werden: In Bezug auf das Gewässer dürfen vor allem der Hochwasserschutz, der Hochwas-

serabfluss und die Höhe des Wasserstands nicht negativ beeinflusst werden, sodass keine nachteiligen Auswirkungen für den Wasserhaushalt entstehen. Neu errichtete Gebäude in Überschwemmungsgebieten müssen so ausgeführt werden, dass keine Gefährdungen von Leben oder erhebliche Gesundheits- oder Sachschäden zu erwarten sind (WHG § 78, Abs. 2 Nr. 3). Die Nutzung attraktiver Lagen am Wasser erfordert Maßnahmen der Informationsvorsorge, des Objektschutzes und der baulichen Vorsorge durch angepasste Bauweisen und Materialien, die über Informationsportale und Planungshilfen verbreitet werden sollen.6 Aufgrund der im Zuge des Klimawandels zunehmenden extremen Wetterereignisse ist damit zu rechnen, dass die städtische Kanalisation das Wasser nicht mehr unterirdisch ableiten kann und es zunehmend auch zu innerstädtischen Überschwemmungen kommt. Charakteristisch für solche Ereignisse sind kurze Reaktionszeiten und ein möglicher Rückstau in der Kanalisation. So entstehen auch in städtischen Gebieten sehr schnell Hochwassersituationen, obwohl kein Gewässer sichtbar ist. Hochwasserangepasste Bauweisen tragen insofern zu einer Verringerung des Risikos bei, als sie die Gefahr von Schäden reduzieren. Basierend auf dem Drei-Säulen-Modell des Hochwasserschutzes sind folgende Maßnahmen möglich, um Schäden durch Hochwasser sowie die Schadensanfälligkeit von Bauwerken zu mindern:7 •• Vermeidung: Reduzierung der negativen Auswirkung von Hochwasser durch Rückhalt in der Fläche, Einbeziehung von Verkehrs- und Freiflächen zum Rückhalt kapazitätsüberschreitender Abflüsse und zur Verminderung der Abflussgeschwindigkeit •• Schutz: Maßnahmen des technischen Hochwasserschutzes wie Schutzmauern, Deiche,

6  BMVBS 2010 7  LAWA 1995

104

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Abschirmen stationär

mobil

• Objektschutz am Gebäude (vor Hochwasser, ansteigendem Grundwasser, Rückstau Kanali­sation) • Gestaltung von Schutzbau­werken als Freiraum

• Objektschutz am Gebäude durch mobile Elemente • externer Schutz durch mobile Elemente, ­Wasserbezug erhalten

Dulden

Erhöhen

Mitbewegen

Rückzug

• historische Lage als Zwang • Erhalt des Reten­ tionsraums ­ • neuer Reten­tionsraum als nutzbarer ­Freiraum

• Rückzugsort • Auständern • Damm und Aufständern

• amphibische ­Häuser, Sommer-Infrastruktur ­ • Freizeitnutzung • schwimmende ­Häuser, Freizeitnutzung • Hausboot, kein ­Gebäude • Dauernutzung See

• Flucht vor dem Wasser • Umsiedlung • Verwilderung • neue Lage­qualität • Fluchtweg

Abb. 6

Dämme, Flutmulden und Retentionsräume sowie des dezentralen Objektschutzes gefährdeter Gebäude und baulicher Anlagen •• Vorsorge: Flächenvorsorge zur Reduzierung der baulichen Nutzung gefährdeter Gebiete, Bauvorsorge durch angepasste Bauweisen und Nutzungen, Verhaltensvorsorge durch Warnund Evakuierungssysteme und Risikovorsorge durch Versicherungsmodelle

8  Prominski et al. 2012

Integrierte räumliche Strategien sollten jedoch nicht allein technische, organisatorische und rechtliche Maßnahmen umfassen, sondern in stadt- und freiraumplanerische Entwicklungen mit dem Ziel einbezogen werden, durch die Kombination unterschiedlicher Maßnahmen Synergien und räumliche Qualitäten zu erzeugen (Abb. 6).

Integrierte Gewässerentwicklung und Flussraum­ gestaltung Der den Wasserschwankungen zwischen Niedrigund Hochwasser ausgesetzte Bereich urbaner Fließgewässer wurde seit der Industrialisierung zunehmend unter funktionellen Gesichtspunkten gestaltet. Die verschiedenen technischen Ausbauformen zeichnen sich durch gleichmäßige, möglichst glatte, d. h. auf maximale Abflussleistung ausgelegte Ge­­ rinnequerschnitte aus. Im Extremfall wurden dabei sterile, mit senkrechten Wänden begrenzte Betongerinne geschaffen, die nicht selten auch noch einen Betondeckel erhielten, um zusätzliche Verkehrsflächen zu gewinnen. Eine derartige Gewässergestaltung ist zugeschnitten auf die Funktion des Gewässers als Vorfluter, optimiert im Hinblick auf Hochwasserschutz und Gewässerunterhaltung. Unzählige Kommunen in Deutschland und Europa stehen durch die aktuelle EU-Wasserrahmenrichtlinie nun vor der Herausforderung, ihre Fließgewässer wieder in Richtung größerer Naturnähe rückzugestalten. Bei der Umsetzung der Richtlinie stehen Aspekte der Gewässermorphologie und -ökologie im Vordergrund. Das Hauptziel eines Gewässerentwicklungskonzepts besteht in der Umsetzung von Maßnahmen, die dazu beitragen, einen möglichst naturnahen Zustand des

Gewässers zu erreichen. Dieses Ziel darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden, denn die Flüsse und ihre Uferbereiche haben bedeutende Funktionen als urbane Freiräume und sind für die Lebensqualität der sich immer weiter verstädternden Gesellschaften von hohem Wert. Je mehr Platz für ein Gewässer zur Verfügung gestellt wird, desto größer sind die Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf seine eigendynamische Entwicklung. Dazu bedarf es der Ausarbeitung innovativer interdisziplinäre Ansätze, in denen die an das Gewässer angrenzenden Landschaftselemente und -nutzungen in den unterschiedlich häufig überschwemmten Bereichen in angepasster Weise gestaltet werden.8 In den zuerst überschwemmten Uferräumen ist es z. B. möglich, eine natürliche Auenvegetation zu entwickeln, die punktuell mit terrassierten Ebenen, Rampen, Treppen und Aussichtsplattformen kombiniert wird, um einen direkten Zugang zum Wasser zu schaffen. Wege auf unterschiedlichen Niveaus erlauben verschiedene Nutzungen des Parks sowohl bei Niedrig- als auch bei Hochwasser. Dafür müssen Pflanzenauswahl, Nutzungsbereiche und Möblierung an die jeweiligen Überschwemmungshäufigkeiten und -tiefen angepasst werden. Je nach Fließdynamik und zur Verfügung stehendem Raum sollten auch morphodynamische Prozesse der Laufveränderung, Anlandung und Inselbildung im Gewässerbett gefördert werden, die ein naturnahes und abwechslungsreiches Erscheinungsbild zur Folge haben. Auch bei der Integration von Hochwasserschutzsystemen in ufernahen Freiräumen bieten sich durch die Kombination von festen und mobilen Elementen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten: Mauern und Deiche lassen sich mit verschließbaren Schutztoren aus Stahl, Klappen sowie mobilen Dammbalken aus Aluminium kombinieren. Diese Elemente ermöglichen eine Durch­lässigkeit des Raums, da sie nur im Notfall die Freiflächen abschließen. Um nicht als Barrieren zu wirken, sollten Mauern und Deiche als attraktive, multifunktionale, begehbare und somit erlebbare Landschaftselemente gestaltet werden. Auf diese Weise trägt die Ufergestaltung zur bewussten Wahrnehmung der dynamischen Gewässerprozesse bei und dient diesen als Bühne.

105

2.4 — Ökologie

Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit

Regenwasser sammeln Nahrungs­ mittel

landwirtschaftliche Nutzung

Behandlung / Desinfektion / energetische Nutzung

Fäkalien Urin

Grauwasser

Wieder­ verwendung kein Abwasser in Gewässer einleiten

Abb. 6  prinzipielle Einzelstrategien hochwasser­ angepasster Bauweisen Abb. 7 Wasserkreislauf basierend auf dem EcosanPrinzip

Abb. 7

Integriertes Abwasser­ management und dezentrale Abwasserbewirtschaftung

Das kostenintensive und technisch aufwendige, zentral organisierte System der Wasserver- und -entsorgung wurde in den wasserreichen Industrieländern entwickelt. Bei der aktuellen und zu­­ künftig zunehmenden weltweiten Wasserknappheit rücken nun Konzepte in den Fokus, die den Wasserverbrauch reduzieren. Damit steht auch das traditionelle Prinzip der Spültoiletten und Schwemmkanalisation, das die Entwicklung einer enorm kostenintensiven Wasserinfrastruktur er­­ fordert und in vielen Ländern einen hohen Trinkwasserverbrauch und die weitestgehend ungereinigte Ableitung in die Gewässer nach sich zieht, auf dem Prüfstand. Vor diesem Hintergrund ist der Bedarf an flexiblen, dezentralen, kostengünstigen und ressourcensparenden Systemen groß.9 Schon heute stehen in den Bereichen Sanitär und Abwasser eine Vielzahl von neuen Technologien und Methoden zur Verfügung, die für eine Abkehr von der vorherrschenden Abwasserbeseitigung und -reinigung in Betracht gezogen werden können. Dezentrale Konzepte der Abwasserentsorgung und -aufbereitung, wie sie etwa die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unter der Bezeichnung »Ökologische Sanitärversorgung (ecosan)« verfolgt, sehen vor, den Rohstoff Fäkalie nicht mit Trinkwasser zu vermengen und wegzuspülen, sondern zu Dünger oder Biogas weiterzuverarbeiten und in der Landwirtschaft wiederzuverwerten (Abb. 7). Dafür kommen je nach Kontext unterschiedliche Low- oder

­ ightech-Lösungen infrage: Komposttoiletten, H Pflanzenkläranlagen, Abwasserteiche und Biogas­ anlagen galten lange als rückständige Übergangstechniken für Gebiete, in denen der Anschluss an eine zentrale Ver- und Entsorgung vorerst nicht finanzierbar war und zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden sollte. Angesichts der beschriebenen Herausforderungen in Bezug auf die hohen Kosten zentraler Systeme rücken diese Technologien jedoch zunehmend in den Fokus. Der Vorteil dieser Techniken besteht darin, dass die dafür notwendigen Strukturen teilweise von den Nutzern in Eigenleistung erstellt werden können und damit vergleichsweise kostengünstig sind. Gleichzeitig stehen in den entwickelten Ländern jedoch auch Hightech-Lösungen wie Separationstoiletten mit Vakuumkanalisation, anaerobe Behandlungsverfahren und Membrantechnologien zur Verfügung. Da hier die Fäkalien in der Regel nicht bzw. in sehr reduzierter Form mit Trinkwasser vermischt und weggespült werden, lassen sich im Vergleich zu herkömmlichen Systemen zwischen 20 und 40 % des Trinkwassers einsparen. Eine dezentrale Neuorganisation der Wasserinfra­ struktursysteme geht mit einer Zunahme von sichtbaren, oberirdischen, in den Stadtraum zu integrierenden Abwasseranlagen einher. Die urbanen Freiräume müssen verstärkt kombinierte Ableitungs- und Rückhalteelemente sowie Reinigungsanlagen aufnehmen. Dies hat spürbare Auswirkungen auf den Charakter von Siedlungsräumen. Hier sind innovative Entwürfe gefragt, die diese Wasserinfrastruktur in die Freiräume integrieren und als attraktive und nutzbare Freiraumelemente gestalten.

9  Lange/Otterpohl 2000

Weitere ­Informationen

•  Hoyer, Jacqueline et al.: Water Sensitive Urban Design. Principles and Inspiration for Sustainable Stormwater Management in the City of the Future. Berlin 2011 •  Stokman, Antje; Dieterle, Jan: Hochwasseran­ gepasstes Bauen als Strategie der integrierten Stadtquartiersentwicklung am Wasser. In: BMVBS (Hrsg.): Integrierte Stadtquartiersentwicklung am Wasser. Schriftenreihe Werkstatt: Praxis, Heft 77, Berlin 2011, S. 44–47 •  UNEP; Europäische Umweltagentur: Auf dem Boden der Tatsachen. Bodendegradation und nachhaltige Entwicklung in Europa. Umweltthe­ men-Serie, Heft 16, Kopenhagen 2002

106

Kapitel 2 — Herausforderungen

Herausforderung Stoffströme Jul ia Böttge, Marcel Özer, Daniela Schneider, Bas t ian Witt s tock

S

1  TU Wien 1996 2  Beckenbach/Urban 2011

toffströme sind im urbanen Raum omnipräsent. Sichtbare Zeichen sind z. B. der (Liefer-) Verkehr auf den Straßen und der regelmäßige Dienst der Müllautos. Alle Produkte und Materialien, die in der Stadt gebraucht werden, verursachen stets Stoffströme – direkt oder indirekt. Direkte Stoffbewegungen sind z. B. Lebensmitteleinkäufe, indirekte Stoffbewegungen beispielsweise die Lieferung von Kohle für die Stromerzeugung, die hinter dem Betätigen eines Lichtschalters steckt. Solche Materialbewegungen werden als Stoffströme oder Stoffflüsse bezeichnet (Abb. 1 und 2). Aufgrund der Vielzahl von Aktivitäten im urbanen Raum sind die dort auftretenden Stoffströme äußerst komplex und bedürfen der gründlichen Analyse und Optimierung, um ihre negativen Auswirkungen zu minimieren. Aufgrund dieser Komplexität wird der Fokus dabei immer nur auf eine Auswahl von Stoffströmen gerichtet. Zukünftig werden hierbei auch mehr und mehr das Schließen von Materialkreisläufen und das Nutzen von bisherigen Abfällen eine Rolle spielen. Besonders Themen wie Nutzungszyklen, Flexibilität, Rückbau- und Recyclingfreundlichkeit rücken zunehmend in den Fokus und können sogar als Chance angesehen werden (Urban Mining). Der Umbau unserer Wegwerfgesellschaft zu einer Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) ist die große Herausforderung der zukünftigen Stadtentwicklung. Besonders durch die hohe Komplexität und Stoffvielfalt stellen Gebäude und Städte dabei einen wichtigen Bestand von Ressourcen hinsichtlich der Wertstoffrückgewinnung dar. Unterschiedliche Materialien wie Beton, Gips, Kunststoff, Stahl, Holz etc. müssen zukünftig als heterogene Bauabfälle verwertet werden, um diese wieder nutzen zu können. Die Probleme einer Kreislaufführung

gebrauchter Baumaterialien werden sich allerdings mit dem Rückbau des heutigen Gebäude- und Infrastrukturbestands in absehbarer Zukunft ­weiter verschärfen, da verstärkt Verbund- und ­Pro­blemstoffe verbaut wurden und immer noch werden. Diese Verbundbaustoffe erschweren Rückbau und Recycling erheblich. Sie finden sich im Bauschutt und in den Baustellenabfällen wieder und senken die Materialqualität. Zudem sind Informationen über verbaute Materialien zum Zeitpunkt des Rückbaus meist nicht mehr vorhanden, was eine Selektion in einzelne Fraktionen erschwert. Um Materialkreisläufe mit dem Ziel der Schließung aufrecht erhalten zu können, müssen parallel Informations- und Dokumentationskreisläufe geschaffen werden. Das Ziel ist die Erstellung einer transparenten und einfach lesbaren Gesamtdokumentation aller Stoffe über ihre Lebensdauer hinweg. Als besonders schwierig stellt sich das Formulieren von Zieldefinitionen der zu untersuchenden Stoffströme heraus, da sich die Stoffstrombilanzen je nach Art der Wertschöpfung (z. B. Dienstleistung, Produktion), die in der Stadt generiert wird, der Stadtentwicklung (wachsende Städte gegenüber schrumpfenden) sowie aufgrund vieler weiterer Aspekte stark voneinander unterscheiden. Dementsprechend müssen auch Zieldefinitionen von Stoffströmen immer regional festgelegt werden.1 Insgesamt sind die Fragen zu diesem Themenbereich vielfältig und multidimensional. Zur Untersuchung der Stoffströme dient die Stoffstromanalyse (Material Flow Analysis – MFA).2 Die Gewinnung von Rohstoffen und die Bewegung von Material an sich stellt keine Umweltwirkung dar, sofern nicht durch den Abbau Biotope zerstört werden. Es werden jedoch umweltrelevante Emissionen verursacht. Für eine Darstellung der Umweltwirkungen aus der gesamten Vorkette mit Blick auf eine Opti-

107

2.4 — Ökologie

Sonne, Wind, Umweltenergie

Luft, Regenwasser

Abgase, Schadstoffe Lärmemission Lichtemission

elektrische Energie (fossil/regenerativ)

elektrische Energie (Strom-Mix) Öl, Gas

Biogas

Wärme, Kälte

Wärme, Kälte

Frischwasser

Abwasser

Biomasse

Biomasse, an 2. Kaskadenstufe Produktion

Rohstoffe & Vorprodukte - Metalle - Kunststoffe - Glas, Keramik, mineralisch - gasförmige Rohstoffe

Dienstleistung

Nebenprodukte (Abfall) - Metalle - Kunststoffe - Glas, Keramik, mineralisch - gasförmige Rohstoffe

Prozesse

Komponenten & Bauteile, Produkte

Komponenten & Bauteile (Produkte) Nahrungsmittel

Nahrungsmittel

Dienstleistungen

Dienstleistungen

Personal

Fläche Biodiversität

finanzielle Ressourcen

Personal

Wasser, Energie

finanzielle Ressourcen Verkehr

Verkehr Abb. 1 übrige Abfälle

Abb. 7: Stoffströme im Ökosystem Gewerbegebiet, Drees & Sommer Advanced Building Technologies GmbH, 08/2014 14%

Abfälle aus der Gewinnung und Behandlung von Bodenschätzen 7%

Abfälle aus Abfallbehandlungsanlagen

412 Mio. t 13%

54%

Bau- und Abbruchabfälle Abb. 1  exemplarische Stoffströme eines Gewerbe­ gebiets Abb. 2  Abfallaufkommen 2016 in Deutschland

13%

Siedlungsabfälle Abb. 2

mierung eignet sich die Methodik der Ökobilanz. Die ökologischen Profile von Produkten und ­Werkstoffen lassen sich damit über ihren gesamten Lebenszyklus beschreiben (siehe Zertifizierungs- und Bewertungssysteme, S. 218ff. und Handlungsfeld Stoffströme, S. 108ff.).3 Für jeden Prozessschritt werden Umwelteinwirkungen und benötigte Ressourcen erfasst. Basierend auf diesen Modellen ist es möglich, Schwachstellen zu identifizieren und dafür Handlungsalternativen zu bewerten. Diese Analysen und Darstellungsweisen erlangen auch zunehmend für Städte eine Bedeutung. Insbesondere für die Planung einzelner Quartiere ist es wichtig zu ermitteln, welche Stoffströme durch das Quartier verursacht und/ oder beeinflusst werden Alle In- und OutputStröme sowie Verbrauchsmedien (elektrische Energie, Wärme/Kälte, Wasser, Abfall, Daten/

IT, Materialien u. a.), die einem System zugeführt werden, es verlassen oder innerhalb der Bilanzgrenze umgewandelt werden, können so miteinander verglichen werden. Innerhalb eines Quartiers, das als »Ökosystem« im Sinne eines Verbunds interagierender Organismen fungiert, können damit Potenziale ermittelt werden. So lässt sich beispielsweise in Gewerbegebieten er­­ kennen, welche Unternehmen in den zuvor ge­­ nannten Bereichen und ihrer Infrastruktur kooperieren und Synergien herstellen können (Abb. 2). Zu berücksichtigen ist, welche ökologischen Probleme sich aus diesen Stoffströmen ergeben und wie sie reduziert werden können. Dieses Modell der Stoffströme einer Stadt muss im Zuge einer nachhaltigen Entwicklung um weitere städteplanerische, ökonomische und soziale Aspekte erweitert werden.

3  Klöpffer/Grahl 2009

Weitere Informationen

•  Donner, Susanne: Die Stadt als Mine. In: Tech­ nology Review 04/2011 •  Jordi, Beat: Stoffflüsse im urbanen Raum. Die Versorgung der Stadt hängt von ihrem Umland ab. In: Umwelt. Natürliche Ressourcen in der Schweiz 04/2012 •  Sperling, Carsten et al.: Nachhaltige Stadt­ entwicklung beginnt im Quartier. Ein Praxis- und Ideenhandbuch für Stadtplaner, Baugemeinschaf­ ten, Bürgerinitiativen am Beispiel des sozial-­ ökonomischen Modellstadtteils Freiburg-Vauban. Forum Vauban e. V., Öko-Institut e. V. 1999

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Kapitel 2 — Handlungsfelder

Handlungsfeld Stoffströme Jul ia Böttge, Johannes Gant ner, Thomas Haun, Marcel Özer, Christina Sager, Daniela Schneider, Bastian Wittstock

1 Braungart/McDonough NY 2002 2  Rebernig 2007

I

m Idealfall schließen sich gut geplante Stoffströme zu vollständigen Kreisläufen aus ineinandergreifenden technischen und natürlichen Zyklen.1 Diesen Ansatz verfolgt das vom deutschen Chemiker Michael Braungart entwickelte Designkonzept Cradle to Cradle (C2C). Es basiert auf der Idee, sämtliche Güter entweder dem technischen oder dem biologischen Kreislauf zuzuordnen. Produkte sollen so designt werden, dass alle Bestandteile entweder biologisch abbaubar oder auf beständig hohem Niveau recycelbar sind. Damit orientiert sich C2C an dem natürlichen Prinzip von Stoffkreisläufen, in denen keine Abfälle produziert werden, sondern alle Stoffe in ständigem Gebrauch sind. Tatsächlich ist der Weg dahin noch weit. Stoffströme müssen durch bewusste Planung und Dokumentation auf allen Ebenen kontrolliert, in gewünschte Bahnen gelenkt und vorzugsweise reduziert werden, sofern dafür die logistischen Strukturen geschaffen sind. Dies betrifft den Materialeinsatz in der Quartiersentwicklung und Gebäudeerrichtung ebenso wie die Energieversorgung urbaner Räume. Aber auch die Ver- und Entsorgungssysteme der Städte müssen in den Fokus ganzheitlicher Planung rücken. Hierfür ist es notwendig, die Stoffströme des gesamten Lebenszyklus eines Quartiers und all seiner Komponenten zu berücksichtigen (siehe Lebenszyklusbetrachtung, S. 175f.) und die damit verbundenen Probleme zu erfassen, zu analysieren und zu dokumentieren. Für die Analyse der auftretenden Stoffströme dient z. B. die Methode der Materialflussanalyse (MFA), für die weiterführende Betrachtung ökologischer Konsequenzen ist die Methode der Ökobilanz geeignet (siehe Materialflussanalyse und Ökobilanz, S. 224). Stoffströme besitzen unterschiedliche Bezüge zu Planungshorizonten, Nutzungsanforderungen und Zeiträumen. So unterscheidet man zwischen

langfristigen Stoffströmen, z. B. bei Baustoffen, die am Lebensende eines Gebäudes oder eines Infrastrukturbauwerks wieder verfügbar sind, und kurzfristigen wie z. B. Abfallströme oder Versorgung mit Lebensmitteln und Energieträgern. Besondere Aufmerksamkeit verdient der langfristigere Verbleib von Materialien im Stofffluss. So stehen z. B. Baustoffe, die einem Bauwerk an dessen Lebensende wieder entnommen und recycelt werden können, auch zukünftig zur Verfügung. Demgegenüber gibt es sogenannte dissipative Stoffströme,2 bei denen die Materialien durch ihre Verarbeitung sehr fein verteilt werden und nur mit großen Anstrengungen für eine spätere Nutzung wieder verfügbar sein. Das Ziel muss sein, für den Verbleib von Stoffen ein flexibles Planungs- und Konstruktionsdesign zu entwickeln und anzuwenden, um Informations- und Materialkreisläufe schließen zu können und diverse Nutzungsflexibilitäten zuzulassen.

Maßstabsebene Region Auf regionaler Ebene treten unterschiedliche Stoffströme für die Versorgung (Import) wie für die Entsorgung (Export) auf, die für die planerische Perspektive zu unterscheiden sind (Abb. 1). Ebenso entstehen während des Verbrauchs, der Verwertung oder der Weiterverarbeitung Stoffströme. In Bezug auf die Zeitschiene muss zwischen jenen Stoffströmen unterschieden werden, die langfristig Rohstofflager bilden oder durch die Mobilisierung langfristiger Lager auftreten, und solchen, die nur kurzfristig Lager bilden bzw. einen kontinuierlichen Stofffluss erzeugen. Zu den langfristigen Lagern zählen insbesondere Gebäude

109

Wasser /Luft Energie Lebensmittel Konsum- und Investitionsgüter andere Rohstoffe/Halbzeuge etc.

Export

Abwasser Abfälle

Import

Emissionen

2.4 — Ökologie

Wasser Energie Lebensmittel Konsum- und Investitionsgüter Halbzeuge etc.

Abb. 1 exemplarische ­Stoffströme in der Stadt

Abb. 1

und Bauwerke, in denen Baustoffe über längere Zeit verbaut sind. Da an deren Lebensende umfassende Mengen von Rohstoffen mobilisiert werden können, spricht man auch von Urban Mining. Darüber hinaus stellen bestehende Haus- und Gewerbemülldeponien ebenfalls langfristige Lager dar, deren Aufarbeitung eine Mobilisierung von Sekundärressourcen bedeutet. Zu den kurzfristig Lager bildenden, stetigen Stoffströmen zählen mehrere Kategorien, insbesondere aber die Versorgung mit Energieträgern, Lebensmitteln und Konsumgütern. In Bezug auf eine räumliche Optimierung gilt es, mögliche Rohstofflieferanten und -abnehmer so zu vernetzen, dass ein regionaler Materialeinsatz mit kurzen Transportwegen dort stattfinden kann, wo dies aus ökologischer Sicht sinnvoll ist. Das betrifft einerseits regionale Lager von Primärrohstoffen, andererseits den Rückbau von Quartieren und Gebäuden als mögliche Quelle für Sekundärrohstoffe. Hierfür kommen zunehmend Recyclingverfahren für Baureststoffe zum Einsatz, die zudem Gegenstand der Forschung sind. Deren Schwerpunkt ist u. a. der verbesserte Einsatz von Recyclingbaustoffen3 oder die Untersuchung neuer, innovativer Lösungsansätze zum Gewinnen hochwertiger Ressourcen aus Bauabfällen (z. B. BauCycle). Im Bereich von Stoffströmen ohne langfristigen Verbleib in der gebauten Umwelt bestehen auf regionaler Ebene zum Teil umfassende Steuermöglichkeiten. Hierzu zählen die bereits häufig praktizierte, regional organisierte Wasserver- und -entsorgung durch kommunale Zweckverbände oder ein regionales Abfallmanagement, dessen Wirkradius über die Grenzen von Landkreisen hinausgeht.4 Insbesondere im Bereich der Energieversorgung ist auf regionaler Ebene das Potenzial für solche Steuerungsmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft.  JBÖ, JG, BW

Exergetische Bewertung von Städten und Quartieren Der Energiebedarf von Gebäuden für Heizen und Kühlen wird oft aus fossilen Quellen gedeckt. Um die Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung zu erreichen, ist eine deutliche Reduktion des Gesamt­energieverbrauchs bei einer gleichzeitig stärkeren Nutzung von erneuerbaren Energien erforderlich. Die Energieeinsparverordnung (EnEV 2016) macht hierzu Vorgaben und fördert Energieeinsparung und effiziente Anlagentechnik. Die Perspektive, zukünftig im Neubaubereich nur noch Niedrigstenergiegebäude zuzulassen, stellt die Weichen für eine langfristige Reduktion der energetischen Stoffströme während der Nutzungsphase von Gebäuden. Einen weiteren Aspekt stellt die exergetische Betrachtung der Energienutzung in Gebäuden dar. So ist es aus thermodynamischer Sicht z. B. erheblich, ob die genutzte Energie aus einem Energieträger gewonnen wird oder ob es sich um elektrischen Strom oder Wärme handelt. Im Gebäudebereich entfallen die größten Energiemengen auf niedrigexergetischen Bedarf zum Heizen und Kühlen von Räumen. Hier wird in aller Regel lauwarmes Wasser benötigt, wohingegen für die Beleuchtung und Antriebe wie Pumpen und Ventilatoren hochexergetischer Strom unverzichtbar ist. Die Verbrennung hochexergetischer Brennstoffe wie Erdgas und Heizöl, aber auch regenerativer Holzbrennstoffe zur Erzeugung von warmem Wasser stellt aus exergetischer Sicht eine Verschwendung von Potenzial dar. Die exergetische Analyse von Versorgungsstrukturen erlaubt es, hier zu deutlich optimierten Lösungen zu kommen.5 Auf der Ebene städtischer Quartiere, Siedlungen oder Stadtteile lassen sich durch die Erschließung von vorhandenen Abwärmequellen, beispielsweise aus Industrieprozessen, große Teile der benötig-

Exergie-Ansatz

Durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) werden die Grenzen der Wandel­ barkeit von Wärme in andere Energieformen beschrieben. Praktisch bedeutet dies, dass sich beispielsweise 1 l Heizöl fast vollständig in Wärme umwandeln lässt, diese Wärme aber nicht wieder zu der gleichen Menge Öl werden kann. Die ther­ modynamische Größe der Exergie quantifiziert diese energetische Qualität, nämlich die Wand­ lungsfähigkeit und Nutzbarkeit eines Energie­ stroms bezogen auf die zu leistende Aufgabe (Rant 1956). Der Exergie-Ansatz für Gebäude nutzt niedrigexergetische Wärmequellen (z. B. Abwärme, Solarenergie, Geothermie) entsprechend dem vorhandenen Wärmebedarf und schont so wertvolle hochexergetische Energieträger wie ­Erdgas und -öl oder Holzpellets.

3  Goetz 2009 4  Janda 2012 5  Fraunhofer IBP 2011

110

Kapitel 2 — Handlungsfelder

 6  Torío 2012  7 Sciubba  /Bastianoni/­ Tiezzi 2008; Sciubba 2011; Stremke et al. 2011  8  Schenkel 2003  9  Vogt 2010 10 Modellstadt Mannheim 2012 11  BDA 2012

ten Niedertemperaturwärme decken.6 Die Priorität der auf Kraft-Wärme-Kopplungsprozessen basierenden Nah- und Fernwärmesysteme liegt auf der Erzeugung hochexergetischen Stroms, gleichzeitig machen sie die anfallende niedrigexergetische Wärme dort nutzbar, wo sie benötigt wird. Die Betrachtung auf einer größeren Maßstabsebene erlaubt die Umverteilung und Kaskadennutzung bestehender Wärme- und Kälte­ potenziale.7 Beispielhaft ist hier die Nutzung eines vorhandenen Fernwärmerücklaufs für die Versorgung einer energieeffizienten Neubebauung zu nennen. Regenerative Umweltenergie sowie solare und geothermale Wärme können in Verbindung mit Speicherkonzepten und Wärmepumpen sinnvolle Beiträge im Gesamtversorgungssystem leisten. Das Exergiekonzept verfolgt in seinen Optimierungsansätzen das Ziel, das exergetische Niveau auf der Bedarfsseite möglichst gut mit dem Angebot in Einklang zu bringen. Auf diese Weise werden die hochqualitativen Energieträger geschont und die Einbindung von Umweltenergien in das Energiesystem gefördert.  CS

Abfallwirtschaft

  Wohnblock

Abb. 2

Stadtteil

Stoffströme

Stadt

In großen Siedlungen und Städten ist die Trennung von Wohnen und Abfallentsorgung vor allem für die Gesundheit einer Stadt und ihrer Bevölkerung erforderlich.8 In den letzten 70 Jahren hat sich aufgrund der Knappheit von natürlichen Ressourcen die Wahrnehmung von »Abfällen« gewandelt. Kreislaufwirtschaft und hierarchische Abfallentsorgung (Vermeidung, Verwertung, Behandlung, Ablagerung) rücken in den Vordergrund. Grundsätzlich soll das Abfallaufkommen so gering wie möglich gehalten und Abfälle vermieden werden. Ist dies nicht möglich, kommt der Verwertung von Abfällen und damit der Reduktion von Stoffströmen durch Recycling eine entscheidende Bedeutung zu. Hierbei spielen Wertstoffsammelsysteme eine wesentliche Rolle. Grundsätzlich finden ver­ schiedene Konzepte Anwendung: Ein Ansatz be­­ steht darin, Abfälle gemäß ihrer Materialität und, wenn möglich, sortenrein zu erfassen. Alternativ gibt es die Möglichkeit, eine Vielzahl von Stoffen zusammenzufassen.9 Die Vorteile eines getrennten Sammelsystems sind der verringerte Sortieraufwand und die hochwertige Entsorgung, die Nachteile liegen in den höheren Kosten, dem größeren Aufwand und dem erhöhten Transportbedarf.

Die Entscheidung für ein Sammelsystem muss detailliert unter Einbeziehen lokaler Gegebenheiten ermittelt werden. Ist ein Recycling der Materialien wirtschaftlich oder ökologisch nicht sinnvoll, kommen thermische Verwertung oder eine mechanisch-biologische Abfallbehandlung infrage. Deponierung ist die schlechteste aller Lösungen – aber die darin entstehenden Gase lassen sich unter Umständen gewinnen und zur Stromerzeugung nutzen.

Maßstabsebene Stadt und ­Quartier Da die Komplexität von Stoffströmen aufgrund ihrer steigenden Anzahl und in Abhängigkeit von der Größe des Stadtgebiets stark zunimmt, ist es sinnvoll, Potenziale von Stoffströmen in kleineren Einheiten wie Stadtquartieren zu betrachten. Der Grad der Unterteilung ist dabei sinnvoll auf die Gegebenheiten abzustimmen. Grundsätzlich bietet sich bei größeren Städten eine Untergliederung in Wohnblock, Stadtteil und Gesamtstadt an (Abb. 2).

Stadt- und quartiersinterne Kreislaufführung Im Hinblick auf effiziente Rohstoffversorgung und optimierte Stoffströme kommt der stadtinternen Kreislaufführung eine wichtige Rolle zu. Auf der Maßstabsebene des Quartiers wird z. B. der Energiestofffluss dezentral, u. a. durch Photovoltaik oder Blockheizkraftwerke (BHKW), erzeugt. Um eine möglichst hohe Eigennutzung des Stroms zu gewährleisten, bieten sich Systeme mit Verbrauchersteuerung (»Energiebutler«10) an. Hierbei werden je nach lokaler Stromproduktion regelbare elektrische Verbraucher an- bzw. abgeschaltet (Elektroautos, Kühlschränke, Waschmaschinen etc.), um Spannungsspitzen abzumildern und Stromproduktion und -bedarf weitestgehend aufeinander abzustimmen.11 Das quartiersinterne Wassermanagement kann abhängig von den lokalen Gegebenheiten ebenfalls eine Möglichkeit zur Optimierung der Stoffströme bieten. Durch Regenwassergewinnung und -spei-

111

2.4 — Ökologie

Abb. 3

cherung vor Ort lässt sich ein Teil des benötigten Trinkwassers für Toilettenspülung, Waschen etc. einsparen. Grundsätzlich bietet eine Kaskadennutzung von Wasser (Regenwasser, Grauwasser, Schwarzwasser) großes Einsparpotenzial.12 Die lokale Produktion von Lebensmitteln stellt eine weitere Möglichkeit dar, Stoffströme zu minimieren, da bei der Lebensmittelproduktion in der Stadt (z. B. Urban Farming, Vertical Farming, Aquaponik; Abb. 3) lange Transportwege ent­ fallen.13 Aufgrund der hohen innerstädtischen Dichte und anderer Gegebenheiten lassen sich diese Potenziale nur teilweise nutzen. Andererseits bietet die hohe Dichte in Städten andere Möglichkeiten wie z. B. die Nutzung von Fernwärme und lokales Strommanagement.  JBÖ, JG, BW

Reduzierung von Stoff­ strömen in Außenräumen Das Themengebiet Stoffströme ist auch bei der Planung der Außenräume und Außenanlagen relevant. Im Hinblick auf die Reduzierung von Stoffströmen lässt sich folgender Maßnahmenkatalog erstellen: •• Nutzung der zur Verfügung stehenden (regionalen) oberirdischen und unterirdischen Naturgüter, Rohstoffe und Gegebenheiten (Holz, Gesteine, Bäume, Gewässer etc.), um zu importierende bzw. zu exportierende Stoffströme gering zu halten •• sparsame und optimale Nutzung der zur Verfügung stehenden Flächen (z. B. Brachflächenrecycling) und damit verbunden Verringerung des Abraumaufkommens •• Abfallvermeidung geht vor Inverkehrbringen und Kreislaufwirtschaft •• Vermeidung städtebaulicher Barrierebildung

••

••

•• •• ••

••

durch eine gute äußere Erschließung (Stadt der kurzen Wege, Aktivierung und Intensivierung des Fußgänger- und Radverkehrs sowie des ÖPNV) Minimierung befestigter Flächen mittels einer durchdachten inneren Erschließung (Stellplatzinfrastruktur, Nutzung vorhandener Synergien) aktiver Bodenschutz durch geringe Flächenund Unterflurversiegelungen, Vermeidung von Verdichtungen, Gefügestörungen und Einträgen in den Boden Erstellen von Biodiversitätskonzepten, Erhalten vorhandener Vegetationsstrukturen dezentrale Regen- und/oder Abwasserbehandlung und Nutzung lokaler Wasserquellen biologische Wiederverwertung vor Ort (Biomasse zur Energiegewinnung oder Kompostierung) lokale Nahrungsmittelproduktion (z.B. Nutzpflanzen, Obstbäume, Kräuter etc.)

Stoffströme von Materialien Die bei Herstellung, Transport und Bearbeitung von Baustoffen freigesetzten Stoffe und Emissionen können lokal und global schädigende Wirkungen haben wie die Begünstigung des Treibhauseffekts, den Ozonschichtabbau, die Versauerung und Überdüngung des Bodens, bodennahe Ozonbildung etc. Diese Einflüsse lassen sich für den Baubereich u. a. über Ökobilanzierungen nachweisen. Witterungs- und verfahrensbedingte Abträge von schädlichen Stoffen z. B. aus Holz- oder Korrosionsschutzmitteln, Farben und Klebern stellen ein weiteres Risiko für Gewässer, Böden und Luft dar. Eine Vermeidung bzw. Substitution solcher Stoffe, Gemische und Erzeugnisse ist daher anzustreben.

Abb. 2 Untergliederung einer Stadt Abb. 3  Aquaponik: eine Kombination aus Fisch- und Gemüsezucht

12  Umweltbundesamt 2005 13  Hendrickson 2012

112

Kapitel 2 — Handlungsfelder

14 BMVBS 2012, S. 24f., 27ff. 15  ebd., S. 38f. 16  Müller 2012 17 UBA 2012, Glossar zum Ressourcenschutz

Weitere Informationen

•  Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF): r3 – Strategische Metalle und Mineralien. Innovative Technologien für Ressourceneffizienz. Bonn 2013; www.fona.de/mediathek/r3/pdf/ •  Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT): Übermorgen-Projekt »Molecular Sorting«. Perfekt getrennt – ressourcenschonend pro­ duziert; www.ibp.fraunhofer.de/de/Kompetenzen/ ganzheitliche-bilanzierung/Projekte/MolecularSorting.html •  Karlsruher Institut für Technologie: Ganzheit­ liche Bewertung von Stahl- und Verbundbrücken nach Kriterien der Nachhaltigkeit (NaBrü); stahl.vaka.kit.edu/713.php •  Rebernig, Gerd: Methode zur Analyse und Bewertung der Stoffflüssen von Oberflächen einer Stadt. Wien 2007 •  Torio, Herena; Schmidt, Dietrich (Hrsg.): Report ECBCS Annex 49. Low Exergy Systems for HighPerformance Buildings and Communities. Stuttgart 2011 •  Sciubba, Enrico: A Revised Calculation of the Econometric Factors α and β for the Extended Exergy Accounting Method. In: Ecological Model­ ling, Bd. 222, 2011, S. 1060–1066 •  Sciubba, Enrico; Bastianoni, Simone; Tiezzi, Enzo: Exergy and Extended Exergy Accounting of Very Large Complex Systems with an Application to the Province of Siena, Italy. In: Journal of Envi­ ronmental Management, Bd. 86, 2008, S. 372–382 •  Daxbeck, Hans et al.: Das anthropogene Lager in der Steiermark. Entwicklung eines Urban Mining Katasters. Wien 2015; www.rma.at/sites/new.rma. at/files/Projekt%20UMKAT%20-%20Endbericht%20 (Vers.%201.0a).pdf •  Braungart, Michael; McDonough, William: Cradle to Cradle. Remaking the Way We Make Things. New York 2002 •  Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Bin­ nenfischerei (IGB): Aquakultur & Aquaponik; www.igb-berlin.de/aquakultur-aquaponik •  Bundesverband Aquaponik e.V.; http://bundes­ verband-aquaponik.de/

Einen wichtigen Beitrag zum Ausgleich der schädigenden Einflüsse können Grünflächen, Fassaden- und Dachbegrünungen leisten. Sie binden das Treibhausgases CO2 , erzeugen durch höhere Verdunstungskühlung ein besseres Mikroklima und reduzieren dadurch den erhöhten Kühlbedarf in Gebäuden. Die Verwendung von Materialien mit geringer solarer Absorption reduziert den sogenannten Heat-Island-Effekt. Helle Oberflächen (Albedo, siehe S. 93) sollten den Vorzug vor dunklen Flächen erhalten, die sich stark aufheizen. Ebenso wichtig ist der Erhalt, der Schutz und die Weiterentwicklung der Vegetation zur Minimierung des Eingriffs in das Ökosystem und, damit verbunden, eine Reduzierung von Stoffströmen. Um Transporte zu vermeiden, sollten regionale Materialien bevorzugt werden, die keine weiten Wege erfordern. Hölzer und Holzprodukte aus regionaler Forstwirtschaft beispielsweise minimieren neben dem Transport auch die Lagerung.14 Grundsätzlich sollen nur zertifizierte Holzlieferanten beauftragt werden, die die geregelte, nachhaltige Bewirtschaftung des Herkunftsforsts nachweisen können. Zur Reduzierung von Stoffströmen trägt auch die Wartung relevanter Teile der Außenanlagen bei. Materialien sollten leicht ersetzbar oder austauschbar und die Anlage einfach zu bewirtschaften sein. Eine optimale Instandhaltung sorgt dafür, dass Bauteile und Materialien ihre maximal mögliche Lebensdauer erreichen und führt damit zu geringeren Lebenszykluskosten und Umwelteinwirkungen. Bereits in der Planung sollten die Demontage und der Rückbau von Anlagen bedacht werden. Es empfiehlt sich, möglichst dauerhafte Materialien mit hohem Wiederverwendungs- und Recyclingpotenzial sowie abfallarme Konstruktionen vorzusehen, die sich sortenrein zurückbauen lassen. Für die Wiederverwendung eignen sich vor allem Bodenbeläge wie Pflastersteine und Platten in ungebundener Bauweise, die sich durch Ausbau und Einbau an anderer Stelle direkt wieder einsetzen lassen (direkte Wiederverwendung). Indirekt, d. h. durch Aufbereitung (Recycling, Upcycling, Downcycling) wiederverwertbar sind z. B. Beton, Ziegel und Asphalt. Recycelte Baustoffe finden als Kiese oder Schotter vor allem im Oberbau von Platz- und Wegeflächen oder als Gesteinskörnung bei der Herstellung von Betonprodukten Anwendung. Ziegelrecyclingbaustoffe

werden beispielsweise als Pflanzsubstrat bei Dachbegrünungen eingesetzt. Bei der Verwendung von Recyclingbaustoffen ist die Umweltverträglichkeit und Zulässigkeit für die jeweilige Nutzung im Einzelfall zu prüfen. Auch weisen wiederverwertete Baustoffe unter Umständen aufgrund des Recyclingprozesses höhere Emissionen auf als Material aus der Primärherstellung.15 Die aufgeführten Maßnahmen führen direkt oder indirekt zu einer Reduzierung von Stoffströmen, indem sie Ressourcen schonen und Installationen sowie Bau- oder frühzeitige Änderungs- oder Reparaturmaßnahmen unnötig machen und den Lebenszyklus verlängern. Natürliche (Roh-)Stoffe können meist unproblematisch in Stoffkreisläufe zurückgeführt werden. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass der Dauerhaftigkeit von Materialien und Konstruktionen eine besondere Bedeutung zukommt. Langlebige Materialien müssen seltener erneuert werden, dadurch verursachen sie weniger Kosten, Energieverbrauch und Abfall und schonen gleichzeitig die Ressourcen für Neumaterialien – zudem sind langlebige Materialien zumeist pflegeleichter.  TH

Maßstabsebene Gebäude und Infrastruktur Während des gesamten Lebenszyklus eines Ge­­ bäudes oder einer Infrastruktureinrichtung wird eine Vielzahl unterschiedlicher Materialien benötigt. Um den für den Lebenszyklus notwendigen natürlichen Ressourcenverbrauch so gering wie möglich zu halten, muss der Ressourcenbegriff definiert und ein geeignetes Maß für die Quantifizierung der Ressourceneffizienz gefunden werden. Der Ressourceneinsatz lässt sich in diesem Zusammenhang in Kosten als ökonomisches Maß sowie in natürliche Ressourcen unterteilen. Natürliche Ressourcen umfassen abiotische und biotische Primärrohstoffe, Energieressourcen, Wasser, Flächen und Böden, Biodiversität sowie Ökosysteme als Senken.16 Für den Begriff Ressourceneffizienz gibt es derzeit keine allgemeingültige Definition,

113

2.4 — Ökologie

daher wird hier die Definition des Bundesumweltamts zugrunde gelegt: »Ressourceneffizienz ist das Verhältnis eines bestimmten Nutzens oder Ergebnisses zum dafür notwendigen Ressourceneinsatz.«17 Die Methoden der Ökobilanzierung (Life Cycle Assessment – LCA) und der Lebenszykluskostenrechnung (Life Cycle Costing – LCC) bieten die Möglichkeit, eine Vielzahl der genannten Aspekte zu berücksichtigen. Hierbei können sowohl die Emissionen und Auswirkungen auf die Umwelt als auch die jeweiligen Kosten über den gesamten Lebenszyklus dargestellt werden. Aufgrund der vielschichtigen Betrachtungsweise im Hinblick auf Ressourceneffizienz ist es schwierig, allgemeine Aussagen zu treffen. Dennoch sollen hier einige Möglichkeiten aufgezeigt werden, für die das Konzept der Nachhaltigkeit nach Huber18 auf die Ressourceneffizienz übertragen wurde: •• Materialeinsparung (Suffizienz): Grundsätzlich ist es sinnvoll, den Materialeinsatz am Gebäude und den Energieverbrauch während der Nutzung so gering wie möglich zu halten. Dadurch ist es möglich, sowohl natürliche Ressourcen als auch Kosten einzusparen. Zu bedenken ist allerdings, dass sich bei einem verringerten Materialeinsatz oder durch Verwendung alternativer Materialien die Ressourceneffizienz auch verschlechtern kann. Hier gilt es, nach eingehender Betrachtung abzuwägen. •• Steigerung der Effektivität von Anlagen oder des Gesamtsystems Gebäude (Effizienz): Wichtig ist, den Ressourceneinsatz über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes zu betrachten, um teilweise gegenläufige Tendenzen von Maßnahmen ganzheitlich bewerten zu können. Beispielsweise steigt bei zusätzlicher Dämmung der Außenwand zwar der Materialeinsatz und damit der Ressourcenverbrauch während der Herstellung des Gebäudes, dieser wird aber ab einem gewissen Punkt durch die Einsparungen während der Nutzungsphase kompensiert. •• Kreislaufwirtschaft und Ersatz nicht regenerativer durch regenerative Ressourcen (Konsistenz): Der Ersatz von nicht erneuerbaren durch erneuerbare Ressourcen kann zu einer erhöhten Ressourceneffizienz führen, erreicht diese aber nicht zwingend. Beispielsweise kann die Effizienz bestehender Heizsysteme

durch die Umstellung auf erneuerbare Energien sinken und muss durch einen erhöhten Bedarf wieder gesteigert werden. Daher ist es nötig, diese Zusammenhänge von Fall zu Fall detailliert zu betrachten und abzuwägen. Entscheidend bei der Betrachtung von Stoffströmen und Ressourceneffizienz ist, dass nicht nur ein Bereich der Nachhaltigkeit optimiert, sondern ein ganzheitlicher Verbesserungsansatz angestrebt wird. Wie erläutert wurde, sind eine Vielzahl von Einzelfaktoren relevant, die in einen größeren Zusammenhang einzuordnen sind, um ganzheitlich bewertet und interpretiert werden zu können.

Ausblick Zukünftig wird der Betrachtung von Stoffströmen mehr Bedeutung zukommen, da hier ein sehr großes Optimierungspotenzial in der Stadtplanung vorhanden ist. Insbesondere in Anbetracht der Kostensteigerungen und der sinkenden Verfügbarkeit von Rohstoffen, der Rohstoffsicherheit und der Auswirkungen auf die Umwelt spielen Maßnahmen und Technologien eine immer größere Rolle, die den Materialbedarf reduzieren oder die Rückgewinnung von Rohstoffen aus Produkten ermöglichen. Besonders der Versuch, lokale Stoffstromquellen und -senken miteinander in Einklang zu bringen, wird zunehmend im Fokus von Stadt- bzw. Quartiersplanern stehen. Neben Wasser-, Energie- und klassischen Materialkreisläufen werden neue Wertschöpfungsketten wie Urban Mining und Urban Farming an Bedeutung gewinnen. Nur so können unnötige Verluste vermieden und der Ressourcenverbrauch reduziert werden. Für die Planung eines Stadtquartiers oder Ge­­ bäudes wird es demnach immer wichtiger, früh­ zeitig ein integrales Planungsteam zusammen­ zustellen, da Aspekte wie die richtige Material­ auswahl oder die Abstimmung der verschiedenen Gewerke einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Denn gerade in der Planungsphase sind die Stoffströme, die in der Herstellungsund Nutzungsphase anfallen, am besten zu be­­ einflussen.  JBÖ, JG, BW

18  Huber 1995

114

Kapitel 2 — Herausforderungen

Herausforderung Mobilität und Verkehr Jürgen Laukemper, Antonel la Sgobba

B

esonders in Städten sind die vom Straßenverkehr verursachten, auf Mensch und Umwelt negativ wirkenden Effekte spürbar. Zunehmende Urbanisierung, die Knappheit der Ressourcen und die negativen Auswirkungen des Klimawandels stellen die urbane Mobilität vor neue Herausforderungen. Gleichzeitig sind neben der Notwendigkeit, Verkehrsemissionen (Lärm, CO2, Luftschadstoffe etc.) zu vermeiden, den Ressourcenverbrauch des Verkehrssektors (Energie, Fläche etc.) zu senken und die Sicherheitsbedingungen zu verbessern, die individuellen und allgemeinen steigenden Mobilitätsansprüche zu berücksichtigen. Denn mobil zu sein, ist ein Grundbedürfnis geworden. In diesem Kapitel wird zwischen den Begriffen »Verkehr« und »Mobilität« unterschieden, dabei steht »Verkehr« für den Transport von Waren und Menschen bzw. messbarer Mobilität, während »Mobilität« das moderne Bedürfnis nach Beweglichkeit und das Potenzial zur Fortbewegung bezeichnet.

Entwicklung der Mobilität 1 Europäische Kommission 2011 2 Europäisches Parlament 2008 3 BMVBS 2009; vgl. NEP http://nationale-plattformelektromobilitaet.de

Mobilität gehört zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen, da die Suche nach besseren Lebensbedingungen die Menschen seit jeher zu Ortswechseln bewogen hat. Als Menschen sesshaft wurden, stieg der Bedarf, Waren, Menschen und Informationen zu transportieren. Die ursprünglichen Formen der Logistik und des Verkehrs waren überwiegend durch Muskelkraft bestimmt. Mit der industriellen Revolution änderten sich

durch die Einführung der Dampfmaschine sowie der Elektrifizierung und später durch die Erfindung des Verbrennungsmotors die Rahmenbedingungen grundlegend. Die Eisenbahn und dann das Automobil als Fortbewegungsmittel zu Lande und die Dampfschifffahrt zu Wasser ermöglichten es, den Raum in bis dato unbekanntem Maße zu »komprimieren« und die individuelle Mobilität freier zu gestalten. Parallel schuf die Verbesserung der Verkehrsverbindungen neue Stadthierarchien. Mit der Erfindung des Flugzeugs und den immer dichter werdenden Fluglinien und -netzen wiederholte sich dieser Vorgang im globalen Maßstab. Bis in die 1950er-Jahre war das Straßenbild der europäischen Städte von Fahrrädern, Bussen und Straßenbahnen dominiert. Durch die massenhafte Verbreitung des Automobils änderte sich auch das Bild der Stadt. Das steigende Umweltbewusstsein, teilweise ausgelöst von der ersten und zweiten Ölkrise in den 1970er-Jahren, führte zu ersten Widerständen und Initiativen für die »Rettung« der europäischen Städte. Die Zuspitzung der Probleme erfordert eine neue Kultur der urbanen Mobilität. 2011 verabschiedete die Europäische Kommission das »Weißbuch Verkehr« als Fahrplan zu einer wettbewerbsorientierten und nachhaltigen Mobilität. Dabei wurden zehn Orientierungswerte und die Absicht formuliert, die CO2-Emissionen gegenüber dem Stand von 1990 bis zum Jahr 2050 um 60 % zu reduzieren.1 Bereits 2008 hatte das Europäische Parlament das EU-Klimapaket erlassen, mit dem Ziel, »bis zum Jahr 2020 den Ausstoß von Treibhausgasen in der Europäischen Union um 20 % zu reduzieren, den Anteil erneuerbarer Energiequellen auf 20 % zu steigern und die Energieeffizienz um 20 % zu erhöhen«.2 Um diese Ziele zu erreichen, hat die deutsche Bundesregierung ihrerseits einen Förderplan für die Elektromobilität verabschiedet.3 Die Optimierung und Verbesserung der auf Verbrennungsmotoren basierenden Fahrzeugtechnik

115

2.4 — Ökologie

1,1% Mineralölprodukte Gase Strom (inklusive erneuerbare Energien) Fernwärme erneuerbare Wärme Stein- und Braunkohle Biokraftstoffe Sonstige

8,2 %

13,3%

4,5 %

19,4 %

7,0%

20,3 %

19,3% Haushalte 26,2 %

39,9 % 4,3% 6,7%

GHD 16 ,2 %

2,9% 17,0 %

Industrie 28,2 %

30,4 %

36,3 %

0,3 %

Verkehr 29 , 5 %

1,5 % 4,0 %

2,4 % 31,6% 35,0 %

Gesamt 2542 Terrawattstunden (TWh)

Abb. 1

hat bereits zur Senkung des Energieverbrauchs und der Emissionen beigetragen. Ziel ist es, ab 2020 durchschnittlich maximale Emissionen in Höhe von 95 g/km zuzulassen.4 Trotz technischer Fortschritte sind weitere Anstrengungen notwendig. Der Anteil des Verkehrs am Endenergieverbrauch lag 2011 bei 29 %, größtenteils durch den Straßenverkehr verursacht.5 Im Jahr 2016 lag der Endenergieverbrach im Verkehrssektor bei 29,5 %, mit einem Kraftstoffeinsatz von über 90 % aus Mineralöl (Abb. 1).6 Sich von den fossilen Energien unabhängig zu machen, bleibt eine Herausforderung für den Verkehrssektor. Ein Umsteigen auf umweltverträgliche Verkehrsmittel und eine bessere Auslastung der Verkehrsträger kann einen sehr wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten, auch wenn die Ansprüche und der Bedarf nach individueller Mobilität immer noch sehr hoch sind. Dies belegt die Pkw-Dichte, die in Deutschland im Jahr 2011 bei 525 Pkw/1000 Einwohner lag7 und bis 2017 auf 548 Pkw/1000 Einwohner gestiegen ist8. Der Verkehrsaufwand des motorisierten Individualverkehrs (MIV), nahm mit fast 900 Milliarden Personenkilometer (Pkm) im Jahr 2009 mit einem Anteil von 75,8 % den ersten Platz im Modal Split

(Aufteilung des Verkehrsaufkommens auf unterschiedliche Transportmittel) ein.9 Die meisten Personenkilometer wurden mit 35 % (2009) im Freizeitbereich zurückgelegt, weitere verkehrsintensive Bereiche waren Beruf (18 %) und Einkauf (16 %).10 Ein weiterer nennenswerter und ressourcenintensiver Aspekt sind Verkehrsflächen, die jedoch nur während geringer Zeitintervalle (Hauptverkehrszeiten) ausgeschöpft werden (Abb. 5, S. 116). Gerade in den Städten führt der Flächenanspruch für fließenden und ruhenden Verkehr zu Konflikten und Platznot. Der tägliche Flächenverbrauch für Verkehr lag im Jahr 2010 bei 21 von insgesamt 77 ha/Tag. Bis 2020 soll nun aber, so das erklärte Ziel der Bundesregierung, der gesamte tägliche Flächenverbrauch für Siedlung und Verkehr auf 30 ha/Tag gesenkt werden.11 Neben Emissionen und Platzproblemen ist der sehr hohe Anteil des MIV in Städten für Staus verantwortlich. Werden sich bis 2050 die im urbanen Umfeld zurückgelegten Kilometer, die aktuell bei 60 % der gesamten gefahrenen Kilometer liegen, verdreifachen, so wird entsprechend auch die Zeit, die man im Stau verliert, bis auf 106 Stunden pro Person und Jahr steigen.12  AS

94,2 %

Abb. 1  Endenergieverbrauch 2016 nach Sektoren und Energieträgern

 4 UBA 2012, S. 41; vgl. Verordnung (EG) Nr. 443/20095   5 UBA 2011  6 UBA 2018 (www.umweltbundesamt. de/daten/energie/energieverbrauch-nach-energietraegern-sektoren)  7  VDA 2011  8 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 04.07.2017  9  UBA 2012 10 ebd. 11 ebd. 12  Arthur D. Little 2011

116

[m/Person und Tag]

Kapitel 2 — Herausforderungen

Abb. 2  Zunahme der Mobi­ lität und Aufteilung auf die Verkehrsmittel am Beispiel Frankreich Abb. 3  Verkehrsaufwand inklusive Fuß- und Rad­ verkehr zwischen 2002 und 2009 in Deutschland [in Milliarden Personen­ kilometer] Abb. 4  Problem der ungleichmäßigen Auslastung der Verkehrsinfrastruktur – Tageslinie nach Wegezweck für die Stadt Braunschweig Abb. 5  Wechselwirkungen zwischen individuellen Bedürfnissen und dem ­Verkehrsaufwand

TGV

100 000

alle Fortbewegungsarten Pferde

Zweiräder Busse und Autos

10 000

1000

100

10

1800

1850

1900

1950

•  BMVI (Hrsg.): Verkehr in Zahlen 2017/2018. Hamburg 2017 •  Infas; DLR: Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008). Bonn/Berlin 2010 •  Kuhnert, Nikolaus; Ngo, Auh-Linh: Post-Oil City. Die Geschichte der Stadt der Zukunft. In: ARCH+ 196–197/2010

Arbeit

Verkehr

Bildung

Abb. 5

750 600 450 300

80

150

40

0

0 2002

2005

2008

private Erledigung dienstliche Erledigung Einkauf

350000

1990 Jahr

Ausbildung Freizeit Beruf/Arbeit

300000 250000 200000 150000 100000 50000 0

2009

0 2

4

6

8 10 12 14 16 18 20 22 Uhrzeit

Abb. 3

Abb. 4

Folgen des Mobilitätsbedürfnisses

Mobilitätsverhaltens hat bereits eingesetzt. Mobilitätsfreiheit manifestiert sich nicht mehr ausschließlich darin, mit einem eigenen Fahrzeug jederzeit jeden Punkt erreichen zu können. Das Mobilitätsbedürfnis wird immer mehr und mit unterschiedlichsten Mitteln befriedigt. Bei der Auswahl werden eine Vielzahl von Faktoren wie Bequemlichkeit, Verfügbarkeit, Kosten, aber auch Umweltauswirkungen berücksichtigt. Diese Verhaltensänderungen bieten hervorragende Chancen, eine nachhaltige Verkehrsentwicklung und nachhaltige Stadtplanung voranzutreiben, indem verträgliche Transportketten angeboten und vor allem umweltfreundliche und nachhaltige Verkehrsmittel gefördert werden.  JL

Die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen werden durch ökologisch negative Auswirkungen erkauft. Die Herausforderung für die Zukunft wird es sein, eine Balance zu finden zwischen diesem Bedürfnis, den sozialen Belangen der Menschen sowie einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Der Einkaufen Verkehr generiert einen hohen Anteil der messbaren Umweltauswirkungen (Lärm, Luftverschmutzung mit Feinstaub, CO2 und Stickoxiden). Mobilität – Möglichkeit, Ziele erreichen zu können Eine gesellschaftliche Wandlung hinsichtlich des

Ergebnis der physischen Ortsänderung von Personen und Gütern

Erholung

Luftverkehr Fußgänger Fahrradverkehr

[Mrd. Pkm]

Weitere Informationen

900

MIV ÖPNV Schienenverkehr

Werktagsverkehr Di bis Do

[Mrd. Pkm]

Abb. 2

Wohnen

Schiffe Flugzeuge

117

2.4 — Ökologie

Handlungsfeld Mobilität und Verkehr Jü r gen Laukemp er, Antonel la Sgobba

E

in wichtiges Ziel nachhaltiger Planung ist es, Mobilität von den fossilen Energien unabhängig zu machen. Gleichzeitig ist im Zeitalter der Informationstechnologie und der Globalisierung vernetzt zu sein zu einem »Grundbedürfnis« geworden. Dies wird nicht nur durch das Internet befriedigt, sondern auch durch ein immer effizienteres In­­ frastrukturnetzwerk, in dem Fern- und Nahverkehr eng miteinander verbunden sind. Und so gilt diese Verknüpfung heute als Standortvorteil für Städte, die im Wettbewerb bestehen sowie global und lokal präsent sein möchten. Die Stadt ist ein enges Geflecht von Wegen, Straßen, Achsen, Plätzen – und auch von digitalen Infrastrukturen. Die Welt steht heute vor einem epochalen Paradigmenwechsel, der eine fachübergreifende Diskussion auf allen Ebenen (sozial, politisch, technologisch und ökologisch) und die Mitwirkung aller Teil­haber am Prozess für die Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität fordert – von Verwaltungen, Stadtplanern und Politikern über Infrastrukturdienstleister, Energieanbieter, Finanzinstitute und Automobilhersteller bis hin zu den Stadtbewohnern. Die Zukunft der urbanen Mobilität wird in der Vernetzung, der Integration vielfältiger Angebote, der Entwicklung emissionsarmer und energiesparender Lösungen sowie in einer anpassungsfähigen und flexiblen Verkehrsinfrastruktur liegen.

Verkehrs­ minimierung In vielen Städten und in den Fachkreisen hat sich die Umorientierung von der autogerechten zur

umweltgerechten Stadt und nachhaltigen Mobilität längst vollzogen (Abb. 1, S. 118).

Planerische und gestalterische Maßnahmen Städte bemühen sich, durch planerische und gestalterische Maßnahmen die negativen Effekte des Verkehrs zu minimieren oder zu vermeiden und zugleich die Mobilität aller Bewohner zu ge­­ währleisten und zu verbessern sowie die Versorgung der Stadt zu sichern. Dabei kommen unterschiedliche Lösungsansätze zum Einsatz, die sich auf neue Leitbilder stützen: die kompakte Stadt, die Stadt der kurzen Wege, die gemischte Stadt.1 Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft in den hoch entwickelten Ländern ermöglicht es, Funktionen, die in der Moderne getrennt waren, erneut zu bündeln. Zwischen Wohnen und Arbeiten könnten kurze Wege geschaffen und somit die negativen Effekte der Pendlergesellschaft reduziert werden. In der Stadt zu arbeiten und auf dem Land zu leben, galt in weiten Teilen der Bevölkerung als Wunschvorstellung. Weil es in den wichtigen Zentren immer schwieriger wird, erschwinglichen Wohnraum zu finden, ist dies heute vor allem für Familien eine Notwendigkeit. Dies erzeugt jedoch noch mehr Verkehr. Eine Verdichtung der Stadt als Gegenentwurf zur Suburbanisierung kann den Pendelverkehr hingegen deutlich senken. Der Modal Split des Personenverkehrs, also die Verteilung des Verkehrsaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel, zeigt, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) in Kernstädten niedriger ist als in verdichteten oder ländlichen Kreisen (Abb. 2, S. 118).2 Hinzu kommt, dass der MIV-Anteil vom Stadtzentrum zum Stadtrand zunimmt (Abb. 3, S. 118).3 Auch der Motorisierungsgrad hängt von der Einwohnerdichte ab. In Städten mit mehr als einer

1  Speer 2011 2  SRU 2012 3  Difu 03/2011

118

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Verkehrserzeugung

Verkehrsverteilung

Verkehrsmittelwahl

Verkehrsumlegung

Verkehrsmittel?

Route?

A B C Aktivitätsbedürfnis

Ziel?

Modelle Daten

Raumstruktur

ungerichtete Verkehrsnachfrage

gerichtete Verkehrsnachfrage

Verkehr vermeiden

Modal Split Verkehr verlagern

Verkehrsstärken Verkehr verträglich gestalten

Abb. 1

[%] [%]

4  Stockburger 2012 5  Stadt Freiburg 2008 6 Breitinger 2012, vgl. UBA 2016 7 Frey 2011; https://freiburg-vauban.de/verkehr/ 8 RASt06 – Richtlinien für die Anlage von Stadt­ straßen

100 90 100 80 90 70 80 60 70

34% 9%

37%

32% 6%

33% 5%

15%

6%

5%

50 60

9%

40 50 30 40

57%

48%

62%

62%

57%

48%

62%

62%

20 30 10 20

0 10 0 Abb. 1002

[%] [%]

ÖPNV nicht motorisierter motorisierter Individualverkehr ÖPNV nicht motorisierter Individualverkehr (Fußgänger, Radfahrer) motorisierter Individualverkehr Individualverkehr (Fußgänger, Radfahrer) 34% 37% 32% 33%

90 100 80 90 70 80 60 70

gesamt gesamt

15%

Kern- verdichtete ländliche städte Kreise Kreise Kern- verdichtete ländliche städte Kreise Kreise

51%

45%

34%

27%

51%

45%

34%

27% 13%

22%

13%

50 60

26%

22%

40 50 30 40

23%

20 30 10 20

26%

29%

44%

60%

26% Innenstadt Innenstadt

29% InnenstadtInnenrand stadtrand

44% Stadtrand Stadtrand

60% EingemeinEindung gemeindung

0 10 0

Abb. 3

26%

23%

Million Einwohner liegt die Pkw-Dichte bei 322 Pkws/1000 Einwohner, während Städte mit weniger als 500 000 Einwohnern einen Motorisierungsgrad von 498 Pkws/1000 Einwohner aufweisen.4 Den Anteil des MIV im Modal Split zu senken, ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. Die umwelt- und fahrradfreundliche Stadt Freiburg möchte bis 2020 in der Innenstadt eine Senkung des MIV-Anteils auf bis zu 28 % zugunsten des Umweltverbunds (Fuß-/Radverkehr und ÖPNV) erreichen. Dafür wurden im Verkehrsentwicklungsplan (VEP) 2020 konkrete Maßnahmen formuliert, die vom Ausbau des ÖPNV und der Radwege über Verkehrsberuhigung und Bündelung des Verkehrs bis hin zu Parkraumbewirtschaftung reichen.5 In Freiburg wurden 500 km Radwege gebaut sowie eine Fahrradstation am Hauptbahnhof mit Stellplätzen für rund 1000 Fahrräder, Fahrradverleih und Reparaturwerkstatt eingerichtet. Des Weiteren hat die Stadt bereits 1991 eine Umweltschutzkarte eingeführt, RegioKarte genannt, die alle ÖPNVVerkehrsmittel in einem Tarif vereint. Sind Geschwindigkeitsbeschränkungen für Wohngebiete weitgehend akzeptiert und angenommen, so wird der Vorschlag, Tempo-30-Zonen in der Stadt flächendeckend umzusetzen, kontrovers diskutiert. Befürworter heben Sicherheitsargumente sowie die Senkung der Lärmemissionen hervor, Gegner betonen indessen, dass die Verlangsamung des städtischen Verkehrs zu Eng­pässen und Staus führen und Ausweichverkehr erzeugen würde.6 Fällt die Priorisierung im Verkehrsnetz weg, indem z. B. überall gleiche Ge­­schwindigkeiten erlaubt sind, ist wieder mit einer vermehrten Belastung der Wohngebiete zu rechnen, da vorwiegend der schnellste Weg gewählt wird. Auch ein Verbot des Pkw-Verkehrs würde nur in Wohn- und Mischgebieten auf Quartiers­ebene funktionieren. Dies wurde im Rahmen von autoarmen bzw. autofreien Mobilitätskonzepten untersucht und umgesetzt.

Als Beispiel gilt das Vauban-Viertel in Freiburg, in dem das Konzept des weitgehend autofreien Wohnens als flexibles und gemischtes Modell aus stellplatzfreiem und autofreiem Wohnen umgesetzt wurde. Die Haushalte, die sich per Vertrag verpflichten, ohne Auto zu leben, können inzwischen auf alternative Mobilitätsangebote (ÖPNV und Carsharing) zurückgreifen. Für die stellplatzfreien Haushalte entstanden Sammelgaragen am Rand des Quartiers. Das Viertel ist nicht komplett verkehrsfrei, sondern zum großen Teil verkehrsberuhigt. Durch dieses Verkehrskonzept und das Leitbild der Stadt der kurzen Wege ließ sich die Aufenthalts- und Umweltqualität erheblich verbessern. Aktuell gilt das Vauban-Viertel als einer der kinderreichsten Bezirke Freiburgs, aber auch dort werden die Menschen älter und somit oftmals auf ein Auto angewiesen sein. Inwiefern das Konzept des Vauban-Viertels flexibel genug ist, um sich an den demografischen Wandel anzupassen, wird sich zeigen.7 Eine umweltgerechte Orientierung in der Verkehrsplanung drückt sich in den »Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen« (RASt06) von 2006 aus. Dieses Regelwerk legt »eine ausgewogene Berücksichtigung aller Nutzungsansprüche an den Straßenraum« unter Rücksichtnahme auf städtebauliche und verkehrstechnische Merkmale sowie gestalterische und ökologische Belange fest. Nicht allein die Verkehrsmenge bestimmt den Straßenquerschnitt. Ziel ist auch seine Aufenthaltsqualität, ein ausgeglichenes Verhältnis des Verkehrsraums und des Raums für Fußgänger, Radfahrer sowie für die Erdgeschossnutzungen der flankierenden Gebäude. So soll die Fahrbahnbreite 40 % und die Seitenraumbreite jeweils 30 % des Raums in Anspruch nehmen.8 Die Verringerung der Verkehrsdichte und des Parkraumbedarfs in der Innenstadt wird durch die Einrichtung von Park-and-Ride-Flächen (P+R) am Stadtrand angestrebt. Die strategische Posi-

119

2.4 — Ökologie

Abb. 1  Prinzipien nachhal­ tiger Mobilität: vermeiden, ­verlagern und verträgliches Gestalten von Verkehr; dar­ gestellt anhand des sogenannten Vier-Stufen-Algorithmus der Verkehrsprognose Abb. 2  Modal Split des Per­ sonenverkehrsaufkommens nach Kreistypen Abb. 3  Modal Split in ­Abhängigkeit von der innerstädtischen Lage (SrV 2008) Abb. 4  Einführung einer Tramlinie in den beste­henden Straßenraum, Straßburg (FR) Abb. 4

tionierung dieser Parkflächen entlang der wichtigsten Zufahrtsstraßen und an den Schnittstellen mit ÖPNV-Haltestellen könnte zusammen mit weiteren Maßnahmen wie einem alternativen Mobilitätsangebot, teureren Parkgebühren für Dauerparken in der Stadt oder einer Citymaut den Parkraumbedarf in der Stadt um 80 % senken.9 Ein Verbot von Autoverkehr in den Innenstädten könnte zu einer Verschiebung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen in andere Bereiche beitragen (Besorgungen im Einkaufszentrum auf der ­»grünen Wiese«, Verlagerung von Betrieben und Dienstleistern, die oft auf ein Auto angewiesen sind). Ein stadtübergreifendes Parkplatzmanagement hingegen könnte die Auslastung von Parkplätzen optimieren und sie abends als Dauerparkplätze für Einwohner anbieten, während sie tagsüber von den Beschäftigten genutzt werden. Auch Quartiersgaragen weisen einen ­potenziellen hohen Nutzungsgrad auf, da sie die unterschiedlichen Schwankungen während des Tages, der Woche und des Jahres berücksichtigen ­können. Die Minimierung des städtischen Autoverkehrs hat weitere positive Rückkopplungseffekte (sinkende Emissionen, steigende Wohnqualität), die Städte attraktiver machen. Der Rückbau des Verkehrs und die Wiedereroberung des öffentlichen Raums wurden bereits in vielen europäischen Städten in Angriff genommen.

freundlichsten Städte überhaupt. Im Jahr 2016 fuhren 41 % der Pendler mit dem Fahrrad. Politisches Ziel ist es, bis 2025 den Anteil an zurückgelegten Fahrradwegen zur Arbeit und Schule auf 50 % zu steigern.11 Weitere Städte haben ähnliche Wege eingeschlagen. Unter dem Motto der »mobilité durable« verfolgt Straßburg seit den 1990er-Jahren eine Strategie, die auf nachhaltige Mobilität und Aufwertung des öffentlichen Raums setzt. Die Stadt hat 1994 in der Innenstadt die Straßenbahn wieder eingeführt (Abb. 4) und eine ehemalige Hauptverkehrsstraße im Stadtzentrum zurückgebaut. Bei den Haltestellen und der Integration der Tramlinie in den öffentlichen Raum wurde sehr viel Wert auf die Qualität von Materialien und Design gelegt. Die sechs Tramlinien auf aktuell 55,5 km oberirdischen Trassen und die 560 km Radwege sowie seit 2010 das Bikesharing »Velhop« mit 4400 Fahrrädern sind nur einige der Maßnahmen. Unter dem Motto »Strasbourg, une ville en marche« strebt die Stadt bis 2020 eine weitere Förderung der Mobilität zu Fuß für Strecken unter 1 km an. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Gestaltung des Straßenraums weiterhin ein wichtiger Aspekt bleiben, um die zu Fuß zurückzulegenden Wege sicherer und attraktiver zu machen.12

Der dänische Architekt Jan Gehl plädiert dafür, die Stadt von Autos zu befreien und dadurch die öffentlichen Räume als Orte des sozialen Lebens zurückzuerobern. In Kopenhagen wurden in den letzten 50 Jahren viele Straßen und Plätze des Stadtzentrums zu Fußgängerzonen umgestaltet. Zwischen 1962 und 2000 vergrößerte sich die Fläche der verkehrsberuhigten Bereiche und Fußgängerzonen von 15 800 m2 auf fast 100 000 m2.10 Darüber hinaus ist Kopenhagen eine der fahrrad-

»Shared Spaces« ist inzwischen zum feststehenden Begriff geworden, der eine Begegnungszone in innerstädtischen Bereichen beschreibt, für die besondere Regeln gelten. Diese unterscheiden sich etwas von den in der deutschen Straßenverkehrsverordnung (StVO) verankerten Bestimmungen für Fußgängerzonen oder verkehrsberuhigte Bereiche. In Begegnungszonen gilt die Gleichberechtigung aller Verkehrsarten. Der Verkehr soll sich selbst regulieren, ohne Verkehrsschilder und Differen-

Verkehrsmischung

 9  Meyer 2013, S. 129 10  Gehl/Gemzøe 2006 11 City of Copenhagen 2017 12  Ville de Strasbourg 2011

120

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Abb. 5 Abb. 5  Shared Space, ­Exhibition Road, London (GB) Abb. 6  sinkender Energieverbrauch des Verkehrs durch Einsatz von Elektrofahrzeugen. Diese brauchen, wenn sie mit regenerativ erzeugtem Strom betrieben werden, nur ca. ein Viertel der Energie von Benzin- und Dieselfahrzeugen.

13  Schabel 2012

zierung der Fahrspuren, die Geschwindigkeit für Fahrzeuge wird beschränkt. Einzig ein Blindenleitsystem gibt Wege für diese Gruppe von Verkehrsteilnehmern vor. Obwohl die Aufwertung der Aufenthaltsfunktion im Vordergrund steht, werden einige Aspekte kritisch gesehen. Die Lösungsansätze eignen sich nur für ein niedriges Verkehrsaufkommen in kleinen Gemeinden oder in überschaubaren innerstädtischen Bereichen. Positiv zu sehen ist hier die flexiblere Nutzung und Teilung eines Straßenraums. Die Urbanisierung fordert eine höhere Gebrauchsfähigkeit des öffentlichen Raums, da immer mehr Menschen diesen Raum mit immer unterschiedlicheren Verkehrsmitteln in Anspruch nehmen. Das Konzept des Shared Space ist nicht neu, insbesondere wenn man an die historische Stadt denkt. In London deklarierte die Stadt im Zuge der Olympischen Spiele 2012 die innerstädtische Achse der Museumsmeile, die Exhibition Road, zum Shared Space. Der Straßenraum wurde neu gestaltet und den Fußgängern und Touristen, denen zuvor nur ein Drittel der Straße zur Verfügung stand, eine größere Wichtigkeit zugesprochen. Der Architekt Dixon Jones entwarf ein Karomuster für den Bodenbelag, das der Längsrichtung der Straße zu widersprechen scheint, es richtet sich am ­Bewegungsmuster der Fußgänger aus und ­behandelt den Straßenraum als großen Innenraum (Abb. 5).13  AS

Flexiblere Nutzung des ­Verkehrsraums Ein wesentlicher Faktor für Nachhaltigkeit ist die Minimierung sowie die optimale Nutzung der vorhandenen Verkehrsfläche. Bei neuen Erschließun­ gen empfiehlt es sich, den Ausbau zuerst auf die kurz- bis mittelfristigen Bedürfnisse auszulegen, den Raum jedoch so zu gestalten, dass er sich bei Bedarf später sowohl für den Individualverkehr als auch für den öffentlichen Verkehr problemlos erweitern, anpassen oder umnutzen lässt. So macht Schienenpersonennahverkehr (SPNV) erst ab einer bestimmten Verkehrsmenge Sinn, wobei dann der Modal Split hin zum ÖPNV erheblich steigt. Das Beispiel Kopenhagen zeigt die Notwendigkeit, Fahrspuren zu Radverkehrsflächen umzuwidmen. Diese Möglichkeit zur Veränderung sollte heute bei einer Planung bereits berücksichtigt werden. Ebenso lässt sich im Bereich des ruhenden Verkehrs der Bedarf an Verkehrsflächen reduzieren. Viele private Garagen werden heute nicht mehr in ihrem ursprünglichen Sinn genutzt, sondern dienen als zusätzlicher Lagerraum – die Fahrzeuge stehen dann oft im öffentlichen Raum. Eine Reduzierung lässt sich durch gemeinsame Nutzung von Parkplätzen für Anwohner und Dienstleistungen bzw. Büros erreichen, wobei die gleichzeitige Anwesenheit der Bewohner zu berücksichtigen ist. Während beim Wohnraum ein Parkraumbedarf

121

Benzin- und Dieselfahrzeuge

45

Elektromobile

Energieverbrauch

40

100

35 30

80

25

60

20 15

40

10

20

5 0

Energieverbrauch [%]

Anzahl Fahrzeuge [Mio.]

2.4 — Ökologie

2005

2010

2015

2020

2025

2030

2035

2040

2045

2050

2055

0

Abb. 6

hauptsächlich nachts und am Wochenende besteht, ist dies für Büros tagsüber an Werktagen der Fall. Bei solchen Modellen ist sicherzustellen, dass immer ein Mindestmaß an Parkraum für die Bewohner reserviert bleibt, sodass ihnen jederzeit Parkplätze zur Verfügung stehen.  JL

Technische Innovationen und Lösungsansätze Technische Innovationen können zur Reduzierung der negativen Effekte des Verkehrs beitragen (Verringerung der Emissionen und die Gefahr von Sach- und Personenschäden durch Unfälle). Pa­­ rallel beeinflussen und beschleunigen die technische Entwicklung, die Informationstechnologie und der gesellschaftliche Wandel die Entstehung neuer Mobilitätskonzepte. Innovative Lösungsansätze für die urbane Mobilität gibt es bereits, deren Einfluss auf die Stadt und das Quartier ist allerdings noch nicht vollständig erforscht.

Entwicklung der Fahrzeugtechnik Entwicklungen der Kraftfahrzeugtechnik ermöglichen Mobilität bei geringerem Kraftstoffverbrauch und Emissionen. Der »Dieselskandal« und falsche Verbrauchsangaben haben allerdings das Vertrauen in die Ingenieure und Führungskräfte der Automobilkonzerne stark eingeschränkt. Gesetzliche Steuerungsmaßnahmen zur Emissionsbegrenzung und deren strenge Überwachung werden unumgänglich sein.

Verschärfte Vorschriften beschleunigen in der Regel technische Entwicklungen, z. B. die Lärmreduzierung von Fahrzeugen durch leisere Motoren oder Reifen. Eine noch stärkere Senkung lässt sich durch niedrigere Geschwindigkeiten und andere Antriebstechniken, wie beispielsweise Elektromotoren, erreichen. Die Geräuschemissionen können bei einer Geschwindigkeit von bis zu 40 km/h so stark abnehmen, dass dies teilweise bereits als Gefahr z. B. für Fußgänger gesehen wird, solange nicht der Gesamtpegel stark reduziert wird. Bei der Verwendung von erneuerbarer Energie lassen sich die Emissionen beim Fahren auf null reduzieren. Wesentlicher Nachteil ist heute jedoch die eingeschränkte Verfügbarkeit der Fahrzeuge, einerseits durch die erforderlichen langen Aufladezeiten, andererseits durch die geringe Reichweite. In absehbarer Zukunft wird der angepasste Einsatz daher vor allem im Stadtverkehr entscheidend für die Verbreitung von Elektrofahrzeugen sein. Die zurückgelegten Entfernungen sind hier meist kurz und der Handlungsspielraum lässt sich mithilfe von Auftankstationen im Straßen- und Parkierungsraum oder Batteriewechselsystemen erweitern. Stadträumlich ist die Integration der Infrastruktur zum Aufladen der Fahrzeuge eine wichtige Gestaltungsaufgabe, da die Ladeeinrichtungen, z. B. Säulen, auch andere Funktionen wie Beleuchtung, Verkehrsinfos, Zahlung der Parkgebühren etc. übernehmen könnten. Sind die Ladestellen an nutzungsintensiven Punkten in der Stadt angeordnet, kann der Autobesitzer die Ladezeit für andere Erledigungen nutzen. Ladesäulen ließen sich künftig durch im Straßenraum eingelassene Induktionsschleifen ersetzen, die durch elektromagnetische Induktion die Fahrzeuge aufladen, womit jedoch die Anforderungen an die Planung der Ver- und Entsorgungsleitungen im Straßenraum enorm erhöht würden. Die Elektromobilität macht die Zusammenhänge

122

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Carsharingzentrale

Videokonferenz Home

Social Media Pannenhilfe

Augmented Reality

Bilder

Stauwarnung

Büro

Download

Wartung

Adressbuch

Reservierung Verkehrsdaten

Freunde

Navigation

Wetter Notruf

E-Mails

Nachrichten

Musik

Kalender

Filme Landkarten

Online-Shopping

Abb. 7

14  BMVBS 2012

Abb. 8

zwischen Energie, Mobilität und Stadt bzw. Architektur noch deutlicher. Bei Neubauten ist es heute üblich, Versorgungsstationen in den Parkflächen zumindest vorzusehen. Mit Pilotprojekten wie dem Effizienzhaus Plus in Berlin wurde erfolgreich die Möglichkeit untersucht, Elektroautos in ein Gesamtenergiekonzept zu integrieren, bei dem Haus und Auto durch Solarstrom versorgt werden.14 Aufgrund der Nachteile von Elektrofahrzeugen beschäftigt sich die Industrie seit Jahrzehnten ebenfalls mit anderen Antriebsmitteln wie z. B. Wasserstoff. Auch hier ist – bei Erzeugung des Wasserstoffs durch regenerative Energie – eine Nullemission beim Fahren möglich. Vorteil ist die wesentlich größere Reichweite der Fahrzeuge, nachteilig sind derzeit noch die Kosten. In der Übergangszeit finden sich oft Mischungen der Antriebssysteme (z. B. Plug-in-Hybrid). Die Zahl der unterschiedlichen verfügbaren Antriebstechniken wird sich zukünftig erhöhen, was ein flexibleres Versorgungsnetz erfordert. Die heutige Struktur eines immer weiter ausgedünnten Tankstellennetzes wird in Zukunft durch wesentlich anpassungsfähigere und vielfältigere Versorgungssysteme ersetzt werden müssen. Außerdem wird es neben einzelnen Tankstellen weitere Versorgungssysteme geben – in den Haushalten und auf öffentlichen Flächen. Im Bereich der technischen Möglichkeiten zur Kollisionsvermeidung im Straßenverkehr wirken sich die Innovationen sehr positiv aus. Die Vermischung von sehr unterschiedlichen Verkehren wird leichter. Optische Systeme könnten beispielsweise die Verhaltensmuster anderer Verkehrsteilnehmer erkennen und entweder rechtzeitig warnen oder automatisch eine Kollision vermeiden, indem sie in das System eingreifen. Parallel erfolgt die Entwicklung von autonomem und digitalvernetzem Fahren derzeit rasant. Die bessere Befriedigung der individuellen Bedürf-

nissen (Transport von Tür zu Tür, keine Parkplatzsuche, altersgerechtes Fahren) sowie die höhere Sharing-Quote, bessere Verkehrssteuerung, der geringere Parkraumsuchverkehr sind einige der positiven Aspekte dabei. Die genauen Auswirkungen und gegensätzlichen Effekte (höhere Fahrzeugdichte, Zunahme MIV, Datenschutz etc.) werden erst erforscht.

Verkehrssteuerungen und Informationstechnologien Durch Verkehrssteuerungen lassen sich bereits heute Kapazitätserhöhungen für Straßen von ca. 10 bis 15 % erwirken, die entweder der Verflüssigung des Verkehrs und damit der Reduzierung der Abgase oder der intensiveren Auslastung eines gleich großen Straßenraums dienen. Dies bezieht sich jedoch meist auf übergeordnete Straßen. Bei einer weiteren Verbesserung von Verkehrsüberwachungssystemen wird es möglich, Bewegungsmuster in Echtzeit abzubilden, sodass durch Leittechnik im Straßenbereich oder durch mobile Informationsgeräte eine gleichmäßige Auslastung des Straßenraums möglich wird. Neben Datenschutzproblemen muss dabei auf ungewünschte Verkehrsverlagerungen z. B. in Wohnbereiche geachtet und entsprechend durch städtebauliche Maßnahmen reagiert werden. Durch die steigende Verbreitung der Informationstechnologie ist auch eine bessere Verknüpfung zwischen Individualverkehr und öffentlichem Verkehr bei P+R-Plätzen möglich. Optimierte Streckenführung, Abfrage von freiem Parkraum, Reservierung und Abrechnung können über das gleiche System erfolgen. Technisch erfordert dies die Installation einer entsprechenden Infrastruktur im Straßenraum für Detektoren zur Anzeige freier Parkplätze. Unterstützt durch IT-Technologien wäre es mög-

123

1600000

25 000 23 000 21 000

1400000 1200000

19 000 17 000 15 000

1000000

800000

13 000 11 000 9000

300000

200000

7000 5000 3000

25 000 23 000 21 000 19 000

Carsharing-Fahrzeuge

1800000

Carsharing-Fahrzeuge

Fahrberechtigte

2.4 — Ökologie

17 000 15 000 13 000 11 000 9000 7000 5000 3000

0 1000 1997 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 1000 10 11 12 13 14 15 16 17 2018 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 2018 Abb. 9

lich, die Verkehrsdaten zusammen mit anderen Informationen, z. B. zum Energieverbrauch oder Informationen zu Veranstaltungen sowie Kommunikationsmöglichkeiten wie Videokonferenzen etc. im Auto zur Verfügung zu stellen (Abb. 7).

Mikromobilität Auch bei der Mobilität im Nahbereich wirken sich Innovationen wie die elektrobetriebenen Zweisitzer verschiedener Automobilhersteller (Abb. 8) sehr positiv auf das Verkehrsverhalten aus. Elektrofahrräder machen es älteren Menschen wieder möglich, längere Strecken mit dem Fahrrad zurückzulegen oder der Arbeitsplatz ist trotz Steigungen ohne große Anstrengung erreichbar. Durch den Einsatz von Segways lassen sich größere Entfernungen in der Innenstadt bequem, platzsparend und umweltfreundlich zurücklegen. Städtebaulich bedeutet dies jedoch, dass drei Verkehrsströme mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu berücksichtigen sind: erstens Fußgänger und Segways, zweitens Radfahrer, Elektrofahrräder, Pedelecs und gedrosselte Roller sowie drittens stärker motorisierter Verkehr. Für viel befahrene Hauptstrecken sind daher getrennte Fahrbahnen notwendig.

Carsharing Das Auto wird heute nicht mehr ausschließlich als Statussymbol bzw. als ein Symbol der (Bewegungs-)Freiheit gesehen, sondern überwiegend als Transport- und Fortbewegungsmittel. Fahrzeuge müssen also nicht mehr permanent persönlich vorgehalten werden, sollten jedoch bei Bedarf kurzfristig zur Verfügung stehen (Abb. 9). Dieser gesellschaftliche Wandel hat dazu bei-

getragen, dass heute neben dem persönlichen Fahrzeugeigentum auch andere, flexiblere Modelle der Fahrzeugnutzung wie z. B. verschiedene Carsharing-Modelle akzeptiert werden. Je nach Bedarf lässt sich ein an die Bedürfnisse angepasstes Fahrzeug buchen. In Ballungszentren ist es somit einfacher möglich, für kurze Strecken z. B. auf Elektrofahrzeuge umzusteigen, für längere Strecken oder Urlaubsfahrten dagegen ein größeres Fahrzeug mit Wasserstoff- oder Verbrennungsmotor zu mieten. Nachteilig ist hier jedoch meist, dass die Fahrzeuge in der Regel wieder an den Ausgangspunkt zurückgebracht werden müssen. Optimal sind deshalb Carsharing-Modelle mit höherer Flexibilität. Über eine mobile Funkverbindung und eine App kann der Nutzer das nächste in der Umgebung befindliche Fahrzeug reservieren und am Ende der Fahrt innerhalb des Geschäftsgebiets abstellen. Die Bezahlung erfolgt ebenfalls per Smartphone, Kosten fallen nur für den Zeitraum an, in dem das Fahrzeug genutzt wird. Alle Kosten inklusive Parkgebühren sind im Grundpreis enthalten. Eine weitere Optimierung wäre erreichbar, wenn die Carsharing Anbieter sich vernetzen und Fahrzeuge gegenseitig austauschen würden. Ähnliches gilt auch für Fahrräder und Elektrofahrräder bei Bikesharing-Angeboten. Solche flexiblen Modelle ermöglichen an die jeweiligen Mobilitätsbedürfnisse angepasste Lösungen. Durch die intensivere Nutzung sowie die dadurch längeren Einsatzzeiten würden insgesamt wesentlich weniger Fahrzeuge und dadurch Parkplätze benötigt werden. Bei der städtebaulichen Entwicklung müssten allerdings für Carsharing bzw. Carpooling entsprechende Parkflächen – zusammenhängend und nur für diese Nutzung vorgesehen – an den Knotenpunkten der einzelnen Verkehrsträger eingeplant und entsprechende rechtliche Rah-

Fahrberechtigte der statio Fahrberechtigte der stationsbasierten Angebote Fahrberechtigte der frei im Fahrberechtigte der frei im Straßenraum verfügbaren Angebote verfügbaren Angebote Carsharing-Fahrzeuge st Carsharing-Fahrzeuge stationsbasiert Carsharing-Fahrzeuge fre Carsharing-Fahrzeuge frei im Straßenraum verfügbar

Abb. 7  Auto als mobile ­Kommunikationszentrale Abb. 8  Elektroroller mit ­Kabine Abb. 9  Entwicklung des Carsharings in Deutschland Abb. 10  Cabletren Bolivariano de Petare, Caracas (VE) 2013

Abb. 10

124

Kapitel 2 — Handlungsfelder

zentrale Umschlaghalle Spedition 1

Spedition 1

Spedition 2

Spedition 2 Spedition 3

Spedition 3

a

b

Abb. 11

menbedingungen geschaffen werden. Ein nutzerfreundliches Abrechnungssystem für alle Verkehrsmittel (Bahn, Nahverkehrsmittel, Leihfahrrad, Carsharing etc.) würde den Wechsel erleichtern und helfen, insgesamt die Verkehrsbelastung der Städte zu reduzieren.

Innovative Verkehrsmittel

15  Deutsche Post AG 2010

Innovative Verkehrsmittel entstehen u. a. für den innerstädtischen ÖPNV, z. B. fahrerlose, computergesteuerte Kabinen (Abb. 10, S. 123). Parallel wird intensiv an autonomen Individualfahrzeugen geforscht. Bei all den in den Medien oft diskutierten Konzepten stellt sich aus der Perspektive der Nachhaltigkeit die Frage, inwieweit Energie für den Transport sowie Stadt- und Landschaftsfläche für Verkehrstrassen eingespart werden können – oder ob nur eine neue Nachfrage mit noch höherem Ressourcenverbrauch geschaffen wird.

Citylogistik In den Innenstädten verursacht Lieferverkehr für Haushalte und Geschäfte einen wesentlichen Teil des Verkehrsaufkommens, das durch zunehmende Bestellungen über das Internet dramatisch steigt. Neue logistische Verteilsysteme, z. B. im Untergrund, könnten diese Problematik entschärfen. Die Anlieferung der Waren erfolgt an einem zentralen Punkt, die Verteilung mithilfe eines Rohrleitungs- oder unterirdischen Wegesystems (siehe Potsdamer Platz, S. 228ff.) und mit Elektrofahrzeugen, sodass die Verkehrswege an der Oberfläche nicht durch Fahrzeuge belastet werden. Die Nachrüstung mit solchen Systemen bei Stadterneuerungsmaßnahmen ist allerdings nur mit sehr hohem Aufwand möglich.

Bei einer gesamtheitlichen Citylogistik könnten alle Waren in einer zentralen Einheit (Umschlaghalle) angeliefert, auf die einzelnen Kunden umsortiert, in Spezialfahrzeuge, z. B. kleine Liefertransporter auf Elektrobasis, umgeladen und an die jeweiligen Kunden verteilt werden (Abb. 11). Die juristischen Bedingungen hierfür haben sich bisher jedoch als problematisch erwiesen. Die Deutsche Post DHL hat mit ihren in der Stadt verteilten Packstationen auf die steigende Nachfrage nach einer stets verfügbaren Selbstabholung von Paketbestellungen reagiert und gleichzeitig mehrere Tonnen von CO2 bei der Zustellung von Paketen eingespart.15 Regelungen mit festgeschriebenen Lieferzeiten nachts und in den frühen Morgenstunden können bei Benutzung von geräuscharmen E-Mobilen zu erheblichen Entlastungen in Innenstädten führen. Die sozialen Belastungen durch Nachtarbeit müssen allerdings ausgeglichen werden.

Steuerliche und rechtliche Mittel Durch steuerliche, rechtliche oder finanzielle Re­­ gelungen lässt sich das Verhalten durch Bonusoder Malus-Systeme beeinflussen. Beispiele sind die spürbare Höhe der Mineralölsteuer zur Re­­ duzierung des Individualverkehrs und/oder zur relativen Attraktivitätssteigerung der E-Mobilität sowie deutliche Preisreduzierungen bzw. höhere Subventionierungen des ÖPNV, um das Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel zu fördern. Eine City-Maut kann – je nach Modell – Verkehrsteilnehmer gänzlich von der Fahrt in die Innenstadt mit dem Pkw abhalten oder bei einem zeit-

125

2.4 — Ökologie

Abb. 11  Prinzip der City­ logistik a  ohne zentrale Umschlaghalle b  mit zentraler Umschlag­ halle Abb. 12  Vision für die Re­­ gion Boston/Washington im Jahr 2030, Höweler + Yoon Architecture (1. Preis Audi Future Award 2012) Abb. 12

lich gestaffelten Tarif die Fahrten verschieben und zur Spitzenentlastung beitragen. Es gilt jedoch zu bedenken, dass die starke Verteuerung z. B. des Pkw-Verkehrs oder Parkraums einkommensschwache Verkehrsteilnehmer verdrängen kann. Eine Maßnahme, die weniger soziale Auswirkungen hat, ist die direkte Einflussnahme auf die Fahrt mit dem Fahrzeug. Die Wahl des Verkehrsmittels hängt von Kriterien wie der Bequemlichkeit, aber auch von der Fahrdauer ab. Stadtplanerisch bereits umgesetzt wurden Beschleunigungsspuren für den Busverkehr bzw. völlig separate, abgetrennte Busspuren. Weitere Möglichkeiten sind die Bevorrechtigung des Linienverkehrs im Bereich von Signalanlagen, eine Reduzierung der erlaubten Höchstgeschwindigkeiten sowie die Einführung von Pförtnerampeln, die den Zufluss in Gebiete regeln. Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Hauptverkehrsstraßen führen jedoch häufig dazu, dass auf Wege durch Wohngebiete ausgewichen wird, da diese bei geringer Geschwindigkeitsdifferenz und kürzerer Streckenlänge schneller sind. Starke Beschränkungen können aber auch den Ausschluss ganzer Zweige oder Berufsgruppen aus den Städten zur Folge haben, die auf Fahrzeuge angewiesen sind. Eine deutliche Optimierung der Mobilität lässt sich, wie zuvor erläutert, durch die Vernetzung der einzelnen Verkehrsmittel mithilfe mobiler Informationssysteme auf Smartphones erreichen. Integrierte Info-, Buchungs- und Abrechnungssysteme ermöglichen die Wahl der günstigen Verkehrsmittel und bequemes Umsteigen. Apps für Smartphones, mit dem Ziel, die Suche nach der besten Mobilitätslösung zu ermöglichen und gleichzeitig allgemeine Informationen über die Stadt bereitzustellen, sind längst verfügbar.16 Auch im ländlichen Raum kann die Digitalisierung die Mobilität vieler Menschen erleichtern

und die Klimabilanz verbessern. So lässt sich damit beispielsweise die Mitnahme von Personen und Waren organisieren und optimieren. Pilotprojekte zum Mitfahren in privaten Fahrzeugen, Kombibusse für Personen und Waren oder On-demandÖPNV sind in Deutschland bereits Realität.17  JL

Visionen für die Stadt der Zukunft Trotz zahlreicher Lösungsansätze ist die Zukunft der Mobilität noch offen. Verschiedene Forschungsinstitute arbeiten intensiv daran, mögliche Szenarien für die Entwicklung der Mobilität im Hinblick auf die Digitalisierung der Gesellschaft und das Ziel der Dekarbonisierung zu definieren. Ist die moderne Mobilität der vergangenen Jahrzehnte mit Attributen wie schneller, öfter, weiter, mehr, bequemer, billiger und sicherer zu beschreiben,18 so wird die urbane Mobilität der Zukunft vernetzter, multimodaler, intelligenter, sauberer, leiser, raumsparender, sicherer und sozialer sein. Bei all den unterschiedlichen Visionen wird jedoch deutlich, dass nicht zuletzt aufgrund der sich immer schneller ändernden Anforderungen eine Anpassung der Verkehrsinfrastruktur erforderlich ist. Dies bedarf auch einer flexibleren Infrastrukturplanung, die Strukturen schafft, die nicht für die Ewigkeit »asphaltiert« sind, sondern sich mit vertretbaren Kosten an aktuelle Bedürfnisse und Anforderungen anpassen lassen. Dabei muss die Entwicklung von effizienteren und attraktiveren Mobilitätsschnittstellen gefördert werden, um die erfolgreiche digitale und räumliche Vernetzung unterschiedlicher Mobilitätslösungen zu gewährleisten.  AS

16 www.moovel.de; www. tripgo.com, www.qixxit. de; vgl. www.guide2wear.eu 17 www.odenwaldmobil.de, www.kombibus.de, www. door2door.io 18  Merki 2008, S. 76

Weitere ­Informationen

•  Albers, Markus: »Eines für alle«. In: Brand Eins 03/2011 •  Adler, Michael: Generation Mietwagen. Die neue Lust an einer anderen Mobilität. München 2011 •  Brake, Matthias: Mobilität im regenerativen Zeit­ alter. Was bewegt uns nach dem Öl? Hannover 2009 •  Canzler, Weert; Knie, Andreas: Die digitale Mobi­ litätsrevolution. Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten. München 2016 •  Canzler, Weert; Knie, Andreas: Einfach aufladen. Mit Elektromobilität in eine saubere Zukunft. ­München 2011 •  Heß, Anne; Polst, Svenja: Mobilität und Digitali­ sierung: vier Zukunftsszenarien. Gütersloh 2017 •  Maurer, Markus et al.: Autonomes Fahren. Tech­ nische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte. Heidelberg 2015 •  Schindler, Jörg; Held, Martin; Würdemann, Gerd: Postfossile Mobilität. Wegweiser für die Zeit nach dem Peak Oil. Bad Homburg 2009 •  Schneider, Manuel: Post-Oil City. Die Stadt von morgen. In: Politische Ökologie 124. München 2011 •  Sperling, Daniel, Gordon, Deborah: Two Billion Cars. Driving Toward Sustainability. Oxford 2010 •  Yay, Mehmet: Elektromobilität. Theoretische Grundlagen, Herausforderungen sowie Chancen und Risiken der Elektromobilität, diskutiert an den Umsetzungsmöglichkeiten in die Praxis. Frankfurt/M. 2012 •  Zierer, Maria Heide; Zierer, Klaus: Zur Zukunft der Mobilität. Eine multiperspektivische Analyse des Verkehrs zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden 2010

126

Kapitel 2 — Herausforderungen

Herausforderung Energie Gregor C . Gras s l, Olaf Hildebrandt

1  2  3  4 

Meadows 1972 Krause 1980 ebd. Enquete Kommission 1990 5  PBL 2012 6  BMU 2010; UBA 2011; UBA 2013

Schon 1972 wurden im Bericht des Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums« prognostiziert.1 1980 zeigte die Öko-Institut-Prognose »Energiewende« einen Gegenentwurf zur offiziellen Energiepolitik der damaligen Bundesregierung für eine Energieversorgung der Bundesrepublik unter vollständiger Abkehr von Kernenergie und Energie aus Erdöl auf (Abb. 1).2 Konsequente Energiesparmaßnahmen und höhere Effizienz waren in dieser Prognose die zentralen Bausteine der Umstrukturierung zu einer bedarfsorientierten, dezentralen Energiewirtschaft.3 In den 1990er-Jahren richtete sich der Fokus der Energiepolitik auf Strategien zum Klimaschutz. Auch in den Maßnahmenpaketen der EnqueteKommissionen verschiedener deutscher Bundestage spielten Strategien zur rationellen Energieverwendung eine wichtige Rolle.4 Längst sind sich die internationalen Fachleute einig: Die globalen atmosphärischen Konzentrationen der treibhauswirksamen Gase steigen als Folge menschlicher Aktivitäten, z. B. durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe und die Abholzung vieler Wälder seit dem 18. Jahrhundert deutlich. Seit 1906 kam es zu einem Anstieg der globalen bodennahen Mitteltemperatur um etwa 0,8 K. Dieser Erwärmungstrend beschleunigte sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte deutlich und liegt nun bei 0,15 K pro Dekade (Abb. 2). Die Folgen sind bekannt, z. B. das Abschmelzen der Gebirgs-, Arktis- und Antarktisgletscher und der Schneebedeckung sowie der Anstieg des Meeresspiegels. In der internationalen Klimapolitik wird als Ziel formuliert, dass die globale Mittelwerttemperatur um nicht mehr als 0,2 K pro Dekade und insgesamt um maximal 2 K gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen darf. Nur durch eine konsequente Reduzierung der Treibhausgasemissionen (THG) lassen sich die Folgen des globalen Klimawandels für den Menschen und die Ökosysteme verhindern. Es ist jedoch trotz aller Bemühungen ein

gegenläufiger Trend erkennbar: Die weltweiten CO2-Emissionen nahmen vor 2013 um ca. 2,3 % pro Jahr zu. Heute liegt der CO2-Ausstoß rund 62 % über dem von 1990. Trotz Wirtschaftswachstums steigt der Ausstoß seit 2013 weniger stark an und lag im Jahr 2016 bei rund 36 Mrd. t. Für 2017 wird mit einem Anstieg von 0,2 % gerechnet. Der Hauptemittent ist infolge des forcierten Wirtschaftswachstums und der Produktionsverlagerungen von den USA und Europa in den asiatischen Raum inzwischen China mit fast 28 %, gefolgt von den USA (rund 15 %) und der Europäischen Union (knapp 10 %). In China stiegen die durchschnittlichen Emissionen im Jahr 2016 auf 7,2 t pro Kopf (USA 17,57 t). Die Steigerung des Lebensstandards, höhere Anforderungen an Wohn- und Geschäftsgebäude sowie deren Infrastruktur und die Zunahme der Mobilität sind Kernursachen dafür, dass trotz verbesserter Effizienz und einem zunehmenden Einsatz von erneuerbaren Energien weltweit der Trend immer noch insgesamt nach oben zeigt.5 Um langfristig die Klimaschutzziele zu erreichen, müssten die zulässigen CO2-Emissionen pro Kopf bis zum Jahr 2050 auf 2,0 – 2,5 t/a gesenkt werden. Die deutsche Bundesregierung hat sich das ambitionierte Ziel gesetzt, den CO2-Ausstoß in Deutschland bis 2020 um 40 % und bis 2050 um 85 % zu senken (Abb. 4). Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromproduktion soll bis 2030 auf 50 % und bis 2050 auf 80 % steigen. Außerdem ist der Umstieg auf erneuerbare Wärmeenergie gesetzlich vorgeschrieben, und es wurden umfangreiche Maßnahmen zum Umbau der Energiewirtschaft beschlossen. Die THG würden bis 2050 von ca. 900 auf unter 200 Mio. t sinken.6 Bisher konnten in Deutschland zwischen 1990 und 2015 die CO2-Emissionen um ca. 28 % reduziert werden. Ein großer Teil davon ist auf den wirtschaftlichen Umbruch in den neuen Bundesländern zurückzuführen (»Wall-Fall-Profits«). Die Pro-Kopf-

127

Erdgas

450

Erdöl

Kohle

Wind + Wasser

Sonne

Biomasse

400

Abb. 1  Primärenergie­ bedarf und seine mögliche Deckung bis zum Jahre 2030 (ohne nicht energetischen Verbrauch), angegeben in Steinkohleeinheiten (SKE) Abb. 2  Entwicklung der Lufttemperatur zwischen 1881 und 2018 und Temperaturprognosen bis 2100 in Deutschland Abb. 3  die 20-20-20-Ziele der EU bis 2020 Abb. 4  Entwicklung der Treibhausgasemissionen (THG) zwischen 1990 und 2017 und Zielwerte für THG bis 2050 für Deutschland

300

200

100

0 1980

1990

2000

Lufttemperatur [ºC]

Abb. 1 linearer Trend

14

2010

2020

2030

Unsicherheitsbereich verschiedener Klimasimulationen (A1B-Szenario) seit 2001

Einzelwerte Mittelwert

[%]

Primärenergiebedarf [Mio. t SKE]

2.4 — Ökologie

100

-20 %

80

13 12

60

11 40

10 9

20

8

+20 %

0

7

Senkung CO2-Emissionen

6 1920

1940

1960

1980

2000

2018

2100

Emissionen lagen 2014 bei 9,3 t, gegenüber 12,9 t im Jahr 1990 und sollen bis 2050 auf 3 t pro Person und Jahr reduziert werden.

Energiegewinnung Die wichtigste Energiequelle der Erde ist die Sonne. Die heute erneuerbaren Energieformen wie Biomasse, Windenergie, Wasserenergie und langfristig auch die fossilen Brennstoffe, z. B. Kohle und Erdgas, beruhen direkt oder indirekt auf der Solarenergie. Wind, Wasser, Sonne, Erdwärme und Bioenergie stehen als Energieträger nahezu unendlich zur Verfügung. Historisch war mit Beginn der Nutzung des Feuers Holz der alleinige direkte Energieträger des Menschen. Im Laufe der Geschichte gewannen vor allem Kohle, Torf, natürliche Öle und insbesondere seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert auch Erdöl, Erdgas und elektrische Energie immer größere Bedeutung. Man unterteilt heute drei Gruppen von Energieträgern: •• Fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl und Erdgas sind in geologischer Vorzeit aus Abbauprodukten von toten Pflanzen und Tieren ent-

+20 % erneuerbare Energien im Energiemix

Abb. 3

Abb. 2

standen. Es handelt sich dabei um hochkonzentrierte, dichte Brennstoffe, die dadurch zur bevorzugten Quelle der Energieversorgung wurden. Heute werden über 85 % des weltweiten Energiebedarfs fossil gedeckt, in Deutschland sind es derzeit noch knapp 80 %. •• Nukleare Energiequellen werden zur Erzeugung von elektrischem Strom mittels Kern­ reaktionen genutzt. Weltweit liegt der Anteil der Stromproduktion aus Kernkraft bei ca. 11 %, in Deutschland waren es 2016 noch rund 7 %. •• Erneuerbare Energien sind in ihrer Nutzung im Gegensatz zu den Energieträgern Erdöl, Kohle, Erdgas und Uran klimafreundlich sowie weitgehend umwelt- und ressourcenschonend. Sie sorgen für mehr Unabhängigkeit von Energieimporten und stärken die heimische Wirtschaft. Darüber hinaus werden durch die Nutzung erneuerbarer Energien klimaschädliche Emissionen vermieden, die mit erheblichen Folgeschäden und -kosten verbunden sind. Darum ist der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht nur sinnvoll, sondern auch gesamtwirtschaftlich vorteilhaft.7 Der Anteil der erneuerbaren Energien lag in Deutschland 2015 bei insgesamt bei 13,7 % und soll bis 2020 auf 18 % ansteigen. Für die Bruttostromerzeugung belieft er sich 2015 bereits auf über 32 %.8

7  BMU 2012 Fraunhofer ISE; 8  www.energy-charts.de (Stand: 21.11.2017)

1400

THG [Mio. t CO2-Äquivalente]

1880 1900

Energieeffizienz

Energie Industrieabfälle Verkehr Haushalte Gewerbe

Landwirtschaft Abfall Emissionen Summe THG

1200

1000 800 600

400 200 0 Abb. 4

1990 2006 2017 2020 2030 2040 2050

CO2-Äquivalente [g/kWh]

128

Kapitel 2 — Herausforderungen

700 600 500

Effizienztechnologien

400 300

erneuerbare Energien

200 100

Windpark mittel

Wasser-KW groß

Photovoltaik amorph

Solaranlagen

Holz-HS-HW 1 MW mit Netz

Holz-Pellet-Heizung 10 kW

Nahwärme-Mix

Fernwärme-Mix

Elektro-WP-Wasser (Mix)

Elektro-WP-Boden (Mix)

Gas Brennwert

Erdgas

Heizöl

Stromnetz

0

Abb. 5

Abb. 5  spezifische CO2Emissionen in g/kWh Nutzenergie nach Energieträgern und Erzeugungssystemen Abb. 6  Aufteilung des ­Endenergieverbrauchs in Deutschland nach Anwendungen für das Jahr 2015 Abb. 7  sieben Stufen der urbanen Energieplanung Abb. 8  Zusammenhang ­zwischen Dichte und Ölverbrauch für den Verkehr

IKT 2%

Beleuchtung 3%

mechanische Energie 39%

Raumwärme 27%

Warmwasser 5%

Klimakälte 0% Prozesskälte 2% Abb. 6

Prozesswärme 22%

Im Bereich Wärme betrug er 13,2 % und im Bereich Mobilität 5,3 %. Abb. 5 zeigt die spezifischen CO2-Emissionen verschiedener Brennstoffe und Erzeugungssysteme. Dabei sind durch den Einsatz von Effizienztechnologien – teilweise auch in Verbindung mit Umweltenergien wie Geothermie – niedrige CO2Emissionen zu erwarten, jedoch erst der Einsatz von erneuerbaren Energieträgern bedeutet eine substanzielle Reduktion der Emissionen in der Strom- und Wärmeerzeugung. Die Umstellung der Energieversorgung auf regenerative Energien stellt die Stadtplaner vor eine große Herausforderung. Während ländliche Räume meist über genügend Platz für Solarsiedlungskonzepte, Biomasseanbau, Windkraftanlagen, Wasserkraftwerke oder Geothermieanlagen verfügen, kann im urbanen Raum meist nur ein kleiner Anteil der notwendigen Energieerzeugung lokal abgedeckt werden. Je kompakter und dichter die Stadt gebaut ist, desto höher wird der Energiebedarf und desto weniger Flächen stehen für die Energieerzeugung zur Verfügung. Die Fassaden können wegen der hohen gegenseitigen Verschattung kaum energetisch genutzt werden, die Dachflächen sind im Verhältnis zur Bruttogeschossfläche (BGF) des Gebäudes sehr klein und werden meist als Technikflächen oder Terrassen verwendet. Die wenigen verbleibenden Freiflächen dienen ausschließlich als Erholungsflächen – soweit sie nicht dem Verkehr zugeordnet sind. Große effektive Windanlagen oder Tiefengeothermie stellen leistungsstarke Alternativen zu gebäudegebundenen Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energie dar, allerdings sind auch diese kaum im urbanen Kontext zu realisieren.

Zudem sind die Genehmigungsauflagen hoch. Für Großwindkraftanlagen ab 2 MW ist beispielsweise ein Mindestabstand von 1 km zur nächsten Wohnbebauung empfohlen, um eine Beeinträchtigung der Bewohner durch Schattenwurf und Lärm zu vermeiden. Die Stadt muss sich daher im Bereich der Versorgung mit erneuerbaren Energien aus den großen Windparks, der Biomasseerzeugung und anderen Energieerzeugungen des Umlands bedienen oder eigene Stadtteil- und Quartiersnetze beispielsweise mit Blockheizkraftwerken aufbauen. Hier hat die kompakte Stadt Vorteile, da die Netzverluste mit zunehmender Dichte geringer werden. Für die meisten erneuerbaren Energien stellt sich die zeit- und witterungsabhängige Energiegewinnung als wettbewerbsnachteilig dar. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, sind daher neue Speichertechnologien notwendig. Offene Wärmenetze, die nicht nur die Wärmeversorgung sicherstellen, sondern auch überschüssige Wärme abnehmen, Smart Grids und andere sogenannte intelligente Stadtmodelle befinden sich in der Erprobungsphase. Ziel ist es, ein urbanes Energiemanagementkonzept für einen optimalen Ausgleich der Bedarfe und des Energieaufkommens auszuarbeiten. Mithilfe von Arealnetzen und Quartiersspeichern lässt sich der Deckungs- und Ausnutzungsgrad lokaler regenerativer Stromerzeugung erhöhen. Die neue Mieterstromförderung nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) soll Mieterstrommodelle wirtschaftlicher machen und helfen, bestehende steuerliche Hemmnisse abzubauen und somit Anreize für den Ausbau regenerativer Energie vor Ort zu schaffen. In Zukunft wird zudem das Zusammenwirken der lokalen Wärme- und Stromversorgung auf Basis regenera-

129

2.4 — Ökologie

Stufe 6

Stufe 2

Stufe 3

Stufe 4

Stufe 5

Normen/Gesetz

Leitbild/ Vision

Gebäude

Höhenentwicklung

Fassade

Klima

Anspruch

Nachbarschaft

Dichte

Dämmung

Energieproduktion

Dokumente/Plan

Kriterien/Prozess

Quartier

Orientierung

Verschattung

Licht

Umfeld

Motivation & Mehrwert

Stadtteil/Stadt/ Region

Gebäudetypen

Materialien Graue Energie

Warmwasser

Grundlage Analyse

Ziele & Strategie

Maßstab & Lösungsebene

Städtebau

Standards

Stufe 1

Stufe 7

§ Gebäudetechnik

technische Schnittstellen (z.B. E-Mobilität)

Ökonomie-Modelle

Prozess

(technische) Details

Synergien

tiver Energien, die sogenannte Sektorenkopplung, eine große Bedeutung erhalten. Eine der größten Herausforderungen in der Stadtplanung besteht jedoch darin, dass die Fachplanung »Energie« meist noch kein fester Bestandteil ist und kein standardisiertes Verfahren vorliegt. Die in Abb. 7 gezeigten sieben Planungsstufen für eine urbane Energiekonzeption zeigen einen Weg, wie objektiv und ergebnisoffen (zentrale oder dezentrale Lösungen) eine nachhaltige energetische Lösung gefunden werden kann.

Energieverbrauch Der Primärenergieverbrauch ist der wesentliche Indikator für den Ressourcenverbrauch und die Verursachung von Treibhausgasemissionen. Er bezeichnet den Energiegehalt aller eingesetzten Energieträger. Der Endenergieverbrauch (EEV) gibt die Energiemenge an, die von den Endverbrauchern nach der Umwandlung der Primärenergieträger in den verschiedenen Energieformen Strom, Wärme, Brenn- und Kraftstoffe ge­­nutzt wird. Nutzenergie ist diejenige Form von Energie, die für den Energieverbraucher einen unmittelbaren Nutzen hat bzw. eine Dienstleistung bewirkt, z. B. Raumwärme, Warmwasser, Beleuchtung etc. Bei der Umwandlung der Endenergie in Nutzenergie geht etwa die Hälfte der Endenergie verloren. Die Endenergiebilanzen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2015 zeigen, dass neben mechanischer Energie rund 27 % des Endenergieverbrauchs allein für Raumwärme benötigt werden (Abb. 6).9 In den Sektoren Gewerbe, Han-

del, Dienstleistungen und Haushalte, die zusammen über 41 % des Endenergieverbrauchs ausmachen, dominiert die Raumwärme sehr stark, im Haushaltsbereich beträgt der Anteil rund 69 %. In Deutschland ist ein Trend zu immer höherem Komfort und technologischer Ausstattung erkennbar, der tendenziell zu einem Anstieg des Nutzenergiebedarfs führt. Zum Beispiel ist in den vergangen zehn Jahren laut Statistischem Bundesamt die Wohnfläche pro Kopf bundesweit von 41,5 auf 46,5 m2/EW im Jahr 2016 gestiegen. Hauptursachen sind sinkende Haushaltsgrößen und wachsende Ansprüche an den persönlich verfügbaren Wohnraum. Insbesondere im ländlichen Raum liegen die Wohnflächen teilweise weit über dem Bundesdurchschnitt. Im Bereich der Stromanwendungen ist die Ausstattung mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in den letzten Jahren signifikant angestiegen. So erhöhte sich z. B. die Zahl der Haushalte mit PCs von 1998 bis 2017 von rund 39 auf 90 %. Die Ausstattung mit Mobiltelefonen stieg im gleichen Zeitraum sogar von ca. 11 auf 95,5 %. Im Bereich Personenverkehr ist eine kontinuierliche Zunahme der Beförderungsleistung um 2,9 % zwischen 2004 und 2010 zu verzeichnen. 40 % der Beförderungsleistung entfallen auf die Freizeitgestaltung. Die hier aufgezeigten Herausforderungen sind nur einige der zentralen Themen der aktuell im Fokus stehenden energetischen Stadtsanierung und Quartiersentwicklungen. Die Energie ist dabei ein Querschnittsthema, das sich in fast allen Handlungsfeldern der Quartiersplanung wiederfindet. Energie ist der Kraftstoff unserer Städte und wirkt sich auch auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben aus.

jährlicher Ölverbrauch pro Einwohner [l]

Abb. 7

80 000 Houston Phoenix Detroit 60 000

Los Angeles San Francisco Washington D.C. Chicago New York

40 000

Melbourne Adelaide Sydney Toronto

20 000

0

Zürich Frankfurt/ M. London Wien AmsterSingapur dam

Paris

Hongkong

Moskau 0

50

100 150 200 250 300 Bebauungsdichte [Personen/ha]

Abb. 8

9  DIW/EEFA 2012; AGEB 2012

Weitere Informationen

•  Meadows, Dennis: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Mensch­ heit. Stuttgart/München 1972/1991

130

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Handlungsfeld Energie Gregor C . Gras s l, Olaf Hildebrandt, Peter Mös le, Christopher Vagn Philipsen

1  BMU 2010 2 Braungart/McDonough 2002

Basisszenarien 2010

Im Jahr 2009 beauftragte das Bundesumwelt­ ministerium (BMU) eine Studie zu »Langfristsze­ narien und Strategien für den Ausbau der erneuer­ baren Energien in Deutschland bei Berücksichti­ gung der Entwicklung in Europa und global«. Ein erster Bericht wurde 2009 veröffentlicht (»Leit­ szenario 2009«), ein weiterer Zwischenbericht 2011 (»Leitstudie 2010«). Ziel des Forschungs­ projekts sind Szenarien, die aufzeigen, wie die im Energiekonzept der deutschen Bundesregierung beschlossenen energie- und klimapolitischen Ziele durch eine deutliche Effizienzsteigerung und einen kontinuierlichen Ausbau der erneuerbaren Energien (EE) erreicht bzw. übertroffen werden können. In der »Leitstudie 2010« wurden unter der Annah­ me gleicher Anstrengungen zur Effizienzsteige­ rung drei Basisszenarien erstellt: •  Basisszenario 2010 A: keine Laufzeitverlänge­ rung der Kernkraftwerke, die bisherigen Rest­ laufzeiten werden eingehalten. Der Anteil der ­Elektromobilität an der Verkehrsleistung des ­Individualverkehrs steigt bis 2050 auf 33 %. •  Basisszenario 2010 B: Annahmen zu den Rest­ laufzeiten wie in Szenario A. Der Anteil der Elektro­ mobilität an der Verkehrsleistung des Individual­ ver­kehrs steigt bis 2050 auf 66 %, Deckung des höheren Strombedarfs durch EE-Strom. •  Basisszenario 2010 C: Laufzeitverlängerung der Kernenergie gemäß des Beschlusses der Bundes­ regierung vom 28. September 2010 von durch­ schnittlich zwölf Jahren. Alle anderen Annahmen, insbesondere der EE-Zubau, entsprechen den Wer­ ten des Basisszenarios 2010 A.

E

nergieeffizienz ist die zentrale Klimaschutzstrategie: Ziel muss es sein, mit deutlich weniger Energieeinsatz die Lebensqualität zu verbessern. Die energetische Effizienzstrategie baut auf drei Säulen, den drei »E« auf: •• Energieeinsparung, um den Nutzenergiebedarf bei gleicher (oder sogar höherer) Dienstleistung zu reduzieren •• Effizienzverbesserung, um die Umwandlungsverluste zwischen End- und Nutzenergie zu reduzieren •• erneuerbare Energien, die als wesentliche Primärenergieträger eingesetzt werden

Für das Erreichen der Klimaschutzziele ist das Zusammenwirken aller drei Säulen entscheidend. Im Zeitraum 2010–2050 könnte eine Minderung der CO2-Emissionen in Deutschland von insgesamt 596 Millionen t CO2 pro Jahr (Basisszenario 2010 A) erreicht werden. Zwei Strategien ragen dabei in ihrer Bedeutung heraus: zum einen der Ausbau der erneuerbaren Energien in der Stromversorgung, zum anderen die Energieeinsparung und Steigerung der Energieeffizienz im Wärmebereich. Ein weiteres wichtiges Segment stellt die Effizienzsteigerung im Stromsektor dar (Abb. 1). Damit wären bereits 75 % der Gesamtminderung erbracht.1 Effizienzstrategie bedeutet, für den gleichen Nutzen weniger Energie einzusetzen. Das Bevölkerungswachstum, verbunden mit den steigenden Lebensstandards führt dazu, dass unsere linear ausgerichteten Wirtschaftssysteme – Herstellung, Nutzung, Abfall – im Hinblick auf die Materialversorgung an ihre Grenzen stoßen. Somit wird nicht die Energieversorgung mittel- bis langfristig die Menschheit vor Probleme stellen, sondern die

Folgen einer zunehmenden Rohstoffverknappung. Die einzige nachhaltige Lösung hierfür ist die Wieder- und Umnutzbarkeit der Materialien in biologischen und technischen Kreisläufen,2 was jedoch bedeutet, dass unser Wirtschaftssystem komplett verändert und neu ausgerichtet werden muss – hin zu einem zirkularen System, in dem es keine Abfälle mehr gibt, sondern nur noch Wertstoffe. Diese dienen wiederum als Grundlage für die Herstellung des gleichen oder eines anderen Produkts. Im zirkularen Wirtschaftssystem, angetrieben von erneuerbaren Energien, ließe sich für weit mehr Menschen auf unserem Planeten ein ausreichender Lebensstandard erreichen, als dies heute vorstellbar ist. Bei allen Bemühungen um die Effizienz sind zwei Aspekte für einen nachhaltigen Lösungsansatz zu beachten: die Resilienz von Systemen sowie die Suffizienz. Unter Resilienz versteht man die Fähigkeit eines Ökosystems, angesichts von Störungen wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzukehren. In die Bewertung der Nachhaltigkeit muss die langfristige, ökologisch verträgliche Nutzung von natürlichen Ressourcen einfließen. Das bedeutet, dass auch die Begrenztheit der Ressource Biomasse als Energiepotenzial anerkannt wird. Bei der Nutzung von Biomasse geht es auch um die maßvolle Einbindung in die Land- und Forstwirtschaft, denn der Nahrungsmittelanbau hat Vorrang vor dem Energiepflanzenanbau. Zum anderen sollten ebenfalls Lebens- und Konsumgewohnheiten sowie Wachstumszwänge infrage gestellt werden. Effizienzgewinne haben z. B. durch den Reboundeffekt (siehe S. 76) oft eine paradoxe Folge: Sie führen zu einem Anstieg des Gesamt­ressourcenverbrauchs. Die kontinuierliche Verbesserung der Energieeffizienz im Wohnungsbereich wird z. B. durch die permanente Zunahme der Wohnfläche pro Person konterkariert. Suffizienz wird in der Nachhaltigkeitsdiskussion im

131

2.4 — Ökologie

Ausbau der Erneuerbare Energien (EE) in der Stromversorgung Steigerung der Energieeffizienz (EEF) im Wärmebereich Effizienzsteigerung im Stromsektor weitere Effizienzsteigerungen im Verkehrssektor Ausbau der Erneuerbaren Energien im Wärmesektor Ausbau der Erneuerbaren Energien im Verkehrssektor 0

50

100

150

200 250 300 CO2-Minderungspotenziale 2010 – 2050 [Mio. t/a]

0

50

100

150

200 250 300 verbleibende CO2-Emissionen [Mio. t/a]

Stromerzeugung Verkehr Wärmeerzeugung

Abb. 1

Sinne einer Entschleunigung, eines Konsumverzichts und einer Lebensstiländerung verstanden, die zu einem neuen Wohlstandsverständnis mit einem besser abgestimmten Verhältnis von materiellen Gütern und immateriellen Bedürfnissen führen soll. Das dafür nötige Umdenken ist in der Regel schwieriger als die Adaptionen neuer Technologien, aber »die ›Effizienzrevolution‹ bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer ›Suffizienzrevolution‹ begleitet wird«.3 So ist die Umsetzung der Energiewende nicht nur eine technische und ordnungsrechtliche Angelegenheit, sondern muss unbedingt mit den Menschen vor Ort, vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene angegangen und umgesetzt werden.  OH, GCG, PM

Energie­ gewinnung Seit den 1990er-Jahren übersteigen die globalen Verbräuche die verfügbare Biokapazität zum Abbau von Schadstoffen und zur Regenerierung von Ressourcen.4 Um die Erde wieder in ein ökologisches Gleichgewicht zu bringen, muss der ökologische Fußabdruck (siehe Herausforderung Lebensstile und Verhaltensweisen, S. 73) global gesenkt werden. Entscheidend hierfür ist der Ausbau der erneuerbaren Energieressourcen. Diese teilen sich in zwei Bereiche auf: natürliche Energiequellen und nachwachsende Rohstoffe. Natürliche Energiequellen sind überall vorhanden und unterscheiden sich in ihrer Leistungsfähigkeit und Menge je nach Region: Sonne, Wind, Erdwärme, Wasser, Außenluft. Nachwachsende Rohstoffe sind pflanzliche und tierische Stoffe,

die während ihres Wachstums genauso viel CO2 entziehen, wie sie später bei der Verbrennung und Energieerzeugung emittieren. Lediglich die Energie, die zu Aufbereitung und Transport der Stoffe zur Verbrennungsanlage benötigt wird, geht als nicht nachwachsender Primärenergieanteil in die Gesamtenergiebilanz ein. Stoffe wie Holz (Holzhackschnitzel, Pellets), Energiepflanzen (Getreidepflanzen, Futtergräser) und Biogas sind meist regional verfügbar, sodass der energieintensive Transport gering gehalten wird und sich die Abhängigkeit von den Importrohstoffen Öl und Gas verringern lässt. Den Vorteilen der regenerativen Energieressourcen – keine bis geringe Belastung der Umwelt sowie meist geringere Energiekosten (Abb. 3, S. 133) – stehen jedoch auch Nachteile gegenüber. Geringere und schwankende Leistungen erfordern meist große Flächen für die Energiegewinnung und -speicherung und führen damit zu höheren Investitionskosten. Nur wenige nachwachsende Energieträger können bei der Leistungsfähigkeit pro Einheit mit den fossilen Energieträgern mithalten. Um dennoch eine effiziente und wirtschaftliche Nutzung von regenerativen Energiequellen zu gewährleisten, ist es erforderlich, das Gebäudekonzept darauf abzustimmen. Die heute verwendeten Systeme zur Energieerzeugung sind in Abb. 2 (S. 132) nach ihrem Leistungsvermögen und Einsatzzweck aufgeführt.  PM

Energieverteilung Grundlage der in Deutschland beispielhaft hohen Versorgungssicherheit im Bereich der Energie (Strom, Gas, Fernwärme) war und ist die entsprechende Netzinfrastruktur.

Abb. 1  Beitrag einzelner Segmente der Energieversorgung in Deutschland zur CO2-Minderung zwischen 2010 und 2050 (Basissze­ nario 2010 A) und damit verbleibende Restemissionen im Jahr 2050 nach Sektoren

3  Sachs 1993 4  WWF 2008

132

System

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Wärme

Kälte Strom Beschreibung

übliche­ Leistungs­ klassen

Einsatzort: Gebäude/­ Quartier/Stadt

fossile Energieträger Erdöl-Heizkessel

x

Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

10 kW – 5 MW

G / - / -

Erdgas-Heizkessel

x

Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

2 kW –10 MW

G / Q / S

Erdgas-BHKW/Motor

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

2 kW – 2 MW

zentral /dezentral

Gasturbine

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

500 kW –100 MW

- / Q / S

GuD-Kraftwerk

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

50 MW – 600 MW

- / - / S

(x)

Absorptionskältemaschine

x

Kälteerzeugung durch Wärmeeinsatz

50 kW –1,5 MW

- / Q / S

Kompressionskältemaschine

x

Kälteerzeugung durch Stromeinsatz

20 kW – 5 MW

- / Q / S

> 5 MW

- / Q / S

Wärmenutzung der Außenluft über Wärmepumpenprozess

2 kW – 500 kW

G / - / -

Nutzung der Abwärme des Abwassers für Wärme­ pumpenprozess

10 kW – 500 kW

G / Q / -

fossile/erneuerbare Energieträger Fernwärme

x

(x)

Luft /Luft-Wärmepumpen

x

x

Abwasserwärmepumpen

x

(x)

Nutzung von Wärme aus Kraft-Wärme-Kopplung

regenerative Energien Biomasse Holzhackschnitzel

x

Energieerzeugung durch Verbrennung von Holz in zentralen und dezentralen Verbrennungsöfen

100 kW – 2 MW

- / Q / S

Holzpellets

x

Energieerzeugung durch Verbrennung von Holz in zentralen und dezentralen Verbrennungsöfen

10 kW –1 MW

G / Q / -

Holzvergasung

x

x

Holzgas wird mittels Erhitzen aus Brennholz gewonnen und durch Verbrennung in einem BHKW zur Strom- und ­Wärmeerzeugung genutzt.

> 1 MW

- / Q / S

Pflanzenöl-BHKW

x

x

Energieerzeugung durch die Verbrennung von Pflanzenöl

50 kW – 2 MW

- / Q / -

Biogas-BHKW

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung durch Biogaskraftwerk (u. a. aus Bioabfall, Gülle)

50 kW – 2 MW

- / Q / -

Brennstoffzelle

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung, meist angetrieben durch ­Wasserstoff oder Methangas

50 kW – 2 MW

- / Q / -

x

Stromerzeugung durch Solarstrahlung

> 0,1 kW

G / Q / S

Wärmeerzeugung für Brauchwassererwärmung und Heizungs­ unterstützung durch Solarstrahlung

> 1 kW

G / Q / -

x

Kombination aus Photovoltaik (1. Ebene) und Solarthermie (2. Ebene)

> 1 kW

G / Q / -

große Turbinen

x

Stromerzeugung durch Generatoren, die von einem Windrad angetrieben werden

> 1 MW

- / Q / S

Kleinwindkraftanlage

x

Stromerzeugung durch gebäudeintegrierte Windturbinen ­(Drehachse horizontal oder vertikal)

0,5 kW –10 kW

G / Q / S

20 W/m2

G / - /  -

Solarenergie Photovoltaik Solarthermie

x

(x)

Hybridmodul Photovoltaik /Solar­ thermie

x

(x)

Windenergie

Geothermie Erdkollektoren

(x)

x

horizontal verlegte Wärmetauschersystemen in einer Tiefe von ca. 1 m

Erdsonden / Energiepfähle

(x)

x

geschlossene, Wasser führende Wärmetauscher, vertikal verlegt in Tiefen von 20 bis 100 m

> 2 kW/Bohrung

G / - / -

Grundwassernutzung

(x)

x

Wasserbrunnen mit Wärmetauscher zur Erschließung des ­Grundwassers

> 5 kW/Brunnen

G / Q / -

x

(x)

Erdwärmenutzung aus größeren Tiefen (> 1000 m) zur ­Wärmenutzung und ggf. Stromerzeugung über Turbinen

500 kW –10 MW

- / Q / S

Tiefenbohrung

Abb. 2

(x)

133

Bruttokosten [ct /kWh]

2.4 — Ökologie

30 28 26 24 22 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2

Abb. 3

chenden Gaskraftwerken wieder zur Wärme- und/ oder Stromerzeugung nutzen. Dieses als »Power to Gas« bezeichnete Verfahren befindet sich allerdings noch in der Entwicklung und ist derzeit aufgrund der relativ niedrigen Wirkungsgrade der einzelnen Prozesse noch nicht wirtschaftlich. Fernwärmenetze versorgen vorwiegend einzelne Quartiere, Stadtteile oder auch Einzelverbraucher (Gewerbe, Wohnen, Krankenhäuser) mit Wärmeenergie in Form von Warmwasser oder Dampf. Diese Wärmeenergie wird in der Regel durch die Verbrennung fossiler bzw. regenerativer Energieträger (Erdgas, Kohle, Holzhackschnitzel oder -pellets, Biogas etc.) oder die thermische Verwertung von Abfällen bereitgestellt. In besonders geeigneten Regionen können auch alternative Technologien (z. B. die Tiefengeothermie) zum Einsatz kommen.  CVP

Energieanforde­ rung Die energie- und klimapolitischen Ziele lassen sich dann erreichen, wenn die erheblichen Potenziale zur Energieeinsparung und zum Klimaschutz auf lokaler Ebene ausgeschöpft werden.

Kommunale Herausforderung Kommunen spielen beim Klimaschutz eine besondere Rolle. Neben der Reduktion des Energieverbrauchs in den eigenen Liegenschaften können Kommunen lokale Prozesse initiieren und moderieren. Sie sind Planungs- und Genehmigungs­

Abb. 2  Energieträger und ihre Einsatzorte Abb. 3 Energiebezugspreise Haushalte in ct/kWh für verschiedene Energieträger (inklusive Mehrwertsteuer und Transportkosten; bei den Strom- und Stadtgaskosten gegebenenfalls Berücksichtigung eines Leistungspreises; bei den leitungsgebundenen Brennstoffen Korrelation von Preis und Abnahmemenge; Berücksichtigung von Lagerkosten)

Fernwärme (Bundesmix)

Hackschnitzel

Pellets

Rapsöl

Heizöl

Flüssiggas

Erdgas

Nacht-/ WP-Strom

0 Haushaltstrom

Im Bereich der Stromversorgung unterscheidet man dabei je nach Funktion und Spannungsebene Übertragungsnetze (Höchstspannung) und Verteilnetze (Hoch-, Mittel- und Niederspannung). Aufgabe der Übertragungsnetze ist es, den Strom von den Erzeugungszentren (beispielsweise den Standorten großer Kraftwerke) möglichst verlustfrei in die Verbrauchszentren (Ballungszentren, Industriestandorte etc.) zu transportieren. Die Verteilnetze dagegen sind für die regionale und lokale Verteilung und letztlich den Anschluss der Endverbraucher zuständig. Derzeit unterhalten in Deutschland mehr als 820 Netzbetreiber (davon vier Übertragungsnetzbetreiber – ÜNB) über 840 Stromnetze mit einer Gesamtlänge von mehr als 1,7 Mio. km, der Kabelanteil beträgt dabei rund 75 %. Die in Deutschland nach der Atomkatastrophe von Fukushima eingeleitete Energiewende mit der sukzessiven Stilllegung der Kernkraftwerke und dem parallel verlaufenden Ausbau der erneuerbaren Energien macht einen umfangreichen Umbau der Netzinfrastruktur erforderlich. Dabei sind neue leistungsfähige Verbindungen im Übertragungsnetzbereich ebenso vonnöten wie die Ausstattung der Mittel- und Niederspannungsnetze mit Intelligenz (Smart Grids). Diese intelligenten Netzwerke sollen es ermöglichen, die hohe Volatilität der Stromerzeugung erneuerbarer Energien (insbesondere aus Sonne und Wind) beispielsweise durch die Steuerung der Nachfrageseite (Demand Side Management) auszugleichen. Ähnlich wie bei den Stromleitungen wird auch im Gasbereich je nach Funktion und Druckniveau zwischen dem Transportnetz mit Ferngasleitungen (Überdruck bis zu 200 bar) und dem Verteilnetz, bestehend aus regionalen Mitteldruckleitungen (bis ca. 1 bar) und lokalen Niederdruckleitungen (bis ca. 0,1 bar), unterschieden. Aktuell hat das Hochdruck-Erdgasnetz in Deutschland eine Länge von etwa 112 000 km, das Verteilnetz mit Mittel- und Niederdruckleitungen eine Länge von ca. 363 000 km. Daneben stehen etwa 47 Erdgasspeicher mit einer Speicherkapazität von 23,5 Mrd. m3 zum Ausgleich tages- und jahreszeitlicher Verbrauchsspitzen zur Verfügung. Dem Gasnetz wird im Hinblick auf die Energiewende insbesondere aufgrund seines erheblichen Speichervolumens eine besondere Bedeutung beigemessen. So könnte z. B. mit dem in Solarund Windkraftanlagen volatil erzeugten Strom zunächst Wasserstoff (mittels Elektrolyse) und anschließend Methan (über die Methanisierung von CO2) erzeugt werden. Das Methan lässt sich im Gasnetz speichern und bei Bedarf  in entspre-

134

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Bilanzjahr

Industrie

private Haushalte

Verkehr

Gewerbe + Sonstige

Stadverwaltung

800 000

1 000 000 CO2-Emissionen [t]

2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007 0

200000

400000

600000

Abb. 4

Abb. 4 CO2-Bilanz für die industriell geprägte Stadt Esslingen am Neckar in den Jahren 2007–2015 nach Sektoren und Energieträgern Abb. 5  Endenergiebedarf für Heizung und Warmwasserbereitung bei unterschied­ lichen Energiestandards in Deutschland

5  Ifeu 2010

instanz, manchmal Teilhaber an regionalen Energieversorgern oder Wohnungsbaugesellschaften und wichtiges Vorbild für ihre Bürger. Auf globaler, europäischer oder nationaler Ebene stehen die Anpassungskosten im Vordergrund. Kommunen hingegen profitieren von der regionalen Wertschöpfung. Werden erneuerbare Energiesysteme auf den Dächern, auf kommunalen Flächen oder in Kellern installiert oder wird der Gebäudebestand saniert, profitiert hier zu großen Teilen das lokale Handwerk als Auftragnehmer. Durch die Nutzung selbst erzeugter Energien und die Senkung des Energieverbrauchs fließen weniger Gelder aus der Region ab. Klimaschutzpolitik ist auch nachhaltige lokale/regionale Wirtschaftsförderung. Höhe und Aufteilung des Energieverbrauchs sind von vielen Faktoren abhängig: energetische Qualität der Gebäude, Anwendungen und Produktionsprozesse, Nutzung und Lage der Quartiere, Struktur und Verfügbarkeit der Versorgungssysteme und Energieträger, Verkehrsnetz, bauliche Dichte (Abb. 4).5 Zum Erreichen der Klimaschutzziele müssen z. B. in der Stadtentwicklungsplanung die Potenziale zur Energieeinsparung und Effizienzsteigerung sowie zur Nutzung erneuerbarer Energieträger ermittelt werden. Dies erfordert sowohl in der Analyse wie auch in der Konzeptphase gute Ortskenntnisse und die Einbeziehung der lokalen Akteure, insbesondere in den Sektoren Industrie und Gewerbe, Handel sowie Dienstleistungen.

Effizienzstrategie Energie­ einsparung CO2-Emissionen lassen sich vor allem durch das konsequente Ausschöpfen von Energieeinsparmöglichkeiten und von Potenzialen zu rationeller

Energienutzung im Energie- und Verkehrsbereich sowie durch den zunehmenden Einsatz von erneuerbaren Energiequellen nachhaltig senken. Die heutigen technisch und wirtschaftlich sinnvollen Effizienzhäuser und energetisch ertüchtigten Altbauten benötigen bei erhöhtem thermischem Komfort immer weniger Heizwärme. Passivhäuser wurden bereits vielerorts zum Neubau-Standard. Die europäische »Energy Performance of Buildings Directive – EPBD« wird in Deutschland durch die Einführung des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) derzeit in nationales Recht umgesetzt. Alle nach dem 1. Januar 2021 zu errichtenden Wohngebäude müssen als »Niedrigstenergiegebäude« erstellt werden (Abb. 5). Ein zentrales Handlungsfeld zum Klimaschutz ist die Erschließung der großen Einsparpotenziale im Altbaubestand. Über drei Viertel des Gebäudebestands in Deutschland wurden vor 1978 erstellt und unterlagen keinerlei Anforderungen an den Wärmeschutz. Beim Warmwasserbedarf liegt neben einigen technischen Maßnahmen das große Sparpotenzial auf der Nutzungsseite. Auch der Strombedarf wird im Wesentlichen durch den Nutzer bestimmt und lässt sich nur in begrenztem Umfang durch bauliche Vorgaben z. B. hinsichtlich der Tageslichtnutzung in Büros und Wohngebäuden oder durch Effizienzanforderung an Haustechnikstrom (Pumpen, Ventilatoren etc.) senken. Entscheidend ist die Effizienz der elek­ trischen Geräte und Betriebsmittel und damit die Kaufentscheidung oder ein an Effizienzanforderungen gebundenes Beschaffungswesen. Ziel muss der konsequente Einsatz von Elektrogeräten mit dem geringstem Verbrauch sein, effiziente Licht- und Lüftungskonzepte sowie die Substitution der elektrischen Wassererwärmung durch energiesparende Systeme.

135

2.4 — Ökologie

Endenergiebedarf [kWh/m2a]

1

300

bis Mitte 2010

2

ab 2010

3

ab 2021

275 250 225 200 175 150 125

aktuelle Förderstandards der KfW

100 75 50 25

EU-Gebäuderichtlinie3 (Annahme Effizienzhaus-40Plus)

Passivhaus

KfW-Effiziemzhaus-40Plus (mit PV-Kompensation)

KfW-Effiziemzhaus-402

KfW-Effiziemzhaus-552

KfW-Effiziemzhaus-70 (nur Bestand)

KfW-Effiziemzhaus-851 (nur Bestand)

EnEV 2014/Energieeffizienzhaus 100

KfW-Effizienzhaus-115 (nur Bestand)

EnEV 2009

EnEV 2002 – 2007

WSVO95

WSVO84

Bestand

0

Abb. 5

Maßstabsebene Quartier Solarer und klimagerechter Städtebau ist zeitlos und reicht bis in die Antike zurück. Klimagerechtes Bauen prägte die traditionellen Bauweisen z. B. in ariden Regionen, im Bergland, aber auch in den windstarken nördlichen Ländern. In der klassischen Moderne wurde das solare Bauen unter dem Motto »Licht – Luft – Sonne« zum Leitbild und zentralen Thema eines gesunden Wohnund Lebensstils. Die Kritik an den unhygienischen Wohnbedingungen der Quartiere aus der Zeit der Industrialisierung führte zu neuen Gestaltungsvorstellungen von Städten, Quartieren und Gebäuden und einem damit verbundenen neuen Lebensgefühl. Für den städtischen Entwicklungsraum bieten sich im Rahmen der Stadtplanung und -erneuerung eine große Zahl von Gestaltungs-, Einflussund Steuerungsmöglichkeiten für eine klima­ gerechte Entwicklung. Abb. 6 (S. 136) z. B. zeigt die M ­ öglichkeiten, im Prozess der Stadt- und Bauleitplanung auf den Energieverbrauch und damit auf die Emissionen eines Baugebiets Einfluss zu nehmen. Dabei geht es um Planungsprinzipien und deren Integration in den Gesamtprozess zum richtigen Zeitpunkt. Folgende Faktoren haben in der Reihenfolge ihrer Nennung Einfluss auf den Energieverbrauch: •• städtebauliche Kompaktheit, Dichte der Bebauung und Kompaktheit der einzelnen

Baukörper, Stellung der Baukörper bzw. Orientierung der Hauptfassaden- und Fensterflächen zur Sonne. •• Anordnung der Baukörper im städtebaulichen Kontext und damit einhergehend die gegenseitige Verschattung •• Minimierung der Verschattung Die besten städtebaulichen Bedingungen für niedrigen Energieverbrauch können daher nur in einem konkreten Optimierungsprozess unter maßgeblicher Einbeziehung aller sonstigen städtebaulichen Anforderungen gefunden werden. Auch technische Versorgungseinrichtungen haben Einfluss auf den Städtebau: •• Bereitstellung geeigneter Dachflächen (Ausrichtung, Neigung, Höhenentwicklung) für die Aufstellung von solarthermischen Anlagen und Photovoltaik •• Integration zentraler bzw. semizentraler Versorgungseinrichtungen (beispielsweise Holzhackschnitzelanlage, solare Nahwärme) und Logistik •• Versorgungsverbote oder -gebote, beispielsweise Nah- oder Fernwärmeversorgung oder Verbrennungsverbote für bestimmte Brennstoffe wie Holz oder Holzprodukte Eine energetisch optimierte städtebauliche Struktur bildet die Voraussetzung, bauliche und versorgungstechnische Strategien zur Schadstoffminderung in der Folge effektiv und kostengünstig einsetzen zu können.

136

Heizwärmebedarf bezogen auf Südausrichtung [%]

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Niedrigenergiehaus

160

Passivhaus

EnEV

150 140 130 120 110 100 90 N

NO

O

SO

S

SW

W

NW N Orientierung

Abb. 7

Planungsprinzip solarer Städtebau

Faktoren

Beeinfluss­ barkeit

• Nutzerverhalten

gar nicht

•  Wasser- und Strombedarf • Gebäudedichtheit • Lüftungsstrategie • Wärmebrücken •  Kompaktheit der Baukörper •  energetische Standards

in der Planungsphase

•  Verschattung durch Pflanzen • Windschutz •  städtebauliche Dichte/Kompaktheit •  gegenseitige Verschattung •  Stellung der Gebäude

gut

• Energieversorgung

sehr gut

Abb. 6

Bei der Bilanzierung des Heizwärmebedarfs wird ein Teil der Wärmeverluste durch Transmission über die Gebäudehülle von den Wärmegewinnen über die Solareinstrahlung in die Fenster kompensiert. Die Einstrahlungsgewinne hängen im Wesentlichen von der Ausrichtung des Gebäudes, der Verschattungssituation und der Fensterquantität und -qualität ab. Da bei der passiven Solarenergienutzung die Wärmegewinne direkt am Ort der Gewinnung genutzt und gespeichert werden, lässt sich nur ein begrenztes solares Wärmeangebot verwerten, ein Überangebot muss folglich weggelüftet werden oder führt zu Überwärmung. Der Glasflächenanteil lässt sich deshalb nicht ohne Folgen unbegrenzt erhöhen, da auch der Heizwärmebedarf ab einem bestimmten Verglasungsanteil wieder ansteigt. Das Verhältnis zwischen dem Solargewinn zur Substitution von Heizwärme und der insgesamt in den Raum eingestrahlten Solarenergie wird durch den solaren Nutzungsgrad angegeben (Grad der solaren Ausnutzung). Diesen gilt es zu optimieren und städtebauliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Gewinne gut nutzen zu können. Im solar orientierten Städtebau herrscht eine klare Präferenz für südorientierte Gebäude, um möglichst allen Wohnungen eine gute Besonnung und die optimale Nutzung der passiven Solargewinne zu ermöglichen. Dabei gilt: je höher der energetische Standard eines Gebäudes, umso größer der Anteil der Strahlungsgewinne bei Südorientierung, insbesondere bei Passivhäusern Die Abweichungen des Heizwärmebedarfs gegenüber einer optimalen Orientierung sind bei einer reinen Ost- oder Westausrichtung mit 50 % erheblich, bei einer Drehung in Südwestbzw. Südostrichtung fallen sie mit knapp 20 %

hingegen noch recht moderat aus (Abb. 7). Eine Zeilen­bebauung reagiert besonders empfindlich auf Drehungen aus der optimalen Südrichtung. Städtebauliche Strukturen wie eine komplette Blockrandbebauung weisen bei einer reinen Ost- oder Westausrichtung gerade einmal eine Abweichung von 10 % auf, bei einem Baufeld mit Punkthäusern oder Einzelhäusern beläuft sich die Abweichung auf ca. 20 %. Besonders bei der Blockstruktur können einzelne Gebäude jedoch stark davon abweichen, z. B. in nordorientierten Ecksituationen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Südorientierung heizenergetische Vorteile hat und zu einer längeren Besonnungsdauer in den Wintermonaten führt. Im Sommer sind Südorientierungen ebenfalls günstiger, denn eine Ost-West-Ausrichtung bedeutet besonders in den Nachmittagsstunden durch die flach einfallende Strahlung ein hohes Überwärmungsrisiko. Im solaren Städtebau ist auch eine Minimierung der Verschattung sinnvoll. Große Gebäudeabstände sind dabei kaum zu realisieren und stehen auch im Widerspruch zum flächensparenden, verdichteten Bauen. Ziel ist es daher, gute Kompromisse zu finden: Die Lage von eigenen Bauteilen (wie Balkone, Erker, Loggien), Bepflanzungen, Nebengebäude, angrenzende Gebäude, aber auch die örtliche Topografie müssen in ihrer Wirkung auf Besonnung und Belichtung planerisch Berücksichtigung finden. Eine vollständige Verschattungsfreiheit ist nicht erforderlich, denn erstens haben Schattenplätze auch eine hohe Wahrnehmungs- und Aufenthaltsqualität und raumbildende Strukturen wie beispielsweise eine Blockrandbebauung weisen zwangläufig immer Verschattungspunkte an den Gebäudeecken auf. Es geht letztlich um die Gesamtbilanz von Wärmeverlusten und solaren Gewinnen unter Berücksichtigung der stadträumlichen Qualitäten.

137

2.4 — Ökologie

m] [1/ 1 EV1 1,1 ,2 n E ,0 ach 0,9 is n 0, n t l 8 hä Ver 0,7 enm lu 0,6 -Vo

hen läc 0,5

rf be

O

0,4

1 9 00, 89 8,5 0 ] ,4 82 ² Ana ,4 h/m 75 W k ,3 V[ nE 68 hE ,2 c a n arf ed eb m är

0,3 61

,2

0,2

54

,1

47

,1

ger

ssi

ä zul

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He

res Jah

40

,0

Abb. 8

Planungsprinzip kompakter Städtebau Die städtebauliche Kompaktheit, d. h. die Vorgabe kompakter Baukörper, stellt einen der größten direkten Einflussfaktoren auf den späteren Heizwärmebedarf der Gebäude dar. Kompaktheit ist damit das städtebauliche Steuerungsinstrument zur Senkung der Wärmeverluste von Gebäuden. Je kleiner die Hüllfläche (A) im Verhältnis zum Gebäudevolumen (V) oder zur Nettogrundfläche (NGF), desto weniger Wärme verliert ein Gebäude bei gleichem Dämmstandard. Je größer das Gesamtvolumen, desto kleiner und damit günstiger ist das erreichbare A/V- bzw. A/NGFVerhältnis. Für den Wohnungsbau zeigt Abb. 8 die Abhängig­keiten zwischen der Kompaktheit und dem Heizwärmebedarf. Für jede Bauform dieses Nutzungstyps ergibt sich innerhalb der vom jeweiligen Baukörpervolumen bestimmten Spannbreite ein typisches A/V-Verhältnis. Dieses schwankt um einen Faktor von ca. 3 bis 4 zwischen extrem wenig kompakten Bebauungen (z. B. frei stehende Bungalows) und sehr kompakten (z. B. Blockrand- oder großvolumige Zeilen- und Punktbebauungen): Der Heizwärmebedarf bei gleichbleibender wärmetechnischer Ausstattung dieser Gebäudetypen variiert um den Faktor 2. Eigenheimbebauung ist z. B. dann energetisch günstig, wenn sie mindestens zweigeschossig in geschlossener Bauweise (z. B. Reihenhäuser) realisiert werden kann. Dies reduziert den Heizwärmebedarf um ca. 20–25 % bei gleicher Bautechnik, zudem korreliert sie mit den Zielen des flächen- und kostensparenden Bauens. Die Veränderung der Geometrie eines Baukörpers hat ab bestimmten Werten nur noch einen geringen energetischen Einfluss: •• Länge der Baukörper: In einem Bereich ab ca. 25–30 m wirkt sich eine Verlängerung nicht mehr stark auf die Kompaktheit aus.

•• Tiefe der Baukörper: Bautiefen von bis zu 12–14 m sind günstig einzuschätzen. Tiefere Baukörper gestalten sich von der Tagesbelichtung der Mittelzonen her problematisch. •• Höhe der Baukörper: Bis zu dreigeschossigen Baukörpern führt eine Erhöhung des Gebäudes zu einer überproportionalen Verbesserung, beim vierten Geschoss sinkt der Einfluss, ab dem fünften ist nur noch eine geringe Verbesserung festzustellen (Aufzüge). •• Vorsprünge und Versätze der Baukörper verschlechtern nicht nur die Kompaktheit, es ist zudem mit einer erhöhten gegenseitigen Verschattung zu rechnen. •• Dachformen haben auf die Kompaktheit keinen entscheidenden Einfluss, sofern sie nicht komplizierte Versprünge aufweisen. Sie bestimmen jedoch die Verschattungskante, die ein Nachbargebäude verschatten könnte. Die kompakte Bauweise ist für alle Gebäudenutzungen mit dominierendem Heizwärmebedarf (Wohnungsbau oder Schulen, partiell Büros) gültig und sinnvoll. Bei Gebäudenutzungen mit den Verbrauchsschwerpunkten Strom oder Kühlung spielt die Kompaktheit als energetisches Kriterium eine eher untergeordnete Rolle. In diesen Fällen dominieren andere, nutzungsspezifisch angepasste Energieeffizienzstrategien und müssen entsprechend optimiert werden.

Zusammenführung der beiden Planungsprinzipien Die Kompaktheit eines Gebäudes wirkt sich in den gemäßigten und nördlichen Breiten stärker auf den Heizwärmebedarf aus als die optimale Solarnutzung, d. h. eine gute Solarnutzung kompensiert nicht eine ungünstige Kompaktheit. Wenig kompakte Gebäude erfordern zur Reali-

Abb. 6  Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Energieverbrauch und die Emissionen einer Stadt bzw. Siedlung durch die Stadtplanung Abb. 7  Veränderung des Jahresheizwärmebedarfs einer Zeilenbebauung in Abhängigkeit vom ener­ getischen Standard und der Ausrichtung des Gebäudes (Südausrichtung als ­Vergleichswert 100  %) Abb. 8  Zusammenhang von Heizwärmebedarf und Kompaktheit bei verschiedenen Bebauungsformen

138

Wärmeabgabe [W]

Strahlung

Konvektion

Verdunstung

180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Lufttemperatur [ºC]

sierung von hohen Effizienzstandards einen ausgesprochen hohen Aufwand, das Solarangebot muss sehr konsequent genutzt werden, was den Einsatz hochwertiger Bautechnik notwendig macht und damit entsprechende Kosten erzeugt. Bei Gebäuden mittlerer Kompaktheit lassen sich Nachteile mit noch vertretbarem Aufwand ausgleichen. Energetisch kompakte Strukturen wirken sich positiv auf die Errichtungskosten von Passivhäusern aus, zudem erlauben sie die planerische Freiheit, diese auch in solar ungünstigeren Situationen effizient zu realisieren.

Abb. 9

Wärmedichte für Nah- bzw. Fernwärmeversorgung

akzeptabel

28

gut

komfortabel

26 24 22 20 18 16 16

18

20

22

24 26 28 Lufttemperatur [°C] a

Strahlungstemperatur [°C]

Eine gebietsweise zentrale Wärmeversorgung ist dann sinnvoll, wenn sich dadurch Kostenoder Umweltvorteile gegenüber der dezentralen (gebäudeweisen) Versorgung erreichen lassen. Für eine Bewertung entscheidend sind die Indikatoren Wärme-, Anschluss- und Trassendichte. Die28Wärmedichte ist einerseits von der baulichen Dichte und zum anderen von der energetischen Dichte, d. h. vom Energiestandard der Gebäude 26 abhängig. In der Literatur wird allgemein ein flächenbezogener Indikator von 250 MWh/ha als 24 untere Grenze für eine wirtschaftliche Versorgung mit Fernwärme angesetzt.6 22 Energetisch bewusst geplante städtebauliche Strukturen reduzieren zwar nicht per se den Ener20 giebedarf bzw. die Schadstoffemissionen, schaffen aber gute Voraussetzungen, bauliche und 18 versorgungstechnische Strategien zur Schadstoffminderung effektiv und kostengünstig einsetzen 16 zu können. Das größte Einsparpotenzial birgt die 16 18 20 22 24 26 28 Festlegung energetischer Standards und deren Lufttemperatur [°C] städtebauliche und prozessuale Absicherung. Um nachhaltigen Klimaschutz betreiben zu können, ist es sinnvoll, das gesamte Spektrum an Einsparmöglichkeiten im Rahmen des städtebaulichen Entwicklungsprozesses durch Planungsbegleitung optimal auszuschöpfen.

Strahlungstemperatur [°C]

Strahlungstemperatur [°C]

6 Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg 2007 7 nachfolgender Text aus: Bauer/Mösle/Schwarz 2013 8 ebd. 9  Spath/Bauer/Rief 2010

ortabel

28 tur [°C]

Kapitel 2 — Handlungsfelder

28 26 24 22

Maßstabsebene Gebäude

20 18 16 16 Abb. 10

18

20

22

24 26 28 Lufttemperatur [°C] b

Ziel eines energetisch optimierten Städtebaus ist es, Maßnahmen zur Energieeffizienz und zum Einsatz erneuerbarer Energien auf Gebäudeebene

anzustoßen. Da Städtebau und Gebäude eng miteinander verknüpft sind, soll im Folgenden auf die energetischen und raumklimatischen Aspekte von Gebäuden eingegangen werden.

Wohlbefinden und gesundes Raumklima 7

Gebäude sind als »dritte Haut« des Menschen ein wesentlicher Faktor für Lebensqualität und Gesundheit. Nur durch ein hohes Maß an Wohlbefinden kann eine gute Lebens- und Arbeitsqualität erzielt werden, ist eine hohe Leistungsfähigkeit möglich, können kreative Ideen und Prozesse entstehen oder kann der Körper regenerieren und heilen. Die Einflussgrößen auf das menschliche Wohlbefinden und seinen Biorhythmus sind sehr vielfältig. Einige Kriterien sind umgebungsbedingte, messbare Größen, wie z. B. bei Lichtverhältnisse, Lufttemperatur, Luftfeuchte und Innenlärmpegel, andere wie Gesundheit und Alter sind physiologisch oder kulturell bedingt, z. B. die Erziehung (Abb. 12). Für die thermische Behaglichkeit spielt u. a. eine Rolle, welche Kleidung bei welcher Tätigkeit getragen wird. Zu den intermediären, sozialen Wohlfühlkriterien gehört z. B. das positive oder negative Verhältnis zu Familienmitgliedern oder Kolleg/innen. Zudem existieren Einflüsse, deren Auswirkungen auf den Menschen erst dann spürbar werden, wenn er ihnen über einen längeren Zeitraum ausgesetzt ist, z. B. hochemittierende Materialien wie Klebstoffe und elektromagnetische Strahlen, denen zunehmend Bedeutung beigemessen wird. Das thermische Behaglichkeitsempfinden des Menschen wird durch die Wärmeflüsse seines Körpers bestimmt. Die im Organismus gebildete Wärme muss vollständig an die Umgebung abgegeben werden, um das thermische Gleichgewicht zu erhalten (Abb. 9). Der menschliche Organismus besitzt die Fähigkeit, seine innere Kerntemperatur unabhängig von den Umgebungsbedingungen und bei unterschiedlichen körperlichen Aktivitäten innerhalb einer geringen Schwankungsbreite relativ konstant zu halten. Unter extremen Klimabedingungen kann der menschliche Regelkreis bei der Anpassung der Körpertemperatur jedoch überfordert sein, sodass diese sinkt oder ansteigt. Daher sollte entweder die Umgebungstemperatur oder die Kleidung der Situation angepasst werden, um den gewünschten Komfort zu gewährleisten. Unangenehmes Schwitzen (hohe Verdunstungsrate) lässt sich weitestgehend vermeiden, wenn eine Oberflächentemperatur der Haut von etwa

21 ˚C min. 15 Oberflächentemperatur min. 14 ˚C

Oberflächentemperatur min. 14 ˚C

2.4 — Ökologie

Oberflächentemperatur max. 45 ˚C (Belegung 100 %) max. 65 ˚C (Belegung 50 %)

Winter

Oberflächentemperatur min. 21 ˚C

Oberflächentemperatur min. 15 21 ˚C Oberflächentemperatur min. 14 ˚C Oberflächentemperatur max. 45 ˚C (Belegung 100 %) max. 65 ˚C (Belegung 50 %)

Oberflächentemperatur max. 28 ˚C (Belegung 100 %) max. 35 ˚C (Belegung 50 %)

Oberflächentemperatur min. 21 ˚C

Oberflächentemperatur max. 29 ˚C

Oberflächentemperatur max. 28 ˚C (Belegung 100 %) max. 35 ˚C (Belegung 50 %)

Oberflächentemperatur max. 45 ˚C (Belegung 100 %) max. 65 ˚C (Belegung 50 %)

Sommer

Oberflächentemperatur min. 14 ˚C Oberflächentemperatur max. 45 ˚C (Belegung 100%) max. 65 ˚C (Belegung 50%) Abb. 11

Energie- und ressourcen­ schonendes Gebäudedesign Oberflächentemperatur

8

max. 45 ˚C (Belegung 100%)

Maßgebliches Ziel beim Bau50%) von nachhaltigen max. 65 ˚C (Belegung Gebäuden ist es, über natürliche Ressourcen die Nutzungsanforderungen zu erfüllen. Als Anleitung für ein energie- und ressourcenschonendes Design sind folgende sieben Regeln zu beachten:9 Regel 1: Je höher die Anforderungen an den thermischen Komfort, desto höhere Ansprüche sind Oberflächentemperatur an den winterlichen und sommerlichen Wärmemax. 28 ˚C (Belegung 100%) schutz zu stellen. max. 35 ˚C (Belegung 50%) Die Anforderungen an den thermischen Komfort werden in aller Regel als minimale Raumtemperaturen im Winter und als maximale RaumtemperaturenOberflächentemperatur im Sommer formuliert. So gelten in Aufenthaltsräumen max. 29 ˚C mit längerer Verweildauer 20–22 °C als minimale Raumtemperaturen im Winter und ca. 25–27 °C als maximale Raumtemperaturen im Sommer. Die Raumtemperatur wird hierbei in aller Regel als eine Kombination aus Oberflächentemperaturen der Innenwände und der Lufttemperatur verstanden. Damit werden indirekt auch im Winter hohe Oberflächentemperaturen gefordert (Abb. 11 oben), die nur mit einem sehr guten Wärmeschutz erreichbar sind. Analog gilt für den Sommer, dass mit der Forderung nach komfortablen Raumtemperaturen indirekt auch minimale Oberflächentemperaturen verlangt

max. 29 ˚C

Regel 2: Solaroptimierte Orientierung und Zo­­ nierung Oberflächentemperatur Die Nutzung solarer Wärmegewinne max. 45 ˚C (Belegung 100 %) lässt sich am max. 65 ˚C (Belegung 50 %) effektivsten in Wohngebäuden realisieren, da es in jeder Wohnung warme Bereiche (Wohnzimmer) und kühle Bereiche (Schlafzimmer) gibt. Bei richtiger Zonierung und Ausrichtung des Gebäudes kann über die südlich orientierten Verglasungen sehr viel Sonnenenergie einfangen werden. Eine massive Bauweise begünstigt die Einspeicherung dieser Wärme, sodass das Gebäude auch Oberflächentemperatur an bewölkten Tagen noch davon zehren kann. max. 28 ˚C (Belegung 100 %) Bei anderen Nutzungsarten max. 35 ˚C (Belegunglässt 50 %)sich die passive Solarenergienutzung ebenfalls realisieren. So sind Hotels, Krankenhäuser und Pflegeheime hinsichtlich des Wärmebedarfs den Wohngebäuden sehr ähnlich. InOberflächentemperatur Büro- und Lehrgebäuden verhindert 29 ˚C meist die max. Bildschirmarbeit eine umfangreiche Nutzung der solaren Gewinne, diese Gebäude werden in der Regel über das Wochenende mit Sonne »betankt«. Häufig wird versucht, die solaren Gewinne nicht in den Aufenthaltsräumen direkt wirksam werden zu lassen, sondern in angrenzenden Pufferräumen wie Atrien oder verschließbaren doppelschaligen Fassaden. Voraussetzung für gute passive Solargewinne ist zudem die richtige Wahl und Anordnung der Gebäudekubatur. Bei stärkerer Verschattung entsteht ein erhöhter Strombedarf für die künstliche Beleuchtung, was auch zu geringerem psychischem Wohlbefinden führt. Auch günstige Bedingungen für den Luftaustausch müssen beim Gebäudekonzept sorgfältig geplant werden. Regel 3: Ausnutzung der natürlichen Lüftungs­ potenziale Nutzt man die natürlichen Potenziale der Außenluft in Mitteleuropa zum Lüften und Kühlen von Gebäuden, kann über 70 % des Jahres auf den

Abb. 9  Wärmeabgabe des Menschen in Abhängigkeit von der umgebenden Lufttemperatur Abb. 10  behagliche Raumtemperaturen bei angepassOberflächentemperatur ter Bekleidung max. 28 ˚C (Belegung 100 %) max. 35 ˚C Pullover): (Belegung 50 %) (leichter a  Winter Höhere Strahlungstemperaturen der Oberflächen gleichen niedrige Lufttemperaturen aus. Oberflächentemperatur b  Sommer max.(kurzes 29 ˚C Hemd): Niedrige Strahlungstemperaturen der Oberflächen gleichen höhere Lufttemperaturen aus. Abb. 11  Grenztemperaturen von Oberflächen im Winter und Sommer für die thermische Behaglichkeit Abb. 12 Einflussfaktoren auf das Behaglichkeits­ empfinden in Räumen

Faktoren

Oberflächentemperatur max. 29 ˚C

werden (Abb. 11 unten), die sich nur mit einem effizientenOberflächentemperatur Sonnenschutz erreichen lassen.

umschließende Flächentemperatur Lufttemperatur relative Feuchte Luftbewegung Luftdruck Luftzusammensetzung elektromagnetische Verträglichkeit akustische Einflüsse optische Einflüsse

Bedingungen

34 °C nicht überschritten wird und die UmgebungsOberflächentemperatur temperaturen sich gleichzeitig unterhalb von ca. min. 21 ˚C 26 °C befinden (Abb. 10). Die höchsten Oberflächentemperaturen des Menschen finden sich im Kopfbereich, die geringsten am entferntesten Oberflächentemperatur Punkt zummax. Herz Fußbereich. 28–˚Cdem (Belegung 100%) Daraus lässt max. dass 35 ˚C thermische (Belegung 50%) sich schließen, Behaglichkeit nur dann gegeben sein kann, wenn die Oberflächentemperaturen der Raumhüllfläche den menschlichen Bedürfnissen angepasst werden.

Kleidung Tätigkeitsgrad individuelle Eingriffsmöglichkeiten Adaption und Aklimatisation Tages- und Jahresrhytmus Raumbesetzung psychosoziale Faktoren Nahrungsaufnahme ethnische Einflüsse Alter Geschlecht körperliche Verfassung Konstruktion des Gebäudes

Abb. 12

139

140

Weitere ­Informationen

•  Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen e. V.: Ener­ gieverbrauch in Deutschland. Daten für das 1.–4. Quartal 2017. Berlin 2018 •  Bauer, Michael; Mösle, Peter; Schwarz, Michael: Green Building. Leitfaden für nachhaltiges Bauen. Berlin 2013 •  Bundesministerium für Verkehr, Bau und ­Stadtentwicklung (Hrsg.): Handlungsleitfaden zur Energetischen Stadterneuerung. Berlin 2011 •  Bundesministerium für Wirtschaft und Techno­ logie (Hrsg.): Energie in Deutschland. Trends und Hintergründe zur Energieversorgung. Berlin 2013 •  Diefenbach, Nikolaus: Bewertung der Wärme­ erzeugung in KWK-Anlagen und Biomasse-Heiz­ systemen. Darmstadt 2002 •  Ecofys (Hrsg.): Energieeffizienz und Solarener­ gienutzung in der Bauleitplanung. Rechts- und Fachgutachten unter besonderer Berücksichtigung der Baugesetzbuch-Novelle 2004. Nürnberg 2006 •  Hausladen, Gerhard; Liedl, Petra; de Saldanha, Mike: Klimagerecht Bauen. Ein Handbuch. Basel 2012 •  Hildebrandt, Olaf (Hrsg.): Stadtplanung im Kli­ mawandel. Seminar im Masterstudiengang Stadt­ planung an der Hochschule für Technik Stuttgart (HfT) zur energetischen Stadtplanung im WS 2017/2018 •  Innenministerium des Landes Schleswig-Hol­ stein (Hrsg.): Klimaschutz und Anpassung in der integrierten Stadtentwicklung. Wuppertal/ Aachen 2011 •  Nissler, Diana; Wachsmann, Ulrike: Statusbericht zur Umsetzung des Integrierten Energie- und Kli­ maschutzprogramms der Bundesregierung. Hrsg. vom Umweltbundesamt. Dessau-Roßlau 2011 •  Oberste Baubehörde im Bayerischen Staats­ ministerium des Innern (Hrsg.): Energie und Orts­ planung. Arbeitsblätter für die Bauleitplanung Nr. 17. München 2010 •  Stadt Würzburg (Hrsg.): Hubland auf dem Weg zum CO2-freien Stadtteil. Würzburg 2011–2013 •  Umweltbundesamt (Hrsg.): Energieeffizienz­ daten für den Klimaschutz. Dessau-Roßlau 2012

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Einsatz von Lüftungsanlagen ohne Komfortverlust verzichtet werden. Je nach Konzeption, Nutzerverhalten und Komfortlevel ist es sogar möglich, das ganze Jahr über natürlich zu lüften. Die häufig niedrigen nächtlichen Außentemperaturen besitzen ein großes Potenzial für die Nachtkühlung, sieht man von Hitzeperioden ab, bei den die Nachttemperaturen nicht unter 22–24 °C fallen. Deshalb müssen die Konzepte auf wechselnde Verhältnisse der Außentemperatur, Windgeschwindigkeit und -richtung anpassbar sein. In modernen Gebäuden wird dies durch computergesteuerte oder manuell bediente Lüftungselemente gelöst, deren Öffnungsweiten sich je nach Außenbedingungen regulieren lassen. Regel 4: Nutzung der Gebäudestruktur und seiner Massen als thermischer Speicher Die thermische Speicherfähigkeit eines Gebäudes bestimmt zu einem beträchtlichen Teil das Raumklima und den erforderlichen Energiebedarf. Leichte Gebäude (z. B. Container) bilden das Außenklima nahezu parallel ab. Sehr massive Gebäude hingegen reagieren träge. Sie haben den Vorteil, die Raumtemperaturen zu »glätten«, indem Wärme aus dem Raum nicht nur die Raumluft, sondern eben auch die Baumasse erwärmt. Damit steigen die Raumlufttemperaturen weniger schnell an als bei leichten Gebäuden. Umgekehrt muss bei der Beheizung eines Raums Energie länger zugeführt werden, bis die erwünschten Raumtemperaturen erreicht sind, da auch die Gebäudemasse erwärmt werden muss. Im Klima Nord- und Mitteleuropas lässt sich die Speicherfähigkeit eines Gebäudes sehr gut zur passiven Raumkühlung oder zur Verringerung des Kühlenergiebedarfs einsetzen. Um einen spürbaren Effekt zu erzielen, muss das Gebäude massive Bauteile besitzen. Meist wird die Speicherfähigkeit der Decke genutzt, wenn im Raum eine deutliche Glättung des Temperaturverlaufs entstehen soll. In der Regel ist im Tagesverlauf allerdings nur eine thermische Masse mit einer Tiefe von 10 cm aktivierbar. Regel 5: Optimierung der Gebäudehülle Alle Fassadenbauteile müssen hochdämmende Eigenschaften, also einen niedrigen U-Wert besitzen, da sonst der erwünschte Effekte hoher Ober-

flächentemperaturen im Inneren und die Vermeidung von Kaltluftabfall an der Fassade nicht er­zielbar sind. Wärmebrücken müssen weitestgehend vermieden werden, da sie den Raumkomfort beeinträchtigen, hohe Wärmeverluste zur Folge haben und unter Umständen zu Kondensationen führen können. Die Verbesserung der Gebäudedichtigkeit ist in allen Klimazonen ein wichtiges Kriterium: In gemäßigen und nördlichen Zonen erhöhen undichte Gebäude den Heizenergiebedarf, in südlichen Ländern den Kühlungsaufwand und in feuchten Klimazonen den Energiebedarf zur Entfeuchtung. Ein mit dem Sonnenverlauf regulierbarer, windstabil montierter und an die Verglasung angepasster Sonnenschutz ist ein wichtiges Element nachhaltiger Gebäude, um sowohl den Kühlenergiebedarf (kWh) als auch die benötigte Kühlleistung (kW) gering zu halten. Da sich mit dem Verglasungsanteil und dem Sonnenschutz auch die Höhe des Tageslichteinfalls in die Räume reguliert, besteht eine direkte Wechselwirkung zwischen Energiebedarf für Raumkühlung und künstlicher Beleuchtung. Die Anforderungen an die Verschattungsqualität des Sonnenschutzes sind standort- und nutzungsunabhängig. Natürlich gibt es für unterschiedliche Klimaregionen und Gestaltungswünsche sehr differenzierte Lösungen, die jedoch alle den Anforderungen an eine effektive Verschattung und Lichtregulierung genügen müssen. Regel 6: Integration aktiver erneuerbarer Energiesysteme Eine Integration von erneuerbaren Energiesystemen muss auf die Gesamtkonzeption des Gebäudes bezogen werden. Optimal sind sogenannte Low-Exergie-Lösungen mit Niedrigtemperaturheiz- und Hochtemperaturkühlsystemen (siehe Handlungsfeld Stoffströme, S. 108). Diese lassen sich aufgrund ihres Temperaturniveaus mit Energiequellen wie Geo- und Solarthermie sowie passiven Systemen wie Nachtkühle wirtschaftlich betreiben. Auch Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungssysteme sind sinnvoll, da es bei vielen Nutzungen erforderlich ist, den Strombedarf für die EDVAusstattung und Beleuchtung größtenteils in Kombination mit Wärme- und Kältebedarf für

141

2.4 — Ökologie

Gebäude 1: GFZ 1,0; GRZ 0,3 Gebäude 2: GFZ 5,0; GRZ 1,0 Gebäude 3: GFZ 10,0; GRZ 0,5

Gebäude 1 Potenzial 100%

Gebäude 2 Potenzial 50%

Gebäude 3 Potenzial 25%

Gebäude 1 Potenzial 100%

Gebäude 2 Potenzial 100%

Gebäude 3 Potenzial 40%

Geothermie (a)

Solarthermie (b)

die Raumklimakonditionen bereitzustellen. Gängige Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungssysteme sind Blockheizkraftwerke (BHKW) mit Absorptionskältemaschinen. Zukünftig könnten auch Brennstoffzellen oder Stirlingmotoren diese Aufgaben übernehmen. Um einen hohen Deckungsanteil der erneuerbaren Energie aus dem Gebäudegrundstück selbst zu erzielen, sind zudem bestimmte Verhältnisse aus Geschossflächenzahl (GFZ) und Gebäudekubatur einzuhalten. Aus diesen Größen lässt sich ableiten, inwieweit es möglich ist, den Energieaufwand aus natürlichen Energiequellen wie Sonne und Erdreich zu decken. Dabei gelten folgende Faustregeln: Die Einbindung von oberflächennahen geothermischen Anlagen bis zu einer Tiefe von 200 m ist nur dann effektiv, wenn ausreichend Grundstücksfläche zur Platzierung der Erdreichwärmetauscher unterschiedlichster Art vorhanden ist. Dabei sollte die Anzahl der Geschosse im Wohnungsbau nicht mehr als drei bis maximal fünf betragen, bei Bürogebäuden drei bis maximal sechs. Damit lässt sich für energieeffiziente Gebäude in Nord- und Mitteleuropa ein Großteil der Heiz- und Kühlenergie über das Erdreich decken (Abb. 13 a). Für die Nutzung von Solarenergie für die Wärme­ erzeugung muss ausreichend Dachfläche zur Platzierung der Sonnenkollektoren zur Verfügung stehen. Die Fassade eignet sich nur eingeschränkt zu einer solchen Nutzung, da in den meisten Räumen Tageslicht benötigt wird und das Potenzial der Einstrahlung auf die Fassadenebene nur maximal 70 % des optimalen Ertrags beträgt. Um für energieeffiziente Wohngebäude einen großen

Anteil der Trinkwassererwärmung über Solarenergie zu decken, empfiehlt sich eine Geschossanzahl von zehn bis maximal zwanzig (Abb. 13 b, c). Bei Nutzung von Solarenergie zur Stromerzeugung sollte die Anzahl der Geschosse für den Wohnungsbau drei bis maximal fünf und für den Bürobau zwei bis maximal vier betragen, wenn ein großer Teil des Strombedarfs für die Anlagen zur Raumkonditionierung und für Haushalts- oder EDV-Geräte über Photovoltaiksysteme gedeckt werden soll. Diese Faustregel gilt für Gebäude in Nord- und Mitteleuropa, für die keinerlei Möglichkeiten bestehen, auf dem Grundstück Photovoltaikanlagen zu platzieren. In Südeuropa ist zwar die solare Einstrahlung größer, der Bedarf an solarer Stromerzeugung oder solarer Kühlung ist jedoch ebenfalls höher als in Mitteleuropa. Da Geothermie in Südeuropa nur eingeschränkt zur Kälteversorgung verwendet werden kann, gilt für die Stromversorgung durch Photovoltaikanlagen dieselbe Faustregel wie in Mitteleuropa.

Gebäude 1 Potenzial Wohngeb. 100% Bürogeb. 60%

Gebäude 2 Potenzial Wohngeb. 50% Bürogeb. 40%

Photovoltaik (c)

Abb. 13

Regel 7: Luftqualität, Schadstofffreiheit und Trennbarkeit Für den Menschen ist Luft lebensnotwendig. So bestimmt die Luftqualität nicht nur sein Wohl­ befinden, sondern auch seine Gesundheit. Ausschlaggebend für die Anforderungen an die Luftqualität in Gebäuden sind im Wesentlichen Nutzung und Aufenthaltsdauer. Bei sehr dichten Gebäuden ist die erforderliche Luftwechselrate nicht nur abhängig von der Personendichte, sondern auch von der vorhandenen Außenluftqualität, dem gewählten Lüftungssystem und den verwendeten Ausbaumaterialien im Gebäude.10  PM

Gebäude 3 Potenzial Wohngeb. 15% Bürogeb. 10%

Abb. 13  Potenziale der Nutzung von Geothermie, Solarthermie und Photovoltaik für unterschiedliche Verhältnisse von Grundstücksfläche und Gebäudekubatur für Wohn- und Bürogebäude a  möglicher Deckungsanteil der Geothermie am Energiebedarf für Heizen und Kühlen b  möglicher Deckungsanteil der Solarenergie am Energiebedarf für die Trink­ wasser­erwärmung c  möglicher Deckungsanteil der Solarenergie am Strombedarf

10 Braungart/McDonough 2002

142

Kapitel 2 — Herausforderungen

Herausforderung Emissionen Jürgen Baumül ler, Sigr id Bus ch, D ietr ich Henckel, ­A ntonel la Sgobba

U

nter zivilisationsbedingter Emission (lat. emittere: herausschicken, heraus­ s enden) versteht man anthropogene Aussendungen von Schadstoffen in die Umwelt, also solche, die durch menschliche Nutzungen verursacht werden. Jede Emission führt zu einer Immission, d. h. einem Schadenseintrag in die Umgebung. Da viele Schadstoffe nicht nur lokal, sondern großräumig wirken, ist der Schutz vor Beeinträchtigungen durch Emissionen (Immissionsschutz) seit Langem das Ziel globaler umweltpolitischer Konferenzen und Initiativen (siehe Leitbilder, S. 181f.). Zur Steuerung, Vermeidung und Begrenzung von Emissionen und Schadstoffeinträgen auf verschiedenen räumlichen Ebenen stehen ­grundsätzlich folgende Instrumente zur Ver­ fügung: •• marktwirtschaftliche Instrumente (z. B. ­Emissionsrechtehandel) •• ordnungsrechtliche Instrumente (z. B. Ge­­ setze, Verordnungen und Vorschriften sowie Richtlinien und Normen) •• planerische Instrumente (z. B. Raumordnung, Stadt- und Quartiersplanung)

1  UBA 2008, S. 10

Während marktwirtschaftliche Instrumente im Hinblick auf den Themenbereich der nachhaltigen Stadt- und Quartiersplanung nur eine indirekte Rolle spielen, sind ordnungsrechtliche und planerische Instrumente wichtige Bestandteile der städtebaulichen Praxis. Auf diese Instrumente sowie ihre Anwendung für den Immissionsschutz wird im Kapitel »Handlungsfeld Emissionen« (S. 146ff.) ausführlich eingegangen. Im Folgenden werden zunächst grundlegende Aspekte von Lärm-, Luftschadstoff-, Licht- und anthropogenen Wärmeemissionen behandelt

und die Relevanz der Minderung ihrer negativen Effekte als Herausforderung für die Stadt- und Quartiersplanung verdeutlicht.   SB, AS

Lärm Der Begriff »Umgebungslärm« bezeichnet nach § 47 b des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) »belästigende oder gesundheitsschädliche Geräusche« im Frequenzbereich des menschlichen Hörens. Lärm stellt ein unterschätztes Risiko dar: Es hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit und erzeugt Schlafstörungen, Kopfschmerzen, hormonelle Reaktionen, Nervosität, Hörschäden, Konzentrationsmangel, Herabsetzung der Lern- und Leistungsfähigkeit bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO berechnete 2011 die lärmbedingten Gesundheitsschäden in der EU mit einem Verlust von über einer Million gesunden Lebensjahren. Darüber hinaus kann Lärmbelastung auch ökonomische Schäden erzeugen, z. B. die Abwertung lärmbelasteter Immobilien oder zusätzliche Kosten für die Erstellung von Lärmschutzmaßnahmen. Nach Angabe des Umweltbundesamts nimmt der Immobilienwert eines Wohngebäudes ab 50 dB um 0,5 % für jedes zusätzliche Dezibel ab.1

Lärmemissionsquellen Grundsätzlich lassen sich die folgenden Arten von Geräuschquellen unterscheiden, deren Schall­emissionen kumulativ den sogenannten Umgebungslärm bilden: •• Mobilität (Straßen-, Schienen- und Luftverkehrslärm)

143

2.4 — Ökologie

unter Lärmbelästigung leidender Bevölkerungsanteil [%]

Straßenverkehr

Flugverkehr Schienenverkehr

Industrie/Gewerbe Nachbarschaft

70 60 50 40 30 20 10 0 2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

Abb. 1

•• Produktion (Industrie-, Gewerbe- und Baulärm) •• Ausübung sonstiger Aktivitäten (Nachbarschaft-, Sport- und Freizeitlärm) Laut einer Studie des Bundesamts über die Lärmbelästigung der Bevölkerung von 2010 fühlen sich über die Hälfte der Befragten von Lärm belastet, wobei Straßenverkehrslärm gefolgt von Nachbarschafts- und Luftverkehrslärm am häufigsten kritisch bewertet werden (Abb. 1). Die Wahrnehmung von Schallemissionen unterliegt subjektiven Faktoren wie der psychischen und physischen Situation des Menschen und seiner Einstellung gegenüber der Beschallung, weswegen Lärmereignisse bei Nacht oft kritischer bewertet werden als bei Tag. Die menschliche Schmerzgrenze für Lärm liegt für gewöhnlich bei einem Schalldruckpegel von 120 dB(A), jedoch schon ab 60 dB(A) können Stressreaktionen ausgelöst werden, ab 85 dB(A) ist bei längerer Einwirkung mit Gehörschäden zu rechnen und Schallpegel von 200 dB(A) können sogar tödlich sein (Abb. 2).

Lärmbewertungsverfahren und Lärmschutz Aufgrund der differenzierten Wahrnehmung und Bewertung von Lärm existieren bundesweit keine übergeordneten Ansätze und einheitlichen Grenzwerte für die Gesamtheit des Schalleintrags, sondern lediglich separate ordnungsrechtliche Emissions- und Immissionsbegrenzungen sowie Lärmbewertungsverfahren für verschiedene Lärmquellen. Die zulässigen Lärmobergrenzen unterscheiden sich je nach Emissionsquelle, Nutzung (gemäß Baunutzungsverordnung – BauNVO) und Bauvorhaben, z. B. Umbau, Neubau oder Planung (Abb. 3, S. 144).  SB, AS

Luftschadstoffe Die Hauptbestandteile der Luft sind Stickstoff (N), Sauerstoff (O2) und das Edelgas Argon (Ar). Diese Gase machen 99,9 % der Zusammensetzung aus. Obwohl die weiteren neun Bestandteile nur 0,1 % betragen, haben diese Spurenstoffe eine große Bedeutung. Zum einen können sie auch in geringen Konzentrationen Schäden an Mensch, Tier und Pflanze hervorrufen, z. B. Schwefeldioxid (SO2) oder Stickstoffdioxid (NO2), zum anderen sind sie teilweise als Treibhausgase wirksam und tragen dadurch zum Klimawandel bei, z. B. Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Distickstoffmonoxid (N2O) und Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW). Luftschadstoffe entstehen durch natürliche ­Prozesse wie Waldbrände und Vulkanausbrüche, aber vor allem in erheblichem Maße infolge menschlicher Aktivität, insbesondere in den Städten. Hauptquellen sind der Autoverkehr, Hausheizungen sowie die industrielle Produktion. Im Vordergrund stehen dabei in Deutschland inzwischen die Schadstoffe Feinstaub (PM 10, PM 2,5) und Stickstoffoxid (NO2). Sowohl die Hauptschadstoffe als auch deren Quellen haben sich in den Städten im Laufe der Zeit stark verändert (Abb. 7, S. 145). Bedingt durch den spürbar stattfindenden Klimawandel ist die Reduktion von Treibhausgasemissionen ein ernst zu nehmendes Thema geworden und war 1997 Gegenstand des Weltklimagipfels der Vereinten Nationen im japanischen Kyoto, auf dem das sogenannte KyotoProtokoll ausgearbeitet wurde. Im Jahr 2012 ist dieses Protokoll ausgelaufen. Im Abkommen von Paris 2015 wurde beschlossen die globale Erwärmung auf unter 2 °C zu beschränken. Dies bedeutet einen Rückgang der NettotreibhausgaseEmissionen auf null bis Mitte des Jahrhunderts.

Abb. 1  Belästigung der Bevölkerung durch unterschiedliche Lärmquellen Abb. 2  Schalldruckpegel verschie­ dener Lärmereignisse und deren Auswirkungen

dB(A) 180

Spielzeugpistole am Ohr abgefeuert

170

Ohrfeige aufs Ohr, Silvesterböller auf Schulter explodiert Airbag-Entfaltung in unmittelbarer Nähe

160 150

Hammerschlag in einer Schmiede aus 5 m Entfernung (Spitzenpegel)

130

lautes Händeklatschen aus 1 m Entfernung (Spitzenpegel) Schmerzschwelle: Gehörschaden schon bei kurzer Einwirkung möglich häufiger Schallpegel in Diskotheken, Martinshorn aus 10 m Entfernung häufiger Pegel bei Musik über Kopfhörer, Presslufthammer in 10 m Entfernung

120 110 100 85 70 65

50 40 35 25

0 Abb. 2

Hörschaden bei Einwirkungsdauer von 40 Stunden pro Woche möglich Dauerschallpegel an Hauptverkehrsstraße tagsüber erhöhtes Risiko für Herz-KreislaufErkrankungen bei dauernder Einwirkung, Dauerschallpegel an Hauptverkehrsstraßen nachts Kühlschrank aus 1 m Entfernung Lern-/Konzentrationsstörung möglich sehr leise Zimmerventilatoren bei geringer Geschwindigkeit Atemgeräusche in 1 m Entfernung

Hörschwelle

144

Kapitel 2 — Herausforderungen

Verkehr

Anlagen

Planung

Lärmquellen

Straßen, Schienenwege, Magnet­ schwebebahnen

Straßen in der ­Baulast des Bundes

Industrie- und Gewerbeanlagen

Sportanlagen

Freizeitanlagen

Vorschriften

16. BlmSchV

Lärmsanierung

TA Lärm1

18. BlmSchV 2

Freizeitlärmrichtlinie 2

Immissionsgrenzwerte Nutzung Krankenhäuser

Immissionsrichtwerte

Nacht

Tag

Nacht

Tag

Nacht 3

Tag 4

Nacht 3

Tag 5

Nacht 3

57

47

67

57

45

35

45 /45

35

45 /45

35

Schulen

57

47

67

57

57

47

67

57

Kurheime

57

47

67

57

Kurgebiete

keine Werte

Pflegeanstalten reine Wohngebiete

49

59

67

57

Tag

keine Werte

45

35

45 /45

35

45 /45

35

45

35

45 /45

35

45 /45

35

50

35

50 /45

35

50 /45

35

keine Werte

Nacht 6

keine Werte

Wochenendhausgebiete Ferienhausgebiete

DIN 18 005 Orientierungswerte

Tag

Altenheime

Verkehr, Industrie, Gewerbe, Freizeit

keine Werte 

50

40 / 35

50

40 / 35

50

40 / 35

55

45 /40

allgemeine Wohngebiete

59

49

67

57

55

40

55 /50

40

55 /50

40

55

45 /40

Kleinsiedlungsgebiete

59

49

67

57

55

40

55 /50

40

55 /50

40

55

45 /40

60

45 /40

Campingplatzgebiete

besondere Wohngebiete

keine Werte

keine Werte

Dorfgebiete

64

54

69

59

60

45

60 /55

45

60 /55

45

60

50 /45

Mischgebiete

64

54

69

59

60

45

60 /55

45

60 /55

45

60

50 /45

63

45

63 /58

45

Urbane Gebiete7

keine Werte

keine Werte

Kerngebiete

64

54

69

59

60

45

60 /55

45

60 /55

45

65

55 /50

Gewerbegebiete

69

59

72

62

65

50

65 /60

50

65 /60

50

65

55 /50

Friedhöfe

55

55

Kleingartenanlagen

55

55

55

55

45 – 65

35 – 65

keine Werte

Parkanlagen Sondergebiete

keine Werte

6

Industriegebiete

keine Werte

70

70

keine Werte

70/70

70

keine Werte

1  Besonderheiten: Immissionsrichtwerte für seltene Ereignisse, Zuschläge für Tageszeiten mit besonderer Empfindlichkeit, Kriterien für einzelne Geräuschspitzen. TA-Lärm zuletzt geändert am 01.06.2017  2  Besonderheiten: Immissionsrichtwerte für seltene Ereignisse, Kriterien für einzelne Geräuschspitzen, sehr differenzierte ­Beurteilungszeiträume. 18. BlmSchV zuletzt geändert am 01.06.2017 3  lauteste (volle) Nachtstunde  4  außerhalb der Ruhezeiten/innerhalb der Ruhezeiten  5  außerhalb der Ruhezeiten/innerhalb der Ruhezeiten sowie an Sonn- und Feiertagen 6  bei zwei Werten gilt der zweite Wert für Industrie-, Gewerbe- und Freizeitlärm  7  neue Baugebietskategorie des BauNVO seit 2017

Abb. 3

Abb. 4

Ackerland

Vorstadt

Park

innerstädtisches Wohngebiet

Zentrum

Gewerbegebiet

Vorstadt

33 32 31 30

Land

Nachmittagstemperatur [ºC]

Wärme Die anthropogenen Wärmeemissionen sind von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich. Sie hängen ab von der Wirtschaftsstruktur, der geografischen Lage und der Topografie, der Einwohnerzahl, dem Autoverkehr sowie vom Energieverbrauch der Bevölkerung. In den nördlichen Breiten nimmt die Wärmeabgabe im Winter durch Heizungen zu, während in südlichen Ländern oft im Sommer, gerade in einer Zeit hoher Lufttemperaturen, durch Gebäudekühlung ein Maximum an Wärmeabgabe erreicht wird. Morgens und abends können die Wärmeabgaben um bis zu 50 % höher ausfallen als das Tagesmittel. Die Wärmeabgabe verteilt sich nicht gleichmäßig über die Stadt. In Teilbereichen, beispielsweise in Straßenräumen, können gegebenenfalls Wärmeabgaben in der Größenordnung von einigen Hundert Watt pro m2 auftreten (Abb. 4).  JB

Lichtver­ schmutzung Üblicherweise wird als Lichtverschmutzung jeder negative Effekt von künstlichem Licht – vor allem im Außenraum – bezeichnet. Dazu gehören: •• Blendung, die Unwohlsein erzeugt (Glare) •• Belästigung durch nicht gewünschtes Licht, z. B. Straßenlampe, die die Wohnung erhellt (Light Trespass) •• Beleuchtung des Nachthimmels, die ihn zum Leuchten bringt (Skyglow) •• zu viel Licht, nicht genutztes Licht (Overillumination) Mit Lichtverschmutzung ist eine Vielzahl von negativen Effekten verbunden wie der erhöhte Energieverbrauch, die Störung des individuellen

145

2.4 — Ökologie

Abb. 3  Grenz-, Richt- und Orientierungswerte für schalltechnische Immis­sionen [in db (A)] Abb. 4  Urban-Heat-Island-Effekt Abb. 5  Luftverschmutzung an einer Hauptverkehrsstraße Abb. 6  nächtliche Lichtemissionen in ­Europa Abb. 7  Schadstoffe und Schadstoffquellen von 1700 bis 2018 am Beispiel Stuttgart Abb. 5 Jahr

Abb. 6 Einwohner Kraftfahr­ zeuge

Hauptschad­ stoffquellen

Schadstoffe Gerüche

Maßnahmen

Gesetze etc.

1700

13 000



Müll, Fäkalien

1800

15 000



Müll, Fäkalien

Gerüche

Kehrwoche

1900

180 000



Hausbrand, Industrie

SO2, CO, Staub, Rauch

Gewerbe­ ordnung

1950

505 000

33 000

Hausbrand, Industrie

SO2, CO, Staub

Ersatz von Kohle durch Erdöl bzw. Erdgas, Überwachung der Luftschadstoffe

§ 16 GewO

1970

632 000

189 000

Hausbrand, Industrie, Kfz

SO2, CO, Staub, NOX

Ersatz von Kohle durch Erdöl bzw. Erdgas, ­Verbrennungsverbote, Stand der Technik

BlmschG, BlmschV

1980

602 000

244 000

Hausbrand, Industrie, Kfz

SO2, CO, Staub, NOX

Katalysator

Smogver­ ordnung

1990

599 000

299 000

Kfz, Hausbrand

SO2, CO, Staub, NOX

Euronormen, Luftrein­ halteplan

BlmschG, BlmschV

2000

587 000

343 000

Kfz, Lkw

NOX, Benzol, Russ, PM10

Euronormen

EU-Richtlinien

2010

582 000

350 000

Kfz, Lkw

NOX, Benzol, Russ, PM10

Luftreinhalteplan, ­Aktionsplan

EU-Richtlinien

2018

611 000

375 000

Kfz, Lkw

NOX, Benzol, Russ, PM10

temporäre Fahrverbote

EU-Richtlinien

Abb. 7

Wohlbefindens sowie vor allem die Erzeugung negativer externer Effekte, insbesondere negativer Umwelteffekte (u. a. durch Störung der natürlichen Rhythmen bei Flora und Fauna, einschließlich des Menschen), die dadurch beeinträchtigte Funktion von Ökosystemen sowie der Verlust des dunklen Nachthimmels. So geht man davon aus, dass rund zwei Drittel der US-Amerikaner von ihrem Wohnort aus die Milchstraße nicht sehen können. In Dubai gibt es – wie Nasa-Aufnahmen dokumentieren – Situationen, in denen man als einzigen Himmelskörper den Mond erkennen kann. Lichtverschmutzung ist allerdings schwer zu definieren, da Licht in der Regel positiv bewertet wird. Es erhöht subjektiv das Sicherheitsgefühl, obwohl die tatsächliche Sicherheitswirkungen keineswegs belegbar ist. Licht gilt als Ausdruck von Wohlstand und Modernität, es ermöglicht die Abkopplung von natürlichen Rhythmen und die Erweiterung wirt-

schaftlicher, kultureller und freizeitorientierter Aktivitäten in die Nacht. Auch wenn es mittlerweile zahlreiche Ansätze zur Reduzierung des Energieverbrauchs und zur Erhöhung der Effizienz gibt, ist auf absehbare Zeit mit einer weiteren Zunahme des Beleuchtungsniveaus zu rechnen. Gründe dafür sind einerseits die sogenannten Reboundeffekte (Verbilligung erhöht Nachfrage nach zusätzlicher Beleuchtung überproportional), der Lebenswandel hin zu kontinuierlicher Aktivität zu allen Tages- und Nachtzeiten, vor allem aber das nach wie vor verfolgte Ziel des Wirtschaftswachstums sowie der Ausbau beleuchtungs-intensiver Großinfrastrukturen in den entwickelten, vor allem aber in den sich entwickelnden Ländern. Wegen des wirtschaftlichen Wachstums und vor allem wegen der Reboundeffekte steigt trotz der zunehmenden Umrüstung auf die deutlich energiesparsamere Technologie LED (light emitting diodes) die Beleuchtungsintensität nach wie vor erheblich.  DH

Weitere ­Informationen

Lärm: •  Baumüller, Jürgen: Städtebauliche Lärmfibel. Hrsg. vom Wirtschaftsministerium Baden-Würt­ temberg. Stuttgart 1994 •  Umweltbundesamt (UBA), Europäische Akade­ mie für städtische Umwelt (Hrsg.): Umgebungs­ lärm, Aktionsplanung und Öffentlichkeitsbeteili­ gung – Silentcity. Berlin 2008 Luftschadstoffe: •  Allen, L. et al.: Global to City Scale Urban Anth­ ropogenic Heat Flux: Model and Variability. Mega­ poli Scientific Report 10-01. London 2010 •  Hupfer, Peter; Kuttler, Wilhelm: Witterung und Klima. Eine Einführung in die Meteorologie und ­Klimatologie. Wiesbaden 2006 Lichtverschmutzung: •  Hänsch, Robert et al.: Möglichkeiten der ökono­ mischen Bewertung des Verlusts der Nacht. Wien 2012 •  Held, Martin; Hölker, Franz; Jessel, Beate (Hrsg.): Schutz der Nacht. Lichtverschmutzung, Biodiversität und Nachtlandschaft. BfN-Schriften Nr. 336. Bonn 2013 •  Kyba, Christopher et al.: Artificially lit surface of Earth at Night Increasing in Radiance and Extent. In: Science Advances 11/2017 •  Posch, Thomas et al. (Hrsg.): Das Ende der Nacht. Lichtsmog: Gefahren – Perspektiven – Lösungen. Berlin 2013 •  Rich, Catherine; Longcore, Travis (Hrsg.): Ecological Consequences of Artificial Night Lighting. Washington D. C. 2006

146

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Handlungsfeld Emissionen Jürgen Baumül ler, Sigr id Bus ch, Diet r ich Henckel, Antonella Sgobba

A

llgemein ist es das Ziel, Schadstoffeinträge in die Umwelt zu vermeiden und deren negative Effekte mithilfe gezielter Maßnahmen zu minimieren. Hierbei gilt es, die Ursachen der Emissionen zu betrachten und Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Verkehrsplanerische Maßnahmen, die ein effizienteres und umweltfreundlicheres Mobilitätsverhalten ermöglichen, können beispielsweise sowohl Lärm- als auch Luftschadstoffemissionen senken. Zusätzlich zu den planerischen Maßnahmen stehen ordnungsrechtliche Instrumente zum Schutz vor Schadstoffeinwirkung zur Verfügung. Im Folgenden wird zwischen Emissionen und Immissionen unterschieden: Sind Emissionen Schadstoffeinträge, die sich aus einer Quelle in die Umgebung ausbreiten, so beschreiben Immissionen deren Einwirkung auf einen bestimmten Ort oder auf den Menschen (Abb. 1).

Immissionsschutz Gegenstand des Immissionsschutzes ist die Verringerung der Einwirkung von Schadstoffen auf die Umwelt. Dafür wurden verschiedene ordnungsrechtliche und planerische Instrumente entwickelt.

Ordnungsrechtlicher Rahmen Die Staatengemeinschaft der Europäischen Union hat 1996 mit der Verabschiedung der EU-Richtlinie 96/61/EG einheitliche Regelungen für die »integrierte Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung« definiert. Ebenfalls 1996

wurde die Richtlinie 96/62/EG über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität beschlossen. Im Bereich des Lärmschutzes folgte 2002 die Richtlinie 2002/49/EG (Umgebungslärmrichtlinie) zur einheitlichen Ermittlung von Umgebungslärm. Die Bestimmungen dieser EU-Richtlinien wurden in Deutschland in das seit 1974 bestehende Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImschG) integriert und damit in nationales Recht umgewandelt. Das BImschG und die auf ihm beruhenden Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften definieren Grenzwerte für den Eintrag von Lärm und Luftschadstoffen in die Umwelt und regeln darüber hinaus die Bereiche Gewässerund Bodenschutz sowie Kreislauf- und Abfallwirtschaft (siehe Herausforderung Wasser und Bodenschutz, S. 96ff.; Herausforderung Stoffströme, S. 106f.). Für den Lärmschutz kommt bei Genehmigungsverfahren die Verwaltungsvorschrift »Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm« (TA Lärm 1968, 1998, 2017) zur Anwendung, für den Bereich der Luftschadstoffe ist die Verwaltungsvorschrift »Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft« (TA Luft 1964, 2002) zu berücksichtigen. Zur Limitierung des Eintrags von Wärme und Licht in die Umwelt existieren in Deutschland derzeit lediglich Richtwerte und Empfehlungen.

Planerische Instrumente Auf den Eintrag von Lärm, Luftschadstoffen, Wärme und Licht in die Umwelt lässt sich im Rahmen sektoraler Planungen (z. B. Verkehrs-, Lärmschutz- und Lichtplanung sowie technische Verund Entsorgung) Einfluss nehmen. Von Bedeutung ist dabei die Zusammenführung der sektoralen Planungen zu integrierten Konzepten, die durch die rechtsverbindlichen Instrumente der Bauleitplanung (Flächennutzungsplan und Bebauungsplan) gesichert werden.  SB, AS

147

2.4 — Ökologie

65

62,5

67,5

57,5 60

Emission

Transmission

Immission

55 52,5 50

Quelle

0m

50 m

100 m

Abb. 1 Ausbreitung von Lärm

Abb. 1

Maßnahmen gegen Lärm Lärm schadet der Gesundheit und beeinträchtigt das menschliche Wohlbefinden. Damit ist er auch dafür verantwortlich, dass Wohnquartiere und Städte erheblich an Attraktivität und Lebensqualität verlieren. Aus diesem Grund kommt dem Schutz vor Lärmimmission eine sehr wichtige Rolle zu. Maßnahmen zur Minderung der Lärmemissionen sind in Deutschland rechtsverbindlich, wenn sich Überschreitungen der Grenzwerte feststellen lassen. Auf der Ebene der EU schreibt darüber hinaus die EU-Umgebungslärmrichtlinie fest, dass seit 2007 jede Kommune ab 250 000 Einwohnern – und seit 2012 auch Kommunen ab 100 000 Einwohnern – im Abstand von fünf Jahren Lärmkarten anfertigen muss. Diese stellen wichtige Instrumente dar, um Probleme und Konflikte aufzuzeigen und darauf aufbauend Schutzmaßnahmen zu implementieren. Sind schädliche Effekte aufgrund eines hohen Lärmpegels zu erwarten, so müssen Konfliktkarten und Lärmschutzplanungen unter Einbeziehung der Öffentlichkeit aufgestellt werden, die ebenfalls alle fünf Jahre zu aktualisieren sind. Es liegt in der Verantwortung der Kommunen, je nach Größe des belasteten Gebiets, Anzahl der durch Lärm betroffenen Personen und Höhe der Lärmbelastung Prioritäten zu setzten und die erforderlichen Maßnahmen für eine Verbesserung der Situation zu ergreifen. Das Umweltbundesamt empfiehlt den Gemeinden, bei gesundheitsschädlichen Überschreitungen des Gesamttag-Lärmindex L (den) ab 65 dB(A) und des Nachtlärmindex L (night) ab 55 dB(A) kurzfristig umsetzbare Lärmminderungsmaßnahmen (z. B. Lkw-Verbote, Tempo 30 nachts, Schließung von Baulücken etc.) in die Wege zu leiten. Bei Überschreitungen von L (den)

ab 60 dB(A) und L (night) ab 50 dB(A) sollen Maßnahmen zur Minderung der Belästigungen ergriffen werden, die mittelfristig umsetzbar sind, wie die Umgestaltung des Straßenraums, Sanierung der Fahrbahn etc.1 In einigen Städten wie z. B. Stuttgart gelten etwas höhere Grenzwerte für die Lärmaktionsplanung. Hier erfordern erst Schallpegel ab 70 dB(A) tagsüber und 65 dB(A) nachts eine kurzfristige Lärmsanierung. Die Stadt Stuttgart, die bereits einige Maßnahmen im Rahmen der ersten Lärmaktionsplanung 2009 umsetzen konnte (z. B. Ausbau und Förderung des ÖPNV, Durchfahrtsverbot für Lkws über 3,5 t durch die Stadt, Parkraumkonzepte für Wohngebiete etc.), hat sich bis 2030 das Ziel gesetzt, in Wohngebieten einen durchschnittlichen Schallpegel unter Berücksichtigung aller Emissionsquellen von weniger als 55 dB(A) tagsüber und 45 dB(A) nachts zu erreichen (Vision Lärmschutz Stuttgart 2030).2 Diese Entscheidung ist das Ergebnis der 2012 durchgeführten Lärmkartierung, die deutlich gemacht hat, dass rund 16 000 Menschen in Stuttgart in Gebieten leben, die einen durch Straßenverkehr verursachten Lärmpegel von über 60 dB(A) in der Nacht aufweisen. Lärmschutzmaßnahmen können direkt beim Verursacher – z.B. dem Verkehr – sowie auf städtebaulicher und architektonischer Ebene durchgeführt werden. Dabei unterscheidet man zwischen aktiven und passiven Maßnahmen. Aktive Maßnahmen kommen direkt an der Lärmquelle zum Einsatz, während passive am Immissionsort erfolgen, beispielsweise durch die Ausrüstung der Gebäude mit Schallschutzfenstern. Passive Lärmschutzmaßnahmen werden dann durchgeführt und finanziert, wenn die aktiven in ihrer Wirkung nicht ausreichen. Einzelheiten hierzu finden sich in den entsprechenden Richtlinien (VDI-Richtlinie 2719 »Schalldämmung von Fenster und deren Zusatzeinrichtungen« und DIN 4109 »Schallschutz im Hochbau«).

1  UBA 2008 Vision Lärmschutz 2  Stuttgart 2030

148

Kapitel 2 — Handlungsfelder

> - 99,0 dBA > 35,0 dBA > 40,0 dBA > 45,0 dBA > 50,0 dBA > 55,0 dBA > 60,0 dBA > 65,0 dBA > 70,0 dBA > 75,0 dBA > 80,0 dBA > 85,0 dBA Abb. 2

Lärmschutzmaßnahmen im Städtebau

Abb. 2  unterschiedliche Baustrukturen und ihre ­Auswirkung auf die Schall­ ausbreitung (Simulation in CadnaA) Abb. 3  Lärmschutz durch Gebäuderiegel, Lärmschutzwand und entsprechende Anordnung der Räume innerhalb einer Wohnung

Lärmemissionen werden maßgeblich durch Straßenverkehr verursacht. Somit spielen verkehrsplanerische Lärmschutzmaßnahmen eine erhebliche Rolle bei der Vermeidung, Minderung und Verlagerung von Kfz-Emissionen. In außerörtlichen Bereichen zählen Lärmschutzanlagen wie Lärmschutzwälle und -wände zu den verbreitetsten Lösungen bei Straßenlärm und sind umso effizienter, je näher sie an der Lärmquelle errichtet werden (Abb. 1, S. 147). Lärmschutzwälle lassen sich bei ausreichendem Platz in die Landschaft integrieren und können auf der lärmabgewandten Seite auf Quartiersebene Funktionen wie Garagen aufnehmen, erzeugen jedoch erhebliche Kosten. In innerstädtischen Bereichen sind Maßnahmen wie Verkehrsverbote und -beschränkungen, Durchfahrtsverbot für Lkws, grüne Welle, lärmmindernde Fahrbahnbeläge sowie Priorisierung des ÖPNV, Reduzierung des Straßenquerschnitts, Ausbau der Radwege, Car- und Bikesharing, ­Einsatz von Elektroantrieben und Parkraummanagement die effektivsten Lösungsansätze zur Verbesserung der Lärmsituation. Geschwindigkeitsbeschränkungen in innerstädtischen Bereichen von 50 auf 30 km/h können eine Minderung der Lärmemissionen um 3 dB(A) bewirken. Lassen sich Schallemissionen durch Verkehrsplanung nicht ausreichend minimieren, so sind städtebauliche Maßnahmen im Quartier sinnvoll. Die Schließung von Baulücken kann z.B die Schall­ausbreitung auf umliegende Gebäude ver-

mindern. Bei der Planung neuer Quartiere lässt sich die Schallausbreitung durch die Anordnung der Gebäude und durch geeignete Baustrukturen beeinflussen (Abb. 2). Parallel zur Lärmquelle stehende Gebäudezeilen und geschlossene Block­ randbebauungen schaffen einen weitgehend lärmgeschützten Bereich auf der Rückseite bzw. im Innenhof. Eine entsprechende Nutzungszonierung im Grundriss kann auf die unterschiedliche Lärmexponiertheit der Baukörper reagieren. Lärmempfindliche Nutzungen wie Schlafzimmer und Wohnräume sollten auf der ruhigen Seite angeordnet werden, wohingegen Küche, Bad, Esszimmer, Abstellräume, Treppenhäuser, Wintergärten, Laubengänge, Doppelfassaden oder geschlossene Balkone eine Pufferzone auf der vom Lärm betroffenen Seite bilden können (Abb. 3). Durch eine Doppelfassade ist es beispielsweise möglich, eine Lärmminderung von bis zu 10 dB(A) zu erreichen. Leider ist die Schallschutzwirkung von Bepflanzungen – sieht man von psychologischen Effekten ab – sehr gering. Eine deutlich wahrnehmbare Wirkung entsteht erst ab einem 100 m breiten und dichten Waldstreifen. Um Lärmschutzmaßnahmen zu steuern und umzusetzen, steht den Stadtplanern das Instrument der kommunalen Bauleitplanung zur Verfügung. Nach Baugesetzbuch (BauGB) können Lärmschutzanlagen im Flächennutzungsplan als Flächen »für Vorkehrungen zum Schutz gegen schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes« vorgesehen werden (BauGB § 5 Abs. 2 Nr. 6), die die Nutzungszuordnung sowie Abstände oder freizuhaltende

149

2.4 — Ökologie

Durchgangsstraße Durchgangsstraße

Grenzabstand Grenzabstand

Lärmquelle Lärmquelle

Gewerbe/ Garagen/ Gewerbe/ Ateliers Garagen/ Ateliers

Innenhof

Wohnungen

Innenhof

Wohnungen

Lärmschutzriegel Lärmschutzriegel

lärmempfindliche Räume lärmempfindliche Räume

Lärmquelle

Lärmhindernisse

Lärmquelle

Lärmhindernisse

lärmempfindliche Räume lärmempfindliche Räume

Flächen festsetzen. Weitere Festlegungen lassen sich auf Bebauungsplanebene verbindlich regeln. Über die Definition der Art der baulichen Nutzung gemäß Baunutzungsverordnung (BauNVO) können die Nutzungen innerhalb eines Gebiets festgelegt und je nach Lärmempfindlichkeit angeordnet werden. Auch die Festsetzung der Bauweise und des Maßes der baulichen Nutzung ist ein wirksames Instrument gegen Lärm: Eine geschlossene Bebauung statt einer offenen Baustruktur schirmt den Lärm besser ab, und auch die Höhe einer Bebauung kann als Schutz gegen Lärm dienen. Diese Festsetzungen im Bebauungsplan lassen sich durch Anforderungen hinsichtlich passiver Maßnahmen weiter konkretisieren und ergänzen Bei der Auswahl der angemessenen Lärmschutzmaßnahmen gilt es, stadtgestalterische, soziale, funktionale, ökologische und ökonomische Aspekte abzuwägen. Über die Minderung der Lärmbelastung hinaus lassen sich wichtige Rückkopplungseffekte feststellen, die sich in einer Steigerung der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum und in der Attraktivität der Stadt widerspiegeln. Konzepte wie die kompakte Stadt, die Stadt der kurzen Wege und der Nutzungsmischung, die

einer nachhaltigen Stadtentwicklung entsprechen, erfordern jedoch eine höhere Lärm­akzeptanz, da eine Stadt der Stille keine lebendige Stadt sein kann.  SB, AS

Küche Küche WC

Maßnahmen gegen Luft­ schadstoffe Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte im Jahr 2000 für 28 Luftschadstoffe Luftqualitätsleitwerte, sogenannte Air Quality Guidelines for Europe. Sie dienen dazu, den verantwortlichen Regierungen und Behörden wissenschaftlich fundierte Hintergrundinformationen über Luftverunreinigungen zur Beurteilung von Risiken für den Menschen und die Vegetation sowie zur Festlegung von rechtsverbindlichen Luftqualitätsstandards an die Hand zu geben. Eine Aktualisierung für die Werte für Feinstaub (Particulate Matter – PM), Ozon (O3), Stickstoff-

WC Bad

Wohnen/ Essen Wohnen/ Essen Zimmer Zimmer

Bad Zimmer Abb. 3

Zimmer

Balkon Balkon

Lärmreduktion 0 dB Lärmreduktion 2 –5 dB 05 –10 dB dB 210 –5–20 dBdB 5>–10 dB 20 dB 10 –20 dB > 20 dB

150

Emissionswerte für Pkw mit Dieselmotoren [mg/km]

Kapitel 2 — Handlungsfelder

NOx

600

PM10

500

400

300

200

100

0 1993 EURO-1

1996 EURO-2

2000 EURO-3

2005 EURO-4

2009 EURO-5

2011/14 EURO-6

2017 EURO-6d

2020 EURO-6d

Abb. 4

Weitere ­Informationen

Lärm: •  Reuter, Ulrich et al.: Städtebauliche Lärmfibel. Hrsg. vom Ministerium für Verkehr und Infrastruk­ tur Baden Württemberg. Stuttgart 2013 •  Umweltbundesamt: Handbuch Lärmaktionspläne. Handlungsempfehlungen für eine lärmmindernde Verkehrsplanung. Dessau 2015 •  Umweltbundesamt, Europäische Akademie für städtische Umwelt (Hrsg.): SilentCity. Berlin 2008 •  Umweltbundesamt: Maßnahmenblätter zur Lärmminderung im Straßenverkehr. Dessau 2009 •  Umweltbundesamt: PULS Praxisorientierter Umgang mit Lärm in der räumlichen Planung und im Städtebau. Dessau 2006 Lichtverschmutzung: •  International Dark-Sky Association (IDA): ­International Dark-Sky Parks; www.darksky.org •  Köhler, Dennis: Künstliches Licht im öffentlichen Raum als Aufgabe der Stadtplanung. Der Weg zu einer integrierten Lichtleitplanung. In: Köhler, ­Dennis; Walz, Manfred; Hochstadt, Stefan (Hrsg.): LichtRegion. Positionen und Perspektiven im ­Ruhrgebiet. Essen 2010, S. 181–198 •  Kyba, Christopher C. M. et al.: Red Is the New Black. How the Colour of Urban Skyglow Varies with Cloud Cover. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 01/2012, S. 701–708 •  Kyba, Christopher C. M.; Hänel, Andreas: Hölker, Franz: Redefining Efficiency For Outdoor Lighting. In: Energy and Environmental Science. 07/2014 S. 1806–1809, dx.doi.org/10.1039/C4EE00566J •  LoNNe: Statement of the EU COST Action ES1204 LoNNe (Loss of the night network), www.cost-lonne.eu/wp-content/uploads/2013/08/ LoNNe-Statement-for-NPAs_2016_160722.pdf (Stand: 07.01.2018) •  TRILUX AG (Hrsg.): Beleuchtungspraxis. ­Außenbeleuchtung. Arnsberg 2009 •  Verband der Netzbetreiber und Deutsche ­Lichttechnische Gesellschaft e.V. – LiTG (Hrsg.): Straßenbeleuchtung. Leitfaden für Planung, Bau und Betrieb. Frankfurt/M. et al. 2009

dioxid (NO2) und Schwefeldioxid (SO2) erschien 2005. Im Jahr 2010 wurden auch entsprechende Guidelines für die Innenraumluft herausgegeben (www.who.int). Während sich zu Beginn Maßnahmen zur Reduktion von Schadstoffen hauptsächlich auf belastete Arbeitsplätze bezogen hatten, zeigte sich im Lauf der industriellen Entwicklung die Notwendigkeit, auch die Belastung der Außenluft zu reduzieren. Genannt sei hier die Smog-Katastrophe in London 1952, bei der zwischen 4000 und 12 000 Menschen starben. Ursache für die hohe Luftbelastung war die Verbrennung von schwefelreicher Kohle, was zu sehr hohen SO2-Konzentrationen führte. Als Folge dieser Smog-Katastrophe wurde in England im Jahr 1956 der »Clean Air Act« beschlossen. Eine wichtige Maßnahme war die Reduzierung offener Kamine zu Heizzwecken. In der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre bestand die Hauptluftbelastung aus SO2 und Schwebstaub. Man versuchte, die Luftbelastung durch die Industrie mithilfe hoher Schornsteine zu reduzieren, da technische Maßnahmen noch nicht Stand der Technik waren. Aufgrund der hohen Luftbelastung wurden in einzelnen Bundeländern Smog-Verordnungen erlassen, die es ermöglichten, bei gesundheitsschädlichen Konzentrationen die Produktion in den Fabriken zu drosseln und den Autoverkehr zu untersagen. Inzwischen wurden diese Verordnungen wieder aufgehoben. Für Industrie- und Gewerbeanlagen wurden gemäß der Gewerbeordnung (heute BundesImmissionsschutzgesetz) Forderungen zur Luftreinhaltung formuliert. Die »Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft« (TA Luft) aus dem Jahr 1964 war die »Erste Allgemeine Verwaltungsvorschrift«. Sie wird bis heute ständig fortgeschrieben und beinhaltet stoffbezogene Emissions- und Immissionswerte. Mess- und Berechnungsverfahren sind darin ebenfalls vorgeschrieben, ins-

besondere das Verfahren der Ausbreitungsrechnung. Die neueste Fassung stammt aus dem Jahr 2002. Die geplante Neufassung der TA-Luft (2017) wurde abgesagt. Die Grenzwerte sollen in einer Verordnung aktualisiert werden. Die TA Luft richtet sich an die Genehmigungsbehörden für genehmigungspflichtige industrielle und gewerbliche Neuanlagen und ist für diese bindend. Aber auch bestehende Anlagen müssen innerhalb gewisser Übergangsfristen den Stand der Technik erreichen und den Schadstoffausstoß reduzieren. Die Hauptschadstoffquelle ist nun der Autoverkehr. Mitte der 1980er-Jahre wurden die Abgasgrenzwerte (Euro-Norm) für Neuwagen so verschärft, dass der Einbau von Katalysatoren notwendig war. Die Abgasgrenzwerte werden in der Regel alle vier Jahre weiter herabgesetzt – die Euro-6-Stufe galt seit 2014. Weitere Stufen gelten seit 2017 und 2020 mit einem neuen Testzyklus, der dem realen Fahrverhalten eher nahe kommt (Abb. 4). Während früher die Maßnahmen zur Luftreinhaltung darauf abzielten, gesundheitsschädigende Konzentrationen zu reduzieren, bewegt man sich heute, mit Ausnahme von einigen Belastastungsschwerpunkten in Straßenräumen, auf dem Niveau der Vorsorgewerte. Bei Überschreitung von Grenzwerten sind Luftreinhaltepläne Pflicht. Auch wenn die Treibhausgase per Definition nicht als Luftschadstoffe mit direkter Wirkung auf Mensch, Tier und Pflanze anzusehen sind, zeigte sich die Notwendigkeit, die Emission dieser Gase einzuschränken (Kyoto-Protokoll 1997), um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Eine Fortschreibung des 2012 ausgelaufenen Kyoto-Protokolls ist das Übereinkommen von Paris 2015. Zur Reduktion der die Ozonschicht schädigenden FCKWs wurden schon 1989 im Montreal-Protokoll Regelungen getroffen.  JB

151

2.4 — Ökologie

Abb. 4  Abgasgrenzwerte für Neuwagen mit Dieselmotor Abb. 5  Lichtbänke aus Leuchtstoffröhren, Hofgarten, Düsseldorf (DE) 2002, Stefan Sous Abb. 6  Verschiedene Straßenlaternen beleuchten den Himmel verschieden stark und erhöhen oder senken so die Lichtverschmutzung.

Abb. 5

Maßnahmen gegen Lichtver­ schmutzung Mit wachsendem Bewusstsein für die negativen Folgen von Lichtverschmutzung gewinnt auch die Steuerung von nächtlicher Außenbeleuchtung an Bedeutung. Energieeffiziente Techniken ermöglichen auch den gezielteren Einsatz der Beleuchtung. Wegen steigender Energiepreise und kommunaler Finanznot sowie dem Verbot alter Techniken (z. B. Quecksilberdampflampen, Gaslampen) muss die Außenbeleuchtung in vielen Kommunen neu konzipiert werden. Immer mehr geht man auch dazu über, Lichtmasterpläne oder Beleuchtungskonzepte für wichtige Bereiche oder die ganze Stadt zu entwickeln. Neben der technischen Umrüstung und der Steigerung der Energieeffizienz geht es auch darum, einen Beitrag zur Stadtgestaltung, zur Illumination wichtiger Gebäude und Ensembles zu leisten, dabei aber auch Umweltbelange zu berücksichtigen und Ansätze für eine Steuerung privater, für den Außenraum relevanter Beleuchtung (z. B. Leuchtwerbung, Screens) zu finden. Solche Masterpläne sind freiwillige Aufgaben der Kommunen, die zunächst erst einmal nur die Kommune selbst binden. Kernanliegen einer Planung, die Lichtverschmutzung vermeidet, müssen sein:3 •• nur im notwendigen Ausmaß (Helligkeit) und unter Berücksichtigung der Lichttemperatur zu beleuchten (3000 K und niedriger, um die besonders umweltschädlichen Blauanteile niedrig zu halten) •• nur das zu beleuchten, was wirklich beleuchtet werden soll, um unnötige Abstrahlung und Lichtüberschreitung zu vermeiden (Abb. 5) •• nur zu den Zeiten zu beleuchten, zu denen es

notwendig ist, also nachfrage- und situationsabhängig Ein wichtiger Baustein, um die Lichtverschmutzung zu reduzieren, ist die Installation von Beleuchtungen, die die Abstrahlung nach oben deutlich reduzieren (Abb. 6). Hatte früher ohne umfangreiche künstliche Beleuchtung ein bewölkter Himmel die Nacht dunkler gemacht, zeigen neuere Untersuchungen,4 dass heute durch eine starke Beleuchtung aufgrund der Reflexion durch die Wolken die Stadtnacht noch heller wird. Generell ist zu konstatieren, dass trotz einiger positiver Tendenzen die Beleuchtungsintensität bislang kontinuierlich weiter zunimmt, wobei jedoch gravierende Unterschiede zwischen verschiedenen Städten bestehen. Das ist u. a. eine Folge davon, dass Licht im Vergleich zu anderen umweltrelevanten Störfaktoren (z. B. Lärm) bislang deutlich weniger reguliert ist, auch wenn es einzelne Handreichungen für Deutschland5 und in manchen Ländern sogar entsprechende Gesetze (z. B. Slowenien) gibt. Insofern sollte grundsätzlich über eine klarere Regulierung nächtlicher Außenbeleuchtung hinsichtlich Intensität, Lichttemperatur, Dauer, Abstrahlung nachgedacht werden, die auch die unterschiedlichen, für die Außenbeleuchtung und die Lichtverschmutzung relevanten Quellen und Akteure systematisch einbezieht und nicht nur wie die DIN für Straßenbeleuchtung Mindestniveaus empfiehlt, sondern vor allem auch Maximalwerte definiert. Eine örtlich begrenzte sehr radikale und spezifische Maßnahme zur deutlichen Senkung des Beleuchtungsniveaus ist die Einrichtung besonderer Schutzzonen wie Dark Sky Parks. Dabei verpflichten sich die beteiligten Gebietskörperschaften, die nächtliche Außenbeleuchtung auf ein Mindestmaß zu reduzieren, um im Gegenzug von der International Dark-Sky Association (IDA) als Dark Sky Park zertifiziert zu werden.  DH

LoNNe – Loss of the Night Net3  work (www.cost-lonne.eu/) 4  Kyba /Ruhtz 2012 5 Verband der Netzbetreiber, Deutsche Lichttechnische Gesellschaft 2009

Abb. 6

K A P ITE L 2

Heraus forderungen & Handlungsfelder

2 .5

Ökonomie

153

2.5 — Ökonomie

Herausforderung Ökonomie Ma r t in Al tmann, Gregor C. Gras s l, Guido Spars

S

pätestens seit der Immobilienund Finanzkrise in Europa und den USA ab 2007 wird deutlich, dass nur nachhaltige und langfristig angelegte Investmentstrategien zukunftsfähig sind. Sowohl im globalen als auch im nationalen und kommunalen Kontext führen kurzfristige Interessen oft zu Fehlentwicklungen. Dies äußert sich auch in der Stadtund Quartiersplanung. Experten sehen speziell in Deutschland aktuell einen Boom an Immobilieninvestitionen, allerdings zumeist in Wachstumszentren wie den Top7-Standorten (München, Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main, Stuttgart, Köln und Düsseldorf ). Ausgehend vom Niveau 2004 sind die Preise für Eigentumswohnungen bis Ende 2017 im deutschen Durchschnitt um 45 % und für Einfamilienhäuser um 26 % gestiegen. Die Neuvertragsmieten legten im selben Zeitraum im Durchschnitt um 20 % und die Bestandsmieten um 9,6 % zu.1 In allen Wachstumszentren fehlen ausreichende Flächen für die zusätzliche und die aufgestaute Nachfrage. Es kommt zu knappheitsbedingten Preissteigerungen in vielen Teilmärkten. Aufgrund der besonders hohen Nachfrage und dem hohen Anlagedruck vieler privater und institutioneller Investoren wird diese Entwicklung in Deutschland allerdings nicht als Indiz für eine Immobilienblase gewertet. Insgesamt sind jedoch Entwicklungsstrategien erforderlich, die zum einen die Renditeerwartungen von Investoren als auch die Zielsetzungen und Anforderungen der Kommunen und Nutzer im Auge haben. Gleichzeitig müssen die Städte eine geordnete und verträgliche Entwicklung in den Stadtteilen und Quartieren vor dem Hintergrund »Innenentwicklung vor Außenentwicklung« sicherstellen. Mit der zunehmenden Verknappung von Grundstücken und Flächen sowie den künftig zu erwar-

tenden Änderungen in den demografischen und sozialen Verhältnissen nimmt die Beachtung von Brachflächen und unter- bzw. schlecht ausgenutzten Flächen zu. Quartiere werden damit als Planungs- und Entwicklungsprojekte erkannt.2 Dies bedeutet, dass mehr Planungsgrößen in die Bewertung eingehen, z. B. Bestand, Denkmalschutz, Infrastruktur, Verkehr, Nachbarschaften und soziale Strukturen. Darüber hinaus kommt der Beteiligung von Bürgern und Politik im Planungsprozess eine immer größere Tragweite auch im wirtschaftlichen Sinne zu. Da die Partnerschaft von Kommunen und Investoren bei Stadtentwicklungsprojekten somit zunehmend an Bedeutung gewinnt, wird auch die ökonomische Tragfähigkeit von immobilienwirtschaftlichen Projekten zu einer entscheidenden Größe bei der Bewertung der Realisierbarkeit. Die Sichtweise und Renditeanforderungen von privatwirtschaftlicher und öffentlicher Projektträgerschaft unterscheiden sich dabei jedoch erheblich. Die Bewertungsmethoden für eine nachhaltige Quartiers- bzw. Flächenentwicklung sind entsprechend darauf auszurichten. Aufgabe ist es, eine Win-Win-Situation zu schaffen, die auch qualitative Faktoren berücksichtigt. Diese unterschiedlichen Sichtweisen und Herausforderungen auf den verschiedenen Ebenen werden in diesem Kapitel erläutert.

Globale und nationale Perspektiven Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung erlebt seit den 1990er-Jahren eine besondere Aufmerksamkeit in Politik, Öffentlichkeit und

1  F+B Beratung Hamburg 2  Spars 2013

Kaufwert für Bauland [€/m2]

154

Kapitel 2 — Herausforderungen

Bauland insgesamt

160

baufreies Land

Rohbauland

140 120 100 80 60 40 20 0 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Jahr

Abb. 1

3  Lendi 1998 4  Kuhn/Rok 2011 5 Deutsche Bundes­ regierung 2012

wissenschaftlichem Diskurs. Seit der Arbeit der Brundlandt-Kommission (1987 Veröffentlichung des Brundtland-Berichts) und der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development – UNCED) 1992 in Rio de Janeiro ist nachhaltige Entwicklung zu einem Leitbild avanciert, auf das sich unterschiedlichste politische Kräfte und gesellschaftliche Akteure beziehen. Mit der Agen­­da 21 als einem von fünf Abschlussdokumenten der Rio-Konferenz liegt ein 40 Kapitel umfassender Katalog von Zielen und Maßnahmen vor, der auch die Thematik der Städte und der Stadtentwicklung beinhaltet. Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung ist somit in den letzten Jahren zum kleinsten gemeinsamen Nenner geworden, auf den sich Regierungen, Parteien, Politiker, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler national wie auch international als Zielrahmen einigen konnten. Eine lange Reihe von Absichtserklärungen und Beschlussdokumenten belegen hierbei das ernsthafte Bestreben, jedoch auch die Unbestimmtheit des Begriffs. In Deutschland fanden die Ergebnisse der RioKonferenz in einer entsprechenden Neufassung von Baugesetzbuch (BauGB) und Raumordnungsgesetz (ROG) ihre Umsetzung.3 Explizit ist der Begriff »nachhaltige Entwicklung« als Zielformulierung in den Gesetzestext eingegangen. In § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB ist für die Bauleitplanung das Nachhaltigkeitsprinzip verankert, Bebauungspläne sollen künftig eine nachhaltige Entwicklung gewährleisten. Das 49 Seiten umfassende Beschlussdokument der Konferenz »Rio+20« (2012) enthält eine Aufwertung des UN-Umweltprogramms UNEP (United Nations Environment Programme), das zwar nicht, wie von Deutschland gefordert, in den Stand einer eigenständigen UN-Umweltorganisation erhoben, aber mit mehr Rechten und Mitteln ausgestattet wurde. Das Dokument beinhaltete allerdings keine neu formulierten oder weiter gefassten Entwicklungs- und Umweltschutzziele, diese sollten jedoch in den kommenden Jahren ausgearbeitet werden. Allerdings strebte man eine stärkere Beteiligung der Wirtschaft an einer nachhaltigen Entwicklung nach dem Modell der Green Economy an. Nachhaltige Entwicklung ist

eine Wirtschaftsweise, »die natürliche Ressourcen nur im Rahmen ihrer Regenerations- und Ab­­sorptionsfähigkeit nutzt und gleichzeitig allen Menschen in gleichem Maße ein ethisch vereinbartes Mindestmaß an Lebensqualität garantiert« (Abb. 2).4 Die Politik hat hierbei die Aufgabe, auf allen Entscheidungsebenen dafür zu sorgen, dass die jeweiligen Standards verbindlich vereinbart und ihre Nichteinhaltung geahndet wird. Mit dem Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie dokumentierte die Bundesregierung den Erfolg ihres »Managementkonzepts der Nachhaltigkeit«. Sie hat das Leitbild in zehn Managementregeln zusammengefasst, hierzu gemeinsam mit dem Rat der Nachhaltigkeit als Expertenteam 38 Ziele formuliert und Indikatoren zur Messung der Zielerreichung in 21 Themenfeldern bestimmt. Somit wird in einem Monitoring-Prozess regelmäßig der Stand der Entwicklung ausgewertet und alle vier Jahre in einem Fortschrittsbericht publiziert.5 Die Bundesregierung sieht im nachhaltigen Wirtschaften der Unternehmen langfristig einen Wettbewerbsvorteil im internationalen Handel, sofern es deutschen Unternehmen gelingt, sich frühzeitiger auf die Ziele nachhaltiger Entwicklung auszurichten. Auch in der deutschen Wirtschaft hat sich Nachhaltigkeit inzwischen als relevantes Leitbild etabliert. So bietet z. B. das Konzept der Corporate Social Responsibility (CSR) den Unternehmen einen wichtigen Ansatz, eigenverantwortlich unternehmerisches Handeln mit gesellschaftlicher Verantwortung zu verbinden. Insgesamt wird das Nachhaltigkeitsziel des Übergangs zu einer kohlenstoffarmen, ressourcen­ effizienteren Produktion erhebliche Investitionen erfordern, kann aber zugleich auch wirtschaftliche Chancen im Bereich der Green Economy bieten. Die Gesamtwirtschaft ist zunehmend von der Globalisierung geprägt, hierzu gehören die intensive internationale Vernetzung und Arbeitsteilung, die wachsende Bedeutung globaler Konzerne und der steigende internationale Wettbewerb auf den Märkten. Mit der wachsenden Bedeutung liberalisierter Kapitalmärkte tritt im Bereich der Immobilienmärkte immer stärker die Sekundärfunktion der Immobilien als Vermögensanlage (Asset) in den Vordergrund. Somit bewegen sich die globalen Finanzströme nach eigenen Regeln in be­­stimmte Anlagesegmente (z. B. Immobilienteilmärkte und -projekte), die untereinander in Konkurrenz um diese Investitionen treten. Die Städte und Regionen, die sowohl im Bereich der technischen Infrastruktur als auch im Bereich der nachhaltigen Wirtschaft und Stadtentwicklung

155

2.5 — Ökonomie

generell vor großen Zukunftsinvestitionen stehen, werden hierbei künftig noch stärker auf private Investoren und innovative Finanzierungsmodelle (z. B. Stadtentwicklungsfonds) angewiesen sein.6 Laut dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) gibt es einen aufgestauten Investitionsbedarf in den Kommunen in Höhe von 136 Mrd. Euro und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) weist darauf hin, dass insbesondere die Engpässe bei Planungs- und Baukapazitäten die Städte und Gemeinden bei den Investitionen ausbremsen.7 Es gilt, große Herausforderungen der nachhaltigen Stadt- und Quartiersentwicklung im Bereich der Wiedernutzung von Immobilien und Brachen, bei der Umgestaltung und Anpassung der sozialen und technischen Infrastrukturen (z. B. hinsichtlich des demografischen Wandels) und bei der Konzeption innovativer Mobilität strukturiert anzugehen.8 Hierbei stellt die defizitäre Finanzlage der Kommunen mit zum Teil dramatischen Verschuldungslagen einzelner Gemeinden eine ernsthafte Bedrohung für die Umsetzung nachhaltiger Entwicklungskonzepte dar.  GS

Perspektive ­Kommune Für Kommunen sind Quartiersentwicklungen zunächst eine organisatorische Herausforderung. Lange Laufzeiten, die Erarbeitung grundlegender Strategien, komplexe Planungsverfahren und die haushalterischen Rahmenbedingungen ­führen oft zur Überforderung der kommunalen Strukturen. Mit der Entscheidung für einen grundlegenden Stadtumbau in Stadtteilen oder Quartieren folgt die Kommune den Anforderungen einer angemessenen Daseinsvorsorge, sei dies die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, die Ansiedlung von Unternehmen oder die Bindung von Kaufkraft durch Ausweisung von Sondergebieten des Einzelhandels. Die Kommune kann die Rahmenbedingungen schaffen, aber zumeist nicht als alleiniger Projektträger auftreten. Nur wenn durch die Akquisition von Fördermitteln und Zuschüssen wichtige Leitinvestitionen, z. B. in den Bereichen Kultur oder Soziales, angestoßen werden, hat eine Stadt die Möglichkeit, aktiv und investiv zu gestalten. Dabei bindet der Wettbewerb um die Mittel von Förderprogrammen (Städtebauförderung wie beispielsweise Stadtumbau West, Soziale Stadt

oder Ähnliches) im Rahmen der Entwicklung von Projekten personelle Kapazitäten und Mittel zur Kofinanzierung. Zukunftsweisende Ergebnisse zeigen sich bereits in umfassenden Stadtentwicklungskonzepten und Projektideen, die tatsächliche Umsetzung konkreter Maßnahmen gestaltet sich demgegenüber weitaus schwieriger. Daher ist die Einbindung von privatem Kapital und Kapazitäten in Form von Public-Privat-Partnership (PPP)Modellen oder Entwicklungsgesellschaften oft die einzige Möglichkeit zur Realisierung solcher Projekte. Formelle und informelle Instrumentarien sowie öffentlich-rechtliche Verträge (z. B. städtebauliche Verträge) sollen dabei die Zielerreichung sichern. Die Begleitung und Überwachung des Entwicklungsprozesses, die Übernahme und Bewirtschaftung von Infrastrukturanlagen sowie das politische Risiko des Scheiterns eines Projekts bleiben jedoch bei der Kommune. Somit müssen verlässliche Partnerschaften gefunden oder etabliert werden, die in der Lage sind, auf Anforderungen der Stadt flexibel einzugehen. Viele Kommunen versuchen, über vertragliche Regelungen entsprechende Kosten und Lasten auf die private Seite abzuwälzen. Um einmalige Investitionen und Folgelasten des Betriebs und der Unterhaltung von kommunalen Infrastrukturen zu finanzieren, dennoch aber den Einfluss zu wahren, können z. B. folgende Regelungen vereinbart werden: •• Festlegung von städtebaulichen Strukturen und Nutzungen über die Bauleitplanung •• Herstellung und unentgeltliche Übergabe von öffentlichen Flächen •• Vorhalten von Grundstücks- oder Wohnungsflächen für ausgewählte Bevölkerungsgruppen •• Errichtung und gegebenenfalls Betrieb von sozialen Infrastrukturen •• Ergänzung bzw. Instandsetzung von äußeren Infrastrukturen im Quartier •• Festlegung von übergeordneten Qualitäten (Nachhaltigkeit, Energieversorgung) in Verträgen und in der Bauleitplanung Diese Faktoren belasten die Entwicklungskalkulation des Trägers und entlasten die kommunalen Haushalte. Es zeigt sich auch, dass Quartiersentwicklung in Abhängigkeit des Standorts, der Marktbedingungen und der jeweiligen wirtschaftlichen Lage unterschiedlich bewertet werden muss und eine gemeinsame, umsetzbare Gesamtlösung anzustreben ist. Die Umnutzung von ehemaligen militärischen Liegenschaften (z. B. amerikanische und britische) ermöglichen es, nachhaltige Entwicklungsprojekte

6  Spars 2012, S. 24f. 7  Gornig/Michelsen 2017 8  Beckmann 2012

Soziales (individuelle Bedürfnisse und Wohlbefinden)

Steuerung durch die Politik

Ökonomie

Steuerung durch die Politik

Ökologie (Ökosysteme, Rohstoffe etc.; dienen dem Allgemeinwohl) Abb. 2

Abb. 1 durchschnittliche Kaufwerte für baureifes Land und Rohbauland (2016) Abb. 2  Wechselverhältnis zwischen den drei Säulen der Nachhaltigkeit. Die Politik nimmt eine steuernde Funk­ tion zwischen den drei Säulen ein. Bei jedem Projekt gilt es, zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Zielen abzuwägen.

156

Kapitel 2 — Herausforderungen

zu starten. Die Bewertungs- und Ankaufsprozesse sowie die Möglichkeit zur Nutzung des Instruments der Verbilligungsrichtlinie des Bundes werden aus Sicht der Kommunen immer wichtiger.  MA

Perspektive ­Projekt

Interessenkonflikt Hochbau

Gerade im Hochbau kommt es immer wieder zur Zerstückelung des Projekts »Quartiersentwick­ lung« in zahlreiche einzelne Hochbauprojekte. Hier treffen unterschiedlichste wirtschaftliche Rahmen­ bedingungen und Betrachtungsweisen von Wirt­ schaftlichkeit aufeinander. Während der private Eigennutzer einer Immobilie, egal ob Eigenheim­ bauherr, Baugruppe oder Kleinunternehmer, meist ein langfristiges Verständnis und Interesse sowie einen hohen Qualitätsanspruch an seine Immobilie und das Stadtquartier hat, sind sowohl die großen Investoren, aber auch die kommunalen Wohnungs­ baugesellschaften auch kostengetrieben. Dafür sind auf der einen Seite die Renditeerwartung des Investors und gegebenenfalls der dahinter­ stehenden Immobilienfonds verantwortlich, auf der anderen Seite die kommunalen Wohnungsbau­ gesellschaften, deren Aufgabe es ist, bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

Quartiersentwicklungen sind Langzeitprojekte, bei denen neben reinen Investitionskosten auch die Sekundär- und Tertiäreffekte mittel- und langfristig berücksichtigt werden müssen. Die Herausforderung vom ökonomischen Standpunkt aus ist die transparente und strukturierte Erweiterung der Sichtweise von einer kurzfristigen Kosten- und Renditebetrachtung auf langfristige sowohl quantitative als auch qualitative Bewertungen von Quartiersentwicklungen. Ein wesentliches Problem hierbei ist, dass viele Projekte länger laufen als Legislaturperioden und dass es sich nicht um einzelne, in sich abgeschlossene Projekte handelt. Am Anfang von Quartiersentwicklungen stehen unterschiedlich motivierte Ideen. Auf politischer und gesellschaftlicher Seite können dies die Beseitigung städtebaulicher Missstände, Schaffung und Erhalt einer kommunalen Identität (oft auch in Abgrenzung zu benachbarten Städten und Kommunen) oder konkreter Handlungsdruck aus nicht befriedigter Nachfrage (Wohnungsmangel, Baulandnachfrage, Unternehmensexpansionen) sein. Diese Ideen entstehen sowohl aus volkswirtschaftlichen Überlegungen wie der Schaffung von Grundlagen für bauliche Investitionen und damit neuen Arbeitsplätzen, aber auch gänzlich ohne wirtschaftliche Begründung. Ebenso erwachsen Quartiersideen aus privatwirtschaftlicher Sicht, Motive sind hier meist die Umsetzung eines konkreten Geschäftsmodells oder vorhandenes, aber un(ter)genutztes Eigentum an großen Flächen. Erst wenn diese Ideen auf einen realen Markt und eine konkrete Entwicklungsfläche treffen, wird aus einer Vision ein tatsächlicher Projektansatz. Die große Herausforderung bei Quartiersentwicklungsprojekten besteht in der Koordination oft unzähliger Einzelprojekte. Die Quartiersentwicklung im Sinne einer Aufgabe des öffentlichen Interesses, die allein durch die Kommune von der Baurechtsschaffung über die Erschließung bis hin zum Hochbau (Kindergarten, Sozialwohnungsbau etc.) und eventuell sogar dem Betrieb abgewickelt

wird, ist ein kaum mehr anzutreffendes Modell. In den meisten Fällen beschränkt sich die Kommune auf ihre hoheitliche Aufgabe, Planungs- und Baurecht zu schaffen, und gibt diesen wirtschaftlichen Vorteil mit entsprechenden Auflagen an die nachfolgenden Projektbeteiligten (Erschließungsträger, Investoren etc.) weiter. In vielen Fällen werden bereits die Planungsaufgaben nicht nur als Outsourcing (Vergabe von Planungsleistungen durch die Kommune an private Stadtplanungsbüros) abgewickelt, sondern als Aufgabe des Investors, also nicht mehr federführend durch die Stadt, die diese durch die kommunalen Verfahrensschritte lediglich noch begleitet. Ebenso ist es üblich, die Erschließungsaufgaben mit allen wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Folgekosten an einen Träger oder Investor weiterzugeben. Unterschiedliche Abrechnungsvorschriften und -methoden wie kostendeckende öffentlich-rechtlich geregelte Erschließungsgebühren gegenüber gewinnorientierten Kostenkalkulationen eines Investors wirken sich dabei mittel- und langfristig oft nachteilig für die Kommune aus. Auch wenn die Vielzahl der beteiligten Akteure gestiegen ist: Die Verantwortung der Stadt, aus zahlreichen einzelnen Projekten mit komplexen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein Quartier zu entwickeln, bleibt. Gelingen kann dies nur, wenn man sich der unterschiedlichen Interessenlagen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen jedes einzelnen Projektbeteiligten bewusst ist und diese entsprechend berücksichtigt. Im aktuellen Marktumfeld ist durch die verantwortlichen Kommunen besonders auf die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum für die breite Stadtbevölkerung zu achten. Durch Wohnraummodelle mit festen Schlüsseln für geförderten Wohnungsbau lassen sich auch in privatwirtschaftlich umgesetzten Quartieren günstige Mieten sichern.  GCG

Unterschiedliche Interessenlagen Die komplexen Rahmenbedingungen einer nachhaltigen Quartiersentwicklung spiegeln sich im stufenweisen Prozess der Entwicklung durch die verschiedenen Interessenlagen der Beteiligten wider. Je schwieriger die Standorteigenschaften sowie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Grundstückseigentümern und Kommunen, desto mehr Gewicht erhalten Nutzer und Investoren als

157

privater Grundstückseigentümer = Unternehmer

desamt für I mm Bun ob

Bundeshaushaltsordnung (Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit)

Planungshoheit

politischer Wille der Bürger, vertreten durch gewählte Vertreter

aben ufg na li ie

Absicht zur Gewinnerzielung

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Fachaufsicht Bundesministerium der Finanzen

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Repräsentanten des Investitionskapitals. Bei sehr attraktiven Flächen und Quartieren im Sinne eines »Selbstläufers« wird das mögliche Gewicht der kommunalen Einflussnahme größer, somit sind die Voraussetzungen gut, verstärkt übergeordnete Ziele der nachhaltigen Stadtentwicklung durchzusetzen (Abb. 3). Das grundsätzliche Interesse der Kommunen gilt der Absicherung der städtebaulichen, architektonischen und sozialen Entwicklungsziele für Flächen oder Quartiere. Soweit sie aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Möglichkeiten nicht selbst Eigentümer und Projektträger sein können, müssen sie ihre Einflussnahme über die kom­munale Bauleitplanung, öffentlich-rechtliche Verträge oder gegebenenfalls die Beteiligung an Projektgesellschaften sicherstellen. Übergeordnete politische Zielsetzungen wie die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen oder die attraktive Gestaltung des Wohn- und Arbeitsstandorts spielen insbesondere bei größeren Flächenentwicklungen eine wichtige Rolle. So können durch die Aufgabe eines Altstandorts der Industrie oder des Militärs bei ungenügender Quartiersplanung Arbeitsplätze, Wirtschaftskraft und Einwohner verloren gehen, wohingegen sich durch eine Stärkung des Standorts durch nachhaltige Neu- oder Umgestaltung positive Effekte auch für die benachbarten Gebiete erzielen lassen. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen ­führen häufig bereits in frühen Planungsphasen zu Konflikten zwischen Kommune, Eigentümer und Investoren und damit zu Verzögerungen. Mit informellen Rahmenplanungen können frühzeitig Eckpunkte und Ziele formuliert werden, die eine gewisse wirtschaftliche Verifizierung ermöglichen (z. B. Nutzungsschwerpunkte, Nettobauland, Kostentragung, Nachhaltigkeitskriterien etc.). In einem auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Prozess muss auch die wirtschaftliche Komponente ein angemessenes Gewicht erhalten. Immer stärker gewinnt in diesem Zusammenhang das Win-WinPrinzip an Bedeutung: auf der einen Seite die kurzund mittelfristige Rendite von privaten Partnern, auf der anderen Seite die langfristigen qualitativen und wirtschaftlichen Effekte für eine Kommune, deren Bürger und einen gesamten Standort. Ein maßgebliches Hemmnis bei der Quartiersentwicklung ist die häufig fehlende Bereitschaft von Grundstückseigentümern, mangels Erfahrung oder Kapital bzw. Risikobereitschaft aktiv in Wertschöpfungsprozesse einzutreten. Somit werden oft Verhandlungs- und Bodenordnungsprozesse erforderlich, die die verschiedenen Wertvorstellungen bei Verkauf und Kauf deutlich machen.

Gru nds tüc ks ka ufp re

2.5 — Ökonomie

haushaltsrechtliche Vorgaben (Gemeinde, Land)

Inv e stor

Vorgaben von Finanzierern, Kapitalgebern

marktgerechte Produkte für Nutzer, Enderwerber

Gew pital inn/ Ve rzinsung Eigenka

Realisierung Projekt Abb. 3

An der Verfügbarkeit von Grundstücken und Flächen können Projekte häufig scheitern. Deshalb muss das Rollenverständnis der Grundstückseigentümer, die in der Regel als Verkäufer kein Entwicklungsinteresse haben (z. B. reine Abwicklungs- oder Verwertungsgesellschaften), zu Beginn geklärt werden. Idealerweise gehen alle Flächen in die Hand eines »neuen« Projektträgers über, der den Entwicklungsprozess mit Partnern professionell anstößt und auf der Grundlage klarer Vereinbarungen steuert. Finanzierung und Entwicklungsstrategien bestimmen die Rolle der Marktteilnehmer (Investoren, Projektentwickler, Finanzierungsinstitute, Planer und Berater) als Partner. Über lange Zeiträume laufende Quartiersentwicklungen haben dabei unterschiedliche Dimensionen, da zumeist die eigentliche Flächenentwicklung und die darauf aufbauende Gebäudeentwicklung andere Risikobewertungen erfordern. Da das Ziel privater Partner auf die erreichbare Verzinsung des eingesetzten Kapitals ausgerichtet ist, kommt der Planungssicherheit und der Konstanz eine besondere Bedeutung zu. Für eine nachhaltige Entwicklung von Quartieren, die meist große Flächen und mehrere Jahre (fünf bis acht Jahre oder mehr) umfasst, sind diese Interessenlagen klar zu formulieren und zu bewerten, um einen phasenweisen, kooperativen Prozess zu ermöglichen.  MA

Abb. 3  Zielsetzungen und Rollenverteilung am Beispiel Konversionsprozess

Weitere Informationen

•  Burmeister, Thomas: Praxishandbuch städte­ bauliche Verträge. Bonn 2000 •  Gornig, Martin; Michelsen, Claus: Kommunale Investitionsschwäche: Engpässe bei Planungs- und Baukapazitäten bremsen Städte und Gemeinden aus. In: DIW Wochenbericht 11/2017, S. 211–219 •  Libbe, Jens; Köhler, Hadia; Beckmann, Klaus J.: Infrastruktur und Stadtentwicklung. Technische und soziale Infrastrukturen. Herausforderungen und Handlungsoptionen für Infrastruktur- und Stadtplanung. Hrsg. vom Deutschen Institut für Urbanistik und der Wüstenrot-Stiftung. Berlin 2010 •  Trapp, Jan Hendrik et al.: Ressourcenleichte zukunftsfähige Infrastrukturen – umweltschonend, robust, demografiefest. Hrsg. vom Umweltbundes­ amt. Dessau-Roßlau 2017

158

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Handlungsfeld Ökonomie Marti n Alt mann, Gregor C . Gras s l, Guido Spars

D

er ökonomische Handlungsbedarf im Rahmen von Stadtplanungs- und Quartiersentwicklungsprojekten ist groß, nicht zuletzt stehen diese wegen der meist schlechten finanziellen Lage der Kommunen sehr unter Druck. In diesem Kapitel werden Wege aufgezeigt, wie Projekte wirtschaftlich optimiert werden können. Dabei ist es nicht unbedingt notwendig, die Herstellungskosten und damit oft auch die Qualität einer Entwicklung zu senken. Die Weichenstellung beginnt bereits vor dem eigentlichen Quartiers­ projekt durch lokale, volkswirtschaftlich wichtige Entscheidungen. Der Standortwettbewerb um die besten Unternehmen und Leistungsträger kann nur mit einem attraktiven Umfeld gewonnen werden. Um überhaupt Projekte realisieren zu können, sind strategische Ansätze wie ein kommunales Flächenmanagement notwendig. Beim Thema Wirtschaftlichkeit geht es neben Finanzen vor allem um Effektivität und Effizienz, um Wertstabilität und natürlich auch Gewinn. Mit welchen Strategien und Berechnungsmethoden ein Projekt für alle Beteiligten und über den gesamten Lebenszyklus erfolgreich und gewinnbringend geplant werden kann, wird im Folgenden erläutert.

Stadt- und Regionalökonomie Städte und Regionen stehen in einem landes­ weiten, Metropolen sogar in einem europaweiten oder globalen Wettbewerb um die Ansiedlung von Menschen und Unternehmen. Hierbei zeichnet sich ab, dass Unternehmen ihre Standortentschei-

dung immer häufiger auch von der Attraktivität der Städte für die gesuchten hochqualifizierten Mitarbeiter abhängig machen. In Zeiten stei­ genden Fachkräftemangels wird diese Tendenz sicherlich noch zunehmen. Die Anforderungen an moderne Wohn- und Arbeitsorte können somit aus den Bedürfnissen dieser Fachkräfte abgeleitet werden, die sich neben dem entsprechenden ­Freizeit- und Erholungswert der Stadt, Kultur­ angeboten und der städtebaulichen Qualität auch einen ausdifferenzierten Wohnungsmarkt mit einem angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnis sowie eine entsprechende soziale Infrastruktur, z. B. gute Kinderbetreuungsangebote und Schulen, wünschen. Nachhaltige Quartiersentwicklung kann schon aus dieser Perspektive ein guter An­­ satzpunkt sein, um die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt bzw. der Region zu verbessern. Ziel ist es, zeitnah ansprechende und zukunftsfähige Quartiere zu planen und umzusetzen, die die zentralen Wünsche und Wohnbedürfnisse der Menschen aufgreifen und die Stärken der Stadt weiter ausbauen. Strategische Stadtentwicklungsplanung ermöglicht es, Ziele der städtischen Weiterentwicklung herauszuarbeiten und einen sinnvollen Umgang mit unvermeidbaren Flächenkonkurrenzen ­zwischen unterschiedlichen Flächennutzungs­ansprüchen zu finden. Die Quartiersentwick­lungsplanung sollte in übergeordnete Planungen eingebunden sein. Dazu gehören integrierte Stadtentwicklungskonzepte, Handlungskonzepte für die Stadt insgesamt oder für bestimmte Stadtteile sowie wohnungswirtschaftliche Konzepte. Ein voraus­schauendes kommunales Flächen- bzw. Bau­landmanagement ermöglicht eine nachvollziehbare Entwicklungsstrategie und unterstützt die Ansprache des Markts mit Blick auf Investoren. Zentrale Leitgedanken der Quartiersplanung sind, welche Rolle das neue Quartier für die Gesamtstadt übernehmen soll, wie das Quartier in Konkurrenz zu anderen Standorten in der Stadt steht

159

2.5 — Ökonomie

und welche Flächen und Dichten für die Entwicklung infrage kommen. Insbesondere die Frage nach den Zielgruppen mit ihren Wünschen und finanziellen Möglichkeiten und die daraus folgende Notwendigkeit der Anpassung des Wohnungsangebots kann Hinweise auf die anzustrebende Dichte des neuen Quartiers geben. Aber auch die Ansprüche gewerblicher Nutzer gilt es im Sinne der angestrebten gemischt genutzten Quartiere zu bedenken. Eine Standortentwicklung unter dem Gesichtspunkt Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit bietet die Chance, innovative wirtschaftliche Räume zur Verfügung zu stellen, die helfen, die lokale Wirtschaft besser zu profilieren und damit die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. An geeigneten Stellen sollten also Bewertungen aus gesamtstädtischer oder auch regionaler Perspektive einfließen. Stärken, Schwächen und Konflikte in Bezug auf die übergeordneten Planungen müssen rechtzeitig erkannt und offengelegt werden. Auch muss die Stadtpolitik über die entsprechende Handhabe verfügen, über diese Konflikte und ihre Prioritäten zu entscheiden. Hierfür ist es sinnvoll, in Alternativen und Varianten zu planen und zu denken, um eine rationale Entscheidung aus regionaler oder gesamtstädtischer Perspektive vornehmen zu können.

Ausstrahlungseffekte von Quartieren Aus volkswirtschaftlicher Sicht gibt es jedoch noch einen weiteren Aspekt, der eine nachhaltige und qualitativ hochwertige Quartiersentwicklung erschwert. Viele als schlecht und nicht nachhaltig empfundene Quartiersentwicklungen entspringen einer missverstandenen Ökonomie. Dieses Missverständnis basiert auf einem zu engen betriebswirtschaftlichen Renditebegriff in der Projekt­entwicklung. Immobilienprojekte, insbesondere wenn sie über die Größenordnung des Einzel­gebäudes hinausgehen, wirken aufgrund ihrer räumlichen Ausstrahlungen sowohl auf das unmittelbare Umfeld als auch bisweilen auf das gesamte Quartier oder gar die ganze Stadt (wie z. B. der sogenannte Bilbao-Effekt durch das Guggenheim Museum in der gleichnamigen Stadt).

Dieser Nut­zen nachhaltiger Quartiersgestaltung wird bei der Kalkulation der Erträge in der Investitionsrechnung nur so weit berücksichtigt, als man davon ausgeht, dass die Mieter oder Käufer bereit sind, einen gewissen Mehrpreis für die Immobilie zu bezahlen. Viele Vorteile, die hochwertige Architektur oder nachhaltiger Städtebau darüber hinaus mit sich bringen, bleiben jedoch in der Kalkulation der Immobilienentwickler unberücksichtigt, weil sie quantitativ nur schwer fassbar sind. Auch der im prognostizierten Bodenpreis enthaltene Mehrwert bezieht sich meist auf diese vereinfachte Ertragssicht des jeweiligen Gebäudes (z. B. über das Ertragswertverfahren) und nicht auf Wertsteigerungen, die in benachbarten Gebäuden oder im Quartier insgesamt dadurch entstanden sind. Es kommt somit zu einem falschen, nämlich verkürzten Renditewert des Projekts. Die Nichtberücksichtigung dieser Renditepotenziale auf Quartiers- und Stadtebene führt dazu, dass diese Vorteile im Entscheidungsprozess von Investoren nicht mit einfließen und folglich weniger nachhaltige Projekte mit ihren positiven Ausstrahlungswirkungen entstehen. Wenn es nicht gelingt, die anderen Profiteure oder die Gesellschaft z. B. in Form der öffentlichen Hand an der Finanzierung zu beteiligen, wird das Ergebnis aller Voraussicht nach immer ein weniger nachhaltiges Quartier sein. Sinnvoll wäre die Entwicklung neuer Instrumente und Methoden, die auch für die über das enge Projekt hinausgehenden Effekte eine Ertragsprognose aufstellen und diese – zumindest in der Verhandlungssituation zwischen Kommunen und Investoren – transparent machen. Volkswirtschaftlich wünschenswert ist es, dass Anreize für die betriebswirtschaftlich handelnden Entwickler und Investoren auch in Richtung eines stadtökonomisch optimalen Er­­gebnisses zielen.  GS

Kommunales Flächenmanagement Ein vorsorgendes kommunales Flächenmanagement ist ökonomisch insbesondere vor dem Hintergrund des flächensparenden Entwickelns und Bauens von erheblicher Bedeutung und stellt

Kommunales Flächenmanagement in Baden-Württemberg

Die Landesanstalt für Umweltschutz Baden-­ Württemberg verfolgt im Rahmen der Umset­ zungsstrategien zum kommunalen Flächen­ management zum einen den »quantitativen ­Bodenschutz« durch Reduzierung des Flächen­ verbrauchs und den »qualitativen Boden- und ­Freiflächenschutz« zur Erhaltung und Wieder­ herstellung der Funktionen von Boden und Frei­ flächen. Dabei werden folgende Ziele formuliert: •  Schließen von Baulücken und Mobilisierung von Baulandpotenzialen •  Optimieren des Nutzwerts von Flächen •  Wiedernutzung von Brachflächen und Umgang mit Altlasten •  guter Umgang mit Bodenmaterial •  Minimierung des Versiegelungsgrads •  Schutz leistungsfähiger Böden •  Schutz und Entwicklung von Freiflächen

160

Kapitel 2 — Handlungsfelder

einen maßgeblichen Baustein integraler Handlungskonzepte dar. Aufgrund der begrenzten Handlungsspielräume der Kommunen kann es für diese als »Daseinsvorsorge« verstanden werden. Umfassende Bestandsaufnahmen zu Umfang und Nutzung von Baulücken und Brachflächen gehören ebenso dazu wie mögliche Ankaufsstrategien, die die Kommunen in die Lage versetzen, Stadtentwicklungsziele auch aktiv selbst anzugehen. Natürlich spielen hierbei insbesondere große Konversionsareale der Bahn, des Militärs oder der Industrie eine Rolle, die die Städte vor ganz neue Herausforderungen stellen. Für Städte, die aktiv ihre Innenstädte entwickeln wollen und keine weiteren Ausweisungen in Randbereichen anstreben, ist das Potenzial an Bau­lücken und untergenutzten oder falsch genutzten Grundstücken und Gebäuden ein entscheidendes städtebauliches und auch soziales Handlungsfeld. Durch kommunales Flächenmanagement werden – ähnlich wie beim Portfoliomanagement im Finanzbereich – die Kommunen und die Eigen­tümer in die Lage versetzt, Wertschöpfungspotenziale und Entwicklungsmöglichkeiten abzuschätzen. Grundlegendes Ziel ist es dabei, im Sinne der integrierten und nachhaltigen Stadtentwicklung räumliche und inhaltliche Prioritäten zu setzen, die sowohl den privaten Akteuren als auch der Kommune Ertragspotenziale sichern können. Im Zuge der Stadtumbaustrategien spielt die Flächenaktivierung eine maßgebliche Rolle, denn auch für bestehende Quartiere müssen Aufwertungs- und Modernisierungsstrategien entwickelt werden. Damit verbundene Finanzierungsmodelle verknüpfen kleinteiliges privates und öffentliches Kapital im Sinne der Stadtentwicklung. Ein Kataster von Flächen- und Gebäudepotenzia­ len in Form eines Portfolios muss Informationen zu Grundstück und Vermessung, Erschließung, Denkmalschutz, Art und Maß der baulichen Nutzung sowie Umfeld und städtebauliche Aspekte berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund kann eine Immobilienbewertung nicht ausschließlich wirtschaftlich erfolgen. Auch die Ziele der Stadt­ entwicklung und die Interessen von Eigentümern und Nachbarn sind dabei insbesondere in Bestandsquartieren zu berücksichtigen. Brachflächen, nicht oder minder genutzte Grundstücke und Gebäude sind totes Kapital. Die Flächenaktivierung ist im Sinne der Innenentwicklung der entscheidende Baustein für eine wirtschaftliche und städtebauliche Inwertsetzung. Je besser eine Stadt sich diesbezüglich aufstellt, konkrete Angebote machen kann und nachfra-

georientiert am Markt agiert, desto stärker ist ihre Position im Wettbewerb. Stadtentwicklungs­ konzepte, die sehr detailliert durch Analyse und Konzeption aufbereitet werden, stoßen jedoch im Rahmen der Umsetzung häufig an ihre Grenzen. Eine überzeugende und sicher zum Teil wirtschaftlich begründete Aktivierungsstrategie ist hier eine Bedingung für die Handlungsfähigkeit. Ein kommunales Flächenmanagementsystem lässt sich mit EDV-Unterstützung technisch unproblematisch aufstellen. Die Kommunikation, Parti­ zipation und Zusammenführung aller Informatio­ nen mit der klaren Bewertung, wann und in welcher Form eine Nutzung baurechtlich abgesichert möglich ist, stellt ein wertvolles In­strument der städtebaulichen Entwicklungsstrategie dar.  MA

Ökonomische Quartiersplanung Auf Ebene des Quartiers ist die wirtschaftliche Beurteilung hauptsächlich von der Größe und der Laufzeit der Quartiersentwicklung und damit vom Risiko abhängig. Ein Quartier wird nur dann akzeptiert und wirtschaftlich tragfähig sein, wenn es gelingt, funktionierende Abschnitte in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen zu realisieren und so das Entwicklungsrisiko zu reduzieren. Dies ist wiederum Gundvoraussetzung vor allem für rein privatwirtschaftliche Träger. Die Erwirtschaftung einer angemessenen Rendite bleibt für die Beteiligung von privatem Kapital das Maß aller Dinge. Gleichzeitig ist die Kommune als Träger der Planungshoheit die entscheidende Instanz, die die planungsrechtlichen Voraussetzungen für eine geordnete Entwicklung schafft. Vor dem Hintergrund, dass Kommunen meist weder die Kapazitäten noch die wirtschaftlichen Mittel haben, eine Flächenentwicklung parallel zum Tagesgeschäft abzuwickeln, sind Partnerschaften mit bzw. die Abwicklung durch kom­ munale, private oder gemischte Entwicklungs­ gesellschaften geeignet, städtebauliche Entwicklungsprojekte umzusetzen und eine stringente Steuerung der wirtschaftlichen, terminlichen und qualitativen Zielerreichung zu gewährleisten. Welche wirtschaftlichen Ziele und Anforderungen gestellt werden und wie weit zur Deckung von unrentierlichen Kosten öffentliche Mittel eingesetzt werden können, bestimmt wesentlich die Organisationsform und damit das Rollenverständ-

161

2.5 — Ökonomie

nis der Beteiligten im Gesamtprozess. Eine Reihe von Eckpunkten ist daher bereits frühzeitig in der Projektvorbereitung zu klären (Abb. 1). Sollen besondere Entwicklungsanstöße gegeben werden, z. B. die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, die Förderung und Bereitstellung von sozialen und kulturellen Angeboten oder die Realisierung von Grünvernetzungen oder Verkehrsanbindungen, so wird die wirtschaftliche Ausrichtung der städtebaulichen und technischen Konzeption deutlich vorbestimmt. Dies bedeutet gleichzeitig die stärkere Einbindung von öffentlichen Mitteln und Kapazitäten, da eine Refinanzierung über Grundstückserlöse nicht vollständig möglich ist. Nachhaltige Quartiersentwicklung konzentriert sich auf Brachflächen oder bereits in Nutzung befindliche Flächen sowie auf Bestandsquartiere in integrierten Lagen. Daher kommt bereits der Bestandsaufnahme mit Blick auf die Nachhal­ tigkeit eine besondere Bedeutung zu. Die Nach­ nutzung von Bestandsgebäuden und Infrastrukturen sowie die Optimierung von städtebaulichen Konzepten sind vor dem Hintergrund von Flächenverbrauch, Flächeneffizienz und Ressourcenschonung Kernpunkte einer nachhaltigen Rahmenplanung. Eine besondere Aufgabe der wirtschaftlichen Optimierung ist die Entwicklung von räumlichen und zeitlichen Stufenkonzepten, die auf Randbedingungen und städtebauliche Aspekte eingehen und gleichzeitig die Tragfähigkeit des Markts berücksichtigen. Jedes Projekt braucht eine Art Grundlinie (Baseline) zum Projektstart, auf die Veränderungen bezogen werden können. Eine transparente Basisplanung in zeitlicher, wirtschaftlicher und technischer Hinsicht kann zwar zu Beginn nicht in umfassender Tiefe vorliegen, definiert aber die städtebaulichen Eckpunkte und dient der ersten Risikoeinschätzung für private und kommunale Entwicklungsträger. Im Sinne einer ganzheitlichen ökonomischen Betrachtungsweise sind die nachhaltige Steuerung sowie die Dokumentation und Information Querschnittsfunktionen, die über alle Projektphasen hinweg wichtige wertbildende Faktoren darstellen sowie Verlässlichkeit und Konstanz im Projekt sichern. Ergänzt werden müssen diese rein wirtschaftlichen Aspekte in der Beurteilung durch qualitative Faktoren (z. B. Imagegewinn oder die Verbesserung der Lebensbedingungen in Quartieren). Die langfristigen Sekundär- und Tertiäreffekte können durch begleitende kommunalfiskalische Untersuchungen berechnet und eingebunden werden.

Eckpunkte der Entwicklung

Fragestellungen

Entwicklungsträgerschaft

Wer führt das Projekt?

Grundstückspreis

Vereinen unterschiedlicher Wertvorstellungen

Risiken

Aufteilung von Vermarktungsrisiko, Finanzierungsrisiko

Kostenträgerschaft

Wer kommt für welche Kosten auf, insbesondere mit Blick auf ­unrentierliche Kosten wie Altlasten und übergeordnete Infrastruk­turen sowie Folgekosten?

Mitsprache der Kommune

Sicherung der Durchgriffsmöglichkeit zur Zielerreichung (Bauleit­planung, ­öffentlich-rechtliche Verträge)

Generierung von Fördermitteln

frühe Kooperation zwischen Bund, Land und Kommune

Konkurrenzsituation zwischen ­Entwicklungsflächen

nachhaltiger (langfristiger) politischer Konsens /Fokussierung der Stadtent­ wicklung (z. B. sollten nicht mehrere Baugebiete gleichzeitig ausgewiesen wer­ den, denn das kann dazu führen, dass die Preise fallen bzw. die Entwicklung sehr lange dauert)

Abwicklungsmodell für Flä­ chen- und Gebäudeentwick­ lung

Arbeitsteilung zwischen den Beteiligten (Gemeinde hat Baurecht und über­ nimmt daher meist die Flächenentwicklung; Gebäude­errichtung und Vermark­ tung meist durch private Investoren)

Einbindung von Partnern

Gesellschaftsformen, die Ein- und Ausstieg ermöglichen

Abb. 1

Sicherung der Standortqua­ lität und der Wertstabilität Die in den letzten zehn Jahren angestoßenen Diskussionen und Programme zur integrierten Stadt­ entwicklung stellen Qualität als wertbildenden Faktor verstärkt in den Mittelpunkt. Die zukünftigen demografischen, sozialen und wirtschaft­ lichen Veränderungen führen dazu, dass private Investoren wie auch Kommunen Quartiersentwicklungen als Chance sehen, zum einen bestehende Stadtquartiere nachhaltig städtebaulich, sozial und wirtschaftlich aufzuwerten und zum anderen mit neu zu entwickelnden Quartieren nachhaltige Veränderungen anzustoßen. Umso mehr stellen die zugrundeliegende Zielsetzung und die damit verbundenen Projekte und Prozesse die Basis für eine werthaltige Entwicklung dar. Die gemeinsame, stufenweise Erarbeitung von Konzepten und Planungen bei gleichzeitiger Abschätzung der Wertschöpfungspotenziale ist Bedingung, um die Realisierbarkeit zu prüfen und Finanzierungspartner zu binden. Standortqualität und Wertstabilität bedingen einander. Nachhaltige Quartiersentwicklung bedeutet so betrachtet, die Interessen aller Partner und Disziplinen zu vereinen (Abb. 2, S. 162). Standortqualität im Sinne eines Stadtquartiers ist nicht nur durch die sogenannten klassischen harten Faktoren mit unmittelbarer Auswirkung auf die Kosten geprägt. Städtebauliche und architektonische Qualität, Nutzungsmischung, soziale Mischung, Beteiligungs- und Kooperationsformen sowie das nachhaltig positive Image werden hier ebenfalls zu Kalkulationsgrößen. Eine nachhaltige Sichtweise wird zudem immer auch die Risikofaktoren berücksichtigen, die durch Veränderungen der städtebaulichen Rahmenbedingungen, der sozialen Strukturen und der politischen Verhältnisse in einem Quartier automatisch auf die Akzeptanz, das Image, die Qualität und damit die Verwertbarkeit wirken.

Abb. 1  Kriterien für die Ent­ wicklung von Organisationsund Abwicklungsmodellen

Organisations- und Abwicklungsmodelle

Folgende Modelle sind bei der Quartiersplanung möglich, die sich insbesondere in der Risiko­ tragung und der Absicherung der Qualitätsziele unterscheiden: •  kommunale Eigenentwicklung •  Übernahme durch kommunale Entwicklungs­ gesellschaft (100 %)

•  Entwicklung durch Investor/private Objekt­ gesellschaft auf Basis städtebaulicher Verträge •  Kooperationsmodelle/Public-Private Partner­ ship (PPP) Die Entwicklung, Prüfung und Abstimmung von Organisations- und Abwicklungsmodellen ist eine der entscheidenden Phasen in der städtebaulichen Projektentwicklung. Sobald erste städtebauliche und technische Konzepte vorliegen, kann die grundsätzliche Machbarkeit geprüft werden. Die damit verbundene wirtschaftliche Bewertung hat einen großen Einfluss auf die Organisation und Abwicklung. Die Entwicklungsträgerschaft bestimmt den ­wirtschaftlichen Blickwinkel. Wirtschaftlichkeits­ betrachtungen sind entsprechend der Organisa­ tionsform auszurichten. Dabei sollten im Sinne der Nachhaltigkeit aber interessenübergreifende Methoden wie die Lebenszykluskostenberechnung (Life Cycle Costing – LCC) grundsätzlich ein fester Bestandteil der wirtschaftlichen Betrachtung eines Projekts sein.

162

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Management Organisations- und Koordinationsmanagement

Vertragsmanagement

Kostenmanagement

Terminmanagement

Grundstücksvorbereitung

konzeptionelle Beratung

Vermarktung und Vertrieb

Vertriebsunterstützung

Grundstückserhebung

Analyse der städtebaulichen Konzepte

Marktforschung

Imagebildung Projekt

Grundstücksmanagement

Management der Bauleitplanung

Marketingplanung

Erlösprognose Positionierung Projekt

Ergebnis: Teilflächen mit Baurecht und gesicherter Erschließung Planung von Erschließung und Logistik

Investorenbetreuung

Erlösprognose Vertriebsmanagement

vertriebsunterstützende Maßnahmen

Ergebnis: parzellierte Grundstücke und konkrete Interessenten Management der Baufreimachung

Vorbereitung Einzelvorhaben

Wertschöpfung

Ergebnis: Planvorgaben (Rahmenbedingungen) und grobe Steuerung der Ansiedlung

Erlösprognose Vorbereitung Verkauf

vertriebsunterstützende Maßnahmen

Ergebnis: baureife Grundstücke

Erlösprognose

bestmögliches Ergebnis der Grundstücksverwertung

Abb. 2 Abb. 2  Management der Quartiersentwicklung Abb. 3  Übersicht möglicher komplexer Zusammenhänge bei einer Kosten-NutzenAnalyse

Gerade diese kalkulatorischen Randbedingungen, die sich maßgeblich von der rein privat finan­ zierten und kurzfristig auf zwei bis drei Jahre angelegten Gebäudeprojektentwicklung unterscheiden, stellen die besondere Herausforderung für Grundstückseigentümer, Kommune und gegebenenfalls Investoren dar. Hinzu kommt, dass zur Sicherung der Standortqualität und Wertstabilität auch eine Beratung und Aktivierung der Kommunen, Grundstückseigentümer und Bewohner gehört, um mittel- bis langfristig angelegte Prozesse zur Initiierung, Steuerung und Überwachung anzustoßen (z. B. Flächenmanagement, Quartiersmanagement, Energiemanagement, Bauberatung etc.). Welches sind im Rahmen von Quartiersentwicklungen die maßgeblichen Bedingungen für die erfolgreiche Realisierung? Bei privatwirtschaft­ lichen Projekten ist ein wichtiger Faktor die Verzinsung des eingesetzten Kapitals, d. h. der Standort muss in Bezug auf die Größe, die Laufzeit und die Marktnachfrage exzellent sein, oder die Lasten des Projekts wie Grundstückskaufpreis, Grundstücksaufbereitung (Altlasten, Baugrund) oder Folgekosten (z. B. für Infrastruktur) müssen zwischen Grundstückeigentümer, Kommune und Investor angemessen aufgeteilt werden. Der Investor wird nur das tatsächlich von ihm bewertbare Entwicklungsrisiko auf sich nehmen. Eine Kooperation zwischen den Beteiligten ist daher in den meisten Fällen zu erwarten. Die wirtschaftliche Bewertung von Quartiers­ entwicklungen aus öffentlicher Sicht ist neben der städtebaulichen Aufwertung auch an den Sekundäreffekten ablesbar. Die Schaffung von Arbeitsplätzen, Umsätze im gewerblichen Bereich, ein angemessenes Wohnraumangebot und die Bildung von sozialen Nachbarschaften und Initiativen sind die nach innen gerichteten Effekte. Die über den Planungs- und Bauprozess initiierten Investitionen, die steigende Einwohnerzahl, die

Erhöhung von Steuereinnahmen und Imageeffekte durch eine aktive Kommunikation stellen die nach außen gerichteten Effekte dar, die über die Stadt hinaus in die Region wirken. Eine städtebauliche Entwicklung kann, wenn sie in Organisation, Finanzierung, Steuerung und Überwachung stringent ist, über politische Zeiträume hinaus ein Wir-Gefühl bei den Projekt­ trägern und Beteiligten, aber auch bei Bewohnern und Unternehmen erzeugen und damit of­­ fene Prozesse und Beteiligungen in Gang setzen (Nachbarschaften, Unternehmensnetzwerke, Iden­tität).  MA

Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen für Quartiere Belastbare Zahlen zur Wirtschaftlichkeit eines Quartiers erhält man erst bei der Projektrealisierung selbst, also wenn gebaut, verkauft und vermietet wird. Alle Projektbeteiligten messen die Aussagen der wirtschaftlich Verantwortlichen für eine Quartiersentwicklung an der konkret erreichten Rendite, dem Verkaufspreis oder der tatsächlichen Miethöhe. Übergeordnete Wirtschaftlichkeitsfaktoren wie ein attraktives Umfeld können zwar den Investor, Käufer oder Mieter zu gewissen Zugeständnissen in seinen wirtschaftlichen Überlegungen bewegen, unter dem Strich zählt jedoch immer die Höhe der Einnahmen. Aus diesem Grund werden Wirtschaftlichkeitsberechnungen für neue Quartiere auch rückwärts gerechnet. Das bedeutet, der Kaufpreis für ein Baugrundstück ergibt sich aus der Untersuchung, was der Markt, also mögliche Investoren, Käufer

163

2.5 — Ökonomie

Verteilungspolitik

Gerechtigkeit

Nutzen

Ethik

Prozesskostenrechnung

Sunset-Legislation

Utilitarismus

Sensitivitätsanalyse

Zero-Base-Budgeting

Budgetierung

Nutzwertanalyse

Kosten-Nutzen-Analyse

Wohlfahrtsökonomie

Unternehmensplanung

Kosten-WirksamkeitsAnalyse

externer Effekt

Neue Politische Ökonomie Arbeitsmarkttheorien Produktionsfaktoren

Abb. 3

oder Mieter bereit sind, für das geplante Quartiersgrundstück zu zahlen. Die eigentlichen Kosten wie der Ausgangswert für ein Grundstück plus alle weiteren Kosten für die Stadtplanung und die Herstellung der Erschließung bestimmen folglich nicht den Verkaufspreis, sondern nur den Gewinn oder Verlust. Hierfür werden eine Markt- und Standortanalyse sowie Stärken-Schwächen-Chancen-Risiken-Analysen, sogenannte SWOT-Analysen, erarbeitet (Abb. 4, S. 164). Sie geben Antworten, welche Miet- und Kaufpreise erreicht werden können, welche Risiken zu erwarten sind und ob es überhaupt ein wirtschaftliches Interesse am Markt gibt. Dies wiederum bildet die Grundlage aller weiteren Berechnungen für die konkrete Quartiersentwicklung. In solchen Machbarkeitsstudien werden auch die tatsächlichen Projektentwicklungskosten berechnet und den zu erwartenden Verkaufserlösen oder Mieteinnahmen gegenübergestellt. Ist das Ergebnis negativ und es entstehen mehr Kosten als am Markt wieder durch Verkauf oder Vermietung erlöst werden können, bedeutet dies meist das Projektende. Machbarkeitsstudien können aber auch zu we­­sentlich differenzierteren Ergebnissen führen, wie z. B. dass in einem Projekt mehr Wohnungen und weniger Büroflächen vorzusehen sind oder dass der geplante Quartierspark etwas kleiner ausfallen muss. Auch die Empfehlung zur Qualitätssteigerung, um eine finanziell besser ausgestattete Zielgruppe zu erreichen, oder längere Vermarktungszeiträume können Untersuchungsergebnisse sein. Die Belange müssen auf jeden Fall frühzeitig in die Planung einfließen. Genau wie bei einer Umweltprüfung sind auch Wirtschaftlichkeitsprüfungen durchzuführen und die notwendigen Maßnahmen im Städtebau umzusetzen. Wirtschaftlichkeitsberechnungen in ihren unterschiedlichen Formen dienen darüber hinaus auch der Projektsteuerung in allen weiteren Pro-

Kosten Allokation

Marktversagen Monetarismus

jektphasen. Die konkreten Zahlen ermöglichen eine detaillierte Kontrolle der Kosten während der gesamten Entwicklung und verhindern somit überraschende Kostenverschiebungen oder Projektverluste. Die Methode der Lebenszyklusberechnung mit ihrer langfristigen Bewertung hat den Vorteil, dass die Interessen vieler Beteiligter (Nutzer, Kom­ munen, Investoren) abgebildet werden. Da der Lebenszyklus gerade im Stadtquartiersbereich oft über 100 Jahre umfassen kann, sind mit diesem weiten Zukunftsblick sehr große Unsicherheiten verbunden. Daher werden Lebenszykluskosten meist standardisiert und grob vereinfacht auf maximal 50 Jahre berechnet. Ziel der Lebenszyklusberechnung ist die wirtschaftliche Darstellung von gebauter Qualität, indem neben den Baukosten auch die Kosten für den Betrieb und den Rückbau miteinbezogen werden. Folglich ist das wirtschaftliche Handeln nicht mehr auf die reine Baukostenoptimierung beschränkt. So können sich im Quartier beispielsweise in den Herstellungskosten teure Infrastrukturmaßnahmen wie ein zentrales Regenwassermanagementsystem oder ein Nahwärmenetz über die Einsparungen im Betrieb rechnen.

Methoden der Wirtschaftlich­ keitsberechnung Die Immobilienökonomie unterscheidet im Be­­ reich der Flächenentwicklung zwischen folgenden wesentlichen Wirtschaftlichkeitsuntersuchungsmethoden: Kosten-Nutzen-Analyse Bei der Gegenüberstellung der Kosten und des Nutzens einer Maßnahme wird im einfachen Fall der Nutzen mit der Einnahme z. B. aus Mieten oder Verkauf gleichgesetzt. Im privatwirtschaft-

164

Kapitel � — Handlungsfelder

lichen Sektor spricht man hier auch von einfachen statischen Wirtschaftlichkeitsberechnungen. Der Gewinn stellt die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben dar. Komplexere Modelle versuchen auch indirekte Einnahmen oder Kosteneinsparungen abzubilden, die nicht direkt im Kaufpreis Niederschlag finden. Die Kosten-Nutzen-Analyse als vergleichende Bewertung von Objekten oder Handlungsalternativen beruht auf den Prinzipien der Wohlfahrtsökonomie und wird vor allem in öffentlichen Haushalten (z. B. bei Infrastrukturprojekten wie einer U-Bahn) angewendet (Abb. 3, S. 163).

1 Zehbold 1996, S. 78f.

Risiken

Chancen

Wirtschaft Bildung KommunalDemo- Umwelt verbund grafie Migration

Schwächen

Stärken

Abb. 4

Abb. 4 Ergebnisse einer SWOT­Analyse am Beispiel der nachhaltigen integrierten kommunalen Entwicklungs­ strategie (NIKE) für Aalen (DE) Abb. 5 Cash­Flow­Kurve eines Stadtquartiers (Brach­ flächenentwicklung)

Projektentwickler-Kalkulation (PE) Diese statische Berechnung über einen festgelegten Entwicklungszeitraum von meist nicht mehr als zwei bis drei Jahren bildet alle Wirtschaftlichkeitsfaktoren aus Sicht eines Projektentwicklers inklusive Finanzierungskosten für einen bestimmten Zeitraum ab, d. h. es wird nicht berücksichtigt, wie das Geld im Projekt fließt und wann die Einnahmen aus Verkäufen und die Ausgaben für Planer und Unternehmen anfallen. Es werden vielmehr die gesamten Baunebenkosten (Grunderwerb, Steuern, Planung, Finanzierung, Vermarktung etc.), die Herstellungskosten (Gebäude, Infrastruktur etc.), die Einnahmen (im Wesentlichen aus Verkauf und Vermietung) und teilweise auch die Betriebskosten für einen beschränkten Zeitraum berechnet. Das Verhältnis des Ertrags zum eingesetzten Kapital ist die Rendite des Projekts. Discounted-Cash-Flow-Methode (DCF) DCF ist eine etablierte Methode, um langfristige Entwicklungen, meist über einen Zeitraum von 10 bis 30 Jahren, in ihrer Wirtschaftlichkeit abzubilden. Mit zwei Entwicklungskurven für Kosten und Einnahmen zeigt sie den Mittelfluss in einem Projekt. Der Schnittpunkt der beiden Kurven ist der sogenannte Break-Even-Point (BEP), also der Zeitpunkt des Return on Investment (ROI), von dem an die Entwicklung positiv ist, sprich die Einnahmen die Ausgaben übersteigen und somit Gewinne erwirtschaftet werden. Durch die Barwertmethode wird die lange zeitliche Entwicklung und der dabei entstehende Wertverlust durch Inflation berücksichtigt. Eigentliches Ergebnis ist die Kurve des Cash-Flows (Abb. 5). Diese Methode ohne Betriebskosten als reine Einnahmen/Ausgaben-Kalkulation ist einer Lebenszykluskostenberechnung sehr fern. Als dynamische Langzeitbetrachtung kann eine DCF-Bewertung jedoch mit gewissem Aufwand auch zu einer

umfassenden Lebenszykluskostenberechnung erweitert werden. Zudem berücksichtigt sie in der Projektentwicklung deutlich mehr Belange als die in der Immobilienbranche üblichen Lebenszykluskostenberechnungen der Immobilienzertifikate. Lebenszykluskostenberechnung (Life Cycle Costing – LCC): Die Kostenermittlungsmethode LCC betrachtet die Entwicklung eines Produkts über den gesamten Lebenszyklus. Ursprünglich in den 1930erJahren für Produkte wie landwirtschaftliche Maschinen entwickelt, findet die Methode seit den 1960er-Jahren auch im Baubereich Anwendung. Langfristig betrachtet werden hierbei der Bau, der Betrieb und der Rückbau einer Immobilie. Aufgrund der großen Bedeutung der Nutzungskosten wird die Lebenzykluskostenberechnung seit der Jahrtausendwende vermehrt im nachhaltigen Bauen angewendet. Das Thema hat mit Einführung der Gesetze zur Energieeinsparung und der rasanten Energiekostensteigerung sowie der Zertifizierungsbewegung in der Immobilienbranche an Brisanz gewonnen. LCCMethoden zur Betrachtung ganzer Quartiere sind bis heute kaum standardisiert und noch wenig verbreitet.1 Neben diesen vier wesentlichen Bewertungsmethoden für städtebauliche Projektentwicklungen sind in der Immobilienwirtschaft zahlreiche weitere Verfahren aus den Bereichen der Wertermittlung, des Finanzierungssektors und der Investoren bekannt, teilweise Varianten der vier zuvor beschriebenen Berechnungsmethoden. In der Investitionsrechnung unterscheidet man zwischen statischen oder dynamischen Verfahren der Wirtschaftlichkeitsrechnung. Mit Ausnahme der Projektentwickler-Kalkulation können die genannten Methoden auch als dynamische Verfahren angewendet und folglich ebenfalls zu einer Lebenszykluskostenberechnung ausgebaut werden.

Lebenszykluskostenberechnungen für Gebäude und Infrastrukturen Wichtig für eine nachhaltige Quartiersentwicklung ist die Erkenntnis, dass in der Privatwirtschaft in der Regel nicht eine möglichst große Wirtschaftlichkeit, sondern ein möglichst großer Gewinn angestrebt wird. Generell hat dies je nach Marktform weitreichende Konsequenzen für die

165

2.5 — Ökonomie

Je nach Betrachtungswinkel gilt es, die entsprechende Methode zu finden. Abb. 6 (S. 166) zeigt die oft sehr unterschiedlichen Interessenlagen

Einnahmen (kumuliert)

Kosten (kumuliert)

Saldo (kumuliert)

Aufwand [€]

Gesamtwirtschaft und widerspricht grundsätzlich einer nachhaltigen Entwicklung. Unter dem Begriff nachhaltiges Bauen wird nun auch daran gearbeitet, neue Wirtschaftlichkeitsberechnungen in der Immobilienbranche zu etablieren. Dies ist in Deutschland mit der Diskussion neuer Lebenszykluskostenwerkzeuge der Systeme BNB und DGNB sowie der Diskussion um Energiekosten und die sogenannte zweite Miete (Nebenkosten) auch weitgehend gelungen. In der vom Bestand geprägten Immobilienbranche gewinnt aktuell im Bereich der Lebenszyklus­ kosten die meist sehr differenzierte Bewertung des Facility Managments (FM) an Bedeutung. Ziel einer solchen Bewertung ist die Budgetsicherheit und Kostenoptimierung für den Betrieb. Die Methoden und Vorgehensweisen im Produkt- und FM-Bereich sind weitgehend geregelt (z. B. GEFMA 200, DIN EN 60 300-3-3 »Anwendungsleitfaden – Lebenszykluskosten«, VDI 2884 »Beschaffung, Betrieb und Instandhaltung von Produktionsmitteln unter Anwendung von Life Cycle Costing«). In der Planung sind aber nach wie vor die Baukosten die entscheidende Determinante. Eine Lebenszykluskostenberechnung nach der FM-Methode wird oft erst nach Ab­­schluss der Planung beauftragt, obwohl diese durchaus Einfluss auf die Ergebnisse hat.2 Auch die internationalen Zertifizierungssysteme vernachlässigen dieses Thema weitgehend. Das deutsche Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen für Bundesgebäude (BNB) und das Zertifizierungssystem der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) widmen sich seit ihrer Gründung in all ihren Systemvarianten den Lebenszykluskosten und stellen ihren Auditoren ein entsprechendes Werkzeug zur Verfügung. Das DGNB-System »Neubau Stadtquartiere« wird im Kapitel »Zertifizierungs- und Bewertungs­ systeme« (S. 218ff.) vorgestellt. Darin steht neben einer LCC-Berechnung für Stadtquartiere auch ein Kriterium zur Bewertung der kommunal­ fiskalischen Auswirkung zur Verfügung. Verschiedene Anwendungen anderer Instrumen­ ­te, zu nennen sind hier beispielsweise der kommunale Folgekostenrechner oder das Projekt WISINA (Wirtschaftlichkeit der Siedlungsentwicklung als Beitrag zur Nachhaltigkeit) in Baden-Württemberg, zeigen, dass die inzwischen etablierten LCCTools der Immobilienbranche für städtebauliche Entwicklungen oft nicht weit genug gehen.

0 Break-Even

0

1

2

3

4

5

6

7

8

Abb. 5

der Ak­­teure in einem Projekt. Hervorzuheben ist dabei, dass die planungsbezogenen LCC-Anwendungen sich in der Zielausrichtung grundsätzlich von der FM-Bewertung und den kommunalen Fol­gekostenrechnern unterscheiden. Ziel der Planung entsprechend der LCC-Methode ist die Optimierung der Gesamtkosten einer Immobilie, z. B. durch die energieeffiziente Bauweise eines Gebäudes. Die eigentlichen Nutzungskosten fließen mit statistischen Kennwerten und nicht mit Projektwerten ein. Ebenso werden die gesamten Einnahmen, Nebenkosten und Rahmenbedingungen des individuellen Standorts weitgehend ignoriert. Kostenberechnungen nach DIN 276 sowie der weiteren Kostengliederungen für Straßen und Infrastrukturmaßnahmen berücksichtigen lokale Preisunterschiede. Randbedingungen wie erhöhte Steuereinnahmen für eine Kommune durch neue Arbeitsplätze oder zusätzliche Einwohner werden jedoch nicht betrachtet. Ebenso finden auch die klassischen Folgekosten für die öffentliche Hand wie z. B. für zusätzlich erforderliche Kindergartenplätze nur in kommunalfiskalischen Betrachtungen und Folgekostentools Berücksichtigung. Allerdings lässt sich mit diesen Werkzeugen auch nur ein Teil der umfassenden Lebenszykluskosten eines Stadtquartiers abbilden. Hier spiegeln sich die unterschiedlichen Interessenlagen auch in den verschiedenen Berechnungsmethoden sehr gut wider. Der räumliche Bezug der kommunalen Folgekostenrechner auf Gemeinde-, Landkreis-, Bezirks-, Landes- bzw. Bundesgrenzen führt aus

2  Geissdoerfer 2009

9

10

11 Zeit [a]

166

Kapitel 2 — Handlungsfelder

Interessenlage

funkti­ onale Qualität

kurz­ fristige Risiken

lang­ fristige Risiken

Projektentwickler

¥



Bauherren /Erwerber von Mietobjekten

¥







Bauherren /Erwerber als Selbstnutzer











Anleger mit lang­ fristigen Interessen









Anleger mit kurz­ fristigen Interessen



Akteure

Wert­ stabilität und Wertent­ wicklung

Miet­ einnah­ men

Lebens­ zykluskosten / Voll­ kosten

Miethöhe

nicht umlage­ fähige Neben­ kosten

umlage­ fähige Neben­ kosten

¥



¥

externe Kosten

‡ ‡







Mieter



Banken /Finanzierer

¥







¥

Fondsmanager

¥









Gesellschaft / öffentliche Hand







¥

‡  direktes

Rendite





¥



¥

¥





Interesse   ¥  indirektes Interesse

Abb. 6 Abb. 6 Interessenlage ­ausgewählter Akteursgrup­ pen bei der ökonomischen Bewertung baulicher Lösun­ gen Abb. 7 Unterscheidung nach Lebenszykluskosten im engeren und weiteren Sinne (auf Basis der ISO 15 686-5) Abb. 8 durchschnittliche Erschließungskosten je Wohneinheit

3  Grassl 2008

Sicht einer nachhaltigen Stadt- und Raumplanung häufig zu wirtschaftlichen Verzerrungen. Die Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen benachbarten Einheiten begünstigt oft unwirtschaft­liche und wenig nachhaltige Lösungen, z. B. durch ein Überangebot an Bauland oder durch Preisdumping. Auch Fördermittel können zu Ver­zerrungen am Markt führen, meist sind sie aber zielorientiert und volkswirtschaftlich sinnvoll eingesetzt. Für Stadtentwicklungsprojekte und größere Quartiersentwicklungen ist es daher un­­erlässlich, die Möglichkeiten der Generierung von Fördermitteln beispielsweise aus der Städtebauförderung zu prüfen. In der Immobilienökonomie unterscheidet man verschiedene Lebenszykluskostenberechnungen: •• Lebenszykluskosten im engeren Sinne (Life Cycle Cost – LCC) •• Lebenszykluskosten im weiteren Sinne (Whole Life Cost – WLC) Diese können sich aus unterschiedlichen Bau­ steinen zu individuellen Methoden zusammensetzen (Abb. 7). Eine wirkliche Whole-Life-Cost-Betrachtung ist in der Immobilienbranche bisher kaum bekannt. Die weiteren Bereiche sind meist nur in separaten Studien ausgewertet, wurden bislang aber kaum umfassend auf ein Projekt angewendet. Wichtig ist, dass in der Lebenszykluskostenberechnung eines Stadtquartiers keine vereinfachte Betrachtung nur auf Gebäudeebene durchgeführt wird. Solche Betrachtungen greifen deutlich zu kurz. So sind zwar beispielsweise die Erschließungskosten in Relation zu den Hochbaukosten eines Quartiers gering, die Kostenspanne ist im Bereich der Erschließung jedoch deutlich höher. Während bei den Baukosten für den Hochbau planungs­ bedingte Preisdifferenzen von meist nicht mehr als maximal 50 % Abweichung entstehen, können

die Differenzen im Bereich der Erschließung eines Quartiers oft zehnmal höher sein. So ergab eine Untersuchung des Landes Bayern, dass 2008 die Erschließungskosten pro Wohneinheit im Ein­ familienhaus mit durchschnittlich 20 000 Euro rund 100 % höher lagen als im Mehrfamilienhaus mit durchschnittlich 10 000 Euro je Wohneinheit (Abb. 8). Noch deutlicher zeigt sich der Unterschied in den Mobilitätskosten. Während eine Per­son im Neubaugebiet am Dorfrand im ländlichen Raum bezogen auf ihre Lebenszeit ca. 700 000 Euro als reine Fahrtkosten aufwendet, betragen die durchschnittlichen Kosten eines Großstadt­vorortbewohners weniger als 200 000 Euro. Die geringsten Ausgaben für Fahrtkosten entstehen den Bewohnern eines Kleinstadtzentrums mit durchschnittlich nur 20 000 Euro.3

Empfehlungen für wirtschaftliche Quartiersentwicklungen Die meisten Themenbereiche des nachhaltigen Bauens wie Energie, Städtebau oder soziale As­­ pekte sind entscheidend für die Qualität und Akzeptanz eines Stadtquartiers. Die Ökonomie greift hier nur indirekt ein. Gleichwohl ist sie das entscheidende Kriterium bei der Realisierung eines innovativen Masterplans sowie bei seiner Umsetzung in ein gebautes Stadtquartier und muss in allen Phasen der Entwicklung berücksichtigt werden. Dabei ist ein stufenweises Vorgehen und eine dem Projekt und den Akteuren angepasste Methodik wichtig. Folgende Punkte sind grundsätzlich zu beachten: •• Die Grundsatzentscheidung zur Sanierung, Weiter- oder Neuentwicklung eines Stadtquartiers sollte volkswirtschaftlich überprüft werden. Die Quartiersentwicklung muss sich

167

2.5 — Ökonomie Lebenszykluskosten im weiteren Sinn Lebenszykluskosten (Whole Life Cost – WLC) im weiteren Sinn (Whole Life Cost – WLC)

externe Kosten (externalities) externe Kosten (externalities) kommunalfiskalische Betrachtung

Einnahmen, Erträge Einnahmen, (income) Erträge (income)

dem Gebäude nicht unmittelbar zugeordnete dem Gebäude nicht Zusatzkosten unmittelbar zugeordnete (non-construction) Zusatzkosten (non-construction)

Lebenszykluskosten im engeren Sinn Lebenszykluskosten (Life Cycle Cost – LCC) im engeren Sinn (Life Cycle Cost – LCC)

klassische immobilienökonomische Betrachtung kommunalfiskalische Betrachtung klassische immobilienökonomische Betrachtung

Baukosten Betriebskosten (construction) (operation) Baukosten Betriebskosten (construction) (operation) klassische Immobilienzykluskostenberechnung Abb. 7

Kosten für Reinigung, Pflege für und Kosten Instandhaltung Reinigung, Pflege (maintenance) und Instandhaltung (maintenance)

Kosten für Rückbau und Entsorgung Kosten für (end of life) Rückbau und Entsorgung (end of life)

klassische Immobilienzykluskostenberechnung

20000 € pro Wohneinheit

10000 € pro Wohneinheit

100 %

50 %

Einfamilienhaus

Geschosswohnungsbau Mehrfamilienhaus

Abb. 8

wirtschaftlich sinnvoll in die Entwicklung der gesamten Stadt und Region einfügen. •• Am Anfang jeder konkreten Entscheidung für eine Stadtquartiersentwicklung empfiehlt es sich, Markt- und Standort mit einer SWOTAnalyse zu untersuchen und die Ergebnisse in einer Machbarkeitsstudie zusammenzuführen, um so gesellschaftliche oder privatwirtschaftliche Projektanreize abzusichern. •• Das Projekt muss schrittweise von der ersten Planungsidee an auf seine Wirtschaftlichkeit hin geprüft werden. Dabei ist die Tiefe der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung dem jewei­ ligen Entwicklungsstand der Projektierung anzupassen. •• Eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung als Discounted-Cash-Flow-Bewertung sollte immer durchgeführt und durch Lebenszykluskos­ tenberechnungen begleitet werden. Im Optimalfall werden die beiden Methoden zu einer

umfassenden Lebenszykluskostenberechnung vereint. •• Fördermittel und alternative Kosten-NutzenAnalysen sollten bei städtebaulichen Projekten grundsätzlich geprüft werden. Sie können auch durchaus wirtschaftlichen, nachhaltigen, aber auf den ersten nur marktwirtschaftlichen Blick nicht gewinnbringenden Projekten zum Erfolg verhelfen. •• Der für den Bereich Wirtschaftlichkeit zu­­ ständige Experte muss eine zentrale Stellung im Projekt erhalten und sollte erfahren im Umgang mit nachhaltigen Bewertungsmethoden sein. Reine Kostenkontrolle und Ge­­ winnmaximierung ist zu vermeiden. Im Fokus sollten vielmehr die Qualitätssicherung und eine breite Wirtschaftlichkeitsbetrachtung stehen, die sich nicht nur an einem Haupt­ akteur orientiert, sondern allen Beteiligten gerecht wird.  GCG

K A P ITE L 3

Umsetzungs strategien

3.1 — Ganzheitliche Konzepte entwickeln

3.1

Ganzheitliche ­Konzepte entwickeln He l m ut Bott, Ste p han Anders

I

n den vorangegangenen Kapiteln wurden die Handlungsfelder der nachhaltigen Stadtplanung zunächst jeweils für sich abgehandelt. In der Praxis des städtebaulichen Planens und Entwerfens stellt sich aber die Frage, wie sich die in den Teilsektoren konzipierten Ziele und Maßnahmen zu einem integralen Gesamtkonzept zusammenführen lassen. Die folgenden Abschnitte fassen daher noch einmal wichtige Aussagen aus den unterschiedlichen Handlungsfeldern thesenhaft zusammen.

Integrale Planung und Beteiligung Die nachhaltige Planung von Quartieren ist komplex und erfordert die Beteiligung der Öffentlichkeit mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen sowie die möglichst frühzeitige Bildung eines integralen Planungsteams aus Vertretern der Stadtplanung, Landschaftsplanung, Verkehrsplanung, Architektur und Energieplanung. Je nach Größe, Komplexität und Zielsetzung des Projekts sollten zusätzlich Experten zu den Themen Recht, Finanzen, Ökologie, Soziales oder Kunst das Team ergänzen. Ein erfahrener Moderator sollte die Koordinierungssitzungen und Workshops leiten. Die frühzeitige Integration ist deshalb von großer Bedeutung, da in frühen Planungsphasen wesentliche Entscheidungen getroffen werden, die die Nachhaltigkeit eines Projekts signifikant beeinflussen. Je weiter die Planung eines Quartiers fortgeschritten ist, desto höher werden der Aufwand und die Kosten, die mit Änderungen verbunden sind (Abb. 1, S. 170). Zurzeit verlaufen viele Planungsprozesse immer

noch linear. Idealtypisch vereinfacht: Für das Plangebiet wird eine Markt- und/oder Standortanalyse durchgeführt, ein Nutzungskonzept entwickelt, in den politischen Gremien diskutiert und entschieden, dann (hoffentlich) ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben, der Gewinner des ersten Preises (wenn es gut läuft) beginnt die Arbeit zu detaillieren und gibt diese an die Fachplaner für Verkehr, Energie, Ver- und Entsorgung etc. weiter. Wenn nun Fachplaner zu dem Schluss kommen, dass die städtebauliche Grundstruktur nicht für die angestrebten Zielsetzungen geeignet ist, müssten theoretisch alle Planungsschritte überarbeitet werden. Das Ergebnis sind suboptimale Lösungen. Großprojekte wie Stuttgart 21 machen die Folgen einer unzureichenden Informationspolitik für den Projektablauf und die damit verbundenen Kosten sichtbar. Es ist somit unbedingt ratsam, neben der Kommunikation innerhalb des integralen Planungsteams auch frühzeitig den Dialog mit der breiten Öffentlichkeit zu suchen und diesen als ein Potenzial für die Planung zu verstehen, um dem Projekt eine breitere öffentliche Akzeptanz zu verleihen und möglichst das insgesamt verfügbare Wissen zu aktivieren. Darüber hinaus muss auch der sozial-psychologische Aspekt berücksichtigt werden: Bei der frühzeitigen Integration aller Planer und sonstigen Beteiligten steigt die Identifikation mit dem Projekt. Das heißt, die Bereitschaft, sich für die Realisierung und die Durchsetzung der Planungsziele zu engagieren, nimmt zu – und damit die Chancen einer optimalen Umsetzung.

Wechselwirkun­gen Nachhaltige Stadtplanung berücksichtigt die verschiedenen Dimensionen der Gestaltung des

169

170

[%]

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Beeinflussbarkeit

100

Kosten und Emissionen

75

50

25

0 Initiierung

Planung

Realisierung

Nutzung

Verwertung

Abb. 1 Abb. 1  Beeinflussbarkeit der Kosten und Emissionen eines Quartiers über den Lebenszyklus betrachtet Abb. 2  Stadtquartier am Wasser, Borneo-Sporenburg, Amsterdam (NL) 2005 Abb. 3  Leitungslängen für die Wasserver- und -ent­ sorgung je Wohneinheit bei unterschiedlichen Siedlungsdichten Abb. 4  Schwellenwerte minimaler Bebauungsdichten aus Sicht der Wirtschaftlichkeit der Fernwärmeversorgung

städtischen Lebensraums sowie die technischen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für integrative Konzepte einer nachhaltigen Entwicklung. Maßnahmen, die eindimensional betrachtet durchaus sinnvoll sein mögen, können negative Auswirkungen in anderen Bereichen haben, die als »Nebenwirkungen« oder »externe Effekte« häufig aus der Betrachtung fallen. Das  heißt, planerische Maßnahmen und neue technische Entwicklungen können in einem Bereich nachhaltige Wirkungen haben, also z. B. Energieeinsparung ermöglichen, andererseits aber auch negative Auswirkungen. Als Beispiel sei nur die Debatte um die Einführung der Energiesparleuchten vor einigen Jahren genannt (giftige Abfälle, zu kaltes Licht). In diesem Fall sind die Zielsetzungen Energieeinsparung und Materialrecycling konkurrierend. Oft stehen auch Ziele des Denkmalschutzes und der Baukultur in Konkurrenz oder Widerspruch zu Energiesparmaßnahmen. Ziele und Maßnahmen können komplementär sein, sich ohne positive oder negative Wechselwirkungen ergänzen. Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit geht es darum, Maßnahmen durchzusetzen oder Systeme zu implementieren, die möglichst wenige negative Wirkungen haben oder weitere positive Entwicklungen in anderen Bereichen induzieren können, also Synergien erzeugen.

Reversibilität

1 vgl. z. B. Anders 2016 2  Zinser/Boch 2007, S. 123

Bei allen Konzepten gilt als oberste Zielsetzung die Reversibilität. Die Einführung technischer Systeme oder die Eingriffe in natürliche Lebensräume müssen reversibel sein. Sie dürfen z. B. nicht zur unumkehrbaren Auslöschung natürlicher Lebensräume und Arten führen. Das heißt, es dürfen keine nicht abbaubaren Gifte, keine nicht recycelbaren Materialen und Bauteile eingesetzt

werden. Als Beispiel sei auf die Verwendung der Atomenergie verwiesen, bei der an menschlichen Zeiträumen gemessen irreversible, lebenszerstörende Rückstände entstehen. Monetäre Schulden können abgetragen werden, Energiegewinnung aus Wind erzeugt unschöne Eingriffe in die Landschaft, die sich allerdings bei zukünftig denkbaren neuen Formen der Energiegewinnung zurückbauen lassen – in Abhängigkeit vom Materialeinsatz beim Bau der Windräder. Sortenreiner Einsatz von Materialien ermöglicht deren Weiterverwendung, z. B. durch mehrschichtigen Wandaufbau beim Einsatz verschiedener Materialien oder einschichtigen Aufbau bei Außenwänden. Wärmedämmverbundsysteme erschweren oder verhindern das spätere Recycling.

Keine Optimierung von ­Teilsystemen Konzepte und Strategien mit nur synergetischen Maßnahmen sind in der Regel schwer zu erreichen. Mit der Zunahme der Komplexität von Systemen, insbesondere von lebendigen Systemen, wird es nicht möglich sein, alle Teilsysteme in gleicher Weise zu optimieren. Das Optimum für ein Gesamtsystem wird mit großer Wahrscheinlichkeit erreicht, wenn nicht alle Subsysteme ihr Optimum erreichen. Ein immer wieder zitiertes Beispiel dafür ist das Leitbild der autogerechten Stadt. Wenn man die Verkehrssysteme für den motorisierten Individualverkehr optimiert, behindert man andere Verkehrsteilnehmer und verschlechtert den Lebensraum Stadt. Ähnliche Beispiele sind die angesprochene Optimierung der Energieeinsparung bei der Altbausanierung durch Maßnahmen, die den Architekturcharakter zerstören, oder etwa der Anbau in landwirtschaftlichen Monokulturen zur Biodieselerzeugung. Es gilt immer, alle Dimensionen zu beachten, dabei eine Abwägung vorzunehmen und auf Reduktion der Gesamtinterventionen durch sorgfältige, transdisziplinäre Erforschung kontraproduktiver, negativer Auswirkungen zu achten. Dabei stehen technische Lösungen zwar häufig im Vordergrund, zumal sie zum »notwendigen« Wirtschaftswachstum beitragen sollen. In vielen Fällen wäre jedoch eine Veränderung der Lebens- und Konsumgewohnheiten der beste Effekt für Nachhaltigkeit, was allerdings unter sozialpsychologischen und politischen Bedingungen und angesichts starker ökonomischer Interessen nicht einfach durchsetzbar ist (siehe Herausforderung Lebensstile und Verhaltensweisen, S. 73ff.).1

171

3.1 — Ganzheitliche Konzepte entwickeln

Inte­gra­ti­ve  Wirkungs­ zusammenhänge Dichte ist die Voraussetzung für einen sparsamen Umgang mit Ressourcen. Dichte kann zum einen bauliche Dichte und zum anderen Nutzungsdichte bedeuten.

Wohneinheiten je Hektar

250

Leitungslänge je Wohneinheit

70 60

200

50 150

40 30

100

20 50

10

0

0 Stadt

Dorf kompakt

Rand des Hauptorts

weiteres Umland

Streusiedlung dynamisch

Streusiedlung traditionell

Abb. 3

Energieverbrauch [MW/km2]

Die Nutzungsdichte von Stadträumen und Gebäuden lässt sich bei gleichbleibender baulicher Dichte durch flexible Nutzung erheblich erhöhen. So kann ein Stadtplatz an zwei Vormittagen Markt, an anderen Tagen Spielplatz und Sitzplatz für Außengastronomie und sonstige Freiraumaktivitäten sein, wenn er nicht »overdesigned« ist durch feste Einbauten. Ein Arbeitsplatz kann mehreren Personen dienen (Schichtnutzung oder Desksharing). Straßen können bei zeitweiliger Sperrung, z. B. über die Mittagsstunden, als Aufenthaltsbereich für Fußgänger und Straßengastronomie genutzt werden, was in Japan schon seit Jahrzehnten üblich ist. Neuere Shared-SpaceKonzepte machen die gleichzeitige Belegung von Straßenräumen durch unterschiedlichste Nutzer und Funktionen zum Prinzip. Schul- und Universitätsräume lassen sich in den Abendstunden, Wochenenden und während der Ferien für unterschiedlichste Veranstaltungen nutzen, wenn Gebäude und Management dies ermöglichen. Viele Unternehmen und Vereine müssten dann keine eigenen Veranstaltungsräume bauen. Das würde Emissionen reduzieren und die Um­­ welt schonen. Am Beispiel des Prinzips Desk­ sharing zeigt sich heute schon, dass sich bis zu 20 % der Flächen und damit auch Kosten für Heizung, Lüftung und die Arbeitsplatzausstattung einsparen lassen2 – und dies ohne zusätzliche Investitionen. Aber auch die bauliche Dichte ist entscheidend dafür, ein Quartier effizient betreiben zu können (Abb. 2). Dichte ist die Voraussetzung für die Versorgung der Quartiere durch Nah- oder Fernwärme (Abb. 3 und 4) und für die Anbindung an das öffentliche Nahverkehrsnetz, denn für eine Haltestelle im ÖPNV ist eine bestimmtes Nachfragepotenzial von Passagieren erforderlich. Ein weiterer Vorteil baulicher Dichte ist die Erreichbarkeit und Auslastung bestehender sozialer Inf-

Leitungslänge je Wohneinheit [m]

Dichte – positive Effekte

Wohneinheiten je ha

Abb. 2

nach: Siedentop et al. 2006 nach: Roth et al. 1980 Mindestdichte aus Sicht wirtschaftlicher Fernwärmeversorgung Grenze wirtschaftlicher Versorgung nach: Siedentop et al. 2006

65

Block

60 55

Zeile /Platte

50 45 40

Block

35 Zeile

30 25

EFH dicht /Dorf Reihenhaus

20

Dorf

15

EFH locker EFH locker

10 5

Zeile

Platte

EFH dicht MFH 90+

0 Abb. 4

0

0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 GFZ

172

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Emissionen Reduktion von Lärm, Staub und CO2

Mobilität Bessere Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen bewirkt höheren Anteil von Fußgängern und Radfahrern im Alltag.

öffentlicher Raum Aufenthaltsqualität durch vielfältiges Angebot, belebte öffentlich Räume

ÖPNV bessere Versorgung durch öffentliche Verkehrsmittel

Anschlussdichte bessere Voraussetzungen für leitungsgebundene Nahwärmenetze, z. B. über BHKW

Dichte

ÖPNV Symmetrischer Verkehr führt zu wirtschaftlicher Auslastung.

Flächenbedarf Mehrfachnutzung von Parkplätzen durch Anwohner, Kunden, Beschäftigte

Nutzungsmischung Störung der Anwohner durch Betriebe, Anlieferung und Kunden

Versorgungseinrichtungen Höhere Nachfrage auch von Beschäftigten im Quartier ermöglicht dichteren Besatz. Wasserwirtschaft Regenwasserabfluss höher, da Retentions­ bereiche reduziert

Stadtklima Verstärkung des UrbanHeat-Island-Effekts

Energie stärkere Verschattung der Gebäude

Störung der Privatheit durch andere Wohnungen und sonstige Nutzungen

Abb. 5

Abb. 5  positive (blaue Pfeile) und negative (schwarze Pfeile) Wechselwirkungen von ­Dichte und Nutzungs­ mischung mit anderen Fak­ toren Abb. 6  Einwurfschächte in ein unterirdisches Müllsystem, davor eine bepflanzte, leicht vertiefte Versickerungsmulde, Stockholm-­ Hjorthagen (SE) Abb. 7 Bauherrengemeinschaft Loretto, Innenhof, Tübingen (DE) 2006, Freiraumplanung: frei raum ­concept Abb. 8  Konversion einer ehemaligen Kaserne, Stadtteil Vauban, Freiburg i. B. (DE)

rastrukturen wie Schulen oder Kindergärten, aber auch für den Besatz eines Quartiers mit privaten Dienstleistungen, die eine gewisse Nachfragedichte voraussetzen. Städtebauliche Dichte erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Wege mit dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt werden und sich dadurch die Verkehrsimmissionen und die Beanspruchung von Stadtraum durch Pkws reduzieren. Dies hat wiederum positive Auswirkungen auf die Aufenthaltsqualität im Stadtraum und sorgt für eine höhere Kontakt- und Erlebnisdichte. Diese positiven Effekte sind kongruent mit dem Planungsziel der Nutzungsmischung (Wohnen, Arbeiten, Versorgung). Die positiven Rückwirkungen sind eine bessere Nutzbarkeit der Freiflächen in der Stadt als Bewegungs- und Aufenthaltsraum, z. B. durch mehr Spielflächen oder die Entstehung von Außengastronomie, was wiederum zu weiteren positiven urbanen Rückkoppelungen führt.

Dichte – problematische Aspekte Höhere Dichte und Nutzungsmischung sind jedoch gleichzeitig mit negativen Effekten verbunden. So kann z. B. die Nutzung von Außengastronomie zu Konflikten mit der Wohnnutzung (Nachtruhe) führen. Generell steigt die Wahrscheinlichkeit Abb. 6

von Lärmemissionen und Beeinträchtigungen sowie von Störungen der Privatheit, insbesondere der privaten Freibereiche (Gärten, Terrassen, Balkone). Dichte bewirkt stärkere gegenseitige Verschattung der Gebäude und durch erhöhte Versiegelung schnelleren Regenwasserabfluss. Geringere Durchlüftung und weniger Freiraum verstärken die Aufheizung des Stadtraums (Urban-HeatIsland-Effekt). Diese Nachteile müssen bedacht werden, sie lassen sich allerdings zu großen Teilen durch geeignete Maßnahmen ausgleichen. So reduzieren beispielsweise Dach- und Fassadenbegrünungen den schnellen Abfluss von Regenwasser und bewirken eine Regenwasserretention. Gleichzeitig mildern sie den Heat-Island-Effekt, erhöhen die Verdunstung und schaffen zusätzlichen Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Retentionsmulden lassen sich bei großer baulicher Dichte mit höherem Aufwand einfügen, doch selbst unter versiegelten Flächen ist es möglich, Rigolen einzubauen. (Abb. 6). Andere negative Aspekte hoher baulicher Dichte, die mit der Nähe benachbarter Gebäude zusammenhängen, lassen sich durch Gestaltungsmaßnahmen partiell ausgleichen, z. B. durch die Art der Baukörpergliederung und den Bau von Loggien und Dachterrassen statt Balkonen. Dies kann allerdings dem Ziel der baulichen Kompaktheit teilweise widersprechen.

173

3.1 — Ganzheitliche Konzepte entwickeln

Nutzungs­ mischung Eines der Grundprinzipien der europäischen Stadt war die enge räumliche Beziehung von Wohnen und Arbeiten, aber auch unterschiedlicher sozialer Schichten. Die heutigen Städte sind weltweit extrem entmischt, was die bekannten Verkehrsprobleme verursacht hat. Die Funktions­trennung, Dogma der Stadtplanung seit der klassischen Moderne, wird bereits seit Jahrzehnten von Planern und Sozialwissenschaftler kritisiert und die Funktionsmischung bei angemessener Dichte als Bedingung nachhaltiger Stadtentwicklung gefordert. Bei vielen Stadterneuerungsprojekten wurden diese Ziele bereits umgesetzt und auf ehemals monofunktional genutzten Gewerbe- und Industrieflächen, ehemaligen Fabrikgeländen, Güterbahnhöfen oder Frachthäfen gemischte Quartiere realisiert.

Positive Wirkungen Nutzungsvielfalt und belebte Straßenräume erhöhen die Attraktivität des Quartiers und steigern das Sicherheitsgefühl der Nutzer. Gemischt genutzte städtebauliche Strukturen sind die Vo­­ raussetzung für die Stadt der kurzen Wege. Kurze Strecken zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit lassen sich bequem zu Fuß, mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen. Durch die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) und der damit verbundenen Lärm- und Staubemissionen erhöht sich die Attraktivität des öffentlichen Raums und es stehen mehr Flächen für Fuß- und Radverkehr zur Verfügung. Sicher werden Wohnung und Arbeitsplatz auch in Zukunft häufig in größeren Entfernungen voneinander liegen. Eine Mischnutzung des Stadtgebiets erzeugt jedoch durch die Ein- und Auspendler einen symmetrischen Ziel- und Quellverkehr und sorgt für die Mehrfachnutzung von Parkierungsanlagen. Reine Arbeits- und Wohnquartiere hingegen bewirken eine schlechte Ressourcenausnutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), da morgens und abends die einseitige Überlastung jeweils in einer Richtung stattfindet und die doppelte Zahl von Parkplätzen – am Wohnund am Arbeitsort – vorgehalten werden muss. Nicht zuletzt bieten gemischt genutzte Strukturen die bessere Anpassung an sich ändernde Rahmenbedingungen (siehe Nachhaltigkeit und/oder

Resilienz, S. 13f.) und sind somit langfristig stabil und attraktiv für Eigentümer, Nutzer und Investoren. Nur durch soziale Diversität im Quartier können sich Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Lebenssituationen und Berufsgruppen begegnen, was soziales Lernen ermöglicht. Dieses Miteinander, das durchaus auch Konflikte erzeugen kann, bildet die Grundlage für eine intakte Gesellschaft, in der die Menschen in sozialer Verantwortung leben – und nicht in isolierten Ghettos der Armen oder »gated communities« der Reichen.

Nutzungskonflikte

Abb. 7

In gemischten Quartieren können immer wieder Nutzungskonflikte auftreten (Wohnen – Andienungsverkehr zu Läden, Wohnen – Außengastronomie, Wohnen – Immissionen von Handwerksbe­ trieben), die ernst genommen werden müssen. Es gilt, intelligente Konzepte zu entwickeln, um die Anforderungen der verschiedenen Nutzungen zu berücksichtigen und Konfliktpotenziale auf ein Minimum zu reduzieren. Quartiere wie das LorettoAreal in Tübingen (Abb. 7) und das Vauban-Viertel in Freiburg (Abb. 8) zeigen, dass dies möglich ist.

Freiräume Die Qualität und fußläufige Erreichbarkeit von Freiräumen ist für die Attraktivität eines Quartiers von hoher Bedeutung. Als Ort der Kommunikation, der Erholung und des kulturellen Lebens leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden und zur Identifikation der Nutzer mit dem Quartier. Am Beispiel des Central Parks in New York, des Petersplatzes in Rom oder der Strandpromenade von Rio de Janeiro (Abb. 9, S. 174) zeigt sich, dass sie, vielmehr noch als einzelne Gebäude, den Charakter einer Stadt maßgeblich bestimmen. Unter Freiräumen sind dabei nicht nur großzügige Grün- und Wasserflächen zu verstehen, sondern auch Wege, Plätze und Straßenräume (z. B. Avenue des Champs-Élysées in Paris) sowie ­private Gärten, Balkone, (Dach-)Terrassen und Innenhöfe. Sie stehen in einer wechselseitigen Beziehung mit der Dichte eines Quartiers. Je höher diese ist, desto mehr nutzbare Freiflächen sollte es darin geben, auch wenn diese Maxime im Zielkonflikt mit der Wirtschaftlichkeit von Projekten stehen kann. Durch eine flexible Nutzung je nach Tages- oder Jahreszeit lassen sich enorme Flächen sowie damit

Abb. 8

174

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

verbundene Kosten für den Bau und die Instandhaltung von Freiflächen einsparen. Es ist z. B. mög­ lich, einen Straßenraum bei Berufsverkehr zu 70 % für den motorisierten Individualverkehr und in Zeiten mit geringem Verkehrsfluss (mittags, nachts, am Wochenende oder in den Ferien) zu 70 % für Fußgänger, Fahrradfahrer und Cafés zu nutzen. Die Teilsperrung des Broadway in New York oder die Shared-Space-Maßnahmen in den Niederlanden zeigen, dass solche Konzepte durchaus realistisch und umsetzbar sind. Aufgabe einer nachhaltigen Quartiersentwicklung ist es also, zwischen Verdichtung auf der einen Seite (effiziente Infrastruktursysteme, Stadt der kurzen Wege etc.) und Freiräumen auf der anderen Seite (Wohlbefinden, Gesundheit etc.) abzuwägen und je nach Standort und Zielen ein ausgewogenes Verhältnis zu finden.

Grünflächen

Abb. 9

Abb. 10

Grünflächen haben vielfältige positiven Auswirkungen auf die verschiedenen Dimensionen des Lebensraums Stadt. Die bereits genannten sozialen Aspekte – Treffpunkt und Bewegungsraum, Spiel- und Aufenthaltsbereich, Beobachtungsbereich für soziales Lernen bei spontanen Kontakten – haben insbesondere für Bewohner ohne private Freiflächen hohe Bedeutung. Bis zu einer gewissen Größe wirken sie also kommunikations- und integrationsfördernd. Sehr wichtig sind selbstverständlich die ökologischen Aspekte (Artenvielfalt, Lebensraum für Pflanzen und Tiere) sowie Einflüsse auf das Stadtklima (Mäßigung des Urban-Heat-Island-Effekts durch Reduktion der Temperatur und Erhöhung der Luftfeuchte, Filterung und Bindung von Staub) und die Mobilität (weniger Freizeitverkehr der Stadtbewohner »ins Grüne«, da in der Nähe Freizeitangebote verfügbar sind, dadurch Reduzierung der vom Verkehr verursachten Emissionen). Städtische Grünflächen übernehmen noch weitere Funktionen, die sich mit anderen Bereichen überlagern: In Bezug auf die Wasserwirtschaft können sie bei entsprechender Gestaltung für Rückhaltung, Reinigung, Versickerung und langsames Abfließen von Regenwasser durch unversiegelte, bewachsene Oberflächen, Muldenbildung (Retention) und entsprechende Geländemodellierung sorgen (Grundwasserneubildung, Vorbeugung von Hochwasser). In Grünflächen eingebundene Wasserflächen als Element wasserwirtschaftlicher Retentionssysteme bieten weitere Potenziale für Artenvielfalt, dienen auch der Erweiterung von

Bewegungsräumen und Spielbereichen. Schließlich tragen sie zur Verbesserung des trocken-­ heißen und staubbelasteten Stadtklimas bei. Grünräume können im Übrigen die Erzeugung von Biomasse unterstützen. Die großzügige Ausweisung von Grünflächen bedeutet zwar auch die Reduktion der baulichen Dichte, ist aber andererseits gerade bei hohen Baudichten unverzichtbar. Sehr große zusammenhängende Grünflächen können die Unterbrechung der räumlichen Kontinuität des Stadtraums bewirken und bilden dann eine natürliche Grenze zwischen verschiedenen Stadtteilen.

Innen vor außen Boden ist, insbesondere in dicht besiedelten Ländern wie Deutschland, eine sehr wichtige Ressource, die sich nicht vermehren lässt. Das primäre Ziel einer nachhaltigen Quartiersentwicklung muss somit darin liegen, sparsam mit den noch zur Verfügung stehenden Flächen umzugehen. Dies kann durch die Nutzung von brachliegenden bzw. untergenutzten Flächen wie ehemalige Militär-, Bahn- oder Gewerbeflächen erfolgen oder auch durch eine verdichtete Bauweise. Die Bebauung ungenutzter innerstädtischer Flächen wie im Freiburger Stadtteil Vauban oder dem Tübinger Loretto-Areal (Abb. 7 und 8, S. 173) hat dabei gleich mehrere Vorteile verglichen mit einer Bebauung auf der »grünen Wiese«, auch wenn die Anfangsinvestitionen aufgrund vorhandener Altlasten und erhöhtem Planungsaufwand höher ausfallen können, als zu Beginn vorgesehen. Die Modernisierung und Reaktivierung der bestehenden Straßen, Gebäude und der technischen In­­ frastruktur senkt nämlich auf der anderen Seite den Ressourcenbedarf für den Bau. Gleichzeitig lässt sich die bestehende Infrastruktur für Energie, Ver- und Entsorgung, Schulen und Kindergärten durch die Nachverdichtung auf Stadtteilebene effizienter nutzen. Neben diesen technischen Aspekten erlaubt die Nutzung von Brachflächen, ergänzende Angebote für die umliegenden Quartiere zu schaffen und sozialen Fehlentwicklung von Stadtteilen auszugleichen oder vorzubeugen.

Bestand nutzen Der weitaus größte Teil der Städte in Europa ist bereits gebaut. Die jährliche Neubauquote in Deutschland beispielsweise schwankt zwischen

175

3.1 — Ganzheitliche Konzepte entwickeln

1 und 2 %, gemessen am Bestand. Durch den aktuellen Wandel der hoch entwickelten Länder von der Industrie- zur Wissensgesellschaft werden große innerstädtische Gewerbe- und Industrie­ areale frei, die ein enormes städtebauliches Entwicklungspotenzial bieten, das es für die nachhaltige Transformation unserer Städte zu nutzen gilt. Deshalb ist es notwendig, sich verstärkt mit dem Bestand auseinanderzusetzen. Dazu zählen zum einen bestehende Gebäude und Straßen, aber auch vorhandene identitätsstiftende Materialien, Pflanzen oder Tiere bis hin zu abstrakten Elementen wie (Zwischen-)Nutzungen oder Namen (Abb. 10). Gebaute Beispiele wie die HafenCity in Hamburg oder das GWL-Terrein in Amsterdam (siehe Projektbeispiel S. 250f.) zeigen, dass der Bestand eine wichtige Funktion hinsichtlich der identitätsstiftenden Funktion eines Orts für seine Nutzer übernehmen kann. Die problematischen, monoton gestalteten Großwohnsiedlungen der 1970er-Jahre veranschaulichen, wie wichtig identitätsstiftende Elemente bei der Quartiersentwicklung sind. Günstige Altbaumieten bieten zudem die Chance, soziale und kulturelle Potenziale zur Entfaltung zu bringen und z. B. Musiker, Künstler oder Vereine in das Quartier zu integrieren. Diese Personengruppen und Institutionen sind wichtig für die urbane Vielfalt, können sich jedoch meist keine hohe Miete leisten. Die Nutzung des Bestands ist daher bei der Planung von nachhaltigen Stadtquartieren ein wichtiger Aspekt.

Lebenszyklus­ betrachtung In DIN EN ISO 14  040 ist der Lebensweg eines Produktsystems von der Rohstoffgewinnung oder -erzeugung über seine jeweilige Verarbeitung bis hin zur endgültigen Beseitigung bzw. zum Recycling des Produkts beschrieben. Übertragen auf Bauwerke heißt dies, dass sowohl alle über den Lebenszyklus auftretenden Emissionen und Kosten des Gebäudes insgesamt (z. B. Energie­ bedarf im Betrieb) als auch der einzelnen Bestandteile wie Türen, Fenster und Wände systematisch erfasst und bewertet werden – vom Abbau der notwendigen Rohstoffe über deren Verarbeitung und Nutzung bis hin zu ihrem Rückbau bzw. ­Recycling (Abb. 11). Ist die Betrachtung für Gebäude schon komplex,

Herstellung Vorprodukte

Rohstoffabbau

Herstellung/ Bau

Recycling / Verwertung

Entsorgung

Rückbau

Nutzung

Abb. 11

wird sie für Quartiere noch weitaus komplexer. Ein Quartier besteht nicht nur aus Gebäuden, sondern zudem aus einer Vielzahl von physischen Bestandteilen wie Straßen, Wege, Plätze, technische Infrastruktur, Grün- und Freiflächen für Menschen und Tiere. Jedes dieser Bestandteile hat dabei eine bestimmte Lebensdauer und verursacht unterschiedliche Kosten und Emissionen bei Bau, Nutzung, Instandsetzung und Rückbau. Die Gesamtheit der Lebenszyklen der einzelnen Bestandteile bildet somit ein projekt- oder objektspezifisches Szenario, in dem kontinuierlich die entsprechenden Prozesse ablaufen.3 Es gilt also, die technische Struktur von Gebäuden und Quartieren qualitätsvoll, somit haltbar und auch leicht unterhaltbar zu konzipieren. Ein Gebäude kann zwar nahezu vollständig aus nachwachsenden Rohstoffen gebaut sein und mehr Energie erzeugen als es benötigt. Wenn es jedoch Konstruktionsmängel aufweist, nur mit sehr hohem Wartungsaufwand nutzbar ist oder nach Auszug der Erbauer und Erstnutzer nicht mehr den gestalterischen Vorstellungen oder Bedürfnissen eines neuen Eigentümers entspricht, kann es durchaus sein, dass das Gebäude trotz guter Ökobilanz und niedriger Lebenszykluskosten nach wenigen Jahren wieder abgerissen wird. Bei der Langzeitbetrachtung verschiedener Quartiere und Bautypologien zeigt sich, dass manche Typen über Jahrzehnte trotz wandelnder Bedürfnisse für verschiedene Nutzungen flexibel Raum zur Verfügung stellen und sparsam mit vorhanden Ressourcen umgehen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Gründerzeitquartiere, in denen Wohnungen mit großzügigen Grundrissen, gleichwertigen Räumen und größeren Geschosshöhen von reichen Kaufleuten, Handwerkern oder höheren Beamte mit Zimmern für Dienstboten gebaut wurden. Diese Wohnungen lassen sich ohne großen Aufwand für Wohngemeinschaften, kleine Werkstätten

Abb. 9 Strandpromenade, Copacabana, Rio de Janeiro (BR) 1970, Roberto Burle Marx Abb. 10 Werksschwimmbad, ehemalige Kokerei Zollverein, Essen (DE) 2001, Dirk Paschke, Daniel Milohnic Abb. 11  Lebenszyklus von Gebäuden

3  König et al. 2009, S. 20

176

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

4  Hornuf/Klöhn 2012

oder Büros umnutzen. Aus dem Vergleich mit sehr funktionalistisch geplanten Wohnungsbauten der Moderne lässt sich ableiten, dass zu detailliert auf momentane Bedürfnisse eingehende Entwürfe oft der langfristigen Nutzbarkeit von Bauten widersprechen. Lebenszyklusorientierte Planung heißt somit auch vorausschauende und flexible Planung. Es ist daher unbedingt empfehlenswert, alle mit der Entwicklung und Nutzung eines Quartiers verbundenen Auswirkungen frühzeitig abzuschätzen und aus deren Analyse nachhaltige Konzepte zu entwickeln.  BW, SA

Energie­ versorgung Die Energiewirtschaft war in ihrer bisherigen Entwicklung durch Großkonzerne geprägt. Dies bedeutet nicht nur, dass die Entscheidungen über die technologische Entwicklung an wenigen Orten und primär auf Großtechnologie orientiert getroffen werden. Die so entstandene Marktmacht ist auch zur politischen Macht geworden, wie das Beispiel der Debatten um die Laufzeit von Atomkraftwerken verdeutlichte, als ganzseitige Anzeigen der Energieriesen gegen den Ausstieg aus der Atomenergie in Tageszeitungen erschienen. Die andauernde Debatte um den Transport der Windenergie zeigt wiederum die Problematik von Großtechnologie, die von ihrer Struktur her hohe Kapitalmengen und somit letztlich Konzerne als Akteure voraussetzt. Die Versuche der Bundesregierung, die Bürger an der Finanzierung der Stromtrassen für die Windenergie zu beteiligen, haben sich als wenig erfolgreich erwiesen. Dezentrale Konzepte der Energieversorgung können hingegen vielfältige positive Wirkungen vereinen, wie z. B. die Gründung vieler Energiegenossenschaften für den Bau von Windkrafträdern oder Solaranlagen oder einzelne private Investitionen für energiesparende Technik wie Blockheizkraftwerke zeigen.

Blockheizkraftwerke Über Verbrennungsmotoren, die mit Biogas, Erdgas oder Öl betrieben werden, erzeugen Blockheizkraftwerke (BHKW) Strom und speisen die entstehende Abwärme in Wärmenetze ein. Der

technische Vorteil liegt in den sehr kurzen Leitungslängen für Heizung und Warmwasserversorgung, was die Leitungsverluste reduziert. Neben dem positiven ökologischen Gesichtspunkt der Einsparung von über 60 % Primärenergie – im Idealfall wird sogar der Zero-Emission-Standard durch Einsatz von Biogas aus organischen Siedlungsabfällen erreicht – kommt der Aspekt der Eigentumsbildung der Bürger an der technischen Infrastruktur und somit ein Stück ökonomische Unabhängigkeit hinzu. BHKW lassen sich in verschiedenen Größenordnungen bauen, z. B. für Wohnanlagen, Hausgruppen oder auf Quartiersebene. Dafür ist es möglich, auch sehr kleine Kapitalmengen unterschiedlichster Größenordnung durch Crowdfunding zu sammeln, eine Strategie, die bei der Finanzierung von Start-up-Unternehmen bereits häufig eingesetzt wird.4 Im Extremfall können sogar »Quartierswerke« entstehen, die im Verbund mit anderen Quartieren Teile der Infrastruktur, des Stoffrecyclings und z. B. des sozialen Quartiersmanagements übernehmen.

Stadtwerke Insbesondere für kleinere Städte und Gemeinden können die Gründung bzw. die Sicherung und der Ausbau von Stadtwerken die gleichen positiven Wechselwirkungen wie BHKW induzieren. Sie erhalten dadurch eine stärkere Unabhängigkeit von Marktschwankungen und ökonomischen Entscheidungen großer Konzerne, schaffen qualifizierte, sichere Arbeitsplätze und unterstützen die Bildung von technischem Wissen und Erfahrungen vor Ort. Damit findet die Wertschöpfung und Kapitalbildung in der Stadt bzw. der Gemeinde selbst statt. Zudem ist der Einsatz regional verfügbarer Energiequellen möglich, die sich für technischökonomische Großstrukturen nicht eignen, z. B. die Kombination regenerativer Energiegewinnung aus Sonne, Wind, Wasser, Abwasser und Biomasse aus Stadtwald, landwirtschaftlichen Resten oder organischem Siedlungsabfall. Hinzu kommt der politische Grundsatz, dass jede Dezentralisierung von Macht – auch der ökonomischen – demokratische Strukturen absichert und ausbaut. Zwar mögen bei kleineren Einheiten in manchen Fällen positive Skaleneffekte im Vergleich zu Großanlagen verlorengehen. Bei einer nachhaltigen Entwicklung geht es jedoch nicht nur um wirtschaftliche Aspekte wie Kosteneinsparung, Gewinnmaximierung und Effektivität, sondern eben auch um die soziale und politische

3.1 — Ganzheitliche Konzepte entwickeln

Dimension sowie um den Ort der Entscheidungen wie der Wertschöpfung. Positive Beispiele für ein solches Vorgehen sind die sehr erfolgreiche Gründung der Stadtwerke von Waldkirch im Schwarzwald oder die Elektrizitätswerke Schönau (EWS). Diese Projekte sowie viele andere kleinere regionale Versorger und Energiegenossenschaften zeigen, dass solche Unternehmen viele positive Aspekte verbinden können: Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit, Demokratisierung ökonomischer Macht, ökonomische Stabilisierung ländlicher Regionen.

Dezentrale Verund Entsorgung – Resilienz Die Ver- und Entsorgungsstruktur von Stadtquartieren und ganzen Städten und Regionen wurde in der Vergangenheit meist auf große, zentrale technische Einrichtungen konzentriert – eine große Müllverbrennungsanlage als Heizkraftwerk, wenige große Elektrizitätswerke, zentrale Kompostierungsanlagen, große Kläranlagen etc. Aus der Zielsetzung nachhaltiger Planung wurde seit Jahrzehnten für die stärkere Dezentralisierung plädiert und auf eine Grundhaltung analog zum Subsidiaritätsprinzip plädiert. Es sollten also möglichst viele Verantwortungen auf die kleineren sozialen Einheiten – vom Individuum über die Familie, Hausgemeinschaften, Nachbarschaften und Quartiere verlagert werden. Dies erzeugt zwar Probleme und Konflikte, insbesondere in benachteiligten Quartieren, ermöglicht aber gleichzeitig auch soziales Lernen und das Erfassen zumindest von Teilen der Prozesse, die die materielle Basis unserer sozialen Lebenswelt bilden. In Teilen wurden diese Prinzipien in den letzten Jahren bereits umgesetzt: z. B. Mülltrennung durch den Einzelnen und pro Haushalt und nicht zentral, Pflicht der Regenwasserretention auf Neubaugrundstücken. Schon bei diesen Maßnahmen zeigen sich die damit verbundenen Probleme wie z. B. Sozialverhalten oder Platzbedarf für ganze Batterien von Müllbehältern. Soziales Lernen und bessere technische Systeme (siehe z. B. Projektbeispiel Hammarby Sjöstad, S. 244f.) werden erforderlich sein, um diese Ziele der Dezentralisierung zu erreichen. Wie bereits erwähnt, haben dezentrale und semi-

zentrale Systeme so viele andere Vorteile, dass sie unumgänglich sind. Zu den genannten Aspekten – z. B. Leitungslängen zur Nutzung von Abwärme aus BHKW, dezentrale Retention zur Vermeidung von überfüllten Abwasserkanalsystemen und Kläranlagen – kommt seit einiger Zeit das Argumente der Resilienz hinzu. Dezentrale Versorgungssysteme sind resilienter, da sie bei Katastrophen oder terroristischen Attacken nicht so leicht alle gleichzeitig lahmgelegt werden können.

Bedingungen für soziale und ­ökonomische Nachhaltigkeit Der freie Zugang zu einem guten, öffentlichen, aus Steuern finanzierten Bildungssystem erzeugt das soziale und ökonomische Optimum. Nur so besteht die Chance, dass möglichst viele Talente entdeckt werden und alle begabten jungen Menschen eine gute Ausbildung und Förderung dieser Talente erhalten. Die Schüler, Studenten und Auszubildenden sind die mehr oder weniger qualifizierten Facharbeiter, Ingenieure, Wissenschaftler, Künstler und Manager der nächsten Generation. Nur wenn sie gut ausgebildet und in gesellschaftlicher Verantwortung erzogen wurden, also auch gebildet sind, kann sich die Gesellschaft insgesamt positiv entwickeln und jedem Einzelnen die besten Bedingungen für seinen individuellen Lebensweg bieten. Dies ist auch die Voraussetzung für die gesicherte demokratische Entwicklung einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne aktives und passives Wahlrecht hat. Nur wenn sich die überwiegende Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft anerkannt und integriert fühlt, wenn ihr Beitrag innerhalb der sozialen Gemeinschaft von der Familie bis zum Staat geachtet und die Arbeit angemessen entlohnt wird, kann eine nachhaltige soziale und ökonomische Entwicklung möglich sein. Angemessene Entlohnung ist immer relativ zum Stand der ökonomischen Entwicklung zu sehen und kann niemals egalitären Ausgleich zum Ziel haben. Aber wenn es für einen Teil der Menschen in einer Gesellschaft nicht die Möglichkeit gibt, Arbeit zu

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178

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Bewertung und Monitoring Nachhaltige Quartiersplanung ist ein dehnbarer Begriff. Aus diesem Grund sollten möglichst frühzeitig mit allen relevanten Akteuren die Ziele des Projekts diskutiert und in Form von (messbaren) Kriterien festgehalten werden. Eine regelmäßige Überprüfung (Monitoring) dieser Ziele und Kriterien während der Planung ermöglicht es, Missstände frühzeitig zu erkennen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Ein solcher Kriterienkatalog hilft auch, Zielkonflikte aufzuzeigen und diese auf eine transparente Art und Weise unter allen Beteiligten zu diskutieren. Abb. 12 Abb. 12  Wohnanlage »wagnisART« in München (DE) 2016, Arge bogevischs buero und Shag Schindler Hable Architekten

5 vgl. Picket / Wilkinson 2011

Weitere Informationen

•  Anders, Stephan: Stadt als System. Methode zur ganzheitlichen Analyse von Planungskonzepten. Lemgo 2016 •  Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. München 2002

finden oder von der Arbeit in Würde zu leben (ebenfalls wieder relativ), hingegen ein anderer Teil der Gesellschaft durch die Konzentration von Vermögen, Kapital und Besitz von Immobilien extrem reich ist – trotz oder wegen der Armut eines großen Teils der Gesamtgesellschaft –, so werden in dieser Gesellschaft starke soziale Spannungen, Konflikte, Gewalt und Kriminalität entstehen. Wenn die Einkommen der reichsten und ärmsten Einkommensgruppen beginnen, extrem auseinander zu driften, werden nicht nur die sozialen Probleme zunehmen, sondern auch große Kosten für Polizei, Justiz und Gefängnisse entstehen. Darüber hinaus bewirken die subjektiven Empfindungen von Ungerechtigkeit, Missachtung, von Bedrohung und Angst in solchen mit Spannungen aufgeladenen Gesellschaften offenbar psychische und psychosomatische Folgeprobleme, die die Lebensbedingungen auch der besserverdienenden Schichten verschlechtern5, u. a. weil sie sich bedroht fühlen und sich in »gated communities« zurückziehen.

Ein Beispiel hierfür stellt das von der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen e. V. (DGNB) entwickelte Zertifizierungssystem für Stadtquartiere dar. Dieses basiert auf insgesamt 30 Kriterien für die Bewertung von Quartieren, die sich in die Themenfelder Ökologie, Ökonomie, Soziokultur und Funktion, Technik sowie Prozess aufteilen (siehe Zertifizierungs- und Bewertungssysteme, S. 218ff.). Allen nachhaltigen Ansätzen bei der Planung zum Trotz entwickeln sich Quartiere nach ihrer Fertigstellung oft anders als gedacht. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von einfachen Planungsfehlern über sich ändernde Rahmenbedingungen bis hin zum Maß der Akzeptanz durch die Nutzer und deren Verhalten. Es empfiehlt sich daher, ein Quartiersmanagement zu etablieren, das die Einhaltung der gesteckten Ziele regelmäßig überprüft und bei berechtigten Zweifeln gemeinsam mit Bewohnern, der Kommune und Planern Gegenmaßnahmen erarbeitet und diese konsequent umsetzt.  SA

3.2 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

3. 2

Akteure, Leitbilder und Instrumente Ste p han Anders, Helmut Bott, Dominic C hurch, Gre gor C. Grass l, Rol f Mess ers chmidt, Andreas v on Z adow

E

ine nachhaltige Quartiersentwicklung erfordert Strategien, die das Zusammenspiel aller beteiligten Akteure im Sinne des Gemeinwohls beeinflussen können. Zur Umsetzung dieser Strategien lassen sich verschiedene Instrumente einsetzen, um die gesetzten Nachhaltigkeitsziele von der Planung bis zur Ausführung und Nutzung einzuhalten. Dabei stellen sich den Akteuren in der Verwaltung und Politik auf kommunaler Ebene zahlreiche Herausforderungen. Beispiele wie Heidelberg und Ludwigsburg veranschaulichen Anwendungen solcher Strategien in der Praxis (siehe Kommunale Umsetzungsstrategien, S. 188ff.).

Akteure der Quar­ tiersentwicklung Die Stadtentwicklung ist in Deutschland Aufgabe der Städte und Gemeinden, Grundlage sind die Gesetze des Bundes und der Länder. Die Städte und Gemeinden sind zwar staatlich verfasste Gebietskörperschaften, aber die Akteure in der Stadt bestehen aus vielfältigen privaten und öffentlichen Einheiten und Institutionen, aus Individuen und Interessengruppen, aus Firmen und Organisationen mit unterschiedlichsten Ausrichtungen und Gewichtungen (Abb. 1, S. 180). Die physische Gestalt der Stadt, ihre Gebäude, technischen In­frastrukturen und Freiräume entstehen in einem komplexen Wechselspiel privater und öffentlicher Aktionen, Reaktionen und Interventionen. Dabei haben die demokratisch legitimierten Institutionen der Stadt die Aufgabe,

die Stadtentwicklung im Sinne der komplexen Zielsetzungen der Nachhaltigkeit zu beeinflussen. Die Aufgaben der Stadtentwicklung entsprechen hierbei den Prinzipien der Spieltheorie: Sie werden beherrscht durch interdependente Entscheidungssituationen, in denen sich das Verhalten aller Beteiligten gegenseitig beeinflusst. Die Entwicklung neuer Stadtquartiere findet immer in einem Spannungsfeld gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse statt. Es handelt sich nicht um einen rein wirtschaftlichen, technischen oder administrativen Ablauf, sondern um eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Interessen und Belangen, die nach § 1 des Baugesetzbuchs (BauGB) zu ermitteln und gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen sind. Die Interessen und Belange der involvierten Akteure lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: •• staatliche Akteure: Zum einen sind dies politische Entscheidungsträger, die in der Demokratie durch den Wahlvorgang legitimiert werden und die delegierte Macht des Volkes ausüben. Zum anderen ist es die Aufgabe der Verwaltung, die durch die politischen Entscheidungsträger vorgegebenen Strategien und Maßnahmen effektiv umzusetzen. •• zivilgesellschaftliche Akteure: Dazu gehören sowohl Einzelpersonen, beispielsweise Bürger oder Anwohner, wie auch Interessensgruppen, etwa Bürgerinitiativen, Vereine oder Glaubensgemeinschaften. •• privatwirtschaftliche Akteure: Hierzu zählen Unternehmen unterschiedlichster Branchen und Größenordnungen, die als Investoren auftreten oder durch ihre betrieblichen Vorgänge in die Nutzung von Ressourcen vor Ort eingebunden sind. In einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaftsform können auch Einzelpersonen oder Interessengruppen als privatwirtschaftliche Akteure auftreten, etwa als Eigentümer von Grund und Boden.

179

180

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Top-down

Kommune

Top-down

Privatwirtschaft

Kommune

Privatwirtschaft

Organisationen Einzelpersonen

Agenda 21 Anwohner/ Bürger staatlich

1  Agenda 21 1992, S. 291

privat

staatlich

Bottom-up

Abb. 2

Abb. 1  Akteure der Quartiers­ entwicklung Abb. 2  Akteure der Quartiers­ entwicklung und Beitrag der ­Agenda 21

Anwohner/ Bürger privat

Bottom-up

Abb. 1

Abb. 2

Da die Quartiersentwicklung einen vergleichsweise langwierigen Vorgang darstellt, der mit dem Einsatz erheblicher Ressourcen verbunden ist (Materialien, finanzielle Mittel, menschliche Arbeitsleistung etc.) und die Lebensqualität von vielen Menschen auf sehr lange Sicht beeinflusst, muss sie durch einen tragfähigen Konsens zwischen den Akteuren abgesichert werden. In einer demokratischen Gesellschaftsform muss die staatliche Seite versuchen, das Spiel zwischen den oft gegenläufigen Interessen und Verhaltensformen der Akteure in Richtung eines optimalen Gesamtergebnisses zu lenken. Voraussetzung dafür ist die Formulierung von strategischen Zielen und Leitlinien sowie die fachkundige Handhabe von Instrumenten, die die beteiligten Akteure zu Entscheidungen motivieren können, die für das Wohl aller von Vorteil sind. Die Quartiersentwicklung geht immer mit einer Änderung des Status quo einher. Daher ist es im Sinne der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, einen Zustand des Pareto-Optimums anzustreben. Dabei handelt es sich um den erstmals von dem italienischen Ingenieur, Ökonomen und Soziologen und Begründer der Wohlfahrtsökonomie Vilfredo Pareto (1848– 1923) beschriebenen theoretischen Zustand, bei dem es nicht mehr möglich ist, die Situation eines Akteurs zu verbessern, ohne zugleich die eines anderen zu verschlechtern. Auch wenn dieses Ziel möglicherweise nie erreicht werden kann, bietet es konzeptuell eine Leitlinie, um für möglichst viele ein möglichst gutes Resultat zu erzielen. Es lässt sich nur verfolgen, indem die Akteure die Bereitschaft zu einem guten Kompromiss mitbringen und darauf verzichten, ihre individuellen Vorteile gegenüber den Interessen aller anderen durchzusetzen. Prozesse der Stadtentwicklung dauern in der Regel deutlich länger als die Amtsperioden gewählter Volksvertreter. Selbst einzelne Projekte können oft erst im Laufe mehrerer Amtszeiten realisiert werden. Projekte oder Strategien, die langfristig

den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen sollen, dürfen daher nicht zu stark an einzelne Personen oder Parteien gebunden werden, weil sie damit in Gefahr geraten, bei personellen oder politischen Wechseln zu scheitern. Dieses Risiko lässt sich vermindern, indem relevante Akteure intensiv in die Formulierung von Strategien und Zielen eingebunden werden und sich langfristig mit diesen identifizieren und die Verwaltung die so abgesicherten Leitlinien der Stadtentwicklung politisch und operativ verstetigt.

Agenda 21 und schlanker Staat In Deutschland ist die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Bauleitplanung seit 1960 im Bundesbaugesetz (BBauG) und seit 1987 im Baugesetzbuch (BauGB) verankert. Dabei wird in § 3 die frühzeitige Information der Bürger und das öffentliche Auslegen eventueller Stellungnahmen sowie die Abwägung durch die Planungsämter als Grundlage für den Ratsbeschluss festgelegt. Mit dem Ziel, die nachhaltige Entwicklung operativ und demokratisch abzusichern, wird seit 1992 im Rahmen der Agenda 21 ein weitreichender Auftrag an die Kommunen gerichtet: »Da so viele der in der Agenda 21 angesprochenen Pro­ bleme und Lösungen ihre Wurzeln in Aktivitäten auf örtlicher Ebene haben, ist die Beteiligung und Mitwirkung der Kommunen ein entscheidender Faktor bei der Verwirklichung der Agendaziele. Als Politik- und Verwaltungsebene, die den Bürgern am nächsten ist, spielen sie eine entscheidende Rolle dabei, die Öffentlichkeit aufzuklären und zu mobilisieren und im Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung auf ihre Anliegen einzugehen.«1

181

3.2 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

Der Auftrag der Agenda 21 zielt darauf ab, die Flussrichtung der Administration umzukehren (Abb. 1 und 2): Anstatt die Bürger nur über die Planung zu informieren, sollen diese auch Stellungnahmen einbringen können. Die Kommunen treffen dann eine Entscheidung im Sinne des Gemeinwohls (Top-down). Zudem erhalten Politik und Verwaltung den Auftrag, die Bürger dazu zu ermächtigen, selbst Leitbilder zu formulieren, Ziele vorzugeben und Entscheidungen mitzutragen (Bottom-up). Seit den 1990er-Jahren wurde vor allem in den angelsächsischen Ländern die zuvor implizierte Bevollmächtigung der staatlichen Verwaltung, nach professionellem Ermessen im Sinn des Gemeinwohls zu handeln, zunehmend infrage gestellt.2 Diese Tendenz folgte dem wirtschaftlich liberalen Leitbild eines schlanken Staats und führte dazu, dass eine engere Kooperation mit individuellen, zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren angestrebt wurde, etwa durch die Einbindung privater Investitionen in Public Private Partnerships (PPP, siehe S. 197ff.). Impulse für die Quartiersentwicklung können grundsätzlich von allen beteiligten Akteuren ­ausgehen, die gleichzeitig eine mehr oder weniger führende Rolle einnehmen können. Damit wächst der Bedarf nach einer größeren Bandbreite an formellen und informellen Instrumenten der Stadtplanung. Zwischen formeller und informeller Planung entstehen zahlreiche Mischformen für die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Akteuren und anderen Beteiligten (Abb. 3, S. 182).3

Leitbilder »Städtebauliche Leitbilder und Konzepte enthalten immer auch Vorstellungen über die Gesellschaft und deren wünschenswerten Zustand.«4 Sowohl die Agenda 21 als auch die Hinwendung zu wirtschaftsliberaleren Leitbildern fordern, die Rolle staatlicher Akteure und deren Interaktion mit anderen Beteiligten neu zu definieren. Das Verhältnis soll einen partnerschaflichen, weniger paternalistischen Charakter haben. Dafür müssen die Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung in aller Komplexität diskutiert und in die Leitbilder der Quartiersentwicklung eingearbeitet werden.

Globale Leitbilder der ­Quartiersentwicklung In der Europäischen Union haben sich mit den sukzessive abgeschlossenen Deklarationen und Leitbildformulierungen zur Stadtentwicklungspolitik nach der Konferenz von Rio zunehmend präzise Zielvorstellungen für eine nachhaltige Quartiersentwicklung herausgebildet. Der Rotterdam Urban Acquis, der 2004 auf einem informellen Ministertreffen unter der niederländischen Ratspräsidentschaft verabschiedet wurde, identifiziert z. B. als Schlüssel zu einer erfolgreichen Stadtentwicklung die folgenden Prioritäten:5 •• Stadtentwicklungspolitik sollte den Blick zugleich auf ökologische Nachhaltigkeit, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und soziale Kohäsion richten, um eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen. Oft waren Strategien nur auf eines dieser Ziele orientiert, wobei die Erfahrung gezeigt hat, dass dies nicht funktioniert. •• Stadtentwicklungspolitik muss erkennen, dass neben dem wirtschaftlichen Erfolg auch die Lebensqualität (liveability) für die Wahl des Wunschwohnorts ausschlaggebend ist. •• Städte und Quartiere müssen Standorte der ersten Wahl und der Verbundenheit werden und dürfen nicht Standorte der Notwendigkeit und der Ausgrenzung sein. •• Städte sind eine wichtige Quelle der Identität […] und der Verbundenheit zwischen Gemeinschaften und Kulturen. Städte sind mehr als Marktplätze der Ökonomie. Sie können soziale Integration, bürgerliches Engagement und kulturelle Anerkennung fördern. Diese Formulierungen zu den Leitbildern der nachhaltigen Quartiersentwicklung betonen weiche Standortfaktoren (z. B. Lebensqualität, Identität) sowie das Ziel, das Engagement der Akteure und ihre gemeinsame Mitwirkung an der Stadtentwicklung zu fördern. So wurde 2006 in der erneuerten EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung das Bestreben nach einer »stärkeren Kohärenz von Maßnahmen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene« und der »Integration unterschiedlicher Politikfelder« formuliert sowie die »Förderung einer integrierten Betrachtung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Belange [verlangt], sodass sie miteinander im Einklang stehen und sich gegenseitig verstärken«.6

Rio-Konferenz

Im Anschluss an die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 wurden von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eine Reihe von Grundsatzerklärungen vereinbart, die mehr oder weniger präzise die Zielsetzungen und Leitlinien für die nachhaltige Stadtentwicklung formulierten. Zu diesen Erklärungen zählen die Lissabon-Strategie (2000), die LilleAgenda (2000), die Kopenhagen-Charta (2002), der Bristol Accord (2005), das Rotterdam Urban Acquis (2005), die Leipzig-Charta (2007) und die Toledo-Erklärung (2010). 2  Healey 1997 Kühn et. al. 2002, 3  S. 126 –152 4  Reutlinger 2006 5 Dutch Ministry of the ­Interior and Kingdom Relations 2004 (Übersetzung durch den Autor) 6 Rat der Europäischen Union 2005

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Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Top-down staatlich

privat An aly se

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Bottom-up Abb. 3

Abb. 3  Strategie zur Um­­ setzung der Projektziele in fünf Schritten. Der äußere Kreislauf symbolisiert den übergeordneten Managementzyklus auf Stadtebene, der innere Kreis stellt diesen für ein konkretes Projekt dar. Die Kommune formuliert im Dialog mit den Bürgern und Investoren die Ziele, überwacht und analysiert die Umsetzung durch den Investor und kommuniziert den Bürgern die Ergebnisse.

7 Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2007, S. 3 8  Selle 2010

Auch in der 2007 verabschiedeten Charta von Leipzig wurden »auf Umsetzung orientierte« Planungsinstrumente gefordert, die u. a. »die unterschiedlichen teilräumlichen, sektoralen und technischen Pläne und politischen Maßnahmen aufeinander abstimmen und sicherstellen, dass die geplanten Investitionen eine ausgeglichene Entwicklung des städtischen Raums fördern […] auf  lokaler und stadtregionaler Ebene koordiniert werden und die Bürger und andere Beteiligte einbeziehen, die maßgeblich zur Gestaltung der zukünftigen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Qualität der Gebiete beitragen können«.7 Für staatliche Akteure, insbesondere die Vertreter der kommunalen Planung, ergibt sich aus diesen globalen Tendenzen und Leitlinien eine wachsende Herausforderung: Wie lässt sich die inhaltlich komplexe und breit gefächerte Thematik der nachhaltigen Entwicklung aufarbeiten, um die für die Quartiersentwicklung relevanten Akteure stärker einzubinden und sich dadurch kontinuierlich demokratisch zu legitimieren und abzusichern, während sich gleichzeitig der gesamtgesellschaftliche Konsens zur Rolle des Staats stark wandelt?

Lokale Anpassung globaler Leitbilder Durch den von der Agenda 21 geforderten stärkeren Einbezug zivilgesellschaftlicher und privat-

wirtschaftlicher Akteure sowie durch die Leitlinien der europäischen Stadtplanungspolitik entsteht eine enge Wechselwirkung zwischen den Eigenschaften und Interessenlagen der Akteure vor Ort. Diese erfordert eine sehr situationsspezifische Ausformulierung der allgemeinen Grundsätze: Eine Erfolg versprechende Strategie der Quartiersentwicklung muss demnach nicht nur gestalterisch auf den Kontext (Topografie, Morphologie der Baustruktur etc.) eingehen, sondern auch auf die soziale, ökonomische und kulturelle Prägung der Akteure. Bei den staatlichen Akteuren stellt sich die Frage nach der politischen Ausrichtung der Entscheidungsträger und ihrer Prioritäten sowie die Frage nach dem Selbstverständnis der Verwaltung: Sieht sie sich etwa in einer rein hoheitlichen Rolle oder in der eines bürgerorientierten Dienstleisters, und bevorzugt sie eine informative, partizipative oder kooperative Kommunikationskultur?8 In Bezug auf die zivilgesellschaftlichen Akteure sind das demografische Profil der Einwohner sowie ihre wirtschaftliche Lage, ihr Bildungsstand und die dadurch bedingten Voraussetzungen für eine Partizipation wichtig. Ein hoher Bildungsstand in Kombination mit gesicherten finanziellen Verhältnissen erleichtert die von der Agenda 21 geforderte Aufklärung und Mobilisierung der Bevölkerung. Auch der soziale Zusammenhalt unter den Anwohnern bzw. das Ausmaß ihres Engagements in Interessens- und Glaubensgemeinschaften, Vereinen, Initiativen oder anderen soziokulturellen Netzwerken kann für die Formulierung einer

3.2 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

geeigneten Quartiersentwicklungsstrategie ausschlaggebend sein. Bei den privatwirtschaftlichen Akteuren spielt die Struktur und Leistungskraft der Unternehmen vor Ort eine Rolle. Für die Bereitschaft, Ressourcen in die Quartiersentwicklung einzubringen, kann ausschlaggebend sein, ob es sich um eine kleinteilige Struktur mit vielen mittelständischen Unternehmen handelt, bei denen sich eine starke lokale Bindung und daher eine Bereitschaft zum aktiven Engagement für deren Entwicklung annehmen lässt, oder ob die agierenden Unternehmen eher globalisierte Weltunternehmen sind, für die der Standort austauschbar ist. Für eine Erfolg versprechende Quartiersentwicklungsstrategie sind noch weitere Rahmenbedingungen relevant. Beispielsweise spielt das (historisch entstandene) Verhältnis zwischen den Akteuren eine wichtige Rolle. Ist dieses durch Harmonie und Kontinuität geprägt, ist eine höhere Konsensfähigkeit zu erwarten, die die Formulierung und Umsetzung von Planungszielen erheblich erleichtert. Im Gegensatz dazu können konfliktbeladene oder sehr wechselhafte Verflechtungen zwischen den Akteuren eine erhebliche Herausforderung darstellen. In Deutschland zeigen Städte wie Freiburg, Heidelberg, Ludwigsburg und Tübingen interessante Lösungsansätze für die genannten Herausforderungen auf. Dabei belegen die Beispiele der Quartiersentwicklung in diesen Städten unterschiedliche Umsetzungsmöglichkeiten für ähnliche Prinzipien.  DC

Instrumente zur Qualitäts­ sicherung Auf dem Weg von der ersten Projektidee bis zur Umsetzung und Inbetriebnahme vergehen oft mehrere Jahrzehnte. In dieser Zeit werden die Ziele des Projekts immer wieder überarbeitet und an sich ändernde Rahmenbedingungen angepasst. Dabei dürfen anfangs formulierte Ziele nicht aus dem Blick geraten. Insbesondere wenn sie erstmalig mit konkreten Maßnahmen und Kosten verbunden werden, ist dies keine einfache Aufgabe. Man möchte die potenziellen neuen Bewohner und Unternehmen nicht mit zusätzlichen Auflagen belasten. Aus diesem Grund haben viele

Kommunen Vorbehalte gegenüber einer Inanspruchnahme rechtlicher Möglichkeiten zur Qualitätssicherung, die über das übliche Maß hinausgehen. Ohne überzeugte Entscheidungsträger in den Kommunen und ohne Bewohner, die diese Qualitäten einfordern, ist die Realisierung nachhaltiger Quartiere nur schwer möglich. Jedoch zeigen u. a. die Beispiele aus Tübingen (LorettoAreal und Südstadt) und das Vauban-Viertel in Freiburg, was sich in einzelnen Quartieren erreichen lässt. Abb. 5 (S. 186/187) führt ganz unterschiedliche Ansatzfelder zur Qualitätssicherung auf, von In­strumenten des Baurechts (z. B. Bebauungsplan, städtebauliche Verträge) über privatrechtliche Vereinbarungen (z. B. notarieller Kaufvertrag, Verträgen mit Betreibergesellschaften) bis hin zu freiwilligen Leistungen (z. B. finanzielle Förderung bei Grundstückskauf ). Grundsätzlich wird zwischen verbindlichen Regelungen im Rahmen des öffentlichen Baurechts mit Bebauungsplänen und städtebaulichen Verträgen sowie privatrechtlichen Festsetzungen, z. B. notariellen Grundstückskaufverträgen, unterschieden. Ergänzend sollten Leitlinien und Empfehlungen definiert werden, in Verbindung mit der Etablierung eines nur beratenden oder auch mitentscheidenden Beirats. Nur so ist zu gewährleisten, dass die entwickelten Qualitäten auch tatsächlich umgesetzt werden. Das Baugesetzbuch fordert in Bebauungsplänen als dem zentralen Instrument der Bauleitplanung u. a. auch die Berücksichtigung des Klima- und des Naturschutzes. Für Grünordnungsaspekte werden darin oft bereits sehr weitgehende ökologische Festsetzungen, z. B. durch Pflanzlisten und Vorgaben zu Dachbegrünungen, getroffen. In energetischer Hinsicht lassen sich je nach Gesetzeslage und rechtlicher Auslegung zwar wichtige Voraussetzungen beispielsweise hinsichtlich einer dichten Bauweise, der Gebäudeorientierung und der Vermeidung von Gebäudeverschattungen schaffen, nicht jedoch z. B. eine bestimmte Kompaktheit oder ein erhöhter Energiestandard direkt und verbindlich festlegen. Bezüglich der Energieversorgung können und sollten im Bebauungsplan bereits die Grundlagen für eine aktive Nutzung der Sonnenenergie durch entsprechende Ausrichtung und Neigung der Dächer vorgesehen und bei beabsichtigter Nahwärmeversorgung Leitungsrechte und die Flächenreservierung für eine Energiezentrale berücksichtigt werden. Die Art der Versorgung selbst, z. B. mit Photo-

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184

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Entwicklungsträger

Entscheidungsgrundlage Bauvorhaben

Bebauungsplan

Gestaltungshandbuch Grundlage für Baukommission, formuliert gestalterische Ziele und Vorgaben Energiekonzept Abb. 4  Rolle der Baukommission als Beurteilungsgremium, ein von der Stadt be­­ rufenes Expertengremium aus Stadtplanern, Landschaftsplanern und Archi­ tekten

Vermittlung durch Baukommission

Beurteilungsgrundlage

interdisziplinäre Baukommission

Grundlage für Baukommission Stadtplanung & Baurecht Städtebau Architektur Landschaftsarchitektur

Mobilitätskonzept

Bearbeitungsgrundlage

Bauherr + Architekt

Abb. 4

  9 Everding 2007; www. nikis-niedersachsen.de 10  Everding 2007 11 www.nikis-niedersachsen.de 12  DGNB 2012

voltaik, Solarthermie oder Nahwärmenetz, lässt sich jedoch nicht bindend festsetzen. Deshalb ist zu empfehlen, die Maßnahmen grundsätzlich, soweit möglich, im Bebauungsplan zu verankern und im Bereich Hinweise und Empfehlungen auf weitergehende Maßnahmen und ergänzende Instrumente zu verweisen.9 Bei vielen Nachhaltigkeitsqualitäten bedarf es zu deren Sicherung zusätzlicher privatrechtlicher Verträge mit Festlegungen, die weiter gehen als die Vorgaben im für Bebauungspläne vorgegebenen Festsetzungskatalog des BauGB (§ 9). In notariellen Grundstückskaufverträgen mit den Endnutzern können direkt im Vertrag oder in einer Bezugsurkunde als Anhang Vereinbarungen verankert werden, z. B. über die Energieeinsparverordnung (EnEV) hinausgehende Energiestandards mit Festlegung eines maximalen Energieverbrauchs pro m2 Nutzfläche, der Anschluss an ein Nahwärmenetz oder die Ausstattung mit Photovoltaikanlagen. Auch bestimmte Mischnutzungskonzepte wie die ausschließliche Nutzung von Erdgeschossflächen für Gewerbe lassen sich so – über die Festsetzung eines Mischgebiets im Bebauungsplan hinaus – bestimmen. Voraussetzung für solche Vertragsergänzungen ist aber, dass private Projektentwickler oder Kommunen selbst im Besitz der betreffenden Grundstücke sind, z. B. über eine Bodenvorratspolitik oder Grundstücksentwicklungen durch eigene Gesellschaften.10 Städtebauliche Verträge zwischen Kommunen und privaten Investoren können neben klassischen Vereinbarungen zu Nutzung, Fristen und Kostenübernahmen auch wichtige Nachhaltigkeits­ aspekte definieren.11 So lassen sich Quartiers­ infrastrukturmaßnahmen wie z. B. die Energieversorgung mit einem Nahwärmenetz auf Biomassebasis, die Wasserver- und -entsorgung mit

Grauwasserreinigung oder die Wiederverwendung als Brauchwasser auf Quartiersebene vertraglich vereinbaren. Die in Erschließungsverträgen üblichen Materialbeschreibungen der Straßen und Leitungen sollten auch die Umweltqualitäten einer ressourcenschonenden Infrastruktur bezüglich des Einsatzes von Recyclingmaterialien, lokalen und regionalen Materialen und solchen aus erneuerbaren Rohstoffen berücksichtigen.12 Des Weiteren stellen Gestaltungs- und Nachhaltigkeitshandbücher ein wichtiges Mittel des Nachhaltigkeitsmanagements dar. Mit einem solchen Handbuch lassen sich nicht nur gestalterische Aspekte wie z. B. ein städtebauliches Konzept zum Fassadenmaterial, zur Farbgebung und den Nebenanlagen definieren. Durch Leitlinien und Empfehlungen zu Nachhaltigkeitsaspekten auf der Basis von Fachkonzepten können dabei über die verbindlichen Festlegungen im Bebauungsplan und in Kaufverträgen hinausgehende Maßnahmen beschrieben werden. Dies kann z. B. die Errichtung energieeffizienter Gebäude im Passivhausstandard, die Anwendung wohngesunder Materialien und Haustechnik oder der Einsatz von moderner Holzbauweise betreffen. Gerade um ökologische Maßnahmen wie z. B. Solaranlagen auf Dächern, oberflächige Regenentwässerung in private und öffentliche Freiräume und Fassadenbegrünungen gestalterisch in eine hochwertige und zeitgemäße Architektur zu integrieren, ist ein solches Handbuch sehr hilfreich. Es kann aber auch zur Erläuterung der für das Quartier entwickelten Nachhaltigkeitskonzepte dienen und mit Illustrationen die Möglichkeiten zu deren Umsetzung aufzeigen. Nicht zuletzt können die Vermittlung der komplexen Inhalte und die Darstellung bereits realisierter ähnlicher Gebäude, Freiräume oder In­­frastrukturtechnologien auch das Marketing

185

3.2 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

eines nachhaltigen Stadtquartiers unterstützen. Wird auf flexible Anpassungen der Inhalte verzichtet und eine rechtlich verbindliche Form angestrebt, ist es auch möglich, die Inhalte und Konzepte solcher Handbücher als kommunale Satzung zu beschließen oder über einen Grundbucheintrag beim Grundstückskauf abzusichern. Die Etablierung eines Quartiersgestaltungs- und Nachhaltigkeitsbeirats ist ein weiteres sehr sinnvolles und ergänzendes Instrument. Einem solchen Beirat sollten der Stadtplaner, Fachleute, die Vertreter der kommunalen Verwaltung und der Grundstückseigentümer sowie gegebenenfalls externe Planer angehören. Insbesondere in späteren Realisierungsphasen kann es sinnvoll sein, auch die Quartiersnutzer zu beteiligen. Da viele Festlegungen in Bebauungsplänen und Handbüchern auch aus Flexibilitätsgründen nur »Leitplanken« für die Realisierung sein können und sollen, ist deren Interpretation und Anwendung in Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele und die spezifischen Anforderungen der Architekturprojekte von großer Bedeutung. Gerade auch innovative und noch nicht vorgedachte Maßnahmen zur Umsetzung der Entwicklungsziele sollten möglich sein und die Planungen dahingehend von den Festsetzungen abweichen dürfen. Deshalb ist es von Vorteil, wenn es projektbegleitend für den Endnutzer und den Planer freiwillige oder gegebenenfalls auch verbindliche Beratungsangebote gibt und verpflichtende Zustimmungen als Teil eines gemeinsam vereinbarten Qualitätsprozesses vorgeschrieben sind. Dabei kann es sich um die Durchführung eines Wettbewerbs, eines Investo­ renauswahlverfahrens oder einer Entwurfswerk­ statt gemeinsam mit dem Grundstückseigentümer handeln, aber auch um die zwingend vorgeschriebene Freigabe der Vorentwurfs- oder Entwurfsplanung eines Gebäudes oder sogar um ein bauund später nutzungsbegleitendes Monitoring. Beispiele für ein Monitoring der Nachhaltigkeitsmaßnahmen bei der Quartiersumsetzung sind die Kontrolle von Passivhausdetails auf bauphysikalische Korrektheit sowie von Materialqualitäten auf ökologische und gesundheitliche Unbedenklichkeit, die fachliche Prüfung von Energieausweisen im Hinblick auf einen geforderten erhöhten Energiestandard nach Realisierung bis hin zur Untersuchung des tatsächlichen Energieverbrauchs im Betrieb. Für ein effektives EnergieMonitoring des Wärme- und Stromverbrauchs ist es erforderlich, die messtechnischen Voraussetzungen für einen jährlichen Abgleich der Ver-

brauchswerte mit vordefinierten oder allgemeingültigen Quartiersanforderungen zu schaffen.13 Verträge mit Betreibergesellschaften sollen die Nachhaltigkeit des Quartiers langfristig sichern. Dies kann die Energieversorgung, eine dezentrale Abwasserbehandlung, den Unterhalt und Betrieb von Gemeinschaftseinrichtungen oder die Organisation eines Carsharing-Modells betreffen.14 Als Betreiber kommen sowohl Stadtwerke und externe Dienstleister als auch von den Quartiersnutzern getragene oder mitgetragene Vereine und Genossenschaften infrage. Gerade die vielen in letzter Zeit von Bürgern gegründeten Energiegenossenschaften zeigen, wie sich mit neuen bzw. wiederentdeckten Organisationsmodellen auf Nachhaltigkeitsherausforderungen reagieren lässt. Dadurch können die Nutzer mitentscheiden und teilweise sogar finanziell vom Quartiersmanagement profitieren. Weiterhin kann eine finanzielle Förderung bei Grundstückskäufen nachhaltige Projekte interessant machen und damit die Umsetzung von Nachhaltigkeitsaspekten unterstützen. Zu denken ist dabei z. B. an den Bau von Passivhäusern. Dies gilt aber auch für Baugemeinschaften, die Teilnahme am Carsharing oder die Verwendung von besonders ökologischen oder baubiologischen Materialien. Praktisch lassen sich solche Förderungen über die Kostenübernahme einer Energieberatung, eine pauschale Kaufpreisreduzierung oder über ein Punktesystem mit positiver Bewertung der Verbesserungsmaßnahmen umsetzen.15 Abschließend lässt sich festhalten, dass der nachhaltige Entwicklungsansatz und der Infrastrukturbau in städtebaulichen Verträgen festgelegt werden sollten. Der Bebauungsplan muss dann entsprechende Voraussetzungen schaffen, die idealerweise in einer Qualitätsvereinbarung mit den Grundstückskäufern privatrechtlich erweitert und durch einen in dieser Vereinbarung abgesicherten Prozess mit einem Quartiersbeirat bis hin zum späteren Monitoring umgesetzt und gesteuert werden. Die Erfahrung zeigt, dass die erfolgreiche Umsetzung eines Qualitäts- und Nachhaltigkeitsmanagements von einer integrierten Strategie abhängt, die mehrere oder sogar alle beschriebenen Instrumente einbezieht. Es sei darauf hingewiesen, dass sich die Auflistung in Abb. 5 (S. 186/187) nicht ohne Weiteres auf jedes Projekt anwenden lässt. Jedes Vorhaben ist individuell und bedarf einer eigenen Strategie zur Qualitätssicherung, die in Zusammenarbeit mit einer rechtlichen Beratung entwickelt werden muss.   SA, HB, GCG, RM, AvZ

13  DGNB 2012 14 ebd. 15 ebd.

Weitere ­Informationen

Verfahren zur Konzeptfindung: •  Hinweise für Wettbewerbe: www.byak.de/planenund-bauen/architektenwettbewerb.html Öffentlich-rechtliche Vereinbarungen •  Bunzel, Arno; Coulmas, Diana; Schmidt-Eichstadt, Gerd: Städtebauliche Verträge – Ein Handbuch. Berlin 2013 •  Lehr, Marc: Der Bebauungsplan. Praxishinweise für Architekten und Ingenieure. Berlin 2016 •  Schwab, Karl: Städtebauliche Verträge. Grundformen, Rechtsschutz, Muster. München 2017 •  Stüer, Bernhard: Der Bebauungsplan. Städtebaurecht in der Praxis. München 2015 Informelle Planung: •  Stadt Heilbronn: Gestaltungshandbuch – Modellquartier Neckarbogen in Heilbronn, 2015; ­ www.heilbronn.de/fileadmin/daten/stadtheilbronn/­ formulare/buga/Gestaltungshandbuch_Neckar bogen.pdf •  Hinweise zum Gestaltungsbeirat: www.akbw.de/ service/fuer-staedte-und-kommunen/gestaltungsbeirat.html •  Baukulturbericht: www.bundesstiftung-­ baukultur.de

186

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Anreizsysteme und Vermarktung

informelle Planung

privatrechtliche Vereinbarungen

öffentlich-rechtliche Vereinbarungen

­Verfahren zur Konzept­findung

Qualitätssicherungsinstrumente

Anwendungsbereiche

Instrument

Zielsetzung und Möglichkeiten

Städtebau, öffentlicher Raum

Prozesse, Mensch, ­Soziokultur

Freiraum, Stadtklima, Biotopschutz

Wettbewerbe

Qualitätsentwicklung durch konkurrierende und ­kooperative Verfahren zur Konzeptfindung – sehr gut bei klar definierten Entwurfsaufgaben, wünschenswert in Kombination mit Partizipation

Entwicklung von ­städtebaulichen Kon­ zepten in Varianten

Partizipation bei der ­Vorbereitung von Aus­ lobung und Entscheidung von Wettbewerben

Entwicklung von Freiraumkonzepten in Varianten

Partizipations­ planung

Qualitätsentwicklung und -sicherung durch Information, Beteiligung und Mitwirkung bei Entscheidungen – sehr gute Lösung je nach Befugnissen und Verbindlichkeit

öffentliche oder ein­ geladene Planungs­ workshops

Beteiligungsmodelle, Quartiersinitiativen, ­-vereine, -genossen­ schaften

Pflanzenpatenschaften, Spielplatzintiativen, Urban Gardening

Festsetzungen im Bebauungsplan (meist mit Umweltbericht)

möglichst weitgehende Regelung als rechtsverbind­ liche Festsetzungen – gut geeignet für individuelle räumliche Lösungen, allerdings muss die gesetzlich geforderte Wahlmöglichkeit gegeben bleiben

Maß der baulichen ­Nutzung (GFZ, GRZ), Baulinen/Baugrenzen, Orientierung, Nutzung Freiflächen

Art der baulichen ­Nutzung (Mischnutzung, Gemeinbedarfsflächen), Bauweise, Typologien

Pflanzgebote, Erhalt von Pflanzen, Versiegelungsgrad, Eingriffs- /Ausgleichsbilanz, Freiflächenkorridore (z. B. für Stadtklima, Biotopvernetzung), Flächen für Urban Gardening

Hinweise im Bebauungsplan

wenn Festsetzung nicht möglich, Hinweis und ­Empfehlung im Bebauungsplan – nur bedingt als ­Qualitätssicherung geeignet

Verweis auf Gestaltungsund Nachhaltigkeitshandbuch (z. B. Nebenan­ lagenkonzept, Beleuchtungskonzept)

Verweis auf gemeinVerweis auf Pflanzliste schaftliche Einrichtun(z. B. Verwendung von eingen wie Werkstatt-, Veran- heimischen Pflanzenarten) staltungs- und Spielhaus

städtebaulicher Vertrag

Sicherstellung der Qualitäten gegenüber der Stadt bei ­privatwirtschaftlichen Entwicklungen – sehr gutes ­Instrument für nicht kommunal getragene Entwicklungen, in der Folge Einsatz weiterer Instrumente zur Um­­ setzung der Festlegungen

Festlegung des Einsatzes von Gestaltungs- und Nachhaltigkeitshandbuch, Gestaltungs- und Nachhaltigkeitsbeirat

Berücksichtigung von Bau­gemeinschaften und ­sozialem Wohnungsbau, Sicherstellung ökologisch orientierter Nutzungen beim Grundstücksverkauf

kommunale ­Satzungen

Erhöhung der gesetzlichen Anforderungen in einzelnen Themenbereichen für die gesamte Kommune oder Teilbereiche – gut geeignet für allgemeine Anforderungen

Gestaltungssatzung

detaillierte Pflanzsatzung

notarieller ­Kaufvertrag

Sicherung von Qualitäten im Detail über das öffent­ liche Recht hinaus (z. B. mit Bezugsurkunden) – sehr gutes, tiefgehendes Sicherungsinstrument

Sicherstellung der ­Einhaltung von Ge­­ staltungs- und Nach­ haltigkeitshandbuch, ­Verbindlichkeit ­Beirat

Sicherstellung der Ein­ haltung von Gestaltungsund Nachhaltigkeitshandbuch mit Außen- und Nebenan­lagenkonzept

Grundbuch­eintrag

langfristige Sicherstellung der Qualitäten auch bei Grundstücksweiterverkauf – nur für grundlegende wichtige Qualitätsmerkmale, da sehr unflexibel, aber stark durchgreifende Wirkung

Eintragung des städte­ baulichen Farb-/­ Materialkonzept

Eintragung Außen- und Nebenanlagenkonzept

Vertrag mit Betreibergesellschaft /sonstige Privatverträge

vertragliche Regelungen über den Kauf und die ­Entwicklung hinaus (z. B. Betrieb) – eher Sonder­ lösung, allerdings mit großen Regelungsmöglichkeiten

Bauwerkvertrag

Sicherstellung gestalterischer, baukonstruktiver und haustechnischer Qualität – nur in Bauherrenfunktion möglich

Sicherstellung gestalte­ rischer, gebäudetypo­ logischer, ökologischer Qualität

Rahmenplan / städtebaulicher Entwurf / Entwicklungskonzept

rahmengebende Merkmale und auch Vertiefungen in Einzelbereichen sinnvoll – sehr gutes Instrument mit Vorbildfunktion, wenn auch nicht rechtsverbindlich (außer wenn in anderen Verträgen entsprechend geregelt)

städtebaulicher Entwurf mit Gestaltungskonzept, Definition Gebäude­ typologien, Vorgabe ­Bauabschnitte

Gestaltungsund Nachhaltigkeitshandbuch

Beschreibung gestalterischer und ökologischer ­Leitlinien – gut geeignet zur Qualitätsentwicklung in Kombination mit einem Beirat (nur verbindlich, falls in anderen Verträgen entsprechend geregelt)

Leitlinien Gestaltungs­ konzept

Leitlinien Außen- und Nebenanlagenkonzept

Gestaltungsund Nachhaltigkeitsbeirat

Diskussion aller gestaltungs- und nachhaltigkeits­ relevanten Aspekte – aufwendig, daher vor allem für schwierige und anspruchsvolle Projekte geeignet (nur verbindlich, falls in anderen Verträgen entsprechend geregelt)

Sicherstellung der Gestal- Integration von Be­­ tungsqualität bei Planung wohnern und Nutzern und Ausführung (mit Stimmrecht)

Sicherstellung der Außenund Nebenanlagenqualität bei Planung und Ausführung

finanzielle ­Förderung bei Grundstückskauf

indirekte Qualitätssicherung ohne weitgehende Durchgriffsmöglichkeiten – gut geeignet zur Qualitätsförderung bei schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen am Markt

Fassadengestaltung bei Bestandsquartieren

Baugemeinschaftspro­ jekte, sozialer Wohnbau, Familien mit Kindern, besondere Wohnformen

Zertifizierungen und Auszeichnungen

vergleichende Bewertung von Nachhaltigkeitsquali­ täten – zur Qualitätssicherung, Vermarktung und ­Dokumentation der Werthaltigkeit sehr gut geeignet, aufwendig

gestalterische und funk­ tionale Qualität von Quartieren und Gebäuden

soziokulturelle Qualität von Prozessen bei Quartieren und Gebäuden

Festlegung Freiraum­ charakter, Pflanzkonzept, Quartiersplätze

Unterhalt, Betrieb und Belegung von Gemeinschaftseinrich­ tungen, Organisation Bewohnerverein

Organisation, Pflege durch Betreibergesellschaft oder Bewohnerverein

Entwicklungskonzept Quartiersgemeinschaft

Rahmenplan Freiraum und Landschaft

Abb. 5  Übersicht möglicher Ansatzfelder zur Sicherung der Nachhaltigkeitsziele bei der Umsetzung von Quartiersentwicklungen

ökologische und funktionale Qualität von Quartieren und Gebäuden

187

3.2 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

Wasser, Boden

Stoffflüsse, Baustoffe

Entwicklung von Wasserkonzepten in Varianten

Mobilität

Energie

Entwicklung von Erschließungs- und Mobilitäts­ konzepten in Varianten

Generierung von energieeffizienten Bebauungsstrukturen und Energiekonzepten in Varianten

Entwicklung von Nutzungskonzepten in Varianten

Schaffung eines Bewusstseins für die Reduktion des Energieverbrauchs (Information)

effizienter und bedürfnis­ orientierter Prozess

Schaffung eines Bewusstseins für die Reduktion von Wasserverbrauch und den Umgang mit Techniken (Information)

Emissionen (Lärm, Luft, Licht)

Ökonomie

Sicherstellung nachhaltiger Ver- und Entsorgung durch Festsetzungen von entsprechenden Flächen und Leitungstrassen

Festlegung von Flächen für die Abfallentsorgung

Festlegung der ­Anbindung (z. B. für Durchführung von Busoder Straßenbahnlinien), Festlegung von Anzahl und Ort der Stellplätze

Festlegung von Funktionsflächen (z. B. für BHKW), Beeinflussung solare Ge­winne, Kompaktheit  / Effizienz des Nahwärme­ systems (Festlegung GFZ, Orientierung, Bauweise, Körnung)

Festlegung von Flächen Nutzungsmischung, zum Lärmschutz, Nut­Einschränkungen von zungszonierung, gebäuBranchen detechnische Maßnahmen

Verweis auf nachhal­ tiges Regenwasserund Grauwasserkonzept sowie Empfehlungen für den Umgang

Verweis auf ressourcenschonende Infrastruktur und Bauweisen von Gebäuden

Verweis auf Shared Space, Spielstraßen

Verweis auf Gebäudeenergiestandard, Hin­ weise auf Anschluss­ verpflichtung an das Nahwärmenetz

Verweis auf Schall­ gutatchen mit Schutz­ maßnahmen

Empfehlung für klein­ körnige Nutzungsmischung (z. B. EG für Gewerbenutzung in Mischgebieten)

Festlegung Ver- und ­Entsorgungsinfrastruktur (z. B. Regenwassermanagement, Grauwasser­ reinigung, Brauchwassernetz)

Festlegung ressourcenschonender Infrastruktur (z. B. Einsatz von Recyclingmaterialien, wasserdurchlässige Beläge) und Bauweisen (z. B. Holzbau), Art der Abfallentsorgung

Angebot Carsharing, Fahrradverleih, Lade­ stationen E-Mobilität

Festlegung von Gebäude­ energiestandards und Versorgung (z. B. Bau und Betrieb BHKW und Nahwärmenetz)

Festsetzung von Schallschutzmaßnahmen

Kostenregelungen für ­Herstellung und Betrieb des Quartiers, ­Nutzungsmischung

Abwassersatzung

Sicherstellung des Regenwassermanagements, Anschluss Grauwassernetz

Stellplatzsatzung, ­Nachweis Fahrradstell­ plätze Sicherstellung der Ein­ haltung von Gestaltungsund Nachhaltigkeitshandbuch mit Baustoff- und Haustechnikkatalog

Sicherstellung von ­Fahrradstellplätzen, ­barrierefreie Erschließung

Eintragung der Zugäng­ lichkeit und Unterhaltung der oberflächigen Regenwasserableitung

Gebührensatzungen

Sicherstellung des Sicherstellung von Anschlusses an das Nah­ ­Schallschutzmaßnahmen wärmenetz, Einhaltung von an Gebäuden Gebäudeenergiestandard Eintragung der Zugänglichkeit von Nahwärme­ netzen und Technik­ zentralen

Organisation, Pflege und Erhalt der Wasser­ managementsysteme

Organisation von Car­ sharing, Fahrradverleih, Ladesta­tionen E-Mobilität

Umsetzung des bau­ biologischen und ökologischen Materialkatalogs

Organisation von EnergieContracting mit Betrieb und Abrechnung

Sicherstellung der ­energetischen ­Gebäudequalität

Rahmenplan Wasser­ management

Verkehrs- und ­Mobilitätskonzept

Energienutzungsplan

Leitlinien zu Regenwasser-, baubiologischer und Grauwasser- und Brauch­ökologischer Materialwasserkonzepten und Haustechnikkatalog mit Leitlinien

Leitlinien Gestaltung und Anordnung von ­Parkplätzen, Carports und Fahrradstellplätzen

Leitlinien zu energie­ effizientem Bauen, Inte­ gration von Solar- und Haustechnikanlagen

Integration von Wasser­ managementsystemen in das Freiraumkonzept

Sicherstellung der ­baubiologischen und ­ökologischen Gebäudequalität bei Planung und Ausführung

Integration von Verkehrsflächen und Bauwerken in das Freiraumkonzept

Sicherstellung der ­energetischen Gebäudequalität bei Planung und Ausführung

Punktesystem für Um­­ setzung baubiologischer und ökologischer Mate­ rialien und Haustechnik

Punktesystem für Teil­ nahme an Carsharing

Punktesystem für Um­­ setzung von erhöhten Gebäudeenergiestandards

ökologische und technische Qualität von Quar­ tieren und Gebäuden

ökologische, sozio­ kulturelle und technische Qualität von Quartieren und Gebäuden

ökologische und ­technische Qualität von Quartieren und Gebäuden

ökologische und technische Qualität von Quar­ tieren und Gebäuden

Baulandpreisgestaltung, kleinkörnige Nutzungs­ mischung (z. B. EG für Gewerbe­nutzung in Mischgebieten)

soziokulturelle Qualität von Quartieren und Gebäuden

ökonomische Qualität von Quartieren und ­Gebäuden

188

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

3.3

Kommunale ­Umsetzungsstrategien Domi nic C hurch, Manal E l-Shahat, Thors ten Erl

Stakeholder Theory

Der amerikanische Philosoph R. Edward Freeman befasste sich in seinem 1984 veröffentlichten Buch »Strategic Management. A Stakeholder Approach« mit ethischen und moralischen Prinzi­ pien auf dem Gebiet der Unternehmensführung. Dabei identifizierte er – über den Kreis der Anteilseigner hinaus – verschiedene weitere Gruppen, die ein berechtigtes Interesse an der Vorgehensweise der Unternehmensführung haben, und beschrieb Herangehensweisen, wie die Unter­ nehmensführung angemessen auf ihre Belange eingehen könnte.

1  Freeman 1984

E

ine besondere Herausforderung für die Bildung eines demo­ kratisch abgesicherten und auf lange Sicht tragfähigen Konsens für die Quartiersentwicklung besteht darin, dass Quartiere in der Regel weder formal territorial definiert noch politisch konstituiert sind. Somit muss zunächst geklärt und entsprechend begründet werden, welche Personen oder Gruppen mit der Entwicklung im Quartier in Verbindung stehen und damit eine berechtigte Erwartung haben, diese mitzugestalten. Zur Klärung dieser Frage kann es wichtig sein, über die Gruppe der Akteure (also der aktiv Mitwirkenden) hinauszugehen und all jene miteinzuschließen, die ein legitimes Interesse an der Quartiersentwicklung haben könnten – etwa im Sinn des aus dem englischen stammenden Begriffs der Stakeholder. Der im Jahr 1963 erstmals vom Stanford Research Institute verwendete Begriff wurde in den 1980er-Jahren durch R. Edward Freeman im Rahmen der »Stakeholder Theory« beschrieben.1 Im Gegensatz zum enger gefassten Begriff des Akteurs könnte mit Stakeholder etwa auch eine Bewohnerin eines angrenzenden Stadtgebiets gemeint sein, die selbst nicht aktiv an der Entwicklung der Quartiers beteiligt ist. Weiter erschwert wird die Frage nach der tatsächlichen Repräsentativität durch die Tatsache, dass die wichtigste Interessensgruppe eines neuen Quartiers – dessen künftige Bewohner – zum Zeitpunkt der Planung meist nicht bekannt und damit nicht greifbar ist. Dies kann dazu führen, dass die Belange der zukünftigen Nutzer in der Partizipation nicht ausreichend zu Wort kommen oder dass sich z. B. die Kommune genötigt sieht, deren Interessen zu vertreten, und sich damit für eine Gruppe stark machen muss, die nicht präsent ist oder in der lokalen Wahrnehmung gar nicht existiert. Ein solches Dilemma lässt sich beispielsweise dadurch

vermeiden, dass die Ziele der Quartiersentwicklung auf gesamtstädtischer Ebene abgesichert werden, wo territorial und politisch konstituierte demokratische Einheiten sie verabschieden und legitimieren können. Die von Städten wie z. B. Heidelberg und Ludwigsburg formulierten Kriterienkataloge für die nachhaltige Stadtentwicklung sowie die regelmäßige Berichterstattung zu Fortschritten bezüglich der formulierten Zielindikatoren sind eine Antwort auf diese komplexe Herausforderung. Die thematische Bandbreite der Indikatoren erlaubt es, das Themenfeld der Nachhaltigkeit umfassend abzubilden. Darüber hinaus bietet die gemeinsam mit den Akteuren getroffene Formulierung und Vereinbarung der Indikatoren eine Möglichkeit, die Zielsetzungen weit über die Amtsperioden einzelner politischer Volksvertreter hinaus demokratisch zu legitimieren und damit eine von einem breiten Konsens getragene Handlungsgrundlage für die kommunale Planung zu schaffen. Besonders effektiv ist daher auch die Herangehensweise der Stadt Ludwigsburg, die ihre Ziele in sogenannten Zukunftskonferenzen formuliert, deren Teilnehmer das demografische Profil der Stadt abbilden. Außerdem ist die Stadt Ludwigsburg ein besonderes Beispiel wegen der Reform der Verwaltungsstruktur und des Aufbaus des Referats für nachhaltige Stadtentwicklung, das sich mit folgenden Themen befasst: Grundsatzfragen, Stadtentwicklungskonzepte, Stadtteilentwicklung, Sanierungsmaßnahmen, Wirtschaftsförderung, EU-Koordination, Metropolregion, Energieprojekte. Zu den Mitteln, die staatlichen Akteuren zur Verfügung stehen, um Einfluss auf die weiteren Beteiligten der Quartiersentwicklung zu nehmen, zählt neben der Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen die Möglichkeit, durch Fördermittel Anreize zu bieten. Eine Grundlage für die Förderung durch Bund und Länder bildet das 1971 ver-

189

3.3 — Kommunale Umsetzungsstrategien

Ziel Wohnraum für alle, 8000 –10 000 Wohnungen mehr, ­preiswerten Wohnraum sichern und ­ schaffen, Konzentration auf den ­preisgünstigen Mietwohnungsmarkt

Indikatoren

2000

2003

2006

2010

2013

Differenz 2010/2013

Bewertung

•  fertiggestellte Wohnungen

346

321 (2004)

182

176 1)

630

+ 454

++

• Anteil geförderter Wohnungen 2) unter den ­fertiggestellten Projekten [in %]

19,1

10,4

1,6

40,3

9,7

- 30,6 % Pt.

- -

• Bestand an Wohnungen mit Sozialbindung

9766

9570

7205

5766

5415

- 351

-

• durchschnittlicher Mietpreis pro m2 gemäß ­Mietspiegel [in Euro]

7,08

7,05

7,28

7,63

8,13

0,5

-

• m2 Eigentumswohnung 3), die mit einem durchschnittlichen jährlich verfügbaren Einkommen 4) je Einwohner/-in in Heidelberg zu erwerben sind

8,2

9,3

9,6 (2005)

10,5 (2008)

8,6 (2011)

- 1,9

- -

36,5

36,5

36,8

37,2

37,2

0



Wohnflächenzuwachs pro Kopf ­begrenzen, ­Flächenverbrauch senken, Flächen effektiv nutzen

• Pro-Kopf-Wohnfläche der Einwohner/-innen [in m2]

ökologisches Bauen fördern

• bewilligte Projekte (Förderanträge) zur ­ rationellen Energieverwendung

93

107

192

237

1345

- 103

- -

• Bestand an geförderten Wohnungen in ­Niedrigenergie- und Passivhäusern 6)

29

95

97

128

1125

997

++

darunter 39 Wohnungen in Studentenwohnheimen; 2) Anteil der preis- und belegungsgebundenen Wohnungen; 3) gleitender Mittelwert über drei Jahre (aktuelles Jahr, Vorgängerjahr, Nachfolgejahr), Quelle: Gutachterausschuss; 4) verfügbares ­Einkommen nach volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung, Quelle: Statistisches Landesamt; 5) inklusive Passivhausförderung in der Bahnstadt; 6) aufsummierte Werte, bereinigt um die zurückgezogenen Förderanträge 1)

Abb. 1

abschiedete Städtebauförderungsgesetz, das 1987 zusammen mit dem Bundesbaugesetz von 1960 zum Baugesetzbuch zusammengefasst wurde, sowie die Verwaltungsvorschrift des Landesministeriums, die Landeshaushaltsordnung und der Bewilligungsbescheid des Landes. Die Ziele der Förderung durch Bund und Länder leiten sich von den stadtentwicklungspolitischen Zielen des Bundes ab, die sich wiederum beispielsweise an der Charta von Leipzig und anderen Leitbildern orientieren (siehe S. 108). Seit 1990 haben verschiedene Bundesregierungen unterschiedliche Förderprogramme aufgelegt, die jeweils konkrete Problemstellungen der Quartiersentwicklung thematisieren (z. B. Stadtumbau Ost/West). Seit 2000 bietet auch die Europäische Union im Rahmen der europäischen Strukturpolitik Programme zur Förderung der Quartiersentwicklung an, die sich ebenfalls an den globalen Leitbildern und Strategien ausrichten.  DC

Beispiel Stadt­entwicklung Heidelberg Die Stadt Heidelberg hat 1997 nach zweijähriger Diskussion mit der Bürgerschaft den »Stadtentwicklungsplan Heidelberg 2010 – Leitlinien und Ziele« (STEP) beschlossen, dessen Präambel eine sozial verantwortliche, umweltverträgliche und wirtschaftliche Entwicklung festschreibt. Er basiert in Grundzügen auf den 1974 formulierten Zielen des Heidelberger Stadtentwicklungskonzepts, setzt darüber hinaus aber auch die damals aktuelle Forderung der UN-Konferenz von 1992

in Rio de Janeiro um, das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung auf  lokaler Ebene zu verfolgen. Dafür benennt der STEP acht differenzierte Zielbereiche – städtebauliches Leitbild, regionale Kooperation, Arbeiten, Wohnen, Umwelt, Mobilität, Soziales und Kultur – und besondere Querschnittsanliegen wie z. B. Bürgerbeteiligung, Gleichstellung von Mann und Frau, Migration, kommunale Entwicklungszusammenarbeit etc. Von Beginn an wurde eine regelmäßige Berichterstattung über den Stand des Erreichten gefordert. Unter dem Titel »Wo stehen wir, was haben wir erreicht?« erschien 2002 der erste Bericht zur Umsetzung des Stadtentwicklungsplans. Er beschreibt für einzelne Zielbereiche die jeweils ersten Umsetzungsergebnisse und unterscheidet dabei geplante, begonnene und abgeschlossene Vorhaben. Darüber hinaus benennt der Bericht weitere erforderliche bzw. neue Handlungsbedarfe und aufgetretene Zielkonflikte. Ein Verweis auf Schlüsselprojekte, der Überblick über wichtige vorhandene bzw. noch fehlende Daten und die Zusammenstellung ausgewählter Entscheidungen und Projekte bilden den Abschluss des Berichts. Drei Jahre später entstand der »Heidelberger Nachhaltigkeitsbericht 2004«, mit dem eine auf Indikatoren gestützte Erfolgskontrolle des Stadtentwicklungsplans Heidelberg 2010 eingeführt wurde. Diese Darstellung mithilfe von Indikatoren und Messgrößen gründete auf der Erkenntnis, dass das Erreichen der definierten Ziele des STEPs eine Daueraufgabe darstellt. Also sollte eine vereinfachte, wiederholbare Zwischenbilanzierung im Sinn eines Monitorings kontinuierlich alle zwei Jahre durchgeführt werden. Wohlwissend, dass sich nicht jeder Zielbereich – wie z. B. »regionale Kooperation« oder »städtebauliches Leitbild« – mit Messgrößen hinterlegen lässt, wurden von Beginn an eine mögliche Anpassung des Systems bzw. die Erweiterung der Indikatoren berücksichtigt. Gerade Themen wie die CO2-Einsparung

Abb. 1  Beispiel für Indikatoren im Zielbereich Wohnen des Stadtentwicklungsplans für Heidelberg Abb. 2 Stadtentwicklungsprojekt Bahnstadt, Heidelberg (DE) 2012

Abb. 2

190

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Oberbürgermeister – Leitung der Verwaltung Referat Nachhaltige Stadtentwicklung Wirtschaftsförderung Unternehmensbetreuung, Lotsen­­ funktion, Vemittlung von Gewerbe­ flächen, offensive Innenstadt etc. integrierte Stadtentwicklung nachhaltige Stadtentwicklung, Stadt­ teilentwicklungspläne, Projekte im ­Förderprogramm »Soziale Stadt« etc. Europa und Energie Fördermittelakquise, EU-Koordination, ­Grundsatzfragen Energie, Projekte ­Energie etc.

Dezernat I Wirtschaft, Kultur, Verwaltung Oberbürgermeister Stabsstelle

Dezernat II Bildung, Sport, Soziales Erster Bürgermeister Stabsstelle

Dezernat III Bauen, Technik, Umwelt Bürgermeister Stabsstelle

Büro Oberbürgermeister

fachübergreifende Koordination

ÖPNV, Beauftragter für Umweltschutz

Abstimmung der Nachhaltigkeitsziele            

• Revision •  Organisation, Personal • Finanzen • Liegenschaften •  Kunst, Kultur • Film, Medien, Tourismus



• bürgerschaftliches ­Engagement   •  Sicherheit, Ordnung   • Bürgerdienste   •  Bildung, Familie, Sport

   

• Bürgerbüro Bauen • Stadtplanung, Vermessung   • Hochbau, Gebäude­ wirtschaft   •  Tiefbau, Grünflächen   •  technische Dienste

Abb. 3

Abb. 3  Organisation der Verwaltung in Ludwigsburg nach der Umstrukturierung und Weiterentwicklung Abb. 4  Energiekonzept für Ludwigsburg

2 Stadt Ludwigsburg/­ zafh.net 2010

»Energieeffiziente Stadt Ludwigsburg«

Ludwigsburg wurde von der Internationalen ­Energieagentur (IEA) in Paris im Rahmen des ­Forschungsschwerpunkts »Annex 51« als Modellprojekt für eine energieeffizienten Stadt aus­ gewählt. Die Stadt Ludwigsburg beauftragte das Zentrum für nachhaltige Energietechnik (zafh.net) und das Zentrum für Nachhaltige Stadtent­ wicklung, beide an der Hochschule für Technik Stuttgart (HfT), zusammen mit dem Referat Nachhaltige Stadtentwicklung der Stadt Ludwigsburg mit der Studie »Energieeffiziente Stadt Ludwigsburg«. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Fallstudie analysiert die gesamten Aktivitäten der Stadt Ludwigsburg im Bereich Energieeffizienz und zeigt Handlungs­ empfehlungen auf.

oder die soziale Lage sind in ihrer Komplexität nur schwer in einem Indikatorensystem darstellbar. Hierzu benötigt man ausführliche Analysen und Vertiefungen, die in eigenständigen Berichten regelmäßig bewertet und kommuniziert werden. Bei der Zusammenstellung der Indikatoren orientierte sich die Stadt an verschiedenen Systemen, die in Deutschland bereits eingeführt waren, u. a. an den Indikatoren nachhaltiger Stadtentwicklung des Forschungsfelds »Städte der Zukunft« im Rahmen des Forschungsprojekts »Experimenteller Wohnungs- und Städtebau«(ExWoSt) des Bun­ desamts für Bauwesen und Raumordnung (BBR). Insgesamt liegen dem Nachhaltigkeitsbericht 75 Indikatoren zugrunde, wovon 42 die Zielbereiche des STEPs und die besondere Situation Heidelbergs berücksichtigen (Abb. 1, S. 189). Als Datenquellen zur Bewertung der Indikatoren dienten bestehende amtliche Statistiken bzw. Erhebungen, um aufwendige neue Untersuchungen zu vermeiden. Jedem Indikator werden zwei Zeitpunkte der Bemessung zugewiesen. Aus diesen zwei Werten ergibt sich die Entwicklung bzw. die Bewertung des Entwicklungsverlaufs anhand einer fünfstufigen Skala von »deutliche Verschlechterung« bis »deutliche Verbesserung bzw. Erreichen/Einhalten des Zieles«. Im Unterschied zum »Heidelberger Nachhaltigkeitsbericht 2004« integriert der Bericht aus dem Jahr 2007 zusätzlich eine auf Indikatoren gestützte Bewertung des Zielbereichs demografischer Wandel. Drei Jahre zuvor hatte Heidelberg noch auf eine gesonderte Erhebung zu diesem Thema verwiesen. Mit der Fortschreibung »STEP 2015« im Jahr 2006 war der demografische Wandel als neues Kapitel in den Stadtentwicklungsplan aufgenommen worden. Mittlerweile hat sich mit der Veröffentlichung des »Heidelberger Nachhaltigkeitsbericht« das

Indikatorensystem immer mehr im Bewusstsein der Heidelberger etabliert. Neben den Nachhaltigkeitsberichten enthalten seit 2005 auch alle Informations- und Beschlussvorlagen der Verwaltung an den Gemeinderat eine Nachhaltigkeitsprüfung, die darlegt, welche Ziele des STEPs mit dem Beschluss/Projekt verfolgt werden und welche Vor- bzw. Nachteile der Vorschlag hat. Das Nachhaltigkeitsmonitoring ist zu einem wichtigen Teil der Orientierung und der Erfolgskontrolle nachhaltiger Stadtentwicklung für Verwaltung, Politik und Bürgerschaft der Stadt Heidelberg geworden.  TE

Beispiel Stadtentwicklung Ludwigsburg Die Stadt Ludwigsburg setzt in ihrem Konzept der nachhaltigen Stadtentwicklung die Schwerpunkte auf Methoden und Instrumente zur Unterstützung städtischer Entscheidungsträger, die für Nachhaltigkeitsentwicklungen zuständig sind, sowie auf die Implementierung effizienter mittel- bis langfristiger Energiestrategien.2 Damit ist Ludwigsburg ein Paradebeispiel für die Umsetzung der Agenda 21 auf städtischer Ebene, vor allem der ökologischen Ziele, aber auch der ökonomischen und sozialen. Im Zusammenhang mit den ökologischen Zielen entstand in Ludwigsburg 2001 die Gruppe »Lokale Agenda Ludwigsburg«, die sich an den Leitzielen der globalen Agenda 21 orientierte und seit 2007 als Ludwigsburger Energieagentur e. V. (LEA) bis heute aktiv am Entwicklungsprozess der Stadt beteiligt ist.

191

3.3 — Kommunale Umsetzungsstrategien

Modul Industrie-Netzwerk mit Unterstützung des AK Nachhaltigkeitsstrategie und Umweltministerium Baden-Württemberg Modul Wärme

Modul Strom

Modul Verkehr

Wärmekataster Ausgangslage Wärmeverbrauch und -erzeugung, Klima- und Umweltwirkungen, Potenziale und Nutzung erneuerbarer Energien

Strombilanz Ausgangslage Stromverbrauch und -erzeugung, Klima- und Umweltwirkungen, Potenziale und Nutzung erneuerbarer Energien

Klimabilanz/Verkehr Ausgangslage Treibstoff- und Energieverbrauch im Verkehr, Klima- und Umweltwirkungen, Potenziale, Nutzung und ­Produktion alternativer Treibstoffe

Ziele und Szenarien Festlegung von Zielen (z. B. Energieeffizienz, erneuerbare Energien, CO2-Minderung, andere Umwelteinwirkungen, Eigenversorgungsanteil etc.) Strategie Wärme Identifikation, Wirksamkeit, Umsetzungsschritte, Akteure, Kosten, ­Finanzierung von ­Maßnahmen im ­Wärmesektor

Strategie Strom Identifikation, Wirksamkeit, Umsetzungsschritte, Akteure, Kosten, ­Finanzierung von ­Maßnahmen im Stromsektor

Strategie Mobilität Identifikation, Wirksamkeit, Umsetzungsschritte, Akteure, Kosten, ­Finanzierung von ­Maßnahmen im ­Verkehrssektor

Modul Gesamtstrategie Energie und Klimaschutz in Ludwigsburg Potenzial, Klima- und Umweltschutzmaßnahmen, Wirtschaft, Kosten, Akteure Abb. 4

Die von der kommunalen Verwaltung entwickelte übergeordnete Stadtentwicklungsstrategie basiert auf dem Bottom-up-Prinzip der Bürgerbeteiligung. Diese Strategie ermöglicht es, das Engagement der für die Stadtentwicklung relevanten Akteure aus der Bürgerschaft, der Privatwirtschaft und der Region auf breiter und repräsentativer Basis einzubinden. Durch die integrierte Betrachtung und die Entwicklung eines gemeinsamen Zukunftsbilds gelang es, in intensiver Zusammenarbeit aller Beteiligten Nachhaltigkeitsziele zu formulieren – ein Dreiklang aus wirtschaftlicher Entwicklung, sozialem Ausgleich und gesunder Umwelt. Eine Ludwigsburger Besonderheit ist die Einrichtung eines eigenen Referats für nachhaltige Stadtentwicklung in der Verwaltung, das hauptsächlich für die Umsetzung, Steuerung und Koordination der Strategie für nachhaltige Stadtentwicklung zuständig ist und die einzelnen Innovationsprojekte betreut. Fachlich integriert und horizontal vernetzt beschäftigt sich das Referat quer durch alle Arbeitsfelder und auf verschiedenen Ebenen mit den drei Arbeitsgebieten und Nachhaltigkeitsaufgaben Wirtschaftsförderung, integrierte Stadtentwicklung sowie Europa und Energie. Ziel des 2008 neu geschaffenen Referats ist es, die Abstimmung zwischen den verschiedenen Ebenen der Politik und der Verwaltung, die Einfluss auf Fragen der Nachhaltigkeitsentwicklung haben, zu optimieren und dadurch eine bessere vertikale Vernetzung zu erreichen (Abb. 3). Für die Energiestrategie wurde vom Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart eine Vielzahl an Maßnahmen und Aktivitäten in den Bereichen Klima, Adaption an den Klimawandel, Energie, Verkehr, Industrie und Nutzungsplan zusammengestellt (Abb. 4).3 Das Spektrum dieser Aktivitäten zeigt die hohe Priorität, die die Stadt der

Energiepolitik beimisst. Darüber hinaus konnte sich Ludwigsburg im Rahmen des internationalen Programms »Annex 51« der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris erfolgreich um den Status als Modellprojekt einer »energieeffizienten Stadt« bewerben.

Stadtentwicklungskonzept Seit 2004 treibt die Stadtverwaltung die Entwicklung des Stadtentwicklungskonzepts (SEK) »Chancen für Ludwigsburg« voran, während der Gemeinderat für die Steuerung und Kontrolle des Konzepts zuständig ist. Wichtige Akteure sind hierbei die Bürgerschaft wie auch Vertreter aus der Wirtschaft. Beispielsweise wurde der sogenannte Wirtschaftstag seit 2004 ins Leben gerufen, bei dem sich lokale Unternehmen zur Förderung einer intensiven Bindung zwischen Wirtschaft und Verwaltung einsetzen. Bei der ersten Zukunftskonferenz 2005 war die Beteiligung der Bürger das zentrale Element. Deren Beteiligung wurde jedoch schon früher auf den Stadtteilkonferenzen 2000 und 2002 in Eglosheim erprobt, die im Rahmen des Programms »Soziale Stadt« stattfanden.4 Aus dieser Beteiligung ergaben sich Impulse für die weitere integrierte Stadtentwicklung, BürgerWorkshops wurden regelmäßig durchgeführt. Parallel dazu fanden 2005 auch andere Aktivitäten wie z. B. Meinungsbilder, Dialogsommer etc. statt. Nach der zweiten gesamt­städtischen Zukunftskonferenz im Jahr 2006 wurde ein Netzwerk aus Stadtverwaltung, Gemeinderat und Expertengremien gebildet,5 um die unterschiedlichen Visionen und Leitsätze der Entwicklungsstrategien umzusetzen und sich konkret mit den elf erarbeiteten Themenfeldern zu befassen. Diese sind thematisch weit gefächert und greifen inhaltlich die Leitsätze und Ziele der nachhaltigen Entwicklung auf. Dabei

Elf Themenfelder des SEK »Chancen für ­Ludwigsburg«

•  attraktives Wohnen •  kulturelles Leben •  Wirtschaft und Arbeit •  vitale Stadtteile •  lebendige Innenstadt •  Zusammenleben von Generationen und ­Nationen •  Grün in der Stadt • Mobilität •  Bildung und Betreuung •  vielfältiges Sportangebot • Energieversorgung

3 Stadt Ludwigsburg/­ zafh.net 2010 4 ebd. 5  Spec et al. 2010

192

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Abb. 5

6 Stadt Ludwigsburg 2015, S. 67 7 ebd., S. 16f.

spiegeln sie den Anspruch wider, alle Aspekte der gelebten Realität eines jeden Stadtteils qualitativ anzusprechen. Das Ludwigsburger Stadtentwicklungskonzept beinhaltet mit seiner Kombination aus politischem Programm, administrativem Aktionsprogramm (Masterplan) und der engen Verbindung zu den Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen eine soziale Dimension. Hier wird der urbane Raum als sozialer Raum verstanden. Das SEK soll dazu beitragen, die Menschen dieser Stadt, die als Hauptakteure verstanden werden, miteinander in Kontakt zu bringen, über Milieu sowie ethnische und soziale Grenzen der Generationen hinweg. 2014 – also nach zehn Jahren erfolgreicher Stadtentwicklung – erhielt Ludwigsburg den Deutschen Nachhaltigkeitspreis in der Kategorie Städte mittlerer Größe als Auszeichnung für die integrative Zusammenarbeit von Verwaltung, Kommune und Bürgern. Dieser Preis wurde nicht nur als Anerkennung für die von der Stadt eingerichteten Verwaltungsprogramme verliehen, sondern auch der unglaublichen Zahl engagierter Bürger und großen Teilen des Stadtrat gewidmet, die diesen Prozess maßgeblich unterstützt haben. Aufgrund des Flüchtlingszustroms im Jahr 2015 rief die Stadt Ludwigsburg ein Begrüßungsprogramm ins Leben. Als Vorbereitung für die fünfte Zukunftskonferenz 2015 wurden am 26. März 2015 unter der Leitung des vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. vorab Gruppendiskussionen zum Thema Willkommenskultur durchgeführt.6 Später wurden die Ergebnisse dieser Gruppendiskussionen unter der

Kategorie Integration und Vielfalt zusammen mit Geflüchteten und sogenannten KiFa-Mentorinnen (KiFa – Kinder- und Familienbildung) bei der Konferenz weiter erarbeitet. Zusätzlich zu den insgesamt elf Hauptthemenfeldern wurde das Thema Inklusion u. a. an zwei Tischen zur Willkommenskultur diskutiert.7 Um Migranten und Flüchtlinge als Teil der neuen Bürgerstruktur in den Entwicklungsprozess einzubeziehen, wurden Personen dieser Zielgruppen regelmäßig bei den 2015 und 2016 stattfindenden Workshops zum Entwicklungsprozess zu involvieren. Auf der sechsten Zukunftskonferenz 2018 wurde u. a. diskutiert, welchen Beitrag die Stadt Ludwigsburg für eine nachhaltige Entwicklung auch im Hinblick auf die gesamte Welt leisten kann. Die 17 von der UN verfassten sogenannten globalen Entwicklungsziele (englisch: Sustainable Development Goals – SDG) waren dabei einer von vier Schwerpunkten. Wie auch in den Jahren zuvor werden die Ergebnisse anschließend aufbereitet und dokumentiert, um eine Grundlage für die Weiterentwicklung des Stadtentwicklungskonzepts zu bilden. »ZukunftsWerkStadt« ist ein weiteres Programm mit dem das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Ludwigsburg fördert. Die Stadt arbeitet zusammen mit dem vhw an der digitalen Agenda, die auf mehr Partizipation aller abzielt, einschließlich der dort lebenden Migranten. Im Mittelpunkt stehen dabei die gemeinsame Erarbeitung umsetzungsreifer Konzepte unter der effektiven Beteiligung der Bürger, des Einzelhandels, der Industrie sowie deren Bedürfnisse bzw. deren Nutzen rund um das Thema Digitalisierung.

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2014 4. ZuKo

Auszeichnung

5. ZuKo

Thema: Stadtentwicklung in Bürgerhand

Deutscher Nachhaltigkeitspreis

Thema: u.a. Willkommenskultur ZukunftsWerkStadt /digitale Agenda

2018 Agenda 2030 Themen: u. a. globale Nachhaltigkeitsziele, nachhaltige Mobilität 6. ZuKo

3. ZuKo Thema: bürgerschaftliches Engagement

2. ZuKo 1. Stadtteilkonferenz Verabschiedung vom SEK

1. Wirtschaftstag Referat Nachhaltige StadtEntwicklung SEK »Chance für Ludwigsburg«

1. Baustein: neue Verwaltungsstruktur 1. ZuKo

(Wirtschaft – Verwaltung – Bürger)

»Soziale Stadt 2000 – 2008«

10 Jahre Nachhaltige Stadtentwicklung

2015

2009

2005

2000

SEK Ludwigsburg + STEP – 5 Pilot Stadtteile 2007 Agenda 21

Stadt Ebene

Stadtteil Eglosheim

2012

2004

2006

3.3 — Kommunale Umsetzungsstrategien

BürgerWorkshops

Abb. 5 Holzheizkraftwerk in Ludwigsburg (DE) Abb. 6  Prozess der Bürgerbeteiligung in Ludwigsburg

Abb. 6

Auf der Zukunftskonferenz 2018 war die digitale Agenda ebenfalls Thema und zeigte den Weg Ludwigsburgs hin zu einer Smart City.

Integriertes Energiekonzept Aspekte wie städtebauliche Konzepte, Verkehrssysteme, Nutzungen, Siedlungsdichte, Kontext und der Bedarf der Nutzer bestimmen die Energieeffizienz einer Stadt. Das SEK der Stadt Ludwigsburg trägt dieser Tatsache mit dem Themenund Arbeitsfeld Energieversorgung Rechnung. Das Hauptziel besteht darin, einen ausgewogenen Energieverbrauch zu erreichen, entweder durch Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und/oder durch die Nutzung erneuerbarer Energien und Ressourcen. Dazu wird eine stadtweite Energiestrategie formuliert, die einzelne Maßnahmen und Herangehensweisen im Hinblick auf eine optimale Gesamtwirkung koordiniert. Als kommunales Unternehmen entwickeln die Stadtwerke Ludwigsburg-Kornwestheim (SWLB) das zukunftsweisende Konzept zum nachhaltigen, effizienten Umgang mit Energie. Das Energiekon­ zept handelt von mehr als Energie, von Lebensqualität und der Zukunftsfähigkeit der Lebensräume. Die Bereitstellung von Wärme und Strom aus Biomasse übernimmt in Ludwigsburg ein lokales Holzheizkraftwerk – das Leuchtturmprojekt umweltschonender Energieversorgung und das größte seiner Art in Baden-Württemberg (Abb. 5). Im Jahr 2010 konnten damit ca. 70 % des benötigten Wärmebedarfs der Fernwärmeversorgung

in Ludwigsburg gedeckt werden.8 Nach Stand von April 2015 sparen die SWLB insgesamt rund 41 000 Tonnen Kohlendioxid (CO2) im Jahr ein. Aktuell erfolgt die Ermittlung der Potenziale erneuerbarer Energien für die weitere Energiestrategie der Stadt. In diesen Prozess sind alle relevanten Akteure, also die Stadtwerke, Bürger und Inte­ ressengruppen wie z. B. private Wirtschaftsunternehmer und öffentliche Institutionen, integriert. Mit der Geothermie-Nahwärmeversorgung im Stadtteil Grünbuhl-Sonnenberg sind die Stadtwerke Ludwigsburg-Kornwestheim in einem weiteren wichtigen Energiesegment aktiv geworden. Nachhaltige Mobilität ist eine weitere zentrale Aufgabe der SWLB; 2014 wurden drei Stromladesäulen in Ludwigsburg sowie in Kornwestheim aufgestellt. Bis Ende 2016 wurden insgesamt 18 Ladesäulen errichtet, um Elektroautos mit umweltfreundlichem Ökostrom zu versorgen.

Stadtteilentwicklungspläne (STEP) In der nachhaltigen Stadtentwicklung werden sogenannte brownfields (Brachgrundstücke bzw. Konversionsflächen) den greenfields (Entwicklungsflächen auf der »grünen Wiese«) vorgezogen. Die Stadt Ludwigsburg verfolgt diesen Ansatz nicht nur durch die Umnutzung vieler ehemaliger Kasernen, sondern auch mit der Entwicklung von innerstädtischen Wohnsiedlungen auf der Grundlage von integrierten Stadtteilentwicklungsplänen. Darin werden die Leitlinien und strategischen Ziele des SEK an die einzelnen Stadtteile ange-

8 Stadt Ludwigsburg/ zafh.net 2010

Weitere ­Informationen

•  Bunzel, Arno; Coulmas, Diana; Schmidt-Eich­ staedt, Gerd: Städtebauliche Verträge. Ein Handbuch. Stadt – Forschung – Praxis. Berlin 2007 •  Birk, Hans-Jörg: Städtebauliche Verträge. Inhalt und Leistungsstörungen. Stuttgart 2013 •  Stadt Heidelberg: Heidelberger Nachhaltigkeitsbericht 2014. Indikatorengestützte Erfolgskontrolle des Stadtentwicklungsplans Heidelberg 2015. Reihe Schriften zur Stadtentwicklung. Heidelberg 2015 • www.ludwigsburg.de/,Lde/start/stadt_buerger/ stadtentwicklung.html • www.heidelberg.de/hd,Lde/HD/entwickeln.html

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Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Abb. 7

Berichterstattung und Evaluierung (Indikatoren)

Umsetzung durch SEKMasterpläne

integriertes Nachhaltigkeitsmanagement

Beschluss der Leitsätze und Ziele in elf Themenfeldern

Prüfung der örtlichen Situation

Weiterentwicklung der strategischen Ziele

Abb. 8

Abb. 7  STEP für den Bebauungsplan Grünbühl-Sonnenberg, Ludwigsburg Abb. 8 Managementzyklus für ein Stadtentwicklungskonzept

9 Stadt Ludwigsburg/ zafh.net 2010

passt. Sie umfassen jeweils detaillierte Pläne für die Entwicklung im Hinblick auf die elf Themenfelder des SEK. Darüber hinaus setzt der STEP spezifische, von den SEK-Masterplänen abgeleitete Ziele fest und definiert konkrete Maßnahmen. Im Jahr 2006 begann Ludwigsburg mit der Erstellung von STEPs für vier ausgewählte Pilot-Stadtteile: Innenstadt, Eglosheim, Grünbühl-Sonnenberg (Abb. 7) und Karlshöhe. Gleichzeitig gelang es, über das Regenerationsprogramm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt« Fördermittel von Bund und Land zu erhalten. Den nach dem Krieg sehr schnell und kostengünstig erbauten Stadtteile Grünbühl, Hirschberg und Schlößlesfeld ordnete die Stadt eine hohe Priorität zu und konstatierte dort einen dringenden Bedarf für eine energetische Sanierung. In der Innenstadt besteht ein besonderes Ziel in der Reduktion der CO2-Emissionen. Dafür

stellte die Stadt seit 2004 Bundes- und Landesfördermittel in Höhe von 50 Millionen Euro für ca. 100 Projekte und Maßnahmen zur Verfügung.9 Weitere STEPs für die Stadtteile Weststadt, Oßweil, Oststadt, Poppenweiler und Neckarweihingen wurden in den letzten Jahren ausgearbeitet. Aktuell sind noch weitere Bürgerbeteiligungsveranstaltungen für das Konkretisieren der STEPs eingeplant. Die Stadt Ludwigsburg hat für das Sanierungsgebiet »Soziale Stadt Grünbühl-Sonnenberg/Karlshöhe« im Jahr 2015 den Landespreis erhalten.

Managementzyklus Seit 2002 dient der Stadtteil Eglosheim als Pilotprojekt für intensive Bürgerbeteiligung, um Entwicklungsziele zu formulieren. Im Rahmen des europäischen Programms »Managing Urban Europe« (MUE) wurde ein Managementzyklus entwickelt, der seit 2003 den dortigen Nachhaltigkeitsprozess kontrolliert. Im September 2009 beschloss die Stadt Ludwigsburg darauf aufbauend einen Managementzyklus für die Verwaltung mit fünf Schritten, um die Weiterentwicklung des Stadtentwicklungskonzepts (SEK) bzw. der Stadtteilentwicklungspläne (STEP) zu sichern und zu steuern (Abb. 8). Das Management einer nachhaltigen Stadtentwicklung gilt als kommunale Querschnittsaufgabe sowie politische Leitlinie und ist wie Partizipation die Voraussetzung nachhaltiger Stadtentwicklung. In der abschließenden Berichterstattung werden die Ergebnisse ausgewertet, um zu sehen, inwiefern sie zur Erreichung der im Indikatorenkatalog formulierten Ziele beitragen. Dabei ist auch eine Feedbackfunktion integriert, mit der sich Maßnahmen oder Projekte im Einzelnen nachjustieren oder steuern lassen.

3.4 — Projektspezifische Umsetzungsstrategien

3. 4

Projektspezifische ­Umsetzungsstrategien D o minic Church

B

ei der Entwicklung eines Quar­tiers können verschiedene Strukturen und Modelle eingesetzt werden. Die Herausforderung für staatliche Akteure besteht darin zu prüfen, welches Vorgehen für die Erfüllung der sich stellenden Aufgaben geeignet und zielführend ist. Im Idealfall basiert die so entwickelte Herangehensweise weitestgehend auf der sachlichen Analyse der gegebenen Umstände vor Ort. Die möglichen Modelle und Strukturen bieten jeweils unterschiedliche Vorzüge und Nachteile. Zugleich ist deren Anwendung im einzelnen Projekt meist mit einer politischen Positionierung verbunden, da jedes Modell unweigerlich gewisse Interessengruppen gegenüber anderen begünstigt.

Organisations­ formen und -strukturen In Deutschland bilden Kommunen oft Zweckverbände für die interkommunale Zusammenarbeit, auf freiwilliger Basis oder infolge einer Verordnung des Landes. Solche Zweckverbände dienen in den meisten Fällen dazu, eine bestimmte infrastrukturelle Dienstleistung bereitzustellen, beispielsweise in der Wasserversorgung oder im ÖPNV. Für die Quartiersentwicklung gründen Kommunen häufig Stadtentwicklungsgesellschaften, die als Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) konstituiert sind. Dabei bietet das Handelsgesetzbuch die Möglichkeit, einen Aufsichtsrat einzu-

richten. Mit dessen Hilfe kann die Kommune die Geschäftsführung der Gesellschaft überwachen bzw. sicherstellen, dass die Quartiersentwicklung entsprechend den von der Kommune festgelegten Zielen umgesetzt wird. Diese Organisationsform eignet sich auch für den Fall, dass mehrere Körperschaften des öffentlichen Rechts gemeinsam ein Quartier entwickeln möchten, etwa auf einer militärischen Konversionsfläche, die kommunale Grenzen überschreitet. Eine Stadtentwicklungsgesellschaft kann als privatrechtliche Firma flexibler und dynamischer agieren als eine Kommune, weil Entscheidungen nicht im Detail durch kommunale Gremien behandelt und beschlossen werden müssen. Der Nachteil dieser Strategie kann sein, dass die Quartiersentwicklung sich teilweise der Kontrolle kommunaler Gremien entzieht bzw. dass sich die Zielsetzungen der Quartiersentwicklung gegenüber den allgemeinen Zielen der Stadtentwicklung verselbstständigen. Da meist öffentliche Gelder für die Quartiersentwicklung zum Einsatz kommen, kann sich die Frage nach der demokratischen Rechenschaft ergeben. Rechtfertigen lässt sich dieses Modell, wenn die Vorzüge der Agilität größer sind als die Risiken, die durch die schwächere demokratischen Kontrolle durch die Kommune entstehen. Ein Beispiel für eine solche Stadtentwicklungsgesellschaft ist die HafenCity Hamburg GmbH, die sich zu 100 % im Besitz der Hansestadt Hamburg befindet (Abb. 1, S. 196). Es können auch private Unternehmen als Gesellschafter in die Entwicklungsgesellschaft eingebunden werden, etwa im Rahmen einer Public Private Partnership (PPP). Das Modell der Projektentwicklung allein durch private Träger ist im angelsächsischen Raum weitverbreitet. Dabei stellt ein Projektentwickler neben der Bebauung meist auch die gesamte Infrastruktur bereit und vermarktet diese zusammen mit den

195

196

Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

Abb. 1

Abb. 1 Magellan-Terrassen, HafenCity Hamburg (DE) Abb. 2  im Rahmen einer PPP errichtete Schule, HafenCity Hamburg (DE) 2009, Spengler · Wiescholek Architekten

1 www.bbc.com/news/business-42744949 (Stand: 21.01.2018) 2  CABE 2004 3 www.moeckernkiez.de/ genossenschaft (Stand: 03.08.2018)

Gebäuden. Im besten Fall eignet sich das Modell dazu, ein koordiniertes Gesamtkonzept einheitlich umzusetzen. Allerdings birgt es auch große Risiken, beispielsweise wenn das Unternehmen nicht über ein entsprechendes Durchhaltevermögen bei möglichen Konjunkturschwankungen verfügt. Ein Beispiel dafür ist die Unternehmensgruppe, die die erste Phase der Entwicklung der ehemaligen Battersea Power Station (453 Mio. Euro) leitete. Im Januar 2018 musste sie mit Schulden von rund 1,47 Mrd. EuroInsolvenz anmelden. Die Fertigstellung diverser öffentlicher Bauten, darunter das Midland Metropolitan Hospital (396 Mio. Euro) und das Royal Liverpool University Hospital (380 Mio. Euro) konnte damit nicht mehr gewährleistet werden. Das Unternehmen war zum Zeitpunkt der Insolvenz im Rahmen diverser PPP-Projekte für 50 Gefängnisse, 50 000 Wohnungen für Angehörige des Militärs, 11 500 Krankenhausbetten, 218 Catering-Dienste in Schulen und für Teilstrecken der Hochgeschwindigkeitslinie HS2 von London nach Manchester und Leeds zuständig.1 Da privatwirtschaftliche Unternehmen ihren Eigentümern eine möglichst hohe Rendite sichern müssen, kann es leicht zu Zielkonflikten mit der öffentlichen Hand kommen, deren Pflicht es ist, dem Gemeinwohl Rechnung zu tragen. Das kann sich darin bemerkbar machen, dass die Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Spielplätze etc. sich der Wirtschaftlichkeit des Projekts unterordnen muss und diese deshalb erst nach der Wohnbebauung entstehen oder bei deren Realisierung qualitative Abstriche gemacht werden, um die Profitabilität des gesamten Vorhabens zu wahren. Die britische Commission for Architecture and the Built Environment (CABE) hat die qualitativen Probleme in der frei finanzierten Quartiersentwicklung eingehend studiert und dokumentiert.2 Eine andere Möglichkeit besteht darin, ein Quartier durch den genossenschaftlichen Zusammenschluss von Einzelpersonen zu entwickeln. Eine Genossenschaft ähnelt von der rechtlichen Form her einem wirtschaftlichen Verein, dessen Geschäftsbetrieb daraufhin orientiert ist, die Belange seiner Mitglieder – beispielsweise Wohnraum – zu befriedigen. Wohnungsbaugenossenschaften sind in Deutschland, der Schweiz und Österreich weitverbreitet. Das Modell lässt sich auch auf die Quartiersebene übertragen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Initiative Möckernkiez in Berlin, die ein 3 ha großes ehemaliges Eisenbahnareal mit insgesamt 450 Wohnungen bebaut (siehe S. 246f.). Dabei übernimmt die Genossenschaft

»die Aufgabe, das Baufeld Möckernkiez zu beplanen, zu bebauen und schließlich die Wohnungen, Gewerbeeinheiten und das Gelände zu verwalten und zu bewirtschaften. Sinn und Zweck ist laut Satzung die Förderung ihrer Mitglieder vorrangig durch eine gute, sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung.«3 Zu den Vorteilen einer genossenschaftlich organisierten Quartiersentwicklung gehört, dass der Wohnungsbestand im Besitz der Genossenschaft bleibt und daher auf lange Sicht deren gemeinnützigen Zielen dienen kann. Ein weiteres Modell für die Quartiersentwicklung ist die Bildung von Baugruppen (auch Baugemeinschaft genannt), wie sie insbesondere in Freiburg und Tübingen in jeweils etwas unterschiedlicher Ausprägung praktiziert wird. In Freiburg entstand der Ansatz zur Entwicklung eines neuen Stadtteils auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne aus der Besetzung eines leer stehenden Gebäudes und der Gründung des Vereins »Forum Vauban« im Jahr 1994. Dieser setzte sich für eine erweiterte Bürgerbeteiligung ein, mit der dann die Entwicklung des Quartiers nach ökologischen Gesichtspunkten als Ziel formuliert werden konnte. Ein großer Teil der Wohnungen wurde von Baugruppen entwickelt. Dazu finden sich mehrere bauwillige Parteien zusammen, um gemeinsam die Planung und den Bau eines Mehrfamilienhauses zu finanzieren, das anschließend in konventionelles Teileigentum übergeht. In Tübingen wurde das Modell der Baugruppe von der Stadt genutzt, indem sie 1991 ein ehemaliges Kasernenareal, das sogenannte Französische Viertel, kaufte und das Stadtplanungsamt die Bildung von Baugruppen förderte. Der Bebauungsplan erlaubte für Deutschland unübliche gestalterische Freiheiten, etwa bei den Gebäudetraufhöhen. Diese Freiheiten machten das Viertel für Bauwillige besonders interessant. Die Stadt hat das dort angewendete Modell seither weiterentwickelt und im Mühlenviertel und in der Alten Weberei eingesetzt. Ziel des Baugruppenmodells ist es, zukünftige Anwohner stärker in die Quartiersentwicklung einzubinden, um die Identität des Quartiers und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner zu stärken. Für die Übertragbarkeit des im Vauban-Viertel und im Französischen Viertel umgesetzten Modells auf die Stadt als Ganzes oder auf andere Städte stellt sich die Frage, inwiefern dessen Erfolg mit der Bevölkerungsstruktur vor Ort verbunden ist. In Tübingen wurde dieser Zusammenhang in

197

3.4 — Projektspezifische Umsetzungsstrategien

einer Studie der Sozialwissenschaftlerin Katharina Manderscheid erörtert.4 Sie führte eine demografische Analyse der Bevölkerung des Französischen Viertels im Vergleich zur Anwohnerstruktur in der angrenzenden Stuttgarter Straße durch. Dabei stellte sie im Französischen Viertel einen höheren Anteil einkommensstarker Familien mit einem relativ hohen akademischen Bildungsgrad fest. Zudem untersuchte sie die Integration der Anwohner in soziale Netzwerke im Quartier und in der Stadt als Ganzes sowie die Intensität der Beteiligung an Prozessen der Stadtentwicklung. Manderscheid kam zu dem Ergebnis, dass sich die vorwiegend akademisch gebildeten, finanziell abgesicherten Bewohner des Französischen Viertels »ihr Wohnquartier offensichtlich häufiger zu ›Räumen‹ in sozialer und materieller Hinsicht konstituieren können und damit über eine stärkere Identifikation mit diesem Quartier verfügen«.5 Damit spricht sie die Frage an, inwieweit die vom Stadtplanungsamt begleitete Quartiersentwicklung durch Baugruppen zwar zu einem Quartier mit einer hohen Wohnqualität geführt hat, dieser Weg aber vor allem für einkommensstärkere Bürger mit hohem Bildungsstand gangbar ist. Damit stellt sich die Frage, ob sich der planerische Aufwand des Stadtplanungsamts rechtfertigen lässt, wenn davon (wie oft auch bei konventionelleren Herangehensweisen) vor allem wirtschaftlich und sozial gut Situierte profitieren. Dies gilt besonders, wenn Wohnungen, die mit großer Unterstützung des Stadtplanungsamts erworben und gestaltet werden, auf dem freien Markt gewinnbringend verkauft werden und einen erheblichen finanziellen Vorteil eintragen. Das Ziel bezahlbaren Wohnraums kann mit einer Baugruppe nur einmalig realisiert werden, während im Anschluss wieder Marktmechanismen zum Tragen kommen. Weitere Untersuchungen zu Baugruppen wurden von Gerd Kuhn und Tilman Harlander6 sowie von Hannes Müller7 veröffentlicht. Kuhn und Harlander stellen fest, dass BadenWürttemberg von Anfang eine »Pionierrolle« in der Entwicklung, Förderung und Gestaltung von Baugruppen eingenommen hat und dass diese im Südwesten Deutschlands eine »feste Größe« sind. Dabei beobachten sie eine Annäherung zwischen Baugruppen und anderen Entwicklungsinstrumenten, die sich beispielsweise in Patenschaftsmodellen wie in Esslingen am Neckar (dazu der Beitrag von Wilfried Wallbrecht8) oder in »bauträgergestützten Baugemeinschaften«, z. B. in Tübingen (dazu der Beitrag von Markus Staedt9) manifestiert. Kuhn und Harlander sehen drei Motive dafür, das Modell der Baugruppe zu ver-

folgen. In ökonomischer Hinsicht ermögliche die Baugruppe eine Kostenersparnis von ca. 15–25 % der Gesamtkosten (Hubert Burdenski10). In sozialer Hinsicht biete die Baugruppe vielfältige Möglichkeiten im Sinne der partizipatorischen Planung und des gemeinschaftlichen Lebens. Die dritte Motivation sei die Möglichkeit, alternative und innovative Wohn- und Baukonzepte, etwa in ökologischer Hinsicht, umzusetzen. Müller sieht die Gründe für die Beliebtheit des Modells ebenfalls in den Aspekten Ökologie, Ökonomie und Soziales. So betrachtet er die Baugruppe als ein »vielversprechendes Konzept« zur Umsetzung einer »kleinteiligen, dezentralen, auf der lokalen Ebene ansetzenden Nachhaltigkeitsstrategie«.11 Zwar geht auch er darauf ein, dass Baugruppenprojekte mithin eine eher homogene Bevölkerungsstruktur aufweisen, oft mit dem Schwerpunkt junge Familien mit mittleren bis höheren Einkommen.12 Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass die Baugruppe vor allem aufgrund der ökonomischen Vorteile ein Wachstumsmodell darstellen könnte. Müller sieht die Kommunen in der Verantwortung, bei der Abgabe kommunaler Grundstücke durch geeignete Ausschreibungsverfahren zu gewährleisten, dass auch Baugruppen zum Zug kommen können.13

 4  Manderscheid 2004  5  ebd., S. 289  6  Kuhn/Harlander 2010  7  Müller 2015  8 Kuhn/Harlander 2010, S. 56  9  ebd., S. 146 10  ebd., S. 129 11  Müller 2015, S. 402 12  ebd., S. 129ff. 13  ebd., S. 403

Public Private Partnerships Auch unter der Abkürzung ÖPP (Öffentlich-­Private Partnerschaften) bekannt, bieten Public Private Partnerships (PPP) staatlichen Auftraggebern die Möglichkeit, Maßnahmen oder Leistungen durch private Unternehmen finanzieren und bereit­stellen zu lassen. Für viele Projekte gilt dabei, dass die privaten Unternehmen nicht nur den Bau finanzieren, sondern auch den Betrieb übernehmen und die staatlichen Auftraggeber das Gebäude über einen vertraglich festgelegten Zeitraum (meist 20–30 Jahre) mieten oder pachten. Für öffentliche Auftraggeber bietet dieses Modell den Reiz, zunächst auch ohne entsprechende Investitionen über eine Einrichtung verfügen zu können. Es müssen keine Mittel für eine konventionelle Errichtung und Finanzierung bereit gestellt werden. Das macht PPP für öffentliche Auftraggeber besonders attraktiv, die über begrenzte Mittel verfügen und keine Kredite aufnehmen wollen oder können. Abb. 2

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Kapitel 3 — Umsetzungsstrategien

14 European Investment Bank, data.eib.org/epec (Stand: 20.01.2018) 15 Bundesministerium der Finanzen 2007 16 European Investment Bank, data.eib.org/epec (Stand: 20.01.2018) 17 Krüger/Ugarte Chacon 2006 18  Mühlenkamp 2010 19 Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder am 3./4. Mai 2006 in München 20 Rechnungshöfe des Bundes und der Länder 2011 21 ebd.

Zwischen 1990 und 2016 wurden EU-weit rund 1750 PPPs mit einem Gesamtwert von über 355 Mrd. Euro abgeschlossen,14 davon 122 Projekte (7 %) mit einem Gesamtwert von 15,2 Mrd. (4,5 %) in der Bundesrepublik Deutschland. Das Bundesministerium für Finanzen (BMF) formulierte im Dezember 2007 für den Bereich der Verkehrs­ infrastruktur das Ziel, »den PPP-Anteil an öffentlichen Investitionen von 4 % in Richtung internationaler Standardwerte von 15 % anzuheben«.15 EU-weit wurden zwischen 1990 und 2016 rund 56 % der PPPs für Verkehrsprojekte abgeschlossen.16 Im Laufe der Zeit hat sich der Anwendungsbereich der PPP-Finanzierung jedoch auf weitere Projekte der öffentlichen Hand, darunter Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen und Justizvollzugsanstalten ausgeweitet. Dabei verlaufen nicht alle PPP-Projekte gleichermaßen erfolgreich: Besonders kritisch diskutiert wurde die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe im Jahr 1999, bei der eine private Holding 49,9 % der Anteile an den Wasserbetrieben übernahm. Kritisiert wurden hierbei die Verträge, über die die Holding die Zusammensetzung des Aufsichtsrats beeinflussen konnte und über die sie gegenüber dem Vorstand Weisungsbefugnisse erhielt. Weiter in Verruf geriet die Teilprivatisierung aufgrund der darauffolgenden Preissteigerungen für die Verbraucher. Diese wurden mit der Renditegarantie in Verbindung gebracht, die den privaten Anteilseignern 1999 für eine Laufzeit von 28 Jahren zugesichert wurden.17 Aufgrund dieser und anderer Erfahrungen ist die Beschaffung durch PPPs umstritten. Im Zentrum der Debatte steht dabei die Frage, ob die PPPFinanzierung als Instrument zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit zu werten ist oder eher einen Weg zur Umgehung von Budgetbeschränkungen darstellt.18 Im Jahr 2006 einigten sich in Deutschland die Rechnungshöfe von Bund und Ländern darauf, dass die öffentliche Hand jene Projekte, die sie sich konventionell nicht leisten könne, auch nicht durch PPPs finanzieren dürfe, da die daraus entstehenden laufenden Zahlungsverpflichtungen an die Stelle von Zins- und Tilgungslasten träten und künftige Haushalte in gleicher oder ähnlicher Weise belasten würden. Darüber hinaus müsse die Wirtschaftlichkeit jedes PPP-Projekts einzeln und über die gesamte Laufzeit bzw. über den gesamten Lebenszyklus hinweg geprüft werden.19 In einem Erfahrungsbericht zur Wirtschaftlichkeit von PPPs, den die Rechnungshöfe von Bund und Ländern im September 2011 veröffentlichten und für den 30 Projekte mit einem Gesamtvolumen von 3,2 Mrd. Euro ausgewertet wur­den,20 kamen sie

allerdings zu dem Ergebnis, dass die 2006 formulierten Grundsätze nicht ausreichend Beachtung gefunden hätten. Ferner monierten die Rechnungshöfe, PPP-Projekte dürften nicht zu einer Umgehung von Neuverschuldungsverboten führen und kritisierten die Tatsache, dass Dienstleistungen durch die Bindung an einen privaten Partner über 30 Jahre dem Wettbewerb auf lange Sicht hin entzogen würden. Zusammenfassend äußerten die Rechnungshöfe von Bund und Ländern zwar die Ansicht, »dass eine Öffentlich-Private-Partnerschaft (ÖPP) eine wertneutrale Beschaffungs­ variante zu konventionellen Bau- und Finanzierungsmodellen« darstelle, forderten dabei aber den Nachweis, »dass die Vorteilhaftigkeit dieser Be­­ schaffungsvariante gegenüber der Eigenbesorgung der öffentlichen Hand in jedem Einzelfall objektiv und transparent nachgewiesen« werden müsse.21

Quartiersentwicklung Für die Quartiersentwicklung sind grundsätzlich zwei PPP-Modelle zu unterscheiden – jene Variante, bei der private Unternehmen oder Investoren eingebunden werden, um einmalig an der Erstellung der städtischen Infrastruktur und Gebäude sowie des öffentlichen Raums mitzuwirken, und solche, bei der private Anbieter über mehrere Jahre hinweg beauftragt werden, öffentliche Einrichtungen zu betreiben oder Dienstleistungen bereitzustellen. Zu den Möglichkeiten, private Unternehmen oder Investoren einmalig einzubinden, zählt z. B. sie anteilig an einer Stadtentwicklungsgesellschaft und dadurch an der Quartiersentwicklung zu beteiligen. Hierbei wird ein konventionelles In­­ strument der Quartiersentwicklung erweitert, indem neben den öffentlichen Körperschaften auch private Unternehmer als Gesellschafter der GmbH eingebunden werden. Meist behält dabei die öffentliche Hand den größeren Anteil des Eigentums für sich, um damit weitestgehend die Kontrolle über das Projekt zu haben. Ein Beispiel für ein solches PPP-Konstrukt ist die EGP Gesellschaft für urbane Projektentwicklung GmbH in Trier, an der neben der Stadt auch private Unternehmen beteiligt sind.

Infrastruktur und Dienstleistungen Ein Beispiel für die Einbindung eines privaten Unternehmens in die Infrastruktur eines Quar-

199

3.4 — Projektspezifische Umsetzungsstrategien

tiers ist die Mülltrennung für das Viertel rund um den Potsdamer Platz in Berlin (siehe S. 228ff.). Unter dem Potsdamer Platz befindet sich eine zentrale Sammelstelle für den Abfall aus sämtlichen gewerblichen Nutzungen und privaten Haushalten im Quartier. Die ausführende Firma hat dort Anlagen installiert, die die Stoffströme mengenmässig erfassen, nach Wertstoffen getrennt sortieren und für den Abtransport aufbereiten. Die Geräte für die Wertstoffaufbereitung stellt der Betreiber bereit, sie bleiben auch nach Ende der Vertragslaufzeit in dessen Besitz. Ebenso übernehmen Angestellte des privaten Unternehmers und nicht städtische Angestellte das Sammeln, Sortieren und Abtransportieren der Wertstoffe.

Business Improve­ ment Districts Eine weitere Möglichkeit für private Akteure, sich in die Quartiersentwicklung einzubringen, ist der Business oder Urban Improvement District (BID/ UID), im deutschsprachigen Raum auch als Immobilien- und Standortgemeinschaft (ISG) bezeichnet. Erstmalig entwickelt wurde dieses Konzept 1970 für das Bloor West Village im kanadischen Toronto. Dabei schließen sich Unternehmen in einem bestimmten räumlichen Bereich zusammen, um gemeinsam eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität zu finanzieren. Diese Aufwertung soll bewirken, dass Passanten häufiger und länger dort verweilen und sich dadurch eine umsatzsteigernde Wirkung entfaltet. Zur Einrichtung eines BID muss sich zunächst eine Gruppe von Grundeigentümern zusammenfinden, die die Kommune auffordert, eine Satzung zu erlassen, die alle Grundeigentümer in einem bestimmten Gebiet verpflichtet, sich finanziell an darin vorgesehenen Maßnahmen zu beteiligen. Der BID stellt also eine Mischform zwischen freiwilliger Initiative und staatlich verordneter Abgabe dar, die manchmal auch als »freiwillige Selbstbesteuerung« bezeichnet wird.22 In Deutschland muss die Gründung eines BID zunächst durch die Gesetzgebung auf Länder­ ebene ermöglicht werden, wobei bis dato noch nicht in allen Bundesländern die entsprechenden Grundlagen vorliegen. Soweit vorhanden, sieht die Gesetzgebung vor, dass ein BID nur dann eingerichtet werden kann, wenn ein Mindestanteil der Grundeigentümer mit den damit verbundenen

Finanzierungs- und Maßnahmenkonzepten einverstanden ist und die Kommune die Einrichtung des BID unterstützt. Die Stadt Hamburg hat bei der Umsetzung von BIDs in Deutschland eine führende Rolle übernommen. Ein erstes Beispiel war der BID Neuer Wall (Abb. 3), der 2005 gegründet wurde und bis 2020 in drei Etappen insgesamt ein Budget von rund 13 Mio. Euro in die Neugestaltung des öffentlichen Raums und in Marketingmaßnahmen investieren will.23 Der Neue Wall ist eines der exklusivsten Einkaufsviertel Hamburgs. Deshalb ist nachvollziehbar, dass die Stadt den Einsatz von öffentlichen Mitteln zur Aufwertung des Gebiets – anstatt etwa zur Verbesserung sozial benachteiligter Wohngebiete – nur schwer rechtfertigen könnte. Die Einrichtung eines BID ermöglicht den Grundeigentümern in einem solchen Fall, das Umfeld ihrer Immobilie aufzuwerten und dadurch letztlich gemeinsam davon zu profitieren. So können sie Investitionen in ihrem direkten Umfeld tätigen, für die keine öffentlichen Mittel zur Verfügung stehen, weil diese nicht vorhanden sind oder weil die öffentliche Hand andere Prioritäten für den Einsatz ihrer Mittel setzen muss. Zu den Nachteilen des BID aus Sicht der ansässigen Unternehmen zählt, dass damit zu rechnen ist, dass Grundeigentümer die Mehrzahlung auf die Mieter umlegen und diese dadurch zusätzlich finanziell belastet werden. In Einzelfällen kann das die Existenz kleinerer und/oder wirtschaftlich schwächerer Unternehmen bedrohen und dadurch z. B. die Struktur des Einzelhandels vor Ort tiefgreifend verändern. Aus der Sicht der Kommune leisten die Mitglieder des BID zwar einen freiwilligen Zusatzbeitrag zur Quartiersentwicklung, entziehen sich aber letztlich dem demokratischen Prozess zur Implementierung quartiers- oder stadtübergreifender Prioritäten, wie er bei einer konventionellen Finanzierung durch Mittel aus öffentlichen Abgaben und Steuern stattfindet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kommunale Stadtplanung in der Formulierung von strategischen Ansätzen für die nachhaltige Quartiersentwicklung stets das langfristige Gemeinwohl im Fokus behalten muss, um den Einsatz öffentlicher Ressourcen zu rechtfertigen. Daher ist es notwendig, sorgfältig zwischen den Interessen der verschiedenen Akteure abzuwägen. Dabei müssen die staatlichen Akteure ihr Vorgehen kontinuierlich und intensiver als zuvor durch den Dialog mit den anderen beteiligten Akteuren rechtfertigen und demokratisch absichern.

Abb. 3

Abb. 3  BID-Projekt Neuer Wall, Hamburg (DE)

22  Kreutz/Krüger 2011 23 www.hamburg.de/bidprojekte/4353324/bidprojekt-neuer-wall/ (Stand: 21.01.2018)

K A P ITE L 4

Werkzeuge

201

4.1 — Computerunterstützte Planungswerkzeuge

4 .1

Computerunterstützte Planungswerkzeuge Ma r t in Al tmann, Ste p han Anders

V

on den zahlreichen zur Verfügung stehenden computerunterstützten Planungswerkzeugen sind einige in diesem Kapitel näher vorgestellt. Grundsätzlich unterscheiden sich die Werkzeuge nach ihrem Einsatzzweck, also den Funktionen, und der Planungsebene, für die sie entwickelt wurden (Abb. 1, S. 202). Die für Simulation, Visualisierung und Entscheidungsunterstützung notwendigen Werkzeuge sind ab S. 206 beschrieben, zunächst stehen diejenigen für die Planung und Ausführung im Fokus.

Computer-aided design (CAD) Der Begriff CAD bezeichnet das Entwerfen und Zeichnen mittels EDV.1 CAD hat sich in nahezu allen Architektur- und Planungsbüros etabliert und ist nicht mehr aus dem Arbeitsalltag wegzudenken. Für die Stadtplanung bietet CAD verschiedene fachspezifische Erweiterungsmöglichkeiten, z. B. zur Umsetzung der Planzeichenverordnung, der automatischen Legendenerstellung, der Flächenauswertung und zur Berechnung städtebaulicher Kennwerte wie GRZ, GFZ oder BMZ.2 Auch bieten heutige CAD-Programme diverse Schnittstellen, die Teamarbeit und einen Export der Zeichnungsdaten in Programme für Kosten, Termine und Tragwerksplanung ermöglichen. Bewertung für die Quartiersplanung: Reine CAD-Programme haben einen entscheidenden Nachteil – die Zeichnungen und dazuge-

hörige Berechnungen, Beschreibungen und Kosten sind für sich isoliert und stehen nicht in direktem Zusammenhang. Jede kleine Änderung muss somit mühsam in allen Dokumenten nachgeführt werden. Dies wiederum macht die Planung aufwendig, teuer und anfällig für Fehler. Auf der anderen Seite lassen sich mit CAD-Programmen – in Kombination mit Grafikprogrammen – schnell Entwürfe testen und Visualisierungen erzeugen. Sie eignen sich demnach insbesondere für frühe Planungsphasen.

Building Information Modeling (BIM) Beim Building Information Modeling (BIM, deutsch: Gebäudedatenmodellierung) sind neben der Geometrie alle verfügbaren Informationen zu einem Gebäude wie Kosten, Emissionen, Lieferzeiten und Ausschreibungstexte für jedes Bauteil zentral in einem Modell gespeichert. Die Informationen können von allen Planungsbeteiligten zu jeder Zeit abgerufen werden und sind stets aktuell (Abb. 2, S. 202). Die Änderung eines Parameters hat somit direkte Auswirkungen auf Mengen, Kosten und Termine. Gleichzeitig hat die BIM-Technologie das Potenzial, parametrische 3D-Modelle hinsichtlich ­Kosten, Emissionen und thermischem Komfort automatisch zu optimieren. Zukünftig wird die Entwicklung von BIM dahin gehen, auch die viel­ fältigen Anforderungen der Nachhaltigkeit an ein Gebäude wie Energieeffizienz, Komfort, Biodiversität und Barrierefreiheit in dem virtuellen Gebäudemodell abzubilden. Ein Beispiel hierfür

1 Bucerius et al. 2005, Bd. 2, S. 530 2 Pflüger 2000, S. 41

202

Kapitel 4 — Werkzeuge

Software Projektmanagement

Architektur Geoinformationssysteme (GIS)

Sozialwissenschaft

Bauingenieurwesen

3D-GIS Bauherr

Building Information Modeling (BIM)

BIM

Energietechnik

Computer-aided Design (CAD)

Gebäude

Quartier

Stadt/Region

Abb. 1

Abb. 4

Lichtdesigner Bauleitung

Abb. 2

3 Döllner 2007, S. 2ff. 4 ESRI 2009

Abb. 3

Facility Management

ist das Projekt »BIM-basierte integrale Planung« am KIT in Karlsruhe. Bei dem Projekt sollen normalisierte Schnittstellen zur Anbindung von Le­­ benszyklusanalyse-Werkzeugen an BIM-Mo­­delle entwickelt werden, um daraus automatisiert eine Ökobilanz (Life Cycle Assessment – LCA) berechnen zu können. Es ist denkbar, dass auch andere Nachhaltigkeitsanforderungen automatisch aus dem BIM-Modell simuliert und bewertet werden können. Auch gibt es auf Quartiersebene erste Ansatzpunkte für eine terminliche und wirtschaftliche Steuerung mithilfe digitaler Modelle. So kann beispielsweise der Bedarf an sozialer Infrastruktur und gefördertem Wohnungsbau anhand der städtebaulichen Dichte räumlich und zeitlich zugeordnet werden. Die Verknüpfung von Planungs-, Termin- und Wirtschaftlichkeitsdaten ist über Im- und Export möglich. Darstellungen sind dann in 2D und 3D verwendbar. Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Die BIM-Technologie ist für den Gebäudebereich konzipiert und für die Quartiersplanung nur begrenzt einsatzfähig. Zu hoffen ist, dass zukünftig auch für die Stadtplanung spezielle Softwarelösungen entwickelt werden, die die Vorzüge von BIM im entsprechenden Maßstab mit den Inhalten geografischer Informationssysteme (GIS) kombinieren.

Geografische Informations­ systeme (GIS) Geografische Informationssysteme (GIS) sind computerunterstütze Werkzeuge zur Erfassung,

Speicherung, Analyse und Visualisierung von raumbezogenen Daten. GIS bieten die Möglichkeit, digitale Karten wie Straßen-, Stadt- oder Wanderkarten mit verschiedenen Datensätzen wie Namen, Geometrie, Nutzung oder Bodenarten zu verbinden, zu verschneiden und zu analysieren. So können beispielsweise Kommunen Brachflächen verwalten, Unternehmen den idealen Standort für ein neues Logistikzentrum finden oder Forschungseinrichtungen den Zusammenhang von Flächenzerschneidung und Artenvielfalt analysieren. In der Stadtplanung gewinnen neben der flächenhaften Darstellung (2D) von Informationen die dritte Dimension (3D-GIS, 3D-Stadtmodelle) sowie die Nutzung von Open-Source-GIS und Online-GIS (z. B. Google Earth, Bing Maps) verstärkt an Bedeutung. 3D-Stadtmodelle gelten als Schlüssel, die täglich anfallenden immensen Datenmengen in einer Stadt für unterschiedlichste Zwecke nutzbar zu machen. So arbeiten Wissenschaftler der Universität Potsdam beispielsweise daran, komplexe Geodaten aus verschiedenen Quellen zu bündeln und aufgabenorientiert zu visualisieren.3 Zukünftig gilt es, solche komplexen 3D-Stadtmodelle und die darin enthaltenen Informationen handhabbarer und für den städtebaulichen Entwurf nutzbar zu machen. Unter dem Begriff »Geodesign« sollen geografische Informationen und aktives stadtplanerisches Gestalten zusammenfließen.4 Dies eröffnet dem Planer die Möglichkeit, die Auswirkungen verschiedener Planungsvarianten während des Entwurfsprozesses zu simulieren und den Entwurf entsprechend zu optimieren. Neben den klassischen planerischen Anwendungen ermöglicht GIS die strukturierte Übernahme und Erzeugung von Daten, die die zeitliche und wirtschaftliche Steuerung und Überwachung eines Gesamtprojekts aus Sicht des Entwicklers sicherstellt. Relevante vermarktungs- oder qua-

203

4.1 — Computerunterstützte Planungswerkzeuge

Abb. 5

Abb. 6

Abb. 7

litätsbezogene Informationen wie z. B. Zielgruppen, Verfahren, Preise, soziale Infrastrukturen sowie die zeitliche Abwicklung bilden dabei in Karten und im Reporting-System eine wichtige Entscheidungsgrundlage für Gremien und Politik. Über sogenannte GIS-Connectoren lassen sich die Schnittstellen zwischen Datenbanken abbilden. Managementbüros und Berater nutzen diese Funktion bereits zur transparenten Steuerung von städtebaulichen Entwicklungen.

Analyse räumlicher Strukturen, Planung von Großveranstaltungen, Verkehrswegebau, Optimierung von Trassenbau für Autobahnen oder Pipelines) Information, Kommunikation und Beteiligung (z. B. Präsentation von städtebaulichen Entwürfen, Solaratlas Berlin (Abb. 4), interaktive Landschaftsplanung,7 Visualisierung von Stadtentwicklung) Umwelt und Naturschutz (z. B. Naturschutzund Umweltinformationssysteme, Gefahrstoffatlas, Geoökologie) Sicherheitsmanagement, Katastrophenschutz (z. B. Evakuierungspläne, Hurrikanfrüherkennung)8 Forschung (z. B. Archäologie, Informationssysteme zur nachhaltigen Flächennutzung,9 Integration von Wissen in 3D-Stadtmodellen,10 Datenvisualisierung als emotionale Stadtkartierung, Bewegungsmuster im Stadtraum, Handykarten) Geomarketing/standortbezogene Dienste (z. B. ortsbezogene Werbung/Informationen, Ortung von Freunden mit dem Handy, mobile

Einsatzfelder: Aufgrund der universellen Einsatzmöglichkeiten hat sich GIS in vielen Bereichen etabliert, zu nennen sind hier z. B.: •• kommunale Verwaltung/Vermessung und Katasterwesen (z. B. Liegenschaften, Leitungsund Transportnetzwerke, Ver- und Entsorgung, Grünflächenplanung, Baustoffe, Vermessungswesen, E-Government-Portale)5 •• Stadt-, Regional-, Verkehrs-, Landschaftsplanung, Ingenieurbau (z. B. Umweltverträglichkeitsprüfung, detaillierte Geodaten, räumliche Entscheidungsunterstützungswerkzeuge,6

••

••

••

••

••

Abb. 1  computerunter­ stützte Werkzeuge und deren Anwendung Abb. 2  Vernetzung der ­Projektbeteiligten bei BIM Abb. 3  Software UrbanSim Abb. 4  Solaratlas Berlin, 3D-GIS-Anwendung Abb. 5  mit der Software Autodesk InfraWorks 2014 erstelltes 3D-Modell von San Francisco (US) Abb. 6  Software Community­ Viz Abb. 7  Plug-In Grasshop­ per – Generative Modeling for Rhino 3D

 5 Heins/Kirchner 2009, S. 1  6 Herzig 2007  7 Oppermann 2008, S. 1  8 Khemlani 2005  9 Flacke 2004 10 Falquet  /Métral 2005, S. 23

204

Kapitel 4 — Werkzeuge

Abb. 8  Software CityCAD Abb. 9 Kaisersrot-Projekt: automatisierte Modellierung und solare Optimierung des Gebäudes Grünhof, Zürich (CH) Abb. 8

CityCAD

Die parametrische Software CityCAD ermöglicht die ganzheitliche Analyse eines städtebaulichen Entwurfs in frühen Planungsphasen. Hierfür werden jedem Baustein des Quartiers wie Gebäude, Straßen, Wege oder Bäume spezifische Werte für Kosten, Energie- oder Wasserbedarf zugeordnet und diese visualisiert (Abb. 8). Der Planer kann somit direkt die Auswirkungen seiner Handlungen auf ausgewählte Indikatoren sehen und den Entwurf dahingehend optimieren. Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Auch wenn es sich bei den Ergebnissen von ­CityCAD nur um eine grobe Abschätzung handelt, bei der komplexere Zusammenhänge nicht berücksichtigt werden, stellt die Software eine interessante Lösung für den städtebaulichen Entwurf dar, denn sie füllt genau die Lücke zwischen BIM für den Gebäudebereich und GIS für die Stadt- und Regionalplanung.

Kaisersrot-Projekte

Potenzielle Einsatzfelder von parametrisierten ­Planungs- und Optimierungswerkzeugen zeigen die Projekte unter dem Begriff »Kaisersrot«, die von Ludger Hovestadt und seinem Team an der ETH Zürich durchgeführt wurden. Die Bandbreite der Projekte reicht von der Optimierung von Grundrissen im Hinblick auf natür­ liche Belichtung (Abb. 9) über die optimierte Anordnung von Messeständen und Tragkonstruktionen, virtuelle Baulandumlegung, Bürgerbeteiligung bis hin zur automatisierten Erzeugung erster städtebaulicher Entwürfe unter Berücksichtigung vorhandener Topografie, Nutzerwünschen und Bodenbeschaffenheit.

11 Randolph et al. 2010 12  Döllner 2007

Arbeitszeiterfassung) Forst- und Landwirtschaft Kriminologie (z. B. Verbrechenskarten) Luft- und Raumfahrt Tourismus und Immobilienmanagement Investorenberatung, Standortplanung, raumbezogene Marktanalysen, Wirtschaftsförderung •• terminliches und wirtschaftliches Projektcontrolling von Flächenentwicklungen (z. B. Bauabwicklungsstrategien, Vermarktungsplanung, Berichtswesen, Schnittstellen zu Wirtschaftsplanung) •• Navigation/Logistik (z. B. Optimierung der Routenplanung) •• Telekommunikation, Satellitenbild-Monitoring •• •• •• •• ••

Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Innerhalb der komplexen Thematik nachhaltiger Stadt- und Quartiersplanung sind GIS-Systeme mit ihren vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten ein wichtiges Werkzeug zur Analyse bestehender Strukturen und zur Planung neuer Quartiere. Das größte Potenzial steckt jedoch in der Weiterentwicklung von GIS hin zu einem Datenmodell auf Quartiersebene.

Parametrische Planungswerkzeuge Parametrische Planungswerkzeuge haben gegenüber CAD- oder GIS-Systemen den Vorteil, dass sich das 3D-Modell nach Parametrisierung aller

Abb. 9

entwurfsrelevanten Variablen automatisch an Veränderungen anpasst. Des Weiteren bieten parametrische Planungswerkzeuge in Verbindung mit modernen Simulationswerkzeugen die Möglichkeit, bestehende 3D-Modelle z. B. im Hinblick auf die Solarenergienutzung oder angepasst an Nutzungswünsche zu optimieren (Abb. 9). Darauf aufbauend wäre – ähnlich dem BIM-Modell für Gebäude – auf Quartiersebene ein Informationsmodell vorstellbar, das u. a. auch Daten zu Verkehrs-, Grün- und Freiflächen, Verkehr und sonstigen Infrastrukturen beinhaltet. Zwar gibt es unter der Bezeichnung CIM (City Information Modeling) Forschungsansätze, die GIS-Technologie mit zusätzlichen planungsrelevanten Informationen zu ergänzen (3D-GIS, GeoDesign), jedoch sind diese ersten Ansätze von einem Planungswerkzeug, wie es BIM für den Gebäudebereich darstellt, noch weit entfernt. CIM wurde im Rahmen des Urban-IT-Projekts an der australischen University of New South Wales11 sowie bei Untersuchungen des Hasso-PlattnerInstituts der Universität Potsdam zur Visualisierung komplexer 3D-Geodaten aus CAD-, BIM- und GIS-Systemen in einem 3D-Stadtmodell eingesetzt.12 Beispiele für Einsatzfelder von parametrisierten Entwurfswerkzeugen sind: •• Erstellung städtebaulicher 3D-Modelle nach bestimmten Regeln, wie sie u. a. in der Filmindustrie schon genutzt werden •• Visualisierung abstrakter städtebaulicher Gestaltungsregeln •• Optimierung von städtebaulichen Modellen, z. B. hinsichtlich der gegenseitigen Verschattung von Gebäuden oder der Flächennutzung •• Integration von Bürgerwünschen und deren Visualisierung

205

4.1 — Computerunterstützte Planungswerkzeuge

Tools/Software: Neben Programmen für den städtebaulichen Entwurf gibt es auch Software zur Programmierung spezifischer Lösungsansätze. Beispiele hierfür sind: •• CityCAD (www.holisticcity.co.uk) •• Modelur (www.modelur.com) •• CityEngine (www.esri.com/software/ cityengine) •• Rhino Grasshopper (www.grasshopper3d.com) •• Processing (www.processing.org) Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Auch wenn parametrische Planungswerkzeuge derzeit hauptsächlich im Bereich der Forschung und vereinzelt bei ambitionierten Architekturprojekten verwendet werden, stellen sie insbesondere in Kombination mit modernen Simulations­ werkzeugen eine vielversprechende Möglichkeit dar, städtebauliche Planungen unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu optimieren. Auch die Auswirkung einer Änderung baurechtlicher Regelungen wie z. B. der maximal zulässigen Geschossflächenzahl oder minimalen Abstandsflächen lässt sich in Form von 3D-Stadtmodellen einer breiten Öffentlichkeit verständlich erläutern.  SA

Projektmanagement-Software Die wichtigsten Einsatzfelder für Projekt­ma­nage­ ment (PM)-Software im Bereich Stadtentwicklung und Bauen sind große, komplexe und über einen längeren Zeitraum laufende Projekte. Neben der Kosten- und Terminüberwachung bietet PMSoftware die Möglichkeit, die Koordination und Dokumentation der Entscheidungen über alle Projektphasen hinweg zu begleiten – auch bei Änderung der Beteiligten. Zur Vermeidung von unklaren Verantwortungen, Kostensteigerungen und terminlichen Verzögerungen enthalten viele Anwendungen auch Mo­­ dule zur Prognose und Risikobewertung. Professionelle Softwareprogramme sind datenbank- und servergestützt und bieten damit klare Strukturen und Datensicherheit. Der Zugriff auf die Daten ist jederzeit möglich und kann projektbezogen mit Zugriffsrechten belegt werden. Die Systeme haben häufig eine Schnittstelle zu unternehmensbezogenen Systemen. Im Bereich Projektmanage-

ment werden u. a. folgende Programme eingesetzt: •• MS-Projekt (www.microsoft.com) •• Projekt-Kommunikations-Management – PKM (www.conclude.com) •• Oracle-Primavera (www.oracle.com) Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Die Anforderungen von Quartiersentwicklungen und Stadtentwicklungsprojekten sind je nach Projektträger und Größe ganz unterschiedlich. Projektentwickler, die neben der Quartiersentwicklung auch den Hochbau betreuen, müssen übergreifend alle Gewerke über einen langen Zeitraum koordinieren, steuern und überwachen. Eine professionelle Software erleichtert dabei eine lückenlose Dokumentation. Neben der eigentlichen Bauaufgabe unterstützen über­ geordnete Planungsabläufe die infrastruktu­ rellen Voraussetzungen sowie die Erfüllung der städtebaulichen und baurechtlichen Anforderungen. Die Anzahl der Schnittstellen mit den einzubeziehenden Planern und Behörden verändert sich daher laufend in den einzelnen Pro­jektphasen. In allen Fällen dienen die Software-Tools der Risikosteuerung und -minimierung im Hinblick auf wirtschaftliche, rechtliche und zeitliche Ziele. Eine umfassende Projektanalyse und eine klare Projektorganisation sind die Basis für die Auswahl der erforderlichen Instrumente.  MA

Zusammen­ fassung Auf Ebene des Quartiers stehen dem Planer deutlich weniger Softwarelösungen zur Verfügung als im Gebäudebereich oder dem Bereich der Stadtund Regionalplanung. Von diesen Programmen sind die einen zu detailliert und die anderen zu ungenau, als dass sie für die Planung von Quartieren eingesetzt werden könnten. Wünschenswert wäre eine Weiterentwicklung von Werkzeugen für die Handlungsebene des Quartiers. Insbesondere die BIM- und die parametrischen Werkzeuge stellen eine vielversprechende Technologie dar, die es Experten aus unterschiedlichen Bereichen ermöglicht, gleichzeitig an einem 3D-Modell ­integral zusammenzuarbeiten und somit zeit- und kostensparend zu durchdachten und nachhaltigen Lösungen zu gelangen.  SA

Weitere ­Informationen

•  Eastman, Chuck et al.: BIM Handbook. A Guide to Building Information Modeling for Owners, Managers, Designers, Engineers and Contractors. Hoboken, NJ 2011 •  Garber, Richard (Hrsg.): Closing the Gap. Information Models in Contemporary Design Practice. Architectural Design. New York 2009 •  Krygiel, Eddy, Nics Bradley: Green BIM. Successful Sustainable Design with Building Information Modeling. Chichester 2008 •  Eisenberg, Bernd; Brombach, Karoline: Geoinformationssysteme in der Stadt- und Landschaftsplanung. In: Lehrbausteine Städtebau. Basiswissen für Entwurf und Planung. Hrsg. von Bott, Helmut; Jessen, Johann; Pesch, Franz. Städtebau-Institut Stuttgart, 2010, S. 353–366 •  Höffken, Stefan: Google Earth in der Stadtplanung. Die Anwendungsmöglichkeiten von Virtual Globes in der Stadtplanung am Beispiel von Google Earth. Institut für Stadt- und Regionalplanung, TU Berlin, 2009 •  Wilson, John Peter: The Handbook of Geographic Information Science. Malden, MA 2008 •  Liebchen, Jens H.: Bau-Projekt-Management Grundlagen und Vorgehensweisen. Wiesbaden 2010 • www.entwurfsforschung.de • www.kaisersrot.com

206

Kapitel 4 — Werkzeuge

4.2

Simulation Ste p han Anders, Jürgen Baumüller, Sigrid Busch, Gre gor C . Gra s s l, Jürgen Laukemper, Antonel la Sgobba, Bas t ian Witts tock

S 1 Ehorn-Kluttig et al. 2011

imulation bedeutet die modell­ unterstützte Nachahmung von Vorgängen aus der Wirklich­ keit. Die Qualität des Simula­ tionsergebnisses hängt stark von dem zugrunde liegenden Modell ab (Abb. 2). Dabei gilt nicht zwangsläufig, dass kom­ plexere Modelle bessere Ergebnisse liefern, son­ dern es kommt vielmehr auf die richtige Auswahl der system­relevanten Parameter und die Kali­ brierung des Systems an. Bei der Beschreibung komplexer Systeme steigt die für die Simulation benötigte Rechenleistung exponentiell, je komplexer das Modell ist. Daher beschränken sich die meisten Modelle darauf, nur einen Teilaspekt der realen Welt (Energie, Verkehr, Lärm, Stadtklima etc.) zu simulieren. Zwar gibt es für den Gebäudebereich erste Softwarelösun­ gen, die verschiedene Aspekte parallel simulieren, jedoch sind diese für die Ebene des Quartiers nur begrenzt einsatzfähig. Für die Planung von nachhaltigen Quartieren ist je nach Fragestellung ein passendes Simulations­ werkzeug auszuwählen, das schnell zu zuverläs­ sigen Ergebnissen führt und somit effektiv im jeweiligen Planungsprozess verwendet werden kann (Abb. 1).  SA

Energiesimulation Für die energetische Optimierung von Städten und Quartieren stehen verschiedene Simulati­ onstools zur Verfügung, sowohl im Neubau als auch bei der Sanierung. Die am Markt erhältli­ chen Programme zur Energiesimulation werden der Komplexität des Themas jedoch kaum voll­ umfänglich gerecht. Diese gehen meist nur sehr

selektiv auf einzelne energetische Belange ein wie den Wärmebedarf der Gebäude (Abb. 3), die passiven und aktiven solaren Gewinne oder eine Netz- oder Anlagensimulation.1 In der Planung werden folglich meist verschiedene Programme kombiniert oder Expertenprogramme aus der Forschung angewendet. Folgende drei Punkte sind immer vorab zu klären: •• Umfänglichkeit der betrachteten Energie­ ströme •• Grenzen des energetischen Wirkungskom­ plexes •• Tiefe der Simulation Im ersten Schritt ist die Frage zu beantworten, welche Energieströme im Quartier betrachtet werden sollen. Häufig wird hier zwischen Wärme-, Kälte- und Strombedarf unterschieden, die jeweils je nach Gebietstyp im Detail definiert werden soll­ ten. In Industriegebieten kann es beispielsweise produktionsabhängigen Prozesskältebedarf geben. Strombedarf gewinnt zunehmend an Bedeutung, weshalb genau festzulegen ist, ob beispielsweise E-Mobilität, Infrastruktureinrichtungen oder die Straßenbeleuchtung berücksichtigt sind. Im nächsten Schritt ist der Wirkungskomplex der Quartierssimulation, also die drei Parameter Erzeugung, Verteilung und Verbrauch bzw. Bedarf, räumlich zu fassen. Der Bedarf bezieht sich stets auf die genaue Quartiersabgrenzung, während bei der Erzeugung durchaus auch externe Anlagen wie ein außerhalb des Quartiers errichtetes Windrad, das in direktem Zusammenhang mit dem Projekt steht, einberechnet werden. Die Netz­simulation ist eng mit dem voraussichtlichen Betreiber abzustim­ men. Während ein eigenes Nahwärmenetz noch verhältnismäßig einfach zu simulieren ist, können beim Anschluss an ein großes, übergeordnetes Netz zahlreiche externe Rahmenbedingungen relevant werden, die unter Umständen nur eine vereinfachte Betrachtung zulassen.

207

4.2 — Simulation

integrale Simulation LEGEP, ECOTECT Analysis, TAS Energiesimulation TRNSYS, EnergyPlus

SolCity, GOSOL

ECORegion, MESAP PlaNet, TIMES LOKAL, PERSEUS, POLIS, deeco

Ökobilanz SimaPro, SBS, GaBi, BASIS, GEMIS, KEApolis, LEGEP, eLCA

Materialflussanalyse UMBERTO, GaBi

Fußgängersimulation PTV Viswalk

Verkehrssimulation PTV VISSIM, IRPUD, MATSim, Aimsun, Corsim

Lärmsimulation EASE

SoundPlan, CadnaA

Mikroklima CFD Simulation, Fluidyn PANAIR, MISKAM

IMMI, FLULA

Stadtklima ENVImet, ­MetPhoMod

räumliche Zusammenhänge UCL Deothmap, depthmapX, AJAX, Confeego Gebäude

Quartier

Stadt /Region

Abb. 1

Im letzten Schritt ist die Tiefe der Simulation abzustimmen. Zwingend erforderlich sind dazu einerseits ein städtebauliches Modell und ande­ rerseits zahlreiche Rahmenparameter, meist in Form von über ein Jahr hinweg stündlich erho­ benen Messdaten. Das Modell sollte dabei die Kubatur der Gebäude, die Geländetopografie sowie die Straßen und die Landschaftsgestaltung beinhalten. Die Rahmenparameter müssen zumindest aus Wetterdatensätzen und den rele­ vanten Gebäudekennwerten bestehen. Nutzer­ profile zeigen die energetischen Auswirkungen der Gewohnheiten von Personengruppen (z. B. Zeiten der Anwesenheit). Ebenso aufschlussreich können Verkehrsdaten oder Produktionsprozess­ daten sein. Weder die für eine gesamtenergetische Quar­ tiersbetrachtung notwendige Tiefe der Simula­ tion noch die Umfänglichkeit der betrachteten Energieströme werden bisher durch eine etab­ lierte Software abgebildet. Daher sind umfang­ reiche energetische Simulationen einer Quar­ tiersentwicklung aktuell meist Kombinationen aus verschiedenen Software-Tools. Wichtig ist hierzu eine genaue Zielformulierung. Eine echte Simulation muss möglichst detailliert (stündlich gemessen) die zugrunde gelegten Rahmenpara­ meter (z. B. Außentemperatur) mit der relevanten Geometrie (z. B. Gebäude mit Fenstern) und dem entsprechenden physikalischen Verhalten (z. B. Wärmeverluste durch die Wand und Wärmeein­ trag durch solare Strahlung, Wärmespeicherung durch Bauelemente etc.) als Datensätze oder Kurven über meist ein Jahr hinweg abbilden. Sobald einer der drei Punkte – Rahmenparame­ ter, Geometrie oder physikalische Eigenschaft – nicht in dieser Genauigkeit berechnet wird, spricht man von einer vereinfachten Simulation (z. B. Nahwärmenetzsimulation über Länge ohne genaue Geometrie). Wird ein weiterer Wert nur über eine Kenngröße abgebildet, handelt es sich

Abb. 1 Simulationswerk­ zeuge geordnet nach ihrem Einsatzfeld Abb. 2  vom realen System zum Modell als Grundlage für die Simulation und anschließende Bewertung Abb. 3  Software GOSOL zur Simulation des Heizwärmebedarfs von Siedlungen

um eine stark vereinfachte Simulation. Werden alle drei Punkte nur über Kennwerte aggregiert (z. B. angenommene Netzverluste pauschal mit 5 % Abschlag pro Kilometer Netzlänge), so ist darauf hinzuweisen, dass dieser Punkt (Netzverluste) in der energetischen Quartierssimulation nur über ein Kennwertverfahren ohne Simulation Berücksichtigung findet. Eine energetische Quartierssimulation sollte früh­ zeitig und an der individuellen Projektanforde­ rung orientiert durchgeführt werden. Umfang, Wirkungskomplex und Tiefe der Simulation sind vor der Durchführung genau abzustimmen, da es hier noch keine anerkannten Standards gibt. Die Simulation berücksichtigt die individuelle Projektgeometrie, die standortbezogenen Pro­ jektrahmendaten und die genaue Physik der ver­ wendeten Bauelemente. Detaillierte Klima- und Wetterdaten sind inzwischen ebenso Standard wie computergestützte städtebauliche Modelle in 3D, sodass eine Simulation heute mit angemessenem Aufwand zu hohem Erkenntnisgewinn führen kann.  GCG

reales System Abstraktion

Modell

Berechnung Optimierung

Bewertung Abb. 2

Materialfluss­ analyse und ­Ökobilanz Erprobte methodische Analysen bilden die Basis für die Anwendung von Simulationswerkzeugen bei der Quartiersplanung. Einen methodischen Ansatz zum Aufzeigen von Stoffströmen bietet die Materialflussanalyse (Material Flow Analysis – MFA), ein Verfahren zur Untersuchung und Dar­ stellung von Materialbewegungen innerhalb Abb. 3

Analyse

Simulation

208

Kapitel 4 — Werkzeuge

Anforderungen

Design/Entwicklung

Abfälle/ Emissionen

Rohstoffe

Abfälle / Emissionen Recycling

Sekundärrohstoffe Herstellung

Wiederverwertung/ Recycling

Produkte Rohstoffe AltProdukte

Rohstoffe

Abfälle Sammlung

recycelte Produkte

Rohstoffe

Abfälle/ Emissionen

Abfälle / Emissionen

Rohstoffe Sammlung/Sortierung

Nutzungsphase / Bedarfsdeckung Abfälle

Rohstoffe

Abfallbehandlung

Rohstoffe

Abfälle

Deponie/ Entsorgung Rohstoffe

Emissionen

Abb. 4

2 Ilg/Lindner 2011 3 Brunner 2003 4 Schmidt-Bleek 1994 5 DIN EN 15 978 6 DIN EN ISO 14 040 7 BMVBS 2013 8 Ebert 2010 9 Europäische Kommission: Single Market for Green Products Initiative. Generaldirektion Umwelt der Europäischen Kommission. http://ec.europa.eu/ environment/eussd/smgp/ index.htm (Stand: 01.02.2018)

einer Wertschöpfungskette. In der Regel wird dabei ein einzelnes Material betrachtet und alle Beziehungen zwischen Anbietern, Abnehmern, verarbeitenden Stellen und Depots berücksichtigt (Abb. 4).2 Eng mit der Materialflussanalyse ver­ wandte Methoden, mit denen die Bewegung unterschiedlicher Stoffströme untersucht und beschrieben werden können,3 sind z. B. die Stoff­ stromanalyse einzelner Substanzen bzw. chemi­ scher Elemente (Substance Flow Analysis – SFA) oder die Materialintensität pro Serviceeinheit (MIPS).4 Die Methode der Ökobilanz (Life Cycle Assess­ ment – LCA) analysiert die ökologischen Konse­ quenzen eines Produktlebenszyklus anhand von Stoff- und Energieströmen (siehe Handlungsfeld Stoffströme, S. 108ff.). So führt z. B. der Einsatz von Energie aus fossilen Quellen zu Emissio­ nen, die verschiedene ökologische Auswirkun­ gen ha­ben (z. B. Treibhauseffekt, Bildung von bodennahem Ozon, Versauerung von Böden, Überdüngung von Oberflächengewässern etc.). Diese Emissionen werden dabei immer auf das betrachtete Produkt bzw. eine Funktionserfüllung bezogen.5 Die Ökobilanz dient der Entscheidungsunter­ stützung, z.B. durch den ökologischen Vergleich zweier funktional gleicher Produkte oder mit dem Aufzeigen ökologischer Schwachstellen in einem Produktlebenszyklus.6 Einsatzfelder: Sowohl die Materialflussanalyse als auch die Ökobilanz werden in zahlreichen Branchen – in unterschiedlichem Umfang – eingesetzt. Die MFA dient dazu herauszufinden, wie sich eine bestimmte Ressource beispielsweise im Stadt­ raum verteilt, wodurch z. B. Ressourcenknappheit und Entwicklungstendenzen aufgezeigt wer­ den können. Die Ökobilanz hingegen stellt die Umweltwirkungen eines gesamten Prozesses

dar, wodurch sich Aussagen darüber treffen las­ sen, welche Materialien oder Prozessschritte in welchem Umfang zu einer Umweltwirkung (z. B. Treibhauspotenzial) beitragen. Im Bauwesen ist die Ökobilanz von Bauproduk­ ten und von Gebäuden gut eingeführte Praxis – insbesondere zur Erstellung von Umweltprodukt­ deklarationen für Bauprodukte (Environmental Product Declaration – EPD)7 und zur Zertifizie­ rung nachhaltiger Gebäude.8 Auch die Europäi­ sche Bauprodukteverordnung (EU-BauPVO), die 2013 als Grundlage für die Inverkehrbringung von Bauprodukten im europäischen Binnenmarkt eingeführt wurde, verweist auf die Umweltpro­ duktdeklaration als Instrument für die CE-Kenn­ zeichnung von Bauprodukten. Als Konsequenz daraus werden harmonisierte europäische Pro­ duktnormen im Zuge ihrer turnusmäßigen Über­ arbeitung um Vorgaben zur Erstellung von Öko­ bilanz-Berechnungen erweitert. Darüber hinaus wird die Ökobilanz zunehmend ein Instrument, das im Rahmen verschiedener Kreislaufwirt­ schafts-Initiativen Verwendung findet, z. B. basiert die Initiative Product Environmental Footprint (PEF) der Europäischen Kommission auf der Ökobilanz-Methode. Im Rahmen der »Single Market for Green Products Initiative« der Europäischen Kommission werden hier stan­ dardisierte Regeln, Daten und Instrumente ent­ wickelt, mit denen eine ökobilanzbasierte Bewer­ tung sämtlicher Konsumgüter auf dem europäi­ schen Markt ermöglicht werden soll.9 Tools/Software Materialflussanalyse (MFA): •• UMBERTO (www.umberto.de) •• GaBi (www.gabi-software.com) Tools/Software Ökobilanz: •• GaBi •• SimaPro (www.simapro.de) •• SBS (www.sbs-onlinetool.com; nur für Kon­ struktionen und Gebäude) •• LEGEP (www.legep.de; nur für Gebäude) •• eLCA (www.bauteileditor.de, nur für Ge­ bäude) Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Aufgrund der zahlreichen Branchen, die in die Quartiersplanung involviert sind und der Vielzahl von Werkzeugen und Simulationen, die je nach Anwendungsbereich spezifische Anforderungen erfüllen müssen, besteht eine große Herausfor­ derung darin, allgemein anwendbare Modelle zur Verfügung zu stellen. Für eine Einschätzung und Bewertung von Quartieren werden zukünf­ tig ­verstärkt Simulationsmodelle bzw. -werkzeuge

209

4.2 — Simulation

benötigt, die valide Vorhersagen ermöglichen und planerische Unterstützung bei komplexen The­ mengebieten leisten. Die Ressourcenversorgung von Quartieren bzw. die Darstellung dieser Material- und Stoffströme wird zukünftig von entscheidender Bedeutung für Quartiersplanungen sein. Vor dem Hintergrund der Klimaschutzstrategien der Bundesregierung und der Europäischen Union wird die Ökobilanz für die Bewertung der einzelnen Quartiersfunk­ tionen an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig wird die Darstellung und Bewertung von Material- und Stoffströmen sich zu einer Grundlage entwickeln, mit der Ressourcenschutzstrategien qualifiziert verfolgt werden können. Der Einsatz von MFA und LCA in der Stadtquar­ tiersplanung ist heute – abseits erster Mechanis­ men im Rahmen von Quartierszertifizierungen – noch keine gängige Praxis. Er kann jedoch bereits heute maßgeblich dazu beitragen, die ökologische Qualität sowie die Situation hinsichtlich Ressour­ ceneinsatz und -verbleib transparent darzustellen. Mit der weiteren Entwicklung von Instrumenten und Tools speziell für die Quartiersplanung kön­ nen jedoch auch künftig leichter anwendbare Lösungen erwartet werden.  BW

Verkehrs­ simulation Für die Planung und Entwicklung von größeren Quartieren ist der Einsatz von Verkehrssimulati­ onsprogrammen unumgänglich. Diese benötigen folgende Informationen: •• eine Quelle-Ziel-Matrix mit einer genauen Nutzungsbeschreibung, wobei sich das zu erwartende Verkehrsaufkommen für Wohn­ gebiete deutlich besser abschätzen lässt als z. B. für Gewerbeflächen (Lieferverkehr und Art der Produktion lässt sich nur bedingt vor­ hersagen) •• die Verkehrsnetze der einzelnen Verkehrsmit­ tel •• Lage und Größe des Parkraums •• bei bestehenden Gebieten die aktuell bevor­ zugten Verkehrsmittel •• prognostizierte Angebote ÖPNV Die Simulationen zeigen: •• die Verkehrsmittelwahl, also die Aufteilung zwischen den einzelnen Verkehrsträgern

(Modal Split); Steuerung des Modal Splits erfolgt durch Parkraumdruck •• das Angebot von Fahrwegen (Schienen, Spur­ anzahl, Radwege, Ampelsteuerungen) und die Gestaltung von Angeboten ÖPNV (Menge, Takt) •• die Verkehrsbelastung auf einzelnen Verkehrs­ wegen (Routenwahl) pro Tag oder in der Spit­ zenstunde •• die Verteilung des Verkehrs über ein bestimm­ tes Gebiet Ungenauigkeiten bestehen vor allem in der Pro­ gnose der Entwicklung eines neuen Quartiers. Daher muss mit Varianten gearbeitet werden, um unterschiedliche Auswirkungen ermitteln zu könz­ zelner Verkehrsträger zu reagieren (z. B. wenn der Ausbau von zweispurigen auf vierspurige Straßen erforderlich ist oder falls die Verkehrsprognose für den ÖPNV im Grenzbereich der Wirtschaft­ lichkeit von Busverkehr zu schienengebundenem Verkehr liegt). Tools/Software für Verkehrssimulation: •• MATSim (Multi-Agent Transport Simulation) •• VISSIM (Multimodale Verkehrssimulation) •• Aimsun •• Corsim Aktuelle Simulationsprogramme können nur bedingt Rahmenbedingungen abbilden, z. B. die Änderung des Verkehrsverhaltens durch Verkehrsleitsysteme in Echtzeit, die den Übergang zwischen den Verkehrsmitteln erleichtern. In Zukunft sollen aber auch weitere Systeme wie Carsharing und car2go oder Leitsysteme in Echt­ zeit angemessen berücksichtigt werden können, auch wenn deren mengenmäßige Relevanz heute im Vergleich zu den anderen Parametern von untergeordneter Bedeutung ist. Auch verkehrsregulierende Maßnahmen, vor allem im Bereich des Individualverkehrs, lassen sich mit Verkehrssimulationsprogrammen über­ prüfen. Die Auswirkungen neu geplanter Ampeln, die Berücksichtigung von Verkehrsbeschränkun­ gen, z. B. Durchfahrtsverboten oder Geschwin­ digkeitsbeschränkungen, sowie unterschiedliche Parkraumangebote können simuliert werden. Durch die Simulation zeigt sich, wie sich der Ver­ kehr, z. B. wenn keine Kategorisierung der Straßen erfolgt, auch über andere Bereiche, die vom Durchgangsverkehr freibleiben sollten, verteilt. Maßnahmen und Auswirkungen können somit im Rahmen der Quartiersplanung sinnvoll über­ prüft werden.  JL

Abb. 4  Stoffstromanalyse zur Darstellung der Zusammenhänge im Lebenszyklus eines Produkts Abb. 5  multimodale Verkehrssimulation mit der Software VISSIM

Abb. 5

210

Kapitel 4 — Werkzeuge

Abb. 6

Software

Anwendungsbereich Lärmsimulation

Anwendungsbereich Ausbreitung von Luftschadstoffen

SoundPlan

• Industrie- und Gewerbelärm • Straßenverkehrslärm • Schienenverkehrslärm • Fluglärmberechnung

Softwaremodul »SoundPlan Luft«

CadnaA

•  Industrie- und Gewerbelärm • Straßenverkehrslärm • Schienenverkehrslärm • Fluglärmberechnung (über ­Zusatzmodul »Option FLG«)

Zusatzmodul »Option APL«

IMMI

•  Industrie- und Gewerbelärm • Straßenverkehrslärm • Schienenverkehrslärm • Fluglärmberechnung (über ­Zusatzmodul »IMMI-Fluglärm«)

Zusatzmodul »IMMI Luftschadstoffe«

FLULA 2

nur Fluglärmberechnung

Abb. 7

Lärmsimulation Seit etwa Mitte der 1980er-Jahre sind verschiedene digitale Werkzeuge auf dem Markt, die es den Benutzern ermöglichen, anhand von vorhandenen Datengrundlagen die Ausbreitung, Reflexion und Absorption von Schall für bestimmte Lärmquellen zu berechnen, zu analysieren und darzustellen. Somit lassen sich Entwürfe – auch im Rahmen der Bauleitplanung – hinsichtlich Lärmemissionen und -immissionen optimieren. Die Simulations­ ergebnisse sind in unterschiedlichen Maßstäben von der Stadt bis hin zum Gebäude darstellbar, z. B. in Lärmkarten nach EU-Umgebungsrichtlinie. Beispiele für Lärmsimulationssoftware sind in Abb. 7 dargestellt. Einige der Softwarelösungen eignen sich zur Lärmkartierung nach EU-Direktive 2002/49/EG und bilden damit eine wichtige Grundlage zur Maßnahmenplanung im Bereich Lärmschutz. Weiterhin können die Programme im städtebaulichen Entwurfsprozess sowohl zur Optimierung von Gebäudestellungen als auch zur Verbesserung des Lärmschutzes durch aktive Lärmschutzmaßnahmen wie Lärmschutzwälle und -wände beitragen und gegebenenfalls Aus­ sagen zu notwendigen passiven Schutzmaßnah­ men treffen (siehe Handlungsfeld Emissionen, S. 146ff.).

Abb. 8

10 Helbig et al. 1999

Die Lärmsimulation basiert auf einem digitalen Modell einer Stadt oder eines Stadtquartiers, das in das jeweilige Programm importiert oder direkt in dem Programm erzeugt werden kann. Den Elementen dieses Modells müssen anschließend die vorab bekannten Emissionsdaten zugewiesen sein: •• Verkehrsaufkommen auf den Straßen (durch­ schnittlicher täglicher Verkehr – DTV)/LkwAnteil/zulässige Höchstgeschwindigkeit/

Fahrbahnoberfläche •• Schienenverkehrsaufkommen (Anzahl der Züge/Zugklasse und Zuggattung) Weiterhin besteht die Möglichkeit, Emissions­ daten von Gewerbegebieten, Sportanlagen oder Parkplätzen einzugeben. Auf Grundlage dieser Daten lassen sich Lärmkarten generieren, die auf einer Interpolation der Schallpegel an Be­ rechnungspunkten eines vordefinierten Rasters beruhen. Auf Gebäudeebene können zusätzlich Immissionspunkte platziert werden, die detailliert den Lärmeintrag an einem bestimmten Punkt, z. B. der Fassade, wiedergeben. Jede Veränderung der Planung oder jede Einbringung von aktiven Lärmschutzmaßnahmen kann demnach sowohl großräumig in der Lärmkartierung als auch im Detail am Immissionspunkt hinsichtlich ihrer Wirkung visualisiert und überprüft werden (Abb. 6 und 8).  AS, SB

Stadtklima­ simulation Bei der Simulation des Stadtklimas ist es notwen­ dig, das spezielle Oberflächenklima der Stadt zu modellieren.10 Dazu werden die Speichermasse, die Strahlungsbilanz, die anthropogene Wärme­ produktion und die Rauigkeit der Stadtstrukturen simuliert. Grundsätzlich unterscheidet man je nach Auflösung zwischen meso- und mikroskali­ gen Modellen. Während bei mesoskaligen Model­ len z. B. einzelne Häuser nicht im Detail betrach­ tet, sondern nur Siedlungsstrukturen mit ihren typischen Eigenschaften parametrisiert werden, sind bei mikroskaligen Modellen Details der Bebauungsstrukturen notwendig.

211

4.2 — Simulation

Abb. 9

Wichtige Grundlagen für mesoskalige Modelle sind digitale Höhenmodelle und die Bodennut­ zung. Die Ergebnisse werden zunehmend mit Geografischen Informationssystemen (GIS, siehe S. 202f.) weiterverarbeitet. Wesentliche Ergebnisse sind gesamtstädtische Karten mit einer Auflösung von ca. 50 m für die Lufttemperatur, die Windge­ schwindigkeit, Kaltluftflüsse, bioklimatische Belastungen, Luftbelastung, synthetische Wind­ rosen etc. Durch die Modellierung lassen sich auch Aussagen über zukünftige Entwicklungen treffen, was im Zeichen der Klimaanpassung der Städte an den Klimawandel eine wichtige Rolle spielt.11 Häufig werden die Ergebnisse in Klimaatlanten oder Klimaanalysekarten zusammengefasst und Planungshinweiskarten entwickelt. Die zur Ver­ fügung stehenden Modelle lassen sich auf unter­ schiedlichste städtebauliche und planerische Fragestellungen anwenden. Bei mikroskaligen Modellen mit Auflösungen im Meterbereich (Abb. 10) ist es notwendig, mit prognostischen Ansätzen zu arbeiten (im Ge­­ gensatz zu diagnostischen mesoskaligen Model­ len). Hierzu müssen komplexe Bewegungsglei­ chungen (Navier-Stokes-Gleichungen) gelöst werden, was bei hoher Auflösung lange Rechen­ zeiten verursacht. Damit ist die räumliche Aus­ dehnung dieser Modelle zwar begrenzt, jedoch spielen sie für die Quartiersplanung eine wichtige Rolle.  JB

Space-SyntaxMethode Bei Space Syntax handelt es sich um eine Metho­ ­de zur Analyse räumlicher Zusammenhänge.

Diese können sein: Erreichbarkeit bzw. Zentra­ lität von Straßen, Bewegungsmuster im Stadt­ raum, Integration oder Separation von Stadt­ räumen, Einsehbarkeit von Räumen, Größe von Baufeldern etc. Die Methode wurde in den 1970er-Jahren von Bill Hillier und Julienne Hanson am Bartlett University College (UCL) in London entwickelt und wird seither weltweit für räumliche Fragestellungen auf Ebene des ein­ zelnen Ge­­bäudes über die Stadt bis hin zur Nation verwendet. Space Syntax kann, im Vergleich zu anderen Simulationen, mit geringem Aufwand durch­geführt werden, setzt kein tiefergehendes Ex­­pertenwissen voraus, benötigt keine großen Rechenkapazitäten und ist kostenlos erhältlich. Das macht diese Methode attraktiv für viele Soft­ wareanwendungen. Einsatzfelder: Mit der Space-Syntax-Methode können urbane Plätze analysiert und Besucherströme simuliert werden, um die am stärksten frequentierten Punkte zu ermitteln und daraus Rückschlüsse für die Planung abzuleiten. Des Weiteren ist es mög­ lich, nach Analyse des Wegenetzes einer Stadt darzustellen, welche Punkte besonders gut von anderen aus erreichbar sind (Abb. 9). So lassen sich z. B. attraktive und gut besuchte Standorte für den Einzelhandel finden. Mit Space Syntax lässt sich zudem analysieren, welche Wandflächen von anderen Standpunkten innerhalb eines Gebäudes oder Quartiers besonders gut sichtbar sind. Dies kann als Grundlage für ein Beschilde­ rungskonzept oder Werbung dienen. Bei folgenden Programmen kommt Space Syntax zum Einsatz: •• UCL Depthmap (Original) •• depthmapX •• AJAX •• Confeego (PlugIn für MapInfo Professional GIS)

Abb. 6  Lärmkarte Straßenverkehr mit gewichtetem Tag-Abend-Nacht-Pegel über 24 Stunden für Stuttgart (DE) Abb. 7  Beispiele für Lärm­ simulations-Software Abb. 8  Lärmsimulation für einen studentischen Quartiersentwurf mit der Software CadnaA Abb. 9  Analyse von Erreichbarkeiten mittels Space ­Syntax, München (DE) Abb. 10  mikroskalige Stadt­ klimauntersuchung mit der Software EnviMet für Frankfurt am Main (DE)

Abb. 10

11 VRS 2008

212

Kapitel 4 — Werkzeuge

Zuhause

Starklast

laden [%]

Zuhause

Arbeitsplatz

Schwachlast laden

Starklast

Schwachlast

Kfz liefert Energie ins Netz

Schwachlast

laden

laden

100 80 60 40 20 23:15

22:30

21:45

21:00

20:15

19:30

18:45

18:00

17:15

16:30

15:45

15:00

14:15

13:30

12:45

12:00

11:15

10:30

9:45

9:00

8:15

7:30

6:45

6:00

5:15

4:30

3:45

3:00

2:15

1:30

0:00 0:45

0

Abb. 11

Weitere Informationen

•  Beckenbach, Frank; Urban, Arnd I. (Hrsg.): Methoden der Stoffstromanalyse. Konzepte, ­agentenbasierte Modellierung und Ökobilanz. ­Marburg 2011 •  Katzschner, Lutz; Campe, Sabrina; Kupski, Sebastian: Innenraumentwicklung in Frankfurt am Main unter Berücksichtigung stadtklimatischer Effekte. Maßnahmen zur Minderung der Wärme­ belastung in verdichteten Räumen. Fachbereich Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung, Universität Kassel, 2011 •  Klöpffer, Walter; Grahl, Birgit: Ökobilanz (LCA). Ein Leitfaden für Ausbildung und Beruf. Weinheim 2009 •  Schnabel, Werner; Lohse, Dieter: Grundlagen der Straßenverkehrstechnik und Verkehrsplanung. Bd. 2: Verkehrsplanung. Berlin 1997 •  Steierwald, Gerd; Künne, Hans-D.; Vogt, Walter: Stadtverkehrsplanung. Grundlagen – Methoden – Ziele. Heidelberg 2005 •  VDI-Richtlinie 3787, Blatt 2: Umweltmeteoro­ logie. Methoden zur human-biometeorologi­ schen Bewertung von Klima und Lufthygiene für die Stadt- und Regionalplanung. Teil I: Klima • www.staedtebauliche-klimafibel.de • www.citygml.org

Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Auch wenn die Methode in der wissenschaftlichen Diskussion aufgrund der starken Vereinfachung komplexer Zusammenhänge nicht unumstritten ist, kann sie einen wichtigen Beitrag dazu leis­ ten, Städte und Quartiere nachhaltiger zu planen, insbesondere in frühen Planungsphasen, wenn andere Simulationswerkzeuge aufgrund unzu­ reichender Daten nicht anwendbar oder schlicht zu aufwendig sind. Da jedoch bei der Simulation viele Faktoren vernachlässigt werden, ist es erfor­ derlich, die Ergebnisse von Space Syntax kritisch zu prüfen und zu diskutieren.  SA

Integrale ­Simu­lation Um der Komplexität nachhaltiger Quartierspla­ nung gerecht zu werden, bedarf es in der Zukunft vermehrt integraler Simulationswerkzeuge. Damit können u. a. Wechselwirkungen zwischen Gebäu­ den wie gegenseitige Verschattung oder Leitungs­ verluste im Stromnetz bei großen Entfernungen, aber auch die technische Ver- und Entsorgungs­ infrastruktur ganzheitlich analysiert werden. Einseitig auf solare Optimierung hin ausgerichtete Simulationstools für Quartiere führen zu eher umstrittenen, monotonen städtebaulichen Aus­ prägungen wie z. B. rein südorientierte kompakte Zeilenbauten. Tools/Software: Die Produktentwicklung eines integralen 3D-Simulationsmodells, das alle wesentlichen Bereiche wie Energie, Mobilität, Stoffflüsse, Lärm

und Stadtklima vereint, steht noch am Anfang und ist vergleichbar mit aus dem Gebäudebereich bekannten BIM-Modellen. Aus der Vielfalt der Planungsaufgaben im Quartier resultiert ein ent­ sprechender Bedarf an Funktionalitäten. Ein zukunftsweisendes Simulationswerkzeug sollte die folgenden vier Grundvoraussetzungen erfül­ len: •• Sustainability (Nachhaltigkeit), also ganzheit­ liche, integrale Themenbetrachtung in Bezug auf Energie, Wasser, Verkehr etc. •• City (Stadt), d. h. räumliche Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gebäuden •• Information im Detail mit konkretem Orts­ bezug (z. B. Klimadatensätze, U-Werte für Bauteile, Verkehrsaufkommen etc.) •• Model (Modell) in 3D mit konkreter städte­ baulicher Planung Werkzeuge, die diese Anforderungen erfüllen, werden daraus abgeleitet SCIM-Tools genannt. Durch den Umbau der Energieinfrastruktur gewinnt das Thema Strombedarf an Bedeutung und es zeigt sich, dass bisherige Energiesimulati­ onsprogramme im Wesentlichen nur die solare, thermische Energiebilanzierung betrachten. Inte­ grale Simulationsprogramme können dagegen mit der Betrachtung von Gebäudeenergieerzeugung und Verkehrsströmen mit E-Mobilitätskonzepten als Nutzungsmöglichkeit erneuerbarer Energien mehr leisten. Die Datenverarbeitung wird durch Geoinforma­ tionssysteme sowie die Verwendbarkeit von 3D-Gebäudedaten (CityGML; Abb. 14) immer einfacher. Die Kombination von Datenbanken, Datensätzen, Planungen und 3D-Modellen ermög­ licht zusammen mit neuen Simulationstools eine

213

4.2 — Simulation

Abb. 11 Elektrofahrzeug als virtuelles Kraftwerk Abb. 12  Analyse der Solarstrahlung auf die Gebäudefassaden mit der Software Autodesk ECOTECT Abb. 13  Simulationsgrafik für den solaren Eintrag in die Gebäude eines Quartiers Abb. 14  Detaillierungsgrade von CityGML-Daten Abb. 12

Abb. 13

Weiterentwicklung bisheriger Simulationspro­ gramme. Die Daten können für späteres Monito­ ring genutzt werden. Bisher arbeiten ausschließ­ lich Experten mit eigenen Softwareentwicklungen an solch komplexen Modellen. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die großen Anbieter neue Werkzeuge zur Verfügung stellen werden.

zeit keine sinnvolle Möglichkeit zur Speicherung gibt. Gerade beim Umbau zu einer Infrastruktur für erneuerbare Energien ist es umso wichtiger, dass Simulationen die Spitzen frühzeitig erkenn­ bar und Gegenmaßnahmen wie den Einsatz von Speichertechnologien oder die Einbindung von Elektromobilität planbar machen (Abb. 11). Über die technische Komponente der Planung hinaus sind Simulationen ein bedeutendes In­­ strument, um Aufenthaltsqualität zu schaffen. Windgeschwindigkeit, Temperatur, Strahlungs­ verhältnisse und Luftfeuchte sind wesentliche Faktoren, die die gefühlte Temperatur und damit das Wohlbefinden der Menschen im Quartier beeinflussen. Neben der Beurteilung solcher ther­ mischer oder bioklimatischer Verhältnisse13 sind auch andere Komfortthemen wie Lärm oder Ver­ kehrsaufkommen bereits in der Planung sehr genau zu simulieren, um Überraschungen nach Baufertigstellung und Bezug zu vermeiden.  GCG

Beispiele für integrale Simulationstools: 12 •• Ecotect Analysis (Autodesk) •• Thermal Analysis Software – TAS (Eviron­ mental Design Solutions Limited) •• Dymola-Modelica: offene und objektorien­ tierte Modellsprache, oft Basis für SCIMAnsätze (Dassault Systems) •• EnergyPlus: Kombination der beiden Gebäu­ desimulationsprogramme DOE-2 und BLAST (vom US Department of Energy gefördert) •• Virtual Environment Pro (VE-Pro) mit einer Schnittstelle für einzelne Anforderungen aus der Immobilienzertifizierung nach LEED (Integrated Environmental Solutions Limited) •• Transient System Simulation (TRNSYS), seit Langem auch in Deutschland auf dem Markt, Möglichkeit zur Weiterentwicklung für SCIMSimulationen (Universität von Wisconsin in Madison) Den aufgeführten Simulationstools ist gemein, dass sie der Realität deutlich näher kommen als die üblichen kenndatenbasierten Planungsansätze. Somit kann frühzeitig in der Planung auf Probleme reagiert werden. Herausragende CO2-neutrale und energieautarke Quartiere sind bisher meist auf die Jahresbilanz berechnet. Tatsächlich kom­ men aber auch solche Quartiere nicht ohne den Anschluss an das öffentliche Netz aus, da die erneuerbare Stromerzeugung aus Sonne und Wind zeitlich verschoben zum Bedarf liegt und es der­

LoD 1: Stadtmodelle mit ­Topografie und Gebäuden als Kubus. Dachform wird als Flachdach dargestellt.

LoD 2: zusätzlich mit genauer Abbildung der Dachform

LoD 3: mit Unterscheidung zwischen Fassadenöffnungen und geschlossenen Flächen (reine Fotoaufprägungen entsprechen nicht LoD 3) Abb. 14 12 Münzner 2012 13 Orientierungswerte dazu in VDI-Richtlinie 3787, Blatt 2

CityGML

Zusammenfas­ sung Für die Anwendung von Simulationswerkzeugen in der städtebaulichen Praxis ist meist umfassen­ des Expertenwissen notwendig. Auch für die Quartiersplanung wären zukünftig Simulations­ werkzeuge hilfreich, die integral mehrere The­ mengebiete berücksichtigen und ohne großen Aufwand parallel zum Entwurfsprozess verwendet werden können, denn Simulationen stellen zu einem frühen Zeitpunkt für die Planung relevante Informationen bereit und beugen damit kosten­ intensiven Fehlentwicklungen vor.  SA

CityGML (City Geography Markup Language) ist ein normiertes Dateiformat zur Darstellung, Speicherung und zum Austausch von virtuellen 3D-Stadt- und Geländemodellen. Es bietet die Möglichkeit, Objekte wie Gelände, Gebäude, ­Wasser- und Verkehrsflächen, Vegetation, Stadt­ möblierung und Landnutzung einheitlich zu beschreiben. CityGML kann neben der Visuali­ sierung von 3D-Modellen für vielfältige Aufgaben wie Umweltsimulationen, Energiebedarfsermitt­ lung, städtisches Facility Management oder Fuß­ gänger-Navigation eingesetzt werden. 3D-Stadtmodelle werden mit unterschiedlichem Detaillierungsgrad dargestellt (Level of Detail, LoD, Abstufung 1–3). LoD-1-Modelle (einfache Kuben) sind inzwischen fast flächendeckend vor­ handen. Auch die LoD-2-Daten (Kuben mit Darstel­ lung der Dachform) sind weitverbreitet, während man LoD-3-Daten mit einer genauen Fassadendar­ stellung nur für einzelne Bauten findet.

214

Kapitel 4 — Werkzeuge

4 .3

Visualisierung Ste p han Anders, Rolf Mes s ers chmidt

U

nter Visualisierung versteht man im vorliegenden Zusammenhang das Sichtbarmachen und die Veranschaulichung von oft abstrakten Parametern mit zwei- und dreidimensionalen Darstellungen zur Op­­ timierung und Beurteilung von Planungen. Die Bereiche Modellierung, Simulation und Visualisierung hängen dabei eng zusammen und sind schwer voneinander abgrenzbar, denn jede Visualisierung beruht auf einer Simulation und diese wiederum auf einem Modell der Planung. Im Folgenden werden computerunterstützte Werkzeuge dargestellt, bei denen der Fokus auf der Visualisierung liegt und die das Potenzial haben, neue Maßstäbe in der Planung und Steuerung von nachhaltigen Städten und Quartieren zu ­setzen.  SA

Grafische Überlagerungswerkzeuge

1 Scholles 2008, S. 324 2 ebd., S. 330ff. 3 Battle 2001 4 Gaffron 2008; Daab 1996 5 Messerschmidt 1999/2003

Die grafische Überlagerung verschiedener thematischer Karten zu einer spezifischen räum­ lichen Situation (Overlay Mapping) ist eine verbreitete Methode, um neue Erkenntnisse auf höherem Aggregationsniveau zu gewinnen (Abb. 2). Die Auswahl der Karten orientiert sich dabei am jeweiligen thematischen Schwerpunkt. Eine Fragestellung hinsichtlich Umweltplanung könnte beispielsweise sein, welche Biotypen durch eine Straßentrasse durchschnitten werden.1

Einsatzfelder: Die Einsatzfelder reichen von der Ermittlung von »Restflächen« bis hin zur Überlagerung der derzeitigen Flächennutzungsplanung mit Lärmkarten. Mithilfe von Verschneidungen ist es auch möglich, Abweichungen von Zielen abzubilden.2 Der Einsatz solcher Werkzeuge kann die qualifizierte Erarbeitung von sektoralen Nachhaltigkeitskonzepten unterstützen und zur Optimierung der räumlichen Verteilung strukturbildender Elemente beitragen (z. B. die Platzierung von Quartiersgaragen, Grünzonen als Klimabahnen oder dezentrale Grauwasserreinigungsflächen). Vor allem aber kann die Integration dieser Konzepte mit klassischen Stadtplanungszielen zu einem ganzheitlichen, vielschichtigen und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Gesamtkonzept führen, das den Aufbau eines funktionierenden »Metabolismus« im Quartier unterstützt.3 Methode: Neu zu entwickelnde grafische Strukturen für einzelne Nachhaltigkeitskonzepte werden zuerst unabhängig voneinander und vom Stadtplanungskonzept auf das Planungsgebiet projiziert, danach optimiert und anschließend mithilfe von Kriterien und Leitindikatoren bewertet.4 Natürlich bestehen Abhängigkeiten und gegenseitige Beeinflussungen zwischen den dargestellten Informationen, sodass sie (unter Erhaltung wichtiger Ausgangskriterien) durch Rückkopplungen verändert in das Ergebnis des Entwurfsprozesses eingehen. Die Darstellung kann in Form von abstrakten Strukturgrafiken für die einzelnen Konzepte oder als Masterplan erfolgen.5 Das Zusammenwirken der Konzepte und die Nachhaltigkeitsqualität der Planung insgesamt können durch Informationsverdichtungsmethoden mit Aggregation verschiedener Indikatoren über Verknüpfungsregeln bewertet werden und somit den Entscheidungsfindungsprozess fördern.6

215

4.3 — Visualisierung

Abb. 1  Strukturentwicklung mittels Überlagerung ver­ schiedener Strukturen und Szenarien am Beispiel Karls­ ruhe Südost (NetzWerkZeug) Abb. 2  Verschneidung zur Karteninterpretation Abb. 3  Lärmsimulation mit einem interaktiven VR-Entwurfs­ tool für die Stadtplanung Abb. 1

Tools/Software: Die analoge Überlagerung von räumlichen Informationen mittels Dias oder Karten an einem Leuchttisch wurde durch die Layerstrukturen der heutigen CAD- und GIS-Systeme abgelöst. Der rechnergestützten Überlagerung sind unter technischen Gesichtspunkten keine Grenzen gesetzt – anders jedoch der Interpretation. So sollte die Überlagerung immer zielgerichtet eine bestimmte Fragestellung beantworten.7 Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Grafische Überlagerungswerkzeuge unterstützen den Quartiersplanungsprozess, helfen, die Vermittlung der Ergebnisse zu verbessern und gewährleisten die Berücksichtigung aller relevanten Planungsparameter in einem ganzheitlichen Quartierskonzept. Die systemimmanente Komplexität von Quartiersplanungen wird besser handhabbar, indem sie zur Entwicklung der einzelnen Konzepte zuerst reduziert und anschließend durch die Überlagerung in integrierter und transparenter Weise neu generiert wird.  RM, SA

Virtuelle und erweiterte ­Realität Unter virtueller Realität (Virtual Reality – VR) versteht man die Echtzeitdarstellung der Wirklichkeit in einer computergenerierten Umgebung. Die Technologie wurde ursprünglich für das Militär entwickelt und wird heute für diverse Anwendungen eingesetzt. Dazu gehören beispielsweise Flugsimulatoren, computerunterstützte Konstruktions- und Entwurfsmethoden, Produktionspla-

nung sowie virtuelle Welten für Computerspiele. Die Nutzung von VR-Brillen und anderen VRTechnologien wie Caves (Räume zur Projektion) wurde in den letzten Jahren immer erschwinglicher und hat mittlerweile auch die Baubranche erreicht. Dort werden VR-Technologien meist für die Darstellung der Raumwirkung und von Materialien verwendet. Darüber hinaus finden VR-Technologien beispielsweise auch bei der interaktiven Simulation der Schadstoff- und Lärmausbreitung in Stadträumen ihre Anwendung (Abb. 3).8 Durch die komplexen Fragestellungen bei der Planung von nachhaltigen Quartieren und die Forderung nach neuen Beteiligungsmodellen wird die Technologie in Zukunft verstärkt an Bedeutung gewinnen. Anders als VR setzt die erweiterte Realität (Augmented Reality – AR) auf eine Ergänzung der bestehenden Welt mit zusätzlichen Informationen. So bietet AR die Möglichkeit, ein geplantes Objekt (Gebäude, Straße, Pflanze etc.) in der realen Umgebung bzw. in einem Umgebungsmodell zu visualisieren. Der Nutzer von AR kann mit einem mobilen Endgerät (Smartphone, Tablet, AR-Brille etc.) das Objekt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Planungsvarianten auszuwählen und diese miteinander zu vergleichen, ermöglicht es auch dem Laien, die Wirkung eines geplanten Objekts zu erfassen und bewerten zu können. Darüber hinaus bieten AR-Brillen die Möglichkeit, den Handwerkern Informationen aus dem 3D-Modell – wie Wandpositionen und Leitungsführungen – in Überlagerung mit dem gebauten Objekt auf der Baustelle zu visualisieren. Auch ist es denkbar, dass der Architekt oder Handwerksmeister dem Arbeiter auf der Baustelle etwas zeigen kann, auch wenn er nicht vor Ort ist. Aus diesem Grund verfügt die AR-Technologie, insbesondere in den Bereichen Information und Bürgerbeteiligung, über ein großes Potenzial.

Boden B A

Vegetation 1

2

Integration

1– B 2– B

1– A 2– A Abb. 2

Abb. 3

6 Daab 1996 7 Scholles 2008 8  Schubert 2004

216

Kapitel 4 — Werkzeuge

Abb. 4  »In the Air«, ­Visu­alisierung unsichtbarer ­Mikrobestandteile der Luft, Medialab-Prado Abb. 5  potenzielle Auf­ heizung der Stadt Singapur, abgeleitet aus dem Energie­ bedarf und der lokalen Wind­ geschwindigkeit in Echtzeit, SENSEable City Lab Abb. 6  City Cockpit, ­Siemens Abb. 7  Kontrollzentrum, Rio de Janeiro (BR) Abb. 4

 9 Jander et al. 2010, S. 22 10 Spudich 2012 11 www.intheair.es 12 www.valuelab.ethz.ch

Abb. 5

Abb. 6

Datenanalyse, Simulation und Visualisierung in Echtzeit Jede Sekunde fallen in einer Stadt gigantische Mengen unstrukturierter Daten an: statistische Daten der öffentlichen Verwaltung, Daten aus dem Verkehrs- und Infrastrukturbereich, Messdaten von Sensoren, Daten von GPS-Geräten und Mobiltelefonen, Text- und Videodaten, Daten aus Finanztransaktionen etc. Das Datenvolumen soll sich darüber hinaus in Zukunft etwa alle eineinhalb Jahre verdoppeln.9 Von der Datenanalyse, Simulation und Visualisierung in Echtzeit erhoffen sich Unternehmen und namhafte Forschungseinrichtungen, unmittelbar über wichtige Informationen verfügen zu können. Ein Beispiel hierfür erläuterte Carlo Ratti, Direktor des SENSEable City Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), 2012 in einem Interview: »Die Analyse der Datenmengen […][kann] bei der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse helfen. Etwa die Verkehrsinformationen, die aus Bewegungsdaten zahlreicher Handys resultieren: So kann man u. a. erkennen, wenn große Veranstaltungen in Städten zu Ende gehen – Menschen schalten ihre Handys an und telefonieren oder verwenden Datendienste. Das ermöglicht es, Taxis und öffentliche Verkehrsmittel verstärkt an solche Hotspots zu schicken.«10 Ratti und sein Team entwickelten außerdem ein

Projekt, bei dem durch die Analyse von Echtzeitdaten aus dem Energiesektor und lokalen Windgeschwindigkeiten die potenzielle Aufheizung der Stadt Singapur abgeschätzt wird (Abb. 5). Ein weiteres Anwendungsbeispiel für die Datenanalyse in Echtzeit liefert das Projekt »In the Air« des Medialab-Prado in Madrid.11 Im Rahmen dieser Untersuchung wurden die für den Menschen unsichtbaren Mikrobestandteile der Luft (wie Gase, Partikel und Pollen) gemessen, in Echtzeit visualisiert und die auftretenden Wechselwirkungen mit anderen Parametern der Stadt analysiert (Abb. 4). Forscher der ETH Zürich initiierten das Value Lab, eine interdisziplinäre Plattform für nachhaltige Stadtplanung.12 Dabei handelt es sich um ein Labor, das u. a. mit fünf großen Touchscreens ausgestattet ist und die parallele Simulation und Visualisierung von städtebaulichen Planungsvarianten ermöglicht. Die Idee ist, dass ein interdisziplinäres Planungsteam während eines Workshops gemeinsam verschiedene Planungsvarianten erarbeiten und deren Auswirkungen auf Verkehr, Stadtklima etc. simulieren und diskutieren kann. Das Labor bietet außerdem die Möglichkeit, Videokonferenzen durchzuführen und so zeitgleich mit Experten auf der ganzen Welt zusammenzuarbeiten. Neben diesen Forschungsprojekten gibt es für die Datenanalyse und Visualisierung in Echtzeit auch heute schon erste praktische Umsetzun­gen. Beispiele hierfür sind zwei Technologien, die für die Steuerung einer nachhaltigen Stadtentwicklung von besonderem Interesse sind: Das erste hier zu nennende Werkzeug ist das von Siemens entwickelte City Cockpit, das derzeit in Singapur erprobt wird (Abb. 6). Dabei handelt es

217

4.3 — Visualisierung

Abb. 7

sich um ein System, das Informationen aus diversen Verwaltungssystemen der Stadt bündelt, je nach Fragestellung übersichtlich visualisiert und bessere sowie schnellere Entscheidungen ermöglichen soll. Außerdem verspricht man sich von der Anwendung eine Verbesserung der Kommunikation der Bürger mit der Verwaltung. Wenn ein Bürger beispielsweise eine beschädigte Parkbank oder eine schlecht gereinigte öffentliche Toilette vorfindet und dies via Smartphone der Stadtverwaltung meldet, bekommt er innerhalb von 24 Stunden eine Rückmeldung, wie mit dem Problem umgegangen wird.13 Einen Schritt weiter geht das von IBM entwickelte Kontrollzentrum in Rio de Janeiro, das für die FIFA Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 installiert und getestet wurde (Abb. 7). In diesem Kontrollzentrum laufen neben den Daten aus der Verwaltung auch jene aus Sensoren, Überwachungskameras, Wetterdiensten und Polizeifunk zentral zusammen und werden in Echtzeit analysiert. Anhand dieser Daten erstellt das System Übersichtskarten, die die aktuellen Problemstellen (Verkehrsunfälle, überfüllte U-Bahn-Haltestellen etc.) in der Stadt zeigen und die Entscheider in die Lage versetzen, zielgerichtet zu handeln. Die Stadt Rio de Janeiro erhoffte sich von der Technologie u. a. einen reibungslosen Ablauf der beiden Großveranstaltungen und eine effiziente Verteilung der Einsatzkräfte.14 Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: City Cockpit in Singapur bündelt und visualisiert die ohnehin in der Stadt vorhandenen Daten. Das Beispiel aus Rio de Janeiro nutzt teils auch persönliche, sensible Daten und ist daher daten-

schutzrechtlich bedenklich. Dennoch zeigen die Beispiele, dass in der Analyse und Visualisierung von urbanen Daten ein enormes Potenzial steckt. Eine vollständig vernetzte Stadt würde die Möglichkeit eröffnen, die Bürger u. a. via Smartphone und Internet stärker aktiv an Entscheidungsprozessen zu beteiligen und damit mehr in die Verantwortung zu nehmen.

13 Bartsch 2011, S. 94f. 14 Singer 2012

Zusammen­ fassung Zeichnerische Überlagerungsverfahren sind bereits fester Bestandteil in der planerischen Praxis, dagegen beschreiten die Technologien der virtuellen und erweiterten Realität oft noch Neuland. Ein hohes Potenzial bieten diese Technologien für die geforderte stärkere Beteiligung der Bürger. Insbesondere für bestehende Städte setzen Unternehmen und Forschungseinrichtungen große Hoffnungen in die Analyse und Visualisierung von in der Stadt anfallenden Daten in Echtzeit, mit dem Ziel, urbane Systeme effizienter zu nutzen und zu steuern. In der heutigen, immer stärker durch Bilder geprägten und vernetzten Welt wird der Einsatz von Visualisierungsmethoden und -technologien weiter zunehmen, denn sie bieten die Möglichkeit, selbst komplexe Zusammenhänge verständlich an alle Planungsbeteiligten zu vermitteln und fungieren damit als eine Art universell einsetzbare Sprache.  SA

Weitere Informationen

•  Gaffron, Philine; Huismans, Gé; Skala, Franz (Hrsg.): Ecocity Book 2. How To Make It Happen. Hamburg/Utrecht/Wien 2008 •  Höhl, Wolfgang: Interaktive Ambiente mit OpenSource-Software. 3D-Walk-Throughs und Aug­ mented Reality für Architekten mit Blender 2.43, DART 3.0 und ARToolKit 2.72. Wien 2009 •  Lee, David; Robinson, Prudence (Hrsg.): Copenhagen 2 – SENSEable City Guide. Cambridge, MA 2011 •  Messerschmidt, Rolf: NetzWerkZeug. Diplom­ arbeit am Städtebau-Institut der Universität ­Stuttgart 1999. www.netzwerkzeug.de •  SENSEable City Lab: http://senseable.mit.edu •  Future Cities Laboratory: www.fcl.ethz.ch •  Value Lab: www.valuelab.ethz.ch •  Medialab Prado: www.medialab-prado.es •  Sidewalk Lab: www.sidewalklabs.com

218

Kapitel 4 — Werkzeuge

4.4

Zertifizierungs- und Bewertungssysteme Ste p han Anders

In Zeiten knapper öffentlicher Kassen erstreckt sich die Forderung nach einer quantifizierten Wirkungsmessung über immer mehr gesellschaftliche Bereiche und hat nun etwas verspätet auch das Bauwesen erreicht.1 So gibt es auf Ebene der Gebäude, aber auch auf gesamtstädtischer Ebene weltweit eine Vielzahl unterschiedlicher Zertifizierungssysteme mit spezifischen Schwerpunkten. Dieses Kapitel widmet sich insbesondere den aktuellen Entwicklungen rund um das Thema Zertifizierung von Stadtquartieren.

Gesamtstädtische Bewertungs­ systeme 1 Pahl-Weber et al. 2009, S. 12 2 Infante-Barona 2002, S. 91 3  Fuhrich 2004 4 Economist Intelligence Unit 2011 5 Bundesgeschäftsstelle des European Energy Award 2011 6  Stulz 2010 7  CASBEE 2012 8 Bauriedl et al. 2008, S. 179

Für Städte und Kommunen wurden in den vergangenen Jahren verschiedene Indikatorensysteme zur Operationalisierung von Nachhaltigkeit entwickelt.2 Als Orientierungshilfe für die kommunale Praxis soll z. B. ein Indikatorenkatalog dienen, der im Rahmen des ExWoSt-Forschungsfelds »Städte der Zukunft« zur Erfolgskontrolle nachhaltiger Stadtentwicklung erstellt wurde (Abb. 2).3 Auch auf internationaler Ebene gibt es mit der ISO 37 120 »Nachhaltige Entwicklung von Kommunen« Bestrebungen, die Nachhaltigkeit von Städten zu bewerten. Parallel dazu wächst auch das Interesse der Industrie an nachhaltigen Städten und deren Bewertung. So wurde im Auftrag der Siemens AG der German Green City Index entwickelt, der an einer Auswahl deutscher Großstädte angewendet wurde.4 Ein weiteres Beispiel ist der Morgenstadt City Index der am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) entwickelt wurde und die

Zukunftsfähigkeit einer Stadt – anhand von 28 Indikatoren – messen soll. Dabei ist anzumerken, dass es Unternehmen wie Siemens, IBM oder der Telekom primär darum geht, sich als Marktführer im jeweiligen Technologiebereich zu etablieren und ihre Produkte und Dienstleistungen wie Verkehrsleitsysteme, Energiemanagementsysteme und SmartGrid-Technologien (intelligente Stromnetze) an Städte und Kommunen zu verkaufen. Neben der reinen Bewertung nachhaltiger Stadtentwicklung gibt es auch Initiativen, diese zu zertifizieren, z. B. den European Energy Award,5 der an Städte oder Gemeinden vergeben wird, die besondere Anstrengungen im Bereich Energieund Klimaschutz vorweisen können. Internationale Entwicklungen wie das schweizerische Modell der 2000-Watt-Gesellschaft6 oder das in Japan entwickelte Zertifizierungssystem CASBEE for Cities7 zeigen die wachsende Bedeutung von Indikatoren im Wettbewerb der Städte.8 Jedoch ist allen Zertifizierungs- und Bewertungssystemen für die Gesamtstadt gemein, dass sie aufgrund der Komplexität lediglich mit sehr groben und allgemein zugänglichen Daten (z. B. von statistischen Ämtern) arbeiten und sich somit nur schwer auf die planungsrelevante Ebene des Quartiers übertragen lassen.

Bewertungs­ systeme für Stadtquartiere Auf Ebene des Quartiers ist die Anzahl an unterschiedlichen Zertifizierungssystemen im Vergleich zu den Gebäudesystemen derzeit noch überschaubar. Die vorhandenen Systeme wie beispielsweise

219

4.4 — Zertifizierungs- und Bewertungssysteme

One Planet Communities [GB, 11] BREEAM Communities [GB, 43] DGNB-Quartiere [D, 51] HQE – Aménagement [FR, 24]

LEED-ND [USA, 190]

CASBEE-UD [JP, 4]

SMEO-Quartiere [CH, 18] 2000-Watt-Gesellschaft [CH, 22] Estidama Community [UAE, 6] BCA Green Mark for Districts [SG] GreenStar Communities [AUS, 35]

Abb. 1

Ziele

Standardindikatoren

Zusatzindikatoren

haushälterisches Bodenmanagement

  1. Siedlungs- und Verkehrsfläche

13. Zuwachs von Siedlungsflächen innen:außen

  2. Intensität der Flächennutzung

14. Baulandmobilisierung im Bestand

  3. Schutzflächen   4. Wiedernutzung von Brachen stadtverträgliche Mobilitätssteuerung

  5. gefahrene Kilometer von Bus und Bahn

15. Gesamtlänge des Fahrradwegenetzes

  6. Pkw-Dichte

16. Pkw-Nutzung in der Stadt (Modal Split) 17. ÖPNV-erschlossener Siedlungsbereich 18. Verkehrssicherheit (Verkehrsopfer)

vorsorgender Umweltschutz

  7. Restmüll

19. CO2-Ausstoß

  8. Trinkwasserverbrauch

20. Energieverbrauch

sozialverantwortliche ­Wohnungsversorgung

  9. Fortzüge ins Umland

21. Grundversorgung

10. Wohngeld

22. Wohnungseinbrüche

11. Arbeitslosenquote

23. Flächenbedarf von Arbeitsplätzen

12. Pendlersumme

24. lokale Wirtschaftsstruktur

standortsichernde ­Wirtschaftsförderung

Abb. 1  Verteilung von Zerti­ fizierungssystemen für Quartiere (Blau sind Länder mit zertifizierten Quartieren. Angabe Ursprungssystem, Anzahl der zertifizierten Projekte, Stand 04/2018) Abb. 2  Übersicht der Indi­ katoren aus dem ExWoSt-­ Forschungsfeld »Städte der Zukunft«

Abb. 2

die Zertifizierungen LEED for Neighborhood Development (LEED-ND)9, One Planet Communities oder BREEAM Communities10 finden hauptsächlich aus dem angloamerikanischen Raum kommend Eingang in den deutschen Markt (Abb. 1)11. Marktführer in Deutschland ist das System »Quartiere« der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB),12 das im folgenden Abschnitt näher beschrieben wird. Jedoch verfügt man auch in anderen Teilen der Welt über Zertifizierungssysteme für Stadtquartiere mit ganz unterschiedlichen Ansätzen in der Entwicklung bzw. in der Anwendung.13 Auf S. 220/221 sind diese tabellarisch zusammengestellt. Gemessen an der Anzahl ausgezeichneter Quartiere, ist das seit 2009 bestehende US-amerikanische Zertifizierungssystem LEED-ND mit 190 Projekten weltweit gesehen derzeit Marktführer. An zweiter Stelle steht das erst seit 2012 als Marktversion etablierte Zertifizierungssystem der DGNB

»Quartiere« mit 51 Quartieren. Das 2009 eingeführte BREEAM-Communities-System aus Großbritannien belegt mit 43 (vor-)zertifizierten Quartieren den dritten Rang. Bemerkenswerterweise kann das seit 2006 und damit am längsten bestehende System CASBEE for Urban Development aus Japan bisher nur vier (vor-)zertifizierte Quartiere aufweisen. Besonders interessant ist der One-Planet-Communities-Ansatz. Hierbei handelt es sich eigentlich weniger um ein Zertifizierungssystem, sondern vielmehr um ein Planungswerkzeug, dessen Ziel ein stetiges Monitoring eines Quartiers über den gesamten Lebenszyklus ist. Zu Beginn der Planung wird gemeinsam mit Mitarbeitern des OnePlanet-Communities-Programms ein Aktionsplan (Action Plan) erarbeitet. Ein unabhängiges Gremium überprüft diesen in jährlichen Abständen und wenn nötig werden planerische Maßnahmen eingeleitet, um Missstände zu beheben. Kosten

 9 U.S. Green Building Council 2009 10 Desai 2010; BRE Global 2008 11 Pahl-Weber et al. 2009, S. 8 12 DGNB 2012 13 Anders 2012

ExWoSt

Mit dem Forschungsprogramm »Experimenteller Wohnungs- und Städtebau« (ExWoSt) fördert der Bund innovative Planungen und Maßnahmen zu wichtigen städtebau- und wohnungspolitischen Themen.

220

Kapitel 4 — Werkzeuge

DGNB – Quartiere

BREEAM – Communities

HQE – Aménagement

Organisation

U.S. Green Building Council (USGBC)

Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e. V. (DGNB)

British Research Establishment (BRE)

Association pour la Haute Qualité Environnementale (HQE), Cerway (internat. Systembetreiber)

Informationen

Hauptsitz in Washington (USA) NPO, NGO gegründet 1993 www.usgbc.org

Hauptsitz in Stuttgart (DE) NPO, NGO gegründet 2007 www.dgnb.de

Hauptsitz in Watford (GB) staatliche Organisation gegründet 1921 www.bre.co.uk

Hauptsitz in Paris (FR) NPO, NGO gegründet 1992 www.behqe.com

Ausrichtung / Art des Systems

internationales Zertifizierungssystem Neubau und Sanierung Systemstart 2009

internationales Zertifizierungssystem Neubau und Sanierung Systemstart 2011

internationales Zertifizierungssystem Neubau und Sanierung Systemstart 2008

internationales Zertifizierungssystem Neubau und Sanierung Systemstart 2011

Systemvarianten

ein System für unterschiedliche Quartierstypen

ein System für gemischt genutzte Quartiere, Wohn- ­ und Gewerbegebiete

ein System für gemischt genutzte Quartiere (HQE Aménagement)

Abgrenzung zu anderen Systemen

Fokus auf Lage und Nutzung des Quartiers

ganzheitliche Betrachtung, Schwerpunkt auf Ökologie und Sozialem

Fokus auf Ökologie und sozialen Aspekten

Anzahl der Quartiere /davon gebaut /davon international Standorte der Quartiere

190 / k. A. /61

Stadtquartiere, Büro- und Gewerbequartiere, Industrie­ standorte, Event Areale, Resorts, Vertical Cities ganzheitliche Betrachtung (Ökologie, Ökonomie, Soziales), Lebenszyklusbetrachtung (LCC, LCA), Zielwert orientiert, zusätzlich Systemvarianten für Gewerbequartiere und Industriestandorte 51 /16 /14

43 /16 /19

24 /6 /1

Großbritannien, weitere Länder

Frankreich, Neukaledonien

bekannte Projekte

Dockside Green (Victoria, CN), Twinbrook Station (Rockville, Maryland, USA), Emeryville ­Marketplace (Kalifornien, USA)

Deutschland, Dänemark, Luxemburg, Österreich, Polen, Schweiz, Spanien, Mongolei Maidar EcoCity+ (Mongolei), Urban Tech Republic (Berlin, DE), Belval (LU), Potsdamer Platz (Berlin, DE), Carlsberg (Kopenhagen, DK)

MediaCityUK (Manchester, GB), Qinlong Mountain International ­ Eco-City (China), Urridaholt, Gardabaer (Island)

ZAC Pompidou (Bois-Colombes, FR), Ecoquartier de Monconseil (TOURS, FR)

Auszeichnungsstufen

Platin, Gold, Silber, Zertifiziert

Platin, Gold, Silber

Mindestanforderungen bei Stadtquartieren

  1. Smart Location   2. Imperiled species and ­ Ecological Communities   3. Wetlands and Waterbody ­Conservation   4. Agricultural Land Conservation   5. Floodplain Avoidance   6. Walkable Streets   7. Compact Development   8. Connected and Open ­Community   9. Certified Green Building 10. Minimum Building Energy ­Performance 11. Indoor Water Use Reduction 12. Construction Activity Pollution Prevention 1. Vorprüfung: max. 50 % ­Hochbau (optional) 2. Vorzertifikat: max. 75 % ­Hochbau 3. Zertifikat: 100 % Hochbau und Infrastruktur 1. Gebühren Registrierung: 1215 € 2. freiwillige Prüfung: 1823 € 3. Phase 2 /3: 14 580/8100 € bis zu 20 ha + 284 € für jeden weiteren Hektar, ab 320 ha indiv. Festpreis (für USGBC-Mitglieder, ­Umrechung 1 USD = 0,81 €) LEED for Neighborhood ­Development Reference Guide

1. min. 2 ha 2. öffentliche Zugänglichkeit 3. Wohnanteil 10 – 90 % 4. Einverständnis aller ­Eigentümer 5. weitere Grenzwerte ­innerhalb der Kriterien in den Bereichen Natur-, Klimaschutz, Lage, Infrastruktur, ÖPNV und Partizipation

Outstanding, Excellent, herausragend, exzellent, Very Good, Good, Pass sehr gut, gut, ausreichend spezifische Mindestanforde­ k. A. rungen in den Bereichen: Klima & Energie, Gemeinschaft & Governance, Identität, Ökologie und Bio­diversität, Transport, ­Ressourcen, Wirtschaft und Gebäude

Details

Anwendung

Besonderheiten

Organisation

Systembezeichnung

LEED – Neighborhood ­Development (ND)

Phasen der Zertifizierung

Publikationen

Kosten Zertifizierung für ein 10 Hektar großes Quartier (zzgl. Steuer)

Publikationen

Internetdokumente

USA, Kanada, China, Malaysia, weitere Länder

www.usgbc.org

1. Vorzertifikat: städtebau­ licher Entwurf 2. Zertifikat Erschließung: min. 25 % Infrastruktur 3. Zertifikat Quartier: min. 75 % Hochbau und Freiflächen 1. Phase: 4500 € 2. Phase: 12 000 € 3. Phase: 17 000 € (für DGNB-Mitglieder, Kosten abhängig von Projektgröße)

1. Vorprüfung (optional) 2. Zertifikat (interim): Grob­ planung, Baurecht nicht ­notwendig 3. Zertifikat (final): abgeschlossene Detailplanung 1. Registrierung: 567 € 2. Gebühren: Interim (Step 1): 3175 € Final (Step 2): 2834 € (Umrechung 1 £ = 1,13 €)

DGNB-Kriterien für Quartiere

BREEAM Communities, Techni- La démarche HQE cal Guidance Manual, Version 1.2 ­Aménagement

www.dgnb-system.de

www.breeam.com/­ communitiesmanual

Abb. 3  Systeme zur Nachhaltigkeits­bewertung von Stadtquartieren im Vergleich (Stand 08/2018)

1. Vorprüfung (Audit initial) 2. jährliche Re-Audits (Des audits de suivi une base annuelle) 3. Zertifikat (Un audit final) k. A.

www.behqe.com/schemes-­ and-documents

221

4.4 — Zertifizierungs- und Bewertungssysteme

CASBEE – Estidama Pearl Com­ Urban Development (UD) munity Rating System

GreenStar Communities

SMEO – Quartiere

2000-Watt-Areal

One Planet Communities

Japan Green Building Council (JaGBC), Japan Sustainable Building ­Con-sortium (JSBC) Hauptsitz in Tokio (JP) NPO, NGO gegründet 2006 www.ibec.or.jp/CASBEE/ english internationales Zertifizierungssystem Neubau und Sanierung Systemstart 2006

Abu Dhabi Urban Planning ­Council

Green Building Council ­Australia (GBCA)

Bundesamt Raum­ entwicklung (ARE) der Schweiz

Bundesamt für Energie (BFE)

Bioregional

Hauptsitz in Abu Dhabi (UAE) staatliche ­Organisation gegründet 2007 http://upc.gov.ae nationales Zertifizierungssystem Neubau und Sanierung Systemstart 2010

Hauptsitz in Sydney (AU) NPO, NGO gegründet 2002 www.gbca.org.au

Hauptsitz in Bern (CH) staatlich – www.2000watt.ch

nationales Zertifizierungssystem Neubau und Sanierung Systemstart 2012

CASBEE for Urban ­Development, CASBEE for Cities





Hauptsitz in Bern (CH) staatlich – www.smeo.ch nationales Planungswerkzeug Neubau und ­Sanierung Systemstart 2011 –

Hauptsitz in Wallington (GB) NPO, NGO gegründet 1992 www.bioregional.com/­ oneplanetliving internationale Planungs­ methode (Erstellung und Evaluierung »Action Plan«) Neubau, Sanierung, Bestand Systemstart 2009 für verschiedene Nutzungen anwendbar

ganzheitliche Betrachtung

zugeschnitten auf regionales Klima, Gesetze und Kultur, ­staatlich anerkannt, integraler Entwicklungsprozess

zugeschnitten auf ­regionales Klima, ­Gesetze und Kultur

Planungswerkzeug (online)

ganzheitliche Betrachtung mit ­Konzentration auf Ökologie ­(Energie) und soziale Faktoren (Community), Lebenszyklus­ betrachtung

Monitoring des Quartiers über 20 Jahre, inkl. Lebensstilbetrachtung, keine ökonomische Betrachtung

4 / 2 /0

6 / k. A. /0

35 / k. A. /0

18 / k. A. /0

22 / 5 /0

11/ 7/4

Japan

Abu Dhabi (UAE)

Australien

Schweiz (Nord, West)

Schweiz

Koshigaya City Saitama, Al Bateen Park, ­Koshigaya Lake Town (JP) Al Sila’a Residential, Al Ghareba Housing, Military Officers Accom­ modation, Al Shahama ­Residence, Al Raha ­Gardens Excellent, Very Good, 1 – 5 Perlen Good, Fairly Poor, Poor k. A. 1. min. 1000 und max. 30 000 Bewohner 2. integraler Entwicklungsprozess 3. natürliche Systeme 4. lebenswerte Gemeinschaften 5. sparsamer Umgang mit Wasser 6. erneuerbare Energien 7. ressourcenschonende ­Materialien

The Loop (Canberra), ­Barangaroo South ­(Sydney), ­Ginniderry, Curtin University Masterplan (Perth), Aura, University of Melbourne Parkville Campus 4 – 6 Sterne

EUROPAN 9 – Gros Seuc (Delémont, CH)

Hunziker-Areal (Zürich), Kalkbreite (Zürich), Greencity (Zürich), Erlenmatt West (Basel), Opération les Vernets (Genf)

Großbritannien, USA, Portugal, Frankreich, Kanada, Australien, Luxemburg BedZED (London, GB), Les Villages Nature (Paris, FR)

keine

keine

Action Plan (ja /nein)

1. min. 4 Gebäude, kein Maximum 2. Mischnutzung

keine

keine (jedes Projekt wird einzeln beurteilt)

1. Vorzertifikat 2. Zertifikat 3. Post Occupancy ­Evaluation

1. Vorzertifikat: ­Rahmenplan 2. Zertifikat: Bau 3. Post Occupancy ­Evaluation (2 Jahre nach Fertigstellung)

1. Initial Certification 2. Recertification (alle 5 Jahre)



Voraussetzungen: • Mindest­größe von ca. 1 ha • handlungsbe­vollmächtigte Areal­ trägerschaft qualitative Anforderungen: Erhalt von 50 % der Punkte in: 1. Managementsystem 2. Kommunikation Kooperation, ­Partizipation 3. Arealnutzung und Städtebau 4. Ver- und Entsorgung 5. Gebäude 6. Mobilität quantitative Anforderungen: Einhaltung der Zielwerte Absenkpfad 2000-Watt-Gesellschaften für Erstellung, Betrieb und Mobilität 1. Auditierung und Zertifi­zierung 2. Rezertifizierung (alle 2 Jahre in Erstellungsphase /alle 4 Jahre im Betrieb)

23 800 – 35 200 € für Projekte in Japan (2,3 – 3,4 Mio. Yen)

k. A.

29 300 € (für GBCA ­Mitglieder, Umrechnung 1 $ = 0,65 €)

keine

CASBEE for Urban Development (2014 edition)

The Pearl Rating System for Estidama – Community Rating System Design & ­Construction, Version 1.0 www.estidama.org/pearlrating-system-v10/pearl-community-rating-system.aspx

Submission Guideline (Shop)



www.greenstarcommu­ nities.org.au

www.nachhaltige­ quartierebysmeo.ch

www.ibec.or.jp/CASBEE/­ english/download.htm

internationales prozessorientiertes Zertifizierungssystem Neubau, Betrieb und Erneuerung Systemstart 2012 –

bei Erstzertifizierungen • 4300 € für 2000-Watt-Areale mit einer Geschossfläche bis (und mit) 50 000 m2 (6 460 € ab 50 000 m2) • 2580 € unabhängig von der Geschossfläche (Umrechnung 1 CHF = 0,86 €) • 2000-Watt-Areal Mein Lebensraum von morgen • Handbuch zum Zertifikat 2000-Watt-Areal www.2000watt.ch/fuer-areale/ 2000-watt-areale

1. One Planet Action Plan ­(Erarbeitung mit Vertretern von BioRegional) 2. jährliche Kosten für Monitoring, Werbung und technische Beratung 1. Action Plan (Erarbeitung mit Vertretern von Bio­ regional) 2. Beurteilung durch Fach­ gutachter 3. jährliche Überprüfung der Aktionspläne und deren Umsetzung One Planet Communities. A Real Life Guide to ­Sustainable Living www.bioregional.com/ oneplanetliving

222

Abb. 4  Vergleich und Schwerpunkte der Zertifizierungssysteme für Quartiere von DGNB, LEED und BREEAM nach Gewichtung der einzelnen Themenfelder (bei LEED und BREEAM sind die einzelnen Kriterien den Themenfeldern nach DGNB zugeordnet) Abb. 5  Gewichtung der ­Themenfelder im DGNB-System für Stadtquartiere Abb. 6 Bewertungsstufen beim DGNB-System für Stadtquartiere Abb. 7  Übersicht der Krite­ rien des DGNB-Nutzungsprofils »Stadtquartiere, ­Version 2016«, Prozent­ angaben gerundet

[%]

Kapitel 4 — Werkzeuge

soziale Qualität technische Qualität

Ökologie Ökonomie

35

Prozessqualität Sonderbereich

30

25

20

15

10

5

Die zehn One-Planet-­ Prinzipien

1. kein CO2-Ausstoß (zero carbon) 2. kein Abfall (zero waste) 3. nachhaltige Verkehrsplanung (sustainable ­transport) 4. nachhaltige Materialien (sustainable materials) 5. lokale und nachhaltige Nahrungsmittel (local and sustainable food) 6. nachhaltiger Wassereinsatz (sustainable water) 7. Natur- und Tierschutz (land use and wildlife) 8. Kultur- und Denkmalschutz (culture and ­heritage) 9. fairer Handel und lokale Wirtschaft (equity and local economy) 10. Gesundheit und Lebensqualität (health and happiness)

Weitere Informationen

•  Danish Building Research Institute: Guide to Sustainable Building Certifications. Kopenhagen 2018 •  DGNB e.V.: Mehrwert zertifizierter Gebäude. Stuttgart 2018 •  Ebert, Thilo; Eßig, Natalie; Hauser, Gerd: Zertifizierungssysteme für Gebäude. Nachhaltigkeit bewerten, internationaler Systemvergleich, Zertifizierung und Ökonomie. München 2010 •  Mösle, Peter et al.: Praxishandbuch Green Building: Nachhaltige Bestands- und Neubauten. Berlin 2016 •  Mösle, Peter et al.: Praxishandbuch Green Building: Recht, Technik, Architektur. Berlin 2017 •  RICS Deutschland Ltd. (Hrsg.): Grün kommt – Europäische Nachhaltigkeitsstatistik 2017, ­ www.rics.org/Global/Grün 20kommt! 2017.pdf •  www.transformativetools.org (Überblick Zertifizierungssysteme für Städte, Quartiere und Infra­ stukturen) • http://ec.europa.eu/environment/eussd/­ buildings.htm (Level(s) – Europäischer Bewertungsrahmen für nachhaltige Gebäude) • www.dataforcities.org • www.worldgbc.org

0 DGNB

LEED

BREEAM

Abb. 4

entstehen einmalig für die Entwicklung des Aktionsplans. Hinzu kommt ein jährlicher Beitrag für die Überprüfung des Plans, technische Beratung und sonstige Aktivitäten der Organisation (u. a. für die Bekanntmachung der Projekte).

Stadtquartiere gibt es mittlerweile auch angepasste Systeme für Gewerbequartiere, Industriestandorte, Event Areale, Resorts und Vertical Cities.

DGNB-System für nachhaltige ­Quartiere

Da sich die Entwicklung von Quartieren über einen langen Zeitraum erstreckt, in dem oft auch die Eigentümer wechseln, wurde neben dem Vorzertifikat (Phase 1) auf Ebene des städtebaulichen Entwurfs ein weiteres Zertifikat für die Erschließung (Phase 2) eingeführt. Den Abschluss bildet das Zertifikat für das zumindest zu 75 % fertiggestellte Quartier (Phase 3) (Abb. 6). Die Gewichtung der Themenfelder bei den Stadtquartieren entspricht der Systematik der DGNBGebäudesysteme und beruht auf einem Gleichgewicht der ökologischen, ökonomischen sowie der soziokulturellen und funktionalen Qualität (Abb. 5).

Das von der DGNB entwickelte System für nachhaltige Quartiere zeichnet sich durch die ganzheitliche Betrachtung von ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten aus und ist damit das einzige System, das auch der wirtschaftlichen Dimension von Nachhaltigkeit besondere Beachtung schenkt. Bei der Betrachtung über den gesamten Lebenszyklus werden alle mit der Entwicklung des Quartiers verbundenen Emissionen und Kosten systematisch erfasst und bewertet – vom Rohstoffabbau über die Herstellung und Verarbeitung bis hin zum Recycling der einzelnen Bestandteile. Die Ausrichtung der Bewertung an konkreten Zielen, beispielsweise der Unterschreitung der gesetzlichen Vorgaben für den Primärenergiebedarf von Gebäuden um 30 %, ermöglicht es, auf das Projekt zugeschnittene individuelle Lösungen zu entwickeln, ohne systemspezifische Vorgaben machen zu müssen. Das System trägt somit dazu bei, planerische Innovationen zur fördern. Neben dem Bewertungssystem für gemischt genutzte

Bewertungsstufen und Gewichtung

Ziele und Kriterien Die übergeordneten Ziele des DGNB-Nutzungsprofils für Stadtquartiere sind es, die Umwelt und natürliche Ressourcen zu schonen, den Komfort und das Wohlbefinden der Nutzer des Quartiers zu stärken sowie die anfallenden Kosten über den gesamten Lebenszyklus zu minimieren. Hierfür gibt es einen quartiersspezifischen Kriterienkatalog, der sich an den Grundzügen der DGNBSystematik orientiert, jedoch inhaltlich komplett neu erarbeitet ist. So wird auch in diesem System

223

4.4 — Zertifizierungs- und Bewertungssysteme

ökologische Qualität 22,5 %

ökonomische Qualität 22,5 %

soziokulturelle u. funktionale Qualität 22,5 %

Vorzertifikat (Phase 1)

Zertifikat (Phase 2)

Zertifikat (Phase 3)

Entwurf

Planung / Erschließung

Quartier

städtebaul. Entwurf

technische Qualität 22,5 %

Prozessqualität 10 % Gültigkeit 3 Jahre Abb. 5

min. 25% Infrastruktur, altern.: B-Plan und städtebaul. Verträge

min. 75% Hochbau sowie öffentliche Frei- und Verkehrsflächen

Gültigkeit 5 Jahre

Gültigkeit unbegrenzt

Abb. 6

den Themen Ökobilanz und Lebenszykluskosten besondere Beachtung geschenkt. Zusätzlich werden weitere Kriterien wie beispielsweise Stadtklima, Biodiversität, Mobilitätsinfrastruktur oder auch das Regenwassermanagement in die Betrachtung miteinbezogen. Abb. 7 zeigt die Kriterien für Quartiere sowie deren prozentualen Anteil am Gesamtsystem.

Zusammen­ fassung Auch wenn in der Fachwelt die Zertifizierung von Städten oder Quartieren teilweise noch auf Kritik stößt, bietet sie eine Möglichkeit, die Qualität eines Projekts in jeder Phase der Entwicklung nach objektiven Kriterien zu bewerten und transparent zu kommunizieren. Der Zertifizierungsprozess zwingt alle Beteiligten, zu Beginn des Projekts verbindliche, gemeinsame Ziele zu definieren, die regelmäßig evaluiert werden können. Somit können die Kriterien und der Prozess auch als Planungs- und Steuerungsinstrument dienen, um die Auswirkungen von Planungsentschei­ dungen auf die Nachhaltigkeit eines Projekts zu bewerten. Gleichzeitig bieten Zertifizierungssysteme die Möglichkeit, Projekte überregional und international zu vergleichen, was insbesondere für Investoren und große Konzerne von Interesse ist. Eine Zertifizierung mit ihren geringen Kosten im Vergleich zu denen der Gesamtquartiersentwicklung bringt deutliche Vorteile mit sich. Natürlich sind Energieeinsparungen oder die Verbesserung der Aufenthaltsqualität in öffentlichen Räumen nicht dem Zertifizierungsprozess direkt gutzuschreiben, jedoch kann dieser dazu führen, dass frühzeitig alle relevanten Aspekte berücksichtigt und intelligente Konzepte entwickelt werden. Des Weiteren lassen sich aus ökonomischer Sicht höhere Renditen bei zertifizierten gegenüber nicht zertifizierten Projekten erzielen.

Nr.

Kriterium/Indikatoren

ENV

ökologische Qualität

ENV 1.1

Ökobilanz – emissionsbedingte ­Umweltwirkungen Biodiversität Stadtklima Umweltrisiken Gewässer- und Bodenschutz Ökobilanz – Ressourcenverbrauch Wasserkreislaufsysteme Flächeninanspruchnahme

ENV 1.4 ENV 1.5 ENV 1.6 ENV 1.7 ENV 2.1 ENV 2.2 ENV 2.3 ECO

ökonomische Qualität

ECO 1.1 ECO 1.2 ECO 2.1 ECO 2.2 ECO 2.4

Lebenszykluskosten fiskalische Wirkung auf die Kommune Resilienz und Wandlungsfähigkeit Flächeneffizienz Wertstabilität

SOC

soziokulturelle und funktionale Qualität

SOC 1.1 SOC 1.6 SOC 1.9 SOC 2.1 SOC 3.1 SOC 3.2 SOC 3.3

thermischer Komfort im Freiraum Freiraum Emissionen/Immissionen Barrierefreiheit Städtebau soziale und funktionale Mischung soziale und erwerbswirtschaftliche ­Infrastruktur

TEC

technische Qualität

TEC 2.1 TEC 1.2 TEC 1.4 TEC 3.1

Energieinfrastruktur Wertstoffmanagement Smart Infrastructure Mobilitätsinfrastruktur – Motorisierter ­Verkehr Mobilitätsinfrastruktur – Nichtmotori­ sierter Verkehr

TEC 3.2 PRO

Prozessqualität

PRO 1.2 PRO 1.7 PRO 1.8 PRO 1.9 PRO 3.5

integrale Planung Partizipation Projektmanagement Governance Monitoring

Abb. 7

Gewichtung

Anteil in % 22,5

3

3,4

2 3 1 2 3 3 3

2,3 3,4 1,1 2,3 3,4 3,4 3,4 22,5

3 2 2 3 1

6,1 4,1 4,1 6,1 2,0 22,5

1 3 3 2 2 3 2

1,4 4,2 4,2 2,8 2,8 4,2 2,8 22,5

2 1 1 2

5,6 2,8 2,8 5,6

2

5,6 10,0

3 2 3 2 2

2,7 1,8 1,8 1,8 1,8

K A P ITE L 5

Projekte

Einführung

D

ie vorangegangenen Kapitel stellen die Herausforderungen, Handlungsfelder und Umsetzungsstrategien für eine nachhaltige Stadt- und Quartiersplanung dar. Je nach Standort und spezifischen Ausgangsbedingungen gilt es, individuelle Konzepte zu entwickeln, die ökologische, ökonomische und soziale Kriterien berücksich­tigen und untereinander abwägen. Dabei kann ein Quartier im ländlichen Raum im Regelfall z. B. nicht die gleiche Qualität der Verkehrsanbindung oder der Versorgung mit sozialer Infrastruktur bieten wie ein innerstädtisches Viertel in einer Großstadt. Dafür verfügt das Quartier im ländlichen Raum über andere Potenziale, wie z. B. die Bereitstellung großzügiger Grün- und Freiflächen für die Bewohner, was sich u. a. positiv auf das Mikroklima und die Artenvielfalt auswirkt. Es kann also nicht das nachhaltige Quartier schlechthin geben. Aus diesem Grund wurden für die Dokumentationen in diesem Kapitel be­­wusst ganz unterschiedliche Quartiere ausgewählt – solche, die nach dem Top-Down-Prinzip entstanden sind wie das Projekt Dockside Green im kanadischen Victoria und solche, die nach dem Bottom-Up-Prinzip entwickelt wurden wie die NDSM-Werft in Amsterdam; von extrem verdichteten Quartieren wie dem Potsdamer Platz in Berlin über Bauvorhaben im ländlichen Raum wie dem ecoQuartier in Pfaffen­hofen bis hin zu Lowtech-Ansätzen wie bei dem Projekt New Ethiopian Sustainable Town (NEST) in Äthiopien. Insgesamt werden 14 Projekte vorgestellt, von denen jedes auf ganz unterschiedliche Art und Weise als nachhaltig einzustufen ist. Die Auswahl geht dabei auf eine umfassende Untersuchung von 140 nachhaltigen Modell­quartieren zurück, die im Rahmen des Seminars »Nachhaltige Quartiersplanung – Projekte, Strategien, Handlungansätze« im Wintersemester 2012/2013 am Städte­ bau-Institut der Universität Stuttgart durchgeführt

wurde. Nähere Informationen zu einer Auswahl der Modellvorhaben, die im Rahmen des Seminars behandelt wurden, sind in der Zusammenstellung auf S. 262ff. zu finden. Die betrachteten Projekte zeigen auf der einen Seite, dass bereits heute innovative und nach­ haltige Quartiersentwicklungen möglich sind. Auf der anderen Seite ist klar zu erkennen, dass die meisten Vorhaben sich nur auf einen Teil der Nachhaltigkeit konzentrieren und kaum eine ­Entwicklung wirklich umfassend und ganzheitlich nachhaltig ist, wie es unserem Verständnis von Nachhaltigkeit entsprechen würde. Bei der Darstellung der 14 Projekte wird der Fokus folglich bewusst nur auf die Teilaspekte gelegt, die im jeweiligen Projekt gut umgesetzt wurden, wohlwissend das viele weitere Aspekte wichtig für den Erfolg des Quartiers sind. Ein Netzdiagramm gibt Überblick über die Stärken und Schwächen des jeweiligen Quartiers. Dieses orientiert sich an den Themen Herausforderungen und Handlungsfeldern der vorangegangenen Kapitel, die für die Netz­diagramme qualitativ bewertet wurden (1 = durchschnittlich, 2 = überdurchschnittlich, 3 = Best Practice). In der nachfolgenden Tabelle (S. 227) sind die sieben wichtigsten Rahmenbedingungen einer Stadtquartiersentwicklung aufgeführt, die sich maßgeblich auf die inhaltliche Ausrichtung, die Planungs- und Entwicklungsstrategie sowie den Bauablauf auswirken. Die zu jeder Kategorie aufgeführten Aspekte sind aus der gängigen Literatur abgeleitet und wurden für einen internationalen Vergleich sinnvoll weiterentwickelt. Die hier dargestellten Quartiere sollen Anregungen geben, wie sich die umfassenden Aspekte der Nachhaltigkeit in konkreten Bauvorhaben unter den jeweiligen individuellen Rahmenbedingungen berücksichtigen lassen. Ziel der Dokumentationen soll es sein, eine ganzheitliche Heran­ gehensweise an eine Aufgabenstellung aufzu­ zeigen, die Planer entsprechend in ihre Projekte einfließen lassen können.

225

226

Kapitel 5 — Projekte

im Projektteil (S. 228 – 261) dokumentierte Quartiere weitere Projekte (S. 262 – 265) Abb. 1 Lage der ­analy­sierten Quartiere

227

NDSM-Werft

Berlin TXL – The Urban Tech Republic

Viertel Zwei

Barangaroo

GWL-Terrein

NEST – New Ethiopian ­Sustainable Town

Möckernkiez

Hammarby Sjöstad

Neckarbogen

Dockside Green

Bo01 – Western ­Harbour

ecoQuartier

Carlsberg

Potsdamer Platz

Übersicht













Klimazone Tropen



Subtropen



gemäßigt



















Stadttyp nach Einwohnern Dorf, ländlicher Raum (