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German Pages 269 [275] Year 2013
Tihomir Popović Mäzene – Manuskripte – Modi
Bei hef te zu m A rc h iv f ü r Mu si k w i s sen sc ha f t herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck Band 71
Tihomir Popović
Mäzene – Manuskripte – Modi Untersuchungen zu My Ladye Nevells Booke
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10214-8
INHALTSVERZEICHNIS Dank ..................................................................................................................
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1. Einleitung ....................................................................................................
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1.1 Mit Bourdieu zu Byrd und Bacon: Methodische Vorüberlegungen...... 1.1.1 Theoretische Grundlagen ............................................................ 1.1.2 „Hilfsdisziplinen“ ....................................................................... 1.2 Bisheriger Forschungsstand .................................................................. 1.3 Zur Gliederung der Arbeit .................................................................... 1.4 Anmerkungen zur Terminologie und Zitierweise .................................
15 15 21 28 37 38
2. Love’s Labour Constructed. Die Geburt einer Musiksammlung aus dem Geiste der Gentry .................................................................................
41
2.1 Der Name der Lady. Namensrechtliche Überlegungen zur Identität der „Ladye Nevell“............................................................................... 41 2.1.1 Exkurs: Die Adelstitulatur in England ........................................ 44 2.1.2 Elizabeth oder Rachel? Zwischen Titulatursystematik und freier Titelbenutzung................................................................... 48 2.2 Von Schwänen und Klammern. Heraldische Aspekte von My Ladye Nevells Booke....................................................................... 50 2.2.1 Der Name „Nevell“ im Lichte der Diplomatik ........................... 59 2.3 Der Bulle und das Buch. Die aristokratische Identitätskonstruktion der Nevilles ........................................................................................... 60 2.4 Protestanten, Papisten, Pedigrees. My Ladye Nevells Booke und das Netzwerk aristokratischer Widmungsträger .................................. 76 2.5 Byrd und die Nevilles zwischen Geographie und Genealogie ............. 84 2.6 For ornament und reputation? Die Nevilles, die Musik und die Gelehrsamkeit ................................................................................. 90 2.6.1 Die Tudors und die Musik .......................................................... 91 2.6.2 Musik im aristokratischen Erziehungsprozess............................ 93 2.6.3 An admirable delight: Das Säkulare, das Sensuelle und das Private im Musikkonzept der elisabethanischen Aristokratie ................................................................................. 97 2.6.4 Sir Henry Neville revisited ......................................................... 103 2.6.5 „Ladye Nevell“ revisited ............................................................ 108
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Inhaltsverzeichnis
3. Lords, Ladies, Literacy: My Ladye Nevells Booke und die musikalische Schriftlichkeit .................................................................. 117 3.1 The Second Hand. Ergänzungen und Korrekturen in My Ladye Nevells Booke....................................................................... 3.1.1 Akzidentien ................................................................................ 3.1.2 Fehlende und falsche Töne ......................................................... 3.1.3 Taktstriche, Wächter, Zahlen ...................................................... 3.1.4 Ornamente................................................................................... 3.1.5 Ergänzungen der Klanglichkeit und der Stimmführung ............. 3.1.6 Komplexe Veränderungen........................................................... 3.2 By Byrd or not by Byrd? Zur Frage der Autorschaft von Korrekturen in My Ladye Nevells Booke................................................................... 3.2.1 „Musicions-autours-makers“ und ihr „skill“. Autorschaftskonzept und Individualstilbegriff im Umfeld William Byrds ............................................................................. 3.2.2 No Byrd Code: Das „Geheimnis“ der Korrekturen aus My Ladye Nevells Booke .......................................................... 3.3 Grace literalisiert. My Ladye Nevells Booke im Lichte musikalischer Verschriftlichungsprozesse.................................................................... 3.3.1 To put another humour: Die literale Behandlung von Gattungen der Musik für Tasteninstrumente ................................................ 3.3.2 Ein Stand und seine Schriftspuren: Betrachtungen zur Literalisierung von kompositionstechnischen Einzelheiten .................
118 121 122 122 123 124 125 126 126 132 139 139 143
4. Hof, Krieg, Landleben: Das Konzept von My Ladye Nevells Booke ........... 153 4.1 ReÁexionen der Adelskultur in der Auswahl der Kompositionen................................................................................ 153 4.2 Ein Decrescendo des Aristokratischen: Zur Frage der Gliederung von My Ladye Nevells Booke ..................... 159 5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“: Die Tonartbehandlung in My Lady Nevells Booke ...................................... 165 5.1 Nicht „onely for the Church“: Vorbemerkungen zur englischen Musiktheorie ..................................... 5.2 Konstitutives Element oder Collagematerial? Die Tonarten der Fantasien in My Ladye Nevells Booke ..................... 5.3 Neue Tonartenkonzepte für staide musicke: die Pavanen und Galliarden ................................................................. 5.4 A thoroughly English affair? Grounds und Melodievariationen .......... 5.4.1 Grounds....................................................................................... 5.4.2 Melodievariationen ..................................................................... 5.4.3 Tonarten und englishness? ..........................................................
165 173 189 201 205 208 210
Inhaltsverzeichnis
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5.5 Verzicht als Prinzip: Battaglia, Marsch und Varia ............................... 213 5.6 Die „Gattungstonarten“ William Byrds: Ein Rückblick ....................... 219 6. Gesellschaft und Individuum, „Altes“ und „Neues“: Überschneidungen in My Ladye Nevells Booke. Eine Zusammenfassung ............................... 231 Abkürzungen ..................................................................................................... 243 Literatur............................................................................................................. 247
DANK Wenn ich mich an einigen Stellen der vorliegenden Studie kritisch zu den traditionellen Konzepten der Autorschaft äußere, und mich mit Foucault frage: „Qu’est-ce qu’un auteur?“, dann gilt dieses Hinterfragen – auf einer bei weitem weniger theoretischen Ebene – auch für meine eigene Studie. Da sie von einer deutschen Universität als Dissertation angenommen worden ist, musste ich sie zwar im juristischen Sinne „selbstständig verfassen“; ohne Mitwirkung anderer Menschen wäre sie jedoch nie zustande gekommen. Daher möchte ich dieses Vorwort nicht als eine essayistische Vorstudie oder einen wissenschaftstheoretischen Prolog gestalten, sondern stattdessen die Gelegenheit nutzen, um möglichst vielen jener Menschen zu danken, deren tatkräftiger und entscheidender Mitwirkung diese Arbeit ihre Entstehung verdankt. Professor Dr. Dr. h. c. Hermann Danuser, meinem Betreuer und Doktorvater, sei an erster Stelle herzlichst gedankt: Er hat meine Arbeit von den Vorüberlegungen im Jahr 2005 bis zur Verteidigung der Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2011 mit intensivem wissenschaftlichem Engagement und großer menschlicher Hilfsbereitschaft begleitet. Ohne seine Impulse für die Gestaltung dieser Studie wäre sie kaum existenzfähig geworden. Die Entstehung meiner Dissertation wäre ohne eine dreijährige Förderung durch die Konrad-Adenauer-Stiftung und die anschließende Unterstützung durch den Hilfs- und Sozialfonds der Altstipendiaten dieser Stiftung sicherlich nicht möglich gewesen: Stellvertretend für die gesamte Stiftung sei dafür insbesondere Dr. Daniela Tandecki, Dr. Rita Thiele und Dr. Michael Wolf gedankt. Der VG Wort danke ich für die Gewährung des Druckostenzuschusses, welcher die Veröffentlichung meiner Studie im Rahmen der „Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft“ möglich gemacht hat. Meinem Zweitgutachter, Professor Dr. Arnfried Edler, gebührt auch aufrichtiger Dank für wichtige Ratschläge und fruchtbaren Meinungsaustausch. Professor em. Dr. Ulrich Pothast und Professor Dr. Raimund Vogels, die meine Arbeit besonders in ihrer Anfangsphase unterstützt haben, danke ich ebenfalls herzlich. Für anregenden Gedankenaustausch in Bezug auf die Ànale Fassung der Studie, sowie für ihre Aufnahme in die „Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft“ möchte ich auch Professor Dr. Albrecht Riethmüller meinen Dank aussprechen. Professor Dr. Michelle Callela danke ich dafür, dass er mir den Text seiner Habilitationsschrift noch vor ihrer Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Meine Archivforschungen in England wurden von vielen Menschen mit Interesse begleitet und unterstützt. Lord Abergavenny, dem einstigen Besitzer von My Ladye Nevells Booke, sei an dieser Stelle für die ursprüngliche Erlaubnis, dieses wertvolle Manuskript einzusehen, gedankt. Lady Angela Nevill danke ich für unseren wichtigen Informationsaustausch in der Anfangsphase meiner Arbeit. Lord Petre möchte ich für seine Gastfreundlichkeit in Ingatestone Hall sowie für die an-
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Dank
regenden und fruchtbaren Gespräche im Jahr 2007 herzlich danken. Dem Garter King of Arms, Thomas Woodcock, gebührt Dank für seine Beratung im Bereich der englischen Heraldik sowie für seine Erlaubnis, ein Wappen aus seiner Privatsammlung im Anhang dieser Studie zu reproduzieren. Meinen herzlichen Dank möchte ich Oliver Neighbour aussprechen: Die Fachgespräche mit ihm haben meiner Arbeit wichtige Impulse gegeben, während seine Monographie über Byrds Instrumentalmusik zu einem meiner ständigen Begleiter während der Promotionszeit zählte. Dr. David Smith danke ich für die Einladung, bei der Jahrestagung der Royal Musical Association 2008 in Aberdeen vorzutragen und dadurch in einen intensiven Gedankenaustausch mit britischen Forschern zu treten. Richard Turbet sei für seine Unterstützung bei meiner Forschung in Aberdeen gedankt. Christopher Foley danke ich herzlich dafür, dass er mir sein Manuskript zur Identität von „Ladye Nevell“ zur Verfügung gestellt hat, sowie für die Erlaubnis, seine FotograÀen im Anhang dieser Studie zu verwenden. Ohne die freundliche Unterstützung der British Library, in der My Ladye Nevells Booke seit 2006 aufbewahrt wird, wäre die Forschung an dem Manuskript für den Verfasser sehr schwierig gewesen. Für diese Unterstützung und die Erlaubnis, Reproduktionen aus dem Manuskript im Anhang dieser Studie zu veröffentlichen, sei dem Vorstand der British Library gedankt. Herzlicher Dank gilt auch dem Kurator der Musiksammlung, Dr. Nicolas Bell, der mir sowohl fachlich als auch organisatorisch bei der Forschung in London sehr behilÁich war. Darüber hinaus danke ich auch der Bibliothek der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, der Leibniz-Bibliothek Hannover und der Universitätsbibliothek Aberdeen für die freundliche Unterstützung bei meiner Forschungsarbeit. Herzlich gedankt sei auch Dr. Thomas Schaber und dem Franz Steiner Verlag für die gute Betreuung. Meinen Kollegen und Studierenden der Hochschule Osnabrück, der Hochschule für Musik und Theater Hannover und der Humboldt-Universität zu Berlin danke ich recht herzlich für zahlreiche Fachgespräche, die mir während der Promotionszeit und der Vorbereitung der Publikation sehr wertvoll waren. Für die Unterstützung und Ratschläge im sprachlich-stilistischen Bereich danke ich Johanna Thomsen, Barbara Kortmann, Moritz Schilling und Johannes Alfred Wolf sehr herzlich. Behrang Noipour sei für seine Hilfe bei der Erstellung der Notenbeispiele ebenfalls Dank ausgesprochen. Meinen Eltern Tomislav und Zagorka Popoviþ danke ich herzlich für ihr Interesse an meiner Arbeit, ihre Unterstützung und ihren Beistand während der Entstehungszeit der Studie. Ganz besonders danke ich meiner Frau, Dr. Mirjana Avramoviþ-Popoviþ, und meiner Tochter SoÀja für all die Weisheit, die sie mir in den Jahren der Arbeit an dieser Studie schenkten, die Geduld, die sie mit mir manchmal aufbringen mussten, und die Güte, mit der sie mir begegneten. Hannover/Luzern, 18. Juli 2012
Tihomir Popoviþ
HINWEIS Der Anhang (Bd. 2) dieser Studie wird im Internet veröffentlicht und ist unter http://www.diamm.ac.uk/resources/appendices.html abrufbar.
1. EINLEITUNG Yet let not straingers bragg, nor they these soe commende, For they may now geve place and sett themselves behynde, An Englishman, by name, William BIRDE for his skill. Which I shoulde heve sett Àrst, for soe it was my will, Whose greater skill and knowledge dothe excelle all at this tyme And far to strange countries abroade his skill doth shyne; John Baldwin, Schreiber von My Ladye Nevells Booke1 Who now calls on thee, NEVIL, is a Muse, That serves nor fame, nor titles; but doth chuse Where vertue makes them both, and that’s in thee: Where all is faire, beside the pedigree. Ben Jonson: „To Sir Henry Nevil“ 2
Im Jahre 1591, als John Baldwin, renommierter Notenschreiber und Chorsänger an der Hl.-Georg-Kapelle im königlichen Schloss zu Windsor3, seine Arbeit am Tastenmusikmanuskript My Ladye Nevells Booke beendete, befand sich England – oder zumindest die das Land führende Elite – im Aufbruch. Drei Jahre zuvor hatte die Politik Königin Elizabeths I. (1533/1558–1603) in dem Sieg über die spanische Armada (1588) eine entscheidende – wenn auch nicht unumstrittene – Bestätigung gefunden4. Die protestantische Königin hatte bereits mehr als 30 Jahre auf dem Thron des durch sie wieder protestantisch gewordenen Inselkönigreichs gesessen und das Land genoss trotz aller ökonomischen und innenpolitischen Schwierigkeiten eine gewisse Stabilität. Die Politik ihres Vaters, Heinrichs VIII., hatte Elizabeth I. auch in personalpolitischer Hinsicht fortgesetzt: Die Führung des Landes lag seit Dekaden in den Händen des säkularen Adels, der immer intensiver auch die Patronage über verschiedene Bereiche von Geistestätigkeit übernahm5.
1 2 3 4 5
Aus Baldwins Gedicht über Komponisten: BL MS R. M. 24.d.2, Folio IIv–IIIr, mehrfach abgedruckt; hier zitiert nach Boyd 1962, S. 311. John Harley zitiert einen Teil des Gedichts in Originalorthographie (vgl. Harley 1997, S. 367). Zu diesem Gedicht vgl. auch Unterkapitel 3.2.1. Aus Jonsons Eppigrammes (1616). Zitiert nach James/Rubinstein 2005, S. 208. Der Adressat war Sir Henry Neville d. J., der Sohn Sir Henry Nevilles d. Ä. und Elizabeth Gresham (vgl. Kapitel 2.3). Zu John Baldwin s. etwa Mateer 2004 sowie die dort angeführte Literatur; zu Baldwins Handschrift in MLNB s. Gaskin 1992. In Bezug auf Aspekte des elisabethanischen Zeitalters unmittelbar nach der Armada s. etwa Wernham 1985. Die Literatur über Elizabeth I. und über das elisabethanische Zeitalter ist selbstverständlich viel zu umfangreich, um hier auch nur annähernd systematisch vorgestellt zu werden. Es sei dennoch auf Standardwerke wie Suerbaum 1991, Williams 1995 und die kritische Einführung
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1. Einleitung
Die elisabethanische Epoche wird traditionell auch als „goldenes Zeitalter“ der englischen Musik für Tasteninstrumente – mit William Byrd, John Bull und Orlando Gibbons als „Triumvirn“ dieser Gattung – wahrgenommen6. Diese Vorstellung mag zum Teil idealisiert sein, es ist dennoch kaum zu bestreiten, dass, obwohl die Musik für Tasteninstrumente in England seit Generationen präsent war, die elisabethanische Epoche zumindest eine bedeutende Welle ihrer Literalisierung hervorgebracht hat7. Obwohl es in England auch vor MLNB einzelne Kompositionen der Musik für Tasteninstrumente gegeben hatte, die Adelsangehörigen gewidmet gewesen waren8, war das 1591 entstandene Manuskript Baldwins die erste englische Sammlung der Musik für Tasteninstrumente, die als Ganzes einer Aristokratin zugeeignet war9. Jedoch wurde die Identität der Widmungsträgerin dieser Sammlung bis 200510 nicht eingehend untersucht und das soziale Umfeld ihrer Entstehung ist immer noch nahezu unbekannt. Dabei stellt die Sammlung in vielfacher Hinsicht ein Unikum unter den Quellen der elisabethanischen Musik für Tasteninstrumente dar. Sie ist nicht nur die einzige Manuskriptsammlung ihrer Art, die einer Aristokratin gewidmet ist, sondern auch die einzige, die eine komplexe heraldische Darstellung enthält (Abb. 3). Darüber hinaus stellt MLNB auch das einzige elisabethanische Manuskript der Musik für Tasteninstrumente dar, das neben der Handschrift des Notenschreibers auch umfangreiche Korrekturen in einer anderen Handschrift enthält und dadurch die Intensität und die Bedeutung der musikalischen Literalisierung im elisabethanischen England besonders deutlich zum Ausdruck bringt. Singulär ist auch die Tatsache, dass MLNB Kompositionen nur eines Komponisten enthält: des Gentleman of the Chapel Royal William Byrd (1540–1623), der schon von seinen Zeitgenossen als der bedeutendste englische Komponist seiner Epoche geschätzt worden war11. Ebenfalls ist bemerkenswert, dass die Reihenfolge der in der Sammlung enthaltenen 42 Stücke Byrds auf einem Gesamtkonzept zu beruhen scheint und so der Sammlung insgesamt den Anschein eines Zyklus verleiht12. Schließlich wurde in der bisherigen Forschung auch der Aspekt der Tonartbehandlung mit dem Konzept
in das Tudor-Zeitalter in Guy 1984 hingewiesen. Zur englischen Aristokratie seit dem elisabethanischen Zeitalter s. insbesondere die Studien Stones (1965 und 1984). 6 Vgl. u. a. Terrys Vorwort in MLNB selbst (MLNB, IX.) sowie Borren 1913, Glyn 1924/1934, Fellowes 1936, Boyd 1962, Wulstan 1985, Bray 1995. S. hierzu auch Kapitel 1.2. Die Bezeichnung „triumviri of Musicke“ stammt aus den Vorwort-Gedichten von Parthenia (vgl. Abkürzungsverzeichnis). Vgl. hierzu auch Edler 1997, S. 162. 7 Vgl. etwa Price 1984 sowie die Teile 2 und 3 der vorliegenden Studie. Vgl. auch Lawson 2007. 8 Vgl. Teil 5. 9 Vgl. etwa Brown 1968/1969, S. 29. 10 Vgl. Kapitel 1.2. 11 Vgl. etwa das Zitat Baldwins am Anfang des vorliegenden Kapitels und die Ausführungen Peachams (vgl. Kapitel 2.6). Zur elisabethanischen Byrd-Rezeption vgl. etwa Harley 1997, S. 363–368. 12 Vgl. hierzu etwa Neighbour 1978, S. 179 f., Edler 1997, S. 165 sowie Harley 2005, S. 128 f.
1.1 Mit Bourdieu zu Byrd und Bacon: Methodische Vorüberlegungen
15
der Sammlung in Verbindung gebracht13 – für eine Sammlung der Musik für Tasteninstrumente des 16. Jh. ein überaus bemerkenswerter Umstand. Die vorliegende Studie, die auf theoretischer Ebene durch das Denken Pierre Bourdieus und durch die von ihm beeinÁusste Kulturgeschichtsschreibung geprägt ist, stellt einen Versuch dar, Zusammenhänge zwischen den genannten Charakteristika der Sammlung und dem sozialen Umfeld, in welchem sie entstanden ist, zu untersuchen. Sie wird versuchen, die Identität der Widmungsträgerin von MLNB endgültig zu ermitteln, um den Habitus, die Bildung, den Geschmack und den Musikbezug von „Ladye Nevell“ und ihrem Umkreis zu beleuchten und diese Aspekte auch mit dem Habitus des Komponisten William Byrd in Verbindung zu bringen. Sie soll dann die Bezüge zwischen den sozialen Rahmenbedingungen um die Entstehung von MLNB und dem Konzept der Sammlung sowie dem Phänomen der in MLNB manifestierten musikalischen Literalisierung untersuchen. Durch die Analysen der in MLNB enthaltenen Kompositionen soll auch die Entwicklung der Tonartlichkeit im England des 16. Jh. im Kontext der kulturellen Entwicklungen der Epoche betrachtet und in Bezug zur Entfaltung von Gattungen der Musik für Tasteninstrumente gesetzt werden. Schließlich wird versucht, diese Untersuchungsaspekte aufeinander zu beziehen, um einen Einblick in die Zusammenhänge von sozialen Entwicklungen, individuellen kompositorischen Entfaltungen und dem musikalischen Material zu bekommen. Dabei wird es im Rahmen der vorliegenden Studie nicht (nur) darum gehen, die in der Gesellschaft stattÀndenden Prozesse sowie die individuellen biographischen Einzelheiten mit der „Tendenz des Materials“14 in Verbindung zu bringen: Es soll auch mit historiographischen Methoden in den Bereichen des Habitus, des Geschmacks und der Bildung nach Wegen gesucht werden, die das „Spannungsfeld ‚Musik und Gesellschaft‘“15 im elisabethanischen Zeitalter konstituiert haben. 1.1 MIT BOURDIEU ZU BYRD UND BACON: METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN 1.1.1 Theoretische Grundlagen In einer Studie, die sich auf der einen Seite der Erforschung von Aspekten der Adelspatronage widmen will, auf der anderen Seite das Phänomen der musikalischen Literalisierung untersuchen und eine historisch fundierte Tonartenforschung betreiben soll, muss naturgemäß auch eine Fülle von Methoden angewendet werden, deren Beschreibung hier nur umrissen werden kann, wenn der Rahmen einer Einleitung nicht gesprengt werden soll. Methodische und terminologische Überle13 14 15
Ebd. Hier natürlich als Anspielung auf Adornos musiksoziologisches Denken gemeint (vgl. etwa Adorno 1997, S. 38). Zu der in der vorliegenden Studie angewendeten sozialhistoriographischen Methode vgl. Kapitel 1.1. Kneif 1966, S. 96.
16
1. Einleitung
gungen zu einigen Themenbreichen werden aus diesem Grund teilweise auch an entsprechenden Stellen im Rahmen späterer Kapitel dargelegt werden16. Die Untersuchungen der vorliegenden Studie werden methodisch auf zwei Ebenen – einer kulturwissenschaftlichen und einer von verschiedenen fachwissenschaftlichen Disziplinen determinierten – stattÀnden. Die erste Methodenebene, welcher die bereits angedeutete kultur- und sozialhistorische Fragestellung zugrunde liegt, verdankt wichtige Impulse dem soziologischen Denken Pierre Bourdieus, das hier – mutatis mutandis – auf die Ebene des Historischen transportiert worden ist. Obwohl dieses Denken in der Musikwissenschaft bereits rezipiert worden ist – etwa von Michael W. Schmidt und Andreas Gebesmeier17 – soll es im Rahmen der vorliegenden Einleitung dennoch im Ansatz vorgestellt werden, um die Relevanz von Bourdieus Methoden für die Fragestellung der ganzen Studie nachvollziehen zu können. Dabei können verständlicherweise im Rahmen des vorliegenden Kapitels weder die Positionierung Bourdieus im sozialwissenschaftlichen Feld noch die Bedeutung seiner Ansätze im Lichte der gesamten musikwissenschaftlichen Sozialgeschichtschreibung diskutiert werden: Dieses würde einer gesonderten Studie bedürfen18. Die nachfolgenden Ausführungen sollen daher lediglich als Erklärung zur Methode, nicht als Beschreibung eines Forschungsbereiches verstanden werden. Für die vorliegende Arbeit ist zunächst Bourdieus „praxeologische“ Denkweise konstitutiv. Diese Methode entfaltete sich ausgehend von der Kritik an dem für Bourdieu künstlichen Dualismus zwischen sozialwissenschaftlichen „Erkenntnisweisen“19. So schrieb er in seinem Werk Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft ausdrücklich: „Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus“20. Hier und in dem Entwurf einer Theorie der Praxis21 unternahm Pierre Bourdieu den Versuch, die beiden Positionen kritisch zu untersuchen und einen „dritten Weg“ einzuschlagen. Er verstand die objektivistische Erkenntnisweise als eine Tendenz, „die – gewöhnlich ökonomischen oder linguistischen – objektiven Beziehungen“ herzustellen, die die menschlichen Primärerfahrungen strukturieren und dadurch die soziale Realität erklären22. Die scheinbar gegensätzliche, subjektivistische Position, die er auch „phänomenologisch“ nannte – bei Bourdieu wörtlich als auf die Lehre von den Erscheinungen bezogen zu verstehen23 –, fasste Bourdieu als eine „Erkenntnisweise“ auf, die in erster Linie die „Wahrheit der primären Erfahrungen mit der sozialen Welt“24 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Zur Gliederung der Arbeit vgl. Kapitel 1.3. Schmidt 1999 und Gebesmeier 2001. Auch bei Gebesmeier (2001), in dessen Studie das Denken Bourdieus eine zentrale Rolle spielt, konnte eine umfangreichere Diskussion dieser Thematik nicht stattÀnden. Bourdieu 1987a, S. 49. Ebd. Bourdieu 1976. Ebd., S. 147. Es handelt sich hier also vor allem um das strukturalistische Paradigma. Vgl. Schwingel 2005, S. 45. Bourdieu 1976, S. 147.
1.1 Mit Bourdieu zu Byrd und Bacon: Methodische Vorüberlegungen
17
betone25. Dem Objektivismus warf er dabei „eine schroffe Diskontinuität zwischen der wissenschaftlichen und der praktischen Erkenntnis“ vor26, während er gleichzeitig auch Skepsis gegenüber „spontansoziologischen“ Konzepten äußerte, die von „Subjektivsten“ vertreten würden27. Der Objektivismus basiere also auf der „Illusion absoluten Wissens“, der Subjektivismus wiederum auf der „Illusion einer unmittelbaren Erkenntnis“28. Bourdieu vertrat den Standpunkt, dass Betrachtungen über die Gesellschaft und die Kultur neben den „objektiven Strukturfaktoren“29 auch das Individuelle, die Primärerfahrung von Subjekten als soziale Akteure berücksichtigen sollen: Der ausschließlich auf die vom Subjekt großenteils getrennten, „objektiven“ Gegebenheiten konzentrierte „provisorische Objektivismus“30 solle die Primärerfahrung von Subjekten einbeziehen, da sie auf der Ebene des Sozialen mitwirke. Bourdieus „praxeologische“ Methode stellt daher eine Synthese der beiden Positionen dar. Die vorliegende Einleitung zu einer Studie über ein elisabethanisches Musikmanuskript ist, wie bereits betont, sicherlich kein geeignetes Forum für eine ausführliche Darstellung von allen Ansätzen der musikwissenschaftlichen Sozialgeschichtsschreibung31. Es sei dennoch darauf hingewiesen, dass die geschilderte, integrative Erkenntnisweise, wie Bourdieu sie vertritt, in der deutschen Musikwissenschaft bereits im Ansatz ausformuliert war: Noch in den 1960er Jahren plädierte etwa Walter Wiora für ein Untersuchungskonzept, das bei sozialhistorischen Fragestellungen in der Musikwissenschaft sowohl die Ebene des Individuellen als auch die Ebene der „objektiven Strukturfaktoren“ berücksichtigen würde32. Im Rahmen der vorliegenden Studie wird der „praxeologische“ Ansatz Bourdieus auf mehreren Ebenen erkennbar: In Teil 2, in welchem das soziale Umfeld der Entstehung von MLNB untersucht wird, werden sowohl die verschiedenen Felder der elisabethanischen Gesellschaft und deren Veränderungsprozesse berücksichtigt, als auch die konkreten Personen, die in die Entstehung von MLNB involviert waren. In den analytischen Teilen der Studie (4 und insbesondere 5)33 werden dann bei der Betrachtung der Gattungen und der Tonartbehandlung in MLNB sowohl die in der elisabethanischen Gesellschaft stattÀndenden Transformationsprozesse und die speziÀschen Standescharakteristika als auch der persönliche Habitus, Geschmack und die Bildung von Byrd und den Menschen im unmittelbaren Umfeld der Entste25 26 27 28 29 30 31 32 33
Hier wird auf eine ausführliche Darstellung dieser Kritik verzichtet, da sie für die vorliegende Arbeit nicht essentiell ist und bereits mehrere treffende Zusammenfassungen vorliegen. Vgl. etwa Schwingel 2005, S. 43–58. Bourdieu 1987a, S. 51. Zur Frage, welche sozialwissenschaftlichen Schulen laut Bourdieu hierzu zählen, s. etwa Schwingel 2005, S. 44. Bourdieu 1991, S. 273. Schwingel 2005, S. 49. Bourdieu 1991, S. 21 f. In Bezug auf verschiedene Ansätze der Musiksoziologie s. etwa Kaden 1997 und 1985 sowie Martin 1995, passim. Vgl. Wiora 1983, S. 162 und passim (der Text wurde 1962 zum ersten Mal veröffentlicht). Zur Gliederung der Arbeit vgl. Kapitel 1.3.
18
1. Einleitung
hung der Sammlung MLNB berücksichtigt. Ziel ist dabei, nicht nur die Bezüge zwischen der Gesellschaft, dem Individuum und der Kompositionspraxis zu untersuchen, sondern auch grundsätzlich zu erörtern, welche ReÁexionen auf welchen Ebenen überhaupt angemessen und möglich sind. Die zweite Untersuchungsebene, auf welcher der EinÁuss Bourdieus prägend ist, ist die Ebene des Habitus. Dieses Konzept, das vorerst aus empirischen Untersuchungen entwickelt worden war, kann in seiner Bedeutung als Dispositionssystem sozialer Akteure, als eine Art Instrument der Vermittlung zwischen den Ebenen der oben geschilderten „objektivistischen“ und „subjektivistischen“ Sichtweisen verstanden werden34. Der Begriff hat eine lange Tradition im philosophischen und soziologischen Diskurs: Bourdieu selbst erinnert an seine Verwendung durch Hegel, Husserl, Weber, Durkheim und Mauss35. In seiner eigenen Theoriebildung nimmt das Konzept die zentrale Stellung ein. Die Habitusformen seien zu verstehen als Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen.36
Der Habitusbegriff Bourdieus ist sozial und historisch deÀniert: Er beruht auf der Empirie der sozialen Akteure, auf Erfahrungen, die sich als Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata niederschlagen. Dabei werden EinÁüsse der Mitwelt insbesondere über eine „stille Pädagogik“37 – eine Pädagogik ohne bewusste erzieherische Intention – auf das Subjekt übertragen. Daher ist der Habitus von dem sozialen Hintergrund – von Familie, „Klasse“, oder „Stand“ – untrennbar. Bourdieu selbst widmete eines seiner Hauptwerke, Die feinen Unterschiede38 den StratiÀkationsaspekten der französischen Gesellschaft und den verschiedenen Habitusformen, die für ihre „Klassen“ charakteristisch sind. Seine Schülerin Monique de Saint Martin setzte in ihrer soziologisch-ethnologischen Studie Der Adel. Soziologie eines Standes39 Bourdieus Arbeit durch Untersuchungen des – hauptsächlich französischen – Adelsstandes fort. Diese beiden Werke werden – mutatis mutandis – im Rahmen der sechs Kapitel des zweiten Teils dieser Studie (2.1 bis 2.6), in welchen der englische Adel und sein Habitus besprochen werden, eine methodisch wichtige Rolle spielen. Es wird darum gehen, die Habitusformen von Angehörigen der elisabethanischen Gesellschaft zu untersuchen, die durch ihre soziale Umgebung und Bildung im 16. Jh. zum Teil transformiert wurden, um diese in einem zweiten Schritt auf die Prozesse der musikalischen Literalisierung (Teil 3), die Wahl von Gattungen für die Sammlung MLNB (Teil 4) sowie die Veränderungen in der Gestaltung des musikalischen Materials (Teil 5) beziehen zu können. Bei diesen Untersuchungen werden, analog zur Bourdieuschen Soziologie, das familiale Umfeld, 34 35 36 37 38 39
Vgl. Schwingel 2005, S. 59. Vgl. Bourdieu 1992a, S. 30. Bourdieu 1976, S. 165. Bourdieu 1987a, S. 128. Bourdieu 1987. Saint Martin 2003.
1.1 Mit Bourdieu zu Byrd und Bacon: Methodische Vorüberlegungen
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die Prozesse der Bildung und die Geschmacksvorstellungen eine bedeutende Rolle spielen. Ebenfalls wird in der vorliegenden Studie Bourdieus Kapitaltheorie angewendet, die in seinem Werk Die verborgenen Mechanismen der Macht am systematischsten dargelegt worden ist40. Bourdieu versteht Kapital im Hinblick auf dessen Entstehung als „akkumulierte Arbeit“41 in Relation zu dem Feld des sozialen Raumes, in welchem diese Akkumulation entstehe. Neben dem ökonomischen Kapital unterscheidet er demnach noch weitere Kapitalformen, denen auch bestimmte Felder entsprechen, auf denen die Kapitalakkumulation stattÀndet: Das kulturelle, das soziale und das symbolische Kapital sind die wichtigsten davon. Während Bourdieus Vorstellung vom ökonomischen Kapital der in der Alltagssprache üblichen weitgehend entspricht und zu Zwecken dieser Studie keiner weiteren Erklärung bedarf42, sind die anderen Kapitalbegriffe genauer zu erklären, zumal sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit ein wichtiges Untersuchungsinstrument darstellen43. Das kulturelle Kapital hat in Bourdieuscher Auffassung drei Ausprägungsformen: Im „objektivierten Zustand“ handelt es sich beim kulturellen Kapital um Objekte wie Artefakte, wissenschaftliche Geräte u. Ä. Diese Ausprägungsform hat einen direkten Bezug zum ökonomischen Kapital. Im „inkorporierten“ Zustand meint der kulturelle Kapitalbegriff sämtliches Wissen sowie Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten, die im Prozess einer generell aufgefassten „Bildung“ vom Menschen erworben werden. Schließlich bedeutet das „institutionalisierte“ Kulturkapital die akkumulierten schulischen und akademischen QualiÀkationen und Titel: das „legitimierte“ kulturelle Kapital. Diese Kapitalbegriffe sind für die vorliegende Studie insofern von Bedeutung, als sie sich unmittelbar auf die Musik beziehen können. Bourdieu hat auch selbst die Wichtigkeit des „Musikkönnens“ als Aspekt des inkorporierten kulturellen Kapitals hervorgehoben, weil dieses Kapital – im Unterschied zu vielen anderen Betätigungen im kulturellen Feld – nur über eine intensive eigene Beschäftigung mit dem gegebenem Material erworben werden kann44. Aus diesem Grund ist das in der Musikausübung bzw. der musikalischen Kompetenz akkumulierte Kulturkapital ein besonders wirkungsvoller „social marker“. In den Worten Bourdieus: „Freilich auch deshalb, weil das Vorzeigen von ‚musikalischer Bildung‘ keine kulturelle Parade wie bei den übrigen [Künsten] darstellt“45. Die Musikkompetenz werde daher in der Gesellschaft als ein „sicherer Bürge für ‚Vergeistigung‘“ wahrgenommen46. Damit in Verbindung steht, dass der Musikgeschmack für Bourdieu ein unfehlbares Dokument der „Klassenzugehörigkeit“47 darstelle. Inwiefern diese Beobachtungen auf das elisa40 41 42 43 44 45 46 47
Vgl. Bourdieu 1992, passim. Ebd., S. 49. Zu einigen speziÀschen Aspekten s. jedoch Schwingel 2005, S. 88. Die nachfolgende Zusammenfassung der Kapitalformen basiert auf Bourdieu 1992, S. 52–57 und Schwingel 2005, S. 88–92. Vgl. Zitat vor Teil 4 (Bourdieu 1987, S. 41). Bourdieu 1987, S. 41. Ebd. Ebd.
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1. Einleitung
bethanische Zeitalter übertragen werden können, werden die Untersuchungen der vorliegenden Studie prüfen. Unter dem Begriff des sozialen Kapitals sind alle zwischenmenschlichen Beziehungen des „gegenseitigen Kennens und Anerkennens“48 gemeint, auf die ein sozialer Akteur zurückgreifen kann und die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Schließlich ist noch der für das Verstehen des Bourdieuschen Denkens wichtige Begriff des symbolischen Kapitals zu nennen. Das symbolische Kapital besteht gewissermaßen aus sozialem „Kredit“ und wird in der Anerkennung und Wertschätzung anderer, bereits genannter Kapitalformen sichtbar49: Diese Anerkennung werde beispielsweise den begüterten sozialen Akteuren aufgrund des ökonomischen Kapitals ihrer „uneigennützigen“ Spenden und Stiftungen, aber auch den Personen des öffentlichen Lebens zuteil50. In der Alltagssprache würden etwa die Termini „gesellschaftliches Ansehen“ und „Ehre“ der Bedeutung des symbolischen Kapitals gerecht. Die Kapitalschichtung Bourdieus wird für die vorliegende Studie von konstitutiver Bedeutung sein: Wenn es sich um den Adel handelt, spielen die Aspekte des symbolischen und des sozialen Kapitals auch heute noch eine zentrale Rolle. In der bereits erwähnten Studie der Bourdieu-Schülerin Monique de Saint Martin über den Adelsstand51 kommt diese Bedeutung ebenfalls stark zum Ausdruck. Im 16. Jh. war der Adel führend was den Besitz des kulturellen und ökonomischen Kapitals betrifft, musste sich aber in diesen Bereichen den Herausforderungen des aufsteigenden Bürgertums und – gerade in England – Freibauerntums stellen: Im Rahmen von Teil 2 der vorliegenden Studie sollen durch Untersuchungen im Umfeld der Entstehung von MLNB Aspekte der Kapitalkonversion im der elisabethanischen Gesellschaft angesprochen werden, um die Position der Musik und schließlich auch die Entstehung von MLNB in diesen Prozessen und im Gesamtkapitalgefüge zu verstehen. In diesem Zusammenhang sollen die Familiengeschichte und die Habitusformen der in die Entstehung von MLNB involvierten Mitglieder der elisabethanischen Gesellschaft, insbesondere der Adelsfamilien Neville und Bacon, miteinander verglichen und in Bezug zur Entstehung der hier zu untersuchenden Musiksammlung gesetzt werden. In diesem Sinne soll auch der Musikbezug der elisabethanischen Aristokratie untersucht werden, wozu insbesondere die Aussagen derjenigen Adelsangehörigen berücksichtigt werden sollen, die nicht nur für die Epoche prägend waren, sondern auch in Kontakt zu William Byrd oder der Familie Neville standen: etwa der Poet Sir Philip Sidney und der Philosoph Sir Francis Bacon. Auch in Kapitel 3.3 wird die Bedeutung der Kapitaltheorie Bourdieus für die vorliegende Studie deutlich: Dort wird die musikalische Literalität als Form des kulturellen Kapitals im Kontext eines breit aufgefassten Literalitätsdiskurses betrachtet und auf die Musik für Tasteninstrumente sowie die SpeziÀka der Sammlung MLNB bezogen. 48 49 50 51
Bourdieu 1992, S. 63. Vgl. Bourdieu 1992, S. 77, Anm. 20. Vgl. Bourdieu 1987a, S. 245 sowie Bourdieu 1987, passim. Saint Martin 2003.
1.1 Mit Bourdieu zu Byrd und Bacon: Methodische Vorüberlegungen
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1.1.2 „Hilfsdisziplinen“ Während die sozialwissenschaftliche Theoriebildung Pierre Bourdieus das methodische Rückgrat der vorliegenden Arbeit darstellt, fungieren die einzelnen fachwissenschaftlichen Disziplinen gewissermaßen als „Zulieferer“ von Erkenntnissen und Informationen. Da unter der angegebenen Fragestellung bisher keine Untersuchungen in dem genannten Bereich durchgeführt worden sind, wird diesen Disziplinen nicht wenig Platz eingeräumt. Zuweilen ist auch eine Trennung zwischen den Abschnitten, die auf der Ebene der Faktizität bleiben und denen, die der kulturwissenschaftlichen Bearbeitung von ermittelten Fakten gewidmet sind, nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Es erscheint auch ratsam, die zahlreichen „Hilfsmethoden“, denen sich die vorliegende Studie zu bedienen hat, nicht alle im Rahmen dieses Kapitels bezugslos nacheinander vorzustellen, sondern – nachdem die strukturierend wirkende theoretische Ebene nun vorgestellt worden ist – diese „Hilfsmethoden“ nur im Umriss zu schildern und eine Diskussion auf dieser Ebene in den entsprechenden späteren Kapiteln zu führen. In Teil 2, der dem sozialen Umfeld gewidmet ist, in welchem MLNB entstand, stellen Genealogie, Heraldik und historisches Quellenstudium die entscheidenden Hilfsdisziplinen dar. Da die Identität der Widmungsträgerin von MLNB zum Zeitpunkt der Entstehung der vorliegenden Studie nicht ohne weiteres feststeht, muss das Instrumentarium der historischen Hilfswissenschaften Heraldik und Genealogie verwendet werden, um diese ermitteln zu können. Auch die Diplomatik und das englische Namensrecht werden in diesem Prozess als Methoden zur Ermittlung der nominellen Identität der „Ladye Nevell“ eingesetzt. Einzelheiten zu diesen Methoden, insbesondere zu der nicht leicht zugänglichen Heraldik, sind in einzelnen Kapiteln des zweiten Teils zu Ànden52. Die mittels historischer Hilfswissenschaften erworbenen Erkenntnisse zur nominellen Identität der „Ladye Nevell“ sollen auch mit den Forschungen aus anderen relevanten geschichts-, sozial-, kunst- und kulturwissenschaftlichen Bereichen konfrontiert werden, um ein vielschichtiges Bild über den Habitus der Widmungsträgerin von MLNB und ihrem Umkreis zu gewinnen und die Position der Musik – insbesondere der Musik für Tasteninstrumente – im kulturellen und sozialen Gefüge der elisabethanischen Aristokratie nachvollziehen zu können. Das Instrumentarium einer historisch orientierten Musiktheorie, so wie sie etwa in Carl Dahlhaus’ Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität53 betrieben wurde, wird bei der Beschreibung und der Analyse von Korrekturen in MLNB in Teil 3 der vorliegenden Studie angewendet. Gelegentlich werden dabei allgemein verständliche Begriffe wie „plagaler“ oder „phrygischer Schluss“ komplexeren historischen Termini vorgezogen. Die Ergebnisse dieser Analyse werden dann in den Diskurs zur musikalischen Autorschaft und den zur musikalischen Literalität eingebettet, um ihre Bedeutung für die zentrale Fragestellung der Arbeit verstehen zu können. Ähnlich wie in Teil 2 werden auch hier metho52 53
Vgl. insbesondere Kapitel 2.1 und 2.2. Dahlhaus 2001a.
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1. Einleitung
disch relevante Überlegungen sowie die auf MLNB bezogene inhaltliche Diskussion in die betreffenden Kapitel selbst integriert (3.2 und 3.3). Teil 4 widmet sich gänzlich dem Geschmack der elisabethanischen Aristokratie und seinen ReÁexionen in den in MLNB vertretenen Gattungen der Musik für Tasteninstrumente. Er steht daher in direktem Bezug zur generellen Fragestellung und Methode der Arbeit. Schließlich wird im musikanalytischen Teil 5 eine historisch orientierte Musikanalyse betrieben, die auf dem kritischen Umgang mit tonarttheoretischen Quellen des 16. Jh. basiert. Die Untersuchungsergebnisse der Tonartenanalyse sollen auf die generelle Fragestellung der Arbeit bezogen werden: Es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Transformationen im Bereich der Tonartbehandlung, die in Bezug auf die elisabethanische Musik und insbesondere auf Byrds Werke bereits angesprochen worden sind54, mit den sozialen Transformationsprozessen zusammenhängen, die im England des 16. Jh. stattgefunden haben. Es soll aber andererseits auch untersucht werden, welche Position die Kompositionstechnik William Byrds in diesem Zusammenhang hatte. Dazu werden vordergründig die englischen Quellen der Epoche, vor allem die für den Bereich der Tonartbehandlung relevanten Traktate Thomas Morleys, Thomas Campions und Charles Butlers berücksichtigt55. Das Begriffsinstrumentarium, das sowohl im Haupttext als auch in den im Anhang beÀndlichen Einzelanalysen verwendet wird, wird hierbei nicht ausschließlich auf den englischen Werken der Epoche basieren, sondern auch aus den relevanten Quellen des europäischen Festlandes schöpfen, da die englischen Quellen gerade hinsichtlich der Modusbehandlung nicht allzu ergiebig sind und das musikalische Material selbst eine Verwendung von Begriffen aus dem Corpus der kontinentaleuropäischen Musiktheorie zulässt, ja erfordert. Es ist beispielsweise schon bei den ersten Voruntersuchungen zu dieser Studie deutlich geworden, dass in der englischen Musik des 16. Jh. genauso wie auf dem Kontinent eine Rangfolge von Klauseln präsent ist, die legitim als Clausula primaria, secundaria und tertiaria56 genannt werden können, obwohl diese oder äquivalente Begriffe in den zeitgenössischen englischen Traktaten nicht vorkommen. Darüber hinaus ist bekannt, dass mehrere kontinentaleuropäische Traktate im England des 16. Jh. kursierten oder zumindest bekannt waren und dass sie sowohl von Morley als auch von Campion und Butler rezipiert wurden57. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird aus diesen Gründen die Skepsis von Jessie Ann Owens hinsichtlich der Verwendung musiktheoretischer Kategorien aus Kontinentaleuropa in Bezug auf englische Musik58 nicht geteilt59, obgleich Owens’ Empfehlung generell beherzigt werden soll, bei der Analyse englischer Musik der Epoche englische Quellen des 16. Jh. in den Analyseprozess in54 55 56 57 58 59
Unter anderem von Zimmermann 1959, Dahlhaus 2001a, S. 232–234, Owens 1998 und Harley 2005. Weitere Referenzen und Diskussion hierzu sind in Teil 5 zu Ànden. Morley 1597/1937, Campion 1967a, Butler 1636/1970. Diese Terminologie benutzt etwa Seth Calvisius (1592). Vgl. hierzu Kapitel 5.1. Vgl. Owens 1998, S. 229. Ausführliche Diskussion hierzu Àndet in den Kapiteln 5.1 und 5.6 statt.
1.1 Mit Bourdieu zu Byrd und Bacon: Methodische Vorüberlegungen
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tensiv einzubeziehen. Dies erscheint im Rahmen der vorliegenden Studie umso sinnvoller, als einer der zitierten Musiktheoretiker, Thomas Morley, sich selbst als Schüler Byrds deklarierte und seine ganze Abhandlung William Byrd gewidmet hatte60. Da das Gebiet der Modusforschung in der Musikwissenschaft durch zwei grundsätzlich unterschiedliche methodische Ansätze bearbeitet worden ist, soll – im Unterschied zu anderen „Hilfsmethoden“ – schon im Rahmen des vorliegenden Kapitels ein konkreter Standpunkt zu diesem Themenkomplex eingenommen werden. Die Diskussion mit diesen methodischen Ansätzen wird dann in Teil 5 selbst – sowohl in den Vorbemerkungen (5.1) als auch in dem zusammenfassenden Kapitel 5.6 – fortgesetzt werden. Da die Modusforschung dennoch nur einen Teilaspekt dieser Studie darstellt, werden sowohl im Folgenden als auch in Teil 5 selbst nur ihre charakteristischsten und bedeutendsten Positionen dargelegt61. Es sei dabei auch betont, dass die meisten nachfolgend dargelegten Studien über die Tonartbehandlung im 16. Jh. die Vokalpolyphonie betreffen und daher nicht restlos auf die Musik für Tasteninstrumente übertragbar sind. Gerade aus diesem Grund sind die Arbeiten Bernhard Meiers auf fachwissenschaftlicher Ebene für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung, denn Meier beschäftigte sich intensiv nicht nur mit der Vokalpolyphonie, sondern auch mit der Instrumentalmusik – insbesondere mit der Musik für Tasteninstrumente des 16. Jh62. Darüber hinaus ist die Methode, das musikalische Material mit den aus zeitgenössischen Quellen stammenden Kategorien zu analysieren, an den von Meier gewählten Werken gelungen verwendet worden. Insofern wird sie auch innerhalb dieser Studie – mit gebotener kritischer Distanz63 – eingesetzt. Daher sei hier diese analytische Verfahrensweise auf ihrer „technischen“ Ebene kurz dargelegt. Bernhard Meier unterteilt die Instrumentalmusik des 16. und 17. Jh. in „instrumental-polyphone“ und „genuin-instrumentale Werke“64. Die erste genannte Gruppe ist in MLNB lediglich durch sechs von zweiundvierzig Stücken vertreten65. Der Großteil der Sammlung umfasst daher genuin-instrumentale Werke, die aber anderen Gattungen angehören als die von Meier analysierten Kompositionen: Während Meier sich bewusst auf Kompositionen „präludierenden Charakters“ konzentrierte, wie etwa Toccata, Intonation, Introitus66, besteht das Corpus der genuin60 61
62 63 64 65 66
Vgl. Morley 1597/1937, Widmung (ohne Seitenangabe). Eine umfassende und aktuelle Darstellung und Besprechung der musikwissenschaftlichen Modusforschung ist in Wolfgang Horns zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Studie noch nicht veröffentlichten Habilitationsschrift (Horn 2005, insbesondere S. 351–388) zu Ànden. Ebenfalls soll auf Walter Werbecks Studie zur deutschen Tonartenlehre des 16. Jh. (Werbeck 1989) hingewiesen werden. Vgl. Meier 1977 und 1992. Vgl. hierzu weiter unten. Meier 1992, passim. Solche Kompositionen wurden im elisabethanischen Englisch – wie auch in MLNB – „fancy“ („Phantasie“) oder „voluntary“ genannt (vgl. Kapitel 5.2). Meier 1992, S. 105.
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1. Einleitung
instrumentalen Werke in der Nevell-Sammlung hauptsächlich aus stilisierten Tänzen – vor allem Pavanen und Galliarden –, Melodievariationen und Grounds67 sowie programmatisch betitelten Kompositionen. Inwiefern kann die Tonartbehandlung überhaupt als konstituierendes Merkmal solcher Werke betrachtet werden? Zumindest bei Melodievariationen und Grounds ist es sinnvoll zu erwarten, dass die Regeln der Modusbehandlung zugunsten des in die höchste Stimme (bei Melodievariationen) oder in den Bass (bei Grounds) gelegten Materials zum Teil geopfert werden. Bei den programmatisch betitelten Stücken darf wiederum erwartet werden, dass die Tonartlichkeit im Dienste des jeweils gewünschten Effektes steht. Demnach sind die polyphonen Werke und die stilisierten Tänze auf den ersten Blick diejenigen Gattungen, in welchen nach Byrds Prinzipien der Tonartbehandlung in der Instrumentalmusik gesucht werden soll. Ist aber ein Merkmal des Tonsatzes nur dann analyserelevant, wenn er zu einer der Hauptkonstituenten der Musik wird? Ist es nicht vielmehr so, dass eine Musikanalyse gerade durch die Betrachtungen über den Wechsel im Relevanzgrad verschiedener Tonsatzaspekte ihre Berechtigung und ihren Sinn im Rahmen einer musikhistorischen Studie Àndet? Zumindest in der Musikkultur des europäischen Westens spielt die ständige Transformation von Kompositionsprinzipien eine wichtige Rolle. Für das Verstehen der Tonartbehandlung des 16. Jh. sowie der Entwicklung der Tonartlichkeit insgesamt ist daher auch die Tonartpraxis in den primär durch andere Merkmale dominierten Gattungen als analyserelevant zu bewerten. Für die Tonartbestimmung und die Analyse der Tonartbehandlung in der mehrstimmigen instrumentalen Musik des 16. Jh. sind bekanntlich die folgenden Elemente konstitutiv68: – – – –
Finalis (in Verbindung mit dem entsprechendem System: natürlich, einfach oder zweifach transponiert) Klauseldisposition Stimmendisposition (die in den instrumental-polyphonen Werken eindeutiger analysierbar ist als in den frei mehrstimmig komponierten, „genuin-instrumentalen“ Kompositionen) Bei polyphonen Kompositionen – zum Teil aber auch in den „genuin instrumentalen Werken“ – gesellt sich diesen Momenten auch der Aspekt der Melodiebildung, insbesondere im Sinne der Gestaltung von Initialmotiven, zu.
Die Melodiebildung und die Stimmendisposition werden in der vorliegenden Studie – wie auch in den zitierten Arbeiten Meiers – dort berücksichtigt, wo sie nicht von Elementen der Virtuosität stark relativiert werden69. In den polyphonen Kompositionen wird dieses Verfahren am wenigsten problematisch sein. Aber sogar in den genuin-instrumentalen Werken Byrds sind die Untersuchungen der Melodiebildung 67 68 69
Zu den einzelnen Gattungen s. Kapitel 5.2 bis 5.5. Vgl. hierzu Meier 1992, S. 36 und passim; vgl. etwa auch Meier 1974 und 1977, Dahlhaus 2001a, Powers 1981, 1989, 1992, 1992 und 1998. Die Veränderung der Tonartlichkeit durch Virtuosität wird in Kapitel 5.6 gesondert thematisiert.
1.1 Mit Bourdieu zu Byrd und Bacon: Methodische Vorüberlegungen
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und der Stimmendisposition stellenweise unproblematischer als in den von Meier analysierten Werken präludierenden Charakters70, in welchen der Autor mitunter reduktionistisch vorgehen musste (ohne dabei die Prinzipien seines Reduktionsverfahrens eindeutig zu artikulieren), um zum „wahren“ melodischen Gerüst, der „modalen Struktur“ der betreffenden virtuosen Passagen zu gelangen. Die meisten genuininstrumentalen Kompositionen in MLNB basieren auf dem Variationsprinzip, wobei die virtuosen Kompositionsabschnitte als Diminutionen des zuvor Vorgetragenen auskomponiert sind. Man muss bei der Analyse dieser Kompositionen also nicht eine Reduktion der virtuosen Abschnitte vornehmen, um zu einem „ursprünglichen“ modalen Melodieskelett zu kommen, sondern dieses wird als Erstes vorgetragen, bevor es diminuiert wird. Die Stimmendisposition wird dabei – wieder in der Tradition Meiers – auf der „technischen“ Ebene der Untersuchungen bei genuin-instrumentalen Werken nur bei den Außenstimmen analysiert, da die Innenstimmen in solchen Kompositionen häuÀg keinen eindeutigen Duktus vorweisen. So relevant wie Meiers Methode auf der Ebene der fachwissenschaftlichen „Datenerhebung“ zur Tonartlichkeit der Kompositionspraxis Byrds ist71, so problematisch ist ihre generelle Ausrichtung und die Wahl der analysierten Kompositionen. Die Schriften Bernhard Meiers charakterisiert bekanntlich ein etwas radikal aufgefasster Historismus. Schon Carl Dahlhaus kritisierte Meiers Ansatz als einen, der erst dann zufrieden gestellt werde, wenn er in der untersuchten Epoche alles anders vorÀnde als in der jetzigen72. Meier bekundete in seinen Schriften, unter expliziter Berufung auf die Rankesche Historiographie und mit Wendungen gegen den durch Hegels geschichtsphilosophisches Denken beeinÁussten Siegfried Hermelink73, sein „Interesse am Speziellen“ in der Musikgeschichtsschreibung74. Er befürwortete eine radikale Orientierung an musiktheoretischen Quellen, deren Geltungsbereich er einzuschränken kaum bereit war. Angesichts dieser Zugangsweise ist aber die spärliche Beachtung, die Meier in seinen Studien der englischen Musik schenkt, zumindest als auffällig zu bezeichnen. Auch gehen Meiers Untersuchungen zur Instrumentalmusik nicht über die Grenze des Musikanalytischen und -theoretischen hinaus. Dadurch verrät Meier seinen eigenen Historismus, denn auch die musiktheoretischen Quellen sind nicht von ihrem historischen, regionalen und sozialen Kontext zu trennen. Gerade in seiner Monographie über die Modalität der Instrumentalmusik75 ist Meiers Auslassung der englischen Musik der Epoche am auffälligsten. William Byrd, der Komponist, der schon aufgrund seiner Position am englischen Hof, seines Musikdruckmonopols und der zeitgenössischen Rezeption76 – also gerade von 70 71 72 73 74 75 76
Gemeint sind Analysen aus Meier 1992. Die Einzelanalysen, in denen diese Analysetechnik angewendet wird, beÀnden sich in Anhang B zu Teil 5. Vgl. Dahlhaus 1976, S. 300; vgl. auch Horn 2005, S. 366–376, insbesondere S. 374 f. Vgl. Hermelink 1960. Meier 1992, S. 177 sowie Meier 1992a, S. 69. Meier 1992. Zu all diesen Aspekten s. insbesondere Harley 1997. Vgl. Kapitel 1.2.
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1. Einleitung
Meiers eigenen, historistischen Kriterien ausgehend – als der bedeutenste elisabethanische Komponist bezeichnet werden dürfte77, ist bei Meier lediglich mit einem kurzen und im Vergleich mit dem Rest seines Schaffens eher nicht repräsentativen Präludium vertreten78. Das lässt die Frage aufkommen, ob nicht schon die Wahl der in Meiers Studie analysierten Kompositionen an seine Hypothese von der beinahe uneingeschränkten Geltung der Moduslehre angepasst wurde, anstatt dass eine Analyse repräsentativer Kompositionen von verschiedenen Schulen und Komponisten aus ganz West- und Mitteleuropa ergebnisoffen durchgeführt worden wäre. Den Gegenpol der Modusdiskussion stellen die Arbeiten Harold Powers’ dar. Im Unterschied zu Meier versuchte Powers den Geltungsbereich der in den kontinentaleuropäischen Traktaten des 16. Jh. kodiÀzierten Moduslehre stark einzuschränken, indem er wiederholt auf jene Werke der Vokalpolyphonie hinwies, auf welche die überlieferte Moduslehre, die für Meier ja das konstitutive Element einer historisch orientierten Tonartenanalyse darstellten, nicht in allen Aspekten anwendbar ist79. Als Gegenmodell zu einer nur an der zeitgenössischen Moduslehre orientierten Analyse entwickelte Powers in Anlehnung an den bereits zitierten Siegfried Hermelink den Begriff der Tonartentypen („tonal types“)80, die als „wirkliche“ Tonarten der polyphonen Musik des 16. Jh. anzusehen seien. Diese seien keineswegs als Verkörperungen der theoretischen Moduskonzepte im musikalischen Material aufzufassen, sondern als Strukturen sui generis, die nur sekundär mit den laut Powers auf der Ebene der Theoriebildung entwickelten Modi zusammenhängen, wobei auch Powers nicht leugnete, dass die theoretischen Modusvorstellungen die Kompositionspraxis beeinÁusst haben. Insgesamt seien aber die im musikalischen Material existenten „tonal types“ keine Modi und – so ein Schlüsseldiktum Powers’ – der Modus „is not real“81, sondern ein „europäisches kulturelles Konstrukt“82. Für den theoretisch Denkenden stellt sich hier die Frage, ob die Tatsache, dass „der Modus“ keinen materiellen Status hat, wirklich dazu berechtigt, seine historische Begriffsbezeichnung zugunsten eines spätneuzeitlichen Konstrukts – des tonal type – aufzugeben. Denn einen materiellen Status hat auch dieser Begriff nicht: Ein tonal type ist nicht dasjenige, was man im musikalischen Material tatsächlich vorÀndet, sondern ein Abgeleitetes. Wenn der „Modus“ nicht „real“ sei – und die etwas frei verwendete Kategorie „real“ scheint für Powers nur dann eine Berechtigung zu haben, wenn der Begriff im musikalischen Material Áächendeckend Äquivalente Àndet – sind dann etwa die Begriffe Dur und Moll „real“? Diesen Einwand hat Powers anscheinend vorausgesehen und schon im Vorfeld darauf geantwortet: Die 77 78 79 80 81 82
Vgl. Anfang der vorliegenden Einleitung. Vgl. Meier 1992, S. 121. Vgl. Powers 1981, 1989, 1992, 1992a, 1998. Vgl. Powers 1981; vgl. auch die anderen zitierten Studien Powers. Vgl. etwa Powers 1992, S. 12. So expressis verbis im Titel von Powers 1992a. Vgl. Powers 1992, S. 14. S. hierzu die aktuelle Diskussion in Horn 2005, S. 380–386. Der Autor der vorliegenden Studie steht der Modusforschung Powers’ allerdings etwas kritischer gegenüber (s. weiter unten).
1.1 Mit Bourdieu zu Byrd und Bacon: Methodische Vorüberlegungen
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Dur- und Moll-Tonarten der harmonischen Tonalität stünden als theoretische Konzepte mit der musikalischen Praxis mehr im Einklang als das bei dem Modusbegriff der Fall sei. In Powers’ eigenen Worten: A 16th-century piece is not in a „mode“ that is part of a „modal system“ in a way analogous to the way an 18th-century piece is necessarily in a „tonality“ that is part of the „tonal system“83.
Aber auf welche Weise „steht“ ein Stück des 18. oder 19. Jh. in einer Dur- oder Moll-Tonart? Stehen etwa Bachs h-Moll-Invention und das Kyrie I aus der h-MollMesse auf gleiche Weise in ein und derselben Tonart? Und stehen Beethovens Waldstein-Sonate und die Große Symphonie Schuberts tatsächlich im der „gleichen“ C-Dur-Tonart? Ist jenes G-Dur vom Anfang des dritten Satzes von Beethovens Viertem Klavierkonzert identisch mit dem G-Dur aus dem Hauptthema vom ersten Satz desselben Konzertes? Dass im Bereich des Dur-Moll-Tonalen die Vielfalt solcher tonartlichen Ausprägungen nichts am grundlegenden Dur- oder Mollbegriff zu verändern vermag, wird von Powers kaum berücksichtigt: Er hebt lediglich immer wieder die unterschiedlichen Ausprägungen der Tonarten der Vokalpolyphonie des 16. Jh. hervor und will sein Konstrukt der tonal types dadurch gerechtfertigt wissen. Wenn wir aber – sinnvollerweise – bei den genannten dur-moll-tonalen Werken von ein und derselben Tonart sprechen und die SpeziÀka der jeweiligen Tonartbehandlung nicht durch Konstruktionen neuer Tonartbegriffe, sondern in konkreten Analysen deskriptiv und reÁexiv aufgrund des bestehenden Begriffsinstrumentariums der harmonischen Tonalität zum Ausdruck bringen, dann soll die Übertragung dieses theoretischen Vorgehens auch auf die Modalität möglich sein. Dennoch: Am grundsätzlichen Konstruktcharakter des Modusbegriffes lässt sich kaum mehr zweifeln. Harold Powers’ und auch Carl Dahlhaus’ Analysen84 haben das deutlich gezeigt85. Die relative Einheitlichkeit der Meierschen Untersuchungen mag daher mit seiner Wahl der theoriekonformen Kompositionen als Untersuchungsgegenstand in Verbindung zu bringen sein – eine Nebenhypothese, die die vorliegende Arbeit in Bezug auf die elisabethanische Musik noch prüfen wird. Dennoch sollen aus den genannten Gründen in der Analyse dieser Musik die in dem zeitgenössischen musiktheoretischen Schrifttum überlieferten historischen Kategorien eher als die tonal types angewendet werden. Diese Verfahrensweise ist mit jener vergleichbar, die Dahlhaus in seinen bedeutenden Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität anwendet. Denn auch Dahlhaus, der in konkreten Analysen sehr wohl auf die Fälle der Tonartbehandlung hinweist, die von der theoretischen Norm abweichen – Byrds Musik gehört bei ihm auch hierzu86 – konstruiert bei seinen Analysen nicht völlig neue theoretische Kategorien wie die tonal types, sondern geht von Kategorien aus, die aus musiktheoretischen Traktaten der von ihm besprochenen Epochen stammen und schildert dann die Art ihrer Transformation in der konkreten Kompositionspraxis. 83 84 85 86
Powers 1992, S. 12. Aus Dahlhaus 2001a: s. u. Vgl. auch Horn 2005, S. 351–388. Vgl. Dahlhaus 2001a, S. 232–234.
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1. Einleitung
Mit anderen Worten: Eine sinnvolle Analyse etwa der Tonartbehandlung Schuberts in der Großen Symphonie oder Beethovens in der Waldstein-Sonate endet nie mit der bloßen Tonartbestimmung, sondern entfaltet sich als eine Beschreibung konkreter tonartlicher Dispositionen und – wo es sinnvoll möglich ist – eine je nach theoretischem Paradigma geartete ReÁexion über deren Ursachen, Bedeutung und Wirkung. So soll sich auch die Analyse eines „modalen“ Werkes nicht mit einer Einordnung in Modi oder tonal types begnügen und damit enden, sondern, von einem historischen Begriffsinstrumentarium ausgehend, die SpeziÀka der Tonartbehandlung einzelner Schulen, Komponisten und Werke untersuchen. Sie soll aber – um auf die generelle Methode der Arbeit zurückzukommen – noch einen Schritt weiter gehen, und ausgehend von Kenntnissen über die Epoche, in welcher die betreffenden Kompositionen entstanden sind, sowie ausgehend vom Habitus des Komponisten und seines Umfelds, die festgestellten tonartlichen SpeziÀka der untersuchten Kompositionspraxis zu erklären versuchen. Schließlich soll versucht werden, die Bedeutung des analysierten Materials im Kontext der Entwicklung der Tonartlichkeit der Epoche darzustellen. Die Methode, die Carl Dahlhaus in seinen Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität angewendet hat, ist – mutatis mutandis – auch in diesem Sinne für die vorliegende Studie prägend. William Byrds Musik für Tasteninstrumente soll etwa nicht insgesamt in ein dichotomisches Schema eingeordnet werden, dessen Eckpunkte die „modale“ und die „dur-moll-tonale“ Kompositionspraxis darstellten. Sie soll vielmehr so analysiert werden, dass die Vielfältigkeit ihrer Charakteristika erkennbar wird und dass sie – wieder auf die grundlegende Fragestellung der Studie bezogen – über die Prozesse der musikalischen Bildung und des Geschmacks mit dem sozialen Kontext ihrer Entstehung einerseits und den biographischen Einzelheiten Byrds andererseits in Bezug gesetzt werden. 1.2 BISHERIGER FORSCHUNGSSTAND Wie bei der Übersicht der im Rahmen der vorliegenden Arbeit angewendeten Methoden, so wird auch in der Darstellung des bisherigen Forschungsstands nicht die gesamte verwendete Literatur berücksichtigt werden können. Es wird im vorliegenden Kapitel primär auf diejenigen Forschungsarbeiten hingewiesen, die entweder direkt die Sammlung MLNB oder Byrds Musik für Tasteninstrumente allgemein behandeln. Die kritische Darstellung und inhaltliche Diskussion der Literatur über die anderen angesprochenen Themenbereiche – etwa die elisabethanische Adelskultur, das Phänomen der musikalischen Literalität sowie die Tonartbehandlung – wird im Rahmen der späteren, den einzelnen Themenbereichen gewidmeten Kapiteln stattÀnden und auf den konkreten Forschungsgegenstand bezogen werden. Denn der Bezug eines Großteils der behandelten Literatur zum Forschungsgegenstand MLNB wird erst im Zusammenhang mit eigenen Untersuchungen – ja aufgrund derer – deutlich. Diese Verfahrensweise soll auch einen Beitrag zur Lesbarkeit der vorliegenden Arbeit leisten: Eine detaillierte Darstellung des jeweiligen Forschungsstands aus einzelnen Teilbereichen würde den Rahmen der vorliegenden
1.2 Bisheriger Forschungsstand
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Einleitung sprengen, und eine oberÁächliche Auseinandersetzung mit der Literatur aus den umfangreichen Bereichen der Literalitäts- oder der Patronageforschung wäre kaum zu vertreten. Dennoch wurde in einigen Forschungsbereichen, etwa hinsichtlich der generellen theoretischen Orientierung der Studie und der Tonartbehandlung, die berücksichtigte Literatur bereits teilweise im vorausgegangen Kapitel kurz dargestellt, da sie für die Erklärung der im Rahmen der Arbeit angewendeten Methoden von essentieller Bedeutung war. Die Erforschung von MLNB hat eine außerordentlich lange Tradition. Schon die Gründungsväter der englischen Musikgeschichtsschreibung, Charles Burney und Sir John Hawkins hatten in ihren gegen Ende des 18. Jh. erschienenen Studien die Sammlung berücksichtigt87. Bereits damals wurde ein wichtiger Aspekt der Fragestellung der vorliegenden Studie ausformuliert: die Frage nach der Identität der Widmungsträgerin von MLNB, von welcher nur der Nachname und der Titel bekannt waren. Sowohl Hawkins als auch Burney haben sich mit dieser Frage befasst und beide erklärten die Entstehung der Sammlung als Produkt pädagogischer Tätigkeit William Byrds88. Dass die beiden Forscher des 18. Jh. einhellig vermutet haben, dass „My Ladye Nevell“ ein „scholar“ Byrds gewesen sei, mag dabei mit ihrem eigenen Hintergrund als Gelehrte der Aufklärungszeit zusammenhängen. Während Byrds Musik für Tasteninstrumente auch im 19. Jh. durch die Drucke wie Parthenia89 nicht unbekannt blieb90, war das sich damals im Privatbesitz der Lords Abergavenny91 beÀndende Nevell-Manuskript nicht der Öffentlichkeit zugänglich. Als am Anfang des 20. Jh. der Brüsseler Professor Charles van den Borren seine Studie über die Quellen der Musik für Tasteninstrumente in England schrieb, musste er die Informationen über MLNB direkt von William Barclay Squire – einem der Herausgeber von FWVB – aus England anfordern92. Ansonsten stellt van den Borrens Arbeit die erste ernsthafte analytische Auseinandersetzung mit der frühen englischen Musik für Tasteninstrumente dar, insbesondere hinsichtlich der Betrachtungen über den Instrumentalsatz, der auch heute einen der zentralen Forschungsaspekte in Bezug auf Byrds Musik für Tasteninstrumente darstellt93. Margaret Glyn hat in ihrer 1924 veröffentlichten Studie About Elizabethan Virginal Music einen ersten Versuch unternommen, die bereits erwähnten nachträglichen Eintragungen in MLNB zu beschreiben und – im Ansatz – kompositionstechnisch zu analysieren. Für Glyn, deren Diskurs maßgeblich von der Genieästhetik geprägt war, stand fest, dass diese Ergänzungen auf William Byrd selbst zurückzu87
88 89 90 91 92 93
Vgl. Burney 1776/1958, Bd. III, S. 79 f., Hawkins 1853/1963, Bd. I, S. 468. Das Manuskript wurde sogar offenbar eine Zeit lang bei Burney aufbewahrt, und wurde auch aus seinem Nachlass verkauft. Vgl. Burney 1776/1958, Bd. III, S. 79, Anm. Zur Geschichte von MLNB nach ihrer Entstehung s. Harley 2005a, S. 11 f. Ebd. Zu Quellen s. Abkürzungsverzeichnis. Vgl. etwa Harley 1994, Bd. 1, S. 21 f. Ausgesprochen „Abergenny“. Auch die Schreibweisen „Aberganny“ und „Bergavenny“ sind historisch belegt (s. etwa Foley 2005). Vgl. Borren, 1913, S. 36, Anm. 7. S. hierzu weiter unten.
30
1. Einleitung
führen sind: Sie beschrieb diese Eingriffe als „subtile, kleine Verbesserungen“, für die nur der Komponist selbst hätte verantwortlich sein können94. Auf ihre Beschreibungen und Autorschaftszuweisung geht auch die spätere Nevell-Forschung zurück: Glyns Ansatz wurde beinahe ausnahmslos befolgt95. Ihre Beschreibungen der Korrekturen in MLNB sind aber grundsätzlich nicht als falsch zu bezeichnen. Das Problematische an ihnen – und an der späteren kommentarlosen Akzeptanz dieser These – ist, dass die Veränderungen im Manuskript, denen sie hohe kompositionstechnische Relevanz zuschreibt, als Aspekt eines „Personalstils“ betrachtet wurden, ohne dass ein Vergleich mit der Kompositionstechnik anderer Komponisten der Epoche gezogen wurde und auch ohne dass überhaupt die Berechtigung für die Postulierung eines „Personalstils“ im Kontext der Epoche geprüft worden ist. Im Rahmen der vorliegenden Studie wird die Autorschaftsthese Glyns und ihrer Nachfolger in Kapitel 3.2 ausführlicher diskutiert werden. Zwei Jahre nach der Erstausgabe von Glyns Studie über elisabethanische Musik für Tasteninstrumente nahm das Interesse an MLNB durch Hilda Andrews’ Ausgabe der Sammlung (1926)96 weiter zu. Andrews’ Arbeit steht erklärtermaßen in der Tradition des maßgeblich von Sir Charles Terry – „one of the fathers of the Tudor Music Revival“97 – betriebenen englischen Historismus der ersten Hälfte des 20. Jh., deren politische Implikationen kaum zu übersehen sind. In dem von Terry verfassten Vorwort zur MLNB-Ausgabe von 1926 wird die Veröffentlichung dieser Sammlung ausdrücklich als ein Akt der Restauration des nationalen Musikerbes hochstilisiert. Es wird von Terry auch die Kategorie „frühe britische Komponisten“ konstruiert – Großbritannien gab es im 16. Jh. im politischen Sinne noch nicht98 – die laut Terry zuvor nicht gebührend behandelt gewesen sei: ein Umstand, dem es entgegenzutreten gelte, denn die frühe englische Musik sei die eigentliche Quelle der späteren Musik für Tasteninstrumente99. Ganz von dem zeitgenössischen Suprematiedenken des British Empire geprägt, lobte Terry im Vorwort zu MLNB unverhohlen die konstruierte „supremacy“ der englischen Musik des Tudorzeitalters. Die Engländer seien („auch auf diesem Gebiet“ bleibt ungesagt) keine Nachfolger anderer Völker gewesen, sondern die eigentlichen Pioniere der Musik für Tasteninstrumente100. Sowohl die Entstehung der Ausgabe von MLNB als auch die etwas Áamboyante historische Einleitung Andrews’101 müssen offensichtlich ideengeschichtlich 94 Glyn 1934, S. 39. Vgl. Zitat in Kapitel 3.1. 95 S. weiter unten. 96 Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde der Nachdruck aus dem Jahr 1969 benutzt. S. unter „Gedruckte musikalische Quellen“ im Abkürzungsverzeichnis. 97 So Hilda Andrews selbst in ihren Danksagungen in MLNB, S. VII. 98 Selbstverständlich dürfte das Terry bekannt gewesen sein. Dennoch versucht er, die Kategorie „british“, die im 16. Jh. primär eine geographische war, da Schottland ein unabhängiges und häuÀg mit England verfeindetes Königreich gewesen ist, auf die Kultur auszuweiten. Das entspräche dann dem Zustand der Epoche, in welcher Terry selbst tätig war. 99 Vgl. MLNB, S. IX. 100 Ebd. 101 Ebd., S. XIII–XXXVI.
1.2 Bisheriger Forschungsstand
31
im Kontext der Konstruktion von englishness und – schwieriger noch – britishness in den Jahren nach dem für Großbritannien siegreichen Ersten Weltkrieg betrachtet werden102. Trotzdem ist Andrews’ Ausgabe von MLNB als Quelle in hohem Maße verlässlich: Im Rahmen der vom Verfasser durchgeführten Untersuchungen an dem heute in der British Library bewahrten Manuskript, konnten nur sehr wenige notationelle Unschärfen Andrews’ festgestellt werden, die in den in Anhang B zu Teil 3 enthaltenen Tabellen korrigiert sind. Auch darf Andrews’ Kritischer Bericht103 hinsichtlich der gegebenen Informationen über die Vorlagen zu einzelnen in MLNB enthaltenen Werken Byrds grundsätzlich immer noch als aktuell bezeichnet werden. Das prinzipielle Desiderat von Andrews’ Ausgabe liegt aber darin, dass sie die gesamten, bereits erwähnten nachträglichen Korrekturen und Ergänzungen – ein Sonderfall in der Literatur für Tasteninstrumente der Epoche – als Bestandteil des Haupttextes behandelt und sie kommentarlos in die Ausgabe integriert hat. Diesem Desiderat wird die vorliegende Arbeit nachgehen: Zum ersten Mal sollen sämtliche Korrekturen und Ergänzungen in MLNB aufgelistet (Anhang B zu Teil 3) und im Kontext des musikalischen Materials untersucht werden (Kapitel 3.1), um die Frage der Autorschaft der Korrekturen zu besprechen (Kapitel 3.2) und dieses Phänomen im Kontext der Prozesse der musikalischen Literalisierung im elisabethanischen England betrachten zu können (Kapitel 3.3). Der wohl bedeutendste Byrd-Forscher der ersten Hälfte des 20. Jh., Edmund H. Fellowes, hat sich mehrfach mit der Sammlung MLNB beschäftigt. Auch für Fellowes, wie für Hawkins und Burney vor ihm, war die Frage der Identität von „Ladye Nevell“ von Bedeutung104: Seine Thesen zu diesem Problem werden in den Kapiteln 2.1 und 2.2 der vorliegenden Studie geprüft und mit den später entstandenen Thesen zur Entstehung von MLNB verglichen. Ebenfalls thematisierte Fellowes die Frage der nachträglichen Korrekturen im Manuskript, bot aber eine differenziertere Lösung dieses Problems als Margaret Glyn zuvor: In der Erstausgabe seiner Byrd-Monographie von 1936 vertrat er die Meinung, dass „einige“ der Korrekturen in MLNB „möglicherweise“ auf Byrd zurückzuführen seien105. In einem späteren Aufsatz bestritt er aber die Möglichkeit, dass William Byrd die Arbeit des Schreibers John Baldwin korrigiert habe106. In den 60er Jahren befasste sich auch Thurston Dart mit dem Problem der Identität der Widmungsträgerin von MLNB und stellte als Erster die These auf, dass es sich dabei um Elizabeth Neville, die Ehefrau von Sir Henry Neville of Billingbear, 102 Zu Sir Charles Terry s. Emery 2001. Mit diesem Themenkomplex beschäftigt sich derzeit Sue Cole (Sydney), die ihre bisher nicht veröffentlichten Forschungsergebnisse auf der Jahrestagung der Royal Musical Association, 15.–18. Juli 2008 in Aberdeen vorgestellt hat. Zu Aspekten von englishness in der Musik s. etwa Day 1999 und Frogley 1997. Zu englishness s. auch Colls/Dodd 1986 sowie zum Problem der TraditionserÀndung allgemein vor allem Hobsbawm/ Ranger 1996. Zur Thematik der nationalen SelbstÀndung in der Musik in Bezug auf Deutschland s. insbesondere Danuser/Münkler 2001. 103 MLNB, S. XXXIX–XLIV. 104 Vgl. Fellowes 1948, S. 16 sowie Fellowes 1949, S. 1–7. 105 Fellowes 1936, S. 203. 106 Vgl. Fellowes 1949.
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1. Einleitung
gehandelt habe107. Diese These wird in den Kapiteln 2.1 und 2.2 weiter diskutiert werden. Der nächste bedeutende Schritt in der Erforschung der Tastenmusik William Byrds war die in den Jahren 1968 und 1971 von Alan Brown veröffentlichte Ausgabe der gesamten überlieferten Tastenmusik Byrds im Rahmen der Reihe Musica Britannica (MB XXVII–XXVIII108). Brown stellte seine Untersuchungen zum Manuskript MLNB im Rahmen der Arbeit an der genannten Ausgabe in seinem Vortrag für die Royal Musical Association im Jahr 1968 vor109. Darin beschrieb er auch einige der in MLNB enthaltenen Korrekturen, und beschäftigte sich mit der Frage nach deren Autorschaft, allerdings ohne diesem Themenkomplex größere Bedeutung beizumessen110. Die Sammlung betrachtete Brown in erster Linie als Quelle für seine bereits zitierte Gesamtausgabe: Sein Ansatz war daher primär ein praxisorientierter. Die jüngere Forschung hat sich vordergründig mit den einzelnen, teilweise auch in anderen Sammlungen enthaltenen Kompositionen, nicht mit der Sammlung MLNB selbst beschäftigt. Womöglich ist dieser Umstand auch der Existenz von Alan Browns erwähnter Gesamtausgabe zu verdanken: Ein „Byrd-Kanon“ wurde konstruiert, bei welchem die einzelnen Quellen etwas in den Hintergrund gedrängt wurden. Oliver Neighbour behandelt in seinem 1978 veröffentlichten Standardwerk The consort and keyboard music of William Byrd111 alle bekannten Kompositionen für Tasteninstrumente Byrds: Es ist die erste – und bisher die einzige – analytische Studie über Byrds Instrumentalmusik. Dabei sind Neighbours analytische Schwerpunkte die formale Gliederung, die „Motivik“ der Stücke sowie die Genese der auf der Basis von präexistenten Vorlagen komponierten Werke. Auch die Frage der Chronologie des Corpus der Byrdschen Musik für Tasteninstrumente spielt in Neighbours Arbeit eine bedeutende Rolle. Der Frage der Tonartbehandlung wird aber in der Studie Neighbours (bewusst) nicht viel Platz eingeräumt. Darüber hinaus wird das musikalische Material von seinem sozial-historischen Kontext prinzipiell getrennt betrachtet. Gerade diesen zwei Desideraten will die vorliegende Studie versuchen nachzugehen. Die Erforschung der Tastenmusik William Byrds in Deutschland konzentrierte sich bisher insbesondere auf das Problem der Klangorientierung – als Gegenpol zu einer „linear-kontrapunktischen“ Denkweise – in Byrds Kompositionstechnik. So bespricht Genoveva Nitz in ihrer 1979 veröffentlichten Dissertation112 einige Stücke William Byrds, die für ihren Hauptaspekt, das Phänomen der primären Klangbezogenheit in Byrds Musik für Tasteninstrumente, relevant erscheinen. Einen ähnlichen 107 Vgl. Dart 1964. 108 In der Byrd-Forschung werden diese beiden Bände zuweilen mit der Abkürzung BK bezeichnet. Hier wird die Originalabkürzung der Schriftenreihe MB bevorzugt. 109 Brown 1968/69. 110 Vgl. ebd., S. 39. 111 Neighbour 1978. 112 Nitz 1979.
1.2 Bisheriger Forschungsstand
33
Ansatz vertritt auch Martin Klotz in seiner jüngsten Monographie Instrumentale Konzeptionen in der Virginalmusik von William Byrd113. Von Relevanz für die vorliegende Studie sind auch mehrere kleinere Beiträge über einzelne Aspekte von MLNB: etwa der Artikel „‚My Ladye Nevells Booke‘ and Old Fingering“ von Ton Koopman114 sowie die Beiträge „Baldwin and the Nevell Hand“ von Hilary Gaskin115 und „My Ladye Nevells Booke and the Art of Gracing“ von Desmond Hunter116 in dem von Alan Brown und Richard Turbet 1992 herausgegebenen Kongressbericht Byrd Studies117. Gaskins eingangs bereits zitierter Artikel bezog sich dabei auf die Besonderheiten der Schrift des Notenschreibers John Baldwin, während Hunter die Einzelheiten der Ornamentationstechnik in der Sammlung und ihre Position in der Geschichte der Ornamentik der englischen Instrumentalmusik thematisierte. Hunters Untersuchungsergebnisse werden insbesondere in Teil 3 für die vorliegende Studie wichtig sein, der den Korrekturen in MLNB gewidmet ist. Bedeutende Beiträge zur Byrd-Forschung leistete in den vergangenen zwei Dekaden insbesondere John Harley: zuerst durch seine 1994 publizierte Studie British Harpsichord Music118, wie auch durch seine 1997 herausgegebene Byrd-Biographie119, den Artikel „‚My Ladye Nevell‘ Revealed“ in Music & Letters120 und seine jüngste Arbeit über die Modalität in Werken William Byrds121. In allen drei größeren Studien berücksichtigt Harley Aspekte von MLNB, während der genannte Artikel in Music & Letters insgesamt der Sammlung und der Ermittlung von Identität der „Ladye Nevell“ gewidmet ist. Die 1997 veröffentlichte Byrd-Biographie Harleys dürfte inzwischen als Standardwerk gelten. Der Diskurs der Studie bewegt sich zwar primär auf der Ebene der Faktizität, stellt aber durch umfangreiche Archivforschung bedeutende Fakten fest, die ein präzises Bild über Byrds Habitus ermöglichen. Für die Fragestellung der vorliegenden Studie sind dabei insbesondere die von Harley hervorgehobenen genealogischen Verbindungen der Familie Byrd relevant, sowie die Beschreibung der sozialen Position und des Habitus’ des Komponisten als eines Menschen, der zur elisabethanischen gentry – der niederen Oberschicht122 – gehörte, und der diese Zugehörigkeit als einen wichtigen Teil seiner Identitätsbildung zur Schau stellte123. Harley behandelte in seiner Byrd-Biographie auch Aspekte von MLNB, insbesondere deren Gesamtkonzeption sowie die Frage nach der Identität der Widmungsträ-
113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123
Klotz 2005. Zu Klotz s. weiter unten. Koopman 1977. Gaskin 1992. Hunter 1992. Brown/Turbet 1992. Harley 1994. Harley 1997. Harley 2005a. Harley 2005. Zur Begriffsbestimmung vgl. Kapitel 2.1. Vgl. Teil 2, insbesondere Kapitel 2.5.
34
1. Einleitung
gerin der Sammlung124. Die beiden Aspekte werden jeweils in den Kapiteln 2.1, 2.2 und 4.2 der vorliegenden Studie behandelt. Dort wird auch die inhaltliche Diskussion mit den Thesen Harleys stattÀnden. Den wohl wichtigsten Beitrag zur historischen Erforschung der Nevell-Sammlung und des Umfelds ihrer Entstehung hat bisher der Londoner Kunsthändler und Freund der Familie Nevill125, Christopher Foley, geleistet. Im Auftrag von Lord Abergavenny, der das Manuskript bis 2006 besaß, untersuchte Foley das historische Umfeld der Sammlung und unterbreitete eine These zur Identität der „Ladye Nevell“, die argumentativ stärker untermauert war als alle bisherigen. Foleys Forschungsergebnisse – die die Richtigkeit der oben erwähnten These Thurston Darts zu bestätigen scheinen – hat John Harley in dem bereits zitierten Artikel in Music & Letters126 bearbeitet und, zusammen mit eigenen Forschungen über die biographischen Einzelheiten in Bezug auf „Ladye Nevell“, in knapper Form der wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentiert. Foleys auf historischen Hilfswissenschaften basierende Forschungsergebnisse selbst sind dabei bisher unveröffentlicht geblieben; ihr Autor hat sie dennoch freundlicherweise dem Verfasser zur Verfügung gestellt. Im Rahmen der vorliegenden Studie werden die Thesen Foleys in den Kapiteln 2.1 und 2.2 ausführlicher besprochen. Neben diesen, unmittelbar der Tasteninstrumentenmusik Byrds und der Sammlung MLNB gewidmeten Arbeiten sind hier auch die Standardwerke über die Geschichte der Musik für Tasteninstrumente von Willy Apel, John Caldwell und Arnfried Edler127 zu nennen, die sich auch mit dem im MLNB enthaltenen Material beschäftigen. Die vorliegende Studie sieht sich dabei der Arbeit Edlers verpÁichtet, insbesondere wegen ihrer Akzentuierung sozialhistorischer Aspekte, die auch in der vorliegenden Studie eine zentrale Rolle zu spielen haben. Auch sind viele Thesen, die im Partikulären innerhalb dieser Studie zu prüfen sind, im Allgemeinen bereits bei Edler ausformuliert: so etwa der Bezug des Gattungsmäßigen zum Tonartlichen128. Edler hat sich auch mit der Sammlung MLNB in concreto befasst und dabei die bereits am Anfang der Einleitung angesprochenen Aspekte der Zyklusbildung in MLNB sowie der Relevanz des Tonartlichen in diesem Prozess hervorgehoben129. Derselbe Themenkomplex wurde auch von Oliver Neighbour und John Harley angesprochen130. Die Thesen Edlers und Harleys über den Bezug der Tonartbehandlung zum Konzept von MLNB werden in den Kapiteln 5.3 und 5.6 der vorliegenden Studie behandelt. Schließlich soll hier auch die jüngste Studie über Byrds Musik für Tasteninstrumente, Martin Klotz’ Instrumentale Konzeptionen in der Virginalmusik von Wil-
124 125 126 127 128 129 130
Vgl. Harley 1997, S. 243–247 sowie S. 402–407. Diese Schreibweise bevorzugt die Familie des heutigen Lord Abergavenny. Harley 2005a. Apel 1972, Caldwell 1973, Edler 1997. Vgl. Edler 1997, S. 160. Vgl. Edler 1997, S. 165. Vgl. Neighbour 1978, S. 179 f., Harley 2005, S. 128 f.
1.2 Bisheriger Forschungsstand
35
liam Byrd131, besprochen werden. Es handelt sich hierbei um den chronologisch aktuellsten Forschungsbeitrag über Byrds Tastenmusik. Ansonsten ist die Studie von mehreren nicht geringen Problemen gekennzeichnet: Auf einige hat bereits Oliver Neighbour in seiner Rezension der Studie in Music & Letters hingewiesen132, einige seien im Folgenden zusammengefasst. Ein Problem der sehr umfangreichen Studie Klotz’ scheint die Fragestellung selbst zu sein. Denn es handelt sich bei der Klangorientierung und der Instrumentalkonzeption im Corpus der Tastenmusik William Byrds wohl um den offensichtlichsten und in einer anderen monographischen Studie – Genoveva Nitz’ Die Klanglichkeit in der englischen Virginalmusik des 16. Jh. (1979) – zuvor bereits ausführlich behandelten Aspekt dieser Musik. Kaum jemand, der mit dem musikalischen Material von Byrds Kompositionen wie Bells oder Battle konfrontiert ist, kann das speziÀsch klanglich-instrumentale dieser Kompositionen übersehen. Untersuchungen über ihren Klangbezug sind daher vergleichbar – um mit Adorno zu sprechen – mit dem Verfassen einer Studie, deren Ziel es sei, zu beweisen, dass das Interesse an Tanzmusik bei jüngeren Menschen größer sei als bei den älteren133. Darüber hinaus hatte die zitierte Studie Nitz’ zuvor die Schlüsselaspekte dieses Phänomens bereits ausführlich behandelt. Auch in den oben zitierten Arbeiten Fellows’ und Glyns’ ist die Bedeutung der speziÀsch instrumentalen Kompositionstechnik hervorgehoben worden, die darüber hinaus in den ausgewogenen Analysen Oliver Neighbours im Kontext anderer Verfahrensweisen betrachtet wurden. Damit ist man bereits dem zweiten bedeutenden Problem der Studie Klotz’ auf der Spur: der fehlenden Rezeption der früheren Byrd-Forschung. Weder wird von Klotz die Arbeit Neighbours berücksichtigt, noch weist seine Studie Kenntnisse über die jüngeren Forschungsarbeiten in Bezug auf die Tastenmusik William Byrds auf. Das Schlüsselproblem der Arbeit Klotz’ scheint aber dasjenige zu sein, das bereits in Oliver Neighbours Rezension – in ungewöhnlich scharfer, aber vielleicht nicht gänzlich unverdienter Form – angesprochen wurde: sein „great singleness of mind“134. Denn die gesamte Studie Klotz’ ist von seiner zentralen These von der primären Klangorientierung Byrds so maßgeblich geprägt, dass weder andere musikanalytische Aspekte noch etwa sozial- und kulturgeschichtliche Momente ausreichend zum Ausdruck kommen. Aus dem vorausgegangenen Überblick über die Untersuchungen zur Sammlung MLNB und zu Byrds Musik für Tasteninstrumente allgemein ist deutlich geworden, dass das Gros der bisherigen Forschung einen spezialistischen Charakter hatte und die einzelnen Studien – viele von ihnen in hohem Maße verlässlich und wertvoll – vorwiegend innerhalb der Grenzen einzelner fachwissenschaftlicher Diskurse geblieben sind. Es fehlen generell der Wille zum Perspektivenwechsel und die Diskussion mit den anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, welche die Aspekte elisabethanischer Kultur untersucht haben. Oliver Neighbour hat bedeutende Aspekte der Gattungen in der englischen Tastenmusik beleuchtet. Viele 131 132 133 134
Klotz 2005. Neighbour 2006. Vgl. Adorno 1980, S. 230. Neighbour 2006, S. 672.
36
1. Einleitung
biographische Einzelheiten in Bezug auf Byrd und seine Patrone sind etwa durch John Harleys Untersuchungen bekannt geworden. Dennoch ist das Verhältnis dieser Aspekte zueinander in concreto nach wie vor kaum erforscht worden. Auch in den Forschungsarbeiten, die nicht direkt die Sammlung MLNB und die Musik William Byrds, sondern einige von den Teiluntersuchungsbereichen der vorliegenden Studie behandeln, ist die Zusammenhangsbildung zwischen sozialhistorischen und musikanalytischen Ansätzen selten. In den Studien zur Adelspatronage im elisabethanischen England – etwa denen von Walter WoodÀll, David Price oder Lynn Hulse135 – wird wenig oder gar nichts über das musikalische Material berichtet. Der Bezug der sozialen Transformationsprozesse im elisabethanischen England zur Intensivierung der musikalischen Literalität wurde zwar von David Price ausdrücklich hervorgehoben136, es geht aber bei Price vorwiegend um die Quantität, nicht um die Qualität der Literalisierung. Das „Wie“ der musikalischen Verschriftlichungsprozesse im elisabethanischen England wurde noch keiner genaueren Untersuchung unterzogen137. Auf der anderen Seite fehlt in den meisten analytischen Studien über die Musik im England des 16. Jh., insbesondere in jenen, die sich mit den Aspekten der Tonartbehandlung befassen, der Bezug zum Sozial- und Kulturhistorischen: Eine Ausnahme bilden jedoch die – in anderer Hinsicht im vorausgegangenen Kapitel kritisierten – Untersuchungen Harold Powers’ und Jessie Ann Owens’. Letztere hat expressis verbis, wenn auch eher beiläuÀg, einen Bezug zwischen sozialen und kulturellen Transformationen im elisabethanischen England und den SpeziÀka der englischen Musiktheorie angedeutet138 und war somit ein wichtiger Impulsgeber für die Untersuchungen der vorliegenden Studie. Mit Owens’ Ansatz wird sich diese Arbeit insbesondere in den Kapiteln 5.1 und 5.6 zu beschäftigen haben. Im Rahmen der vorliegenden Studie soll versucht werden, die bisherige Forschung durch Untersuchungen zu den immer noch unklaren Zusammenhängen zwischen den angesprochenen Aspekten der elisabethanischen Musik am Beispiel der Sammlung MLNB zu ergänzen: Die Ausgangshypothese der Studie ist, dass die musikalische Literalität und die Tonartlichkeit in inhaltlichem Bezug zur sozialund kulturhistorischen Situation im elisabethanischen England stehen. Eine Sammlung, die sowohl im Hinblick auf ihre Widmungsträgerschaft als auch auf die musikalische Literalisierung und die Tonartbehandlung bedeutende Besonderheiten aufweist, scheint dafür ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand zu sein.
135 WoodÀll 1953 und 1967, Price 1976 und 1981, Hulse 1991, 1996 und 2002. 136 Vgl. Price 1981, passim. 137 Im Gegensatz etwa zur Literalisierung von verschiedenen Gattungen mittelalterlicher Vokalmusik (vgl. z. B. Kaden 1985, S. 334–447 sowie 1993, S. 64–103). 138 Vgl. Owens 1998, S. 230–232.
1.3 Zur Gliederung der Arbeit
37
1.3 ZUR GLIEDERUNG DER ARBEIT Da der Aufbau der vorliegenden Studie bereits zum Teil bei der Darstellung der darin anzuwendenden Methoden (Kapitel 1.1) besprochen worden ist, sei die Gliederung der Arbeit hier nur in knapper Form zusammengefasst. Die Studie besteht aus zwei Bänden, wobei der im vorliegenden, ersten Band enthaltene Hauptteil sechs Teile umfasst. Der zweite, auf die Einleitung folgende Teil unter dem Titel „Love’s Labour Constructed. Die Geburt einer Musiksammlung aus dem Geiste der Gentry“ umfasst Untersuchungen zur Identität, dem Habitus und dem Musikgeschmack von „Ladye Nevell“ und ihrem Umkreis. Kapitel 2.1 beinhaltet dabei einen für das Verstehen der nachfolgenden Texte notwendigen Exkurs zur Adelstitulatur in England, während in Kapitel 2.2 einführende Bemerkungen zur Heraldik zu Ànden sind. Im Rahmen von Kapitel 2.6 Ànden Ausführungen über Aspekte der Musik am Hofe der Tudors, über die Position der Musik im Prozess der Identitätsbildung des englischen Adels sowie das Musikkonzept der elisabethanischen Aristokratie statt, die zwar aus dem engeren Rahmen der Fragestellung herausfallen, jedoch für den Nachvollzug der Entstehung von MLNB essentiell sind und in einem zweiten Schritt innerhalb desselben Kapitels auf die Sammlung bezogen werden. In Teil 3 „Lords, Ladies, Literacy: My Ladye Nevells Booke und die musikalische Schriftlichkeit“ werden anhand von Analysen des kompositionstechnischen Charakters der bereits erwähnten Korrekturen in MLNB die Fragen nach deren Autorschaft und Bedeutung im Kontext der musikalischen Literalisierungsprozesse im elisabethanischen England erörtert. Die diesbezüglichen Ausführungen basieren dabei auf der im Anhang beÀndlichen Liste von Korrekturen in MLNB139. Dabei werden die Untersuchungsergebnisse auch auf die in Teil 2 gewonnenen Erkenntnisse bezogen (Kapitel 3.3). Der vierte Teil der vorliegenden Studie „Hof, Krieg, Landleben: Das Konzept von My Ladye Nevells Booke“ stellt den Bezug zwischen der Wahl und der Reihenfolge der in der Sammlung enthaltenen Kompositionen einerseits und dem in Teil 2 untersuchten sozialen Feld, in welchem die Sammlung entstanden ist, andererseits her. Die Tonartlichkeit der in MLNB enthaltenen Kompositionen wird in Teil 5 „Säkularisierung, Anglisierung und ‚the iudgement of the composer‘. Die Tonartbehandlung in My Ladye Nevells Booke“ thematisiert. Die nach Gattungen geordneten Kapitel 5.2 bis 5.5 untersuchen die SpeziÀka der Tonartbehandlung nicht nur der in MLNB enthaltenen Stücke, sondern berücksichtigen auch andere Kompositionen für Tasteninstrumente William Byrds und vergleichen seine Kompositionstechnik mit der Praxis seiner englischen Zeitgenossen. Diese Ausführungen basieren auf Detailanalysen aller in MLNB enthaltenen Kompositionen, die sich im Anhang beÀnden. In Kapitel 5.1 Àndet ein methodisch relevanter Exkurs zur englischen Tonartenlehre des 16. Jh. statt, der auf die in Kapitel 1.1 begonnene Diskussion anknüpft. In Kapitel 5.6, das den gesamten Teil zusammenfasst, werden die Resultate der Analysen auf die anderen Untersuchungsergebnisse der Studie bezogen. 139 Zum Anhang s. weiter unten.
38
1. Einleitung
Schließlich werden in Teil 6 „Gesellschaft und Individuum, ‚Altes‘ und ‚Neues‘: Überschneidungen in My Ladye Nevells Booke“ keine neuen Problemstellungen eröffnet, sondern die Ergebnisse aller vorausgegangenen Untersuchungen im Sinne der generellen Fragestellung der Studie aufeinander bezogen und zusammengefasst. Der den Anhang umfassende zweite Band der Studie ist thematisch, nach Teilen und Kapiteln des Hauptteils geordnet. Der Anhang zu Teil 2 umfasst hauptsächlich Reproduktionen von heraldischen, kartographischen und ikonographischen Quellen (Anhang A zu Teil 2) sowie genealogische Tabellen (Anhang B zu Teil 2). Im Anhang zu Teil 3 beÀndet sich die Liste aller Korrekturen aus MLNB (Anhang B zu Teil 3). Jede einzelne Korrektur ist dort nicht nur genau beschrieben, sondern auch hinsichtlich ihres Kontexts im musikalischen Material kommentiert. Ebenfalls sind im Anhang zu Teil 3 Manuskriptreproduktionen und Notenbeispiele zu Ànden, die sich auf die Korrekturen in MLNB beziehen (Anhang A zu Teil 3). Im Anhang zu Teil 4 sind hauptsächlich Reproduktionen ikonographischer Quellen enthalten. Der Anhang zu Teil 5 umfasst Notenbeispiele (Anhang A zu Teil 5) und Einzelanalysen aller in MLNB enthaltenen Kompositionen (Anhang B zu Teil 5). Hier wurde größtenteils auf Referenzen verzichtet, da diese im Hauptteil zu Ànden sind. Um eine bessere Übersichtlichkeit zu gewährleisten, wurden die Notenbeispiele auch als „Abbildungen“ behandelt, bezeichnet und gezählt. Auf diese Weise kann der Anhang begleitend zum Hauptteil der Studie gelesen werden. 1.4 ANMERKUNGEN ZUR TERMINOLOGIE UND ZITIERWEISE Die historischen Personennamen werden im Rahmen der vorliegenden Studie nach der Tradition der englischen Historiographie geschrieben, konkret nach der Schreibweise, die in der Neuausgabe des 60-bändigen Oxford Dictionary of National Biography (DNB)140 von 2004 verwendet wird. Im Einklang mit dieser Tradition wird der Name der Widmungsträgerin von MLNB „Neville“ geschrieben, es sei denn, es handelt sich um die Titel von den ihr gewidmeten Kompositionen oder um eine Anspielung auf die Sammlung selbst: In diesen Fällen wurde die Schreibweise „Nevell“ beibehalten141. Ähnlich wurde auch mit anderen historischen Namen verfahren, etwa „Sidney“, „Melville“, „Westmorland“ etc. Laut DNB wurden ebenfalls die Lebensdaten von einzelnen Personen angegeben. Bei den Regenten bezieht sich dabei das erste Jahr auf die Geburt, das zweite auf die Thronbesteigung, das dritte auf den Tod. Die Lebensdaten von Komponisten sind nach New Grove und MGG2 angegeben. Biographische Einzelheiten in Bezug auf William Byrd basieren auf der bereits erwähnten Biographie des Komponisten von John Harley142. Die Titel von Kompositionen William Byrds wurden – der Lesbarkeit halber – nach der modernisierten, einheitlichen Bezeichnungsform aus Oliver Neighbours 140 Vgl. Abkürzungsverzeichnis. 141 Das entspricht der bisherigen englischen Musikgeschichtsschreibung. 142 Harley 1997.
1.4 Anmerkungen zur Terminologie und Zitierweise
39
zitierter Monographie143 geschrieben. Bei der Bezeichnung der in MLNB enthaltenen Werke wurden die Nummern aus der Quelle selbst bevorzugt. Diese können im Inhaltsverzeichnis von MLNB (Tabelle 1 im Anhang) mit den laufenden Nummern aus Alan Browns bereits erwähnter Gesamtausgabe von Byrds Musik für Tasteninstrumente im Rahmen der Reihe Musica Britannica (MB XXVII–XXVIII)144 verglichen werden. Bei den anderen, nicht in MLNB enthaltenen Werken Byrds und anderer englischer Komponisten der Epoche wurden die MB-Nummern sowie die Nummern der Reihe Byrd Edition (BE)145 verwendet. Wo es relevant war, wurden auch die laufenden Nummern der Kompositionen nach der betreffenden Quelle genannt. Die in Teil 5 verwendete musiktheoretische Terminologie wurde in Kapitel 1.1 bereits besprochen. Bei den Termini, die für die zentrale Fragestellung der Studie nicht von primärer Relevanz sind, wird pragmatisch vorgegangen: So werden bei Notenwerten – in der Tradition der gesamten angeführten Byrd-Forschung – die heutigen Bezeichnungen bevorzugt. Das Gleiche gilt auch für die Verwendung des Begriffes „Takt“, der in der vorliegenden Studie, die sich nicht primär mit rhythmisch-metrischen Aspekten der Tastenmusik Byrds zu befassen hat, lediglich zur besseren Orientierung im musikalischen Material dienen soll. Die „Taktzahlen“ wurden im Einklang mit der Ausgabe von Hilda Andrews (1926)146 und dem Manuskript selbst angegeben. Im Einzelnen können sie von den Taktangaben aus der MB-Ausgabe Alan Browns abweichen. Die nicht gedruckten historischen Quellen sind mit Hilfe von Archivsiglen im Abkürzungsverzeichnis einzuordnen. Alle gedruckten historischen, kartographischen, musikhistorischen und musiktheoretischen Quellen sind, zusammen mit der Sekundärliteratur, im Literaturverzeichnis angegeben. Zitierte musikalische Quellen – sowohl Manuskripte als auch Drucke – sowie Lexika sind ausschließlich im Abkürzungsverzeichnis angeführt worden.
143 144 145 146
Neighbour 1978. Vgl. Abkürzungsverzeichnis. Vgl. ebd. Vgl. Eintrag „MLNB“ unter „Gedruckte musikalische Quellen“ im Abkürzungsverzeichnis.
2. LOVE’S LABOUR CONSTRUCTED. DIE GEBURT EINER MUSIKSAMMLUNG AUS DEM GEISTE DER GENTRY Die nachfolgenden Kapitel der vorliegenden Studie sind sozial- und kulturhistorischen Untersuchungen zum Umfeld der Entstehung von MLNB gewidmet. In den ersten beiden Kapiteln (2.1 „Der Name der Lady“ und 2.2 „Von Schwänen und Klammern“) soll die nominelle Identität der „Ladye Nevell“ mit Hilfe von namensrechtlichen, heraldischen, genealogischen und diplomatischen Untersuchungen ermittelt werden. In Kapitel 2.3 „Der Bulle und das Buch“ werden aufgrund der in den ersten beiden Kapiteln festgestellten Fakten der Habitus und die aristokratische Identitätskonstruktion der Widmungsträgerin und ihres Ehemannes untersucht. Im Anschluss soll die Widmungsträgerschaft der Familie Neville in den Kontext der anderen Patronatsverhältnisse Byrds integriert werden (Kapitel 2.4 „Protestanten, Papisten, Pedigrees“). Anhand kartographischer und genealogischer Quellen werden dann die Thesen der bisherigen Forschung zum Kontakt der Familie Neville zu William Byrd kritisch besprochen (Kapitel 2.5 „Byrd und die Nevilles zwischen Geographie und Genealogie“). Schließlich wird in dem zusammenfassenden Kapitel 2.6 For ornament and reputation? der Musikbezug der Widmungsträgerfamilie Neville im Kontext einer sowohl „engeren“ als auch „weiteren Mitwelt“1 thematisiert: Hierzu werden sowohl ihre primäre Sozialisation, der Habitus ihrer Familien und ihres Umfelds als auch Aspekte des Musiklebens am Hofe, der aristokratischen Musikrezeption und -reproduktion sowie des Bildungsdenkens des elisabethanischen Adels untersucht. 2.1 DER NAME DER LADY. NAMENSRECHTLICHE ÜBERLEGUNGEN ZUR IDENTITÄT DER „LADYE NEVELL“ Der Name und der Titel bilden auch heute noch einen der zentralen Aspekte der adligen Selbstdarstellung. Die Elite-Theoretikerin und Bourdieu-Schülerin Monique de Saint Martin – selbst Angehörige des französischen Adels – betonte in ihrer bedeutenden soziologisch-ethnologischen Studie über die Aristokratie, dass durch den Titel und den Namen das symbolische Kapital einer Familie zum Ausdruck gebracht und „in komprimierter Form dargestellt“ werde2. Dabei sind, wie in Kapitel 1.1 bereits geschildert, in der Tradition Bourdieus unter dem Begriff „symbolisches Kapital“ primär die Konzepte des gesellschaftlichen „Ansehens“ 1 2
Vgl. Wiora 1975. Saint Martin 2003, S. 65.
42
2. Love’s Labour Constructed
und der „Ehre“ gemeint3. In der Tat werden in Adelsnamen und –titeln sowohl die historischen als auch die geographischen Grundlagen des symbolischen Kapitals der Aristokratie reÁektiert: Ein Herzog, Graf oder Baron aus dem „alten Adel“ entstammt einer seit Generationen mit militärischen, ökonomischen und Ànanziellen Machtbefugnissen ausgestatteten Familie, die in der Regel zugleich auch die dominante Familie eines konkreten Landesteils war4. Durch Adelsnamen kann aber auch das soziale Kapital repräsentiert werden, denn ein berühmter und „alter“ Name impliziert die komplexen familialen, genealogischen und gesellschaftlichen Verbindungen des Namensträgers. Da die alten Adelstitel auch den Bezug zum tatsächlichen Landbesitz reÁektieren, können diese auch das ökonomische Kapital des Titelträgers darstellen. Das englische Titulatur-System unterscheidet sich, wie dieses Kapitel zeigen wird, in einigen Aspekten vom kontinentalen; dennoch wird gerade im englischen System der Adelstitulatur auf eine präzise Verwendung von Prädikaten, Titeln und Namen geachtet, da die Titel nur an den Erstgeborenen vererbt werden (Primogenitur) und ein Fehler in der Titulatur leicht zu einer falschen Identitätszuschreibung führen kann. Aus diesen Gründen beginnt auch der historische Teil der vorliegenden Studie mit namensrechtlichen Überlegungen zur Identität der Widmungsträgerin von MLNB. Die Identität der „Ladye Nevell“ war schon im 17. Jh. offenbar in Vergessenheit geraten: John Harley betont zu Recht die Falschheit einer Eintragung aus dem Jahre 1669, die sich im Manuskript selbst beÀndet5 (Abb. 1): This book was presented to Queene Elizabeth / by my Lord Edward Abergavennye, Caled the / Deafe, the queene ordered one sr or mr North, one of her servants to keepe it, who left it / his son who gave it mr Haughton Attorney / of Cliffords Inn, and he last Somer 1668 gave it / to me; this mr North as I remember mr Haughton saide, was uncle to the last Ld North“ [gezeichnet:] M.Bergavenny [M und B verbunden].6
Wie schon Edmund Fellowes vor Harley bemerkt hat7, ist es nicht möglich, dass der im obigen Text erwähnte Edward der Taube, Lord Abergavenny, das Manuskript der Königin Elizabeth gegeben hat, da er 15878 beziehungsweise 15889 oder 158910, jedenfalls vor der Fertigstellung des Manuskriptes im Jahre 1591 gestorben war. 3 4 5 6 7 8 9 10
Vgl. hierzu etwa Bourdieu 1988, passim sowie Fawler 1997, S. 31 und Schwingel 2005, S. 92– 95. Bourdieus Kapitaltheorie ist am systematischsten in Bourdieu 1992 dargelegt worden. Vgl. Unterkapitel 1.1.1. Beim Amtsadel neueren Datums können die tatsächlichen Umstände gelegentlich anders sein; durch den Prozess der Adelung wird aber die Idee der geographischen Dominanz nachgeahmt: So hätte ein geadelter Herr Meyer etwa zum „Meyer von Meyersdorf“ werden können u. Ä. Vgl. Harley 2005a, S. 11. MLNB, das Papier ist im Einband angebracht; Transkription des Autors (vielfach abgedruckt). Die Autorin der Eintragung war Mary Neville, Lady Abergavenny, s. Harley 2005a, S. 11 unter Berufung auf Foley 2005. Vgl. Fellowes 1949, S. 4 f. Laut Foley 2005. Laut BURKE 1953, S. 9. Laut Harley 2005a, S. 11.
2.1 Der Name der Lady. Namensrechtliche Überlegungen zur Identität der „Ladye Nevell“ 43
Fellowes vertrat die These, dass die Widmungsträgerin von MLNB Rachel, Lady Abergavenny war, die Ehefrau des Sohnes Edwards des Tauben und seines Nachfolgers als Lord Abergavenny, der auch Edward hieß11. Da aufgrund der Namensgleichheit eine Verwechslung in der Familiengeschichtsschreibung in diesem Falle möglich gewesen wäre, erscheint diese These auf den ersten Blick plausibel. Bereits Thurston Dart hat Elizabeth Neville, die Ehefrau von Sir Henry Neville of Billingbear, Berkshire, als mögliche Widmungsträgerin von MLNB vorgeschlagen12. Darts Hauptargument dafür war die Beobachtung, dass das Wappen aus dem Manuskript13 Sir Henry Neville of Billingbear gehörte: Es soll einst in den Glasfenstern seines inzwischen abgerissenen Gutshauses Billingbear in Berkshire repräsentiert worden sein14. Auch der Byrd-Forscher Allan Brown und der PatronageForscher David Price hielten die Ehefrau von Sir Henry Neville für die wahrscheinlichste Widmungsträgerin der Sammlung15. In seiner Byrd-Monographie argumentierte John Harley dagegen, dass das Wappen aus MLNB möglicherweise später hinzugefügt worden sei und daher nicht zwingend auf die richtige Identität der „Ladye Nevell“ hinweisen müsse16. Er schlug auch Jane Neville, die Ehefrau des Charles Neville, Earl von Westmorland, als Kandidatin für die Widmungsträgerschaft von MLNB vor. Die Countess of Westmorland sei besonders wegen ihrer Verbundenheit zur Römisch-katholischen Kirche, der auch Byrd angehörte, ernsthaft in Erwägung zu ziehen17. Diese These in Bezug auf die Widmungsträgerschaft von MLNB änderte John Harley, nachdem er mit den bisher unveröffentlichten Forschungen Christopher Foleys, eines Experten für englische bildende Kunst des 16. Jh. aus dem Umkreis der Familie Nevill, vertraut worden war. Im Jahr 2005 wurde Harleys Artikel „‚My Ladye Nevell‘ Revealed“ veröffentlicht18, in welchem der Autor deutlich macht, dass es sehr starke Argumente dafür gebe, Elizabeth Neville, die Ehefrau des bereits genannten Sir Henry Neville of Billingbear, für die wahre Widmungsträgerin von MLNB zu halten. Dabei stellte John Harley die Untersuchungen Christopher Foleys nur umrisshaft vor, so dass die Diskussion immer noch offen war. Christopher Foley hat inzwischen auch dem Verfasser der vorliegenden Studie seine umfassenden Forschungsergebnisse, die er für den heutigen Lord Abergavenny zusammengefasst hatte, freundlich zur Verfügung gestellt, so dass die betreffende Argumentation hier aus erster Hand untersucht werden kann.
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Vgl. Fellowes 1948, S. 14–16 sowie Fellowes 1949, S. 1–7. Vgl. Dart 1964, S. 16–21. Hierzu s. Kapitel 2.2. Das Haus Billingbear brannte 1924 beinahe vollständig aus. Einige Elemente des alten Herrenhauses sind heute in das Gebäude Old Bulmershe Court inkorporiert. Aktuelle Informationen hierzu sind unter http://www.berkshirehistory.com/castles/billingbear_park.html abrufbar (abgerufen am 20. Februar 2009 um 20.00 Uhr). Vgl. Brown 1968/9, S. 29 f sowie Price 1981, S. 162. Vgl. Harley 1997, S. 402. Ebd. Harley 2005a.
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2. Love’s Labour Constructed
Aufgrund titulatur-systematischer und genealogischer Argumentation versuchte Foley zunächst den Kreis der in Frage kommenden weiblichen Mitglieder der Familie Neville einzuschränken, um dann per Ausschlussverfahren die Identität der „Ladye Nevell“ zu bestimmen. Der Kern von Foleys Argumentation ist, dass zum Zeitpunkt der Entstehung von MLNB nur die Frau eines Ritters „Lady Nevell“ genannt werden konnte und dass im Jahre 1591 nur eine Person den Titel „Lady Neville“ hätte führen dürfen: Elizabeth Neville (ca. 1541–1621), die dritte Ehefrau von Sir Henry Neville of Billingbear, Berkshire, Tochter des bedeutenden elisabethanischen Großsiegelbewahrers Sir Nicholas Bacon, und dadurch auch Halbschwester des Philosophen Francis Bacon19. Foleys und Harleys Thesen zur Titulatur-Systematik sind methodisch nicht ganz unproblematisch: Ihre Beobachtungen über die englische Titulatur basieren primär auf dem spätneuzeitlichen Adelssystem Englands beziehungsweise des heutigen Großbritanniens. Ebenfalls werden weder von Foley noch von Harley Quellen genannt, auf welche sie sich in Bezug auf die Titulatursystematik der elisabethanischen Epoche berufen. Harley äußert zwar die Meinung, es sei „perhaps too much“ anzunehmen, dass Titel im 16. Jh. immer „korrekt“ benutzt worden seien20, folgt aber diesem kritischen Ansatz nicht weiter. Um die Argumentation Foleys und Harleys besser zu verstehen und kritisch überprüfen zu können, sei hier vorerst ein Exkurs über das Titulatursystem des englischen Adels angeboten. Dieser Exkurs soll auch zur besseren Verständlichkeit der anschließenden Kapitel über den historischen und sozialen Kontext der Entstehung von MLNB beitragen. 2.1.1 Exkurs: Die Adelstitulatur in England21 Der britische „Adel“ – sofern die Anwendung des deutschen Terminus in diesem Kontext überhaupt angemessen ist – besteht aus zwei Gruppierungen: der nobility und der gentry22. Im 16. Jh. sprach der englische Anwalt und Autor Sir Thomas Smith in Bezug auf diese zwei Gruppen von nobilitas maior und nobilitas minor23. Die erste Gruppe besteht dabei aus Lords, die bis zu dem unter der Regierung Blair verabschiedeten House of Lords Act von 1999 durch das Erben ihres Titels automatisch auch Mitglieder des Oberhauses im Englischen Parlament (House of Lords) – als solche Peers genannt – waren24. Ihnen gesellen sich die erblichen weiblichen Mitglieder des Oberhauses (Peeresses in their own right) zu: Erbinnen der in der 19 20 21 22 23 24
Vgl. Foley 2005. Zur Familie Bacon s. Kapitel 2.3. Harley 2005/1, S. 3. Der Inhalt dieses Unterkapitels basiert auf eigenen Beobachtungen des Verfassers sowie auf BURKE 1953, S. CCCXIV–CCCXVIII, HWH und COKAYNE, passim (s. Abkürzungsverzeichnis). Als Übersicht empÀehlt sich auch Bush 1984. Der Begriff „Adel“ wird hier als Oberbegriff für nobility und gentry benutzt. Vgl. Smith Th. 1583, passim; vgl. auch Laslett 1983, S. 31. Derzeit delegieren sie aus ihrer Mitte Repräsentanten ins Oberhaus, sind also dadurch weiterhin am Herrschaftssystem beteiligt. Allerdings plant die Labour-Regierung weitere Reformen des House of Lords. S. die Homepage des Oberhauses: http://www.parliament.uk/lords/index.
2.1 Der Name der Lady. Namensrechtliche Überlegungen zur Identität der „Ladye Nevell“ 45
Regel sehr alten Titel, die sowohl auf männliche als auch auf weibliche Nachkommen übertragen werden können. Auch Erzbischöfe und Bischöfe der Church of England sowie Life Peers und Peeresses (vom König, beziehungsweise der Königin auf Lebzeiten Geadelte) gehören zu den Peers. – – – – – –
Die Titel der für diese Untersuchung relevanten erblichen nobility sind: Herzog (Duke, weibliche Form: Duchess) Marquis (Marquess, weibliche Form: Marchioness) Graf (Earl, weibliche Form: Countess) Vizegraf (Viscount; weibliche Form: Vicecountess) Baron (weibliche Form: Baroness)25
Die Marquis, Earls, Viscounts und Barone26 werden üblicherweise mit dem Oberbegriff „Lord“, ihre Frauen und die Peeresses in their own right als „Lady“ bezeichnet. Der Titel bezieht sich dabei auf die Lordschaftsbezeichung, nicht auf den Nachnamen27. Der Marquis von Abergavenny, der den Familiennamen Nevill trägt, wird daher mit „Lord Abergavenny“ angesprochen und angeschrieben. Seine Frau wird „Lady Abergavenny“ genannt, nicht „Lady Nevill“. In dritter Person kann, besonders in formellen Zusammenhängen, bei den Marquis, Earls und Viscounts auch der tatsächliche Titel benutzt werden. Lord Abergavenny hieße in solchen Fällen also „The Marquess of Abergavenny“, seine Frau „The Marchioness of Abergavenny“. Der rangniedrigste Titel der nobility, der Baron, wird dagegen nie benutzt: Der Baron Petre wird also auch in dritter Person und zu formellen Anlässen „The Lord Petre“ tituliert. Obwohl die Zugehörigkeit zur nobility in Großbritannien immer noch mit Privilegien verbunden ist und die Titel nicht, wie etwa in Deutschland, lediglich Namensteile darstellen, sind die Unterscheidungen zwischen einzelnen Adelstiteln in erster Linie eine Frage des symbolischen Kapitals: Der Unterschied zwischen einem Herzog und einem Marquis liegt in der neuzeitlichen Auffassung nicht etwa in der Art eines ihnen jeweils anvertrauten Amtes, sondern der Herzog steht innerhalb der gleichen gesellschaftlichen Gruppe symbolisch höher als der Marquis. Ähnliches ist auch in Kontinentaleuropa vielfach der Fall28. Ein Unterschied zu den kontinentaleuropäischen Kulturen liegt aber in der Tatsache, dass sich in Großbritannien die Zugehörigkeit zur nobility nur auf den Titelträger und Inhaber entspre-
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cfm (abgerufen am 15. Februar 2009 um 19.00 Uhr). S. auch Strauch 2003, Russell 2000, Pakenham 1999 sowie Richard/Welfare 1999. Der englische Begriff „Baroness“ – Frau eines Barons, oder Baronin in eigenem Recht – ist nicht mit dem deutschen und französischen Begriff „Baronesse“ zu verwechseln, der die Tochter eines Barons und einer Baronin bezeichnet. Für Earls und Viscounts werden im Folgenden die englischen Originalbegriffe, nicht die sinngemäßen deutschen Übersetzungen „Graf“ und „Vizegraf“ verwendet, da Letzteres in Bezug auf die englischen Titel dem zeitgenössischen deutschen Sprachgebrauch nicht entsprechen würde. Dabei ist zu betonen, dass im englischen Adelssystem der Titel nicht dem Familiennamen gleichen muss. Von den Earls aufwärts wird der Titel in der Regel von einem Territorium abgeleitet. Zur internen StratiÀkation des Adels s. etwa Saint Martin 2003, passim.
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2. Love’s Labour Constructed
chender Privilegien – auf das „Familienoberhaupt“ – beschränkt. Seine Nachkommen sowie Geschwister gehören nicht zur nobility, auch wenn sie by courtesy einen Adelstitel führen; sie sind Mitglieder der gentry, der nobilitas minor. Das sei im Folgenden verdeutlicht: Der Titel eines Duke (dt. Herzog, lat. dux, fr. duc), der sowohl auf Deutsch als auch in den romanischen und slawischen Sprachen historisch und etymologisch mit der Führung des Heeres verbunden ist29, ist der höchste Adelstitel außerhalb des Königshauses30. Bei den Herzogen, den Marquis und den Earls handelt es sich in der Regel um Familien der alten Aristokratie, die nicht nur einen, sondern mehrere in den Jahrhunderten ihrer Geschichte erworbene Titel tragen. So ist etwa der Herzog von Norfolk aus der Famile Howard zugleich Earl von Arundel, Surrey und Norfolk, Baron Beaumont, FitzAlan, Clun, Oswaldestre, Maltravers sowie Baron Howard of Glossop31. Der älteste Sohn eines Herzogs trägt zu Lebzeiten seines Vaters dessen zweithöchsten Titel, allerdings lediglich by courtesy. Im Falle des Duke of Norfolk hieße daher der älteste Sohn Earl of Arundel und würde sich als „Lord Arundel“ anreden lassen, wäre aber kein Peer, da der ofÀzielle Titelträger sein Vater ist. Erst nach dessen Tod würde Lord Arundel alle seine Titel erben. Der zweite Sohn kann den dritthöchsten Titel des Vaters tragen. Die jüngeren Söhne der Herzöge führen den an ihren Vornamen gebundenen Titel „Lord“ und den Familiennamen. So könnte ein jüngerer Sohn des erwähnten Herzogs etwa Lord Henry Howard heißen. Die Töchter tragen den an ihren Vornamen gebundenen Titel „Lady“ (z. B. Lady Henrietta Howard)32. Diese „Nachgeborenen“ werden mit Titel und Vornamen angeredet. Die Anrede „Lord Howard“ oder „Lady Howard“ wäre also bei den letzteren beiden falsch. Der Marquess-Titel (dt. Marquis bei ausländischen Adligen, Markgraf bei deutschen, lat. marchio, fr. marquis) ist historisch mit der Verwaltung von Grenzgebieten („Marken“) verbunden33. Die Nachkommen der Marquis werden wie die Nachkommen der Herzöge tituliert: Der Besitzer von MLNB war bis 2006 der Marquess of Abergavenny. Seine jüngeren Nachkommen werden sich Lord, beziehungsweise Lady Vorname Nevill, keineswegs Lord oder Lady Nevill nennen. Der Earl-Titel (dt. Graf, lat. comes, fr. comte) war bis zum 14. Jh. der neben dem „Baron“ einzige Adelstitel Englands und von ähnlicher Herkunft wie die deutsche Bezeichnung „Edeling“. Nur am Rande bezog er sich auf die Verwaltung einer Grafschaft34. Für die weiblichen Nachkommen der Earls gilt das Gleiche wie für die Nachkommen der Herzöge und Marquis: Sie werden mit dem Titel Lady und 29 30
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Vgl. HWH, Bd. 1, S. 280 f. Der Titel „Prince“ ist in Großbritannien nur Mitgliedern des jetzigen Königshauses sowie den Mitgliedern des ehemals regierenden Hauses Hannover vorbehalten. Seine Träger rangieren daher höher als nichtkönigliche Herzöge. Allerdings sind Söhne britischer Herrscher auch Herzöge bestimmter Herzogtümer (z. B. Cornwall). Vgl. BURKE 1999, Bd. II, S. 2090. Deren Nachkommen heißen lediglich „Mr.“ oder „Miss Howard“. Vgl. HWH 1995, Bd. 2, S. 416 f (Artikel „Markgraf“ und „Marquis“). Vgl. HWH 1995, Bd. 1, S. 162 (Artikel „Earl“), 254 (Artikel „Graf“).
2.1 Der Name der Lady. Namensrechtliche Überlegungen zur Identität der „Ladye Nevell“ 47
ihren Vornamen angeredet, die jüngeren Söhne tragen aber nicht den an den Vornamen gebundenen Titel „Lord“35. Die britischen Herzöge, Marquis und Earls haben das Recht, von der Königin „Prince“ und „Cousin“36 genannt zu werden und werden auch auf dem Kontinent als „Hochadel“ angesehen. Der Titel eines Viscounts (dt. Vicegraf, lat. Vicecomes, fr. Vicomte) geht auf die Sheriffs, die ursprünglichen Stellvertreter der Earls einer Grafschaft37, zurück, während baroni/barones maiores ursprünglich eine Sammelbezeichnung für „parlamentsfähige“ Feudalherren war38. Die Nachkommen von Baronen und Viscounts führen keine Adelstitel, lediglich haben sie in der Neuzeit das Recht auf das Prädikat The Honourable erworben. Zur nobilitas minor, der gentry, gehören Ritter (Knights), sowie ihre Familien, aber auch die Nachkommen der Peers. Im 17. Jh. wurde in England durch Jakob I. – wohl aus ökonomischen Gründen – der Titel „Baronet“ eingeführt, um einen erblichen Rittertitel zu bezeichnen39. Die Baronets und die Ritter tragen den an den Vornamen gebundenen Titel „Sir“, ihre Frauen den an den Nachnamen gebundenen Titel „Lady“ (ursprünglich „Dame“, eine Bezeichnung, die heute von Frauen getragen wird, die selbst zu Rittern geschlagen wurden). Während also ein Sir Henry Neville mit „Sir Henry“ anzureden ist, heißt seine Frau „Lady Neville“40: Das ist der zentrale Punkt in der eingangs erwähnten Argumentation Christopher Foleys und John Harleys. Die Problematik der Titulatur des 16. Jh. wird im elisabethanischen Book of Precedence41 behandelt. Es sind in dieser Abhandlung über das englische Hofzeremoniell zwei auf den ersten Blick verschiedene Systeme verzeichnet. So heißt es am Anfang des Manuskripts wörtlich: „a dukes daughter is borne a Marchioness“ und „all dukes younger sonns be borne as Earles“42, was im Lichte des überlieferten, oben geschilderten Systems vorerst fremdartig erscheinen mag. Innerhalb des 35 36 37 38 39
40
41 42
Vgl. BURKE 1953, S. CLXX. Letzteres steht allerdings auch den Viscounts zu. Vgl. HWH, Bd. 2, S. 640 f. (Artikel „Vicecomes“). Vgl. HWH, Bd. 1, S. 61. Zur englischen gentry gehört(e) auch die Gruppe der esquires: Die Bezeichnung „Esquire“ (Knappe, Schildträger), den die untitulierten Nachkommen der gentry und auch die titellosen Nachkommen der nobility sowie Vertreter angesehener und begüterter aber titelloser Familien trugen, wird kaum mehr gebraucht. Eine Ausnahme von dieser Regelung bilden auch heute noch die Töchter der drei ranghöchsten Peers-Klassen, die, wie bereits hervorgehoben, von ihrer Geburt an den Titel „Lady“ an den Vornamen gebunden führen. Das gilt auch nach der Eheschließung mit einem Ritter oder Baronet. Wenn z. B. in Oscar Wildes A Woman of No Importance die Frau von Sir John Pontefract als „Lady Caroline“ und nicht erwartungsgemäß als „Lady Pontefract“ bezeichnet wird, dann ist das ein Hinweis darauf, dass sie aus einer höheren Peersfamilie stammt und ihren Lady-Titel daraus und nicht aus der Ehe mit einem Baronet ableitet. Das wird dadurch bestätigt, dass ihr Bruder „Lord Henry Weston“ heißt (Wilde 1908/1969, passim). Undatiert; Quelle: BL Harl. MS 1440; abgedruckt in Early English Texts Society 1869/2001, S. 13–28. Ebd., S. 14.
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2. Love’s Labour Constructed
Book of Precedence wird auf ähnliche Weise auch hinsichtlich der anderen Adelstitel verfahren. Es ist dennoch nicht belegt, dass diese Regelung in der Praxis wirklich eingehalten wurde. Womöglich wollte der Autor der Abhandlung lediglich zum Ausdruck bringen, dass die Töchter der Herzöge im symbolischen und protokollarischen Sinne den gesellschaftlichen Rang der Marquisen hatten und ihre Söhne den Earls gleichgestellt waren, nicht aber dass sie auch die entsprechenden Titel hätten führen dürfen. Diese Vermutung wird am Ende des Book of Precedence bestätigt. Dort begegnet man einem Titulatursystem, das dem überlieferten, oben ausgeführten entspricht. Danach werden etwa die Herzogssöhne folgendermaßen betitelt: „A Dukes Eldest sonnes be Earles, and all the rest of his sonns are Lords, with the Addition of the Christen name, as Lord Thomas, Lord Henry“43. Für die vorliegende Arbeit könnte die Betitelung der Nachkommen von Earls im Book of Precedence besonders relevant sein, da es in der Familie Neville diesen Titel gab: „An Earles Eldest sonn is called a lord of a place or Baron[y], and all his other sonnes no lords, but all his daughters are Ladyes“44. Dass auch die Töchter der Earls den Titel „Lady“ tragen durften, wird von Christopher Foley nicht berücksichtigt: Er schreibt ihnen lediglich das Recht zu, das Prädikat „The Honourable“ zu tragen45. Hinsichtlich der Titulatur von Töchtern der Earls und des in der elisabethanischen Epoche in diesem Kontext nicht belegten Prädikats „The Honourable“ müsste seine Argumentation korrigiert werden. 2.1.2 Elizabeth oder Rachel? Zwischen Titulatursystematik und freier Titelbenutzung Ist aber diese Korrektur – so wichtig wie sie auf der Ebene der genealogischen Methodik sein mag – für die Fragestellung der vorliegenden Studie relevant? Der Titel „Lady“46 wurde, wenn es sich um die Tochter eines höheren Peers handelte, wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Vornamen, nicht mit dem Familiennamen getragen, wie das obige Zitat aus dem Book of Precedence im Falle der jüngeren Söhne ranghoher Peers schildert, wenngleich dieses Titulatursystem nicht als streng verbindlich betrachtet werden sollte. In der Familie Neville gab es im 16. Jh. in der Tat einen Earl-Titel: den von Westmorland. Dieser war dennoch, wie auch Foley schreibt, wegen aufrührerischer Tätigkeit von Charles, Earl of Westmoreland (1542/3–1601) zu Zeiten der Entstehung von MLNB aufgehoben. Es ist kaum denkbar, dass der – trotz seiner Angehörigkeit zur Römisch-katholischen Kirche – 43 44 45 46
Ebd., S. 27. Ebd. Foley 2005 (ohne Seitenangabe); dies obwohl die Earlstöchter auch heute noch das Recht haben, den Titel Lady in Verbindung mit dem Vornamen zu tragen, wie etwa aus dem Beispiel der Lady Diana Spencer bekannt ist; vgl. auch BURKE 1953, S. CLXX. Zur Verwendung des Pronomens „My“ in Verbindung mit den Titeln „Lady“ und „Lord“ s. Kapitel 2.5.
2.1 Der Name der Lady. Namensrechtliche Überlegungen zur Identität der „Ladye Nevell“ 49
bekanntlich treue Untertan William Byrd47 und John Baldwin, beide Angestellte der Krone, diesen Umstand ignoriert hätten. Noch weniger denkbar scheint es, dass das Buch unter solchen Umständen Königin Elizabeth I. geschenkt worden wäre48. Die andere Linie der Peers in der Familie Neville, die der Lords (Barone) Abergavenny, erreichte erst im 18. Jh. die Earls-Würde, ihre Töchter hätten also auch im Sinne der Titulatur des 16. Jh. keinen Lady-Titel getragen. Das belegt auch das Book of Precedence in Bezug auf den noch höheren Rang der Töchter von Viscounts: „A viscounts Eldest sonn is no Lord, nor no other of his sonns, nor none of his daughter[s] ladyes“49. Dieser Grundsatz, der für die Nachkommen der Viscounts galt, musste erst recht für die rangniedrigeren Töchter der Barone gegolten haben. Dadurch entfällt die Widmung an eine Tochter der Familie Neville of Abergavenny. Außerhalb der Bereiche Genealogie, Protokoll und Heraldik herrschte allerdings größere Flexibilität in der Titelbenutzung. Dass selbst in Kreisen der Peers die Titel noch im 17. Jh. nicht immer „korrekt“ benutzt wurden, belegt schon die am Anfang des vorliegenden Kapitels zitierte und im Anhang reproduzierte Eintragung in MLNB (Abb. 1), die aus aristokratischer Feder stammt: Aus der darin zu Àndenden Bezeichnung „Lord Edward Abergavennye“ würde man nach dem geschilderten Titulatur-System davon ausgehen müssen, dass „Abergavennye“ nicht der Titel, sondern der Familienname sei, da der Lord-Titel an den Vornamen gebunden ist. Daraus müsste man schließen, dass „Lord Edward Abergavennye“ der jüngere Sohn eines Marquis oder eines Herzogs gewesen sei, was natürlich falsch wäre50. Auch die Bezeichnung „Sir North“, die sich im gleichen Text beÀndet, ist „inkorrekt“: Der Rittertitel „Sir“ wird nur an den Vornamen gebunden. Der „falsche“ Gebrauch von Titeln könnte aber in diesem Fall mit dem informellen Charakter der Eintragung zusammenhängen. Angesichts der Áexiblen historischen Titelbenutzung scheint es vorerst, dass eine Alternative zu Foleys These die Widmung von MLNB an eine Lady Abergavenny – Ehefrau eines Lord Abergavenny – wäre: Obwohl das der ofÀziellen Titulatur nicht entsprechen würde und diese Adlige korrekterweise nur mit dem Titel ihres Mannes („Lady Abergavenny“), nicht mit dem Familiennamen („Lady Neville“) zu betiteln gewesen wäre, gab es in der Praxis offenbar Ausnahmen von solchen Regeln. Neben den zitierten, etwas späteren Beispielen aus dem Kreis der Nevilles sei hier auch ein elisabethanisches Beispiel genannt: Die Frau des Earl of Northumberland in Shakespeares Henry IV. wird nicht „Lady Northumberland“, sondern mit ihrem Nachnamen „Lady Percy“ genannt51. Eine genaue Entspre47 48 49 50 51
Vgl. etwa Harley 1997, passim. Es sind allerdings keine anderen Beweise für diese Schenkung zu Ànden als die erwähnte, spätere Eintragung in MLNB. Early English Texts Society 1869/2001, S. 28. Die „korrekte“ Bezeichnung wäre „Lord Abergavennye“ gewesen. Vgl. Shakespeare 1998/1999, passim. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass ein historisches Theaterstück nicht direkt mit einer Widmung vergleichbar ist, bei welcher es wahrscheinlicher ist, dass man auf die korrekte Titulatur geachtet hätte.
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2. Love’s Labour Constructed
chung wäre im Fall der Familie Neville, wenn eine Lady Abergavenny52 von Byrd oder Baldwin „Lady Neville“ genannt worden wäre. Zu Zeiten der Manuskriptentstehung führte den Abergavenny-Titel Rachel Neville (1541/3–1593), geb. Lennard53: eine Kandidatin für die Widmungsträgerschaft von MLNB, die, wie bereits ausgeführt, schon von Fellowes vorgeschlagen wurde. Die historische Praxis der Titelführung scheint keine endgültige Feststellung der Identität von „Ladye Nevell“ aufgrund namensrechtlicher Argumentation zu erlauben. Die Entscheidung zwischen Elizabeth Neville, der Ehefrau von Sir Henry Neville of Billingbear, und Rachel Neville, Lady Abergavenny, muss vorerst ausbleiben, wenngleich die Widmungsträgerschaft der Frau eines Ritters vor dem Hintergrund der angeführten namensrechtlichen Argumentation wahrscheinlicher erscheint. Da aber in der Nevell-Sammlung selbst ein heraldischer Komplex zu Ànden ist, der auf die Identität der Widmungsträgerin hinweisen könnte, soll nun auch dieser näher untersucht werden. 2.2 VON SCHWÄNEN UND KLAMMERN. HERALDISCHE ASPEKTE VON MY LADYE NEVELLS BOOKE Das Zeitalter der Tudors (1485–1603) war eine Epoche großer gesellschaftlicher Umbrüche, der Zerstörung von Teilen alter – vor allem kirchlicher – Eliten und der Entstehung neuer Elitegruppierungen der säkularen Aristokratie54. Die Heraldik war in dieser Zeit insofern von besonderer Bedeutung, als auch für die Familienwappen gilt, was die Elitetheoretikerin Monique de Saint Martin in Bezug auf Namen und Titel schreibt: Sie stellen bildhaft das symbolische Kapital einer Familie, ihre „Ehre“ und ihr gesellschaftliches „Ansehen“, in „komprimierter Form“ dar55. Das Wappen repräsentiert (oder simuliert!) schon durch seine formalen, allen Wappen gemeinsamen Bestandteile – den Schild, den Helm, die Helmdecke und die Helmzierde – die Herkunft aus dem herrschenden, privilegierten, ursprünglich militärischen Stand des Mittelalters, dessen Position als dominanter und bedienter Stand auch durch die Präsenz der Schildhalter zum Ausdruck kommen kann56. Da52
Lady Westmorland kann aus den bereits genannten historischen Gründen wohl ausgeschlossen werden. 53 Die Ehefrau des 8. Lord Abergavenny (Sohn und Nachfolger Edwards des Tauben aus der oben zitierten Eintragung in MLNB). 54 Zu diesem Themenkomplex s. etwa die Standardwerke Lawrence Stones (Stone 1965 und 1984); in Bezug auf MLNB wird das Thema im Rahmen von Kapitel 2.3 und Kapitel 2.4 besprochen. 55 Saint Martin 2003, S. 65. 56 Der Autor sieht sich in seinem Zugang zur Wappenkunst in der Tradition der jüngeren zeichenund kommunikationstheoretischen Heraldikforschung von Belting (2001a), Bogen (2006), Scheibelreiter (2006a), Achnitz (2006), Biewer (2003), Ragen (1994) und Paravicini (1998). Diese Ansätze sind hier mit den soziologischen und ethnologischen Elitestudien von Monique de Saint Martin (2003) in Verbindung gebracht, die in der Tradition Bourdieus stehen, von dem natürlich auch die Begriffe der Kapitalschichtung stammen (s. Kapitel 1.1 und 2.1).
2.2 Von Schwänen und Klammern. Heraldische Aspekte von My Ladye Nevells Booke
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rüber hinaus kann die vornehme Herkunft einer Familie durch den Inhalt des Schildes dargestellt werden. Das Wappen stellt aber nicht nur das symbolische Kapital, die „Ehre“, einer Familie dar57, sondern kann auch andere Aspekte ihres Gesamtkapitals reÁektieren: Durch die Teilung des Schildraumes können in seinen Feldern die Verwandtschaftsverhältnisse und die Verzweigungen einer Familie ausführlich dargestellt werden, was dem für den Adel bedeutenden sozialen Kapital entspricht. Schließlich kann durch die Schildteilung zugleich auch das ökonomische Kapital einer Familie angedeutet werden: denn bei der Eheschließung mit Alleinerbinnen werden die Elemente ihres Wappens in das Wappen des Ehemannes integriert, so dass die Heraldik dadurch auch die geerbten und erworbenen Besitztümer des Wappenträgers – oder zumindest die seiner Vorfahren – repräsentieren kann. Durch die genannten Aspekte der Repräsentation ist die Wappenkunde im Mittelalter zu einem wichtigen Stützpfeiler der aristokratischen Identitätsbildung geworden, die durch die Repräsentanz von Personen diese gleichzeitig als einen Teil einer genealogisch determinierten Elitegruppe – der adligen Großfamilie (Schildinhalt) – und eines elitären, damals noch mit konkreten Machtbefugnissen ausgestatteten Standes (formale Elemente des Wappens) darstellte. Auch heute noch stellt die Wappenkunde in England einen wichtigen, wenn auch nicht mehr entscheidenden, Faktor der Konstruktion und der Repräsentation der Eliteidentität dar. Nur jemand, der als „Gentleman“ oder „Lady“58 bezeichnet werden kann, darf ein Wappen führen: Darüber wacht die Institution des College of Arms. Heute sind nach der vom College of Arms vertretenen Logik – und das College of Arms stellt einen Teil des Königshofs dar –, jeder britische Bürger und jede britische Bürgerin mit einem Universitätsabschluss ofÀziell ein „Gentleman“59 oder eine „Lady“ und können beim College of Arms ein Wappen beantragen, sofern sie noch keines besitzen: Die Verbindung zwischen dem Bildungskapital und dem symbolischen Kapital ist offensichtlich. Im 16. Jh. dagegen war das Wappenrecht, wenn auch für Nichtaristokraten grundsätzlich offen, das entscheidende Symbol einer immer noch genealogisch bestimmten und erst zusätzlich durch universitäre und sonstige Bildung bestätigten Elite. Dennoch waren solche vielschichtigen heraldischen Darstellungen wie jene aus MLNB, zumal in Musikmanuskripten, keineswegs die Norm im elisabethanischen England60. Im Gegenteil: Eine derart komplexe heraldische Repräsentanz in englischen Musikmanuskripten ist singulär. Sogar das königliche Wappen aus der Handschrift BL MS Royal 8.G.VII (Folio 2v.) kann nicht mit der heraldischen Repräsentation aus MLNB verglichen werden61: Dem Wappen ist in MS 57 58 59 60 61
Zum Thema „Ehre“ als symbolisches Kapital s. etwa Bourdieu 1988 passim; vgl. auch Fowler 1997, S. 31 und Saint Martin 2003, S. 173. Vgl. Unterkapitel 1.1.1. Hier allerdings nicht in Verbindung zum Namen. Persönliche Mitteilung Christopher Foley; vgl. auch HWH, Bd. 2, S. 583. In Italien, speziell in Rom und Florenz, waren sie häuÀger. Italienische Manuskripte mit heraldischen Elementen wurden insbesondere von Richard Sherr (u. a. 1977, 1985 und 1996) und Jose-Maria Llorens (1986) untersucht. Es handelt sich hierbei um ein Áämisches Manuskript der Vokalmusik, das im Besitz Heinrichs VIII. von England endete. Die genauen Umstände des Besitzerwechsels sind unklar: vgl. Tirro 1981.
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Royal B.G.VII kein eigenes Folio gewidmet und es ist bedeutend kleiner und einfacher als das Wappen in MLNB62. Dabei wachte über die Verleihung und Änderung der Wappen im England des 16. Jh. – wie auch heute noch – die Krone beziehungsweise ihr Bevollmächtigter, der Duke of Norfolk als erblicher Earl Marshall63. Diesem untersteht auch das College of Arms, das englische Heroldsamt, wo die gesamte heraldische und genealogische Dokumentation Englands seit dem Mittelalter archiviert ist. Durch diese strenge Observanz der Wappenführung und die Kontinuität der Institution des College of Arms ist es möglich, die nominelle Identität der englischen Familien seit dem Mittelalter anhand von heraldischen Darstellungen präzise festzustellen. Im England des 16. Jh. konnte eine komplexe heraldische Darstellung wie jene aus MLNB, die den Schild, den Helm, die Helmzierde, die badges und die Beizeichen umfasst, als Symbol – der Begriff kann in diesem Kontext durchaus im Sinne eines terminus technicus der Semiotik64 verstanden werden – für eine konkrete Persönlichkeit dienen. Der Schild65, das markanteste und komplexeste Element des Wappens, vermag das noch nicht: Sein Inhalt kann lediglich die Familie repräsentieren, deren Mitglied der Wappenträger ist, wenn es auch der ursprüngliche Gedanke der mittelalterlichen Heraldik gewesen war, durch den Schild eine konkrete Person zu repräsentieren66. Dank der verschiedenen Möglichkeiten der Teilung des Schildraumes ist es, wie bereits ausgeführt, möglich, durch die im Schild enthaltenen Symbole einen konkreten Zweig einer Großfamilie zu repräsentieren. Neben dem Schild sind der Helm, die Helmdecke und die Helmzierde weitere konstitutive Elemente der Heraldik, wobei nur das letztere Element als Familienrepräsentant betrachtet und vererbt wird. Diese martialischen Paraphernalien stehen ausschließlich männlichen Familienmitgliedern zu: In England hat bereits im Jahre 1561 das College of Arms entschieden, dass die Helmzierde (englisch: crest) nicht an Frauen vererbt werde67. Als Helmzierde werden manchmal etablierte Familiensymbole benutzt. Diese können auch in Form von badges verwendet werden: Symbole, die außerhalb des Schildes geführt werden können. Heraldische Schildhalter führen dabei auf englischen Wappen des 16. Jh. in der Regel die Peers, die Oberhäupter einzelner Adelshäuser68. Schließlich hat sich im England des 16. Jh. auch ein äußerst präzises System von Beizeichen entwickelt, die als Rangbezeichnungen innerhalb einer Familie be-
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Abgedruckt in Tirro 1981, S. 8, 13, 25; der Musikbezug der Heraldik wird in Kapitel 2.6 weiter erörtert. Vgl. hierzu etwa Woodcock/Robinson 1988, S. 139–155. Zum Themenkomplex Semiotik der Heraldik vgl. insbesondere Ragen 1994. Zum Thema Schild in der englischen Heraldik s. insbesondere Woodcock/Robinson 1988, S. 50–74 und Fox-Davies 1969, S. 47–52; vgl. auch Scheibelreiter 2006, S. 24–118, Neubecker 1990, S. 56–143, Neubecker 1991, S. 40–153, Volborth 1989, S. 21–46, Leonhard 1984, S. 118–292, Galbreath/Jéquier 1978, S. 79–172. Vgl. hierzu etwa Neubecker 1990, S. 96. Ebd. S. 75 f. Vgl. Kapitel 2.1.
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ziehungsweise eines Familienzweiges dienen69. Durch diese zusätzlichen Symbole, die marks of cadency, und deren Kombination wird die genaue Stellung eines Wappenträgers innerhalb der durch den Inhalt des Schildes repräsentierten Familie kenntlich gemacht. Traditionell wird das System der marks of cadency dem GarterWappenkönig70 John Writhe (gest. 1504) zugeschrieben71. Nach diesem System steht dem ältesten Sohn neben dem Familienwappen als Beizeichen ein Turnierkragen zu, dem zweitgeborenen ein Halbmond und dem drittgeborenen ein Sternchen72. Diese Symbole können in dem Beizeichenschema der Studie A Display of Heraldrie (1610) John Guillims (1550–1621) veriÀziert werden73. Mit dem Wappen aus MLNB hat sich bisher nur Christopher Foley eingehend beschäftigt. In seiner nicht zur Veröffentlichung gedachten Analyse dieses Wappens74 hat Foley zweischrittig argumentiert. Zunächst hat er die These aufgestellt, dass es sich im Falle des in MLNB angebrachten Wappens tatsächlich um ein Wappen vom Ende des 16. Jh. handele und nicht – wie früher vermutet75 – um eine spätere Hinzufügung. In einem zweiten Schritt erklärte Foley mit heraldischen Methoden die Zugehörigkeit des Wappens zu Sir Henry Neville of Billingbear. Darin berief er sich auf eine persönlich erbetene Expertise eines der führenden Heraldiker Großbritanniens, Thomas Woodcock. Die Argumentation Foleys blieb aber – da sein Text ursprünglich nur für die private Rezeption durch den heutigen Lord Abergavenny verfasst war – rudimentär und mit wenig Bezug zu heraldischen Quellen der Epoche. John Harley hatte in seiner Byrd-Biographie die These vertreten, dass das Wappen im Nevell-Manuskript später angebracht worden sei und daher nicht unbedingt mit dem Wappen der Widmungsträgerin oder dem ihres Ehemanns identisch sein müsse76. Foley wies aber mit Recht auf die Tatsache hin, dass Notenschreiber im 16. Jh. (wie auch heute noch) nicht zugleich Wappenmaler waren, so dass die Anbringung eines Wappens auf einem Sonderblatt in MLNB nicht überraschend sein dürfte. Darüber hinaus erinnerte Foley daran, dass sowohl die Mitglieder der Königlichen Kapelle (Gentlemen of the Chapel Royal), wie Baldwin und Byrd, als auch die Mitarbeiter des College of Arms, die für die Wappenmalerei zuständig waren, Angestellte der Krone (Members of the Royal Household) waren, so dass es unwahrscheinlich sei, dass sie sich gegenseitig ihre Monopolstellungen gefährde-
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Vgl. hierzu etwa Neubecker 1990, S. 96, Woodcock/Robinson 1988, S. 66 f., Fox-Davies 1969, S. 366–388. In England existieren drei leitende Herolde, die so genannten Wappenkönige: der Garter King of Arms (der Begriff „Garter“ bezieht sich hier auf den Hosenband-Orden), der Norroy and Ulster und der Clarenceux King of Arms. Sie sind die wirklichen Leiter des College of Arms und unterstehen direkt dem Herzog von Norfolk (s. o.). Vgl. Woodcock/Robinson 1988, S. 66 f. Vgl. ebd. sowie Neubecker 1990, S. 96 und Fox-Davies 1969, S. 375. Guillim 1610, Section 1, Chapter VI. Vgl. Foley 2005, ohne Seitenangaben. Vgl. Harley 1997, S. 402. Ebd.
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ten77. Die Ansprüche der Wappenmaler illustriert zusätzlich ein von Foley angegebener, zwischen 1575 und 1621 ausgetragener Disput zwischen diesen beiden Zünften, in dem die Wappenmaler gewonnen haben und ihr Monopol auf Wappenproduktion behalten konnten78. Die Anbringung des Wappens in MLNB auf einem gesonderten Blatt dürfte also als ein unproblematisches Vorgehen betrachtet werden, das keineswegs beweist, dass das Wappen später als die Sammlung selbst entstanden sei. Der Autor der vorliegenden Studie hat die von Foley dargelegte These von der Entstehung des Nevell-Wappens am Ende des 16. Jh. anhand von zeitgenössischen Quellen geprüft. Im Rahmen einer Forschung in der Privatsammlung des Norroy and Ulster King of Arms sowie im College of Arms in London konnte festgestellt werden, dass die Charakteristika des in MLNB angebrachten Wappens der Epoche völlig entsprechen. Zum Vergleich sei auf ein anderes englisches Wappen vom Ende des 16. Jh. hingewiesen, bei welchen die formale und stilistische Ähnlichkeit mit dem Wappen aus MLNB besonders auffällig ist. Das Wappen (Abb. 2) ist, wie auch MLNB, im Jahr 1591 angefertigt worden. Es handelt sich um das Wappen aus einem Wappenbrief des damaligen Clarenceux King of Arms, Robert Cooke. Darüber hinaus kann auch das in der gleichen Epoche entstandene Wappen des 4. Lord Abergavenny zum Vergleich gezogen werden79. Die Schildform des Nevell-Wappens ist für das elisabethanische Zeitalter überaus charakteristisch: Sowohl das Wappen aus dem Wappenbrief von 1591 (Abb. 2), als auch das Abergavenny-Wappen weisen die gleiche Schildform auf wie das Wappen aus MLNB (Abb. 3). Auch in dem von Ottfried Neubecker durchgeführten tabellarischen Vergleich der historischen Schildformen in der englischen Heraldik des 16. Jh. taucht diese Schildform auf80. In Neubeckers vergleichenden Darstellungen kann auch festgestellt werden, wie sehr sich die für die Renaissance charakteristische Symmetrie, Einfachheit und Geradlinigkeit der Schildform, die auch das Wappen in MLNB auszeichnet, von den späteren, barocken Wappenschildern unterscheidet81. Auch im heraldischen Traktat des John Guillim aus dem Jahr 1610 ist die in MLNB verwendete Schildform die meist benutzte82. Vergleicht man das Wappen aus MLNB auch mit den Wappen aus der bedeutendsten heraldischen Quelle der Epoche auf dem europäischen Festland, dem Wappenbuch Johann Siebmachers aus dem Jahr 1605, so kann man feststellen, dass die in MLNB benutzte Schildform auch hier durchaus vertreten ist, wenn auch spätere, barocke Formen überwiegen83. Auch die Helmdecke des Nevell-Wappens steht stilistisch den Helmdecken der anderen zum Vergleich abgebildeten Wappen nahe. Relevant ist dabei, dass die zwei anderen Wappen aus ofÀziellen Wappenbriefen stammen und dadurch den 77 78 79 80 81 82 83
Vgl. Foley 2005. Vgl. Foley 2005 unter Berufung auf Harl. MS 109, Folio 590b. CollArms, Vincent 184, Folio 416r. Abgedruckt in Woodcock/Robinson 1988, S. 101. Vgl. Neubecker 1990, S. 51 sowie Neubecker 1991, S. 76 f. Ebd. Vgl. Gullim 1610, Section 4, S. 212. Vgl. etwa Folio 25, 29 (Faksimile in Siebmacher 1605/1994, S. 45).
2.2 Von Schwänen und Klammern. Heraldische Aspekte von My Ladye Nevells Booke
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herrschenden, amtlichen Stil der Wappenmalerei der elisabethanischen Epoche repräsentieren. Dass der gleiche Stil auch im Nevell-Wappen wieder zu Ànden ist, weist darauf hin, dass es höchstwahrscheinlich in der gleichen Epoche entstanden ist und von einem Wappenmaler angefertigt worden ist, der dem College of Arms nahe stand. Als ein besonders wichtiges Argument dafür, dass das Nevell-Wappen tatsächlich Ende des 16. Jh. von einem professionellen Wappenmaler angefertigt worden ist, ist die Präsenz der charakteristischen badges der Familien Neville und Beauchamp84 in den beiden oberen sowie in der unteren rechten Ecke des heraldischen Komplexes hervorzuheben: Diese badges entsprechen sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrem Stil völlig dem im College of Arms archivierten und vom Wappenmaler und Genealogen Richard Scarlett vor 1607 angefertigten Katalog von badges der Familie Neville85. Der führende englische heraldische Experte Thomas Woodcock neigt sogar dazu, das Wappen in MLNB als Arbeit desselben Richard Scarlett zu betrachten86: eine Vermutung, die angesichts der Vergleichbarkeit des Wappens aus MLNB mit dem Badge-Katalog Scarletts plausibel erscheint87. Der Autor der vorliegenden Studie hat den Norroy and Ulster King of Arms, Thomas Woodcock, um eine Stellungnahme in Bezug auf das Nevell-Manuskript gebeten. Woodcock bestätigte, dass das im Manuskript angebrachte Wappen am Ende des 16. Jh. entstanden sein muss. Darüber hinaus entspricht auch nach Woodcocks Meinung das Wappen in MLNB dem damaligen Standard des College of Arms88. Diese Stellungnahme kann die oben ausgeführten Thesen zusätzlich untermauern. Da das Wappen dem Stil des ausgehenden 16. Jh. entspricht, ist es als Hinweis auf die Identität der Widmungsträgerin von MLNB relevant. Das Wappen aus MLNB ist das eines Mannes, wie auch Christopher Foley betont. Denn die Frauenwappen beinhalteten, wie bereits hervorgehoben worden ist, keine martialischen Paraphernalien, wie Helm und Helmzierde89. Der Inhalt des Schildes entspricht völlig dem bekannten Wappen der Familie Neville im 16. Jahrhundert90. Der Wappenschild aus MLNB setzt sich aus 18 Feldern zusammen, die den genealogischen Hintergrund des Wappenträgers darstellen. Hier werden sie in heraldischer Reihenfolge vorgestellt (Vgl. Abb. 3): 1
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Aussprache: „Beecham“. CollArms, Vincent 172, Folio 42v. Abgedruckt in Woodcock/Robinson 1988, S. 109. Richard Scarlett ist im Jahr 1607 gestorben. Vgl. Foley 2005. Wenngleich der Autor mit stilkritischen Autorschaftszuweisungen – zumindest in Bezug auf die Musik – generell vorsichtiger umgeht (vgl. Kapitel 3.2). Mündliche Mitteilung von Thomas Woodcock. Vgl. Anfang des vorliegenden Kapitels. Vgl. CollArms, Vincent 184, Folio 416r. Abgedruckt in Woodcock/Robinson 1988, S.101.
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Feld 1: In Rot auf silbernem Andreaskreuz eine rote Rose mit Kelchblättern und besamt91 (Gules on a Saltire Argent a Rose Gules barbed & seeded proper): Wappen der Lords of Raby; dieses war einer der ersten Titel, den die Nevilles in England geführt haben, nachdem sie, nach der Eroberung der Insel durch William I., aus der Normandie gekommen waren92. Feld 2: Gerautet, Gold und Rot mit Hermelin-Obereck (Lozengy Or and Gules a Canton Ermine): Wappen der Familie Neville. Feld 3: In Rot, mit Schindeln besät, ein steigender goldener Löwe (Gules billetty and a Lion rampant Or): Wappen der Familie Bulmer93. Feld 4: Mit Spitzen gespalten, Silber, Schildkopf blau (Argent94 a Chief indented Azure): Wappen der Lords von Middleham. Feld 5: In Rot ein goldener Balken zwischen sechs goldenen Wiederkreuzen (Gules a Fess between six Cross crosslets Or): Wappen der Familie Beauchamp. Feld 6: Gespalten, in Gold und Rot drei komplementäre Farbscheiben (Per pale Or and Gules three Roundels countercharged): Wappen der Familie Abitot. Feld 7: In Gold drei rote Querfäden (Or three Bars Gules): Wappen der Familie Mauduit. Feld 8: Silber, Schildkopf blau (Argent a Chief Azure): Wappen der Familie Fitzgeoffrey. Feld 9: In Gold ein ausgebogtes schwarzes Kreuz (Or a cross engrailed Sable): vermutlich Wappen der Familie Tony. Feld 10: In Rot ein goldener steigender Löwe (Gules a Lion rampant Or): Wappen der Familie Fitzalan. Feld 11: In Blau drei goldene Garben (Azure three Garbs Or): Wappen der Earls of Chester. Feld 12: In Blau silberner abgerissener Wolfskopf (Azure a Wolf’s Head erased Argent): Wappen der Familie Abrincis, Earls of Chester. Feld 13: Hauptfeld Blau mit Lilien besät; Schildrand rot, mit hersehenden schreitenden goldenen Löwen besät (Azure semy of Fleurs de lys a Border Gules semy of Lions passant guardant Or): Altfrankreich-Wappen, Schildrand: Wappen von England. Dieses Feld entspricht dem Wappen der Plantagenets, der mittelalterlichen Könige von England, die auch Ansprüche auf den Thron Frankreichs erhoben hatten. Mit den Plantagenets waren die Nevilles mehrfach familial verbunden95. 91
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Die vorliegende Wappenanalyse geht weitestgehend auf Thomas Woodcock (nach Foley 2005) zurück; für die Übersetzung und die historischen Kommentare ist der Autor der vorliegenden Arbeit verantwortlich. Die Übersetzung der englischen heraldischen Termini ins Deutsche erfolgte nach Stalins 1952 sowie im Einklang mit der Terminologie aus der am Anfang des Kapitels angegebenen Literatur. Vgl. BURKE 1999, S. 14. Auch der Name Neville selbst soll aus der Normandie stammen; vgl. ebd., S. 12. Zur Famile Bulmer s. auch Kapitel 2.3. Bei Foley 2005 fälschlicherweise als „Or“ (Gold) angegeben. Vgl. Kapitel 2.3, Tabelle 2 (Anhang B zu Teil 2) sowie BURKE 1999, S. 12, 15 f.
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Feld 14: Geschacht, Gold und Blau (Checky Or and Azure): Wappen der Familie Warren. Feld 15: Geviert, Silber (Felder 1 und 4) und Rot (Felder 2 und 3), goldene Fensterraute, schwarzer Schrägbalken (Quarterly [1&4] Argent [2&3] Gules a Fret Or overall a Bend Sable): Wappen der Familie LeDespencer. Feld 16: In Gold drei rote Sparrenleisten (Or three Chevronels Gules): Wappen der Familie Clare. Feld 17: In Silber ein rotes Obereck (Argent a Canton Gules): Wappen der Familie Clare. Feld 18: In Blau ein hersehender Löwe (Azure a Lion rampant gardant): wahrscheinlich Wappen der Familie Fitzhamon. Der angegebene Schildinhalt, welcher der Genealogie der Familie Neville seit ihrer Verbindung mit der Familie Beauchamp96 genau entspricht, bestätigt unmissverständlich die Zugehörigkeit des Wappenträgers zur Familie Neville of Abergavenny: Im Archiv des College of Arms existiert ein bereits zitiertes, anderes Neville-Wappen mit identischem Schildinhalt, das dem 4. Lord Abergavenny (ca. 1527–1586/7)97 gehörte98. Dieses Wappen hat aber, im Unterschied zum Wappen in MLNB, Schildhalter, was dafür spricht, dass der Wappenträger wahrscheinlich ein Peer war99. Der Inhalt des Schildes allein weist nicht auf ein konkretes Mitglied der Famile Neville hin, sondern spricht lediglich dafür, dass der Träger ein Nachfahr des 1. Lord (A)Bergavenny (gestorben 1476100) und seiner Frau Elizabeth Beauchamp101 war. Laut Woodcock und Foley (2005) stehen dabei die ersten vier Felder des Wappenschildes für den genealogischen Hintergrund der Familie Neville, während die restlichen Felder dem Beauchamp-Erbe entstammen. Das heutige Wappen der Lords Abergavenny ist zwar wesentlich einfacher, die Verwandtschaft mit den Neville-Wappen aus dem 16. Jh. ist aber immer noch offensichtlich: Der Schild besteht heute aus dem Feld 1 des Wappens aus MLNB – dem Wappen der Lords of Raby (s. o.). Die Helmzierde des Abergavenny-Wappens bildet dabei auch heute noch ein Stierkopf102. Über dem Wappen aus MLNB (Abb. 3) beÀnden sich links und rechts zwei badges der Familien Neville und Beauchamp: Der Schwan in der Krone auf der linken Seite des heraldischen Komplexes entspricht genau einem der badges, die der Wappenmaler Richard Scarlett (gestorben 1607) auf einem im College of Arms archivierten Dokument der Familie Beauchamp zuschrieb103. Das gleiche Symbol wird als Helmzierde des bereits zitierten, zeitgenössischen Wappens des 4. Lord 96 Eine Umfangreiche und geschichtswissenschaftlich aktuelle Darstellung der Genealogie der Nevilles bietet BURKE 1999, S. 12–20. 97 Vgl. BURKE 1999, S. 17. 98 CollArms, Vincent 184, Folio 416r. Abgedruckt in Woodcock/Robinson 1988, S. 101. 99 S. u. 100 Vgl. BURKE 1999, S. 17 und Foley 2005. 101 Vgl. genealogische Tabellen (Anhang B zu Teil 2). 102 Vgl. BURKE 1999, S. 11. 103 Vgl. CollArms, Vincent 172, Folio 42v. Abgedruckt in Woodcock/Robinson, 1988, S. 109.
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Abergavenny verwendet104. Der Greif ist als Familiensymbol sowohl in MLNB (Abb. 3, oben rechts, in etwas veränderter Form) als auch im Abergavenny-Wappen und dem Katalog des Richard Scarlett anzutreffen. Der Stierkopf ist ebenfalls ein Standard-Badge der Nevilles: Er ist sowohl in Scarletts Katalog, als auch als Helmzierde des Wappens aus MLNB (Abb. 3) und des zitierten Wappens des 4. Lord Abergavenny zu Ànden. Schließlich sind auch die ineinander verschränkten Klammern als Badge sowohl in Vincents Katalog der Neville-Badges als auch in MLNB anzutreffen (Abb. 3, unten rechts). Sowohl der Schildinhalt als auch die Bagdes weisen daher unmissverständlich auf die Zugehörigkeit des Wappenträgers zur Familie Neville-Beauchamp hin. Zwischen den heraldischen Klammern in der unteren rechten Ecke des Wappens aus MLNB beÀnden sich zwei in der hier gegebenen Reproduktion (Abb. 3) nicht sehr deutlich erkennbare, aber vom Verfasser vor Ort veriÀzierte Symbole: Ein Halbmond auf einem Stern. Solche Beizeichen dienten, wie bereits ausgeführt, dazu, eine genaue Geburten- und Rangfolge innerhalb einer Familie zu repräsentieren. Die in MLNB anzutreffende Kombination von Symbolen weist auf den zweiten Sohn eines dritten Sohnes hin. Das gleiche Symbol ist auch im Beizeichenkatalog des zeitgenössischen Heraldikers John Guillim aus dem Jahr 1610 zu sehen105. Schließlich sind die in der linken unteren Ecke des Wappens aus MLNB angebrachten Buchstaben „H. N.“ (Abb. 3) mit Sicherheit auch als die des Wappenbesitzers zu verstehen, diente doch die ganze Seite seiner symbolischen Repräsentation. Obwohl die Benutzung der Schildhalter als ein verhältnismäßig sicherer Hinweis darauf verstanden werden kann, dass der Wappenträger ein Peer gewesen war, ist Foleys Argumentation hinsichtlich seiner Betonung der Wichtigkeit von Schildhaltern106 zu relativieren: Erst im 17. Jh. entwickelte sich das formalisierte Recht, heraldische Schildhalter zu führen. Im 16. Jh. mag das zwar dem Usus entsprochen haben; eine Untersuchung der unter Königin Elizabeth I. erlassenen Wappenbriefe, die die Mitarbeiter des College of Arms durchgeführt haben, konnte jedoch nicht nachweisen, dass die Schildhalter zu den verbindlichen heraldischen Symbolen der Peers gehörten107. So kann man im Falle eines Wappens mit Schildhaltern zwar davon ausgehen, dass es sich um das Wappen eines Peers handelt, umgekehrt ist es aber problematisch zu behaupten, dass deren Abwesenheit automatisch einen Status unterhalb eines Peers bedeutet. Da jedoch zum Zeitpunkt der Entstehung von MLNB kein Peer aus der Familie Neville der zweite Sohn eines dritten Sohnes war und das Wappen aus MLNB schon aus diesem Grund nicht das Wappen eines Peers gewesen sein konnte, ist dieses Argument nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Versucht man nun, die Ergebnisse der oben durchgeführten heraldischen Analyse zusammenzufassen, so wird die Identität des Wappenträgers aus MLNB etwas deutlicher. Dieser war: 104 105 106 107
Vgl. CollArms, Vincent 184, Folio 416r. Abgedruckt in Woodcock/Robinson 1988, S. 101. Vgl. Gullim 1607, Section 1, Chapter VI. Vgl. Foley 2005. Vgl. hierzu und zur historischen Entwicklung der Schildhalter Woodcock/Robinson 1988, S. 93–108.
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ein Mann (Präsenz des Helmes und der Helmzierde) Mitglied der Familie Neville (Schildinhalt und badges) Nachkomme des 1. Lord (A)Bergavenny und Elizabeth Beauchamp (Schildinhalt und badges) Wahrscheinlich kein Peer (Abwesenheit von Schildhaltern) der zweite Sohn eines dritten Sohnes (marks of cadency) verheiratet (Widmung an „Ladye Nevell“) Seine Initiale waren „H. N.“
Nur eine zur Zeit der Entstehung von MLNB (1591) lebende Person erfüllt alle diese Kriterien: Sir Henry Neville of Billingbear, der zweite Sohn von Sir Edward Neville of Addington Park, der seinerseits der dritte Sohn des George Neville, 2. Lord (A)Bergavenny, war108. Sir Henry war dreimal verheiratet; seine Frau um das Jahr 1591 war Elizabeth, geborene Bacon, Tochter des Sir Nicholas Bacon. 2.2.1 Der Name „Nevell“ im Lichte der Diplomatik Ein zusätzliches Argument für die These, dass Sir Henry Neville of Billingbear der Träger des Wappens aus MLNB gewesen war, ist auch die in dieser Studie erstmals hervorgehobene Gleichheit der Schreibweise des Familiennamens Neville in mehreren Dokumenten. Sowohl die zeitgenössische Bindung von MLNB als auch die einzelnen Widmungen der Kompositionen Nr. 1, 2 und 26 tragen konsequent den Namen „Nevell“, wobei in der elisabethanischen Epoche auch andere Schreibweisen dieses Namens existierten (Neville, Nevill, Nevil, Nevyll, etc.: Richard Scarlett benutzte um 1600 konsequent die Schreibweise „Nevill“109). Genau die gleiche Schreibweise ist im Testament Sir Henry Nevilles festzustellen, das lediglich ein Jahr nach der Entstehung von MLNB verfasst wurde110. Als „Henry Nevell“ unterschrieb Sir Henry Neville of Billingbear auch seine zwischen dem 16. April 1560 und 22. Mai 1568 entstandenen privaten Briefe an seinen Freund Sir John Thynne mit Nachrichten vom Königshof, die heute im Longleat House archiviert sind111. Die gleiche Schreibweise ist auch in den zwischen 6. August 1573 und 2. Oktober 1578 entstandenen persönlichen Briefen an Sir John Thynne festzustellen112. Die Schreibweise „Nevell“ ist ebenfalls in der Dokumentation des Prozesses gegen Anthony Elmes113 von 1547–1553, in Sir Henrys Brief an Sir Gilbert Jarrat vom 15. Juli 1583114, den Instruktionen an Friedens108 Vgl. etwa BURKE 1999, S. 17; BURKE 1953, S. 9 f. bietet eine Kurzübersicht über die Genealogie der Lords Abergavenny. 109 Vgl. CollArms, Vincent 172, Folio 42v. Abgedruckt in Woodcock/Robinson, S. 109. 110 Vgl. NA, prob 11/81. 111 LlH TH/VOL/III 1558–1573, General Correspondence of Sir John Thynne, Folio 40, 134, 140, 155, 158, 167, 184. Vgl. auch Kapitel 2.3. 112 Vgl. LlH TH/VOL/IV 1573–1580 und undatiert, Folio 1, 3, 7, 21, 107, 111, 147, 170, 184. 113 NA STAC 3/1/ Folio 102. 114 NA SP 46/17/ Folio 140.
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richter von 1572–1581115 sowie in einem Brief an seinen „very Frind“ Richard Staverton of WarÀeld zu verzeichnen116. Die hier aufgelisteten, in einer Zeitspanne von 45 Jahren (zwischen 1547 und 1592) entstandenen Dokumente und Privatbriefe Sir Henry Nevilles sprechen eindeutig dafür, dass er die Schreibweise „Nevell“ bevorzugte, was die Argumentation in Bezug auf seine Verbindung mit MLNB zusätzlich stützt. Die Überschneidung der hier dargelegten diplomatischen mit der heraldischen und genealogischen Beweisführung lässt nun keine Zweifel mehr hinsichtlich der Identität von „Ladye Nevell“ aufkommen: Es handelt sich tatsächlich um Elizabeth Bacon, die zweite Ehefrau von Sir Henry Neville of Billingbear. 2.3 DER BULLE UND DAS BUCH. DIE ARISTOKRATISCHE IDENTITÄTSKONSTRUKTION DER NEVILLES Der Träger des Wappens aus MLNB, Sir Henry Neville of Billingbear (ca. 1518– 1593)117, entstammte einer der ältesten aristokratischen Familien Englands, deren historische Bedeutung und symbolisches Kapital in der bisherigen Byrd-Forschung kaum beachtet worden sind. Die Nevilles weisen mehrere genealogische Verbindungen zum mittelalterlichen Königshaus Plantagenet auf: Sir Henrys Ur-urgroßmutter, Joan Beaufort (1379?–1440)118, war Tochter des durch Shakespeares Richard II. bekannt gewordenen Königssohnes John of Gaunt (1340–1399)119, dessen Vater, König Edward III. (1312/1327–1377)120 einer der bedeutendsten mittelalterlichen Könige Englands gewesen war. Sir Henry Nevilles Ur-ur-ur-ur-großvater Ralph Neville, 4. Lord Neville (ca. 1291–1361)121, hatte sich in der bedeutenden Schlacht von Neville’s Cross (17. Oktober 1346) hervorgetan, in der die englische Armee den schottischen König David II. (1324/1329–1371) gefangen nehmen konnte. Der Tradition nach soll Ralph Neville auch das Kreuz, nach dem diese Schlacht benannt wurde, errichtet haben, um an den bedeutenden Sieg Englands zu erinnern122. Der Enkel des 4. Lord Neville und Ur-urgroßvater Sir Henry Nevilles war der Ehemann der bereits genannten Königsenkelin Joan Beaufort: Ralph Neville, 1. Earl of Westmorland (ca. 1364–1425), bekannt aus Shakespeares Henry V123. Durch seine Tochter Cecily Neville (1415–1495), die Richard, 3. Duke 115 NA SP 46/15/ Folio 133–8. 116 BRO D/EZ Folio 138/1, undatiert (das Archiv vermutet eine Entstehung in den 1570er Jahren). 117 Wo keine anderen Referenzen angegeben sind, entstammen alle Informationen über Sir Henry Neville seiner Biographie in HC, Bd. III, S. 124 f. 118 Die biographischen Daten sind, wenn nicht anders angegeben, alle nach DNB angeführt. Vgl. Kapitel 1.4. 119 Vgl. Shakespeare 2003, passim. 120 Bei Lebensdaten der Könige bezieht sich das erste Jahr auf die Geburt, das zweite auf den Anfang der Regentschaft und das dritte auf den Tod. Vgl. Kapitel 1.4. 121 Alle genealogischen Angaben nach COKAYNE (s. Abkürzungsverzeichnis). 122 Diese Tradition nennt Anthony Tuck allerdings „baseless“ (Tuck 2004, S. 515). 123 Obwohl er bei Agincourt nicht gekämpft hat; vgl. Tuck 2004a, S. 519.
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of York (1411–1460), geheiratet hatte, war Westmorland Großvater von zwei englischen Königen aus dem Hause York: Edward IV. (1442/1461–1483) und Richard III. (1452/1483–1485). Ein anderer Enkel des 1. Earl of Westmorland, Richard Neville, Earl of Warwick (1428–1471), der den bezeichnenden Beinamen Kingmaker124 trug, galt während der Rosenkriege als einer der mächtigsten Warlords Englands. König Richard III., selbst Sohn einer Neville, der bereits genannten Cecily, war mit Warwicks Tochter Anne Neville (1456–1485) verheiratet. Diese Verbindungen der Nevilles mit dem englischen Königshaus sind in der genealogischen Tabelle 2125 dargestellt worden. Kenneth McFarlane bezeichnete die Nevilles als eines der Beispiele für die englische nobility des 15. Jh., die zum Synonym für „excessive wealth und power“ geworden war126. Die Rezeption der mittelalterlichen Familiengeschichte der Nevilles prägte noch im 17. Jh. das Bewusstsein der englischen Elite. Als einer der amtlichen Aristokratie-Chronisten des 17. Jh., der damalige Norroy-Wappenkönig127 William Dugdale (1605–1686) seine Baronage of England (1675) verfasste, beschrieb er die Nevilles als „Noble, Antient, and Spreading Family“128 – Bezeichnungen die er in dieser Zusammensetzung nur den Nevilles schenkte: Ansonsten ging er mit genealogischen Lobpreisungen sehr sparsam um und beschränkte sich auf das Berichten von historischen Sachverhalten. Nur wenige von Dugdales Artikeln über die Familien der englischen Peerage beginnen mit solchen Prädikaten, etwa die Artikel über die Familien Clare, Percy und Clifford129. Die respektvolle Neville-Rezeption Dugdales ist umso ernster zu nehmen, wenn man weiß, dass er in seiner Adelsgeschichte Englands überhaupt nur solche Familien berücksichtigte, deren „rise“ – die Aufnahme in die Peerage – vor dem Ende der Regentschaft Heinrichs III. (1207/1216–1272) stattgefunden hatte130. Trotz ihrer „Ancienität“ und ihrer machtvollen Position im Mittelalter wurden die Nevilles, in Worten Ralph GrifÀths’, zu einer „casualty“ der Rosenkriege (1461–1485)131. Im 16. Jh., unter der Dynastie Tudor, durften sie daher als eine sehr alte, aber nicht zwingend politisch sehr mächtige Familie gegolten haben: Kein Neville hatte unter den Tudors einen Schlüsselposten in der Staatsverwaltung oder in der Armee inne. Die Familie konnte jedoch zumindest nominell ihren Status beim Hofe behalten, so dass der Taufpate von Sir Henry Neville of Billingbear König Heinrich VIII. (1491/1509–1547) selbst war. Der Vater Sir Henrys, Sir Edward Neville (ca. 1482–1538) of Addington Park, Kent, war ein beliebter HöÁing und Soldat unter Heinrich VIII., wurde aber wegen der Unterstützung von Heinrichs Gegner Reginald Pole verurteilt und 1538 hinge124 125 126 127 128 129 130 131
S. hierzu etwa Pollard 2004. In Anhang B zu Teil 2. McFarlane 1973, S. 152. Vgl. Kapitel 2.2. Dugdale 1675/1977, Bd. I, S. 287. Ebd., S. 206, 269, 335. Vgl. Dugdale 1675/1977, Titelseite (s. vollständigen Titel in der Literaturliste). GrifÀths 1984, S. 197.
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richtet132. Die Karriere Sir Henrys schien dadurch nicht schwer gelitten zu haben. Er bekleidete mehrere Hofämter, war unter anderem auch Gentleman of the Privy Chamber und später auch königlicher Master of Harriers: eine auf die Jagd bezogene Position133. Sir Henry Neville war außerdem Zeuge des Testaments Heinrichs VIII. und einer der Erben seines Vermögens. Indes hatte er mehrere Ämter in der Grafschaft Berkshire inne und war mit der Aufsicht über den Forst von Windsor betraut. Sir Henry Neville of Billingbear war Protestant und verbrachte einen Teil der Regentschaft der römisch-katholischen Königin Mary im Exil, unter anderem in Padua. Sein Protestantismus ist in seinen – im Rahmen dieser Arbeit erstmalig in Bezug auf Sir Henry untersuchten – Briefen an Sir John Thynne (1512/13–1581) bestätigt, in denen er über seine Aktionen gegen die englischen Katholiken berichtet134. Unter Elizabeth I. (1558–1603) konnte sich Sir Henry angesichts seiner konfessionspolitischen Haltung wieder etablieren und war während ihrer Regentschaft in den Jahren 1559, 1563, 1571 und 1584 ins Unterhaus des englischen Parlaments gewählt worden. Auch die Heiratspolitik Sir Henrys verdient in diesem Kontext Erwähnung: Seine Ehefrauen gehörten nicht den englischen Magnatenfamilien an, sondern entstammten der neuen Elite der Tudor-Ära. Die Familien Gresham und Bacon, aus welchen seine zweite und seine dritte Ehefrau – beide mit Vornamen Elizabeth – stammten, gehörten zu den berühmtesten Aufsteigern des 16. Jh135. Obgleich der gesellschaftliche Aufstieg der Greshams bereits Mitte des 15. Jh. begonnen hatte, wurden sie erst im 16. Jh. zu einer der für das ökonomische und kulturelle Leben wichtigsten Familien des Landes. Besonders prominent war dabei die Rolle des Händlers Sir Thomas Gresham (1518–1579), des Onkels von Sir Henrys zweiter Ehefrau: Sir Thomas Gresham war Gründer der Londoner Börse (Royal Exchange) und des auch heute noch existierenden Gresham College in London, an welchem ab 1597 John Bull (1562/3–1628) die Musikprofessur innehatte136. Die Vorfahren der Bacons, der Familie der Widmungsträgerin von MLNB, waren freie Bauern und Wollhändler. Erst Sir Nicholas Bacon (1510–1579), der Vater von „Ladye Nevell“, stieg durch Bildung zu einer machtvollen Position am Hofe auf und wurde zum Lord-Großsiegelbewahrer und dem faktischen Vorsitzenden des House of Lords137. In erster Ehe war Bacon mit Jane Ferneley verheiratet, einer Schwester von Sir Thomas Greshams Ehefrau Anne: Sie war die Mutter von Elizabeth Bacon, der Widmungsträgerin von MLNB. Auf diese Weise war Sir Henry Neville of Billingbear mit den wichtigsten Vertretern des neuen Amts- und Geldadels Englands verschwägert: eine „Reproduktionsstrategie“ des Adels par excellence138. Auch seine 132 Vgl. etwa Hawkyard 2004 sowie BURKE 1953, S. 9. 133 Vgl. hierzu auch Abs. 4. 134 Vgl. LlH TH/VOL/IV 1, Briefe von Sir Henry Neville an Sir John Thynne vom 8. Juli 1577 (f. 147) und 2. Oktober 1578 (f. 184). Vgl. Kapitel 2.4. 135 Referenzen s. weiter unten. 136 Vgl. Price 1981, S. 41, 162, Ames-Lewis 1999, S. XIV, Chartres/Vermont 1998, S. 13 sowie Boyd 1962, S. 182. 137 Alle Informationen über Nicholas Bacon nach Titler 2004. Vgl. auch Titler 1976. 138 Vgl. etwa Bourdieu 1987, S. 210, sowie Saint Martin 2003, S. 173–175.
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Freunde suchte Sir Henry häuÀg im Kreis der arrivierten Mitglieder der elisabethanischen gentry. Dazu gehörten etwa der bereits genannte Sir John Thynne, der aus bescheidenen Verhältnissen stammende und mit einer Schwester Sir Thomas Greshams verheiratete139 Erbauer von Longleat in Wiltshire, sowie Sir William More (1520–1600), ein Angehöriger des neueren Amtsadels140. Der Unterschied zwischen dem symbolischen Kapital des alten und des neuen Adels wurde trotz aller gesellschaftlichen Umbrüche von elisabethanischen Zeitgenossen als für die gesellschaftliche Stellung überaus relevant wahrgenommen. Sogar die humanistischen Denker der frühen Tudor-Ära, die das Konzept der true nobility entwickelten und dieses vornehmlich mit tugendhaftem Leben in Verbindung brachten, betonten in ihren Abhandlungen die Würde des alten Schwertadels. So schrieb etwa der Humanist Sir Thomas Elyot (ca. 1490–1546) in seinem Book Named the Governour (1531): „The lenger it continueth in a name or lignage, the more is the nobility extolled and maruailed at141“. Zwei Generationen später, zu Lebzeiten der „Ladye Nevell“, betonte ihr berühmter Halbbruder, der Philosoph und Politiker Francis Bacon, in seinem Essay über den Adel die Bedeutung und gleichzeitig die Dialektik des Entstehens der alten Aristokratie in einer eindrucksvoll ausdifferenzierten Analyse: For new nobility is but the act of power, but the ancient nobility is the act of time. Those that are Àrst raised to nobility are commonly more virtuous, but less innocent, than their descendants; for there is rarely any rising but by a commixture of good and evil arts. But it is reason the memory of their virtues remain to their posterity, and their faults die with themselves142.
Obwohl sich also der Philosoph darüber im Klaren ist, dass der alte Schwertadel seine Entstehung teilweise auch den „evil arts“ – die laut Bacon in den folgenden Generationen absterben sollen – verdanke, ist diese Standesgruppe für ihn dennoch gesellschaftlich überaus bedeutend, wobei es ihm offenbar nicht so sehr auf etwaige ethische Charakteristika des Adels ankommt, sondern auf seine Position im sozialen Feld des symbolischen Kapitals. Da der Baconsche Altadel, obgleich selbst zu Neid fähig, „in possession of honour“ geboren sei („Eo quod nobiles in honorum possessione nati videntur“)143, lösche er den „passiven Neid“ der anderen. Gewissermaßen als Folge dieser Wirkung des Adels tritt bei Bacon der Zustand auf, dass die Autorität des alten Adels akzeptiert wird, weil die Aristokratie „in some sort of command“144 geboren sei. Daher haben sowohl Curtis Brown Watson als auch John M. Major recht145, wenn sie die Meinung vertreten, dass, obgleich das englische humanistische Ideal der true nobility sowohl vornehme Herkunft als auch tugendhaften Charakter um139 Vgl. hierzu Blanchard 1999, S. 19 sowie Girouard 2004. 140 Mores Großvater war Fischhändler (vgl. Robison 2004, S. 34); zu Sir Henrys Kontakt zu Thynne und More s. u. sowie Kapitel 2.6. 141 Elyot 1880, II, S. 38. 142 Bacon 1860, S. 122; zu nachfolgenden Zitaten s. ebd. 143 Ebd. 144 Ebd. 145 Vgl. Watson 1960, S. 77–82, Major 1964, S. 114 f.
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fasste, auch die Präsenz von einem dieser beiden Elemente zumindest als ausreichend empfunden worden sei: Die hohe Geburt ist in der zeitgenössischen – und vornehmlich von Angehörigen der „niederen“ gentry konstruierten – englischen Ethik gewissermaßen als gleichrangig mit der Tugendhaftigkeit empfunden worden146. In der Familie von Francis Bacons Schwager, Sir Henry Neville, scheint das Bewusstsein für das erhebliche symbolische Kapital des alten Schwertadels besonders ausgeprägt gewesen zu sein. Zwei Dokumente sind überliefert, die explizit über die Abscheu von Sir Henrys Vater, Sir Edward Neville, den Parvenüs der Tudor-Ära gegenüber berichten. In einem Vers schreibt Neville, er glaube, dass „knaves should be put down, and lords should reign one day“147, was eindeutig darauf hinweist, dass in Nevilles Auffassung die neue Elite Heinrichs VIII. aus Menschen niedrigster Herkunft bestand. In Bezug auf die Besetzung der Privy Chamber des Königs merkte der Schwiegervater der späteren „Ladye Nevell“ in ähnlich resigniertem Ton an: „The king keepeth a sort of knaves here that we dare not speak; and if I were able to live, I would rather live any life in the world than tarry in the privy chamber“148. Für Edward Neville konnten anscheinend weder die Tugenden noch die Gelehrsamkeit das durch die Herkunft, das Baconsche „act of time“149, generierte symbolische Kapital ersetzen. Für ihn sitzt der Adel primär im „Geblüte“, nicht im „Gemüte“. Der Schwiegervater der Widmungsträgerin von MLNB ist als Sinnbild der henricianischen Ritterlichkeit überliefert: Sir Edward Neville war, wie auch König Heinrich VIII. selbst, ein begeisterter Jäger und aktiver Tournierkämpfer. Im Jahre 1514 wurde er vom König zu einem der englischen Vertreter bei einem in der Nähe von Paris stattgefundenen Großtournier anlässlich der Krönung von Prinzessin Mary zur Königin von Frankreich ausgewählt150. Sir Edwards konservative Haltung und die familiale und freundschaftliche Nähe zum Hause Pole, dessen prominentestes Mitglied, Reginald, ein großer Gegner Heinrichs VIII. war, kostete ihn aber die königliche Gunst und schließlich auch das Leben. Eine bezeichnende Äußerung über Sir Edward Neville stammt gerade von Reginald Pole, dem römischen Kardinal und unter der katholischen Königin Mary Erzbischof von Canterbury151. In seiner Apology schrieb er, das Verbrechen seines Bruders und Sir Edward Nevilles, die Heinrich VIII. im Jahre 1538 exekutieren ließ, sei, dass sie „too 146 Der Heinrich VIII. zum Opfer gefallene Lordkanzler Sir Thomas More (1478–1535) vertrat bekanntlich nicht diese Meinung: Die Aristokratie seiner Utopia ist eine Elite des Intellekts und der Tugend; vgl. hierzu etwa Major 1964, S. 114. 147 LP Henry VIII, Bd. 3/2, Nr. 765. 148 LP Henry VIII, Bd. 13/2, Nr. 804. 149 Vgl. Zitat oben. 150 Angaben über Sir Edward Neville nach Hawkyard 2004, S. 489 f. 151 Pole zählte während seines Aufenthalts in Italien (vor der englischen Gegenreformation unter Königin Mary) zu den prominentesten Mitgliedern der Kurie. Er wurde von Papst Paul III. ins Heilige Kollegium einberufen und war auch Mitglied der Kommission zur Vorbereitung des Konzils von Trient. In Bezug auf Poles Tätigkeit sowohl im Vorfeld des Tridentinums als auch während des Konzils s. etwa Alberigo 1993, S. 344, 349 f.
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noble“ gewesen seien. Die Absicht des zweiten Tudor-Königs sei es in Worten Poles gewesen, die „Áower of virtue in the nobility“152 zu zerstören, wie er auch die Priesterschaft habe vernichten wollen153. In diesen Worten Kardinal Poles, wie auch in den zitierten Äußerungen Sir Edward Nevilles, werden der Vergangenheitsbezug der Familie Neville und ihrer Umgebung sowie ein starkes Bewusstsein für das symbolische Kapital des mittelalterlichen englischen Adels reÁektiert. Auch wenn Sir Henry Neville nicht der Römisch-katholischen Kirche angehörte, sondern gerade den protestantischen Tudor-Monarchen (Heinrich VIII., Edward VI. und Elizabeth I.) treu diente und unter der katholischen Königin Mary ins Exil ging, scheint der säkulare Aspekt des Vergangenheitsbezugs seiner mit den mittelalterlichen englischen Königen familial alliierten Familie ein wichtiges Merkmal seiner Identität gewesen zu sein. Sein Habitus ist unfehlbar der eines Altadligen. Dies ist aus mehreren Quellen ersichtlich, die über persönliche Details aus Sir Henrys Leben berichten. So ist etwa bekannt, dass Sir Henry die Falkenjagd liebte, seinen Falken sogar expressis verbis in seinem Testament erwähnte und ihn dem Lord High Admiral of England154 vermachte155. Im 16. und 17. Jh. – vor der Entwicklung der Fuchsjagd – galt die Falknerei in aristokratischen Kreisen Englands als eine der wichtigsten Jagdformen156, so dass hier nicht die Jagd an sich, sondern die ausdrückliche Sorge um den Falken im Testament Sir Henry Nevilles, die keineswegs der testamentarischen „Gattungsnorm“ entspricht157, von Interesse ist: Sie spricht von der besonderen Wertschätzung Nevilles für diese archaische Adelsbeschäftigung. Darüber hinaus ist es auch bezeichnend, dass Sir Henry seinen Jagdfalken nicht einem seiner einÁussreichen Freunde aus dem Kreis der Parvenüs vermachte, sondern gerade einem Mitglied einer der ältesten Familien Englands158. In seinen überlieferten Briefen präsentiert sich Sir Henry Neville als ein konventioneller Aristokrat und HöÁing seiner Epoche. Seine Themen sind Nachrichten vom Königshof, kriegerische Auseinandersetzungen, aristokratische Heiratsanliegen, Jagd, Ereignisse in seiner Familie und die Verfolgung von Katholiken. Ihr Stil ist einfach und elisabethanisch-derb. So schreibt Sir Henry an Sir John Thynne im Jahre 1577 über seine Tätigkeit in der Katholikenverfolgung in einem fast deftigen Jägerton: „we ar buisye with huntying of papistes and fynd out dyvers lewd fellows in serving mens apparel […].“ Oder er berichtet 1584 über seine Visitation im Exeter College in Oxford mit dem knappen Kommentar: „and neuer a Protestant found in it“159. 152 Zitiert nach Mayer 2000, S. 98. 153 Ebd. 154 Dieses Amt hatte zu dem Zeitpunkt Lord Howard of EfÀngham (1536–1624), der Sieger über die spanische Armada von 1588, inne. 155 Vgl. NA prob/11/81, Folios 1r–2v; s. auch Harley 2005a, S. 5. 156 Vgl. hierzu etwa Stone 1984, S. 311. 157 Vgl. Foley 2005. 158 Die Hauptlinie der Howards, die Dukes of Norfolk, gelten immer noch als die ranghöchste Adelsfamilie des Landes nach dem Königshaus. 159 LlH TH/VOL/IV 1, Briefe von Sir Henry Neville an Sir John Thynne vom 8. Juli 1577 (Folio 147) und 2. Oktober 1578 (Folio 184).
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Es existieren zwei mit Sir Henry eng verbundene Artefakte, aus denen einige wichtige Schlüsse in Bezug auf seine Identitätsbildung gezogen werden können: ein Portrait aus der Privatsammlung der Baronet-Familie Bacon in Raveningham, Norfolk, und das Manuskript MLNB selbst. Auf dem genannten Portrait160 trägt Sir Henry Neville of Billingbear zwei Siegelringe: Auf dem oberen ist ein Stier zu sehen: Ein traditionelles Symbol der Nevilles, das sowohl im Katalog des Richard Scarlett zu sehen ist161, als auch im MLNB-Wappen (Abb. 3) selbst, wo es als Helmzierde verwendet wird162. Der untere Siegelring stellt einen Eber dar: das heraldische Tier der Bacons, der Familie seiner Ehefrau Elizabeth163. Das Bildnis Sir Henrys bestätigt zusätzlich die Identität des Wappenträgers aus MLNB und der Widmungsträgerin von „Ladye Nevell“: Es gibt zwischen den beiden Artefakten zwei bedeutende gemeinsame Punkte. Zum einen demonstrieren sowohl das Portrait als auch das Musikmanuskript das heraldische Bewusstsein, das bei Sir Henry noch stärker ausgeprägt zu sein scheint, als es für die Epoche ohnehin charakteristisch war. Zwar waren Anbringungen von Wappen auf Manuskripten und ihre Präsenz auf Portraits durchaus üblich164; in MLNB und auf dem Portrait Sir Henry Nevilles Àndet aber die heraldische Repräsentanz um Einiges markanter als bei anderen verwandten Artefakten der Epoche statt. Siegelringe sind keinesfalls auf allen zeitgenössischen Portraits dieser Gattung sichtbar. In vielen Fällen sind sie zwar zu sehen, stellen aber nicht das zentrale Symbol des Portraitierten dar. Vielmehr gehörte es zur Konvention der Portraitmalerei, das Wappen in einer Ecke des Portraits gesondert zu malen, während der Portraitierte an exponierter Stelle – häuÀg in, unter oder neben der Hand – die Symbole seines Amtes, seines gesellschaftlichen Status, seines Berufs oder seiner prägenden Interessen hielt165. Die elisabethanische Portraitmalerei bietet unzählige Beispiele dieser Vorgehensweise. So wurde der Großsiegelbewahrer Sir Nicholas Bacon, der Vater der „Ladye Nevell“, mit dem Staatssiegel und dem Wappen der Königin dargestellt166, der Staatsmann Earl of Salisbury167, mit Staatspapieren168 oder Amtsstab (rod of 160 Heute in BCR. Abgedruckt in Riordan 2004, S. 552. 161 Vgl. CollArms, Vincent 172, Folio 42v. Abgedruckt in Woodcock/Robinson 1988, S. 109. 162 Vgl. Kapitel 2.2. Der Stier wurde als Helmzierde von der Familie Bulmer übernommen (vgl. BURKE 1999, S. 11). Die Verbindung der beiden Familien stammt aus dem 12. Jh.: Geoffrey de Neville hatte vor 1176 Emma de Bulmer, Tochter von Bertram de Bulmer, Lord of Brancepeth geheiratet. Es handelt sich beim Stier der Bulmers anscheinend um die „redende“ heraldische Symbolik: Der Toponym Bulmer, von welchem auch die Bulmers ihren Namen ableiteten, scheint „bull-mere“ (= Stierteich) zu bedeuten. Laut BURKE (1999, S. 11) wurde das Symbol ursprünglich von der normannischen Familie du Hommet benutzt. 163 Der Eber diente dabei als Helmziergde. Vgl. etwa das Baconsche Wappen in Francis Bacons Instauratio magna von 1620. 164 Vgl. etwa Campbell 1990 und Strong 1969, passim. 165 Vgl. hierzu in Bezug auf englische Renaissance etwa Campbell 1990, S. 109–137 und passim sowie Strong 1969, passim. 166 Vgl. Strong 1969, Bd. I, S. 15–17, Bd. II, Plate 30. 167 Der Widmungsträger einer in Parthenia enthalteten Pavane Byrds. Vgl. Kapitel 2.4 und 5.3. 168 Vgl. Strong 1969, Bd. I, S. 273–275, Bd. II, Plates 536, 538.
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ofÀce)169, der Weltumsegler Sir Francis Drake mit einer Hand auf dem Globus170, der Heerführer Earl of Leicester mit einem Schwert und Rüstung171; schließlich wurden sowohl Sir William Petre I.172, als auch sein Nachfolger im Amt, Lord Burghley, der Vater des genannten Earl of Salisbury, auf ihren Portraits mit dem rod of ofÀce eines Staatssekretärs dargestellt173. Das Fehlen der charakteristischen symbolischen Attribute auf dem Bildnis Sir Henry Nevilles unterstreicht die Präsenz der beiden Siegelringe, so dass der Eindruck entsteht, dass sie das bedeutendste Symbol des Dargestellten sind. Sir Henrys Handhaltung, die die beiden Ringe geradezu zur Schau stellt174, spricht zusätzlich dafür, dass die Ringe mit ihren heraldischen Symbolen dasjenige repräsentieren, was für seine Identitätsbildung am wichtigsten ist, oder was er als solches präsentieren will: Sir Henry wird nicht als Amtsträger mit Dienstsiegel oder Briefen dargestellt, auch nicht als Aristokrat mit dem charakteristischen Handschuh in der Hand, geschweige denn als Gelehrter mit einem Buch. Er ist auf dem Portrait aus der Bacon-Sammlung vor allem ein Neville, der die Tochter des Großsiegelbewahrers Englands geheiratet hat. Diese starke heraldische Akzentuierung des symbolischen Kapitals Àndet auch in dem im vorausgegangenen Kapitel detailliert beschriebenen, fein ausgearbeiteten Symbolkomplex von Wappen, Badges, Beizeichen und Monogramm in MLNB statt, der im Bereich der englischen Instrumentalmusikmanuskripte der Epoche singulär ist. Im Kontext der Vorliebe Sir Henry Nevilles für das Zeremoniell und die heraldische Repräsentation sei auch ein Detail aus dem Inventar seines Eigentums zitiert, das nach seinem Tode im Jahr 1593 entstand. Kunstgegenstände, Musikinstrumente oder Bücher werden darin nicht aufgelistet, dagegen wird im Zusammenhang mit seiner Waffensammlung ausdrücklich ein „anchent [= ancient] ensign“ (= alte Flagge, Standarte) genannt, das „hat bene in Portingale“175 (= Portugal, diese Schreibweise war im elisabethanischen England üblich176): noch ein Beispiel von Sir Henrys ausgeprägten Interesse am symbolischen Kapital seines Standes und seiner Identitätsbildung als Angehöriger des alten Schwertadels. Ein letztes Beispiel für das zeremonielle Bewusstsein Sir Henrys bietet auch sein eigenes Testament177. In seiner ersten Version führte Sir Henry darin den vollen, zeremoniellen Titel der Königin an: „oure soueraine Ladye Elizabethe by the grace of god Quene of England ffraunce and Irelande Defender of the faithe […].“ 169 170 171 172 173 174 175 176 177
Ebd. Bd. II, Plates 541–2. Ebd. Bd. I, S. 68–71, Bd. II, Plates 126, 128, 129. Ebd. Bd. I, S. 196–198, Bd. II, Plates 378–380, 382–4, 388–9. Der Großvater des Widmungsträgers der Zehnten Pavane und Galliarde aus MLNB. Vgl. Kapitel 2.4. Vgl. Strong 1969; zu Petre: Bd. I, S. 246 f., Bd. II, Plates 489–491; zu Burghley: Bd. I, S. 28–33 Bd. II, Plates 51, 53–55, 57, 61. Vgl. die Reproduktion in Riordan 2004, S. 552. Eine Kopie des Inventars von etwa 1800 ist in BRO zu Ànden (1593). Vgl. etwa die elisabethanische Spanish Tragedie (Kyd 1602, passim, moderne Ausgabe in Gibson 1997, S. 1–91). NA prob 11/81.
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Diese umständliche Variante wurde dann, vielleicht bei der Probation des Testaments, durchgestrichen und das Wort „queene“ eingefügt, so dass die einfache Formulierung „oure soueraine Ladye queene Elizabethe“ entstand. Die Korrektur ist in den Zeilen 10 f. des Testaments zu sehen178. Eine zweite Gemeinsamkeit zwischen dem Bildnis Sir Henrys und dem seiner Frau gewidmeten Musikmanuskript bietet Hinweise über Nevilles Verhältnis zu seiner Ehefrau und führt zu einer neuen These über die Entstehung von MLNB. Beide Kunstgegenstände – das Portrait und MLNB – heben durch ihre heraldischen Aspekte die familiale Einheit von Sir Henry und seiner zweiten Frau hervor. Auf dem Bildnis stellt Sir Henry die Siegelringe sowohl der Nevilles als auch der Bacons zur Schau; da sich das Portrait auch heute noch in der Sammlung der Bacons beÀndet, ist es wahrscheinlich, dass das Portrait eine Schenkung Sir Henrys an seine Frau oder an ihr Elternhaus war179. Auch MLNB weist eine zweifache symbolische Präsenz auf. Auf dem Einband – der mit Sicherheit zeitgenössisch ist180 – steht der Name der „Ladye Nevell“, im Buch selbst aber das Wappen ihres Mannes. Das mag überraschend sein, weil die Frauen in der elisabethanischen Epoche durchaus das Recht hatten, eigene Wappen zu führen181. Darüber hinaus weiß man aus Sir Henrys eigener Feder, dass seine Frau einen außerordentlich starken Charakter hatte, ihre eigenen Geschäftsanliegen selbst erledigte und dass in ihrem Hause, so schrieb Sir Henry wörtlich, sie die „Hosen [bryches] trug“182. Elizabeth Bacon wurde als Lady Peryam, Ehefrau von Sir William Peryam, in der St.-Mary-Kirche zu Henley bestattet. Über ihrem Grab steht aber ein Frauenwappen (ohne Helm und Helmzierde, Abb. 4), das nicht der Familie ihres letzten Ehemannes, sondern der Familie ihres Vaters, Sir Nicholas Bacon, angehörte183. Im 16. und 17. Jh. war die Benutzung von Wappen des väterlichen Hauses anstelle der heraldischen Symbole des Ehemanns in England nicht unüblich184. Daraus und aus der Heraldik ihres Grabmals kann man schließen, dass „Ladye Nevell“ das Wappen der Bacons wahrscheinlich auch zu Lebzeiten als ihr Eigenes betrachtet und geführt hatte. Der Grund, warum eine solche Frau, die sowohl rechtlich als auch faktisch die Möglichkeit hatte, ihr eigenes Wappen zu führen und auf ihr Eigentum anzu178 Der umgekehrte Vorgang – die Vereinfachung durch Sir Henry – ist nicht wahrscheinlich, da die Unterschrift und der Haupttext des Testaments miteinander übereinstimmen, während sich die Schrift der eingefügten Korrektur von den beiden ersteren unterscheidet. 179 Weitere Informationen hierzu liegen nicht vor. Eine Anfrage bei der Bacon Collection in Raveningham, Norfolk, blieb ergebnislos. 180 Dies laut jüngster Analyse durch die Buchbindungsexpertin der British Library, Philippa Marks. Persönliche Mitteilung von Nicolas Bell, Juli 2008. Vgl. auch Harley 2005a, S. 2. 181 Wenn auch ohne Helmzierde: Vgl. Kapitel 2.2. 182 Der Kontext lässt auf eine Benutzung dieses Ausdrucks schließen, die der heutigen völlig entspricht. Quelle: FSL X.d.502(4) sowie X.d.502(5), Briefe von Sir Henry Neville an Nathaniel Bacon vom 3. März 1590; vgl. Harley 2005a, S. 5. 183 Zum Wappen über dem Grab von William Peryam vgl. die Internetseite der Pfarrei Crediton: http://www.creditonparishchurch.org.uk/Peryam.html, abgerufen am 28. Juli 2009 um 17.42 Uhr. Das heutige Wappen der Bacons ist abgebildet in BURKE 1999, S. 156. 184 Vgl. Woodcock/Robinson 1988, S. 76.
2.3 Der Bulle und das Buch. Die aristokratische Identitätskonstruktion der Nevilles
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bringen, dieses in einem ihr eigens gewidmeten Buch nicht tat, war höchstwahrscheinlich der, dass MLNB ein Geschenk ihres Ehemanns gewesen war, der das eigene Wappen, badges, heraldische Beizeichen und Monogramm als eine Art persönlicher und zugleich auch familialer Repräsentation auf MLNB anbringen ließ. Da Lady Neville im Jahre 1591 genau 50 Jahre alt geworden war185, ist es denkbar, dass die Schenkung anlässlich ihres fünfzigsten Geburtstages zustande kam. Über die biographischen Einzelheiten in Bezug auf Elizabeth Neville (1541– 1621) hat bereits John Harley geschrieben186. Zum Zweck dieser Arbeit seien hier nur die für die Fragestellung relevanten Daten aus ihrer Biographie genannt. „Ladye Nevell“ wurde als älteste Tochter von Sir Nicholas Bacon (1510–1579) im Jahr 1541 geboren. Dadurch war sie William Byrds (1540–1623) Altersgenossin und zur Zeit der Entstehung von MLNB wahrscheinlich nicht seine Schülerin187. Sie heiratete dreimal: Ihr erster Ehemann war Sir Robert Doyley of Greenland (1542–1577)188, der zweite Sir Henry Neville of Billingbear und der dritte Sir William Peryam (1534– 1604). Die erste Ehe der Elizabeth Bacon war insofern von Wichtigkeit, als sie nach dem Ableben ihres Ehemannes Sir Robert Doyley zu einer vermögenden Erbin gemacht worden war, was ihren zusätzlichen Reiz als Heiratskandidatin ausgemacht haben dürfte. Unter anderem erbte sie auch das Doyleysche Gut Greenland bei Hambleden und Henley-upon-Themes in Buckinghamshire189, auf welchem sie zum Teil auch während Ihrer Ehe mit Sir Henry Neville lebte und das für ihre Identitätsbildung anscheinend wichtig war; sogar nach ihrer dritten Ehe mit Sir William Peryam unterzeichnete sie ihr Testament noch als „Dame Elizabeth Periam of Greenland“190. Die gesamte Identitätskonstruktion von Elizabeth Bacon-Doyley-NevillePeryam, stand, im Unterschied zu jener ihres Ehemanns, unter dem Vorzeichen der Gelehrsamkeit. Sie stammte aus einer der hochgebildeten Familien des Landes. Die Bacons gehörten, wie bereits angedeutet, nicht zum Kreis der feudalen Aristokraten Englands, sondern zum intellektuellen Beamtenadel der Tudor-Ära. Elizabeths Vater, Sir Nicholas Bacon, wurde 1558 in den Ritterstand erhoben und zum LordGroßsiegelbewahrer (Lord Keeper of the Great Seal) ernannt. Weniger bekannt, aber relevant im Kontext von Lady Nevilles Identitätsbildung, ist, dass dieser berühmte Bildungsaufsteiger auch Poesie geschrieben hatte191. Sir Nicholas’ prominentestes Kind, allerdings aus zweiter Ehe, war der Philosoph Francis Bacon, der später zum Lord Verulam, Viscount St. Alban und schließlich auch zum Lordkanz185 Das Datum ihrer Geburt ist jedoch unbekannt. 186 Vgl. Harley 2005a; die Lebensdaten der „Ladye Nevell“ sind, wenn nicht anders angegeben, diesem Text entnommen. 187 Vgl. hierzu Harley 2005a, S. 2. 188 Vgl. HC, Bd. II, S. 53. 189 Diese Ortschaften können etwa auf der historischen Landkarte von Berkshire von Christopher Saxton und William Hole gefunden werden (Camden 1607, zwischen S. 201 und 202). 190 NA, prob/11/148. Das Haus Greenland wurde im englischen Bürgerkrieg im 17. Jh. zerstört, das Gut existiert jedoch immer noch und behaust das Henley School of Management, die der Universität Reading angehört. Homepage: http://www.henley.reading.ac.uk (abgerufen am 17.02.2009 um 20.00 Uhr). 191 Vgl. May 1991, S. 243.
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2. Love’s Labour Constructed
ler ernannt wurde. Auch heute noch wird Bacon als einer der bedeutendsten europäischen Denker der Epoche wahrgenommen192. Bildung war auch für die Töchter Sir Nicholas’ eine Selbstverständlichkeit. In einem Brief an einen seiner Söhne, der ebenfalls Nicholas hieß, hinterließ der Lord Keeper einige Gedanken über die Erziehung einer seiner jüngeren Töchter: You [sein Sohn Nicholas] shall doo well to cause soome care to be taken of your systr that she spend the day well & vertuusly les elz whylst she seekez hure [= her] healthe she myght marre [= mar] hure manerz For the amendment of healthe good dyet & convenyent excercyce ys that that must help Me thynkes yf she did bestowe euery day sume tyme to lerning to wryght [= write] amonges othere thynges yt were well done.193
Dieses Bewusstsein für die Wichtigkeit der Bildung und der (verbalen) Literalität reÁektiert auch Sir Nicholas’ älteste Tochter Elizabeth Bacon. „Ladye Nevells“ Schreibstil ist der einer gebildeten Frau, die ihre Geschäftsvorgänge völlig selbstständig abzuwickeln wusste194. In diesem Kontext sei hinzugefügt, dass auch der erste Ehemann Elizabeth Bacons, Sir Robert Doyley, aus einem Gelehrtenumfeld stammte: Sein Bruder Thomas Doyley war in naturwissenschaftliche Forschung involviert und stand in Kontakt mit Francis und Anthony Bacon195. Ihr ökonomisches Kapital benutzte „Ladye Nevell“, um die Institutionen des kulturellen Kapitals zu fördern, denen auch die Familie Bacon selbst ihren Aufstieg und ihre Position in der Gesellschaft zu verdanken hatte: In Henley gründete und Ànanzierte sie eine Damenschule sowie eine Grammar School „educandis pauperum Àliis“196: das heutige King James’s College, in welchem bis ins 20. Jh. hinein jedes Jahr eine Lobpredigt zu Ehren der Stifterin gehalten worden war197. Darüber hinaus stiftete „Ladye Nevell“ zwei Stipendien und ein Fellowship am Balliol College in Oxford, wo ein Teil ihrer Bibliothek auch heute noch aufbewahrt wird198. Auch das Grabmal von Elizabeth Peryam in Henley reÁektiert „Ladye Nevells“ Gelehrsamkeit und gelehrte Religiosität: Die Widmungsträgerin von MLNB wird dort mit einem Buch in der Hand dargestellt, während auf der Gedenktafel über ihrem Grab ihre Stiftungen im Bereich des Bildungswesens aufgelistet sind (vgl. Abb. 4–6). Das Grabmal der „Ladye Nevell“ spiegelt zugleich ihren Geschmack (falls sie es selbst zu Lebzeiten gewählt hatte, was angesichts ihres überlieferten Charakters nicht unwahrscheinlich erscheint) oder den ihrer unmittelbaren Umgebung wider. Dargestellt ist die 1621 gestorbene Lady Peryam in der Pose, die in der Iconologia Cesare Ripas (1593) die Melinconia repräsentiert199: eine für die post192 193 194 195 196 197 198
Vgl. Kapitel 2.6. Zitiert nach Smith R. 1971, S. 93. Vgl. Harley 2005a, S. 7. Vgl. Bacon 2000, S. 299 f. Aus der Grabinschrift in der Kirche St. Mary in Henley; vgl. Abb. 6. Vgl. Foley 2005. Persönliche Mitteilung von The Hon. Georgina Stonor an Christopher Foley (Foley 2005). Eine Untersuchung dieses Bestandes hätte möglicherweise zu weiteren Erkenntnissen in Bezug auf „Ladye Nevell“ geführt; den Rahmen der vorliegenden Studie hätte sie jedoch gesprengt. 199 Vgl. Ripa 1603/1970, S. 303. Christopher Foley sei für den entsprechenden Hinweis gedankt.
2.3 Der Bulle und das Buch. Die aristokratische Identitätskonstruktion der Nevilles
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elisabethanische Zeit, in welcher Werke wie Hamlet (1603), die elegischen Lautenlieder Dowlands oder Robert Burtons umfangreiche Studie The Anatomy of Melancholy (1621)200 den Geschmack der englischen Gesellschaft prägten, höchst charakteristische Pose201. Auch hier werden die humanistische Gelehrsamkeit und das En-Vogue-Bleiben von „Ladye Nevell“ (oder ihrer unmittelbaren Umgebung) repräsentiert. Die Darstellung von Elizabeth Peryam in der Melinconia-Pose steht auch in Bezug zu ihrer Selbstdarstellung und Identitätsbildung als Gelehrte: In Burtons erwähnter Studie wird gerade Bildung und ausdrücklich auch die Musik202 als therapeutisches Mittel gegen die Melancholie203 empfohlen. Gleichzeitig soll betont werden, dass „Ladye Nevells“ Grabmal im Kontext der Epoche als „outstandingly classical and simple“204 bezeichnet werden darf – ein Charakteristikum, das es im Kontext der nachfolgenden Untersuchungen in Bezug auf „Ladye Nevells“ Musikgeschmack verdient, betont zu werden205. Elizabeth Bacon, nunmehr als Lady Peryam, ist auch als Widmungsträgerin von First Book of Canzonets to Two Voices (1595) Thomas Morleys überliefert, dessen Frau Lady Peryams Dienstmagd gewesen war206. Da Morley ein Vertrauter und nach eigenen Angaben auch Schüler William Byrds gewesen war207, ist diese Widmung zugleich eine zusätzliche Bestätigung für Elizabeth Bacons Widmungsträgerschaft von MLNB. Obwohl es über Elizabeth Bacon-Doyley-NevillePeryams Beschäftigung mit der Musik oder die Art ihrer Musikpatronage keine direkten Angaben gibt, kann man anhand der beiden ihr zugeeigneten Sammlungen darüber Schlüsse ziehen. Beide der „Ladye Nevell“ gewidmeten Sammlungen stammen von Komponisten, die zum Gipfel des elisabethanischen Musikestablishments gehörten und beide enthalten ausschließlich Kompositionen weltlicher Musik. Insbesondere ist dabei die Zusammensetzung von MLNB interessant, weil darin „gelehrte“, polyphone Werke neben „genuin instrumentalen“208 Tänzen, Variationen, Grounds und programmatischen Kompositionen stehen209. „Ladye Nevells“ Musikgeschmack reÁektiert unfehlbar den aristokratischen Geschmack des elisabethanischen Zeitalters210. Ihre beiden Musiksammlungen sind gelehrt und musikalisch höchst anspruchsvoll, aber durchaus säkular: Ein Thema, mit welchem sich in
200 Burton 1992–2000, dazu s. auch Breitenberg 1996, S. 35–68 sowie Schmelzer 1999. 201 Zum Melancholie-Bezug der Musik des elisabethanischen und jakobäischen Zeitalters vgl. auch Unterkapitel 2.6.5. 202 Vgl. Burton 1992–2000, Bd. 2, S. 112–116 (Part 2, Section 2, Member 6, Subsection 3), vgl. auch Kapitel 2.6. 203 Es handelt sich bei Burton anscheinend, in heutiger Terminologie ausgedrückt, eher um die Depression als um die Melancholie. 204 Sherwood/Pevsner 1974, S. 637. Zitiert nach Harley 2005a, S. 7. 205 Vgl. Teil 4 sowie Kapitel 5.2 und 5.6. 206 Hierzu vgl. Harley 2005a, S. 7 f. 207 Vgl. etwa Morleys Widmung an Byrd in Morley 1597/1937 (ohne Seitenangabe). 208 In der Terminologie Bernhard Meiers (Meier 1992, passim). 209 Hierzu vgl. Kapitel 3.3, 4.1 und 4.2. 210 Hierzu ausführlicher in Kapitel 2.6.
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2. Love’s Labour Constructed
Bezug auf den Inhalt von MLNB die nachfolgenden Kapitel dieser Studie beschäftigen werden211. Das Ehepaar Neville-Bacon weist sehr unterschiedliche Identitätskonstruktionen auf, wobei in diesem Fall die Herkunft und der Stand, nicht primär das Gender, für die Heterogenität ausschlaggebend zu sein scheinen: der Ehemann aus geschichtsbewusstem Uradel mit Vorliebe für heraldische Repräsentation, an Jagd und Politik interessiert, die Ehefrau aus kultiviertem und gelehrtem Umfeld der Bildungsaufsteiger, Stifterin von Schulen und Universitäten, Schwester eines großen Philosophen. Es wäre sicherlich nicht unproblematisch, das eingangs beschriebene Portrait Sir Henrys, dessen Entstehungskontext nicht bekannt ist, direkt mit dem Grabmal Elizabeths zu vergleichen. Angesichts der genannten genealogischen und biographischen Angaben, die Sir Henry als einen konventionellen Tudor-Höfling und Lokalpolitiker aus uradliger Familie und Elizabeth Bacon-Doyley-NevillePeryam als eine Frau von mehr als durchschnittlicher Gelehrsamkeit präsentieren, scheint die Ikonographie dennoch in beiden Fällen der Identitätskonstruktion der Nevilles zu entsprechen. Sir Henrys Ideal des Aristokratischen ließ, vielleicht im Geiste des Cortegiano-Konzepts des in der elisabethanischen Epoche intensiv rezipierten Castiglione212, nicht zu, das eigene Wissen und Können (falls vorhanden) zu sehr in den Vordergrund zu stellen. In Sir Henrys Familie und in seiner Generation – er war gut 20 Jahre älter als seine dritte Ehefrau – war Bildung nur ein Aspekt des herrschenden Standes, ein „Ornament des Geistes“, wie Castiglione sie nennt213, nicht ein unabdingbares Mittel zur Elitenbildung, wie das in der Familie seiner Frau der Fall war, die ohne das institutionalisierte Bildungskapital gar keine Position in der englischen Elite des 16. Jh. hätte einnehmen können. Dagegen haben weder Sir Henry noch sein Vater je eine Universität besucht. Diese Tatsache ist keineswegs überraschend: Das Studium wurde in der frühen Tudor-Ära von den höheren Adelskreisen als nicht unbedingt erforderlich erachtet; erst unter dem EinÁuss des Humanismus und der italienischen HoÀdeale veränderte sich diese Haltung214. In seiner Studie über die Adelskultur in Deutschland zitiert Johannes Rogalla von Bieberstein einen englischen Ritter aus dem Umkreis Heinrichs VIII., der gesagt haben soll: Ich möchte meinen Sohn lieber gehenkt als gelehrt sehen. Der Sohn eines Edelmanns soll fähig sein, das Jagdhorn zu blasen und einen Falken zu dressieren. Das Studium mag man Bauernsöhnen überlassen215.
Für die Geisteshaltung solcher Menschen hätte auch jenes Bonmot gelten können, das Oscar Wilde drei Jahrhunderte später seinem Lord Fermor, einem Prototyp des Altadligen aus Das Bildnis des Dorian Gray, in den Mund legte: „If a man is a 211 212 213 214 215
Vgl. insbesondere Teil 4. Hierzu ausführlicher in Kapitel 2.6. Vgl. Kapitel 2.6. Hierzu ausführlicher in Kapitel 2.6. Rogalla von Bieberstein 1989, S. 209. Leider gibt Bieberstein, dessen Studie ansonsten sehr verlässlich ist, keine Quellenangabe für diese Aussage an.
2.3 Der Bulle und das Buch. Die aristokratische Identitätskonstruktion der Nevilles
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gentleman, he knows quite enough, and if he is not a gentleman, whatever he knows is bad for him216“. In Sir Henrys Neigung zur ungewöhnlich präzisen und etwas pompösen heraldischen Selbstdarstellung und Elizabeths Identitätskonstruktion als humanistische Gelehrte treffen zwei Elemente der säkularen Elite, die das England des 16. Jh. entscheidend geprägt haben, aufeinander. Heinrich VIII., jener König, der bei der Taufe Sir Henrys Pate gestanden hatte, hat das Inselkönigreich von der Römischen Kirche getrennt und in diesem Prozess in den Dreißigerjahren des 16. Jh. etwa 500 Klöster auÁösen lassen, wobei er die Klostergüter unter die Angehörigen der säkularen Elite, der nobility und der gentry verteilte217. Die Säkularisierung fand auch im legislativen Bereich statt: Das englische Oberhaus, in welchem bis dahin die römisch-katholischen Geistlichen – Bischöfe und Äbte – in Überzahl waren, mussten nun alle Äbte verlassen; nur diejenigen Bischöfe konnten im Parlament bleiben, die sich dem König und seiner neuen Ecclesia Anglicana treu erklärt haben218. Nach den puritanischen und katholischen Intermezzi unter Edward VI. (1537/1547–1553) und Mary (1516/1553–1558) wurde der henricianische Zustand der Kirchenpolitik unter Königin Elizabeth I. (1533/1558–1603) endgültig bestätigt. Die Führung Englands übernahmen während dieser Ereignisse die weltlichen Magnaten aus dem Kreise der Peers und die gentry, eine Klasse, die sich im Áießenden – zum Teil vom Reichtum, zum Teil von der intellektuellen Leistung und zum Teil von der Gunst des Königs abhängigen – Übergang zwischen dem noch immer genealogisch deÀnierten Hochadel, der Peerage, und dem Bürgertum ansiedelte219. Bildung war dabei ein wichtiges Mittel zum sozialen Aufstieg dieser Gesellschaftsgruppe. Dietrich Helms betont etwa, dass die Bibliotheken der gentry Mitte des 16. Jh. häuÀg umfangreicher und intellektuell interessanter gewesen seien, als die der alten nobility220. Jedoch relativiert die Existenz von Gelehrten und Poeten aus alten Adelsfamilien wie Edward de Vere, 17. Earl of Oxford (1550–1604), und Sir Philip Sidney (1554–1586) jeden Versuch, die alte nobility und die neue gentry in Bezug auf Bildung als Gegenpole darzustellen. Auch Sir Henrys Sohn aus der Ehe mit Elizabeth Gresham, Sir Henry Neville II. (1562–1615), galt als ausgesprochen gebildet: Unter anderem lobte Ben Jonson seine geistigen Qualitäten221. Eine neuere (populär)wissenschaftliche These schreibt Sir Henry Neville II. sogar die Autorschaft von Shakespeares Dramen zu222. Dass es aber wesentliche Mentalitätsunterschiede zwischen der neuen und der alten Aristokratie gegeben hat, und dass diese Unterschiede als solche wahrgenommen wurden, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden: Bildung war für Altaristokraten ein Ornament, für die Neugeadelten ein essentielles Charakteristikum der Elite, da sie 216 Wilde 2005, S. 195. 217 Vgl. hierzu etwa Pendrill 2000, S. 100 sowie Guy 1984, S. 249. 218 Einen guten Einblick in die Thematik bieten Guy 1984 und Pendrill 2000; s. auch das Standardwerk Eltons (1977). 219 Vgl. zu diesem Themenkomplex die Standardwerke Lawrence Stones (1965 und 1984). 220 Vgl. Helms 1998, S. 219. 221 Vgl. Ben Jonsons Zitat vor Teil 1. 222 Vgl. James/Rubinstein 2005, passim; interessanterweise gelten Francis Bacon und der 17. Earl of Oxford beide als beliebte Shakespeare-Kandidaten (vgl. u. a. ebd.).
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2. Love’s Labour Constructed
ohne Bildung ihre Position nie hätten erreichen können223. Gerade die gentry-Familien im Umkreis Sir Henry Nevilles, wie die Greshams und die Bacons, proÀlierten sich entweder durch die Förderung von Bildung, durch ihre eigene Gelehrsamkeit oder sogar durch beides. Die Kariere Sir Nicholas Bacons, des Vaters von „Ladye Nevell“, wird von Robert Titler als ein typisches Beispiel der Bedeutung von Bildung für den sozialen Aufstieg im elisabethanischen England hervorgehoben224. Solche Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg waren für Sir Henry Neville nicht notwendig, obwohl sein Vater als Unterstützer eines Feindes Heinrichs VIII. zum Tode verurteilt worden war: Das symbolische Kapital der Nevilles konnte im 16. Jh. offenbar das institutionalisierte kulturelle Kapital – die universitäre Bildung – zumindest teilweise ersetzen und, umgekehrt, das kulturelle Kapital der Bacons und Greshams konnte mit der Zeit das wenige oder kaum vorhandene symbolische Kapital dieser Familien „aufstocken“. Eine aktive „Rekonversion“ des symbolischen Kapitals des Adels in andere Kapitalformen war aber nicht notwendig225. Sir Henry Neville of Billingbear entstammte dem dynastischen Schwertadel, Elizabeth Bacon dem Amtsadel jüngsten Datums. Ihre Ehe stellte dadurch die faktische Konstruktion der elisabethanischen Elite in nuce dar. My Ladye Nevells Booke, höchstwahrscheinlich ein Geschenk Sir Henrys an seine Ehefrau, entstand in diesem Prozess als ein Symbol der Anerkennung der Bedeutung der jungen gentry, die einen Teil jenes Gesellschaftsraumes einzunehmen begann, den zuvor die geistliche Oberschicht für sich beansprucht hatte: die intellektuelle und kulturelle Führung des Landes. Es ist kein Zufall, dass die wichtigsten Heerführer unter der Königin Elizabeth I. wie der bereits erwähnte Lord High Admiral Charles Howard, Lord Howard of EfÀngham, später Earl of Nottingham (der Sieger über die spanische Armada und Empfänger von Sir Henry Nevilles Jagdfalken), Robert Dudley, Earl of Leicester (1532/3–1588; Krieg in Flandern) und Robert Devereux, Earl of Essex (1565–1601; Krieg in Irland, Belagerung von Cadiz) Angehörige des alten, hochtitulierten Adels waren, während die führenden Staatsmänner häuÀg der jüngeren gentry entstammten: Der Vater des Staatssekretärs Sir William Petre I. (1505/6–1572) war Farmer in Devon226 und die Vorfahren des Großsiegelbewahrers Nicholas Bacon kamen aus ähnlichem Umfeld227. Selbst die einÁussreichen Cecils, die Staatssekretäre William, Lord Burghley (1520/21–1598) und sein Sohn Robert, Earl of Salisbury (1563–1612), eine schon im Mittelalter belegte Familie des niederen Adels228, haben sich erst in der Tudor-Ära hervorgetan. Im Bereich der Musik leisteten William Byrd, John Baldwin und Sir Henry Neville – der anzunehmende Auftraggeber von MLNB – einen Beitrag zur gesell223 Zu diesem Themenkomplex vgl. u. a. Stone 1965 und 1984. 224 Vgl. Titler 2004, S. 165. 225 Vgl. demgegenüber die in Teil 6 angedeuteten Entwicklungen des 20.–21. Jh. Zum Phänomen der Rekonversion des symbolischen Kapitals des Adels in der späten Neuzeit s. auch Saint Martin 2003, S. 233–273. 226 Vgl. etwa Price 1981, S. 83. 227 S. o. und vgl. etwa Titler 2004. 228 Vgl. etwa MacCaffrey 2004, S. 778.
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schaftlichen Anerkennung des Status der neuen gentry, die in der Gestalt der gelehrten „Ladye Nevell“ verkörpert war. Denn die Widmungsträger Byrds waren, mit wenigen Ausnahmen229, Angehörige der höchsten Adelskreise und die Herrscherin selbst. Dass nun eine Frau von nicht besonders hoher Geburt Widmungsträgerin der vielleicht bedeutendsten überlieferten Manuskriptsammlung der Musik für Tasteninstrumente Byrds werden konnte, ist in diesem Kontext des neuen Geistes der aufsteigenden Bildungsgentry zu verstehen, die sich immer mehr an dem immer machtvoller und prunkvoller, aber auch „zivilisierter“ werdenden Königshof230 der Tudors orientiert. Dabei war diese Gruppe in der Nachahmung des Hofes womöglich schneller noch als die alte Peerage, die noch an den Werten und Sitten des Mittelalters hing, inklusive der in diesen Kreisen häuÀgen Sympathie für die Römisch-katholische Kirche231. Das Lieblingsinstrument der Königin Elizabeth – die virginals232 – ist dabei naturgemäß als ein wichtiges Symbol der gesellschaftlichen Stellung zu betrachten233, insbesondere für eine Frau, die, im Unterschied zu ihrem Ehemann, keine Abstammung von den Plantagenets nachweisen konnte. Die musikalische Literalität, die für das korrekte Umgehen mit dem elisabethanischen Statussymbol Virginal notwendig war, stellte dabei ein Statussymbol an sich dar: Denn, wie auch Thomas Morley (1556/7–ca. 1602) schreibt, die musikalische Literalität war im elisabethanischen England direkt mit dem Prozess der elitären Erziehung verbunden234. In diesem Kontext ist ein prachtvolles Virginalmanuskript mit 42 Kompositionen des herausragendsten Komponisten der Epoche – davon drei eigens der „Ladye Nevell“ gewidmet – als ein zweifaches Symbol der Gelehrsamkeit, des Wohlstandes und der Stellung in der Gesellschaft zu betrachten. Auf die musikalisch-literalen Symbole aus der Welt Elizabeth Bacons hat Sir Henry Neville in seinem Love’s Labour sein eigenes Symbol in der Form einer komplexen heraldischen Selbstdarstellung angebracht und das Buch noch vom Buchbinder des königlichen Hofes binden lassen. Dadurch ließ er die Konstruktion der Tudor-Aristokratie bildhaft darstellen: Die Liaison des Bullen der Nevilles mit dem Buch der Bacons unter der Schirmherrschaft der königlichen Macht reÁektiert die Verschmelzung der mittelalterlichen, feudalen Führungsschicht mit der Bildungsaristokratie des Tudor-Zeitalters und der Bildung einer (er)neu(ert)en Elite, die England, trotz gelegentlicher innerer Dissense, bis ins 19. und teilweise sogar 20. Jh. hinein ökonomisch, politisch und kulturell prägen wird235. 229 Wie etwa Kinborough Good: Vgl. Kapitel 2.4 und insbesondere 4.1. 230 Vgl. hierzu in Bezug auf Musik etwa Helms 1998, Westfall 1990, Wulstan 1985, Price 1981, Stevens 1979. Vgl. auch Kapitel 2.6. Zur Bedeutung der Hofkultur im Kontext des Zivilisationsprozesses s. insbesondere die Werke Norbert Elias’, speziell Elias 1997. S. auch Teil 6. 231 Vgl. hierzu etwa Stone 1965, S. 729–733. 232 In den Quellen der Epoche in der Regel im Plural verwendet. 233 Zu diesem Themenkomplex vgl. Kapitel 2.6. 234 Vgl. Morley 1597/1937, S. 1; s. Zitat in Unterkapitel 2.6.2. Vgl. auch Kapitel 3.3. 235 Laut David Cannadine setzt der „Verfall der Aristokratie“ in England erst in den 80er Jahren des 19. Jh. ein (vgl. Cannadine 1990, passim, insbesondere S. 696. S. hierzu auch Lacey 1984, S. 204 sowie Becket 1986, S. 468–481). Vgl. Teil 6.
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2. Love’s Labour Constructed
2.4 PROTESTANTEN, PAPISTEN, PEDIGREES. MY LADYE NEVELLS BOOKE UND DAS NETZWERK ARISTOKRATISCHER WIDMUNGSTRÄGER Sir Henry und Lady Neville sind nicht die einzigen Adelsangehörigen, deren Namen mit MLNB verbunden sind. Elizabeth Neville ist die Widmungsträgerin der gesamten Sammlung sowie der drei darin enthaltenen Kompositionen: My Lady Nevell’s ground (Nr. 1), Chi Passa (Nr. 2) sowie Voluntary for My Ladye Nevell (Nr. 26). Die Sammlung enthält aber auch Kompositionen, die expressis verbis anderen Persönlichkeiten gewidmet sind: die Zehnte Pavane zusammen mit der dazugehörigen Galliarde (Nr. 39 und 40), die den Namen William Petre II. tragen, sowie die Sechste Pavane, einer gewissen „Kinbrugh Goodd“ (Kinborough Good) zugeeignet, über die jedoch wenig bekannt ist236. Darüber hinaus weisen noch zwei andere in MLNB enthaltenen Kompositionen Bezüge zu Vertretern der elisabethanischen Aristokratie auf: Der March before the battle (Nr. 3) trägt in FWVB den Namen des im vorigen Kapitel bereits genannten Edward de Vere, 17. Earl of Oxford237, während sich Lord Willoughby’s Welcome Home (Nr. 33) auf Peregrin Bertie, Lord Willoughby de Eresby238 (1555–1601) bezieht239. Die Widmung an den Earl of Oxford in FWVB ist jedoch späteren Datums als MLNB240 und im Falle von Lord Willoughby’s Welcome Home handelt es sich nicht um eine Widmung, sondern um das Arrangement einer populären Ballade über diesen Adligen, der sich als Soldat in den Niederlanden hervorgetan hatte241. Aus diesen Gründen werden nur Elizabeth Neville sowie William Petre II. als wirkliche Widmungsträger der in MLNB enthaltenen Kompositionen aus den Reihen der englischen Aristokratie betrachtet. In der bisherigen Forschung wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass die Petre-Pavane und Galliarde offenbar später kopiert und in MLNB integriert worden seien, da sie nicht in der Reihe der Pavanen und Galliarden im zentralen Teil des Sammlung stehen, sondern fast an ihrem Ende242. Sie sind jedoch in die Nummerierung der Tanzsätze integriert und tragen die Titel Pavane the Tenthe: Mr. William Petre und Galliard to the same. Oliver Neighbour schloss daraus, dass die PetreTänze erst kurz vor der Fertigstellung des Manuskripts von William Byrd komponiert und daher auch später als die anderen Pavanen und Galliarden dem Kopisten Baldwin vorgelegt worden seien. Ebenfalls ist betont worden, dass diese späte Hin236 Sie war die Tochter des Arztes James Good aus Malden in Surrey und war höchstwahrscheinlich katholisch. Kinborough Good heiratete den irischen gentry-Angehörigen Robert Barnewell vor 1589 (s. Alan Browns Kritischen Bericht in MB XXVII, S. 178; vgl. Harley 1997, S. 362 f.). Zu Kinborough Good s. auch Kapitel 4.1 der vorliegenden Studie. 237 Vgl. FWVB, S. CCLIX. 238 Aussprache: „Willuhby Deersby“ 239 Vgl. etwa Price 198, S. 142. 240 Zur Entstehung von FWVB s. insbesondere die Forschungsbeiträge von Thompson 2001 und Smith D. 2002. Das Entstehungsdatum von MLNB vor FWVB steht aber nach wie vor außer Frage. 241 Vgl. etwa Neighbour 1978, S. 158 sowie Harley 1997, S. 246. 242 Vgl. Tabelle 1 im Anhang. Vgl. Neighbour 1978, S. 22 sowie Harley 1997, S. 243 f.
2.4 Protestanten, Papisten, Pedigrees
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zufügung die Konzeption von MLNB durchbreche243. Während nach Neighbour und Harley mehrere Kompositionen nicht in das ursprüngliche Gesamtkonzept von MLNB passen, vertritt der Verfasser die Meinung, dass die Petre-Tänze die einzigen Kompositionen sind, die das ursprüngliche Konzept von MLNB durchbrechen244. Von dieser These ausgehend hat der Autor der vorliegenden Studie angenommen, dass zwischen den Familien Petre und Neville eine in der bisherigen Forschung nicht entdeckte Verbindung existierte, die für das Verstehen der Entstehungsgeschichte von MLNB sowie für die Erforschung der Adelspatronage im elisabethanischen England von Relevanz sein könnte. Auf der Suche nach genealogischen Verbindungen zwischen den Familien Petre und Neville im 16. Jh. ist der Verfasser von der Vermutung ausgegangen, dass eine solche Familienallianz am ehesten zwischen den Petres und den sozial niedriger gestellten Familienzweigen der Nevilles zu suchen ist, da die Unterschiede zwischen den beiden Familien – insbesondere im Hinblick auf deren symbolisches Kapital – erheblich waren. Denn die Nevilles galten, wie bereits ausgeführt, als eine der ältesten und angesehensten Adelsfamilien Englands, die genealogische Verbindungen zum mittelalterlichen Königshaus Plantagenet vorweisen konnte (vgl. Tabelle 2 im Anhang), was auch in ihrem Familienwappen durch die Lilien Frankreichs und die Löwen Englands reÁektiert wurde245. Die Petres dagegen gehörten, wie auch die in Kapitel 2.3 genannten Familien Gresham und Bacon, zu dem in der Tudor-Ära sozial aufgestiegenen Beamtenadel: Ihr Stammvater John Petre, der Urgroßvater des Widmungsträgers William Petre, war lediglich ein wohlhabender freier Bauer aus Devon246. Erst der Großvater des in MLNB erwähnten William Petre (II.), der Staatssekretär Sir William Petre I. (1505/6–1572), brachte die Familie zu gesellschaftlichem Ansehen und erst sein Sohn, John Petre (1549–1613), wurde 1603 in den Rang eines Peers als Lord (Baron) Petre of Writtle247 erhoben. Aus diesem Grund erschien die These von der Verwandtschaft der Petres mit einer Nebenlinie der Nevilles wahrscheinlicher als die mit einem der Haupthäuser Westmorland und Abergavenny248. Der Autor der vorliegenden Studie hat die Stammbäume aller in der bisherigen Forschung genannten „Kandidatinnen“ für die Widmungsträgerschaft über MLNB und die ihrer Männer untersucht249. Nur in einem der untersuchten Stammbäume konnte eine Verbindung zur Familie Petre nachgewiesen werden: Gerade im Stammbaum des Sir Henry Neville of Billingbear, desjenigen Ritters, dessen Wappen sich in MLNB beÀndet, konnte eine auch für aristokratische Verhältnisse des 243 244 245 246
Ebd. Dieser Themenkomplex wird in Kapitel 4.2 ausführlicher behandelt. Vgl. Kapitel 2.2 und 2.3. Vgl. Price 1981, S. 83; auch in diesem Kapitel sind biographische Angaben im Einklang mit entsprechenden Einträgen in DNB angegeben. 247 Vgl. COKAYNE, Bd. 10, S. 505 f. 248 Die Ursprünge dieser „Haupthäuser“ sind aus Tabelle 2 (s. Anhang B zu Teil 2) ersichtlich. 249 Hauptsächlich aufgrund der Standardwerke der englischen Genealogie: COKAYNE, BURKE 53, BURKE 99 und vor Ort, am Sitz der Familie Petre in Igatestone, Essex. Vgl. auch Daniel Rowlands Monographie über die Nevilles (Rowland 1830).
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16. Jh. bedeutende genealogische Nähe festgestellt werden: Die Schwester Sir Henrys, Frances Neville (1519–1599), war die Großmutter William Petres II., des Widmungsträgers der Zehnten Pavane und Galliarde in MLNB: Diese Frances Neville war Ehefrau des Sir Edward Waldegrave (1516–1561) und Mutter von Mary Waldegrave (gest. 1604), die Byrds Patron John Petre250, den ersten Lord Petre of Writtle (1549–1613), heiratete und den späteren Widmungsträger der 10. Pavane aus MLNB, „Mr. William Petre“ (1575–1637), gebar, der nach dem Tod seines Vaters zweiter Lord Petre of Writtle wurde251 (s. Tabelle 3). Die geschilderten Untersuchungsergebnisse wurden während einer Forschung in Ingatestone, dem Sitz der Familie Petre in Essex, mit Unterstützung des jetzigen Lord Petre bestätigt. Die These von der nahen Verwandtschaft der Petres mit den Nevilles of Billingbear im 16. Jh. erwies sich somit als richtig. Die Vermutung, dass diese familiale Nähe dazu beigetragen hatte, dass das William Petre gewidmete Kompositionspaar in MLNB integriert wird, obwohl dieser Vorgang das Gesamtkonzept der Sammlung durchbrechen musste, erscheint vor diesem Hintergrund sehr nahe liegend. Diese These wurde durch eine vom Verfasser durchgeführte, umfangreiche Untersuchung der genealogischen Verbindungen zwischen den anderen bedeutenden aristokratischen Patronen Byrds und der Familie Neville of Billingbear zusätzlich bestätigt. Um die Stellung der Familie Neville im genealogischen Kontext zu verstehen, wurden die Ergebnisse dieser Untersuchungen, die die Prüfung von Stammbäumen von beinahe allen wichtigen im 16. Jh. existenten englischen Adelshäusern umfasste, im Rahmen von vereinfachten und auf die Fragestellung der vorliegenden Studie bezogenen genealogischen Tabellen zusammengefasst252. Viele von den dort hervorgehobenen genealogischen Verbindungen wurden in der Byrd-Forschung bisher nicht berücksichtigt. Auch David Price ignoriert in seinem Standardwerk über das Patronatswesen in der Musik der englischen Renaissance253 viele der hier angegebenen Verbindungen. In Tabelle 3 wird die im Rahmen der vorliegenden Studie erstmalig festgestellte Verbindung zwischen den Nevilles of Billingbear und der Familie Petre254 dargestellt. Dabei ist daran zu erinnern, dass Sir John Petre (der spätere 1. Lord Petre of Writtle), der Vater des Widmungträgers der Zehnten Pavane und Galliarde aus MLNB, auch selbst als Byrds Patron und Widmungsträger des Zweiten Buches der Gradualia (1607)255 William Byrds überliefert ist256. Zusätzlich ist in dieser Tabelle die Verbindung der Nevilles zur Familie Somerset aufgezeigt, dessen Oberhaupt, der pro-katholisch orientierte Edward Somerset, Earl of Worcester (1550– 1627), Widmungsträger von Byrds Motetten aus Liber primus sacrarum cantionum 250 251 252 253 254 255 256
S. hierzu weiter unten. Angaben nach COKAYNE, Bd. 10, S. 506. Vgl. Anhang B zu Teil 2. Price 1981. S. o. Ausgabe: BE 7a–b (vgl. Abkürzungsverzeichnis). Vgl. hierzu etwa Brett 2007, S. 201–211 sowie McCarthy 2007, passim.
2.4 Protestanten, Papisten, Pedigrees
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(1589) war257. Aus der Tabelle ist auch die Eheschließung zwischen Worcesters Tochter Catherine Somerset und William Petre II. ersichtlich258, über die einer der bedeutendsten Poeten der elisabethanischen Epoche, Edmund Spenser (?1552– 1599), das Gedicht „Prothalamion“ (1596)259 schrieb. In den Tabellen 4–9 werden die genealogischen Verbindungen der anderen aristokratischen Patrone und Widmungsträger Byrds mit der Familie Neville dargestellt, um die unterschiedlichen Grade der genealogischen Nähe zu illustrieren. Die entfernte Verwandtschaft der Nevilles of Billingbear mit John Lumley, Lord Lumley (1533–1609), Widmungsträger von Byrds Liber secundus sacrarum cantionum (1591)260, ist in Tabelle 4 dargestellt worden. Zum Vergleich ist die bedeutend nähere Verbindung zu den Petres wiederholt angegeben worden. Tabelle 5 zeigt die Verschwägerung der Nevilles mit den Cecils, der einÁussreichen Familie von Staatssekretären unter Elizabeth I. und Jakob I.: Robert Cecil, Earl of Salisbury (1563–1612) war Widmungsträger von drei in Parthenia enthaltenen Tanzsätzen Byrds (Parthenia 6–8, MB XXVII, 15a–c)261 und ist als aktiver Musikmäzen und Widmungsträger von Dowlands Ornithoparchus-Übersetzung262 überliefert263. Seine Schwester Anne Cecil heiratete den bereits erwähnten Edward de Vere, den 17. Earl of Oxford (1550– 1604), welchem in FWVB der March before the Battle (MLNB Nr. 3) gewidmet ist. Tabelle 6 enthält genealogische Informationen über die Verwandtschaft der Nevilles mit dem katholisch orientierten Henry Howard, Earl of Northampton (1539– 1614), dem Widmungsträger des Ersten Buches von Byrds Gradualia (1605)264. Auch diese Verbindung ist bedeutend entfernter als die Verbindung zur Familie Petre. An diese Tabelle knüpfen die Tabellen 7 und 7a an: In der ersteren wird die Verwandtschaft des Earl of Northampton mit dem Earl of Oxford, dem Schwager des Earl of Salisbury, demonstriert, dessen Schwester Mary de Vere mit jenem Lord Willoughby de Eresby verheiratet war, auf den sich Byrds Lord Willoughby’s Welcome Home aus MLNB bezieht265. In Tabelle 8 wird das denkbar entfernte Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Nevilles of Billingbear und der Familie Morley-Monteagle dargestellt: Lady Morley-Monteagle (ca. 1558–1585) war Widmungsträgerin einer in FWVB enthaltenen Pavane William Byrds266, die höchstwahrscheinlich vor der Fertigstellung von MLNB komponiert worden war267, dennoch nicht in die Sammlung integriert ist. Die La Volta L. Morley268 aus der glei257 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268
Ausgabe: BE 2. Vgl. hierzu Price 1981, S. 88; Brett 2007, S. 201. Vgl. Price 1981, S. 88 Spenser 1966, S. 257–262. Ausgabe: BE 3. Parthenia enthält auch eine Pavane Gibbons’, die Lord Salisbury gewidmet ist (Parthenia 18, MB XX, S. 18–19). Ornithoparchus 1963. S. hierzu Hulse 1991, 1996, 2002. Ausgabe: BE 5, 6a–b. Vgl. hierzu etwa Brett 2007, S. 193–195 sowie McCarthy 2007, passim. Vgl. Anfang des vorliegenden Kapitels. FWVB Nr. CCXCIV, MB XXVIII, 75. Lady Monteagle starb 1585. FWVB Nr. CLIX, MB XXVIII, 90.
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chen Quelle ist wahrscheinlich ihrem Ehemann Lord Morley (ca. 1550–1618) oder seiner zweiten Frau Gertrude (gest. 1618) gewidmet, da Morleys erste Ehefrau den Titel Lady Monteagle führte. Schließlich zeigt Tabelle 9 die entfernte Verbindung der Nevilles mit Francis Clifford, Earl of Cumberland (1559–1640), dem Widmungsträger von Byrds Psalmes, Songs, and Sonnets (1611)269. Aus den geschilderten genealogischen Untersuchungen können zwei für die vorliegende Studie über MLNB sowie für das Verstehen des Patronatswesens im elisabethanischen England insgesamt relevante Schlüsse gezogen werden. Der erste ist nicht sehr überraschend, wenngleich er bisher nicht so deutlich hervorgehoben worden war: Die wichtigsten Aristokraten im Umkreis William Byrds – John Petre, 1. Lord Petre, und sein Sohn William, die Earls von Northampton, Worcester, Oxford, Salisbury und Cumberland sowie die Lords und Ladies (Barone und Baroninnen) Lumley, Monteagle, Morley und Willoughby de Eresby stehen alle in nachweisbaren familialen Verhältnissen zur Familie Neville of Billingbear und sind auch miteinander verwandt und verschwägert. Für die vorliegenden Untersuchungen ist aber der zweite aus den vorliegenden Tabellen zu ziehende Schluss wichtiger: William Petre II. und Sir Henry Neville of Billingbear, der Wappenträger aus MLNB, weisen die größte genealogische Nähe von allen aristokratischen Patronen und Widmungsträgern Byrds auf270. Alle anderen in der Tabelle dargestellten Verwandtschaftsverhältnisse können als Produkt einer traditionellen Heiratspolitik des Adels angesehen werden. So können etwa die Verbindungen zwischen den Nevilles of Billingbear und den Monteagles oder Lumleys kaum als im genealogischen Sinne relevant bezeichnet werden. Dagegen ist die Verbindung zwischen den Nevilles und der Familie Petre eine wirklich familiäre. Es soll in diesem Kontext auch darauf hingewiesen werden, dass Sir Henry und seine Schwester Frances Neville-Waldegrave, die Mutter der Mary Petre, nicht nur von denselben Eltern stammten, sondern auch im Abstand von lediglich einem oder zwei Jahren geboren wurden, so dass sie sich als Geschwister höchstwahrscheinlich besonders nahe standen. Über den tatsächlichen Kontakt zwischen den Nevilles of Billingbear und der Familie Petre of Writtle lagen bisher keine Informationen vor. David Price gibt in seiner Studie über das Patronatswesen im England des 16. Jh. an, dass Sir John Petre, der Vater William Petres II., und Sir Henry Neville of Billingbear Freunde gewesen seien271. Es ist aber völlig unklar, auf welche Quellen er sich dabei beruft. In den Datenbanken der National Archives, die die Dokumente des Public Record OfÀce sowie die der einzelnen Grafschaftsarchive umfassen, konnte kein Hinweis auf eine Korrespondenz zwischen den Familien Neville und Petre in der betreffenden Epoche festgestellt werden. In den Grafschaftsarchiven von Devon und Berkshire beÀnden sich dennoch Dokumente, die den Kontakt zwischen Sir John Petre
269 Ausgabe: BE 14. 270 Wenn man die Allianz Worcester-Petre nicht mitrechnet, da sie nach der Entstehung von MLNB stattgefunden hat (im Jahre 1596; vgl. COKAYNE Bd. 10, S. 506). 271 Vgl. Price 1981, S. 162.
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und dem bereits erwähnten Sohn Sir Henry Nevilles, der ebenfalls Henry hieß272, in den Jahren 1606 und 1607 (also nach der Entstehung von MLNB) belegen: Sir Henry Neville II. war, zusammen mit einigen anderen Mitgliedern der gentry vom Parlament mit dem Verkauf der Güter des Sir John(athan) Trelawny in Devon beauftragt, die später Sir John Petre, 1. Lord Petre of Writtle, erwarb273. Die geschäftsmäßige Natur dieses Kontakts setzt zwar nicht notwendig eine Freundschaft zwischen der Familien Neville und Petre voraus. Möglicherweise stand aber die Tatsache, dass Sir John die genannten Güter erwerben konnte in Bezug dazu, dass Sir Henrys Familie mit ihm verwandt und befreundet war. In einer weiteren zeitgenössischen Quelle, den Haushaltsbüchern des Earl of Leicester, fanden sich Hinweise sowohl auf Sir John Petre als auch auf Sir Henry Neville (I.) of Billingbear274. Die Bekanntschaft mit Leicester, einem der einÁussreichsten Aristokraten der elisabethanischen Zeit, Heerführer in den Niederlanden und Günstling der Königin, kann aber nicht als zwingender Beweis für eine Bekanntschaft oder gar Freundschaft beider Männer dienen. Ertragreicher waren die parlamentsgeschichtlichen Untersuchungen des Autors, die ergeben haben, dass Sir Henry Neville I. und Sir John Petre in mindestens einer Legislaturperiode im englischen Parlament zusammen saßen: Beide wurden im Jahr 1584 als Vertreter ihrer jeweiligen Grafschaften Berkshire (Sir Henry Neville) und Essex (Sir John Petre) ins Unterhaus gewählt275. Ihr Kontakt muss aber noch näher gewesen sein, denn es ist belegt, dass die beiden Ritter Mitglieder in den gleichen parlamentarischen Ausschüssen, den Ausschüssen für Korn und Stoff, waren. An mindestens einer Ausschusssitzung am 19. Dezember 1584 ist ihre gleichzeitige Teilnahme belegt. Somit kann als nachgewiesen gelten, dass Sir Henry Neville of Billingbear, der Wappenträger aus MLNB und Sir John Petre, der Vater des Widmungsträgers der Zehnten Pavane und Galliarde, nicht nur in einem familialen, sondern auch in einem kollegialen Verhältnis zueinander gestanden haben. Hierbei soll auch betont werden, dass dieses kollegiale Verhältnis der beiden Männer vor der Entstehung von MLNB bereits bestand. Die demonstrierte genealogische Nähe – die einzige familiale Verbindung zwischen den Arrivierten Petres und den Dynasten Nevilles überhaupt – und das im Vergleich zu allen anderen aristokratischen Familien im Umkreis Byrds sehr nahe Verwandtschaftsverhältnis der Nevilles of Billingbear zu den Petres of Writtle bestätigen zusätzlich die These, dass die Nevilles of Billingbear in der Tat die Widmungsträgerfamilie von MLNB sind und dass die Petre-Pavane und Galliarde möglicherweise wegen der familialen Verbindung der Petres zu Lady Neville in die Sammlung aufgenommen worden sind, obwohl diese späte Aufnahme das Gesamt272 Vgl. Kapitel 2.3. 273 Vgl. DRO ; in BRO D/EN/F6/1 ist noch eine geschäftliche Verbindung zwischen Sir Henry Neville II. und John, 1. Lord Petre dokumentiert. 274 Vgl. Adams 1995, S. 199 (zu Sir Henry Neville) sowie 155, 339 und 343 f. (zu Sir John Petre, den Leicester 1585 in Ingatestone besuchte). 275 Alle Angaben über die parlamentarische Tätigkeit von Sir John Petre und Sir Henry Neville nach HC, Bd. III, S. 124 f. (für Sir Henry) und 209 f. (für Sir John).
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konzept der Sammlung durchbrach. Die aufgezeigten Verbindungen zwischen den Nevilles und den Petres sprechen zusätzlich auch für die Richtigkeit der im vorausgegangenen Kapitel unterbreiteten These des Autors, dass gerade Sir Henry Neville die entscheidende Rolle in der Kontaktherstellung zu John Baldwin und William Byrd gespielt hat und dass das Buch in seinem Auftrag für „Ladye Nevell“ geschrieben worden war: Denn die Petres waren nahe Verwandte von Sir Henry, nicht von Elizabeth Bacon. Sir Henry Nevilles in MLNB reÁektierten ehelichen und freundschaftlichen Verbindungen mit dem neuen, aufsteigenden und durchaus vermögenden Amtsadel – die Eheschließungen mit den Frauen aus den Familien Bacon und Gresham sowie die Verwandtschaft und möglicherweise auch Freundschaft mit den zwar kryptokatholischen aber mächtigen Petres – können als taktisch geschickte Schachzüge betrachtet werden, die für die Tudor-Ära, eine Zeit politischer und kultureller Umbrüche und der Entstehung neuer Eliten, charakteristisch war. Diese Schachzüge scheinen aber nicht nur politisch oder ökonomisch motiviert gewesen zu sein. Sir Henry war auch vor der Heirat mit der Tochter des Großsiegelbewahrers Bacon nicht in Ungnaden bei dem Königshaus Tudor, obwohl sein Vater von Heinrich VIII. hingerichtet worden war: Er war des Königs Patenkind, Hofmann, Zeuge seines Testaments und sogar einer seiner Erben276. Seine politische Position verbesserte sich nicht entscheidend nach der Eheschließung mit Elizabeth Bacon-Doyley. Ebenfalls war Sir Henry bereits vor der Heirat mit ihr ein sehr wohlhabender Mann, der große Ländereien in der Grafschaft Berkshire besaß und als Ritter dieser Grafschaft auch im Parlament saß. Die Eheschließungen mit Frauen aus den Familien Bacon und Gresham haben Sir Henry nicht nur zusätzliches ökonomisches Kapital gebracht, sondern sie dürften auch einen Beitrag zu seiner Identitätskonstruktion als Mitglied einer Magnatenfamilie geleistet haben, die wieder einen Platz an der Spitze der englischen Gesellschaft einnehmen sollte. Die Entstehung von MLNB fand inmitten dieses Prozesses der aristokratischen Identitätskonstruktion statt. Diese Überlegungen sind hier angesichts der Verbindung mit der Familie Petre noch zu ergänzen. Denn in MLNB wird auch die Verbindung zwischen römischkatholischer und protestantischer englischer Aristokratie reÁektiert: Die Petres unterschieden sich von den Nevilles nicht nur durch ihre relativ bescheidene Herkunft, sondern auch durch ihre Konfession. War ihr Familiengründer, der bereits genannte Staatssekretär Sir William Petre I., noch diskret in der Ausübung seiner Konfession, so war der Katholizismus seines Sohnes John Petre und insbesondere seiner Frau Mary Waldegrave – der Nichte Sir Henrys – eindeutiger277. Als Patron William Byrds ist Sir John Petre, der 1603 auch zum Lord Petre of Writtle ernannt wurde, gerade als Widmungsträger des zweiten Buches der Gradualia bekannt geworden, einer Kirchenmusiksammlung, in welcher Motetten für das Peter-undPaulsfest (29. Juni) besonders prominent sind: wohl eine Anspielung auf den Fami276 Auch in diesem Kapitel stammen alle Informationen über Sir Henry Neville, wo keine anderen Referenzen angegeben sind, aus HC, Bd. III, S. 124 f. 277 Vgl. etwa Brett 2007, S. 206–211.
2.4 Protestanten, Papisten, Pedigrees
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liennamen Petre und den Familiensitz Ingatestone278, aber auch auf die Stellung des Hl. Petrus und der Päpste in der römisch-katholischen Theologie279. Sir Johns Sohn William Petre II., der Widmungsträger der Zehnten Pavane und Galliarde aus MLNB lebte seinen Katholizismus noch deutlicher aus als seine Vorfahren, so dass dadurch auch seine politische Kariere gelitten hat280. Die Präsenz des Sohnes einer prominenten katholischen Familie in der Musiksammlung für eine protestantische Adelsangehörige war sicherlich wegen der geschilderten familialen Verbindung zwischen den Nevilles und den Petres unproblematisch. Wie man gerade anhand der Biographie Sir John Petres weiß, waren die Sympathien für die Römisch-katholische Kirche im elisabethanischen England nicht gefährlich, wenn der Sympathisant elitär genug und der Krone gegenüber treu gewesen war. So wurde auch der Prozess gegen Lady Petre, geborene Mary Waldegrave, die Ehefrau Sir Johns und die Nichte Sir Henry Nevilles, auf Geheiß der Königin eingestellt281. Die aristokratischen Verbindungen scheinen im elisabethanischen England über die konfessionspolitischen dominiert zu haben, vorausgesetzt der katholische Untertan war in seinem Katholizismus passiv und diskret genug gewesen. David Price hat in seiner musiksoziologischen Studie zur englischen Adelspatronage versucht, die Entstehung von MLNB mit dem Umfeld englischer Kryptokatholiken in Verbindung zu bringen. Von den Petres und Kinborough Good282 ausgehend erklärte er dabei – ohne Bezugnahme auf konkrete Quellen – auch Sir Henry Neville of Billingbear zum Angehörigen der Römisch-katholischen Kirche und brachte ihn auf diese Weise in Verbindung mit Sir John Petre283. Der Versuch Prices war aber ein Fehlschlag, denn Sir Henry war Protestant. Mehrere Argumente sprechen dafür: Zunächst sind seine Konfession und seine aktive Verfolgung von Katholiken in seinen Privatbriefen284 überliefert. Dies ist auch durch amtliche Dokumente bestätigt: Unter anderem ist es etwa bekannt, dass Sir Henry im August 1581 Drucker lateinischer Bücher verhaftet hatte, die bei einer Lady Stonor gearbeitet haben. Danach wurde ihm aufgetragen, Lady Stonor an der Kommunikation mit katholischen Priestern zu hindern285. Zweitens verbrachte Sir Henry einen Teil der Regentschaft der militant-katholischen Königin Mary (1553–1558) im Exil und diente gerade den protestantischen Monarchen Heinrich VIII., Edward VI. und Elizabeth I. treu. Darüber hinaus war Neville umgeben von einigen der wichtigsten Angehörigen des neuen elisabethanischen Establishments: den Bacons, den Greshams und den Thynnes. Schließlich soll auch betont werden, dass keine einzige Quelle gefunden werden konnte, die die These von Sir Henrys vermeintlichem Ka278 Vgl. Kapitel 4.1. 279 Vgl. ebd., S. 191–193. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund von Byrds Gradualia s. insbesondere McCarthy 2007. 280 Vgl. COKAYNE, Bd. 10, S. 506. 281 Vgl. Brett 2007, S. 209. 282 Vgl. hierzu Kapitel 4.1. 283 Vgl. Price 1981, S. 162. 284 Zitiert in Kapitel 2.3. 285 Vgl. HC, Bd. III, S. 124.
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2. Love’s Labour Constructed
tholizismus bestätigen würde. Die Verbindung zwischen den Petres und den Nevilles ist, wie bereits demonstriert, keine konfessionelle, sondern eine familiale. Die Sammlung MLNB entstand daher in einem Umfeld, das primär durch die Kultur der englischen gentry, nicht die der einen oder anderen Konfession geprägt war. Auch konnte die konfessionelle Zugehörigkeit grundsätzlich in einer Sammlung weltlicher Kompositionen für Tasteninstrumente kaum von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Während sich die Widmung von Sammlungen geistlicher Musik, wie der bereits genannten Gradualia, naturgemäß nach der konfessionellen Zugehörigkeit des Patrone orientieren musste, so war diese für die Instrumentalmusik sekundär: Hier waren die gemeinsamen Nenner der Patrone ihre genealogisch bestimmte soziale Stellung, ihre weltliche Bildung, die – von der Dichotomie geistlich-weltlich nunmehr unabhängige – musikalische Literalität und der Geschmack für die am Königshof beliebte Musik für Tasteninstrumente286. Für die kulturelle Identität der englischen Aristokratie ist die im 16. Jh. immer intensiver verschriftlichte Musik für Tasteninstrumente287 ein Medium, in welchem sie sich primär als gelehrte Elite repräsentieren durfte und nicht als Vertreterin der einen oder anderen konfessionspolitischen Option bekennen musste. Dadurch war das Produzieren, Reproduzieren und Rezipieren von Instrumentalmusik im elisabethanischen England ein kulturelles Tätigkeitsfeld, das auch politische Vorzüge anbot. Auf der anderen Seite war die literalisierte Instrumentalmusik durch die reformatorischen Entwicklungen am englischen Hof im 16. Jh. und durch den Geschmack des Königshauses288 ein unverzichtbares Element der säkular-aristokratischen Kultur geworden. Ein Verfechter der einen oder anderen konfessionellen Option konnte auch ein Nichtaristokrat sein; ein Mensch von hoher Bildung und musikalischer Literalität, dazu Besitzer von wertvollen Musikinstrumenten, auf welchen selbst die Königin gerne spielte, sowie Widmungsträger von repräsentativen Musikmanuskripten führender Hofkomponisten war in der Regel ein Aristokrat. 2.5 BYRD UND DIE NEVILLES ZWISCHEN GEOGRAPHIE UND GENEALOGIE Obwohl es Christopher Foley, John Harley und schließlich auch dem Autor der vorliegenden Studie gelungen war, einige biographische Einzelheiten in Bezug auf Sir Henry Neville und seine zweite Ehefrau zu ermitteln289, ist es unklar geblieben, in welchem Verhältnis die Familie Neville of Billingbear zu William Byrd stand und wie sie überhaupt mit dem Komponisten in Verbindung kam. Die im Titel des Manuskriptes und in den Titeln von den drei expressis verbis Lady Neville gewidmeten Kompositionen (MLNB Nr. 1, 2 und 26) enthaltene Formulierung „My Lady“ weist dabei nicht auf ein besonderes Verhältnis zwischen dem Autor und der 286 287 288 289
Hierzu ausführlicher in Kapitel. 2.6. Vgl. hierzu Kapitel 3.3. Vgl. Kapitel 2.6 und 3.3. Dargelegt in den Kapiteln 2.2, 2.3 und 2.4. Vgl. Foley 2005 sowie Harley 2005.
2.5 Byrd und die Nevilles zwischen Geographie und Genealogie
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Widmungsträgerin hin: Das Possessivpronomen „my“ wurde im 16. Jh. als HöÁichkeitsformel zusammen mit den Titeln „Lady“ und „Lord“ von Vertretern aller Stände und in allen Relationen – Subordination, Supraordination, gesellschaftliche Gleichstellung – benutzt. Hier seien nur einige Beispiele angeführt: Der schottische Botschafter Sir James Melville nennt Lord Hunsdon, Lord Murray, Lord Leicester und Lady Stafford immer „my Lord“, bzw. „my Lady“, obwohl es zwischen ihnen weder ein Abhängigkeitsverhältnis noch Freundschaft gibt290. So bezeichnen auch seine Königin, Mary Queen of Scotts, und Königin Elizabeth einige von ihren betitelten Untergebenen291. Sir Henry Neville selbst bezeichnet den Earl of Leicester in seinen in Kapitel 2.3 erwähnten Privatbriefen als „My Lord“292. Auch bei der Erwähnung der Ehefrau eines anderen Mannes konnte die Formulierung „My Lady“ verwendet werden: So schrieb etwa Sir William St. Loe an Sir Henry Nevilles Freund Sir John Thynne, er solle ihn und seine Frau bei „my lady yowre wyff“ empfehlen293. Die gleiche Bezeichnungsform war aber auch bei der Dienerschaft üblich, wie aus elisabethanischen Haushaltsbüchern ersichtlich ist294. Der Titel von MLNB weist also weder auf freundschaftliche Nähe, noch auf Subordination hin, sondern stellt eine Konvention der HöÁichkeit dar. Sir John Hawkins und Charles Burney hatten vermutet, dass „Ladye Nevell“, deren nominelle Identität ihnen nicht bekannt war, eine Schülerin Byrds gewesen sei295. Diese These wurde von John Harley überzeugend widerlegt: Er wies darauf hin, dass die Widmungsträgerin eine Altersgenossin Byrds gewesen sei und zur Zeit der Entstehung von MLNB (1591), mit 50 Jahren, kaum mehr im Alter, Virginal zu lernen296. Es wurde auch vermutet, dass John Baldwin, der Schreiber von MLNB, den Kontakt zwischen William Byrd und der Familie Neville of Billingbear herstellte297. Letzteres liegt insofern nahe, als Sir Henry, wie in Kapitel 2.3 dargelegt, ebenfalls in Windsor tätig gewesen war. Akzeptiert man die These, dass MLNB eine Schenkung Sir Henrys an seine Frau Elizabeth war298, so wird offensichtlich, dass im Prozess der Entstehung von MLNB gerade Sir Henry die entscheidende Rolle gespielt haben muss, so dass die Kontaktaufnahme durch den in Windsor tätigen Baldwin noch wahrscheinlicher erscheint. Diese These kann durch die neusten Untersuchungen der British Library untermauert werden. Nach Angaben des 290 291 292 293 294 295 296
Vgl. Melville 1683, passim, insbesondere S. 48–51. Ebd. S. 44 f, 49. Vgl. Kapitel 2.3. LlH TH/VOL/III 1558–1573, S. 5. Vgl. etwa Adams 1995, passim. Vgl. Hawkins 1853/1963, Bd. I, S. 468 sowie Burney 1776/1958, Bd. III, S. 80. Vgl. Kapitel 1.2. Vgl. Harley 2005a, S. 8. Harley berücksichtigt nicht, dass Elizabeth Bacon früher Byrds Schülerin gewesen sein konnte. Dafür gäbe es allerdings keine Anhaltspunkte, außer dass bekannt ist, dass Byrd generell als Musiklehrer der Aristokratie tätig gewesen war: Er unterrichtete beispielsweise die Tochter des Earl of Northumberland, wie aus einem Brief des Earl an Lord Burghley aus dem Jahr 1579 ersichtlich ist. Der Earl nannte Byrd darin auch „my frend“ (BL LD MS 29, Folio 92r; Brieftext abgedruckt in Harley 1997, S. 363). 297 Vgl. Harley 2005a, S. 8. 298 Vgl. Kapitel 2.3.
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2. Love’s Labour Constructed
Manuskriptkurators der Bibliothek, Nicholas Bell, unter Berufung auf die Buchbindungsexpertin Philippa Marks, entstand die Bindung von MLNB, wie bereits betont, zur gleichen Zeit wie das Manuskript selbst und das auch in Windsor, wo sowohl Sir Henry als auch John Baldwin tätig waren299. Darüber hinaus liegt Windsor genau in der Mitte zwischen Harlington im Osten, wo William Byrd wohnte, und Billingbear und Greenland im Westen, wo sich die Güter der Nevilles befanden300. John Harley hat die Thesen von einer Verbindung zwischen den Nevilles und William Byrd über John Baldwin sowie von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis als nicht „particularly compelling“ zurückgewiesen301 und eine komplexe alternative These entwickelt: Das Gut Greenland bei Hambleden, eine der Wohnstätten von Sir Henry und Lady Neville302 beÀnde sich nur wenige Meilen von Brightwell, wo Symond Byrd, der Bruder des Komponisten, gelebt habe und sein Sohn Thomas Pfarrer gewesen sei. Billingbear selbst beÀnde sich rund 20 Meilen von Brightwell, betont Harley und fügt hinzu, dass in der Nähe auch das Gut Fillet’s Court bei Nettlebed liege, das John Byrd, ein anderer Bruder von William Byrd, bis 1574 besessen habe. William Byrds eigener Sitz, Harlington in Middlesex, beÀnde sich auch in nicht allzu großer Entfernung. Harley hält es für möglich, dass Lady Neville, oder Lady Doyley, wie sie vor der Ehe mit Sir Henry Neville of Billingbear hieß, die „lesser gentry“ aus ihrer Region kannte. Es sei ebenfalls möglich, dass sie die Eheschließung zwischen Christopher Byrd, dem Sohn Williams, und Katherine More, einer Urenkelin Sir Thomas Mores, unterstützte, die William Byrd wichtig gewesen sei. Diese Eheschließung fand tatsächlich zur Zeit der Entstehung von MLNB statt303. Als Argument dafür, dass eine Einmischung Lady Nevilles in die Eheverhandlungen zwischen den Familien Byrd und More möglich gewesen sei, gibt Harley an, dass Lady Neville und die Mutter der Katherine More auf benachbarten Gütern lebten sowie dass es eine genealogische Verbindung zwischen ihnen gegeben habe: Maria More sei durch ihre Mutter die Nichte des Lord Scrope of Bolton gewesen, während die Mutter von Sir Henry Neville of Billingbear die Wittwe des Lord Scrope of Upsal (auch „of Masham“ genannt) gewesen sei. Diese Argumentation Harleys erscheint jedoch etwas überzogen: Die Familien Scrope of Masham und Scrope of Bolton waren trotz der Namensgleichheit nicht sehr nah verwandt. Geoffrey le Scrope, der Stammvater der Linie Masham/Upsal war der zweite Sohn von Sir William le Scrope of Bolton, der wahrscheinlich noch vor 1285 geboren wurde304: ein weit entferntes Verwandtschaftsverhältnis. Darüber hinaus muss auch Harleys Argument der geographischen Nähe relativiert werden: Wenn man dieses zugunsten einer Verbindung über die Familie More einsetzt, dann 299 Persönliche Mitteilung von Nicholas Bell, BL. Zu diesen Aspekten von MLNB vgl. auch Harley 2005a, S. 2 und Harthan 1985, S. 18 sowie Plates 34 f. 300 Dies kann auf historischen Landkarten veriÀziert werden, etwa in Camden 1607, zwischen S. 201 und 202 sowie zwischen S. 299 und 300. 301 Harley 2005a, S. 8. 302 Vgl. Kapitel 2.3. 303 Vgl. Harley 2005a, S. 9. 304 Vgl. COKAYNE, Bd. 11, S. 554.
2.5 Byrd und die Nevilles zwischen Geographie und Genealogie
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muss man es erst recht für die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme Sir Henrys zu William Byrd über den in Windsor lebenden John Baldwin berücksichtigen. Vier Möglichkeiten der Kontaktaufnahme von Sir Henry und Lady Neville zu William Byrd scheinen plausibel zu sein. Die erste ist, dass Sir Henry unmittelbar in Kontakt zu Byrd getreten war. Es soll nicht vergessen werden, dass William Byrd im Jahr 1591 kein unbekannter Musiker, kein „Geheimtipp“ war, sondern ein hoch gepriesener, am Hofe tätiger und wohlbekannter Meister305, während Sir Henry einen Großteil seines Lebens entweder am Hofe oder in seiner Nähe verbracht hat. Auch ist Sir Henrys Präsenz in unmittelbarer Nähe von Byrds Sitz Harlington belegt: Im Jahre 1575 schrieb er aus dem lediglich 3,6 Meilen von Harlingon entfernten Osterley306. Zwischen Harlington und Osterley gab es damals, wie eine detaillierte Landkarte aus William Camdens (1551–1623) Britannia (1607) belegt, keine größeren Siedlungen307. In Osterley lebte der in Kapitel 2.3 bereits genannte Sir Thomas Gresham, der Onkel von Sir Henrys zweiter Frau Elizabeth Gresham, der Gründer der Londoner Börse und des Gresham College in der englischen Hauptstadt: einer der wichtigsten Finanziers im elisabethanischen England308. Seine mit Sir Henry Neville verheiratete Nichte Elizabeth hatte Sir Thomas so nahe gestanden, dass er sie als voraussichtliche Erbin („heir apparent“) nach dem Tode seines Sohnes Richard betrachtete309. Die Nevilles proÀtierten durch Sir Thomas’ Testament und Sir Henry gehörte, zusammen mit Nathaniel Bacon, einem Bruder der Widmungsträgerin von MLNB, zu den Vorstehern der Trauergemeinde („chief mourners“) bei Sir Thomas Greshams Beerdigung im Jahre 1579310. Es ist daher mehr als wahrscheinlich, dass Sir Henry Neville das Greshamsche Gut Osterley frequentierte und dass er bei diesen Gelegenheiten auch zu dem in unmittelbarer Nähe wohnenden Komponisten William Byrd Kontakt aufnehmen konnte. Darüber hinaus wurde im Jahr 1597 in London aus Sir Thomas Greshams Nachlass das Gresham College gegründet und Byrds Kollege aus der Chapel Royal, John Bull, übernahm die Musikprofessur auf Empfehlung der Königin311. Dies geschah zwar vier Jahre nach Sir Henrys Tod und sechs Jahre nach der Entstehung von MLNB, die Verbindung ist aber möglicherweise trotzdem relevant, da Byrd und Bull beide Gentlemen of the Chapel Royal waren312 und ihre beruÁichen Engagements womöglich mit der Familienallianz Neville-Gresham zusammenhängen. 305 Zur Byrd-Rezeption durch seine Zeitgenossen vgl. etwa Harley 1997, S. 363–368. 306 Vgl. SHC Brief von Sir Henry an Sir William More vom 11. März 1575. Entfernung auf heutigen Straßen kalkuliert mit Hilfe von Googleearth. 307 Vgl. Camden 1607, zwischen S. 299 und 300. 308 Vgl. Kapitel 2.3. 309 Vgl. Harding 1999, S. 34 f. sowie Pelling 1999, S. 59. 310 Vgl. Harding 1999, S. 37. 311 Vgl. etwa Price 1981, S. 41, 162, Ames-Lewis 1999, S. XIV, Chartres/Vermont 1998, S. 13 sowie Boyd 1962, S. 182. 312 Byrd arbeitete dort seit 1572 und Bull wurde als Knabe schon im Jahr 1574 eingeführt; im Jahr 1586 leistete er den Eid als Gentleman of the Chapel Royal. Im Jahr 1591, zum Zeitpunkt der Entstehung von MLNB, war Bull Organist an der Chapel Royal (vgl. Braun 2000, Sp. 1233, Neighbour 2000, Sp. 1478, Harley 1997, S. 4, 41).
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2. Love’s Labour Constructed
Die zweite Möglichkeit der Kontaktaufnahme der Nevilles zu William Byrd ist der Notenschreiber John Baldwin, der zum Zeitpunkt der Entstehung von MLNB in Windsor lebte313. Sir Henry Neville selbst war dabei nicht nur gelegentlich in Windsor tätig, sondern sein Landsitz Billingbear befand sich in unmittelbarer Nähe dieser königlichen Residenz. Wie eine Karte von Berkshire aus William Camdens Britannia (1607) belegt, auf welcher alle Pfarrgemeinden dargestellt worden sind314, gab es zwischen Billingbear und Windsor überhaupt keine Siedlungen, jedenfalls keine größeren, die als Pfarrei bezeichnet werden konnten: Zwischen der Wohnstätte Sir Henrys und der Stadt, in welcher John Baldwin an der Sammlung MLNB arbeitete, lag nur der königliche Forst von Windsor – die eigentliche Arbeitstätte Sir Henrys. So war Sir Henry gewissermaßen der Nachbar des Königshofs und auch John Baldwins. Unweit Windsors lag auch das Gut Greenland, das „Ladye Nevell“ von ihrem ersten Ehemann, Sir Robert Doyley, geerbt hatte315. Ein Ausschnitt aus der ebenfalls in Camdens Britannia abgedruckten Karte von Middlesex (heute hauptsächlich Großraum London) zeigt, dass Harlington (heute in unmittelbarer Nähe des Flughafens Heathrow), der Sitz William Byrds um das Jahr 1591, auch unweit von Windsor – auf der anderen, östlichen Seite – liegt: In der Tat beÀndet sich Windsor fast genau auf halber Wegstrecke zwischen Harlington im Osten und Billingbear und Greenland im Westen316. Die dritte – mit John Harley geteilte – Vermutung in Bezug auf die Kontaktaufnahme der Nevilles zu William Byrd ist, dass der Vermittler zwischen den Nevilles und William Byrd Lord Howard of EfÀngham gewesen sein konnte, dessen Kontakt sowohl zu Sir Henry Neville als auch zu William Byrd belegt ist317. Schließlich ist es auch denkbar, dass die Kontaktaufnahme der Nevilles zu William Byrd über dessen bedeutenden Patron Sir John Petre erfolgt sein könnte. Diese Vermutung ist angesichts der im Rahmen der vorliegenden Arbeit festgestellten familialen Nähe zwischen den Nevilles of Billingbear und den Petres of Writtle, des kollegialen Kontakts von Sir Henry und Sir John, der Sonderplatzierung der William Petre gewidmeten Kompositionen in MLNB sowie in Anbetracht der besonderen Nähe William Byrds zur Familie Petre sehr wahrscheinlich. Über Byrds Verhältnis zur Familie Petre ist ausreichend bekannt: Auch in der Zeit vor seinem Umzug nach Essex, in die Nähe der Petres, pÁegte Byrd zu dieser katholischen Magnatenfamilie regelmäßigen Kontakt: Es ist beispielsweise belegt, dass Byrd – der damals in Harlington wohnte318 – zu Weihnachten 1589 zu einem längeren Aufenthalt bei den Petres eingeladen war319. Womöglich konnte Byrd Sir Henry Neville of 313 Vgl. Baldwins eigene Eintragung auf Folio 194v in MLNB (Abb. 38 im Anhang zu Teil 4); vgl. hierzu etwa Harley 2005a, S. 2. Zu Baldwin selbst s. etwa Mateer 2004 und die dort angeführte Literatur. 314 Vgl. Camden 1607, zwischen S. 201 und 202. 315 Vgl. Kapitel 2.3. 316 Vg. Camden 1607, zwischen S. 201 und 202. sowie zwischen S. 299 und 300. 317 Vgl. Kapitel 2.3 sowie Harley 2005a, S. 5 f. 318 Er zog 1593 nach Essex um, wo er in der Nähe der Petres ein Haus bezog. Vgl. hierzu etwa Harley 1997, S. 108 sowie Brett 2007, S. 206. 319 Vgl. Mateer 1996, S. 27.
2.5 Byrd und die Nevilles zwischen Geographie und Genealogie
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Billingebear bei einer solchen Zusammenkunft kennen lernen und mit ihm und seiner Frau als prominenten Aristokraten seines Landesteils und Verwandten seines Freundes und Patrons Sir John Petre in Kontakt geblieben sein. Es wäre ebenso denkbar, dass Petre den Komponisten Byrd seinem Verwandten und Parlamentskollegen im Westen von London, Sir Henry Neville, empfohlen hatte. Diese Hypothese ist umso attraktiver, als sie nicht ausschließt, dass Sir Henry Neville den Musiker und Notenkopisten John Baldwin in Windsor kennen gelernt und daselbst auch die Einzelheiten in Bezug auf die Buchbindung vereinbart hatte. Ebenso ist nicht ausgeschlossen, dass Lady Neville, wie Harley vermutet, die Byrd-More Eheschließung befürwortet hat320. Besonders wahrscheinlich ist aber eine erste Kontaktaufnahme zwischen Byrd und den Nevilles of Billingbear auf der Ebene der Patrone aus der höheren gentry selbst, insbesondere wenn diese so nah verwandt waren wie die Petres of Writtle und die Nevilles of Billingbear. Es wird offen bleiben müssen, ob William Byrd Sir Henry und Lady Neville unmittelbar oder über Sir John Petre, die Mores beziehungsweise John Baldwin kennen gelernt hatte. Es steht dennoch fest, dass MLNB im Umfeld der elisabethanischen gentry entstanden war, welchem sich, wie John Harley deutlich gemacht hat, auch William Byrd selbst gewissermaßen zugehörig gefühlt hatte321: Seinen Sohn Christopher vermählte er, wie bereits hervorgehoben, mit einer Urenkelin von Sir Thomas More, dem bedeutenden Humanisten und Lordkanzler Englands aus der Zeit Heinrichs VIII. Dadurch war Byrd mit einem Teil seiner Patrone auch selbst entfernt verschwägert322. Der Earl of Northumberland, dessen Tochter er unterrichtete, bezeichnete ihn, wie bereits zitiert, im Briefwechsel mit Lord Burghley als Freund323. Ebenso lässt Byrds Kontakt mit der Familie Petre, dessen Mitglied, William Petre, der Widmungsträger der Zehnten Pavane aus MLNB ist, eher auf eine Patronage-Freundschaft als auf eine Subordination schließen324. Auch eine im Jahre 1571 vom Clarenceux King of Arms, einem der drei leitenden Herolde Englands325, amtlich ermittelte Genealogie der Familie Byrd326 bezeichnet ihre männlichen Mitglieder als Gentlemen (im ofÀziösen Sinne des Wortes als Angehörige der gentry327) und schreibt ihnen auch ein Wappen zu. Dieses Wappen ist allerdings möglicherweise als Legitimierung einer früheren lizenzlosen Wappenführung zu verstehen, so dass es wahrscheinlich mehr von den Ambitionen der Familie als von ihrer wirklichen Herkunft spricht328: Die Byrds konstruierten ihre eigene Identität als gentle329. So entstand MLNB nicht nur unter aristokrati320 321 322 323 324 325 326 327 328
S. Referenzen oben. Vgl. Harley 1997, S. 358–362. Vgl. hierzu Harley 1997, S. 359 f. Vgl. BL LD MS 29, Folio 92r; Brieftext abgedruckt in Harley 1997, S. 363. Vgl. hierzu insbesondere Mateer 1996. Vgl. Kapitel 2.2. Zitiert in Harley 1997, S. 373 f.; Reproduktion ebd., zwischen S. 240 und 241. Vgl. Kapitel 2.1 und 2.2. Zuvor war kein vergleichbares Wappen registriert worden. Vgl. Expertise des Heraldikers P. Ll. Gwynn-Jones in Harley 1997, S. 375. 329 Vgl. hierzu Harley 2000 und 2005a, S. 9.
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2. Love’s Labour Constructed
scher Patronage, sondern in einem Umfeld, das sowohl auf Seiten des gesellschaftlich ambitiösen Komponisten als auch auf Seiten des Auftraggebers und der Widmungsträgerin durch Werte und Vorstellungen der englischen Aristokratie geprägt war. Diesen sei – in Bezug auf die Musik – das nachfolgende Kapitel dieser Studie gewidmet. 2.6 FOR ORNAMENT UND REPUTATION? DIE NEVILLES, DIE MUSIK UND DIE GELEHRSAMKEIT Trotz ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zur elisabethanischen gentry dürften sich Sir Henrys und Lady Nevilles Zugang zur Musik in mehreren Aspekten voneinander unterschieden haben. Sir Henrys Musikbezug war, wie aus seiner in Kapitel 2.3 skizzierten Identitätskonstruktion zu erahnen ist, wahrscheinlich durch seine Tätigkeit am Hofe, seinen Aufenthalt in Italien sowie den Kontakt zu seinen musikalischen Verwandten und Freunden geprägt, während bei „Ladye Nevell“ der Bezug zur Musik eher im Rahmen der humanistischen Gelehrsamkeit zu suchen ist330. Im vorliegenden Kapitel sollen diese Themenkomplexe abschließend behandelt werden, um den ideengeschichtlichen Kontext, in welchem MLNB entstanden ist, genauer zu beleuchten. Dabei wird nicht versucht, ein „ständeübergreifendes“ Konstrukt des „elisabethanischen Musikkonzepts“ zu entwerfen331, oder einen umfassenden Überblick über die Musikpatronage der englischen Aristokratie im 16. Jh. zu bieten: Letzteres wurde unter anderem von Walter WoodÀll, Joseph Kerman, David Price, Morrison Comegys Boyd und Lynn Hulse332 geleistet, so dass auf die Studien dieser Autoren verwiesen werden kann. Auch erheben die beiden nachfolgenden Unterkapitel (2.6.1 und 2.6.2) nicht den Anspruch, die Materie umfassend zu behandeln: Sie sollen lediglich dazu dienen, die in den darauf folgenden Unterkapiteln (2.6.3 bis 2.6.5) stattÀndende Rekonstruktion des Musikbezugs der Nevilles und ihrer Mitwelt nachzuvollziehen. Insgesamt werden sich daher die Ausführungen des vorliegenden Kapitels auf diejenigen Aspekte des Musiklebens und -denkens der Tudor-Ära sowie auf diejenigen Vertreter der nobility und gentry konzentrieren, die für den Musikbezug der Familie Neville und ihren Umkreis von Relevanz gewesen sein können.
330 Die Charakteristika des humanistischen Musikdiskurses werden in Unterkapitel 2.6.3 besprochen. 331 Dies in kritischer Erinnerung an Tillyards ehemals als Standardwerk geltendes The Elizabethan World Picture (Tillyard 1943); zur aktuellen kulturwissenschaftlichen Kritik an diesem Konstrukt s. u. a. Wells 1994, insbesondere S. 1 f. 332 WoodÀll 1953 und 1967, Kerman 1962, Boyd 1962, Price 1976 und 1981, Hulse 1991, 1996 und 2002.
2.6 For ornament und reputation? Die Nevilles, die Musik und die Gelehrsamkeit
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2.6.1 Die Tudors und die Musik333 Auch vor der Tudor-Ära gehörte die Musik in England zum aristokratischen Bildungskanon. So heißt es noch in den „ordinances and regulations“ am Hofe König Edwards IV. (1442/1461–1483), dessen Mutter eine Neville war334, dass die „sonnes of nobles, lordes and gentlemen […] be vertuously brought uppe; and taught in grammar, musicke, and other cunning exercises of humanyte, according to their byrthes“335. Wie diese Unterweisung genau aussah, ist nicht bekannt. David Price vermutet, dass es sich bei dem hier genannten Musikunterricht um praktisches Musizieren, nicht etwa um theoretische ReÁexionstätigkeit im Bereich der musica speculativa gehandelt haben muss336: Eine Vermutung, die angesichts des gegebenen Zusammenhangs mit Grammatik und den anderen „cunning exercises in humanyte“ anstelle einer Positionierung im Rahmen des mittelalterlichen Quadriviums treffend erscheint. Es ist ebenfalls bekannt, dass die Kinder Edwards IV. selbst praktischen Musikunterricht bei den am Hofe tätigen Musikern genossen. Dennoch lebten am Hofe dieses Königs außerhalb der Hofkappelle lediglich fünf Musiker337. Unter den Tudors intensivierte sich das Musikleben am englischen Hof erheblich: Bereits der erste Tudor-König, Heinrich VII. (1485–1509) unterhielt vier Posaunisten, einen walisischen Harfenisten, zwölf Trompeter, Musiker für die Privatgemächer, Hofsänger der Prinzessin sowie die Knaben und achtzehn Männer der Königlichen Kapelle338. Während der Regentschaft seines Sohnes Heinrich VIII. (1509–1547), unter welchem sowohl Sir Edward Neville als auch sein Sohn Henry Neville dienten, wurde das Musikleben am englischen Hof durch intensives Importieren von ausländischen Musikern, vornehmlich aus Italien, bereichert339. Für die Untersuchungen dieser Studie ist von besonderer Bedeutung, dass am Hofe Heinrichs VIII. zum ersten Mal ein ständiger Virginalist tätig war und das Virginal auf diese Weise eine feste Position in der Hofkultur eingenommen hat340. Der König selbst konnte mehrere Musikinstrumente spielen und auch komponieren: Es sind 34 Werke Heinrichs VIII. überliefert worden341. Henry Neville konnte diese Neuerungen im Musikleben des Hofes aus nächster Nähe beobachten und durch sie geprägt werden, da er in der Privy Chamber des Königs diente342. 333 Zum Musikleben am Hofe der Tudors allgemein s. insbesondere Helms 1998, Wulstan 1985, Price 1981, Stevens 1979 sowie Boyd 1962. 334 Vgl. Kapitel 2.3. 335 Society of Antiquaries 1790, S. 29. 336 Vgl. Price 1981, S. 13. 337 Ebd., S. 11. 338 Ebd., S. 10 339 Ebd. 340 Ebd., S. 12 341 Zur musikalischen Ausbildung Heinrichs VIII., seiner Hofmusik und seinen eigenen Kompositionen vgl. insbesondere Dietrich Helms’ Dissertation (Helms 1998). Zum Musikleben am Hofe der ersten Tudor-Monarchen s. insbesondere das Standardwerk John Stevens’ (1979, passim). 342 Vgl. Kapitel 2.3.
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2. Love’s Labour Constructed
Die Tradition der intensivierten Musiktätigkeit setzte Heinrichs Tochter aus der Ehe mit der ebenfalls musikalischen und durch ihren Aufenthalt in Frankreich geprägten Anne Boleyn (1501/7–1536)343 fort: Elizabeth I. (1558–1603), unter welcher sowohl Sir Henry Neville als auch Sir Nicholas Bacon, der Vater von „Ladye Nevell“, dienten. Die vielseitig gebildete Königin344 spielte das Virginal und angeblich auch die Laute345. Nach dem Bericht eines HöÁings musizierte sie und tanzte sechs oder sieben Galliarden jeden Morgen346. Auch der damalige schottische Botschafter am englischen Hof, Sir James Melville of Halhill (1535/6–1617), schrieb im Jahre 1564, Königin Elizabeth spiele das Virginal „excellently well“347. Eine Konversation der Königin mit Melville, in welcher Elizabeth den schottischen Gesandten nach seiner Königin Mary (1542–1587) ausfragte, ist in diesem Kontext hervorzuheben: Als Königin Elizabeth den Botschafter nach den Beschäftigungen der schottischen Königin fragte, berichtete Melville, die Königin sei kürzlich auf Jagd in den Highlands gewesen. Dann fügte er hinzu: That when her more serious affairs permitted, she was taken up with reading the Histories: That sometimes she recreated her self in playing upon the Lute, and Virginals. She [Königin Elizabeth] asked if she [Königin Mary] played well? I [Melville] said reasonably for a Queen348.
Dieses Gespräch hatte am Abend desselben Tages, nachdem Melville dem Virginalspiel der Königin gelauscht hatte349, seine Fortsetzung: „She [Königin Elizabeth] inquired whether my Queen [Königin Mary] or she [Elizabeth] played best? In that I found myself obliged to give her [Elizabeth] the praise“350. Hier wird ersichtlich, dass die Musik für die Angehörigen der englischen und schottischen Hofkreise im 16. Jh. genauso wie die Jagd und das Lesen zu selbstverständlichen (Freizeit)beschäftigungen – pastimes – gehörte. Dabei legte gerade Königin Elizabeth I. ein besonderes Interesse am Instrumentenspiel an den Tag, das offenbar über ihr Interesse für manche anderen pastimes hinausging: Die Beherrschung der Musikinstrumente war für die Monarchin ein bedeutender Bestandteil der aristokratischen Identitätsbildung. Die Musikausübung trug aber dabei keinerlei emphatischen Akzent: Das Instrumentenspiel war spätestens seit Edward IV. für die englischen Regenten zwar eine charakteristische und „legitime“, aber durchaus gebrauchsgegenständlich konnotierte Freizeitbeschäftigung351. Sie gehörte nicht zu 343 Vgl. Price 1981, S. 13. 344 Elizabeths Bildung reÁektiert u. a. ihre Tätigkeit als Übersetzerin italienischer und lateinischer Werke sowie ihre eigene Poesie (enthalten in Elizabeth I. 1964). 345 Letzteres ist jedoch nicht ausreichend belegt; vgl. hierzu Scott 2001, S. 141. 346 Vgl. etwa WoodÀll 1953, S. 188 und Price 1981, S. 16. 347 Melville 1683, S. 50; ganzes Zitat s. u. (Unterkapitel 2.6.3). Nach dem Tod der Königin relativierte jedoch ein HöÁing Lord Burghleys, John Clapham (1566–1619), dieses Werturteil (vgl. Scott 2001, S. 141). 348 Melville 1683, S. 50. 349 Vgl. Zitat in Unterkapitel 2.6.3. 350 Melville 1683, S. 50. 351 Vgl. Zitat oben.
2.6 For ornament und reputation? Die Nevilles, die Musik und die Gelehrsamkeit
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den „more serious affairs“ der Herrschenden, wie der HöÁing und Diplomat Melville im obigen Zitat andeutet. Bei der Intensivierung der Musikausübung und -patronage durch das königliche fons honorum ist auch die Veränderung im Musikleben in den Adelskreisen nicht verwunderlich: die Intensivierung der aristokratischen Patronage für die literale Musik. In diesem Kontext ist auch die Entstehung von MLNB zu verstehen, zumal nicht nur Sir Henry Neville und Sir Nicholas Bacon am Hofe tätig waren, sondern auch William Byrd und John Baldwin in königlichen Diensten standen und sowohl die Bindung als auch die Heraldik der Sammlung auf eine Nähe zum Königshof hinweisen352: Die Entstehung von My Ladye Nevells Booke ist vom HoÁeben unter der letzten Tudor-Monarchin nicht zu trennen. 2.6.2 Musik im aristokratischen Erziehungsprozess Nicht nur am Hofe war der Umgang mit Musik ein Bestandteil des englischen Adelslebens: Auch im Prozess der Erziehung und Bildung von jungen Adligen wurde ihre Wichtigkeit immer wieder hervorgehoben. Die literale Musik und Musiktheorie nahmen eine herausragende Position an den hohen Ausbildungsstätten Englands, den Universitäten von Oxford und Cambridge und den Rechtschulen (Inns of Court) in London353. Die Curricula dieser Institutionen haben die Nevilles of Billingbear jedoch nicht entscheidend prägen können, da Sir Henry nicht studiert hat und „Ladye Nevell“ als Frau nur aus zweiter Hand – über ihren Vater und ihre Brüder – in Kontakt mit dem Bildungsdenken der englischen Universitäten in Berührung kommen konnte. Um die Positionierung der Musik im speziÀsch aristokratischen Bildungsdenken des 16. Jh. zu verstehen, könnte aber das Konzept für eine „Akademie der Königin Elizabeth“354 des Sir Humphrey Gilbert (1539–1583), eines Halbbruders Sir Walter Raleighs, behilÁich sein, weil dieses Konzept die eigenen Bildungsvorstellungen des elisabethanischen Adels zum Ausdruck bringt. Das niemals verwirklichte und wohl daher in der Patronatsforschung etwas vernachlässigte Konzept von Queene Elizabeths Achademy, die expressis verbis junge Adelsangehörige hätte ausbilden sollen, sah eine musikpädagogische Stelle vor, die auch den Unterricht im Instrumentenspiel hätte umfassen sollen355. Ein Blick in den vom Aristokraten Gilbert vorgeschlagenen Kostenplan bestätigt die im vorausgegangenen Exkurs skizzierte Stellung der Musik im Rahmen des adligen Bildungskanons: Das Gehalt des Musiklehrers an der Achademy hätte nach Gilberts Kostenplan im Rang der Gehälter für Sprach- und Heraldiklehrer stehen sollen (26 Pfund jährlich)356. Zum Vergleich sei angegeben, dass die vorgeschlagenen Gehälter der Philosophie-, Theologie-, und Rechtslehrer sowie die der militärischen Instrukteure beinahe vier352 353 354 355 356
Vgl. Kapitel 2.2 und 2.3. Hierzu ausführlich bei Price 1981, S. 19–31. BL LD MS 98/1/2, abgedruckt in Early English Texts Society, 1869/2001, S. 1–12. Ebd., S. 7. Ebd.
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2. Love’s Labour Constructed
mal höher (100 Pfund jährlich) veranschlagt wurden357. Es ist bezeichnend, dass Heraldik und Musik – zwei auch für Sir Henry und Lady Neville besonders wichtige Disziplinen358 – für Sir Humphrey Gilbert den gleichen ökonomischen Wert im Prozess der aristokratischen Bildung und Erziehung hatten. Sie waren, wie aus dem Konzept der Akademie hervorgeht, feste Bestandteile der adligen Bildung, gehörten aber nicht zu ihren zentralen Stützpfeilern: Diese waren das Kriegswesen, die Staatsverwaltung sowie der Komplex von theologischen und philosophischen Erkenntnissen. Einen ähnlichen Eindruck erweckt auch das Studium der im England des 16. Jh. kursierenden und von führenden humanistischen Autoren359 verfassten (adels-) pädagogischen Ratgeber. Der Musik kommt in diesen Texten eine wichtige Position zu, wobei sie – unter Berufung auf antike Autoren – in der Regel als eine nützliche, aber von Aristokraten nicht allzu intensiv zu betreibende Disziplin beschrieben wird. So rät Sir Thomas Elyot (ca. 1490–1546) dem englischen Gentleman, sich zwar mit Musik zu beschäftigen, nicht aber daraus einen Beruf zu machen360. Der humanistische Gelehrte Roger Ascham361 (1514/15–1568), der Lehrer Königin Elizabeths, sah in seinem pädagogischen Traktat The Scholemaster (1570), der sich ausdrücklich an „youth in Ientlemen and Noble mens houses“ wendet362, in der theoretischen Musikausbildung im traditionellen Kontext des Quadiriviums eine potentiell verderbliche Disziplin363, während er die praktische Musikausübung – im Zusammenhang mit den ritterlichen Turnierdisziplinen und der Jagd – zu notwendigem Wissen und Können eines Aristokraten und HöÁings zählte: Therefore, to ride cumlie: to run faire at the tilte or ring [Turnierübungen]: to plaie at weapones: to shote faire in bow, or surelie in gon: to vault lustelie: to runne: toe leape: to wrestle: to swimme: to daunce cumlie: to singe and playe of instruments cunningly: to Hawke: to hunte: to playe at tennes & all pastimes generally […] be not onlie cumlie and decent, but also verie necessarie for a Courtlie Gentleman to use364.
Die praktische Musikausübung gehörte also für den einÁussreichen Adelspädagogen Ascham zum Bildungskanon der englischen Elite, obwohl auch er, sich auf Galen und Platon berufend, sowohl in seinem Toxophilus als auch im Scholemaster vor einem Zuviel an Musik warnt: „Muche musike marreth mennes maners“365. 357 Ebd., S. 6. Hier soll betont werden, dass die Achademy, obwohl für alle jungen Angehörigen der nobility und der gentry offen, primär für die Ausbildung der wardens der Königin gedacht war (ebd., 1). 358 Vgl. Kapitel 2.2 und 2.3. 359 Zum Humanismus in England allgemein vgl. etwa McConica 1965 und Major 1964. Vgl. auch Dose 1977, Plett 1983 sowie Helgerson 1993. Zu Helgerson vgl. auch Kapitel 3.3. Im Rahmen der vorliegenden Studie werden jene Autoren behandelt, die sich insbesondere mit Musik und ihrer Rolle bei der Erziehung des Adels beschäftigt haben. 360 Vgl. Elyot 1880, Book I., Chapter 7. 361 Aussprache „Askam“. 362 Ascham 1904/1970a, S. 171 – Titelseite; vollständiger Titel des Traktats ist in der Literaturliste angegeben. 363 Ebd., S. 190. 364 Ebd., S. 217. 365 Ascham 1904/1970b, S. 13 sowie Ascham 1904/1970a, S. 190.
2.6 For ornament und reputation? Die Nevilles, die Musik und die Gelehrsamkeit
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Die bereits zitierte Konversation zwischen Elizabeth I. und Sir James Melville steht in vollem Einklang mit Aschams adelspädagogischen Gedanken: Wie bei dem geschilderten Musikbezug der Königin und in Gilberts Konzept der elisabethanischen Adelsakademie, so fehlt auch hier jeder emphatische Musikbezug. Die Geschicklichkeit im Instrumentenspiel steht in Aschams Ausführungen unmittelbar neben der Falknerei366: Ein kulturelles Modell der gentry, das, wie in Kapitel 2.3 gezeigt wurde, auch in den Selbstdarstellungsformen von Sir Henry und Lady Neville of Billingbear in praxi zu Ànden ist. In dem europaweit einÁussreichen Il Libro del Cortegiano von Baldassare Castiglione (1478–1529), ins Englische am Anfang der Regierungszeit Elizabeths (1558–1603) als The Book of the Courtyer übersetzt (1561), während ihrer Regentschaft viermal verlegt367 und vom Adel intensiv rezipiert368, spielt die Musik eine bedeutende, wenn auch nicht entscheidende Rolle in der Kultur des Hofadels. Als besonders wichtiges ästhetisches Ideal des HöÁings bei Castiglione gilt dabei das Ornamentale, so dass auch Bildung als Ornament des Geistes gilt369. Castiglione schreibt der Musik eine starke Wirkung auf die Sinne zu, insbesondere bei den Frauen, und empÀehlt daher die Beherrschung dieser Disziplin speziell den männlichen Angehörigen der Aristokratie370. Auch In Henry Peachams d. J. (1578–1644) späterem Adelsratgeber The Complete Gentleman (1622) spielt die Musik eine bedeutende Rolle in der Erziehung von jungen Aristokraten371. Dabei wird die musikalische Literalität ausdrücklich als Bestandteil dieser Erziehung genannt: „I desire no more in you than to sing your part sure and at the Àrst sight withal to play the same upon your viol, or the exercise of the Lute, privately, to yourself“372. Bei Peacham ist also die literale Beschäftigung mit Instrumentalmusik die „legitime“ Art der Musikausübung schlechthin. In diesem Kontext ist auch auf Thomas Morleys Aussagen über die Bedeutung der musikalischen Ausbildung und der Literalität aufmerksam zu machen. Am Anfang von Morleys in Dialogform geschriebenem Traktat A Plaine and Easie Introduction into Practicall Musicke (1597) beschreibt der Àktive Musikschüler Philomathes eine Abendgesellschaft, in welcher Gelehrte – „both gentlemen and others“373 – über Musik diskutieren wollten. Nach dem Abendessen sollte musiziert werden: 366 Vgl. Zitat oben. 367 1558, 1577, 1588 und 1603; vgl. Burke 1995, S. 80. Moderne deutsche Ausgabe: Castiglione 1986. 368 Vgl. etwa Aschams Lob an Castiglione in Ascham 1904/1970a, S. 218; vgl. auch Houghton 1942, S. 57–50 und passim, Praz 1943a, S. 196, Buxton 1954, S. 19, Price 1981, S. 5, Burke 1995, S. 71. Auch in Sir Henry Nevilles unmittelbarem Umfeld ist Castiglione rezipiert worden (s. u.). 369 Vgl. Castiglione 1937, S. 68, 71, 81 f. 370 Ebd., S. 118 f ; vgl. hierzu auch Major 1964, S. 62. 371 Derselbe Peacham war auch ausgesprochener Byrd-Verehrer (Peacham 1962, S. 112; vgl. hierzu auch Harley 1997, S. 366). 372 Peacham 1962, S. 112; zitiert in Originalorthographie in Smith 2001, S. 260. 373 Morley 1597/1937, S. 1. Der Terminus „gentleman“ ist im 16. Jh. als Standesbezeichnung zu verstehen: ein Mitglied der gentry (vgl. Kapitel 2.1).
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2. Love’s Labour Constructed But supper being ended, and Musicke bookes, according to the custome being brought to the table: the mistresse of the house presented mee with a part, earnestly requesting mee to sing. But when, after manie excuses, I protested vnfainedly that I could not: euery one began to wonder. Yea, some whispered to others, demaunding how I was brought up […]374
Die musikalische Literalität ist bei Morley offensichtlich mit der Qualität der Erziehung untrennbar verbunden: Jemand, der die musikalische Schriftlichkeit nicht beherrsche, laufe Gefahr, sein gesellschaftliches Ansehen – sein symbolisches Kapital – zu verlieren. Morleys Ausführungen sind daher auf den zuvor behandelten gentryDiskurs der Epoche zu beziehen, obwohl sich sein Traktat nicht ausdrücklich an Adelsangehörige wendet375. Auf der anderen Seite war die Musik aufgrund ihrer Sensualität schon im elisabethanischen Zeitalter zur Zielscheibe von Angriffen puritanischer Kreise geworden376: Eine Tendenz, die in der frühen Stuart-Ära auch im Bereich der Adelspädagogik deutlich geworden ist. Nun wurden auch in Adelsratgebern die Stimmen immer lauter, die zu einer Mäßigung im Umgang mit Musik aufriefen: Diese Tendenz ist sowohl bei dem zitierten Henry Peacham d. J.377 und Richard Braithwhite (1588–1673)378 der Fall als auch bei James Cleland379. Laut Peacham dürfe die Musik nicht zu einer dominanten Beschäftigung eines Gentleman werden, wenngleich er sie als „standesgemäß“ betrachtet: […] I desire not that any noble or gentleman should, save at his private recreateing and leisurable hours, prove a master in the same [gemeint ist die Musik] or neglect his more weighty employments, though I avouch it a skill worthy the knowledge and exercise of the greatest prince380.
Warnungen vor Beschäftigung mit Musik sind auch in der Beraterliteratur des hohen Adels festzustellen. Henry Percy, der 9. Earl of Northumberland (1564–1632), dessen Schwester noch von William Byrd unterrichtet wurde und dessen Vater Byrd „my frend“ nannte381, schrieb sogar: „[…] but music, singing, dice, chess, and the rest of this nature are but lost labour, being qualities neither proÀtable to themselves, nor anything else“382. 374 Ebd. 375 David Price kommentiert, dass diese Aussagen Morleys auch als Werbung für seine eigene Tätigkeit angesehen werden könnten (vgl. Price 1981, S. 7). Dem dürfte zumindest teilweise so sein, die Meinung Morleys stimmt aber auch mit anderen Quellen der Epoche überein. Sie ist für diese Studie auch deswegen relevant, weil Morley sowohl mit der Widmungsträgerin von MLNB als auch mit dem Autor ihres musikalischen Inhalts in Verbindung stand (vgl. Kapitel 2.3). 376 Vgl. Wells 1994, S. 32. 377 Vgl. Peacham 1962, S. 111. 378 Vgl. Braithwhite 1630, S. 75–101 sowie Braithwhite 1816 (Erstausgabe 1621), S. 44. 379 Vgl. Cleland 1948 (Erstausgabe 1607), S. 229 f. 380 Peacham 1962, S. 111 (s. Smith 2001, S. 260 für Originalorthographie); als Beispiele einer „fürstlichen“ Beschäftigung mit Musik gibt Peacham Heinrich VIII., „The Duke of Venosa“ (Gesualdo) und Landgraf Moritz von Hessen an, stellt sie aber als Ausnahmefälle dar (ebd., S. 111 f.). 381 Vgl. Kapitel 2.5. 382 Percy 1607/1930, S. 64.
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David Price hat die geschilderten Tendenzen der adelspädagogischen Musikauffassung mit Recht so zusammengefasst, dass den englischen aristokratischen Idealen des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jh. ein gewisser Grad an Musikausbildung entsprach, während ein „over-enthusiasm“, die öffentliche Musikausübung und die damit möglicherweise verbundene Vernachlässigung öffentlicher Arbeit von den aristokratischen Ratgebern verurteilt wurden383. Die Musik sollte ein luxuriöser Gebrauchsgegenstand des Adels werden, nicht seine zentrale oder gar professionelle Beschäftigung. Eine Konversion des kulturellen Kapitals – in diesem Fall des musikalischen Könnens – ins ökonomische hätte zum Verlust des symbolischen Kapitals – der „Ehre“ und des „Ansehens“ führen können. Indessen entsprach der umgekehrte Vorgang – die Konversion des ökonomischen in das kulturelle Kapital – der adligen Norm und mehrte sein symbolisches Kapital: Die Patronage, das Beschützen und das Finanzieren waren zentrale Aspekte der kulturellen Dominanz des Adels. Die zitierten aristokratischen Berater- und Erziehungsbücher sind nicht als Repräsentationen von Realität, sondern von Idealvorstellungen zu verstehen: Sie stellen Versuche der EinÁussnahme auf die aristokratische Identitätsbildung dar, nicht zwingend eine Identitätsbeschreibung. Daraus könnte geschlossen werden, dass gerade die Warnungen gegen das Übermaß an Musikausübung in den Adelskreisen am Anfang des 17. Jh. aus der Tatsache hervorgegangen waren, dass die Musik – und insbesondere das Instrumentenspiel – den Beispielen der musikalischen Monarchen Heinrich VIII. und Elizabeth I. folgend, immer mehr zu einer wichtigen Freizeitbeschäftigung des Adels geworden waren: Sonst wären die zahlreichen Warnungen dagegen gegenstandslos gewesen. Prices Untersuchungen zu einigen elisabethanischen Adelsfamilien bestätigen diese These384. Auch die Entstehung von MLNB, dem ersten Manuskript der Musik für Tasteninstrumente, das einer englischen Adelsangehörigen gewidmet ist, ist in diesem Kontext der immer intensiveren Beschäftigung des Adels mit der Musik – insbesondere mit der in den Ratgebern der Epoche immer wieder hervorgehobenen literalen Instrumentalmusik – zu verstehen385. 2.6.3 An admirable delight: Das Säkulare, das Sensuelle und das Private im Musikkonzept der elisabethanischen Aristokratie Der von den zitierten höÀschen Gelehrten und dem Adel selbst geführte elisabethanische Musikdiskurs geht mit dem humanistischen Poesie-Rhetorik-Diskurs der Epoche einher. Dabei werden hier, in der Tradition Claude Paliscas, folgende Charakteristika für den humanistischen Musikdiskurs als essentiell betrachtet: der Bezug der Musik zu den „humanen“, sprachbezogenen Trivium-Disziplinen Grammatik und Rhetorik, die Betonung auf einer den Einzelmenschen ansprechenden emotionalen und sensuellen Expression und Rezeption, die Verbindung von Musik und 383 Vgl. Price 1981, S. 9. 384 Vgl. Price 1981, passim. 385 Der weitere Bezug zum Umfeld von MLNB folgt in den Unterkapiteln 2.6.4 und 2.6.5.
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Theater und die intensive Antike-Rezeption386. Diese Elemente des humanistischen Musikdenkens sind am deutlichsten an einem der Schlüsselbegriffe der aristokratischen Musikauffassung der elisabethanischen Epoche ersichtlich, der in den zitierten adelspädagogischen Traktaten zwar nicht im Vordergrund steht, aber umso mehr in eigenen Äußerungen des Adels selbst: dem Begriff delight. Die Musik wurde als die Quelle einer „Entzückung“ wahrgenommen, die – im Unterschied zu dem religiös konnotierten delight-Konzept im englischen Hochmittelalter, etwa bei Geoffrey Chaucer (ca. 1343–1400)387 – gänzlich säkular und sensuell geworden war. Um den elisabethanischen delight-Begriff zu verstehen, sei nachfolgend der adlige Dichter Sir Philip Sidney (1554–1586), der Inbegriff der aristokratischen Gelehrsamkeit und des „perfect courtier“388 der Epoche, zitiert – ein Mensch, der nach Worten seines Zeitgenossen Thomas Nash Castigliones Idealbild des höÀschen Aristokraten in England am besten verkörperte389. Sir Philip Sidneys Vorstellungen dürften für eine Studie über MLNB auch insofern von Relevanz sein, als seine Familie den Nevilles of Billingbear nahe stand: Sir Philips Vater, Sir Henry Sidney (1529–1586), war mit Sir Henry Neville befreundet und diente mit ihm gleichzeitig in der Privy Chamber Edwards VI.: Sir Henry Neville und Sir Henry Sidney wurden gleichzeitig zu Gentlemen of the Privy Chamber ernannt (1550) und auch am gleichen Tag zu Rittern geschlagen (11. Oktober 1551)390. Darüber hinaus ist Sydneys Musikauffassung auch deswegen von Bedeutung, weil mehrere seiner Gedichte von William Byrd vertont worden waren391. Sir Philip Sidney, dieser perfekte elisabethanische Hofmann aus dem Umfeld der Nevilles, erörtert den delight-Begriff am anschaulichsten in seinem nur vier Jahre nach MLNB veröffentlichten Traktat The Defence of Poesie (1595)392: For delight wee scarcely doo, but in thinges that have a conveniencie to our selves, or to the generall nature […] Delight hath a joy in it either permanent or present. Laughter hath only a scornful tickling. For example, wee are ravished with delight to see a faire woman, and yet are farre from being moved to laughter393.
Das Musikkonzept Sidneys, des wohl einÁussreichsten aristokratischen Poeten der elisabethanischen Epoche, steht in seiner Studie über die Dichtkunst expressis ver386 Vgl. Palisca 1985 und insbesondere 1988, passim. 387 Zu diesem Themenkomplex s. Hill 1991. Im Deutschen würde das Begriffspaar „Entzückung“ und „Verzückung“ wohl die beste Entsprechung darstellen. 388 Vgl. hierzu Stewart 2000, S. 194. 389 Nash beschreibt eine Konversation, die er mit „many extraordinary gentlemen, of most excellent parts“ geführt hat, in welcher man über die Qualitäten von Castigliones Courtier sprach. Das Ergebnis war, dass England „never saw anything more singular than worthy Sir Philip Sidney“ (zitiert nach Williams 1995, S. 432). 390 Vgl. Riordan 2004, S. 554 sowie MacCaffrey 2004a, S. 550. Zu Sidney vgl. auch Teil 4 der vorliegenden Studie. 391 Zu Byrds Sydney-Rezeption s. u. a. Duncan-Jones 1990, May 1991, S. 64, 101/Anm. 53, 116, 320. 392 In diesem Kontext bezieht sich das delight-Konzept zwar unmittelbar auf Aspekte der Komödie, die DeÀnition ist aber breiter angelegt. 393 Sidney 1963a, S. 40.
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bis im humanistischen Kontext der Poesie und der Rhetorik394 und hängt unmittelbar mit dem delight-Wahrnehmungskonzept zusammen. An einer Stelle, an welcher die Motive für die Beschäftigung mit einzelnen geistigen Disziplinen genannt werden, schreibt Sidney ausdrücklich, dass das delight die Motivation für die Beschäftigung mit Musik sei: „Some an admirable delight drew to Musicke“395. Dass dieses delight seinen Sitz in den Sinnen hat, ist bei Sidney eindeutig, denn er bezeichnet die Musik an einer anderen Stelle als „the most divine striker of the senses“396. Auch Sidneys Beispiel für delight aus dem obigen Zitat („wee are ravished with delight to see a faire woman“) lässt kaum Zweifel an der Sensualität des delightKonzeptes Sidneys entstehen397. In diesem Kontext erscheint es bezeichnend, dass Sir James Melville, der eloquente und kultivierte schottische Botschafter am englischen Hof im Jahre 1564, die Wirkung der Musik genau mit gleichem Vokabular beschrieb, das der adlige Dichter Sir Philip Sidney in Bezug auf eine schöne Frau benutzte: Sidney schrieb, man könne „ravished with delight to see a faire woman“ sein398, Melville berichtete, er „heard such a melody such as ravished me“399, als er einmal Königin Elizabeth spielen hörte. Die Sinnlichkeit wird auch im Musikkonzept des elisabethanischen Hofpoeten Edmund Spenser betont. In seinem Hauptwerk The Faerie Queene fungiert die Musik nicht nur auf der Ebene einer musica mundana, sondern sie wird durchaus als eine sensuelle Disziplin aufgefasst, vor deren Missbrauch man sich hüten müsse, da sie imstande sei, zu einer „inÁaming of passions“ zu führen400. Der delight-Bezug stellt eine Gemeinsamkeit zwischen elisabethanischen Texten über die Musik und den Schriften über die Rhetorik dar. So wird bei dem Rhetoriker Henry Peacham d. Ä. (1546–1634) der sinnliche Aspekt der Rezeption einer rhetorischen Figur als delight für die Ohren beschrieben. Dabei versucht Peacham in seinem Garden of Eloquence (1593) wiederholt Parallelen zwischen Musik und Rhetorik zu ziehen, ohne allerdings eine „musikalische Figurenlehre“ zu entwickeln401. Der delight-Bezug der akustischen Rezeption in der Dichtkunst ist auch bei George Puttenham, dem Autor von Arte of English Poesie (1589) und Neffen des bereits erwähnten Sir Thomas Elyot, in Bezug auf Poesie festzustellen: „Poesie is a pleasant maner of vtterance varying from the ordinarie of purpose to refresh the mynde by the eares delight“402. George Puttenham steht darüber hinaus auch expli-
394 Ebd., S. 27, 44; zum Musikbezug Sidneys vgl. etwa Maynard 1986, S. 77–112 sowie DuncanJones 1990, passim. 395 Ebd., S. 11. 396 Ebd., S. 27. 397 Zu weiteren Aspekten der Musikrezeption Sir Philip Sidneys s. u. 398 Vgl. Zitat oben. 399 Melville 1683, S. 50, s. ganzes Zitat oben. 400 Vgl. Wells 1994, S. 32. 401 Vollständiger Text des Traktats enthalten in Koll 1995, S. 5–197; Referenzen zu delight etwa auf S. 55, 137, 189; zu Peachams Musik-Rhetorik-Vergleichen vgl. ebd., S. 49, 54, 65. 402 Puttenham 1589/1968, S. 18; zum delight-Bezug der Poesie vgl. auch S. 69, 164.
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zit afÀrmativ zu einer delight-basierten, sensuellen Musikrezeption403. Die humanistische Anbindung der Musik an die sprachbezogenen, „humanen“ Disziplinen des alten Triviums ist also bei den elisabethanischen Rhetorikern bereits vollzogen404. Auch Henry Peacham d. J., der bereits zitierte Autor des Adelsratgebers The Complete Gentleman, stellte die Musik in humanistischer Tradition in den Kontext der Dichtkunst und nannte sie ausdrücklich „a sister of poetry“405. Schließlich ist auch ein Vergleich zwischen Musik und Honig, den der bereits erwähnte Lehrer von Königin Elizabeth, Roger Ascham, in seinem Toxophilus zieht406 – gleichsam eine Warnung vor einem Zuviel an Musik – im Kontext der primär sensuellen Musikrezeption des englischen Adels zu verstehen. Auch in Samuel Rowleys (gest. 1624) zwei Jahre nach dem Tod Elizabeths I. veröffentlichtem Werk When You See Me You Know Me (1605) ist der delight-Musikbezug der Aristokratie immer noch deutlich. Der Musiker Christopher Tye (ca. 1525–1572) sagt hier zu seinem Prinzen, worunter wahrscheinlich Edward VI. gemeint ist407: In musicke may your grace ever delight, Though not in me. Musicke is Àt for kings, And not for those know not the chime of strings […].408
Dabei berufen sich die Musiker selbst – ganz in humanistischer Tradition – bei ihrer Hervorhebung des delight-Bezugs auf die klassische Antike. So schreibt der Komponist Anthony Holborne in einem Gedicht zu Ehren Thomas Morleys: To whom can ye, sweet Muses, more with right Impart your paines to praise his worthy skill, Then unto him that taketh sole delight, In your sweet art, therewith the world to Àll.409
Der Bezug des delight-Konzeptes zur Antike-Rezeption ist darüber hinaus auch in der Masque The Vision of Delight von Ben Jonson, einem Bekannten Sir Henry Nevilles II.410, erkennbar411. In Titeln von Kompositionen der Instrumentalmusik ist der delight-Bezug ebenfalls präsent: So etwa in der Delight-Pavane und Galliarde Johnsons412 und ihren Arrangements von William Byrd (MB XXVII/5a–b). Da der Begriff delight in diesem Fall in Verbindung mit vornehmen Hoftänzen steht, ist auch hier der Bezug 403 Vgl. ebd., S. 6. 404 Zu Puttenham vgl. auch Plett 1983; zur humanistischen Verbindung von Musik und Rhetorik allgemein vgl. etwa die Standardwerke Paliscas (1985 und 1988). 405 Peacham 1962, S. 108. 406 Vgl. Ascham 1904/1970b, S. 13. 407 Vgl. hierzu Boyd, 1962, S. 68. 408 Zitiert nach Boyd, 1962, S. 301. 409 Morley 1597/1937, „Ant. Holborne in commendation of the Author“ (ohne Seitenangabe). 410 Vgl. Zitat am Anfang von Teil 1 sowie Kapitel 2.3. Vgl. auch Miles 1986, S. 173. 411 Vgl. Miles 1986, S. 178. Die Musik für diese Masque schrieb Nicholas Lanier. 412 Der Vorname des Komponisten ist ungewiss. Er hieß entweder Robert, John oder Edward (vgl. Alan Browns Kritischen Bericht in MB XXVII, S. 172).
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zur aristokratischen Welt deutlich. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Virginalkomposition Quodling’s Delight von Giles Farnaby (MB XXIV/42), die in Playfords Dancing Music (1651) den bezeichnenden, wohl auf die klassische Antike anspielenden Titel Goddesses trägt413. Auch in den im 17. Jh. entstandenen Sammlungen der Musik für Tasteninstrumente sind Kompositionen mit deutlichem delight-Bezug im Titel zu Ànden: Sowohl ERVB als auch PBVB414 beinhalten je zwei solcher Stücke: das unmittelbar auf Byrds Battle folgende The Soldier’s Delight (ERVB 40), My Delight (ERVB 65), Mrs Priscilla Bunbury. Her Delight (PBVB 12) sowie Captain Owen’s Delight (PBVB 27). Die geschilderten Prozesse der Verweltlichung der Elite und der Elitisierung des Weltlichen durch die staatliche Reformation der Tudors und die damit verbundene alleinige Vormachtstellung der säkularen Elite – des Adels – führten auch zur geschilderten Säkularisierung und Sensualisierung des elitären Musikkonzeptes und des „legitimen“ Musikgeschmacks, sowie zu einem höheren Stellenwert der Musikinstrumente und der für sie produzierten, säkularen Musik. Bei der immer intensiveren Beschäftigung mit der Instrumentalmusik genossen gerade die Tasteninstrumente eine besonders hohe Stellung in der Rangordnung von Musikinstrumenten beim englischen Adel des 16. Jh. So werden in den Inventarien der englischen Aristokratie und ab der Mitte des 16. Jh. auch in den Inventarien des Bürgertums, Virginale und Regale häuÀg als Bestandteile der Raumausstattung aufgeführt415. Dass diese Musikinstrumente als Symbole des gesellschaftlichen Status angesehen worden waren, bezeugt etwa die auch von Dietrich Helms hervorgehobene Tatsache, dass die Inventarien von Heinrich VIII., Margaret Pole, der Countess of Salisbury (1473–1541) – der Mutter von Reginald Kardinal Pole416 und Henry Pole, die Edward Neville, Sir Henrys Vater, besonders nahe standen417 – sowie Matthew Parker, Erzbischof von Canterbury (1504/1559–1575), für jeden Raum ihrer Privatgemächer eines oder mehrere Virginale oder Regale verzeichnen. Helms betont mit Recht auch die optische Wirkung dieser Tasteninstrumente, die in den frühneuzeitlichen englischen Palästen beeindruckend gewirkt haben müssen. Obgleich die aristokratische Vorliebe für das Virginal, wie aus den genannten Beispielen ersichtlich ist, schon unter Heinrich VIII. einsetzte, nimmt die Anzahl der Mitglieder der gentry, die ein Virginal besaßen, in der zweiten Hälfte des 16. Jh. noch zu418. Es muss nun auch auf den räumlichen Kontext hingewiesen werden, in welchem das aristokratische Musizieren am Virginal oder Regal in englischen aristokratischen Kreisen des 16. Jh. stattfand: Obwohl diese Instrumente auch in öffentlichen Räumen ihren Platz hatten und auf diese Weise alle Besucher an ihren so413 Vgl. Richard Marlows Kritischen Bericht in MB XXIV, S. 144. 414 S. Abkürzungsverzeichnis. 415 Vgl. Helms 1998, S. 204 f. Clavichorde wurden dagegen vorwiegend vom Klerus geschätzt (vgl. ebd.). 416 Römisch-katholischer Erzbischof von Canterbury unter Mary, vgl. Kapitel 2.3. 417 Vgl. ebd. 418 Vgl. WoodÀll 1953, S. 252–279, Price 1979 und 1981, passim sowie Helms 1998, S. 202.
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wohl ökonomischen als auch symbolischen Wert erinnern konnten, befanden sie sich, wie bereits hervorgehoben, auch in den Privatgemächern der Aristokraten und waren dadurch zu ihrem nichtöffentlichen pastime gedacht. In den Häusern bedeutender Persönlichkeiten, wie der genannten, mit den Nevilles verwandten Countess of Salisbury oder Erzbischof Parker standen Musikinstrumente auch in Schlafgemächern419. Die private Musikausübung kann dabei als der aristokratische Zugang zur Musik schlechthin aufgefasst werden: Ein gelehrtes delight, das der Aristokrat, im Unterschied etwa zum Spielmann, nicht mit jedermann teilt oder gar professionell betreibt – eine Art säkulare Meditation, die nur dem obersten Gesellschaftsstand zusteht. Ein ausgezeichnetes Beispiel dieser aristokratischen Haltung gab die Königin selbst ab. Der bereits erwähnte schottische Botschafter Sir James Melville berichtete, wie er im Oktober 1564 in eine „quiet gallery“ geführt worden sei, um dem Virginalspiel der Königin zu lauschen: After I had hearkened awhile, I took by a Tapistry that hung before the door of the Chamber, and seeing her back was toward the door, I entered within the Chamber, and stood a pretty space hearing her [Königin Elizabeth] play excellently well, but she left off immediately, so soon as she turned her about and saw me. She appeared to be surprised to see me, and came forward, seeming to strike me with her hand, alledging she used not to play before Men, but when she was solitary to shun melancholly420.
Im Kontext dieses Zitats sollte darauf hingewiesen werden, dass das Virginal im elisabethanischen Zeitalter kein den Frauen vorbehaltenes Instrument war, sondern am Hofe und im konkreten Umkreis der Nevilles auch von Männern gespielt wurde: König Heinrich VIII., der Pate Sir Henrys, spielte es, die Petres, seine Verwandten, ebenfalls und auch sein Freund und Nachbar Sir William More und dessen Sohn George, um nur die in dieser Studie erwähnten Männer aus der Umgebung Sir Henry Nevilles zu nennen421. In dem von Sir John Thynne, einem Freund Sir Henry Nevilles, erbauten Longleat House wird auch heute noch ein Brief aus der Zeit der Regentschaft Elizabeths I. aufbewahrt, in dem über den Fortschritt der beiden Enkel des Duke of Somerset, Edward, Lord Beauchamp und Thomas Seymour in „theare virginalls“ berichtet wird422. Dass es Königin Elizabeth I. ablehnte, vor 419 Vgl. Helms 1998, S. 202. 420 Melville 1683, S. 50. 421 Zu Sir William More s. Unterkapitel 2.6.4. Helms 1998, S. 215, betont, dass Ascham in seinem Toxophilus (Ascham 1904/1970b, S. 14) das Instrumentenspiel für feminin und daher zur Knabenerziehung untauglich hielt. Diese Aussagen Aschams sollten dennoch im Kontext eines Traktats über eine Kriegskunst – das Bogenschießen – betrachtet und relativiert werden; angesichts der Musikpraxis – auch jener des Königs selbst – erscheinen die Aussagen Aschams in dieser Hinsicht lediglich theoretisch motiviert. Darüber hinaus ist der Traktat in Dialogform verfasst und die Aussagen gegen das – offensichtlich populäre – Instrumentenspiel trägt gerade der weniger gelehrte der beiden Gesprächspartner vor, während der Standpunkt des gelehrten „Philologus“ etwas komplexer ist: Zunächst setzt er sich für das Instrumentenspiel ein (vgl. ebd., S. 12), dann gibt er vor, er habe den „Toxophilus“ nur „prüfen“ wollen (vgl. ebd., S. 14). 422 LlH 1559–1614, Nr. 22; Sir John Thynne diente ursprünglich als Steward (etwa: Truchsess) bei dem Duke of Somerset, dem Protektor Englands unter dem minderjährigen Edward VI., dem Sohn Heinrichs VIII. und Jane Seymour.
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Männern zu spielen, stellt also vielmehr die Bestätigung des privaten Charakters des Virginalspiels und einen Gender-Aspekt der Privatsphäre dar, als einen vermeintlichen Gender-Aspekt der Virginalmusik selbst423. Wie privat dabei das Virginalspiel für die „Virgin Queen“ war, illustriert die Tatsache, dass Melville, vor dem sie nicht spielen wollte, mit der Königin recht gut vertraut war und dass sie ihn einmal sogar in ihr Schlafzimmer geführt haben soll424. Die Schaffung der musikalischen Privatsphäre der Aristokratie ist, ebenso wie der delight-Bezug, auch als eines der Elemente des humanistischen, den Einzelmenschen, seine Emotionen und Sinne ansprechenden Musikkonzeptes425 zu verstehen. Sie ging auch mit der für das elisabethanische England charakteristischen Privatisierungstendenz in der unter der Adelspatronage entstehenden Architektur einher: Die feudale great hall, in welcher die Herren und die Dienerschaft trotz aller hierarchischen Unterscheide eine Koexistenz geführt hatten, wurde im 16. und intensiver noch im 17. Jh. durch einen Raumkomplex ersetzt, in welchem die aristokratische Familie immer weniger Lebensraum mit den Angehörigen ihrer Dienerschaft teilte. Laut Lawrence Stone fand im Zeitraum zwischen 1560 und 1620 zwar noch eine Welle der Erbauung von gigantic halls statt. Diese Art von Innenraumkonzeption sei aber „in full decline“ gewesen, als diese letzten der great halls gebaut worden seien426: Ein „growing desire for privacy“ hat in den aristokratischen Häusern bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jh. begonnen. 2.6.4 Sir Henry Neville revisited Es liegt nahe, dass die geschilderten Hintergründe Sir Henry Nevilles Musikbezug maßgeblich geprägt haben müssen. Er diente als HöÁing gerade in den königlichen Privatgemächern: Dieser Dienst, der mit täglicher Präsenz in den mit Tasteninstrumenten ausgestatteten Räumen des Königs verbunden war, muss auch Sir Henrys Wertvorstellungen und seinen Geschmack beeinÁusst haben, zumindest so, dass ihm bewusst wurde, dass das Musizieren, die Musikpatronage, der Besitz von Musikinstrumenten und -manuskripten – kurzum: die literale Instrumentalmusik – zu einem unverzichtbaren Teil des kulturellen und symbolischen Kapitals der TudorAristokratie geworden war. Es liegt auch nahe, dass Sir Henry Neville die genann423 Der Terminus „Virginal“ wird auf „virga“ (= Rute, Kiel), nicht auf „virgo“ zurückgeführt. Jedoch sind Gender-Assoziationen im England des 16. und 17. Jh. angesichts des großen königlichen Vorbilds nicht ausgeschlossen. Der Titel der Sammlung Parthenia ist z. B. eine von den Anspielungen der Tastenmusik auf Jungfräulichkeit (vgl. u. a. Edler 1997, S. 164), wenngleich sich diese primär auf die Tatsache zu beziehen scheint, dass es sich um den ersten Druck dieser Gattung in England handelte. In der Sammlung selbst dominieren männliche Widmungsträger (vgl. Parthenia, 2, 3, 6, 7, 8, 18). 424 Vgl. Melville 1683, S. 49: Dieser Besuch mag allerdings auch ein politisches Ziel gehabt haben, denn Elizabeth zeigte Melville, dass sie in ihrem Schlafzimmer ein Bildnis seiner Königin – Mary Queen of Scots – hatte. 425 Vgl. Anfang des vorliegenden Kapitels. 426 Stone 1984, S. 344.
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ten und im 16. Jh. in aristokratischen Kreisen populären Schriften Elyots, Aschams und Castigliones rezipierte und dass seine Musikvorstellungen auch dadurch geprägt wurden: Nicht nur, dass er diese Schriften – und auch die ersten beiden Autoren persönlich – am Hofe hätte kennen lernen können, sondern dass sowohl er als auch seine Frau Elizabeth Bacon mit dem Übersetzer von Castigliones Cortegiano, Sir Thomas Hoby (1530–1566), familial verbunden waren: Die Ehefrau Hobys und die Schwiegermutter von Sir Henrys Sohn Henry II. waren Schwestern, Töchter des Sir Anthony Cooke (1504–1576), des einstigen Tutors Edwards VI. (1537/1547– 1553)427; eine andere Tochter Cookes war sogar die zweite Frau Sir Nicholas Bacons, Stiefmutter von Elizabeth Bacon („Ladye Nevell“)428 und Mutter von Sir Francis Bacon. Dabei ist bedeutend, dass der Castiglione-Übersetzer Sir Thomas Hoby gleichzeitig auch als Musikkenner und Besitzer einer Reihe italienischer Musikbücher überliefert ist. Seine Übersetzung der musikalischen Fachterminologie Castigliones gilt als gelungener als die französische Castiglione-Übersetzung aus der gleichen Epoche429. Auch weitere Verbindungen zwischen der Musikbeschäftigung und der Castiglione-Rezeption sind in Sir Henrys Umfeld anzutreffen: Sein musikalischer Freund Sir William More of Loseley etwa hatte die französische Ausgabe des Hofmann besessen, noch bevor die erste englische Übersetzung Sir Thomas Hobys (1561) erschien430. Darüber hinaus war Sir Henry Neville, wie bereits ausgeführt, mit Sir Henry Sidney befreundet, dessen Sohn, der Poet Philip Sidney, als englische Inkarnation des Idealbilds höÀscher Aristokratie Castigliones galt431. Dadurch waren im Umfeld Sir Henry Nevilles Castigliones Adelsideale und der aristokratische Musikbezug eng miteinander verbunden. Für den Musikbezug Sir Henrys könnte auch von Relevanz gewesen sein, dass er einen Teil der Regentschaft der katholischen Königin Mary Tudor in Italien verbrachte. Belegt ist insbesondere sein Aufenthalt in Padua432, einer Stadt, in welche musikalische Engländer aus aristokratischen Kreisen, wie etwa Richard Pace, der einstige Staatssekretär Heinrichs VIII., zum Studium geschickt worden waren433. Obwohl über den Italien-Aufenthalt Sir Henrys keine genauen Angaben vorliegen, ist es wahrscheinlich, dass sein Musikbezug durch den Aufenthalt in Italien geprägt wurde. Der sowohl mit „Ladye Nevell“ als auch mit William Byrd im Kontakt stehende Komponist und Musiktheoretiker Thomas Morley434 beklagt in seinem Musiktraktat den Mangel an „maecenates“ für die von ihm so genannte „grave mu427 Vgl. hierzu COKAYNE, Bd. 11, S. 282. 428 Die vierte Tochter Cookes heiratete den mächtigen Staatssekretär William Cecil, Lord Burghley; vgl. u. a. James/Rubinstein 2005, S. 53, 84 f. 429 Vgl. hierzu Burke 1995, S. 82 sowie Kemp 1976, S. 361. 430 Auch Byrds Widmungsträger Sir Christopher Hatton besaß nachweislich die französische Ausgabe des Buches: Vgl. hierzu Burke 1995, S. 79; zur Musikalität Sir William Mores s. u. 431 Vgl. Unterkapitel 2.6.3. 432 Vgl. HC, Bd. III, 124. 433 Pace, der als Page beim Bischof von Winchester, Thomas Langton, gedient hatte, war durch sein musikalisches Talent aufgefallen und wurde vom Bischof „in Italiam ad Patauinum gymnasium“ gesendet. Vgl. Pace 1967, S. 38 sowie Helms 1998, S. 221. 434 Vgl. Kapitel 2.3, 3.3 und 5.1.
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sicke“ (in diesem Kontext sind polyphone Motetten gemeint) und bringt die vermeintliche Trivialisierung der Musik mit der großen Begeisterung der Engländer – offenbar sind die „maecenates“ gemeint – für „whatsoeuer cometh from beyond the seas, and speciallie from Italie“435 in Verbindung. Sir Henrys Interesse für literale weltliche Musik könnte daher eine ihrer Quellen in seinem Italien-Aufenthalt gehabt haben. Die in MLNB stark akzentuierte Verbindung zwischen Heraldik und Musik436 ist auch ein wichtiger Hinweis auf die Musikvorstellungen Sir Henrys. Diese Verbindung war im aristokratischen Musikleben unter den Tudors keineswegs unüblich: Sowohl das Königshaus als auch der Adel Englands hatten sich seit dem Mittelalter der heraldic minstrels bedient: Diese trugen vor allem zeremonielle Musik auf Blechblasinstrumenten und Trommeln vor, um die Ankunft wichtiger Persönlichkeiten anzukündigen437. Die Tätigkeit der heraldic minstrels wurde im 15. und frühen 16. Jh. noch intensiviert. Suzanne Westfall bringt – wohl mit Recht – diese Intensivierung des Hofzeremoniells mit der Befriedung und Stabilisierung des Landes unter den Tudors in Verbindung, die ein hohes Maß an zeremoniellen Tätigkeiten erlaubten, wenn nicht geradezu erforderten438. Möglicherweise hat Sir Henrys Anbringung einer komplexen heraldischen Komposition auf ein Musikmanuskript mit seiner Rezeption des frühen Tudor-Zeremoniells zu tun, das er als HöÁing und Patenkind Heinrichs VIII. in seiner Jugend miterlebte, so dass das Wappen aus MLNB als eine Art literalisierte Form der rituellen Ankündigung seiner Präsenz durch einen heraldic minstrel aufgefasst werden kann439. Eine andere Art der Verbindung zwischen Heraldik und Musik bestand in der Epoche auch in der von Martin Staehelin untersuchten Gattung der „Wappenmotette“: eine Art Huldigungsmotette, die nicht nur heraldische Symbole in Motettenmanuskripten, sondern auch einen verbalen und musikalischen Bezug zu den bildhaften Inhalten der Wappen umfasste440. Diese Motettengattung war insbesondere im Italien des späten 15. und 16. Jh. vertreten441, wobei eine starke Präsenz der Heraldik auch außerhalb der inhaltlich darauf bezogenen Wappenmotetten belegt ist442. Es ist daher durchaus denkbar, dass Sir Henry Neville die in MLNB stark reÁektierte Verbindung von Heraldik und Musik seinem Italienaufenthalt während der Regentschaft Marys zu verdanken hatte.
435 Morley 1597/1937, S. 179. Vgl. Kapitel 3.3. Der EinÁuss der kontinentalen Grand Tour auf englische Musikpatrone wurde – ohne Bezug zum Umkreis von Sir Henry und Lady Neville – von Price (1981) untersucht. 436 Vgl. Kapitel 2.2 und 2.3. 437 Vgl. Westfall 1990, S. 64 f. 438 Ebd., S. 66. 439 Zum diesem Themenkomplex s. auch Kapitel 3.3 der vorliegenden Studie. 440 Vgl. Staehelin 1992. 441 Allerdings war sie auch in Deutschland vorhanden (vgl. Staehelin 1992, S. 218 f.). 442 Vgl. Sherr 1977, 1985 und 1986 sowie Llorens 1986; Eine interessante Verbindung von Musik und Heraldik in England des 16. Jh. ist auf Intarsien in Hardwick Hall zu Ànden: Vgl. Collins 1976.
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Über die Musikpatronage und -ausübung in Sir Henrys Familienkreis ist kaum etwas überliefert443. Von Sir Henrys Vater, Sir Edward Neville, ist jedoch bekannt, dass er ein guter Sänger mit der Vorliebe für „merry songs“ war444. Darin stand er dem Vorbild des aristokratischen Musizierens aus Aschams Toxophilus nahe, in welchem, wie bereits betont, der Gesang im Prozess der Männererziehung höher als das Instrumentenspiel eingestuft war445. In der Tat ist das Wenige, was über Edward Nevilles Selbstdarstellung gefunden werden konnte, in vollem Einklang mit den Idealen der Ritterlichkeit der henricianischen Epoche: Er war Adliger aus uralter Familie, aktiver Soldat, engagierter und populärer Teilnehmer an ritterlichen Tournieren und ein guter Sänger mit durchaus säkularem Geschmack446. Demgegenüber gehört die Musikpatronage der mit den Nevilles verwandten und – wie im Rahmen dieser Studie nachgewiesen werden konnte447 – mit MLNB untrennbar verbundenen Familie Petre zu den bekanntesten Beispielen der Förderung von Musik im England der Tudor-Ära. Das gilt nicht nur für die geistliche Musik für den römischen Ritus, der in Ingatestone Hall und Thorndon Hall, den Landsitzen der Petres in Essex heimlich praktiziert wurde448, sondern auch für die Musik für Tasteninstrumente. So ist etwa bekannt, dass die Petres noch zu Zeiten des Familiengründers Sir William Petre I., im Jahr 1548, als William Byrd erst 8 Jahre alt war, ein Virginal besaßen449. Die Musikpatronage der Petres, insbesondere ihr Verhältnis zu William Byrd, ist bereits ausführlich besprochen worden, unter anderem von Frederic George Emmison, David Price, Philipp Brett, David Mateer, John Harley und Kerry McCarthy, so dass hier auf die Arbeiten dieser Forscher verwiesen werden kann450. Etwas ausführlicher seien hier die vom Verfasser ermittelten Briefe Sir William Mores of Loseley behandelt, die über den Musikbezug dieses in die regionale Rechtsprechung involvierten englischen Ritters berichten. Die Dokumente sind für diese Studie insofern von Relevanz, als sie, neben den Dokumenten über die Familie Petre, die einzigen fassbaren Belege über eine Beschäftigung mit Musik von jemandem sind, der mit der Familie Neville of Billingbear in ständigem Kontakt stand. Sir Henry Neville und Sir William More haben einen intensiven Briefwech443 David Price und in neuerer Zeit Lynn Hulse haben anhand von Fallstudien auf die Intensivierung der aristokratischen Patronage für die schriftliche Musik unter den Tudors hingewiesen. Allerdings gehörten die meisten der von ihnen untersuchten Familien nicht zur unmittelbaren Umgebung Sir Henrys. Prices Vermutungen über Sir Henry selbst sind zum Teil unbegründet (vgl. Kapitel 2.4). 444 Hawkyard 2004, S. 489. 445 Vgl. Unterkapitel 2.6.3. 446 Vgl. Hawkyard 2004, S. 489. 447 Vgl. Kapitel 2.4. 448 Sir John Petre war auch der Widmungsträger von Gradualia II. William Byrds (vgl. Kapitel 2.4). Zu diesem Themenkomplex vgl. insbesondere Kerry McCarthys aktuelle Studie (McCarthy 2007). 449 Vgl. Emmison 1961, S. 210. 450 Vgl ebd., S. 210–216, Brett 2007, S. 201–211, Mateer 1998 passim, Price 1981, S. 84–91, Harley 1997 passim, McCarthy 2007, passim.
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sel geführt451, darüber hinaus waren ihre Häuser in London benachbart452. In der Korrespondenz Sir William Mores kommt die gehobene Position der Musik – und insbesondere der Musik für Tasteninstrumente – als Faktor der aristokratischen Identitätsbildung im elisabethanischen England deutlich zum Ausdruck. Ein außerordentlicher, in Sir Williams Korrespondenz belegter Vorfall verdient es, im Kontext dieser Studie beschrieben zu werden: Sir William More wurde im Jahr 1569 von Sir Nicholas Bacon – dem Lord-Großsiegelbewahrer Englands und Vater von „Ladye Nevell“ – mit der Lösung eines rechtlichen Streites zwischen Thomas Copley (1532–1584), einem untitulierten gentry-Angehörigen, und einem Bauern aus Kent betraut453. Thomas Copley schreibt in dieser Angelegenheit an Sir William More und bittet um dessen Gunst, gleichzeitig sein eigenes Wohlwollen Sir William gegenüber versichernd. Zusammen mit seinem Brief schickt Copley Sir William More als Geschenk ausgerechnet Noten von italienischen Liedern für Laute und Virginal für Mores Sohn und Tochter454: Ein Geschenk, das offensichtlich dazu diente, More positiv einzustimmen. Ob Thomas Copley, dessen Interesse für Musik auch anderweitig belegt ist455, hierbei von Sir Williams Begeisterung für Musik wusste oder ob er die Musik generell als ein standesgemäßes Mittel zur Besänftigung von Amtspersonen aus der Aristokratie betrachtete, ist unbekannt. Jedenfalls wird durch den geschilderten Vorfall die Anerkennung der hohen Position der Musik in der aristokratischen Gesellschaft um Sir Henry Neville deutlich reÁektiert. Ein weiteres Dokument, das von der Beschäftigung mit Musik im Umkreis Sir Henry Nevilles berichtet, ist ein Brief des College-Tutors von Sir William Mores Sohn George aus dem Corpus Christi College in Oxford: Der Tutor George Mores bot auch Virginal- und Gesangsunterricht an und tauschte sich darüber brieÁich mit Sir William aus456. Auch in einem zu Lebzeiten Mores erstellten Inventar seines Hauses sind Spuren seiner Beschäftigung mit Musik zu Ànden: Sir William besaß „a payre of virgenals“, außerdem hatte er in seinem privaten Rückzugsbereich – „in myne owne closette“ – ein „booke of songs“ und ein „boke of Instruments“457. Sir Henrys bereits erwähnter Freund Sir John Thynne, der Erbauer von Longleat, ist zwar als engagierter und innovativer Architekt überliefert458, nicht aber als großer Musikpatron. Es gibt auch keine Hinweise auf aktives Musizieren in der Familie Thynne selbst. Die Musiker pÁegten, in Fortsetzung der mittelalterlichen
451 Archiviert in SHC unter LM/COR/3 1552–1600. Die Loseley-Papiere gehören zu den größten Sammlungen einer gentry-Familie der Epoche (vgl. Robison 2004, S. 34). 452 Das geht aus einem Brief von William Paulet, Marquess of Winchester, an M. Finkley vom 24. August 1566 hervor: SHC LM/COR/3/61. 453 Vgl. SHC 5. Juli 1569. 454 Vgl. SHC 17. August 1569. 455 CSP dom., 1580–1625, Bd. 27, Nr. 55; vgl. Gravies 2004, S. 359. 456 Vgl. SHC Brief des Tutors William Cole an Sir William More vom 25. Juni 1570. 457 SHC LM 1109 undatiert (ca. 1556); Helms 1998, S. 438, zitiert (unter Berufung auf Evans 1855, S. 288, 290–292) die Angaben aus dem Inventar, nicht jedoch die oben behandelten Briefe. 458 Vgl. etwa Aslet/Powers 1986, S. 68.
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Tradition, zu Weihnachten in Thynnes großes Herrenhaus zu kommen459. Sir John Thynne war dennoch Steward der hochmusikalischen Seymours, der Familie des Duke of Somerset, des Protektors Englands unter dem minderjährigen Edward VI. Nach dem Fall des Protektors wurde Sir Henry Nevilles Freund Sir John Thynne zu einer bedeutenden Persönlichkeit für den Sohn des Protektors, Edward Seymour, den 7. Earl of Hertford, dessen intensive Musikpatronage dokumentiert ist und von David Price untersucht wurde460. Dass seine beiden Söhne Virginalunterricht genossen hatten, wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits referiert461. Darüber hinaus ist auch eine Begebenheit aus dem Jahr 1591 überliefert, bei welcher Lord Hertford Königin Elizabeth mit Consortmusik von „six Musitions“ mit großem Erfolg unterhalten hatte. Eine von diesem Consort aufgeführte Pavane stammte dabei von Byrds Schüler Thomas Morley. Ausgerechnet dieser Empfang mit Musik gilt als der positive Wendepunkt in Hertfords Karriere462. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich Sir Henry Neville als Mitglied des Hofes und als Sohn eines musikalischen Hofmanns mit durchaus weltlichem Geschmack sowie als Verwandter der musikalischen Familie Petre of Writtle, Bekannter und Nachbar Sir William Mores sowie Freund Sir John Thynnes der PrestigePosition der – insbesondere weltlichen – Musik in der Gesellschaft der elisabethanischen Aristokratie bewusst war: Sir Henrys Bestellung eines prachtvollen und mit ungewöhnlich detaillierter heraldischer Symbolik ausgestatteten Musikmanuskripts eines am Hofe tätigen Komponisten in der Handschrift eines ebenfalls am Hofe aktiven Meisterkopisten reÁektiert seine Rezeption des oben geschilderten Hofund Adelsmusiklebens unter den Tudors sowie sein Bewusstsein für die Stellung und Bedeutung der Musik im Rahmen der Felder des kulturellen und symbolischen Kapitals der elisabethanischen Aristokratie. 2.6.5 „Ladye Nevell“ revisited Der kulturelle Hintergrund von Sir Henrys Frau Elizabeth dürfte sich von dem ihres Ehemannes in einigen Punkten unterschieden haben. Es bestanden zwischen Sir Henry und Lady Neville einige in Kapitel 2.3 bereits geschilderte soziale und kulturelle Unterschiede: Sie stammte aus einer Aufsteigerfamilie, hatte selbst nicht am Hofe gelebt, war bedeutend jünger als Sir Henry und fand den Zugang zur Musik wahrscheinlich primär über die humanistische Gelehrsamkeit, die ihrem Vater – und später ihrem Halbbruder Francis Bacon – zu Macht und Ansehen verholfen hat. Das schließt selbstverständlich die Rezeption des höÀschen Musikideals und des delight-Konzeptes nicht aus, ergänzt diese aber um die Akzentuierung des Bildungsaspekts, der bei Sir Henry, wie bereits geschildert, zumindest weniger offenkundig 459 Vgl. Price 1981, S. 129. Diese Situation änderte sich, nachdem Sir Johns Sohn Thomas Longleat erbte. Dies geschah aber erst im Jahr 1604; vgl. Price 1981, S. 129–131. 460 Ebd., S. 118–129. 461 S. o., Unterkapitel 2.6.3. 462 Vgl. Price 1981, S. 126.
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war als bei seiner Frau. Die Darstellung von „Ladye Nevell“ in der MelinconiaPose auf dem Grabmal in Henley (Abb. 4–5) steht auch in direktem Bezug zu ihrer in Kapitel 2.3 beschriebenen Selbstdarstellung und Identitätsbildung als Gelehrte. Der Melancholie-Bezug der Musik in Robert Burtons The Anatomy of Melancholy (1621) wurde bereits thematisiert463. Burton wendet sich dabei sowohl an Männer als auch an Frauen und trägt anscheinend dazu bei, den Typus der virtuosa, der adligen Universalgelehrten, zu entwickeln, ohne allerdings selbst diesen Begriff zu verwenden464. Der Musik wird in Burtons Werk sogar ein eigenes Unterkapitel gewidmet: Sie wird von ihm im denkbar unemphatischen Zusammenhang mit „a cup of strong drinke, mirth […] and merry company“465 zu den stärksten Mitteln gegen die Melancholie gezählt. Auch Henry Peacham d. J. bezeichnet die Musik als einen „Feind der Melancholie“466. Dass die Musik mit ihrem delight in Hofkreisen noch mehr als 50 Jahre vor Burtons Studie und Peachams Ratgeber als „Mittel“ gegen die Melancholie bewusst angewendet wurde, bestätigt das obige Zitat aus Sir James Melvilles Memoiren: Die Königin selbst soll zugegeben haben, dass sie sich musikalisch betätigte, wenn sie alleine war, „to shun melancholly“467. Auch Sir Philip Sidney, der perfekte Hofmann der elisabethanischen Epoche468, schrieb im Jahre 1580 in einem Brief an seinen Bruder in ähnlichem Sinne: „sweete brother take a delight to keepe and increase your musick, you will not beleive what a want I Ànde of it in my melancholie times“469. Darüber hinaus konnte die elisabethanische Musik für Tasteninstrumente auch selbst der Melancholie gewidmet sein: Dieser Melancholie-Bezug der Musik hat sich in Titeln zweier Virginalkompositionen John Bulls niedergeschlagen: Melancholy Pavan und Melancholy Galliard (MB XIX, 67a–b). In diesem Kontext sei auch Bulls My Grief (MB XIX/139) erwähnt: Ein Titel, welcher von der offensichtlich durch die Ideen des Humanismus bewegten, immer intensiveren Verankerung des Musikkonzeptes im seelischen Leben des Menschen Zeugnis ablegt. In William Byrds Musik für Tasteninstrumente ist dieser Bezug etwa in den Bearbeitungen von John Dowlands Lachrymae (MB XXVIII, 54) zu Ànden, einer Vorlage, die auch Giles Farnaby für Tasteninstrumente bearbeitete (MB XXIV, 16). Schließlich ist in diesem Kontext auch die von Byrd-Schüler Peter Philips (1560/1–1628) stammende Dolorosa Pavane und Galliarde (MB LXXV/15a–b) zu nennen, die eine Bearbeitung für Tasteninstrumente der ursprünglichen Consort-Version darstellt. In diesem Lichte erscheint der Bezug zwischen Lady Nevilles – selbst oder von ihrer Umgebung gewählter – Darstellungsform als Melinconia auf ihrem Grabmal einerseits und ihrer Bildungs- und Musikförderung andererseits verständlicher. Wie das delight, so ist auch die melancholie ein Element des elisabethanischen Musik463 464 465 466 467 468 469
Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. Hope-Nicolson 1973, S. 486. Burton 1992–2000, Bd. 2, S. 112–116 (Part 2, Section 2, Member 6, Subsection 3). Peacham 1962, S. 110. Vgl. Unterkapitel 2.6.3. Ebd. Zitiert nach Duncan-Jones 1990, S. 171.
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konzeptes, das die humanistische Verzahnung der Tonkunst mit der humanen Individualität und dem menschlichen Seelenleben unterstreicht. Elizabeth Neville scheint wie ihre Königin und ihr Standesgenosse Sir Philip Sidney dieses Konzept vertreten zu haben. Dietrich Helms betont, dass das Instrumentenspiel im England des 16. Jh. in Bezug auf die „Reglementierung der Freizeit der Frauen“470 aus aristokratischen Familien womöglich deshalb eine wichtigere Rolle gespielt habe als bei Männern, weil sie weniger in das tägliche Geschäftsleben eingebunden gewesen seien. Dies dürfte für Lady Neville jedoch nicht primär gegolten haben. Es ist bereits betont worden, dass ihr Lebensstil dem eines männlichen Mitglieds der elisabethanischen Gesellschaft ähnelte: Sie erledigte ihre Geschäfte selbst, verwaltete ihre Güter eigenständig, benutzte die geerbten, nicht die durch Eheschließungen erworbenen heraldischen Symbole, verfügte über eigenes ökonomisches Kapital und wirkte eigenmächtig als Stifterin von Bildungseinrichtungen471; ihre Briefe schrieb sie im Stil einer gelehrten Person und ihr Bildungsstand durfte dem eines Mannes weitgehend entsprochen haben472. Die Reglementierung der Freizeit war bei Lady Neville, geborene Bacon, daher wohl nicht der primäre Hintergrund der Beschäftigung mit Musik; wohl spielte aber ihre Identitätsbildung als Gelehrte, als eine ProtoVirtuosa aus einer Familie, die ihren gesellschaftlichen Rang, ihr symbolisches – und auch ihr ökonomisches – Kapital der Bildung verdankte, eine wichtige Rolle, was ihren Zugang zu dieser Disziplin betrifft. Der Begriff virtuoso/virtuosa, der (in der Regel aristokratische) Privatgelehrte, Forscher und Sammler (insbesondere klassisch-antiker Gegenstände) bezeichnete, wurde in England erst in der Mitte des 17. Jh. eingeführt. Laut Walter Houghton ist der Begriff erstmalig in Henry Peachams bereits zitiertem Adelsratgeber The Complete Gentleman (1622) in England belegt473. Dennoch waren die virtuosi in England auch vor der Entstehung des Begriffes präsent. Während der Aristokrat in Elyots bereits zitiertem Governour (1531) vornehmlich an praktischen, politischen und ethischen Studien interessiert sein sollte474, bewegt sich das Ideal in dem in England unter Elizabeth I. intensiv rezipierten475 Il Libro del Cortegiano (englische Übersetzung 1561) von Castiglione hin zu einer Vorstellung von aristokratischer Gelehrsamkeit als „true and principall ornament of the minde“476. Castigliones ornamentales Mitglied des Hofes muss viele Fähigkeiten besitzen, die aber prinzipiell seiner eigenen Persönlichkeits- und Identitätsbildung zugute kommen sollen und keinen praktischen oder gar ökonomischen Nutzen haben dürfen. In Worten John M. Majors: „one thing he [Castiglione] cannot tolerate in a gentleman is professionalism“477. 470 471 472 473 474 475 476 477
Helms 1998, S. 223. Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. Harley 2005a, S. 5. Vgl. Houghton 1942 sowie Major 1964, passim. Vgl. hierzu ebd., S. 57. Vgl. Unterkapitel 2.6.2. Vgl. Castiglione 1937, S. 68, 71, 81 f. Major 1964, S. 63.
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Diese aristokratische Haltung kann als unmittelbarer Vorgänger der virtuosi-Bewegung betrachtet werden. Auch Walter Houghton führt die Entwicklung des englischen aristokratischen Gelehrsamkeitskonzeptes des ausgehenden 16. und des 17. Jh., das wahrscheinlich auch „Ladye Nevell“ verinnerlicht hatte, auf die Rezeption von italienischen Idealen und Vorbildern, von welchen Castiglione das prominenteste Beispiel darstellte478, zurück. Das Virtuoso-Konzept des 16. und 17. Jh. sowie die Bildungsideale des Hofes wurden am schärfsten – und sicherlich am scharfsinnigsten – gerade von Francis Bacon, dem Halbbruder von „Ladye Nevell“, in seiner Studie The Advancement of Learning (1605) kritisiert: Dass der – in der Regel aristokratische – Privatgelehrte Bildung lediglich als private Quelle von „varietie and delight“ (!) benutze und das Wissen „for ornament and reputation“ missbrauche, bezeichnete Bacon als einen großen Fehler479. Er entlarvte den englischen gentlemen-scholar als einen Menschen, für den das Wissen ein Gebrauchsgegenstand sei, wie eine Cowch, wherupon to rest a searching and restlesse spirite; or a tarrasse for a wandring and variable minde, to walk vp and downe with a faire prospect; or a Tower of State for a proude minde to raise itself vpon480.
Dieser Gebrauch des Wissens im Dienste einer privaten Stimulierung von Neugier und delight steht im scharfen Kontrast zu dem von Bacon befürworteten Konzept des für die Menschheit nützlichen Wissenserwerbs481. Auch Castigliones geschildertes Konzept der Bildung als Ornament des Geistes ist mit Bacons Denken nicht vereinbar. Für Francis Bacon sind Bildung und Wissen nicht für den sie besitzenden Menschen oder seine unmittelbare, höÀsche Umgebung, sondern für die ganze Menschheit da: Das kulturelle Kapital existiert, um geteilt zu werden. Diese Haltung Bacons ist auch mit seinen in Kapitel 2.3 zitierten Ausführungen über den Adel verwandt. Auch die gehobene Position und Bedeutung des Adelsstandes deÀniert 478 Der Inhalt des geschilderten Virtuositätsbegriffes des 17. Jh. stellt gewissermaßen das Gegenteil des späteren Begriffes der mit Fachspezialisierung und Kapitaltransfer verbundenen Virtuosität dar (so etwa im Fall der spezialistischen „Virtuosität des Detailarbeiters“ bei Marx 1966, S. 359 ff. Zum Virtuosität-Begriff in Bezug auf Musik s. etwa Heister/Küpper 1998). Dennoch ist die musikalische Virtuosität – über welche auch in den nachfolgenden Kapiteln die Rede sein wird (s. insbesondere Kapitel 5.6) – mit den aristokratischen Konzepten des Besitzens und der Beherrschung nicht grundsätzlich unvereinbar. Der Unterschied zwischen den beiden Konzepten besteht nicht in der Tendenz, Exzellenz zu erreichen (vgl. z. B. Peachams bereits erwähnte Bezugnahme auf den Aristokraten und Musiker Gesualdo, Peacham 1962, S. 111), sondern in der Einseitigkeit der Spezialisierung, die dem geschilderten Adelshabitus fremd war, sowie in dem für den Adel inakzeptablen ökonomischen Aspekt der Virtuosität, der „unwürdigen“ Konversion des kulturellen in das ökonomische Kapital. Gesualdo, Heinrich VIII. und Moritz von Hessen, Peachams musikalische Exzellenzbeispiele (vgl. ebd.), waren von ihrer Umgebung sicherlich nicht als „Berufsmusiker“ wahrgenommen worden. 479 Vgl. Bacon 2000, S. 31. 480 Ebd., S. 31 f. 481 Ebd., S. 32, vgl. hierzu auch Houghton 1942, S. 55. Lawrence Stone hebt ebenfalls die Diskrepanz zwischen dem Bildungsideal Bacons und dem der dilettierenden virtuosi hervor (Stone 1965, S. 717).
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der Philosoph über dessen gesellschaftliche Funktion482. Sowohl der Stand als auch seine Eigenschaften sollen in der Baconschen „Proto-Sozialwissenschaft“ in ein funktionalistisches Schema integriert werden, um eine ethische Berechtigung zu erlangen. In dieser Hinsicht hat Francis Bacon die von ihm selbst durchschauten Grenzen seines Standes weit überschritten. In völligem Einklang damit steht die Tatsache, dass keine Äußerungen Bacons über die vermeintliche Gelehrsamkeit seiner Halbschwester, der Ladye Nevell, überliefert sind. Der Philosoph erwähnt sie in seinen Briefen bezeichnenderweise lediglich als eine Person, von welcher man bei Bedarf Geld leihen konnte483. Die Musik spielt in Francis Bacons The Advancement of Learning (1605)484 keine bedeutende Rolle. Seine Behandlung der Musik im Rahmen des späten Traktats Sylva Sylvarum (1627) macht jedoch deutlich, dass Bacons Interesse für Musik als einen Teil des learning im Bereich der von Bacon entscheidend geprägten, entstehenden Naturwissenschaften lagen. Bacon gibt zwar am Anfang des der Musik gewidmeten Kapitels II der Sylva Sylvarum485 an, er wolle die bereits „well pursued“ Praxis und die bisher „weakly“ entwickelte Theorie der Musik vereinen und die aktiven und die kontemplativen Aspekte dieser Disziplin miteinander verbinden486. Mit der Praxis-Vorstellung anderer Musikschriftsteller der Epoche wie Morley und Campion haben aber seine Ausführungen jedoch kaum Gemeinsamkeiten. Bacon schreibt über Aspekte der Akustik und der Kognition, über Instrumentenkunde und ein wenig auch über die „Musiktheorie“ im heutigen Sinne des Wortes in einem distanzierten Ton und im Kontext einer naturwissenschaftlichen Abhandlung487, so dass sich sein Zugang zur Disziplin von dem der anderen englischen Musikautoren der Epoche, mit der Ausnahme Robert Fludds, wesentlich unterscheidet488. Die geschilderte, für die elitären Stände charakteristische Bindung der Musik und Musiktheorie an die Humandisziplinen des traditionellen Triviums ist bei Bacon bedeutend weniger ausgeprägt als bei den meisten seiner bereits zitierten Zeitgenossen und Vorgänger, den im Rahmen dieses Kapitels zitierten Adelspädagogen. Sogar die musikalisch-rhetorischen Figuren und ihr EinÁuss auf die Affektbildung sowie die Wirkung der Musik auf die menschliche Seele werden im Vergleich zu anderen Aspekten der Musikabhandlung Bacons knapp und eher beiläuÀg 482 483 484 485 486
Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. Bacon 1861–74, Bd. IV, S. 40. Vgl. hierzu Harley 2005a, S. 7, Anm. 49. Bacon 2000. Enthalten in Bacon 1864, S. 141–483. Bacon 1864, Century II., S. 15 (latein: Bacon 1661a, Centurio II, S. 74); ein Teil des der Musik gewidmeten zweiten Kapitels von Sylva Sylvarum liegt auch in deutscher Übersetzung vor (Bacon 1986). 487 Vgl. Bacon 1864, Century II. (S. 225–266); latein: Bacon 1661a, Centurio II. (S. 74–120); s. auch Century III. (S. 267–305), latein: Bacon 1661a, Centurio III. (S. 121–166): Das letztere Kapitel bezieht sich allerdings vorwiegend auf Aspekte der Akustik. 488 Ausführlicher zu Bacons Musikkonzept, den Parallelen zu Fludd, Mersenne und Kircher sowie zu weiteren Entwicklungen bei Robert Hook und Isaac Newton in Gouk 1999, passim. Vgl. auch Cahn 1986 sowie Cooper 1986. Bacons Beitrag zur Musiktheoriebildung im 17. Jh. könnte Gegenstand eines künftigen Forschungsprojektes werden.
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dargestellt: Auch dort bezieht er sich auf die naturwissenschaftlichen Aspekte der Affekte489. Die Behandlung der einzelnen Musikinstrumente – das Virginal (lat.: Clavecymbala) mitinbegriffen490 – steht ebenfalls im Zusammenhang mit akustischen Experimenten491. Von den in diesem Kapitel geschilderten aristokratischen Vorstellungen, die die Musik zwischen einem sinnlichen, das delight evozierenden pastime (Henry VIII., Sidney, Peacham, Rowley), einem für das andere Geschlecht interessanten „Ornament des Geistes“ (Castiglione) und einer therapeutischen Maßnahme gegen die Melancholie (Elizabeth I., Sidney, Burton, Peacham) positionieren, unterscheidet sich Bacons Musikkonzept erheblich. Er gehört dem im 17. Jh. sich intensiv entfaltenden Diskurs der Naturdisziplinen, der magia naturalis an492, nicht dem humanistisch-höÀschen Musikdiskurs, dessen Genealogie in die Bereiche des im Rahmen dieses Kapitels geschilderten Poesie-Rhetorik-Diskurses führt. Nicht Castiglione und Philip Sidney sind Bacons Geistesverwandte, sondern Mersenne und Kircher493. Die Musikvorstellungen des gelehrten Halbbruders der „Ladye Nevell“ und Mitbegründers des modernen Naturwissenschaftsbegriffes494 können vor diesem Hintergrund auch als Reaktion auf den aristokratischen Musikbegriff seiner sozialen Umgebung – einschließlich seiner Halbschwester und ihrer Ehemänner – verstanden werden. – Joseph Kerman und Walter WoodÀll hatten in ihren Studien über die Musik im England des 16. Jh. betont, dass der Umfang der aristokratischen Musikpatronage, zumal für die verschriftlichte Musik, im vorelisabethanischen – und im Vergleich zu Italien auch im elisabethanischen – England relativ gering gewesen sei495. Dieser Umstand wurde von WoodÀll damit in Verbindung gebracht, dass die englische Aristokratie, etwa im Unterschied zur italienischen, traditionell intensiv mit lokaler Verwaltung und Rechtsprechung betraut und sogar unter den Tudors nicht so fest an 489 Vgl. Bacon 1864, Century II., Abschnitte 113, (S. 230) und 114 (S. 231 f); latein: Bacon 1661a, Centurio II., Abschnitte 113 (S. 80 f.) und 114 (S. 81 f.); zu Bacons Affektenlehre s. Pauley 1995, Luppi 1993 und 1994. 490 Vgl. Bacon 1864, Century II., Abschnitt 114 (S. 246); latein: Bacon 1661a, Centurio II / Abschnitt 147 (S. 99). 491 Der Ton Bacons kann durch den lateinischen Titel des betreffenden Kapitels exempliÀziert werden: Experimenta varia spectantia magnitudinem & exilitatem sonorum, extinctionem velobtusionem, ebd., vor Abschnitt 138 (96); (englischer Titel: Experiments in consort touching the magnitude and exility and damps of sound, Bacon 1864, Century II: vor Abschnitt 138, S. 244). 492 Zu diesem Themenkomplex in Bezug auf Musik s. Gouk 1999, passim. Zur Rolle der Musik in der utopischen Gesellschaftsvision von Bacons New Atlantis (1627) s. Hoft 1991/1992. 493 Vgl. Referenzen oben. 494 Zu diesem Themenbereich s. etwa den aktuellen Forschungsbeitrag von Dennis Desroches (2006) sowie den anlässlich des vierhundertjährigen Jubiläums von Advancement of Learning (1605) herausgegebenen Essayband von Solomon und Martin (2005). 495 Vgl. Kerman 1962, S. 243 und WoodÀll 1967, S. 65.
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2. Love’s Labour Constructed
den Hof gebunden gewesen sei496. Diese Denkrichtung haben David Price und in letzter Zeit Lynn Hulse durch ihre zu Anfang des vorliegenden Kapitels genannten Untersuchungen der englischen adligen Musikpatronage der elisabethanischen Epoche relativiert497. Auch erscheinen die wertenden Vergleiche zwischen Italien und England in den zitierten Studien Kermans und WoodÀlls – eine Reaktion auf das traditionelle englische Idealisieren des elisabethanischen Zeitalters als „‚Golden Age‘ of domestic music-making“498 – heute etwas überpointiert. Die Frage ist nicht, ob sich die adlige Musikpatronage im elisabethanischen England mit der aristokratischen Musikpatronage in Italien messen lassen kann, sondern ob sie im Vergleich zu den vergangenen Epochen der eigenen, englischen Geschichte intensiver war: eine Frage, die angesichts von Prices und Hulses Studien sowie der Untersuchungen der vorliegenden Arbeit positiv zu beantworten ist. Dass dabei die Rezeption der italienischen Hofkultur und Adelsideale, die Intensivierung der Reisetätigkeit auf dem Kontinent, die Präsenz von italienischen Musikern in England sowie die Stärkung der zentralistischen Hofstruktur unter den Tudors mit der Intensivierung der adligen Musikpatronage für die literale Instrumentalmusik zusammenhängen, scheint festzustehen. Dieses konnte auch anhand der vorausgegangenen Untersuchungen über das Umfeld der Entstehung von MLNB bestätigt werden. Für die aristokratische Förderung der literalisierten Musik war die elisabethanische und nicht die henricianische Epoche ausschlaggebend. Mit Recht betont auch Helms, dass sich der englische Adel an der „Produktion von Noten“ in der Epoche Heinrichs VIII. – nur eine Generation vor Elizabeth I. – nicht beteiligte499: Die bei weitem wichtigsten Träger der musikalischen Literalität in England waren bis tief ins 16. Jh. hinein der Klerus und eine überschaubare Anzahl von Berufsmusikern gewesen. Das änderte sich unter Elizabeth I.: Sowohl die Mitglieder des alten Adels, wie Sir Henry Neville, als auch die der neuen Aristokratie, wie die Bacons, die Mores und die Petres, förderten die schriftliche Musik immer intensiver. Dabei ist durch die im Rahmen dieser Studie untersuchten Fälle der neuen adligen Familien deutlich geworden, dass sich in der Regel erst die zweite Aufsteigergeneration der gentry aktiv an der Musikpatronage beteiligte, während die erste Generation noch an der primären Akkumulierung des ökonomischen und sozialen Kapitals arbeiten musste: Sir John Petre war als Musikförderer bei weitem aktiver als sein Vater, der Staatssekretär Sir William Petre I.500; Sir Thomas Thynne war aktiver als sein Vater Sir John501; Elizabeth Bacon-Doyley-Neville-Peryam, die Widmungsträgerin Byrds und Morleys, war aktiver als ihr Vater Sir Nicholas502. So war die intensivierte Musikpatronage unter Elizabeth I. zum Teil auch die Folge der unter 496 Ebd. 497 Obgleich Price das kaum als ursprüngliche Absicht seiner Arbeit erklärt; vgl. Price 1981, S. XIII. 498 Ebd. 499 Vgl. Helms 1998, S. 174. 500 Vgl. Kapitel 2.4. 501 Vgl. Unterkapitel 2.6.4. 502 Vgl. Kapitel 2.3.
2.6 For ornament und reputation? Die Nevilles, die Musik und die Gelehrsamkeit
115
Heinrich VIII. begonnenen Prozesse des gesellschaftlichen Aufstiegs von gebildeten Freibauern und Bürgern. Diese Veränderungen schlugen sich auch in der Entstehung zahlreicher Tastenmusikmanuskripte und in dem etwas späteren Beginn der Drucktechnik503 für die stark aristokratisch konnotierte Tastenmusik nieder. Die im Rahmen dieser Arbeit geschilderten, miteinander verzahnten Umstände: das Ende der Rosenkriege, der wachsende EinÁuss des Königshofes, die dramatisch verringerte Machtstellung der Kirche, die Entstehung neuer weltlicher Elitegruppen, die Versuche der alten Aristokratie, ihre Positionen zu behalten, der Aufstieg der neuen gentry, die Rezeption von italienischen aristokratischen Idealen und die Entfaltung eines durchaus säkularen und sensuellen delight-Konzeptes sowie die Entwicklung eines neuen Typs von aristokratischen Privatgelehrten trugen alle dazu bei, dass die weltliche Musik für Tasteninstrumente einen immer höheren Stellenwert bekam und immer intensiver literalisiert wurde. Die Entstehung von MLNB reÁektiert diese Entwicklungen auf besonders deutliche Weise. In dem Kontrast zwischen der Orgel als Instrument (Instrument auf beiden Bedeutungsebenen!) zur Begleitung der kirchlichen und öffentlichen, von Kircheneliten geführten Geistestätigkeit einerseits und Virginal und Regal als Instrumente einer säkularen, sensuellen und privaten – und vor allem selbst durchgeführten – Meditation der weltlichen Elite andererseits spiegeln sich die Veränderungen im sozialen und konfessionellen Gefüge im England des 16. Jh. wider. Am Beispiel von MLNB wird die Übernahme der Führung im kulturellen Feld des Landes durch die säkulare nobility und gentry, von welcher in den Kapiteln 2.3 bis 2.5 die Rede war, am Beispiel Musik deutlich. Unter dem Patronat eines langjährigen Hofmanns aus uraltem Hochadel mit Vorliebe für heraldische Symbolik und Falkenjagd sowie unter der Widmungsträgerschaft einer Frau aus einer der gelehrten Aufsteigerfamilien Englands entstand eine optisch wie musikalisch singuläre Sammlung der Musik für Tasteninstrumente, die ausschließlich Kompositionen eines von seinen Zeitgenossen hoch gelobten sowie offenbar sich selbst als gentry-Mitglied fühlenden elisabethanischen Hofkomponisten504 umfasst. MLNB legt ein Zeugnis davon ab, dass die säkulare Elite Englands das kulturelle Kapital, das sie in ihren Händen hielt – und dazu gehörte auch die literalisierte Instrumentalmusik –, in seinen eigenen Formen und Gattungen weiter produzieren ließ. Von dem ersten Druck für Tasteninstrumente in England – der Sammlung Parthenia505, die einem denkbar hoch stehenden säkularen Aristokratenpaar506 gewidmet war – ist My Ladye Nevells Booke daher nur einen kleinen Schritt entfernt gewesen.
503 504 505 506
Etwa 1611, s. Parthenia. Vgl. Kapitel 2.5. S. Abkürzungsverzeichnis. Prinzessin Elizabeth Stuart, Tochter von König Jakob I., und Kurfürst Friedrich von der Pfalz. Vgl. Parthenia selbst (s. Abkürzungsverzeichnis).
3. LORDS, LADIES, LITERACY: MY LADYE NEVELLS BOOKE UND DIE MUSIKALISCHE SCHRIFTLICHKEIT Die verbale Literalität stellte in England der frühen Neuzeit ein essentielles Charakteristikum des herrschenden Standes dar. In den Worten Nigel Wheales war sie sowohl ein „functional skill“ als auch eine Kompetenz, die als „social marker“ gedient habe1. Dadurch stellte die verbale Schriftlichkeit einen bedeutenden Aspekt des kulturellen Kapitals und zugleich auch einen der Grundsteine des symbolischen Kapitals dar. Die funktionale verbale Literalität war dabei grundsätzlich auch Angehörigen der mittleren Stände zugänglich, die die Schreibfähigkeit für die Berufsausübung benötigten. Demgegenüber diente die musikalische Literalität nicht als „functional skill“ im Sinne Wheales2: Umso deutlicher war ihre Position als „social marker“, die bereits in Kapitel 2.6 hervorgehoben wurde. Thomas Morley hat in seinem 1597 veröffentlichten Musiktraktat unmissverständlich auf den Bezug zwischen musikalischer Literalität und „guter Erziehung“ – also der Zugehörigkeit zur elisabethanischen „Elite“ – hingewiesen3. Auch aus der Sicht Henry Peachams, des Autors von The Complete Gentleman (1622), stellte die musikalische Literalität einen Bestandteil der aristokratischen Bildung4 dar. Der Adel besaß, sammelte und schenkte sich Dokumente musikalischer Schriftlichkeit5 und demonstrierte dadurch deren gehobene Position in der elisabethanischen Kultur. Die musikalische Literalität war auch insofern ein essentieller Aspekt der aristokratischen Kultur, als sie für den Adel keine „nützliche“ Kompetenz darstellte und somit noch mehr als die verbale Literalität als „Ornament des Geistes“ im Sinne Castigliones6 verstanden werden konnte. Während das Verhältnis zwischen der englischen Elitenbildung des 16. Jh. und der Entfaltung von verbaler Schriftlichkeit bereits ausführlich untersucht worden ist7, wurde die Entfaltung der musikalischen Literalität in diesem Kontext weniger berücksichtigt. Der Zusammenhang zwischen den Veränderungen in der Musikpatronage im England des 16. Jh. sowie dem Aufstieg der gentry einerseits und den musikalischen Literalisierungsprozessen andererseits wurde in der bisherigen Forschung vor allem von David Price8 hervorgehoben: Die Intensivierung der musika1 2 3 4 5 6 7 8
Wheale 1999, S. 23. Außer natürlich im relativ begrenzten Kreis der Berufsmusiker. Vgl. Unterkapitel 2.6.2. Vgl. Peacham 1962, S. 112; mit Originalorthographie in Smith 2001, S. 260; vgl. Unterkapitel 2.6.2. Mehrere Beispiele hierfür wurden in Kapitel 2.6 angeführt. Vgl. hierzu Kapitel 2.6. In letzter Zeit u. a. in Goldberg 1990, Wheale 1999, Fox 2000, Brooks 2000, Beal/Ioppolo 2007. Zu späteren Entwicklungen vgl. etwa Hudson 1994. Vgl. Price 1981 passim.
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3. Lords, Ladies, Literacy
lischen Literalität im Bereich der weltlichen Musik als Resultat der adligen Patronage bildet gewissermaßen den Tenor von Prices Untersuchungen. Jedoch blieben sie, wie auch alle anderen zitierten Studien zum Patronatswesen in der englischen Musik9, auf der Ebene der sozial- und Kulturgeschichtsschreibung – mit dem musikalischen Material wurden sie kaum in Verbindung gebracht. Dabei kann der Prozess der Verschriftlichung der weltlichen Musik – insbesondere der stark aristokratisch konnotierten Musik für Tasteninstrumente – gerade anhand von Ergänzungen und Korrekturen in MLNB untersucht werden10. Zu diesem Zweck sollen diese Eintragungen vorerst im Hinblick auf ihren Charakter im Kontext des musikalischen Materials beschrieben werden (Kapitel 3.1). Nachfolgend werden die bisherigen Ansätze der Byrd-Forschung in Bezug auf die Autorschaft der Korrekturen in MLNB diskutiert (Kapitel 3.2), um diese dann im Kontext der intensivierten Literalisierungsprozesse im elisabethanischen England zu untersuchen (Kapitel 3.3). 3.1 THE SECOND HAND. ERGÄNZUNGEN UND KORREKTUREN IN MY LADYE NEVELLS BOOKE Mit den nachträglichen Eintragungen in MLNB haben sich bisher mehrere ByrdForscher Áüchtig auseinandergesetzt, wobei ein besonderes Forschungsinteresse der Autorschaft von diesen Korrekturen galt. Da kein einziges Exemplar von William Byrds eigener Notenschrift überliefert ist und keine historischen Dokumente seine Tätigkeit als Korrektor von MLNB bestätigen können, basierten alle bisherigen Autorschaftszuweisungen in Bezug auf die Korrekturen in der Sammlung auf stilkritischen Argumenten11. So hat, wie bereits geschildert12, Margaret Glyn versucht, die Korrekturen aus MLNB kompositionstechnisch zu beschreiben und sie anhand dieser Beschreibungen auf William Byrd zurückzuführen. Sie betonte dabei die vermeintliche kompositionstechnische Einzigartigkeit der Korrekturen in MLNB mit einem erkennbar emphatischen Autorschaftskonzept im Hintergrund: „It is seldom a matter of correcting what is entirely wrong, but of inserting subtle little improvements that only Byrd’s brain would have thought of“13. Diese These akzeptierten grundsätzlich auch spätere Byrd-Forscher wie Oliver Neighbour, David Hunter und John Harley14. Nur Edmund Fellowes war in dieser Frage anderer Meinung: Zunächst vertrat er den Standpunkt, dass zumindest einige 9 10
11 12 13 14
Etwa WoodÀll 1953 und 1967, Boyd 1962, Price 1976 und 1981, Hulse 1991, 1996 und 2002. In der bisherigen Forschung wurden mehrere Aspekte des Manuskriptes MLNB bereits ausführlich beschrieben. Diese Aspekte – etwa der physische Zustand und das Aussehen des Manuskriptes, die Eigenschaften der Handschrift des Kopisten John Baldwin, die Qualität des Papiers – sind nicht das Thema der vorliegenden Studie. Vgl. die in Kapitel 1.2 besprochene Literatur, insbesondere Gaskin 1992 sowie Harley 2005a. Zu diesem Themenkomplex s. das folgende Kapitel. Vgl. Kapitel 1.2. Glyn 1934, S. 39. Vgl. Neighbour 1977, S. 21; Hunter 1992, S. 174; Harley 1997, S. 405 f.
3.1 The Second Hand. Ergänzungen und Korrekturen in My Ladye Nevells Booke
119
Korrekturen in MLNB von Byrd stammen dürften15, später lehnte er die Idee ab, dass Byrd Baldwins Handschrift verbessert hatte16. Der ausführlichste bisherige Forschungsbeitrag in Bezug auf Korrekturen in MLNB stammt von Alan Brown, der einige von ihnen in seinem Vortrag für die Royal Musical Association im Jahr 1968 unter dem Gesichtspunkt ihrer Relevanz für die von ihm herausgegebene Gesamtausgabe von Byrds Musik für Tasteninstrumente (MB XXVII und XXVIII) beschrieb17. Auch Brown thematisierte die Frage der Autorschaft von Korrekturen in MLNB, maß aber dem Problem keine große Wichtigkeit bei. Sowohl seine als auch alle anderen genannten Untersuchungen zu Korrekturen in MLNB blieben knapp und Áüchtig. Eine systematische Darstellung und Analyse der Änderungen im Manuskript im Kontext der musikalischen Literalisierungsprozesse im elisabethanischen England sowie eine genauere Überprüfung der Stichhaltigkeit der Autorschaftszuweisung Glyns blieben aus18. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen wurde erstmalig eine vollständige Liste der Hinzufügungen und Änderungen in MLNB erstellt. In dieser im Anhang der vorliegenden Studie sich beÀndenden Liste19 werden diese Korrekturen aus der Sicht der zeitgenössischen Kompositionstechnik beschrieben und interpretiert. Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, werden, wie in der Einleitung bereits angekündigt20, sowohl in dem vorliegenden Kapitel als auch in der Korrekturenliste im Anhang die Notenwerte mit ihren heutigen Namen bezeichnet. Das steht durchaus im Einklang mit der musikalischen Terminologie im elisabethanischen England: Thomas Morley etwa benutzte in seinem Musiktraktat die Namen der Notenwerte, die im englischsprachigen Raum auch heute noch benutzt werden21. Am gleichen Prinzip wird auch in Alan Browns Ausgabe von Byrds Musik für Tasteninstrumente (MB XXVII und XXVIII, 1969 und 1971), Hilda Andrews’ Ausgabe von MLNB (1926) sowie in der Sekundärliteratur über William Byrd festgehalten. Aus den gleichen Gründen wird hier auch der Begriff „Takt“ benutzt, um die im Manuskript selbst markierten metrischen Einheiten zu bezeichnen. Die Korrekturen und Ergänzungen in MLNB sind nicht so einheitlich, wie man aus der bisherigen Forschung schließen könnte: Es sind im Manuskript nachträgliche Einträge in mindestens zwei verschiedenen Handschriften zu Ànden, von denen die eine, in welcher die meisten Korrekturen geschrieben sind, eindeutig dem späten 16. oder frühen 17. Jahrhundert zuzuordnen ist22. Dafür sprechen die Noten15 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. Fellowes 1936, S. 203. Vgl. Fellowes 1949. Vgl. Brown 1968/69. Der Grund dafür ist wahrscheinlich der, dass sich das Manuskript bis zum Jahr 2006 im Privatbesitz befand und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit schwer zugänglich war. Anhang B zu Teil 3. Vgl. Kapitel 1.4. Vgl. Morley 1597/1937, S. 9. Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf eigenen Untersuchungen am Manuskript, die 2007 in BL, London stattgefunden haben. In Bezug auf Baldwins Handschrift knüpfen sie an Hilary Gaskins Arbeit (Gaskin 1992) an. Zu allgemeinen musikphilologischen Fragen vgl. etwa Feder 1982 und 1987.
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3. Lords, Ladies, Literacy
form, die Formen des Wächter-Zeichens, der Akzidentien und der Zahlen im Manuskript. All diese Formen sind mit der Handschrift des Schreibers John Baldwin, von dem der Haupttext von MLNB stammt, vergleichbar. Trotz aller Ähnlichkeiten unterscheidet sich die Handschrift des Hauptkorrektors dennoch von der Handschrift Baldwins durch mehrere persönliche Merkmale: die Länge der Züge (z. B. bei den Ornamenten), einen sehr freien und energischen Duktus (bei hohlen Notenköpfen besonders gut erkennbar), Andeutungen von Haltebögen (anstelle der durchgezogenen Haltebögen John Baldwins) und eine unbestimmte Form von ausgefüllten Notenköpfen (im Gegensatz zu Baldwins präziser Kaligraphie)23. Die Handschrift des Hauptkorrektors ist in drei verschiedenen Tintenfarben anzutreffen: braungrünlich, schwarz und hellgrün. Diese Tintentypen sind in den im Anhang reproduzierten Beispielen gut erkennbar. Wesentliche Differenzen im Duktus der Handschrift des Hauptkorrektors sind innerhalb des Manuskripts nicht feststellbar und die Benutzung von den drei genannten Tintenarten ist zumeist in geschlossenen Einheiten festzustellen, so dass es nahe liegend erscheint, dass ein und derselbe Hauptkorrektor in drei Phasen drei verschiedene Tinten benutzt hatte. Darüber hinaus sind in MLNB auch Änderungen in mindestens noch einer dritten Handschrift zu Ànden, die allem Anschein nach späteren Datums ist. Dafür sprechen die längliche Form des Violinschlüssels (anstelle der rundlichen von Baldwin und der anderen in MLNB belegten Schrift aus dem 16. Jh.), die Form der Noten und die durchgezogenen Taktstriche. Es sind nur wenige von diesen späteren Veränderungen im Manuskript vorhanden, so dass, wenn kein gegenteiliger Hinweis vorliegt, alle im Anhang dieser Studie aufgelisteten Veränderungen aus der zeitgenössischen Hand des Erstkorrektors stammen. Eine musiktheoretisch und kompositionstechnisch orientierte Lektüre der im Anhang aufgelisteten Änderungen in MLNB führt dazu, zwei Hauptkategorien von Ergänzungen festzustellen: Die erste Kategorie bilden Korrekturen von evidenten Fehlern und Hinzufügungen von offensichtlich ausgelassen Elementen im Material, während die zweite Gruppe Ergänzungen und Veränderungen komplexeren Charakters umfasst, die nicht als kompositionstechnisch notwendig zu bezeichnen sind. Dabei ist der Übergang zwischen diesen beiden Gruppen Áießend. Da sich die Musiktheoriebildung im 16. Jh. hauptsächlich auf die Vokalmusik bezog, ist die Grenze zwischen Norm und Ausnahme in der Instrumentalmusik nicht streng zu ziehen. Sind etwa Ergänzungen der Stimmführung, die keine offensichtlichen Fehler korrigieren, kompositionstechnisch notwendig gewesen oder stellen sie ein individuelles Charakteristikum des Komponierenden dar24? Eine konstante Stimmenzahl ist sicherlich kein Imperativ der Instrumentalmusik, dennoch scheint sie in Byrds Kompositionen für Tasteninstrumente zu dominieren. Da hier also die Grenze zwischen Norm und individueller Praxis nicht eindeutig zu ziehen ist und die Systematisierung der Korrekturen lediglich der Übersichtlichkeit zu dienen hat, wird im Folgenden pragmatisch vorgegangen: Diejenigen Änderungen, die die offensichtlich vergessenen Töne ergänzen – etwa die Ultimae von Diskantklauseln oder Bestandteile 23 24
Vgl. Abb. 8–32 in Anhang A zu Teil 3. Zur Frage des „Individualstils“ vgl. Kapitel 3.2.
3.1 The Second Hand. Ergänzungen und Korrekturen in My Ladye Nevells Booke
121
eines vorgegebenen Ground-Basses25 – werden zur ersten Gruppe gezählt, alle anderen Veränderungen zur zweiten. Ähnlich wurde auch bei Korrekturen im Bereich der Akzidentiensetzung vorgegangen. 3.1.1 Akzidentien26 Unter den „notwendigen“ Korrekturen in MLNB sind Hinzufügungen konventioneller Akzidentien, weitgehend im Sinne der Literalisierung von „Musica-ÀctaRegeln“27, besonders häuÀg anzutreffen. Dazu gehören vor allem Kreuze vor den Penultimae der Diskantklauseln. Als Beispiel sei eine zu a'' führende Diskantklausel mit ausgeschriebenen Diminutionen auf dem Ton gis'', dem subsemitonium modi, angeführt (Dritte Pavane, Folio 69r, Abb. 8). Der Korrektor fügte dort ein Kreuz vor dem ersten g' der Diminutionen hinzu. Nicht nur bei der Clausula primaria achtete der Korrektor auf die Akzidentiensetzung: Auch bei anderen Klauseln wurden die fehlenden Kreuze sorgfältig hinzugefügt. Ein Beispiel dafür ist in einem der variierten Abschnitte von Hunt’s up bei der Clausula secundaria der Komposition anzutreffen (Abb. 9)28. HäuÀg fügte der Korrektor auch Akzidentien hinzu, die, im kompositionstechnischen Kontext betrachtet, offenbar dazu dienen sollten, die „korrekte“ Klanglichkeit zu produzieren: Es handelt sich hierbei um Kreuze, durch welche die konventionelle große Terz bei Schlussklängen erreicht wurde. Ein Beispiel für eine solche Akzidentiensetzung ist bei dem ersten Schlussklang von Abschnitt A' der Ersten Pavane anzutreffen (Abb. 25)29. Ein anderes Beispiel der klanglich motivierten Akzidentiensetzung ist in Hunt’s up zu Ànden (Abb. 10): In T. 37 wurde das Kreuz vor dem f in der linken Hand hinzugefügt, offenbar um einen Klang zu erreichen, der den Ton Às'' im Diskant auf geeignete Weise begleiten sollte. Eine solche durch nachträglich hinzugefügte Kreuze determinierte Klanglichkeit ist auch am Ende von Galliard Jig vorzuÀnden. Bei der vorletzten Clausula primaria (T. 60) der Komposition ist der diminuierte Schlussklang durch das Hinzufügen eines Kreuzes vor dem Ton c'' in den Diminutionen „verdurt“ worden (Abb. 11). Seltener als das Kreuz wurde in MLNB das „b“ nachträglich hinzugefügt. Ein solcher Fall ist in Sellinger’s Round (T. 163) zu Ànden: Dort wurde ein „b“ in der linken Hand hinzugefügt, um einen „B-Dur“-Klang zu erreichen (Abb. 12). In Hunt’s up wurde in T. 48 in der linken Hand ein „b“ – zum Ton a hinführend – hinzugefügt, offenbar um der melodischen Regel una nota super la semper est canen25 26 27 28 29
Zu Grounds vgl. Kapitel 5.4. Es sei darauf hingewiesen, dass die folgenden Unterkapitel ausschließlich der Beschreibung der kompositionstechnischen Relevanz von Korrekturen in MLNB gewidmet sind. Ihre Interpretation Àndet in den Kapiteln 3.2 und 3.3 statt. Im heutigen Sinne des Begriffs: Zur Begriffsbestimmung s. etwa Hirshberg/Urquhart 1997, Sp. 673 f. und passim. Zur Moduskonzeption in Hunt’s up s. u., Unterkapitel 5.4.1. Zum formalen Aufbau von Pavanen und Galliarden vgl. Kapitel 5.3.
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3. Lords, Ladies, Literacy
dum fa Rechnung zu tragen (s. Abb. 10). Ähnliche Beispiele sind auch in den Diminutionen in T. 111 derselben Komposition festzustellen (s. Abb. 9), sowie in T. 149 und 159 (Folio 51v) von Hunt’s up. 3.1.2 Fehlende und falsche Töne Hinzufügungen von offensichtlich fehlenden Tönen können auch am Beispiel von Hunt’s up betrachtet werden. So wurde in T. 36 der ansonsten konsequent durchgezogene und an dieser Stelle offensichtlich vergessene Ground-Bass ergänzt (Anfang von Folio 47r, Abb. 10). Vergleichbare Korrekturen sind auch in T. 90 (Folio 48v), T. 116 (Folio 49v, Abb. 9), T. 130 und 134 (Folio 50v) derselben Komposition zu sehen. Nicht nur die Bestandteile von Ground-Bässen, sondern auch andere Typen von offensichtlich fehlenden Tönen wurden vom Korrektor ergänzt: So wurde in T. 33 der Ersten Pavane ein g', die fehlende Ultima einer Diskantklausel, im Alt hinzugefügt (Abb. 13). Die gleiche Situation ist auch in T. 47 der Sechsten Pavane: Kinborough Good, Folio 82r (Abb. 16) festzustellen. Auch die offensichtlich falschen Töne wurden in MLNB korrigiert. Auf Folio 50v (Abb. 14) kann eine solche Korrektur neben mehreren anderen Korrekturtypen beobachtet werden: Im letzten Takt in der rechten Hand des oberen Systems (T. 132) wurde im Alt vorerst der Ton d' zum erwartungsgemäßen e' korrigiert. Im Anschluss wurde auch der Ton a' vorgezogen und übergebunden, um die Altstimme metrisch zu korrigieren. 3.1.3 Taktstriche, Wächter, Zahlen In dem gleichen Takt und den beiden darauf folgenden Takten von Folio 50v (Abb. 14) ist noch ein Typ von „notwendigen“ Korrekturen anzutreffen: Die Hinzufügung von Taktstrichen an „metrisch korrekten“ Stellen (T. 132–134). Auch vergessene Doppelstriche, welche die formalen Einheiten markieren sollen, fügte der Korrektor von MLNB regelmäßig hinzu. Ein Beispiel dafür ist zwischen den Abschnitten AA' und BB' in der Fünften Pavane zu Ànden (T. 23, Abb. 15). Die fehlenden Wächter-Zeichen wurden in MLNB regelmäßig vom Korrektor hinzugefügt. In Abb. 16 (Folio 82r, Sechste Pavane: Kinborough Good) ist nicht nur ein nachträglich hinzugefügter Wächter am Ende der Altlinie im zweiten System zu sehen, sondern es wurden Wächter auch an Stellen, an welchen die Altlinie aus einem System in das andere übergeht, hinzugefügt. Manche der auf Variationsprinzip basierenden Kompositionen in MLNB haben Zahlen an den Anfängen der einzelnen Abschnitte, die vom Notenschreiber Baldwin stammen. Gelegentlich hatte sich aber Baldwin in der Nummerierung verrechnet: Solche Fehler wurden dann vom Korrektor sorgfältig verbessert (etwa in Walsingham, Folio 136v). An einer Stelle hatte sich auch der Korrektor verrechnet und hat daraufhin seine eigene Eintragung korrigiert (Folio 140r, Abb. 17).
3.1 The Second Hand. Ergänzungen und Korrekturen in My Ladye Nevells Booke
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Neben den genannten nachträglichen Eintragungen, die grundsätzlich als notwendige Korrekturen von offensichtlich Falschem oder Hinzufügungen von evident Fehlendem bezeichnet werden können, sind, wie bereits angedeutet, in MLNB auch Ergänzungen zu Ànden, deren Charakter komplexer zu sein scheint. Diese Veränderungen sind in MLNB ebenfalls mit solch einer Regelmäßigkeit durchgeführt worden, dass sie nach eingehender analytischer Betrachtung genauso selbstverständlich erscheinen wie die bereits beschriebenen „notwendigen“ Korrekturen. Sie wurden hier sinngemäß in drei Gruppen gegliedert: Hinzufügung von Ornamenten, Hinzufügung von Tönen und „komplexe Veränderungen“. 3.1.4 Ornamente Die Ornamente – allesamt als double strokes notiert30 – bilden den größten Teil der nachträglichen Einträge in MLNB. Sie können nach ihrer Position in drei Gruppen unterteilt werden, wobei Überschneidungen häuÀg sind: Ornamente im Rahmen von Klauselbildungen, Ornamente mit „motivischem“ Wert und Ornamente auf der Klangterz. Nachträglich hinzugefügte Ornamente im Rahmen der diminuierten Antepenultimae und Penultimae von Klauselbildungen sind in MLNB besonders häuÀg anzutreffen: Das gilt sowohl für Diskant- als auch für Tenorklauseln, wobei das Hinzufügen von Ornamenten bei den Ersteren häuÀger vorkommt. Ein typisches Beispiel, bei welchem in ein und derselben Klauselbildung sowohl die Tenor- als auch die Diskantklausel nachträglich mit Ornamenten versehen wurden, Àndet man in der Hexachordfantasie Ut, re, mi (s. Abb. 18)31. Die charakteristischen Ornamente im Rahmen von Schlussbildungen Ànden nicht nur in Normklauseln statt, sondern auch in den zur Gattung Clausula simplex (ohne Synkopendissonanz) gehörenden, sowie bei „plagalen Schlüssen“, die Morley zu den „middle closes“ zählt32. Eine Verzierung der Penultima einer als Clausula simplex angelegten Diskantklausel ist in Abb. 19 zu sehen. Ein Beispiel für nachträglich hinzugefügte Ornamente im Rahmen von „plagalen“ Klauselbildungen ist in der Vierten Pavane vorzuÀnden (Abb. 20): Dabei ist ebenfalls die Penultima verziert worden. Die Ornamente wurden in MLNB bei den meisten Imitationssätzen vom Hauptkorrektor als Bestandteil des Soggetto behandelt: Die ausgelassenen Ornamente fügte der Korrektor wiederholt hinzu. Abb. 21 und 22 zeigen eine Reihe solch nach30
31 32
Trotz wörtlicher Übereinstimmung ist dieser Begriff nicht als „Doppelschlag“ zu übersetzen: Es handelt sich bei dem Terminus „double stroke“ lediglich um die zwei Striche, aus denen das Zeichen besteht, nicht um eine bestimmte Vortragsart. Über die genaue Art der Ausführung liegen keine Informationen vor. Vgl. hierzu in Bezug auf MLNB Hunter 1992, S. 174 f., sowie in Bezug auf die englische Musik des 16. Jh. allgemein Wulstan 1985, S. 135–140 sowie Hunter 1990 und 1996. Zu dieser Gattung vgl. Kapitel 5.2. Vgl. hierzu Cooper 1989, S. 237.
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3. Lords, Ladies, Literacy
träglich hinzugefügter Ornamente im Rahmen eines Imitationssatzes am Ende von Ut, re, mi. Dabei verzieren manche der hinzugefügten Ornamente zugleich die diminuierten Antepenultimae von Diskantklauseln. Auch außerhalb von Imitationssätzen scheinen Ornamente für den Korrektor von MLNB „motivischen“33 Wert zu besitzen, da er sie bei „Motivwiederholungen“ innerhalb ein und derselben Stimme in den Satz integriert. So ist am Ende der Zweiten Galliarde die melodische Gliederung und die Herausbildung eines kurzen „Motivs“ durch die nachträglich hinzugefügte Ornamentik deutlicher geworden (Abb. 23). Diese Verzierungsform ist auch außerhalb von Schlussformeln zu Ànden. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür, bei welchem die Ornamentsetzung eine so prominente Rolle spielt, dass sogar eine optisch erkennbare, „motivische“ Figur entsteht, ist in Hunt’s up anzutreffen (Abb. 24). Eine Position, bei welcher in MLNB Ornamente häuÀg nachträglich hinzugefügt wurden, ist die Terz der Klänge. Zum Teil deckt sich diese Gruppe von Verzierungen mit der erstgenannten Gruppe von hinzugefügten Ornamenten, etwa wenn die Penultima einer Diskantklausel zugleich die Terz des Penultima-Klanges darstellt, was bei Byrd in der Regel der Fall ist34. Die Klangterz ist nicht nur in der Kombination mit der Klauselbildung oder der charakteristischen „Motivik“ ein häuÀg verzierter Ton. Sie wird auch außerhalb dieser Zusammenhänge wiederholt mit Ornamenten versehen. Besonders häuÀg sind dabei hinzugefügte Ornamente auf der Terz von Schlussklängen (s. Abb. 25 und 32). 3.1.5 Ergänzungen der Klanglichkeit und der Stimmführung Bei der Hinzufügung von Tönen handelt es sich in MLNB häuÀg um eine klangliche Bereicherung, insbesondere bei vorher fehlender Terz: Der Korrektor scheint auf das Prinzip der Vollständigkeit der Klänge geachtet zu haben, das in der englischen Musiktheorie von Thomas Morley kodiÀziert worden ist35. In T. 24 der Vierten Galliarde sind beispielsweise alle Töne der Innenstimmen nachträglich hinzugefügt worden. Dabei handelt es sich um eine rein klangliche Bereicherung, nicht um notwendige Ergänzungen der Stimmführung (Abb. 26). Dagegen bilden manche von diesen klanglichen Bereicherungen zugleich Ergänzungen innerhalb eines komplexen Stimmführungsgefüges. Der Anfang der Vierten Pavane sei als ein Beispiel für solche Korrekturen angeführt (Abb. 27). Die Ergänzungen im Bereich der Stimmführung sind auch dort festzustellen, wo sie keine Bedeutung für die Vervollständigung der Klanglichkeit haben: Zwei 33
34 35
Selbstverständlich wirkt dieser Terminus im Kontext der Musik des 16. Jh. anachronistisch. Angesichts der Kürze und des Kontexts der gegebenen „Motive“ passte aber weder der italienische Terminus „Soggetto“ noch der historische englische Terminus „Point“, sondern nur der spätneuzeitliche Motivbegriff zur Situation im Material (vgl. etwa Schilling-Wang/Kühn 1998). Die Clausula tenorizans in fundamento ist in Byrds Tastenmusik selten. Vgl. Morley 1597/1937, S. 143.
3.1 The Second Hand. Ergänzungen und Korrekturen in My Ladye Nevells Booke
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solche Korrekturen sind in der Zweiten Galliarde und der Dritten Pavane vorzuÀnden. In der Zweiten Galliarde (Abb. 28) wurde in einem strengen vierstimmigen Satz ein e' hinzugefügt, anscheinend um den Verlauf der Altstimme deutlich zu machen. Der Ton wäre an dieser Stelle klanglich nicht notwendig gewesen, da sich ein e bereits im Bass befunden hatte und der Satz auch ohne diese Hinzufügung vollstimmig gewesen wäre. Der hinzugefügte Ton bildet darüber hinaus sogar Oktavparallelen zur Bassstimme. Eine bezeichnende Korrektur der Stimmführung ist in der Dritten Pavane (Abb. 29) zu Ànden: Dort wurde eine bereits vorhandene Oberstimme zur Altstimme transformiert, indem die Diskantstimme ergänzt und die Notenstriche nach unten geschrieben wurden, wodurch man eine einwandfreie Vierstimmigkeit erzielte. 3.1.6 Komplexe Veränderungen Mehrere Veränderungen in MLNB sind von ausgesprochen komplexer Natur und bedürfen individueller Beschreibungen. Am Ende des Ground-Satzes Hunt’s up sind zwei solche Korrekturen vorzuÀnden: In T. 170 wird der Rhythmus eines Soggetto verändert, wohl um eine unvorbereitete Septime zu vermeiden und in T. 171 wird der vorletzte Ton des sonst sehr konsequent durchgeführten Ground-Basses verändert, um eine Schlusswirkung („plagaler Schluss“) zu erreichen (Abb. 30). Am Ende der Vierten Pavane beÀndet sich der wohl am intensivsten veränderte Abschnitt von MLNB (s. Abb. 31): An zwei Stellen wurden hier virtuose Terzparallelen zu einstimmigen Linien korrigiert (T. 46 und 48); dabei wurde auch die Schlusswendung durch Hinzufügung eines Transitus modiÀziert. Einer weiteren komplexen Korrektur begegnet man in einer Sechzehntelpassage in der Dritten Pavane (Abb. 32): Die Passage beginnt im Alt mit dem Ton gis' (sie verziert einen „E-Dur“-Klang) und hat in der ersten Version ein d'' als zweiten metrisch und melodisch markanten Eckton gehabt. Diese Melodieführung wurde dann dadurch verändert, dass der Ton d'' zu einem in Bezug auf den klangeigenen Ausgangston gis' querständigen Hochton g'' korrigiert wurde. Das ursprüngliche d'' war zwar als unvorbereitete Septime durch einen Terzsprung eingeführt worden, der Vorgang war aber wegen der Kürze der Notenwerte und des liegenden Basstones nicht so auffällig gewesen, um die Korrektur deswegen durchführen zu müssen: Es handelt sich also anscheinend um eine gewollte melodische Wendung. Womöglich haben gerade diese zuletzt genannten, kompositionstechnisch besonders interessant erscheinenden Korrekturen in MLNB Margaret Glyn zu ihrer eingangs zitierten These über die Autorschaft der Korrekturen bewegt, die auch von der späteren Byrd-Forschung übernommen wurde. Im folgenden Kapitel der vorliegenden Studie soll überprüft werden, ob diese These noch als haltbar betrachtet werden kann.
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3. Lords, Ladies, Literacy
3.2 BY BYRD OR NOT BY BYRD? ZUR FRAGE DER AUTORSCHAFT VON KORREKTUREN IN MY LADYE NEVELLS BOOKE Die Frage nach der Autorschaft von Ergänzungen in MLNB gehört selbst nicht zu den zentralen Anliegen der vorliegenden Studie. Angesichts der am Anfang von Kapitel 3.1 zitierten Ansätze der bisherigen englischen Musikforschung, die sich für die Korrekturen in MLNB vorwiegend im Lichte der Autorschaftsfrage interessierte und die Korrekturen in MLNB in der Regel dem Komponisten William Byrd zuschrieb, seien hier jedoch einige Ausführungen über diesen Aspekt von MLNB im Sinne einer Antwort auf die bisherige Nevell-Forschung geboten. Diese Ausführungen sollen auch einen Beitrag zum besseren Verstehen der in Kapitel 3.3 zu besprechenden Bedeutung der Korrekturen in MLNB im Kontext der musikalischen Literalisierungsprozesse leisten. 3.2.1 „Musicions-autours-makers“ und ihr „skill“. Autorschaftskonzept und Individualstilbegriff im Umfeld William Byrds Die im vorausgegangenen Kapitel beschriebenen nachträglichen Eintragungen in MLNB weisen unmissverständlich auf einen Korrektor hin, der nicht nur musikkundig war, sondern auch die gattungsbezogene Kompositionstechnik der Epoche beherrscht hat. Die mit deutlich erkennbarer Systematik hinzugefügten Ornamente, die sorgfältige Beachtung der Stimmführung und der Klangvollständigkeit weisen alle darauf hin. Auch die komplexeren kompositionstechnischen Eingriffe sprechen dafür, dass die Korrekturen in MLNB nicht von einem Musikliebhaber, sondern von einem musicus doctus stammen. Reichen diese Beobachtungen aber aus, um den Korrektor als William Byrd zu identiÀzieren, wie es von Margaret Glyn und den anderen in Kapitel 3.1 genannten Forschern getan wurde36? Die Stilistik37 gilt in der deutschsprachigen Musikwissenschaft inzwischen selbst bei der Autorschaftszuweisung ganzer Kompositionen als ein nicht unproblematisches, oder zumindest nicht ausreichendes Mittel: Noch in den Dreißigerjahren betonte Jens Peter Larsen38 die Probleme einer ausschließlich an stilistischen Merkmalen orientierten Autorschaftszuweisung. Er vertrat die Meinung, dass die Stilkritik keine sichere 36 37
38
Es sind keine Notenautographen Byrds überliefert, so dass die Möglichkeit eines graphologischen Vergleichs entfällt. Auch der Begriff „Stil“ selbst scheint nicht eindeutig bestimmbar zu sein. Da er jedoch in diesem Kapitel ohnehin im Rahmen der Kritik des von der bisherigen Byrd-Forschung postulierten Individualstilkonzeptes benutzt wird, wird auf weitere Erörterung der allgemeinen Problematik des musikalischen Stilbegriffes verzichtet. Ein Überblick über die Thematik ist etwa in Seidel/Leisinger 1998 zu Ànden. Es kann im Rahmen dieses Kapitels nur auf einige wenige Forscher hingewiesen werden, die sich mit dem Themenkomplex der stilkritischen Autorschaftszuweisung befasst haben. Einen guten und aktuellen Überblick über die bisherigen Forschungsarbeiten in diesem Bereich bietet Calella 2003, II.
3.2 By Byrd or not by Byrd?
127
Grundlage zur Bestimmung einer Autorschaft sei, sondern nur zusätzlich zur Quellenkritik benutzt werden könne39. Auch Ludwig Finscher wies im Kontext der „Entstehung des Komponisten“40 in Bezug auf Philippe de Vitry auf die Gefahr hin, durch stilkritische Autorschaftsbestimmung im Zirkel zu argumentieren. Auf die Probleme der Autorschaftszuweisung aufgrund von stilistischen Eigenschaften haben in Bezug auf die Musik des 15. und 16. Jh. in letzter Zeit auch Stanley Boorman und Bernhard Janz hingewiesen41. Zuletzt wurde die Thematik in Michele Calellas Habilitationsschrift, der jüngsten Studie über die Konzepte der musikalischen Autorschaft in der frühen Neuzeit, treffend diskutiert: Calella demonstrierte eindrücklich, vor allem am Beispiel Josquins, den Konstruktcharakter des spätneuzeitlichen Individualstilbegriffs42. Unter anderem sei laut Calella ein Forschungsansatz zu kritisieren, der „die Idee des ‚Individualstils‘ als etwas Starres und Konstantes“ voraussetze43. Genau dieser Gefahr gilt es im Folgenden auszuweichen. Vielmehr wird hier, wie Calella in Anlehnung an die literaturwissenschaftliche integrative Stiltheorie Bernd Spillners44 anregt, der Kompositionsstil als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses betrachtet: ein Ansatz, der in der bisherigen Nevell-Forschung gefehlt hat, da die Forscher kein Bewusstsein dafür an den Tag gelegt haben, dass ihre Rezeption des „Byrd-Stils“ keine neutrale Tatsachenfeststellung ist, sondern aus ihren subjektiven Reaktionen auf die Kompositionstechnik Byrds besteht. Auf den konkreten Fall bezogen: Die vermeintlichen „subtle little improvements that only Byrd’s brain would have thought of“, über die Margaret Glyn in Bezug auf MLNB schreibt45 und auf welche sich die spätere Byrd-Forschung beruft46, könnten sich durchaus als „stilistisch ‚unmarkiert‘“ erweisen47. Es könnte sich herausstellen, dass das – aus heutiger Sicht – „kompositorisch Interessante“ an ihnen zum Standardvokabular der Epoche und nicht zum „Individualstil“ eines Komponisten gehört. Dabei sind zwei grundsätzliche Problemfelder zu beobachten: Zum einen sind alle im vorausgegangenen Kapitel zitierten Forscher, die sich mit den Korrekturen in MLNB beschäftigt haben, von einem „Individualstil“ Byrds ausgegangen. Auch wenn Veränderungen innerhalb dieses Stiles festgestellt wurden – wie etwa von Oliver Neighbour – so wurden sie immer als Teil eines subjektbasierten „Byrd-Stils“ geschildert48. Das zweite Problem ist, dass bisher auch nicht 39 40 41 42
43 44 45 46 47 48
Vgl. Larsen 1939, S. 17. Vgl. Finscher 2003a, S. 17; der Beitrag war erstmals 1975 veröffentlicht worden. Vgl. Boorman 1986, S. 155 f. sowie Janz 1995, passim. Vgl. Calella 2003, II.2; Calella beruft sich bei der Dekonstruktion des „Josquin-Individualstils“ auch auf die Forschungsarbeiten Rifkins (1991) und Benthems (1989). In diesem Sinne beschäftigt er sich auch mit Lindmayr-Brandls Infragestellen der Autorschaft von einigen Werken Ockeghems aufgrund stilistischer Kriterien (vgl. Lindmayr-Brandl 1999 und 1999a). Calella 2003, II.2. Spillner 1996, S. 246–248. Glyn 1934, S. 39. Vgl. Kapitel 3.1. Vgl. Spillner 1996, S. 248. Vgl. Neighbour 1978, passim; vgl. beispielsweise einige seiner Ausführungen über die Pavanen auf S. 196 f.
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3. Lords, Ladies, Literacy
versucht worden ist, den postulierten „Individualstil“ Byrds in den Kontext der Kompositionsprozesse der Zeit zu stellen. Diesen Desideraten will nun das vorliegende Kapitel in Bezug auf die Korrekturen in MLNB versuchen nachzugehen. Die generelle Vorsicht bei der stilkritischen Autorschaftszuweisung muss umso mehr gelten, wenn es sich, wie im Falle von MLNB, nicht um ganze Kompositionen, sondern lediglich um Korrekturen handelt, von denen viele – wie bereits demonstriert – doch nicht von großer Individualität geprägt zu sein scheinen49. Der spätneuzeitliche Autorbegriff – etwa mit dem mythologisierten Bild Beethovens, seiner Skizzenhefte und durchkorrigierten Manuskripte als Vorbild – kann nicht ohne weiteres auf ein Manuskript des 16. Jh. übertragen werden. Es ist zwar belegt, dass auch Komponisten des 16. Jh. gelegentlich Korrekturen in ihren Manuskripten vorgenommen hatten50, dennoch sind gerade von Byrd keine vergleichbaren Praktiken überliefert. Andererseits ist es, wie auch Calella in seinen jüngsten Untersuchungen demonstriert, richtig vorauszusetzen, dass im späten 16. und frühen 17. Jh. der Autorbegriff im Bereich der Musikproduktion bereits existierte und insbesondere mit der Entwicklung des Notendrucks expandierte51. Auch die englischen Quellen der elisabethanischen Ära bestätigen diese These. Gerade in MLNB kann Byrds Autorposition im kodikologischen Sinne erahnt werden: Sein Name, gelegentlich verziert durch den Titel maister (etwa Folio 142v, Walsingham), ist nach jeder einzelnen der 42 im Manuskript enthaltenen Kompositionen kaligraphisch ausgeschrieben, wobei wiederholt auf die Professionalität des Komponisten hingewiesen wird, dadurch gleichzeitig Byrds Kompetenz als ausführender Musiker unterstreichend: „mr. w. birde. gentleman of her maiesties chappell“ (Folio 43r, Barley Break), „mr. w. birde. organiste of her maiesties chappell“ (Folio 45v, The Galliard Jig, Abb. 11) „mr. w. birde. gentleman of the chappell“ (Folio 89r, Siebte Galliarde), „mr. w. birde of the chappell“ (Folio 92r, Achte Galliarde sowie Folio 105r, Neunte Galliarde) sowie „mr. w. birde. gentleman of the queens chappell“ (Folio 192v, Voluntary). Diese Anspielungen auf Byrds professionellen Status verstärken den Eindruck, dass es John Baldwins Intention war, die gehobene, auktoriale Funktion Byrds im Prozess der Entstehung der von ihm kopierten Musik möglichst deutlich hervorzuheben. Am Ende der Vierten Galliarde in MLNB wird Byrds Au(k)torität zusätzlich durch die Bezeichnung „mr. w. birde. homo memorabilis“ (Folio 75r) unterstrichen, während die Neunte Pavane: „Passing Measures“ sogar zweimal Byrds Namen trägt: Nicht nur an ihrem Ende wird die Komposition Byrd zugeschrieben, wie es in der elisabethanischen Epoche allgemein üblich war52; auch an ihrem Anfang wird 49 50 51 52
Vgl. Kapitel 3.1. sowie die kommentierte Liste der Korrekturen (Anhang B zu Teil 3). Das Phänomen des Korrigierens in Manuskripten und Skizzen der Musik zwischen 1450 und 1600 wurde insbesondere von Jessie Ann Owens besprochen (vgl. Owens 1997, u. a. S. 99 f., 81, 124, 131, 155, 163, 259 f., 296, 306–309). Vgl. Calella 2003, II.3; zur „Entstehung des Komponisten“ in Bezug auf frühere Epochen s. etwa Finschers berühmten Aufsatz zu diesbezüglichen Entwicklungen des Trecento (Finscher 2003a). Vgl. etwa Alan Browns Kritische Berichte in MB XXVII und XXVIII.
3.2 By Byrd or not by Byrd?
129
Byrds Autorschaft hervorgehoben, indem die Komposition als „the passinge measures pauian of mr. w. birdes“ (Folio 92r) genannt wird. Schließlich ist auch Baldwins Datierung „Ànis. mr. w. birde. anno. dm. 1590“ am Ende von Woods so Wild (Folio 113r) im Kontext der Betrachtungen über das Autorschaftskonzept in Byrds Umfeld relevant. Da es sich hierbei sicherlich nicht um das Datum des Kopierens53 handelt, sondern höchstwahrscheinlich um das Jahr, in welchem William Byrd diese Variationsreihe komponiert hatte54, wird auch durch diese Angabe Byrds Autorposition hervorgehoben. Auf gleiche Art kann auch die Eintragung des Kopisten von FWVB55 bei der Pavane MB XXVII/29a (Erste Pavane in MLNB) betrachtet werden. Der Kopist nennt die Pavane ausdrücklich „the Àrst that ever hee made“56 und bestätigt durch das auf diese Weise demonstrierte Interesse an der Chronologie von Byrds Schaffen sowie durch das Verb „make“ Byrds Autorposition. Der Kopist von MLNB, Chorsänger und Komponist John Baldwin hat den berühmten Komponisten seiner Zeit ein Gedicht gewidmet, in welchem ihre Autorenrolle deutlich hervorsticht57: Er nennt die musicions des 16. Jh. gleichzeitig ausdrücklich autours und demonstriert seine Auffassung des Begriffs, indem er auch den englischen Ausdruck makers benutzt, was die Urheberfunktion seines Autorbegriffes unterstreicht und ihn dadurch dem spätneuzeitlichen Konzept nahe stehend erscheinen lässt: A storehousse of treasure this booke may be saide Of songes most excelente and the beste that is made, Collected and chosen out of the best autours Both strainger and English borne, which bee the best makers And skilfulst in musicke, the scyence to sett forthe As herein you shall Ànde if you will speake the truthe58.
Thomas Morley nennt in seiner Plaine and Easie Introduction into Practicall Musicke (1597) sowohl die Komponisten („Practicioners“), als auch Musiktheoretiker („Such as haue written of the Art of Musicke“), auf die er sich in seinem Traktat bezieht, expressis verbis „Authors“, wobei die Bedeutung des Begriffes – ähnlich wie in dem zitierten Gedicht Baldwins – durch den Titel seiner Literaturliste erläutert wird: „Authors whose authorities be either cited or vsed in this booke“59. 53
54 55 56 57 58 59
Baldwin hat das Ende des Manuskripts auf den 11. September 1591 datiert (Folio 194v, s. Abb. 38 im Anhang zu Teil 4). Da das gesamte Manuskript aus 194 Folios besteht und die Eintragung „anno. dm. 1590“ sich auf Folio 113r beÀndet, ist es unwahrscheinlich, dass es sich um das Kopierdatum handelt, vor allem, weil das Datum nur bei dieser Komposition angegeben worden ist. Zu historischen Konzepten des Componere s. etwa Bandur 2006. Traditionell wird Francis Tregian d. J. für den Kopisten von FWVB gehalten. Diese These wurde in letzter Zeit angefochten (vgl. Thompson 2001) und dann wieder verteidigt (vgl. Smith D. 2002). Vgl. Alan Browns Kritischen Bericht, MB XXVII, S. 177. Vgl. BL MS R. M. 24.d.2, Folios IIv–IIIr, vielfach abgedruckt; hier zitiert nach Boyd 1962, S. 310–312 (leicht veränderte historische Orthographie). Zitiert nach Boyd 1962, S. 310. Morley 1597/1937, Literaturliste (ohne Seitenangabe); zu Morleys Verwendung des Autorbegriffes vgl. etwa auch ebd., S. 178. Von Interesse ist auch, dass Thomas Morley in seiner Mu-
130
3. Lords, Ladies, Literacy
Ein ähnlicher Hinweis auf die Bedeutung des Autorbegriffes im elisabethanischen England sind auch die Autorschaftsbezeichungen in der musikalischen Bearbeitungspraxis: Ein Beispiel dafür ist auch in MLNB anzutreffen, in welchem eine Komposition Byrds Hugh Aston’s Ground genannt wird, bei der höchstwahrscheinlich nur der Bass einer Komposition Astons entnommen worden war60. Ähnliches gilt in Bezug auf Byrds Bearbeitungen von Kompositionen Johnsons, Dowlands und Hardings. Byrds Bearbeitungen werden in den Manuskripten in der Regel mit dem Namen des „ursprünglichen“ Autors und dem des Bearbeiters bezeichnet61, wobei zuweilen, etwa in FWVB, eine besonders präzise Terminologie verwendet wird: „James Harding sett foorth by William Byrd“ oder „John Dowland sett foorth by William Byrd“62. Die Konstruktion des musikalischen Autorbegriffes hatte zu Byrds Zeiten in England offensichtlich schon eingesetzt: Im engsten Umfeld William Byrds und der Nevilles bezeichnete der Begriff autour oder author einen Musiker, der als maker von Kompositionen wirkte, die nur mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden durften; darüber hinaus entsprach es dem Denken der Epoche, die authoritie des Komponisten sowohl in musikalischen als auch in verbalen Texten anderer Autoren deutlich hervorzuheben. Hinsichtlich dieser Aspekte steht der elisabethanische Autorbegriff dem spätneuzeitlichen nahe. Der einzige bedeutende Unterschied scheint die Betonung der Professionalität des musicion-autour anhand seiner Kompetenz als ausführender Musiker zu sein, den man bei John Baldwin in zwei verschiedenen Quellen Ànden konnte63: Ein Bezug, der nicht überraschen dürfte, da die Komponistentätigkeit im 16. Jh. keinen autochthonen Beruf darstellte und alle bedeutenden musicions der Epoche beruÁich als aufführende Musiker arbeiteten64. Die Präsenz eines komplexen, dem spätneuzeitlichen nahe stehenden Autorbegriffes im elisabethanischen England setzt jedoch nicht automatisch die Konstruktion des musikalischen Individualstilbegriffs voraus. Laut Calellas umfangreichen, aber vorwiegend auf Kontinentaleuropa konzentrierten Untersuchungen ist der letztere Prozess in der europäischen Musikkultur des späten 16. Jh. „höchstens in Ansätzen“ belegt65. Im Falle Englands dürfte man anhand der Quellenlage davon
60 61 62 63 64 65
sikabhandlung Byrds Autorschaft gewissermaßen auf sein eigenes Buch ausweitet. Morleys Bezugnahme auf Byrd geht dabei über die übliche Berufung auf Autoritäten („Platon sagte“, „Aristoteles schrieb“) und das Verfahren der imitatio hinaus: Er behauptet vielmehr, dass viele der in seiner Abhandlung dargelegten Kompositionsprinzipien unmittelbar von William Byrd stammten (Morley 1597/1937, Widmung, ohne Seitenangabe). Es handelt sich nach Neighbour um Hugh Aston’s Maske aus OxonChCh MS 982 und 979; weitere Versionen OxonChCh MS 981 und NLS Panmure MS 10; vgl. MB XV/84 (vgl. Neighbour 1978, S. 128). S. hierzu auch Kapitel 5.4. Genaue Titel in Browns kritischen Berichten zur Gesamtausgabe von Byrds Kompositionen für Tasteninstrumente: MB XXVII, S. 172 sowie MB XXVIII, S. 194; vgl. auch Neighbour 1978, S. 121. Zitiert nach MB XXVIII, S. 194. In MLNB sowie im Komponistengedicht: Referenz s. o. S. hierzu in Bezug auf das elisabethanische England etwa Boyd 1962, Price 1981, Wulstan 1985, Harley 1997. Calella 2003, II.3.
3.2 By Byrd or not by Byrd?
131
ausgehen, dass die Konstruktion des Individualstilbegriffs im Musikdenken der Zeitgenossen William Byrds keine allzu bedeutende Rolle gespielt hat. Der Individualstilbegriff – oder ein inhaltliches Analogon – taucht im elisabethanischen Musikschrifttum nicht auf, sondern es wird bei der Herausbildung des Urteils über einen musicion und autour vielmehr die „geschickte“ (skillfull) Beherrschung einer epochen- und gattungsmäßig bestimmten Kompositionstechnik besprochen: Wenn William Byrd in John Baldwins zitiertem Musikergedicht als der herausragendste Komponist seiner Zeit gelobt wird, dann werden als seine Hauptqualitäten skill, knowledge und judgement gepriesen: Baldwin nennt Byrd „O famous man! Of skill and judgemente great profounde“ und schreibt lediglich, dass Byrds „skill and knowledge dothe excelle all at this tyme“66. Nicht nur im Falle Byrds, auch grundsätzlich ist in Baldwins Vorstellung das nicht individuell markierte skill-Konzept offensichtlich die bedeutendste Eigenschaft eines erfolgreichen musicion-autour, was am oben zitierten Anfang des Gedichts ersichtlich ist. Auch wenn Henry Peacham Byrds Kompositionen lobt und mit den italienischen Werken vergleicht, handelt es sich nicht um die Hervorhebung einer vermeintlichen Individualität, beziehungsweise „Originalität“ des Komponisten, sondern eher um eine Hierarchie in der Beherrschung der epochenmäßig bestimmten Kompositionstechnik67. Die Abwesenheit des Individualstilbegriffes und einer auf Hervorhebung subjektiver Charakteristika basierenden Werturteilsbildung im elisabethanischen Musikkonzept ist in der captatio benevolentiae am Anfang von Thomas Morleys Plaine and Easie Introduction besonders gut belegt68. Der daselbst deklarierte ByrdSchüler Morley schreibt, dass er in seinem theoretischen Denken zuerst von jenen Prinzipien ausgegangen sei, die er als Kind gelernt habe. Dann habe er diese kompositionstechnischen Grundsätze mit den Arbeiten anderer, sowohl englischer als auch ausländischer Theoretiker verglichen und in deren Schriften eine erhebliche Vielfalt (diuersitie) entdeckt, so dass er nicht habe wissen können, welche von diesen Prinzipien stimmten und welche nicht. Gegen diese Unstimmigkeiten in der Theoriebildung der Art of Musicke hob Morley bezeichnenderweise gerade die Kompositionspraxis seiner Epoche hervor: Offensichtlich suchte er in der musikalischen Praxis nicht nach kompositorischen „Individualstilen“, sondern gerade nach einer Übereinstimmung im Bereich der kompositionstechnischen praecepta. Wenn sich Morley an verschiedenen Stellen seines Traktats auf die kompositorische Autorität einzelner Komponisten beruft69, handelt es sich nicht um „individualstilspeziÀsche“ Lösungen kompositionstechnischer Probleme, sondern lediglich um erfolgreiche Beherrschung der nicht subjektiv bestimmten Kompositionsprinzipien. Obwohl der elisabethanische Autorbegriff dem spätneuzeitlichen Konzept im Sinne einer subjektbasierten, sozial anerkannten und geschützten Urheberschaft entspricht, so kann in Bezug auf die elisabethanischen Musiker offensichtlich nicht von einem bereits konstruierten „Individualstil“ gesprochen werden. Die Autor66 67 68 69
Zitiert nach Boyd 1962, S. 311. Vgl. Peacham 1622, S. 100. Vgl. Morley 1597/1937, „To the curteous Reader“, ohne Seitenangabe. Vgl. Morley 1597/1937, passim.
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3. Lords, Ladies, Literacy
schaft und die Autorität beziehen sich daher im Umfeld Byrds immer auf die konkreten Kompositionen, die sich nach den praecepta der Epoche zu richten haben, nicht aber auf das ganze „Schaffen“ und den „Stil“ eines musicion-autour. Aus diesem Grund muss festgehalten werden: Einen „Individualstil“ Byrds zu postulieren, dürfte man nur im Bewusstsein, dass es sich um ein spätneuzeitliches Konstrukt handelt. Sollte man also die These aufstellen wollen, dass ein solches Konstrukt durch Byrds Kompositionspraxis zum Teil gerechtfertigt werden kann, dann muss man sich dieser Praxis in concreto widmen. 3.2.2 No Byrd Code: Das „Geheimnis“ der Korrekturen aus My Ladye Nevells Booke Obwohl der Autor der vorliegenden Studie am Anfang seiner Forschungsarbeit die Ansichten der englischen Forschung hinsichtlich der Autorschaft von Korrekturen in MLNB zu teilen geneigt war, ist er sowohl aus genannten prinzipiellen Gründen als auch nach sorgfältiger Analyse der oben geschilderten nachträglichen Eintragungen in MLNB auf Distanz zu ihnen gegangen. Denn kaum eine von den in Kapitel 3.1 exemplarisch genannten und im Anhang vollständig aufgelisteten Korrekturen kann mit Sicherheit ausschließlich William Byrd zugeschrieben werden. Nicht nur die „notwendigen“ Verbesserungen, sondern auch die komplexeren Veränderungen, wie die geschilderte Ornamentsetzung und der intensive Klangbezug gehören zu Gattungsprinzipien der Epoche. Angesichts der Fülle der Korrekturen wird es im Rahmen der vorliegenden Studie nicht möglich sein, diese Relativierung der Subjektivität von Änderungen in MLNB von Fall zu Fall darzustellen. Zum Zweck der negativen Beweisführung, zur Demonstration, dass die Korrekturen in MLNB nicht nur für Byrd allein, sondern für eine ganze Reihe seiner Zeitgenossen charakteristisch sind, reichen aber auch die im Folgenden genannten Beispiele aus, die vorwiegend die „nicht notwendigen“70 – dadurch potentiell individuell behafteten – Korrekturen aus MLNB umfassen. Da die ersten englischen Traktate, die die Ornamentik der Tasteninstrumente behandeln, bedeutend späteren Datums als die Sammlung MLNB sind71 und die Rezeption der berühmten kontinental-europäischen Abhandlungen wie etwa Aarons Thoscanelo de la musica (1523), Agricolas Musica instrumentalis deudsch (1529), Ortiz’ Trattado (1553) oder Ammerbachs Orgel- oder Instrument Tabulatur (1571)72 durch Byrd und sein Umfeld völlig unbekannt ist73, wende man sich im 70 71 72 73
Vgl. Kapitel 3.1. Laut Hunter (1992, S. 174) sind die ersten englischen Ausführungen hierzu erst in Bevins Graces in Play (ca. 1630) zu Ànden. Es existierten aber Hinweise auf Ornamentik bei anderen Instrumenten, etwa der Laute, die etwas früheren Datums sind (vgl. Robinson 1603/1971). Eine umfassende Liste von relevanten Ornamentik-Traktaten ist etwa in Gutknecht 1998, Sp. 1460 f. enthalten. Auch Thomas Morley bearbeitet dieses Thema in seinem Musiktraktat nicht. In seiner ansonsten sehr umfangreichen Literaturliste (vgl. Morley 1597/1937, ohne Seitenangabe, Ende des
3.2 By Byrd or not by Byrd?
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Folgenden der musikalischen Konkretion zu: der Ornamentationspraxis von Byrd und seinen Zeitgenossen. Vorerst ist festzustellen, dass die nachträglichen Hinzufügungen von Ornamenten mit der Ornamentik aus dem Haupttext von MLNB und aus anderen Quellen von Byrds Musik für Tasteninstrumente durchaus vereinbar sind. So können etwa am Anfang der von jeglichen Korrekturen freien Voluntary for My Lady Nevell (Nr. 26) genau die gleichen Positionen der Ornamente festgestellt werden, wie in den in Kapitel 3.1 analysierten Korrekturen (s. Abb. 33). In jedem der ersten sechs Takte dieser Voluntary sind beispielsweise Terzverzierungen anzutreffen, in T. 4 auch zwei Ornamente im Rahmen einer Diskantklauselbildung: auf der diminuierten Antepenultima sowie auf der Penultima. Die Übernahme von Ornamenten in den Imitationsvorgang ist in dieser Voluntary ebenfalls an mehreren Stellen anzutreffen (z. B. T. 65 f.). In der in MLNB nicht enthaltenen Lady Monteagle’s Pavan (MB XXVIII/75, überliefert in FWVB74) sind auch ähnliche Positionierungen der Ornamente wie in den Korrekturen aus MLNB festzustellen: Die Terzverzierung dominiert (T. 1 f., 5–7, 9–12) und die verzierten Antepenultimae sind sowohl bei einer Diskantklausel (T. 10) als auch bei einer Tenorklausel (T. 9) vorhanden. All diese Verzierungspositionen sind auch in der in MLNB nicht enthaltenen Pavane: the Earl of Salisbury (MB XXVII/15a, überliefert in Parthenia sowie in MS Ly.A2 und Drexel MS 5609) festzustellen: In T. 1–4 beÀnden sich in jedem Takt Terzverzierungen, während in T. 5–7 die Behandlung eines Ornaments als Bestandteil der „Motivik“ beobachtet werden kann: Charakteristika, die, wie in Kapitel 3.1 bereits demonstriert, auch in den Korrekturen in MLNB zu Ànden sind. Die „motivische“ Behandlung von Ornamenten75 ist besonders am Anfang von The Bells (MB XXVIII/38; überliefert in FWVB) zu beobachten: Das immer wieder verzierte e spielt am Anfang dieses Ground-Satzes eine exponierte Rolle und stellt zugleich die Terz der jeweiligen Klänge dar. Darüber hinaus wird diese Verzierung in die Imitationsvorgänge integriert (T. 5–20). Obgleich man also feststellen muss, dass die Positionierung der nachträglichen Verzierungen aus MLNB für William Byrd charakteristisch ist, reicht ein Blick in die Kompositionen seiner Zeitgenossen, um festzustellen, dass diese Ornamentik in den gleichen Zusammenhängen auch von John Bull, Orlando Gibbons und Thomas Morley verwendet wurde76. Betrachtet man etwa die Quadran Pavan Morleys (MB LV/19), so sind bereits im ersten Pavanenabschnitt die gleichen Positionen der Ornamentsetzung festzumachen wie in MLNB: die Verzierung einer Diskantklausel in T. 4 und Ornamente auf der Terz der Klänge in T. 1, 2, 4, 6, 9, 11, 12, 15, 18, 22, 23
74 75 76
Traktats) tauchen solche Traktate nicht auf. Über Byrds Rezeption kontinentaler Sammlungen der Musik für Tasteninstrumente ist ebenfalls nichts bekannt. Für Alan Brown ist die Autorschaft Byrds bei dieser Pavane zweifelhaft (vgl. MB XXVIII, S. 198). Vgl. Unterkapitel 3.1.4. Diese drei Komponisten wurden insbesondere deshalb zum Vergleich gewählt, weil Byrd mit den ersten beiden die erste englische Drucksammlung der Musik für Tasteninstrumente, die Parthenia (s. Abkürzungsverzeichnis) herausgab, während Morley zum Vergleich gezogen wird, weil er sowohl Byrd als auch Lady Neville nahe stand (vgl. Kapitel 2.3 und 2.6).
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3. Lords, Ladies, Literacy
und 25. Eine vergleichbare Ornamentik ist auch in Morleys Alman (MB LV/31) festzustellen: Die Ornamente in T. 1, 3, 7, 13, 19 und 39 verzieren Diskantklauseln und Klangterzen zugleich, während in T. 9 und 15 eine Klangterzverzierung außerhalb von Klauselbildungen stattÀndet. In Orlando Gibbons’ Fantasien, etwa der Fantasia for Double Organ (MB XX/7, T. 1–5), der Fantasia MB XX/8, (T. 1 f) und der Fantasia MB XX/9 (T. 1–6) sind Ornamente festzustellen, die genau wie im Fall der Korrekturen in MLNB innerhalb eines kontrapunktisch bearbeiteten „Points“ (Soggetto) konstitutiv wirken. Dabei werden, wieder wie in MLNB, nicht alle Ornamente dieses Points in den Imitationsvorgang übernommen, wohl aber die ersten, die für die Identität des Soggetto bedeutend erscheinen. In diesen Kompositionen sind auch die in MLNB häuÀg hinzugefügten Ornamente im Rahmen einer Diskantklauselbildung anzutreffen (z. B. in MB XX/8, T. 5). Bei John Bull kann der Anfang von Bonny Sweet Robin (MB XIX/65, T. 1–7) als Beispiel für die charakteristische Verzierung auf der Terz der Klänge hervorgehoben werden: Hier beÀndet sich in jedem einzelnen Takt mindestens eine Terzverzierung. Auch die für den Korrektor von MLNB charakteristischen Hinzufügungen von Ornamenten bei der Bildung von „Motiven“, die innerhalb von einer einzelnen Stimme vorgetragenen werden, sind bei anderen Komponisten der Epoche anzutreffen. Beispiele dafür sind in John Bulls Galliarde MB XIX/66b (T. 45–49), seiner Melancholy Pavan (MB XIX/67a, T. 25 f.), dem Coranto „Brigante“ (MB XIX/74, T. 3 f., 9 f., 11–13) sowie in Gibbons’ Galliarde MB XX/21 (T. 1–7) zu Ànden. Die angeführten Beispiele demonstrieren eindeutig, dass die in Kapitel 3.1 beschriebene, hinzugefügte Ornamentik in MLNB nicht als nur für Byrd charakteristisch bezeichnet werden kann: Sie ist auch bei anderen englischen Komponisten der Epoche in der Musik für Tasteninstrumente zu beobachten. Der festgestellte EinÁuss der Klanglichkeit auf die Melodiebildung, der aus manchen zitierten Änderungen in MLNB hervorsticht, gehört ebenfalls zur Kompositionstechnik der Epoche und der Gattung, nicht ausschließlich zur Klangorientierung Byrds, die in der bisherigen Forschung ausführlich thematisiert wurde und in den Kompositionen wie The Battle (MLNB/4), The Bells (MB XXVII/38) oder Barley Break (MLNB/6) gipfelt77. Betrachtet man John Bulls A Battle, and no Battle (MB XIX/108), seinen King’s Hunt (MB XIX/125) oder die Fantasia in the Sixth Mode on „A Leona“ (MB XIX/7, ab T. 57), Morleys Quadran Pavan (MB LV/19) oder Gibbons’ Pavanen und Galliarden (in MB XX), wird man feststellen, dass die Klanglichkeit auch bei diesen Kompositionen eine entscheidende Rolle spielt, sei es als Effekt per se oder als Faktor der Melodiebildung. Selbst die komplexesten und auf den ersten Blick am individuellsten geprägten Veränderungen in MLNB erweisen sich im Vergleich mit Stücken anderer Komponisten des elisabethanischen Zeitalters eher als ein Produkt der Epoche als ein Er77
Die Klangorientierung Byrds ist ein intensiv diskutiertes Merkmal von Byrds Schaffen für Tasteninstrumente. Im deutschsprachigen Raum wurden bereits zwei umfangreiche Studien zu diesem Thema veröffentlicht (Nitz 1979 und Klotz 2005). Oliver Neighbour hat zu Recht die Einseitigkeit dieses Forschungsansatzes kritisiert (vgl. Neighbour 2006a; vgl. hierzu auch Kapitel 1.2).
3.2 By Byrd or not by Byrd?
135
gebnis der stilistischen Individualentwicklung William Byrds. So ist zwar die geschilderte Querstandsbildung aus der Dritten Pavane (Abb. 32) mit der kühnen Querstandstechnik Byrds vergleichbar, die auch anderswo in Byrds Kompositionen zu Ànden ist (s. in MLNB selbst z. B. My Lady Nevell’s Ground, T. 114, Qui Passe, T. 51 f., Zweite Pavane, T. 25, Achte Pavane, T. 50, 69). Die gleiche Technik benutzen aber auch andere Komponisten der Epoche, wobei sie für John Bulls und Orlando Gibbons’ virtuose Kompositionen besonders charakteristisch zu sein scheint. Mehrere Passagen mit chromatischen Querständen zwischen Ecktönen wie in der Dritten Pavane aus MLNB sind beispielsweise in der Fantasia aus Bulls Prelude and Fantasia MB XIV/1 (T. 74 f., 108), der Fantasia MB XIV/5 (T. 22), der Fantasia MB XIV/10 (T. 84), der Fantasia MB XIV/11 (T. 47), der Chromatic Pavan (Queen Elizabeth’s), MB XIX/87a (T. 21, 54 f.) sowie der Galliard „St. Thomas, Wake!“ (MB XIX/126c, T. 65 f.) zu Ànden, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Virtuose Passagen mit querständigen Elementen sind auch bei Orlando Gibbons häuÀg: Einige davon sind in seinem Prelude (MB XX/1, T. 14), der Fantasia for Double Organ (MB XX/7, T. 14), der Fantasia MB XX/8 (T. 23, s. Abb. 34) sowie der Galliarde MB XX/24 (T. 16 f.) vorzuÀnden. Querständige Diminutionen gleicher Ausprägung Ànden in Thomas Morleys Quadran Pavan ebenfalls statt (MB LV/19, T. 43). Aus all diesen Gründen kann die durch nachträgliches Korrigieren entstandene Querstandsbildung aus MLNB nicht als Merkmal eines „Individualstils“ William Byrds betrachtet werden. Kann nun der am Ende von Kapitel 3.1 beschriebene, am intensivsten korrigierte Abschnitt in MLNB, in welchem Terzparallelen zu einstimmigen Passagen korrigiert wurden (Ende der Vierten Galliarde, Abb. 31, vgl. Unterkapitel 3.1.6), als Argument für Byrds Autorschaft der Korrekturen in MLNB dienen? Die Endversion steht in der Tat den anderen Galliarden Byrds bedeutend näher als die ursprüngliche Fassung: Byrd verwendet zwar Terzparallelen in seinen Kompositionen für Tasteninstrumente nicht selten, aber kein einziges Mal an den Endungen seiner überlieferten Pavanen und Galliarden. Auch in der anderen Quelle, in welcher die Vierte Galliarde überliefert ist, dem Manuskript BM Add. MS 30485, ist die einstimmige Endung der Galliarde zu Ànden78. In diesem Kontext stellen bei Byrd gerade einstimmige Passagen, wie in der korrigierten Version der Vierten Galliarde aus MLNB, die Norm dar: Die letzten Takte der in FWVB überlieferten Galliarde MB XXVIII/52b (T. 47–49) William Byrds seien hier als Illustration dieses Kompositionsprinzips zitiert (Abb. 35). Obwohl die Passagen aus der Vierten Galliarde in ihrer korrigierten Fassung der Kompositionspraxis William Byrds gänzlich entsprechen, können auch sie kaum als entscheidender Hinweis für seine Autorschaft der Korrekturen in MLNB betrachtet werden: Es wäre zunächst, wie eingangs bereits betont, problematisch, vorauszusetzen, dass die Kompositionspraxis eines Komponisten des 16. Jh. ein in sich geschlossenes System ist, das nur aus erwartungsgemäßen Elementen und ihren Kombinationen besteht. Im konkreten Fall der Vierten Galliarde William Byrds 78
Vgl. MB XXVII/30b sowie Alan Browns Kommentar dazu in MB XXVII, S. 178.
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3. Lords, Ladies, Literacy
würde man, wenn man von einem statischen Stilkonzept ausginge, auch vor der letztlich nicht beantwortbaren Frage stehen, warum Byrd die uncharakteristische Endung in MLNB ursprünglich geschrieben hatte; man müsste dann konsequenterweise auch die Autorschaft des Haupttextes von MLNB in Frage stellen. Zum Zweiten wäre im Zusammenhang mit den komplexen Korrekturen am Ende der Vierten Galliarde hervorzuheben, dass diese Art der Schlussbildung auch in Galliarden anderer Komponisten der Epoche zu Ànden ist: In der Lavecchia Galliard eines anonymen elisabethanischen Komponisten (MB LV/8b, überliefert in WFVB79) ist, wie auch in der ihr vorausgegangenen Pavane, die gleiche Wendung wie in der Vierten Galliarde aus MLNB vorzuÀnden (T. 49). Auch der selbsterklärte Byrd-Schüler Thomas Morley verwendet diese Wendung, um einen Galliardenabschnitt abzuschließen (MB LV/24, T. 57, s. Abb. 36). Die Charakteristika der Korrekturen in MLNB reichen offensichtlich nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus kompositionstechnischen Gründen nicht aus, um diese eindeutig William Byrd zuzuschreiben. Darüber hinaus können einige stilkritische Argumente für die Autorschaft Byrds sogar umgekehrt werden: Für die zitierten durchgestrichenen Terzen in der Vierten Galliarde hätte beispielsweise auch ein Spieler, der den Abschnitt vereinfachen wollte, verantwortlich sein können. Das würde allerdings nicht die Abwesenheit von Terzen in BM Add. MS 30485, jener anderen Quelle, in welcher das Stück überliefert ist80, erklären. Die in Kapitel 3.1 bereits erwähnten Oktavparallelen aus der Zweiten Galliarde (Abb. 28) hätten gerade von einer Person ohne größere musikalische Bildung verursacht werden können. Das würde allerdings dem sehr systematischen Rest der Einträge stark widersprechen und die Einheitlichkeit des Duktus der Korrekturen spricht eher für einen Hauptkorrektor als für mehrere81. Zugunsten der Autorschaft Byrds kann ein anderer, nicht kompositionstechnischer Aspekt der Korrekturen genannt werden: Der Korrektor benutzte, wie aus der Korrekturenliste im Anhang ersichtlich ist, bei der Eintragung eigener Korrekturen häuÀg Elemente der Schrift Baldwins: Anscheinend versuchte er dadurch, seine eigenen Einträge weniger auffällig zu machen (ein besonders gutes Beispiel ist in Abb. 37 vorgestellt worden; auch Abb. 31 beinhaltet einen solchen Fall; vgl. aber z. B. auch Folio 62v, Erste Galliarde, T. 39, oder Folio 66r, Zweite Galliarde, T. 38). Dem Korrektor schien also die optische Qualität des Manuskripts wichtig gewesen zu sein: Womöglich weil er mit dem beauftragten Komponisten identisch war. Als entscheidendes Argument für die These, dass Byrd für die Korrekturen in MLNB verantwortlich war, kann diese Beobachtung jedoch nicht dienen. Auch ein anderer 79
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Der Name William Byrd ist im Verzeichnis von WFVB, nicht aber am Ende der Komposition selbst angegeben. Alan Brown bestreitet die Autorschaft Byrds (vgl. MB LV, S. 177). Auch die offenbar mit der Galliarde zusammenhängende Lavecchia Pavan (MB LV/8a) ist im Manuskript nicht Byrd zugeschrieben (MB LV, S. 177). S. o. Es muss dennoch im Kontext dieser Überlegungen hervorgehoben werden, dass das Manuskript noch immer nicht von einem historischen Graphologen untersucht worden ist und dass die Annahme, dass es sich um nur einen Hauptkorrektor handelt, nur auf oben geschilderten Indizien basiert (vgl. Kapitel 3.1).
3.2 By Byrd or not by Byrd?
137
Korrektor, der im Auftrag der Patronin hätte tätig sein können, hätte möglicherweise auf die optischen Aspekte des Manuskripts geachtet. Als Argument für die Autorschaft Byrds kann die Tatsache benutzt werden, das einige der eingetragenen Änderungen in MLNB auch in anderen Quellen seiner Tastenmusik zu Ànden sind82. Denn es ist weder bekannt noch wahrscheinlich, dass MLNB als Quelle für die anderen Manuskripte oder Drucke der Musik Byrds für Tasteninstrumente diente. Da es ein kalligraphisches Prachtmanuskript und – wie in Kapitel 2.3 geschildert – wahrscheinlich ein Geschenk an Lady Neville war, das kostbare heraldische Malerei enthielt und in einer exzellenten Bindung, die vom Hofbuchbinder stammte, aufbewahrt wurde, scheint es unwahrscheinlich, dass es zum weiteren Kopieren verwendet wurde. Die Gemeinsamkeiten zwischen der korrigierten Version von MLNB und den anderen Quellen könnten also auf eine gemeinsame Quelle hindeuten, aufgrund welcher auch MLNB korrigiert wurde. Alan Brown hat versucht, Stemmata von einzelnen in MLNB enthaltenen Kompositionen zu erstellen, die die Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Quellen erklären würden83. Allerdings basieren auch diese Stemmata auf stilkritischen Spekulationen, deren grundsätzliche Unsicherheit am Anfang des Kapitels geschildert worden ist. Auch ist das genaue Ausmaß der Gemeinsamkeiten zwischen Korrekturen in MLNB und anderen Quellen Browns Arbeit nicht zu entnehmen. Dieses konnte auch im Rahmen der vorliegenden Studie nicht geleistet werden, sondern muss weiterhin als Forschungsdesiderat betrachtet werden. Schließlich mag die Vielzahl der Änderungen und die Tatsache, dass das ganze Manuskript von beinahe 200 Folios in toto durchgesehen und korrigiert wurde, dafür sprechen, dass William Byrd der Autor von Ergänzungen in MLNB war. Es liegen keine Hinweise darauf vor, wer außer Byrd, Baldwin und der Familie Neville ein solches Interesse an der Qualität des Manuskripts hätte haben können. Dass Baldwin nicht der Hauptkorrektor war, zeigt die völlig unterschiedliche Handschrift seiner eigenen Korrekturen (s. Abb. 2584). Bildung war, wie in den Kapiteln 2.3 und 2.6 ausgeführt, offensichtlich ein bedeutender Bestandteil der Identitätskonstruktion der Widmungsträgerin; sie ist aber nicht als Komponistin überliefert und es ist angesichts des in Kapitel 2.6 geschilderten aristokratischen Musik- und Bildungskonzeptes nicht wahrscheinlich, dass sie sich als Komponistin betätigt hatte. Auch wäre sie möglicherweise nicht darauf bedacht gewesen, so viele Korrekturen so unauffällig in Baldwins Text einzufügen, dass die optische Ordnung nicht gestört wird. Ein externer Korrektor ist jedoch nicht auszuschließen: Lady Neville war, wie bereits ausgeführt, eine gelehrte Frau, die möglicherweise auch andere Kontakte zum elisabethanischen Musikleben pÁegte: Ihr Kontakt mit Thomas Morley ist belegt und im Rahmen der vorliegenden Studie bereits hervorgehoben worden85. Kompositionstechnisch betrachtet, hätte, wie oben demonstriert, jede von den Änderungen 82 83 84 85
Vgl. hierzu Brown 1968/69, passim. Ebd. Auch anderswo im Manuskript zu Ànden, einmal sogar mit Baldwins eigenem Kommentar (Folio 145v). Vgl. Kapitel 2.3 sowie 2.6.
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3. Lords, Ladies, Literacy
in MLNB auch von Morley stammen können. Wenngleich also die Korrigiertätigkeit Byrds aufgrund von Browns Vergleichen mit anderen Manuskriptquellen und aufgrund der Vielzahl der Änderungen wahrscheinlich ist, muss die Frage der Autorschaft von Korrekturen aus MLNB aus Mangel an eindeutigen Hinweisen grundsätzlich offen bleiben86. „Einen ‚Tod des Komponisten‘ hat es in der Musikwissenschaft nicht gegeben“, schreibt Michele Calella am Anfang des Kapitels „Der Komponist als Autor“ seiner jüngsten Studie über die musikalische Autorschaft87, hier einen Gegensatz zu dem für die „postmoderne“ Theoriebildung, vor allem bei Barthes und Foucault, konstitutiven „Tod des Autors“ in Bezug auf die Literatur feststellend88. Hinsichtlich der Korrekturen in MLNB bestätigt die Haltung der bisherigen Byrd-Forschung die Korrektheit dieser kritischen Aussage Calellas: Man hat die nachträglichen Einträge in MLNB stilkritisch argumentierend wiederholt William Byrd zugeschrieben, ohne dass es dafür überzeugende analytische Anhaltspunkte gegeben hat und ohne dass die Korrekturen im Kontext der Epoche untersucht wurden89. Dabei fehlte auch die theoretische ReÁexion in Bezug auf den Kommuniktionscharakter des „Stils“ und die potentielle Voreingenommenheit des Stilanalytikers. Die vorausgegangenen Untersuchungen über die Korrekturen in MLNB haben gezeigt, dass in Margaret Glyns am Anfang von Kapitel 3.1 zitierten und in der bisherigen Forschung weitgehend akzeptierten Beschreibung dieser Eintragungen als „subtle little improvements that only Byrd’s brain would have thought of“90 nur der erste Teil mit Sicherheit als zutreffend bezeichnet werden darf: Die „subtilen, kleinen Verbesserungen“ in MLNB können durchaus als die eines gebildeten Musikers des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jh. betrachtet werden. Es ist auch durchaus möglich, dass sie von William Byrd stammen. Allein reichen die stilkritischen Argumente sowohl aus theoretischen als auch aus konkreten Gründen nicht aus, um diese Annahme zu bestätigen. Das, was den Forschern des 20. Jh. kompositorisch interessant erschien, ist, wie dieses Kapitel zu demonstrieren bestrebt war, offensichtlich epochenbezogen und nicht subjektiv markiert. Diese Feststellung sollte nun nicht dazu führen, die umfangreichen Korrekturen in MLNB – ein in der Musik für Tasteninstrumente dieser Epoche singuläres Phänomen – als musikhistorisch
86 87 88
89 90
Dr. Nicholas Bell (BL) ist der Meinung, dass die nachträglich eingetragenen Zahlen in MLNB der Zahlenschrift Byrds ähneln. Die Bibliothek hat das Manuskript jedoch noch nicht graphologisch untersuchen lassen (persönliche Mitteilung von Dr. Nicholas Bell). Calella 2003, II.2. Gemeint sind vor allem die einÁussreichen Texte wie Barthes 2000 und Foucault 1979a, in denen die Zentralität eines subjektiven „Autors“ zugunsten der écriture (Barthes) bzw. der „diskursiven Praxis“ (Foucault) relativiert wird. Seán Burkes Versuch, über eine „Rückkehr des Autors“ zu sprechen (vgl. Burke S. 1998) hat diese Arbeiten kritisch beleuchtet und relativiert, aber an der Kernaussage über den Konstruktionscharakter der Autorschaft nichts geändert (vgl. hierzu auch Calella 2003, II.1.). Vgl. Kapitel 3.1. Glyn 1934, S. 39.
3.3 Grace literalisiert
139
und musikanalytisch uninteressant zu betrachten91, sondern dazu, den Fokus des Forschungsinteresses von der letztlich nicht endgültig beantwortbaren Frage der Autorschaft auf andere, weniger subjektbetonte Aspekte zu verschieben. 3.3 GRACE LITERALISIERT. MY LADYE NEVELLS BOOKE IM LICHTE MUSIKALISCHER VERSCHRIFTLICHUNGSPROZESSE Aus kulturhistorischer Sicht sind die Korrekturen aus MLNB, ungeachtet der Frage nach ihrer Autorschaft, vor allem als ein Zeugnis der Intensität und des Charakters der Verschriftlichungsprozesse in der Musikkultur des elisabethanischen Zeitalters zu betrachten. Diese Prozesse werden im Folgenden in Bezug auf MLNB auf zwei Ebenen beobachtet: auf der Ebene der Verschriftlichung von verschiedenen musikalischen Gattungen sowie auf der Ebene der Literalisierung von kompositionstechnischen Einzelheiten, mit besonderer Berücksichtigung der Ornamente, die den größten Teil der nachträglichen Eintragungen in MLNB ausmachen92. 3.3.1 To put another humour: Die literale Behandlung von Gattungen der Musik für Tasteninstrumente Die Verschriftlichung des säkular orientierten und volksmusikalisch basierten Materials, die im Kontext der für die Literalisierungsprozesse charakteristischen93 „Entmonopolisierung des Wissens“94 verstanden werden kann, ist schon bei der Wahl der in MLNB vertretenen Gattungen offensichtlich, die in Teil 4 der vorlie-
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Calella hat im Kontext der musikalischen Autorschaft darauf hingewiesen, dass das Interesse der Musikwissenschaft in manchen Fällen in zu hohem Maße mit der Autorschaftsfrage zusammenhängt. So habe die vormals Dufay zugeschriebene Missa „Caput“ aufgehört, im Brennpunkt musikwissenschaftlichen Interesses zu stehen, nachdem die Autorschaft Dufays angefochten worden sei (vgl. Calella 2003, II.2). In diesem Zusammenhang sei auch auf die Forschungsarbeit von Bernhard Janz hingewiesen, der die musikwissenschaftliche Vernachlässigung des anonymen Musikrepertoires des 15. und 16. Jh. thematisierte (vgl. Janz 1995). Vgl. Kapitel 3.1 sowie Anhang B zu Teil 3. Ein allgemeiner Exkurs über die Literalitätsfrage würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Die in diesem Kapitel zitierten Forschungsansätze sind aufgrund ihrer Relevanz für das behandelte Thema ausgewählt worden. Generell wird von den jüngeren Literalitätsforschungsansätzen ausgegangen, bei welchen die Oralität und Literalität nicht als zwei Gegenpole, sondern als miteinander verzahnte mediale Bewegungen betrachtet werden: Die traditionell der Oralität zugeschriebenen Eigenschaften seien auch in der Oralität zu Ànden und umgekehrt (vgl. hierzu etwa Epping-Jäger 1996 und 2002, Jäger 2002, Feldmann 1991, Street 1988). Jedoch werden auch ältere Forschungsansätze, wie etwa jene von Eric Havelock (1992, 1982, 1963), Jack Goody (2000, 1977, 1968 sowie Goody/Watt 1986), Walter J. Ong (1982, 1965) und David Olson (1987) berücksichtigt. Epping-Jäger 2002, S. 179.
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3. Lords, Ladies, Literacy
genden Studie gesondert thematisiert wird. In der Sammlung Àndet eine direkte Nebeneinanderstellung von den als „[t]he most principal and chiefest kind“95 der Instrumentalmusik bezeichneten, vorwiegend polyphonen Kompositionen – den Fantasien – und den Variationen über Themen aus dem Popularmusikrepertoire sowie Tänzen statt. Diese Nebeneinanderstellung ist im dritten und letzten Abschnitt von MLNB96 besonders ausgeprägt: So steht in diesem Teil der Sammlung die volksmusikalisch geprägte Variationsreihe Woods so Wild unmittelbar neben einer äußerst „gelehrten“ kontrapunktischen Komposition, der Voluntary for My Lady Nevell, in welcher die traditionelle Moduslehre aufs Strengste befolgt wird97. Dabei ist durch die vorausgegangenen Analysen des Manuskripts auch deutlich geworden, dass die Sorgfalt, mit welcher sich der zeitgenössische Korrektor von MLNB der Literalisierung von Kompositionen mit volksmusikalischem Hintergrund widmete, sich mit jener vergleichen lassen kann, die den „gelehrten“, vorwiegend polyphonen Fantasien zuteil wurde: Die Ornamentik wird in Variationsreihen über Themen aus dem Volksliedergut genauso sorgfältig hinzugefügt wie in den Pavanen und den Fantasien, wobei auch die in Unterkapitel 3.1.4 geschilderten Kontexte der Ornamentierung, etwa die Klauselbildungen und die Klangterzen, gattungsübergreifend sind. Auch bei kompositionstechnisch voneinander stark differierenden Stücken wie der polyphonen Hexachordfantasie Ut, re mi, der Zweiten Galliarde und dem Ground Hunt’s up sind Parallelen in der nachträglichen Hinzufügung von Ornamenten vorzuÀnden: Bei den letzteren beiden Kompositionen werden die in homophonen Sätzen positionierten „Motive“98 durch nachträglich hinzugefügte Verzierungen unterstrichen, während bei Ut, re, mi die Soggetti nachträglich verziert werden, was den Imitationsvorgang deutlicher macht99. Das Konzept der Ornamentikliteralisierung durchdringt dadurch die Konzepte unterschiedlicher Musikgattungen. Dasselbe gilt, wie in Unterkapitel 3.1.5 demonstriert, auch für die Genauigkeit, mit welcher sich der Korrektor der Stimmführung widmete: Sie wird sowohl in den auf den Stylus gravis zurückgehenden Fantasien als auch in den Kompositionen mit volksmusikalischem Hintergrund sorgfältig ergänzt. Die Gattungen der Instrumentalmusik werden in Thomas Morleys Plaine and Easie Introduction into Practicall Musicke (1597) hierarchisch behandelt: Den höchsten Stellenwert haben bei Morley die polyphonen, motettenähnlichen Fantasien, wonach in absteigender Rangfolge die Pavanen und alle anderen Tanzgattungen folgen100. Diese Wertung ist jedoch in der Literalisierungspraxis bei weitem weniger erkennbar, wie MLNB durch ihre nachträglichen Korrekturen am besten bezeugen kann und alle vergleichbaren Sammlungen der Epoche bestätigen können. Darüber hinaus liegt Thomas Morleys Gattungshierarchie ein ästhetisches 95 96 97 98 99
Morley 1597/1937, S. 180 f. Vgl. Teil 4 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Kapitel 5.2. Zur Begriffsverwendung vgl. Unterkapitel 3.1.4. Vgl. Kapitel 3.1 sowie Abb. 21–24 in Anhang A zu Teil 3. Vgl. auch die Korrekturenliste in Anhang B zu Teil 3. 100 Vgl. Morley 1597/1937, S. 180 f.
3.3 Grace literalisiert
141
Wertesystem zugrunde, das auch nach seinen eigenen Worten bedroht gewesen sei. Thomas Morley lamentiert in seinem Traktat über den Verfall der Werte in der Musik, wobei er diesen Prozess zu den sozialen Veränderungen der Tudor-Epoche, die insbesondere die „oberen“, die Musikproduktion fördernden Stände Englands getroffen haben101, in Bezug setzt. In seinen Ausführungen über die Vokalmusik schreibt Morley über die anspruchsvolle Kompositionsweise der Motetten und führt aus: This musicke [die Motetten] (a lamentable case) being the chiefest both for art and utilitie, is notwithstanding little esteemed, and in small request with the greatest number of those who most highly seeme to favour art, which is the cause that the composers of musick who otherwise would follow the depth of their skill, in this kinde are compelled for lacke of maecenates to put another humor […].102
Morley schreibt in diesem Kontext auch, dass die englischen Komponisten für alle aus dem Ausland und insbesondere aus Italien kommenden Neuheiten offen seien. Die neue Beliebtheit der „leichten Musik“ sei auch in diesem Kontext zu verstehen: Nor yet is that fault of esteeming so highlie the light musicke particular to us in England, but generall through the world, which is the cause that the musicions in all countries and chiefely in Italy, have imploied most of their studies in it: whereupon a learned man of our time writing upon Cicero his dreame of Scipio saith, that the musicians of this age, in steed of drawing the minds of men to the consideration of heaven and heavenlie thinges, doe by the contrarie set wide open the gates of hell, causing such as delight in the exercise of their art tumble headlong into perdition […]103.
Sieht man von den zeitgenössischen Wertkonstrukten, die die Veränderungen im musikalischen Geschmack mit ethischen Konnotationen belegen, ab, sprechen die Ausführungen Morleys offensichtlich über die in Teil 2 geschilderten sozialen Umschichtungen im England der Tudor-Ära, die auch in der Veränderung des Musikkanons ihr Echo fanden. Dabei sticht der von Morley betonte EinÁuss der italienischen Kultur auf die Kultur des elisabethanischen Adels – der maßgebenden maecenates der Epoche – auch aus anderen Quellen hervor, die in Kapitel 2.6 besprochen worden sind: Es sei unter anderem an den EinÁuss Castigliones – dessen englischer Übersetzer Sir Thomas Hoby zum Umkreis der Nevilles of Billingbear gehörte – erinnert, sowie an die verstärkte Präsenz der italienischen Musiker am Hofe seit der Regentschaft Heinrichs VIII.104 Dabei ist – obwohl das unausgesprochen bleibt – auch bei Morley die hervorgehobene Bedeutung der musikalischen Literalisierung im Prozess der Veränderung des aristokratischen Musikgeschmacks offensichtlich. Das Problem des führenden Musiktheoretikers der elisabethanischen Epoche ist nicht, dass die light musicke produziert und rezipiert wird: Selbstverständlich fand das in der Oralität – und in begrenztem Maße auch in der Literalität – schon seit Jahrhunderten statt. Morley scheint eigentlich zu beklagen, dass in seiner Generation auch die musici docti, die literalen Komponisten, ihre Kräfte immer intensiver dem 101 102 103 104
Vgl. hierzu Teil 2. Morley 1597/1937, S. 179. Ebd. Vgl. Kapitel 2.6.
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3. Lords, Ladies, Literacy
Studium sowie der literalen Produktion der light musicke widmen. Thomas Morley weist im zitierten Text auch selbst darauf hin, dass diese Problematik in der „Umwandlung“ des Geschmacks der Musikpatrone ihre Ursache habe: Die Transformationsprozesse des ökonomischen in das kulturelle Kapital prägen in der späten Tudor-Ära nicht mehr Kirchenfürsten wie etwa Kardinal Wolsey, sondern weltliche Aristokraten wie Byrds Patrone und Widmungsträger aus den Familien Howard, Percy, Neville, Clifford, Somerset, de Vere, Lumley, Stanley, Parker, Petre, Bacon, Cecil, Hatton etc.105 Teilweise stammten die säkulararistokratischen Musikmäzene, auf die Thomas Morley anspielt, nicht aus dem alten Adel, sondern gehörten der Bildungsgentry jüngsten Datums an, die womöglich darauf bedacht war, den Geschmack des Hofes so gut wie möglich nachzuahmen, um ein Gefühl der Zugehörigkeit zu simulieren und die soziale Akzeptanz zu erreichen106. Gerade die zwei mit MLNB untrennbar verbundenen Personen – Lady Neville, geborene Elizabeth Bacon, und William Petre, der Widmungsgträger der Zehnten Pavane und Galliarde – entstammten, wie bereits ausgeführt, den Familien der neuen Bildungs- (und Heirats-) Aufsteiger107. Die andere Gruppe der aristokratischen Musikpatrone – der alte Adel wie die Nevilles, die Howards, die de Veres oder die Somersets – war in der elisabethanischen Epoche mit dieser neuen Elite bereits ehelich, ökonomisch und kulturell untrennbar verbunden108. Die Familie Petre war, wie auch William Byrd selbst, römisch-katholisch; das verhinderte aber nicht ihren sozialen Aufstieg im England der Tudor-Ära, genauso wie die gleiche konfessionelle Orientierung den Komponisten Byrd nicht – trotz zeitweiliger und an den Standards der Epoche gemessen sehr milder Verfolgungsmaßnahmen109 – seinen Erfolg und seine Popularität in Adelskreisen kostete. Die Konfessionszugehörigkeit war offensichtlich für die aktive Teilnahme an der elisabethanischen Kulturproduktion und Kulturförderung nicht entscheidend, wenn die Konfessionsausübung nicht aggressiv wirkte, der Ausübende dabei hochgestellt genug und der Krone treu war. Was Morley in seiner Musikabhandlung zum Ausdruck bringt, ist also, dass in der Tudor-Ära nicht etwa die histriones, sondern die literalen musici – wie es William Byrd, der Widmungsträger von Morleys Traktat, fraglos war – die light musick in komplexer, literaler Form produzieren und nicht mehr die hoi polloi, sondern auch die führenden Mäzene des Landes diese Musik aktiv und intensiv rezipieren und fördern. Morleys Text – wie auch MLNB selbst – wurde dabei in einem Moment geschrieben, in welchem die light musicke durch die Literalisierung und die geschilderten Veränderungen in den „oberen“ Ständen der englischen Gesellschaft kanonisiert wurde, dieser Prozess aber nicht abgeschlossen war: Für Morley war daher der neu entstehende Kanon der weltlichen Musik noch kein Kanon. Der mit 105 Vgl. Kapitel 2.3 bis 2.6. 106 Zur Rolle des Musikgeschmacks als „social marker“ im 20. Jh. vgl. etwa Bourdieus Standardwerk Die feinen Unterschiede (Bourdieu 1987, vgl. Unterkapitel 1.1.1) sowie die neueren Untersuchungen Gebesmeiers (2001). 107 Vgl. Kapitel 2.3. und 2.4. 108 Vgl. genealogische Tabellen in Anhang B zu Teil 2 sowie Kapitel 2.3 und 2.4. 109 Detailliert geschildert unter anderem in Harley 1997, S. 68 f., 126 f.–131 sowie Mateer 1998.
3.3 Grace literalisiert
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der römisch-katholischen Kirche sympathisierende110 und möglicherweise aus diesem Grund im Musikdenken gelegentlich zum Konservatismus neigende Thomas Morley schrieb in einem Moment, in dem es naturgemäß nicht klar sein konnte, dass die Zersetzung der bisherigen Ordnung und die Aufhebung des alten Kanons nicht zu Chaos, sondern zu einer neuen Ordnung und einem neuen Kanon führen würden. Sowohl Morleys 1597 veröffentlichter, William Byrd gewidmeter Traktat als auch die 1591 entstandene Sammlung MLNB sind daher besonders wertvolle Zeugen dieses Schwellenzustandes im elisabethanischen Zeitalter. 3.3.2 Ein Stand und seine Schriftspuren: Betrachtungen zur Literalisierung von kompositionstechnischen Einzelheiten Die in Kapitel 3.1 geschilderte Genauigkeit, die den kompositionstechnischen Einzelheiten in dem nur sechs Jahre vor Morleys Abhandlung entstandenen Manuskript MLNB gewidmet wird, spricht von der Aufnahme der Musik für Tasteninstrumente in den Kanon der Literalität: Die Stimmführung wird auch in „genuin instrumentalen Werken“111 bis auf das letzte Detail verschriftlicht – und auch nachträglich korrigiert –, die Formteile werden sowohl vom Notenschreiber als auch vom Korrektor sorgfältig markiert112, die Akzidentiensetzung wird dem Stil der Instrumentalmusik – manchmal auch entgegen den Regeln der Musica Àcta, aber nach der klangorientierten Kompositionsweise der Instrumentalmusik – verändert und sorgfältig literalisiert113. Besondere Bedeutung scheint dabei die Hinzufügung von Ornamenten zu haben. Anhand ihrer Wiederholung in verschiedenen Quellen114 kann die Prozessualität der Loslösung aus dem von der Literalitätsforscherin Cornelia Epping-Jäger so genannten „personal-aural-oralen“ Vermittlungssystem115 der dominanten Oralität durch das allmähliche Intensivieren der Ornamentik besonders gut beobachtet werden. Selbstverständlich hängt die Detailliertheit der Notation nicht nur von den Kompositionskonzepten des Autors ab, sondern kann auch in Bezug zur Rezeptions- beziehungsweise Reproduktionsfähigkeit des Empfängers stehen. Dennoch muss betont werden, dass sowohl in MLNB als auch in allen anderen Quellen der Musik Byrds für Tasteninstrumente die Ornamente an konventionell erwartungsgemäßen Stellen116 – etwa in Klauseln – wiederholt ausgeschrieben wurden: Sie wur110 Vgl. Brett/Murray 2001, S. 127. 111 In der Terminologie Bernhard Meiers (1992, passim): die Werke der Instrumentalmusik des 16. Jh., die sich nicht auf die Kompositionstechnik der Vokalpolyphonie zurückführen lassen. 112 Dieses mag allerdings auch didaktischen Zwecken gedient haben. Das ändert dennoch nichts an der Genauigkeit und Seriosität; mit welcher der Korrektor und der Notenschreiber mit der Musik für Tasteninstrumente in MLNB umgehen. 113 Vgl. Kapitel 3.1 sowie Anhang B zu Teil 3. 114 Vgl. Brown 1968/69, S. 37 f. 115 Vgl. Epping-Jäger 2002, S. 179. 116 Eine theoretisch festgelegte Konvention über die Ornamentik ist für England des Jahres 1591 nicht nachgewiesen (s. Hunter 1992, S. 174 f; vgl. Kapitel 3.2). Die obige Aussage basiert daher auf Beobachtungen der zeitgenössischen englischen Musik für Tasteninstrumente.
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den dadurch zu einem Teil des musikalischen Kanons, ungeachtet des konkreten Rezipienten. Andererseits kommt es, wie Alan Brown demonstriert hat117, immer wieder zu geringfügig abweichenden Varianten in verschiedenen Quellen, so dass die Musik von dem „personalen“ Vermittlungsweg, der sich in diesem Fall in den Differenzen zwischen einzelnen Manuskripten niederschlägt, nicht gänzlich ausgeschlossen ist. Die für vorwiegend orale Kulturen charakteristische, „personale“ Vermittlung existiert in der elisabethanischen Tastenmusik parallel zur Literalität und die Literalisierungsprozesse erweisen sich dadurch auch in der Musik als ein nicht geradliniger Prozess. Womöglich wäre der in der neueren literaturwissenschaftlichen Literalitätsforschung verwendete Begriff der Hypoliteralität geeignet, um den Zustand zu bezeichnen, in welchem MLNB entstanden ist. Mit dem Terminus „Hypoliteralität“ ist dabei ein Übergangssystem gemeint, in welchem unterhalb der OberÁäche der expliziten Schriftverwendung und der wenigen Prozente an wirklich lese- und schreibkundigen Menschen literale Kommunikations- und Verhaltensweisen einsickern, sich verbreiten118.
Dabei werden in der Hypoliteralität orale Kommunikationsformen in die neu entstandenen Rahmenbedingungen der Literalität integriert. Die Behandlung der Ornamentik in Byrds Kompositionen kann in diesem Sinne als Teil eines „Übergangssystems“ verstanden werden, in welchem die Relevanz des kompositorischen Details zwar durch seine Literalisierung anerkannt wird, aber noch kein Modus seiner unveränderten schriftlichen Tradierung konstruiert ist: In England wird dieser Prozess in Bezug auf die Musik für Tasteninstrumente 20 Jahre nach der Entstehung von MLNB – noch zu Lebzeiten Byrds – durch die Anwendung der Drucktechnik bei Parthenia119 – einsetzen. Von besonderem Interesse für eine Untersuchung der musikalischen Verschriftlichungsprozesse sind diejenigen literalisierten Verzierungen in MLNB, die möglicherweise einen innovativen Gebrauch darstellen – so etwa die Ornamente mit „motivischem“ Wert120: Die in Abb. 23 und 24121 dargestellten „motivischen“ Verzierungen stellen keineswegs eine bereits kodiÀzierte Norm der Ornamentik dar, und das „Motivische“ im musikalischen Material wird erst durch sie deutlich. Auch David Wulstan hat auf diesen neuen Aspekt der Ornamentik in Byrds Tastenmusik hingewiesen122, allerdings ohne auf das Phänomen der Literalisierung einzugehen. Dieser „motivi117 118 119 120 121 122
Vgl. Brown 1968/69, S. 37 f. Epping-Jäger 2002, S. 178. S. Abkürzungsverzeichnis. Vgl. Unterkapitel 3.1.4. In Anhang A zu Teil 3. Vgl. Wulstan 1983, S. 146: In der Neunten Pavane (T. 152 f.) wurden Ornamente hinzugefügt, die eine konstitutive Wirkung auf die rhythmisch-metrische Organisation haben. Hier handelt es sich allerdings nicht um eine nachträgliche Eintragung, sondern um Baldwins ursprünglichen Text. David Wulstan kritisierte diesbezüglich Hilda Andrews, die Herausgeberin von MLNB, die die Meinung vertreten hatte, dass Byrds Ornamente die melodische Linie zerstören, und Thurston Dart, der sich auch einmal für die Auslassung einiger Ornamente in Byrds Musik ausgesprochen haben soll (ebd., unter Berufung auf die in Kapitel 1.2 behandelte Einleitung Andrews in ihrer Ausgabe von MLNB; zu Darts Äußerung gibt Wulstan keine Referenz an).
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sche“ Gebrauch von Ornamenten ist in früheren englischen Quellen der Musik für Tasteninstrumente, in denen die Ornamentik bedeutend spärlicher – wenn überhaupt – literalisiert wurde123 als in MLNB und späteren Quellen, in der Tat selten vorzuÀnden. Es wäre jedoch etwas voreilig, Byrd als Initiator dieses Ornamentik-Gebrauchs zu bezeichnen, denn dieser ist bereits bei Thomas Tallis nachzuweisen, der möglicherweise Byrds Lehrer gewesen war124: In Tallis’ Felix namque-Sätzen kommen Ornamente als Motiv-Markierungen wiederholt vor: etwa in Felix namque I (MB LXVI, 4) in T. 115, 156 sowie – besonders dominant – in Felix namque II (MB LXVI, 5) in T. 40–56125. Dieser Aspekt der Ornamentik in MLNB zeugt von der Entfaltung von Variationsmöglichkeiten innerhalb eines immer literaler werdenden Vermittlungssystems: ein Phänomen, das etwa Jan Assmann in Bezug auf die Sprache und Literatur behandelte126. Nach Assmann bestehe in den auf oraler Vermittlung basierenden Kulturen ein „Wiederholungszwang“, den die Literalität aufhebe. In dieser werde die Variation dagegen zugelassen, „sogar ermutigt“127. Daher kennen die Schriftkulturen laut Assmann einen gewissen „Variations- und Innovationsdruck, ein Problem, das nur der Schriftsteller [im Gegensatz zum Barden als Träger der oralen Kultur] hat.“128 Wenngleich Assmanns Ausführungen im Lichte der jüngeren Literalitätsforschung129 etwas dichotomisierend wirken, und die (verbale) Literalität und Oralität in jüngeren Studien nicht mehr als Gegensätze, sondern als Áießend ineinander übergehende mediale Bewegungen betrachtet werden130, so liefert Assmann dennoch einen wertvollen Ansatz zur Beobachtung von musikalischen Literalisierungsprozessen. Das von Assmann betonte Phänomen der Entfaltung des Variativen im Rahmen der Literalisierungsprozesse kann an der Vielfalt der Klausel-Ornamentik in MLNB beobachtet werden: Genauso wie nicht alle Klauseln kompositionstechnisch gleich angelegt sind, variiert auch die Position der ursprünglich oder nachträglich 123 Vgl. etwa Mulliner, Dublin und die in MB LXVI, EECM 6 und EECM 10 enthaltenen Kompositionen. 124 Harley (1997, S. 18) hat zwar darauf hingewiesen, dass diese These nicht genug Bestätigung in den Quellen Àndet. Tallis und Byrd waren dennoch miteinander gut bekannt, teilten auch das von Königin Elizabeth erteilte Notendruckmonopol (vgl. etwa Harley 1997, S. 55–57) und gaben zusammen einige ihrer Vokalwerke heraus (vgl. Unterkapitel 5.4.1); Byrd war auch Zeuge von Thomas Tallis’ Testament (vgl. Harley 1997, S. 92), während Tallis der Pate seines Sohnes Thomas Byrd gewesen war (vgl. ebd., S. 51, 92). Intensiver musikalischer Austausch zwischen Byrd und Tallis ist also mehr als wahrscheinlich. 125 Diese Kompositionen, entstanden respektive um 1562 und 1564, sind nur in Handschriften des ausgehenden 16. und frühen 17. Jh. überliefert: Vgl. John Caldwells Kritischen Bericht in MB LXVI, S. 183. 126 Jan Assmann hat das auf den französischen Soziologen, den Bergson-Schüler und DurkheimStudenten Maurice Halbwachs zurückgehende Konzept von „mémoire collective“ (vgl. Halbwachs 1985, 1985a und 1941) auf die Literalisierungsprozesse bezogen (vgl. etwa Assmann 1997). 127 Assmann 1997, S. 98. 128 Ebd. 129 Eine Übersicht über die neueren Ansätze in der Literalitätsforschung ist etwa in Jäger 2002 enthalten. 130 S. Referenzen am Anfang des Kapitels.
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eingetragenen Verzierungen innerhalb der Klauselbildungen. Die „asymmetrischen“ – von dem „rhythmischen Zwang“, den die sprach- und literaturwissenschaftliche Literalitätsforschung traditionell mit der Oralität verbindet131, gelösten – Techniken sind Aspekte des Komponierens, die die Schriftlichkeit fördert. Dass aus diesen asymmetrischen Lösungen in der Literalität neue melodische Topoi entstehen können, konnte anhand der in den Listen der Korrekturen in MLNB geschilderten Regelmäßigkeit der Änderungen festgestellt werden. Dabei sollte wieder versucht werden, der jüngeren Literaliätsforschung folgend, eine strenge Dichotomisierung zwischen Oralität und Literalität zu vermeiden. In Worten Fleisher Feldmans: Es dürfte sich zwischen Oralität und Literalität eher um einen Unterschied in „degree“ als um einen in „kind“ handeln132. Wie die Betrachtung der Behandlung von Ornamenten bereits gezeigt hat, sollen auch in der Musik die Oralität und die Literalität „nicht als Prozesse konsekutiver Ablösung von Stadien betrachtet werden, sondern vielmehr als intermediale Bewegungen und Verschiebungen“133. Aus diesem Grund sei nicht behauptet, dass die oralen Systeme keine Variationsmöglichkeiten oder keine Möglichkeiten zur Bildung von Topoi beinhalten. Dass diese Möglichkeiten aber in der Literalität umfassender sind und der von Assmann und Havelock hervorgehobene „Wiederholungszwang“ darin nicht dominant ist, ist eine These, die die vorausgegangenen Untersuchungen in Bezug auf die Verschriftlichung von Elementen der Musik für Tasteninstrumente im Rahmen von MLNB bestätigt haben. Die Behandlung der Ornamente in MLNB ist auch ein gutes Beispiel für die soziologische Bedeutung der Literalisierungsprozesse in der Musik. Sie kann als Zeuge der gesteigerten sozialen Position des Säkularen in der englischen Musik des elisabethanischen Zeitalters verstanden werden, von welcher Byrds Zeitgenosse und womöglich auch Schüler Thomas Morley schreibt134. Die in MLNB und anderen Quellen der Zeit literalisierte Ornamentik wird im 17. Jh. auch in England theoretisch behandelt135 und dadurch noch deutlicher kanonisiert. Dabei scheint die Intensivierung der Ornamentik-Verschriftlichung im elisabethanischen England dem Geschmack der neuen Musikpatrone durchaus entsprochen zu haben. Nicht nur die oben besprochene Wahl der Kompositionen und Gattungen in MLNB reÁektiert den Geschmack des englischen Adels: Es erscheint plausibel, auch die immer intensivere Aufnahme der Ornamentik in den schriftlichen Kanon der vorwiegend für den Adel geschriebenen Musik für Tasteninstrumente mit dem Kulturkonzept dieses Standes in Verbindung zu bringen. In diesem Konzept stellte gerade das Ornamentale ein wichtiges Prinzip dar, das sich nicht nur auf das Ästhetische, sondern gewissermaßen auch auf das Ethische ausdehnte, weil das ganze Handeln des idealen adligen Hofmanns durch das Konzept des Ornamentalen durchdrungen 131 132 133 134 135
Vgl. etwa Havelock 1992, S. 173 sowie Assmann 1997, S. 98. Feldman 1991, S. 56 f. Epping-Jäger 2002, S. 175 f. Vgl. Morley 1597/1937, S. 179; s. Unterkapitel 3.3.1. Vgl. Hunter 1992, S. 174 f. und Wulstan 1985, S. 135–140; zu einigen Charakteristika der englischen Ornamentik s. etwa Hunter 1990 und 1996.
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war136. Wie in Kapitel 2.6 bereits ausgeführt wurde, galt bei dem im elisabethanischen England intensiv rezipierten Castiglione – der sich von den früheren englischen Autoren in dieser Hinsicht unterschied137 und der für die Konstruktion des elisabethanischen aristokratischen Gelehrsamkeitskonzeptes prägend war – der ganze Bereich der Bildung als „Ornament des Geistes“138: Ein Prinzip, das Anfang des 17. Jh. von Francis Bacon kritisiert wurde139. Natürlich muss die begrifÁiche Gleichheit nicht automatisch eine inhaltliche Verbindung bedeuten. Die musikalischen Ornamente wurden aber bereits in den ersten englischen Traktaten zu diesem Themenbereich tatsächlich mit den Termini grace und relish bezeichnet140, die auch im 16. Jh. inhaltlich dem deutschen Begriff des Zierens entsprachen. Beispiele für die Benutzung des Terminus „to grace“ im Sinne von „to embelish“ sind zu Byrds Zeiten belegt: Man Àndet sie etwa in der Arcadia (1586) Sir Philip Sidneys, dessen Vater mit Sir Henry Neville befreundet war141, sowie bei Shakespeare und Carpenter142. Den Begriff relish benutzt in Verbindung mit der Musik gerade der mit der Familie Neville in Verbindung stehende Sir Thomas Hoby in seiner Castiglione-Übersetzung: „A musitien, yf in singing he roule out but a playne note endinge in a dooble relise wyth a sweete tune“143. Dabei wurde der Terminus grace im elisabethanischen Zeitalter nicht nur als Bezeichnung für musikalische Ornamentik verwendet, sondern er entspricht auch Hobys englischer Übersetzung144 eines Schlüsselbegriffs Castigliones: des schwer übersetzbaren Begriffs grazia145, der sich auf die aristokratische Haltung (und Geisteshaltung) bezieht146. Diese inhaltliche Begriffsverwandtschaft sowie die Entwicklung des adligen „ornamentalen Konzeptes“ einerseits und die gleichzeitige erhebliche Intensivierung der Ornamentik-Literalisierung in der für den gleichen gesellschaftlichen Stand komponierten Musik andererseits sprechen für eine mehr als akzidentelle Verbindung zwischen der Identitätsbildung der elisabethanischen Aristokratie und der Intensivierung der Ornamentik-Literalität in der Musik für Tasteninstrumente. So wie etwa Christian Kaden die Entstehung der Notation und die damit verbundene Entfaltung der europäischen Mehrstimmigkeit mit Aspekten der Entwicklung der mittelalterlichen Gesellschaft in Verbindung bringt147, kann 136 Vgl. Kapitel 2.6. 137 Hierzu vgl. Kapitel 2.6. 138 Castiglione 1937, S. 68, 71, 81 f.; vgl. Kapitel 2.6; auch Plett entgeht die Wichtigkeit von Castigliones Ornament-Konzepten für die Geistesgeschichte Englands im 16. Jh. nicht (vgl. Plett 1983, S. 71). 139 Vgl. Bacon 2000 (1605) sowie Unterkapitel 2.6.5. 140 Vgl. hierzu Hunter 1992, S. 175; zu einigen Charakteristika der englischen Ornamentik s. auch Hunter 1990 und 1996. 141 Vgl. Kapitel 2.6. 142 Vgl. OED, Bd. VI, S. 721. 143 Zitiert nach OED, Bd. XIII, 573. 144 Vgl. Kapitel 2.6. 145 Vgl. hierzu etwa Burke 1995, S. 83 f. 146 Ebd. 147 Vgl. Kaden 1985, S. 335–447.
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man auch die am Beispiel von MLNB beobachtbare, immer intensivere Verschriftlichung von Ornamenten mit der Entwicklung der säkularen Hofgesellschaft in Bezug setzen: Der Stand, der seit den henricianischen und elisabethanischen Kirchenreformen des 16. Jh. in England über einen Großteil des kulturellen Kapitals verfügte, hat in der literalisierten Musik für Tasteninstrumente ein Spiegelbild seines Geschmacks und seiner ästhetischen Vorstellungen bekommen. Ein Schlüssel zum Verstehen des Musikgeschmacks und der Musikrezeption des elisabethanischen Adels ist in George Puttenhams bereits zitiertem148 Arte of English Poesie (1589) zu Ànden. Der von Castiglione beeinÁusste Puttenham149 – ein Neffe Sir Thomas Elyots150 und somit mit den früheren henricianischen Humanisten auch familial verbunden – beschreibt sowohl die Musik als auch die Poesie als Quellen des delight151 und stellt expressis verbis einen Bezug zwischen dem delight-Begriff und dem Ornament in der Poesie her: Mit Letzterem könne das Erstere erreicht werden152. Dabei vergleicht Puttenham das poetische Ornament bezeichnenderweise mit den Ornamenten auf Kleidern der „great Madames of honour“, womit der ideelle Bezug des Ornamentalen in der Poesie zu den ästhetischen Konzepten des herrschenden Standes (dem ja auch Puttenham selbst angehörte) eindeutig wird153. Möglicherweise galt dieser Vergleich im elisabethanischen Zeitalter auch für die – für Puttenham, Sidney und beide Peachams154 der Poesie nahe stehende – Musik: Zwischen der grazia als Teil des Adelshabitus, der musikalischen grace, der Verzierung, und dem sensuellen delight als Rezeptionsmodus scheint ein inhaltlicher Zusammenhang zu bestehen. Schließlich ist die Spur der Musikpatrone in MLNB nicht nur in der detaillierten Literalisierung des musikalischen Materials gut lesbar. Auch die Präsenz des in Kapitel 2.2 beschriebenen Wappens Sir Henry Nevilles stellt einen Aspekt der Verschriftlichung des Aristokratischen dar: Wie die heraldic minstrels die Anwesenheit einer hochrangigen Person mit Einsatz von Blasinstrumenten und Trommeln anzukündigen hatten155, so wird die symbolische Präsenz Sir Henry Nevilles in MLNB nun in literalisierter Form durch den beschriebenen heraldischen Komplex – der, wie in Kapitel 2.2 demonstriert, nicht nur auf eine Familie, sondern auch auf ein konkretes Subjekt hinweist – auf dem Frontispiz demonstriert. In der Terminologie Jan Assmanns: Das Rituelle ist in das Textuelle übergegangen156. 148 149 150 151 152 153 154 155 156
Vgl. Kapitel 2.6. Vgl. hierzu etwa Plett 1983. Vgl. Unterkapitel 2.6.2. Vgl. hierzu Unterkapitel 2.6.3. Vgl. Puttenham 1589/1962, S. 119; dem poetischen Ornament schreibt Puttenham allerdings auch eine Wirkung auf den Verstand zu. Vgl. hiezu z. B. Arbeaus Ausführungen zu den Pavanen (in Edler 1997, S. 159; vgl. Kapitel 5.3). Vgl. Kapitel 2.6. Vgl. Kapitel 2.6. Laut Assmann Àndet nach der Literalisierung der Übergang von „ritueller zu textueller Kohärenz“ statt (Kursiv im Original, Assmann 1997, S. 87 f.). Den Textbegriff bezieht Assmann dabei offenbar nur auf die Literalität. Zu verschiedenen Aspekten des Textbegriffs in Bezug auf Musik s. etwa die Beiträge in Danuser/Plebuch 1998, darin insbesondere Danuser 1998.
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Wenn das Säkulare in der Musik in der Regierungszeit Heinrichs VIII. „emanzipiert“ worden war, dann begann unter seiner Tochter Elizabeth I. schon seine Kanonisierung. Die Behandlung von Manuskripten der Musik für Tasteninstrumente ist einer der lebendigen Zeugen dieses Prozesses. Dank seiner vielen Korrekturen, an denen der neue Wert der Musik für Tasteninstrumente im elisabethanischen England erkannt werden kann, ist MLNB vielleicht der beredteste von ihnen. Dieser Transformationsprozess, der allmählich zur Kanonisierung von Elementen der aristokratisch-säkularen Kultur führte, entstand im Spannungsfeld zwischen den Komponisten und ihren aristokratischen Patronen, die zumindest vor der Einführung des Notendrucks für Tasteninstrumentenmusik in England als Rezipienten dieser Musik dominiert hatten. Das elisabethanische literalisierte delight und grace wären ohne einen William Byrd nicht möglich gewesen, ohne eine Lady Neville aber ebenfalls nicht: Sie sind das Produkt einer Epoche. – In einem großenteils säkularisierten, reformierten England, einem der ersten europäischen Protonationalstaaten, die sich im 16. Jh. vom universalistischen päpstlichkaiserlichen Herrschaftsanspruch erfolgreich losgelöst haben, wundert die geschilderte Entwicklung der intensiveren Literalisierung von Instrumentalmusik nicht, auch wenn sie von einem katholischen Gläubigen, wie es William Byrd war, mitgetragen wurde. Wie bereits betont, schloss sich für William Byrd der römisch-katholische Aspekt seiner Identitätsbildung mit der – genealogisch wohl in Zweifel zu ziehenden157 – Zugehörigkeit zur englischen gentry nicht aus. Die kulturellen Entwicklungen, die durch die staatliche Reformation der Tudors verursacht worden waren, wie etwa die immer intensivere Literalisierung der Volkssprachlichkeit158 sowie der weltlichen Musik159, waren zu Byrds Zeiten bereits zur Norm geworden, wohl vor allem, weil sie dem kulturellen Hintergrund der neuen Führung des Landes entsprachen: der säkularen, humanistischen, gebildeten Aristokratie, die von der „lateinischen“ Kirche in England nicht nur die ökonomischen Besitztümer – die aufgelösten Abteien und ihre Güter – übernahm160, sondern auch einen Teil ihrer Rolle in der Entstehung des kulturellen Kapitals161. Bei aller Besonderheit, die ihn 157 Vgl. Kapitel 2.5. 158 Die Literatur zu diesem Themenkomplex ist zu umfangreich, um hier ausführlicher vorgestellt werden zu können. Es sei vor allem auf Helgersons preisgekrönte Untersuchungen (Helgerson 1992) hingewiesen, in welchen die frühe Konstruktion von englishness im politischen Kontext der elisabethanischen Epoche betrachtet wird (s. u.). Zu Aspekten der verbalen Literalisierung in Bezug auf die Reformation vgl. etwa Ehrlich 1993. 159 In Bezug auf die Position der weltlichen Musik im England des 16. Jh. allgemein s. etwa Bray 1995, passim, Boyd 1962 passim sowie Wulstan 1985, passim. 160 Vgl. Teil 2 und die dort angeführte Literatur. 161 Hierzu sei bemerkt, dass die säkulare Staatsführung der Tudors auch das symbolische Kapital der Kirche dadurch zu übernehmen versuchte, dass sie sich selbst – den König und seine Umgebung – sakralisierte. Die englische Königin ist auch heute noch bekanntlich das Oberhaupt der Church of England.
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durch seine Konfession oder durch seine Person ausgezeichnet haben mag, hatte Byrd offensichtlich Anteil am Kulturdiskurs der elisabethanischen Epoche, der eine neue, säkulare englische Proto-Nationalkultur zu konstruieren begann. Gerade jener Hofpoet Edmund Spenser, Englands Arch-Poet162 der in seinem Prothalamion die Eheschließung von Byrds Widmungsträger aus MNLB, William Petre (Zehnte Pavane), mit Lady Katherine Somerset poetisierte163, fragte sich noch 1580, warum die Engländer nicht „as else the Greeks“ ein „kingdom of our own language“ haben164. Die Konstruktion der sprachlichen englishness, die der Aufruf von Englands „Erzpoeten“ auf den Punkt brachte, war in der elisabethanischen Epoche so intensiv, dass sie laut Richard Helgerson „retrospectively looks like a concerted generational project“165. Gerade Sir John Cheke, der Lehrer jenes Castiglione-Übersetzers aus dem Umfeld der Nevilles, Sir Thomas Hoby, setzte sich für die Verwendung des Englischen in einer „reinen“ und „klaren“ Form ein, die nicht mit Fremdwörtern zu „vermischen“ und „verstümmeln“ sei166. Diese intensive Literalisierung der Volkssprache spielte dabei im Markieren und Kreieren des elisabethanischen Englischseins nicht nur im Bereich der Literatur eine bedeutende Rolle: Wie Helgersons Analysen gezeigt haben, ist auch die intensive Tätigkeit der elisabethanischen Kartographen im Kontext der politischen, sozialen und kulturellen Identitätskonstruktion eines vom Kontinentaleuropa unabhängigen, sich gegen die „unbesiegbare Armada“ des katholischen Universalimperiums der Habsburger erfolgreich wehrenden Englands (1588) zu verstehen167. Das Gleiche galt in Bezug auf die englische Geschichtsschreibung, welcher sich insbesondere William Camden168, einer der Mitbegründer der Society of Antiquaries, widmete und auf der Ebene der Literatur, im Rahmen von historischen Dramen, vor allem William Shakespeare. Auch die geographischen Entdeckungen der Engländer wurden in der elisabethanischen Epoche in literaler Form in der Volkssprache kodiÀziert, wobei insbesondere Richard Haklyts Principal Navigations of the English Nation (1599) hervorzuheben ist169. So fungierten die Musik und die Sprache als mediale Flächen eines protonationalen Literalisierungsprozesses170, der das Land und seine Geschichte, die gesamte geographische, historische und kulturelle Erstreckung des Englischen zum 162 So etwa von seinem zeitgenössischen Herausgeber genannt: Vgl. Spenser 1611, Titelseite (abgebildet u. a. in Helgerson 1992, S. 19); vollständiger Titel im Literaturverzeichnis der vorliegenden Studie. 163 Vgl. Kapitel 2.4. 164 In einem Brief an Gabriel Harvey, zitiert nach Helgerson 1992, S. 1. 165 Helgerson 1992, S. 1. 166 Vgl. hierzu Burke 1995, S. 81. 167 Vg. Helgerson 1992, S. 107–147. 168 Zu William Camden vgl. auch Helgerson 1992, S. 127 f. und passim. 169 Zu Haklyts Arbeit s. Helgerson 1992, S. 163–191. 170 Zum Thema sprachliche Literalität unter Königin Elizabeth I. s. etwa Goldberg 1990, Wheale 1999, Fox 2000, Brooks 2000 sowie Beal/Ioppolo 2007. Einige – leider zum großen Teil irreführende – Hinweise auf MLNB sind im Rahmen von Beal/Ioppolo 2007 in Lawson 2007, S. 158 zu Ànden. Der Autor dankt Dr. Nicolas Bell von der British Library für den Hinweis auf diese während der Entstehung der vorliegenden Arbeit herausgegebene Publikation.
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Gegenstand hatte und nur im Rahmen einer frühen Konstruktion der englishness zu verstehen ist: Die Zeit, der Raum und der Mensch sollten englisch werden171. Wie auch Edmund Spensers oben zitierte Forderung nach staatlicher Volkssprachlichkeit „as else the Greeks“, so steht auch das elisabethanische delight-Musikkonzept, wie das in Kapitel 2.6 zitierte Gedicht Anthony Holborns zeigte, in Bezug zur humanistischen Antikerezeption. Dabei ist dieser Humanismus nicht so dichotomisch von der Kultur der Aristokratie zu trennen, wie das etwa in Helgersons ansonsten bahnbrechenden Untersuchungen geschieht172: In diesen wird teilweise von einem statischen Konzept der aristokratischen Identitätsbildung ausgegangen, die bei Helgerson anscheinend nur auf die ritterlichen Ideale des Mittelalters zurückzugehen hat. Die englische Adelskultur wird dagegen im Rahmen der vorliegenden Studie als gelebte Kultur eines Standes der elisabethanischen Gesellschaft verstanden, der seine eigene Identität, wie auch das Bürgertum, auf die Tendenzen der Epoche beziehend konstruierte und diese Tendenzen in eigenem Kontext transformierte173. Die Untersuchungen des vorliegenden Kapitels, die den Zusammenhang zwischen der Identitätsbildung der englischen Aristokratie und der Literalisierung der Musik für Tasteninstrumente demonstriert haben, stellen auch einen Beitrag zum Verstehen der Verzahnung vom Humanistischen und Aristokratischen in der elisabethanischen Musikkultur dar: Das Konzept der Musik für Tasteninstrumente kann durch seinen privaten und persönlichen Charakter, durch seinen ständigen Bezug auf das humane Subjekt sowie in seinem klaren Ansprechen der menschlichen Psyche, in jenem Evozieren des delight und dem Kampf gegen die elisabethanische Melancholie174, in der Tat als ein besonders deutlicher Ausdruck des Humanistischen175 betrachtet werden. Dennoch galt das Musizieren auf Tasteninstrumenten im elisabethanischen Zeitalter, wie in Teil 2 geschildert, als eine ausgesprochen aristokratische Beschäftigung, die das englische Bürgertum 171 Zu anderen Aspekten der englishness in der elisabethanischen Vokalmusik s. auch Day 1999, S. 14–39. Zu Aspekten der späteren Konstruktionsprozesse von englishness vgl. die in Kapitel 1.2 angeführte Literatur. 172 Helgerson (1992, S. 44) weist, in diesem Fall stark dichotomisierend, darauf hin, dass der Geist des Humanismus, nach England vor allem durch einen holländischen burgher (gemeint ist Erasmus von Rotterdam) „gebracht“ und hauptsächlich von einem Londoner „Rechtsanwalt“ (gemeint ist Sir Thomas More) vertreten, mit der Kultur der Aristokratie nicht viele Gemeinsamkeiten hatte. Dabei geht es bei dem von Helgerson apostrophierten Erasmus von Rotterdam, auf welchen der englische Humanismus zurückgeführt wird, offensichtlich um den miles christianus – also eine reformierte Kultur des Rittertums und des Adels (vgl. Helgerson 1992, S. 43 f.). Die späteren englischen Humanisten, wie der in Kapitel 2.6 genannte Sir Thomas Elyot, verfolgten die stark bürgerliche Orientierung Thomas Mores nicht: Nach Gerd Dose stellt Elyots Haltung gerade eine Art „aristokratische Antwort auf die Herausforderung eines Literatenhumanismus à la Erasmus“ dar (vgl. Dose 1977, S. 196). 173 Wie etwa Heinrich Plett in Bezug auf die Orpheus-Mythosrezeption im elisabethanischen England gezeigt hat (vgl. Plett 1983, S. 70 f.). 174 Zu diesen Aspekten s. Kapitel 2.6. 175 In diesem Kontext sei wieder auf Pletts (1983) Darstellung des englischen Humanismus-Konzepts, die Studie Majors (1964), sowie auch auf die in Kapitel 2.6 zitierten Arbeiten Paliscas (1985, 1988 und 1994) u. a. hingewiesen.
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erst später zu „entdecken“ begann176. Darüber hinaus scheinen die Aspekte der Literalisierung der Tastenmusik vor allem dem Geschmack und den ästhetischen Vorstellungen der Aristokratie entsprochen zu haben. Das Humanistische und das Aristokratische sind daher im elisabethanischen England – zumal in Bezug auf die Musik – nicht als zwei gegensätzliche Konzepte zu betrachten, sondern sie gehen ineinander über, so wie sich auch die Familien des mittelalterlichen Adels und die Träger der alten, ritterlichen Kultur, wie die Nevilles und die Somersets, mit den Familien „niederer“ Herkunft alliierten, aus welchen bedeutende Denker und Staatsmänner der Epoche hervorgegangen waren, wie die Bacons und die Petres. An einer solchen sowohl materiellen, als auch geistigen Schnittstelle entstand auch die Sammlung My Ladye Nevells Booke.
176 Vgl. Kapitel 2.6.
4. HOF, KRIEG, LANDLEBEN: DAS KONZEPT VON MY LADYE NEVELLS BOOKE 4.1 REFLEXIONEN DER ADELSKULTUR IN DER AUSWAHL DER KOMPOSITIONEN Kaum ein anderer Aspekt von MLNB reÁektiert das soziale Umfeld des englischen Adels so deutlich wie die Auswahl der darin enthaltenen Kompositionen und ihre Reihenfolge. Dabei Àndet dieses ReÁektieren auf unterschiedlichen Ebenen statt. Die Ebene der Widmungen an Adelsangehörige ist die offensichtlichste: Drei der in der Sammlung enthaltenen Kompositionen sind unmittelbar Elizabeth Neville gewidmet: My Lady Nevell’s Ground (Nr. 1), Chi passa (Nr. 2) sowie Voluntary for My Lady Nevell (Nr. 26), während zwei Kompositionen, die Pavane und die Galliarde Nr. 39 und 40, dem mit Sir Henry Neville verwandten William Petre II. zugeeignet sind1. Darüber hinaus weisen auch andere in MLNB enthaltenen Stücke nominelle Verbindungen zu Mitgliedern der elisabethanischen Aristokratie auf: Der March before the Battle trägt in FWVB den Namen des Earl of Oxford, während Lord Willoughby’s Wellcome Home eine populäre Ballade über diesen adligen OfÀzier variationstechnisch bearbeitet2. Darüber hinaus geht auch der Titel von Monsieur’s Alman (Nr. 38) höchstwahrscheinlich auf den üblichen Titel des Bruders des Königs von Frankreich zurück3. Sowohl der Earl of Oxford als auch Lord Willoughby de Eresby waren im übrigen mit der Familie Neville entfernt verwandt4. Das dürfte jedoch zumindest im ersteren Fall nicht entscheidend für die Aufnahme in MLNB gewesen sein, da der Marsch in MLNB nicht den Namen des Earl trägt und die Namensgebung in FWVB späteren Datums ist5. Dass die melodische Vorlage von Sellinger’s Round auf eine irische Melodie zurückgeht, welche die minstrels im Dienste von Lord Deputy Sir Anthony St. Leger 1543 aus Irland nach England gebracht haben sollen6, ist eine These, die im Kontext des Adelsbezugs von MLNB zwar bestätigend wirken würde, die aber dennoch spekulativen Charakters ist. Nicht unwahrscheinlich ist eine Assoziation der Variationsreihe Walsingham mit dem elisabethanischen Staatsmann Sir Francis Walsingham7, obwohl es sich vordergründig nicht um eine wirkliche Zueignung 1 2 3 4 5 6 7
Zur Familie Petre und ihrer Verwandtschaft mit der Familie Neville of Billingbear vgl. Kapitel 2.4. Vgl. Kapitel 2.4. Vgl. etwa Neighbour 1978, S. 167. Vgl. hierzu Kapitel 2.4 sowie die genealogischen Tabellen in Anhang B zu Teil 2. Zur Entstehung von FWVB vgl. die polemischen Artikel von Thompson (2001) und Smith D. (2002). Die Entstehung von MLNB vor FWVB steht aber nach wie vor außer Frage. So Alan Brown in MB XXVIII, S. 198. Vgl. Harley 1997, S. 251 sowie Edler 1997, S. 284.
154
4. Hof, Krieg, Landleben: Das Konzept von My Ladye Nevells Booke
gehandelt haben dürfte: Walsingham stellt eine Variationsreihe auf ein bekanntes Lied dar, das sich auf den Ort Walsingham bezieht8. Der Originaltitel aus MLNB „have wt you to walsinghame“ (Folio 135v) bestätigt, dass es sich um die Ortschaft Walsingham gehandelt hat. Personenbezogene Assoziationen sind natürlich nicht gänzlich auszuschließen. Mehrere Titel der in MLNB enthaltenen Stücke weisen nicht auf konkrete Adelsangehörige hin, reÁektieren jedoch die zeitgenössische englische Adelskultur. So bezieht sich das Barley Break (Nr. 6) auf ein ländliches Versteckspiel gleichen Namens, das gerade von Sir Philip Sidney9 in seinem Gedicht Lamon10 besungen wurde. Der engagierten Ausführlichkeit dieses Textes Sidneys nach zu urteilen, sowie angesichts des pastoralen Kontexts, der bekanntlich als Idealisierung des HöÀschen verstanden werden konnte11, ist zu vermuten, dass Barley Break für Angehörige der englischen Aristokratie eine angemessene Beschäftigung darstellte12. Der Titel des Ground Hunt’s up (Nr. 8), benannt nach einer präexistenten Liedvorlage13, bezieht sich auf eine Tätigkeit, die im 16. Jh. als vom uradligen Habitus untrennbar und dem Adel vorbehalten galt: die Jagd, die noch im 14. und 15. Jh. in der Gattung der Caccia ein musikalisches Echo gefunden hatte14. Die Bass-Vorlage für diesen Ground war in frühen englischen Liedsammlungen auch unter dem Namen Peascod Time15 bekannt; es ist daher bezeichnend, dass für MLNB, eine Sammlung für eine ausgesprochen aristokratische Familie, gerade jener andere Titel mit standesspeziÀscher Jagd-Konnotation gewählt wurde16. Auf einer anderen Ebene benutzten auch John Bull und Giles Farnaby die Jagd als Motiv für ihre eigenen Werke mit dem Titel The King’s Hunt (MB XIX/125 sowie MB XXIV/49)17: Es handelt sich hierbei, wie etwa in Byrds Battle (MLNB/4), um eine programmatische Bezugnahme und Tonmalerei, nicht, wie in Byrds Hunt’s up, um die Übernahme einer Liedvorlage18. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Vgl. etwa Harley 1997, S. 251. Sir Philip Sidney galt dabei als die englische Verkörperung von Castigliones Idealbild eines Hofmanns (vgl. Unterkapitel 2.6.3). Er war Sohn des mit Sir Henry Neville befreundeten Sir Henry Sidney (vgl. Unterkapitel 2.6.3 und weiter unten). Sidney 1962, S. 242–252; das Spiel „Barley Break“ wird auf ganzen sechs Seiten (S. 247–252) beschrieben (Vers 208–416); vgl. auch Sidney 1962, S. 495, Anm. Vgl. hierzu weiter unten. Der Bezug von Byrds Stück zum elisabethanischen Versteckspiel ist dabei nicht nur nominell: Bereits Oliver Neighbour (1978, S. 174) hat auf die Repräsentation des von Sidney besungenen Versteckspiels durch Tonmalerei in Byrds Barley Break aufmerksam gemacht. Vgl. Neighbour 1978, S. 123. Es sind dabei keine Intavolierungen der Caccia-Gattung überliefert (vgl. Edler 1997, S. 182). Vgl. etwa Neighbour 1978, S. 123; vgl. auch Orlando Gibbons’ gleichnamige Komposition (MB XX/30). Er wurde auch für Gibbons’ gleichnamiges Stück in BCVB verwendet (vgl. Gerald Hendries Kritischen Bericht in MB XX, S. 99). In diesem Kontext sei noch auf Thomas Tomkins’ Hunting Galliard (MB V/58) hingewiesen. Zu Jagdstücken in der alten Musik für Tasteninstrumente vgl. etwa Edler 1997, S. 182 f. Es ist unklar, ob Byrd’s Hunt’s up auf gleiche Weise „programmatisch“ ist, wie etwa sein BattagliaZyklus. Eine vergleichbare Eindeutigkeit im Material fehlt.
4.1 ReÁexionen der Adelskultur in der Auswahl der Kompositionen
155
Die Assoziationen von Byrds Hunt’s up aus MLNB gehen möglicherweise auch über die allgemeine Ebene der elisabethanischen Adelskultur hinaus. Dass Sir Henry Neville of Billingbear einen Großteil seines Lebens als Jagdaufseher im königlichen Forst von Windsor verbracht hat19, mag in diesem Kontext für die Aufnahme der Komposition in MLNB unter dem Titel Hunt’s up auch eine Rolle gespielt haben. Diese Vermutung erscheint umso plausibler, wenn man berücksichtigt, dass die wahrscheinliche Liedvorlage für Hunt’s up ein Gedicht war, in welchem gerade eine königliche Jagd besungen wurde, wie sie Sir Henry dank seiner Stellung in Windsor mehrmals erlebt haben durfte20. Darüber hinaus bezieht sich das Lied auf einen König, der ebenfalls Henry („Harry, our King“) geheißen hat. Die Variationsreihe (All in the) Garden Green (Nr. 32)21 kann ebenfalls einen Bezug zur Familie Neville gehabt haben, auch wenn sie früher als 1591 entstanden ist, wie Oliver Neighbour vermutet22. Die melodische Vorlage ist unbekannt und Bearbeitungen anderer Komponisten sind nicht überliefert worden. Dabei könnte der Titel womöglich als Anspielung auf den von „Ladye Nevell“ bevorzugten Landsitz Greenlands bei Henley an der Themse verstanden werden, der für ihre Identitätsbildung von Bedeutung gewesen war23. Diese These ist zugegebenermaßen spekulativer Natur, ist aber dennoch nicht gänzlich unberechtigt: Es ist bekannt, dass im Umfeld Byrds Wortspiele dieser Art beliebt waren. So wurde etwa der Name des Komponisten immer wieder sowohl von ihm selbst als auch von seinen Zeitgenossen – unter anderem auch von John Baldwin, dem Schreiber von MLNB – zu mehr oder minder einfallsreichen puns benutzt, die Anspielungen auf die Eigenschaften eines Vogels (Byrd/bird) beinhalteten24. Byrd selbst benutzte auch Wortspiele in dem Sir John Petre gewidmeten zweiten Buch der Gradualia25, indem er im Motettenzyklus zu Ehren des Petrus-und-Paulus-Tages das Wort Petrus wiederholt hervorhob: eine Anspielung auf Sir John Petres und William Byrds Katholizismus gewiss, aber gleichzeitig wohl auch auf den Namen des Widmungsträgers und den seines Landsitzes Ingate-Stone26 in Essex. Eine solche Anspielung auf den Namen des Landsitzes der Widmungsträgerin wäre also auch im Falle einer in MLNB enthaltenen Komposition denkbar. Ungeachtet der konkreten Anspielungen auf die Familie Neville hat der Titel von All in a Garden Green, wie auch jener von Barley Break27, offenbar eine pastorale Konnotation, wobei das Pastorale in der Adelsliteratur der Zeit – insbesondere bei Sir Philip Sidney, dessen Hauptwerke bezeichnenderweise Old und New 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. Zitat am Anfang dieses Teils der Studie. Vgl. Tabelle 1 im Anhang. Vgl. Neighbour 1978, S. 154. Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. hierzu etwa Harley 1997, S. 365–367. Ausgabe: BE 7a–b. Vgl. hierzu Brett 2007, S. 191–193, McCarthy 2007, S. 179–183 sowie Kerman 1981, S. 305– 318. S. o.
156
4. Hof, Krieg, Landleben: Das Konzept von My Ladye Nevells Booke
Arcadia heißen28 – eine hervorgehobene Rolle gespielt hat. Am deutlichsten sticht der Bezug der pastoralen Thematik zur elisabethanischen Hof- und Adelskultur in einer Interpretation der pastoralen Namen von Thomas Watson hervor: „I Àgure Englande in Arcadia; Her Majestie in Diana; Sir Francis Walsingham in Meliboeus; Sir Philip Sidney in Astrophil and his Ladie in Hyale29.“ Das Pastorale in der elisabethanischen Kultur stellt daher eine Idealisierungsform des HöÀschen dar: Auch die von Thomas Morley herausgegebene Madrigalsammlung The Triumphes of Oriana (1603, mehrere Komponisten) ist eines der Beispiele für den Hofbezug des Pastoralen30. Aus diesem Grund kann das Pastorale, anders als etwa das Sujet der Schlacht, als eine Vereinigung der traditionellen Kultur des Adels, dessen ökonomisches Kapital und Lebensstil noch im 16. Jh. im hohen Maße auf Landbesitz basierten, mit Aspekten des humanistischen Denkens31 verstanden werden: etwa mit der im Arkadien-Bezug reÁektierten Antike-Rezeption und dem Bezug zum „freien Seelenleben“ des Menschen. Der Adelsbezug der für die Sammlung MLNB ausgewählten Kompositionen erstreckt sich auch auf die Ebene der musikalischen Gattungen. So ist der aus drei separat nummerierten, aber offensichtlich programmatisch aufeinander bezogenen Stücken bestehende Battaglia-Zyklus – The March before the Battle (Nr. 3), The Battle (Nr. 4) und The Galliard for the Victory (Nr. 5) – einer der essentiellen Betätigungen des alten Adels, der Kriegsführung, gewidmet. Der Bezug dieser Stücke zum unmittelbaren Umfeld der Entstehung von MLNB wird umso deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass das Stück The Battle wahrscheinlich auf eine Vorlage zurückgeht, welche die Kriegshandlungen Sir Henry Sidneys, Freund Sir Henry Nevilles und Vater des Hofdichters Sir Philip Sidney, gegen den Irenhäuptling Turlough Lynagh O’Neale (O’Neill) in Irland darstellt32: Die Holzstiche aus John Derricks The Image of Irlande (1581), die den Kampf Sidneys gegen irische Rebellen darstellen, entsprechen weitgehend den Sätzen aus Byrds Zyklus: The Soldiers’ Summons, The March of Footmen, The March of Horsmen, The Trumpets, The Irish March, The Bagpipe and the Drone, The Flute and the Drum, The March to the Fight, The Retreat. Lediglich der Satz The Flute and the Drum Àndet in Derricks Stichen keine Entsprechung. Darüber hinaus war Derricks Buch Sir Henry Sidneys Sohn, dem bereits mehrmals zitierten Poeten Sir Philip Sidney, gewidmet, dessen Gedichte Byrd vertonte und mit dem er möglicherweise in Verbindung stand33. Auch Arnfried Edler bringt den Battaglia-Zyklus Byrds in Verbindung mit dem sozialen Umfeld, in welchem die englischen Virginalsammlungen entstanden sind und führt – mit gebotener Vorsicht – gerade die Abwesenheit von The Battle in 28 29 30 31 32 33
Zu Sidney vgl. Kapitel 2.6. Zitiert nach Duncan-Jones 1990, S. 177. Obwohl unterschiedliche Interpretationen des konkreten politischen Kontexts der Sammlung möglich sind: hierzu ausführlicher in Smith J. 2005, passim. Vgl. hierzu Unterkapitel 2.6.3 und die dort angeführte Literatur. Derrick 1581; vgl. MB XXVIII, S. 201. Vgl. MB XXVIII, S. 201 sowie zur Sidney-Rezeption Byrds: Duncan-Jones 1990, May 1991, S. 64, 101/Anm. 53, 116, 320, Smith J. 2005.
4.1 ReÁexionen der Adelskultur in der Auswahl der Kompositionen
157
FWVB auf die Biographie und soziale Opferposition des wahrscheinlichen Schreibers Francis Tregian zurück, dem das Militärische wohl fremd gewesen sei34. Der Bezug zwischen Standeskultur und Musiksammlung ist im Falle von MLNB vielleicht noch deutlicher, da The Battle, angekündigt durch den March before the Battle und gefolgt von The Galliard for the Victory, an einer denkbar prominenten Stelle – unmittelbar nach den beiden Lady Neville gewidmeten Grounds, die die Sammlung eröffnen – steht. Der Geschmack der Widmungsträgerfamilie, insbesondere des uradligen Ehemannes – an Heraldik interessierter Besitzer der bereits erwähnten Waffenkammer und Freund Sir Henry Sidneys35 – erforderte nahezu die Präsenz von solch einem Stück in der Sammlung. Auf der Ebene des GattungsspeziÀschen ist auch das in MLNB zentral platzierte Corpus von durchnummerierten Pavanen und Galliarden mit der englischen Adelskultur in Verbindung zu bringen: Die beiden Tanztypen sind aus der Hofkultur des 16. Jh. nicht wegzudenken. Die Pavane diente dabei nicht nur als feierliche Tanzmusik, sondern auch als Prozessionalmusik36, während die Galliarde als besonders aristokratische Gattung von schnellen Tänzen gegolten haben dürfte: Königin Elizabeth I. selbst soll, zeitgenössischen Berichten zufolge, morgens „sechs oder sieben Galliarden“ getanzt haben37. Der gleiche Bezug zur Hofkultur dürfte auch für das Galliard Jig (Nr. 7) gelten38. Auch bei den Pavanen und Galliarden sind möglicherweise konkrete Bezüge zur Familie Neville of Billingbear zu Ànden: So trägt die Sexte Pavane den Namen einer gewissen Kinborough Good, die von der Geburt her offenbar nicht der Aristokratie angehört hatte, jedoch (vor der Fertigstellung von MLNB, aber wohl nach der Entstehung der Pavane) in die irische aristokratische Familie Barnewell/Barnewall39 einheiratete40. Möglicherweise ergibt sich dadurch der Bezug zum Kreis von Sir Henry Nevilles Freund Sir Henry Sidney, dem damaligen Lord Deputy von 34 35 36 37 38 39
Vgl. Edler 1997, S. 179. Vgl. Unterkapitel 2.6.3. Vgl. Morley 1597/1937, S. 181; vgl. auch Edler 1997, S. 159. Vgl. WoodÀll 1953, S. 188 sowie Price 1981, S. 16; vgl. auch Unterkapitel 2.6.1. Zum Adelsbezug von Pavanen und Galliarden ausführlicher in Kapitel 5.3. Der Name der Widmungsträgerin im Titel der Sechsten Pavane ist zwar immer noch Good und nicht Barnewell: Das kann aber lediglich darauf hinweisen, dass das Stück vor der Allianz beider Familien (1589) komponiert worden war und dass Baldwin den alten Namen aus Byrds Autograph übernommen hat (vgl. Harley 1997, S. 362 f. sowie Alan Brown in MB XXVII, S. 178.). 40 Kinborough Good war die Tochter des Arztes James Good (vgl. MB XXVII, S. 178); ihr Ehemann Robert Barnewell wurde als „esquire“ bezeichnet, was auf seine Zugehörigkeit zur gentry hinweist (vgl. hierzu Kapitel 2.1). In der verfügbaren historischen Literatur sind keine weiterführenden Hinweise auf das Ehepaar Barnewell-Good zu Ànden. Diesbezügliche Archivanfragen des Verfassers blieben ebenfalls ergebnislos. In Irland existierte im 16. Jh. die Baronie Barnewell of Trimelstone, deren Mitglied der besagte Robert möglicherweise war, da in dieser Familie der Vorname Robert vom 15. bis zum 18. Jh. mehrfach belegt ist (vgl. COKAYNE, Bd. XII.B, S. 35–46). Eine Tochter von Robert und Kinborough Barnewell, die auch mit Vornamen Kinborough hieß, heiratete Christopher Nugent (vgl. G. B. D. 1901), der ebenfalls der irischen gentry angehört haben muss. Ab dem 17. Jh. sind auch in der Familie Nugent Peerages
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4. Hof, Krieg, Landleben: Das Konzept von My Ladye Nevells Booke
Irland: Es ist belegt, dass das Oberhaupt der Baronenfamilie Barnewell of Trimelstone, der ebenfalls den Namen Robert trug, von Sidney als Stellvertreter der englischen Königin 1566 zu Drogheda zum Ritter geschlagen wurde und danach „was doing good service against O’Neill“41, dessen Niederlage gerade die Vorlage zu Derricks Image of Irlande und dadurch auch zu Byrds The Battle darstellte. Darüber hinaus wurden die Barnewells von Sir George Carew, einem hochrangigen Vertreter der englischen Verwaltung in Irland unter Elizabeth I., als eine derjenigen irischen gentry-Familien genannt, die der englischen Krone treu gewesen seien42. Aus all diesen Gründen scheinen die Verbindungen der Barnewells zum englischen Adel und konkret zur Familie Neville of Billingbear nicht ausgeschlossen zu sein. Die von Alan Brown vermutete irische Herkunft des Sellinger’s Round43 erscheint zumindest in diesem Kontext interessant, denn unter Lord Deputy Sir Anthony St. Leger, den Brown offenbar als „Sellinger“ identiÀziert haben will, kämpfte auch Sir Patrick Barnewall, der Vater des genannten Robert Barnewall, Lord Trimelstone44. Ob es dabei zwischen dem Irland-bezogenen Schlachtengemälde The Battle, der Pavane für Kinborough Good-Barnewell und der Variationsreihe Sellinger’s Round in MLNB eine intentionale Verbindung gibt, ob es sich lediglich um ein generelles Interesse der Patrone an Irland handelt, oder aber um Zufall, kann kaum beantwortet werden, da keine weiteren historischen Hinweise vorliegen. Insgesamt kann anhand der vorausgegangenen Ausführungen festgestellt werden, dass mehr als 30 von insgesamt 42 in MLNB enthaltenen Kompositionen klare Bezüge zur elisabethanischen Adelskultur aufweisen. Dabei werden in MLNB vier essentielle Merkmale der elisabethanischen Adelskultur reÁektiert: die Kriegsführung, die traditionell in den Händen des alten Adels lag, das Landleben und die Jagd – mit dem aristokratischen Landbesitz und dem Adelshabitus untrennbar verbunden – sowie das HoÁeben. So Ànden in MLNB, wie auch im heraldischen Komplex auf dem Frontispiz des Buches, die Stützpfeiler des traditionellen aristokratischen symbolischen Kapitals (Ehre im Krieg oder der Jagd, Position am Hofe) sowie des ökonomischen Kapitals (Landbesitz) und des kulturellen Kapitals (die Hofkultur) ihre ReÁexionen. In MLNB sind aber auch Kompositionen zu Ànden, die den Geschmack der gelehrten, humanistisch orientierten Aristokratie reÁektieren: die Fantasien, deren Kompositionstechnik zumindest in den Exordialabschnitten den polyphonen Motetten nachempfunden ist45. Dabei ist zu betonen, dass in MLNB – im Unterscheid etwa zu früherem Mulliner oder zu späterem FWVB – kein einziges Stück enthalten ist, das einen wirklichen Kirchenbezug aufweisen könnte. Diese Tatsache stellt ein beredtes Zeugnis von der Übernahme des ursprünglich der Kir-
41 42 43 44 45
belegt (vgl. COKAYNE, Bd. IX, S. 796, 793). Weitere familale Verbindungen zur Familie Barnewell of Trimelstone lassen sich im 18. Jh. Ànden (vgl. COKAYNE, Bd. IX, S. 793). COKAYNE, Bd. XII.B, S. 38.; Roberts Bruder und Nachfolger als Baron Trimelstone wurde allerdings wegen Ungehorsams von Sidney inhaftiert (ebd.). Vgl. LPL MS 621, 106 (1603). Vgl. MB XXVIII, S. 198. Vgl. COKAYNE, Bd. XII.B., S. 37. Vgl. hierzu Kapitel 5.2.
4.2 Ein Decrescendo des Aristokratischen
159
che zustehenden kulturellen Kapitals durch den Säkularadel dar: Die polyphone Kompositionstechnik ist in MLNB von ihrem ursprünglichen sakralen Kontext völlig getrennt und mit einem ausgesprochen weltlich und aristokratisch geprägten Musikcorpus alliiert. Byrds Fantasien sind daher, trotz ihrer Kompositionstechnik, nicht einfach Werke im Stylus gravis – Morleys grave musicke46 – sondern eine neue Musik für den weltlich-gelehrten Stand des elisabethanischen Englands. Diese Allianz des Aristokratischen und Humanistischen, der Nevilles und der Bacons, spiegelt sich auf der Ebene der Auswahl der in MLNB enthaltenen Kompositionen auf besonders deutliche Weise wider. Schließlich beinhaltet die Sammlung MLNB auch Kompositionen, die weder der Gattung der „gelehrten“, vorwiegend polyphonen Musik, noch den anderen, ausgesprochen aristokratisch konnotierten Gattungen angehören: Es handelt sich um diejenigen Grounds und Melodievariationen, die weder durch ihre Gattungskonzeption noch durch ihren Titel einen Bezug zur Adelskultur aufweisen. Die meisten dieser Werke stehen durch die Übernahme von Vorlagen aus dem englischen Volksliedergut wie etwa Woods so Wild in Bezug zu den frühen Konstruktionsversuchen der englishness, jener bereits besprochenen Tendenz der elisabethanischen Kultur nach einer mehrere Kulturaspekte umfassenden Verschriftlichung des Englischen47. Durch ihre Vermischung mit den gelehrten polyphonen Kompositionen und den Stücken mit explizitem Bezug zur Kultur des alten Adels werden diese Werke in MLNB als ein Teil des musikalischen Kanons behandelt. Auf diese Weise stellt die Auswahl der in MLNB enthaltenen Kompositionen ein komplexes Spiegelbild der Tudor-Ära dar: In ihr sind sowohl die Säkularisierung und die Anglisierung der (literalen) englischen Kultur als auch die Übernahme des kulturellen Kapitals durch die weltliche Oberschicht in ihren verschiedenen Formationen deutlich erkennbar. 4.2 EIN DECRESCENDO DES ARISTOKRATISCHEN: ZUR FRAGE DER GLIEDERUNG VON MY LADYE NEVELLS BOOKE Dass MLNB, im Unterschied zu anderen zeitgenössischen englischen Manuskripten der Musik für Tasteninstrumente auf einem „Konzept“ beruht, stand in der bisherigen Byrd-Forschung außer Frage: Zu offensichtlich ist die Gruppierung der Kompositionen in gattungsmäßig gegliederte Einheiten (vgl. Tabelle 1 im Anhang), um eine gewisse Ordnung leugnen zu können. Bei den im zentralen Teil des Corpus positionierten Pavanen und Galliarden ist diese Ordnung durch die Nummerierung der Stücke ersichtlich, wobei es Versuche gab, ihre Ordnung auch tonartlich zu interpretieren48. Die bisherige Byrd-Forschung hat sich mit der Frage des Konzeptes von MLNB vor allem intentionalistisch beschäftigt und dabei unterschiedliche The46 47 48
Vgl. Kapitel 3.3. Vgl. Kapitel 3.3 und 5.4. Dazu vgl. Kapitel 1.2 sowie Teil 5.
160
4. Hof, Krieg, Landleben: Das Konzept von My Ladye Nevells Booke
sen hinsichtlich der – wirklichen oder vermeintlichen – Absichten Byrds bei der Fertigstellung der Sammlung aufgestellt49. Dabei ist vorerst Folgendes festzuhalten: Wie im Fall der in Teil 3 behandelten Korrekturen, so ist auch bei der Betrachtung der Gliederung von MLNB die Frage der Urheberschaft völlig unklar. Eindeutige Hinweise darauf, dass gerade William Byrd die Arbeit Baldwins und die Zusammenstellung von MLNB beaufsichtigt hat, sind in den verfügbaren Quellen nicht zu Ànden. Darüber hinaus wies auch Baldwin, der, wie bereits ausgeführt, sehr darauf bedacht war, Byrds Autorschaft und Autorität so häuÀg und so markant wie möglich zu unterstreichen50, in seinem Postskript zu MLNB gar nicht darauf hin51. Während er bei Woods so Wild sogar versucht hatte, die Entstehung eines einzelnen Stückes zu datieren52, gab er am Ende der Sammlung lediglich an, wann er selbst die Sammlung „fertig gestellt und abgeschlossen“ habe (s. Folio 194v, Abb. 38): fÀnished & ended the leventh of / september: in the yeare of our lorde / God . 1591 . & in the . 33 . yeare of / the raigne of our sofferaine ladie / Elizabeth by the [nachträglich hineingeschoben „grace of“] God queene of / Englande: &c / By me Jo: baldwine of windsore:–. / .–: laudes : deo :–.53
Das muss – wie im Falle der Korrekturen54 – nicht bedeuten, dass Byrds Aufsicht und die Idee von einer kompositorischen „Gesamtkonzeption“ von MLNB ausgeschlossen sind. Man muss sich aber über den Spekulationscharakter dieser These im Klaren sein. Darüber hinaus scheint die bisherige Forschung – ohne es offen auf diese Weise ausformuliert zu haben – diesbezüglich im Kreis argumentiert zu haben: Die unbestätigte These, dass Byrd das Manuskript korrigierte55, unterstützte die These, der Komponist habe auch die Fertigstellung der Sammlung beaufsichtigt und sei folglich auch für deren „Gesamtkonzeption“ zuständig gewesen – und umgekehrt. Die Tatsache, dass dabei auch die zu Lebzeiten Byrds gedruckte Sammlung Psalmes, Sonets & Songs (1588), nach Gattungen gegliedert wurde56, kann zwar als bestätigender Hinweis, wohl aber nicht als Schlüsselargument für die These dienen, die Konzeption von MLNB sei Byrds „Werk“ gewesen. William Byrd wird von John Baldwin eindeutig als autour der einzelnen Kompositionen, nicht als Autor der Sammlung als Ganzes ausgewiesen. Das bleibt relevant, auch wenn Byrd mit Baldwin die Reihenfolge der in MLNB enthaltenen Kompositionen besprochen und die Sammlung korrigiert haben soll. Denn wenn der Komponist die Sammlung tatsächlich konzipiert und korrigiert hat und trotzdem seine Autorschaft nicht mit der Sammlung als Ganzes in Verbindung hat brin49 50 51 52 53 54 55 56
Referenzen s. weiter unten. Vgl. Kapitel 3.2. Zu diesem Postskript s. u. Folio 113r; vgl. auch Kapitel 3.2. MLNB, Folio 194v. Transkription des Verfassers. Abgedruckt u. a. auch in Harley 1997, S. 406. Vgl. Teil 3. Vgl. Kapitel 3.2. Wie bereits von Oliver Neighbour im Kontext seiner Besprechung von MLNB hervorgehoben (vgl. Neighbour 1978, S. 21).
4.2 Ein Decrescendo des Aristokratischen
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gen lassen, dann ist das erst recht ein Zeichen dafür, dass seiner Epoche und ihm persönlich der Gedanke, eine Sammlung der Musik für Tasteninstrumente insgesamt seiner kompositorischen Autorität unterzuordnen (wie etwa bei Drucksammlungen der Vokalmusik üblich), fremd gewesen war57. MLNB ist aus diesem Grund nicht als ein „musikalisches Werk“ im spätneuzeitlichen Sinne oder als ein zeitgenössisches opus perfectum et absolutum58 zu betrachten, sondern es stellt ein Commonplace Book, eine Musiksammlung, ein Musikalisch-Geschriebenes dar, welches nicht vom Konzept der Autorschaft durchdrungen ist. Die Sammlung MLNB trägt nicht den Namen Byrds, sondern den Namen Lady Nevilles, das Wappen Sir Henrys und, im Postkript, den Namen John Baldwins. Es ist ein englisches, ein elisabethanisches und ein aristokratisches Music Book; wir sind aber nicht „autorisiert“, die Sammlung als Ganzes Byrd zuzuweisen. So erscheint es sinnvoll, die Reihenfolge der in MLNB enthaltenen Stücke als Ausdruck eines epochenbezogenen Musikdenkens zu betrachten und in diesem Lichte auch die Thesen der bisherigen Forschung zu prüfen. Oliver Neighbour und John Harley waren sich nicht einig, ob MLNB aus zwei oder drei Abschnitten bestehe, wobei Neighbour von einer zweiteiligen, Harley dagegen von einer dreiteiligen Konzeption ausging. Für Neighbour bilden den ersten Abschnitt der Sammlung die ersten 25 Stücke (vgl. Tabelle 1 im Anhang), den zweiten die Kompositionen mit Nummern 26–4259, während Harley von einem dreiteiligen Konzept ausgeht: Im ersten (Nr. 1–9) seien Grounds, programmatische Kompositionen und Tänze zu Ànden, im zweiten (Nr. 10–25) Pavanen und Galliarden und im dritten (Nr. 26–42) polyphone Kompositionen und Melodievariationen60. Dabei schrieben die beiden Forscher allen Kompositionen, die nicht ihren Konzepten entsprachen, eine Fehlplatzierung zu: So sei laut Neighbour etwa der Ground Hunt’s up im ersten Abschnitt von MLNB falsch platziert worden, da ja der dritte Abschnitt für Grounds vorgesehen sei, während Harley die Argumentation umkehrt und die Grounds im dritten Abschnitt der Sammlung als „slip out“ bezeichnet, sei doch der erste Abschnitt dieser Gattung vorbehalten61. Die Unsicherheit solcher Konstrukte – Harley griff auch zur Zahlensymbolik, ohne dass sie jedoch zu konkreten Ergebnissen führte62 – muss nicht gesondert hervorgehoben werden. Sie entstammen offensichtlich der nicht nachweisbaren und mit dem Usus der Epoche nicht in Einklang zu bringenden Hypothese von einer sich auf die ganze Sammlung erstreckende Au(k)torität des Komponisten. Berücksichtigt man jedoch das geschilderte soziale Umfeld, in welchem MLNB entstanden ist, dann kann eine Alternativthese zur Konzeption von MLNB als Gan57 58 59 60 61 62
Diesbezügliche Vergleiche mit anderen Sammlungen der Epoche können nicht durchgeführt werden, da nur MLNB aus Stücken eines einzelnen Komponisten besteht (s. Teil 1). Eine Erörterung dieses Begriffs in seinem Verhältnis zum Autorbegriff Àndet in jüngster Zeit in Calellas bereits zitierter Studie über die musikalische Autorschaft statt (vgl. Calella 2003, II.). Zu diesem Themenkomplex vgl. etwa auch Loesch 2001 sowie Seidel 1987. Vgl. Neighbour 1978, S. 21 f. Vgl. Harley 1997, S. 243 f. Ebd. Ebd.
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4. Hof, Krieg, Landleben: Das Konzept von My Ladye Nevells Booke
zes formuliert werden. Die ersten acht Kompositionen der Sammlung weisen alle einen deutlichen Bezug zur Adelskultur auf: Die Grounds für Lady Neville (Nr. 1 und 2), der Battaglia-Zyklus (Nr. 3, 4 und 5), Barley Break (Nr. 6), Galliard Jig (Nr. 7) und Hunt’s up (Nr. 8) sind, wie bereits geschildert, entweder durch Widmung, Gattungskonzept, Programm oder Liedvorlage mit der englischen aristokratischen Kultur untrennbar verbunden. Aus dieser Perspektive scheint gerade Hunt’s up nicht, wie bei Neighbour, fehlplatziert zu sein, sondern kann als ein wichtiger Bestandteil des Abschnitts betrachtet werden, der sich direkt auf die aristokratische Tätigkeit Sir Henry Nevilles bezieht63. Die 16 darauf folgenden Pavanen und Galliarden bilden offensichtlich gattungsmäßig, numerisch und womöglich auch tonartlich64 eine Einheit. Der Bezug dieser Stücke, der beliebten elisabethanischen Hoftänze zur Adelskultur ist offensichtlich65. Der dritte Abschnitt der Sammlung beinhaltet verschiedene Gattungen – Grounds, Variationen auf populäre Melodien und Fantasien. Sie weisen jedoch nicht alle einen klaren Bezug zur Kultur des Adels auf und der Abschnitt ist anscheinend unverbindlicher konzipiert als die beiden ersten. Zwei polyphone Kompositionen, die Hexachord-Fantasie Ut, re, mi (Nr. 9) und die Voluntary for My Lady Nevell (Nr. 26) können dabei als Übergänge zwischen den drei beschriebenen Abschnitten der Sammlung betrachtet werden. Die anscheinend unverbindliche Reihenfolge des dritten Abschnitts von MLNB und die weniger prominente Platzierung der nicht direkt mit dem Geschmack des Adels verbundenen Stücke am Ende des Sammlung sprechen für die Richtigkeit der Annahme, dass der soziale Bezug eine wichtige Rolle bei der Konzipierung der Sammlung gespielt hat. Der Bezug der im letzten Abschnitt enthaltenen Stücke zur Adelskultur ist zwar weniger offensichtlich, der Abschnitt selbst reÁektiert dennoch die in Teil 2 beschriebenen sozialen Umwälzungen in den „oberen“ Ständen der Tudor-Gesellschaft: die polyphonen Kompositionen durch ihre Verweltlichung und Platzierung in einen völlig säkularen Kontext, die Kompositionen mit volksmusikalischen Melodievorlagen wiederum auf der Ebene einer von den höheren Ständen des elisabethanischen Englands konstruierenden englishness66. Die drei expressis verbis Lady Neville gewidmeten Kompositionen (MLNB 1, 2, 26) gehören dabei gerade zu denjenigen, die mit keinen gattungsmäßigen oder durch die Vorlage bedingten aristokratischen Konnotationen belegt sind: womöglich ein Hinweis auf den persönlichen Geschmack der Widmungsträgerin, der von dem typischen Standesgeschmack, insbesondere dem des älteren Adels, hätte abweichen können67. Akzeptiert man aber die in Kapitel 2.3 dargelegte These, dass MLNB eine Schenkung Sir Henry Nevilles an seine Ehefrau war, dann mag die Zusammenstellung und Reihenfolge der Kompositionen zumindest teilweise sei-
63 64 65 66 67
Vgl. Kapitel 4.1. Hierzu ausführlicher in Kapitel 5.3. Vgl. hierzu jedoch auch Kapitel 5.3. Vgl. Kapitel 4.1 sowie Kapitel 5.2 und 5.4. In Teil 5 werden diese Kompositionen und ihr möglicher Bezug zu Lady Neville ausführlicher besprochen.
4.2 Ein Decrescendo des Aristokratischen
163
nem Geschmack – oder den diesbezüglichen Vorstellungen des Schreibers68 – entsprochen haben. Die Präsenz der William Petre gewidmeten Pavane und Galliarde im dritten Abschnitt der Sammlung (Nr. 39 und 40) ist wahrscheinlich die einzige wirkliche „Fehlplatzierung“ in MLNB. Diese beiden Tanzsätze stehen beinahe am Ende der Sammlung und sind dadurch von dem sich im Zentrum beÀndenden Pavanen-Galliarden-Corpus getrennt. Dabei knüpfen sie dennoch an die Nummerierung der Pavanen und Galliarden im zentralen Abschnitt der Sammlung an. Die These Neighbours, dass die beiden Petre-Tänze dem Kopisten Baldwin im letzten Moment vorgelegt worden seien, da William Byrd sie gerade fertig gestellt habe69, erscheint vor diesem Hintergrund nicht undenkbar. Ein Grund dafür, dass die Petre-Tänze in die Sammlung integriert worden sind, dabei eine Abweichung vom Gesamtkonzept in Kauf nehmend, wird wahrscheinlich mit der familalen und kollegialen Nähe der Familien Neville of Billigbear und Petre zu begründen sein: Wie die in Kapitel 2.4 zusammengefasste genealogische Forschung gezeigt hat, war Sir Henry Neville der Großonkel William Petres II. und hat mit seinem Vater, Sir John Petre, einem bedeutenden Patron Byrds, im Parlament zusammengearbeitet. Das Konzept von MLNB reÁektiert nicht die von Thomas Morley kodiÀzierte Gattungshierarchie, die den polyphonen Fantasien den höchsten Rang unter instrumentalen Kompositionen zuschreibt, wonach zuerst Pavanen und dann alle anderen Gattungen folgen70. Die Reihenfolge der in MLNB enthaltenen Stücke sieht vielmehr umgekehrt aus: Die ersten beiden Kompositionen sind die unmittelbar Lady Neville gewidmeten Grounds; es folgen andere Kompositionen mit starken aristokratischen Konnotationen, erst danach die Hoftänze Pavanen und Galliarden und schließlich eine Reihe von Stücken, die nur indirekt mit der Adelskultur in Verbindung stehen71, unter anderem auch Fantasien. Die Gliederung von MLNB stellt daher ein Decrescendo des Aristokratischen dar, wobei die Lady Neville gewidmeten Grounds und der pompöse Battaglia-Zyklus am Anfang der Sammlung eine ähnliche Rolle zu spielen scheinen, wie das Wappen Sir Henry Nevilles auf dem Frontispiz: Sie kündigen an und repräsentieren, diesmal aber keine konkrete Person, sondern einen ganzen Stand, seine soziale Position, seine Werte und seinen Geschmack. Aus der Gattungsreihenfolge in MLNB soll nun nicht geschlossen werden, dass Morleys Ausführungen über die Gattungshierarchie in der Instrumentalmusik72 reine Theoriebildung darstellen, während MLNB etwa als die „wahre Praxis“ zu betrachten sei: Es ist durchaus denkbar, dass gelehrte, katholische, oder mit Katholizismus sympathisierende musicions, wie es Byrd und Morley waren, die komplexen, teilweise der polyphonen Kirchenmusik nachempfundenen Fantasien als die 68 69 70 71
Zum möglichen Kontakt von Sir Henry Neville und John Baldwin vgl. Kapitel 2.5. Vgl. Neighbour 1978, S. 21 f. Vgl. Morley 1597/1937, S. 181. Vgl. Unterkapitel 3.3.1. Manche von Ihnen (Lord Willoughby’s Welcome Home, Monsieur’s Alman und Garden Green) reÁektieren die Adelskultur jedoch klarer als die anderen (s. o., Kapitel 4.1). 72 Vgl. Morley 1597/1937, S. 181. Vgl. Kapitel 3.3.
164
4. Hof, Krieg, Landleben: Das Konzept von My Ladye Nevells Booke
wertvollste Gattung der Musik für Tasteninstrumente betrachteten. Das bestätigt in Bezug auf Byrd auch Henry Peacham d. J., der seinen Complete Gentleman (1622) noch zu Lebzeiten des Komponisten schrieb: Er beschreibt den Komponisten ausdrücklich als „disposed to gravity and piety“; gerade aus diesem Grund sei laut Peacham „his [Byrds] vein not so much for light madrigals or canzonets“73. Die Reihenfolge der Kompositionen in MLNB reÁektiert daher eher den Habitus und den Geschmack des englischen Adels des 16. Jh. als den eines gelehrten Musikers der elisabethanischen Epoche.
73
Peacham 1962, S. 112.
5. SÄKULARISIERUNG, ANGLISIERUNG UND „THE IUDGEMENT OF THE COMPOSER“: DIE TONARTBEHANDLUNG IN MY LADY NEVELLS BOOKE Eine der zentralen Hypothesen der vorliegenden Studie ist, dass die Prozesse, die die englische Sozial- und Kulturgeschichte des 16. Jh. entscheidend geprägt haben1, nicht nur die in den vorausgegangenen Kapiteln beschriebene, intensivierte Literalisierung der Instrumentalmusik und die Verschriftlichung der volksmusikalisch basierten Gattungen herbeigeführt haben, sondern auch in den Veränderungen im kompositorischen Umgang mit dem musikalischen Material reÁektiert wurden. Wie sich schon in den Voruntersuchungen zu dieser Studie gezeigt hatte, sind diese Veränderungsprozesse insbesondere im Bereich der Tonartenpraxis erkennbar, einem Bereich, der in Bezug auf Byrds Instrumentalmusik nicht eingehend untersucht wurde2. Die nachfolgenden Kapitel werden sich daher mit Byrds Tonartenkonzepten und ihren Bezügen zu einzelnen Gattungen befassen, um sie in ihrem historischen, regionalen, sozialen und kulturellen Kontext zu verstehen. Es sei darauf hingewiesen, dass die Ausführungen der Kapitel 5.2–5.6 auf der Basis von den im Anhang detailliert dargestellten Analysen3 entstanden sind und ihre Zusammenfassung darstellen. Aus diesem Grund wurde im Haupttext auf wiederholte Angaben von den im Anhang genau dokumentierten Taktzahlen zu einzelnen Kompositionsabschnitten teilweise verzichtet. 5.1 NICHT „ONELY FOR THE CHURCH“: VORBEMERKUNGEN ZUR ENGLISCHENMUSIKTHEORIE John Harley und Jessie Ann Owens haben in ihren jeweiligen Studien zur englischen Musik und Musiktheorie des 16. Jh. die Frage aufgeworfen, inwiefern die modale Praxis des europäischen Festlands mit der Tonartbehandlung im elisabethanischen England zu vergleichen sei4. Die Berechtigung für diese Fragestellung fanden sie in der Tatsache, dass die zeitgenössische englische Musiktheorie die Moduslehre eher als eine Marginalie behandelte. Harley führt dennoch aus, dass William Byrd mehrere kontinentale Musiktraktate gekannt haben kann. Er betont, dass die Handschrift LD MS 763, eine in Waltham Abbey entstandene Kompilation kontinental-europäischer musiktheoretischer Schriften aus dem Jahr 1540, die Unterschrift von Thomas Tallis trage5. Sollte Tallis tatsächlich William Byrds Lehrer 1 2 3 4 5
Vgl. Teil 2. Vgl. Kapitel 1.2. Anhang B zu Teil 5. Vgl. Harley 2005 sowie Owens 1998; Referenzen zu einzelnen Aussagen s. u. Vgl. Harley 2005, S. 3 f.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
gewesen sein6, dann sei es möglich, dass er ihm auch seine musiktheoretischen Konzepte überlieferte7, argumentiert Harley. Eine noch engere Verbindung besteht zwischen William Byrd und dem musiktheoretischen Traktat Thomas Morleys A Plaine and Easie Introduction into Practicall Musicke (1597). Die Abhandlung ist nicht nur William Byrd gewidmet, sondern Morley beruft sich darin auch unmittelbar auf die Autorität des älteren Komponisten, den er auch seinen Lehrer nennt8. Dabei schreibt er ausdrücklich, dass die Worte seiner Abhandlung in manchen Fällen von Byrd selbst stammten, was über die Grenzen der traditionellen imitatio auctorum hinauszugehen scheint: Accept (I pray you) of this booke, both that you may exercise your deepe skill in censuring of what shall be amisse, as also defend what is in it truely spoken, as that which sometime proceeded from your selfe9.
Historisch kann jedoch weder die Rezeption von kontinentalen Musiktraktaten im Besitz Thomas Tallis’ noch Byrds EinÁussnahme auf Thomas Morley bestätigt werden. Aus diesem Grund kann nur die Analyse von Byrds kompositorischer Praxis dazu führen, sein Tonartdenken zu verstehen. Die nachfolgenden Anmerkungen zur zeitgenössischen englischen Theoriebildung sollen dabei nur als Orientierungshilfe zu den analytischen Kapiteln 5.2–5.6 dienen und zum besseren Verstehen einiger in der Praxis festgestellter Elemente der Tonartbehandlung beitragen10. Die englische Musiktheorie des 16. und 17. Jh. wurde bereits von Robert Wienpahl, W. T. Atcherson, Franklin B. Zimmerman, Christopher Lewis, Barry Cooper, Peter Hauge, Jessie Ann Owens und John Harley11 ausführlich besprochen. Der nachfolgende Überblick wird sich daher nur auf die Aspekte der Tonartbehandlung konzentrieren und versuchen, einige Ansätze der bisherigen Forschung kritisch zu beleuchten. Von allen zeitgenössischen englischen Musiktraktaten12 beinhalten drei Abhandlungen Elemente einer Tonartenlehre: Thomas Morleys A Plaine and Easie Introduction into Practicall Musicke (1597), Thomas Campions A New Way of Making Fowre Parts in Counter-Point (1615) und Charles Butlers The Principles of Music (1636)13. Alle diese Traktate sind offensichtlich nach Byrds (1540–1623) Lehrjahren entstanden, Butlers Abhandlung sogar nach Byrds Tod. Sie konnten 6 7 8 9 10 11 12 13
Es ist ein Gedicht in den von Tallis und Byrd gemeinsam herausgegebenen Cantiones sacrae (1575) überliefert, aus welchem auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis der beiden Komponisten zu schließen ist (s. Harley 2005, S. 2; vgl. auch Unterkapitel 3.3.3). Ebd., S. 3. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.2. Morley 1597/1937, Widmung (ohne Seitenangabe). Die inhaltliche Diskussion hierzu Àndet in den Kapiteln zu einzelnen Gattungen (5.2–5.5) sowie im zusammenfassenden Kapitel 5.6 statt. Wienpahl 1955, Atcherson 1972 und 1973, Zimmerman 1980, Lewis Chr. 1981, Cooper 1986, Hauge 1997, Owens 1998, Harley 2005. Einen Überblick über alle überlieferten englischen Musiktraktate der Epoche bietet Owens 1998, S. 190, Tabelle 1. S. auch Cooper 1986, passim. Hierzu vgl. insbesondere Owens 1998, S. 216–230. Vgl. auch die andere o. a. Literatur.
5.1 Nicht „onely for the Church“: Vorbemerkungen zur englischenMusiktheorie
167
dennoch selbst durch Byrds Praxis beeinÁusst worden sein, wie etwa Thomas Morley in Bezug auf seine eigene Abhandlung offen behauptet14. Jessie Ann Owens hat vor diesem Hintergrund dafür plädiert, die englischen musiktheoretischen Quellen in die Analyse der Musik Byrds einzubeziehen15; dieser Anregung wird in den nachfolgenden Kapiteln Folge geleistet. Owens ging aber in ihrem „Regionalhistorismus“ noch einen Schritt weiter und schrieb, dass der englische „lack of interest“ an der kontinentalen Modustheorie im 16. und 17. Jh. davor warnen solle, diese auf die englische Musik der Epoche anzuwenden16. Solche Radikalität erscheint jedoch nicht berechtigt. Erstens geben die drei genannten englischen Texte der Epoche nicht genug Anhaltspunkte, um eine Tonartenanalyse durchzuführen, während das musikalische Material schon auf den ersten Blick Bezüge zur Modalität „im kontinentalen Sinne“ aufweist. Zweitens kursierten zu Byrds Lebzeiten, wie auch Owens selbst unterstreicht, in England die Übersetzungen der musiktheoretischen Traktate Le Roys und Ornithoparchus’17; darüber hinaus soll nicht angenommen werden, dass die auf Latein oder Italienisch verfassten Musikabhandlungen des europäischen Festlandes, auf die sich Morley beruft18, für die gebildeten Musiker Englands unzugänglich waren. Thomas Tallis besaß, wie bereits betont, offenbar einige Abschriften von kontinentaleuropäischen Musikabhandlungen. Auch berief sich Morley in den „Annotations“ zu seinem Traktat (s. u.) wiederholt auf kontinentale Quellen zur Moduslehre. Diese explizite Berufung auf kontinental-europäische Musiktheorie mag dennoch Jessie Ann Owens nicht davon überzeugen, dass der Modus „in the continental sense“ für Morley und seine Rezipienten eine Rolle spielte19. Sie schreibt auch, es sei „kurios“, dass die kritischen englischen Leser, denen Morley, laut eigener Aussage, seine fast fertige Abhandlung zum Gegenlesen gab20, eine Besprechung der Modalität vermissten und den Autor dazu veranlassten, diese noch in den Anhang des Traktats zu platzieren21. Gerade dieses Kuriosum zeugt aber von einem Interesse an Fragen der Modalität im England des ausgehenden 16. Jh. Darüber hinaus wäre es keineswegs zu gewagt zu vermuten, dass unter den kritischen Lesern, die in Morleys Traktat Informationen zum Thema Modusbehandlung vermissten, auch William Byrd selbst war, der anzunehmende Lehrer Morleys22, dem der Theoretiker auch seine ganze Abhandlung widmete und auf den er sich darin immer wieder bezog. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass Morley seinen Text zeitgenössischen Fachleuten zum Gegenlesen gab 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. Zitat oben. Vgl. Owens 1998, passim. Vgl. auch Kapitel 1.1. Vgl. Owens 1998, S. 229. Heutige Ausgaben: Le Roy 1574/1977 (französische Originalausgabe verschollen); vgl. Ornithoparchus 1517/1977, bzw. Ornithoparchus 1963 (englische Übersetzung von John Dowland; sie entstand allerdings 1609, also nach der Entstehung von MLNB). Vgl. Morley 1597/1937, passim. S. insbesondere die Literaturliste am Ende des Traktats (ohne Seitenangabe). Owens 1998, S. 200. Vgl. Morley 1597/1937, „Annotations upon the third Part“ (ohne Seitenangabe). Owens 1998, S. 244, Anm. 101. Vgl. Morley 1597/1937, „To the curteous Reader“, ohne Seitenangabe. Vgl. Kapitel 3.2.
168
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
und dass die Anregung, Aspekte der Modalität verstärkt zu thematisieren, aus dem Kreis der elisabethanischen musitions gekommen war. Schließlich war in England auch die Kompositionspraxis des Festlandes nicht unbekannt, wie aus Morleys im ganzen Traktat verstreuten Referenzen auf kontinentaleuropäische Komponisten kaum zu übersehen ist. Aus all diesen Gründen erscheint der Ausschluss der kontinentalen Musiktheorie aus den historisch orientierten Analysen elisabethanischer Musik schon im Vorfeld nicht berechtigt. Thomas Morleys (1557/58–1602) Äußerungen über die Modusbehandlung beÀnden sich im dritten Kapitel seines Traktats, sowie in den nachträglich hinzugefügten „Annotations“ dazu. Trotz der Knappheit dieser Ausführungen kommt in den Erklärungen im Haupttext vorerst der – zumindest theoretisch – hohe Stellenwert des Modussystems zum Ausdruck, indem Morley im Haupttext seines Traktats das Verlassen einer Tonart als einen der „schlimmsten Fehler“ im Tonsatz tadelt23. Diese Regel illustriert er durch ein musikalisches Negativbeispiel, das mixolydisch beginnt, um lydisch zu enden. Morleys Kommentar dazu lautet: and though the ayre of everie key be different one from another, yet some love (by a wonder of nature) to be joined to others so that if you begin your song in Gam ut, you may conclude it either in C fa ut or D sol re, and from thence come againe to Gam ut: likewise if you begin your song in D sol re, you may end in A re and come againe to D sol re, &c.“24
Martina Rebmanns Versuch, mit Wendungen gegen Carl Dahlhaus, Barry Cooper und Siegfried Hermelink die Schließung dieser Ausführungen Morleys mit „etc.“ als ein Hinweis darauf zu interpretieren, dass die Quintverwandtschaft der Klauselstufen auch in allen anderen Modi die Norm der Klauseldisposition sei und dass dieses Denken „die Entdeckung und Formulierung einer Quintverwandtschaft“ und einen Hinweis „auf einen Wandel im Tonartensystem“ darstelle25, wurde vom Autor der vorliegenden Untersuchungen bereits an anderer Stelle besprochen26. Wegen der Bedeutung dieser Äußerungen Morleys für das Verstehen des elisabethanischen Musikdenkens sei hier diese Kritik in nuce präsentiert. Erstens erlaubt der elisabethanische – wie auch der heutige – Gebrauch der Kürzel „etc.“ im Englischen nicht immer die Interpretation, dass das Geschilderte in allen Fällen gelten darf: Dieses ist nur der Fall, wenn allgemein Bekanntes verkündet wird27. Wird jedoch ein vollkommen neues Prinzip aufgestellt, ist es auch im Sprachgebrauch des 16. Jh. unwahrscheinlich, dass es nicht ausformuliert, sondern nur an einem Beispiel beschrieben und dann mit einem „etc.“ verallgemeinert wird. Zweitens erlaubt gerade Morleys vage Ausdrucksweise in diesem Abschnitt solch eine einengende Auslegung nicht. Denn Morley schreibt wörtlich: „some [keys] love (by a wonder of nature) to be joined to others“28. Drittens sind von Morley eigentlich zwei verschiedene Beispiele für die Klauseldisposition genannt 23 24 25 26 27 28
Morley 1597/1937, S. 147; vgl. Zitat am Anfang von Teil 5. Ebd. Rebmann 1994, S. 30, Anm. 47. Vgl. Popoviþ 2005. Vgl. hierzu OED2, Bd. V, S. 415 f.; s. auch Cusack 1998, S. 199. Hervorhebung des Verfassers; ganzes Zitat s. o.
5.1 Nicht „onely for the Church“: Vorbemerkungen zur englischenMusiktheorie
169
worden: Der Anfang „in G“ erlaube die Klauseln auf c und d, während der Anfang „in d“ lediglich zu a – nicht aber auch zu g – führen dürfe. Sollte Rebmanns These richtig sein, würde sich die Frage stellen, welches von den beiden Prinzipien laut Morley für alle Modi gelten sollte. Im Kontext der zeitgenössischen Moduslehre betrachtet, sagt Morley an der zitierten Stelle in der Tat nicht viel Neues. Die Klauselstufen in mehrstimmigen mixolydischen und hypomixolydischen Kompositionen waren auch auf dem Kontinent g(G), d und c, ist doch das c die ursprüngliche Repercussa des Hypomixolydischen und das d die des Mixolydischen gewesen29. Tatsächlich ist nur die Nichterwähnung der Oberterz als Klauselstufe im Dorischen und Hypodorischen als Novum zu bezeichnen. Das Auslassen der Oberterz in Morleys „d-Tonart“ ist aber ebenso wenig für die aufkommende Dur-Moll-Tonalität charakteristisch (im Sinne einer – hier fehlenden – „Durparallele“) wie auch für die Modalität (im Sinne der hypodorischen Repercussa und einer der traditionellen Klauselstufen). Der von Rebmann vermutete „Wandel im Tonartensystem“ Morleys führt – wenn es denn überhaupt irgendwohin führen muss – anscheinend zunächst nicht hin zur DurMoll-Tonalität. In den „Annotations“ seiner Introduction, die erklärtermaßen zum Teil auf Anregungen der kritischen Leserschaft entstanden sind, behandelt Morley das Themengebiet Modusbehandlung noch einmal, sich auf Autoren aus Kontinentaleuropa berufend und einige bekannte Aspekte der kontinentalen Moduslehre vorstellend30, ohne ihr etwas wirklich Neues hinzuzufügen. Erwähnenswert ist jedoch, dass Morley in den „Annotations“ dem Glareanschen System von zwölf Modi den Vorzug über das alte oktoechale System gibt; er benutzt dabei, wie Glarean, die – auch im Rahmen der vorliegenden Studie verwendeten – pseudoantiken Modusnamen31. Jedoch ist das in den „Annotations“ dargelegte Modusverständnis Morleys im Wesentlichen kein skalenmäßig-Glareansches, sondern ein traditionelles, in Meiers Terminologie „kirchlich-abendländisches“, denn den Modus deÀniert Morley nicht als Skala, sondern als Melodiemodell, „a rule whereby a melodie of euery song is directed“32. Darüber hinaus erwähnt Morley in den „Annotations“ seiner Abhandlung auch die Praxis der Zusammenfügung zweier Tonarten („two tunes ioyned together“33), wovon eine authentisch und die andere plagal sein müsse. Seinen Beispielen nach zu urteilen, waren dabei Moduspaare gleicher Finalis gemeint (Dorisch-Hypodorisch etc.). Ob Morley dabei an die Mixtio tonorum34 (zeitweiliger Tonartwechsel 29
30 31 32 33 34
Bernhard Meier hebt bekanntlich die Unterschiede zwischen den plagalen und authentischen Modi hervor; dennoch sind die Klauselstufen, wenn auch in unterschiedlicher Reihen- und Rangfolge in der Modustheorie des Festlandes die drei von Morley genannten; s. etwa den Überblick in Meier 1974, S. 86–102. Die nachfolgenden Ausführungen zu Klauselstufen basieren auf diesen Untersuchungen Meiers. Vgl. Morley 1597/1937, „Annotations upon the third Part“(ohne Seitenangabe). Vgl. Glarean 1547/1947, passim. Morley 1597/1937, „Annotations upon the third Part“ (ohne Seitenangabe). Ebd. Hier wird die „kontinentale“ Terminologie verwendet, wie etwa von Meier (1974 und 1992) sowie Dahlhaus (2001a); vgl. Unterkapitel 1.1.2.
170
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
vom authentischen in den plagalen Modus gleicher Finalis und umgekehrt) oder an das Komponieren innerhalb eines Moduspaares (dauerhafter Übergang in die andere Tonart gleicher Finalis) gedacht hat, oder ob er vielleicht diese beiden Verfahrensweisen nicht getrennt kategorisieren wollte, muss eine offene Frage bleiben. Den Übergang aus einer authentischen Tonart in eine andere authentische Tonart sowie aus einem plagalen in einen anderen plagalen Modus lehnt Morley entscheidend ab. Ob das bedeutet, dass er die Commixtio tonorum (Übergang in eine Tonart anderer Finalis) generell ablehnt, wie man es im Kontext verstehen könnte35, ist nicht eindeutig zu beantworten. Am Ende der „Annotations“ verweist Thomas Morley den an Fragen der Modalität interessierten Leser auf die – bekanntlich keineswegs in allen Aspekten miteinander übereinstimmenden – Schriften Glareans, Zarlinos und Zacconis mit dem – kaum humorlos zu verstehenden – Hinweis: with the help of this which here [in Morleys Buch] is set downe, he [der Interessent] may vnderstand easily all which is there [bei den drei anderen Theoretikern] handeled, though some haue causelesse complained of obscuritie.“36
Insgesamt hinterlassen die Äußerungen Morleys zum Modussystem tatsächlich den Eindruck, dass es sich hierbei um einen Aspekt der Musikpraxis handelte, den er auf der Ebene der Theorie nicht zu seinem Arbeitsschwerpunkt gemacht hatte. Der knappe Raum, der dem Thema im Haupttext des Traktats eingeräumt war und der Verweis auf einÁussreiche aber in vielen Aspekten eben nicht direkt miteinander verwandte Theoretiker in den „Annotations“ deutet eher darauf hin, dass ihm die ausführliche theoretische Bearbeitung dieses Themenkomplexes fern stand. Das muss jedoch keineswegs bedeuten, dass sich die damalige englische Tonartbehandlung nicht mit der Moduspraxis des europäischen Festlands vergleichen lässt. Denn man rezipierte in England der elisabethanischen Zeit nicht nur die Musiktheorie, sondern auch die Musikpraxis Kontinentaleuropas37. Dabei ist gerade die Modusbehandlung in Morleys Traktat als ein Aspekt der Musik dargestellt worden, der dem Komponisten selbst und seiner offenbar nicht theoretisch kodiÀzierbaren Intuition, zu überlassen sei: Phi[lomathes, Schüler in Morleys Traktat]. Haue you no generall rule to be giuen for an instruction for keeping of the key? Ma[(i)ster]. No, for it must proceede only of the iudgement of the composer […]38
Bedeutend ausführlicher behandelt Thomas Campion (1567–1630) die Tonartenlehre in seinem Traktat A New Way of Making Fowre Parts in Counter-point (1615)39, der noch zu Lebzeiten Byrds veröffentlicht worden war. Er räumt dem 35 36 37 38 39
Unmittelbar vor diesen Ausführungen sind, als Positivbeispiele, die Zusammenfügungen von authentischen und plagalen Modi gleicher Finales angegeben. Morley 1597/1937, „Annotations upon the third Part“ (ohne Seitenangabe). Vgl. etwa die Referenzen in Morley 1597/1937, passim. Morley 1597/1937, S. 147; nach dem Zitat folgt die Ausführung über die Psalmentöne, die in Bezug auf ihre Relevanz im Prozess der Modusbestimmung hinterfragt werden. Campion 1967a.
5.1 Nicht „onely for the Church“: Vorbemerkungen zur englischenMusiktheorie
171
Themenbereich in seinem ansonsten nicht sehr umfangreichen Traktat ein ganzes Kapitel ein und unterstreicht dadurch die Bedeutung der Tonartenlehre für die Musikpraxis. Bei Campion ist weder eine traditionell-oktoechale noch eine Glareansche, dodekachordale Modussystematisierung zu Ànden; dagegen werden die Begriffe „plagal“ und „authentisch“ präzise und in Übereinstimmung mit der kontinentalen Moduslehre erklärt40. Eine Eigenart Campions ist aber, dass er die Modi nicht nur nach ihrem Ambitustyp kategorisiert, sondern auch nach der Teilung des Diapente-Tonraumes, beziehungsweise dem Charakter der Oberterz41. Dadurch entsteht eine Polarisierung zwischen duralen und mollaren Modi42. Diese neue Differenzierungsart wirkt sich auch auf den Bereich der Klauseldisposition aus: Denn während die mollaren Modi als Klauselstufen die Finalis, die Oberquint und die Oberterz aufweisen, gehören laut Thomas Campion bei den duralen Modi auch die Oberquarte und die Obersekunde zu den regulären Claves clausularum43. Von besonderem Interesse ist, dass Campion den Bass expressis verbis zur modal entscheidenden Stimme proklamiert, und den identitätsbildenden Tenorbezug der früheren Vokalpolyphonie als veraltet und ausschließlich kirchenbezogen – da mit der Cantus-Àrmus-Praxis verbunden – bezeichnet. Noch Thomas Morley hatte in seiner Introduction den Diskant-Bass-Satz als Gerüst des ganzen musikalischen Satzes beschrieben?44, dieses aber nicht mit der Modalität in Verbindung gebracht. Campion dagegen schreibt eindeutig: True it is that the auncient Musitions who entended their Musicke onely for the Church, tooke their sight from the Tenor […]. But I will plainely coniunce by demonstration that contrary to some opinions the Base containes in it both the Aire and true iudgement of the Key, expressing how any man at the Àrst sight man view in it all the other parts in their originall essence45.
Der in den folgenden Kapiteln stattÀndende Vergleich dieser theoretisch kodiÀzierten Kompositionsprinzipien Campions mit der Musik William Byrds wird für das Verstehen des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der englischen Musik von großer Bedeutung sein. Bei Morley und Campion bezeichnen die Termini air, key, tone/tune und mode die wichtigsten tonartlichen Bezüge. Obwohl Barry Cooper die Meinung vertritt, dass diese Begriffe in der englischen Musiktheorie des 16. Jh. „ungefähr dieselbe Bedeutung“ gehabt haben46, ist aus den Quellen eine eindeutige Differenzierung zu 40 41
42 43 44 45 46
Ebd., S. 213. Der Maggiore-Minore-Kontrast an sich ist dabei auf dem Kontinent auch vor Campion ausformuliert worden. Hierzu vgl. etwa Meier 1992a, Dahlhaus 2001b, sowie das Kapitel „Zwischen Modalität und Dur-Moll-Tonalität“ in seinen Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität (Dahlhaus 2001a, S. 223–235). Campions Bestehen auf der Wichtigkeit des Oberterzkontrastes für die KlassiÀzierung der Modi und seine Gleichstellung dieser KlassiÀzierung mit der traditionellen Differenzierung zwischen authentischen und plagalen Modi ist dennoch als neu zu betrachten. Vgl. Campion 1967a, S. 214; vgl. Zitat in Kapitel 5.3. Vgl. ebd. Vgl. Morley 1597/1937, S. 143. Campion 1967a, S. 195. Cooper 1986, S. 199.
172
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
erkennen47. Es ist dennoch schwierig, eine präzise Trennungslinie zwischen den Begriffsbereichen zu ziehen und eine eindeutige DeÀnition dieser Termini zu formulieren. Thomas Morley etwa bringt den Begriff mode mit den Psalmentönen in Verbindung48. Jessie Ann Owens benutzt dabei diese tendenzielle Verwechslung49, um die Distanz der englischen Theorie von der Modalität Kontinentaleuropas zu betonen. Diese Betonung ist jedoch übertrieben, weil die Psalmentöne mit dem Moduskonzept verwandt, wenn auch nicht identisch waren, wie schon bei Guido von Arezzo zu lesen ist50. Die Begriffe key und air waren für Thomas Morley sicherlich nicht identisch, da er den Begriff air als eine Eigenschaft des key betrachtete, wie das Zitat am Anfang von Teil 5 erkennen lässt. Der air-Begriff scheint bei ihm den modalen Verlauf zu bezeichnen, während der Terminus key einer auf die Finalis bezogenen Basiseigenschaft des Modus entspricht51. Campions Terminologie ist noch deutlicher als jene Morleys: der Begriff key ist bei ihm mit den Begriffen moode und tone völlig gleichbedeutend, wobei das Campionsche air als eine dem key-moode-tone zugrunde liegende Eigenschaft zu betrachten ist52. Charles Butler, der dritte englische Theoretiker der Epoche, der eine relevante Besprechung der Tonarten vorlegt, deÀniert die Begriffe anders: für ihn ist das air keine Eigenschaft des tone, sondern ein Synonym dafür, während sich der Begriff key lediglich auf die Tonhöhe bezieht53. Auch Jessie Ann Owens hat zugunsten dieser Begriffsdifferenzierung – und gegen die bereits erwähnte, vereinfachte Sichtweise Barry Coopers – argumentiert54. Es ist umso überraschender, dass sie sich, wie bereits geschildert, trotzdem gegen die Bezugnahme auf kontinentale Quellen bei der Analyse englischer Musik des 16. Jh. ausspricht55. Denn Morleys Konzept ist, wie auch jenes von Campion, offensichtlich mit dem kontinentalen Modusdenken verwandt: Auch für die beiden englischen Musiktheoretiker und Komponisten, deren Traktate zu Byrds Lebzeiten veröffentlicht wurden, sind, wie oben demonstriert wurde, die Finalis, der melodische Verlauf sowie die Klauseldisposition die essentiellen Eigenschaften der Tonarten. Daher ist die englische Tonartenlehre des 16. und 17. Jh. trotz fehlender oder unterschiedlicher Terminologie mit der kontinental-europäischen durchaus vergleichbar. Owens hat insbesondere die Lehre Charles Butlers (1560–1647) als paradigmatisch für die englische Musikpraxis der Byrd-Ära bezeichnet56. Butler hatte in sei47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
Diese Meinung vertritt auch Jessie Ann Owens (vgl. Owens 1998, S. 244, Anm. 91). S. o.; vgl. Morley 1597/1937, S. 147. s. auch Owens 1998, S. 219. Für Morley sind die Psalmentöne nicht identisch, sondern nur verwandt mit den Modi (s. o. sowie Morley 1597/1937, S. 147). Vgl. Guido von Arezzo: Micrologus, cap. 13 in Gerbert 1764/1963, Bd. II, S. 13a–b; Ders.: Regulae musicae de ignoto cantu, cap. 6 in Gerbert 1764/1963, Bd. II, S. 41b); vgl. hierzu etwa Meier 1974, S. 29. Vgl. Morley 1597/1937, S. 147. Vgl. Campion 1967a, S. 213. Vgl. Butler 1636/1970, S. 81. Vgl. Ebd., S. 216–230. Vgl. Ebd., S. 229. Vgl. Ebd., S. 225–230.
5.2 Konstitutives Element oder Collagematerial?
173
ner Musikabhandlung versucht – unter expliziter Bezugnahme auf Seth Calvisius –, die drei verschiedenen Systeme (in Butlers Terminologie: Scala duralis, naturalis und mollaris = Cantus durus, mollis und Àctus57) und ihre Bedeutung für die Tonartbestimmung zu erklären58. Seine Akzentsetzung liegt also beim Transpositionspotential der Tonarten, nicht bei den traditionellen Distinktionsmethoden. Jedoch ist das Transponieren selbstverständlich nichts Radikales oder auf dem Kontinent Unbekanntes gewesen: Lediglich Butlers starke Betonung dieser Thematik scheint hier von Interesse zu sein. Es erscheint aber ohnehin sinnvoller, Morley und Campion, die bekanntlich beide aktive Komponisten waren59, als musiktheoretische Gewährsmänner heranzuziehen, wenn es um die Analyse von Byrds Musik geht, als den Pfarrer und Privatgelehrten Butler60, der offenbar keinen direkten Bezug zur kompositorischen Praxis gehabt hatte. Auch wenn es unmöglich ist, die beschriebenen Besonderheiten der englischen Tonartenlehre zu übersehen, überzeugt Owens’ Versuch, eine späte – amerikanische – Konstruktion von englishness im Bereich der Musiktheorie vorzunehmen, kaum: Die Unterschiede in der Terminologie sowie das Fehlen einer expliziten Systematik und Nomenklatur bedeuten nicht, dass der in der englischen Tonartenlehre gemeinte musikalische Sachverhalt ein ganz anderer ist als jener, den die kontinental-europäische Musiktheorie der Epoche beschreibt. Die geschilderten Bezugnahmen auf kontinentales Schrifttum sowie die Parallelen zum grundlegenden kontinentalen Verständnis von Tonarten sind zu deutlich, um ignoriert zu werden. Darum wird die englische Musiktheorie der Epoche in den folgenden, analytischen Kapiteln der vorliegenden Studie zwar eine bedeutende Rolle zu spielen haben, aber nicht als die alleinige Basis der musikanalytischen Betrachtungen dienen. Die Tonarten der elisabethanischen Epoche können nur im Kontext kontinental-europäischer Tonartenlehre(n) verstanden werden, aus welcher sie durch musikpraktische und musiktheoretische Überlieferung entstanden sind – bei gleichzeitigem Vergleich mit der regionalen Theoriebildung. Dabei kann gerade die Beschäftigung mit dem sozial- und kulturhistorischen Hintergrund, vor welchem sich die Besonderheiten der englischen Musiktheorie und –praxis entfaltet haben, helfen, die Vielfältigkeit dieser Besonderheiten zu verstehen. 5.2 KONSTITUTIVES ELEMENT ODER COLLAGEMATERIAL? DIE TONARTEN DER FANTASIEN IN MY LADYE NEVELLS BOOKE Sechs polyphone Kompositionen mit homophonen Unterabschnitten sind in MLNB überliefert: die Hexachordfantasie Ut, re, mi (Nr. 9), drei Stücke mit der Bezeichnung „Voluntary“ – Voluntary for My Lady Nevell (Nr. 26), Lesson of Voluntary 57 58 59 60
Vgl. hierzu etwa Dahlhaus 2001a, S. 158. Vgl. etwa Butler 166/1970, S. 86. Wenngleich Campion auch Arzt, Jurist und Dichter gewesen ist; vgl. hierzu etwa Owens 1998, S. 189. Vgl. Owens 1998, S. 189.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
(Nr. 29), und Voluntary (Nr. 42) – sowie zwei Fancy genannte Kompositionen (Nr. 36 und 41). Sie werden hier, in der Nachfolge von Willy Apel61, Oliver Neighbour62 und Arnfried Edler63 alle mit dem Gattungsbegriff „Fantasie“ bezeichnet. Martin Klotz’ Insistieren auf einer begrifÁichen Differenzierung zwischen vorwiegend polyphonen Sätzen mit hexachordbasierten Imitationsmotiven einerseits und Fantasien andererseits erscheint nicht überzeugend: Sein Argument, dass die Sätze, in denen Imitationsmotive auf Hexachordbasis vorkommen, in den Quellen nicht mit dem Terminus Fantasia bezeichnet werden64, kann angesichts der generellen terminologischen Flexibilität der Epoche nicht als entscheidend betrachtet werden: So wurden auch die Grounds mit präexistenten Vorlagen – in MLNB etwa Chi passa und Hunt’s up – nicht mit ihrem Gattungsbegriff bezeichnet, wenngleich ihr Aufbau dem der Grounds ohne Vorlage in allen Aspekten entsprach: Der Gattungsterminus allein wurde in den elisabethanischen Quellen, auf die sich Klotz zu berufen scheint, nur dort eingesetzt, wo keine anderen Bezeichnungsmöglichkeiten vorlagen. Andererseits zeigt Klotz’ Akzeptanz des Terminus „Hexachordfantasie“, dass auch er diese Gruppe von Kompositionen als eine Unterart der Gattung65 Fantasie betrachtet. Arnfried Edler hat auf die Auswirkungen von sozialen und kulturellen Entwicklungen des Tudor-Zeitalters auf die Gattung Fantasie hingewiesen: Mit Recht erinnerte er an die auch in Teil 2 dieser Studie behandelten Kirchenreformen im England des 16. Jh. und an die zeitweiligen Verbote des liturgischen Orgelspiels in der Tudor-Ära66. All diese Umstände begünstigten die Entfaltung einer Musikgattung, die zwar Gemeinsamkeiten mit dem Musizieren im sakralen Kontext aufwies – etwa die Verwendung der Imitationspolyphonie – aber auch virtuose Elemente sowie rein klanglich orientierte Abschnitte beinhalten konnte und vor allem für das private Musizieren jenes säkular-gelehrten, nicht immer uradligen aber dennoch zur gentry gehörenden Rezipentenkreises komponiert wurde, dessen Geschmack, Kultur und Musikauffassung in Kapitel 2.6 der vorliegenden Arbeit thematisiert wurden. Dabei ist bezeichnend, dass die einzige Fantasie William Byrds, die eine Widmung trägt, gerade die Voluntary for My Lady Nevell (Nr. 26) ist: eine Fantasie für eine aus dem jüngsten Bildungsadel stammende Angehörige der gentry, in deren Familie auch Frauen eine sehr gute Bildung genossen hatten67. Andere Fantasien William Byrds sowie die Fantasien Bulls, Gibbons’, Tomkins’ und Philips’ tragen gar keine Widmungen und weisen keinerlei Assoziationen zur Adelskultur auf, während ihre Kompositionen anderer Gattungen vielfach den Angehörigen des hohen – und häuÀg auch alten – Adels zugeeignet wurden68. Die offensichtlich mit 61 62 63 64 65 66 67 68
Vgl. Apel 1972, S. 202–206. Vgl. Neighbour 1978, S. 221–258. Vgl. Edler 1997, S. 354–359. Vgl. Klotz 2005, S. 267. Zu generellen Problemen des musikalischen Gattungsbegriffs, auf welche hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, s. insbesondere Danuser 1995. Vgl. Edler 1997, S. 354. Vgl. Kapitel 2.3 und 2.6. Vgl. hierzu die den anderen Gattungen gewidmeten Kapitel 5.3–5.5 dieser Arbeit.
5.2 Konstitutives Element oder Collagematerial?
175
erheblichem intellektuellem Anspruch belegte Gattung der Fantasie69 scheint weniger dem Geschmack des alten Adels entsprochen zu haben als etwa Pavanen und Galliarden, die von allen vier genannten Komponisten häuÀg Mitgliedern der englischen Aristokratie gewidmet wurden70. Die Fantasien dagegen scheinen die Musik der gesellschaftlich aufsteigenden, eine eigene kulturelle Identität konstruierenden, humanistisch orientierten gentry gewesen zu sein, zu welcher auch die Bacons, die Familie von „Ladye Nevell“ gehörten. Für Thomas Morley stellte die Fantasie, wie bereits hervorgehoben, die bedeutendste Gattung der Instrumentalmusik dar, wobei ihre Nähe zur vokalen Imitationspolyphonie und das möglicherweise durch Sympathien für den Katholizismus konservativ geprägte Musikdenken Morleys die gehobene Stellung der Fantasie in seiner Hierarchie der Instrumentalmusik bestimmt haben mögen71. Interessant erscheint aber, dass Morley in seinem Musiktraktat gerade den Imitationscharakter und die polyphone Satztechnik in Bezug auf Fantasien nicht erwähnt: Diese aus heutiger Sicht konstitutiv zu bezeichnende Eigenschaft der Fantasien mag für Morley selbstverständlich gewesen sein. Vielmehr bringt er den hohen künstlerischen Wert der Fantasien mit der Freiheit in Verbindung, die der Komponist in dieser Gattung genieße: „In this may more art be showne then in any other musicke, because the composer is tide to nothing but that he may adde, deminish, and alter at his pleasure“72. Gerade in diesem Kontext befasst sich Morley auch mit der Frage der Tonartbehandlung in Fantasien. Diese Gattung, die man aufgrund von Morleys Schilderungen als musikalische Prosa73 der Epoche bezeichnen darf, könne alle Freiheiten ertragen, nur nicht „changing the ayre & leaunig the key, which in fantasie may neuer bee suffered“. Dabei ist die Bedeutung von den zusammenhängenden Konzepten von „changing the ayre“ und „leaving the key“ von Morley an anderer Stelle eindeutig deÀniert: Es handelt sich um den Wechsel der durch den Melodieverlauf – „ayre“ – und die ÀnalisdeÀnierte Modusbasis – „key“ – determinierten Tonart74. Wenn es aber ein gemeinsames Charakteristikum der Behandlung von Tonarten in den in MLNB enthaltenen Fantasien gibt, dann ist es – mit einer einzigen Ausnahme75 – gerade der Tonartwechsel. Jene kompositionstechnischen Vorgänge, die Bernhard Meier in seinen Untersuchungen über die Tonarten der Instrumentalmusik 69 70 71 72 73
74 75
Vgl. Morley 1597/1937, S. 181; s. Zitat unten. Vgl. Kapitel 5.3, 5.4 und 5.6. Vgl. Kapitel 3.3. Morley 1597/1937, S. 181; Morleys Ausführungen scheinen auch Praetorius beeinÁusst zu haben; vgl. Praetorius 1619/1978, S. 21. Zum musikalischen Prosabegriff, insbesondere in Bezug auf spätere Epochen, s. Danuser 1975, passim. In Bezug auf den Prosacharakter der Renaissance-Vokalpolyphonie, auf welche die Gattung der Virginalfantasie zurückgeführt werden kann, s. ebd., S. 11. Zur Begriffsbestimmung vgl. auch Danuser 1997. Morley 1597/1937, S. 147. Zu dieser Terminologie Morleys s. auch Hauge 1997, S. 105; zur Bedeutung der Termini „air“ und „arie“ allgemein s. etwa Palisca 1994, S. 346–363 sowie Palisca 1985, S. 376–378. Vgl. auch Zimmerman 1980 sowie Kapitel 5.1 dieser Studie. Voluntary for My Lady Nevell; s. hierzu weiter unten.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
des 16. Jh. als Ausnahmefälle beschreibt76 sind in William Byrds Fantasien – sowohl in MLNB als auch in den darin nicht enthaltenen Kompositionen – der Regelfall. Versucht man, die Ergebnisse der im Anhang detailliert geschilderten Untersuchungen über den tonartlichen Gesamtverlauf polyphoner Kompositionen in MNLN zusammenzufassen, so entsteht das folgende Ergebnis: Nr. 9: Ut re mi Hypomixolydisch, Commixtio zum Moduspaar Lydisch-Hypolydisch, Moduspaar Hypomixolydisch-Mixolydisch, Commixtio zum Hypodorischen (zweifach transponiert). Nr. 26: Voluntary for My Lady Nevell Hypomixolydisch Nr. 29: Lesson of Voluntary Moduspaar Jonisch-Hypojonisch mit einer Commixtio zum Hypolydischen Nr. 36: Fancy Moduspaar Hypojonisch-Jonisch mit einer Commixtio zum Hypomixolydischen Nr. 41: Fancy Moduspaar Äolisch-Hypoäolisch Nr. 42: Voluntary Äolisch-Hypojonisch Nur eines von den sechs polyphonen Werken der 1591 entstandenen Nevell-Sammlung ist modal vollkommen eindeutig: Die hypomixolydische Voluntary for My Lady Nevell (Nr. 26). In allen anderen Kompositionen sind entweder Wechsel in fremde Tonarten (Commixtionen), das Komponieren in einem Moduspaar gleicher Finalis, oder der Meiersche „uneinheitliche modale Verlauf“77 festzustellen: Ein Blick auf die obige Tabelle hinterlässt den Eindruck tonartlicher Instabilität. Andererseits können die modale Regelmäßigkeit der Voluntary for My Lady Nevell sowie die der Exordien – jener Eingangsabschnitte, die im 16. Jh. traditionell die entscheidende Rolle im Prozess der Tonartbestimmung zu spielen hatten78 – der anderen fünf Fantasien als Hinweis darauf interpretiert werden, dass William Byrd die Regel der auf dem Kontinent herrschenden Moduslehre sehr wohl kannte und – wenn er es wollte – auch befolgte. Wie die Einzelanalysen der sechs zitierten Werke aus MLNB gezeigt haben, stimmen bei Byrd nicht nur die Grundlagen der Modusbehandlung, wie etwa die traditionelle Klauseldisposition oder die Einhaltung des Ambitus außerhalb der virtuosen Abschnitte, mit der kontinental-europäischen Theorie überein. Auch die ungeschriebenen Traditionen der Moduspraxis werden von Byrd berücksichtigt: In der äolisch-hypoäolischen Fancy Nr. 41 ist so die Klau76 77 78
Vgl. Meier 1992, S. 145–163. Ebd., S. 152–157. Vgl. in Bezug auf die Vokalmusik etwa Meier 1974, S. 153–219.
5.2 Konstitutives Element oder Collagematerial?
177
sel auf der Oberquart dominant79, die Fancy Nr. 36 beginnt mit einer für Jonisch und Hypojonisch typischen skalaren Bewegung80, während der Anfang der Voluntary for My Lady Nevell wie eine hypomixolydische Intonation aufgebaut ist, deren erste Bewegung zur charakteristischen Oberquarte – der traditionellen Repercussa des Hypomixolydischen – führt (vgl. Abb. 33, Anhang A zu Teil 3). Diese Voluntary stellt, wie bereits angedeutet, einen Sonderfall innerhalb der Sammlung dar: Durch ihre strenge modale Regelmäßigkeit unterscheidet sich die Voluntary for My Lady Nevell von allen gattungsverwandten Stücken William Byrds: Zwar ist die in MLNB nicht enthaltene mixolydische Fantasia Byrds, MB XXVIII/62, tonartlich ebenfalls sehr stabil, dennoch sind in ihr eine (nach Campion in duralen Modi allerdings erlaubte) Klausel auf der Obersekunde (T. 119) und ein erweiterter Ambitus vorzuÀnden. Nichts davon ist in der Nevell-Voluntary vorhanden. Nicht nur, dass ihre Introduktion einen modal-intonativen Charakter hat (s. Abb. 33); auch andere Aspekte der Tonartbehandlung stehen in völligem Einklang mit der kontinentalen Moduslehre. So entspricht die Stimmendisposition der Voluntary for My Lady Nevell strikt den theoretischen Regeln: Die Voces regales Tenor und Diskant können eindeutig als hypomixolydisch bezeichnet werden, während die „dienenden“ Stimmen Alt und Bass genauso eindeutig auf den mixolydischen Modus hinweisen. Ebenfalls wird die traditionelle Klauseldisposition I-V-IV eingehalten. Dabei ist auch auf der melodischen Ebene, in der Bildung von Imitationsmotiven, die Rolle der Oberquarte, der traditionellen hypomixolydischen Repercussa, hervorgehoben. Nicht zuletzt ist auch das Markieren von Ambitusgrenzen durch virtuose Passagen, die in anderen Kompositionen Byrds gerade dazu beitragen, den Ambitus zu erweitern81, am Ende der Voluntary ein Merkmal, das den Modus stabiler erscheinen lässt: Womöglich ist es bezeichnend, dass solche skalaren Tonartmarkierungen in einer vergleichbaren Form auch in der Fantasia MB XXVIII/62 auftreten, in welcher ebenfalls keine Commixtio stattÀndet. All diese Charakteristika deuten – insbesondere vor dem Hintergrund der anderen polyphonen Werke der Sammlung – nicht auf ein Zufallsergebnis hin. Die äußerst regelkonforme Modusbehandlung in der unmittelbar Lady Neville gewidmeten Fantasie82 könnte als Hinweis auf den gelehrten und durch italienische Vorbilder geprägten Geschmack der Widmungsträgerin hinweisen, von welchem in Teil 2 der vorliegenden Studie die Rede war. Wie ihr Grabmal in Henley (Abb. 4–6, Anhang A zu Teil 2), kann auch die Voluntary for My Lady Nevell als „outstandingly classical and simple“83 bezeichnet werden und ein Kompliment des Komponisten an ihre humanistische Gelehrsamkeit darstellen. 79 80 81 82
Zu dieser modalen Tradition vgl. Meier 1992, S. 88. Vgl. hierzu Meier 1992, S. 53. Vgl. Analysen in Anhang B zu Teil 5. Im Verzeichnis von MLNB trägt die Fancy Nr. 36 die Überschrift „for my ladye nevell“, die aber nicht im Haupttext steht. Dabei ist die Widmung der Voluntary Nr. 26 im Verzeichnis nicht übernommen, so dass es sich möglicherweise um eine Verwechslung des Kopisten handelt (MLNB, Folio 194v, vgl. Abb. 38 im Anhang zu Teil 4). 83 Vgl. Kapitel 2.3.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Aus den anderen in MLNB enthaltenen Fantasien ist zunächst ersichtlich, dass Byrd die neuen, Glareanschen Tonarten Jonisch, Hypojonisch, Äolisch und Hypoäolisch den traditionellen Oktoechos-Tonarten – zumindest quantitativ betrachtet – in MLNB bevorzugt hat: Nur zwei erste Fantasien der Sammlung (Nr. 9 und Nr. 26) stehen in einer alten, vorglareanschen Tonart (Hypomixolydisch). Dennoch ist in den überlieferten Fantasien Byrds insgesamt das Verhältnis zwischen den „alten“ und den „neuen“ Tonarten ausgeglichen84. Ob diesen Umständen eine besondere Bedeutung beizumessen ist, ist jedoch unklar: Die Bevorzugung von neuen Tonarten in MLNB dürfte jedenfalls nicht mit dem Geschmack der Widmungsträgerin zusammenhängen, zumal die ihr gewidmete Voluntary gerade in einer der alten Tonarten steht. Es gilt nun zu untersuchen, in welche Tonarten bei Commixtionen gewechselt wird und auf welche Weise der Tonartwechsel in den Fantasien Byrds vollzogen wird. In der jonisch begonnenen Lesson of Voluntary (Nr. 29) Àndet eine Commixtio zu einer Tonart statt, die als Hypolydisch beschrieben werden kann. Dabei beÀndet sich die hypolydische Finalis f auf der Oberquarte der Finalis des Modus verus (c). Relevant für die Ausführung des Tonartwechsels erscheint dabei die Tatsache, dass der Ambitus des anfänglichen Jonischen mit dem der Zieltonart Hypolydisch (c'–c'') identisch ist: Unterschiedlich ist lediglich die Verteilung der Quint- und Quartspezies im gleichen Oktavraum. Der gemeinsame Ambitus und die gemeinsame Klausel auf c begünstigen eine Commixtio dieser Art. Der Tonartwechsel Hypojonisch-Jonisch/Hypomixolydisch in der Fancy Nr. 36 unterscheidet sich von jenem aus der Lesson of Voluntary: Weder der jonische noch der hypojonische Ambitus sind mit dem hypomixolydischen identisch. Daher führt in T. 35 eine Sequenz des in T. 32 vorgetragenen, zu einer Klausel auf c (T. 33) führenden „Motivs“ in T. 36 zu einer Klausel auf d, die als Clausula secundaria des Hypomixolydischen fungiert, der Tonart, in welcher sich die nachfolgende pars entfaltet. Der Tonartwechsel wird hier also mittels einer sequenziellen Verschiebung ausgeführt. Noch komplexer ist die Situation in Ut, re, mi (Nr. 9, Abb. 39): In dieser Hexachord-Fantasie Àndet ein Tonartwechel aus dem Hypomixolydischen in das Moduspaar Hypolydisch-Lydisch statt. Bei dieser Commixtio scheint sich Byrd kurzzeitig einer „Zwischentonart“ (Hypodorisch, T. 28–30, s. Abb. 39) bedient zu haben, die mit der Haupttonart Hypomixolydisch einen gemeinsamen Eckton und Clavis clausularum hat – das d. Die Klausel auf d allein könnte natürlich als eine der hypomixolydischen Regelklauseln interpretiert werden, wenn die Melodiebildung nicht hypodorische Charakteristika trüge85. Nach einer Klauselbildung auf d (T. 30) wird – wie bei dem beschriebenen Tonartwechsel in der Fancy Nr. 36 – sequenziell der hypolydische Ambitus c'–c'' erreicht (T. 31, der Abschnitt weist insgesamt Charakteristika des Moduspaares Hypolydisch-Lydisch, s. Abb. 39). Danach wird innerhalb dieses Ambitus das namensgebende Hexachord-Motiv jedoch nicht konsequent zu einer Klausel auf c, sondern zu einer Schlussbildung auf f geführt. 84 85
Vgl. die Übersicht in Neighbour 1978, S. 221 sowie MB XXVII und XXVIII. Zu weiteren Einzelheiten s. Detailanalyse in Anhang B zu Teil 5.
5.2 Konstitutives Element oder Collagematerial?
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Der darauf folgende Moduswechsel Àndet durch Wechsel des Systems zum Cantus Àctus (2 „b“)86 statt. Eine Klausel im wiederhergestellten Hypomixolydisch führt zu einem Quint-Terz-Klang (mit kleiner Terz) auf g, der sich im weiteren Verlauf der Komposition als Bestandteil des zweifach transponierten Hypodorischen (Finalis c) erweist. Ein vergleichbarer Vorgang Àndet auch in der in MLNB nicht enthaltenen Fantasia MB XXVII/13 statt, wo aus einer hypoäolisch anmutenden Tonart über eine Zwischentonart, die nur als Hypolydisch zu bezeichnen wäre, vermittels einer Sequenzierung eine dritte Tonart erreicht wird, die Charakteristika des Hypomixolydischen trägt (T. 77–83)87. Zusammenfassend kann in Bezug auf die Praxis des Tonartwechsels in den polyphonen Kompositionen aus MLNB festgestellt werden, dass Commixtionen zu Tonarten mit quint- bzw. quartverwandten Finales überwiegen, wobei die Umfänge der betreffenden Tonarten entweder identisch oder lediglich eine Sekunde voneinander entfernt sind. In diesem Sinne ist der Übergang aus dem Hypomixolydischen ins Hypolydische/Lydische in Nr. 9 besonders interessant, da dort nicht eine einfache Sekundverschiebung aus dem Hypomixolydischen stattÀndet, sondern es wird als Zwischentonart das Hypodorische benutzt, das durch den Ton f'' – der im Hypodorischen die traditionelle Repercussa darstellt und im Lydischen/Hypolydischen die Oktave der Finalis ist – eine bedeutende Gemeinsamkeit mit der Zieltonart aufweist. Dass dieser Bezug nicht spekulativen Charakters ist, beweist die Tatsache, dass der Soggetto der betreffenden pars zunächt ex f als hypodorische OberterzRepercussa, dann ex c als Lydische Oberquint-Repercussa und endlich wieder ex f als lydische Finalis vorgetragen wird (s. Abb. 39, T. 28–35). Es handelt sich also um die Nutzung eines gemeinsamen exponierten Tones zum Zweck des Tonartwechsels: Das konstitutive Element einer Tonart ist bei Byrd zum konstitutiven Element des Tonartwechsels geworden. In dem einzigen Fall eines dauerhaften Moduswechsels, in der Torso-Voluntary Nr. 42 (Abb. 40)88, verfährt Byrd anders: Nach der modalen Wende vom Äolischen hin zum Hypojonischen (ab T. 7/T. 53), die nicht gleichzeitig in allen Stimmen stattÀndet, ist kein Moduswechsel mehr anzutreffen und sogar keine andere Schlussbildung als die Clausula primaria des Hypojonischen: eine bei weitem nicht konventionelle Verfahrensweise. Mit seinen 23 Klauseln auf c in unmittelbarer Folge mutet dieses Schlussstück der ganzen Sammlung dem zeitgenössischen Rezipienten in der Tat sehr „schlussbildend“ an. Ob das auch die Intention des Kompilators war, kann jedoch kaum beantwortet werden. Im Übrigen ist der erste, in MLNB nicht zu Àndende Abschnitt dieser Fantasie (MB XXVII/27, T. 1–46) ton86 87
88
Zur Terminologie s. etwa Dahlhaus 2001a, S. 158. Charles Butler nennt Cantus Àctus „scala mollaris“ (vgl. Kapitel 5.1). Im Kontext der Hexachordfantasie Ut, re mi sollte auch auf Judd 1992 hingewiesen werden. In diesem Beitrag werden die Besonderheiten der „Ut, Re, Mi Tonalities“ in den Motetten um das Jahr 1500 untersucht (Judd 1992, passim). Die Tonartlichkeit in Byrds Ut, re, mi scheint aber im Rahmen der Byrdschen Fantasien keinen Sonderfall darzustellen (s. weiter unten). Der in MLNB zu Àndende Teil der Fantasie stellt den zweiten Abschnitt von MB XXVII/27 dar. Vgl. Alan Browns Kritischen Bericht daselbst.
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artlich auf ähnliche Weise eigentümlich: Alle markanten Klauselbildungen Ànden auf dem Ton a statt, auch wenn die Melodik durch das Markieren von entscheidenden Ecktönen vielfach den Eindruck entstehen lässt, dass es sich um Hypojonisch handelt (vgl. T. 28–33). Die Tonartenkombinationen in Byrds polyphonen Werken aus MLNB führen zu dem Schluss, dass, obwohl Verbindungen von „quint- und quartverwandten Tonarten“ häuÀg anzutreffen sind, diese Verwandtschaften nicht allein konstitutiv wirken: Sie stehen immer mit der Gleichheit oder diastematischer Nähe zwischen zwei Tonumfängen in Verbindung. Auch der geschilderte Moduswechsel in Nr. 42 ist nicht nur ein Übergang von einer Tonart mit Finalis a in eine mit Finalis c, den der heutige Rezipient unweigerlich mit Bezügen der Dur-Moll-Tonalität assoziiert, sondern auch in eine Zieltonart (Hypojonisch), deren Ambitus (g'–g'') nur eine Sekunde tiefer liegt als jener der Ausgangstonart (Äolisch, a'–a''). Der Moduswechsel Àndet also entweder zwischen zwei Tonarten gleichen oder eine Sekunde entfernten Umfangs statt. Dabei sprechen die genannten sequenzierend ausgeführten Commixtionen dafür, dass es sich bei der diastematischen Nähe zwischen Tonartumfängen um einen wirklich praxisrelevanten Aspekt der Kompositionstechnik handelt. In allen Fällen der Commixtionen außer jenem aus Ut, re, mi (Nr. 9) wird aus einer authentisch-modalen Situation (auch wenn es sich insgesamt um ein Moduspaar handelt) in eine plagale „ausgewichen“ und umgekehrt. Alle diese Moduswechsel Ànden zwischen Tonarten mit gleichem oder „sekundverwandtem“ Ambitus und quint- bzw. quartverwanderten Finales statt, wobei diese beiden Aspekte zusammenhängen: Ein authentischer Modus ist durch die Teilung der Oktave in zwei Spezies automatisch gleichen Umfangs wie die plagale Tonart, deren Finalis seine Oberquarte ist (z. B. Jonisch-Hypolydisch) und ein plagaler Modus hat automatisch eine Sekunde höheren Ambitus als die authentische Tonart, auf deren Oberquint die Finalis der Ersteren liegt (z. B. Hypomixolydisch-Jonisch). Möglicherweise bestätigen diese Überlegungen die Wichtigkeit einer wörtlichen Lesart der bereits vorgestellten These Morleys – entgegen der in Kapitel 5.1 vorgetragenen –, wonach ein Moduswechsel nur zwischen einem authentischen und einem plagalen Modus stattÀnden darf89. Obwohl Morleys eigene Beispiele darauf schließen lassen können, dass er mit dieser These eigentlich die Mixtio – den Übergang in die Tonart gleicher Finalis und unterschiedlichen Umfangs – gutheißen und Commixtio – den Übergang in eine völlig fremde Tonart – verbieten wollte90, zeigten die hier zusammengefassten Analysen, dass in der Kompositionstechnik William Byrds, der erklärtermaßen Morleys unmittelbarer Gewährsmann war, neben der Mixtio eben auch die Commixtio zwischen einem plagalen und einem authentischen Modus keineswegs eine Seltenheit darstellte. Ähnlich wie die Disposition der modalen Gesamtkonzeption der Werke ist auch Byrds Kompositionspraxis im Einzelnen angelegt: Elemente der traditionellen, „re89 90
Vgl. Morley 1597/1937, „Annotations upon the third part“, ohne Seitenangabe; vgl. Kapitel 5.1. Positivbeispiele Morleys sind die Kombinationen: I. und II., III. und IV. Modus „&c.“: Morley 1597/1937, „Annotations upon the third Part“, ohne Seitenangabe; vgl. Kapitel 5.1.
5.2 Konstitutives Element oder Collagematerial?
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gulären“ Modusbehandlung überschneiden sich mit Aspekten einer unkonventionellen Tonartpraxis. Im Rahmen des Traditionellen bleiben – innerhalb der jeweils modal deÀnierbaren Abschnitte – die Melodiebildung sowie die Stimmendisposition. Etwas komplexer ist Byrds im Folgenden tabellarisch zusammengefasste Klauseldisposition in den Fantasien aus MLNB: Nr. 9: Ut re mi Hypomixolydisch: I, V, IV II, VI Lydisch-Hypolydisch: I, V Hypodorisch zweifach transponiert: I, IV, V Nr. 26: Voluntary for My Lady Nevell Hypomixolydisch: I, V, IV III (!) Nr. 29: Lesson of Voluntarie Jonisch-Hypojonisch I, V II, VI, IV Hypolydisch I, IV, V Nr. 36: Fancy Hypojonisch-Jonisch I, V, III II, VI Hypomixolydisch I, V Nr. 41: Fancy Äolisch-Hypoäolisch I, IV, V III, VII Nr. 42: Voluntary Äolisch I Hypojonisch I Obwohl die Disposition der Klauseln innerhalb von modal bestimmbaren Abschnitten zum großen Teil der Norm entspricht, sind außerhalb von Commixtionen zuwei-
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len Clausulae peregrinae vorzuÀnden91. Es ist schwer, dabei eine Gesetzmäßigkeit zu formulieren, die Byrds Gebrauch dieser Klausel (weg)erklären würde: Die Argumentation kann in der Musik für Tasteninstrumente schwerlich, wie im Fall der Vokalmusik, in Richtung hermeneutischer Spekulationen gelenkt werden, die die „fremdartigen“ Klauselstufen als Textausdeutung rechtfertigen würden92. Generalisierend kann behauptet werden, dass die Klausel auf der Oberterz, die in den traditionellen Moduslehren zu den regulären Klauseln gehört, in Tonarten von Byrds Fantasien der NevellSammlung verhältnismäßig selten ist93, sowie dass ihren Platz als Tertiaria zumeist die Klausel auf der Oberquarte einnimmt, unabhängig davon, ob die Tonart dural oder mollar ist94. In zwei der Fantasien aus MLNB (Nr. 9 und Nr. 26) wurde eine Tonart gewählt, in welcher die Oberterz traditionell als Clavis clausularum vermieden wurde – das Hypomixolydische. Gerade aber in einer von diesen Kompositionen, in der sonst überaus konventionellen Voluntary for My Lady Nevell, Àndet eine solche Klausel auf der Oberterz h statt. Dies ist vermutlich kein Zufall: Diese „gelehrte“ Voluntary ist, wie bereits ausgeführt, von eigentümlicher und unter Byrds Fantasien einzigartiger modaler Regelmäßigkeit, die möglicherweise auf italienische Vorbilder hinweist. Und es war gerade Gioseffo Zarlino, der die Klauseldisposition sämtlicher Modi dem theoretischen Schema I-V-III unterworfen hatte95, so dass in seinem Theoriekonzept auch in den Modi mit der Finalis G die sonst gemiedene Oberterz als Klauselstufe erlaubt wurde. Nach Zarlinos Theorie, die Thomas Morley bekannt war und auf welche er sich in seinen „Annotations“ beruft96, wurde also das h/H als Clavis clausularum im Hypomixolydischen und Mixolydischen als akzeptabel betrachtet. Mit dem strengen modalen Gesamtkonzept dieser Voluntary zusammengenommen, mag auch diese Besonderheit der Klauseldisposition einen Bezug zu der an klassischer Bildung interessierten Widmungsträgerin darstellen97. In der transponiert-äolischen Fancie, Nr. 41, wird eine Tonart verwendet, in welcher auch in der Instrumentalmusik des europäischen Festlands die Oberquarte als wichtige Klauselstufe diente98. Auch wenn Byrd in Nr. 9 ins zweifach transponierte Hypodorische und in Nr. 29 ins Hypolydische „ausweicht“ – in zwei Tonarten mit traditioneller Klauseldisposition I-V-III – wird die Oberquarte vorübergehend als Clavis clausularum eingesetzt99. Die Klausel auf der Oberterz kommt – 91 92 93 94 95 96 97 98 99
Die innerhalb von Commixtionen stattÀndenden Klauseln werden in Bezug auf den vorläuÀgen Modus, nicht in Bezug auf die Haupttonart betrachtet. Ein Ansatz, der insbesondere für Bernhard Meier charakteristisch war (Meier 1974, vgl. hierzu Dahlhaus’ Kritik in Dahlhaus 2006 sowie Dahlhaus 1976). Vgl. tabellarische Darstellung oben. Es sei in diesem Kontext daran erinnert, dass Campion die Klauseln auf der Obersekunde und der Oberquarte nur in den duralen Modi zu regulären Klauseln gezählt hat (vgl. Campion 1967a, S. 214 f. sowie Kapitel 5.1). Vgl. Zarlino 1558, IV, 18 (S. 320). Vgl. Morley 1597/1937, „The Annotations upon the third part“ sowie Literaturverzeichnis (ohne Seitenangabe). Vgl. Kapitel 2.3 und 2.6. Vgl. hierzu Meier 1992, S. 88. S. Tabelle oben.
5.2 Konstitutives Element oder Collagematerial?
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innerhalb der Abschnitte, die im Hauptmodus bleiben – nur in Nr. 36 mehr als einmal vor. Dagegen kommt, wie aus der obigen Tabelle ersichtlich, der Klausel auf der Obersekunde eine wichtige Position zu: eine Technik, die bei den duralen Modi von Thomas Campion noch zu Byrds Lebzeiten als legitim bezeichnet wurde100. Ein bedeutendes Charakteristikum des Gebrauchs von Clausulae peregrinae in den analysierten sechs Kompositionen ist, dass sie häuÀg im Kontext von Sequenzen auftreten. In Nr. 29 und Nr. 36 handelt es sich um längere Sequenzen, die mit der späteren, barocken Quintfallsequenz vom Typ „VI-II-V-I“ vergleichbar sind. Auch einzelne Clausulae peregrinae Ànden im sequenzierenden Kontext statt, wobei es sich meistens um Sekundverschiebungen handelt. In der Tat führt in Byrds Fantasien zumeist sowohl längeres als auch kürzeres Sequenzieren von einer Clausula peregrina hin zu einer Clausula regularia und zum Verfestigen des Modus verus101: ein Verfahren, das bekanntlich in den Kompositionstechniken späterer Epochen als „modulierende Sequenz“ zur Norm werden sollte. Ein Beispiel dieser Technik außerhalb von MLNB ist in der Fantasia MB XXVII/13 (T. 115–117) anzutreffen. Erwähnenswert erscheint im Kontext der Klauseldisposition auch die HäuÀgkeit der Klausel auf der Obersexte in den duralen Modi102. Obwohl hier nicht von einem zum herrschenden Prinzip erhobenen „Dur-Moll-Parallelismus“ die Rede sein kann, erscheint dieser Aspekt der Klauseldisposition, zusammengenommen mit der geschilderten Commixtio aus Nr. 9 (Hypodorisch/Hypolydisch-Lydisch) und dem dauerhaften Moduswechsel vom Äolischen ins Hypojonische in Nr. 42, nicht unwesentlich für die polyphonen Werke in MLNB. Schließlich soll auch ein Blick auf den bisher nicht angesprochenen Aspekt der Exordialimitation gerichtet werden. Die von Zarlino stammende103 – und im 16. und 17. Jh. immer praxisrelevanter werdende104 – Regel, wonach die Imitationsmotive entweder auf der Finalis (und ihrer Oberoktave) oder auf der Oberquinte (bzw. Unterquarte) des Modus beginnen müssen, wird von Byrd nicht als verbindliche Regel gehandhabt: Manche seiner polyphonen Werke aus MLNB weisen solch eine Imitationsdisposition auf, einige wiederum nicht. In drei seiner Fantasien verwendet er nicht dieses „modernisierte“, vereinfachte Schema der Imitationsanfänge, sondern imitiert auch auf der Oberquarte oder Unterquinte des Modus. Diese ältere Imitationsform ist in den Exordien von Nr. 9, Nr. 29 und Nr. 41 zu Ànden. Dabei ist bemerkenswert, wie Byrd im hypomixolydischen Modus verfährt, in welchem nach alter Praxis die Imitation auf der Unterquinte als korrekt erachtet wurde105. In der hypomixolydischen Hexachord-Fantasie Ut, re, mi (Nr. 9), benutzt er diese alte Imitationsweise, während im Exordium der Voluntary for My Lady 100 Vgl. Campion 1967a, S. 214; vgl. Kapitel 5.1. 101 Vgl. Analysen in Anhang B zu Kapitel 5.2. 102 Außerhalb von MLNB vgl. Ut, mi, re, MB XXVIII/65: eine Klausel auf e nur sechs Takte vor Schlussklausel auf G. 103 Vgl. Zarlino 1558, III, 28 (S. 173 f.). 104 Vgl. Meier 1992, S. 96–104. 105 Vgl. ebd.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Nevell (Nr. 26) gerade die von Zarlino gebotene Oberquint-Imitation ex d stattÀndet. Womöglich kann auch dieser Umstand, neben den anderen genannten Merkmalen dieser Komposition, als noch ein Hinweis auf den auf italienischen Vorbildern geschulten Geschmack der Lady Neville verstanden werden. Oliver Neighbour schrieb in seiner vorwiegend den Aspekten der formalen Gliederung und der Satztechnik sowie der Gattungsgeschichte gewidmeten Studie über die Instrumentalmusik Byrds immer wieder über die Individualität der Konzepte von Byrds Kompositionen106. Diese Individualität einzelner Werke ist auch auf der hier untersuchten Ebene der Modusbehandlung festzustellen. Jeder von den sechs Kompositionen liegt nicht nur eine andere Kombination von Tonarten zu Grunde, sondern auch eine andere Art, diese Kombinationen zu verwirklichen, die Tonarten miteinander zu verbinden, sowie eine andere Behandlungsart des Modus verus: Die Hexachordfantasie Ut, re, mi, die auf der Ebene der Satztechnik von der Idee der Hexachordmotiv-Durchführung auf verschiedenen Ebenen geprägt ist, ist durch komplexe Commixtionen gekennzeichnet und beinhaltet Klauseln auf allen sechs Stufen des Hexachords. Die Voluntary for My Lady Nevell dagegen ist im modalen Sinne so streng und „Zarlino-konform“, dass sie am anderen Ende des Tonartbehandlungsspektrums hervorsticht. In der Lesson of Voluntary sind wiederholte, sequenziell strukturierte Clausulae peregrinae und eine Commixtio die prägenden Aspekte des modalen Geschehens. Eine Kombination der regulären Klauseldisposition mit der Oberterz, einer Commixtio und sequenziell geordneten Clausulae peregrinae charakterisieren die Fancy Nr. 36. In der Fancy Nr. 41 ist wiederum die in der Kompositionspraxis traditionell gewordene, neue Klauseldisposition des Äolischen und Hypoäolischen zu Ànden, die statt der Oberterz die Oberquarte als Clavis clausularum bevorzugt, und ihr sogar einen höheren Rang als der Klausel auf der Oberquint verleiht107. Schließlich Àndet in der Voluntary Nr. 42 ein dauerhafter Moduswechsel statt und es werden – ebenfalls einzigartig in Byrds Fantasien – zur Schlussbildung ausschließlich die Clausulae primariae der beiden beteiligten Modi verwendet. Die Fantasien der Nevell-Sammlung sind – wie auch die nicht in MLNB enthaltenen Kompositionen Byrds gleicher Gattung – durch eine Modusbehandlung gekennzeichnet, die sich nicht so sehr durch Radikalität der „Ausnahmefälle“ von jener der bedeutenden Komponisten des europäischen Festlands unterscheidet, sondern durch die Zusammensetzung, Vielfalt und Dichte von diesen „Ausnahmefällen“. Die alten Tonarten werden in den polyphonen Kompositionen aus MLNB nicht „zersetzt“ oder „aufgehoben“, sondern sie werden erweitert, modiÀziert, konzentriert und die einzelnen, modal eindeutigen Abschnitte als Collageelemente eingesetzt. Und die harmonische Tonalität hat sich – wie wir spätestens seit Dahlhaus’ Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität108 wissen – eben auf dem Wege der Erweiterung, ModiÀzierung und Konzentrierung von tonalen Gegebenheiten, nicht auf dem Weg ihrer Zersetzung, entfaltet. Die Tonartlichkeit 106 Vgl. Neighbour 1978, passim. 107 Vgl. etwa Meier 1992, S. 88. 108 Dahlhaus 2001a.
5.2 Konstitutives Element oder Collagematerial?
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der hier analysierten Kompositionen Byrds ist bereits bedeutend erweitert im Sinne der modalen Gesamtkonzeption und modiÀziert im Sinne Byrds eigener Klauseldispositionsschemata. Sie ist aber nicht ausschließlich konzentriert auf Merkmale, die man in späteren Epochen „harmonisch“ und „dur-moll-tonal“ nennen wird: Das melodische Denken ist, wie gezeigt wurde, noch immer konstitutiv im Prozess des Tonartwechsels und die Disposition von Schlussbildungen ist nicht nur durch Quint-Quart-Verhältnisse oder durch Unterschiede von mollaren und duralen Modi geprägt. Gerade wegen dieser Charakteristika stellen die instrumental-polyphonen Kompositionen der Nevell-Sammlung einen wichtigen Wegweiser im Labyrinth der „Entstehung der harmonischen Tonalität“ dar. War aber in diesem Prozess William Byrd, das komponierende Subjekt, die entscheidende Instanz, die die alten Tonarten nicht als Medium, sondern gewissermaßen als Material benutzt hat und dem alle genannten Eigenschaften zuzuschreiben sind? Oder hat diese Verfahrensweise auch im epochebezogenen Musikdenken ihre Verankerung? Die noch vor Byrds Geburt stattgefundene Trennung Englands vom großenteils immer noch katholisch geprägten europäischen Festland hatte auch die Trennung von den Kulturgütern der Römisch-katholischen Kirche verursacht. Das hat nicht nur zur Entwicklung neuer Gattungen geführt109, sondern hat sich auch auf die Behandlung von alten Tonarten, die ja traditionell mit dem kirchlichen Raum verbunden waren, ausgewirkt. Byrd hatte zwar – wie man etwa nach den bei Morley zitierten Komponisten vermuten darf – sicherlich genug Gelegenheit, sich mit dem sakralen Musikgut des kontinentalen Europas und den entsprechenden musiktheoretischen Traktaten auseinander zu setzen. Die kontinentaleuropäische Musiktheorie mag auch über seinen anzunehmenden Lehrer Thomas Tallis tradiert worden sein110. Jedoch konnte Byrd nach dem Tod der römisch-katholischen Königin Mary und des Erzbischofs Reginald Pole111 sowie der darauf folgenden Thronbesteigung Elizabeths I. (1558) nicht in permanentem Kontakt mit der Kultur der römischen Kirche bleiben. Er konnte nicht an Gottesdiensten in großen katholischen Kathedralen teilnehmen und sich konstant und aktiv mit den Produkten ihrer Musikkultur befassen. Im Gegenteil: Sein Katholizismus war gesetzeswidrig und durfte nur im Verborgenen manifestiert werden112. Gleichzeitig schwanden im elisabethanischen England die Choralkultur und die Kultur des improvisierten Diskantierens und Psalmodierens113, während die Literalisierung der Instrumentalmusik eine immer bedeutendere Praxis wurde114. Selbstverständlich 109 Vgl. hierzu insbesondere Edler 1997, S. 355. Auch Seidel entgeht die soziale Bedingtheit der Entstehung von Byrds Fantasien nicht (s. kurzen, aber treffenden Hinweis in Seidel 1987, S. 111). 110 Vgl. Kapitel 5.1. 111 Vgl. Kapitel 2.3. 112 Die Literatur zu Byrds Katholizismus ist sehr umfangreich; hier seien im biographischen Sinne insbesondere Harley 1997, S. 68 f., 126–131 sowie Mateer 1998 hervorgehoben. Vgl. in Bezug auf Byrds Schaffen Kerman 1981, Monson 1997, sowie McCarthy 2007. 113 Vgl. hierzu insbesondere die Autobiographie Thomas Whythornes (Whythorne 1962, S. 203 f.). 114 In Bezug auf den kirchlichen Raum und das Schwinden der vokalen Improvisationskultur im elisabethanischen England s. etwa Flynn 1993, S. 277 f. Vgl. Kapitel 3.3 und 5.6.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
schloss der Protestantismus nicht automatisch die Präsenz der Moduslehre aus: Sie war ja auch im protestantischen Kontinentaleuropa weit verbreitet. Es durfte aber, mit der staatlichen Reformation zusammengenommen, auch die Insularität Englands dazu beigetragen haben, dass im England des 16. Jh. dieser Lehre eine sehr reduzierte und modiÀzierte Rezeption zukam. Eine veränderte Stellung des Tonartenkonzepts innerhalb der gesamten Kompositionspraxis erscheint vor diesem Hintergrund verständlich. John Harley, der seine Untersuchungen der Moduspraxis Byrds hauptsächlich auf dessen Vokalkompositionen beschränkt, behandelt auch den Tonartwechsel als einen wichtigen Aspekt des Byrdschen Tonsatzes115. In Bernhard Meiers Standardwerk über Modusbehandlung in der Vokalmusik Ànden Byrds Beispiele vom Tonartwechsel ebenfalls Erwähnung116. In Byrds polyphoner Musik für Tasteninstrumente äußert sich diese Tendenz aber als konstitutiver Aspekt der Kompositionspraxis, so dass das auf dem Kontinent, wie Meier demonstriert hat117, immer noch geltende Prinzip der Tonarteinhaltung bei Byrd gerade zu einer Ausnahme wird, die anscheinend dann eingesetzt werden kann, wenn es die Umstände – beispielsweise der speziÀsche Geschmack der Patronin – erfordern. Harley benutzt den vermutlich frühen, modal streng regelkonformen liturgischen Satz Byrds Alleluia. ConÀtemini Domino als Argument dafür, dass Byrd in seiner Jugend die kontinentale Moduslehre wahrnahm und dass sie auf seine Kompositionstechnik EinÁuss ausgeübt habe118. Das mag möglich sein, soll aber nicht dazu führen, Byrds „Entwicklung“ hin zu einer „Befreiung“ von modalen „Zwängen“ nach dem Modell spätneuzeitlicher Ideale zu konstruieren. Es gibt nicht genügend Hinweise darauf, dass das Relativieren der traditionellen Tonarten das Produkt ausschließlich einer rein subjektiven Entwicklung Byrds ist, während mehrere zuvor angeführte Hinweise – nicht zuletzt die erwähnte Vagheit von Morleys Ausführungen über die Modi – dafür sprechen, dass die Moduslehre zu Byrds Zeiten im englischen Musikdenken generell keine zentrale Rolle gespielt hat, was wohl auf die geschilderten sozialen Entwicklungen hinweisen dürfte: Die Moduslehre war wohl bekannt, aber nicht verbindlich. Die Fantasien anderer Komponisten des 16. Jh. und der frühen Stuart-Epoche sind tonartlich ebenfalls relativ entfernt von der modalen Tradition. Ein umfangreicher Vergleich dieser Kompositionen mit denen Byrds kann hier naturgemäß nicht geleistet werden. Ein Blick auf ihre Tonartbehandlung kann jedoch voreiligen Schlüssen hinsichtlich Byrds Einzigartigkeit vorbeugen. Schon in Mulliner sind Anzeichen von Tonartwechseln in polyphonen Werken vorzuÀnden: Farrants Felix namque liefert ein gutes Beispiel (MB I/19, etwa T. 75–95), ebenfalls Tallis’ Felix namque-Sätze MB LXVI/4 und 5. Auch Thomas Morley folgte nicht immer seinem eigenen Rat hinsichtlich des Moduswechselverbots bei Fantasien119, sondern be115 116 117 118 119
Vgl. Harley 2005, S. 84–87. Vgl. Meier 1974, S. 294, 306. Vgl. hierzu Unterkapitel 1.1.2. Vgl. Harley 2005, S. 2. Vgl. Morley 1597/1937, S. 147 (s. o.); vgl. auch das Zitat Morleys am Anfang von Teil 5.
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vorzugte, wie Byrd, einen freien tonartlichen Verlauf: Bernhard Meier führt Morleys Fantasia FWVB/57 als ein Beispiel für den „modal uneinheitlichen Verlauf“ in der Instrumentalmusik des 16. Jh. an120. Bei dieser Verwandtschaft zwischen der Kompositionspraxis von Byrd und Morley mögen mikrosoziologische Gründe eine Rolle gespielt haben, da Morley William Byrd nahe stand und auch vorgab, sein Schüler gewesen zu sein121. In der Fancy for Viols (MB V/33)122 von Byrd-Schüler Thomas Tomkins (1572–1656) können auch ähnlich angelegte, wenn auch noch chromatischere Tonartveränderungen beobachtet werden, wie bei William Byrd (T. 6–26). Insgesamt kann aber festgestellt werden, dass sich sowohl hier als auch in anderen gattungsverwandten Kompositionen Tomkins’123 die „Zwischentonarten“ nicht dauerhaft etablieren. Ein anderer Fall solcher Tonartbehandlung in der Musik für Tasteninstrumente ist auch in Alfonso Ferraboscos Fancy MB LXVI/31 (T. 35–42)124 zu Ànden. In den drei überlieferten Fantasien (MB LXXVI/11–13) von Peter Philips (1560/1–1628), der wahrscheinlich Byrds Schüler war125, sind dagegen keine bedeutenden tonartlichen Ausweichungen zu Ànden: David Smith vermutet, dass die drei Fantasien Philips’ lediglich Intavolierungen von Vokalwerken darstellen126. Ein Vergleich zwischen William Byrd (1540–1623) einerseits und John Bull (1562/3–1628) und Orlando Gibbons (1583–1625) – Angehörige einer jüngeren Generation und nicht als Byrd-Schüler überliefert – andererseits lässt darauf schließen, dass sich die subjektive Verfahrensweise in den unterschiedlichen Methoden der Relativierung von traditionellen Tonarten niederschlägt. So kommen in Bulls Fantasien127 zuweilen Wendungen vor, die an Byrds Tonartwechsel erinnern, es gibt jedoch Unterschiede in der Detailarbeit. In der dorisch-hypodorischen Fantasie aus Prelude and Fantasia MB XIV/1, Àndet ein relativ dauerhafter Tonartwechsel in den Bereich des Jonisch-Hypojonischen (T. 85) statt. Dieser ist – ähnlich wie bei Byrd – als Sequenzierung des vorausgegangenen Abschnittes (T. 80–83) zu verstehen. Die Rückkehr in die ursprüngliche Tonart erfolgt dabei ebenfalls über eine Sequenz (T. 100 f.). HäuÀg bei Bull sind aber auch Wendungen, die nicht zur Etablierung einer neuen Tonart, sondern zu kurzzeitigen und modal nicht genau bestimmbaren, meistens auch im virtuosen Kontext stattÀndenden „Ausweichungen“ führen. Ein Beispiel dafür ist in der zitierten Fantasia MB XIV/1 zu Ànden: In einem dorisch-hypodorischen Gesamtkontext werden die Bereiche des Lydischen/ Hypolydischen (T. 33, 35) und Transponiert-Dorischen (39 f.) sequenzartig angedeutet; die weitere Entfaltung der Komposition erfolgt in der Ausgangstonart (ab T. 41). Eine vergleichbare Tonartbehandlung ist in anderen Fantasien Bulls eben120 121 122 123 124 125 126 127
Meier 1992, S. 156. Vgl. Morley 1597/1937, Widmung (ohne Seitenangabe). Auch in Paris MS 1122, einer Sammlung für Tasteninstrumente, enthalten. Vgl. etwa seine Fancy MB V/23, Voluntary MB V/24, die kurze Voluntary MB V/30 sowie Substantial Verse MB V/31. MB LXVI/31. Vgl. David Smiths Einleitung in MB LXXV, S. XVII. Ebd., S. XIX. MB XIV/1–19.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
falls zu Ànden. Interessant sind insbesondere die mit Modusbezeichnungen versehenen Fantasien MB XIV/2 (Prelude and Fantasia in the Eighth Mode) und MB XIV/17 (Fantasia in the Fifth Mode) John Bulls: In diesen Kompositionen sind zwar keine dauerhaften Tonartwechsel zu Ànden, die Chromatik einerseits und die Virtuosität andererseits lassen aber die Tonarten nur gelegentlich deutlich erkennen128. In Orlando Gibbons’ Fantasien129 ist eine ähnliche Tonartbehandlung festzustellen: Diese Kompositionen können kaum als modal regelmäßig beschrieben werden; es sind für sie auch keine dauerhaften Ausweichungen jener Art charakteristisch, wie es in den Fantasien Byrds der Fall ist. Bei Gibbons wird die Strenge der Melodiebildung durch einen speziÀsch-instrumentalen Satz relativiert, es ist aber gleichzeitig die Tendenz erkennbar, den Tonvorrat und die Klauseln ein und derselben Tonart – mit kürzeren Ausweichungen – immer wieder einzusetzen. Der Unterschied zwischen Byrd einerseits und Bull und Gibbons andererseits scheint daher hinsichtlich der Tonartbehandlung darin zu bestehen, dass der Erstere die alten Tonarten teilweise bewahrt und teilweise als Material benutzt und auf einer übergeordneten Ebene miteinander kombiniert, während die anderen beiden Komponisten häuÀge Ausweichungen kürzerer Dauer bevorzugen und das Moduskonzept im Detail zugunsten eines Tasteninstrumentensatzes relativieren130. Byrds Zeitgenosse Henry Peacham beschrieb den Komponisten als „naturally disposed to gravity and piety“131. Womöglich ist die beschriebene Behandlung von Tonarten in seinen Fantasien gerade mit dieser Disposition und dem Habitus des Komponisten in Verbindung zu bringen: Trotz der generellen Tendenz, die Bedeutung der traditionellen Tonartenkonzepte zu relativieren, ist bei Byrd im kompositionstechnischen Detail mehr von den alten Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie als bei Bull und Gibbons geblieben. Daher können weder eine rein objektivistische These, die Byrds Tonartbehandlung in seinen Fantasien nur durch die Prozesse in der Gesellschaft der Tudor-Ära erklärte, noch ein subjektivistischer Ansatz, der die Kompositionsweise Byrds ausschließlich als Produkt seiner persönlichen Entwicklung betrachten würde, der Sachlage gerecht werden. Nur eine Kombination von beiden Sichtweisen führt zu einer überzeugenden Erklärung: Die sozialen Prozesse konnten den allgemeinen Stellenwert, den die alten Tonarten im elisabethanischen England hatten, sicherlich beeinÁussen; dennoch war die genaue Art dieser Tonartbehandlung offenbar von subjektiven und mikrosoziologischen Faktoren geprägt. 128 Die beiden zitierten Kompositionen Bulls sind dabei in einem niederländischen Manuskript überliefert und die Moduszuschreibung mag auf den Kompilator Messaus zurückgehen, der als Kirchenmusiker in Antwerpen arbeitete, wo auch Bull tätig gewesen war. Vgl. hierzu MB XIV, S. 159. 129 MB XX/1–14. 130 Es sei betont, dass diese Feststellungen zu Unterschieden in der Kompositionspraxis der elisabethanischen Komponisten nicht im Widerspruch zu den in Kapitel 3.2 vertretenen Einschränkungen in Bezug auf den Individualstilbegriff stehen: Diese hatten sich hauptsächlich auf die Begriffsverwendung auf dem Gebiet der Autorschaftszuweisungen bezogen. 131 Peacham 1962, S. 112. Mit Originalorthographie zitiert in Harley 1997, S. 166.
5.3 Neue Tonartenkonzepte für staide musicke: die Pavanen und Galliarden
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5.3 NEUE TONARTENKONZEPTE FÜR STAIDE MUSICKE: DIE PAVANEN UND GALLIARDEN Im Gegensatz zu Fantasien handelt es sich bei Pavanen und Galliarden um Gattungen, die unmittelbar in Bezug zur Hofkultur stehen. Dass Königin Elizabeth I. morgens schnelle und dynamische Galliarden als exercise zu tanzen pÁegte, wurde bereits referiert132. Demgegenüber war die Pavane „a kind of staide musicke“133, ein langsamer, feierlicher Tanz, der, wie Arbeaus Orchésographie (1588) zu entnehmen ist, der aristokratischen Repräsentation diente und nicht nur zum Tanzen, sondern auch als Eingangs- und Ausgangsmusik bei feierlichen Anlässen verwendet wurde134. Die Literalisierung von Pavanen und Galliarden im England des 16. Jh. kann daher als ein weiteres Beispiel für den Übergang „vom Rituellen ins Textuelle“ verstanden werden, von welchem in Kapitel 3.3 die Rede war, während die Integrierung dieser Tänze in das Virginalrepertoire eine Verbindung von zwei Elementen der Adelskultur darstellt: Die öffentliche Hofkultur durchdringt in Pavanen und Galliarden für Tasteninstrumente das private Musizieren des Adels. Es ist aus diesem Grunde nicht überraschend, dass gerade die Pavanen und Galliarden, im Unterschied zu den Fantasien, zu den beliebtesten Widmungsstücken der englischen Komponisten des 16. und 17. Jh. gehörten: William Byrd widmete ein Tanzpaar William Petre II. (MLNB Nr. 39 und 40, zur Zeit der Veröffentlichung von Parthenia „Sir William Petre“, s. MB XXVII/3a–b), eine Pavane mit zwei Galliarden dem einÁussreichen Staatsmann Earl of Salisbury (MB XXVII/15a–b–c,) und eine Pavane der Lady Monteagle (MB XXVIII/75)135; auch eignete er ein Tanzpaar und eine Galliarde zwei Angehörigen der „niederen“ gentry, beziehungsweise des gehobenen Bürgertums, zu: Mary Brownlow (MB XXVII/34) und Kinborough Good (MLNB 20 und 21, MB XXVII/32a–b)136. Eine ähnliche Praxis ist auch bei anderen Komponisten der Epoche vorzuÀnden: Während es keine Fantasien Bulls, Gibbons’ und Tomkins’ gab, die Aristokraten gewidmet gewesen wären, sind solche Widmungen bei ihren Pavanen und Galliarden besonders häuÀg. Von John Bull stammen Lady Lucy’s Galliard (MB XX/72), die Chromatische Pavane mit Galliarde für Königin Elizabeth (MB XIX/97a–b)137, Prince’s Galliard (MB XIX/113)138, ein Tanzpaar für Lord Lumley139 (MB XIX/129a–b), drei Regina
132 133 134 135 136
Vgl. Unterkapitel 2.6.1 und Kapitel 4.1. Vgl. Morleys Zitat weiter unten. Vgl. Edler 1997, S. 159. Vgl. Kapitel 2.4 und die genealogischen Tabellen in Anhang B zu Teil 2. Zu Mary Brownlow und Kinborough Good s. Alan Browns Kritischen Bericht in MB XXVII, S. 178. Zu Kinborough Good s. auch Kapitel 4.1. 137 Thurston Dart war der Meinung, dass sie anlässlich des Todes der Königin komponiert worden sei. Vgl. Darts Kritischen Bericht in MB XIX, S. 231. 138 Wahrscheinlich für Prinz Henry, Sohn von König Jakob I. (vgl. Thurston Darts Kritischen Bericht in MB XIX, S. 234). 139 Einer der Patrone Byrds: Vgl. Kapitel 2.4 sowie Tabelle 4 in Anhang B zu Teil 2. Vgl. auch Harley 1997, S. 103 f.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Galliards (MB XIX, 132a–b–c), die sich höchstwahrscheinlich auf Königin Elizabeth beziehen140 und eine Galliarde für Lord Hunsdon (MB XIX/133). Bei Bull, der auch auf dem Kontinent tätig war, sind dabei auch Widmungen an Angehörige der ausländischen Aristokratie anzutreffen. So ist eine Galliarde überliefert, die wahrscheinlich Prinzessin Charlotte von Den Haag, einer Enkelin Wilhelms des Schweigers, zugeeignet war (MB XIX/73)141. Orlando Gibbons hat, wie auch William Byrd, ein in Parthenia veröffentlichtes Tanzpaar Lord Salisbury gewidmet (MB XX/18–19) und eine Galliarde der Lady Hatton (MB XX/20). Auch bei Thomas Tomkins ist eine ähnliche Widmungsstrategie festzustellen: Er hat eine Pavane und Galliarde dem Earl of Strafford (zwei Versionen: MB V/41–42 sowie 43–44) gewidmet, eine Pavane Lord Canterbury (MB V/57) und eine Galliarde Lady Folliott (MB V/59). Dabei sind bei Gibbons und Tomkins die Pavanen und Galliarden sogar die einzigen Gattungen der Musik für Tasteninstrumente, die mit Widmungen versehen sind. Dass diese stilisierten Hoftänze in England als Inbegriff der aristokratischen Musik gegolten haben, scheint also nicht nur durch ihren höÀschen Kontext, sondern auch durch die geschilderte Widmungspraxis der bedeutendsten Komponisten der Epoche bestätigt zu sein. Bei der Wahl der in diesem Kapitel zu behandelnden Kompositionen war deren Platzierung in der Sammlung MLNB entscheidend. Daher werden die Neunte Pavane und Galliarde, die hinsichtlich ihres Aufbaus Ostinatovariationen mit vorgegebenem Passamezzo antico-Bass („passing measures“) darstellen, in diesem Kapitel berücksichtigt. Das ist umso berechtigter, als das Passamezzo ebenfalls auf einen Tanz zurückgeht und mit der Gattung Pavane verwandt war142. Andererseits werden Galliard for the Victory und Galliard Jig, die nicht in das zentrale Corpus von Pavanen und Galliarden integriert sind, nicht hier, sondern in Kapitel 5.5 behandelt. Ist für Byrds Fantasien die Vielfalt der satztechnischen Konzepte und auch der tonartlichen Planung charakteristisch143, so sind seine Pavanen und Galliarden durch eine gewisse Regelmäßigkeit beider Aspekte geprägt. Diese Regelmäßigkeit ist bereits in Morleys Beschreibung der Pavane enthalten, die im Unterschied zu der im vorausgegangenen Kapitel zitierten Beschreibung der Fantasie, ganz konkrete formale praecepta für die kompositorische Praxis beinhaltet: The next [nach den Fantasien] in grauity and goodnes unto this is called a pauane, a kind of staide musicke, ordained for graue dauncing, and most commonlie made of three straines, whereof euerie straine is plaid or sung twice, a straine they make to containe 8. 12. or 16. semibreues as they list [= like], yet fewer than eight I haue not seene in any pauan.
Diese Beschreibung Morleys trifft in der Regel auch bei den Pavanen und Galliarden Byrds zu144: Die meisten von ihnen weisen die von Morley geschilderte Form AA'BB'CC' auf, wobei die Wiederholungsabschnitte variiert werden. 140 141 142 143 144
Vgl. MB XIX, S. 237. Zur Quellenlage s. Thurston Darts Kommentar in MB XIX, S. 228. Vgl. Edler 1997, S. 251. Vgl. Kapitel 5.2. Die Ausnahmen werden im weiteren Text und in den Einzelanalysen im Anhang genannt.
5.3 Neue Tonartenkonzepte für staide musicke: die Pavanen und Galliarden
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MLNB enthält zehn durchnummerierte Pavanen, von denen alle außer der Siebten und Achten (Nr. 22 und 23) mit einer expressis verbis darauf bezogenen Galliarde versehen sind145. Dabei beÀnden sich, wie bereits geschildert, die ersten neun Pavanen mit Galliarden im zentralen Teil der Sammlung, während die Zehnte Pavane und Galliarde, William Petre II. gewidmet, fast am Ende der Sammlung stehen146. Dass der Reihenfolge von Pavanen und Galliarden in MLNB eine tonartliche Ordnung zugrunde liegt, wurde sowohl von Oliver Neighbour und John Harley als auch von Arnfried Edler angesprochen147. Dabei betonten die Forscher die Abwechslung von duralen und mollaren Modi bei den aufeinander folgenden Tanzpaaren. Von dieser „Maggiore-Minore-Regel“ werden allerdings zwischen der Sechsten Galliarde und der Siebten Pavane (beide in duralen Tonarten) sowie am Ende der Gruppe, zwischen der Achten und der Neunten Pavane (beide in mollaren Tonarten), Ausnahmen gemacht. Nun setzt diese Beobachtung in Bezug auf die tonartliche Planung von MLNB offensichtlich voraus, dass ein Maggiore-Minore-Denken, eine KlassiÀkation der Modi nach ihrer Oberterz, dem englischen Musikdenken der Epoche inhärent war. Das dürfte in der Tat zutreffen, ist doch gerade in dem bereits zitierten Traktat A New Way of Making Fowre Parts in Counter-point (1615) Thomas Campions, einer noch zu Byrds Lebzeiten veröffentlichten Musikabhandlung, eine Differenzierung der Modi zu Ànden, die auf dem Oberterzcharakter basiert148. Dabei scheint für Campion die Frage nach dem Charakter der Oberterz für die Modusbestimmung genauso relevant zu sein, wie die Unterscheidung zwischen authentischem und plagalem Ambitus. Gleich am Anfang des Kapitels Of the Tones of Musicke149 schreibt Campion, nachdem er die Differenzierung zwischen authentischen und plagalen Modi behandelt hat: This Àft [das diapente, die Quintspezies des Modus] is also diuided into two thirds, sometimes the lesser third hat the vpper place, and the greater third supports it bellow, sometimes the greater third is higher, and the lesser third rests in the lowest place [es folgen zwei Beispiele: ein „G-Dur-Akkord“ und ein „g-Moll-Akkord“] 150.
Eine konstitutive Unterscheidung zwischen duralen und mollaren Modi zu Byrds Zeiten ist also, wenn auch nach der Fertigstellung von MLNB, durch die englische Musiktheorie bestätigt, obwohl die Wichtigkeit dieses Unterschieds für Campion – und in der Praxis möglicherweise auch für Byrd – nicht unbedingt mit einer Vorstellung von der Dur-Moll-Tonalität gleichgesetzt werden soll: Wichtig sei der Charakter der Oberterz einer Tonart laut Campion aus dem Grund, dass sie die Klausel145 Der Bezug wird z. B. durch die Bezeichnung „the galliarde followeth“ (s. etwa Erste Pavane, Nr. 10) hergestellt. 146 Vgl. Tabelle 1 im Anhang sowie Kapitel 4.2. Zu William Petre s. insbesondere Kapitel 2.4. 147 Vgl. Neighbour 1978, S. 179 f, Harley 2005, S. 128 f sowie Edler 1997, S. 165. 148 Vgl. Kapitel 5.1. 149 Campion 1967a, S. 213–218. 150 Campion 1967a, S. 213. Zur früheren Intervallcharakterisierung s. Zarlino 1558, III, 10 (S. 156); vgl. hierzu etwa Dahlhaus 2001b sowie Meier 1992a.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
disposition innerhalb einer Tonart (nicht „Modulationen“, wie Barry Cooper unbegründet behauptet151) deÀniere152. Die Vermutung, dass die Gesamtkonzeption der Pavanen und Galliarden in MLNB auf dem bewusst verwendeten Gegensatz zwischen mollaren und duralen Tonarten basiert, scheint vor diesem Hintergrund nicht unmöglich. Noch eine mögliche – die erste dabei nicht ausschließende – Sichtweise in Bezug auf die Konzeption des Pavanen-Galliarden-Corpus in MLNB bezieht sich auf die Reihenfolge der Finales: Diese kommen in den Pavanen und Galliarden mit corpusinternen laufenden Nummern 1 bis 8153 zweimal in der Folge c-G-A vor, während dazwischen zwei Pavanen und Galliarden mit der Finalis c liegen: 1: c 2: G 3: A 4: c 5: c 6: c 7: G 8: A 9: G154 Ob die beiden Gruppierungen eine weitere Bedeutung haben als lediglich eine musikalisch-immanente Ordnung zu stiften und dadurch, wie Edler schreibt, eine frühe Form von zyklischem Denken in der Tastenmusik bilden155, kann kaum beantwortet werden. Edlers Vermutung, dass der Reihenfolge von Pavanen und Galliarden in MLNB ein Zyklus-Gedanke zugrunde liegt, erscheint aber nicht nur anhand einer immanenten Analyse von tonartlichen Elementen sinnvoll, sondern auch im Kontext des immer höheren Stellenwerts der Musik für Tasteninstrumente im 16. Jh., die sich auf der Ebene der Detailliteralisierung und in der sorgfältigen Wahl der Kompositionen für die Sammlung widerspiegelt, über die bereits die Rede war. Bekanntlich war der Zyklusgedanke in der Vokalmusik üblich, da dort liturgische 151 Campion (1967a, S. 214 f.) schreibt eindeutig von „closes“ innerhalb ein und desselben Modus; Coopers Deutung, Campion empfehle bei mollaren Modi eine „Modulation in die sogenannte parallele Durtonart“ (Cooper 1986, S. 202) ist daher nicht unproblematisch: Es handelt sich hier eindeutig um die reguläre Klauselbildung auf der Oberterz, die der modalen Tradition entspricht. 152 Vgl. Kapitel 5.1. 153 Die Pavane und Galliarde Nr. 9, „Passing Measures“ bilden auch innerhalb der MaggioreMinore-KlassiÀkation eine Ausnahme und gehören, wie in der Analyse im Anhang demonstriert, nicht zum formalen Typus der beiden Tanzarten. Auch die nachfolgenden generellen Bemerkungen über die modalen Eigenschaften von Pavanen und Galliarden gelten für die Neunte Pavane und Galliarde nicht. 154 Diese Reihenfolge der Finales stellt die Reduktion einer anscheinend weniger regelmäßigen Reihenfolge der Modi dar: Hypodorisch, Hypomixolydisch, Äolisch, Hypojonisch, Dorisch, Hypojonisch, Mixolydisch, Äolisch, Dorisch. 155 Vgl. Edler 1997, S. 165.
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5.3 Neue Tonartenkonzepte für staide musicke: die Pavanen und Galliarden
oder, in der weltlichen Musik, andere thematische Zusammenhänge vorlagen. Dass das Element der Zyklusbildung – ohne dass wir wissen, ob es von Byrd, Baldwin oder gar den Nevilles stammte – nun auf die für den dominanten Stand, den Adel, immer wichtiger werdende Musik für Tasteninstrumente übertragen wird, dass dieser Musikgattung also eine Stellung zukommt, die zuvor vornehmlich der Vokalmusik vorbehalten war, scheint vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchungen möglich zu sein. Die Tonartkonzeptionen der Pavanen und Galliarden aus MLNB seien in der nachfolgenden Tabelle zusammengefasst:156157158159 Nr. im Stück MS 10
Erste Pavane
11
Erste Galliarde
13
Zweite Galliarde
14
Dritte Pavane
16
Vierte Pavane
12
15 17 18 19 20 21
Zweite Pavane
Dritte Galliarde Vierte Galliarde Fünfte Pavane
Fünfte Galliarde
Sechste Pavane: Kinborough Good Sechste Galliarde
22
Siebte Pavane
23
Achte Pavane
Finalis
Modus156 zweifach transponiertes157 Hypodorisch / 2 tr. Äolisch
C
Hypomixolydisch / Dorisch
G
2 tr. Hypodorisch (kein Moduswechsel)
Moduspaar Mixolydisch-Hypomixolydisch / Moduspaar Dorisch-Hypodorisch
C
G
Äolisch / Hypophrygisch
A
Hypojonisch / Äolisch
C
Äolisch / Hypojonisch158 Hypojonisch /
Mixolydisch159
2 tr. Dorisch / 2 tr. Äolisch 2 tr. Dorisch 2 tr. Äolisch
A C C C
Hypojonisch / Mixolydisch / Dorisch (?)
C
Hypojonisch / Mixolydisch
C
Mixolydisch / Hypodorisch, „modal uneinheitlich“ Äolisch / Phrygisch
G A
156 Es werden in dieser Spalte nur der Hauptmodus und die Commixtio angegeben, ohne jedesmal zu betonen, dass man nach der Commixtio zum Hauptmodus zurückkehrt. 157 Im weiteren Text: „tr.“. 158 Schon in Abschnitt AA'. Die Rückkehr zum Hauptmodus Àndet dabei in Abschnitt BB' statt (s. u. im Haupttext sowie Detailanalyse im Anhang). 159 Sowohl in Abschnitt BB' als auch in Abschnitt CC'. Die Rückkehr zum Hauptmodus Àndet erst in der Coda statt (vgl. Analyse im Anhang).
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Nr. im Stück MS
24 25
39 40
Modus
Passing Measures: Tr. Dorisch Neunte Pavane Neunte Galliarde
Zehnte Pavane: Mr. W. Petre
Zehnte Galliarde
Finalis G
Moduspaar tr. Hypodorisch-Dorisch
G
2. tr. Äolisch / 2 tr. Hypophrygisch
G
2 tr. Hypoäolisch / 2 tr. Mixolydisch
G
Vorerst ist aus der Tabelle ersichtlich, dass hinsichtlich der Wahl der Tonarten, die neuen, Glareanschen Modi Jonisch, Hypojonisch, Äolisch und Hypoäolisch in den Pavanen und Galliarden der Nevell-Sammlung im Gleichgewicht zu den alten Oktoechos-Tonarten stehen. Das gilt auch für die in anderen Quellen überlieferten Pavanen und Galliarden Byrds160. Im Bereich der Tonartenwahl unterscheiden sich also die Pavanen und Galliarden Byrds nicht bedeutend von seinen Fantasien. Die im Anhang zusammengefassten Einzelanalysen von Byrds Pavanen und Galliarden aus der Nevell-Sammlung haben gezeigt, dass sie, mit wenigen Ausnahmen161, vor allem ein wichtiges gemeinsames Charakteristikum besitzen: den Tonartwechsel im mittleren Abschnitt (BB'). In Kategorien der traditionellen Moduslehren ist eine Deutung dieser Abschnitte innerhalb der jeweiligen Ausgangstonarten nicht möglich. Es handelt sich in den BB'-Formteilen der Pavanen und Galliarden Byrds keineswegs etwa um das Auftreten von vereinzelten Clausulae peregrinae oder um kleinere Ausnahmen in der Melodiebildung. Vielmehr deuten die in diesen Abschnitten stattÀndenden Veränderungen der melodischen Gestaltung sowie der Klauseldisposition jeweils auf einen Tonartwechsel hin162. Das sei am Beispiel der Fünften Pavane (Nr. 18) demonstriert (Abb. 41). Der erste Abschnitt steht im zweifach transponierten Dorisch (Cantus Àctus, Finalis c). Im mittleren Abschnitt (ab T. 34) ist die Präsenz einer neuen Tonart – zweifach transponiertes Äolisch (Finalis G) – durch Klausel auf allen Claves clausularum dieser Tonart anzutreffen: am Ende (T. 48) die Primaria, in der Mitte des Abschnittes die Secundaria auf der Oberquint und auch die etwas weniger markante Tertiaria (T. 43). In den meisten analysierten Fällen (s. Tabelle oben) Àndet eine Commixtio von einer authentischen zu einer plagalen Tonart statt oder umgekehrt. Dabei wird am häuÀgsten die Quint der ursprünglichen Tonart zur Finalis der neuen, während der Ambitus beibehalten wird. Dieser Vorgang wurde bereits im vorausgegangenen Kapitel dargestellt, da er auch für Commixtionen in den Fantasien Byrds charakteristisch ist. 160 Vgl. Neighbour 1978, S. 176 f. und die tonartlich geordneten Inhaltsverzeichnisse in MB XXVII und XXVIII. 161 Erste Galliarde, Nr. 11, und die Passing Measures-Tänze, Nr. 24 und 25, die satztechnisch und tonartlich als Grounds zu betrachten sind. 162 Hinsichtlich der Einzelheiten sei wieder auf den Anhang verwiesen.
5.3 Neue Tonartenkonzepte für staide musicke: die Pavanen und Galliarden
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Die in der Dritten Galliarde (Nr. 15), der Vierten Pavane (Nr. 16) und der Zehnten Galliarde (Nr. 40) belegten Tonartwechsel entsprechen nicht gänzlich dieser Beschreibung: In diesen Stücken sind die Tonartenkombinationen Äolisch-Hypojonisch (bei Nr. 15) und umgekehrt (bei Nr. 16) sowie Hypoäolisch-Mixolydisch (Nr. 40, s. Tabelle) vorzuÀnden. Jedoch Àndet auch in diesen drei Kompositionen die Commixtio, wie in den meisten anderen Fällen in MLNB (und wie von Morley erlaubt163), zwischen einem plagalen und einem authentischen Modus statt. Wichtig erscheint dabei die Tatsache, dass in der Dritten Galliarde und der Vierten Pavane die Umfänge sekundentfernt sind, während die gleiche Entfernung bei der Zehnten Galliarde zwischen den Finales der jeweiligen Abschnitte vorliegt. Die theoretische Ambitus-Differenz zwischen den Tonarten der modal entscheidenden Diskantstimme ist dabei zwar nicht eine Sekunde, sondern eine kleine Terz; im Bass ist jedoch der Ambitus des mittleren Abschnitts nur um eine Sekunde tiefer als in den Außenabschnitten. Die diastematische Nähe scheint daher auch in diesen Fällen eine gewisse Relevanz für die Prozesse des Tonartwechsels zu besitzen. Eine dur-moll-tonale Auslegung der in den Pavanen und Galliarden der NevellSammlung vertretenen Art von Commixtio modorum ist angesichts der Wichtigkeit der Quintverwandtschaften auf den ersten Blick möglich; sie wäre aber nicht überall unproblematisch: Ein Moduswechsel, der etwa aus dem hypomixolydischen in den dorischen Modus führt (Zweite Pavane und Galliarde) oder aus dem mixolydischen in den hypodorischen (Siebte Pavane), wobei die Oberterz des Dorischen und Hypodorischen in der Regel klein bleibt (bei Byrds sonst genauer Beachtung der Akzidentiensetzung164) und das „b“ im Dorischen wiederholt ausdrücklich notiert wird, kann nicht in charakteristischen Kategorien des Dur-Moll-Tonalen (etwa als „Modulation von G-Dur nach D-Dur“) gedeutet werden. Höchstens könnte diese Commixtio teleologisch als eine Urform der „Modulation von G-Dur nach d-Moll“ verstanden werden, was aber für die Herausbildung der elementaren Vorstellungen von der harmonischen Tonalität nicht von großer Wichtigkeit wäre, so dass eine historisch orientierte Interpretation innerhalb der traditionellen modalen Lehren weiterhin angebracht erscheint. In anderen in der obigen Tabelle angegebenen Fällen von Moduswechseln wäre auf den ersten Blick eine dur-moll-tonale Interpretation weniger problematisch. Die meisten angeführten Commixtionen können dennoch genauso gut aus der historischen Perspektive als Ausweichungen in die Bereiche der traditionellen Repercussae, beziehungsweise der sekundären Claves clausularum, interpretiert werden, wobei der Ambitus beibehalten oder – wie im geschilderten Fall der Commixtio Hypojonisch-Äolisch – um eine Sekunde verschoben wird. Das gleiche Merkmal ist auch, obwohl nicht mit gleicher Konsequenz, für Byrds Fantasien charakteristisch165. Dabei scheint die Beibehaltung des ursprünglichen Ambitus, beziehungsweise seine unmittelbare diastematische Nähe zum Umfang der neuen Tonart, genauso konstitutiv zu sein wie es die Quintverwandtschaft der beiden Finales ist. 163 Vgl. Kapitel 5.1. 164 Vgl. Kapitel 3.1. 165 Vgl. Kapitel 5.2.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Von den in den Pavanen und Galliarden der Nevell-Sammlung stattÀndenden Commixtionen stehen lediglich die Moduswechsel Hypojonisch-Äolisch in der Vierten Pavane (Nr. 16) und Hypodorisch-Mixolydisch in der Zehnten Galliarde (Nr. 40) nicht im Einklang mit der oben ausgeführten These, wonach die Tonartwechsel in die Tonarten der sekundären und tertiären Klauselstufen führen. Hinsichtlich des ersteren Falles muss betont werden, dass, während die Modi mit Finalis A im 16. Jh. die Repercussae e und c aufwiesen, der Ton a in den Modi mit Finalis c keine solche Stellung hatte166. Im Falle der wahrscheinlich später als die anderen Pavanen und Galliarden der Sammlung entstandenen Zehnten Galliarde167 könnte man wieder in Versuchung geraten, dur-moll-tonale Bezüge in das Material hinein zu interpretieren: Der Tonartwechsel im mittleren Abschnitt könnte dazu verleiten, mit neuzeitlicher Terminologie über eine „Modulation von g-Moll nach F-Dur über B-Dur“ zu sprechen168. Gleichzeitig ist klar, dass das vorübergehende „tonale Feld“, das oben als „B-Dur“ apostrophiert wurde, als Vorbereitung und Vollzug einer Klausel auf der Oberquart bezeichnet werden könnte, die gerade für den (zweifach transponierten) mixolydischen Modus überaus charakteristisch ist, der in dem Stück angestrebt wird. Es ist dabei interessant zu beobachten, dass einige Charakteristika der Modusbehandlung als dur-moll-tonale Elemente betrachtet werden können, wenn sie zum Wechsel der Tonart benutzt werden: Das B als Clavis clausularum der Haupttonart Hypoäolisch (mit Finalis G, Cantus Àctus) in der Zehnten Galliarde ist auch eine Klauselstufe in der neuen Tonart Mixolydisch (mit Finalis f, Cantus Àctus). Einzelne – und seltene – Beispiele aber genügen nicht, um von der Etablierung einer neuen Tonalität zu sprechen. Das Denken der Dur-MollTonalität unterscheidet sich gerade dadurch von der Klangorganisation der Modalität, dass solche Bezüge zur Regel werden und nicht vereinzelt auftreten. Ein wichtiges Charakteristikum der Tonartbehandlung in Byrds Pavanen und Galliarden ist der Umstand, dass der Tonartwechsel einerseits offensichtlich mit der formalen Gliederung AA'BB'CC' zusammenhängt, die Grenzen der jeweiligen Tonartbereiche andererseits mit den Grenzen der formalen Abschnitte nicht völlig deckungsgleich sind. Wiederholt zeigten die im Anhang detailliert dargestellten Analysen, dass die Anfänge der Abschnitte BB' melodisch und hinsichtlich der Klauseldisposition noch im Modus der Abschnitte AA' stehen, und/oder, dass die modale Disposition der Anfänge der Formteile CC' noch tonartliche Charakteristika der mittleren Abschnitte BB' aufweist. Im Falle der Dritten Galliarde (Nr. 15) ist umgekehrt bereits in Abschnitt AA' eine Ausweichung aus dem Äolischen ins Jonische festzustellen, die in Abschnitt BB' rückgängig gemacht wird. Die strikte Form von Pavanen und Galliarden wirkt also in Byrds Kompositionen durch die Tonartbehandlung etwas gelockert. Trotz Berücksichtigung der Tatsache, dass der Moduswechsel in den Pavanen und Galliarden genauso konstitutiv wirkt wie der formale Aufbau AA'BB'CC', darf nicht außer Acht gelassen werden, dass innerhalb der einzelnen Formteile die meis166 Hier sei wieder auf die Arbeiten Meiers (1974 und 1992) sowie Dahlhaus’ (2001a) verwiesen. 167 Vgl. hierzu Kapitel 4.2. 168 Vgl. Detailanalyse in Anhang B zu Teil 5.
5.3 Neue Tonartenkonzepte für staide musicke: die Pavanen und Galliarden
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ten in den traditionellen Lehren kodiÀzierten Regeln der Modusbehandlung mit wenigen Ausnahmen konsequent befolgt werden: Sowohl die Stimmendisposition des Diskants als auch die Entfaltung der Melodie in exponierten Eingangsabschnitten und die Klauseldisposition halten sich vorwiegend an das, was als Norm der Epoche bezeichnet werden dürfte, wobei die Charakteristika der Melodiebildung in stilisierten Tänzen naturgemäß von den alten Vorbildern entfernter sind als die Soggetti der Fantasien. Eine Ähnlichkeit der Modusbehandlung in den beiden Gattungen Àndet sich aber darin, dass sich die Regelmäßigkeit der einzelnen Abschnitte hier wie dort nicht auf die konstitutiven „Allgemeinplätze“ der Modusbehandlung beschränkt. Auch in den Pavanen und Galliarden sind weniger verpÁichtende Charakteristika der traditionellen Modusbehandlung zu Ànden. So verwendet Byrd eine skalare Melodik am Anfang einer jonischen Komposition (Vierte Pavane, Nr. 16) und komponiert in einer äolischen Art, die einige Eigenschaften der von Meier so genannten „phrygisierenden“ Behandlungsweise aufweist169. Die modale Regelmäßigkeit einzelner Formteile der Pavanen und Galliarden in MLNB gilt allerdings nicht für das Verhältnis zwischen den beiden Außenstimmen, die traditionell in einem Moduspaar authentisch-plagal gleicher Finalis stehen. Wie die Einzelanalysen gezeigt haben, weisen Diskant und Bass der Pavanen und Galliarden Byrds meistens den gleichen Umfang auf. Thomas Morley mag an diese Kompositionstechnik seines anzunehmenden Lehrers William Byrd gedacht haben, als er das Gerüst Diskant-Bass zum konstitutiven Prinzip des musikalischen Satzes erhob170. Auch für Thomas Campion stellt – wie in Kapitel 5.1 bereits betont – der Bass die führende und tonartlich relevante Stimme dar. Dabei bringt Campion diese Betrachtungsweise expressis verbis mit der Entfernung der Kompositionspraxis vom kirchlichen Raum in Verbindung171. Diese Elemente der Theoriebildung dürften mit Byrds Kompositionstechnik zusammenhängen, zumal sie bei ihm auch in Vokalwerken zu Ànden sind172. Die Klauseldisposition ist innerhalb der einzelnen modal bestimmbaren Abschnitte von Byrds Pavanen und Galliarden großenteils regelmäßig: Sie hält sich, wie ein Blick in die Tabellen im Anhang zeigen kann, in der Regel an das bekannte (hier vereinfachte) Muster I-V-III (im Mixolydischen und Hypomixolydischen I-VIV). Im Äolischen spielt in der Klauseldisposition, wie in der von Meier so genannten „phrygisierenden“ Art, die Oberquarte auch eine wichtige Rolle (vgl. Dritte Pavane, Nr. 14 und den mittleren Abschnitt der Fünften Galliarde, Nr. 19; s. auch Petre-Pavane, Nr. 39), wobei einer „plagalen“ Klauselbildung auf der Finalis große Bedeutung zukommt, was den Modus in der Tat dem Phrygischen ähnlicher erscheinen lässt, obwohl das namensgebende Charakteristikum des „phrygisierenden“ äolischen Modus – die „phrygische“ Schlussbildung auf der Finalis – nicht auftritt. Im Falle der phrygischen und hypophrygischen Tonart hält sich Byrd in der Klauselbildung an die bekannten kontinentalen Normen: Neben der Finalis werden 169 170 171 172
Vgl. Meier 1992, S. 88. Vgl. Morley 1597/1937, S. 143. Vgl. Campion 1967a, S. 214. Vgl. z. B. Kyrie I. aus Byrds Mass for Four Voices (BE 4/2).
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
die Obersexte, die Oberquart und die Oberterz als Claves clausularum verwendet (s. Dritte und Achte Pavane, Nr. 15 und 23, sowie Petre-Pavane, Nr. 39). Auch im Hypojonischen ist zuweilen die Klausel auf der Oberquarte anscheinend nicht als Clausula peregrina, sondern als Tertiaria zu verstehen (vgl. Sechste Galliarde, Nr. 21). Nennenswert in diesem Zusammenhang ist auch die Ungleichbehandlung der Klauseln auf der Oberquinte und der Unterquarte: Die letzteren dominieren bei weitem in den plagalen Modi (insbesondere im Hypodorischen), was der traditionellen kontinentalen Praxis entspricht.173 Vereinzelt Ànden in den mittleren Abschnitten nicht sehr markante Clausulae peregrinae statt, die in Bezug zum Hauptmodus stehen (s. Zweite Galliarde, Nr. 13, T. 20/28, gewissermaßen auch Vierte Galliarde, Nr. 17, T. 21/29). Genau wie in den Fantasien ist auch in den Pavanen und Galliarden der Fall anzutreffen, dass mehrere Clausulae peregrinae eine „Proto-Quintfallsequenz“ bilden (vgl. Vierte Pavane, T. 28–33/36–41). Diese Technik wird hier wie dort zwischen zwei modal unterschiedlichen Abschnitten eingesetzt. Trotz wesentlicher Ähnlichkeiten zwischen der Modusbehandlung in den Fantasien einerseits und den Pavanen und Galliarden andererseits – Moduswechsel als Norm des Gesamtkonzepts und ausgesprochene Konformität und Traditionsnähe im Detail – unterscheiden sich die Pavanen und Galliarden in ihren tonartlichen Konzeptionen von den Fantasien darin, dass in ihnen der Moduswechsel in der Regel ein mit der formalen Gliederung zusammenhängendes symmetrisches Schema bildet. Auch die geschilderte Lockerung dieses Schemas in Byrds Tanzsätzen kann ihre tonartliche Regelmäßigkeit nicht verbergen. Die bekannte These vom EinÁuss der Tanzmusik auf die Entfaltung der harmonischen Tonalität174 Àndet hierin eine Bestätigung: In einer sich im Sinne des formalen Aufbaus frei und asymmetrisch entfaltenden, prosanahen Musikgattung, wie es die durch die Vokalpolyphonie beeinÁussten Fantasien und andere verwandte Gattungen des 16. Jahrhunderts waren, konnte sich eine Tonartlichkeit, die nicht nur auf der Mikroebene der unmittelbaren Klangfolge, sondern auch auf der Makroebene der Gesamtkonzeption einen hohen Regelmäßigkeitsgrad im Wechsel der Tonarten aufweist, nicht so leicht entwickeln wie es in der – wenn auch stilisierten und stellenweise „polyphonisierenden“ – Tanzmusik der Fall war. Vorsicht vor einem Hineininterpretieren der dur-moll-tonalen Bezüge ist jedoch geboten. Denn trotz der tanzbezogenen Periodizität ist gerade die unmittelbare Klangfolge in den Pavanen und Galliarden Byrds häuÀg überhaupt nicht harmonisch-tonal interpretierbar, da die Klänge nicht immer auf ein tonales Zentrum, sondern nur aufeinander bezogen zu sein scheinen175. Ein gutes Beispiel dafür ist in der Ersten Galliarde zu Ànden, in welcher Klangfolgen, die im Sinne des Kadenzdenkens deutbar wären, durch eine Reihe von Klängen („c-d-B-c“, T. 5 f.) unterbrochen werden, in die die dur-moll-tonalen Bezüge nicht einmal hineininterpretiert werden können (s. Abb. 42). 173 Vgl. Meier 1992, S. 47. 174 In Bezug auf die Pavanen und Galliarden der Hochrenaissance geäußert z. B. von Edler (1997, S. 160). Generell sei natürlich auch auf Dahlhaus 2001a verwiesen. 175 Generelles hierzu u. a. bei Dahlhaus 2001a, S. 227.
5.3 Neue Tonartenkonzepte für staide musicke: die Pavanen und Galliarden
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Auch in den meisten in MLNB nicht enthaltenen Pavanen und Galliarden Byrds sind Charakteristika zu Ànden, die den beschriebenen Tanzsätzen aus der NevellSammlung nahe stehen. Dass beim Tonartwechsel in den Pavanen und Galliarden doch die traditionellen Kompositionsprinzipien die entscheidende Rolle gespielt haben, kann auch anhand der Pavane MB XXVII/23a erläutert werden: Die Pavane beginnt im transponierten Hypolydisch (oder dem zweifach transponierten Hypojonisch) mit Finalis B und zwei Vorzeichen „b“ (Cantus Àctus). Abschnitt BB' trägt dagegen Charakteristika des Hypophrygischen: Finalis d, zweifach transponiertes System und sogar eine Clausula secundaria des Hypophrygischen auf der Oberquarte g. Hier handelt es sich offensichtlich nicht um die Konstruktion neuer Quintverwandtschaftsverhältnisse, sondern um die Bezugnahme auf einen alten Usus: Die traditionelle Klausel auf der Terz wird „Ànalisiert“ und die neue Tonart etabliert sich vermittels ihrer wiederholt auftretenden Clausula primaria (T. 20, 24) und der Clausula secundaria (T. 22). Dabei sind beide Primärklauseln auch satztechnisch für Hypophrygisch charakteristisch. Die eine Klausel (T. 20) ist „phrygisch“ (im heutigen Sinne des Wortes: mit halbtonschrittiger Clausula tenorizans in fundamento) und andere (T. 24) „plagal“176. Eine vergleichbare Art der Ausweichung ist auch in der in MLNB nicht enthaltenen Galliarde für Mary Brownlow (MB XXVII/34) zu Ànden. Die Relevanz der traditionellen Moduslehren ist ebenfalls in der hypomixolydisch beginnenden Pavane für Lady Monteagle177 (MB XVIII/75) vorzuÀnden. Der mittlere Abschnitt weicht in den Bereich des Hypojonischen aus, dessen Finalis c eine der Claves clausularum des Hypomixolydischen ist. Auch die Galliarde zur oben geschilderten hypolydischen, beziehungsweise hypojonischen Pavane (MB XXVII/23b) ist tonartlich insofern von Interesse, als ihr zentraler Abschnitt in die Tonart der Obersekunde führt: eine Regel der Klauseldisposition, die Campion bei duralen Modi, wie in diesem Fall, befürwortete178. Die Lord Salisbury gewidmete, höchstwahrscheinlich späte179 Pavane Byrds (MB XXVII 15a) mit zwei Galliarden (MB 15b–c) weist dagegen keinen Tonartwechsel auf. Dieses kurze Stück, das zwei statt drei Abschnitte und keine ausgeschriebenen Variatio-Teile besitzt, beinhaltet zwar eine Klausel auf der Oberquinte, die aber nicht „Ànalisiert“ wird und zu keinen Ausweichungen führt, sondern als reguläre Klauselstufe der Haupttonart wirkt. In ihrer ersten, ebenfalls zweiteiligen Galliarde (MB 15b) ist die „phrygisierende“ Behandlungsart des Äolischen, wie auch in den Pavanen und Galliarden aus MLNB, vorzuÀnden: Die entscheidende Klausel des ersten Abschnittes Àndet auf der Oberquart, dem Ton d statt. Konkrete Vorbilder für Byrds Behandlung von Tonarten sind in den früheren englischen Pavanen und Galliarden nur bedingt zu Ànden. Die Pavanen und Galliarden der früheren Tudor-Zeit zeigen zwar schon eine Tendenz zu Abschnittschlüssen 176 177 178 179
Zur Benutzung von anachronistischen Termini vgl. Unterkapitel 1.1.2 und Kapitel 1.4. Zu Lady Monteagle s. Kapitel 2.4 sowie Tabelle 8 in Anhang B zu Teil 2. Vgl. Kapitel 5.1. Robert Cecil, der Sohn Lord Burghleys, wurde erst 1605 zum Earl of Salisbury ernannt und starb 1612. Zu seinen familialen Verbindungen zu anderen Widmungsträgern von Byrds Werken s. genealogische Tabelle 5 in Anhang B zu Teil 2 sowie Kapitel 2.4.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
auf traditionellen Claves clausularum der einzelnen Tonarten, in der Regel der Oberquinte; von einer Etablierung von „Zwischentonarten“ kann aber nicht die Rede sein. Beispiele für diese Tonartbehandlungsart lassen sich in der Pavane Newmans aus Mulliner (MB I/116), in der Galliarde MB I/2 aus derselben Quelle oder in der Galliarde MB LXVI/47 aus dem Winchester-Manuskript Ànden. Auch die Pavanen und Galliarden von Byrds jüngeren Zeitgenossen weisen Unterschiede zur Tonartpraxis Byrds auf: so zum Beispiel die Tanzsätze John Bulls. Die zentralen Abschnitte enden bei Bull häuÀg auf einer der Claves clausularum der Ausgangstonart, ohne dass sich eine andere Tonart etabliert hat (s. z. B. MB XIX/66b oder Galliarde XIX/70). Jedoch sind gelegentlich, etwa in der Melancholy Galliard, auch bei Bull deutliche Tonartwechsel zu Ànden (MB XIX/67b, T. 17– 24). Ähnliches ist etwa in seiner Pavane MB XIX/88 festzustellen. Manchmal Àndet jedoch in den BB'-Abschnitten von Bulls Pavanen und Galliarden überhaupt kein Tonartwechsel statt und die Mittelabschnitte enden auf der Finalis der Haupttonart. Beispiele dafür sind in der Pavane und Galliarde „Symphony“ (MB XIX/68a–b) oder der Pavane im Zweiten Ton (MB XIX/77) zu Ànden. Die Tonartbehandlung in Orlando Gibbons’ Pavanen und Galliarden (MB 15–25) weist zuweilen Gemeinsamkeiten mit Byrds Praxis auf: Die „Zwischentonart“ in den mittleren Abschnitten seiner Pavanen und Galliarden wird in mehreren Fällen durch Nebenklauseln bestätigt (vgl. MB XX/17, T. 11,13). In manchen Kompositionen sind aber im mittleren Abschnitt Klauseln zu Ànden, die sich noch auf die Ausgangstonart beziehen können (z. B. MB XX/15, T. 42, MB XX/19, T. 20), so dass die Etablierung einer „Zwischentonart“ in ihnen etwas weniger deutlich ist als in den meisten Pavanen und Galliarden Byrds. Eine gewisse Nähe zu Byrds Pavanen ist bei dessen Schüler Thomas Tomkins festzustellen. In dem mittleren Abschnitt seiner dem Earl Strafford gewidmeten, transponiert-dorischen Pavane (kurze Version: MB V/41) ist eine deutliche Ausweichung in die Tonart der Oberterz (transponiertes Hypolydisch) mit der Clausula secundaria (T. 11) und der Clausula tertiaria (T. 10) dieser Tonart zu Ànden. Eine vergleichbare Tonartbehandlung ist auch in Tomkins’ Galliarde MB V/46 festzustellen: Auf einen äolischen Eingangsabschnitt folgt der phrygisch-hypophrygische Mittelabschnitt BB', in welchem auch Schlussbildungen auf der traditionellen phrygischen und der hypophrygischen Repercussa (c in T. 12 sowie a in T. 13) angedeutet werden. Interessant und mit Byrds Tonartbehandlung vergleichbar ist auch Thomas Morleys Galliarde MB LV/24. Nach einem hypojonischen Abschnitt AA' folgt der mixolydische mittlere Abschnitt, der mit einer Klausel auf d endet, die als Secundaria des Mixolydischen betrachtet werden kann (T. 17–24). Der bei den Fantasien festgestellte Unterschied in der Behandlung von Tonarten zwischen Byrd und seinen Zeitgenossen180 besteht – mutatis mutandis – auch bei den Pavanen und Galliarden, wenngleich er hier weniger ausgeprägt ist. Byrds Haupttonarten scheinen auch in dieser Gattung innerhalb von Eingangs- und Schlussabschnitten (AA' und CC') erkennbar zu sein; die Zwischentonarten etablie180 Vgl. Kapitel 5.2.
5.4 A thoroughly English affair? Grounds und Melodievariationen
201
ren sich meistens ebenso deutlich in den mittleren Formteilen. Tomkins’ und zum Teil auch Gibbons’ Tonartbehandlung ist, bei allen generationsbedingten Unterschieden in der Satztechnik, sehr ähnlich. Bulls Pavanen und Galliarden dagegen scheinen insgesamt fester auf eine Tonart bezogen zu sein, wobei das traditionelle Tonartenkonzept, wie auch in seinen Fantasien, durch kompositorische Detailarbeit – Chromatik und Virtuosität – intensiver in Frage gestellt wird als bei Byrd. Die im vorausgegangenen Kapitel bereits vorgetragene Schlussfolgerung, dass die Tonartbehandlung Byrds in der Musik für Tasteninstrumente einerseits von den sozialen Gegebenheiten des elisabethanischen Englands, andererseits von der individuellen Entwicklung des Komponisten geprägt war, scheint in Bezug auf die Pavanen und Galliarden genauso angebracht zu sein wie in Bezug auf die Fantasien. Der Hauptunterschied zu den Fantasien besteht aber in der formal bedingten Periodizität der Tonartbehandlung bei den Tänzen, wobei bei den Pavanen und Galliarden noch ein – mit den sozialen Faktoren zusammenhängender – Faktor der Tonartlichkeit sichtbar wird: die Gattungsnorm. Ein Tanzpaar, das, wie eingangs betont, von der Repräsentations- und Tanzmusik des Hofes abgeleitet worden ist und den Aristokraten regelmäßig gewidmet wurde, verlangt nach mehr Erwartungsmäßigkeit und „poetischer“ Metrik als eine „prosaähnliche“ Fantasie. Diese Erwartungsmäßigkeit ist bei Byrd, wie die im Anhang dargestellten Analysen zeigen, auch im Bereich der Tonartbehandlung gegeben. Mit diesem Charakteristikum der Pavanen und Galliarden hängt wahrscheinlich auch zusammen, dass die individuellen Unterschiede bei den Tanzgattungen zwischen verschiedenen Komponisten der Epoche geringer sind als bei den Fantasien. Indes ist die relative Autonomie der kompositorischen Arbeit in dieser Gattung dadurch zu erkennen, dass sich die Tonartbehandlung in gravitätischen, prozessionalen Pavanen von jener in den lebhaften Galliarden nicht erkennbar unterscheidet: Der Tanzcharakter an sich ist zwar ein Faktor der Tonartlichkeit, weitere Bezüge zum konkreten kulturellen Kontext der einzelnen Tänze weist das musikalische Material auf dieser Ebene jedoch nicht auf. 5.4 A THOROUGHLY ENGLISH AFFAIR? GROUNDS UND MELODIEVARIATIONEN Das Variationsprinzip, das im 16. Jh. auch in anderen Gattungen der Musik für Tasteninstrumente, etwa in Pavanen und Galliarden, eingesetzt wurde181, ist das konstitutive Kompositionsprinzip von Byrds Grounds und Sätzen mit melodischen Vorlagen aus dem englischen Liedergut. Der historische Terminus „Ground“ bezieht sich dabei auf eine Ostinatovariationsform182, bei welcher ein – präexistentes oder neu komponiertes – Material in den Bass gelegt wird und als Vorlage für eine 181 Zur Variationstechnik Byrds s. insbesondere Neighbour 1978, passim. Zur Geschichte der Variationsformen allgemein s. etwa Drees 1998 und die dort angeführte Literatur. Zu Aspekten der Variationstechnik in der frühen Musik für Tasteninstrumente s. insbesondere Edler 1997, S. 248–303. 182 Die Terminologie wurde u. a. von Arnfried Edler übernommen (vgl. Edler 1997, S. 250, 283).
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Reihe von Variationen dient. Die „Melodievariationen“ stellen den Gegenpart dar, bei welchem die melodische Vorlage überwiegend der Oberstimme anvertraut wird. Obwohl der Terminus „Ground“ im elisabethanischen England verhältnismäßig frei verwendet wurde und sich auch auf Melodievariationen erstrecken konnte183, wird dieser Begriff hier ausschließlich auf variationstechnisch aufgebaute Kompositionen mit vorgegebenem Bass bezogen. Im Unterschied zu den Pavanen und Galliarden, die im vorigen Kapitel behandelt wurden, weisen weder Grounds noch Melodievariationen als Gattung einen offensichtlichen Bezug zum HoÁeben oder zur Adelskultur auf. Auch stellen die Widmungen solcher Kompositionen an Adelsangehörige in der Tudor-Ära eine Seltenheit dar. Die beiden ersten Stücke in MLNB – My Ladye Nevell’s Ground und Chi passa for My Lady Nevell – sind die einzigen dieser Gattung, die Byrd mit einer Widmung versehen hat184, während Bull, Gibbons und Tomkins gar keine ihrer Grounds und Melodievariationen als Widmungsstück verwendeten. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Gattungen in Adelskreisen überhaupt nicht rezipiert und reproduziert wurden, denn sonst hätten sie wohl in MLNB keinen Platz gefunden. Auch sind zwei groundartige Kompositionen der frühen Tudor-Epoche mit Widmungen an aristokratische Frauen überliefert: My Lady Carey’s Domp (MB LXVI/37) und A short measure of my Lady Wynkfylds round (MB LXVI/38). Es ist bemerkenswert, dass die bekannten englischen Grounds mit Widmungen – die beiden genannten frühen Grounds und die Widmungsstücke aus MLNB (Nr. 1 und 2) – gerade aristokratischen Frauen gewidmet wurden, während die elisabethanischen Komponisten ihre Pavanen und Galliarden Männern und Frauen gleichermaßen zueigneten185. Das spricht möglicherweise dafür, dass das Musizieren der elisabethanischen aristokratischen Männer primär als pastime in der etwas breiter aufgefassten Privatsphäre aufgefasst wurde, als galante Unterhaltung für die Damen, durchaus im Sinne Castigliones, der die soziale Funktion der Musik bei Männern vor allem darin sah, dass sie zur „Eroberung“ des anderen Geschlechts diente186. Dazu scheint die Tanzmusik mehr als andere Gattungen geeignet gewesen zu sein. Demgegenüber umfasste das Musizieren der elisabethanischen Frauen anscheinend auch Gattungen, die keinen offensichtlichen Gebrauchswert besaßen, wie Grounds und Fantasien187. Es handelte sich beim „Frauenmusizieren“ der Tudorzeit, wie auch von Helms hervorgehoben, vor allem um das Reglementieren der Freizeit, wenn auch Ausnahmen wie Königin Elizabeth und Lady Neville existierten188. Währenddessen ging es beim männlichen Musizieren offenbar auch um eine „galante“ Beherrschung des anderen Geschlechts: Das kulturelle Kapital der Musik 183 Vgl. hierzu Neighbour 1978, S. 116. 184 Der Titel von Hugh Aston’s Ground bezieht sich auf einen Bass des Komponisten Aston: Es handelt sich nach Neighbour um Hugh Aston’s Maske aus OxonChCh MS 982 und 979; weitere Versionen: OxonChCh MS 981 und NLS Panmure MS 10; vgl. MB XV/84 und Neighbour 1978, S. 128. 185 Vgl. Kapitel 5.3. 186 Vgl. hierzu Kapitel 2.6. 187 Vgl. Kapitel 5.2. 188 Vgl. Helms 1998, S. 223. Vgl. Kapitel 2.6.
5.4 A thoroughly English affair? Grounds und Melodievariationen
203
konnte auch dadurch in das soziale Kapital konvertieren, der aktive Teil des Prozesses stand dabei vorwiegend den Männern zu189. Obwohl die Grounds und die Melodievariationen als Gattung(en) keinen offensichtlichen Adelsbezug aufweisen, sind manche melodische Vorlagen aus dem Volksliedergut, die in MLNB enthalten sind, durchaus auf den Adel und seine Kultur bezogen: Lord Willoughby’s Welcome Home ist ein offensichtliches und Garden Green, wie bereits referiert, ein mögliches Beispiel dafür190. In Bezug auf Grounds wurde auch auf die aristokratische Konnotation des Titels von Hunt’s up191 hingewiesen. Auch dürften die italienischen Ostinatobässe wie Passamezzo (in Nr. 24. und 25) und Chi passa (in Nr. 2) dem englischen Adelsgeschmack des 16. Jh. imponiert haben, war doch gerade der EinÁuss der italienischen Kultur, wie in Kapitel 2.6 und 3.3 geschildert, entscheidend für die Entfaltung der Hofkultur der Tudors allgemein und anscheinend auch wichtig für die Habitusformierung der Nevilles im Besonderen. Es sei in diesem Kontext an die bereits besprochene elisabethanische Castiglione-Rezeption, den Italienaufenthalt Sir Henrys, die „italienische“ Voluntary for My Lady Nevell (Nr. 26) sowie an die Aussagen Morleys über das große Interesse der Englischen maecenates an italienischer Musik und der Musik nach italienischer Manier erinnert192. Die Tatsache, dass die Vorlage für das Lady Neville gewidmete Chi passa im elisabethanischen England keineswegs zu den weit verbreiteten Variationsvorlagen gehörte193, verstärkt den Eindruck, dass die Auswahl und die Widmung gerade dieses Stückes mit dem Geschmack des konkreten Rezipientenkreises und dem der Patronin selbst zusammenhängt. Arnfried Edler hat die Idee der Grounds mit präexistenter melodischer Vorlage bekannten Autors mit dem Denken des „cartesianischen Jahrhunderts“ und der „Trennung der Subjektivität von der Objektwelt“ in Verbindung gebracht194. Dabei ging er gerade von Byrds Hugh Aston’s Ground (Tregian’s Ground in FWVB) aus und führte aus, dass die Grounds, „im Gegensatz zu den überindividuellen TanzOstinati“ gewissermaßen als persönliches Dokument, Besitztum oder Erinnerung an eine Persönlichkeit oder aber als Geschenk des Komponisten betrachtet worden seien195. Der Aston/Tregian-Ground ist daher in Bezug auf England als ein Vorbote späterer Entwicklungen zu verstehen: My Ladye Nevells Ground muss im Kontext der Sammlung MLNB als ein konventionelles Widmungsstück verstanden werden, während ein Fall, der mit Hugh Aston’s Ground vergleichbar wäre, auch bei anderen Komponisten der Epoche wie Bull und Gibbons nicht zu Ànden ist. Im Lichte der in Kapitel 3.2 geschilderten Untersuchungen könnte Hugh Aston’s Ground als ein zusätzlicher Hinweis auf die Konstruktion des musikalischen Autorschaftsbe189 Der hier nur Áüchtig angesprochene Themenbereich sei in Bezug auf das elisabethanische England als Forschungsdesiderat zu betrachten. 190 Vgl. hierzu Teil 4. 191 Vgl. Teil 4. 192 Vgl. Kapitel 2.6, 3.3 und 5.2. 193 Vgl. Neighbour 1978, S. 131. 194 Edler 1997, S. 260. 195 Ebd.
204
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
griffes dienen. Denn mit der Konstruktion des elisabethanischen musicion-autourKonzeptes hing auch die von einer bewussten intertextuellen Arbeit zeugende Hervorhebung der Autorschaft einer solchen Ground-Vorlage zusammen, wie es auch bei Arrangements von Consort-Werken für Tasteninstrumente der Fall war196. Es ist selbstverständlich, dass eine Komposition, welcher ein vorgegebenes, dem Bass oder dem Diskant zugeteiltes melodisches Material zu Grunde liegt, von diesem auch im Bereich der Tonartbehandlung entscheidend geprägt wird. Dass die „Themen“ der Grounds und Melodievariationen zum großen Teil nicht auf Byrd selbst zurückgehen, sondern von ihm übernommen wurden, mindert dabei die Relevanz einer Tonalitätsanalyse nicht, denn das übernommene Material wurde vom Komponisten ausgewählt, mehrstimmig bearbeitet und tonartlich weiter entfaltet. Durch seine Verwendung wird dieses Material zu einem Teilaspekt seines eigenen Komponierens. Gerade für eine Studie, die die Musik – und auch den Bereich der Tonarten – nicht nur als Produkt eines Einzelnen betrachtet, sondern auch die Bedeutung sozialer Faktoren für den Kompositionsprozess berücksichtigt, sind solche Aspekte von besonderem Interesse. Hinsichtlich der SpeziÀka der Grounds und Melodievariationen seien hier einige methodische Anmerkungen zu Einzelanalysen im Anhang und ihrer hier dargelegten Zusammenfassung angeführt. Eine Untersuchung der Tonarten von Byrds Grounds aus MLNB stellt eine Herausforderung ganz anderer Art dar als die Analyse der vorlagenfrei komponierten Stücke. Hier ist die zentrale Frage, wie die Tonartbehandlung aussieht, wenn eine vorgegebene – oder zumindest nach älteren Vorbildern neu komponierte – Bass- oder Diskantlinie den tonalen Verlauf bestimmt und welche persönlichen, epochenbezogenen oder regionalen Charakteristika dabei festgestellt werden können. Manche der bisher behandelten Möglichkeiten der makroskopischen Tonartbehandlung, wie etwa Commixtionen, existieren in den auf Variationstechnik basierten Stücken Byrds kaum197. Der tonartliche Verlauf ist von Variation zu Variation gleich und die Varietas wird durch andere Aspekte der kompositorischen Arbeit, vornehmlich durch Verwendung von tonartenunabhängigen Variationstechniken, erreicht. Es ist auch offensichtlich, dass die freie Melodieentfaltung und Virtuosität in den Variationsformen eine wichtigere Rolle zu spielen haben als bei den Pavanen, Galliarden oder Fantasien. Im Rahmen der im Anhang detailliert beschriebenen Tonartanalysen wurde daher, wie es – mutatis mutandis – auch in den Pavanen und Galliarden getan wurde, das Augenmerk auf einleitende, in der Regel nichtvirtuose Abschnitte gerichtet. Auch hinsichtlich der Klauseldisposition wurde angesichts der vielfachen Wiederholungen ein vereinfachtes Verfahren eingesetzt: Nur die grundlegende Klauseldisposition aus dem jeweils ersten Variationsabschnitt wurde dargestellt, wonach auf eventuelle Abweichungen in den späteren Variationsabschnitten hingewiesen wurde. Sowohl bei Grounds als auch bei Melodievariationen wurde auf die Dichotomie von „Thema“ und „Variationen“ in der Terminologie verzichtet, da diese dem Denken der Epoche nicht entspräche. Die Eingangsabschnitte wurden – zumal in 196 Vgl. Kapitel 3.2. 197 Auf Ausnahmen wird im weiteren Text hingewiesen.
5.4 A thoroughly English affair? Grounds und Melodievariationen
205
der elisabethanischen Musik – offensichtlich nicht als eine Art autorisierte Vorlage betrachtet, auf der Basis derer Variationen „auskomponiert“ wurden, sondern bereits diese ersten Abschnitte stellen jeweils den ersten Variationsabschnitt dar, während die Vorlage eine „Präexistenz führt“198. Das ist in der Nevell-Sammlung selbst vor allem durch die Nummerierung Baldwins und die des Korrektors ersichtlich, denn im Manuskript zählt bereits der Eingangsabschnitt als Teil „1“. Über die Vorlagen von Byrds Grounds und Melodievariationen wurde bereits ausführlich geschrieben199. In der folgenden Zusammenfassung der im Anhang dargelegten Einzelanalysen wird daher die Herkunft der Vorlagen lediglich zur besseren Orientierung – und sofern sie für die Fragestellung dieser Studie eine Relevanz besitzt – angeführt. Zu weiteren Einzelheiten sowie zur Variationstechnik Byrds sei vor allem auf die Studie Neighbours (1978) verwiesen200. Ein kurzer Überblick über die Tonartbehandlung in Byrds Kompositionen dieser Gattungen, die nicht in MLNB enthalten sind, sowie über die Tonartbehandlung in verwandten Stücken anderer Komponisten der Epoche wird nach den beiden nachfolgenden Unterkapiteln über Grounds und Melodievariationen erfolgen. 5.4.1 Grounds Die Bassvorlage zu My Ladye Nevells Ground scheint unmittelbar von Byrd zu stammen; zumindest liegen keine Hinweise auf eine andere Herkunft vor. Sie ist jedoch mit dem Bass des darauf folgenden und ebenfalls Lady Neville gewidmeten Ground Chi passa verwandt, der, wie bereits geschildert, als Hinweis auf einen durch italienische Vorbilder geprägten Geschmack betrachtet werden dürfte. Beide Ground-Bässe beginnen auf der Oberquint der jeweiligen Tonart, genau wie das Exordialsoggetto des dritten Widmungsstückes für Lady Neville, der in Kapitel 5.2 besprochenen Voluntary (Nr. 26). Ob dieser Umstand eine Anspielung auf die mit dem fünften Buchstaben des lateinischen Alphabets beginnenden Vornamen Elizabeth Nevilles ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Willem Elders hat in einigen Vokalwerken Byrds eine zahlensymbolische Ebene gesehen201, wie es auch Harley in Bezug auf die Zusammensetzung von MLNB getan hat202. Nun sind diese Versuche rein spekulativer Natur, so dass man sie kaum als endgültige Bestätigung einer weiteren Spekulation in Bezug auf die Incipits der Lady Neville gewidmeten Stücke in MLNB benutzen kann. Weniger spekulativ wirkt nur das Beispiel der Cantiones, quae ab argumento sacrae vocantur (1575)203, die im siebzehnten Regierungsjahr der Königin Elizabeth (Regierungsantritt am 17. November 1558) ver198 Zur Geschichte der Variationspraxis allgemein s. etwa Drees 1998 und die dort angegebene Literatur. 199 Vgl. vor allem Neighbour 1978, S. 114–143 (Grounds) sowie S. 144–163 (Melodievariationen). 200 Darüber hinaus lohnt auch ein kritischer Blick auf Klotz 2005 und Nitz 1979. 201 Vgl. Elders 1994, S. 113–117. Vgl. auch Wells 1994, S. 113–142. 202 Vgl. Harley 1997, S. 243, Anm. 5; vgl. Kapitel 4.2. 203 BE/1 enthält alle siebzehn Kompositionen Byrds.
206
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
öffentlicht wurden: Die Sammlung beinhaltet je siebzehn Kompositionen von Tallis und Byrd204, wobei die letzte Motette Tallis’ auf einem aus siebzehn Tönen basierenden Bass fußt205. Der Gedanke der „symbolich scores“ war in Byrds Umfeld offensichtlich nicht fremd. Wenn sich bestätigen ließe, dass der melodischen Verwandtschaft der Anfänge in den Lady Neville gewidmeten Kompositionen eine von Byrd intendierte symbolische Bedeutung zu Grunde liegt, würde das die neue, gehobene Stellung der Instrumentalmusik und insbesondere der Musik für Tasteninstrumente in der Gattungshierarchie der elisabethanischen Musikkultur zusätzlich bestätigen. Der Titel von Chi passa ist abgeleitet von Filippo Azzaiuolos Chi passa per questa strada, eine villota alla padoana, die 1557 publiziert worden war und sich in den folgenden Dekaden im Kontinentaleuropa sehr großer Beliebtheit erfreute206. Dagegen war die Vorlage für Hunt’s up ein englisches Jagdlied, von welchem bereits in Kapitel 4.1 die Rede war. Die Vorlage für Hugh Aston’s Ground geht auf den englischen Komponisten dieses Namens zurück und wurde in Kapitel 3.2 sowie am Anfang des vorliegenden Kapitels bereits erörtert. Die Ordnungszahl im Titel von The Second Ground knüpft wahrscheinlich an den Titel von My Lady Nevell’s Ground, der als „erster Ground“ betrachtet werden müsste207, an. Der Ground-Bass von The Second Ground wurde von Byrd im Übrigen auch für eine Consort-Fantasie benutzt. Ein verwandter Bass ist auch im Dublin Manuskript zu Ànden208. Der tonartliche Aufbau der in MLNB enthaltenen Grounds kann auf folgende Weise zusammengefasst werden: Nr. im Titel MS
Modus
1
My Lady Nevell’s Ground
Hypodorisch / (Mixolydisch)
D
Chi Passa Hunt’s up
Hypoäolisch / Mixolydisch
The Second Ground
Jonisch
A
C
Jonisch
C
Hypoäolisch
A
2
8
30 35
204 205 206 207
Hugh Aston’s Ground
Finalis
Vgl. Harley 1997, S. 243, insbesondere Anm. 5. Vgl. Harley 1997, S. 216 f. Hierzu ausführlicher in Neighbour 1978, S. 130 f. Chi passa und Hunt’s up wurden in MLNB nicht ausdrücklich als Grounds bezeichnet, und Hugh Aston’s Ground steht in der Sammlung erst nach dem Second Ground. 208 Vgl. Alan Browns Kritischen Bericht in MB XXVII, S. 180.
5.4 A thoroughly English affair? Grounds und Melodievariationen
207
Bei der Wahl der Tonarten für die Grounds überwiegen in MLNB die neuen, Glareanschen Tonarten, obgleich das nicht für Byrds Grounds insgesamt gilt209. Keines der Stücke, mit Ausnahme von Chi passa, weist Zeichen eines Tonartwechsels auf. In Chi passa ist, durch den Bassverlauf einerseits und durch Byrds komplexe Ausarbeitung der Vorlage andererseits verursacht, eine Modusbehandlungsart vorzuÀnden, die jener aus den Pavanen und Galliarden ähnelt: Es Àndet eine Commixtio statt, die im Einklang mit Morleys zitierter Regel steht, wonach der Moduswechsel zwischen einem plagalen und einem authentischen Modus stattÀnden dürfe210. Dabei sind die Finales der beteiligten Tonarten in Chi Passa nicht quint-, sondern sekundverwandt211. Die gleiche Art der Commixtio weist innerhalb des zweifach transponierten Systems die Petre-Galliarde (Nr. 40) auf212. Die Tonart von Hugh Aston’s Ground (Nr. 35) ist im Rahmen der traditionellen Moduslehren mühelos als Hypoäolisch interpretierbar. Die Stimmendisposition ist äußerst regelmäßig und alle drei Claves clausularum theoriekonform. Die modale Regelmäßigkeit dieser Komposition basiert allerdings auf der Basslinie, dessen Ecktöne den tonartlichen Verlauf prägen. In den anderen drei Grounds aus MLNB wäre eine eindeutige Tonartbezeichnung innerhalb der traditionellen Modalitätskonzepte etwas problematischer: Sowohl in Hunt’s up als auch in The Second Ground stellt die Klausel auf der Obersekunde die formbildende Clausula secundaria dar, was sich wieder aus dem Verlauf des Basses ableiten lässt. Thomas Campion hat, wie bereits geschildert, die Obersekunde zu den regulären Claves clausularum der duralen Modi gezählt213. Allerdings ist bei Campion die Klausel auf der Obersekunde als Tertiaria, nicht als Secundaria zugelassen, so dass der Vorgang aus Byrds Grounds auch aus dieser Perspektive bemerkenswert erscheint. Die Melodik der Eingangsabschnitte dieser Grounds ist aus der Sicht der Modustheorie äußerst regelmäßig. In My Lady Nevell’s Ground bildet der zentrale Formteil der jeweiligen Ground-Abschnitte eine Klausel auf der Oberquart, die für die hypothetische Tonart Hypodorisch nicht als Regelklausel charakteristisch ist, wobei sich der kurze Abschnitt auch nicht als Commixtio interpretieren ließe. Während man feststellen muss, dass die Ground-Bässe die Wahl der Tonart, die generelle tonartliche Planung, die Klauseldisposition und natürlich den Bassambitus bestimmen, so muss sich im Kompositionsprozess die Melodiebildung des Diskants, etwa hinsichtlich ihres Ambitus, nicht eng daran orientieren. Dass in den nichtvirtuosen Eingangsabschnitten von Byrds Grounds häuÀg modal eindeutig bestimmbare Diskantmelodien zu Ànden sind, kann daher als Hinweis auf den Bezug des Komponisten zur modalen Tradition betrachtet werden. Allerdings sind, wie die im Anhang dargestellten Einzelanalysen zeigen, nicht alle Diskantmelodien der 209 Vgl. Neighbours Übersicht in Neighbour 1978, S. 114 sowie die Inhaltsverzeichnisse von MB XXVII und XXVIII. 210 Vgl. Kapitel 5.1. 211 Zu Einzelheiten s. Anhang. 212 Vgl. Kapitel 5.3. 213 Vgl. Campion 1967a, S. 214. Vgl. Kapitel 5.1.
208
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Grounds, trotz ihres bestimmbaren Ambitus, modal eindeutig. Das kann am deutlichsten in den beiden jonischen Grounds, Hunt’s up und The Second Ground, festgestellt werden. Es soll in diesem Zusammenhang jedoch betont werden, dass diese beiden Grounds auch diejenigen mit den kürzesten Abschnitten sind: Innerhalb ihrer kurzen Dauer kann sich in den Eingangsabschnitten kaum eine charakteristische „jonische Melodik“ entfalten, da der Bass in beiden Fällen den tonartlichen Verlauf schnell hin zu einer Klausel auf der Obersekunde führt. Es ist im Rahmen von Detailanalysen deutlich geworden, dass – trotz des dominanten Bassbezugs – Parallelen zwischen der Tonartlichkeit der Grounds und der anderen, „frei“ komponierten Kompositionen Byrds nicht wegzuleugnen sind. Dabei scheint die Länge der jeweiligen Ground-Abschnitte entscheidend zu sein. Im Falle des Ground Chi passa, mit einem sehr langen vorgegebenen Bass, konnte eine für Byrd auch in anderen Gattungen charakteristische Tonartbehandlung festgestellt werden: Der lange präexistente Bass konnte „modal reinterpretiert“ werden, so wie später, in den Epochen des harmonisch-tonalen Komponierens, die alten, modalen Vorlagen harmonisiert werden konnten. Obwohl die in Chi passa stattÀndende Art der Commixtio nicht zu den für die Kompositionspraxis Byrds typischen Tonartwechseltypen gehört, unterscheiden sich andere Eigenschaften der Tonartbehandlung in dieser Komposition nicht bedeutend von jener aus polyphonen Kompositionen sowie den Pavanen und Galliarden214. 5.4.2 Melodievariationen Von allen im Nevell-Corpus vertretenen Musikgattungen stellen gerade die Melodievariationen, die im Unterschied zu den Grounds alle auf regionalem Volksliedergut zu basieren scheinen215, die größte Herausforderung für die Tonartenforschung dar: Eine einheitliche Tonartbehandlung scheint hier überhaupt nicht gegeben zu sein. Während die tonartliche Entfaltung in zwei der Variationsreihen in MLNB in allen Merkmalen der traditionellen Moduspraxis und Modustheorie entspricht – The Carman’s Whistle (Nr. 34) und Selliger’s Round (Nr. 37) – ist Woods so Wild (Nr. 27) im modalem Sinne völlig uncharakteristisch. Die übrigen vier Variationsreihen entziehen sich auch in ihren nichtvirtuosen, einleitenden Abschnitten völlig einer eindeutigen Interpretation, sogar wenn man sich der modalen Sonderfall-Kategorien bedienen möchte: ein Umstand, der mit den melodischen Linien der Vorlagen zusammenhängt. Die tonartliche Konzeption der Melodievariationen in MLNB kann folgendermaßen dargestellt werden: 214 Vgl. Einzelanalysen in Anhang B zu Teil 5. 215 Über die mögliche irische Herkunft von Sellinger’s Round wurde in Kapitel 4.1 bereits berichtet. Alle anderen Vorlagen der Melodievariationen in MLNB scheinen englischer Provenienz zu sein. Hierzu sowie zu Aspekten der Variationstechnik Byrds s. insbesondere Neighbour 1978, S. 145–163. Vgl. auch Alan Browns Kritische Berichte in MB XXVII und XXVIII sowie Hilda Andrews’ Kommentar zu MLNB.
209
5.4 A thoroughly English affair? Grounds und Melodievariationen
Nr. im Titel MS
Versuch modaler Deutung
Finalis
Modal uneinheitlich (Mixolydisch/Lydisch)
G
The Maiden’s Song Hypomixolydisch
31
Walsingham
Transponiertes Hypodorisch / Hypomixolydisch (Systemwechsel)
G G
32
Garden Green
33
Lord Willoughby’s Welcome Home
27
Woods so Wild
28
34 37
The Carman’s Whistle
Sellinger’s Round
Dorisch / Mixolydisch? (Systemwechsel)
D
Zweifach transponiertes Äolisch / Lydisch?
G
Jonisch
C
Mixolydisch
G
Es ist festzustellen, dass die in der Sammlung nebeneinander platzierten Kompositionen im Sinne der tonartlichen Behandlung miteinander vergleichbar sind: –
–
–
Woods so Wild (Nr. 27) und The Maiden’s Song (Nr. 28) weisen einen ähnlichen tonartlichen Aufbau auf, bei welchem die sekundverwandten Klauselstufen G und F aufeinander bezogen werden. Dabei wirkt Nr. 27 modal uneinheitlich und Nr. 28 mixolydisch mit einer Clausula peregrina auf der Untersekunde216. In Walsingham (Nr. 31) und Garden Green (Nr. 32) kann in beiden Fällen vom Wechsel des Systems zum Cantus durus gesprochen werden: Am Ende der jeweiligen Variationsabschnitte Àndet man diesen Wechsel im Ansatz, während er in den diese Stücke abschließenden Caudae eindeutig und dauerhaft ist. Weniger ausgeprägt kann diese Veränderung auch am Ende von Lord Willoughby’s Welcome Home (Nr. 33) beobachtet werden, was aber mit der Kürze dieser Variationsreihe zusammenhängen dürfte. Allen drei Kompositionen ist auch die modale Korrektheit im Verhältnis zwischen den Umfängen von Diskant und Bass (authentisch versus plagal oder umgekehrt) gemeinsam. The Carman’s Whistle (Nr. 34) und Sellinger’s Round (Nr. 37) sind beide, wie bereits angedeutet, im Sinne der Modalität als regelmäßig zu betrachten.
Die Frage, ob diese Parallelen innerhalb der drei Gruppen auf eine bewusste Planung bei der Konzipierung der Sammlung und/oder auf die chronologische Nähe ihrer Entstehung hinweisen, kann nur schwer beantwortet werden. Wichtig aus der Sicht der Tonartenforschung ist, dass diejenigen Variationsreihen, deren melodische Vorlagen im Rahmen des Modalen interpretiert werden können, von Byrd auch so auskomponiert worden sind, dass ihre mehrstimmige Gestalt modal be216 Vgl. genaue Argumentation in Anhang B zu Teil 5.
210
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
stimmbar bleibt. Eine Ausnahme von diesem Prinzip bildet nur der Auftritt einer Clausula peregrina auf der Obersexte im Schlussabschnitt von The Carman’s Whistle (T. 107). Hier ist eine Abweichung von modalen Normen festzustellen, die keinerlei Bezug zur melodischen Vorlage hat. Jedoch sind auch einzelne Clausulae peregrinae Bestandteile der traditionellen Modalität, so dass dieser Vorgang nicht überbewertet werden darf. Andererseits wurden die Vorlagen, deren Tonartbehandlung nicht der modalen Praxis entsprach, von Byrd nicht „modal vereindeutigt“, sondern der Tonartlichkeit der Vorlage getreu weiter entfaltet. Der charakteristische Systemwechsel zum Cantus durus in zwei Variationsreihen (Nr. 31 und Nr. 33217) scheint bezeichnend zu sein. Dieser Vorgang kann in den Caudae der Variationsreihen als eine Art verselbstständigte Diminuierung der Ultima mit der „pikardischen Terz“ bei der letzten Klauselbildung interpretiert werden. Das Insistieren auf den modal relevanten Veränderungen auch vor den Caudae – immer durch akribische Akzidentiensetzung verschriftlicht – kann aber im Rahmen einer traditionellen Tonartenlehre nur als Systemwechel betrachtet werden. Darin die Urform des späteren Dur-Moll-Kontrastes zu sehen, scheint nicht unberechtigt, da das Vorgehen systemisch erscheint und der Maggiore-Minore-Kontrast in der englischen Musiktheorie von Campion noch zu Byrds Zeiten ausformuliert wurde218. Darüber hinaus Àndet in Garden Green eine Art systemische „Verdurung“ statt, die über die Grenzen des traditionellen Systemwechsels hinausgeht, da diese Variationsreihe bereits im Cantus durus geschrieben ist219. Wie in den Grounds, so spielt auch in den Melodievariationen die durch die melodischen Vorlagen bedingte Sekundverwandtschaft eine hervorgehobene Rolle (s. Einzelanalysen der Tonartbehandlung zu Nr. 27, 28 und 31 im Anhang), ganz gleich ob man den einzelnen modal nicht eindeutigen Abschnitten den Status einer Commixtio verleihen möchte oder sie eher als Vor- und Nachbereitungen von Clausulae peregrinae interpretiert. Das tonartliche Geschehen wird also gerade hier, in der Musik mit volkstümlichen Vorlagen, nicht entscheidend durch die Quintverwandtschaft, sondern durch die Sekundverwandtschaft geprägt. 5.4.3 Tonarten und englishness? Die Tonarten in den Grounds und Melodievariationen aus MLNB weisen bedeutende Parallelen zu anderen gattungsverwandten Kompositionen Byrds und anderer Komponisten der Epoche auf. So ist der genannte Systemwechsel zum Cantus durus in den in mollaren Tonarten stehenden Melodievariationen auch in Giles Farnabys Loath to Depart (MB XXIV/41) und in Bulls Walsingham (MB XIX/85) zu Ànden. Vielleicht ist aber die wichtigste tonartliche Eigenart der Grounds und der Melodievariationen William Byrds die hervorgehobene Rolle der Obersekunde als 217 Zu Nr. 32. s. weiter unten. 218 Vgl. Campion 1967a, S. 312. Vgl. Kapitel 5.1. 219 Finalis d, keine Vorzeichen; gegen Ende systemisch hinzugefügtes Às (vgl. Einzelanalyse in Anhang B zu Teil 5).
5.4 A thoroughly English affair? Grounds und Melodievariationen
211
Klauselstufe. Neben den im Rahmen dieses Kapitels besprochenen Werken, kommt ihr auch in Byrds Callino casturame (MB XXVII/35), The Ghost (MB XXVIII/78)220, Go from my Window (MB XXVIII/79) und John Come Kiss Me Now (MB XXVIII/81), die alle nicht in MLNB enthalten sind, eine entscheidende Rolle zu. Die Klausel auf der Obersekunde wird in diesen Kompositionen eindeutig und systematisch als zweitrangige Klausel der Tonart eingesetzt, während eine dritte Klauselstufe gar nicht verwendet wird. Auch in Barley Break und Monsieur’s Alman (Nr. 6 und 38 in MLNB) wird die Wichtigkeit der Obersekunde für die Klauseldisposition deutlich221. Die Clausula secundaria auf der Obersekunde ist in Byrds Consortmusik ebenfalls vorzuÀnden: etwa in der Variationsreihe Browning, my Dear (BE 17/10) und dem Consort-Ground aus Prelude and Ground (BE 17/9)222. Die hervorgehobene Rolle der Obersekundklausel in der tonartlichen Entwicklung von Kompositionen mit volkstümlichem Hintergrund ist auch für die englische Musik für Tasteninstrumente vor Byrd charakteristisch. Schon in der hypomixolydisch deutbaren Bearbeitung von O ye happy dames aus Mulliner (MB 1/0) entfaltet sich der gesamte zentrale Abschnitt des Stückes auf der Ebene der Obersekunde a (T. 5–13), wobei die Klausel allerdings nicht auf a, sondern auf e vollzogen wird (T. 8). Die Klausel auf der Obersekunde ist auch bei elisabethanischen Komponisten der jüngeren Generation zu Ànden: etwa in John Bulls My Self (MB XIX, 138), einer offenbar nicht auf externen Vorlagen basierenden Komposition. All diesen Fällen ist gemeinsam, dass sie innerhalb von duralen Tonarten stattÀnden, so dass sie die Praxisnähe der von Campion um 1615 kodiÀzierten Regel bestätigen, wonach bei den duralen Modi die Obersekunde zu regulären Klauselstufen gezählt werden soll223. Dabei ist dennoch hervorzuheben, dass die Oberquint in den zitierten Kompositionen nicht als Clavis clausularum auftritt, sondern dass die Obersekunde neben der Klausel auf der Finalis die einzige Klauselstufe darstellt – ein Umstand, der über die von Campion formulierte Regel hinausgeht. Auch die Untersekunde wurde von Byrd als Clavis clausularum verwendet: Sie wird etwa in The Maiden’s Song eingesetzt (s. Abb. 44224). Bezeichnend ist dabei, dass in einer älteren, anonymen Bearbeitung derselben Liedvorlage in Mulliner (MB I/1, Abb. 43), diese Klausel nicht stattÀndet, wenngleich der klangliche Bereich der Untersekunde intensiv gebraucht wird. Byrd etabliert hier durch die konstitutive Klauselbildung auf der Untersekunde eine Tonartlichkeit, die weder traditionell-modal noch dur-moll-tonal ist. Eine vergleichbare Tonartbehandlung ist auch in Byrds Jewel (MB XIX/141), wenngleich ohne verbindliche Klauselbildung, sowie in Gibbons’ Version von Woods so wild (MB XX/29) zu Ànden.
220 Eigentlich ein Alman, eine mit Grounds verwandte Tanz-Variationsgattung (vgl. Neighbour 1978, S. 146). 221 Vgl. Kapitel 5.5. 222 Das wurde allerdings bereits von Oliver Neighbour hervorgehoben (vgl. Neighbour 1978, S. 123). 223 Vgl. Kapitel 5.1. 224 Vgl. auch Einzelanalyse von The Maiden’s Song in Anhang B zu Teil 5.
212
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Ähnliche Beobachtungen sind in Bezug auf Byrds Tonartbehandlung schon in Carl Dahlhaus’ Untersuchungen zur Entstehung der harmonischen Tonalität zu Ànden225. Dahlhaus hat die Tonartbehandlung in Byrds Psalms, Sonnets and Songs (1588) analysiert und dort die Präsenz der Klauselstufen c, g, d und a in jonischen wie in mixolydischen Sätzen festgestellt. Mit Recht kritisierte er Franklin Zimmerman, der eine dur-moll-tonale Erklärung dieses Sachverhaltes (etwa a als „dritte Dominante“ im Jonischen) geliefert hatte226, da die betreffenden Klauseln nicht nach der harmonisch-tonalen Ordnung platziert seien. Andererseits neigte Dahlhaus auch nicht dazu, eine modale Interprertation dieser Sätze zu liefern, sondern vertrat die These, dass die genannten Klauselstufen ein System von Interrelationen bilden, das in sich ruhe und „erst sekundär und ‚formal‘, nicht ‚funktional‘ auf einen Grundmodus bezogen“ werde227. Nun ist es so, dass die genannten Klauselstufen im Lichte der Campionschen Theorie – die Dahlhaus zum Zeitpunkt der Entstehung seiner zitierten Studie offenbar nicht aus der Quelle selbst, sondern durch einen Aufsatz Wienpahls228 gekannt zu haben schien – als durchaus mögliche Formen der von ihm genannten Modi auftreten: Denn das Mixolydische hätte nach Campion genau die Klauselstufen G, d, a und auch c229. Einzig im Jonischen müsste man die Klauselstufe a als Clausula peregrina betrachten, wenn sie nicht in Bezug zu einer ZwischenÀnalis g steht. Dahlhaus’ Gedanken dürften aber für einige der hier vorgestellten Grounds und Variationen Geltung besitzen. Ihre Tonarten mit dominierenden Klauseln auf der Untersekunde sind in der Tat sowohl vom traditionell-modalen als auch vom dur-moll-tonalen Denken entfernt. Ohne direkte Bezugnahme auf Campions Theorie oder auf die Tonartenbehandlung anderer Komponisten nannte Oliver Neighbour Byrds Hunt’s up – gerade aufgrund der Klauseldisposition – „a thoroughly English affair“230. In der Tat haben die im Rahmen der vorliegenden Studie durchgeführten Untersuchungen gezeigt, dass die Klauseldisposition I–II für zahlreiche Kompositionen der elisabethanischen Epoche charakteristisch war. Neighbours Aussage ist aber in zweierlei Hinsicht zu relativieren: Vorerst muss sie sich auf die Grounds und Melodievariationen beschränken, da die fragliche Klauseldisposition für die anderen analysierten Gattungen der Musik für Tasteninstrumente nicht konstitutiv ist. Zweitens ist es schwierig, ohne eine bedeutend umfangreichere Untersuchung zu behaupten, dass die fragliche Klauseldisposition nicht auch auf dem Kontinent verwendet worden war. Die Emperor’s Pavan (MB LXVI/39) eines unbekannten Komponisten aus der Zeit Heinrichs VIII. weist eine solche „englische“ Klauseldisposition auf, scheint aber laut John Caldwell kontinentalen Ursprungs zu sein231. Zwar sticht eine solche Tonartbehandlung im Vergleich zu den umfangreichen Untersuchungen Bern225 226 227 228 229 230 231
Vgl. Dahlhaus 2001a, S. 233 f. Vgl. Zimmerman 1959, S. 324. Dahlhaus 2001a, S. 233. Wienpahl S. 1955. Vgl. Campion 1967a, S. 214 f. Neighbour 1978, S. 123. Vgl. John Caldwells Kritischen Bericht in MB LXVI, S. 189.
5.5 Verzicht als Prinzip: Battaglia, Marsch und Varia
213
hard Meiers über die Modalität der Instrumentalmusik des 16. Jh.232 stark hervor; das könnte aber an der Auswahl von Meiers Untersuchungsgegenständen liegen, die so getroffen zu sein scheint, dass sie der modalen Norm entspricht233. Die Frage, inwiefern die Klauseldisposition I–II nur auf die englische Musik des 16. Jh. zu beziehen ist, und inwiefern es kontinentale Entsprechungen gibt, sollte also immer noch als Forschungsdesiderat betrachtet werden. Darüber hinaus soll betont werden, dass die geschilderte Tonartpraxis keineswegs zum Ziel einer Konstruktion von englishness im Bereich Musik diente234: Byrd benutzt die „englische Klauseldisposition“ vorwiegend dort, wo sie durch die Vorlage bedingt worden war und Campion beschreibt sie als eine Art Standardklauseldisposition, ohne sie mit englischen Komponisten oder dem englischen Usus in Verbindung zu bringen. Die Tonartbehandlung in den Grounds und Melodievariationen William Byrds scheint mehr ein Produkt der Tradition als der subjektiven Kompositionstätigkeit ihres autour zu sein. Die Individualität der Bearbeitung von Melodievorlagen liegt in den Methoden ihrer Variationstechnik, die von Neighbour bereits gründlich erforscht wurde, nicht im Bereich der Tonartbehandlung. Mit dem Geschmack ihrer Rezipienten stehen die Grounds und Melodievariationen Byrds in manchen Fällen durch das italienische, der Hofkultur nahe stehende, präexistente melodische Material in Beziehung. In manch anderen Fällen spricht die englische Herkunft ihrer Melodievorlagen dafür, dass sich die von Edmund Spenser angesprochene Idee eines „kingdom of our own language“235 zum Teil auch in der Musik widerspiegelte. Die Bearbeitungen von Volksliedern waren zwar auch in früheren Sammlungen, etwa in Mulliner, vertreten, ihre literale Behandlung durch Byrd und spätere Komponisten sowie ihre Gleichbehandlung in einem Kontext von stark aristokratisch konnotierten Musikgattungen und den „gelehrten“ Fantasien in MLNB legen Zeugnis von einer gesteigerten sozialen Stellung der musikalischen englishness ab: Von ihrer „Hoffähigkeit“ im wörtlichen und übertragenen Sinne. Die festgestellten Besonderheiten der Tonartbehandlung in den englischen Grounds und Melodievariationen für Tasteninstrumente hängen insofern mit diesem Prozess zusammen, als sie als Ergebnis des Variierens und Ornamentierens bestehender Vorlagen entstanden sind. 5.5 VERZICHT ALS PRINZIP: BATTAGLIA, MARSCH UND VARIA Im Unterschied zum Inhalt der anderen musikanalytischen Kapitel dieser Arbeit behandelt das vorliegende Kapitel Kompositionen, die gattungsmäßig nicht miteinander verwandt sind. Diese Vielfalt ist auch in der Behandlung von Tonarten festzustellen: Obwohl drei von den nun vorzustellenden Stücken – The March be232 Meier 1992. 233 Hierzu ausführlicher in Kapitel 5.6. 234 Dies im Gegensatz zur immer intensiveren literalisierten Bearbeitung der volkstümlichen Musik, ungeachtet ihrer Tonartlichkeit: Vgl. hierzu Kapitel 3.3. 235 Vgl. hierzu Kapitel 3.3.
214
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
fore the Battle (Nr. 3), The Battle (Nr. 4) und The Galliard for the Victory (Nr. 5) – offenbar programmatisch zusammengedacht waren, weist beinahe jede von den in diesem Kapitel beschriebenen Kompositionen einen eigenen tonartlichen Weg auf. Aus diesem Grund ist auch keine Generalisierung der im Anhang im Detail geschilderten Analysen möglich, lediglich eine Darstellung und Betrachtung im Kontext anderer Werke Byrds und der elisabethanischen Kultur allgemein. Der Gattungskontext und der formale Aufbau der Pavanen und Galliarden William Byrds wurden bereits in Kapitel 5.3 besprochen, so dass in Bezug auf die Galliard for the Victory (Nr. 5) in dieser Hinsicht nichts weiter anzumerken ist, als dass es im Geiste der Epoche offenbar angebracht erschien, nach einem Schlachtsieg – der Satz The Retreat aus The Battle (Nr. 4)236 bezieht sich offenbar auf die Gegner – den beliebtesten schnellen Tanz der Königin selbst237, die Galliarde, folgen zu lassen. Auch dies ist ein Beispiel der Literalisierung des Rituellen, in welcher die Privatsphäre des Adels, für welche ja die Tastenmusik gedacht war, von Repräsentationen der Elemente ihres eigenen, oder zumindest von ihr dominierten sozialen Umfelds (Marsch-Krieg-Sieg-Galliardentanz) durchdrungen wird. The Galliard Jig gehört nicht zu einer der charakteristischen Gattungen der elisabethanischen Tastenmusik, steht aber kompositionstechnisch der Tanzgattung der Galliarde nahe: Schon Oliver Neighbour hat auf den galliardenähnlichen Rhythmus des Satzes und eine anscheinend verwandte Komposition aus dem früheren Repertoire aufmerksam gemacht: das titellose Stück MB I/2 aus Mulliner238. Die Gattung Alman, die den Namen eines Tanzes (Allemande) trägt, sich in der Regel jedoch der Kompositionstechnik der Grounds bedient239, ist durch einen komplexeren formalen Aufbau gekennzeichnet, der in Monsieur’s Alman in MLNB folgendermaßen aussieht: I
aa1 bb1
II
a2 a3 b2 b3
III
a4 a5 b4 b5
Die Anzahl von Almans in Byrds überliefertem Schaffen – es sind insgesamt fünf an der Zahl – gegenüber dem umfangreichen Pavanen-Galliarden-Corpus spricht, wie auch Edler feststellte240, für eine gewisse Zweitrangigkeit dieser Gattung. Auch ist Monsieur’s Alman, der einzige Alman in MLNB, trotz seines bereits geschilderten Bezugs zum französischen Hochadel241, erst gegen Ende der Sammlung zu Ànden und nicht an ihrem Anfang, zusammen mit anderen aristokratisch konnotierten Werken. Thomas Morley hat in seiner bereits mehrfach zitierten Gattungshierarchie der Instrumentalmusik keine allzu lobenden Worte für die Almans gefunden, die, 236 237 238 239 240 241
Vgl. Tabelle 1 im Anhang. Vgl. Kapitel 2.6 und 5.3. Vgl. Neighbour 1978, S. 170. Vgl. Neighbour 1978, S. 167–170. Vgl. Edler 1997, S. 173. Der Titel „Monsieur“ bezog sich auf den Bruder des Königs von Frankreich. Vgl. hierzu Kapitel 4.1.
5.5 Verzicht als Prinzip: Battaglia, Marsch und Varia
215
nach Fantasien, Pavanen und Galliarden, die vierte von Morley behandelte Gattung der Instrumentalmusik bilden. Dabei benutzte Morley, um den Charakter der Almans zu beschreiben, ein Cliché über die Deutschen, das auch heute noch aus englischem Munde nicht überraschend klänge: The Alman is a more heauie daunce than this [die Galliarde] (Àtlie representing the nature of the of the people, whose name it carieth) so that no extraordinarie motions are used in dauncing of it242.
Musikalische Schlachtgemälde, die Battaglia-Zyklen, sind im Bereich der Musik für Tasteninstrumente seit dem Tabulaturbuch von Jacob Paix (1583) überliefert243, so dass Byrds Battle ein verhältnismäßig frühes Beispiel darstellt. Der anzunehmende Bezug von The Battle zu den Stichen aus John Derricks Image of Irlande (1581), das Sir Philip Sidney gewidmet war und die Kriegshandlungen Sir Henry Sidneys, eines Freundes der Nevilles of Billingbear darstellte, wurde bereits in Teil 4 behandelt. Über die konkrete Aufführungspraxis von Battaglia-Zyklen in England bestehen keine Angaben. Byrds Battle aus MLNB bezeichnet Edler zwar als Virginal-Stück244, eine Interpretation auf einem anderen Tasteninstrument wäre aber nicht undenkbar: Zumindest in den großen englischen Palästen der Tudor-Epoche waren, wie in Kapitel 2.6 ausgeführt, in vielen Räumen nicht nur Virginale, sondern auch Regale anzutreffen. Das Barley Break stellt, wie in Teil 4 geschildert, ein pastoral konnotiertes Versteckspiel des 16. Jh. dar, dessen musikalische Bearbeitung durch Byrd singulär ist, obgleich sie mit Medleys245 verglichen werden kann. Der Bezug Sir Philip Sidneys, des bedeutendsten adligen Poeten der Epoche, zu Barley Break wurde bereits in Teil 4 dargestellt. Oliver Neighbour hat überzeugend argumentiert, dass Byrds Barley Break eine programmatische Ebene aufweist, die sich auf den Verlauf des gleichnamigen Versteckspiels bezieht246. Hinsichtlich ihrer Tonartbehandlung hätten zwei der in diesem Kapitel vorzustellenden Kompositionen auch innerhalb von anderen Kapiteln der vorliegenden Studie untersucht werden können: Monsieur’s Alman trägt das essentielle Charakteristikum eines Ground, den „festen“ Bass, während die Galliard for the Victory formal und tonartlich wie eine Galliarde aufgebaut ist (s. u.). Jedoch wurde die letztere nicht in den Rahmen des Pavanen-Galliarden-Corpus in MLNB, sondern unmittelbar nach dem Battle-Zyklus platziert, auf welchen sie offensichtlich auch programmatisch bezogen ist. Die Alman-Form ist zwar mit der Form eines Ground verwandt, ist aber in der Regel komplexer als diese, wie das obige Schema zeigt. Das waren die Gründe für die Entscheidung, Monsieur’s Alman und Galliard for the Victory zusammen mit den anderen, „gattungsfreien“ Kompositionen der Sammlung sowie dem Battaglia-Zyklus gesondert vorzustellen. 242 243 244 245 246
Morley 1597/1937, S. 181. Zu diesem Themenbereich s. insbesondere Edler 1997, S. 178–180. Ebd., S. 179. Dazu vgl. Ebd., S. 179. Vgl. Neighbour 1978, S. 174.
216
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Die tonartliche Disposition der genannten Stücke aus MLNB kann folgendermaßen dargestellt werden: Nr. im Stück MS
Modus
3
The March before the Battle
Hypomixolydisch
The Galliard for the Victory
Hypomixolydisch / Dorisch
G
Hypomixolydisch / Mixolydisch
G
Hypomixolydisch / Mixolydisch
G
4 5 6
7
38
The Battle
The Barley- Break
The Galliard Jig
Monsieur’s Alman
Jonisch und Hypojonisch
Hypojonisch / Äolisch
Finalis G C und c
A
In den aufeinander offensichtlich programmatisch bezogenen The March before the Battle und The Battle ist eine Verwandtschaft in der Modusbehandlung feststellbar. Die Tonart des Battle-Zyklus’ könnte als Jonisch und Hypojonisch – je nach Satz247 – bezeichnet werden, ist aber dabei, wohl aus programmatischen Gründen, so reduktionistisch, dass sie kaum mit den traditionellen Vorstellungen über die Modalität übereinstimmt: Die Klauseln werden beinahe ausschließlich auf der Finalis gebildet, während einfache Skalenmelodik und „Dreiklangsbrechung“ den Verlauf der Oberstimme prägen (vgl. Abb. 45). Ähnliches ist auch im March festzustellen: Die Grenzen der Tonart – hier Hypomixolydisch – werden nicht verlassen, es werden aber andererseits auch die Kapazitäten des Modus bei weitem nicht erschöpft. Dabei ist in beiden Kompositionen die Entfaltung der Melodik innerhalb der konventionellen Modusgrenzen festzustellen. Die Reduktion der Tonartrepräsentation auf Tonleiter- und KlangauÁösungsmelodik, insbesondere in The Battle, mag dem heutigen Rezipienten wie das Komponieren in einer Dur-Tonart vorkommen. Jedoch bezieht sich auch der harmonisch-tonale Durbegriff auf bedeutend mehr Elemente als im March und insbesondere im Battle angeboten wird. Wenn ein Komponist der harmonisch-tonalen Epochen, etwa des 18. Jahrhunderts, versucht, Militärmusik nachzuahmen, dann bedient er sich ebenfalls vergleichbarer, reduktionistischer Techniken, die an die klanglichen und spieltechnischen Kapazitäten der Militärmusik erinnern. Wenn auch diese Parallelen bestehen: Der Unterschied zwischen der Nachahmung von Militärmusik im 18. Jh. und der Battaglia des 16. Jh. besteht in demjenigen, worauf verzichtet wird. Da in diesen Kompositionen gerade der – mit dem „Programm“ zusammenhängende – Verzicht auf wesentliche kompositionstechnische Mittel konstitutiv ist, können sie nur in ihrem Gattungskontext und im Vergleich zur Tonartbehandlung in anderen Gattungen verstanden werden, woraus erst ersichtlich werden kann, was in einer solchen Komposition nicht gegeben ist. 247 Vgl. Einzelanalyse in Anhang B zu Teil 5.
5.5 Verzicht als Prinzip: Battaglia, Marsch und Varia
217
In Battle und March wird natürlich nicht auf etwaige kadenzbildende Bezüge verzichtet, sondern auf den Reichtum der modalen Melodiebildung, auf die komplexe Klauseldisposition, auf den großenteils nicht kadenziell erklärbaren Reichtum der Klanglichkeit und auf den für Byrd charakteristischen Hang zum Moduswechsel. Von einem teleologischen Geschichtsbild losgelöst und auf die konkrete tonsatzgeschichtliche Situation bezogen, kann in Bezug auf Battle und March aus MLNB lediglich behauptet werden, dass in den beiden Stücken die Nachahmung von zeitgenössischen Militärinstrumenten und die programmatische Orientierung einen tonartlichen Reduktionismus herbeiführen, der nur dasjenige repräsentiert, was auch expressis verbis erreicht werden will: ein stilisiertes musikalisches Schlachtengemälde. Jeder Versuch, daraus verallgemeinernde Schlüsse über die Entfaltung der harmonischen Tonalität zu ziehen, wäre aus den genannten Gründen problematisch. Die Galliard for the Victory ist im Sinne der Tonartbehandlung auf die gleiche Art konzipiert wie die meisten Pavanen und Galliarden der Sammlung: Die Haupttonart Hypomixolydisch wird im mittleren Formteil verlassen, in welchem eine Commixtio zum Dorischen stattÀndet, der Tonart mit der Quint höherer Finalis, aber demselben Ambitus. Auffällig ist dabei die Tatsache, dass sich die formalen Abschnitte nicht mit den tonartlichen decken, was auch in anderen Pavanen und Galliarden Byrds festgestellt werden konnte248. Das Barley Break könnte angesichts seines klanglichen Reichtums als der denkbar entfernte Gegenpol von The Battle beschrieben werden. Die einzelnen Abschnitte sind dabei modal verhältnismäßig stabil und weisen entweder mixolydische oder hypomixolydische Charakteristika auf. Ein intensiver Bezug zur Klausel auf der Obersekunde in Barley Break249 stellt dabei ein gemeinsames Charakteristikum dieser Komposition mit den im Rahmen des vorausgegangenen Kapitels behandelten Grounds und Melodievariationen dar. Die Klausel auf der Obersekunde spielt auch hier die Rolle der Clausula secundaria. Ein klanglich markanter Abschnitt aus Barley Break (T. 55/65) weist im mixolydischen Kontext „Dur-Dreiklänge“ auf es und b auf. Da diese aber nur einmal vorkommen und dabei zu keinen Klauselbildungen oder ungewöhnlichen Zügen der Hauptlinie des Diskants führen, sollte der Vorgang im Sinne der Tonartbehandlung nicht überbewertet werden. Wie im Barley Break, den Grounds und den Melodievariationen, so ist auch in Monsieur’s Alman eine prominente Stellung der Klausel auf der Obersekunde festzustellen. Es Àndet ebenfalls eine Mixtio tonorum statt, der Übergang in die Tonart gleicher Finalis, aber mit unterschiedlichem Ambitus. Trotz zahlreicher kompositionstechnischer Exzentrizitäten250 zeigen die systematische Art und die Eindeutigkeit der in Barley Break und Monsieur’s Alman vollzogenen Mixtionen sowie die Einhaltung der modalen Grenzen innerhalb einzelner Abschnitte die tonartliche Traditionsverbundenheit Byrds auf. 248 Vgl. Kapitel 5.3. 249 Festgestellt auch von Neighbour (1978, S. 174) und von ihm auch hier als „very English“ bezeichnet (vgl. hierzu Kapitel 5.4). 250 Vgl. Analyse im Anhang.
218
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
Demgegenüber ist in The Galliard Jig die gleiche Art der Modusbehandlung anzutreffen, die auch in der Torso-Voluntary (Nr. 42) festgestellt wurde251: ein Tonartwechsel ohne Rückkehr in die ursprüngliche Tonart. Bernhard Meier nannte ähnliche, allerdings tonartlich noch weniger bestimmbare Werke „modal uneinheitlich“252. Diese Bezeichnung kann nur mit großem Vorbehalt auf The Galliard Jig und Voluntary Nr. 42 angewendet werden. Zu sehr ist in diesen Stücken der modale Verlauf innerhalb einzelner Teile traditionskonform, obwohl die modale Gesamtkonzeption ungewöhnlich erscheint. Die Tatsache, dass die einzigen Kompositionen im Nevell-Corpus, in denen die Tonart dauerhaft verändert wird, gerade aus hypojonischen und äolischen Abschnitten bestehen, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge253, scheint bezeichnend zu sein. Darin eine frühe Form von Dur-Moll-Parallelismus zu sehen, wäre möglich, aber nicht ganz unproblematisch, da die Gemeinsamkeit zwischen diesem Moduswechsel und den anderen Commixtionen gerade in der melodischen Verwandtschaft der Umfänge zu liegen scheint254. Darüber hinaus sind solche Bezüge bei Byrd zwischen den Modi etwa mit Finalis d und f oder G und e keineswegs festzustellen. Dabei weisen The Galliard Jig und Voluntary Nr. 42 auch andere tonartlich relevante Parallelen auf: Innerhalb der einzelnen, modal bestimmbaren Abschnitte Ànden nur Klauseln auf der jeweiligen Finalis statt255. Schließlich ist auch die häuÀge Verwendung jener speziÀschen Form der Cadenza fuggita, die man als Urform des heutigen „Trugschlusses“ im engeren Sinne des Wortes (Stufengang V–VI) bezeichnen könnte, ein Merkmal, das die beiden Werke satztechnisch verwandt erscheinen lässt. Es liegt hier eine eigentümliche tonartliche Idiomatik vor, deren Sinn es zu sein scheint, die neue Tonart durch Anhäufung von Clausulae primariae möglichst deutlich zu markieren, wobei die Varietas durch Klauseltechnik, nicht durch ihre Disposition erreicht wird. Wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, weisen nur The March before the Battle und The Battle eine einzigartige Tonartbehandlung auf: The Galliard for the Victory steht im Sinne der Tonartkonzeption den Pavanen und Galliarden nahe, Barley Break und Monsieur’s Alman sind tonartlich mit den Grounds verwandt, während The Galliard Jig mit der Voluntary Nr. 42 vergleichbar ist. Die Tonarten dieser Kompositionen zeigen – vor allem im Vergleich mit den Untersuchungen über gattungsmäßig eindeutiger zuordenbare Kompositionen – die Vielfältigkeit und zugleich den Gattungsbezug der Tonartbehandlung Byrds. Die Unterschiede in der Tonartpraxis zwischen verschiedenen Gattungen und die Ähnlichkeiten innerhalb derer weisen auf die Untrennbarkeit des TonartengeÁechts von der Gattung hin – und dadurch von dem sozialen Kontext, in welchem sich diese entwickelt haben. In Bezug auf Byrds Musik für Tasteninstrumente könnte anhand der geschilderten
251 252 253 254 255
Vgl. Kapitel 5.2. Meier 1992, S. 152–157. The Galliard Jig: Hypojonoisch-Äolisch, Voluntary: Äolisch-Hypojonisch. Vgl. Kapitel 5.2. Vgl. Analyse im Anhang.
5.6 Die „Gattungstonarten“ William Byrds: Ein Rückblick
219
Untersuchungen sogar die Tonartlichkeit selbst als ein konstitutives Element der Gattung bezeichnet werden. Vergleiche zur Tonartenbehandlung in anderen Werken Byrds sind nur in Bezug auf Almans sinnvoll, weil die anderen in diesem Kapitel besprochenen Stücke entweder innerhalb seines überlieferten Schaffens singulär sind, oder bereits in den vorausgegangenen Kapiteln behandelt wurden. In den Almans ist die hervorgehobene Rolle der Obersekunde als Klauselstufe auch in dem in MLNB nicht überlieferten duralen Alman MB XXVIII/89 Byrds anzutreffen. Bei Orlando Gibbons kann eine nicht markante Zwischenklausel auf der Obersekunde im mixolydischen Alman: The King’s Jewel (MB XX/36) festgestellt werden. Ansonsten dominieren sowohl bei Gibbons als auch bei John Bull die Quintverwandtschaften in der Klauseldisposition der Almans256. In Bezug auf Barley Break konnte durch einen Vergleich zu den beiden verwandten Medleys Johnsons (MB LV, 35–36) festgestellt werden, dass Byrds Satz eine ähnliche, wenn auch klanglich bedeutend reichhaltigere Tonartbehandlung aufweist. Hinsichtlich des Battaglia-Zyklus ist ein zeitgenössisches Beispiel aus Paris MS 1185 in der Komposition Battle, and no Battle (MB XIX/108) für zwei Spieler hervorzuheben, das Thurston Dart aufgrund stilkritischer Argumente John Bull zugeschrieben hat. In derselben Manuskriptsammlung sind auch eine Battle Pavan und eine Battle Galliard (MB XIX/109a–b) zu Ànden, die Dart, obwohl sie im Manuskript in unmittelbarem Bezug zu Battle steht, wieder aus stilkritischen Gründen, nicht mit Sicherheit Bull zuschreiben wollte257. Wem auch immer die Autorschaft von diesen Kompositionen zuzuweisen sei: Ihre Tonartbehandlung ist auf ähnliche Weise reduktionistischen Charakters wie in Byrds Battle, wenn auch bei (Pseudo-?)Bull eine etwas höhere klangliche Varietas als in Byrds Battaglia festzustellen ist. Insgesamt kann aber in dieser Gruppe von Kompositionen keine allzu bedeutende Differenz zwischen der Tonartbehandlung Byrds und der seiner Zeitgenossen festgestellt werden: Auch hier scheint das GattungsspeziÀsche den tonartlichen Verlauf entscheidend geprägt zu haben. 5.6 DIE „GATTUNGSTONARTEN“ WILLIAM BYRDS: EIN RÜCKBLICK Es wäre problematisch, über eine einheitliche Tonartbehandlung in Byrds Musik für Tasteninstrumente zu sprechen: Die in den vorigen Kapiteln dargelegte Dominanz des Gattungsbezugs über tonartimmanente Konzepte führt vielmehr dazu, den Begriff der „Gattungstonart“ einzuführen und die Tonartbehandlung Byrds auf diese Weise pluralistisch zu betrachten. Aus diesem Grund wird im Rahmen dieses Kapitels statt einer verallgemeinernden Zusammenfassung ein vergleichender Überblick über die Tonartbehandlungsarten in verschiedenen Gattungen der in 256 Bei Gibbons im Übrigen auch die Terzverwandtschaften (vgl. die Almans in MB XX). 257 Vgl. Darts eher unsicher wirkende Argumentation in MB XIX, S. 233. Von Bull ist auch ein Coranto „Battle“ überliefert, allerdings mit einer hinsichtlich der Autorschaftsfrage sichereren Quellenlage: Vgl. MB XIX, S. 233.
220
5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
MLNB überlieferten Musik für Tasteninstrumente Byrds geboten. Auf Referenzen zu konkreten Werken und ihren Formteilen wird dabei weitgehend verzichtet, da diese in den vorigen Kapiteln und den Einzelanalysen im Anhang dieser Studie angegeben worden sind. In den Fantasien258 William Byrds scheint der Tonartwechsel – mit einer einzigen Ausnahme (Nr. 26) – konstitutiv zu sein, wobei innerhalb einzelner Abschnitte eine modale Regelmäßigkeit herrscht. Clausulae peregrinae sind dennoch vorzuÀnden, wobei die HäuÀgkeit der Klausel auf der Obersekunde, die nach Thomas Campion in den duralen Modi toleriert werden konnte259, insbesondere hervorzuheben ist. Der Tonartwechsel Àndet in der Regel zwischen Tonarten mit gleichem Ambitus aber unterschiedlichen Finales (etwa Hypomixolidysch-Dorisch) oder zwischen zwei Tonarten benachbarten Umfangs (z. B. Äolisch-Hypojonisch) statt. Dabei sind die Finales der am Tonartwechsel beteiligten Tonarten am häuÀgsten quintverwandt oder – im Fall der Commixtio Äolisch-Hypojonisch (Nr. 42) – terzverwandt. Ob diese Tonartbehandlung als ein Hinweis auf die Entfaltung eines harmonisch-tonalen Denkens ausreicht, soll offen bleiben. Im Material selbst scheint – das ist aus den im Kapitel 5.2 beschriebenen Sequenzverschiebungen ersichtlich – ein direkter Bezug der Ambitusverwandschaft, also eines modal-melodischen Elements, zur Ausführung der Commixtio modorum gegeben zu sein. Die Mittel des Moduswechsels gehören demnach immer noch primär dem melodisch-modalen, nicht dem harmonisch-tonalen Denken an. Neben der Commixtio sind auch andere komplexe Merkmale der Tonartbehandlung in den Fantasien William Byrds vorzuÀnden: etwa der Systemwechsel vom Cantus durus in den Cantus Àctus (Nr. 9)260 sowie das Komponieren in einem Moduspaar gleicher Finalis (etwa Äolisch-Hypoäolisch, Nr. 41). Die Anzahl, die HäuÀgkeit und der Typ des Tonartwechsels sind dabei dem – auch von Thomas Morley so beschriebenen261 – unperiodischen, aus der Vokalpolyphonie stammenden Prosacharakter der Fantasie angepasst und in jedem der sechs Kompositionen dieser Gattung in MLNB unterschiedlich. In den achtzehn in der Sammlung enthaltenen Pavanen und Galliarden folgt die Tonartbehandlung dagegen zumeist der dreiteiligen Strophenform AA'BB'CC' dieser Tanzgattungen, was eine tonartliche Symmetrie erzeugt: Die mittleren Abschnitte können jeweils als einer anderen „Teiltonart“ zugehörig bezeichnet werden, wobei auch hier, wie in den Fantasien, die Commixtio mit quintverwandten Tonarten gleichen Umfangs (z. B. Hypomixolydisch-Dorisch, Nr. 12) häuÀg vorzuÀnden ist. Jedoch sind in den Pavanen und Galliarden auch andere Commixtionen vorhanden, z. B. jene, bei welchen zwar eine Quintverwandtschaft der Finales, nicht aber die Gleichheit des Ambitus vorliegt (z. B. Äolisch-Phrygisch, Nr. 23). Solche Fälle weisen auf die zunehmende Verselbständigung der Quintverwandtschaft als Konstituente des Komponierens in den Tanzgattungen hin. Die Regelmä258 Vgl. Kapitel 5.2 und die Einzelanalysen im Anhang. 259 Vgl. Campion 1967a, S. 214. 260 Vgl. hierzu in Bezug auf die deutsche Tonartenlehre und die Vokalmusik des 16. Jh. etwa Werbeck 1989, insbesondere S. 251. 261 Vgl. Kapitel 5.2.
5.6 Die „Gattungstonarten“ William Byrds: Ein Rückblick
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ßigkeit des modalen Aufbaus der einzelnen Formteile von Pavanen und Galliarden in MLNB ist dennoch, wie auch innerhalb der einzelnen partes der Fantasien, auffällig. Eine Ausnahme bildet jedoch die häuÀge Ambitusgleichheit – statt der komplementären Disposition plagal-authentisch – von Diskant und Bass, die einen Bezug zur zeitgenössischen englischen Theoriebildung aufweist, in welcher gerade dem Bass eine satztechnisch konstitutive und modal entscheidende Funktion zukommt262. In den Variationsformen – den Grounds und den Melodievariationen – Ànden, bedingt durch die Vorlagen und die epochengemäße Art des Variierens, in der Regel keine eindeutigen Tonartwechsel statt. Bei der einzigen in MLNB vorhandenen Ausnahme (Nr. 2) konnte jedoch der Tonartwechsel anhand der beträchtlichen Länge der Ground-Vorlage erfolgen: ein Hinweis darauf, dass Byrd den Tonartwechsel, dort wo dieser möglich war, dem Verharren innerhalb der Grenzen einer Tonart bevorzugte. In einigen in mollaren Modi komponierten Variationsreihen, insbesondere in Walsingham, ist dagegen ein Systemwechsel aus Cantus mollis in den Cantus durus der Schlussabschnitte festzustellen. Dieser Wechsel weist auf die Praxisrelevanz des auch von Thomas Campion hervorgehobenen Maggiore-Minore-Kontrastes hin263, wenngleich sich dieser bei Campion nicht expressis verbis auf den Systemwechsel bezieht. In den auf Variationstechnik basierten Gattungen ist auch die hervorgehobene Rolle der Klausel auf der Obersekunde festgestellt worden, die, wie in Kapitel 5.4 geschildert, in Bezug zum überlieferten Liedgut steht und darüber hinaus in der musiktheoretischen Abhandlung Campions zu den regelmäßigen Klauselstufen der duralen Modi gehört264. Das Barley Break, eine Komposition mit Medley-Charakter, weist ebenfalls diese Art von Tonartbehandlung auf. Schließlich ist auch in dem March before the Battle und dem Battle-Zyklus selbst eine Tonartbehandlung festzustellen, die aufs Engste mit dem Charakter der Battaglia-Gattung zusammenhängt: Die im Material auch verbal angedeutete Nachahmung von Militärmusik und die Dominanz des Rhythmischen und Repetitiven hängt in diesen Stücken mit einer stark reduktionistisch angelegten Tonartlichkeit zusammen. Die geschilderten Unterschiede zwischen der Tonartbehandlung in den Werken Byrds sind offensichtlich gattungsbezogen, und aus diesem Grund auch nicht allein aus dem musikalischen Material und der zeitgenössischen Modustheorie heraus verständlich. Um die tasteninstrumentenbezogene Tonartbehandlung Byrds zu verstehen, muss auch das kulturelle und soziale Umfeld, in dem diese Musik entstanden ist, berücksichtigt werden. So hängt die Tonartbehandlung der Fantasien offensichtlich stark mit ihrem Prosacharakter zusammen, der eine Verwandtschaft mit der im katholischen Umfeld entstandenen lateinischen Motettenform aufweist. Demgegenüber ist die Tonartlichkeit von Pavanen und Galliarden mit der regelmäßig aufgebauten, variiert-dreiteiligen Strophenform dieser Hoftanzgattungen in Verbindung zu bringen. Die Tonartbehandlung der Grounds und Melodievariatio262 Vgl. Kapitel 5.1, 5.3 und weiter unten. 263 Vgl. Campion 1967a, S. 214 sowie Kapitel 5.1. 264 Ebd.
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5. Säkularisierung, Anglisierung und „the iudgement of the composer“
nen prägen die melodischen Vorlagen, die aus dem Volksliedergut stammen, während der programmatische Charakter des Battaglia-Zyklus die entscheidende Rolle in der Tonartbehandlung der darin enthaltenen Sätze spielt. Noch ein anderer Aspekt der Tonartbehandlung scheint von der Gattungsnorm untrennbar zu sein: die Stimmendisposition. Wie den Einzelanalysen im Anhang zu entnehmen ist, ist für die vorwiegend polyphonen Fantasien die traditionelle, „komplementäre“ Disposition von Diskant und Tenor auf der einen Seite sowie Alt und Bass auf der anderen charakteristisch: Steht das eine Stimmenpaar in einer authentischen Tonart, so steht das andere in der plagalen Tonart gleicher Finalis und umgekehrt. Dagegen sind bei den Pavanen und Galliarden die Außenstimmen häuÀg in ein und derselben Tonart komponiert. Womöglich steht dieser Sachverhalt mit dem Diskant-Bass-Satzprinzip Morleys und dem Diktum Campions in Verbindung, wonach der Bass über die Tonartlichkeit einer Komposition bestimme265. Dabei ist bezeichnend, dass Campion den Bassbezug der „neuen Musik“ seiner Epoche gewissermaßen musiksoziologisch erklärt, indem er diese bedeutende Veränderung im satztechnischen Denken durch die Entfernung der literalen Musikproduktion vom kirchlichen Kulturraum, in welcher der Tenor traditionell den musikalischen Vorrang genoss, begründet266. Thomas Morleys Bevorzugung des im Wesen säkularen, vom Cantus romanus getrennten und (vermeintlich) auf die Antike bezogenen, Glareanschen Zwölf-Modi-Systems sowie die vorsichtige Trennung von dem traditionellen oktomodalen System in den „Annotations“ seiner Abhandlung267 sind ein Schritt in die gleiche Richtung. Morley hat dabei auch selbst, wie bereits betont, die Veränderungen im elisabethanischen Musikleben mit dem Geschmack der Patrone in Verbindung gebracht268; Morleys Anmerkungen betreffen die nunmehr forcierten Gattungen der light musicke: Sie könnten sich dennoch genauso gut auf die Veränderungen im Tonartverständnis allgemein beziehen, wenngleich auf dieser Ebene auch die Veränderungen in der Bildung der Musiker eine bedeutende Rolle gespielt haben dürften269. Trotz erheblicher gattungsbedingter Unterschiede existieren auch einige Gemeinsamkeiten zwischen der Tonartbehandlung in einzelnen Gattungen. Die Commixtionen in den Fantasien sind mit denen aus Pavanen und Galliarden vergleichbar, während die gehobene Rolle der Klausel auf der Obersekunde sowohl in den Fantasien als auch in den Grounds, Melodievariationen, Monsieur’s Alman und Barley Break vorzuÀnden ist. Auch werden innerhalb der „Teiltonarten“ der Fantasien und Pavanen-Galliarden die traditionellen Charakteristika der betreffenden Modi immer wieder deutlich. Dabei haben Vergleiche mit anderen Kompositionen Byrds gezeigt, dass die in MLNB enthaltenen Werke keine Ausnahmen bilden, sondern vielmehr für das gesamte überlieferte Corpus von William Byrds Musik für Tasteninstrumente repräsentativ sind. 265 266 267 268 269
Vgl. Morley 1597/1937, S. 143, Campion 1967a, S. 195. S. auch Kapitel 5.1. Vgl. Zitat in Kapitel 5.1. Vgl. Morley 1597/1937, „Annotations upon the third part“, ohne Seitenangabe. Vgl. Morley 1597/1937, S. 179; s. Zitat in Unterkapitel 3.3.1. S. hierzu weiter unten.
5.6 Die „Gattungstonarten“ William Byrds: Ein Rückblick
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Es soll auch auf eine weitere gattungsübergreifende Ebene der Tonartbehandlung in der Musik für Tasteninstrumente hingewiesen werden: die Relativierung der traditionellen Tonartlichkeit durch Virtuosität270. Wenngleich die „exponierenden“, nichtvirtuosen Abschnitte in den Kompositionen Byrds in der Regel mit einem traditionellen Modus in Verbindung gebracht werden können, so ist das in den ornamentalen Abschnitten hinsichtlich der melodischen Charakteristika des Modus kaum möglich. Die eindeutigste Stütze für eine Tonartenanalyse bleiben in diesen Formteilen daher die Klauselstufen, die die Schlussbildungen aus den nichtvariierten Abschnitten in verzierter Form wiederholen. Wenngleich die Disposition dieser Klauseln bei Byrd nicht einem dur-moll-tonalen Schema entspricht, sondern der traditionellen Moduslehre zu entstammen scheint, so ist die Tatsache, dass die einzige explizite tonartliche Orientierungsmöglichkeit in diesen Abschnitten gerade die Klauselordnung ist, doch ein zur harmonischen Tonartauffassung führender Schritt. Die intensive Literalisierung der ornamentalen, virtuosen Abschnitte, die noch in den der früheren Tudor-Musik für Tasteninstrumente bedeutend bescheidener war und in manchen Gattungen überhaupt nicht stattgefunden hat271, spiegelt einerseits die kulturelle Kanonisierung des im Geschmack des Adels verankerten Hangs zum Ornamentalen272 wider, andererseits ist diese frühe Form der instrumentalen Virtuosität auch eine Manifestierung der Körperlichkeit, die sich in der Musik des 16. Jh. immer intensiver niederschlägt: Aus Italien sind in dieser Epoche schon frühe Beispiele eines Virtuosenkults überliefert, etwa das berühmte Orgelduello zwischen Claudio Merulo und Andrea Gabrieli273. In England selbst scheint laut John Baldwin, dem Schreiber von MLNB, die Fingerfertigkeit eine sehr bedeutende Eigenschaft eines Musikers zu sein, denn er betont William Byrds Qualitäten „with Àngers and with penne“274, während Orlando Gibbons ausdrücklich als „the best Finger“ der Epoche überliefert ist275. Das Relativieren der traditionellen Tonartlichkeit durch verschriftlichte Virtuosität hängt daher mit den kulturellen Konzepten des dominanten Standes und den ideengeschichtlichen Entwicklungen der elisabethanischen Epoche aufs Engste zusammen. Byrds tonartliche Verfahrensweise erweist sich insgesamt als verwandt mit der Kompositionspraxis seiner englischen Zeitgenossen – etwa hinsichtlich des Bezugs der Tonartlichkeit zur Gattung und der generellen Tendenz, die Geltung traditioneller Modi zu relativieren. Die im Rahmen der vorigen Kapitel geschilderten, vom Subjekt relativ unabhängigen sozialen Faktoren, die auf die Gattungsbildung EinÁuss genommen haben, scheinen hier die entscheidende Rolle gespielt zu haben. In einigen Punkten sind dennoch Unterschiede zwischen der Tonartbehandlung Byrds 270 Hier wird der Begriff im heutigen Sinne des Wortes verwendet (vgl. Unterkapitel 2.6.5). 271 Vgl. etwa Mulliner, Dublin und die in MB LXVI sowie in EECM 6 und EECM 10 enthaltenen Kompositionen. 272 Vgl. hierzu Kapitel 2.6 und 3.3. 273 Hierzu und zur Frage des frühen Virtuosenkultes im Bereich der Musik für Tasteninstrumente vgl. etwa Edler 1997, S. 373. S. auch Heister/Küpper 1998. 274 Vgl. Zitat vor Teil 3. 275 Vgl. Wulstan 1985, S. 104.
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und der seiner Zeitgenossen zu erkennen: William Byrds (1540–1623) Relativieren der traditionellen Modi, insbesondere in seinen Fantasien, erfolgt über die systematische Verwenduung des Tonartwechsels bei Einhaltung der Modalität in Einzelabschnitten, während das Verfahren seiner jüngeren Zeitgenossen John Bull (1562/3– 1628) und Orlando Gibbons (1583–1625) als ein „Áächendeckendes“ Infragestellen der Tonart ohne deutliche Etablierung von Zwischentonarten beschrieben werden kann. Womöglich reÁektiert diese Differenz den Generationsunterschied zwischen diesen Komponisten, aber auch ihre unterschiedlichen musikalischen Bildungswege: Byrd hatte beispielsweise nie einer Universität angehört, sondern wurde primär im kirchenmusikalischen Umfeld gebildet, während Bull und Gibbons neben dem kirchlichen und höÀschen auch einen säkular-universitären Hintergrund aufweisen konnten276. Möglicherweise war dadurch der Bezug Byrds zum überlieferten kirchlichen Kulturgut, wozu auch die alten Tonarten gehörten, enger als der von Gibbons und Bull. Schließlich sei in diesem Kontext noch einmal auf die Überlieferung über die persönliche Disposition des Katholiken Byrd277 zu „gravity and piety“ erinnert, auf die sein Zeitgenosse Henry Peacham hingewiesen hat278. Solche subjektiven Dispositionen haben womöglich auch einen Beitrag zur partiellen Wahrung der alten Tonarteigenschaften in Byrds Kompositionen geleistet. John Harleys Versuch, die speziÀsche Modusbehandlung William Byrds als einen Mittelweg zwischen der Konformität mit der kontinentalen Theoriebildung und der englischen Musikpraxis darzustellen279, ist grundsätzlich treffend. Man kann die Tonarten in William Byrds Musik für Tasteninstrumente genauso wenig mit den traditionellen, in den Traktaten des europäischen Festlandes kodiÀzierten Modi identiÀzieren, wie man die Verwurzelung seiner Kompositionstechnik in der Modalität leugnen kann. Einerseits ist der Bezug zum GattungsspeziÀschen zu groß und die Tendenz zum Tonartwechsel zu ausgeprägt, um über strikte Modalität zu sprechen, andererseits ist die festgestellte „Theoriekonformität“ von einzelnen Abschnitten Byrdscher Kompositionen vergleichbar mit der modalen Kompositionsweise des europäischen Festlandes, die in Bezug auf die Instrumentalmusik am umfangreichsten von Bernhard Meier beschrieben worden ist280. Ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Großteil der von Meier untersuchten Musik und den Werken William Byrds – und wahrscheinlich auch der Grund von Meiers auffälliger Auslassung der Kompositionen Byrds aus seinen Untersuchungen über die Modalität der Instrumentalmusik – sind der starke Gattungsbezug und die konstitutive Position des Tonartwechsels, die gerade für jene Gattungen charakteristisch sind, die laut zeitgenössischen musici den höchsten Anspruch an art und utilitie besa276 Zu Gibbons vgl. Harper 2001, S. 832; zu Bull vgl. Jeans 2001, S. 584. Zu Byrds Bildung vgl. etwa Harley 1997 und 2005. 277 Allerdings waren auch manche der anderen genannten Komponisten katholisch, oder sympathisierten zumindest mit dem Katholizismus. Zu Bull vgl. Jeans 2001 und Braun 2000; zu Morley vgl. Brett/Murray 2001. 278 Peacham 1962, S. 112. 279 Vgl. Harley 2005, insbesondere S. 130–133. Harley hat vorwiegend die vokalen Kompositionen Byrds analysiert. 280 In Meier 1992; vgl. aber auch andere Studien Meiers, z. B. Meier 1977.
5.6 Die „Gattungstonarten“ William Byrds: Ein Rückblick
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ßen281: Fantasien sowie Pavanen und Galliarden. Eine solche Verfahrensweise, die zu den zentralen kompositionstechnischen Merkmalen eines Komponisten gehörte, dessen Schlüsselposition in der elisabethanischen Musikkultur nicht in Zweifel zu ziehen ist282, kann im Kontext dieser Kultur nicht als Ausnahme behandelt werden. Es ist auch fraglich, ob man überhaupt von einer „abendländischen“ Modalität des 16. Jh. sprechen kann, wenn man eine ganze Teiltradition der westeuropäischen Musik aus den Betrachtungen ausschließt. Meier behandelt in seiner Studie über die Modalität der Instrumentalmusik des 16. Jh. nur ein einziges, kurzes Werk Byrds: das wenig bekannte Präludium FWVB/24 (MB XXVII/24)283. Von John Bull, der auch auf dem Festland tätig war, und dessen Kompositionen für Tasteninstrumente gelegentlich modale Bezeichnungen tragen, wurden immerhin drei Kompositionen angesprochen284, während Thomas Morley mit der Fantasie FWVB/II/124 „mit modal uneinheitlichem Verlauf“ vertreten ist285. Dabei wurden Werke Gibbons’, Farnabys, Tomkins’ und Philips’ von Meier überhaupt nicht berücksichtigt. Im Gegensatz zu dieser recht spärlichen Berücksichtigung auch führender und auf dem Kontinent intensiv rezipierter englischer Komponisten286 wurden in Meiers Studie über Instrumentalmusik des 16. Jh. nicht weniger als 79 Kompositionen eines Christian Erbach und 13 von Antonio Cifra in Betracht gezogen: Werke von Komponisten, die sich in ihrer Arbeit expressis verbis auf die Modalität bezogen hatten287. Die Wahl des Untersuchungsgegenstands richtete sich bei Bernhard Meier offensichtlich zumindest teilweise nach der Konformität mit der anscheinend schon zuvor festgelegten These über die „Realität“ des Modalen. Der Geltungsbereich von Meiers Untersuchungsergebnissen ist daher stark einzuschränken: Sie können kaum als Maßstab für die gesamte europäische Musikkultur des 16. Jh. betrachtet werden. Die traditionelle Modalität, so wie sie Bernhard Meier zu (re)konstruieren versucht hat, ist in MLNB und in der elisabethanischen Musik für Tasteninstrumente allgemein nicht zu Ànden: nur zahlreiche Hinweise darauf, dass sie in der Praxis bekannt war und als (nur) eine der Konstituenten des Kompositionsprozesses gedient hat. Ob es berechtigt ist, diese reichhaltige Tradition aus einer Untersuchung der Tonartbehandlung in der europäischen Instrumentalmusik des 16. Jh. auszuschließen, wie es Bernhard Meier tat, sei nun dahingestellt. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Meiers weitestgehender Ausschluss der englischen Musik aus seinen Untersuchungen über die Tonartbehandlung in der Instrumentalmusik des 16. Jh. in einem gewissen Widerspruch zu seinem eigenen Historismus und dem Interesse am „Speziellen“ steht: Wer sich expressis verbis gegen die hegelianische 281 282 283 284 285 286
Morley 1597/1937, S. 181. Vgl. Teil 1, Kapitel 2.6 sowie Harley 1997, S. 363–368. Vgl. Meier 1992, S. 121. Ebd., S. 106, 122 f, 131. Ebd., S. 156. Vgl. hierzu. etwa Curtis’ Studie über „englische Elemente“ in der niederländischen Musik für Tasteninstrumente des 17. Jh., insbesondere bei Sweelinck (Curtis 1972). 287 Vgl. Meier 1992, S. 13.
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These stellt, dass sich „der wahre Sinn geistiger Erscheinungen […] erst im größeren Zusammenhang [Meiers Anmerkung: ‚d. h. im Nachhinein‘] erschließt“288, sich dabei zum Historismus Rankeschen Typs bekennt289 und für das Konzentrieren auf das „Speziell-Historische“ wirbt290, der dürfte konsequenterweise auch die Kultur einer Epoche nicht als eine homogene Einheit ohne regionale, zeitliche und schließlich auch standesspeziÀsche Differenzen betrachten. Darüber hinaus dürfte er diese Kultur nicht in den Kategorien des Peripheren und des Zentralen behandeln, sonst verrät er gerade das erklärte Interesse am Speziellen. Der historistische Aufruf Meiers, „allererst gleichsam als Schüler“ zuzuhören, „was jene Zeit, der unsere Betrachtungen gilt, von den ‚Gesetzen‘ ihrer Musik auszusagen wusste“291, mag verlockend wirken. Es überrascht aber, dass Meier als Alternative zu diesem gelobten Schülersein nur die (von ihm negativ konnotierte) Position eines „Richters über die Vergangenheit“292 zu kennen scheint, als ob die Position des Forschers zwingend mit einem dieser beiden Konstrukte identiÀziert werden muss. Beim Meierschen Schülersein kann man nicht bleiben, wenn man nicht immer wieder nur einzelne Aspekte einer historischen Musiktradition betrachten und dabei die Musikpraxis, wenn notwendig, entweder den theoretischen Konstrukten unterwerfen oder sie kurzerhand aus den Betrachtungen ausschließen will293. Das rein zuhörende Schülersein kann auch nicht die Frage beantworten, welche Bereiche und welche Aspekte der historischen Theoriebildung für welche Musikpraxis von Relevanz sind. Dazu bedarf es einer kritischen Forschungstätigkeit, die jene Quellen in den Mittelpunkt stellt, die innerhalb eines konkreten Kulturkreises wirklich prägend waren294. Der englische Arzt und Dichter Thomas Campion etwa mag nicht als einer der bedeutendsten europäischen Musiktheoretiker der Epoche rezipiert worden sein, dennoch hat sich im Laufe der vorliegenden Untersuchungen gezeigt, dass gerade seine Tonartenlehre mit der Kompositionspraxis Byrds verwandt war: Campions theoretische Betonung des Maggiore-Minore-Kontrastes hat einen musikpraktischen Kontrapart in den offenbar nach demselben Prinzip geordneten Pavanen und Galliarden in MLNB, während seine Akzeptanz der Obersekunde als Clavis clausularum der duralen Modi in der elisabethanischen Musik für Tasteninstrumente mehrfache Bestätigung Àndet295. Die Untersuchungen über die Tonartbehandlung der in MLNB enthaltenen Kompositionen und die Vergleiche mit anderen Werken der Epoche haben gezeigt, dass die Bezugnahme auf die konkrete, einem Komponistenkreis zugängliche Theoriebildung sowie eine Miteinbeziehung der vom sozialen Umfeld abhängigen Gattungskonstituenten in die Tonartenforschung zu einer Verfeinerung eines auf 288 289 290 291 292 293 294
Hermelink 1960, S. 13; vgl. Meiers Kritik hierzu in Meier 1992a, S. 68. Vgl. Meier 1992a, S. 69. Vgl. Meier 1992, S. 177. Meier 1992a, S. 69. Meier 1992, S. 177. Vgl. auch Dahlhaus’ Kritik an Meier (1974) in Dahlhaus 1976 und 2006a. Diesen Ansatz vertritt, in etwas radikaler Form, auch Jessie Ann Owens (1998); dazu s. u. sowie Unterkapitel 1.1.2. 295 Vgl. hierzu Kapitel 5.3 bis 5.5.
5.6 Die „Gattungstonarten“ William Byrds: Ein Rückblick
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eine Epoche in toto gerichteten musiktheoretischen Historismus führen. Die Analysen der Musik Byrds und anderer englischer Komponisten der Epoche führten zu Ergebnissen, die sich von denen, die Bernhard Meier in seiner Studie über die Modalität der Instrumentalmusik des 16. Jh. vorgestellt hatte, wesentlich unterscheiden: Das Relativieren der Modalität ist in Byrds Musik für Tasteninstrumente auch außerhalb von ornamentalen und virtuosen Abschnitten so umfassend, dass der Begriff „Modalität“ in Bezug darauf nur mit Vorsicht verwendet werden kann. Dieses Relativieren der traditionellen Modi in der englischen Musik für Tasteninstrumente hängt mit den Veränderungen in der englischen Gesellschaft der Tudor-Ära und der gleichzeitigen kulturellen Entfernung des protestantischen Inselkönigreiches vom katholischen Europa zusammen: Dank seiner geographischen Isolation war diese Entfernung und Entfremdung in einigen Aspekten, zu denen die Musikausbildung und insbesondere die Musiktheorie gehörten296, größer als in protestantischen Fürstentümern des europäischen Festlandes. Die englische, staatlich initiierte und getragene Reformation steht in Bezug zum Schwinden der lateinischen Choralkultur und der Kultur des improvisierten Psalmodierens und Diskantierens297. Auch Jane E. Flynn hat in ihrer Studie über Mulliner darauf hingewiesen, dass die englischen Schüler des späten Tudor-Zeitalters nur wenig lateinische Musik kannten und die Chorsänger wenig Erfahrung mit „latin chant“ besaßen, während die weltliche und auch instrumentale Musik immer intensiver in die pädagogische Curricula integriert wurde. Dabei war auch auf dieser Ebene die Literalität für den musikalischen Ausbildungsprozess immer wichtiger geworden, da die Praxis der lateinischen psalmodischen Improvisation überÁüssig geworden war298. Die bereits zitierten Aussagen Campions und Morleys über die Entfernung der literalisierten Musik von dem Bereich des Sakralen sind weitere Zeugen dieses Transformationsprozesses im musikalischen Bildungskanon. Eine Bedeutung für die Herausbildung von Besonderheiten der Tonartbehandlung im England des 16. Jh. in Bezug auf die Tasteninstrumente hatte wohl auch das zeitweilige Verbot des liturgischen Orgelspiels299 und die Aufnahme des Volksliederguts – die musikalische Verschriftlichung des Englischen – in den Kanon der literalen Musik. Schließlich war der „Neue Weg“ der Tonartlichkeit in der englischen Musik für Tasteninstrumente auch durch die mit der Reformation und Entmachtung der Kirche verbundene Bildung des neuen, säkular-adligen Rezipientenkreis geprägt gewesen, der die Kultur der alten Aristokratie mit der humanistischen Kultur des neuen Bildungsadels umfasste und dessen Habitus und Musikkonzepte in der vorliegenden Studie dargelegt worden sind. Der Bezug der durch das Ideal des Ornamentalen geprägten Adelskultur zur Relativierung des Tonartkonzeptes ist dabei insbesondere im Bereich der Variatio-Abschnitte sichtbar, deren konstitutives Kompositionsprinzip die Ornamen296 Ausführlicher hierzu in Owens 1998. 297 Vgl. hierzu etwa die Autobiographie des zeitgenössischen Komponisten Thomas Whythorne (Whythorne 1962, S. 203 f.). 298 Vgl. Flynn 1993, S. 277 f. Zu anderen Aspekten der musikalischen Literalisierung s. Kapitel 3.3. 299 Vgl. Edler 1997, S. 354.
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tierung einer präexstitenten Substanz darstellt. William Byrds Tonartbehandlung, die gleichermaßen aus der Relativierung und Wahrung der Modalität besteht, entfaltet sich zwischen diesen sozialen Faktoren einerseits und seinem eigenen, zur „gravity and piety“300 neigenden Habitus andererseits. Trotz aller Unterschiede zwischen der Tonartbehandlung Byrds und der kontinentalen Moduspraxis scheinen im Lichte der durchgeführten Analysen die Versuche Harold Powers’ und seiner Schülerin Jessie Ann Owens, zwischen (kontinentalen) modes und (englischen) tonalities auf der Ebene der Theorie, beziehungsweise zwischen den modes der Theorie und den tonal types in der Praxis terminologische Trennungslinien zu ziehen301, nicht ganz berechtigt. Gegen diesen Ansatz sind nicht nur allgemeine methodische Einwände zu richten, die in Kapitel 1.1 bereits vorgetragen worden sind. Auch konkret in Bezug auf Byrds Tastenmusik erweist sich der Zugang Harold Powers’ als nicht unproblematisch. Zwar kann der von Powers betonte Konstruktcharakter des Modalitätsbegriffes302 kaum mehr in Zweifel gezogen werden und es ist auch angesichts der Untersuchungsergebnisse der vorliegenden Studie in concreto deutlich geworden, dass in William Byrds Tastenmusik das theoretische Moduskonzept, so wie es in den Traktaten Kontinentaleuropas kodiÀziert wurde, nicht bindend ist. Bei den Tonarten ganzer Kompositionen für Tasteninstrumente handelt es sich jedoch bei Byrd großenteils nicht um Hermelink-Powers’sche „Tonartentypen“303, sondern um Kombinationen von Teiltonarten, wobei diese Teiltonarten mit den traditionellen Modi bedeutende Ähnlichkeiten aufweisen. Ob es berechtigt ist, diese Kombinationen als neue „Tonartentypen“ zu verstehen, ist fraglich. Da Powers’ Begriff tonal type jedoch eine sich mehr oder minder vom theoretischen Moduskonzept unterscheidende Tonart-Entität bedeuten soll, dabei nicht zwingend gattungsbezogen ist und in sich nicht die Idee eines konstitutiven Tonartwechsels trägt, der für einen Großteil Byrdscher Tastenmusik charakteristisch ist, erscheint die Vermeidung des Begriffes tonal type im Rahmen dieser Studie auch im Nachhinein berechtigt. In Bezug auf die „Teiltonarten“, die, wie im Rahmen der vorausgegangenen Analysen geschildert, einen hohen Grad an modaler Konformität aufweisen, können aber sowohl der Modusbegriff als auch die konkreten Modusbezeichnungen (Tonus primus, bzw. Dorisch etc.) ohne Bedenken verwendet werden. Auch in den Gattungen, in denen keine Tonartwechsel stattÀnden – Grounds, Melodievariationen und Battaglia – soll vielmehr von „Gattungstonarten“ als von tonal types die Rede sein, da der letztere Begriff viel zu getrennt vom sozialen Kontext der Musik ist, der für die SpeziÀka von Byrds Tonarten, wie geschildert, von entscheidender Bedeutung ist. Die komplexe Tonartbehandlung Byrds soll, wie es im Rahmen dieser Studie in Bezug auf das in MLNB enthaltene Material versucht wurde, gattungsorientiert beschrieben und im regionalen und sozialen Kontext reÁektiert werden: Sie darf nicht mit einem einzelnen Begriff „wegerklärt“ werden. Eine sinnvolle Analyse von Byrds Tonarten führt daher zwischen Bernhard 300 301 302 303
Peacham 1962, S. 112. Vgl. Owens 1998 sowie Powers 1981, 1989, 1992, 1992a, 1998. Vgl. insbesondere Powers 1989. Vgl. Unterkapitel 1.1.2.
5.6 Die „Gattungstonarten“ William Byrds: Ein Rückblick
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Meier einerseits und Harold Powers und seiner Schule andererseits, aber einigermaßen auch jenseits von beiden: Sie interessiert sich nicht nur für das Musiktheoretische, sondern auch für das GattungsspeziÀsche, das sozial Bedingte und das Subjektive in der Tonartbehandlung304. Der vielleicht treffendste Erklärungsansatz in Bezug auf die Tonartbehandlung Byrds ist weder bei den ausgesprochenen Modusforschern wie Meier und Powers noch im umfangreichen Corpus der Byrdforschung zu Ànden, sondern wurde in Carl Dahlhaus’ Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität skizziert: Dort wurde als Zusammenfassung einer Analyse von Byrds Psalms, Sonnets and Songs (1588) der Begriff „Teiltonart“ eingeführt und die Tonartbehandlung Byrds als zwischen Modalem und Dur-Moll-Tonalem changierend beschrieben305. Zwar bezog sich Dahlhaus an dieser Stelle nicht auf die englische Musiktheorie der Epoche, noch beschäftigte er sich mit den tonartlichen GattungsspeziÀka. Dennoch scheint er einen wesentlichen Aspekt der Tonartbehandlung William Byrds erkannt zu haben: die Benutzung von Elementen der traditionellen Tonartlichkeit als Material für die Schaffung neuer Tonartenkonzepte. Die Untersuchungen der vorliegenden Studie haben Dahlhaus’ Erklärungsansatz durch Analysen von Byrds Musik für Tasteninstrumente zum Teil bestätigt, zum Teil ausdifferenziert und die sozial- und kulturgeschichtlichen Erklärungen für einige der Ursachen von Byrds speziÀscher Tonartbehandlung angeboten. Die Anwendung dieser Analysemethode, die die historische Musiktheorie, GattungsspeziÀsches, sozial- und kulturhistorisch Bedingtes sowie Subjektives berücksichtigt, auf weitere Komponisten und Schulen des 16. und 17. Jh. könnte möglicherweise wichtige Antworten auf Fragen zur „Entstehung der harmonischen Tonalität“ geben.
304 Man muss dennoch zugeben, dass Powers und Owens auch ein – obwohl eher sekundäres – Interesse für den sozialen Kontext, in dem sich die verschiedenen Tonartbehandlungsarten entwickelt haben, an den Tag legen; vgl. hierzu insbesondere Powers 1989, S. 83 f. sowie Owens 1998, S. 230–232. 305 Vgl. Dahlhaus 2001a, S. 234, mit Wendungen gegen Zimmerman 1959, S. 324. Vgl. Kapitel 5.4. Das Potential dieses Ansatzes Dahlhaus’ scheint auch die Powers-Schülerin Jessie Ann Owens erkannt zu haben (vgl. Owens 1998, S. 188).
6. GESELLSCHAFT UND INDIVIDUUM, „ALTES“ UND „NEUES“: ÜBERSCHNEIDUNGEN IN MY LADYE NEVELLS BOOKE. EINE ZUSAMMENFASSUNG Der 16. Lord Petre, ein direkter Nachkomme jenes William Petre, dem die Zehnte Pavane und Galliarde aus MLNB gewidmet sind1, sagte einmal, die nächste englische Königskrönung werde wahrscheinlich im Standesamt von Westminster stattÀnden2. In dieser ironischen Bemerkung spiegelte sich nicht nur die aristokratische Leichtigkeit im Umgang mit der eigenen sozialen Position, sondern auch die gegenwärtige Realität Englands und Großbritanniens wider: Seit mehr als einem Jahrhundert schwindet sowohl die wirkliche als auch die symbolische Macht des englischen Adels unaufhaltsam3: ein Prozess, der mit dem während der Regierung Blair verabschiedeten House of Lords Act von 19994 bestätigt und formalisiert worden ist. Vor diesem Hintergrund liegt es nicht fern, eine anhaltende „Verbürgerlichung“ des Adels in England zu diagnostizieren, die unter anderem darin reÁektiert wird, dass die Aristokratie ihr kulturelles und symbolisches Kapital seit Langem zum ökonomischen Kapital rekonvertiert. Die Beispiele für diesen Prozess sind auch bei den Nachfahren der in dieser Studie behandelten elisabethanischen Familien vorzuÀnden. Longleat Haus, das berühmte Bauwerk von Sir Henry Nevilles Freund Sir John Thynne5, wurde als eines der ersten englischen Adelshäuser der Öffentlichkeit zugänglich6. Castle Howard, der Sitz der Nachfahren von Lord Howard of EfÀngam, dem Sieger über die Spanische Armada (1588), welchem Sir Henry Neville of Billigbear seinen Jagdfalken vermachte7, dient für anspruchsvolle Fernsehproduktionen8. Ingatestone Hall in Essex, der Sitz der Petres, Byrds Patrone und Verwandte der Nevilles of Billingbear, wird heutzutage gelegentlich als „Location“ für Mode-Castings9 verwendet und „Ladye Nevells“ ehemaliges Gut Green1 2 3 4
5 6 7 8 9
Vgl. Kapitel 2.4, 4.2 und 5.3. Lord Petre im Mai 2007 in einem Gespräch mit dem Autor der vorliegenden Studie. Vgl. Cannadine 1990, passim, insbesondere S. 696. Vgl. auch Lacey 1984, S. 204 sowie Becket 1986, S. 468–481. Informationen zur aktuellen Situation in Bezug auf das House of Lords können auf dessen Internetseite gefunden werden: http://www.parliament.uk/lords/index.cfm (abgerufen am 28.04.2009 um 13.25 Uhr). S. etwa auch Strauch 2003, Russel 2000, Pakenham 1999 sowie Richard/Welfare 1999. Zu Thynne vgl. Kapitel 2.3. Vgl. etwa Ziehr 1995, S. 54 f. Vgl. Kapitel 2.3. Etwa das Wiedersehen mit Brideshead nach dem gleichnamigen Roman Evelyn Waughs (Waugh 1949). Persönliche Mitteilung Lord Petre.
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6. Gesellschaft und Individuum, „Altes“ und „Neues“
land (jetzt Greenlands) beheimatet heute die Fakultät für Betriebswirtschaft der Universität Reading10. Von diesem Prozess der intensiven Kapitalrekonversion in Adelsfamilien war auch die Musiksammlung, der die vorliegende Studie gewidmet ist, betroffen: My Ladye Nevells Booke wurde 2006, 415 Jahre nach ihrer Entstehung, vom Eigentümer, dem Marquess of Abergavenny, anstelle der Erbschaftssteuer dem Staat übergeben11. Dabei überstieg der geschätzte Wert des Buches (etwa 1,5 Millionen GBP) sogar die Höhe der Erbschaftssteuer von Lord Abergavenny, so dass die British Library zusätzliche Spenden sammeln musste, um das wertvolle Manuskript zu erwerben12. Dieser Prozess stellt die genaue Inversion des zur Zeit der Entstehung der Sammlung stattÀndenden Prozesses dar, im Rahmen dessen das ökonomische Kapital des Adels in das kulturelle und das symbolische konvertiert wurde: Der englische Säkularadel, der vor dem 16. Jh. seine Position an der Spitze der englischen Gesellschaft, unmittelbar unterhalb des Königs, mit der Kirche teilen musste, übernahm nach der Reformation unter Heinrich VIII. und Elizabeth I. diese Vormachtstellung ganz allein. Durch die zahlreichen, von den Tudors geförderten Familien des aufsteigenden Bürgertums und Freibauerntums ausgeweitet, dank der TudorReformen mehr als zuvor an das HoÁeben gebunden, durch die Rezeption der italienischen, im Werk Castigliones zusammengefassten HoÀdeale sowie durch den EinÁuss des Humanismus in ihrem Habitus transformiert, wurden die Angehörigen der englischen nobility und gentry, zusammen mit dem Königshaus, zu den wichtigsten Patronen der Musik im England des 16. Jh. 13 Die Sammlung MLNB stellt in vielfacher Hinsicht eines der aussagekräftigsten Dokumente dieser Entwicklung dar. Das aristokratische Ehepaar, das hinter der Entstehung der Sammlung stand, stellte schon im genealogischen Sinne eine Fusion des alten, aber durch die Rosenkriege geschwächten Schwertadels mit dem durch Bildung aufgestiegenen Beamtenadel der Tudor-Ära dar: Die Vorfahren Sir Henry Nevilles, dessen Wappen im Manuskript wie eine literalisierte Ankündigung durch einen heraldic minstrel fungiert, waren Könige, Herzöge, mittelalterliche Warlords und normannische Eroberer, während Sir Henrys Frau die Tochter eines aus dem freien Bauerntum durch Bildung gesellschaftlich aufgestiegenen Großsiegelbewahrers Elizabeths I. war14. Auch die Familie Petre, auf deren nahe Verwandtschaft mit der Familie Neville of Billingbear im Rahmen der vorliegenden Studie erstmalig hingewiesen wurde, entstammte einer Familie des aufgestiegenen Freibauerntums15. 10 11 12 13 14 15
Vgl. Kapitel 2.3. Die Sammlung war seit ihrer Entstehung nicht kontinuierlich im Besitz der Nevilles; diese Tatsache ist aber für die Fragestellung der vorliegenden Studie unerheblich (zu diesem Themenkomplex s. insbesondere Harley 2005a). Persönliche Mitteilungen von Lady Angela Nevill, Dr. Nicholas Bell (BL) und Christopher Foley. Vgl. Homepage von BL: http://www.bl.uk/reshelp/Àndhelprestype/music/ladynev/ladynev.html (abgerufen am 28.04.2009 um 13.26 Uhr). Vgl. Kapitel 2.6. Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. Kapitel 2.4.
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Die auf diese Weise transformierte elisabethanische Aristokratie vertrat ein einerseits höÀsches, andererseits humanistisch geprägtes Musikkonzept, das durch den Rezeptionsbegriff delight am besten dargestellt werden kann: ein von dem Bereich des Sakralen entferntes Konzept, das sensuell und ornamental zugleich sowie auf die „humanen“ Disziplinen Poesie und Rhetorik bezogen war16. Der Musik für Tasteninstrumente kam innerhalb dieses Konzeptes eine besondere Rolle zu. Sie wurde als aristokratische Musik schlechthin aufgefasst, die der Adel, mit der Königin an der Spitze, nicht nur rezipierte, sondern auch selbst reproduzierte. Eine kompetente Beschäftigung mit dieser Musik setzte mehrere elitäre Eigenschaften voraus: das Verfügen über das ökonomische Kapital, um die Instrumente und das durch Musikunterricht „inkorporierte“ kulturelle Kapital (einschließlich der musikalischen Literalität) zu erwerben sowie sich die aristokratische privacy leisten zu können, in welcher man sich dieser Musik widmen konnte. Es gibt mehrere ReÁexionsebenen, auf denen die im Rahmen der vorliegenden Arbeit geschilderten Entwicklungen in der elisabethanischen Gesellschaft in MLNB erkennbar werden. Sie scheinen entweder mit dem Bereich des durch die primären Sozialisierungsprozesse maßgeblich geprägten Geschmacks zusammenzuhängen oder über die Ebene des Bildungsprozesses entstanden zu sein. Dabei sind in den Untersuchungen nicht nur die ReÁexionen sozialer Prozesse, sondern auch Spuren von individuellen Geschmacks- und Bildungselementen sowohl des Komponisten als auch der Patronsfamilie festgestellt worden. Die offensichtlichste der ReÁexionsebenen ist jene, die die englische aristokratische Identitätskonstruktion allgemein und die der Nevilles of Billingbear in concreto mit der Auswahl und der Reihenfolge der in MLNB enthaltenen Kompositionen verbindet17: Keine einzige Komposition mit kirchlichem oder „para-sakralem“ Hintergrund ist in der Sammlung zu Ànden18. Demgegenüber weist die große Mehrheit der Stücke in MLNB einen deutlichen Bezug zur weltlichen Adelskultur auf. Die Auswahl der Kompositionen macht aus MLNB ein Kompendium aristokratischer Musikkultur: Sein Inhalt bezieht sich auf die Hofkultur, die Kriegsführung, das Landleben und die königliche Jagd. Dabei Àndet diese Bezugnahme auf verschiedenen Ebenen statt. In manchen Werken ist sie programmatisch (The Battle), in manchen dagegen nominell und mit einer präexistenten melodischen Vorlage verbunden (Hunt’s up, My Lord Willoughby’s Welcome Home), in anderen wiederum gattungsmäßig (Pavanen und Galliarden). Auch durch die Widmungspraxis entsteht ein offensichtlicher Bezug der Sammlung zur Welt der elisabethanischen Aristokratie. Jedoch weisen gerade die drei ausdrücklich Lady Neville gewidmeten Kompositionen keine expliziten gattungsmäßigen oder programmatischen Verbindungen zur Adelswelt auf: Es handelt sich um zwei Grounds (Nr. 1 und 2) und eine Fantasie, die Voluntary for My Lady Nevell (Nr. 26). Waren die 16 17 18
Zu diesem Themenkomplex vgl. Kapitel 2.6. Vgl. Teil 4. Dadurch unterscheidet sich MLNB etwa von FWVB und ERVB sowie insbesondere vom früheren Mulliner, in denen mehrere Kompositionen mit kirchlichem Hintergrund zu Ànden sind. Rein säkular sind dagegen die Inhalte von Parthenia und PBVB.
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Grounds als Widmungsstücke für weibliche Angehörige der gentry schon davor vertreten19, stellt die Voluntary for My Lady Nevell als Widmungsstück einen Einzelfall dar, was als möglicher Hinweis auf den gebildeten Geschmack der Widmungsträgerin betrachtet werden kann20. Das Stück gehört nicht nur zu einer ausgesprochen kontrapunktischen und dadurch „gelehrten“ Musikgattung, die von Thomas Morley als „the most principall and chiefest kind“ der Instrumentalmusik bezeichnet wurde21. Auch die in ihrer an Zarlino erinnernden modalen Regelmäßigkeit innerhalb von Byrds Schaffen singuläre – dadurch für den kompetenten zeitgenössischen Rezipienten wahrscheinlich gleichzeitig „italienisch“ wirkende – Tonartbehandlung22 in der Voluntary for My Lady Nevell deutet auf die Richtigkeit dieser These hin. Bezeichnend wirkt in diesem Kontext auch die Tatsache, dass neben der Voluntary Nr. 26 auch das Lady Neville gewidmete Chi passa, eine villota alla padoana, deren Urform 1557 publiziert worden war23, einen italienischen Hintergrund aufweist. Das kann einerseits als zusätzlicher Hinweis auf die humanistische Gelehrsamkeit der Widmungsträgerin dienen, andererseits auch als eine Anspielung auf die Reisen ihres Ehemannes in Italien und seinen Aufenthalt ausgerechnet in Padua in den Fünfzigerjahren des 16. Jh., während der Regentschaft der Königin Mary24, verstanden werden. Durch die Ausweitung der Untersuchungen auf andere Komponisten der elisabethanischen Epoche ist deutlich geworden, dass in der Tastenmusik der Tudor-Ära Widmungen an aristokratische Frauen in mehreren Gattungen zu Ànden sind, während die Widmungen an männliche Adelsangehörige in der Regel bei den Hoftänzen, den Pavanen und Galliarden, nachgewiesen werden können; das weist möglicherweise auf einen genderspeziÀschen Unterschied in der Musikausübung hin. Während das maskuline Musizieren, im Einklang mit Castigliones Idealen, auch einen Gebrauchswert gehabt hat – das Unterhalten und Beherrschen des anderen Geschlechts – beinhaltete das Musizieren der Frauen diesen Aspekt nicht25. „Der Antagonismus im Lebensstil“ zweier Pole der als „Elite“ wahrgenommenen Gesellschaftsgruppen, der Gelehrten und der Begüterten, über welchen Pierre Bourdieu in Bezug auf das 20. Jh. schrieb26, ist – mutatis mutandis – schon im elisabethanischen England zu beobachten: Die Nevilles of Billingbear und die Bacons bilden einen solchen Kontrast. Die Fundamente der elitären Geschmacks- und Lebensstilformen späterer Epochen scheinen schon in der Tudor-Ära existiert zu haben. In Bourdieus berühmter soziologischer Analyse der Lebensstile elitärer Ge19 20 21 22 23 24 25 26
Vgl. Kapitel 5.4. Vgl. Kapitel 5.2. Morley 1597/1937, S. 181. Vgl. hierzu Kapitel 5.2. Vgl. Kapitel 5.4 sowie Neighbour 1978, S. 130 f. Vgl. Kapitel 2.3 und 2.6 sowie HC, Bd. III, S. 124. Vgl. hierzu Kapitel 5.4. Dieses Thema konnte im Rahmen der vorliegenden Studie nur Áüchtig angesprochen werden und verdient es, als Desiderat der Genderforschung betrachtet zu werden. Vgl. das Kapitel „Die Varianten des herrschenden Geschmacks“ in Bourdieu 1987, S. 442–462, sowie passim.
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sellschaftsgruppen der späten Neuzeit stehen auf der einen Seite die Herren über das ökonomische Kapital mit ihrer Vorliebe für Jagd, Pferderennen, historische Lektüre und Variété, während den anderen Pol die Intellektuellen darstellen, Rezipienten von klassischen und avantgardistischen Theaterstücken und „klassischer Musik“27. Als historisches Analogon und die Urformen der Lebensstile späterer – genealogisch loser – Elitegruppen stehen im England des 16. Jh. auf der einen Seite die Altadligen wie Sir Edward Neville mit seiner Vorliebe für merry songs und Ritterturniere28 sowie sein Sohn Sir Henry Neville of Billingbear mit seinem starken Hang zur heraldischen Selbstdarstellung und seiner Beschäftigung mit der Jagd29. Im Zeitalter des Humanismus hätte für diese traditionsbewussten gentryAngehörigen etwa die Beschreibung des altadligen Lord Fermor aus Oscar Wildes – genau 300 Jahre nach MLNB entstandenem – Das Bildnis des Dorian Gray (1891) zutreffen können: „His principles were out of date, but there was a good deal to be said for his prejudices.“30 Auf der anderen Hemisphäre des herrschenden Standes im elisabethanischen England positionierten sich Menschen wie der gebildete Rechtsanwalt Sir Nicholas Bacon, der Lord-Großsiegelbewahrer Englands und seine Kinder: Elizabeth, die spätere Widmungsträgerin von Byrds „gelehrter“ Voluntary (Nr. 26), mit ihrer Identitätskonstruktion als humanistische Bildungspatronin, sowie ihr Bruder, der Philosoph Francis Bacon. In der Tat ist diese historische Parallele zu den soziologischen und ethnologischen Lebensstil-Analysen Bourdieus kein „Zufall“: Noch Norbert Elias hatte auf die frühe Einbeziehung von bürgerlichen Intellektuellen in die Welt des Hofes in Frankreich31 hingewiesen; eine ähnliche Entwicklung fand im England des Tudor-Zeitalters statt, als Menschen wie Thomas More unter Heinrich VIII. sowie Nicholas und Francis Bacon unter Elizabeth I. und Jakob I.32 die höchsten Staatsämter bekleideten und dadurch der Geschmack und der Lebensstil des aufsteigenden und nobilitierten Bildungsbürgertums und Freibauerntums zu einem Teil des herrschenden Geschmacks und Lebensstils im bourdieuschen Sinne wurden33. 27 28 29 30 31 32 33
Bei Bourdieu (ebd.) handelt es sich natürlich um die Eliten Frankreichs; eine Parallele zum Geschmack der heutigen englischen Eliten scheint aber insbesondere hinsichtlich der ersten genannten Gruppe gegeben zu sein. Vgl. Kapitel 2.6. Vgl. Kapitel 2.3. Wilde 2005, S. 194. Dies etwa im Gegensatz zu Deutschland: Vgl. Elias 1997, insbesondere Bd. 1; vgl. Bourdieus positive Rezeption Elias’ in Bourdieu 1987, S. 132. Zur aktuellen Elias-Rezeption in den Kulturwissenschaften s. etwa Opiz 2005. Jakob I. gehörte schon der Dynastie Stuart an. Vgl. Kapitel 2.6. Die Parallelen in Lebensstilen zwischen den heutigen Elitegruppen in Bourdieus Analysen und den Eliten im elisabethanischen England bedeuten natürlich nicht, dass es sich um die gleiche Art der Verteilung des ökonomischen Kapitals handelt: Die genannten Bildungsaufsteiger der Tudor- und Stuart-Ära gehörten teilweise auch zu den Herren über das ökonomische Kapital, während das symbolische Kapital – wie in Kapitel 2.3 demonstriert – dennoch ein essentielles Charakteristikum des Altadels war.
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Die „Varianten des herrschenden Geschmacks“ im elisabethanischen England sind am Beispiel von MLNB im Antagonismus zwischen der „Ladye Nevell“ gewidmeten, gelehrten Voluntary und den anderen Fantasien einerseits und den Kompositionen wie The Battle, die eher der traditionellen Welt des Altadels entsprechen, andererseits festzustellen. Daher ist MLNB nicht ein einheitlicher „Adelsspiegel“, sondern ein vielschichtiges musikhistorisches Dokument, in welchem auch die subtilen Differenzierungen innerhalb des sozialen Umfelds, in dem die Sammlung entstanden ist, erkennbar werden. Die Auswahl der in MLNB enthaltenen Kompositionen dürfte auch Assoziationen zur unmittelbaren Umgebung der Nevilles beinhalten. So steht der eine Schlacht mit den Iren programmatisch darstellende Battaglia-Zyklus höchstwahrscheinlich in Bezug zu Sir Henry Sidney, einem Freund Sir Henry Nevilles, der als Lord Deputy in Irland die Königin vertrat. Es konnten auch weitere Irlandbezüge in der Sammlung festgestellt werden – z. B. bei der Pavane Kinborough Good und Sellinger’s Round – deren mögliche Bedeutung jedoch nach wie vor unklar ist34. Am markantesten ist jedoch der Bezug zu William Petre, dessen Pavane und Galliarde das Konzept der Sammlung durchbrechen und anscheinend dem Kopisten Baldwin nachträglich vorgelegt worden sind35. Durch die im Rahmen dieser Studie durchgeführte genealogische Forschung36 konnte festgestellt werden, dass William Petre der Enkel von Sir Henry Nevilles nächstgeborener Schwester Frances war und dass Sir Henry und Sir John Petre, Williams Vater, gleichzeitig in denselben parlamentarischen Ausschüssen mitgearbeitet haben, so dass diese Bezüge eine wahrscheinliche Erklärung für die Aufnahme der beiden Tanzsätze in die Sammlung trotz einer „Fehlplatzierung“ liefern37. Die gleichzeitige Präsenz von William Petre, dem Erben einer der bedeutendsten römisch-katholischen Familien Englands, und der protestantischen Lady Neville als Widmungsträgerin in MLNB zeugt auch von der konfessionsmäßigen Neutralität der Sammlung: Sie ist nicht, wie etwa David Price vermutet hatte38, das Produkt des kulturellen Umfelds englischer Kryptokatholiken, sondern ist entscheidend durch die säkular-aristokratische Kultur der elisabethanischen Epoche geprägt. Die gesellschaftlichen Veränderungen des Tudor-Zeitalters sind in MLNB auch auf der Ebene der musikalischen Literalisierung erkennbar. Dabei handelt es sich erstens um die Tatsache, dass sich nun auch die bedeutenden Komponisten der literalen Musik immer intensiver den Gattungen der „leichten Musik“ widmen – was Thomas Morley beklagte – und dass diese Gattungen einen deutlichen Bezug zum sozialen Kontext der bedeutendsten Musikpatrone aufweisen39. Darüber hinaus ist eine Spur des aristokratischen Geschmacks auch in der immer intensiveren Literalisierung von Ornamentation und von Variatio-Abschnitten überhaupt zu sehen. 34 35 36 37 38 39
Vgl. Kapitel 4.1. Vgl. Kapitel 4.2. Vgl. Kapitel 2.4 sowie die genealogischen Tabellen in Anhang B zu Teil 2. Vgl. Kapitel 2.4. Vgl. Price 1981, S. 162; s. Kapitel 2.4. Vgl. Morley 1597/1937, S. 179; s. Unterkapitel 3.3.1.
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Das Ornamentale – eines der zentralen Konzepte des aristokratischen Lebensstils, das auch den Bereich der Bildung umfasste40 – wird auch durch die immer präzisere Literalisierung der Ornamentik in der Musik kanonisiert. Castigliones höÀsche grazia wird zur musikalischen grace, die in der elisabethanischen Musik für Tasteninstrumente kein „Beiwerk“ zu sein scheint, sondern als eines der konstitutiven Elemente des musikalischen Satzes behandelt wird41. Diese literalisierte grace wird zur Quelle jenes delight, das – um wieder einen Terminus Bourdieus zu benutzen – auf der Basis des „legitimen“ Geschmacks des herrschenden Standes steht42. Diese These bestätigen insbesondere die Ausführungen George Puttenhams, in denen die Musik im Zusammenhang mit der Poesie betrachtet und das Ornamentale ausdrücklich als Auslöser von delight beschrieben wird; dass Puttenham, ein Castiglione-Verehrer43, dabei das Ornament in der Poesie gerade mit den prachtvollen Kleidern der großen Hofdamen vergleicht44, ist bezeichnend: Es wird deutlich, dass seine Poesie- und Musikkonzepte einen direkten Bezug zur Welt des elisabethanischen Adels aufweisen; dieser „großen Welt“ gehört und gebührt das Ornamentale und ihr ist das delight der Musik und der Poesie. Die kanonisierte Position des Ornamentalen ist in MLNB wie in keinem anderen elisabethanischen Manuskript erkennbar, denn hier wurden die musikalischen Ornamente nicht nur vom Kopisten John Baldwin zusammen mit dem Haupttext eingetragen, sondern auch von einem anderen zeitgenössischen musicion nachträglich hinzugefügt. Erst durch die im Rahmen der vorliegenden Studie durchgeführten Untersuchungen ist das beeindruckende Ausmaß dieser Hinzufügungen deutlich geworden45. Essentiell erscheint dabei, dass die Ornamentik im Manuskript sowohl vom Schreiber als auch vom Korrektor genauso sorgfältig und systematisch behandelt wurde, wie die Elemente der Stimmführung und der Klanglichkeit. Die vielschichtigsten – und angesichts des Mangels an ähnlich ausgerichteten Untersuchungen vielleicht wichtigsten – ReÁexionen der sozialen Prozesse der Tudor-Epoche konnten auf der Ebene der Tonartbehandlung und der zeitgenössischen englischen Theoriebildung festgestellt werden. Diese Sound-and-SocietyReÁexionen46 stehen in deutlichem Bezug zu den Veränderungen in Bildungsprozessen sowie mit dem damit verbundenen Geschmack der herrschenden Gesellschaftsgruppe. Nicht zu übersehen sind dabei insbesondere die nebeneinander existierenden Prozesse der Relativierung und der konventionellen Behandlung von Tonarten in Byrds Tastenmusik. Dieser Antagonismus ist zum einen im Kontrast zwischen den „exponierenden“, nicht ornamentierten Formteilen und den darauf bezogenen diminuierten Abschnitten zu erkennen. Die instrumentale und ornamentale Konzeption der Musik, die einen offensichtlichen Bezug zum Geschmack des 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Kapitel 2.6. Vgl. Kapitel 3.3. Vgl. Kapitel 2.6. Vgl. Kapitel 2.6. Vgl. Puttenham 1589/1962, S. 199; vgl. Unterkapitel 3.3.2. Vgl. Kapitel 3.1 sowie die kommentierte Liste in Anhang B zu Teil 3. Hier als Anspielung auf Martin 1995 gemeint.
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herrschenden Standes aufweist, verdrängt in diminuierten Abschnitten die tonartimmanenten Konzepte und lässt sie angesichts der freien Melodieentfaltung am deutlichsten durch die Klauseldisposition erkennen: Eine Tonartkonzeption, die dadurch „harmonisch“ geprägt zu sein scheint. Hierin wird der Bezug der sozialen Prozesse zur Entwicklung der harmonischen Tonalität sichtbar. Zum zweiten ist der Antagonismus zwischen Relativierung und Wahrung der überlieferten Tonartkonzepte in dem Unterschied zwischen der großformatigen tonartlichen Planung der Kompositionen einerseits und der modalen Disposition von einzelnen Abschnitten andererseits festzustellen. Die tonartliche „Gesamtkonzeption“ ganzer Stücke basiert bei Byrd großenteils auf unterschiedlichen Methoden des Tonartwechsels, während die einzelnen Abschnitte innerhalb der traditionellen Modi bleiben und vielfach mit den Konventionen der kontinentaleuropäischen Modustheorie und – praxis vereinbar sind47: eine Technik, die insbesondere in Tanzsätzen konstitutiv wirkt, in denen sich der jeweils mittlere von drei Formteilen innerhalb einer anderen Tonart entfaltet48. So wird der Bezug des sozial Bedingten und GattungsspeziÀschen zum Tonartlichen noch einmal deutlich erkennbar. Die Prozesse der konzeptionellen Tonartrelativierung außerhalb der VariatioAbschnitte scheinen primär durch die englische staatliche Reformation und den damit verbundenen Bruch in der Choraltradition, die auch die zeitgenössischen englischen Musiker beklagten, verursacht gewesen zu sein49. Trotz aller kulturellen Kontakte wurde England als Inselkönigreich im 16. Jh. von dem Corpus der lebendigen modalen Kultur des Festlandes zum großen Teil isoliert. Die zuweilen Áüchtige Behandlung der Modalität bei Morley, Campion und Butler bestätigt das50. Andererseits sprechen die grundsätzlichen Ausführungen dieser Autoren, insbesondere die der ersten beiden Musiker und Musiktheoretiker, dafür, dass die englische Tonartauffassung des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jh. in ihrem Kern mit der kontinentalen Auffassung vergleichbar war, so dass davon auszugehen ist, dass die Kultur der Modalität vorwiegend durch die kompositorische Praxis überliefert wurde. Eine Bestätigung dafür ist auch Morleys eigene Berufung auf das „iudgement of the composer“, wenn es um entscheidende Fragen der Tonartbehandlung geht51. Zwei bedeutende Merkmale der Tonartbehandlung in MLNB weisen einen direkten Bezug zur englischen Musiktheorie auf, vor allem zu jener Thomas Campions: die Relevanz des duralen beziehungsweise mollaren Charakters der Tonarten und die Akzeptanz der Obersekunde als reguläre Klauselstufe in duralen Modi. Der Maggiore-Minore-Kontrast, artikuliert auf dem Kontinent auch vor Campion, aber bei ihm zum ersten Mal zum essentiellen Charakteristikum der Tonartbehandlung hervorgehoben52, ist zum einen in dem Systemwechsel zum Cantus durus an den 47 48 49 50 51 52
Vgl. Teil 5. Vgl. Kapitel 5.3. Vgl. Kapitel 5.6. Vgl. Kapitel 5.1. Morley 1597/1937, S. 147. Vgl. Kapitel 5.1. Vgl. Kapitel 5.1.
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Endungen der mollaren Variationsreihen, insbesondere Walsingham, festzustellen53. Zweitens basiert die Reihenfolge der numerisch geordneten Pavanen und Galliarden im zentralen Teil von MLNB anscheinend auch auf demselben Prinzip54. Diese vergleichsweise neue Akzentsetzung ist kein direkter Hinweis auf das Etablieren der Dur-Moll-Tonalität; sie relativiert dennoch das traditionelle Tonartkonzept insofern, als sie sich den überlieferten KlassiÀkationsmerkmalen zugesellt und im Kompositionsprozess entscheidend mitwirkt. Die Bedeutung der Obersekunde der Tonart als Clavis clausularum, die sowohl in Campions Theorie55 als auch in der Musikpraxis Byrds und seiner Zeitgenossen56 hervorsticht, dürfte zumindest zum Teil auf die Vorlagen aus dem Bereich der englischen Volksmusik zurückgehen: Denn sie ist in der Tat in Variationsreihen auf Themen mit volksmusikalischem Hintergrund am häuÀgsten vorzuÀnden. Dennoch ist sie in einen Kontext integriert, der in vielfacher Hinsicht modale Charakteristika trägt. Insofern wäre die Konstruktion musikalischer englishness in Bezug auf dieses musikalische Corpus, die etwa Oliver Neighbour andeutet57, etwas voreilig. In seiner Art der Tonartbehandlung unterscheidet sich William Byrd von den anderen bedeutenden Komponisten der Epoche, insbesondere von John Bull und Orlando Gibbons. Bei Bull und Gibbons erscheinen die Tonartrelativierung umfassender und die instrumentale, „virginalistische“ Konzeption entscheidender zu sein als bei Byrd, wobei andererseits der Hang zum Tonartwechsel weniger hervorsticht. Byrds speziÀsche Form von gleichzeitiger Relativierung und Wahrung der alten Tonarten hat dabei ihre Ursachen wahrscheinlich im persönlichen Habitus und Bildungshintergrund des Komponisten. Im Unterschied zu Bull und Gibbons wurde Byrd nicht im universitären Rahmen ausgebildet, sondern er entstammte der musikalischen Bildungstradition im kirchlichen und höÀsch-sakralen Rahmen58. Von seinem anzunehmenden Lehrer Thomas Tallis ist sogar bekannt, dass er die kontinental-europäische Musiktheorie rezipiert hatte, die bekanntlich auch eine komplexe Moduslehre umfasste59. Byrds Hang zur Wahrung der modalen Eigenschaften bei aller Relativierung ihrer Position im Kompositionsprozess kann daher mit seinem Bildungsweg und seiner persönlichen Neigung zu „gravity and piety“60 in Verbindung gebracht werden. Auch individuelle Unterschiede im Geschmack der Patrone mögen im Einzelfall für Byrds Tonartbehandlung eine Bedeutung gehabt haben. Dafür spricht die Voluntary for My Lady Nevell, ein polyphones Werk von singulärer modaler Regelmäßigkeit, die sich bis in die virtuosen Abschnitte hinein erstreckt. Wie bei der 53 54 55 56 57 58 59 60
Vgl. Kapitel 5.4. Vgl. Kapitel 5.3. Vgl. Campion 1967a, S. 214 sowie Kapitel 5.1. Vgl. insbesondere Kapitel 5.4 und 5.5. Vgl. Neighbour 1978, S. 123; vgl. Kapitel 5.4. Vgl. Kapitel 5.6 sowie Harley 1997, passim. Vgl. Kapitel 5.1 sowie Harley 2005, S. 3 f. Peacham 1962, S. 112.
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Wahl der Gattung Fantasie für ein der Lady Neville zu widmendes Stück, so mag auch in Bezug auf die Tonartbehandlung der gelehrte Hintergrund der Patronin für die modale Strenge der Komposition verantwortlich gewesen sein61. So erschließt sich uns die komplexe Tonartbehandlung Byrds in seinen Kompositionen für Tasteninstrumente durch eine Verschränkung der sozialhistorischen und biographischen Perspektiven. Die erstere führt zu einer Erklärung über die Tonartrelativierung im England des 16. Jh., die zweitere vermag das für William Byrd Charakteristische in der Tonartbehandlung zu erleuchten. Antagonismen der Forschungsansätze, die die Entfaltung der Tonartkonzepte entweder durch soziale Faktoren oder durch individuelle Geistestätigkeit erklären62, sollten daher generell zugunsten einer holistischen Methode aufgegeben werden, die diese beiden Elemente berücksichtigt und sie im Analyseprozess einander ergänzen lässt. Für diese „praxeologische“ Vorgehensweise63 ist, wie die vorliegende Studie zu zeigen bestrebt war, auch intensives Transportieren der durch spezielle fachwissenschaftliche Forschungsansätze gewonnenen Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen auf die Ebene der theoretischen ReÁexion notwendig. Selbstverständlich sind nicht alle im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersuchten Bezüge des Sozialen und des Individuellen zum musikalischen Material ausschließlich für MLNB charakteristisch. Die Abwesenheit der liturgischen oder „para-sakralen“ Kompositionen ist schon im früher entstandenen Dublin Manuskript sowie in späteren Sammlungen der englischen Musik für Tasteninstrumente, etwa in Parthenia und PBVB, festzustellen. Der aristokratische Aspekt der Musik für Tasteninstrumente ist einerseits durch Widmungen, andererseits durch die vertretenen Gattungen auch in anderen Sammlungen der Musik für Tasteninstrumente aus dem 16. und 17. Jh. erkennbar64. Auch die Literalisierung des Ornamentalen und der kompositionstechnischen Einzelheiten Àndet in anderen Quellen statt. Schließlich ist naturgemäß auch die Relativierung der traditionellen Tonarten ein Merkmal der elisabethanischen Musik für Tasteninstrumente, das nicht primär mit einer einzelnen Sammlung zusammenhängt. Die hervorgehobene Position von MLNB innerhalb des Corpus der englischen Musik für Tasteninstrumente des 16. und 17. Jh. besteht aber darin, dass es alle diese Charakteristika auf besonders repräsentative Weise besitzt: Das Ehepaar Sir Henry und Lady Neville stellt die Zusammensetzung der englischen Elite des 16. Jh. in nuce dar. Die sorgfältige Wahl und die Reihenfolge der Stücke, die mit der Kultur und den Musikkonzepten der elisabethanischen Aristokratie zusammenhängen, sind nur für MLNB charakteristisch65. Singulär ist ebenfalls die Voluntary for My Ladye Nevell als Widmungs61 62 63 64 65
Vgl. Kapitel 5.2. S. beispielsweise die Positionen von Susan McClary in Bezug auf die harmonische Tonalität sowie jene Nicholas Temperleys, kritisch diskutiert in Martin 1995, S. 154 f. Zu diesem Terminus vgl. Unterkapitel 1.1.1. Vgl. insbesondere die Inhalte von Dublin, Parthenia, FWVB und ERVB. Obgleich der Aspekt der Wahl (nicht der Reihenfolge) von Stücken mit vorwiegend aristokratischem Hintergrund auch in der Sammlung Parthenia zu Ànden ist, die einem noch höher stehenden aristokratischen Ehepaar (Prinzessin Elizabeth Stuart und Kurfürst Friedrich von der Pfalz, s. Kapitel 2.6) gewidmet wurde.
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stück und in Bezug auf ihre geschilderte Tonartbehandlung. Die Literalisierung von kompositorischen Einzelheiten Àndet in MLNB nicht nur durch den Kopisten statt, sondern wird auch nachträglich durchgeführt. Im Bereich der Tonartbehandlung wird die Dominanz der später von Campion kodiÀzierten Maggiore-Minore-TonartenklassiÀkation durch die Reihenfolge von Pavanen und Galliarden im zentralen Teil der Sammlung sichtbar. So reÁektiert MLNB – mit jenem berühmten Sonderling aus Dostojewskis Vorwort zu Die Brüder Karamasoff vergleichbar66 – gerade durch seine Einzigartigkeit die sozialen Prozesse des elisabethanischen Englands deutlicher als es die anderen Sammlungen dieser Art tun. Die vorliegenden Untersuchungen zu My Ladye Nevells Booke haben gezeigt, dass die Ära der Renaissance in England mehr als nur jene Burckhardtsche „Mutter und Heimat“ der modernen Kultur67 gewesen war. Sie beleuchteten vielmehr die Vielschichtigkeit der Kultur dieser Epoche, die Verzahnung von Elementen mittelalterlicher Kultur mit den Aspekten des Humanismus und der italienischen Renaissance. Diese Verzahnung ist auf der Ebene des Sozialen zwischen den verschiedenen Elitegruppierungen, verkörpert in den Familien Neville und Bacon, festzustellen. In der Sammlung selbst spiegelt sie sich in der Präsenz von ReÁexionen uradliger, ritterlicher Kultur (Battaglia, Jagd) einerseits und denen des neuen, „zivilisierten“ Adelslebens am Hofe (Pavanen und Galliarden) sowie der humanistischen Bildung (Fantasien) andererseits wider. Der musikalische Satz der Fantasien kann jedoch in seiner deutlichen Bezugnahme auf die Vokalpolyphonie und die Modalität auch als ein transformierter Aspekt mittelalterlicher Moduskultur verstanden werden, während die Satztechnik des Battaglia-Zyklus offensichtlich weniger auf alten Vorbildern beruht und die traditionelle Tonartenlehre darin eine sekundäre Rolle spielt: Das satztechnisch „Neue“ wird für die Repräsentation des ideengeschichtlich und sozial „Alten“ verwendet und umgekehrt. Andererseits verstand zumindest der Byrd-Schüler Thomas Morley die Modalität seiner Epoche als einen „Schatten“ der ursprünglich antiken Modi68, so dass die modale Regelmäßigkeit aus der Sicht eines elisabethanischen Komponisten einen humanistischen Rückgriff auf die klassische Antike hätte darstellen können69. Gleichzeitig dürfte das scheinbar „Neue“ in der englischen Musik, etwa die Akzeptanz der Obersekunde als Klauselstufe sowohl in der Praxis als auch in der Theorie, auf alte Vorbilder im Volksliedergut zurückgehen. Es ist daher offensichtlich, dass eine scharfe Trennung zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“, dem „Mittelalterlichen“ und dem zur „Renaissance“ Gehörenden in der elisabethanischen (Musik)kultur ein forciertes 66 67
68 69
Vgl. Dostojewski 1987, S. 8. Dass bei Dostojewski der Sonderling den Geist der Epoche besser darstellt als das Gros der Menschen, mag allerdings womöglich als eine ReÁexion des Geniekultes verstanden werden. Jacob Burckhardt schrieb 1858 an König Maximilian II. von Bayern über sein Werk Die Kultur der Renaissance in Italien (1860): „Die Renaissance sollte dargestellt werden, insofern sie Mutter und Heimat des modernen Menschen geworden ist, im Denken und EmpÀnden sowohl als im Vorbild.“ Zitiert nach Buck 1990a, S. 6. Zur kritischen Burckhardt-Rezeption im 20. Jh. s. etwa ebd. sowie die anderen Aufsätze in Buck 1990. Vgl. Morley 1597/1937, S. 147. Vgl. Kapitel 5.1.
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Konstrukt wäre. Man kann dennoch die verschiedenen Quellen dieser Elemente in den Entwicklungen der Gesellschaft und der Individuen aufspüren und ihre Wege durch Bildung und Geschmack hin zum musikalischen Material und der Kompositionspraxis beobachten. Wenn einige dieser Quellen und dieser Wege durch die vorliegende Studie etwas deutlicher geworden sind, dann hat sie ihr Ziel erreicht.
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A RC H I V F Ü R M U S I K W I S S E N S C H A F T
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BEIHEFTE
Herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck.. Franz Steiner Verlag
ISSN 0570–6769
24. Martin Zenck Die Bach-Rezeption des späten Beethoven Zum Verhältnis von Musikhistoriographie und Rezeptionsgeschichtsschreibung der Klassik 1986. IX, 315 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-03912-0 25. Herbert Schneider Jean Philippe Rameaus letzter Musiktraktat Vérités également ignorées et interessantes tirées du sein de la Nature (1764). Kritische Ausgabe und Kommentar 1986. VII, 110 S., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-04502-3 26. Thomas Röder Auf dem Weg zur BrucknerSymphonie Untersuchungen zu den ersten beiden Fassungen von Anton Bruckners Dritter Symphonie 1987. 232 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-04560-2 27. Matthias Brzoska Franz Schrekers Oper „Der Schatzgräber“ 1988. 209 S. mit zahlr. Notenbeisp., Ln. mit Schutzumschlag ISBN 978-3-515-04850-2 28. Andreas Ballstaedt / Tobias Widmaier Salonmusik Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis 1989. XIV, 458 S. mit 22 Notenbeisp., 69 Abb. und 9 Tab., geb. ISBN 978-3-515-04936-3 29. Jacob de Ruiter Der Charakterbegriff in der Musik Studien zur deutschen Ästhetik der Instrumentalmusik 1740–1850 1989. 314 S., geb. ISBN 978-3-515-05156-2 30. Ruth E. Müller
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Erzählte Töne Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert 1989. 177 S., geb. ISBN 978-3-515-05427-8 Michael Maier Jacques Handschins „Toncharakter“ Zu den Bedingungen seiner Entstehung 1991. 237 S., geb. ISBN 978-3-515-05415-4 Christoph von Blumröder Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens 1993. IX, 193 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-05696-3 Albrecht von Massow Halbwelt, Kultur und Natur in Alban Bergs „Lulu“ 1992. 281 S. mit 91 Notenbeisp. und 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-06010-3 Christoph Falkenroth Die „Musica speculativa“ des Johannes de Muris Kommentar zur Überlieferung und Kritische Edition 1992. V, 320 S., geb. ISBN 978-3-515-06005-7 Christian Berger Hexachord, Mensur und Textstruktur Studien zum französischen Lied des 14. Jahrhunderts 1992. 305 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-06097-9 Jörn Peter Hiekel Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter 1995. 441 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-06492-3 Rafael Köhler Natur und Geist Energetische Form in der Musiktheorie 1996. IV, 260 S., geb. ISBN 978-3-515-06818-X
38. Gisela Nauck Musik im Raum – Raum in der Musik Ein Beitrag zur Geschichte der seriellen Musik 1997. 264 S. mit 14 Notenbeisp. und 27 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07000-1 39. Wolfgang Sandberger Das Bach-Bild Philipp Spittas Ein Beitrag zur Geschichte der BachRezeption im 19. Jahrhundert 1997. 323 S., geb. ISBN 978-3-515-07008-7 40. Andreas Jacob Studien zu Kompositionsart und Kompositionsbegriff in Bachs Klavierübungen 1997. 306 S. mit 41 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07105-9 41. Peter Revers Das Fremde und das Vertraute Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption 1997. 335 S., geb. ISBN 978-3-515-07133-4 42. Lydia Jeschke Prometeo Geschichtskonzeptionen in Luigi Nonos Hörtragödie 1997. 287 S. mit 41 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07157-1 43. Thomas Eickhoff Politische Dimensionen einer Komponisten-Biographie im 20. Jahrhundert Gottfried von Einem 1998. 360 S. mit 1 Frontispiz und 4 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07169-5 44. Dieter Torkewitz Das älteste Dokument zur Entstehung der abendländischen Mehrstimmigkeit Eine Handschrift aus Werden an der Ruhr: Das Düsseldorfer Fragment 1999. 131 S. und 8 Farbtaf., geb. ISBN 978-3-515-07407-4 45. Albrecht Riethmüller (Hg.) Bruckner-Probleme Internationales Kolloquium vom 7.–9. Oktober 1996 in Berlin 1999. 277 S. mit 4 Abb. und 48 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07496-1
46. Hans-Joachim Hinrichsen Musikalische Interpretation Hans von Bülow 1999. 562 S. mit 70 Notenbeisp. und 10 Taf., geb. ISBN 978-3-515-07514-3 47. Frank Hentschel Sinnlichkeit und Vernunft in der mittelalterlichen Musiktheorie Strategien der Konsonanzwertung und der Gegenstand der musica sonora um 1300 2000. 368 S., geb. ISBN 978-3-515-07716-2 48. Hartmut Hein Beethovens Klavierkonzerte Gattungsnorm und individuelle Konzeption 2001. 432 S. mit 70 Notenbeisp. und 47 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07764-2 49. Emmanuela Kohlhaas Musik und Sprache im Gregorianischen Gesang 2001. 381 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07876-2 50. Christian Thorau Semantisierte Sinnlichkeit Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners 2003. 296 S. mit zahlr. Notenbeisp. und Abb., geb. ISBN 978-3-515-07942-4 51. Christian Utz Neue Musik und Interkulturalität Von John Cage bis Tan Dun 2002. 533 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07964-5 52. Michael Klaper Die Musikgeschichte der Abtei Reichenau im 10. und 11. Jahrhundert Ein Versuch 2003. 323 S. und 19 Taf., geb. ISBN 978-3-515-08212-3 53. Oliver Vogel Der romantische Weg im Frühwerk von Hector Berlioz 2003. 385 S. mit 102 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08336-7 54. Michael Custodis Die soziale Isolation der neuen Musik Zum Kölner Musikleben nach 1945 2004. 256 S., geb. ISBN 978-3-515-08375-8 55. Marcus Chr. Lippe
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Rossinis opere serie Zur musikalisch-dramatischen Konzeption 2005. 369 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08586-6 Federico Celestini Die Unordnung der Dinge Das musikalische Groteske in der Wiener Moderne (1885–1914) 2006. 294 S. mit 86 Notenbeisp. und 9 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08712-5 Arnold Jacobshagen Opera semiseria Gattungskonvergenz und Kulturtransfer im Musiktheater 2005. 319 S., geb. ISBN 978-3-515-08701-x Arne Stollberg Ohr und Auge – Klang und Form Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker 2006. 307 S. mit 27 Notenbeisp. und 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08868-7 Michael Fend Cherubinis Pariser Opern (1788–1803) 2007. 408 S. mit 2 Notenbeisp. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08906-7 Gregor Herzfeld Zeit als Prozess und Epiphanie in der experimentellen amerikanischen Musik Charles Ives bis La Monte Young 2007. 365 S. mit 60 Notenbeisp. und 13 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09033-9 Ivana Rentsch Anklänge an die Avantgarde Bohuslav Martinůs Opern der Zwischenkriegszeit 2007. 289 S. mit 63 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08960-9 Frank Hentschel Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik 2007. 277 S. mit 6 Notenbeisp. und 4 Abb., geb.
ISBN 978-3-515-09109-1 63. Simon Obert Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2008. 307 S. mit 37 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09153-4 64. Isabel Kraft Einstimmigkeit um 1500 Der Chansonnier Paris, BnF f. fr. 12744 2009. 348 S. mit zahlr. Notenbeisp., 71 Abb. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08391-1 65. Frédéric Döhl „… that old barbershop sound“ Die Entstehung einer Tradition amerikanischer A-cappella-Musik 2009. 294 S. mit 46 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09354-5 66. Ulrich Linke Der französische Liederzyklus von 1866 bis 1914 Entwicklungen und Strukturen 2010. 311 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09679-9 67. Irene Kletschke Klangbilder Walt Disneys „Fantasia“ (1940) 2011. 205 S., geb. ISBN 978-3-515-09828-1 68. Rebecca Wolf Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat Ein musikalisches Experiment um 1810 2011. 242 S. mit 33 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09381-1 69. Kordula Knaus Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber Cross-gender Casting in der Oper 1600–1800 2011. 261 S. mit 5 Abb. und 34 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09908-0 70. Christiane Wiesenfeldt Majestas Mariae Studien zu marianischen Choralordinarien des 16. Jahrhunderts 2012. 306 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-10149-3
Die elisabethanische Epoche wird traditionell als „goldenes Zeitalter“ der englischen Musik für Tasteninstrumente wahrgenommen – mit William Byrd, John Bull und Orlando Gibbons als „Triumvirn“ dieser Gattung. Diese Vorstellung mag idealisiert sein, es ist dennoch nicht zu bestreiten, dass das elisabethanische Zeitalter zumindest eine Welle der Verschriftlichung sowie bedeutende Veränderungen in der Kompositionstechnik der Tastenmusik hervorgebracht hat. Am Beispiel der Sammlung My Ladye Nevells Booke, die 42 Stücke William Byrds enthält, untersucht Tihomir Popović so-
wohl die sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergründe dieses Phänomens als auch seine musikalische Qualität. Im historischen Teil der Studie steht das Milieu der elisabethanischen Aristokratie, in dem die Sammlung entstand, im Fokus der Aufmerksamkeit. Im analytischen Teil geht der Autor auf die Intensität der Verschriftlichung kompositionstechnischer Einzelheiten ein sowie auf die Wahl der Gattungen für My Ladye Nevells Booke und auf die Veränderungen in der Kompositionstechnik auf der Ebene der Tonartbehandlung. Die Ergebnisse stellt er dabei in den Kontext der sozial- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen.
www.steiner-verlag.de
ISBN 978-3-515-10214-8