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German Pages 320 Year 2013
Musil-Forum
Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne
Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Norbert ChristianWolf und Rosmarie Zeller
Band 32 · 2011/2012
De Gruyter
Redaktion: Harald Gschwandtner
ISBN 978-3-11-033962-8 e-ISBN 978-3-11-034057-0 ISSN 1016-1333 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz und Druckvorlage: Martin Dieringer Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Editorial Seit einigen Jahren setzt sich auch im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb das in der angelsächsischen Welt längst etablierte Evaluierungs- und Begutachtungsverfahren für Periodika durch. Band 31 des Musil-Forums hat dementsprechend nicht nur das neue Herausgeberteam vorgestellt, sondern – den sich verändernden wissenschaftlichen Gepflogenheiten entsprechend – auch die Einrichtung eines Advisory Boards angekündigt, das die beiden Herausgeber bei der Entscheidung über die Aufnahme von Beiträgen durch ein Votum unterstützen soll. Die für den vorliegenden Band erfreulicherweise gewonnenen Kolleginnen und Kollegen, deren Namen auf der folgenden Seite angeführt sind, hatten die Aufgabe, jeweils die anonymisierten Manuskripte zu begutachten (peer-review-Verfahren mit blind submission) und ein bestimmten Gesichtspunkten folgendes schriftliches Votum abzugeben, das die Entscheidung über Aufnahme oder Ablehnung erleichtert. Sämtliche eingereichte Artikel werden diesem Verfahren unterworfen. Den Autorinnen und Autoren wiederum werden diese Gutachten in anonymisierter Form mitgeteilt, damit sie im Fall der Annahme die formulierten Anregungen und Einwände noch berücksichtigen können, im Fall der Ablehnung aber auch Transparenz über die der Entscheidung zugrunde liegenden Argumente entsteht. Der vorliegende Band 32 ist nun der erste, zu dessen Vorbereitung dieses relativ aufwendige Verfahren angewendet wurde. Er sollte nach den ursprünglichen Planungen bereits Ende 2012 mit dem Schwerpunktthema »Neue Ansätze der Musil-Forschung: Drei Frauen« erscheinen. Mittels eines auf der Homepage der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft (IRMG) sowie im Internetforum »H-Germanistik« veröffentlichten Call for Papers wurden Beiträge erbeten, die exemplarische Textanalysen zur Musils bekannten Novellen auf der Basis aktueller und avancierter literaturwissenschaftlicher Ansätze präsentieren. Ein Ziel dieser Vorgehensweise bestand darin, neue Untersuchungs- und Interpretationsmöglichkeiten der Musil-Forschung anhand innovativer Methoden der Literatur- und Kulturwissenschaft zu erproben und öffentlich zur Diskussion zu stellen. Darüber hinaus waren weiterhin Aufsätze zu Leben und Werk Musils, zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts und zur Literatur der klassischen Moderne erwünscht. Die Resonanz auf den Call for Papers war quantitativ durchaus beachtlich und hat das Herausgeberteam vor keine geringe Aufgabe gestellt, galt es doch, die gelungensten bzw. in unterschiedlicher Hinsicht innovativsten Einreichungen auszuwählen und diejenigen Texte abzulehnen, die nicht auf Zustimmung
VI
Editorial
der eingeholten Gutachten gestoßen sind bzw. deren Verfasserinnen oder Verfasser nicht bereit waren, die erbetenen Überarbeitungen vorzunehmen. Dies war eine nicht immer angenehme Aufgabe. Nicht zuletzt aus dem umgestellten Auswahlverfahren resultiert nun die knapp einjährige Verzögerung bei der Fertigstellung und Auslieferung des Bandes mit dem Themenschwerpunkt »Drei Frauen: Neue Perspektiven«. Wir hoffen, dass die Qualität des Ergebnisses den betriebenen Aufwand rechtfertigt. Der kommende Band 33 soll in seinem thematischen Schwerpunkt das IRMG-Kolloquium »Robert Musil und das literarische Leben seiner Zeit« dokumentieren, das unter der Leitung von Walter Fanta von 12. bis 14. April 2012 am Robert-Musil-Institut Klagenfurt stattgefunden hat. Dort wurden auch die im vorliegenden Band abgedruckten Aufsätze von Roland Innerhofer und Dominik Müller mündlich vorgestellt, die wir wegen des begrenzten Bandumfangs ›vorgezogen‹ haben. Da uns ein guter Teil der restlichen Tagungsbeiträge mittlerweile ebenfalls bereits vorliegt, hoffen wir, die im Band 31 angekündigte Überwindung des eingetretenen zeitlichen Rückstandes durch ein Erscheinungsdatum des Bandes 33 im Sommer 2014 endlich realisieren zu können. Norbert Christian Wolf, Rosmarie Zeller
Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Klaus Amann (Klagenfurt) Maximilian Bergengruen (Genf) Ulrich Boss (Bern) Karl Corino (Tübingen) Axel Dunker (Bremen) Walter Fanta (Klagenfurt) Anne Fleig (Berlin) Almuth Grésillon (Paris) Dirk Göttsche (Nottingham) Wolfram Groddeck (Zürich)
Christoph Hoffmann (Luzern) Alexander Honold (Basel) Gunther Martens (Gent) Inka Mülder-Bach (München) Birgit Nübel (Hannover) Wolfgang Riedel (Würzburg) Ritchie Robertson (Oxford) Sabine Schneider (Zürich) Peter Utz (Lausanne) Karl Wagner (Zürich)
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Themenschwerpunkt: »Drei Frauen. Neue Perspektiven« Walter Fanta: Die Erfindung der Tonka. Eine textgenetische Lektüre des Tonka-Dossiers . . . . . . . . . . . . . . .
1
Rosmarie Zeller: Musils Arbeit am Text. Textgenetische Studie zu Grigia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Oliver Böni: ». . . wie in einem Teppich verwoben«. Gleichnistexturen in Robert Musils Grigia . . . . . . . . . . .
65
Todd Cesaratto: Von Ketten’s Climb. Making a Mark in Robert Musil’s Die Portugiesin . . . . . . . . . . . . . . . .
87
Mareike Schildmann: Ausnahmedichtung. Tonka und das unsichere Wissen vom Exzeptionellen . . . . . . . . . .
106
Abhandlungen Roland Innerhofer: Robert Musils Netz-Werk . . . . . .
130
Claudia Öhlschläger: Komplexität im Kleinen. Polychrone Zeitgestaltung und Medialität bei Ernst Jünger, Robert Musil, Undine Gruenter und Alexander Kluge . . .
147
Dominik Müller: »In Prag gab es doch Aufregenderes zu lesen als Walsereien«. Zur Publikation von Robert Walsers Feuilletontext Hodlers Buchenwald in der Prager Presse
162
Anna Estermann: Panther – Bild – Kraft. Zur Inszenierung (medien-)ästhetischer Konkurrenz in Kafkas Ein Hungerkünstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180
Archiv/Miszellen Harald Gschwandtner: Musil – Schnitzler – Kracauer. Neue Musil-Briefe im Deutschen Literaturarchiv Marbach
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VIII
Inhalt
Karl Corino: Törleß hochgejubelt
. . . . . . . . . . . . .
220
Mathias Mayer: Gäste von oben. Wie Robert Musil Thomas Mann einst zum Geburtstag gratulierte . . . . . . . . . .
221
Wolfram Malte Fues: Geburtstagsgeschenk . . . . . . . .
223
Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
. . . . . . . . .
303
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
306
Redaktioneller Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglen
Walter Fanta
Die Erfindung der Tonka Eine textgenetische Lektüre des Tonka-Dossiers Abstract: This rereading of Robert Musil’s Tonka uses the instruments of the critique génétique as introduced by Almuth Grésillon. At first the paper describes the position of Tonka within the compilation Drei Frauen in terms of the genetic criticism. The main focus is on the five stages of the writing process between 1902 and 1923. 121 manuscript pages of Tonka are preserved in Musil’s literary remains. The traces found in these manuscripts lead to the assumption that there is a cognitive movement, which runs from a dissolution of reality through interpretation to a permanent imaginary narrative. This movement follows a path that leads from remembering to inventing a truth. Musil first collected ideas for a novel and very late came to the decision to write a novella unconnected to the novel.
1. Der methodologische Ansatz Der vorliegende Beitrag berichtet von einer textgenetischen Lektüre zu Tonka, ähnlich wie Rosmarie Zeller dies in diesem Heft des Musil-Forums zu Grigia tut. Damit soll die Methode der critique génétique an Musils Drei Frauen erprobt werden, ein Unterfangen, welches bislang noch aussteht. Die bisherigen Berührungen mit der Entstehungsgeschichte der drei Novellen geschahen entweder im Kontext ihrer Edition, zur biographischen Aufklärung oder als Instrument der literaturwissenschaftlichen Deutung, ohne dass dabei wirklich alle Textzeugen gewürdigt worden wären. Einige Interpretationen der Drei Frauen haben auf die Bezugnahme zur Textgenese aus guten methodologischen Gründen Verzicht geleistet, um sich die Lektüre des literarischen Texts nicht durch biographistische Ablenkung verderben zu lassen. So erklärt Villö Huszai in ihrer Studie Ekel am Erzählen zur Erforschung der Metafiktionalität im Werk Robert Musils, warum sie bei der Lösung des Kriminalfalles Tonka nicht in der Entstehungsgeschichte des Textes und damit möglicherweise in der Biographie des Autors stöbern wollte: »Denn der Autor hat seine Energie beim Schreiben verbraucht; mit potentieller Energie, mit der Möglichkeit zu handeln, sind nur Leserinnen und Leser ausgerüs-
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Walter Fanta
tet.«1 Das »Lesen als Utopie«2 zwingt die »Leserin«,3 sich der Lektüre der entstehungsgeschichtlichen Zeugnisse zu verweigern: Der [. . .] Nachlass enthält vielfältiges Material zur Novelle Tonka. [. . .] Ich habe das in der Forschung noch kaum ausgewertete Material trotzdem nicht in den Argumentationsgang integriert und als Belegmaterial verwendet. Denn dies stünde quer zum Verfahren respektive Leistungsanspruch der vorliegenden Arbeit: Texte, die der Forschung schon länger zugänglich sind, neu zu lesen.4
Dem von Autor und Leserin autorisierten Werk gilt die Lektüre, nicht den allfälligen Paralipomena. Diesem hier von Huszai nicht ohne Exzentrik und nicht widerspruchsfrei5 formulierten Grundsatz gehorcht die Literaturwissenschaft über weite Strecken, sie tut sich schwer mit dem nicht autorisierten Text. Vorgeprägt ist diese Haltung in Walter Benjamins Satz »das Werk ist die Totenmaske der Konzeption«6 und mit dem schroffen Verdikt, das Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie der genetischen Betrachtung erteilt: Kunstwerke sind das Gemachte, das mehr wurde als gemacht. Daran wird gerüttelt erst, seitdem sich Kunst als vergänglich erfährt. Die Verwechslung des Kunstwerks mit seiner Genese, so als wäre das Werden der Generalschlüssel des Gewordenen, verursacht wesentlich die Kunstfremdheit der Kunstwissenschaften; denn Kunstwerke folgen ihrem Formgesetz, indem sie ihre Genesis verzehren. Spezifisch ästhetische Erfahrung, das sich Verlieren an die Kunstwerke, ist um deren Genese unbekümmert.7
Während Benjamins Bild der Totenmaske der Genese immerhin Platz lässt, sich an der Schönheit des zu Tode gekommenen Werdens zu weiden, hat Adornos Metapher des Verzehrtseins kein Verständnis für die Neugierde der Leser an den Herkunftsgeheimnissen und keinen Sinn für den ästhetischen Genuss, den die Lektüre der Zeugnisse der Produktion zu bereiten vermag. Als Mittel der wissenschaftlichen Erkenntnis begreift der methodologische Ansatz der critique génétique eine solche Lektüre, allerdings weder als Mittel zur biographischen Forschung noch als literaturwissenschaftliche 1 2 3 4 5
6 7
Villö Huszai: Ekel am Erzählen. Metafiktionalität im Werk Robert Musils, gewonnen am Kriminalfall Tonka. München 2002 (= Musil-Studien, Bd. 31), S. 21. Huszai (s. Anm. 1), S. 261. Huszai (s. Anm. 1), S. 23: »Die vorliegende Arbeit hält [. . .] die Neutralität des Begriffs ›Leser‹ für nicht gegeben.« Huszai (s. Anm. 1), S. 24 f. Huszai schreibt, dass »die autorisierte Fassung der Novelle mit ihren eigenen Vorstufen abrechnet [. . .]. Wer die Endfassung von Tonka nicht verstanden hat, wird anhand des Vergleichs mit den Vorstufen genau das verstehen, was die autorisierte Fassung in Wahrheit verwirft.« Wer verwerfen will, muss verstehen, muss also lesen. Ob es Huszai einfach unbequem war, sich mit dem schwer durchschaubaren Nachlassmaterial herumzuschlagen? Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 8: Einbahnstraße. Hg. v. Detlev Schröttker. Unter Mitarbeit v. Steffen Haug. Frankfurt a. M. 2009, S. 46–49. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno. Bd. 7: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, S. 267.
Die Erfindung der Tonka
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Interpretationsmethode. Die textgenetische Lektüre zielt auf die Beantwortung anderer Fragen, als es die rezeptionsorientierte Lektüre der Texte tut. Sie fragt zunächst nicht: Was kann ein Text(element) bedeuten? Sie fragt: Wie ist diese Bedeutung entstanden und warum ist diese Bedeutung entstanden?8 Beide Fragen lenken auf ein völlig unterschiedliches Forschungsinteresse; in seinem Fokus stehen nicht die Bedeutungen des Textes, sondern steht das Schreiben als solches, der Schreibprozess zur Disposition, seine Erforschung, auch mit einer über den individuellen Fall hinausreichenden Intention, um Schreibprozesse als künstlerische Schaffensprozesse allgemein besser zu verstehen. Dies mag für eine Historisierung von Schreibstrategien interessant sein, für eine Kulturgeschichte des Schreibens und der Schrift, doch ergibt sich aus dem Ansatz unter Umständen die interdisziplinäre Anbindung der Textgenetik an die Kreativitätspsychologie oder Kreativitätspädagogik und an die Kognitionspsychologie, damit hätten wir uns von den Anliegen und Fragen der literarischen Hermeneutik weit entfernt. Auch die critique génétique ist mittlerweile in die Jahre gekommen, ihr Ansatz hat sich radikalisiert, er ist in seiner Fixierung auf die Pragmatik und Materialität des Schreibens versteinert worden.9 Was der textgenetischen Kritik gut- und vielleicht sogar nottäte, wäre eine Rückbeziehung auf die Ebene der Bedeutungen: In den Brennpunkt des Forschungsinteresses könnte doch wieder die Fluktuation der Bedeutungen rücken. Für das Verständnis der Szenarien, die für das Schreiben Musils wichtig sind, geben die Drei Frauen und gibt im Speziellen Tonka mehr her als es die schier unüberschaubaren Szenerien des riesigen Romanfragments Der Mann ohne Eigenschaften tun. Was hier im Weiteren vorgestellt wird, ist das ›Tonka-Dossier‹ als ein »dossier génétique«,10 textgenetisch gelesen und interpretiert im Sinne Almuth Grésillons. Gemäß einer Devise Ulrichs im Diskurs mit Walter, »man kann nicht, nicht wissen wollen« (MoE, S. 340), werde ich beim Blick in die Schreibwerkstatt Musils allerdings
8
9
10
Vgl. Almuth Grésillon: Bemerkungen zur französischen »édition génétique«, in: Hans Zeller, Gunther Martens (Hg.): Textgenetische Edition. Tübingen 1998 (= Beihefte zu editio, Bd. 10), S. 52–64, hier S. 52 f. Die Grundlegung reicht schon relativ weit zurück, siehe Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«. Bern u. a. 1999 (= Arbeiten zur Editionswissenschaft, Bd. 4). Während sich das Standardwerk von Grésillon noch entschieden offen für nicht im engsten Sinn pragmatische Aspekte des Schreibens zeigt und sich zu den Feldern der kognitiven und psychoanalytischen Schreibforschung sowie der Literatursoziologie und der Narratologie verhält, deuten sich in den Positionen von Pierre-Marc de Biasi, dem aktuellen Leiter des ›Institut des Textes et Manuscrits Modernes‹ in Paris, Tendenzen zur radikalen DeSemantisierung der textgenetischen Lektüre an. Vgl. Pierre-Marc de Biasi: La génétique des textes. Paris 2011. Grésillon: Literarische Handschriften (s. Anm. 9), S. 140: »Ein ›dossier génétique‹ wird verstanden als ›die Summe der schriftlichen Dokumente, die der Genese eines bestimmten Schreibprojektes zugeordnet werden kann, unabhängig davon, ob diese zu einem vollendeten Werk geführt hat oder nicht.‹«
4
Walter Fanta
die Scheuklappen ablegen, »in alle Richtungen lesen«,11 jedem methodologischen Purismus abschwören und alle Fragen zulassen, auch die nach dem Verhältnis der Textzeugnisse zur biographischen Realität,12 denn anders lässt sich das Entstehen des Imaginären und Fiktionalen ja nicht begreifen.
2. Tonka im Rahmen der Drei Frauen Die drei Novellen, welche der Band Drei Frauen vereinigt, stehen nicht nur in inhaltlicher Sicht in einem Spannungsverhältnis zueinander, auch textgenetisch tun sie das; die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Entstehung werfen ein interessantes Licht auf das Verhältnis der drei Novellen zueinander. Ihnen soll hier zunächst nachgegangen werden, die globalen äußeren Unterschiede anhand der überlieferten Textzeugnisse fasst Tab. 1 in Zahlen zusammen.13 Grigia
Die Portugiesin
Tonka
6,5 Jahre
7 Jahre
21 Jahre
Ausgangsereignis Schreibbeginn Abschluss
Palai Juni 1915 Dezember 1921
Bozen 1916 1923
Brünn/Berlin 1902–1906 1923
Manuskriptseiten Notiz Entwurf in Heften in Mappen davon auf Zettel
35 16 19 14 20 1
7 1 6 1 6 0
121 74 47 31 90 73
Zeitspannen
Tab. 1
Dass der Großteil der vorhandenen Textzeugnisse zu Tonka gehört, hängt hauptsächlich damit zusammen, dass Musil in seinen Nachlassmappen nur jene siglierten Materialien aufbewahrte, d. h. 1938 auch noch ins Schweizer Exil mitschleppte, die mit der Romanarbeit zu tun haben. Das trifft 11 12
13
Grésillon: Literarische Handschriften (s. Anm. 9), S. 173. »Die Frage, ob es Grigia wirklich gegeben hat und ob sie die Geliebte Musils oder eines anderen Offiziers war, interessiert hier nicht.« (siehe S. 45) So Rosmarie Zeller in ihrem Beitrag in diesem Band. Die Frage zu beantworten, ob es Tonka wirklich gegeben hat und ob Herma Dietz Musil betrogen und mit wem sie ihn betrogen hat, ist auch nicht das Ziel meines Beitrags. Doch steht die Erfindung der Tonka in Musils Heften und Zetteln in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem, was Musil erlebt und was ihn zum Schreiben bewogen haben mag, wovon er sich weggeschrieben hat, das große Unbekannte, aus der Fiktion nicht mehr Rückführbare. Vgl. KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentare/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen. – Vgl. auch die Grafik in Tab. 2.
1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 Tierbuch/Idyllen
DREI FRA UE N – B UC HA USGA B E
Die Portugiesin (Einzeldruck)
Geisterkatze Kopf-Szene Genovefa/Gobelin
Notizen in Heft II
Musil in Bozen
Die Versuchung der stillen Veronika Tonka Zettelkasten Vakanz der Tonka
4 5
Tonka (Einzeldruck)
Tonka + Rabe
3
Tab. 2: Entstehungsgeschichte der Drei Frauen. Vgl. KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentare/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen.
Grigia (Einzeldruck)
Entwurfsmanuskript (Vorabdruck)
Heustadl-Szene
Notizen in Heft I/II
Musil im Fersental
2
Sterbe-Szene
Heft-Notizen Erste Entwürfe auf Blättern
1
Musil in Berlin
Musil in Brünn
Die Erfindung der Tonka
5
Haus ohne Gegenüber
6
Walter Fanta
eben auf die Hefte und die Zettel der AN-Mappe (AN = »Anfänge und Notizen«14 ) zu. Reinschriftentwürfe zu abgeschlossenen Werkprojekten außerhalb des Mann ohne Eigenschaften hat er prinzipiell nicht aufbewahrt, das von Rosmarie Zeller textgenetisch interpretierte Entwurfsmanuskript von Grigia ist nicht Bestandteil des Genfer (dann römischen, jetzt Wiener) Nachlasses gewesen, sondern über den Antiquariatshandel in die Fondation Martin Bodmer in Coligny/Genf geraten; es handelt sich hier um eine Ausnahme; dem Prinzip entsprechend existiert auch keine Reinschrift oder Manuskriptvorlage für den Druck von Die Portugiesin,15 wie eben auch von den meisten anderen autorisierten Werken Musils. Der Grund für das Vorhandensein von zahlreichem Notizmaterial zu Tonka liegt also darin, dass der Tonka-Plot ursprünglich Teil des Romans sein sollte, aus dem dann später Der Mann ohne Eigenschaften hervorging. Darin unterscheidet sich der Tonka-Bestand in erster Linie von den Entstehungszeugnissen der beiden anderen Novellen, die mit dem Arbeitsprozess an dem großen Roman nichts zu tun haben. Bezeichnenderweise fehlt zu Tonka jegliches Material aus der Schreibphase, in der der Novellenstoff bereits nicht mehr in den Roman integriert war (ab 1921), und vor allem fehlen die Entwürfe, die zur Endfassung der Novelle führen. Gemeinsam ist allen drei Entstehungsprozessen, dass die Arbeit mit Eintragungen in Hefte beginnt, welche Adolf Frisé als Tagebücher veröffentlicht hat: Es handelt sich um Heft I (= Tb I, S. 303–321) und Heft II (= Tb I, S. 323– 352; bei Frisé unter der Bezeichnung »Heft ohne Nummer«) der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre 1915–1920 (Grigia), um Heft II (Die Portugiesin) und um Heft 3 (= Tb I, S. 49–114) bzw. Heft 11 (= Tb I, S. 137–205) der Brünner und Berliner Jahre 1903–1908 (Tonka). Es ist generell zweifelhaft, ob Musils Hefte als Tagebücher zu betrachten sind. In der Klagenfurter Ausgabe sind sie nicht als solche ediert, sondern schlicht als ›Hefte‹, als Schriftzeugnisse sui generis, da sie allesamt in einem Übergangsbereich des literarischen Materialsammelns und Konzipierens anzusiedeln sind.16 Musil transferierte das Notizmaterial aus den Heften in Entwurfsszenen, welche auf Blättern festgehalten sind, die er später mit der Chiffre »AN« siglierte. Der Transfer bedeutet einen weiteren Schritt der imaginierenden und fiktionalisierenden Metamorphose, der Herauslösung aus dem autobiographischen Tagebuch-Zusammenhang. Schon die Hefteintragungen bergen das Moment 14 15
16
KA/Transkriptionen/Mappe IV/2. Der Nachlass enthält unter der Titelvariante »Gobelin« allerdings einen bruchstückhaften Entwurfsanfang zur Portugiesin auf einer Manuskriptseite, der Rückseite eines SchwärmerEntwurfsfragments, das auf 1920 zu datieren ist. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/221. Vgl. Constanze Breuer: Werk neben dem Werk. Tagebuch und Autobiographie bei Robert Musil. Hildesheim 2009 (= Germanistische Texte und Studien, Bd. 82). Auf den Status der Hefte Musils geht Breuer in den Abschnitten S. 11–18, 19–39 u. 49–51 ein.
Die Erfindung der Tonka
7
der Fiktionalisierung, bereits durch die Eintragung ins Heft wird das biographisch Erlebte zu literarischem Material. Doch bei der Übertragung in einen Entwurf auf Blättern entsteht eine imaginierte Szene mit deutlichen Spuren literarischer Gestaltung. Damit sind wir bei einer wesentlichen genetischen Gemeinsamkeit der drei Drei-Frauen-Texte angelangt: Schon die Hefteintragungen, mit denen die Produktion einsetzt, sind nicht als autobiographische Geständnisse zu werten, aus ihnen ist kaum eine einfache Rekonstruktion der historisch-biographischen Realität möglich, da die Aufzeichnungen von allem Anfang an das Streben nach Fiktionalisierung dokumentieren. Die Szenen allerdings, die Musil dann auf AN-siglierten Blättern entwickelte, zeigen sich vollends als bereits ›literarisch verfremdet‹; aus ihnen lässt sich noch weniger der Horizont des Erlebten, sondern mehr die ästhetische Gestaltungsabsicht herauslesen. Dies beweist eine genauere Betrachtung der ›HeustadlSzene‹ (Grigia), der ›Kopf-Szene‹ (Die Portugiesin) und der ›Sterbe-Szene‹ (Tonka). Die ›Heustadl-Szene‹ nimmt Bezug auf den Aufenthalt Musils in Palai 1915, sie befindet sich als einzige der drei Szenen in einem Heft, jedoch in einem Abschnitt des Hefts II, der nicht mehr in die Kriegszeit zu datieren ist, sondern auf Ende 1918/Anfang 1919, betrifft also kein unmittelbar aufgezeichnetes biographisches Erleben, sondern ein erinnertes. Die mit Bleistift geschriebene Szene ist im Unterschied zu den anderen beiden als Notiz gestaltet, nicht als Entwurf.17 Sie ist Teil einer Sammlung von Motiven, welche Musil unter dem Stichwort »Idyllen« anlegte, aus denen unter anderem auch Texte entstehen, die schließlich 1935 in den Nachlaß zu Lebzeiten eingehen. Direkt unter »Idyllen« steht: »Gridschi müßte mit dem Eindruck der Berge von Pergine aus anfangen«.18 Das Wort »Gridschi« steht hier bereits eindeutig als Titel für einen geplanten Text. Auch die ›Heustadl-Szene‹, die im Heft auf Seite 69 folgt, beginnt mit diesem Wort: Gridschi: Zu unserer Alm gehn. Welche Verzauberung. Heustadl: Durch die Fugen zwischen den Balken strömt silbernes Licht ein. Das Heu strömt grünes Licht aus. Unter dem Tor liegt eine dicke goldene Borte. Das Heu riecht säuerlich. Wie die berauschenden Getränke der Neger (aus dem Teig der Brotbaumfrucht und Speichel bereitet). Durch diesen Gedanken entsteht ein wirklicher Rausch. In der Hitze des engen, von gärendem Heu erfüllten Raumes. Das Heu trägt in allen Lagen. Man steht darin bis zu den Waden, zugleich unsicher und überfixiert. Man liegt darin wie in 17
18
Zur Unterscheidung von Notiz und Entwurf vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien u. a. 2000 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 49), S. 54 ff. Diese Unterscheidung wurde für den Mann ohne Eigenschaften getroffen, ist aber in einer vereinfachten Form für den gesamten Schreibprozess Musils charakteristisch. Als ›Notiz‹ sind in der Klagenfurter Ausgabe Nachlassschriften klassifiziert, welchen »selbst nicht die Intention zugrundeliegt, zu einem Teil des zu produzierenden Textes zu werden«, die vorbereitend oder begleitend verfasst sind; als ›Entwurf‹ gilt jene Schrift, »die mit der Absicht entsteht, damit den Text selbst zu formulieren« (S. 54). KA/Transkriptionen/Heft II/64.
8
Walter Fanta
Abb. 1: Heft II/68 f.19
Gottes Hand, möchte sich in Gottes Hand wälzen wie ein Schweinchen. Man liegt schräg und fast senkrecht, wie ein Heiliger, der in einer Wolke zum Himmel fährt.20
Sehr deutlich erkennbar sind die Merkmale der literarischen Gestaltung in dieser bereits zum Entwurf übergehenden Notiz. Es drückt sich nicht mehr das authentische biographische Erleben darin aus, sondern bereits die verzauberte Erinnerung eines »Man« im Fersental, in einer exotisierenden Assoziation mit ›Negern‹ und ihren berauschenden Getränken. Dennoch hat Karl Corino diese Notiz gemeinsam mit einigen anderen in den Heften I und II dazu verwendet, ein Verhältnis Musils mit der Bauersfrau »Gridschi« zu konstruieren, hinter der sich die Magdalene Lenzi (1880–1954) des Grabsteins am Friedhof in Palù/Palai verberge, identisch mit »Lene Maria Lenzi« im publizierten Text von Grigia.21 Die vom Biographen imaginierte ›Heustadl-Szene‹ mit Magdalene erweist sich, bleibt man bei der Lektüre der Heftnotiz, als nicht mehr und nicht weniger als ein ›Heustadl-Erlebnis‹ in »Gridschi«, das Wort steht in der Notiz für den Titel eines imaginierten literarischen Textes. Der Entwurf mit dem ›Kopf-Motiv‹, welches Eingang in die Portugiesin gefunden hat und mit Fug und Recht als das genetische Stammbuchblatt dieser Novelle bezeichnet werden darf, ist nicht in einem der Hefte aufgezeichnet, sondern eng mit Tinte beschrieben auf einer Seite eines Quartblatts mit einer AN-Sigle. Der Entwurf22 steht aber in großer Nähe zu den Eintragungen unter »Idyllen« in Heft II, der Text war offenbar für die selbe Sammlung gedacht, in die auch die ›Heustadl-Szene‹ und andere Palai/Gri19
20 21 22
Die Faksimiles aus Musils Nachlass sind der Klagenfurter Ausgabe entnommen. Die Originale befinden sich im Eigentum der Österreichischen Nationalbibliothek, Sammlung von Handschriften und alten Drucken. Wir danken für die Abdruckgenehmigung. KA/Transkriptionen/Heft II/69. Siehe Abb. 1. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 528. Frisé veröffentlichte den titellosen Entwurf unter dem Titel »Die kleine Geisterkatze in Bozen«; vgl. Tb II, S. 1055–1062.
Die Erfindung der Tonka
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Abb. 2: Mappe IV/2/209.
dschi-Notizen in Heft I und II eingehen sollten.23 Das ›Kopf-Motiv‹ leitet den Entwurf ein: Du bist angekommen. Du hast deine Frau ein Jahr lang nicht gesehn. Ein Jahr Stellungskrieg ohne Ablösung und Urlaub. Zuletzt hatte dieses Jahr zu schaukeln begonnen, anzusteigen begonnen; wie die Meeresfläche vor der Seekrankheit sich hebt. 38° Fieber, 39°, 40°: immer steiler mit jeder Stunde. Dann bist du getragen worden und sacht geschaukelt, auf 40 Graden Fiebern wie auf einem gehobenen Wasserspiegel, den du zugleich von unten, von der matten Seite, von der das Licht weggebrochen ist, gesehn hast. Wochen. Nun steht deine Frau zwischen den müssig [sic] grünen Bäumen der Allee, die vom Bahnhof im Bogen zum Waltherplatz führt, hat dich erwartet und sagt: Gott, dein Kopf ist ja kleiner geworden. Dein Kopf ist kleiner geworden, das bemerkst du nun auch; zum erstenmal. Die weiche Feldkappe, die immer etwas stramm saß, sinkt bei einem leichten Zug bis zum Ohransatz hinunter, der sie aufhält. Dein erster Gedanke ist, daß du dir vielleicht die Haare zu kurz hast schneiden lassen; du weißt im Augenblick gar nicht, ob du überhaupt . . du fährst hin, aber das Haar ist sogar länger als es sein sollte. So wird sich die Kappe geweitet haben, aber sie ist noch ziemlich neu u. wie soll sie sich geweitet haben, während sie unbenutzt neben deinem Bett auf einem Stuhl lag. Also machst du einen Scherz daraus und sagst, daß du wohl im Feld dumm geworden sein wirst. Fühlst natürlich, wie ichlos dieser Scherz ist. Und die Angelegenheit ist natürlich auch nicht beendet. Du schützst vor, daß du dir das Haar glatt streichst oder den Schweiß trocknest, trachtest auch einmal, bloß einen halben Schritt zurückzubleiben und dich halb hinter deine Frau zu schieben und und [sic!] greifst schnell mit zwei Fingerspitzen wie mit einem Tastzirkel deinen Schädel zu beiden Seiten an. Ein 23
Vgl. KA/Transkriptionen/Heft II/55.
10
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paarmal mit verschiedenen Griffen. So wie man die Schädel der Toten prüft, um ihre Rasse festzustellen.24
Der Entwurf befindet sich in der Sammlung der AN-Blätter nach dem Blatt mit der AN-Siglierung Nr. 272, ein Formular mit dem Vordruck »k. u. k. Ministerium des kaiserl. und königl. Hauses und des Äußern«, auf dem Verso beschriftet mit einer in Tinte geschriebenen kompositorischen Notiz unter dem Titel »Genovefa«.25 In dieser legt Musil bereits die historische Dimension der Novelle fest. Die Notiz ist auf den Burgkaplan fixiert, der in der Portugiesin dann vorkommt; sie beginnt folgendermaßen: »Die unleidlich Friedliche. Mit Parteinahme für den Rohling geschrieben. Burg. Burgkaplan; Bauernlümmel mit scholastischer Tünche. Ein durchziehender Humanist, ist vom Pferd gefallen als ein Hase vorbeisprang.«26 Welcher der beiden Schreibanfänge, die einen sehr unterschiedlichen Charakter haben und von Musil erst später (1919/1920) in der AN-Sammlung zusammengelegt worden sind, ist früher entstanden? Das Formular legt eine Datierung der ›Genovefa‹-Notiz auf die Zeit der Tätigkeit Musils im Außenministerium nahe (Januar 1919 bis August 1920). Der ›Kopf-Entwurf‹ bezieht sich auf eine biographische Situation nach dem ersten Frontaufenthalt, dem ersten intensiven Kriegserleben, Musils Wiederbegegnung mit seiner Frau Martha in Bozen (Anfang Mai 1916). Die Niederschrift des Entwurfs erfolgte aber erst im Nachhinein, aus der Erinnerung heraus, der Entwurf ist bereits mit deutlichen Stigmata der Imagination und der Fiktionalisierung ausgestattet. Das zeigt sich in der Du-Form, die für die Perspektivierung des »ichlos« gewordenen Frontheimkehrers gewählt ist. Corino hat die literarische Stilisierung dieser Erinnerung nicht daran gehindert, sie in die biographische Erzählung zurückzuführen. Am 3. Mai kam er in Bozen an, und Martha empfing ihn mit dem fatalen Satz »Gott, dein Kopf ist ja kleiner geworden.« Bei einem Mann, der nicht auf sein Gesicht, aber auf seinen Schädel stolz war, ein kleiner Schock, als wäre im Fieber auch ein wenig von der Gehirnsubstanz geschmolzen. Seine Krankheit, an Hand von deren Symptomen er die des Herrn von Ketten in seiner »Portugiesin« beschrieb, hatte offenbar sein Selbstgefühl verändert.27
Dass es weder möglich ist, aus der autobiographisch motivierten literarischen Imagination das literarische Werk herzuleiten, noch der Entwurf die autobiographische Realität unverändert dokumentiert, sondern dass es sich um literarisch geformte biographische Erinnerung handelt, diese Ansicht vertrat schon 24 25
26 27
KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/209. Siehe Abb. 2. »Genovefa« ist Musils Schreibweise im Manuskript, recte: Genoveva. Gemeint ist wahrscheinlich die legendäre Genoveva von Brabant, die der Sage nach von ihrem Gatten zu Unrecht des Ehebruchs bezichtigt wurde. Mit Musils Portugiesin besteht nur ein sehr vager Zusammenhang. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/207. Corino: Robert Musil (s. Anm. 21), S. 552 f.
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Karl Eibl in seinem Kommentar zu den Drei Frauen. Eibl verband die Konstatierung der »Stilisierungsform« mit einem Räsonnement über »Chance und Elend des Aufsuchens solcher biographischer Bezüge.«28 Grigia und Die Portugiesin stehen also textgenetisch nahe beieinander, hinsichtlich des historisch-biographischen Hintergrunds mit seiner Kriegsverhaftetheit, der Art der ersten literarischen Formung, die zur Märchenhaftigkeit der beiden Novellen führt, und der zeitlichen Erstreckung des Schreibprozesses. Außerdem gehören die Versatzstücke der Grigia und der Portugiesin gemeinsam in den Fundus des zunächst unverwirklichten Projekts »Tierbuch/Idyllen«,29 aus welchem Musil seine Feuilleton-Produktion speiste und aus welcher zuletzt der Nachlaß zu Lebzeiten hervorging. Bei Tonka hingegen ist der zeitliche Abstand wesentlich größer und die historisch-biographische Verankerung, in der Brünner Jugendzeit Musils, eine andere. Tonka ist ursprünglich ein Bestandteil der »Tragödie des Misstrauens«30 als Frühstufe des Romans Der Mann ohne Eigenschaften (1906–1908), außerdem emergieren die beiden Novellen der Vereinigungen in textgenetischer Nachbarschaft.31 Auch im Fall Tonka existiert eine bereits literarisch geformte und zu einem längeren Entwurf gestaltete autobiographische Erinnerung als textgenetische ›Urszene‹. Die ›Sterbe-Szene‹, von Musil selbst als »Schlußszene« betitelt,32 gleicht der ›Kopf-Szene‹ im Dossier der Portugiesin auffallend. Sie befindet sich nicht in einem der Hefte, obwohl das Tonka-Dossier mit Heftnotizen beginnt, sondern auf einem ANBlatt (Nr. 125). Damit liegt die ›Sterbe-Szene‹ im Archivierungssystem Musils von 1919/1920 vor der ›Kopf-Szene‹, fast am Ende der Tonka-Motive (AN 66 bis AN 126). Sie ist mit schwarzer Tinte geschrieben und enthält zahlreiche Korrekturen mit Bleistift aus einer späteren Schreibphase. Vor allem das äußere Erscheinungsbild des Entwurfs ähnelt dem mit der ›KopfSzene‹, indem das Querblatt bzw. das Kanzlei-Doppelblatt eher dicht und ohne einen Rand einzuhalten mit dem Entwurfstext beschrieben ist. Die Be28 29
30 31 32
Karl Eibl: Robert Musil. Drei Frauen. Text, Materialien, Kommentar. München 1978 (= Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 13), S. 101. Das Programm des »Tierbuch[s] (Idyllen)« von 1918/19 sah vor: »Das Fliegenpapier Tanglefoot. Eine Fliege stirbt. Der Feigenbaum am Caldonazzosee (zusammen mit S. Giuliano in der Hand des Mädchens). Das lachende Pferd. Die kleine Geisterkatze in Bozen. Pepi. Hunde in Palai. Schweineschlachten in Palai. Der Löwen Coitus in Schönbrunn (Gridschji). Die Affeninsel in Villa Borghese. Orang Utans (Das Liebespaar). Die Hunde auf der Fram. Tier-Erkenntnis im Grunewald. (Tierbuch eines Menschen, der sich nie Tiere gehalten hat.) Eventuell: Du enthältst Mikroorganismen. Die junge Kuh in Villa Borghese. Krankheit und Gott (Lärchenwald, Wasserfall, Gridschi). Der heilige Berg (Colle di Lana. In der Val Sugana blühten damals schon die Veilchen.) Lawine und Hoblicht. Die Proprietäten des Toten. Der Deserteur. Gott am Isonzo.« (KA/Transkriptionen/Heft II/55) KA/Transkriptionen/Heft 3/58. Ich gehe auf diese werkübergreifende Verzahnung des Tonka-Dossiers im nächsten Abschnitt genauer ein. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/478.
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Abb. 3: Mappe IV/2/478.
schriftungsweise unterscheidet sich deutlich von jener der Hefteintragungen Musils mit Tagebuchcharakter im Dossier der Drei Frauen. Ich zitiere den ersten Absatz des Entwurfs, aus dem der fiktionale Charakter bereits deutlich wird: Schlußszene: Das ärmlich bürgerliche Zimmer in dem Herma starb. Der Mann von der Leichenbestattung kommt und fragt, wann sie Herma abholen sollen. . . »Von der Linie an geht’s schnell, da fahrn wir im Trab. . .« Ein oder das andre der Nachbarsleute steckt sich hinter Frau Prawdzik um die Tote zu sehen. Robert sitzt stumm auf dem zerrissenen roten Samtsofa – er sieht fort die wachsgelben ineinander gesteckten Finger an. Plötzlich fällt ihm ein: sie hing ja an den Gebräuchen ihrer Religion und er schickt Frau Prawdzik um Kerzen und Blumen. Aber es ist Herbst und keine Blumen in der Nähe zu bekommen. Nur Astern und kümmerliche Rosen mit brau-
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nen Rändern an den Blättern. Nur die Kerzen brennen wie es sein soll, mit einem feinen wehmütigen Duft.33
Die Signale fiktionaler Verfremdung in der ›Sterbe-Szene‹ sind unübersehbar, das beginnt schon mit dem Incipit »Schlußszene«, welches dieselbe Funktion innehat wie das unterstrichene Incipit »Gridschi« in der ›Heustadl-Szene‹, nämlich das Imaginierte einem literarischen Projekt zuzuweisen. Die Personen sind bereits zu Figuren mutiert, sie heißen »H.« (= Herma),34 »Frau P.« (= Frau Prawdzik),35 »Robert«, »Gustl«.36 Besonders durch die Perspektivenverschiebung in die 3. Person kommt ähnlich wie durch die 2. Person der ›Kopf-Szene‹ zum Ausdruck, dass die Grenze zur fiktionalen Gestaltung eines imaginierten Geschehens überschritten ist. Die Abfassungszeit ist schwer zu bestimmen, wir kennen weder den Zeitpunkt des Todes von Herma Dietz (Corino vermutet November 1907) noch einen Hinderungsgrund, den Entwurf der »Schlußszene« in eine spätere Produktionsphase zu datieren, in der Tonka bereits als eigenständiges literarisches Projekt bestand.37 Dies alles hat Karl Corino nicht davon abgehalten, sich für die Rekonstruktion der biographischen Wahrheit an die ›Sterbe-Szene‹ zu halten, als einziges Dokument des tragischen Verlaufs der Beziehung zwischen Robert Musil und Herma Dietz, da für dieses Geschehen keine anderen Quellen aufzufinden waren. Corino schreibt zur Schilderung der ›Sterbe-Szene‹, sie »gehört zu den eindrucksvollsten aus Musils Feder überhaupt. Umso bedauerlicher, daß sie der Selbstzensur zum Opfer fiel.«38 Es dürfte aber nicht das Verschweigen der peinlichen biographischen Wahrheit (allein) der Grund gewesen sein, dass Musil die Gestaltung des Abschieds des Protagonisten von der toten Tonka später in der Novelle fallen ließ, die Entscheidung ist vielmehr auch ästhetisch 33 34
35
36
37 38
KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/478. Siehe Abb. 3. Herma Dietz ist Musils Jugendgeliebte vermutlich von Winter 1901/02 bis 1906/07. Biographische Einzelheiten auf der Grundlage von anderen Quellen als Musils literarischen Materialien sind nicht bekannt. Hier noch mit dem Realnamen, was für frühe Entwurfsstufen Musils typisch ist, so zum Beispiel erscheint der spätere Arnheim im Spion und im Erlöser (1920/21) als »Rathenau« (siehe z. B. KA/Transkriptionen/Mappe VII/3/5). Dennoch bildet dieser Personenname quasi den einzigen Brückenkopf zur Realitätsrekonstruktion Corinos. Er schreibt in einer Anmerkung: »Die einzige, per Adressbuch von 1906, [. . .] nachweisbare Adresse, unter der Herma Dietz in Berlin gelebt hat, ist die bei einer Witwe Emilie Prawdzik, geb. Pahlke, in der Elsasser Str. Nr. 90, Hinterhaus IV . Stock (später, zu DDR-Zeiten, Wilhelm-Pieck-Str. 136, heute Torstraße). Das Haus wurde während des II . Weltkriegs zerstört. [. . .] Fest steht anhand von Musils Tagebuchnotizen, daß Herma mindestens von April 1905 bis zu ihrem Tod Untermieterin bei Frau Prawdzik war.« (Corino: Robert Musil [s. Anm. 21], S. 1525, Anm. 7) Corino: Robert Musil (s. Anm. 21), S. 284, schließt aus dem Vorkommen des Namens Gustl in dem Entwurf auf das reale Ereignis, dass »sein Freund Gustav Donath eigens aus München anreiste«; meines Erachtens gehört Gustl als Dialogpartner Roberts in die Dramaturgie der Szene, deswegen ließ ihn Musil in der Imagination anreisen. Sonst hätte ja das Incipit »Schlußszene« keinen rechten Sinn. Es kommen für die Datierung also die Jahre 1908 und 1909 in Frage. Mehr dazu im nächsten Abschnitt. Corino: Robert Musil (s. Anm. 21), S. 284.
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motiviert. Dass Musil die ›Sterbe-Szene‹ bereits zum Zeitpunkt der Abfassung des Entwurfs als narratives Dispositiv betrachtete, geht indirekt aus den abschließenden Anmerkungen hervor: »In der Szene: läuft Robert weg und Herma stirbt allein, – der Majestät des Todes gegenüber wie ein kleines Vogerl, – unter schrecklicher Angst – zweimal schrie sie ›Robert‹. Dazwischen die Szene mit der Mutter, in der die intellektuelle Lösung erfolgt.«39 Musil bezeichnet die ›Sterbe-Szene‹ als »Szene«, über die er kompositorisch frei verfügt, er ordnet die ›Szenen‹ nicht der biographischen Wahrheit folgend an, sondern nach erzählerischen Gesichtspunkten. Wer so verfährt, dem ist auch zuzutrauen, dass er Geschehen und Erleben in der Szene frei erfindet.
3. Das Tonka-Dossier Die 120 Manuskriptseiten im Nachlass, welche der Werkkommentar der Klagenfurter Ausgabe der Tonka zuordnet,40 stellen das textgenetische Dossier der Tonka im Sinne Almuth Grésillons dar,41 die Basis jeder einlässlichen textgenetischen Untersuchung. Grésillons Definition des Dossiers als Summe aller einem literarischen Projekt zugeordneten Manuskripte ergibt Schwierigkeiten, weil Musil die Erzählsubstanz der Tonka eine Zeitlang in einem Roman gestalten wollte, dem auch die Martha- (Rabe-) und GeschwisterliebeSubstanz sowie die Alice-Gustl-Substanz angehören, weshalb eine exakte Abgrenzung und Zuordnung nicht möglich ist. Vollends unerfüllbar bleibt die Grésillon’sche Forderung, innerhalb des Dossiers eine diachrone Anordnung zu schaffen. An der Datierung der Manuskripte scheiterte vor der ersten editorischen Erschließung des Musil-Nachlasses bereits Annette Daigger,42 die Chronologie von Regina Schaunig, die für die Datierungen der Tonka-Manuskripte in der Klagenfurter Ausgabe verantwortlich ist, ist auch nicht in allen Fällen zwingend.43 Eine Ursache für die Datierungsprobleme liegt in der er39 40 41 42
43
KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/479. Vgl. KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentare/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka. Grésillon: Literarische Handschriften (s. Anm. 9), S. 140. Vgl. Annette Daigger: Nachgelassenes Material zu Musils Drei Frauen, in: Marie-Louise Roth, Renate Schröder-Werle, Hans Zeller (Hg.): Nachlaß- und Editionsprobleme bei modernen Schriftstellern. Frankfurt a. M. u. a. 1981 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Bd. 7), S. 77–80. Außerdem halte selbst ich als Mitherausgeber der Klagenfurter Ausgabe die Konstitution eines emendierten Lesetexts unter dem Titel Tragödie des Mißtrauens im Rahmen der Vorarbeit zum Roman im Lesetext-Band 4 Der Mann ohne Eigenschaften – Die Vorstufen durch Regina Schaunig für problematisch. Nach dem nunmehr gewonnenen textgenetischen Wissensstand wäre es besser, die synchronisierende Emendation, die so tut, als gäbe es ein integrales Werkprojekt ›Vorarbeit zum Roman‹ wie Der Spion oder Der Erlöser (wo diese Darstellungsweise gerechtfertigt ist), aufzugeben und stattdessen eine diachron angeordnete Darstellung des Tonka-Dossiers als Lesetext zu bieten.
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wähnten Übertragungspraxis Musils; beim Abschreiben und Selbstzitieren im identischen Wortlaut, sogar unter Beibehaltung der mittlerweile reformierten Orthographie, schleppte er auch die Realnamen (Herma, Robert) in spätere Schreibphasen mit, die er vorher bereits einmal durch fingierte Figurennamen ausgetauscht hatte; dadurch ist ein sonst in der Musil-Philologie verlässlicher Indikator zur Erstellung einer relativen Chronologie ausgefallen. Relativ eindeutig ist die diachrone Ordnung im Bereich der Hefte (Heft 3, Heft 11, Heft 15); innerhalb jener späteren Abschnitte, in denen Musil seine Tonka-Notizen auf Blätter, vor allem auf Zettel schrieb, gelingt es wegen der Selbstzitate und der wechselnden Werkprojektzuordnung kaum, eine chronologische Anordnung bis ins kleinste Detail zu treffen. Hier helfen auch Untersuchungen an der Materialität kaum weiter, da Musil für seine Zettelkästen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die er ab 1919 neu sortierte, über längere Zeiträume wahllos dieselben Papiersorten benutzte, sie zu Zetteln schnitt und für parallel laufende unspezifische Werkvorhaben gebrauchte. Die Befunde beim Studium der Tonka-Genese weisen in eine andere Richtung als die Untersuchung von Rosmarie Zeller in diesem Band, die sich auf einen Vergleich der Manuskriptfassung mit der Druckfassung bzw. auf die Analyse der Korrekturschichten des Grigia-Reinschriftentwurfs gründet. Zu Tonka existieren keine integralen Entwurfsfassungen; gleichgültig, ob in Hefte oder auf Zetteln geschrieben, handelt es sich bei den Tonka-Manuskripten durchwegs um konzeptionelle Notizen, um Sammlungen von Einzelmotiven, um desintegrierte Entwurfsanfänge oder -bruchstücke. Sie geben nicht Zeugnis von einem Elaborationsprozess von Fassung zu Fassung, sondern sie dokumentieren die Spur eines kognitiven Prozesses in der Schrift, den Prozess der Erfindung des Tonka-Plots, sie repräsentieren allesamt eine ›Opusfantasie‹, d. h. die Spur der Ausformung einer Vorstellung von einem erst zu gestaltenden literarischen Werk in einem jahrelangen Imaginationsprozess, dessen Ergebnisse – Gestaltungsversionen – in dem Dossier nicht enthalten sind. Wenn auch nicht alle Fragen der Datierung geklärt sind, so lässt sich das vorhandene Material doch fünf Schreibphasen zuordnen.44
1. Phase (1904–1905): Heft 3 Das Tonka-Dossier beginnt 1904/1905 mit Eintragungen Musils in das Heft 3 zu einer Zeit, als Herma Dietz offenbar noch lebte und die Liebesbeziehung zu Musil allem Anschein nach noch aufrecht war.45 Der früheste Eintrag lautet: »Schicksale. Grauauge (Tonka). Weil er Ingenieur wurde schloß er 44
45
Im Unterschied zur Anordnung in elf Abschnitte durch Regina Schaunig in der Klagenfurter Ausgabe, welche mir zu kleinteilig erscheint. Vgl. KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentare/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka. Ergänzt werden diese Notizen durch zwei auf 1905 datierte Eintragungen in das Heft 11, welche dem Tonka-Projekt zuzurechnen sind. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 11/10 u. 43.
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sich so eng an Herma an. In dem Momente, wo er frei wurde, sah er die Kluft, welche ihn von seinen früheren Ansätzen trennte.«46 Das im Zitat kursiv Gesetzte ist wahrscheinlich ein späterer Zusatz Musils.47 Doch auch das Stichwort »Schicksale« und die dritte Person, in der Musil von sich als Ingenieur spricht, weist die Stelle als Opusfantasie statt als Tagebuchnotiz aus. Eine weitere frühe Idee zu Tonka ähnlichen Zuschnitts ist von Musil selbst datiert, mit 20. April 1905: Zu einer Erzählung: Ein förmlich antinomischer Konflikt ist folgender: Denken wir, ich müßte Herma Fremden überlassen. Was für mich Natur, Treuherzigkeit, Naivität, stärkster Reiz war, ist für den Fremden Mangel an Erziehung, Charakteristikum des ›unter dem Stande‹ usw. Er kann nicht wissen, was mir gerade diese Eigenschaften wurden und muß irgendein Raffinement vermuten (man findet häufig, daß ›solche‹ Mädchen gebildete, einsame junge Männer ›festhalten‹) mit dem sie mich anzog.48
Bereits diese ersten Aufzeichnungen in den Heften zielen auf eine »Erzählung«, bereiten ein literarisches Projekt vor, sind großteils nicht explizit Tagebuch, die Nähe des biographischen Erlebens steht mit der Absicht zu erzählerischer Gestaltung von allem Anfang in engster Beziehung, die kaum aufzulösen ist. So gehen diese Notizen zum Beispiel auch auf den Tod des Mädchens ein, obwohl das biographische Modell Herma Dietz noch lebte:49 Am Anfang und am Ende der Erzählung steht der Tod. Das ist auch so eine lapidare Sache und dadurch eine symbolische Einrahmung. So ist denn auch der Tod zu schildern: unfaßbar groß und faßbar – nur banal. Und dadurch, daß sich am Ende der Anfang scheinbar wiederholt, ist Gelegenheit gegeben, alle Veränderungen zusammenzufassen, die inzwischen vor sich gingen.50
Ganz offensichtlich besteht das Ziel der Niederschrift dieser Notizen in der Erschaffung einer Erzählrealität, nicht in der Rekonstruktion einer erlebten Realität. In Heft 3 existiert kein Ich, bis auf eine Ausnahme, auf die einzugehen sein wird, ist das Ich vertreten durch eine Figur in dritter Person, erst »R.« (Robert), dann von Seite 67 an scheinbar übergangslos »Hugo«; zusätzliche zentrale Figuren sind »H.« (= Herma), »G.« (Gustl) und »A.« (Alice), dann 46 47
48 49
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KA/Transkriptionen/Heft 3/39. Heft 3 ist im Original verloren; der Text der Klagenfurter Ausgabe folgt einer Typoskript-Abschrift Adolf Frisés (1954/55), welches mit Korrekturen von Ernst Kaiser und Eithne Wilkins versehen ist. Textschichten sind anhand der Kaiser/Wilkins-Angaben am Rand in schwarzer Tinte rekonstruierbar, so auch die Zuweisung »Grauauge« und »Tonka« hier als späterer Zusatz. KA/Transkriptionen/Heft 11/10 (Hervorhebung W. F.). Faksimile-Beispiel für Phase 1, siehe Abb. 4. In der Klagenfurter Ausgabe ist diese Hefteintragung auf 1906 datiert. Es wäre allerdings zu beachten, dass die Datierungen in Heft 3 auf biographischen Indizien beruhen, die ihrerseits aus den Heftnotizen abgeleitet sind, wie zum Beispiel der Tod von Herma Dietz durch Corino (November 1907). KA/Transkriptionen/Heft 3/64 (Hervorhebung W. F.).
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Abb. 4: Heft 11/10 (Faksimile-Beispiel für Phase 1).
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gibt es auch noch »Dr. Pf.«51 und weitere Figuren. In dieser Phase bilden die Robert/Herma-Notizen einen integralen Bestandteil der »Geschichte dreier Personen«, von der Musil 1932 in einem Nachwort-Entwurf zum Zweiten Buch, Teil 1, des Mann ohne Eigenschaften berichtet: Ein Versuch, den ich zwei Mal machte, die Geschichte dreier Personen zu schreiben, in denen Walter, Clarisse und Ulrich deutlich vorgebildet sind, endete nach einigen hundert Seiten in nichts. Ich war angeregt zu schreiben, wußte aber nicht, wozu ich es tun solle. [. . .] Damals – ich spreche jetzt wieder von der Zeit, wo ich mich mit dem vermeintlichen zweiten Buch zu tragen begann, – hätte auch die Geschichte ›Tonka‹ hineinkommen sollen, mit der ich inzwischen in dem Novellenband ›Drei Frauen‹ etwas kurz verfahren bin.52
Die Retroperspektive deckt sich mit der Evidenz in Heft 3. Den Notizen fehlt das Telos, sie akkumulieren Einfälle und Überlegungen zu mehreren Untreue-Konstellationen, die sich gegenseitig bespiegeln. Motive und Episoden sind aneinander gereiht, es bleibt bei der reinen Stoffsammlung, die Erzählung besitzt auch im Kopf des Autors noch keine aus den Notizen nachweisbare Struktur, die einzelnen Stellen gedeihen nirgends bis zum Stadium des Entwurfs einer zusammenhängenden Textfassung. In einer Notiz bezeichnet Musil die zu schreibende Geschichte von »R. u. H.« als »Tragödie des Misstrauens«.53 Etliche wesentliche Elemente des ausgestalteten Plots der Endfassung sind in der ersten Phase bereits vorhanden,54 so z. B. das Motiv der »ersten Nacktheit«55 oder das »Rufzeichen«.56 Gegen Ende der TonkaNotizen in Heft 3, nach dem Wechsel des Protagonistennamens zu Hugo, taucht plötzlich doch ein Ich in Heft 3 auf. Tonka. Ich bekam plötzlich Grund zu der Annahme – durch eine neue ärztliche Erklärung des Krankheitsbildes oder anderes – daß sie mir damals vor fünf Jahren doch untreu war. Statt mich aber ganz hoch zu spannen wie damals erregt diese Nachricht
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= Dr. Pfungst. Oscar Pfungst war wie Musil ein Doktorand Carl Stumpfs am Psychologischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Er führte die psychologische Untersuchung im Fall des Pferdes ›Der kluge Hans‹ durch. KA/Transkriptionen/Mappe I/7/36. KA/Transkriptionen/Heft 3/58. Die Tabelle im Tonka-Werkkommentar der Klagenfurter Ausgabe listet exakt 20 Motive in Heft 3 auf, die in der Endfassung vorkommen, und 20 Motive, die nicht vorkommen. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/66: »Das fällt Robert ein, als er Herma zum ersten Mal in der Ungeschicktheit ihrer Nacktheit sieht. Das ergibt eine merkwürdige Situation. Die Begierde, die sonst dabei ist, fehlt«. – KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/128: »Aber da stand sie im Ungeschick ihrer ersten Nacktheit, die Haut schloß sich rührend wie ein zu enges Kleid um ihren Körper; sein Fleisch war menschlicher und klüger als das jugendlich überkluge Denken, und Tonka, als ob sie vor ihm flüchten wollte, der in diesem Augenblick auffuhr, schob sich mit einer merkwürdig ungeschickten und ungewohnten Bewegung ins Bett.« Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/66: »Die Sache mit dem Rufzeichen, diese lächerliche Sache, bringt die Katastrophe (im Kalender).« – KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/ 159: »Und da lag zum Beispiel auch einmal ein kleiner alter Kalender so aufgeschlagen, als
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heute in mir nur ein leises Gefühl einer fast pikanten Überraschung. Tonka wird mir interessant, ich frage mich mit einem fast künstlerischen Interesse, wie dies damals wohl gewesen sein muss – die arme Tonka, die dann darunter so litt! – Es ist gar nichts von Ekel gegen den anderen Mann da, ich fühle mich Tonka sehr nahe.57
Was hat es mit diesem unerwartet wieder auftauchenden Ich auf sich? Dieses verdoppelte und vermischte Ich aus Autor und Figur liefert eine wesentliche Motivierung im Sinne der Interpretation von Huszai, nach der Tonka eine Novelle über die Erfindung des erzählerischen Objekts Tonka vorstellt. Das Ich ist längst erzählende Figur geworden, das Objekt der Erzählung heißt hier längst Tonka, nicht mehr Herma; dem Schreibenden ist es bloß unbequem, den aktuellen fiktiven Figurennamen hinzuschreiben, deswegen schreibt er »Ich«. Das Ich ist es ja auch, dem biographisch etwas widerfahren ist, aber das real Erlebte ist längst nicht mehr Gegenstand der Erzählung, sondern das Erfundene, deswegen heißt es in der Notiz »des Krankheitsbildes oder anderes«, die Gründe zur Annahme werden noch genauer zu erfinden sein. Erfindung ist ein kognitiver Vorgang, »Tonka wird mir interessant« stellt eine kognitive Motivierung dar, das »Interesse« wirkt als Auslöser für den kognitiven Erfindungs- und kreativen Schreibprozess, es ist ein »künstlerische[s] Interesse«; aus diesem heraus fühlt sich das Ich, die schreibende, erfindende, erzählende Instanz, statt den biographischen »Ekel gegen den anderen Mann« zu entwickeln, »Tonka sehr nahe«.
2. Phase (1905/1906): erste Entwürfe auf Blättern Nach der Stoffsammlung in Heft 3 sind erste zusammenhängende Entwürfe auf losen Blättern entstanden, Schaunig datiert sie auf November 1907 bis Frühjahr 1908. Diese Datierung folgt allerdings der biographischen Chronologie von Corino, welche ich für eine verlässliche absolute Chronologie nicht als gesichert genug einschätze, doch dürfte feststehen, dass diese erste entwurfsmäßige Ausgestaltung von Szenerien zwischen Heft 3 und der anschließenden Konzeptionsphase ›Tonka + Rabe‹ anzusiedeln ist. Ein in Heft 4 eingelegtes Blatt bringt eine porträthafte Beschreibung der körperlichen Erscheinung Hermas in einer für Musils Produktionsweise völlig untypischen lateinischen Schönschrift. Die Seite beginnt mit der Bleistift-Nummerierung 130 und einem mit Tinte geschriebenen Vorwortentwurf zum Törleß, das neben dem Maeterlinck-Zitat, welches die Buchausgabe als Motto ziert, auch einen Ausspruch Oscar Wildes enthält. Auf der unteren Hälfte des Blatts ist in vertikaler Schreibrichtung das Herma-Porträt in lateinischer Schönschrift verfasst; daran schließt, ebenfalls in vertikaler Schreibrichtung, ein Entwurfsanfang in Bleistift und in Kurrentschrift an, der nach acht Zeilen unleserlich
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hätte Tonka eben in ihm geblättert, und in der weiten, weißen Ebene eines Blattesstand, wie eine Pyramide der Erinnerung zu einem Tag gesetzt, ein kleines rotes Rufzeichen.« KA/Transkriptionen/Heft 3/78 (Hervorhebungen W. F.).
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Abb. 5: Heft 4/Einlage 11 (Faksimile-Beispiel für Phase 2).
wird, da das Blatt an dieser Stelle beschädigt ist, es wurde offenbar aus einem Heft herausgerissen. Das Schönschriftporträt Hermas zitiere ich hier mit den beiden Einleitungs- und Schlusssätzen, aus denen seine textgenetische Funktion hervortritt:
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Ihre Beine waren vom Boden bis zum Knie solang wie vom Knie nach oben und überhaupt waren sie lang und des Laufens fähig. Ihr Leib war schlank, fast mager und nur die Brüste waren fast ein wenig zu schwer. [. . .] Und als sie schwanger war, traten . . . Ja, als sie schwanger war, ich möchte die Geschichte erzählen.58
Zu werten ist der Entwurf als Schreib- und Erzählanfang. Kognitiv hat er die Funktion, eine Imagination aufzubauen, die den Schreibprozess initiieren soll, was sich in den Schlusssatz als Selbstaufforderung zum Erzählen eingeschrieben findet. In ähnlicher Weise fungiert auch die oben besprochene ›SterbeSzene‹ als einer der Kerne der späteren Erzählung. Ein weiterer Schreibanfang ist von Musil später mit der Sigle »AN 126« versehen worden.59 Er präsentiert die gesamte zu der Zeit vorhandene Erzählsubstanz in einer mit Bleistift abgefassten und später mit Tinte korrigierten siebenseitigen Rohfassung; man könnte den titellosen Entwurf als Exposé bezeichnen, das den Zweck verfolgt, den äußeren Handlungsverlauf grob festzulegen. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre verfasste Musil eine große Anzahl solcher Rohentwürfe zur Handlungsfixierung für den Mann ohne Eigenschaften. Auch »AN 126« eröffnet einen größeren, romanhaften Kontext, indem das Geschehen zwischen »Hugo«, wie der männliche Protagonist nun heißt, und »Herma« (im Manuskript abgekürzt: »H.«, »He.«) mit Hugos Freund »Walther« (auch: »Walter«) und seiner Frau »Clarisse« verknüpft ist. Es setzt ein mit dem analeptischen Hinweis auf eine Schwangerschaft Hermas, ihre Erkrankung und einen Abortus. Hugo konsultiert einen Arzt, dessen impertinentes Lächeln in ihm den Verdacht auf eine Ansteckung durch Herma reifen lässt. Er möchte sich von Herma lösen, ist aber finanziell von ihr abhängig, obwohl sie ihre Stelle wegen der Schwangerschaft verloren hat. Herma verfällt, Hugo versucht vergeblich durch literarische Arbeiten Geld zu verschaffen und wendet sich schließlich an seine Mutter um Hilfe. Die Mutter kommt nach Berlin, um die Verhältnisse zu ordnen, sie verlangt Hugos Trennung von Herma und schlägt vor, dass man sie abfinden werde. Als Hugo sich weigert, lächelt die Mutter. »Dieses Lächeln besagte: so tief bist Du also verstrickt.«60 An die Episode mit der Mutter schließt sich die Schilderung der intimen sexuellen Beziehung zwischen Hugo und der schwangeren Herma an, um der Verstrickung Hugos Ausdruck zu verleihen. In diesen Passagen trieb Musil im Bleistift-Rohentwurf mehr stilistischen Aufwand, auch Korrekturen in Tinte bezeugen, dass die Elaboration hier vor allem ansetzte.61 Am Schluss dominiert wieder die skizzenhafte Exposéform, Musil versuchte die Hand58
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KA/Transkriptionen/Heft 4/Einlage 11. Faksimile-Beispiel für Phase 2, siehe Abb. 5. Ich datiere die mit Tinte beschriebenen Teile des Manuskripts auf 1905, schon allein wegen des fallengelassenen Törleß-Vorworts; der Bleistift-Zusatz ist definitiv später entstanden, hier taucht der Figurenname »Mordansky« auf. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/482–488. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/485. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/486 f.
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lung aus der Herma-Enklave wieder in den romanesken Zusammenhang mit Walther zu führen: Manchmal sagte er zu H.: Siehst Du, wir passen eigentlich gar nicht zueinander, ich müßte wieder mit Walther verkehren . . . Und wenn H. schwieg, aber ich will nicht, will nicht!! Ich könnte viel mehr noch genießen als er, – aber ich will nicht! Und im nächsten Augenblick fühlte er das ganz Unsinnige dieses Willens und konnte sich doch seinem verödeten Bannkreis nicht entziehen, und er fühlte mit schmerzlichem Lächeln, wie es um ihn leer wurde, sinnlos, todtraurig. Und das war der Augenblick wo sie sich aneinander verbargen. / Nachher waren sie jedesmal betreten. Als ob es doch eine Würde in diesem Zustand gegeben habe, die sie verletzten. Sie fühlten das Unfreie, Vertierte[.]62
Damit bricht der Entwurf ab. Er steht in Verbindung mit der Dimension biographischen Erlebens, das aber restlos unscharf geworden ist gegenüber der Imagination eines fiktiven äußeren und inneren Geschehens, das durch die sprachliche Gestaltungsarbeit in zwei Anläufen, erst mit Bleistift, dann mit Tinte, zu einer Grundlage für die spätere, aus dem Romankontext befreite Erzählung wird.
3. Phase (1908–1909): Tonka + Rabe – Frühlingsstimmung Der nächste Abschnitt des Tonka-Dossiers betrifft drei Gruppen von Manuskripten, die ungefähr gleichzeitig während des Jahres 1908 bzw. zum Teil auch noch 1909 entstanden sein dürften, ohne dass eine Abfolge bestimmbar wäre: A) Die Konzeption einzelner Szenen in Form von Notizen und Entwürfen in Heft 1563 und auf Blättern mit der späteren Siglierung »A« (= Anfänge)64 und »AN«,65 B) Notizen mit dem Figurennamen »Hanka« in Heft 11, die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Romprojekt »Haus ohne Gegenüber« stehen,66 C) Notizen auf AN-Blättern mit der Zuordnung »Tonka + Rabe«.67 »Rabe« steht für Martha Marcovaldi, Musils spätere Frau, zu der er in dieser Zeit bereits eine intensive Liebesbeziehung aufgenommen hatte. Das allgemeine Charakteristikum der Schreibphase liegt in der Integration unterschiedlichster Erlebens-, Motiv- und Imaginationsbereiche, die Musil alle in dem Roman »Haus ohne Gegenüber«68 behandelt wissen wollte, in dem er das erste Mal auch das Geschwisterinzest-Motiv erprobte. Das Tonka62 63 64 65 66 67 68
KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/488. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 15/28–32. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/388 u. 449. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/412–419. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 11/57 u. 64–66. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/286, 415 u. 428–431; Mappe VII/8/137 f.; Mappe I/6/115. Der Titel erscheint erstmals in Heft 11. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 11/61.
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Sujet geht in die Überlegungen zu diesem Roman ein, es sind aber auch Versuche der Herauslösung der Tonka-Geschichte aus dem Romanzusammenhang zu erkennen. Die Dreieckskonstellationen haben sich mittlerweile vermehrt, auch ›Tonka + Rabe‹ bildet nun eine solche, wobei die direkte Abbildung der biographischen Realität wiederum keineswegs als gesichert gelten darf, vielmehr ist ein Zug zur imaginativen Ausgestaltung zu erkennen. Wobei der Grad der Textausreifung wieder hinter die Entwurfsansätze in Phase 2 zurückfällt, in den Notizen neue Konstellationen in sehr bruchstückhafter Weise in Bleistift und auf kleinen Zetteln imaginiert sind, etwa unter dem Stichwort »Stimmung« und »Frühlingsstimmung«: »In der Frühlingsstimmung wünscht er sie tot«, schreibt er in der dritten Person über Tonka, und: »mit T. gehirnsinnlich, pervers; [. . .] Rabe bringt dann die Wirklichkeit«.69 Die Nähe zur biographischen Erfahrung ist gekoppelt an die Erkundung der Fiktionalisierungspotentiale, noch ist alles offen, wir befinden uns mit den Frühlingsstimmung-Notizen mitten in einer Inkubationsphase mit den Optionen Roman und Novelle, mitten in einem Nebenher von Martha-, Clarisse- und Tonka-Novelle, aus der dann die Vereinigungen, der Agathe- und der Clarisse-Plot des Mann ohne Eigenschaften und die Novelle Tonka generiert werden; hier schwimmt alles noch in einem Topf. Die Abfolge des biographisch Erlebten verwandelt sich in der Opusfantasie in erzählerische Anordnung. Dazu einige Sätze aus den Bleistift-Notizen auf den Zetteln mit der Sigle »AN 72–76« unter dem Stichwort »Frühlingsstimmung«: Tonka u der Rabe sind zu trennen, der von mir versuchte Zusammenhang war ein äußerer, keiner in der Art des inneren Gepacktwerdens. [. . .] Er sitzt also da in einer kranken Frühlingsstimmung, fühlt sich aber Ts. ganz sicher und nähert sich dem Raben. [. . .] Während er sitzt und an Tonka denkt, unterhandelt er mit dem Raben wegen einer Heirat und weiß nicht ganz warum. [. . .] Der Rabe lebend und Tonka als Zurückdenken. Mit T. einsetzen, dann der Rabe und nichts von T., dann T. tot[.]70
Der Gestus des Schreibens im Imperativ entspricht diesem Stadium des Notierens, der produktionsästhetische Imperativ gelangt als Spur der Opusfantasie in Gestalt des Rufzeichens in den Text. »Da begann er über sie und die Vergangenheit nachzudenken und die Träume setzten ein./So aufrollen!/«71 Damit verwandt sind Bemerkungen, in denen sich die Opusfantasie der erzählerischen Substanz vergewissert. Sie bestätigen das Verharren im Stadium der programmatischen Reflexion: Die Fabel ganz einfach. Zwei Menschen – er und seine Mutter – die über der Unmöglichkeit, sich intellektuell über etwas zu verständigen, auseinanderkamen und einander verletzten. Den Anlaß bildete Hankas Krankheit. Eine ›kritische Zustands‹69 70 71
KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/431. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/430 f. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/419.
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Mischung von Träumen und Wachen, Vergangenem und Gegenwärtigen aus der heraus erzählt wird.72
Auch aus dieser Phase sind inselhafte Schreibanfänge in Entwurfsform zur Gestaltung der Tonka-Erzählung erhalten, so auch einer in Heft 15 in Bleistift, der unter dem unterstrichenen Stichwort »kl. Bub« firmiert.73 Der Rückblick in die Kindheit des Protagonisten in einem Gemenge aus Autobiographie und Fiktion, von dem nur sehr wenig in die spätere Novelle eingegangen ist74 – aber interessanterweise auch der Hinweis auf »Hyazinth«75 –, schließt mit dem Satz: »Dann dachte er plötzlich, und wußte nicht wieso, wieder an Tonka.«76 Ein weiterer Erzählanfang, unter der Sigle »A 92« und in einem Vermerk in Klammern »zu Tonka« gewiesen, hat bereits eine starke Ähnlichkeit mit dem Anfang der späteren Tonka-Endfassung mit dem Vogelmotiv: »Ein Vogel rief. Ein Vogel antwortete«.77 Die ausgestaltete Endversion setzt bekanntlich ein mit: »An einem Zaun. Ein Vogel sang. Die Sonne war dann schon irgendwo hinter den Büschen. Der Vogel schwieg.«78 Auf demselben KanzleiDoppelblatt steht unter den ersten zwei Versionen des Tonka-Erzählanfangs (zehn bzw. acht Zeilen jeweils stark korrigierte Bleistift-Entwürfe) auch der Entwurf eines Briefs an »Liesl«; und außerdem erscheint das Tier/Hund-Motiv: Da brach das Gespräch ab. M[79] erinnert sich an den Pinsel u als sie an ihn dachte u das Erschrecken, als er sie ableckte, weswegen sie sich aber viel mehr schämte u weinte so als daß sie daran dachte, war, daß sie nun wie ein weiches Tier empfand [. . .] fast wie die Berührung einer spitzen, schnellen, weichhaarigen Zunge, [. . .]. Sie empfand ihn .. wie ein Tier, wie ein heiliges Tier – denn es war ein leises Mißtrauen in ihr gegen die Seligkeiten von denen er sprach – etwas Ungläubiges, Lächerliches und doch gläubig Gebeugtes – zu Hause sagen sie, so etwas sei Unsinn, Pfaffenlärm und Klingelbeutelgeschwätz, aber von der Schule her hatte sie doch etwas Angst u Ehrfurcht u. dann war auch alles, was Sehnsucht in ihr war, um solche Gedanken gewachsen, seit damals mit Rex[.]80
72 73 74 75
76 77 78 79 80
KA/Transkriptionen/Heft 11/65 (Hervorhebungen W. F.). KA/Transkriptionen/Heft 15/29 bzw. 28–32. Vgl. den einen Absatz in Tonka, wo der Protagonist an die Bedeutung der Pferde in seiner Kindheit denkt. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/154 f. »Ev. Episode mit Hyacinth« (KA/Transkriptionen/Heft 15/29). Vgl. dazu die Mutter des Protagonisten und Hyazinth in Tonka: »Bis dahin hatte sie mit Onkel Hyazinth nicht vor noch zurück gekonnt. Er war nicht wirklich ein Verwandter, sondern ein Freund beider Eltern, einer jener Onkel, welche die Kinder vorfinden, wenn sie die Augen aufschlagen« (KA/Lesetexte/ Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/118). KA/Transkriptionen/Heft 15/29. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/449. KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/93. »M« steht hier noch für den Realnamen Martha statt für den Figurennamen Veronika. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/449. Faksimile-Beispiel für Phase 3, siehe Abb. 6.
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Abb. 6: Mappe IV/3/449 (Faksimile-Beispiel für Phase 3).
Die Assoziation zum Tier (Hahn, Bernhardinerhund, auch das Motiv der Vogelstimmen im fast gleichen Wortlaut)81 ist dann in den Text der Versuchung der stillen Veronika eingegangen. Damit belegt die wildwuchsartige Beschriftung des Doppelblatts »A 92« eine gleichzeitige Initialzündung für die Tonka-, die Veronika- und auch noch die Clarisse-Opusfantasie Musils, insofern man Liesl mit Alice Donath und fernerhin mit Clarisse identifiziert; jedenfalls aber ergibt sich aus der Verflochtenheit der »A 92«-Notizen eine erstaunliche Engführung zwischen der Generierung der Tonka und der Versuchung der stillen Veronika. Ein bemerkenswertes weiteres Zeugnis der werkübergreifenden Verzahnung im Schreibprozess Musils stellen die auf drei Zetteln mit AN-Siglierung in ungewöhnlicher Schönschrift geschriebenen Traumnotizen dar. Die erste beginnt folgendermaßen: Traum: Auch sie trägt das braune Kleid und hat alle Züge Tonkas. Aber doch ist sie irgendwie verjüngt. (Die Szene ist um 60 Jahre zurück, erinnert an jene von Schwind gezeichneten Kammern). Wie er sie zu bereden suchte, ist nicht mehr erinnerlich, nur eine starke, sanfte Sexualität wirkt nach. Dann ein ungeheures Besitzgefühl, Vorbe-
81
»Veronika hatte plötzlich einen Vogel rufen gehört und einen andern ihm antworten.« (KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Vereinigungen/Die Versuchung der stillen Veronika/126) – »Sie liebte damals die Haare eines großen Bernhardinerhundes, besonders die dort vorne, wo die breiten Brustmuskeln bei jedem Schritt über den gewölbten Knochen wie zwei Hügel hervortraten; es waren ihrer dort so übermächtig viele und so goldig braune, und das war so sehr wie unabsehbarer Reichtum und ruhig Grenzenloses, daß sich die Augen verwirrten, wenn man sie auch ganz ruhig nur auf einen Fleck gerichtet ließ.« (127 f.)
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Abb. 7: Mappe IV/2/418.
sitzgefühl, gewissermaßen, weil sie noch fremd, neu und doch als Doppelbild Tonkas schon ihm gehörig ist.82
Am dritten der offenbar in einem Zug entstandenen Zettel bildet nicht mehr Tonka, sondern die schwesterliche Geliebte des Romans, aus der dann Agathe wird, den Trauminhalt; Musil selbst hat die drei Zettel mit einem Verweis dem nie fertiggestellten Traumkapitel des Mann ohne Eigenschaften zugeordnet.83 Am zweiten Zettel ist der Traum aber noch mit dem Namen »Tonka« verbunden; allerdings entwickelt die Schrift hier gerade aus dem Namen das ›Doppelbild Tonkas‹ aus Identität und Nicht-Identität: Das eigentümliche Wesen der Liebe zeigt sich deutlich im Traum. Man träumt von der Geliebten, sie sieht ganz anders aus, ihre Stimme hat einen anderen Klang und Fall, sie tut Dinge, die die andere nie tun würde. Dieser Nichtidentität bleibt man sich fortwährend bewußt. Dennoch ist man – eine Ähnlichkeit mit Pathologischem – gezwungen, das Traumbild für sie zu halten. Es ist gewissermaßen mit dem Namen behaftet. Und zwar in einer äußerst eindringlichen Weise. Die fremdeste Bewegung wird zu ihrer Bewegung, ja selbst ein Bauschen weißer Unterröcke, wie solche Tonka nie getragen, wurde einmal dazu. Und mit dem Namen ist die ganze wesenlose Zuneigung mit an das zufällige Traumgebilde geknüpft.84
In den Traumnotizen geht es einerseits um die Frage der Identität des Liebespartners, die Musil bis zuletzt sehr beschäftigt, andererseits spiegelt sich 82 83 84
KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/137. In der Klagenfurter Ausgabe befindet sich das Traum-Kapitel in KA/Lesetexte/Bd. 3 MoE/ Fortsetzungsreihen 1932–1936/Zweite Fortsetzungsreihe/Kapitelkomplex »Agathe«. KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/138 (Hervorhebung W. F.).
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im ›Doppelbild Tonkas‹ auch das Konzept der Erinnerungsarbeit, das Musil mit dem Tonka-Projekt verfolgt. Der Gegensatz zwischen der ›wirklichen Geliebten‹ und der ›Traumgeliebten‹ hat immer noch auch mit dem Gegensatz zwischen biographischer und literarischer Realität zu tun. Blätter aus dieser Produktionsphase, die Musil aufbewahrte, befinden sich in einem Konvolutumschlag mit der späteren Beschriftung: »Tonka, abgelegt, nach AN geordnet, kaum noch zu verwenden.«85 Die Erinnerungsarbeit gehorcht einer kognitiven Ökonomie, es wird abgelegt, aber nicht weggeworfen. Und sie braucht mitunter eine auf Autosuggestion gerichtete Symbolik; auf einem Zettel mit der Sigle AN steht mit Bleistift – wahrscheinlich in dieser Phase – geschrieben: »Gedächtnisblätter. (Mit einem ein Meter langen Strahn von Tonkas Haar verschnürt, den er ihr in der brutalen Sentimentalität der Abschiedsstunde abgeschnitten hat.)«86 Sind die Gedächtnisblätter die ANZettel, gab es einen meterlangen Strahn von Herma Dietz, den Musil als ›Schreibbehelf‹ verwendete, ist »er« der Autor oder ist »er« der Protagonist, ist die Erinnerungsarbeit mit den Gedächtnisblättern und das Verschnüren nicht ein Teilarrangement der Opusfantasie, der imaginierten Fabel, genauso wie die brutale Sentimentalität der Abschnittsstunde, die es in Wirklichkeit, anders als in der fiktiven Erinnerung, niemals gegeben hat, schon einmal deswegen, weil es die vergangene Wirklichkeit als solche immer ›nicht mehr gibt‹, sondern stets nur mehr als erinnerte Fiktion?
4. Phase (1908/09–1912): Tonka-Zettelkasten Mit gewissem Recht bringt Regina Schaunig bei ihrem Versuch, im Rahmen der Klagenfurter Ausgabe Ordnung in das Tonka-Dossier zu bringen, den Begriff des Zettelkastens ins Spiel.87 Zwar dürfte Musil seine Zettel nicht realiter in eine Kartei geordnet haben, aber er begann zu einem kaum zu bestimmenden Zeitpunkt, die Tonka-Motive aus den Heften auf Zettel abzuschreiben, sie durch weitere Ideen und Einfälle zu ergänzen und dies mit dem bereits auf Blättern und Zetteln Vorhandenen zusammenzuführen. Wahrscheinlich sammelte er die Zettel in einer Mappe, erst wesentlich später, nämlich in der ersten Jahreshälfte 1920, siglierte er die Tonka-Zettel mit AN-Siglen. Das Arrangement vermittelt den Eindruck, als wollte Musil das Material für eine Niederschrift bereitstellen, für die er die Zeit noch nicht für gekommen hielt. Manches deutet darauf hin, dass er Tonka noch immer im Zusammenhang mit dem geplanten Roman sah, den er sich erst nach dem Abschluss der Vereinigungen vornehmen wollte. Es lassen sich jedoch auch Tendenzen zur Herauslösung der Tonka-Erzählung aus der Vorarbeit zum Roman erkennen, 85 86 87
KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/411. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/418. Siehe Abb. 7 KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentare/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/Textgenese und Kommentar.
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jedoch stand auch nach dem Ersten Weltkrieg noch eine Zeitlang in Schwebe, ob Tonka einen Teil des Romans oder eine eigene Novelle bilden solle. Wann die Übertragung aus den Heften in den ›Zettelkasten‹ und die gleichzeitige Ergänzung mit neuen Ideen zeitlich anzusetzen ist, kann nur vermutet werden: Entweder geschah dies hauptsächlich während der intensiven Arbeit an den Vereinigungen, also 1909–1910. Musil berichtet ja in dem ›Vermächtnis‹ von 1932, dass er an den beiden Novellen »zweieinhalb Jahre, und man kann sagen: beinahe Tag und Nacht, gearbeitet habe. Ich habe mich seelisch beinahe für sie zugrunde gerichtet«.88 Es ist also gut denkbar, dass er sich die Opusfantasie der Tonka in dieser Zeit gewissermaßen vom Leib hielt, indem er sie in den ›Zettelkasten‹ verbannte. Oder es erfolgte die Einrichtung des Zettelkastens erst nach der Fertigstellung der Vereinigungen, also 1911–1912; dies würde einen Schritt der Rückkehr zu den zwischenzeitlich liegen gelassenen Projekten bedeuten. Die Selbstexzerpte89 auf 27 Seiten des ›Zettelkastens‹ dienen der Verfestigung des imaginierten Plots vor der erzählerischen Ausgestaltung. Auffallend ist das Festhalten an den Realnamen und der älteren Orthographie der Erstschrift, Musil hatte ja in seiner Schreibpraxis mittlerweile die neue Orthographie nach der Orthographiereform von 1902 übernommen. Die Bewahrung der Namen und Schreibweisen der Vorgabe beim Abschreiben legt nahe, dass Musil in dieser Phase zur Aus- und Umgestaltung, zur erzählerischen Metamorphose nicht oder nur kaum bereit war, wohl aber legt sich beim Transfer der Opusfantasie von Heft auf Zettel hier und dort eine Schicht Reflexion an. Folgende Motive wurden beispielsweise verfestigt: unverändert die »Szene mit Friedmann«, einem vermeintlichen Nebenbuhler, der in der Endfassung nicht mehr vorkommt;90 die »versteckte Parallele« zwischen der Mutter und Tonka im Namen modifiziert;91 das Verhältnis zwischen der Mutter und Sektionsrat Reichle, hinter dem sich Heinrich Reiter verbirgt, der reale Hausfreund bei den Eltern Musil, mit geringfügig geänderter Fiktionalisierung,92 aus dem in der Endfassung Onkel Hyazinth wird; oder das merkwürdige »fürchterliche Alleinsein im Buche«, möglicherweise mit einem 88 89 90 91
92
KA/Transkriptionen/Mappe I/7/38. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/442–466. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/435. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/445. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/60: »Zwischen der Mutter u. H. besteht eine versteckte Parallele. Auch die Mutter war einmal ein Mädchen, das mehr noch als H. zu R. gepasst hätte.« – KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/445: »Mutter: zwischen der Mutter und Tonka besteht eine versteckte Parallele. Auch die Mutter war einmal ein Mädchen, das mehr noch als Tonka zu ihm gepaßt hätte.« KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/449. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/61: »R. wird beständig durch das Verhältnis von Reiter zu seiner Mutter irritiert. (Rei. und der Oberleutnant wären vielleicht in eine Figur zusammenzuziehen.) Bei anderen Leuten würde er unbedingt die Diagnose = Verhältnis stellen, aber auch hier kann er es nicht.« – KA/Transkriptionen/ Mappe IV/2/449: »Er wird beständig durch das Verhältnis von Sektionsrat Re. (Reichle Lustspieldichter) zu seiner Mutter irritiert. Bei anderen Leuten würde er unbedingt die Diagnose Untreue stellen aber auch hier kann er es nicht.«
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Übertragungsfehler.93 Das erzählerische Grundthema der Eifersucht wird in seinem Wesen untersucht und interpretiert: »Warum ist dieser Mensch so eifersüchtig? Tonka ist ja nur eine Auslösung, woher stammt aber die Disposition?«,94 fragt sich Musil in einer Serie reflektierender Notizen, in denen er die Heftvorlage weiterdenkt. Es steigert sich beim Transfer aus dem Heft die kognitive Durchdringung der erzählerischen Motive, die Zergliederung der Gefühle bietet fast einen Vorgeschmack auf den gefühlspsychologischen Traktat in den Druckfahnenkapiteln des Mann ohne Eigenschaften der 1930er Jahre: Man sagt die Gefühle seien evident. Das ist z. T. richtig, daß ich etwas fühle, wenn ich zb. eifersüchtig bin, ist evident; daß ich aber Eifersucht fühle, ist gar nicht evident. Das ruht auf Vorstellungen und ist mit allen Unsicherheiten dieser behaftet. Man kann in seinem Zimmer sitzen von Eifersucht gequält sein und sich sagen, daß man gar nicht eifersüchtig ist, sondern irgend etwas anderes, Entlegenes, merkwürdig Erfundenes. Was fühlt man denn, wenn man eifersüchtig ist? Nicht Eifersucht, sondern daß man jemand töten möchte udgl. Und eine Qual.95
Die Durchdringung der Fabel mit ethisch-ästhetischen Kategorien, die teilweise auch schon nach Anleihen aus der Gestalttheorie klingen, schreitet voran: »Tonka hat gar keinen Ausdruck, dadurch wird sie zum Schicksal für ihn«;96 der Protagonist befindet sich mit Tonka »nicht in ästhetisch gleichwertiger Umgebung«,97 lautet eine weitere sich wiederholende Festlegung. Das Motiv des Sich-Nicht-Erklären-Könnens Tonkas ist unverändert aus dem Heft übernommen. »Es sind die ›armen Mädchen‹, die nicht sprechen können. Die Rede ist nicht nur ein Machtmittel, sondern ein Sinn mehr zur Aufnahme der Welt. Etwas gut ausdrücken ist mehr davon als es gut sehen«,98 lautet die metatextuelle Vorgabe. Auch der folgende Satz ist wortwörtlich aus dem Heft übernommen: »Jetzt ist mir endlich eingefallen, mit wem du mir untreu warst (mit dem Kommis-Tenor)«.99 Übrigens findet sich im Zettelkas93
94 95
96 97 98 99
KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/450. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/61: »Das ist denn auch das fürchterliche Alleinsein am Schlusse.« – KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/449: »Dies ist dann auch das fürchterliche Alleinsein im Buche.« Es kann sich auch um einen Transkriptionsfehler aus dem im Original nicht erhaltenen Heft 3 handeln. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/453. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/453. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/67: »Man sagt die Gefühle seien das einzig Evidente in uns. Zum Teil ist das richtig, nämlich das Fühlen ist evident. Das [sic] ich ›etwas‹ ›fühle‹, wenn ich z. B. eifersüchtig bin, ist evident, dass ich aber ›Eifersucht‹ fühle, ist gar nicht evident. Das ruht auf Vorstellungen u. ist mit allen Unsicherheiten solcher behaftet, die bis zum Traumidealismus ausgedehnt werden können. Jedes solche Gefühl weist auf einen, einzigen, festen Punkt in mir, dem ich aber nie näher komme, u. im übrigen auf ein Schweben ober dem leeren Raum.« KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/456 (Hervorhebung W. F.). KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/461. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/456. Im gleichen Wortlaut in KA/Transkriptionen/Heft 11/43 (Datumsangabe: 18. 9. 1905). KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/458. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/70.
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ten kein einziger Hinweis darauf, dass Musil bei der Errichtung der fiktiven Realität der Erzählung eine konkrete Auflösung des Geheimnisses, ob und mit wem Tonka untreu war, parat hat, was die Lektüre von Villö Huszai – der Kaufmann ist der Schwängerer! – aus textgenetischer Richtung meines Erachtens einigermaßen unterminiert. Es mangelt den Notizen dagegen nicht an psychologischen Vorgaben, die an der Psyche des Protagonisten100 und an den konkreten sozialen und psychologischen Prägungen Tonkas101 ansetzen, so dass die Untreue im Zettelkasten als Resultante des Misstrauens erscheint: Wenn man einmal begonnen hat, an einem Weibe zu zweifeln, kann man alles, auch die rührendsten Ergebenheitsbeweise bezweifeln. Denn gerade sie können eine subtile Form der Untreue verstecken und in solchen Subtilitäten ist man stark. Andrerseits fängt bei einem gewissen Niveau dieser Empfindungen die allgemeine Skepsis an. Und diese richtet sich dann gleichermaßen gegen die verdächtigenden Motive, so daß man in eine völlige intellektuelle Anarchie gerät.102
Neben den Motivübertragungen gelangen in den Zettelkasten in dieser Phase auch weiterführende konzeptionelle Überlegungen und Anfangsentwürfe, so ein zehnzeiliger Anfangsentwurf in Bleistift und mit Tintenkorrekturen mit dem Vogelstimmenmotiv, nun bereits mit der Negation, die dann auch der Endtext enthält: »Nein, so war es nicht. Das hatte sich später zurechtgebildet. Das war das Märchen. Er konnte es kaum mehr unterscheiden. Sie hatte aber bei ihrer Tante gelebt usw.«103 Hier hat sich das Konzept der Überschreibung der Erinnerungsarbeit in den Text der Erzählung bereits verfestigt. Auf dem nächsten Zettel findet sich in ähnlicher Weise mit Bleistift geschrieben ein alternativer 13-zeiliger Novellenanfang in Gestalt eines Briefs an die Mutter,104 der gleichfalls in den Endtext eingegangen ist.105
100 Allein auf einem eigenen Zettel: »Die Unwirklichkeit alles Zankes und aller Tragik zb. mit Mutter« (KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/463); die Stelle »oder die Mutter hat es durch ein Büro herausgebracht« (KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/465) findet sich im Heft nicht. 101 »Das Leben erscheint zugleich als etwas, das gleichgültig alles nebeneinander bewegt« (KA/ Transkriptionen/Mappe IV/2/464) ist ein metafiktionales Reflexem, das sich an den Einfluss von Prostituierten auf Tonka knüpft. 102 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/461 f. 103 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/420. Ähnlich wie KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/449, siehe oben. Im Endtext lautet die aufhebende Negation: »Aber war es überhaupt so gewesen? Nein, das hatte er sich erst später zurechtgelegt. Das war schon das Märchen; er konnte es nicht mehr unterscheiden. In Wahrheit hatte sie doch damals bei ihrer Tante gelebt, als er sie kennen lernte.« (KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/93) 104 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/421: »Zwischen Ancona und Fiume oder wohl auch zwischen Middelkerke und einer unbekannten Stadt steht ein Leuchtturm, dessen Licht allnächtlich wie ein Fächerschlag übers Meer geht, wie ein Fächerschlag und dann ist nichts und dann ist wieder etwas. Im Vennatal auf den Wiesen weiß ich steht Edelweiß – es gibt stille Dinge, Mutter, stille Dinge.« 105 KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/147: »Oder er antwortete seiner Mutter: Zwischen Ancona und Fiume oder wohl auch zwischen Middelkerke und einer unbekannten Stadt steht ein Leuchtturm, dessen Licht allnächtlich wie ein Fächerschlag übers Meer blinkt;
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Möglicherweise den am spätesten geschriebenen Text, der in den Zettelkasten geraten ist, und damit die letzte Stufe der Vorbereitungsphase bilden zwei weitere (nach dem titellosen Exposé »AN 126«)106 auf das Novellenganze bezogene Synopsen unter dem Titel »Tonka« und den Siglen »AN 71« und »AN 72«.107 Es handelt sich wieder um den für Musils Schreiben stets wesentlichen, kognitiv-kreativ vorentlastenden Fixierungsschritt der äußeren Handlung in einem Rohentwurf, also um eine möglichst umfassende Fixierung der Opusfantasie vor ihrer Umsetzung in einer Entwurfsfassung. Die erste der beiden Synopsen ist auf zwei Querdoppelblättern mit Tinte geschrieben, mit römischen Zahlen in fünf Abschnitte gegliedert, die das Konzept und Programm der Erzählung enthalten, in einem Gemisch aus metafiktionaler Programmatik und Formulierungsansätzen. Im ersten Abschnitt greift Musil als Anfangsentwurf auf das Motiv des Briefs an die Mutter zurück. Er schafft dann im zweiten Abschnitt einen neuen erzählerischen Rahmen, indem er einen extradiegetischen Erzähler einführt: Durch mehrere Jahre habe ich es mir überlegt, ob ich die Geschichte dieses jungen Mannes, der Nestor von Dobransky hieß, erzählen soll, und die seiner Geliebten, von der ich nur den Vornamen Tonka weiß, während ihr Familienname einer jenen schönen tschechischen war, die er ging über die Wiese oder der Mond ist aufgegangen oder es singt in den Büschen heißen, und die Geschichte seiner Mutter, die als die Gattin eines pensionierten Majors u Gutsbesitzers in einer Provinzhauptstadt Österreichs lebte, ob ich also die ineinander geflochtene Geschichte dieser drei Menschen erzählen soll. Denn ich will kein Erzähler sein. [. . .] Auch hätte ich die Geschichte nicht niedergeschrieben, wenn sie nicht so banal wäre.108
Indem die Figur des Protagonisten einen Namen erhält und über sich erzählen lässt, statt selbst zu erzählen, verschiebt sich das Konzept der Erinnerungsarbeit gewaltig. Diese Verschiebung wird später zurückgenommen, in der Endfassung ist das sich erinnernde und ›erfindende‹ Ich des Entwurfs »AN 72« wieder ganz mit dem heterodiegetischen Erzähler verschmolzen. Im anschließenden dritten Abschnitt der Synopse formuliert Musil die Fabel: Es ist die Geschichte eines jungen Mannes aus guter Familie, der ein Mädchen aus niederem Stande gern hatte, ihm ein Kind machte und es verließ. Mit einigen Besonderheiten, die gegen das soziale Gesetz dieses Falls nicht in Betracht kommen dürfen. Dann einer Mutter, die wie es sich gebührt, alles daran setzte, um ihren Sohn, wie ein festgefahrenes Schiff wieder flott zu kriegen, denn es ist gewiß, daß die Eltern ihren Söhnen Gutes tun, wenn sie die mailings [sic] Törichten rechtzeitig an den Zügeln in die Bahn zurückreißen, in die sie nun einmal, der Einfachheit halber, gehören.
wie ein Fächerschlag, und dann ist nichts, und dann ist wieder etwas. Und im Vennatal auf den Wiesen steht Edelweiß.« 106 Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/482–488, siehe oben. 107 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/424–427. 108 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/424 (Hervorhebung W. F.).
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Abb. 8: Mappe IV/2/426 (Faksimile-Beispiel für Phase 4).
Endlich die Geschichte des Mädchens, das stumm litt und starb, wie es die Dichter lieben.109
Als nicht aufgelöster Widerspruch erscheint, dass die Geschichte »banal«, aber mit »einigen Besonderheiten« ausgestattet sei. Die Rolle der Mutter ist hier zweifellos stärker gewichtet als in der Endfassung. Die »Geschichte des Mädchens« würde so verlaufen, »wie es die Dichter lieben«, also ästhetisch perspektiviert sein. Es tun sich Widersprüche zwischen den Versionen der Geschichte auf: die Version Nestors, der Mutter – des Mädchens? Die erzählte Version Tonkas ist aber nicht die ihre, denn Tonka bleibt stumm, an die Stelle der Tonka-Version tritt die erdichtete der Erzählstimme. Damit ist die Opusfantasie bis zur Programmatik der Endfassung vorgedrungen. Im vierten Abschnitt der Synopse folgt wieder ein Anfangsentwurf, geschildert wird ein Ausritt Nestors mit seinem Offizierskameraden Mordansky, wo er, bevor er Tonka kennenlernt, sein Begehren formuliert: »Ich würde gern mit so einem Mädel ein Verhältnis haben. Es wäre doch etwas anderes
109 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/424 (Hervorhebungen W. F.).
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als die Weiber. Es wäre ein Fohlen, frisch von der Weide eingefangen.«110 Im fünften Abschnitt entwirft Musil in einem erzählerischen Kern die Entstehung von Nestors Misstrauen. Die zweite Synopse »A 72«111 auf einem möglicherweise im Anschluss an die erste zur Hälfte mit Tinte beschriebenen Querblatt setzt sich nur aus solchen erzählerischen Kernen zusammen. Folgende Kernwörter hat Musil mit Blaustift unterstrichen: »Zimmer«, »Rufzeichen« (zweimal), »beweisen«, »Friedm.« (= Friedmann, als Nebenbuhler verdächtig), »Tenor«, »durcheinandergeschoben«. Im Fokus dieser Synopse steht die Misstrauens- und Wahrheitsthematik. Deutlich wird aus der konzentriert notierten Opusfantasie, wie sich zwei Geschehnisverläufe voneinander abheben, die ›Realität‹ dessen, ›was geschehen ist‹, und der (vergebliche) Prozess der Wahrheitsfindung des Protagonisten. Dieser »hatte sich der Stringenz verwehrt [. . .] wie ein erkenntnistheoretischer Klopffechter«. Er operiert mit dem Begriff der »Gesetzesinduktion«, er »rekapitulierte die Induktion«, das Konzept der Erinnerungsarbeit verschmilzt in der Opusfantasie mit dem Konzept der Wahrheitsfindung, ein bipolares Spannungsfeld tut sich auf, von dem dann der Endtext noch zehrt. In der Synopse wird dieses als Bedauern des Protagonisten über eine »Welt, die den Begriff Wahrheit nicht kennt«, ausgedrückt: »Der vernünftige Mensch, der praktische Mensch muß dem theoretischen helfen. Und er fühlte, daß hier ebensogut ein einfaches Lied gegen die wissenschaftliche Wahrheit stand.« Unter der Synopsis in Tinte findet sich auf dem Blatt »A 72« ein Zusatz in Bleistift, wo Musil, wieder in Form einer imperativischen Selbstanleitung, die Maximen zur Gestaltung festzulegen versucht: Gedanken in Stimmungen auflösen. Zwischenhinein aber auch ein Vorschreiten der Handlung. Das ganz Zerrissene u Durcheinandergeschobene in diesem Menschen muß selbst in den Gedanken an Tonka u die Kindheit zur Geltung kommen. Das Idyllische, Wehmütige nur wie ein Darübertönen.112
5. Phase (1912–1920): Vakanz der Tonka Musil hätte die Novelle Tonka vor dem Ersten Weltkrieg schreiben können, die Vorarbeiten dafür waren getan. Ob er es versuchte, wissen wir nicht genau, da die weiteren Entwicklungsstufen nicht vorhanden sind, aber es ist nicht anzunehmen, dass sie in die Vorkriegszeit fallen, da Querverweise darauf in den Indizes und Registern der Nachkriegszeit gänzlich fehlen. Wir können also davon ausgehen, dass Musil die Arbeit an Tonka schon vor, oder während, oder nach der Abfassung der Vereinigungen abbrach, das Material verschnürte, mit Strahn von Tonkas Haar oder nicht, und die Verschnürung 110 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/424. 111 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/426. 112 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/426. Faksimile-Beispiel für Phase 4, siehe Abb. 8.
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des Zettelkastens erst im Frühjahr oder Mitte 1920 wieder auflöste, als er die Zettel mit AN-Siglen versah. Unterbrechungen des Schreibprozesses gab es bei Musil öfters, bei den Schwärmern, bei den anderen beiden Drei-FrauenTexten, auch beim Mann ohne Eigenschaften, die der Tonka ist jedoch bei weitem die längste textgenetische Vakanz. An ihrem Ende landete Tonka wieder im Romanfundus, bei den ›Zwanzig Werken‹,113 die Musil in den Jahren 1918/19 imaginierte, beim ›Archivar‹ und beim ›Achilles‹-Roman, der bis 1921 den Titel Der Spion trug. In seinen Notizen in Heft 8 nahm Musil 1920 das erste Mal wieder Bezug auf Tonka; wie sich der Stoff in das Programm der ›Achilles‹-Romane einfügen könnte, wie er sich aber auch widersetzte, geht aus der folgenden Hefteintragung hervor: Die Jugendgeschichte Achilles’ könnte im Archivar nachgeholt werden. [. . .] Tonka plus Archivar gibt recht viel Unerfreuliches. Man muß wohl das Komischste, das zur Verfügung steht, damit kuppeln. Wenn man Achilles mit seinen Lächerlichkeiten zeichnet wie zum Beispiel in dem Verhältnis zu Aena oder den Schwächen im Verhältnis zu Tonka und, nur von dort aus, ein sich noch Durchkämpfen, dann darf man ihn auch körperlich nur halbstark machen. [. . .] (Aber diese Episoden vielleicht Walther geben oder dem Archivar. – Oder sind die eins?) Überlegen ob nicht all das, Tonka und Aena, vor Moosbrugger zu schieben wäre. Achilles ist spät reif menschlich. Seine seelische Anarchie und Dummheit (siehe meine eigenen blöden Wendungen) ist ein Spiegel. Der der Zeit. Das Traumhafte des wirklichen Lebens, das in den Tonkanotizen oft vorkommt, wäre ein Vorklang zu Clarisse. Das Ziel ist Darstellung der großen Unsicherheit und Verworrenheit[.]114
In der Ungewissheit bezüglich der Integrierbarkeit zeichnet sich bereits ab, dass Tonka aus dem Roman wieder ausscheiden würde, dies geschah de facto etwa 1921 bei den ersten Schritten zur Niederschrift des Mann ohne Eigenschaften in einer Vorstufenfassung (Der Erlöser). Ähnlich wie der Vorstadtgasthof -Szenerie gab Musil dem Tonka-Stoff die Unabhängigkeit als eigene Erzählung. Den Anstoß, nun »etwas kurz [zu] verfahren«115 und ihn doch zu einer Novelle zu formen, bezog Musil im Herbst 1922 wahrscheinlich aus dem Bedürfnis, seine Einnahmen aus der literarischen Produktion zu steigern. Er hatte die Anstellung als Fachbeirat im Heeresministerium verloren und musste auch die Romanarbeit, deren Ende nicht absehbar schien, unterbrechen, um Zeit für die Tätigkeit als Kritiker für die Prager Presse zu haben – vorübergehend seine einzige Einnahmequelle. In einem Brief vom 19. Oktober 1922 an ihre Tochter Annina berichtet Martha Musil: »Robert arbeitet sehr viel, gestern hat er nicht einmal zu Mittag gegessen, weil er ›Tonka‹ fertig machen will, es scheint, daß sie heute fertig wird. (Dann bleibt sie etwas liegen und wird noch einmal überarbeitet.)«116 Am 30. Oktober schrieb Musil selbst 113 114 115 116
Die Hefte 8, 9 und 21 tragen den Titel »Die 20 Werke«. KA/Transkriptionen/Heft 8/84 f. Faksimile-Beispiel für Phase 5, siehe Abb. 9. KA/Transkriptionen/Mappe I/7/36, siehe oben. KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Martha und Robert Musil an Annina Marcovaldi, 19. 10. 1922.
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Abb. 9: Heft 8/83 f. (Faksimile-Beispiel für Phase 5).
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seiner Stieftochter, er habe Tonka »etwa zur Hälfte ins Reine geschrieben«; sie sei »miserabel«.117 Am 24. Dezember 1922 bot Musil Carl Seelig »das Manuskript einer Novelle« an, bei der es sich um Tonka handeln muss, »ungefähr 50 Maschinseiten lang«.118 Tonka erschien zunächst Ende Februar oder Anfang März in der halbjährlichen Reihe Der Neue Roman in Reichenberg im Druck und schließlich in der ersten Buchausgabe der Drei Frauen bei Rowohlt 1924. Von der intensiven Entwurfsphase im Herbst 1922 bis zu den Druckvorlagen und Fahnenkorrekturen von Jahresbeginn 1923 ist nichts erhalten. Die zu diesem Zeitpunkt 10–15 Jahre alten Zettel aber archivierte Musil in einem hellgrünen Konvolutumschlag, auf den er »Tonka, abgelegt, nach AN geordnet, kaum noch zu verwenden« schrieb.119 Dass er dies aus »Sentimentalität« tat, ist nicht auszuschließen, ob er die »Gedächtnisblätter«120 je wirklich mit einem »ein Meter langen Strahn von Tonkas Haar« verschnürt hatte, bleibt dahin gestellt, ich halte den Strahn eher für einen Bestandteil der aus dem Novellentext getilgten Spur der Opusfantasie.
4. Schlussfolgerungen: Musils Techné Das Hauptcharakteristikum des textgenetischen Tonka-Dossiers liegt darin, dass in einem wahrscheinlich jahrelangen Prozess von 1904/05 bis 1910/12 kein Schritt über die Schreibanfänge hinaus erfolgte, keine Elaboration von Entwurfsfassung zu Entwurfsfassung festzustellen ist, kein sprachästhetischer Mehrwert durch Umschreiben erzielt wurde, wie es für die spätere Arbeit am Mann ohne Eigenschaften typisch werden sollte. Weshalb bleibt der kreative Prozess in der Konzeptionalisierungsphase stecken? Was hat es mit der sich wiederholenden Übertragung von Textelementen aus Heften auf siglierte Zettel, mit dem bloßen Weiterreichen der Narrative (und Meta-Narrative) von Textträger zu Textträger auf sich? Die in der Schreibspur feststellbare kognitive Bewegung verläuft von Realitätsablösung durch Interpretation zur Fixierung eines imaginären Erzählverlaufs; die Übertragung dient der Verfestigung; die Fokussierung auf Einzelszenarien der Fixierung; die Bewegung verläuft vom Konzept der Erinnerungsarbeit in zweierlei Notiztypen (von Erinnerung getränkte erzählerische Imagination, die Fabel reflektierende MetaFiktion) zum Konzept der Wahrheitserfindung; die Bewegung verläuft vom Sammeln in ein Romannetzgewebe hinein zur spät endgültig gewordenen Entscheidung für die freistehende, nicht an den Roman gebundene Erzäh117 KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Annina Marcovaldi, 30. 10. 1922. 118 KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Carl Seelig, 24. 12. 1922. 119 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/411. 120 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/418.
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lung. Von Phase zu Phase zieht sich das Fragen nach dem »Hauptthema«121 durch, dem »Hauptproblem«;122 ständig befindet sich Musil auf der Suche nach der ›Logline‹, er will von dieser aus deduktiv die Narration entfalten und sich nicht von einem erinnerten realen Geschehen den Prozess der ästhetischen Gestaltung diktieren lassen. Hier ist die Funktion der ›Synopsen‹ einzuordnen, in denen die ›Fabel‹ und ihre ›Bedeutung‹ repliziert werden. Das Wort ›Fabel‹ erhält bei den Tonka-Synopsen den mit ›Fabulieren‹ zusammenhängenden Wortsinn zurück, sie sind der Ort, wo etwas dazu erfunden wird, nicht der, wo auf die Wirklichkeit zurückgegriffen wird. Die vorhandenen Textzeugen im textgenetischen Tonka-Dossier sind vielleicht deshalb so stark im Konzeptuellen verhaftet, sie sind wohl darum in ihrer Gesamtheit bloß Zeugnisse der Opusfantasie geblieben, eines bloßen Sich-Zurechtlegens des Stoffes vor dem entscheidenden Schritt zum integralen Entwurf, weil der kognitiv-kreative Prozess, die Überführung vom Konzept der Erinnerungsarbeit zum Konzept ästhetisch gestalteter Wahrheitserfindung noch nicht an den Punkt gelangt war, der es erlaubt hätte, die Opusfantasie als Opus zu realisieren. Die Erkenntnisse aus dem Entstehungsprozess der Tonka lassen sich in das Bild einordnen, welches von Musils Schreibprozess im Generellen, vor allem am Beispiel des Mann ohne Eigenschaften, bereits existiert. Aus Sicht der Kognitionsforschung123 lässt sich der Schreibprozess eines Autors in einzelne Schreibszenarien gliedern, die Summe der Zeugnisse, ein textgenetisches Dossier, entspricht jeweils den Schreibszenen/Schreibakten, die in einem Schreibszenario versammelt sind, innerhalb dessen sich Aspekte der Materialität (Bleistift – Tinte, Heft – Zettel; Siglierung) und Funktionalität (Textstufe ›Notiz‹ – ›Entwurf‹) einander bedingen. In Musils Schreibszenarien spielen der abstrakt-kognitive und der imaginativ-kreative Part einander in die Hände. Es ergibt sich ein zyklisches Emporschrauben, wobei abstrakte Konzeption (kognitiv) und imaginative Elaboration (kreativ) sich wechselseitig fördern. Die Textstufe ›Notiz‹ repräsentiert in Musils Schreibszenarien die Konzeption, die Textstufe ›Entwurf‹ die Elaboration. Der komplexe Entstehungsprozess des Mann ohne Eigenschaften zerfällt bei näherer Betrachtung in mehrere im Nachlass dokumentierte Schreibszenarien, in denen sich das Wechselspiel von Konzeption und Elaboration jeweils entfaltet hat. 121 KA/Transkriptionen/Heft 3/60 u. 76; Heft 11/46. 122 KA/Transkriptionen/Heft 3/75; Heft 11/44. 123 Vgl. John R. Hayes, Linda S. Flower: Identifying the Organisation of Writing Processes, in: Lee W. Gregg, Erwin R. Steinberg (Hg.): Cognitive Processes in Writing. New Jersey 1980, S. 3–30. – John R. Hayes, Linda S. Flower: A New Framework for Understanding Cognition and Affect in Writing, in: C. Michael Levy, Sarah Ransdell (Hg.): The Science of Writing. Theories, Methods, Individual Differences, and Applications. New Jersey 1996, S. 1–28. – Mike Sharples: An Account of Writing as Creative Design, in: C. Michael Levy, Sarah Ransdell (Hg.): The Science of Writing. Theories, Methods, Individual Differences, and Applications. New Jersey 1996, S. 127–148.
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Im Fall von Tonka ist die Überlieferungslage weniger ideal, es fehlen die Zeugnisse für die Elaboration, für das Umschreiben von Entwurf zu Entwurf. Doch fügt sich das textgenetische Dossier der Tonka durch zwei Besonderheiten gut in das werkübergreifende Gesamtbild ein: Zum einen durch die vorhandenen Rohentwürfe, Entwürfe mit niederem Elaborationsgrad, und die Texte, die wir als ›Synopsen‹ bezeichnet haben, weil sie die Fabel zusammenfassen. Synopsen und Handlungsskizzen bilden ein wichtiges Element in Musils Schreibszenarien. Die Qualität seiner Texte ergibt sich aus genetischer Sicht daraus, dass er sich von den Rohentwürfen abstößt und hochschreibt, indem er sie sprachästhetisch veredelt, durch Metaphorik und Metonymik Metamorphosen erzielt, welche auf der Bedeutungsebene zur Auflösung der rohen Fabel führen. Musil zerschreibt, er zerstört die Fabel bei der Ausgestaltung; wenn er sie in eine dichterische Form bringt, hebt er das Krude, oft vordergründig Sexuelle oder Gewalttätige, bloß Mimetische der Rohentwürfe in eine sublime Sphäre schillernder Vieldeutigkeit der fertigen Texte, ins subtil Erotische, er verdichtet ins Erdichtete. Zum anderen enthält das TonkaSzenario die für Musils Schreibprozess typischen Vakanzen, die Schreibstillstände, die retardierenden Bewegungen. Die Schreibblockaden treten auf, wenn die Kooperation zwischen dem konzeptionellen und dem elaborativen Part nicht klappt. Die Gefahr bei Musils Schreibprozess liegt im Übergewicht der abstrakten Konzeption zuungunsten der kreativen Imagination. Er hat das selbst erkannt: Ich gleiche einem Hund, der seinen Knochen beiseite trägt, indem ich das im Lauf der Konzeption oder Aufnahme Überdachte ›sich setzen‹ lasse, oft auf Nimmerwieder, manchmal bis ein neuer Einfall davon Gebrauch macht. Man könnte das zum Teil wohl auch Phantasiemensch nennen. Aber es gibt eine versenkte Phantasie und eine geschäftige. Die versenkte Phantasie des stillen Kindes, durchkreuzt von einer gewissen Anlage zum Geschichtenausdenken, ist meine gewesen.124
Aus der Selbstcharakteristik im ›Autobiographie‹-Heft spricht indes weniger die Gefahr durch ein Übermaß an abstrakter Konzeption, sondern mehr die Chance der ›versenkten Phantasie‹. Denn gerade Tonka liefert ein beredtes Beispiel dafür, wie der Knochen sehr lange beiseite liegt, nämlich mehr als zehn Jahre, bevor der Autor wieder davon Gebrauch macht. Die Vakanz hat sich in dieser Situation, wie auch in etlichen anderen Schreibsituationen, in denen Musil vor dem Antritt zur steilen kurvenreichen Straße der Elaboration eine Pause benötigte,125 sehr bezahlt gemacht.
124 KA/Transkriptionen/Heft 33/77. 125 Zu denken wäre an die Schwärmer, die vor dem Ersten Weltkrieg konzipiert waren und nach dem Krieg ausgeführt worden sind; weiters an das Erste Buch des Mann ohne Eigenschaften, mit dessen komplexer Elaboration Musil nach einer Schreibpause während des Jahres 1926 begann; auch die Unterbrechung der Arbeit 1936 vor der Abfassung der Druckfahnenkapitel wäre hier, allerdings mit Einschränkungen, noch ins Treffen zu führen.
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Was wirft die Kenntnis der Textgenese für die Interpretation der Novelle ab? Erstens kann Tonka nicht für die Klärung biographischer Sachverhalte herangezogen werden; Musils Manöver der Fiktionalisierung und Konzeptualisierung gehen in die Struktur des Endtexts ein, bestimmen die Novelle als die Geschichte eines ›Erfinders‹, das heißt, die veröffentlichte Novelle selbst ist gleichzusetzen mit der Geschichte über die Erfindung einer Novelle, Tonka ist eine Novelle über das ›Erfinden‹ schlechthin. Selbst die frühen Hefteintragungen im Tonka-Dossier sind biographisch nicht glaubwürdig, da das Konzept der Erinnerungsarbeit im Schreibprozess von Anfang an durch das Konzept der Wahrheitserfindung unterlaufen wird. Der Schreibprozess an Tonka bestätigt sich als Wahrheitserfindungsmaschine, zugleich als ein Ausdruck der unbedingten Wahrheitsliebe und des ›Ekels vor der Erfindung‹, der jahrelang im ›Stoff‹ und in seiner erzählerischen Zubereitung als Instrument der Wahrheitserfindung stecken bleibt. Es scheint spekulativ, riskant, gegen die Schreibrichtung zurück zu lesen, von den ›Fabeln‹ auf die biographische Wahrheit zu schließen, wenn der Schreibprozess auf Verhüllung zielt. Der Strahn von Tonkas Haar ist als Schreibutensil der Verschnürung beschrieben, ist nicht real, ist nicht von Hermas Haar. Die Hauptbestrebung der Untersuchung von Villö Huszai, im Nachweis des kleinen, hässlichen Kaufmanns als Schwängerer Tonkas neben, unter, über der ›erfundenen‹ fiktiven Realität eine ›wahre‹ fiktive Realität zu lesen, scheint mir nach der Lektüre des textgenetischen Dossiers zumindest problematisch. Als Schlüsseltext dafür steht die zweifache Synopse A 71–72. Die im letzten Abschnitt der ersten Synopse imaginierte Situation zielt genau auf den Kaufmann als Verdächtigen: Warum sagst du ihm nicht, daß er dir die Verwaltung der Kasse geben soll? Ich kann nicht. Kannst nicht? Und sagst, daß du immer helfen mußt, wenn etwas nicht stimmt? Ja. Nun warum dann? . . . Tonka bekam bei solchen Gesprächen einen widerspenstigen Zug um den Mund, wie ein störrisches junges Tier. Bitte, sagte Nestor, das ist ein Widerspruch, bitte du mußt mir sagen, warum . . . Ich will nicht . . .126
Doch erfolgt kein expliziter Hinweis auf den Kaufmann als Schwängerer, weder hier noch an einer anderen Stelle im Dossier. Huszais Rätsel bleibt ungelöst, die Andeutungen127 sind immer nur narrative Optionen. In der zweiten Synopse kommt Monrad drauf, dass man »gar nichts beweisen kann«; muss man dennoch am Ziel der Induktion festhalten? Ist dieses Ziel, die Wahrheit, die Wirklichkeit, die Realität in der Fiktion nicht wie »eine Brücke in die See, an der die Schiffe doch nicht anlegen können«?128 Ist das Festhalten der vergangenen, nur mehr erinnerten Realität nicht ein unauflösbares Spiel, bei dem stets neue Versionen aufgetischt werden? Von der ersten Phase der Notizen in Heft 3 an deutlich erkennbar ist das Bemühen um die Konstruktion eines 126 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/424 f. 127 Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/70: »Jetzt ist mir endlich eingefallen, mit wem du mir untreu warst«. 128 KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/424.
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Plots, um philosophische wie ästhetische Überhöhung des Untreuemotivs.129 Dies zeigt sich auch in den Vorstufen der parallel geschalteten Mutmaßungen über Onkel Hyazinth, nämlich »wie sehr alles von der Zuteilung eines Standpunktes abhängt und von der Perspektive, unter der man angesehen wird.«130 Ein weiteres Zitat aus Heft 3 macht deutlich, wie sehr es Musil um eine Beschreibungssprache der ›sexuellen Liebe‹ geht, um eine ästhetische, nicht epistemologische Heuristik: »Vielleicht steckt hier das Problem: das Ethische, das Menschliche an H. betrügt nur das Ästhetische«.131 Um einen Kriminalfall handelt es sich bei Tonka allemal, denn »Es war Mord«,132 um mit Ingeborg Bachmann zu sprechen.
129 Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 3/63: Treue und Untreue als »technisches« Problem der erzählerischen »Darstellung«. 130 KA/Transkriptionen/Heft 3/61. 131 KA/Transkriptionen/Heft 3/71. 132 So lautet bekanntlich der letzte Satz in Ingeborg Bachmanns Malina. In meiner Online-Rezension zu Villö Huszais Ekel am Erzählen habe ich am Ende geschrieben: »Der Mörder (Ingeborg Bachmann hätte beide, den kleinen hässlichen Kaufmann und den Liebhaber Tonkas offen als Mörder bezeichnet) stellt sich selbst bloß, indem er sich zum Dichter aufschwingt und in seinem ›Gedicht‹ ein Mordgeständnis liefert. Mörder sind sie beide: der Liebhaber Tonkas und der Liebhaber Herma Dietzens. So weit geht Frau Huszai nicht. Aber das habe ich aus ihrem Buch gelernt.« (Büchermagazin des Literaturhauses Wien – http://www.literaturhaus. at/index.php?id=3822, 21. 8. 2002; Zugriff am 16. 7. 2013)
Rosmarie Zeller
Musils Arbeit am Text Textgenetische Studie zu Grigia Abstract: This study of the genesis of Grigia demonstrates how Musil functionalizes observations that he made during World War I in South Tyrol for his novella. The observations serve to construct the foreign world that provokes a deep crisis of identity in Homo. The corrections and variations in a manuscript, close to the published work, show that Musil worked in particular on the passages describing the foreign world and the loss of identity.
Die in Frankreich entwickelte critique génétique befasst sich mit der Entstehung und Wandlung eines Textes, wie sie sich aus den Handschriften eines Autors ablesen lassen.1 Hat die traditionelle Entstehungsgeschichte das fertige Werk im Blick, wobei alles Vorangehende nur insofern interessiert, als es sich im endgültigen Werk wiederfindet, ist für die critique génétique jedes Dokument von Interesse. Im Hinblick auf den Schreibvorgang sind Exzerpte, Notizen, Skizzen und Entwürfe gleich wertvoll. Ihr geht es nicht um den endgültigen Text, sondern nicht zuletzt auch um die semantischen Möglichkeiten, die im Werkprojekt angelegt sind. Aus der Sicht der critique génétique gibt es keine teleologische Entwicklung des Werkes, die Entstehung eines Werkes ist durch Abbrüche, Unterbrüche, Abwege, Umwege gekennzeichnet. Gerade dafür ist die Textgenese von Musils Grigia besonders instruktiv. Am Beispiel der Novelle lässt sich studieren, wie Musil heterogene Beobachtungen, die er anlässlich seiner Dienstzeit in Palai (Südtirol) ohne konkreten Zusammenhang mit einem literarischen Projekt notierte, viel später in einen kohärenten literarischen Text einbaute.2 Zugleich lässt sich die Frage stellen, wie er sich für die Darstellung von dem vorhandenen Material leiten lässt bzw. wie er es umfunktionalisiert. Wenn Corino meint, ohne den Aufenthalt in Palai hätte es weder Grigia noch die Portugiesin gegeben, so weist er damit 1
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Dazu Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«. Bern u. a. 1999 (= Arbeiten zur Editionswissenschaft, Bd. 4). Vgl. auch dies.: La mise en œuvre. Itinéraires génétiques. Paris 2008 (= Textes et manuscrits), wo Grésillon ihren Ansatz anhand von konkreten Analysen exemplifiziert. Zur Dienstzeit Musils in Palai vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 520 ff.; Alessandro Fontanari, Massimo Libardi (Hg.): Musil en Bersntol. La grande esperienza della guerra in Valle dei Mòcheni/Das große Erlebnis des Krieges im Fersental. Palai en Bersntol 2012.
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indirekt darauf hin, dass in diesen beiden Novellen die konkrete Örtlichkeit eine Rolle spielt wie in keinem andern erzählenden Text Musils.3 Wenn im Falle des Mann ohne Eigenschaften das genetische Dossier praktisch unübersehbar ist, so sind die genetischen Dossiers zu den Erzähltexten und zum Theater weniger umfangreich bzw. wie im Fall der Portugiesin auf wenige Notizen beschränkt. Grigia ist insofern ein besonderer Glücksfall, abgesehen von einigen Texten des Nachlaß zu Lebzeiten, als man hier über eine Handschrift verfügt, welche fast den ganzen Text enthält; im Falle Musils eine Seltenheit, weil er Papiere, die er nicht mehr brauchte, entweder weggeworfen oder bei seinem Wegzug in die Schweiz in Wien zurückgelassen hat, wo sie verbrannt sind.4 Das textgenetische Dossier/Korpus zur Novelle Grigia setzt sich aus mehreren Einträgen in Heft I zusammen,5 welche Beobachtungen festhalten, die Musil anlässlich seines Dienstes als Offizier vom 23. Mai 1915 bis Ende August 1915 im südtirolischen Palai machte.6 Die Einträge beginnen mit »Krieg. Auf einer Bergspitze. Tal friedlich wie auf einer Sommertour. Hinter der Sperrkette der Wachen geht man wie Tourist.«7 (Heft I/1) Es lässt sich in diesen Notizen kein Hinweis finden, dass sie im Hinblick auf ein konkretes literarisches Projekt gemacht worden wären. Vielleicht ist es Musil in Anbetracht der seltsamen Welt, in die er geraten war, vielmehr darum gegangen, Konkretes festzuhalten, was ihm nach seiner eigenen Aussage schwer fällt, da er immer gleich auf den Sinn aus ist: »Ich merke mir auch selten Einzelheiten, sondern immer nur irgend einen Sinn der Sache.« (Heft I/30) Es handelt sich bei den Aufzeichnungen in Heft I um tagebuchartige Notizen, die oft auch mit einem Datum versehen sind. Ein zweiter Komplex besteht aus kürzeren Notizen von 1919, die Musil in Heft II auf teilweise aufeinan3
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Corino: Robert Musil (s. Anm. 2), S. 697. Örtlichkeiten bzw. Räume sind selbstverständlich in allen Werken Musils wichtig, er legt aber wenig Wert auf die Beschreibung von konkreten Örtlichkeiten, ihm kommt es auf die semantische Funktion an. Die Örtlichkeit in ihrem Realitätsbezug ist ihm unwichtig bzw. bezeichnet er als altmodisch, wie das erste Kapitel des Mann ohne Eigenschaften thematisiert. Siehe dazu Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 261 ff. Von den Schwärmern beispielsweise sind nur Fragmente erhalten, welche auf der Rückseite Texte zum Mann ohne Eigenschaften enthalten. Heft I ist ein relativ kleines Heft von kariertem Papier, vom Format 88×100 cm, in dem Musil seine Beobachtungen im Krieg im Sommer 1915 auf ungefähr der Hälfte der Seiten notierte, die andere Hälfte wurde in den Jahren 1919/20 beschrieben. Er selbst bezeichnete das Heft als »Klein Grau I«. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 2), S. 1614, Anm. 71. Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann u. Karl Corino. Klagenfurt 2009 (DVD). Im Folgenden werden die Hefte, die sich in der Abteilung Transkriptionen befinden, also »KA/Transkriptionen/Heft I«, der Übersichtlichkeit halber nur mit Heftnummer und Seite zitiert. Die im Folgenden zitierten Einträge befinden sich alle in Heft I und II .
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derfolgenden Seiten eintrug, in denen er im Zusammenhang mit dem Plan zu einem »Tierbuch« Überlegungen zur Verwendung der in Heft I aufgezeichneten Motive anstellte. So taucht dort ein Titel »Schweineschlachten in Palai« auf und nachgetragen am Rand »Gridschji«. Auf demselben Blatt kommt der Name nochmals vor im Eintrag: »Krankheit u Gott (Lärchenwald, Wasserfall, Gridschi)« (Heft II/55). Diese auf Anfang 1919 zu datierende Stelle ist auch die erste Stelle, wo der Name Gridschi erscheint, der sich für Musil offenbar mit den Aufzeichnungen von Palai verbindet.8 Einige Stellen in Heft II sind bereits literarisch ausgearbeitet, so die Beschreibung des Singens der Farrar, die Atmosphäre im Heustadel, wo übrigens wieder der Name Gridschi auftritt, und die Art, wie »die Geliebte« auf der Erde sitzt, die ihr Fleisch berührt, wobei hier keine Identifikation zwischen Grigia und der Geliebten stattfindet. Das Projekt »Grigia« scheint hier aber schon konkreter zu sein.
Den größten zusammenhängenden Text bildet ein von Musil als »Der Reinschrift zugrundeliegendes Manuskript der Novelle Grigia« bezeichnetes Konvolut von 5 Bogen à je 4 Blätter, von denen die letzte Seite frei ist. Dieses gelangte in den Antiquariatshandel und wurde 1963 von Martin Bodmer erworben und liegt heute in der Fondation Martin Bodmer in Coligny bei Genf.9 Dem Manuskript fehlt in Bezug auf den Druck der Anfang, der die Familiensituation und Homos Entschluss, an der Exkursion teilzunehmen, sowie den kurzen Aufenthalt in P. darstellt. Es beginnt erst mit den Worten »Als sie drinnen waren«. Auf der letzten Seite finden sich Überlegungen zum Charakter der Liebe, die Homo mit Grigia und mit seiner Frau verbindet, darauf wird zurückzukommen sein. Es gibt sowohl einen materiellen Grund wie auch einen Hinweis in Musils Briefen, dass der Anfang der Novelle in dieser Handschrift nie bestanden hat. Der materielle Grund: Der Text beginnt oben auf Bogen I, wobei die Nummerierung nachträglich vorgenommen wurde. Es wäre ein großer Zufall, wenn der Text dieses Abschnittes gerade mit einem neuen Bogen beginnen würde. Musil schreibt immer über die Bogengrenze hinweg, d. h. er kann auch sehr weit unten auf dem Bogen noch einen Abschnitt beginnen.
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Erst im Druck wird der Name italienisch ›Grigia‹ geschrieben. Marie-Louise Roth hat die Handschrift ein erstes Mal 1991 beschrieben: M.-L. R.: Ein Kommentar zur ›Vollendung der Sprache‹ am Beispiel einer unbekannten handschriftlichen Vorstufe zu Robert Musils Novelle Grigia, in: Eckehard Czucka (Hg.): »die in dem alten Haus der Sprache wohnen«. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag. Münster 1991, S. 345–351. Die Handschrift ist abgedruckt in KA/ Transkriptionen/Handschriften und Autographen aus weiteren Archiven und Beständen/Fondation Martin Bodmer Coligny, Genf. Im Folgenden wird nur der Bogen und die Seite mit der Sigle G zitiert.
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Hinweise zur Entstehung in Musils Briefen: Am 6. November 1921 schrieb Musil an Efraim Frisch, den Herausgeber des Neuen Merkur, in dem die Novelle zum ersten Mal erschien: »Ich bin schon seit mehr als acht Tagen mit der kleinen für Sie bestimmten Erzählung fertig, sie wird den gewünschten Umfang haben, aber ich muß sie beim Abschreiben noch ein wenig überarbeiten und dazu konnte ich mich noch nicht aufraffen.«10 Frisch mahnt zur Eile und Musil teilt ihm am 10. November 1921 mit: »Lieber Herr Doktor! Ich hatte gleich nach meinem Schreiben die Überarbeitung doch begonnen, und das Manuskript geht bestimmt zwischen 11. und 13. an Sie ab. Es wird leider etwas länger als wir gedacht haben; [. . .].«11 Dass das Manuskript, das fertig war, nun doch etwas länger wird, könnte darauf hindeuten, dass Musil den Anfang nachträglich dazu geschrieben hat. Einen weiteren Hinweis darauf könnte ein Bleistifteintrag auf der letzten beschriebenen Seite des Manuskripts geben: »Ihre Hand in seiner, Stimme im Ohr, alle berührten Stellen zwei Hohlkörper | Dieses Mysterium mit Kind vorbei. Die jenseitigen Teile sterben.« (G V/3) Diese Passage sollte wohl an der Stelle auf der zweiten Seite von Bogen II eingefügt werden, wo mit Bleistift auf die »letzte Seite« verwiesen wird.12 Sie sollte wohl zunächst als Illustration zum Ausdruck »Wiedervereinigung« dienen. Im Drucktext hat er sie etwas früher eingefügt.13 »Dieses Mysterium mit dem Kind vorbei« könnte dagegen ein Hinweis auf den Anfang sein,14 wo es im Drucktext heißt: »diese Liebe war durch das Kind trennbar geworden« (GW II, S. 234), was die These unterstützen würde, dass der Anfang nachträglich dazu kam. Da die einzelnen Drucke der Novelle nur wenig voneinander abweichen, kann man kaum aus den Übereinstimmungen des Wortlauts ableiten, ob es sich bei dieser »Reinschrift« um einen unmittelbaren Vorgänger der Vorlage für den Druck von 1921 handelt. Ich habe nur drei Stellen gefunden, wo die »Reinschrift« mit dem Text von 1921, nicht aber mit dem von 1924 übereinstimmt.15 10 11 12 13
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KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Efraim Frisch, 6. 11. 1921. KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Efraim Frisch, 10. 11. 1921. Der Verweis befindet sich neben dem Satz: »Es war nur ein herrliches, von Jugend umflossenes Wort Wiedervereinigung da.« (G II/2) »Er fühlte die Hand seiner Geliebten in seiner, ihre Stimme im Ohr, alle Stellen seines Körpers waren wie eben erst berührt, er empfand sich selbst wie eine von einem anderen Körper gebildete Form.« (GW II, S. 240) In den skizzenhaften Aufzeichnungen auf Blatt 3 des 5. Bogens kommt die Idee mit dem Kind nochmals vor: »Das Gefühl, daß ihm ein Wunder bewiesen wird und Gridja ein Teil in einer Sendung ist, welche ihm den Blick gibt für das schon übernatürlich Existieren mit seiner Geliebten (der er durch das Kind, obgleich er auch dieses liebt, entwunden ist)« (G V/3). »Sie sprachen in Zeichen – trotzdem das auch Worte waren« (G III/2; KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Grigia/31); im Text von 1924 heißt es: »mochten das trotzdem auch Worte sein« (GW II, S. 243). An einer Stelle haben das Manuskript und der Text von 1921 »trotzdem«,
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Die erste Niederschrift ist mit Tinte geschrieben, es gibt eine Korrekturschicht mit Tinte, teilweise etwas hellerer Tinte als diejenige der ersten Niederschrift, und schließlich eine Korrekturschicht mit Bleistift. Die Bleistifteinträge stimmen in der großen Mehrzahl der Fälle mit dem Wortlaut der Druckfassung überein. Insofern es sich hier um eine überarbeitete Reinschrift handelt, ist nur ein beschränkter Einblick in die Schreibprozesse und in Musils Textstrategien möglich, aber einiges lässt sich doch erkennen, insbesondere wenn man die stark korrigierten Stellen berücksichtigt. Es geht also im Folgenden keineswegs darum, die Erzählung, wie es nur zu oft geschieht, auf biographische Details zurückzuführen, sondern es geht darum, zu zeigen, wie Musil konkrete Beobachtungen und biographische Details umfunktioniert zu einem vielschichtigen Text. Die Frage, ob es Grigia wirklich gegeben hat und ob sie die Geliebte Musils oder eines anderen Offiziers war, interessiert hier nicht.
Ich werde im Folgenden das textgenetische Dossier unter zwei Fragestellungen analysieren. Zunächst geht es darum festzustellen, wie Musil die Notizen in Heft I und II in den literarischen Text integriert und semantisiert hat, wobei für die jeweilige Stelle auch die Manuskriptfassung mitberücksichtig wird. Die Semantisierung von Beobachtungen hat Musil in einem Eintrag in Heft I reflektiert, ohne dass er sich aber erklären kann, wie sie vor sich geht: »Aus den Sachverhalten, die ganz formlos da sind, fast nicht da sind, bilden sich auf eine Weise, die ich nicht analysiert habe, die Aussagen.« (Heft I/ 82) Danach soll das Manuskript an jenen Stellen analysiert werden, die Musil besonders intensiv bearbeitet hat, wo er mehrere Varianten ausprobiert hat. Nicht behandelt werden Stellen, wo Musil lediglich Wörter umgestellt hat, was oft auch aus stilistischen Gründen geschah.16 Es geht nicht darum, festzustellen, ob eine Formulierung besser als die andere ist, sondern es geht darum, das semantische Potential der Änderungen zu erfassen.17
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während der Text von 1924 »obgleich« hat: »trotzdem ihm ihr Aussehen auffallen mußte« bzw. »auffiel« (G IV/4; KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Grigia/45). An der dritten Stelle wird »die Liebe mit einer Frau in solchem Gefängnis« im Text von 1921 beibehalten, er fügt gegenüber dem Manuskript noch »unentrinnbar« ein: »in solchem unentrinnbaren Gefängnis«. Der Drucktext von 1924 lässt »mit einer Frau« weg: »die Liebe müßte in solchem unentrinnbaren Gefängnis«. Diese Beispiele scheinen mir aber zu schwach, um zu belegen, dass es sich bei der »Reinschrift« um die unmittelbare Vorlage für den Abdruck von 1921 handelt. So hat er zum Beispiel bei der Aufzählung der Dialektausdrücke viele Umstellungen vorgenommen, ohne jedoch den Inhalt zu verändern. Roth: Ein Kommentar (s. Anm. 9) sieht die Änderungen allein unter dem Aspekt der Verbesserung.
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1. Vorbemerkung Da in der Sekundärliteratur teilweise seltsame Vorstellungen über Erzähler und Erzählperspektive herrschen,18 sei hier eine Klarstellung vorausgeschickt: Grigia wird von einem heterodiegetischen Erzähler erzählt. Dieser kann bekanntlich grundsätzlich aus der Perspektive einer Person oder aus der Position der Nullfokalisation erzählen bzw. beide Positionen mischen. Es gehört zum heterodiegetischen Erzähler, dass nicht immer auszumachen ist, ob es sich bei einer bestimmten, wertenden Aussage um die Wertung der Figur oder des Erzählers handelt. So ist zum Beispiel der Anfang der Erzählung mit der allgemeinen Aussage: »Es gibt im Leben eine Zeit, wo es sich auffallend verlangsamt« sicher dem Erzähler zuzuschreiben, schon weil noch keine Figur eingeführt ist, deren Aussage dies sein könnte. Aber wie steht es mit der Beschreibung des »seltsamen« Ortes? Ist dies die Beschreibung des Erzählers oder die Wahrnehmung Homos? »Als sie drinnen waren, befanden sie sich an einem seltsamen Ort. Er hing an der Lehne eines Hügels« (GW II, S. 235 f.). Da wir keinerlei Hinweis auf die Wahrnehmung Homos haben, ist diese Passage doch wohl dem Erzähler zuzuschreiben. Erst mit der Geschichte vom Bauern, der sich bei mehreren Frauen als ihr Ehemann ausgibt, wird Homo als wahrnehmende Instanz eingeführt: »Homo hörte gleich zu Beginn eine Geschichte erzählen, die ihn ungemein beschäftigte.« (GW II, S. 238) Die Geschichte wird aber dann vom Erzähler wiedergegeben. Und die Feststellung »So waren diese Weiber« (GW II, S. 238) kann sowohl dem Erzähler wie Homo zugeordnet werden. Man könnte sie eher Homo zuordnen, weil man vom Erzähler eine etwas neutralere Ausdrucksweise als »Weiber« erwarten würde.19
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Vgl. unten Anm. 19. Ursula Meier Ruf: Prozesse der Auflösung. Subjektstruktur und Erzählform in Robert Musils Drei Frauen. Bern u. a. 1992 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1319), die sich des Erzählmodus annimmt, sieht zwar teilweise richtig die Vermischung von Erzählerposition und Figurenfokalisation, kann sie aber nicht adäquat beschreiben, weil sie die von Gérard Genette (Die Erzählung. München 21998) eingeführte grundlegende Unterscheidung zwischen »wer spricht« und »wer sieht« nicht kennt. Seltsamerweise wird die Analyse der Erzählungen von Dorrit Cohn, die den sehr nützlichen Begriff der Psychonarration für diese besondere Mischung von Erzählerposition und Figurenfokalisation eingeführt hat, von der Musil-Forschung nicht zu Kenntnis genommen. Vgl. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative modes for presenting consciousness in fiction. Princeton 1978 [neue Auflage 2011]. Im Tagebuch braucht Musil ausschließlich die Ausdrücke »Bäuerin, Mädchen, Bauernmädel«. – Aus den oben genannten methodischen Gründen finde ich die Unterstellung Kurt Krottendorfers, dass Homo die Frauen und ihr Verhalten beschreibt, höchst problematisch: »Homo sieht nicht Ausbeutung, Degradierung der Frauen zu Lasttieren und Korrumpierung der Bewohner durch den Reichtum der Goldsucher, sondern stilisiert die ökonomische Unterwerfung der Talbewohner zu einer neuen, natürlichen, segensreichen Ordnung.« Vgl. Kurt Krottendorfer: Versuchsanordnungen. Das experimentelle Verhältnis von Literatur und Realität in
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2. Das Material von Palai Im Folgenden soll das Material von Heft I auf seine Verwendung und Funktionalisierung hin untersucht werden, wobei zuerst die Einträge die Frauen betreffend untersucht werden und danach diejenigen, die das sogenannte Goldgräberleben betreffen. Es wird sich zeigen, dass durch den Blick auf diese Einträge Stellen untersucht werden, die kaum je die Aufmerksamkeit der Interpreten gefunden haben.
2.1 Die Beschreibung der Frauen Im gedruckten Text gehört die Beschreibung der Frauen zu der übergeordneten Charakterisierung: »Es lebten übrigens merkwürdige Leute in diesem Talende.« (GW II, S. 237) Mit der Bemerkung »So waren diese Weiber« (GW II, S. 238) beschreibt der Erzähler die Frauen wohl meistens aus der Perspektive Homos, während die Männer mehr oder weniger abwesend zu sein scheinen. Sie sind in Amerika oder auf den Bergen oben am Arbeiten, bzw. sind einfach nicht vorhanden wie Grigias erst am Schluss auftauchender Ehemann. Der Erzähler beschreibt Kleidung und Schuhe der Frauen. Was zunächst einfach wie eine ethnographische Beschreibung eines für den Städter kuriosen Schuhs aussieht, ist mehr, denn es geht ja auch gerade darum, nicht nur zu beschreiben, sondern dem Ganzen einen Sinn, eine Bedeutung zu geben, wie sich gerade auch an den Korrekturen zeigt. Die Schuhe hat Musil in Heft I nicht beschrieben, er hat sie gezeichnet, was bedeutet, dass er die Zeichnung nun in Text umsetzen muss. Diese Holzschuhe, welche man wie andere Details der Kleidung als archaische Überbleibsel aus einer andern Epoche interpretieren kann, werden im Text durch zwei Vergleiche mit der Konnotation des Exotischen verknüpft, indem gesagt wird, die Schuhe sähen wie »Einbäume« aus, was auf die in anderem Zusammenhang genannten »Neger« hinweist, bzw. die Frauen gingen auf ihren Schuhen wie »Japanerinnen«. Die Stelle ist in der Handschrift verhältnismäßig stark korrigiert. Zuerst scheint sie ganz einfach gelautet zu haben: »nur an der Sohle hatten sie zwei daumenhohe und messerschmale Querstege wegen der schlechten Wege, so dass sie darauf gingen wie die Japanerinnen.«20 Das ist eine ziemlich präzise Beschreibung.
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Robert Musils Drei Frauen. Wien u. a. 1995 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 35), S. 126. Es gibt an der Stelle im Text keinen Hinweis, dass es sich bei der Beschreibung um die Wertung Homos handelt, es kann geradeso gut die Beschreibung des Erzählers sein. Dass Homo etwas stilisiert, geht meiner Ansicht nach auf jeden Fall zu weit, das kann nur der Erzähler. Diese methodische Kritik gilt für die meisten weiteren Bemerkungen Krottendorfers zu Homo (z. B. auch S. 127 ff.). Warum dieser Vergleich ein Cliché sein soll, wie Stephanie Catani: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg 2005 (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, Bd. 28), S. 231, meint, ist mir schleierhaft.
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Musil ersetzt aber dann die »Querstege« durch »zwei messerartige Eisenstege«, und fügt noch »in ihren blauen und braunen Strümpfen« ein: »zwei messerartige Eisenstege, auf denen sie wegen der schlechten Wege in ihren blauen und braunen Strümpfen gingen wie die Japanerinnen.« (G I/4) Die Ersetzung der »daumenhohen und messerschmalen Querstege« durch »zwei messerartige Eisenstege« vermindert die Präzision, indem die Maßangabe von Höhe und Dicke wegfällt, dafür wird das Materielle durch »Messer« und »Eisen« stärker hervorgehoben. Die Strümpfe rekurrieren auf die zuvor erwähnte Bauerntracht, wo dieselben Farben vorkommen, und kontrastieren mit dem Exotischen der Japanerinnen.21 Es gibt weitere Verflechtungen, »messerartig« konnotiert insbesondere in Verbindung mit »Eisen« ›Schärfe‹, welche in der übernächsten Charakterisierung, wie die Frauen reiten, nämlich auf »scharfkantigen« Sätteln, wieder aufgenommen wird. Das ist umso auffälliger, als in der entsprechenden Notiz in Heft I das Merkmal der Schärfe nicht vorkommt: »Mädchen auf Esel [. . .]. Sitzt im hölzernen Tragsattel, offenbar ohne Hosen.« (Heft I/3) Musil scheint es darauf angelegt haben, durch ein Geflecht von semantischen Merkmalen seine zunächst offenbar auf reine Beobachtungen zurückgehenden Einträge im Text zu verbinden und so einen Zusammenhang herzustellen. Er verwendet dabei ein Verfahren, das eher für die Lyrik typisch ist als für Prosa, nämlich die Betonung der Konnotation auf Kosten der Denotation und die Strukturierung durch Isotopien. Das semantische Merkmal ›exotisch‹ wird, wie erwähnt, durch den Vergleich der auf dem Boden sitzenden Frauen mit »Negern« wieder aufgenommen: »sie [. . .] zogen die Knie hoch wie die Neger.« (Heft I/4) Interessant ist, dass der Hefteintrag die Charakterisierung »orientalisch« braucht: »Die wartenden Frauen sitzen auf der flachen Erde mit hochgestellten Beinen, orientalisch.« (Heft I/3) Man könnte sagen, dass Musil »orientalisch« bereits in dem Vergleich mit den Japanerinnen verwendet hat, eine andere Konnotation scheint mir aber wichtiger zu sein: »orientalisch« evoziert nicht wie die Neger das Primitive, Unzivilisierte, das sich offenbar für Musil mit der Vorstellung »Neger« verbindet, wie sich an der zweiten Stelle zeigt, wo Musil das Wort verwendet. Das Heu rieche wie »die berauschenden Getränke der Neger« bzw. wie »Negergetränke« (GW II, S. 249). »Man brauchte sich nur zu erinnern, daß man hier unter Wilden lebte, so entstand schon ein Rausch« (GW II, S. 249). Der Rausch evoziert neben dem Unzivilisierten noch zusätzlich das semantische Merkmal »irrational«, das gerade im Zusammenhang mit dem Liebesverhältnis zu Grigia wichtig wird.22 21 22
»Ihre Beine staken in braunen Wollkitteln mit handbreiten roten, blauen oder orangen Borten.« (G I/4) Diese semantischen Bezüge zeigen, dass genderkritische Lektüren wie die von Stephanie Catani, die behauptet, die Frauen würden animalisiert und als »Kuhherde« gesehen, ebenso zu kurz greifen wie gesellschaftskritische, weil sie der Komplexität der semantischen Struktur
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Diese Stelle ist überhaupt stark korrigiert. Eine interessante Korrektur ist die Ersetzung von »Boden« durch »Erde«. Zunächst hieß es: »wenn sie [. . .] warten mußten, setzten sie sich auf den flachen Boden hin«, dies wird durch »auf die flache Erde« ersetzt (G I/3). Das Wort »Erde« kommt in der ursprünglichen Notiz bereits vor. Wenn Musil zunächst »Boden« schreibt, scheint es ihm um den Gegensatz von leicht erhöht (Wegrand) und flach (Boden) gegangen zu sein. Mit der Verwendung von »Erde« wird die Stelle mit allen jenen verbunden, wo es um die Konnotation ›erdig‹ geht. Erdig ist ein Attribut von Grigia, wie sich an späteren Stellen zeigt. Als Grigia das erste Mal beschrieben wird, heißt es im Manuskript: »Es kam ihm manchmal vor, wie wenn mit halbem Leib aus der grauen Erde eine Dame herausgewachsen wäre, die statt der Beine Wurzeln hatte oder erschien ihm wie eine edle Gußform, von der noch der schmutzige Sand der Gußstätte nicht abgekratzt war.« (G III/4) Grigia ist zugleich eine Dame, aber auch der Erde verhaftet, Teil der Natur. Von ihrer Hand heißt es: »es war eine gut geformte Hand, so samten rauh wie feinstes Sandpapier oder rieselnde Gartenerde.« (G III/4; GW II, S. 246) Als er sie während der Heuernte sucht, findet er sie »in einem Kartoffelacker«. »Er wußte, sie hatte nichts als zwei Röcke an, die trockene Erde, die durch ihre schlanken, rauhen Finger rann, berührte ihren Leib.« (G IV/3; GW II, S. 249) Schließlich wird die Wirkung Grigias auf Homo mit dem »Grauen vor der Natur« verglichen, die »erdig, hart, voll Schmutz«, ja »unmenschlich« ist (G III/4). An Grigia haftet die Erde, sie ist Natur, sie ist aber auch »Dame« und gehört damit auf die zivilisierte Seite. Die Vorstellung der mit halbem Leib aus der Erde herauswachsenden Dame wird im Drucktext ersetzt durch »eine Dame mit einer Teetasse« mitten im Holz (GW II, S. 246), ein Bild, welches vielleicht das semantische Merkmal »Zivilisation« mehr hervorhebt als das ursprüngliche Bild. Diese damenhafte Seite von Grigia wird auch in der ersten Beischlafszene nochmals betont, wo es heißt: »›sie‹ lächelte zum letztenmal, als sie sich nach dem Saum ihres Rockes bückte wie eine Dame, die sich das Strumpfband richtet.« (G IV/1; GW II, S. 247) Die Beschreibung, wie die Frauen reiten, geht ebenfalls auf eine Notiz in Heft I zurück. »Mädchen auf Esel, Bergweg hinanreitend. Leise schaukelnde Bewegung des ganzen Oberkörpers. Sitzt im hölzernen Tragsattel, offenbar ohne Hosen. Die Beine unziemlich hochgezogen.« (Heft I/3) In der Handschrift ergibt dies zunächst: »dann saßen sie wie Männer auf den scharfkantigen hölzernen Tragsätteln, und nicht auf ihren Röcken, hatten die Beine unziemlich hochgezogen« (G I/4). Die unziemlich hochgezogenen Beine erinnern natürlich wieder an die auf dem Boden sitzenden Frauen. Musil erweitert seine ursprüngliche Beobachtung um zwei Aspekte: Er verkeine Rechnung tragen, sondern einzelne Aussagen direkt auf die Realität beziehen. Vgl. Catani: Das fiktive Geschlecht (s. Anm. 20), S. 231.
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gleicht die Reitweise der Frauen mit jener der Männer. Dies genügt Musil aber nicht, um die körperliche Unempfindlichkeit der Frauen zu konnotieren. Er drückt dies explizit aus, indem er »mit unempfindlichen Schenkeln« einfügt. Doch auch dies scheint ihm noch immer nicht zu genügen für den Eindruck, den er erwecken will, und er ersetzt die »scharfkantigen [. . .] Tragsättel« durch die »scharfen Holzkanten«, wodurch das Körperliche, Sinnliche der reitenden Frauen akzentuiert wird. Zudem wird durch die Hervorhebung von »scharf« eine Verbindung zu den »messerartigen Eisenstegen« hergestellt, die, wie bereits gesagt, auch Schärfe konnotieren. An der oben zitierten Stelle wird die Natur übrigens auch »kantig« genannt. Dieser Betonung der Härte, der Schärfe, des Unzivilisierten, des unweiblichen Verhaltens der Frauen wird in einer zweiten Serie von Charakterisierungen das Liebenswürdige, Höfliche, Zivilisierte entgegengesetzt. »Viele Frauen haben hier eine freie Freundlichkeit, aufrechte Liebenswürdigkeit. ›Treten Sie bitte ein‹ sagen sie, oder ›darf ich Ihnen nicht den Mantel tragen.‹« (Heft I/4) Wiederum fügt Musil im Text gegenüber seinen in Palai notierten Beobachtungen einige bezeichnende Ergänzungen ein: die Freundlichkeit ist »verwirrend frei«, und sie äußern ihre Einladung »aufrecht wie die Herzoginnen« (G I/4). Scheinen die Bäuerinnen teils Dienerinnen zu sein – sie werden ja als eine Art Arbeitstiere geschildert – so sind sie auch Herrinnen ihrer Häuser. Das wird ebenfalls an einer Stelle, die sich auf Grigia bezieht, deutlich, die Musil später wieder gestrichen hat. Sie schließt an die oben erwähnte Beschreibung Grigias auf dem Kartoffelacker an: »Das war nicht die schmutzige Magd, die mit 20 andern rastet, das war die freie Bäurin, die aus ihrer grauen mulmigen Erde wächst.« (G IV/3)23 Die graue Erde gibt im Übrigen hier eine zweite Motivation für Grigia ab: Sie wird zwar nach ihrer Kuh benannt, aber sie ist auch ein Gewächs der grauen Erde. Wurden die Frauen bei der Beladung ihrer Rückenkörbe mit Tieren verglichen, so sind sie andererseits höfliche, freie, zivilisierte Menschen, was an einem weiteren Detail zu erkennen ist: Wenn die Bäuerinnen »ausspucken mußten, taten sie es sehr gebildet« (G IV/3),24 was im endgültigen Text durch »taten sie es sehr künstlich« ersetzt wird (GW II, S. 249). Sie haben also durchaus auch Teil an der Welt, die im Text eher der Stadt zugeordnet wird, an der Welt der Bildung, der Zivilisation und der Kunst. Dazu passt auch, dass wenn die Bäuerinnen auf ihren Heuhügeln ausruhen, sie wie »Michel Angelos Statuen in der Mediceerkapelle zu Florenz« aussehen (GW II, S. 249). Der nächste Komplex der Charakterisierung der Frauen betrifft den scherzhaft-erotischen Umgang des Mannes mit den Frauen. Während in der 23
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In Heft II/69 findet sich die Notiz, welche schon zur Ausarbeitung von Grigia gehört: »Das ist nicht die Magd, die mit 20 anderen Rüben erntet. Das ist die freie Bäurin, die aus der grauen, ausgetrockneten Erde hervorgewachsen ist.« Die Stelle geht auf Heft I/17 zurück: »Wenn sie mit dir reden und ausspucken wollen, tun sie es ganz sehr gebildet.«
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Erzählung alle diesbezüglichen Scherze von Homo ausgehen, notiert Musil in Heft I auch Scherze von anderen bzw. es ist nicht klar, ob er oder andere die Urheber der Scherze sind. Gleich der erste Eintrag ist von dieser Art: »Als man ihr sagte, komm ins Heu, schnob sie heiter aus Nase und Augen. Bewegungen wie in der komischen Oper« (Heft I/2). Dieser Scherz wird im Text stark ausgebaut, indem einerseits das Verhalten Homos motiviert wird: »weil ihm das Heu plötzlich so natürlich erschien«, und andererseits der Scherz dadurch, dass das Mädchen erst vierzehn Jahre alt ist und ein »Kindergesicht« hat, etwas leicht Skandalöses, gegen die moralischen Normen Verstoßendes erhält, was noch dadurch unterstrichen wird, dass das Mädchen nicht wie zu erwarten erschrickt, sondern bloß heiter aus Nase und Augen schnaubt und beinahe aufs Gesäß fällt (G I/4; GW II, S. 239). Sie scheint, wie der Hinweis auf die komische Oper suggeriert, eine Szene zu spielen. Dies wird durch den Hinweis auf das Theater in der nächsten Episode noch verstärkt, indem die große Bäuerin aussieht »wie eine deutsche Wittib am Theater« und anschließend von »Theaterechtheit auf sechzehnhundert Meter Höhe« die Rede ist (GW II, S. 239 f.). In der Notiz in Heft I fehlt bezeichnenderweise der Zusatz »am Theater«. Der Scherz wird dort einem Vielmetti zugeschrieben.25 Wiederum wird das semantische Feld Zivilisation, Kultur evoziert. Theaterechtheit bedeutet aber zugleich Spiel an der Stelle von Ernst, bedeutet eine Abwertung der Wirklichkeit, was das Leben zu einem »in der Luft schwebenden Spiel« macht (GW II, S. 240), wie denn das Leben im Fersental von Anfang an etwas Unwirkliches hat. Diese Zweideutigkeit der Charakterisierung, die man auch als eine Auflösung von scheinbar festen Grenzen zwischen dem Wilden, der Natur und dem Zivilisierten, der Kultur, der Wirklichkeit und der Welt des ästhetischen Scheins, dem Gebildeten und Ungebildeten, dem Dienenden und dem Herrschenden, dem Verstoß gegen moralische Normen und der Einhaltung der Normen interpretieren kann, ruft bei Homo immer wieder Verwirrung hervor.26 Grenzauflösungen sind ein durchgehendes Charakteristikum der Novelle.27 So wie die in Grigia dargestellte Welt nicht einfach archaisch ist, sondern eine Mischwelt, in der archaische Züge erhalten sind, die aber zugleich ver25 26
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Zu Vielmetti siehe Corino: Robert Musil (s. Anm. 2), S. 1614. Siehe die Bemerkungen: »Homo verlor da fast die Führung.« (GW II, S. 239) – »dass diese Theaterechtheit auf sechzehnhundert Meter Höhe ihn sehr verwirrte« (GW II, S. 239 f.) – »da konnte er sich kaum fassen« (GW II, S. 249). Die Verwirrungen des Zöglings Törleß entstehen auch durch solche Grenzauflösungen. Dagmar Leupold: Experiment Ekstase. Robert Musils Drei Frauen, in: Marie-Louise Roth (Hg.): Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Wiener Kolloquium zum 20-jährigen Bestehen der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft. Bern u. a. 1999 (= Musiliana, Bd. 5), S. 195–215, hier S. 200, macht darauf aufmerksam, dass auch das Dorf an dieser Auflösung teil hat, indem die Wege springen und die Gassen wie Bäche fließen (vgl. GW II, S. 236). Allerdings ist die Deutung »alles kann zu allem werden« zu pauschal und undifferenziert.
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schmutzt ist mit dem Unrat der modernen Zivilisation, so sind auch diese Frauen weder einfach Tiere noch grobe, ungebildete, mit der Natur verbundene Bäuerinnen oder gar Mägde, sondern sie sind auch zivilisiert, sie wissen sich zu benehmen, sie sind auch Damen, Herrinnen, ja Schauspielerinnen. Sie gehen wie die Japanerinnen, was wohl exotische Kultur konnotiert, setzen sich aber andererseits wie die Neger auf den Boden oder ziehen auf den Eseln unziemlich die Beine hoch. Genderspezifische Untersuchungen zu Grigia bzw. zu den Drei Frauen haben diesen Aspekt völlig übersehen, wenn etwa behauptet wird, die Frauen würden nur als Tiere dargestellt und die Männer als zivilisiert.28 In Wirklichkeit wird die Welt des Fersentals als eine durchaus zweideutige gezeichnet, wie sich nicht zuletzt an den Zusätzen zeigt, die Musil im Text gegenüber den Notizen angebracht hat und auch daran, dass diese Stellen im Manuskript zu den am meisten überarbeiteten gehören. Musil erweitert die ursprünglichen Notizen durch Vergleiche so, dass sie in das semantische System des Textes eingepasst werden, ein semantisches System, in dem die Gegensätze zwischen Kultur/Zivilisation und Natur zunehmend aufgelöst werden, wo die Geschichte der Begegnung des rationalen, zivilisierten Homo mit der archaischen, irrationalen, unzivilisierten Welt geschildert wird.29
2.2 Das Goldgräberleben Der zweite Komplex von Beobachtungen, die Musil in Palai notiert hat, wird für die Beschreibung des »Goldgräberlebens« verwendet. Das »Goldgräberleben« besteht aus einer Reihe von Episoden bis hin zur Beschreibung des abendlichen Kasino-Lebens. Es sind dies: die Bestrafung eines Burschen, der Wein gestohlen hat, die Beobachtung der Pferde, die Ankunft der Hunde, die Beobachtung der Rinder, der Unfall, das Schlachten eines Schweins. Alle diese Elemente, die man gewöhnlich nicht unbedingt mit dem »Goldgräberleben« verbindet, gehen auf Notizen in Heft I zurück. Wiederum nimmt Musil mit dem Material bezeichnende Änderungen vor. Die der Episode mit dem Wein stehlenden Burschen zugrundeliegende Notiz bezieht sich auf einen von den Österreichern gefangenen italienischen Soldaten: In S. Orsola ist ein junger ital. Standschütz zurückgeblieben. Die Patrouille bringt ihn ein. Da ihn der Major erst anbinden lassen wollte, holt ein Zgsf. einen Strick. Schwingt mit ihm spielend hin u her, hängt ihn über einen Nagel. Der Bursche zittert am ganzen Körper, weil er denkt, daß er aufgehängt werden wird. (Heft I/3 f.)
Dass der Bursche in der Kriegssituation das Schlimmste fürchtet, ist verständlich, anders beim Wein stehlenden Burschen des literarischen Textes, den 28 29
So z. B. Catani: Das fiktive Geschlecht (s. Anm. 20), S. 231. Die Forschung zu den Drei Frauen ist meiner Ansicht nach bisher zu sehr an der Textoberfläche geblieben.
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führt man bewusst irre, indem der Werkführer »zum Spaß eindrucksvoll mit ›den Stricken‹ hin und her schwenkte« (G II/3; GW II, S. 241). Es wird hier Theater gespielt wie von der Bäuerin, die einer »deutschen Wittib« gleicht. Die nächste Episode wird nachträglich mit der Bemerkung angeschlossen: »Ganz das Gleiche geschah, [. . .] wenn Pferde eintrafen« (G II/3; GW II, S. 242).30 Was ist »ganz das Gleiche«? Die Verbindung zwischen der Episode mit dem Burschen und den Pferden kann nur in ihrem ästhetischen Aspekt liegen, denn die letzteren scheinen in ihrer Anordnung »einem geheim verabredeten ästhetischen Gesetz« zu folgen. Die gleich anschließende, einer späteren Notiz in Heft I entsprechende Bemerkung zu den Pferden, die im Frühmorgenlicht den Vorübergehenden nachsehen, wird von Musil wiederum durch einen bezeichnenden Zusatz ergänzt: »man fühlte sich in dem wesenlosen Frühmorgenlicht wie einen Gedanken in einem sehr langsamen Denken.« (G II/3; GW II, S. 242) Die Grenze zwischen Tier und Mensch wird hier durchlässig: Der Mensch denkt nicht an das Tier, sondern er wird ein Gedanke, ein Gegenstand im Denken des Tiers, dem damit (menschliche) Denkfähigkeit zugesprochen wird. Das Thema der Auflösung von Grenzen wird fortgeführt in der Beschreibung der Hunde, die zur Bewachung herangeführt werden, wo Musil seine Notiz ergänzt durch die Bemerkung: »Das waren nun mit einemmal ebenso viel Hunde wie Menschen am Ort, und man mochte sich fragen, welche von beiden Gruppen sich eigentlich auf dieser Erde als Herr im eigenen Hause fühlen dürfe und welcher nur als angenommener Hausgenosse.« (GW II, S. 242) Damit tritt die Stelle in einen komplexen Bezug zu der Beschreibung der Talbewohner, wo die Hierarchie zwischen Fremden und Einheimischen auch nicht klar ist. Zwar walten die Fremden wie die »Götter« und bringen den Segen, aber andererseits treten die Frauen wie Herzoginnen auf. Im Fall der Hunde löst sich nicht nur die Hierarchie zwischen Herr und Knecht, sondern auch zwischen Mensch und Tier auf. Diese Auflösung von Hierarchien wird noch unterstrichen durch das Attribut »Herrenhund« für Rustan, den Hund, der schon immer dabei war.31 Durch die Ankunft der Hunde ist auch seine Stellung plötzlich nicht mehr so unangefochten wie vorher, es kommt zu Angriffen des bösen kleinen Hundes auf Rustan. Musil hat diese Stelle im endgültigen Text gestrichen, sie entspricht aber einem Eintrag in Heft I. Im Manuskript hat Musil erwogen, 30
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Musil fügt öfters solche verdeutlichenden Ergänzungen ein: So jene, die die Auflösung der Zeit verdeutlicht: »Vielleicht war das gar nicht zur Zeit der Heuernte, es lebte sich alles so durcheinander.« (G IV/3) Oder die Bemerkung, dass ihm die Betonung, mit der Grigia schließlich nachgibt, doch wieder in einen der Heuställe weiter oben zu gehen, »hinterher zweideutig vorkam« (G V/1), womit er eine Andeutung für das Ende einbaut. »Rustan der Herrenhund, den sie seit Beginn schon bei sich hatten, lief freundlich beriechend von einer Koppel zur andern; bald bewedelt, bald angegrollt. Besonders der weiße böse Kleine knurrte ihm zur Kehle hinauf, und da sich seine kleinen scharfen Zähne unmittelbar unter ihr befanden, machte Rustan unschuldsvoll ängstliche Augen und wollte weder ganz auskneifen, noch war schon Anlaß um gewaltsam zu werden.« (G II/4)
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zu erwähnen, Rustan, der sehr freundlich ist zu den Neuankömmlingen, ja »unschuldsvoll ängstliche Augen« macht (G II/4), habe vor einigen Wochen einen kleinen Hund wie einen Hasen totgebissen. Er wäre dann genauso aggressiv wie die andern Hunde, die übereinander herfallen bzw. wie der »kleine Weiße«, der dem Koch fast den Finger abbeißt; damit wäre auch die Grenze zwischen Freundlichkeit und Aggressivität aufgelöst. Die dargestellte Welt erweist sich damit immer mehr als eine, die sich außerhalb der Normalität der alltäglichen Welt befindet. Die anschließende Beschreibung der Rinder zeigt diese im Gegensatz zu den Pferden als in sich ruhend, unzugänglich für den Menschen. In Heft I notiert Musil lediglich »Liegen in hübschen Stellungen«. Dies führt er im Text breit aus, indem er sie als »mattweiße, steinerne große Formen« beschreibt, die »wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel« daliegen (GW II, S. 242). Das Ästhetische der Anordnung wird durch die Vergleiche noch unterstrichen. Zugleich haben die Rinder etwas Religiöses, wenn es heißt: »ihre gleichförmig, langsam mahlenden Mäuler schienen zu beten.« Es ist von der »dämmrigen hohen« bzw. »erhabenen« (im endgültigen Text) »Existenz« die Rede (G II/4; GW II, S. 242). Das semantische Feld des Religiösen ist zum ersten Mal in Homos Erlebnis im Lärchenwald aufgetreten, wo von Gott, von tiefer Religion, dem Glauben die Rede ist, und wo er die Liebe als himmlisches Sakrament erfährt. Die Rinder scheinen eine Steigerung zu den Pferden zu bilden, indem sie in einer Art anderem Zustand leben, wo sie die Menschen nicht wahrnehmen, nicht auf sie bezogen sind. Was schon bei den Hunden anklang, nämlich dass vielleicht die Menschen nicht mehr Herr im eigenen Hause sind, wird hier noch deutlicher: Die Menschen sind für die Rinder nicht vorhanden. Typisch für die Musil’sche Semantik ist auch, dass die Rinder »da oben am Berg«, also weiter oben sind als die Pferde. Der Übergang zum andern Zustand findet bei Musil immer räumlich oben statt.32 Umso auffälliger, dass Musil ohne Absatz anschließt: »Überhaupt gab es viel Abwechslung«. Die nun folgenden Beobachtungen – zum Feuer, zur Birke und zum geschlachteten Schwein – stammen ebenfalls aus Einträgen im Heft I,33 sind aber schwieriger zu interpretieren, da in ihnen im Unterschied zu den vorangehenden Stellen kein motivischer Bezug zum restlichen Text auszumachen ist. Wollte Musil einfach seine Beobachtungen, die für ihn irgendwie mit Palai zusammenhingen, noch einbringen? Darauf könnte auch hindeuten, dass 32 33
Vgl. Rosmarie Zeller: Aspects de la sémantique de l’espace dans quelques nouvelles de Robert Musil, in: Degrés, Automne 1983, H. 35/36, n1–n11. »14/VIII . Feu . . . . . er – Alles läuft in Deckung; hinter dem Haus wird ein Stein gesprengt für den Bau der Kommandobaracke. Ein Regen wischt mit den ersten Strichen naß über das Gras. Unter einem Strauch am andern Bachufer brennt ein Feuer. Daneben steht wie ein Zuseher eine junge Birke. An diese Birke ist mit einem in der Luft hängenden Bein noch das schwarze Schwein gebunden. Das Feuer, die Birke und das Schwein sind allein.« (Heft I/19 f.)
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er die Stellen weit weniger bearbeitet hat als andere Stellen aus Heft I. Er hat wie im Falle des italienischen Soldaten die Kriegssituation eliminiert und auf die Situation der Aufschließung der Bergwerke übertragen. Er hat das Präsens der Heft-Einträge ins Präteritum verwandelt. Dreimal fügt er ein Adverbial der Zeit ein, der Regen wischt »gerade« über das Gras und die junge Birke ist »jetzt« der einzige Zuseher, die Birke und das Schwein sind »jetzt« allein. Auffällig ist, dass durch die Einfügung des »jetzt« im letzten Satz eine Rhythmisierung entsteht, und zugleich wird durch die Zeitangabe ein Bezug zum Betrachter Homo hergestellt. Nur an wenigen Stellen wird gegenüber dem Notat in Heft I etwas ergänzt: so wird vom Feuer gesagt, man habe es »über das neue Ereignis vergessen [. . .], während es bis dahin sehr wichtig gewesen war« (GW II, S. 243). Die Bemerkung stellt eine Verbindung her zur nächsten Passage, der Beschreibung des Lebens im Kasino, wo ebenfalls Dingen eine Wichtigkeit beigemessen wird, die sie am nächsten Tag verlieren. Bei der Schilderung der Tötung des Schweins34 präludieren die einbrechenden Vorderbeine das im Kasino-Abschnitt beschriebene Sterben der Fliege. Sowohl das Röcheln wie das Schnarchen nähern das Schwein wiederum dem Menschen an. So wie später auch die auf dem Fliegenpapier sterbende Fliege menschlich als »Sterbende« bezeichnet wird, die in einem »Friedhof von Stille« stirbt (GW II, S. 245). Vielleicht ist der fehlende bzw. nur schwache Bezug zum vorhergehenden und nachfolgenden Text Musil auch irgendwie klar geworden, denn er fügt mit Bleistift hinterher ein: »Dies alles bemerkte Homo zum ersten Mal in seinem Leben« (G III/1). Auch der Eintrag »Ganz das Gleiche geschah« (G II/3), der die erste Gruppe von Beobachtungen zusammenhält, wurde mit Bleistift nachgetragen. Durch die Bemerkung, dass Homo zum ersten Mal im Leben seine Aufmerksamkeit auf die Einzelheiten richtet, die einfach da sind, ohne zunächst etwas zu bedeuten, wird der Akzent auf Homo gelegt. Auffällig ist, dass Musil an der späteren Stelle, wo er Homo sich an diese Episoden erinnern lässt, nämlich vor dem ersten Beischlaf mit Grigia, zunächst auch die Hunde in die Sequenz aufgenommen hat: »Das alles war genau so einfach und gerade so verzaubert wie die Hunde, die Kühe und das tote Schwein.« (G IV/1) »Hunde« hat er im Drucktext durch »Pferde« ersetzt. Diese Ersetzung deutet darauf hin, dass die Hunde einen andern Stellenwert haben als die Beobachtungen der Pferde, Kühe und des Schweins, welche alle das Merkmal des »Geheimnisvollen« haben. Gerade diese Einträge hat Musil auch weit weniger bearbeitet als andere Stellen, weil sie offenbar schon für sich das Merkmal des »Zaubers« haben. Für die Beschreibung der Abende im Kasino des Pfarrhofs lassen sich nur wenige Notizen finden; sie betreffen die sterbende Fliege und das Grammophon. In Heft II findet sich zusätzlich die Beschreibung des Singens von Geraldine Farrar (Heft II/67). Interessant ist, dass in der Erzählung, die in 34
In der Schlussphase wird Grigias Verhalten im Stollen u. a. mit dem eines Schweins verglichen.
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einer nicht näher bestimmten Zeit spielt, hier plötzlich explizit das Thema Krieg eingeführt wird, welches in den Heft-Einträgen naturgemäß ständig präsent ist, aber nur gelegentlich thematisiert wird, während Grigia in einem nicht näher spezifizierten Jahr, aber sicher nicht im Krieg spielt. Das Benehmen der Männer am Abend im Pfarrhof wird als eines dargestellt, das nicht von Rationalität, sondern von Gefühlen bestimmt wird. Sie sprechen in Zeichen, eine Tiersprache.35 Das Grammophon, das im Hefteintrag »schon durch viele Abendstunden gearbeitet« hat (Heft I/16), wird im Text mit einem »vergoldeten Blechkarren« verglichen, der »über eine weiche, von wundervollen Sternen besäte Wiese« rädert (GW II, S. 243). Damit nimmt der Text ein Bild vom Anfang wieder auf, wo es heißt, dass auf der Sonnenseite des Tals Blumen blühten »mit gelben, blauen und weißen Sternen, die so groß waren, als hätte man einen Sack mit Talern ausgeschüttet« (GW II, S. 236). Die Taler haben etwas Märchenhaftes wie die mit Sternen besäte Wiese.36 Aus dem Grammophon erklingt schließlich die Stimme der Farrar, zu welcher Musil in Heft II eintrug: Geraldine Farrar: Ich möchte das einmal in meinem Leben beschreiben. Eine Stimme steigt in einem Lift, eine Frauenstimme natürlich. Und schon fährt der Lift mit ihr wie rasend in die Höhe \kommt an kein Ziel|, senkt sich, federt in der Luft. Ihre Röcke blähen sich vor Bewegung. Dieses Heben und Sinken auf und nieder, dieses lang angepreßt still Liegen an einen Ton und dieses Verströmen – Verströmen und immer noch von einer neuen Zuckung gefaßt werden und wieder Ausströmen: ist Wollust. Es ist jene allgemeine europäische Wollust, die sich zu Todschlag, Eifersucht, Automobilrennen steigert – ah es ist gar nicht mehr Wollust, es ist Abenteuersucht. Es ist nicht Abenteuersucht, sondern ein Messer, das aus dem Weltraum niederfährt, ein weiblicher Engel. Es ist die nie lebend verwirklichte Wollust. Der Krieg. (Heft II/67)
Die Beschreibung in Grigia ist fast wörtlich gleich, was insofern nicht erstaunlich ist, als Musil diesen Eintrag in Heft II im Hinblick auf eine Bearbeitung des Grigia-Stoffes gemacht zu haben scheint. Musil hat den Text wiederum ins Präteritum versetzt. Die Deutung dieses Gesangs wird Homo unterschoben, wobei der Weltraum durch den Himmel ersetzt wird, aus dem das Messer niederfährt, der weibliche Engel wird durch den »Würgengel, Engelwollust« ersetzt und hinter die Deutung »Der Krieg« ein Fragezeichen gesetzt. Wir haben hier eine Reihe von Motiven, denen wir bereits bisher im Text begegnet sind, der »Todschlag« erinnert an das Töten des Schweins mit der Hacke, das Messer an die »messerscharfen« Stege der Holzschuhe, die Abenteuersucht an das Goldgräberleben, die Engel an die religiöse Komponente, die in der Waldepisode eingeführt wird, und die auch in Homos Überlegung beim Anblick 35 36
Dies ist zugleich ein Beleg dafür, dass auch die Männer mit Tieren verglichen werden bzw. sich wie Tiere verhalten. Das Märchenhafte wird bereits auf der zweiten Seite der Novelle mit den »Märchengebilden« angesprochen, welche die Männer in Form von Bergkristallen von den Bergen bringen (GW II, S. 235).
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der sterbenden Fliege – »Töten, und doch Gott spüren; Gott spüren, und doch töten?« (GW II, S. 245) – anklingt. Alles zusammen wird mit »Wollust« und schließlich mit »Krieg« gleichgesetzt. Wollust, Krieg, Abenteuersucht, Religion, das alles gehört in Musils semantischem System zum Bereich des Irrationalen, dem Homo in dieser eigenartigen Welt begegnet bzw. das ihm da bewusst wird: »Da hatte er nun immer gemeint in der Wirklichkeit zu leben, aber was war unwirklicher, als daß ein Mensch für ihn etwas anderes war als alle anderen Menschen?«, überlegt er in der Waldepisode (GW II, S. 241), übrigens ein Satz, der im Manuskript nicht vorhanden ist; etwas später wird dies nochmals unterstrichen mit: »Er war kein dem Glauben zugeneigter Mensch, aber in diesem Augenblick war sein Inneres erhellt.« (GW II, S. 241)37
3. Stark korrigierte Stellen im Manuskript Im Manuskript gibt es einige Stellen, an denen Musil relativ stark korrigiert hat, was darauf hindeutet, dass sie ihm besonders wichtig waren. Zudem hat er Einiges erst im gedruckten Text eingefügt, dabei handelt es sich meistens um Verdeutlichungen. Eine erste Kategorie von Korrekturen und vor allem von Nachträgen betrifft eine Verdeutlichung des Zusammenhangs bzw. eine Motivierung. Das betrifft die oben bereits genannten Stellen, wo eine Beobachtung durch einen Zusatz explizit Homo zugeschrieben wird, was auf der Textoberfläche eine gewisse Kohärenz erzeugt. Das gilt auch für die Beschreibung, wie das Mädchen das Heu zu einem Bündel bindet, wo hinterher Homo als Beobachter eingeführt wird: »Homo sah von der nächsten Anhöhe aus zu« (G IV/2). Im gedruckten Text fügt er eine weitere Verstärkung hinzu: »Homo fühlte, es hat etwas vom Pillendreher, jenem Käfer.« (GW II, S. 248) Der Vergleich mit dem Pillendreher war bereits im Eintrag von Heft I/15 vorhanden, wird aber nun Homo zugeschrieben. Bei dieser Stelle geht es wie bei den andern oben behandelten nicht zuletzt auch darum, Beobachtungen Musils aus Heft I in den literarischen Text zu integrieren, wobei beim Vergleich mit dem Pillendreher wieder die Grenze Mensch/Tier aufgelöst wird und zugleich eine Beziehung zu der Stelle hergestellt wird, wo Homo sich die Liebe mit Grigia vorstellt, »regungslos wie die Käfer, die sich tot stellen, konzentrieren sie alle Aufmerksamkeit auf das, was mit ihnen vorgeht.« (GW II, S. 247) Um einen etwas anderen Fall mag es sich bei der Beschreibung, wie die heuenden Frauen die Nase in ein Büschel Heu schnäuzen, handeln, dies »konnte zum Lachen reizen, aber er erschrak damals plötzlich über diese rohe Würde.« (G IV/3) Diese auf Anhieb nicht verständliche Reaktion des 37
Siehe auch schon vorher die Stelle mit der »scharlachfarbenen Blume«, in deren Kontext die Ausdrücke »Wunder«, »unsinnig«, »unpraktisch«, »tiefe Religion« (GW II, S. 240) sowie »Zauberwelt« (GW II, S. 241) fallen.
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Erschreckens verdeutlicht Musil erst im gedruckten Text: »bloß wenn man zu ihnen gehörte, wie Homo, der Grigia suchte, mochte man auch plötzlich erschrecken über diese rohe Würde.« (GW II, S. 249) Für den Fremden ist es bloß lächerlich, Homo aber erkennt darin eine gewisse Würde, erschrickt aber zugleich wie auch an andern Stellen, die von Musil stark umgearbeitet werden. »Wenn er ihr drohte nicht mehr zu kommen, lachte sie: Ich glock an bei ihm! und fragte viel reut’s ihn?« (G IV/2) Zwischen die beiden Sätze Grigias fügt Musil nachträglich ein: »Da wußte er nicht, ob er erschrak oder glücklich war, u das mußte sie merken, denn sie fragte: Reuts ihn, viel reuts ihn.« (G IV/2) Homo erschrickt offenbar immer dann, wenn eine ambivalente Situation entsteht, das heißt, wenn sich die fremde Welt anders darstellt, als er es erwartet hatte. Auch Homos Überlegung, die sich auf derselben Seite befindet, ob er Grigia liebe oder ob sie Teil einer Sendung sei, fügt Musil erst hinterher am Rand mit Bleistift ein: »und wenn er ihn [den Mund] küßte«, »wußte er nie, ob er dieses Weib liebte oder ob ihm ein Wunder bewiesen wurde in Gridja und sie Teil einer Sendung war, die ihn mit seiner Geliebten anderswo wieder verknüpfte.« (G IV/2) Es handelt sich um eine Alternativvariante zu dem nicht gestrichenen Text: »und wenn er ihn [den Mund] küßte, war ihm zuweilen, als sei ein Weib, das vor Jahrhunderten gelebt hatte für ihn erweckt worden.« (G IV/2) Durch die neue Formulierung verbindet er die Stelle mit der Stelle im Märchenwald, wo Vergleiche mit dem semantischen Feld »Religion« häufig sind, während die ursprüngliche Formulierung an die Beschreibung der Eigenheit der Talbewohner, welche Spuren aus vergangenen Zeiten aufweisen, anspielt. Musil macht durch die neue Formulierung deutlich, dass die Beziehung zu Grigia nicht einfach als gewöhnliche Liebesgeschichte oder gar Ehebruchsgeschichte gelesen werden kann. Zu dieser Aktivierung des semantischen Feldes des Irrationalen gehört auch, dass er zweimal ein Kompositum mit »Zauber« nachträglich eingefügt hat: in der Waldszene »eine für ihn bestimmte Zauberwelt« (GW II, S. 241) und zur Beschreibung der Wirkung von Grigias Küssen »als hätte man ihm einen Zauberring um den Kopf gelegt« (GW II, S. 247). Er verstärkt dadurch die zunächst einzige Stelle, wo »Zauber« schon von Anfang an da war, nämlich vor dem ersten Beischlaf, wo es heißt: »Das alles war so einfach und gerade so verzaubert wie die Pferde, die Kühe und das tote Schwein.« (G IV/1) Der Anfang der Erzählung, besonders die Beschreibung des Dorfes hat Musil offensichtlich viel Arbeit gekostet. Zunächst hieß es: »die Häuser standen an der Talseite alle auf hohen Balken und ihre Abtritte schwebten einfach wie die Gondel eines Luftballons auf vier schlanken Stangen über der Steile.« Das »einfach« wird durch »etwas abseits von ihnen« ersetzt, der Vergleich mit der Gondel durch »Taubenschläge«, dann durch »sänftenartige Kasten«, dann durch »gondelartige Kasten« ersetzt, und schließlich findet er die Formulierung, wie sie auch im endgültigen Text steht: »wie die Gondeln von Sänften«
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(G I/1). Offensichtlich will Musil die »Gondel« nicht aufgeben, die er bereits in der ersten Formulierung der Passage gefunden hatte. Vielleicht war ihm der Luftballon zu modern, weswegen er ihn schließlich durch die »Sänften« ersetzt hat. Der Vergleich ausgerechnet der Abtritte mit Sänften, die eine Konnotation des Vornehmen, Würdigen haben, kann man als Ausdruck jener Zweideutigkeit dieser Welt zwischen Zivilisation und Wildheit, zwischen Komik und roher Würde sehen. Das Schwebende, das durch die Vergleiche konnotiert wird, wird im Text durch den Eindruck der Unwirklichkeit, den Homo immer wieder hat, unterstützt, so heißt es bezeichnenderweise zusammenfassend nach der Beschreibung der Frauen: »Er wurde es nicht mehr los, daß dieses Leben [. . .] gar nicht mehr Wirklichkeit, sondern ein in der Luft schwebendes Spiel sei.« (G II/1; GW II, S. 240) Um das Schwebende, nicht Feste geht es auch an der zweiten Stelle, auf die Musil viel Energie verwendet hat. Es geht um den Eindruck, dass in der Ferne das Land und der Himmel ineinander übergehen, wiederum ein Phänomen der Auflösung von Grenzen. Zunächst hieß es: »Man konnte kaum unterscheiden, was noch goldgelbe Ferne des gesegneten Tieflandes war und wo schon der Wolkendunst des Himmels begonnen hatte.« Ohne »Wolkendunst« zu streichen, fügt Musil als Alternativvariante »die Wolkenphantastik« ein, dann »phantastische Unsicherheit«, dann die »Wolkenunsicherheit«, bis er schließlich am Rand die Formulierung notiert, die in den endgültigen Text eingegangen ist: »die unsicheren Wolkenböden des Himmels [. . .] begonnen hatten.« (G I/1) Er eliminiert also die ursprüngliche Idee des Phantastischen, und ersetzt sie immer stärker durch das semantische Merkmal »unsicher«, wobei in der letzten Fassung das »unsicher« mit den »Böden«, die das Feste konnotieren, kontrastiert. Es handelt sich nicht mehr nur um die Beschreibung des optischen Eindrucks des Übergangs vom Land zum Himmel, was ja nicht sehr ungewöhnlich ist, sondern um die Beschreibung einer weiteren Auflösung einer Grenze, einer allgemeinen Unsicherheit, die zu all den andern Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten des Textes gehört, zu der Vermischung von alt und neu in den Wohnungen der Bewohner, ihrem zweideutigen moralischen Verhalten usw. Zu den stark überarbeiteten Stellen gehört auch jene, die das Erlebnis der Wiedervereinigung Homos mit seiner Frau schildert und zugleich den Tod Homos vorbereitet. Der Tod Homos ist insofern ein Problem dieser Novelle, als es bei dem Alter und der Gesundheit Homos keinen realistischen Grund gibt, dass er stirbt. Aus der semantisch-anthropologischen Sicht ist es aber notwendig, dass er stirbt, weil es ihm nicht gelungen ist, seine durch den Eintritt in die fremde Welt ausgelöste Identitätskrise so zu bewältigen, dass er wie der Herr von Ketten in der Portugiesin oder der anonyme Held der Tonka zu einer neuen Identität gefunden hätte.38 Während in den beiden 38
Zu den anthropologischen Vorstellungen der Jahrhundertwende in Bezug auf die Identitätskrise siehe Michael Titzmann: ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen
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andern Novellen der Drei Frauen die Frauen wahrscheinlich untreu sind, ist es hier Homo, der sich auf dem Feld der normverletzenden Sexualität und Erotik bewegt, das zeigt sich auch in der Formulierung: »Kurze Zeit danach war er der Geliebte einer Bauernfrau geworden« (GW II, S. 246). Man würde eher die umgekehrte Formulierung erwarten: dass die Bauernfrau seine Geliebte geworden ist. Es ist von Anfang an klar, dass Homo sich nicht in die Welt der »Wilden« integrieren wird, aber die »fremden Lebenserscheinungen« haben von dem Besitz ergriffen, was »herrenlos« geworden ist (GW II, S. 248). Das wiederum ist der Grund, warum er auch nicht mehr in seine eigene Welt zurückkehren kann. Es ist bezeichnend, dass Homo bei der letzten Zusammenkunft nicht »das Zivilisationsbedürfnis empfand, [den Boden] wenigstens mit dem Licht eines Streichholzes auf seine Reinheit zu prüfen.« (GW II, S. 251) Homo hat sich so weit dieser fremden Welt angepasst, dass er, auch als er den Ausweg sieht, nicht ins Leben zurückkehrt, ob er zu schwach ist oder nicht will, wird auf der Textoberfläche offen gelassen. In der semantischen Tiefenstruktur ist klar, dass es ihm nicht gelungen ist, die fremden Elemente in sein Wesen zu integrieren. Aus diesem Grund sind alle moralischen Deutungen von Homos Tod unangemessen.39 Man könnte das neue Leben, welches Homo an dem seltsamen Ort findet, auch als Scherz, als ästhetisches Spiel abtun, was mehrfach angedeutet wird, aber für Homo ist es Wirklichkeit. Eine wichtige Szene in diesem Zusammenhang ist selbstverständlich die Waldszene, die zu einer Art Wiedervereinigung Homos mit seiner Frau führt. Die Szene beginnt damit, dass Homo die Schrift seines kranken Knaben auf einem Brief sieht. Als Grundlage dieser Szene dient eine Notiz aus Heft I/2, datiert vom 4. Juni 1915, die sich auf die Schrift von Martha Musil bezieht. Diese gibt ihm einerseits Sicherheit, andererseits denkt er darüber nach, Martha könnte ihm untreu sein.40 Diese Überlegungen werden in der Notiz vom 9. Juni weitergeführt, die das Bild von der Scharlachblume enthält sowie Überlegungen zum Tod und zu Treue und Untreue. Musil macht sich klar, dass
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Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹, in: Hans Krah, Claus-Michael Ort (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten und realistische Imagination. Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel 2002, S. 181–209. Für Musils Umgang mit dem Problem vgl. Rosmarie Zeller: Grenztilgung und Identitätskrise. Zu Musils Törleß und Drei Frauen, in: Musil-Forum 27 (2001/2002), S. 189–209. Dies erkennt zum Beispiel Arlette Camion: Grigia de Robert Musil: l’écriture de l’ailleurs, in: Germanica XL (2007), S. 143–156, hier S. 148, die darauf hinweist, dass Musil das Jenseits von Gut und Böse umsetze: »Et la mort n’apparaît plus alors comme une sanction, ni comme une délivrance d’ailleurs. Car le sujet n’existe plus vraiment, ni comme enjeu moral qui risque son salut, ni comme lieu d’un regard individuel et d’une identité.« »4/VI . Als ich zum erstenmal seit acht Tagen Marthas Schrift auf einer Adresse sehe (einem Zeitungsumschlag) geht etwas von den Augen bis in die Beine. Die Kenntnis Deiner Adresse wie ein ungeheurer Besitz. Als ob ich viel wüßte, weil ich weiß, daß du nicht mehr in Hotels, sondern in einem möblierten Zimmer wohnst. Dabei jene altbekannte Angst, daß dieses sonderbare Leben dich verleiten könnte, . . .« (Heft I/2 f.).
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er in diesem Krieg in Palai sterben könnte, obwohl er bisher vom Schicksal verschont wurde (Heft I/5 f.). Die Notiz ist an zwei Stellen korrigiert, was ganz unüblich ist in diesem Heft. Bereits im Eintrag vom 9. Juni 1915 in Heft I erhält die Szene im Wald etwas Märchenhaft-Wunderbares. Der Wald ist schon hier wie im endgültigen Text ein »Märchenwald«. Sowohl in der Handschrift wie im endgültigen Text wird dieser Aspekt des Märchenhaft-Wunderbaren stärker hervorgehoben durch die Ersetzung von »grün« durch »smaragdgrün« oder den Zusatz: »Unter dem Moos mochten violette und weiße Krystalle leben.« (GW II, S. 240)41 Später werden noch die Bäume »mit den giftgrünen Bärten« genannt. Es gibt das »wunderbare Wissen«, dass die Scharlachblume nur dazu da ist, sich mit der Frau zu vereinen, was auch eine »religiöse Tollheit« genannt wird. Musil bemerkt dazu, dass er anfange »mystisch zu werden« (Heft I/6). Während in der Notiz die Scharlachblume eine Umschreibung für die Scheide ist, wird sie im gedruckten Text zu einer scharlachfarbenen Blume, die es »in keines andern Mannes Welt« gibt, »so hatte es Gott geordnet, ganz als ein Wunder«, und etwas später: »erschien sie ihm so wundervoll unsinnig und unpraktisch, wie es nur eine tiefe Religion sein kann.« (GW II, S. 240) Interessant ist, dass die Handschrift an dieser Stelle keinerlei Überarbeitungsspuren zeigt im Gegensatz zu der nachfolgenden Stelle, in der es um die Erkenntnis Homos geht, dass sein altes Leben außer Kraft gesetzt ist. Gibt es für Musil im Krieg einen realen Anlass, den Tod als Möglichkeit ins Auge zu fassen, so ist dies für Homo realistischerweise nicht der Fall. Gerade diesen Aspekt verstärkt Musil durch Textänderungen immer mehr. So ändert er die passive Formulierung: »Sein Leben bisher war außer Kraft gesetzt.« zu »Er hatte sein Leben außer Kraft gesetzt.« (G II/2) Er fügt später mit Bleistift ein: »Aber es stand fest, daß er sterblich war«, was er dann ersetzt durch »daß er nicht umkehrte.« (G II/2) Ebenfalls mit Bleistift ersetzt er etwas weiter unten »bald liegen werde« durch »tot liegen werde« (G II/2). Im endgültigen Text macht er dies noch deutlicher, indem er schreibt: »Und sein Körper fühlte sich sonderbar müd wie ein starres Gesicht, das von einem Lächeln aufgelöst wird.« (GW II, S. 240) Gerade weil es an dieser Stelle keine realistische Motivation für Homos Tod gibt, ringt Musil offensichtlich damit, wie er diesen Tod als notwendig, als motiviert erscheinen lassen kann, ohne dass er an dieser frühen Stelle schon allzu deutlich sagt, dass er letztlich nur die notwendige Folge des Identitätsverlustes ist.42 Für Homo scheint es nur etwas zu geben, was Bestand hat, die Liebe zu seiner Frau: »Er nahm sie in alle Ewigkeiten immer mit sich.« (GW II, S. 241) Der Satz wurde erst im Drucktext eingefügt, findet sich aber sinngemäß bereits in der Notiz in Heft I: »Mit der Hoffnung auf 41 42
Ursprünglich hieß es »sein« statt »leben«. Musil hat hier also wiederum die Grenze zwischen »unbelebt« und »belebt« aufgelöst. Siehe die Stelle »und ihm war zumut, als hätte man ihn in diesem Augenblick sich selbst aus den Armen genommen« (GW II, S. 240).
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die Ewigkeit eines Verhältnisses ist die Liebe ewig.« (Heft I/6) »ewig« ersetzt er durch »unerschütterlich«. Es erstaunt in diesem Kontext nicht, dass Musil auch für jene Stelle, wo es um die Untreue geht und die auch heute noch schwierig zu interpretieren ist, mehrere Varianten ausprobiert hat. So hieß es zuerst: »Wiederum jede Regung der Untreue war unmöglich, denn wer wird die Ewigkeit für eine Viertelstunde opfern.« (G II/2) Er scheint dann das »Wiederum« gestrichen und dafür »ihm fortan« eingefügt zu haben, also »jede Regung der Untreue war ihm fortan unmöglich.« Dann hat er den ganzen Satz gestrichen und nur die Idee, dass »niemand [. . .] die Ewigkeit für eine Viertelstunde opfern« würde, beibehalten. Musil hat ›Untreue‹ wohl gestrichen, weil der Satz so formuliert falsch ist, denn eine Untreue in einem alltäglichen Sinn begeht Homo ja durchaus, wenn er sich mit Grigia einlässt. In der Druckfassung wird die ›Untreue‹ wieder eingeführt, aber nun als Möglichkeit: »Jede weitläufige Betrachtung versank, jede Möglichkeit des Überdrusses und der Untreue, denn niemand wird die Ewigkeit für den Leichtsinn einer Viertelstunde opfern.« (GW II, S. 241) Mit diesen Änderungen – »für den Leichtsinn« ist auch neu eingefügt – scheint Musil den Widerspruch zwischen Homos Einsicht im Wald, dass die Liebe zu seiner Frau ewig sei, und seinem Verhalten zu verdeutlichen. Andererseits wird aber auch durch die Formulierung »jede Möglichkeit [. . .] der Untreue« darauf hingewiesen, dass Untreue offenbar nichts mit Ehebruch zu tun hat. So heißt es denn auch konsequenterweise, als Homo erkennt, dass sein altes Leben kraftlos geworden ist: »Und er fühlte diese Liebe nicht schwächer werden, sie wurde stärker und neuer; sie wurde nicht blasser, aber sie verlor ihre Geltung in der Wirklichkeit« (G IV/2). Die letzte Formulierung hat Musil gestrichen und durch die folgende ersetzt: »sie verlor, je tiefer sie sich färbte desto mehr die Fähigkeit ihn in der Wirklichkeit zu etwas zu bestimmen oder an etwas zu hindern.« (G IV/2) Was auch die Erklärung dafür ist, warum sein Verhältnis zu Grigia nicht in Konflikt gerät mit der Liebe zu seiner Frau. Die Liebe zu seiner Frau kann ihn in dieser Welt zu nichts bestimmen, sie tritt nicht in Konkurrenz zur sinnlichen Liebe zu Grigia. Schon in Heft I hat Musil über die ekstatische Liebe reflektiert und im Grunde diese Situation vorgezeichnet, bezogen auf Mornas in den Schwärmern: »Die Forderung der Treue ist, die erste ›Liebe‹ hors de concours zu rücken. Seine Form dafür die ekstatische Liebe. Indem er ekstatisch liebt, kann er den niedrigen Lüsten Freiheit geben.« (Heft I/10) Genauso verhält sich Homo, von dessen Liebe es heißt, dass es für Grigia in Ordnung war, dass es hinter den Bergen Menschen gab, »die er – der ihr zugeflogen war – vielmehr liebte als sie, die er mit ganzer Seele liebte.« Ursprünglich hieß es einmal »die er ganz liebte« (G IV/2), während, so müsste man wohl sagen, Grigia nur Homos Sinnlichkeit anspricht. Auch die Beschreibung von Homos kraftlos gewordenem Leben hat Musil viel Anstrengung gekostet. Zunächst versucht er es mit einem Vergleich
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mit Kleidern: »Oder man hat keine Grundsätze oder sie haben sich gerade etwas gelöst [. . .] dann kann es geschehen, daß sich die Verkleidung nur noch mit dem Fleisch vom Knochen reißen läßt, weil man überhaupt nicht mehr weiß, wo sie anfängt.« (G IV/2) Musil hat hier versucht, die Grenze von außen und innen aufzulösen, um die Auflösung der Identität anzudeuten. In einer späteren Phase hat er den Satz gestrichen, vielleicht weil das Bild nicht sehr stimmig ist. Ähnliches könnte man vom Vergleich »wie Vorjahresfliegen gegen Winterende« sagen, dies ersetzt er in einer Sofortkorrektur durch das einleuchtendere, weil mit der Jahreszeit übereinstimmende Bild: »es war wie ein Schmetterling, der gegen den Herbst zu immer schwächer wird.« (G IV/2) In gleichem Sinn variiert Musil auch die Formulierung, dass Homos Ich aufgelöst wurde, aber kein neues an dessen Stelle trat. Zuerst hieß es: »Sie gaben ihm aber nicht etwa ein neues Ich.« (G IV/2) Dann wird mit Bleistift eventuell in mehreren Durchgängen der Satz so verändert: »Sie gaben ihm aber kein neues von Glück ehrgeizig u. erdfest gewordenes Ich« (G IV/2).43 Damit wird deutlich ausgesprochen, dass es Homo nicht gelungen ist, diese »fremden Lebenserscheinungen« zu integrieren, er bleibt in einem Zustand des Schwebens, der Unwirklichkeit. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass der Schluss Musil wenig Mühe gemacht zu haben scheint. Die einzige Stelle, an der er noch mehrfach variiert, ist jene über die Art Liebe, die die Eingeschlossenheit hervorruft: »die Liebe mit einer Frau in solchem Gefängnis müßte besonders aufpeitschend« sein, in einer Sofortkorrektur ersetzt er »besonders aufpeitschend« durch »wie mit Skorpionen peitschen«; dies wird dann mit Bleistift durch »müßte scharf wie Bisse sein« ersetzt. In den Drucktexten hat er auch den ersten Teil des Satzes noch variiert: Im Druck von 1921 hat er »unentrinnbar« eingefügt, »in solchem unentrinnbaren Gefängnis«, im Text von 1924 hat er »mit einer Frau« getilgt, so dass es nur noch heißt: »die Liebe [. . .] in solchem unentrinnbaren Gefängnis«, wodurch die Liebe etwas Absolutes erhält, nicht mehr mit der Geliebten identisch ist.44
4. Fazit Die Untersuchung der Verarbeitung der Notizen aus Heft I aus dem Jahre 1915 zeigt, dass sie Musil vor allem dazu dienen, die fremde Welt, in die Homo geraten ist, mit Details auszustatten. Er verändert die Einträge, die zunächst einfach Beobachtungen darstellen, so, dass sie sich in die semantischen Felder 43 44
Zuerst könnte auch nur »nicht etwa ein« durch »kein« ersetzt worden sein. Siehe dazu die Überlegungen N.s in Tonka, wo von der Unabhängigkeit der Liebe die Rede ist: »Nicht die Geliebte ist der Ursprung der scheinbar durch sie erregten Gefühle, sondern diese werden wie ein Licht hinter sie gestellt.« (GW II, S. 300)
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des Wilden, Unzivilisierten, Geheimnisvollen, Märchen- und Zauberhaften und der mannigfachen Grenzauflösungen einfügen. Die Untersuchung der Handschrift kann zeigen, obwohl sie offensichtlich als Reinschrift begonnen wurde, welche Stellen Musil besonders wichtig waren, wo er mehrere Formulierungen ausprobierte. Er hat vor allem an jenen Stellen gearbeitet, die einerseits die Darstellung der fremden Welt betreffen und andererseits Homos Identitätskrise, ja Identitätsverlust, welche den Tod Homos motivieren, während die konkrete Ausführung des Todes kaum Korrekturen aufweist. Dieser Befund ist insofern nicht weiter erstaunlich, als das Eintreten in die fremde Welt den Identitätsverlust befördert bzw. überhaupt die Voraussetzung für den Identitätsverlust schafft. Musil hat in den drei Novellen das Eintreten in die fremde Welt auf der Textoberfläche verschieden dargestellt: In der Portugiesin ist es gerade die zivilisierte Welt der Portugiesin, aber auch ihr geheimes Wissen, das Ketten irritiert, in Tonka ist es die sozial fremde Welt, in der N durch seine Liebe zu Tonka zu verkehren gezwungen ist. In allen drei Werken hat aber diese fremde Welt das Merkmal der Irrationalität, seien es die geheimen Zeichen, die die Portugiesin am Bett des kranken Ketten anbringt oder sei es der Aberglaube, der N ergreift, als Tonkas Schwangerschaft zu Tage tritt.45 In allen drei Fällen verlieren die männlichen Protagonisten vorübergehend oder endgültig ihre Identität. Ketten muss sein Schloss zurückerobern und der Freund von Tonka findet nach ihrem Tod eine neue Identität, die das Erlebnis Tonka integriert hat,46 wohingegen Homo in der unwirklichen Welt gefangen bleibt. Das hier vorgestellte Vorgehen Musils von biographischen Notizen über literarisch geformte Skizzen zur Gestaltung des literarischen Werks dürfte nicht grundlegend verschieden sein von dem Verfahren, das er in andern Texten und im Mann ohne Eigenschaften verwendet, außer dass im genetischen Dossier des Romans Lektürenotizen und Exzerpte aus Büchern eine wichtigere Rolle spielen als in den Novellen und Schauspielen.
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Vgl. dazu Zeller: Grenztilgung (s. Anm. 38). »Wohl war ihm bewußt, daß er geändert worden war und noch ein anderer werden würde, aber das war er doch selbst und es war nicht eigentlich Tonkas Verdienst.« (GW II, S. 306)
Oliver Böni
». . . wie in einem Teppich verwoben« Gleichnistexturen in Robert Musils Grigia Abstract: There is broad agreement in current research that Musil’s novel Grigia is all but accessible. Obviously the text’s structure and narrative are much less foregrounded than its texture which is the key issue in the analysis and description undertaken in this article. »Gleichnisse« (Musil), in particular, perform important textual procedures that in turn have a texturing and poetic function. The conventional spectrum of narrative strategies (e. g., time, space, causality) are undermined to the benefit of autopoiesis which might be described as an »entrelacs perpétuel« (Barthes). I argue that this »entrelacs« creates unusual effects in terms of materiality and simultaneity based on the poetics involved in the woven fabric texture rendered on the surface of the text and therefore made visible in the first place.
1. »›Welch ein häßlicher Gedanke!‹« entgegnet Gabriel in Hofmannsthals Gespräch über Gedichte entsetzt auf Clemens’ Beobachtung, Poesie setze mit Symbolen und Bildern »eine Sache für die andere«. Gabriel fährt fort: Niemals setzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen, mit einer ganz anderen Energie als die stumpfe Alltagssprache, mit einer ganz anderen Zauberkraft als die schwächliche Terminologie der Wissenschaft.1
Existieren damit also »keine Vergleiche« und »keine Symbole«, wie Clemens aus Gabriels Antwort folgert? Ganz im Gegenteil: »[E]s gibt nichts als das, nichts anderes.«2 Alle drei Texte in Musils Novellenband Drei Frauen scheinen genauso wie die von Gabriel beschriebene Poesie aus nichts anderem als rhetorischen Figuren zu bestehen. In allen drei Texten korreliert die Rhetorizität und Artifizialität mit ausgesprochen rudimentären Handlungsstrukturen. Alle drei Texte können in wenigen Sätzen paraphrasiert werden, ohne dass dabei Charakterzeichnungen und Handlungsmotive in irgendeiner Weise reduziert werden müssten. Diesem irritierenden Befund wusste die Forschung bisher 1 2
Hugo von Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. XXXI : Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. v. Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1991, S. 74–86, hier S. 77. Hofmannsthal: Gespräch über Gedichte (s. Anm. 1), S. 77.
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zu begegnen, indem sie Clemens’ Vorschlag weiter vorantrieb: Wenn ein rhetorisches Mittel in der Poesie »eine Sache für die andere« setzt, muss der Interpret die eigentlich gemeinte, im Text aber verschlüsselt vorliegende »Sache« wiederherstellen. Der Text erscheint so als Rätsel, das der Leser lösen muss.3 Ungeachtet der »schwächliche[n] Terminologie der Wissenschaft« hat sich die Mehrheit der Interpreten auf ebendiese Suche nach der scheinbar verlorengegangenen Bedeutung der Drei Frauen begeben und versucht, die unverständlichen Gleichnisse verständlich zu machen. Warum aber macht es Musil dem Leser so schwer und schreibt so unverständlich? Wollte er »Verwirrung stiften? Papierblüten an einen lebendigen Baum hängen?«4 Bereits mit den Verwirrungen des Zöglings Törleß beginnt Musil das Erzählen zu reflektieren und zu problematisieren. In den Vereinigungen erreicht die Krise der Narration schließlich ihre Zäsur und ihren Höhepunkt, da ihr poetisches Potential nun verstärkt für die Etablierung neuer, an die Avantgarde gemahnende Textverfahren produktiv genutzt wird.5 Aber auch in den Drei Frauen liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Narrativ. Solche Texte dennoch (ausschließlich) hermeneutisch zu lesen, hieße, sie gegen den Strich zu lesen, da sie mit aller Kraft auf etwas hindeuten, das bisher nicht zur Kenntnis genommen wurde:6 »Texte ohne konsistente Strukturen verweisen den Interpreten [. . .] auf ihre Textur, auf den Stoff, aus dem sie gemacht, das Verfahren, nach dem sie hergestellt sind.«7 Die Textur zu beobachten heißt, sich für die »Textoberfläche als Ergebnis eines künstlerischen Verfahrens« zu interessieren, sich den textgenerierenden Verknüpfungstechniken und -regeln ebenso zu widmen wie dem sprachlichen Material, aus dem sie bestehen.8 Poiesis basal als die »kunstvolle Hervorbringung in (bzw. mit) Worten« ver3
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Diesem Vorgehen sind keine Grenzen gesetzt, wie Huszais Dissertation belegt. Sie liest Tonka nicht nur als Rätsel, sondern als Kriminalgeschichte, deren zentrale Frage lautet: Wer ist der Vater von Tonkas Kind? Vgl. Villö Huszai: Ekel am Erzählen. Metafiktionalität im Werk Robert Musils, gewonnen am Kriminalfall Tonka. München 2002 (= Musil-Studien, Bd. 31). Hofmannsthal: Gespräch über Gedichte (s. Anm. 1), S. 79. Hier klingt deutlich der Manierismus-Vorwurf an. Heribert Kuhn: Das Bibliomenon. Topologische Analyse des Schreibprozesses von Robert Musils Vereinigungen. Frankfurt a. M. 1994 (= Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 22), S. 4. Nur Leitgeb verwendet den Textur-Begriff explizit an einer Stelle – allerdings ohne besondere Relevanz für die Analyse insgesamt. Vgl. Christoph Leitgeb: Ein Weg zum »Heimweg«. Über Textstruktur und Nachlaßfassungen eines Kapitels aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders., Richard Reichensperger: Grillparzer und Musil. Studien zu einer Sprachstilgeschichte österreichischer Literatur. Hg. v. Walter Weiss. Heidelberg 2000 (= Sprache – Literatur und Geschichte, Bd. 17), S. 235–266, hier S. 250. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen 1994 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 134), S. 15. Moritz Baßler: Art. »Textur«, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III : P–Z. Berlin, New York 2003, S. 618 f.
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standen, steht im Zentrum.9 Die Remotivierung der Textmetapher, die auf den etymologischen Ursprung des poststrukturalistischen Textbegriffs verweist, illustriert darüber hinaus die Komplexität der zu untersuchenden Poiesis: Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.10
Barthes’ emphatischer Text- und Texturbegriff insinuiert, der Text weise eine Eigenbewegung und Selbsthervorbringung, eine Autopoiesis, auf,11 die der Autorintention aufgrund des wuchernden Charakters der Textur weitgehend entzogen bleibt. Der Text ist damit nicht ein Hervorgebrachtes, sondern ein sich ständig Hervorbringendes. Ausgehend von »unverständliche[n] Prosatexte[n]« des Expressionismus,12 die sich radikal gegen eine hermeneutische Lesart sperren, entwickelt Baßler seinen Texturbegriff.13 Bei der Deskription von Texten, in denen Texturen deutlich oder gar ausschließlich dominieren, muss zwischen »narrative[r] Struktur« und »Textur« differenziert werden, wobei die Paraphraseprobe die Unterscheidung erleichtert: »[W]as paraphrasierbar ist an einem Text, soll als Struktur, was nicht paraphrasierbar ist, als Textur bezeichnet werden.«14 Die meisten literarischen Texte sind im Gegensatz zu den von Baßler analysierten keine reinen Texturen und erfordern dementsprechend eine Berücksichtigung der Struktur. Dies gilt auch für Grigia. Im Folgenden wird die Analyse der Textur meine Untersuchung dominieren, um die bisherigen Forschungsarbeiten, die sich für Strukturen interessieren, um eine neue Dimension zu ergänzen. Rhetorik, Material, Verfahrensweisen und -regeln – alles das erinnert prima vista an eine konventionelle Stilanalyse.15 Dieser Eindruck könnte 9 10 11
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Jürgen Söring: Literaturgeschichte und Theorie. Ein kategorialer Grundriß. Stuttgart u. a. 1976, S. 49. Roland Barthes: Die Lust am Text. Aus dem Französischen v. Traugott König. Frankfurt a. M. 1974, S. 94. Das Moment der Autopoiesis akzentuiert Biebuyck mit Blick auf den Mann ohne Eigenschaften. Vgl. Benjamin Biebuyck: »Ein inniges Ineinander von Bildern«. Versuch einer Valenzumschreibung von Verbalmetaphorik und indirektem Vergleich im ersten Buch von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gunther Martens, Clemens Ruthner, Jaak De Vos (Hg.): Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Bern u. a. 2005 (= Musiliana, Bd. 11), S. 171–210, hier S. 201–203. Baßler: Entdeckung der Textur (s. Anm. 7), S. 3. Baßler: Entdeckung der Textur (s. Anm. 7), S. 17. Baßler: Entdeckung der Textur (s. Anm. 7), S. 15. Auch Leitgeb/Reichensperger plädieren für eine Stilanalyse, die »Auswahl und Anordnung der Gestaltelemente des Kunstwerks« berücksichtigt – allerdings unter Einbeziehung der Semantik. Vgl. Christoph Leitgeb, Richard Reichensperger: Von Textanalysen zur Literaturge-
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zusätzlich dadurch verstärkt werden, wenn Baßler den Form-Inhalt-Dualismus thematisiert und Textur als das beschreibt, »was man traditionellerweise die ›Form‹ eines Textes nennt.«16 Problematisch ist die scheinbare Nähe der Textur-als-Form zum Stil-als-Form, weil Stilanalysen eine Kontingenz-Implikation voraussetzen, die sich geradezu komplementär zur Textur-als-Form verhält: In der Stilistik wird davon ausgegangen, dass die mit einer »Form verbundene Intention oder Funktion auch durch andere Formen verwirklicht werden könnte.«17 D. h. man hätte es auch anders formulieren können – nur sollte etwas Bestimmtes mit einer gegebenen Stilformation erreicht werden. Deshalb neigen Stilanalysen tendenziell dazu, die Form in den Dienst des Inhalts zu stellen. Wenngleich immer wieder das Sprachmaterial und das Erkenntnispotential der Sprache beschworen werden; die Nähe zu klassisch hermeneutischen Interpretationen ist nur zu deutlich und lässt sich bei Reichensperger ebenso wie bei Leitgeb, die beide Musils Stil besonders fundiert analysieren, deutlich feststellen.18 Diese Zugriffsweise aber liest Textur als Struktur, sie beginnt die Form zu semantisieren und verliert sie – und damit auch das poietische Potential der Textur – letztlich aus dem Blick.19 Mit dem Barthes-Zitat wurde zudem bereits die Intentionalität der Textur deutlich abgeschwächt: Wenngleich die Autorintention nicht zwingend vollständig verabschiedet werden muss, so wird die auctoritas des Autors gerade in Texturen zugunsten autopoietischer Prozesse deutlich abgeschwächt. Das textübergreifende Wuchern der Textur gebietet Respekt vor der Eigendynamik des Textes, die vom Text selbst gesteuert und vorangetrieben wird.20 Intention und Funktion – beides trifft in nur sehr begrenztem Maße zu und in Texten, in denen die Textur zum Selbstzweck avanciert, wird beides gänz-
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schichte. Studien zu einer Sprachstilgeschichte österreichischer Literatur: Grillparzer, Musil, in: Michael Böhler, Hans Otto Horch (Hg.): Kulturtopographie deutschsprachiger Literatur. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Tübingen 2002, S. 87– 96, hier S. 88 f. Baßler: Entdeckung der Textur (s. Anm. 7), S. 13. Hans Ulrich Gumbrecht: Art. »Stil«, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III : P–Z. Berlin, New York 2003, S. 509. Richard Reichensperger: Sprache als Gesellschaftskritik in Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Marie-Louise Roth (Hg.): Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Wiener Kolloquium zum 20-jährigen Bestehen der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft. Bern u. a. 1999 (= Musiliana, Bd. 5), S. 79–108; Christoph Leitgeb: Grillparzers Kloster bei Sendomir und Musils Tonka. Ein Sprachstilvergleich, in: ders., Richard Reichensperger: Grillparzer und Musil. Studien zu einer Sprachstilgeschichte österreichischer Literatur. Hg. v. Walter Weiss. Heidelberg 1999 (= Sprache – Literatur und Geschichte, Bd. 17), S. 143–180; Leitgeb/Reichensperger: Von Textanalysen zur Literaturgeschichte (s. Anm. 15), S. 93. Daher erstaunt es nicht, dass Reichensperger im Ausblick seines Forschungsberichts zu Musils Sprachstil Textoberfläche, Textur oder Textverfahren mit keinem Wort erwähnt. Vgl. Richard Reichensperger: Musils Sprachstil. Ein Forschungsbericht 1953–1993, in: Sprachkunst 25 (1994), S. 155–257, hier S. 237–239. Biebuyck: Inniges Ineinander (s. Anm. 11), S. 203.
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lich negiert. Wenngleich die Differenzen zwischen Stil und Textur nicht zu unterschätzen sind, sollten die Unterschiede nicht überbetont werden. »Solange die Spezifika einer Textur einem Autor- (oder auch Epochen-)Subjekt zugeschrieben werden, fallen sie unter die Kategorien [. . .] des Stils.«21 Da sich die vorliegende Untersuchung auf einen Autor – Musil – und einen Text – Grigia – beschränkt, versteht sich mein Plädoyer für die Textur durchaus als Beitrag zur Stilforschung.
2. Musils Grigia ist nach Eibl in vielerlei Hinsicht unverständlich. Die Ursache liegt in der Verknüpfung verschiedener Gleichnisse zu »Bildparataxen«, die den Text insgesamt dominieren. Demnach bleiben weite Teile des Textes »hermetisch«, da die Bilder zusammengenommen kein »System« bilden. Höchstens einzelne Bilder seien verständlich, während das im Ganzen Gemeinte nicht paraphrasiert werden könne.22 Die einzelnen Bilder »sind empirisch unverbunden, stehen nebeneinander, weil ihr Gemeinsames das von ihnen bezeichnete Signifikat ist, das nur in Bildern erscheinen kann, aber in keinem ganz, sondern nur im Überschneidungsbereich der Bedeutungen mehrerer Bilder.«23 Die Forschung stimmt Eibl weitgehend zu, dass die Bildparataxe das grundlegende rhetorische Prinzip der Drei Frauen darstellt, und betont gleichermaßen die Willkürlichkeit, Zufälligkeit und die daraus resultierende Unverständlichkeit solcher aneinandergereihten Bilder.24 Problematisch ist dieser Konsens deshalb, weil gerade Grigia zu einem erheblichen Teil aus solchen zusammengefügten rhetorischen Mitteln besteht. Die von Baßler vorgeschlagene Paraphraseprobe mag dies veranschaulichen: Durch die Erkrankung seines Sohnes erfährt Homo die Möglichkeit der Trennung von seiner Frau. Während Gattin und Sohn zur Kur fahren, erlaubt die gleichzeitig stattfindende Goldexpedition eine Reise in ein unbekanntes Bergdorf, wo Homo eine Affäre mit einer Bäuerin beginnt und schließlich bei einem Stelldichein stirbt. Selbst diese Handlungsstruktur ist weitaus problematischer, als es zunächst den Anschein hat. Während die Forschung ausgehend von diesen 21 22 23 24
Baßler: Art. »Textur« (s. Anm. 8), S. 619. Karl Eibl: Robert Musil. Drei Frauen. Text, Materialien, Kommentar. München 1978 (= Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 13), S. 140. Eibl: Robert Musil (s. Anm. 22), S. 141. Annie Reniers-Servranckx: Robert Musil. Konstanz und Entwicklung von Themen, Motiven und Strukturen in den Dichtungen. Bonn 1972 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 110), S. 162 f.; Bernhard Großmann: Robert Musil. Drei Frauen. Interpretationen. München 1993 (= Oldenbourg Interpretationen, Bd. 63), S. 28 f.; Reichensperger: Musils Sprachstil (s. Anm. 19), S. 194–197; Leitgeb: Grillparzers Kloster bei Sendomir (s. Anm. 18), S. 151 f.
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Eckpunkten versucht hat, sich dem Text anzunähern, und dabei weitgehend einstimmig zum Schluss kommt, dass hier eine Fallstudie entwickelt wird, in der ein Kultur-Mensch versucht, das Fremde bzw. Andere in den Griff zu bekommen und daran scheitert,25 interessiert sich der Text nur peripher für dieses Thema: Der Plot der Novelle suggeriert bloß kausal-logische Verknüpfungen der Handlung, die im Text stattdessen durch Gleichnisse motiviert sind.26 Somit lässt sich das Erzählte der Novelle viel treffender und genauer mit Blick auf die Textur und ihre kontiguitätsstiftende Rhetorik und Topik nacherzählen; nicht Handlungsstruktur, sondern Gleichnistextur konstituiert die Novelle Grigia. Immer wiederkehrende Annäherungen an das rhetorische Phänomen des Gleichnisses prägen Musils Schaffen und der sonst so auf Genauigkeit pochende Autor könnte aufgrund verschiedener divergierender Aussagen über den Charakter des Gleichnisses schnell in Verdacht geraten, sich eine Ungenauigkeit hinsichtlich seines präferierten rhetorischen Mittels zu leisten, denn Musil bezeichnet sowohl Bilder27 als auch Metaphern, Vergleiche und gar Analogien als ›Gleichnisse‹.28 Der Begriff ›Gleichnis‹ verhält sich bei Musil offenbar als ein Hyperonym zu verschiedenen, an sich eigenständigen und heterogenen rhetorischen Mitteln.29 Insbesondere der Widerstreit von Metapher und Vergleich – erstere operiert als Substitutionsfigur auf der paradigmatischen Achse (Tropus), letzterer als kombinatorische Figur auf der Achse des Syntagmas (rhetorische Figur) – offenbaren aber ihr Potential: Gleichnisse stellen die poetische Funktion in den Vordergrund, die die paradigmatische Achse auf die syntagmatische projiziert und damit den Blick auf die Gemachtheit des Textes lenkt.30 Freilich dürfte Musil als NietzscheLeser v. a. die epistemologische Qualität von Gleichnissen geschätzt haben:
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Birthe Hoffmann: Die Seele im Labor der Novelle. Gestaltpsychologische Experimente in Musils Grigia, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 735–765, hier S. 744. Jörg Kühne: Das Gleichnis. Studien zur inneren Form von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Tübingen 1968 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 13), S. 14. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Tagebuchhefte/6: Pappheft/Aus Nietzsches »Ecce homo«/6. Hier verweist Musil ausgehend von der Lektüre Nietzsches auf die Indifferenz zwischen Bild und Gleichnis. Kühne bezieht sich ebenfalls auf die Synonymie von »Bild« und »Gleichnis« bei Musil – wenn auch leider ohne Beleg. Vgl. Kühne: Das Gleichnis (s. Anm. 26), S. 13. Z. B. wird die Metapher »Zeitmagen« (GW 8, S. 1088) ebenso als »Gleichnis« bezeichnet wie der Vergleich »Zähne [. . .] wie Elfenbein« (GW 8, S. 1238). Im Mann ohne Eigenschaften sind Analogie und Gleichnis synonym (MoE, S. 581). Biebuyck plädiert dagegen für eine genauere Differenzierung. Vgl. Biebuyck: Inniges Ineinander (s. Anm. 11), S. 178 f. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 31993, S. 83–121, hier S. 94. Reichensperger hingegen wendet sich gegen eine Reduktion der Gleichnisse auf die poetische Funktion. Vgl. Reichensperger: Sprache als Gesellschaftskritik (s. Anm. 18), S. 86 f.
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»Auf jedem Gleichniss reitest du hier zu jeder Wahrheit.«31 Oder wie Musil in Analyse und Synthese schreibt: Denn jedes Gleichnis ist eine ungewollte Analyse. Und man versteht eine Erscheinung, indem man erkennt, wie sie entsteht oder wie sie zusammengesetzt ist, verwandt, verbindbar mit andren ist. Man kann natürlich ebensogut sagen, jedes Gleichnis ist eine Synthese, jedes Verstehen ist eine. (GW 8, S. 1008; Hervorhebungen O. B.)
Das epistemologische Telos zielt auf das, was ich oben unter dem Begriff der ›Textur‹ gefasst habe. Neben dem Interesse an textuellen Verknüpfungsverfahren konturiert der Text eine Erkenntnis, die sich kausal-logischen Beweisführungen sperrt und allein im Offenlegen der den Vergleich konstituierenden Textelemente akzentuiert werden kann.32 Deshalb zeichnen sich Musils Gleichnisse insbesondere durch ihre komplexe Realisierung mit verschiedenen rhetorischen Mitteln aus, die jeweils die paradigmatische und/ oder syntagmatische Achse materialiter im Text sichtbar machen. Zum einen erhalten Gleichnisse dadurch eine poietische Qualität, zum anderen aber auch eine poetologische. Wenn also Gleichnisse Grigia ›erzählen‹, legen sie im Moment des Erzählens simultan das Erzählen selbst offen und schaffen dabei Transparenz, wie eine Erkenntnis beim Erzählen zustande kommt. Oder – mit Blick auf die eingeführte Terminologie –: Während die Struktur erzählt, wird in der Textur aufgrund der komplexen Gleichnisarchitektur das Erzählen mit einer dem Erzählen äquivalenten Operation dergestalt offengelegt, dass geradezu von einer ›erzählenden‹ Textur gesprochen werden könnte. Gerade dieser Aspekt der Textur Grigias hebelt nicht nur eine strikte Trennung von ›Form‹/›Inhalt‹ und Syntagma/Paradigma aus, sondern vermag es dank innovativer Textverfahren, eine Erzählung der Erzählung – sprich: die Poetologie des Textes – zu evozieren und damit das Erkenntnisziel der Analyse und Synthese in der Textur selbst abzubilden.33 Bereits im zweiten Absatz Grigias wird das nach Hoffmann für die gesamte Novelle zentrale Gleichnis vorgestellt, um Homos Krisenerfahrung zu beschreiben: das Gestein.34 Homo liebt seine Frau noch immer und ist doch seit der Geburt seines Sohnes mit der »neue[n] Eigenschaft der Trennbarkeit« konfrontiert, die sich »wie ein Stein [verhält], in den Wasser gesickert ist« (GW 6, S. 234). Diese geologische Ausdeutung seiner Liebe ist berufsbedingt 31
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Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist, in: ders.: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin, New York 1999 (= Kritische Studienausgabe, Bd. 6), S. 255–374, hier S. 340. Zur Geschichte des Erkenntnispotentials von Poiesis vgl. Jürgen Söring: Der Erkenntnis-Anspruch von »Poiesis«. Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Dichtung und Wissen(schaft), in: Colloquium Helveticum 37 (2006), S. 199–229. Allerdings würde eine solche Epistemologie zu wenig weit greifen, wenn man Poetologie wie Kuhn ausschließlich auf eine Produktionsästhetik reduziert. Vgl. Kuhn: Bibliomenon (s. Anm. 5), S. 173 f. Hoffmann: Seele im Labor (s. Anm. 25), S. 759.
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plausibel – Homo ist Geologe. Allerdings zeichnet sich bei diesem Gleichnis, das die meisten Leser wohl verstehen, bereits ein Problem ab: Die vermeintlich selbstverständliche Verständlichkeit muss durch eine Eigenleistung des Rezipienten hergestellt werden. In einen Stein kann nur so viel Wasser fließen, wie auch Hohlräume vorhanden sind. Nicht das einsickernde Wasser – die Tempuswahl des Perfekts zeigt an, dass dieser Prozess im Gleichnis bereits abgeschlossen ist –, sondern die wechselnden Umweltbedingungen sind es, die den Stein »immer weiter auseinander treib[en]« (GW 6, S. 234). Erst dieses vom Leser rekonstruierte Dritte macht das Gleichnis verständlich. Homo hasst seinen Sohn, der die wechselnden Umweltbedingungen repräsentiert, nicht (vgl. GW 6, S. 241), sondern erkennt durch ihn die Fragilität seiner Liebe, weshalb er sich nun vor jeder weiteren Veränderung fürchtet, die die Adhäsionskraft zu seiner Frau zusätzlich gefährden könnte. Homos Krise fußt zudem in der Angst, durch »einen langen Kuraufenthalt [. . .] zu lange von sich getrennt« zu sein (GW 6, S. 234). Einerseits möchte er nicht mitreisen, da er dadurch eine »Selbstauflösung« (GW 6, S. 234) erwirken könnte, andererseits wird gerade diese Selbstauflösung auch auf die Trennung von seiner Frau zurückgeführt. Die Struktur dieses Dilemmas entspricht derjenigen des Oxymorons – wie schon beim Gleichnis des mit Wasser gefüllten Steins, der eine homogene Einheit aus heterogenen Teilen verbildlicht. Homo steht vor der Wahl, entweder von sich oder seiner Frau getrennt zu sein; die vollkommene Vereinigung, das eigenständige IchSein bei gleichzeitigem Eins-Sein mit seiner Frau, gelingt nicht, weil dieses Ideal eine Verknüpfung zweier sich ausschließender Sachverhalte erfordert. Die Krise lässt sich somit insgesamt als Krise der Verknüpfung beschreiben. Homo entscheidet sich zuletzt dank eines eigenartigen Arguments gegen einen Kuraufenthalt mit der Familie: Sein grundsätzlicher »Widerwillen gegen [. . .] Gebirgsorte« (GW 6, S. 234) hilft der Entscheidungsfindung und mutet einerseits wegen seines Berufs merkwürdig an, andererseits aber auch deshalb, weil sich Homo bereits im nächsten Satz über die Einladung zu einer Expedition ins Gebirge freut. Dieser Widerspruch, der vom Text nicht aufgelöst wird, provoziert durch sein direktes Nebeneinander. Rauch liest – allerdings ohne Rückbezug auf diese Juxtaposition oder einen anderen Beleg – Homos Teilnahme an der »geologische[n] Expedition« als eine »Expedition in die Psyche« des Protagonisten.35 Deshalb sind die folgenden Landschaftsbeschreibungen im Modus des Symbolischen als »Seelenlandschaft« Homos zu deuten36 – die gesamte Novelle avanciert zur Allegorie: Alle Gleichnisse des Textes und auch die Handlungsstruktur stehen dann konsequent für etwas anderes und müssen dahingehend gelesen werden. Wie gefährlich die
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Marja Rauch: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk. Würzburg 2000 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 310), S. 92 f. Rauch: Vereinigungen (s. Anm. 35), S. 85.
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allegorische Lesart unter Umständen ist, hat nicht nur Haug nachgewiesen,37 sondern wird gerade auch in Grigia aufgrund der wuchernden Gleichnisse virulent.38 Nur zu schnell kommt man wie Bendels zum Schluss, dass hier die »Deformiertheit des Figurenbewusstseins« literarisch verarbeitet wird.39 Diese Lesart kann sich aber nur legitimieren, wenn ein bestimmter Kontext eine solche Allegorese impliziert.40 Der Text verweigert sich jedoch konsequent einer psychologischen Lesart. Dessen ungeachtet muss man Rauch zustimmen, dass das Gebirge der Expedition einem anderen Raum angehört als dasjenige des Kurorts. Aber nicht eine Reise in Homos Psyche steht im Vordergrund, sondern eine Reise in die Welt der Gleichnisse, des rhetorischen Sprechens, die man durchaus als textuellen bzw. literarischen Raum fassen kann. Diese Lesart plausibilisiert zudem Homos Gleichsetzung von Ich-Sein mit »seinen Büchern« (GW 6, S. 234). Die gesetzten Gleichnisse sollen so als Setzungen erhalten bleiben und als Setzungen – nicht als Substitution für ein Anderes – gelesen werden.
3. Im Bergdorf P. angekommen entdeckt Homo eine von Oxymora dominierte Welt: südliche Schneeluft im Mai, Bäume, in deren Blätterwerk »Welk und Neu durcheinandergeflochten« sind, Edelsteine, die wie Blumen wuchern und Nachtigallen, die am »helle[n] Tag« singen (GW 6, S. 235).41 Des Weiteren Wege, die wie Bäche fließen, Blumen, die wie Sterne blühen (GW 6, S. 236), Kleidung mit »Fabrikmustern«, die zugleich »in die Jahrhunderte der Altvordern zurück[weisen]« (GW 6, S. 238), und Frauen, die Homo mit ihrer »Theaterechtheit« erfreuen (GW 6, S. 239). Das ersehnte Unmögliche ist hier möglich; die Oxymora sind nicht bloß latent und fragil miteinander verknüpft, sondern fest wie Stein. Homos im Rahmen der Expedition vorgegebene Suche nach Gold ist letztlich eine Suche nach der besonderen Art der Verknüpfung, die diese widersprüchliche und daher wundersame Berg37 38 39
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Walter Haug: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 69–93, hier S. 74 f. Nach Biebuyck: Inniges Ineinander (s. Anm. 11), S. 201 u. 206, »neigt« die Verselbstständigung von Gleichnissen immer »punktuell zur Allegorie«. Ruth Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein. Naturwissenschaft und Literatur in Hermann Brochs Eine methodologische Novelle und Robert Musils Drei Frauen. Würzburg 2008 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 650), S. 286. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005 (= Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur, Bd. 1), S. 270. Eibl: Robert Musil (s. Anm. 22), S. 106, widerspricht dieser gängigen Forschungsmeinung (vgl. exemplarisch Murray Gordon Hall: Tier und Tiermotivik im Prosawerk Robert Musils. Diss. Universität Wien 1975, S. 146), da Nachtigallen nicht nur nachts singen. Allerdings wird deutlich die Unvereinbarkeit von Nachtigallen und Tag hervorgehoben.
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welt zusammenhält. Es ist dieses Gold, das an die (Text-)Oberfläche gefördert werden soll. Deshalb interessiert sich Homo von Anfang an für das »Formgesetz« (GW 6, S. 235), das dieser Welt zugrunde liegt. Liest man die Bergwelt als literarischen Raum, stellt sich hier zugleich die poetologische Frage nach dem Zusammenhalt und der Einheit eines literarischen Textes. Leupold weist dem Oxymoron in den Drei Frauen eine besondere schöpferische Kraft zu, »da es die chronologische und damit implizierte kausallogische Abfolge von Ereignissen aufhebt.«42 In der Tat sind in dieser Bergwelt die essentiellen kausalen Kategorien Raum und Zeit negiert. Erst der akausale Charakter ermöglicht die Existenz von Oxymora, stellt die Narration damit aber zugleich selbst vor ein Problem: Wie kann eine Welt erzählt werden, der keine kausalen Kategorien zugrunde liegen? Realistisches Erzählen benötigt die Eckpunkte Zeit, Ort und die Verknüpfung von Ereignissen durch das Kausalitätsprinzip, um mit metonymischen Verfahren Verständlichkeit herzustellen.43 In dieser Bergwelt aber erzählen Gleichnisse – und so gibt sich gleich die erste Beschreibung des Reiseziels Homos mit Blick auf seine Unterkunft als Gleichnis zu erkennen: Es gab da drei Dinge, die ihm auffielen. Betten von einer unsagbar kühlen Weichheit in schöner Mahagonischale. Eine Tapete mit einem unsagbar wirren, geschmacklosen, aber durchaus unvollendbaren und fremden Muster. Und ein Schaukelstuhl aus Rohr; wenn man sich in diesem wiegt und die Tapete anschaut, wird der ganze Mensch zu einem auf- und niederwallenden Gewirr von Ranken, die binnen zweier Sekunden aus dem Nichts zu ihrer vollen Größe anwachsen und sich wieder in sich zurückziehen. (GW 6, S. 235)
Nach Leupold sind die Tapetenranken »Inbegriff eines ›romantischen Naturprodukts‹, das Natur und Kultur in seiner strukturierten Irregularität vereint«.44 Während Leupold darin eine Metamorphose am Werke sieht, da selbst Gegensätze ineinander übergehen können und damit den Text zu einem »hermeneutische[n] Puzzle« avancieren lassen,45 ergibt sich aus textueller Perspektive ein anderer Befund: Die Einzelteile bleiben materiell bestehen, verweigern sich einer Vereinigung und sind dennoch durch textuelle Verknüpfungen zu einem einheitlichen Gleichnis verwoben. Die Ranken vereinen eigenständige Gegensätze zu einem Ganzen, ohne seine Heterogenität und Komposition zu kaschieren.46 Sie fungieren als poetologische Metapher, die zugleich proleptisch auf das an die Wiedervereinigungsszene anschließende 42
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Dagmar Leupold: Experiment Ekstase: Robert Musils Drei Frauen, in: Marie-Louise Roth (Hg.): Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Wiener Kolloquium zum 20-jährigen Bestehen der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft. Bern u. a. 1999 (= Musiliana, Bd. 5), S. 195–215, hier S. 200 f. Baßler: Kulturpoetische Funktion (s. Anm. 40), S. 256. Leupold: Experiment Ekstase (s. Anm. 42), S. 199. Leupold: Experiment Ekstase (s. Anm. 42), S. 200. Gerade darin sieht Hoffmann: Seele im Labor (s. Anm. 25), S. 765, die zentrale Leistung der Gleichnisse Musils.
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Gleichnisgewebe (GW 6, S. 241–243) vorausweist, wobei die Pointe der Metapher darin besteht, dass im Text das Unmögliche plötzlich möglich ist: IchSein bei gleichzeitigem Eins-Sein. Neben dem Herbeizitieren romantischer Kontexte, die auch Raepke und Großmann betonen,47 dienen Äquivalenzen zur ästhetizistischen Literatur der Jahrhundertwende – man denke etwa an die Präferenz bestimmter Wortfelder (Edelsteine, Märchen, Exotik und Blumen) – und zum Expressionismus der Konstruktion von Gleichnissen, wenn etwa von Straßenschluchten und Weltraum oder »weiß zischende[n] Sonnen« (GW 6, S. 235) die Rede ist.48 Auch die dominanten Tierbilder sind nach Scharold auf den Expressionismus zurückzuführen.49 Die Lesart Scharolds und Bendels’, im Vergleichen der Bergwelt mit literarischen Topoi den Versuch zu erkennen, das Andere fassbar zu machen,50 vernachlässigt die poietische – genauer: kulturpoietische – Funktion von Vergleichen, wie sie Dirk Baecker nachgewiesen hat: »Kultur ist das Ergebnis der intellektuellen Praxis des Vergleichens«.51 Gleich bei der Ankunft Homos wird damit ein Minimalereignis kultureller Poiesis vorgeführt: Jeder Vergleich stiftet durch die ihm eigentümliche Herstellung von Äquivalenz ein neues kulturelles Paradigma; der Text leistet insofern nicht Wirklichkeitsbewältigung, sondern Wirklichkeitshervorbringung.52 Das Zitieren verschiedener literarischer Strömungen erlaubt es, ein weiteres Oxymoron zu konstruieren, das wiederum nur in textueller Form möglich ist: Das gleichzeitige Nebeneinander des Ungleichzeitigen. Besonders deutlich wird dies zudem, wenn behauptet wird, dass im kleinen »Städtchen« P. elektrische »Bogenlampen« die Straßen erhellen (GW 6, S. 235). Der Wiener dürfte neidisch von diesem Bergstädtchen gelesen haben – wurden doch seine Straßen erst ab 1924 elektrisch beleuchtet.53 Da die erzählte Zeit in Grigia etwa um 1914 zu datieren ist,54 wird mit dem Verweis auf die technische Fortschrittlichkeit P.s eine mögliche Referenz zu einem realen Ort negiert. 47
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Franz Werner Raepke: Auf Liebe und Tod. Symbolische Mythologie bei Robert Müller – Hermann Broch – Robert Musil. Münster 1994 (= Zeit und Text, Bd. 6), S. 187; Bernhard Großmann: Robert Musil (s. Anm. 24), S. 24 u. 50 f. Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 39), S. 289 f. Irmgard Scharold: Epiphanie, Tierbild, Metamorphose, Passion und Eucharistie. Zur Kodierung des ›Anderen‹ in den Werken von Robert Musil, Clarice Lispector und J. M. G. Le Clézio. Heidelberg 2000 (= Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 10), S. 47 f. Vgl. Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 39), S. 291; Scharold: Epiphanie (s. Anm. 49), S. 49. Dirk Baecker: Wozu Kultur? Berlin 2 2000, S. 47. Biebuyck: Inniges Ineinander (s. Anm. 11), S. 181. Viktoria Arnold (Hg.): »Als das Licht kam«. Erinnerungen an die Elektrifizierung. Wien u. a. 2003, S. 60. Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 39), S. 256. Ich stimme Bendels dahingehend zu, dass die Zeit vor Kriegsausbruch thematisiert wird, da es gänzlich undenkbar wäre, dass zwei Männer wie Homo und Hoffingott nicht am Krieg, sondern an einer von Amerikanern (GW 6, S. 235) während des Kriegs geförderten Goldexpedition teilnehmen würden.
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Dass sich hier die Gleichnistextur verstärkt von der Struktur zu emanzipieren beginnt, unterstreicht auch der Hinweis auf die Höhe der Bogenlampen über den darunter liegenden Straßen, die dadurch »wie Schluchten« (GW 6, S. 235) erscheinen, was deutlich an die Urbanität eines Großstadtromans gemahnt – und eben nicht an ein kleines idyllisches Bergstädtchen. Das identische Verfahren kommt später in einer Kasinoszene zum Zuge. Die Expeditionsteilnehmer singen das 1915 zum Schlager avancierte Soldatenlied »Rosa, wir fahr’n nach Lodz, Lodz, Lodz. . .« (GW 6, S. 244),55 welches als ironische Reaktion auf die Schlacht um Łódz´ Ende 1914 von LöhnerBeda gedichtet wurde und damit unmittelbar auf die Zeit nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs verweist.56 Die Bezugnahme auf dieses kulturelle Archiv kontrastiert allerdings mit dem Fliegenpapier-Gleichnis, dessen Bedeutung Musil in einer Vorstufe zu Grigia bereits selbst enträtselt hat: »Ende Juli. Eine Fliege stirbt: Weltkrieg.«57 In Grigia trifft die Zeit des Krieges zugleich auf die Vorkriegszeit. Die »überall gleiche Einheitsmasse von Seele« lässt sich insofern nicht nur als heterotopisches »Europa« fassen (GW 6, S. 244), in dem Urbanität auf Bergidylle trifft, sondern auch temporal als Überzeitlichkeit. Dieses Textverfahren demontiert jede strukturale Lektüre und hebt die Textur hervor, welche historische Bezüge instrumentalisiert, um sich von einem historischen Kontext zu distanzieren und die Referenzfunktion der Zeichen zu annihilieren.58 Die Losgelöstheit der Textur von der Referenzfunktion der Zeichen und der Struktur entzieht der Beschreibung des Reiseziels jegliche mimetische Funktion.59 Dieses Verfahren literarisiert die Bergwelt insgesamt – oder noch zugespitzter: Sie gibt sich dadurch als Literatur zu erkennen.60 Durch Entzeitlichung und Enträumlichung wird der
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»Rosa« bezieht sich nicht etwa auf eine Frau, sondern auf den Kosenamen eines böhmischen Mörsers. Vgl. Franziska Ernst: Hermann Leopoldi. Biographie eines jüdisch-österreichischen Unterhaltungskünstlers und Komponisten. Diplomarb. Universität Wien 2010, S. 33–36. Susanne Frank (Bearb.): Chronik 1914–1918, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2009, S. 1009–1018, hier S. 1012. KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Tagebuchhefte/1: Klein Grau/Vorstufen zur Novelle »Grigia«/16. Dieses Textverfahren ›wuchert‹ über Grigia hinaus und findet sich auch im Mann ohne Eigenschaften: Dort wird die erzählte Zeit 1913 mit dem Verweis auf eine Unfallstatistik ebenfalls dekonstruiert. Vgl. Agata Schwartz: Utopie, Utopismus und Dystopie in Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musils utopisches Konzept aus geschlechtsspezifischer Sicht. Frankfurt a. M. 1997 (= German Studies in Canada, Bd. 9), S. 70. Damit muss Glanders These, Gleichnisse dienten der Mimesis und der authentischen Naturbeschreibung, vehement widersprochen werden. Vgl. Kordula Glander: »Leben, wie man liest«. Strukturen der Erfahrung erzählter Wirklichkeit in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. St. Ingbert 2005 (= Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und zur neueren österreichischen Literatur, Bd. 16), S. 93 u. 128. Im Gegensatz zu ihrer Analyse Grigias kommt Glander mit Blick auf den Mann ohne Eigenschaften zu einer ähnlichen These. Vgl. Kordula Glander: »Die Straßenwände wanken wie Kulissen.« Erzählte Unwirklichkeit in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gunther Martens, Clemens Ruthner, Jaak De Vos (Hg.): Musil anders. Neue Erkundungen
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Schein zum Sein und umgekehrt; der Unterschied zwischen beidem wird in letzter Konsequenz eingeebnet. Es ist der »Theaterechtheit auf sechzehnhundert Meter Höhe« (GW 6, S. 239 f.) geschuldet, dass Homo erkennt: »[D]ieses Leben [. . .] war [. . .] gar nicht mehr Wirklichkeit, sondern ein in der Luft schwebendes Spiel« (GW 6, S. 240; Hervorhebungen O. B.). Die an diese Erkenntnis anschließende Wiedervereinigungsszene wird durch die »Schrift seines kranken Knaben auf einem ankommenden Brief« ausgelöst. Die Schrift führt zu einer »ungeheure[n] Befestigung« (GW 6, S. 240) und ersetzt die gerade ›abgeschaffte‹ Wirklichkeit durch eine neue.61 Noch einmal werden Kontexte bemüht, um die Natur in Gleichnissen weiter zu ästhetisieren und literarisieren. Die Szene wird als ›anderer Zustand‹ avant la lettre beschrieben;62 weder Pathos noch Kitsch wird ausgespart,63 um ein Moment höchster Erkenntnis, spiritistisch-mystischer Einheitserfahrung und kontemplativer »Wiedervereinigung« (GW 6, S. 241) mit seiner »Geliebten« (GW 6, S. 240) auszubuchstabieren:64 Durch die von »Gott geordnet[e]« Welt (GW 6, 240) wird »sein Inneres erhellt« und »er erfuhr zum erstenmal die Liebe ohne allen Zweifel als ein himmlisches Sakrament.« (GW 6, S. 241) Während sich die Forschung nicht sicher ist, ob sich wirklich eine Wiedervereinigung ereignet hat und damit der Wendepunkt der Novelle markiert wird,65 resümiert und präzisiert Homo sein Erlebnis folgendermaßen: »Die Gedanken erleuchteten so wenig wie dunstige Kerzen in dieser großen Helle seines Gefühls, es war nur ein herrliches, von Jugend umflossenes Wort: Wiedervereinigung da.« Die Schrift als Auslöser und das Wort als Epiphanie weisen der Wiedervereinigung den Text als Ort des Ereignisses zu. Homo fühlte sich darauf »nicht mehr verstrickt« (GW 6, S. 241; Hervorhebungen O. B.).
4. Gerade noch von der »Bindung an das Lebendigseinwollen, dem Grauen vor dem Tode« »befreit«, »umspann[t]« ihn schon im nächsten Absatz »ein Goldgräberleben« (GW 6, S. 241) und ein seitenlanges Gleichnisgewebe (GW 6, S. 241–243), das nichts weniger als eine radikale Verstrickung darstellt, hebt an. Der Grad der Verstrickung scheint eine Epiphanie zunächst zu negieren. Offenbar liegt hier ein ähnlicher Gegensatz vor wie im Falle des Widerwil-
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eines Autors zwischen den Diskursen. Bern u. a. 2005 (= Musiliana, Bd. 11), S. 211–227, hier S. 224. Vgl. Glander: Straßenwände wanken (s. Anm. 60), S. 215. Michael Schmitz: Frau ohne Eigenschaften. Die Konstruktion von Liebe in Robert Musils Novelle Grigia, in: Musil-Forum 29 (2005/2006), S. 57–77, hier S. 67. Vgl. auch Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 39), S. 303 f. Bewusst vermeidet Musil die eindeutige Bestimmung der »Geliebten«: Ist Homos Gattin gemeint? Oder Grigia, die er schon zu diesem Zeitpunkt kennen könnte (GW 6, S. 245)? Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 39), S. 300 f.
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lens Homos gegenüber Gebirgsorten, dem bereits im darauffolgenden Satz widersprochen wird. Wie bereits dort, gehört das folgende Gleichnisgewebe auch hier einer anderen Ebene an: Aus der Perspektive der Textur wird die unverständliche Wiedervereinigungsszene konturiert. Während Eibl diesen Abschnitt als »Bildparataxe« beschreibt,66 schlage ich aufgrund der Komplexität des Arrangements in Anlehnung an die Etymologie des Textbegriffs ›Gewebe‹ vor.67 Das Gleichnisgewebe beginnt mit einem in Panik geratenen Weindieb, der mit einem »Strick« (GW 6, S. 241) an einen Baum gefesselt werden soll. Der Dieb glaubt aber, »daß er aufgeknüpft werden solle.« »Ganz das gleiche« verbildlicht die anschließende Beschreibung der in »Gruppen« stehenden Pferde, die wiederum an farbige Häuser erinnern, und ein »ästhetische[s] Gesetz« zu offenbaren scheinen. Auch die Pferde sind »angebunden« – wie die Hunde in der folgenden Szene: »[A]n Stricken geführt« sollen sie »Diebstähle und mancherlei Unsicherheiten« verhindern. Die Hunde bilden wie die Pferde »Gruppen«, die »fest zusammenhielten«. Einer dieser Hunde »biß ihm [i. e. dem Koch] einen Finger ab. – Um halb vier Uhr des Morgens war es schon ganz hell [. . .]. Wenn man da oben am Berg an den Malgen vorbeikam, lagen die Rinder auf den Wiesen [. . .] und ihre [. . .] Mäuler schienen zu beten.« (GW 6, S. 242) Die Tmesis zwischen dem Hunde- und Kuhgleichnis wird hier durch einen Gedankenstrich als Bild sichtbar gemacht, während Musil davon absieht, einen Absatz zu setzen. Dieser Bindestrich visualisiert den Kontiguität stiftenden Strick, der jede Tmesis überbrücken kann und bei den Kühen auf der Wortebene ansonsten keine Rolle spielt. Ähnlich dem ›Wie‹ in den vielen Vergleichen manifestiert sich hier eine Verknüpfung als sprachliches Zeichen. Lapidar wird im Anschluss an die Kuhgruppe festgestellt: »Überhaupt gab es viel Abwechslung.« Daran schließen sich weitere Gleichnisse an. Während die einzelnen ›Szenen‹ bisher ausführlicher beschrieben wurden, werden die Sprengung eines Steins, zwei Feuerbrände und Regen im staccato gereiht. Das zweite Feuer ›beobachtet‹ eine »junge[ ] Birke«, an die ein Schwein »gebunden« wurde. Mit einer Analepse wird die vorangegangene Schlachtung beschrieben: Das Schwein schrie bereits, »als es ein einzelner bloß am Strick führte«, dann aber »schrie es wieder, als ihm das Messer schon in der Kehle stak«. Das Gleichnisgewebe endet schließlich mit der Feststellung, dass Homo »[d]as alles [. . .] zum erstenmal in seinem Leben« bemerkte (GW 6, S. 243). Hier wird klar herausgestrichen, dass Homo erst jetzt – nach der Wie-
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Eibl: Robert Musil (s. Anm. 22), S. 140 f. Auch Kuhn: Bibliomenon (s. Anm. 5), S. 203 f., beschreibt Musils Faible für Textil-Metaphern – allerdings dienen sie in seiner Lesart gerade der Komplexitätsreduzierung und Herstellung von Linearität und »Eindimensionalität«.
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dervereinigung – zu einer solchen Wahrnehmung fähig ist. Wir befinden uns nun ziemlich genau in der Mitte der Novelle.68 Durch die analogische Reihung der einzelnen Bilder suggeriert der Text, dass sich die Bilder gegenseitig erklären und interpretieren – Analyse und Synthese. Sind die hier versammelten Gleichnisse wirklich absolut willkürlich und unverbunden aneinandergereiht, wie Eibl konstatiert,69 und dadurch gar nicht dazu geeignet, irgendwie ›Erkenntnis‹ zu transportieren? Versucht Homo mit der das Gleichnisgewebe abschließenden Bemerkung also bloß, überall ein Grundprinzip zu entdecken, wo es gar nichts zu entdecken gibt?70 Wie die Paraphraseprobe, die nur eine Gleichungsreihe reproduziert, belegt, liegt hier offenkundig eine Textur in Reinform vor: Bestrafung des Weindiebs = Pferdegruppe = Häuser unter dem Selvot = Hunderudel = Kuhherde = Feuer = Steinsprengung = Regen = Schlachtung eines Schweins. Textur schlägt Struktur. Wie bisher muss uns die Verknüpfung der Gleichnisse interessieren, um auf die Spur dessen zu kommen, was Homo an diesem Gleichnisgewebe fasziniert. Die Kontiguität des scheinbar Nicht-Kontigen wird hergestellt über verschiedene Textverfahren. Zunächst habe ich die Dominanz des »Stricks« hervorgehoben, die durch die viermalige identische Wiederholung und die gleichzeitige Verwendung äquivalenter Lexeme aus dem Wortfeld der Textilie wie »aufgeknüpft« und »gebunden« hervorgerufen wird. Der Strick verselbstständigt sich und treibt die Vertextung voran. Der ›Faden der Erzählung‹ wird damit nicht etwa, wie Hoffmann vermutet, durch die »Bildparataxen« substituiert,71 sondern im Text als Wort materialisiert und damit sichtbar gemacht.72 Es braucht nicht viel Phantasie, hierbei eine Anspielung auf das gleiche lateinische Herkunftswort von Text und Textilie zu erkennen.73 Die viermalige Wiederholung des identischen Wortes betrifft auch die »Gruppe« und wo es nicht gerade wörtlich aufgegriffen wird, ist dennoch als Bild ein Gruppenarrangement dargestellt. Wie schon der »Strick« stellt auch die »Gruppe« einen Bezugspunkt dar, der das Vergleichen der verschiedenen Bilder ermöglicht. 68
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Michael W. Jennings: Mystical Selfhood, Self-Delusion, Self-Dissolution: Ethical and narrative Experimentation in Robert Musil’s Grigia, in: Modern Austrian Literature 17 (1984), S. 59–77, hier S. 74. Eibl: Robert Musil (s. Anm. 22), S. 140 f. Hoffmann: Seele im Labor (s. Anm. 25), S. 754 f. Hoffmann: Seele im Labor (s. Anm. 25), S. 756. Das ist auch der zentrale Unterschied zu Biebuycks Lektüre des Heimweg-Kapitels (MoE, S. 647–654): Während er ebenfalls Textilmetaphern zur Beschreibung bemüht, sind in Grigia im Gegensatz zum Roman, in dem nur der »Faden der Erzählung« (MoE, S. 650) kurz erwähnt wird, diese Metaphern weitaus dominanter als Konstruktionsmaterial im Text sichtbar. Vgl. Biebuyck: Inniges Ineinander (s. Anm. 11), S. 171–210. In einem Brief an Viktor Zuckerkandl von 1938 spielt Musil noch etwas expliziter mit dieser etymologischen Synonymie, wenn er schreibt, dass er nicht an »einer Art Waschzwang des Textes leide« (KA/Lesetexte/Bd. 19 Wiener und Berliner Korrespondenz 1919–1938/Robert Musil an Viktor Zuckerkandl, 9. Dezember 1938).
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Ähnliche oder gar identische Motive und Motivspender strukturieren das Textgewebe. So ist der Weindieb über den frame »Diebstahl« besonders eng mit den Hunden verknüpft.74 Die Kühe, die »wie weiß hingestreute stumme Violinschlüssel aus[sahen]« (GW 6, S. 242), und das Schwein, dessen Schrei wie »Trompeten« klang (GW 6, S. 243), sind wiederum über den frame »Musik« als Gruppe hervorgehoben. Und nicht zuletzt sind es vier Tiergleichnisse – Pferde, Hunde, Kühe und ein Schwein –, die eine weitere Gruppe konstituieren. Die Tageszeit gruppiert innerhalb des Gleichnisgewebes die Pferde zu den Kühen, die jeweils am frühen Morgen beschrieben sind. Ansonsten spielt die zeitliche Strukturierung gerade keine Rolle, es herrscht eine Achronie vor. Zeitangaben und -verhältnisse dienen alleine der Entzeitlichung und konterkarieren damit die narrative Funktion der Zeit. Als weiteres Verknüpfungsverfahren lässt sich eine immer wieder aufgerufene Zahlenspielerei lesen. Nach Pott dominiert die »Dreizahl« als strukturierendes Textelement die gesamte Novelle.75 Auch Großmann weist der magischen »Dreizahl der Tiere« eine besondere Bedeutung zu.76 Allerdings wird im Text die Mathematik als Textverfahren nutzbar gemacht: Die Pferde gruppieren sich »zu je dreien oder vieren« und erinnern deshalb an die mit drei Farbwörtern beschriebenen »Häuser unter dem Selvot«. Die Pferde werden betrachtet, nachdem man »um drei Uhr« aufgebrochen ist, die Hunde werden »zu zweit oder dritt an Stricken geführt« und die Kühe um »halb vier Uhr« – oder um es deutlicher zu machen: um 03:30 Uhr – betend vorgefunden. Die Violinschlüssel der Kühe werden aus drei Körperteilen gebildet (GW 6, S. 242), die »Abwechslung« ergibt sich aus Steinsprengung, Feuer und Regen und das letzte Gruppenarrangement besteht aus »Feuer, [. . .] Birke und [. . .] Schwein« (GW 6, S. 243). Aber nur scheinbar ist hier eine magische Dreizahl am Werk, denn genau besehen wird die Drei ständig relativiert und damit ihrer potentiell magischen Kraft beraubt.77 Keine Zauberei ist für die vorliegende Vertextung notwendig. Das Erzählen wird nicht bloß auf seinen etymologischen Kern reduziert – das Zählen –,78 sondern auf sein Material: die einzelnen Zahlen. Auf diese Weise vermag es die Drei wie der Strick, widerspenstige Gleichnisse zu verknüpfen und zugleich ironisch auf die Zähllogik 74
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Mit dem Begriff frame wird auf ein Kontiguitätsverhältnis referiert und nicht auf die medientheoretische Dimension des Begriffs. Vgl. Baßler: Kulturpoetische Funktion (s. Anm. 40), S. 218. Hans-Georg Pott: Robert Musil. München 1984 (= Uni-Taschenbücher, Bd. 1287), S. 53 f. Großmann: Robert Musil (s. Anm. 24), S. 36. Zaubersprüche müssen, da sie auf dem Prinzip des Analogiezaubers basieren, wortwörtlich wiedergegeben werden. Vgl. Friedrich Pfister: Art. »Analogiezauber«, in: Hanns BächtoldStäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Unter besonderer Mitwirkung v. Eduard Hoffmann-Krayer u. Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen. Bd. 1: Aal-Butzemann. Berlin, Leipzig 1927, Sp. 385–395, hier Sp. 385 f. Ähnlich funktioniert auch das »episch unerschütterliche ›Und‹« im Mann ohne Eigenschaften (MoE, S. 1014).
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zu verweisen, die gerade darauf angewiesen ist, nicht Identisches, sondern Äquivalentes syntagmatisch zu ordnen. Diese Zahlenspiele implizieren mit Blick auf die Textur insofern gerade keine numerologische Interpretation, sondern machen das Textverfahren, das dem Weben einer kontigen Textur dient, an der Textoberfläche sichtbar. Die Zahlen sind bloß sprachliches Material und ihre ›magische‹ Funktion ist letztlich eine text-texturierende, die ganz dem Äquivalenzprinzip verpflichtet ist. Als ob die virtuos eingesetzten und sich gegenseitig überblendenden Strategien nicht ausreichten, den Text ohne jede kausale Narration zusammenzuhalten, fällt aus editionsphilologischer Sicht die Rücknahme von Absätzen in der Fassung von 1924 im Vergleich zur Fassung von 1923 auf:79 Während 1923 das Gleichnisgewebe mit fünf Absätzen strukturiert wurde,80 werden 1924 sämtliche Absätze gestrichen. Damit erzeugt das Druckbild eine fast zwei Seiten andauernde optische Homogenität heterogener Einzelbilder. Und nicht zuletzt erlaubt sich Musil einen kleinen Spaß, wenn er Kontiguität selbst über die phonologische Ebene andeutet, wie der kleine Reim »das Feuer, die Birke und das Schwein, sind jetzt allein« belegt.81 Dieser Reim kompensiert die temporale Unstimmigkeit – im Gegensatz zum Rest des Gleichnisgewebes ist dieser Satz im Präsens formuliert – und verdeutlicht erneut, wie der ganze Absatz mit dem Verknüpftsein spielt: Droht das gewählte Tempus den eben noch so dicht gewobenen Text zu sprengen, wird die phonologische Ebene zur akustischen Rück-Knüpfung eingesetzt. Damit kommt die Fragilität des Gewebes zum Ausdruck, das, obwohl nicht aus Fäden, sondern aus Stricken gewoben, fortwährend auszufransen droht und ständige Text-Arbeit erfordert, um zusammengehalten zu werden. Die Offenlegung und Thematisierung der Textur wird im Text selbst als ästhetisches Prinzip formuliert: Sie ist das dem Text zugrundeliegende »geheim verabredete[ ] ästhetische[ ] Gesetz« (GW 6, S. 242). Oder mit den Worten aus Musils vielzitierter Rilke-Rede:82 [D]ie Dinge [sind] wie in einem Teppich verwoben; wenn man sie betrachtet, sind sie getrennt, aber wenn man auf den Untergrund achtet, sind sie durch ihn verbunden. Dann verändert sich ihr Aussehen, und es entstehen sonderbare Beziehungen zwischen ihnen. (GW 8, S. 1238 f.)
Ein Hinweis auf den »Untergrund« findet sich außerdem im Gleichnisgewebe, denn die Pferde »gruppierten sich immer irgendwie scheinbar regellos in die Tiefe« (GW 6, S. 242; Hervorhebungen O. B.) und verweisen damit auf den Ort, an dem der Schein zum Sein wird: die Textur. Die Form und Ge79 80 81 82
1923 erschien Grigia erstmals als Einzeldruck, 1924 im Novellenzyklus Drei Frauen. Vgl. KA/ Werkkommentare/Grigia. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Grigia/27–31. Großmann: Robert Musil (s. Anm. 24), S. 29. Auch Leitgeb: Ein Weg zum »Heimweg« (s. Anm. 6), S. 236, liest die »Gewebs- und Fadenmetaphorik« der Rilke-Rede als Poetologie Musils.
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stalt, die zugrundeliegende Ästhetik und Poetik – das sind diejenigen Aspekte, die die Textur sichtbar macht, und auf die das Erkenntnisinteresse Homos gerichtet ist. Und gerade deshalb plädiere ich dafür, nicht die mit »konventionell[en]« Gleichnissen illustrierte Wiedervereinigungsszene alleine zum Wendepunkt der Novelle zu erklären,83 sondern zusammen mit dem beschriebenen Gleichnisgewebe, das als Texturereignis das struktural in der Tiefe verborgene Gesetz in der Oberfläche abbildet.84 Wiedervereinigungsszene und Gleichnisgewebe sind Revers und Avers derselben Medaille und kommen auf diese Weise zur Deckung. Während die Wiedervereinigungsszene innerhalb der Handlungsstruktur die Wiedervereinigung erzählt, erzählt das Gleichnisgewebe simultan,85 wie die Wiedervereinigung erzählt wird.
5. Das Gleichnisgewebe bildet hinsichtlich seiner Dichte und Komplexität den texturierten Höhepunkt der Novelle und bereitet die Einführung Grigias in den Text vor, die Homo »[d]amals [. . .] schon lange [. . .] kennen gelernt« (GW 6, S. 245) hatte. Doch erst jetzt manifestiert sie sich im Text mit Namen. Homos Beziehung mit Grigia wird explizit mit dem Gleichnisgewebe analogisiert: »Das alles war genau so einfach und gerade so verzaubert wie die Pferde, die Kühe und das tote Schwein.« (GW 6, S. 247) Zudem erzwingt das »Damals« ein ›Zurückspulen‹ des bereits Gelesenen – angezeigt wird ein Zusammenfallen der beiden struktural deutlich getrennten Teile der Novelle: Das Gleichnisgewebe und damit auch die Wiedervereinigungsszene weisen eine Simultaneität zur Liebesbeziehung mit Grigia auf. Dem Charakter von Texten ist es geschuldet, dass beide Novellenteile nebeneinander liegen, während sie durch die temporalen Marker und die Äquivalenzbeziehungen zueinander tatsächlich übereinandergelegt – also simultan – gelesen werden müssten. Es kommen die »zwei Hälften der gleichen Handlung« (GW 8, S. 1008) zum Ausdruck, wie Musil in seinem bereits zitierten Essay Analyse und Synthese formuliert: Analyse, die durch die lineare Struktur des Textes das Gleichzeitige und Zusammengehörende auseinanderfaltet und nebeneinanderlegt, und Synthese, die qua Textur das Nebeneinander aufhebt. Wenn Grigia also die ganze Zeit schon da war, fällt Grigia mit Grigia zusammen. Die beschriebene Textur des ersten Teils hat wie auch Grigia für Homo die Funktion, Verknüpfungen offenzulegen und herzustellen: Homo 83 84
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Eibl: Robert Musil (s. Anm. 22), S. 139. Wenn Bendels auf das fehlende peripetische Moment des Wendepunkts hinweist, ist dies mit Blick auf Homos neue Wahrnehmung nicht plausibel. Vgl. Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 39), S. 304. Nach Kuhn: Bibliomenon (s. Anm. 5), S. 17, ist die Herstellung von Simultaneität eine Grundfunktion von Gleichnissen.
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wusste nie, »ob er dieses Weib liebte, oder ob [. . .] Grigia nur der Teil einer Sendung war, die ihn mit seiner Geliebten in Ewigkeit weiter verknüpfte.« (GW 6, S. 247; Hervorhebung O. B.) Im Wissen um die verschiedenen Verknüpfungsverfahren, die die Text-Bergwelt und ihre Oxymora zusammenhalten, kann Grigia Homo mit seiner Gattin verbinden. Raepke hat Klages’ »Eros kosmogonos« als Motiv für Homos Beziehung zur Bäuerin identifiziert.86 Während dieser Mythos in seiner Lesart als Imitation desavouiert wird,87 erscheint mir die Fernliebe als mögliche Lösung der zu Beginn artikulierten Krisenerfahrung und versuchte Adaptation der Textur-Erkenntnis Homos. »[W]eil sie [i. e. Grigia] so sehr einer Frau glich« (GW 6, S. 246), birgt sie das Potential, mit seiner Frau über den frame »Geschlechtlichkeit« verknüpft zu werden. Berücksichtigt man die Beharrlichkeit, mit der das Motiv der Fernliebe Musils gesamtes Schaffen prägt,88 ist es plausibel davon auszugehen, dass auch in Grigia diese Spielart der Liebe entworfen wird. Welche Konsequenzen aber ein solches Konzept für das Individuum haben kann, verdeutlicht das Ende der Novelle, das erneut den Zusammenhang Grigias zum Gleichnisgewebe hervorhebt und damit Textur und Struktur zur Deckung bringt: Als ihr Ehemann den Felsen vor den Stollen gerollt hat, »[z]eterte [sie] sogleich wie ein Schwein und rannte [. . .] wie ein [. . .] Pferd« (GW 6, S. 251). Den Vergleich zu den Kühen aber repräsentiert Grigia mit ihrem von Homo verliehenen Kuhnamen (GW 6, S. 245) und ihrer betenden Körperhaltung (GW 6, S. 251) selbst. Der Schluss der Novelle wird außerdem mit dem identischen Wort wie schon das an die Wiedervereinigungsszene anschließende Gleichnisgewebe eingeleitet, da »ein schöner Morgen [. . .] alles umspannte« (GW 6, S. 250; Hervorhebung O. B.). War Homo vorher von einem »Goldgräberleben [. . .] umspann[t]«, das ihn mit der Textur verknüpfte und von seinem Leben befreite (GW 6, S. 241), ist es nun eine Verstrickung, die sich immer mehr zusammenzieht. Das Ende im Stollen – m. a. W. in einer »künstliche[n] Höhle«89 – ist ganz der Sphäre des Ästhetischen überantwortet, während Realismus keine Rolle mehr spielt und nicht als narrativer Modus dienstbar gemacht werden kann:90 Grigias Mann rollt in einem kurzen Augenblick lautlos einen »Fels[en]«, der einen ganzen Stolleneingang verdecken kann, mit einem »Baumstamm« (GW 6, S. 251) vor den Eingang, und obwohl Homo »Tage [. . .] und Nächte« in absoluter Dunkelheit verbringt, kann er den »Schimmer« des Spalts (GW 6, S. 252), den Grigia für ihre Flucht nutzt, nicht entdecken. 86 87 88 89 90
Raepke: Auf Liebe und Tod (s. Anm. 47), S. 184 f. Raepke: Auf Liebe und Tod (s. Anm. 47), S. 185. Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989 (= Musil-Studien, Bd. 19), S. 110. Eibl: Robert Musil (s. Anm. 22), S. 113 (Hervorhebung O. B.). Ernst Kaiser, Eithne Wilkins: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Stuttgart 1962 (= Sprache und Literatur, Bd. 4), S. 113 f.
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Homo hat sich von der Zivilisation verabschiedet (GW 6, S. 251) und sein Tod wird mit dem »Abbruch der Arbeit« der mit der Zivilisation assoziierten Expedition parallelisiert (GW 6, S. 252).91 Allerdings ist nur die Expedition der onomastischen Inkarnation der veralteten Kunst – Mozart Amadeo Hoffingott (GW 6, S. 252) – gescheitert.92 In einem der Stollen, in denen die Expedition Gold finden sollte, findet Homo sein eigenes und fördert es für den Leser als Textur zu Tage: Die Erkenntnis über das Potential der entdeckten Verknüpfungen, die nicht länger nur die Oxymora dieser texturierten Welt zusammenhalten und existieren lassen, sondern ihn selbst einbinden und einschließen.93 Wie das von Barthes als Spinne metaphorisierte Subjekt, welches mit seinem selbstgesponnenen Netz eins wird, löst sich Homo aus der Struktur und geht ein in die Textur. Als Homo zuletzt den Spalt entdeckt, war er »vielleicht schon zu schwach, um ins Leben zurückzukehren, wollte nicht oder war ohnmächtig geworden.« (GW 6, S. 252) Das Eingehen in die Textur fordert seinen Tribut: Das principium individuationis und auch Wille und Bewusstsein sind auf ein Minimum reduziert; ein dem Zivilisationsbegriff entsprechendes Leben ist nicht mehr möglich. Das Ende erfährt aber gerade dadurch seine positive Konnotation,94 hat Homo doch einen bewohnbareren Ort als die Zivilisation gefunden. Die ›wirkliche‹ Grigia hingegen kehrt zu ihrem Mann in den ›zivilisierten‹ Ehestand zurück; es ist kein Zufall, dass ihr tatsächlicher Name »Lene Maria Lenzi[ ]« (GW 6, S. 251) zum zweiten Mal im Text fällt, um ihren Ehemann zu identifizieren. Die Unterscheidung von Grigia und Lene Maria Lenzi muss ebenso verstanden werden, wie die Differenz zwischen dem Gebirgskurort und dem Gebirge der Expedition oder zwischen der Wiedervereinigungsszene und dem Gleichnisgewebe. Während Grigia durch die Umbenennung Homos ein Teil der Textur wird – und gerade deshalb einerseits mit ihrer Kuh allein auf der Basis phonologischer Kriterien verknüpft werden kann (GW 6, S. 245) und andererseits als Geliebte mit Homos Gattin –, bleibt Lene Maria Lenzi die Bäuerin aus dem Fersenatal, deren Geschichte in der Handlungsstruktur zu suchen ist. Grigia, das ist das Gleichnis für Homos Gattin – und
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Pekar: Sprache der Liebe (s. Anm. 88), S. 113. Nach Pekar sind alle Männer – nicht nur die Expeditionsteilnehmer, sondern auch die Bauern – im Gegensatz zu den Bäuerinnen der Zivilisation zuzurechnen. Allerdings verweist der Namenswechsel auf die Zugehörigkeit der Frauen – oder sollte man sagen: der verheirateten Frauen? – zur Zivilisation. Großmann: Robert Musil (s. Anm. 24), S. 25, und Pott: Robert Musil (s. Anm. 75), S. 50 f., verweisen auf die kunsthistorischen Implikationen der Namensgebung Hoffingotts. Dieser Bedeutung ist es auch geschuldet, dass zum Schluss der Novelle der Initiator des Abbruchs explizit beim Namen genannt wird. Erstaunlicherweise beschreibt Pott Homos Tod als Erlösung und Befreiung von allen Fesseln und Stricken. Vgl. Pott: Robert Musil (s. Anm. 75), S. 69 f. Peter Henninger: Schreiben und Sprechen. Robert Musils Verhältnis zur Erzählform am Beispiel von Drei Frauen und Die Amsel, in: Modern Austrian Literature 9 (1976), S. 57–99, hier S. 74.
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in letzter Konsequenz dank der komplexen Verknüpfungsarchitektur für alle Textelemente.
6. »[N]eue Textverfahren erfordern neue Verfahren der Lektüre«95 – wie soll also das Verfahren Grigias, das analytisch Nebeneinanderliegendes durch eine komplexe Verknüpfungsarchitektur topologisch und temporal synthetisch zur Deckung bringt, gelesen werden? Die epistemologische Qualität von Gleichnissen und Textur ist zunächst eine poetologische; zugleich hieße die Reduktion der gesamten Novelle auf diese eine Lesart nichts anderes, als den Text hermeneutisch auf einen Sinn zu reduzieren.96 Die Thematisierung der Poetologie in Grigia formuliert insofern vielmehr ein epistemologisches Sprungbrett: Sie zeigt an, wie die der Konvention geschuldete lineare Lektüre des Textes zugunsten einer simultanen aufgebrochen werden kann, wie die nebeneinanderliegenden Textteile sich zueinander verhalten und eine iterative Lektüre geradezu erzwingen, und wie auch in der Sprache – entgegen Balázs’ Behauptung, an der sich Musil im Essay Ansätze zu neuer Ästhetik abgearbeitet hat (GW 8, S. 1137–1154) – »Dinge gleichzeitig erscheinen [können] wie in einem Akkord«, dank dem sich die »reichsten Harmonien und Modulationen« ergeben.97 In Grigia wird die Zeit zum Zwecke der Herstellung von Simultaneität derart »auffallend verlangsamt« (GW 6, S. 234), dass sie beinahe nicht mehr von einer stillstehenden Zeit zu unterscheiden ist – insofern ist der erste Satz der Novelle auch mit dem darin beschworenen »Unglück« programmatisch für den gesamten Text. Eine strukturale Lesart erkennt mindestens ein doppeltes Unglück: Homo wollte eine Trennung von seiner Frau – die er dann mit einer Bäuerin betrügt – und eine Selbstauflösung – die der Tod am Ende der Novelle markiert – verhindern. Aus texturaler Perspektive allerdings gibt sich dieses doppelte Unglück als Glück zu erkennen: Durch die Verknüpfungsarchitektur ist er auf immer im Text mit seiner Geliebten – Grigia und Gattin – verbunden und seine Selbstauflösung ist ein Eingehen in die Textur, die diese radikale und totale Verknüpfung überhaupt erst ermöglicht. Das agonale Verhältnis zwischen Textur und Struktur dominiert vom ersten Satz an den gesamten Text und erst die Radikalisierung der Textur 95 96 97
Baßler: Entdeckung der Textur (s. Anm. 7), S. 168. Baßler: Entdeckung der Textur (s. Anm. 7), S. 144 f. Ich lese hier im Sinne Musils, der sich gegen eine Inkommensurabilität von Film und Dichtung wendet (vgl. GW 8, S. 1149), Balázs gegen den Strich – letzterer folgert aus den Gefühlsakkorden nämlich, dass Gleichzeitigkeit »mit Worten nicht auszudrücken« sei (Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Mit einem Nachwort v. Helmuth H. Diederichs u. zeitgenössischen Rezensionen v. Robert Musil, Andor Kraszna-Krausz, Siegfried Kracauer u. Erich Kästner. Frankfurt a. M. 2001, S. 45).
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im ausführlich besprochenen Gleichnisgewebe verhilft ihr zu ihrer sichtbaren Existenz. Die sichtbare Textur aber dient gerade nicht einer vertiefenden Explikation der Struktur; das Gleichnisgewebe erklärt keinesfalls die Wiedervereinigungsszene oder gar Homos Beziehung zu Grigia – wie auch: nichts stünde ihr ferner als Semantik! Wie der Film in Balázs’ Ästhetik erscheint Grigia als »Flächenkunst«, als pure »Oberfläche«, die »überhaupt keinen ›Inhalt‹« und »›tiefere Bedeutung‹« hat:98 [D]er Text des Films besteht aus seiner Textur, aus jener Sprache der Bilder, wo jede Gruppierung, jede Gebärde, jede Perspektive, jede Beleuchtung jene poetische Stimmung und Schönheit auszustrahlen hat, sie sonst die Worte des Dichters enthalten. Auch bei [. . .] einer Novelle kommt es ja am wenigsten auf den bloßen Inhalt an. Feinheit und Kraft des Ausdrucks machen den Dichter. Feinheit und Kraft der Bildwirkung und der Gebärde machen die Kunst des Films aus.99
Völlig zu Recht kritisiert Musil die daraus von Balázs gezogene Folgerung, der Film hätte »nichts mit der Literatur zu schaffen«,100 denn was, wenn nicht die ›Kraft der Bildwirkung‹, zeichnet Grigia aus? Musils Gleichnisse erringen avant la lettre die von Balázs geforderte ›Feinheit und Kraft‹ gerade auf Kosten der Struktur, des Inhalts, der Semantik – und nicht zuletzt: der Hermeneutik. Das Glück der Textur ist das Unglück der Struktur. Die Unverständlichkeit der Textur – und damit Grigias insgesamt – ermöglicht erst den gewagten Versuch, mit den seit Lessings Laokoon beschworenen genuinen Eigenschaften der Literatur zu brechen und zu zeigen,101 dass auch ohne die kausalitätsstiftenden Kategorien Zeit und Raum Texte funktionieren können. Textbewegung braucht keine Zeit und bringt seinen eigenen Raum hervor. Man muss dabei allerdings in Kauf nehmen, dass eine solche Literatur zu weiten Teilen unverständlich bleibt.
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Balázs: Der sichtbare Mensch (s. Anm. 97), S. 27. Balázs: Der sichtbare Mensch (s. Anm. 97), S. 26 (Hervorhebung O. B.). Balázs: Der sichtbare Mensch (s. Anm. 97), S. 26. Nach Glander ist das Interesse an der »sichtbare[n] Oberfläche« paradigmatisch für die Literatur der Jahrhundertwende und repräsentiert eine Gegenposition zu Lessings Dichtungsverständnis. Vgl. Kordula Glander: Licht und Farbe in Texten Robert Musils, in: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): »Alle Welt ist medial geworden«. Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne. Internationales Darmstädter Musil-Symposion. Tübingen 2005 (= KULI, Bd. 4), S. 127–140, hier S. 128.
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Von Ketten’s Climb Making a Mark in Robert Musil’s Die Portugiesin Abstract: Robert Musils Die Portugiesin lässt sich als ein Probedurchlauf für einige Motive lesen, die in Der Mann ohne Eigenschaften genauer ausgearbeitet sind. Hinsichtlich der Erzählkategorie Charakter verknüpft der Autor Attribute wie »Eigenschaftslosigkeit«, persönliche Vortrefflichkeit und induktive Gesinnung mit seinem Protagonisten von Ketten. Mit Bezug auf die Handlung und den Schauplatz leitet Musil den Bildbegriff »Gefilz von Kräften« ein. In einem Zustand der Erkrankung muss sich von Ketten einen Weg durch dieses Gefilz bahnen, um wieder gesund zu werden. Seine draufgängerische Kur führt ihn eine »unersteigliche« Felsmauer hinauf und bringt sein Handeln auch in die Nähe von Musils Theorie des Sports, insofern als das Erklettern einer »Moral des nächsten Griffs« folgt, welche ihm durch die ungeteilte Kooperation von Körper und Geist den Gipfel zu erringen erlaubt.
1. Introduction At the end of Robert Musil’s Die Portugiesin, the protagonist von Ketten does a curious thing: He scales an »unscalable« wall in order to enter his own home. Though he steals inside his fortress as an attacker might, he is neither attacking his home nor the unwanted suitor he believes to linger within. Rather, he directs his assault against at least two adversaries: a new cosmos, which he does not yet comprehend, and against his own infirmity, which is impeding his ability to confront these new circumstances. In terms of the novella’s narrative structure, it is not by chance that the onset of his infirmity coincides with the end of a quest that had hitherto given his life meaning. In a way, he is climbing out of the middle ages and into emergent modernity. He is actually entering for a second time, since he already entered once through the front door, born on a litter and in a diminished state. The climb permits him to enter a largely new environment on his own terms and with his strengths intact – though the re-entry occurs primarily at the figurative level, since at the level of history, the narrative and reader remain in medieval times. The feat is epic1 in character and provides a provisional answer to a question that occupied Musil throughout his work on Der Mann ohne 1
Epic in the sense that both Hegel and Lukács use the word to define a time and place in which »Heroen« can »aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze
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Eigenschaften: »Von heute gesehen, ist das Problem: Der verteidigungsfähige (kriegerische) Mann ist zu erhalten, der Krieg aber zu vermeiden. Oder: Der M.oE., aber ohne Dekadenz« (MoE, S. 1860). Faced with a soothsayer’s conditional imperative, »Ihr werdet nur gesund, wenn Ihr etwas vollbringt« (GW 6, S. 265), von Ketten’s climb is a gambit to set his world to rights. His choice is an interpretation of the soothsayer’s vague something, which she refuses to specify. At first glance the choice is not even the most likely one. Killing his wife’s lingering male friend2 (GW 6, S. 268) would seem the more probable action, or at least one that would align him with Odysseus who slew Penelope’s unwelcome suitors. But the Odyssey is the wrong epic and Odysseus is the wrong hero for Musil’s project. From von Ketten to Ulrich in Der Mann ohne Eigenschaften, Musil is interested in giving literary form to a hero who is active rather than reactive, who would define his challenges rather than allowing them to define him, in a word: Achilles. In Musil’s work on the »Panama-Komplex«, the plots of von Ketten and Ulrich in fact converge and their characters merge3 under the name Achilles, under the motif of sickness, and in proximity to Bozen: »Linear verläuft Achilles Erleben von Einrückung bis Erkrankung [. . .]. In Bozen mündet dann der Roman selbst in die Breite« (Tb I, S. 358). The climb is an attempt to return to health, an active challenge to the most imposing physical structure in von Ketten’s world. Since he was a boy, »hatte er immer die unersteigliche Felswand unter dem Schloß hinaufklettern wollen« (GW 6, S. 268). The endeavor is twice described as impossible – »unersteiglich«, »die Wand hinauf [nur] der Teufel« (GW 6, S. 269) – and yet von Ketten undertakes the climb while still in a physically diminished state. The attributes of determination and physical formidability evoke Achilles4 much more than they do the cunning Odysseus. The significance of the climb emerges in part from the way the narrator of Die Portugiesin manages the relation between the time of what is told (nar-
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einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen was das Rechte und Sittliche ist« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik, in: ders.: Werke. Bd. 13. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 243 f.). He indeed plans to do this, but only after the climb. Karl Eibl: Robert Musil: Drei Frauen – Texte, Materialien, Kommentar. München, Wien 1978, S. 100. In addition to the notes and drafts from which Die Portugiesin and Der Mann ohne Eigenschaften emerge, Eibl also examines here biographical data from the time of Musil’s military service that belong in the complex network of relations constituting the two texts’ shared Entstehungsgeschichte. In Achilles’ Line: The Man without Qualities, Musil, Luhmann, and Don Draper (Northwestern University Press 2014) I discuss how, contrary to many readings of the novel, Ulrich is quite inclined toward action. The novel establishes this fact early via the description of his fierce blow to the punching bag (MoE, S. 13), which, in narrated time, is followed immediately by his fight with three men (MoE, S. 25–27); and in the scene where he takes the part of
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rated time) and the time it takes to tell it (time of narration), that is, between »›Erzähltem‹ (der Geschichte, Fremdreferenz) und ›Erzählen‹ (Erzählerkommentar, Selbstreferenz)«.5 In terms of the time of narration, Die Portugiesin is divided into two episodes of almost equal length, both of which end in victory for von Ketten. The episodes balance on the fulcrum of a fly bite, before which von Ketten is robust, after which he becomes sickly. Both present parallel sequences of a man at war, challenged by outside forces (the Bishop, his wife, the world beyond and within the walls of his castle), as well as internal tensions (his genealogy, his understanding of destiny, his health, his honor). In terms of narrated time, there is a pronounced temporal imbalance. The first episode lasts eleven years, the second no more than a few months. The narrative weighting that Musil6 gives the two sequences has some important consequences for the interpretation of the novella: Von Ketten’s months of recuperation followed by the heroic exertions of a midnight climb are just as worthy of narration as the labor of four generations, four links in the chain of von Kettens, eleven years of the protagonist’s own life, and his ultimate victory over the Bishop. Von Ketten’s narrative is one of the first instances of Musil’s monumental and lasting literary experimentation with classical heroic forms in modernity. Thus it is no coincidence that Die Portugiesin does not begin taking form until well after he has begun work on the other two novellas in Drei Frauen,7 and at a time when work on Der Mann ohne Eigenschaften, his most exhaustive experiment with heroic character and narrative, is well underway. Von Ketten’s climb follows his victory in war. As such, the climb gives a tentative
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the drunk against three policemen, and is subsequently charged with »Majestätsbeleidigung« (MoE, S. 156–162). Much of my argumentation applies also to von Ketten. The terms belong to the common vernacular of narrative theory, but also to the vocabulary of systems-theoretical literary analysis. Dietrich Schwanitz discusses them under the aspect of their divergent temporal orientations: Erzählen is future-oriented, moving toward an end, and Erzähltes is comprised of segments of the past. Cf. Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. Opladen 1990, S. 166–188. Unless otherwise noted, whenever I refer to Musil, I am referring to him only as implied author of the work under discussion, and am following James Phelan’s definition of this concept as »a streamlined version of the real author, an actual or purported subset of the real author’s capacities, traits, attitudes, beliefs, values, and other properties that play an active role in the construction of a particular text.« Cf. James Phelan: Living to Tell about It. A Rhetoric and Ethics of Character Narration. Ithaca, London 2005, S. 45. Tim Mehigan: Robert Musil. Stuttgart 2001, S. 50. Aside from a few notes taken during the war about a sick cat and a man with a shrunken head sometime between 1916 and 1917 (cf. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/211), while Musil himself was severely ill during the First World War and recovering in Bozen, there are no drafts to the novella that are set in medieval times and contain all of the elements of its final form. Between 1915 and 1916, Musil devotes significant attention to Grigia, then leaving it lie until 1921 (cf. KA/Kommentare & Apparate/ Werkkommentare/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Grigia/Textgenese), and he begins work on Tonka in 1906 and continues until 1908, picking it up again in the twenties (cf. KA/Kommentare & Apparate/Werkkommentare/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Tonka/Textgenese).
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answer to the question, as cited above, of how to retain the warrior ethos while avoiding war, which he wrote down sometime between 1936 and 1938, and which vexed him throughout his work on Der Mann ohne Eigenschaften. In abstract terms, the climb is a response to the following imperative: When no clear objective is in sight, and one does not know what to do, one must nonetheless do something. Von Ketten’s conduct appears less arbitrary and more programmatic when read as an analog to Ulrich’s, which is elaborated under such headings as »Die Moral des nächsten Schrittes« (MoE, S. 740) and »die induktive Gesinnung« (MoE, S. 873). In various contexts, both men answer the call to action on the basis of incomplete and imperfect information, and both perform admirably as a rule. As mentioned, a soothsayer impresses upon von Ketten the urgency of acting without sufficient information, telling him he can only restore his health when he accomplishes something – though she balks at saying exactly what (GW 6, S. 265). The vagueness of the soothsayer’s advice places him under the »Zwang, das Surrogat der Unendlichkeit [Krieg] als endlich zu erkennen und die eindimensionale Zielgerichtetheit aufzugeben«.8 There is an additional component concomitant with this recognition: the relinquishing of external signposts and the subsequent turning toward an »individuelle[n] Glaube an eigene bzw. selbst gedeutete oder selbst umgesetzte Zeichen«.9 Von Ketten proceeds inductively – not for the first time, but once again. The climb restores him to his old self: »Erst im Ersteigen der Felswand, in der Zusage an eine Anstrengung, die keinen anderen Zweck hat als den, ein Zeichen zu setzen, ist auch die Krankheit überwunden«.10 Exertion that serves no purpose but to »make a mark« is the kind of physical exertion that sporting activities provide. Von Ketten has not trained for climbing. He is neither a professional nor even an amateur climber; but the climb itself is an example of the Hochleistung that Musil values in his writing on sports – from his essays on the topic to Der Mann ohne Eigenschaften. The climb, though not an example of recreational or competitive sport, is a functional equivalent for sport when viewed from the side of the physical benefits and educational value it confers on von Ketten: »da sind Mut, Ausdauer, Ruhe, Sicherheit, die man auf dem Sportplatz zwar nicht für alle Fälle des Lebens, aber immerhin so erwirbt«.11 Even if the climb serves no purpose other than setting the mark for such things as courage, endurance, calm, etc., is not the mark itself rife with purpose?
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Ruth Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein. Naturwissenschaft und Literatur in Hermann Brochs Eine methodologische Novelle und Robert Musils Drei Frauen. Würzburg 2008 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 650), S. 332. Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 8), S. 351. Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 8), S. 350. Robert Musil: Als Papa Tennis lernte, in: GW 6, S. 685–691, hier S. 689.
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That the mark attests to the restoration of von Ketten’s strength does not answer the question adequately. The way the matter of a mark or sign is posed before the climb indicates a larger scope as well as the question’s constitutive unanswerability: »Das Zeichen war dagewesen, aber wie war es zu deuten, und was sollte geschehn?« (GW 6, S. 268) Then, after the climb, the question charges the atmosphere between him and his wife by remaining unasked: »Es war nichts bewiesen und nichts weggeschafft, aber sie fragte nicht, und er hätte nichts fragen können« (GW 6, S. 269). The task is left to the reader to determine not what should happen, but what had happened as a result of von Ketten’s climb – a question also not reducible to a single explanation. In the two sections that follow, this study will first examine features that von Ketten shares with Ulrich. The second section will show how these features become prominent during Von Ketten’s climb, which may be read as an enactment of Musil’s approving understanding of athleticism – and as a demonstration of how a warrior might come to terms with life without war.
2. Parallels between von Ketten and Ulrich To my knowledge, no analysis has undertaken a point-for-point comparison of von Ketten and Ulrich, who share a number of key heroic qualities and similar biographical facts. In addition, by combining shared elements of character with disparate story elements (time, place, social milieu), Musil situates them in type scenes that show Ketten’s narrative to be a sort of short trial run for Ulrich’s sweeping epic plot. As to the characters’ biographical similarity: The parallels are so pronounced as to have perhaps produced Alice Kuzniar’s Fehlleistung: »Although the title focuses on his wife, Die Portugiesin primarily concerns Ulrich von Ketten«.12 Though this name appears neither in the novella nor in any notes or drafts, it is a fitting combination since both protagonists have but one name. In pre-modern times when one’s worth is determined by birth and rank primarily, family name is of chief importance: »the absence of a given name does not distinguish von Ketten from his ancestors (the association of ›von Ketten‹ with ›Kette‹ identifies him even more closely with the succession of generations)«;13 and Ulrich has only his first name, which may be interpreted as an ironic nod to the primacy of the individual in modernity. Both men are of high birth – provided that Ulrich’s father was raised »in den erblichen Adelsstand« (MoE, S. 15) by thirty-seven, before Ulrich was born (MoE, S. 14). They are roughly the same age at the beginning of 12 13
Alice Kuzniar: Inside Out: Robert Musil’s Die Portugiesin, in: Modern Austrian Literature 26/2 (1993), S. 91–106, hier S. 93 (Italics T. C.). Susan Erickson: The Psychopoetics of Narrative in Robert Musil’s Die Portugiesin, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 78/2 (1986), S. 167–181, hier S. 169 f.
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their narratives: Von Ketten is thirty, Ulrich thirty-two. Both are described as physically splendid specimens – though their physiognomies differ. Von Ketten is a »glänzende[r] Kavalier[ ]« (GW 6, S. 253), his body is »schlank und fein« (GW 6, S. 257). Of Ulrich we know (that he also knows): »Er war glatt rasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulös, sein Gesicht war hell und undurchsichtig« (MoE, S. 93). Despite the size difference, both their bodies possess »ungeheure Kraft« (GW 6, S. 253; MoE, S. 12, 158, passim). Ulrich and von Ketten have military backgrounds, often feel the urge of Angriffslust (GW 6, S. 257; MoE, S. 151), and appreciate the clarity and simplicity of the military ethos. Mirroring von Ketten’s view – »Befehlen ist klar; taghell, dingfest ist dieses Leben, der Stoß eines Speers unter den verschobenen Eisenkragen ist so einfach, wie wenn man mit dem Finger weist und sagen kann, das ist dies« (GW 6, S. 259) – Ulrich observes protesters from Graf Leinsdorf’s office window and »eine Erinnerung an seine Offizierszeit erfüllte ihn mit Verachtung, denn er sagte zu sich: ›Mit einer Kompagnie Soldaten würde man diesen Platz leerfegen!‹« (MoE, S. 629) Both have also had the occasional dalliance with prostitutes or women of loose morals – Ulrich with Leona and for von Ketten »gehobene Weiberröcke« are a diversion during the years of war (GW 6, S. 257). The list goes on. For now suffice it to mention one more shared feature that has substantial influence on the way these two characters and their plots develop: Each man is driven »bis an die eigenen Grenzen zu gehen«,14 to accomplish great feats and receive the appropriate recognition. Ulrich »konnte sich keiner Zeit seines Lebens erinnern, die nicht von dem Willen beseelt gewesen wäre, ein bedeutender Mensch zu werden« (MoE, S. 35). Ambition has also accompanied von Ketten through life, but its aim is not to conquer the Bishop of Trent in the strife he inherits from the chain of von Ketten’s before him, but rather a goal of his own chosing: »als Knabe hatte er immer die unersteigliche Felswand unter dem Schloß hinaufklettern wollen« (GW 6, S. 268). In Die Portugiesin and Der Mann ohne Eigenschaften certain narrative episodes fit together like Russian dolls – the smaller showing the form of the larger, which in turn embellishes on its more compact predecessor. These episodes make clear that the resemblances between von Ketten and Ulrich are programmatic, and that they can be read as quotations of a classical Urfigure, Achilles, and yet the same representation, the same complex of signs and the same image of reality they project, simultaneously holds altogether different relations with the discourse-event that does the quoting and incorporates the quote: not referential (language/world), or mimetic (image/object), but structural (part/whole) relations. It forms what I call an inset within the surrounding frame of the context-of-quotation.15
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Hans Ulrich Gumbrecht: Lob des Sports. Frankfurt a. M. 2005, S. 47. Meir Sternberg: Proteus in Quotation Land, in: Poetics Today 3/2 (1982), S. 107–156, hier S. 108.
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That is to say: The implied author of Die Portugiesin is not the same as that of Der Mann ohne Eigenschaften. Both are using different historical frames, and make different statements about history. Yet these frames show distinct thematic equivalencies.16 Each protagonist is faced with the dilemma: »Das Zeichen war dagewesen, aber wie war es zu deuten, und was sollte geschehn« (GW 6, S. 268). His uncertainty also makes him unsure about what might be »eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten« (MoE, S. 47). In addition, he is surrounded by »Lümmel« (GW 6, S. 264) and/or »Durchschnittsmenschen« (MoE, passim), and therefore doubts whether his choice could receive commensurate recognition. In terms of episodic similarities, a sentence from Der Mann ohne Eigenschaften paints a »portrait«17 of Ulrich, that, in the right light might be mistaken for von Ketten as he appears in the second half of Die Portugiesin: Er wandte sich ab wie ein Mensch, der verzichten gelernt hat, ja fast wie ein kranker Mensch, der jede starke Berührung scheut, und als er, sein angrenzendes Ankleidezimmer durchschreitend, an einem Boxball, der dort hing, vorbeikam, gab er diesem einen so schnellen und heftigen Schlag, wie es in Stimmungen der Ergebenheit oder Zuständen der Schwäche nicht gerade üblich ist. (MoE, S. 13)
These lines contain a number of details salient to both von Ketten and Ulrich: sick person, detached person, person who undergoes a transformation, and, finally, person transformed (again) through physical action into a formidable figure. The turn from sickness to vigorous health is accomplished in six lines
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The thematic equivalence between frames becomes unmistakable when one considers the material spaces depicted in these frames. Both Der Mann ohne Eigenschaften and the second half of Die Portugiesin begin with a return home – to homes that are also types of castles. Von Ketten’s Burg is big and imposing, while Ulrich’s Schlößchen is smaller and charming. Besides Ulrich and von Ketten, no other protagonist in Musil’s oeuvre is associated or dissociated with his or her domicile to this degree. Next, both homes are connected to the night side of the opposition between night and day. In his sickness, von Ketten’s home is under the authority of the Portugiesin, a »mondnächtige Zauberin« (GW 6, S. 262). Of Ulrich’s return to Vienna, the narrator reports: »Er war vom Mond zurückgekehrt und hatte sich sofort wieder wie am Mond eingerichtet.« (MoE, S. 21) In his absence, von Ketten’s castle has become a lunar space organized by an authority other than his own: that of an inchoate functionally differentiated modernity (see below). Just as Ulrich »überließ an diesem Punkt seiner Überlegungen die Einrichtung seines Hauses einfach dem Genie seiner Lieferanten, in der sicheren Überzeugung, daß sie für Überlieferung, Vorurteile und Beschränktheit schon sorgen würden« (MoE, S. 21), von Ketten surrenders the ordering of his home, at least temporarily, to his wife. In short, the stage is set in both narratives for a man returning home in weakened circumstances to a grand space containing intransparent relations organized by an authority not his own. The term is taken from James Phelan’s theory of narrative in the service of portraiture and is used to interpret certain passages that give »special prominence to the mimetic component of the protagonist’s character« while at the same time »invit[ing] careful attention to the thematic component of character and its role in what we might call the particular shading of the portrait« (James Phelan: Experiencing Fiction. Judgement, Progressions, and the Rhetorical Theory of Narrative. Columbus 2007, S. 178 f.).
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in chapter 2 of Der Mann ohne Eigenschaften, in less than eight pages in Die Portugiesin. Both protagonists overcome their impoverished states via an equivalent symbolic act: A punch and a climb. In fact von Ketten does both. His turn away from his own diminished condition begins – rather than ends – with a punch: »Die Trunkenen lachten über den Herrn von Ketten. Der sah sie an, trat einen Schritt näher und schlug den Kaplan ins Gesicht« (GW 6, S. 264). In narrated time this is the only act of violence coming from von Ketten’s own hand, and since it is real violence it does not qualify as an athletic pursuit. The punch to the chaplain’s face merely initiates von Ketten’s transition from sickness to health, which the climb completes by restoring his strength and fury (GW 6, S. 269). Die Portugiesin depicts this transition only once, while Ulrich’s restoration occurs over the course of multiple episodes, is always partial, and always encounters setbacks: The fight with the three thugs that occurs in narrated time immediately after the punch (MoE, S. 25 f.); his misguided intervention on the behalf of a drunk worker that lands him in jail (MoE, S. 156–158); his half-jesting, half-earnest suggestion that »im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« should be established (MoE, S. 597) so that the worth of human pursuits could be assessed in an rigorous manner. Ulrich’s punch and von Ketten’s climb are bound by the fact that they draw no blood, cause no injury, can thus be interpreted as marks of formidability contingent upon a faith in the utility and perhaps the beauty of athletic achievement.
3. Climbing as War-Substitute Almost every analysis of Die Portugiesin attempts to determine the meaning of von Ketten’s climb. Some plausible interpretations include: The climb is another victory after the fronts have shifted in von Ketten’s enduring war;18 it is a symbolic act that leads to the »Gelingen einer eigenen Wirklichkeitsdeutung und Bedeutungssetzung«;19 and it is a self-produced miracle in a world where miracles no longer occur of their own accord.20 While each interpretation is plausible, the multivalent significance of the climb cannot be reduced to any single one. While climbing he inhabits a zone in which conscious intent plays almost no part. Meaning is added after the fact and without being able to recover the full experience. Von Ketten’s exertions take place in an animal-like fugue, demonstrating Musil’s fondness for likening human behavior to animal behavior, usually with an implied judg18 19 20
Gerhard Meisel: Liebe im Zeitalter der Wissenschaften vom Menschen. Das Prosawerk Robert Musils. Opladen 1991, S. 98. Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 8), S. 351. Eibl: Robert Musil (s. Anm. 3), S. 150.
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ment: We humans are closer to beasts than angels. Just such a judgment also appears near the end of Ulrich’s attempt to define sport’s value to Bonadea. The explanation follows his fight with the three thugs, which he lost: man [dürfe] solche Kampferlebnisse nicht nach dem Erfolg beurteilen. Ihr Reiz liegt auch wirklich darin, daß man in einem kleinsten Zeitraum, mit einer im bürgerlichen Leben sonst nirgendwo vorkommenden Schnelligkeit und von kaum wahrnehmbaren Zeichen geleitet, so viele, verschiedene, kraftvolle und dennoch aufs genaueste einander zugeordnete Bewegungen ausführen muß, daß es ganz unmöglich wird, sie mit dem Bewußtsein zu beaufsichtigen. Im Gegenteil, jeder Sportsmann weiß, daß man schon einige Tage vor dem Wettkampf das Training einstellen muß, und das geschieht aus keinem anderen Grund, als damit Muskeln und Nerven untereinander die letzte Verabredung treffen können, ohne daß Wille, Absicht und Bewußtsein dabei sein oder gar dareinreden dürfen. Im Augenblick der Tat sei es dann auch immer so, beschrieb Ulrich: die Muskeln und Nerven springen und fechten mit dem Ich; dieses aber, das Körperganze, die Seele, der Wille, diese ganze, zivilrechtlich gegen die Umwelt abgegrenzte Haupt- und Gesamtperson wird von ihnen nur so obenauf mitgenommen, wie Europa, die auf dem Stier sitzt, und wenn dem einmal nicht so sei, wenn unglücklicherweise auch nur der kleinste Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel falle, dann mißlinge regelmäßig das Unternehmen. (MoE, S. 28 f.)
Just prior to this explanation Ulrich realizes the error in the fight: He had thought a bit too long, permitting a ray of contemplation to spoil the agreement that his muscles and nerves had reached so quickly (MoE, S. 26). The stakes are quite different for Ulrich than for von Ketten’s climb. Should any second-guessing interrupt the latter’s coordination, the outcome is certain: »Unten ankommen konnte nur ein Toter« (GW 6, S. 269). Fortunately for von Ketten, the mind remains but a passenger on his warrior’s body, which is described, coincidentally, right after the punch to the chaplain’s face as »stark wie zwei Stiere« (GW 6, S. 264; italics T. C.). In fact, from its analogue Europe position, the mind does not even register the body’s activity (which is literally occurring in the dark) until von Ketten is a third of the way up the wall, and after this mention, the description focuses on the returning strength that results from a performance as well synchronized as the one Ulrich describes to Bonadea as the ideal case. Because of its felicitous outcome, the climbing sequence can be read as a narrative expression of Peter Sloterdijk’s suggestion: »Auch der Sport ist als ein expansives System von Sieg- und Prominenzchancen für die Stimulierung und Kanalisierung postmoderner Ambitionsüberschüsse unentbehrlich geworden.«21 One must not understand Sloterdijk’s contention as bound to a causal logic. The hero does not say to himself: The way to realizing my ambition is through this athletic feat. Rather the logic is one of perplexity 21
Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a. M. 2006, S. 67. Because this statement also describes Musil’s hope for a reflective athleticism in modernity, the qualifier »postmodern« can be disregarded here.
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(Verlegenheit): I don’t know what to do, so I might as well do something impressive and see what happens. The climb follows von Ketten’s former approach to war: »[Er] wußte nicht, was er tat, und tat immer das Rechte« (GW 6, S. 258). His success attests to the irrepressibility of the warrior’s will: »Sind die physischen Schlachten geschlagen, brechen die metaphorischen Kriege auf. [. . .] Menschen [können] nicht aufhören, nach den spezifischen Anerkennungen zu streben, die sich in Prestige, Wohlstand, sexuellen Vorteilen und intellektueller Überlegenheit manifestieren.«22 Because the climb occurs at night with no observers, the feat cannot be said to earn him direct recognition; rather through his climb, von Ketten has again become worthy of recognition in many of the areas Sloterdijk lists. Interpreting the climbing scene as a first and tentative turn away from war and toward athletic achievement, as a movement out of pre-modern into modern times, is an approach that aligns with Musil’s larger treatment of the theme of heroism. As the hero encounters increasing difficulty in winning the recognition of others, self-recognition remains in ample supply and is a type of recognition that the athlete can acquire alone via arete. Hans Ulrich Gumbrecht »bezeichnet Arete [als] das Streben nach Höchstleistung, einschließlich der Möglichkeit, dabei bis an an die individuellen oder kollektiven Grenzen zu gehen«.23 Arete as a mode of athletic conduct is superior to agon or Wettkampf , because it contains agon de facto: »Denn selbst wenn wir ganz allein nach Höchstleistung streben, können wir dies eigentlich immer nur im Wettkampf gegen abwesende Konkurrenten tun«.24 In von Ketten’s case it is not necessary to specify who the absent adversary is – it could be the Portugiese, his wife’s friend who has outworn his welcome, or it could be the shade of his former, more formidable warring self. Whomever he has in mind, the primary objective is – in an appropriately literal and metaphorical sense – the highest achievement. Having accomplished it, he forgoes the conflict with the Portugiese, which was forecast prior to the climb (GW 6, S. 268). Arete connects to three aspects of Musil’s larger exploration of the heroic potential in modernity. First, the climb blends athletic and aesthetic achievement in ways that are beautiful for both athlete and spectator (as reader). Second, climbing as sport allows von Ketten to channel his rage productively. Intertwined with this, the third aspect can be seen in the way the climb transforms von Ketten into that which Musil sought: A warrior without a war. 22 23 24
Sloterdijk: Zorn und Zeit (s. Anm. 21), S. 67. Gumbrecht: Lob des Sports (s. Anm. 14), S. 46. Gumbrecht: Lob des Sports (s. Anm. 14), S. 47. Cf. Sloterdijk: Zorn und Zeit (s. Anm. 21), S. 25: When speaking of »die Domestikation des Zorns«, Sloterdijk resembles Gumbrecht, who explains how agon aquires »seinen schlechten Ruf [. . .] bei so vielen Intellektuellen«, namely through its supposed function as »Domestizierung potentiell gewalttätiger Kämpfe« (Gumbrecht: Lob des Sports [s. Anm. 14], S. 47 u. 46). Toward fellow intellectuals, both Sloterdijk and Gumbrecht show a skeptical and borderline contemptuous dissatisfaction with the narrowmindedness of conventional approaches to their objects of inquiry, sport and rage.
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The suggestion that the climb is a work of beauty for von Ketten (as athlete) as well as the spectator (as reader) requires further specification. Gumbrecht argues that the beauty of sport is realized via »Versunkenheit in fokussierte Intensität«25 – by either observing or living it. Gumbrecht parses the three components of this experience, which are taken from the English »being lost in focused intensity«, as follows. Being lost in corresponds to the »Interesselosigkeit« necessary for any appreciation of beauty according to Kantian aesthetics.26 Focused as an adjective »deutet auf eine konzentrierte Offenheit für ein künftiges Geschehen«,27 or the paradoxical condition of being concentrated on not becoming too concentrated on a particular outcome – in a word, focused here describes the ability to play a game with Möglichkeitssinn, or, as it is known in chess, being able to play »off book«, on territory where no players have previously moved their pieces. Finally, the intensity of athletic experience – »wie ästhetisches Erlebnis überhaupt – [unterscheidet] sich nicht grundsätzlich vom Erleben anderer, weniger intensiver Situationen. Vielmehr bringt es uns physisch und emotional an die Grenzen unserer Möglichkeiten und führt gleichzeitig zu einer gesteigerten Selbstwahrnehmung«.28 Musil depicts von Ketten lost in focused intensity during the climb but also prior to the insect bite: »Im Gefecht vergaß er sich; da ging alles diesen Weg gewaltiger, Wunden schlagender Gebärden aus ihm heraus, er wurde tanztrunken, bluttrunken, wußte nicht, was er tat, und tat immer das Rechte.« (GW 6, S. 257 f.) The repetition of this state as »inset«29 shows von Ketten’s durable athleticism in two different frames. Athleticism is a necessary condition for a warrior’s formidability in war and remains a necessary condition for success after war, in the »Normalität des Ungeheueren«.30 A formidable person must be able to fall into this state of focused intensity, since – following Kleist – consciousness is often a hindrance, a cause of »Ziererei«31 that interrupts the effectiveness and beauty of a physical undertaking. 25 26 27 28 29 30
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Gumbrecht: Lob des Sports (s. Anm. 14), S. 33. Gumbrecht: Lob des Sports (s. Anm. 14), S. 34. Gumbrecht: Lob des Sports (s. Anm. 14), S. 34 f. Gumbrecht: Lob des Sports (s. Anm. 14), S. 34. Sternberg: Proteus in Quotation Land (s. Anm. 15), S. 108. Peter Sloterdijk: Der Anwalt des Teufels, in: Soziale Systeme 6/1 (2000), S. 3–38, hier S. 25. Sloterdijk is discussing Niklas Luhmann’s concept of modern normality, which »durch Komplexität und durch Verfangenheit aller Systeme in immanent unausweichlichen Paradoxien charakterisiert ist« (S. 24 f.). Almost certainly by coincidence, though for this analysis a happy one, »ungeheuer« is the word Ulrich uses twice in his consideration of the human being’s role in modernity (MoE, S. 12 f.). In much the same way that Musil describes the advantages of an athlete who can allow the organism to take the reigns from consciousness, Kleist – showing a nineteenth-century enthusiasm for automatons – describes the advantages that a fully mechanized doll (Puppe) would have over humans: »Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, daß sie sich niemals zierte. – Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis mo-
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Such moments are fleeting, unrecoverable, and resistant to systematization for both athlete/performer and fan/spectator. Regarding the pedigree of images in Die Portugiesin, Bendels observes, »dass Musil sich mit dieser Novelle, der von den ›Drei Frauen‹ zuletzt entstandenen, der Vorstellung annähert, die er 1925 in ›Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films‹ formuliert, nach der eine nicht-formelhafte Sprache nur mehr als Ausnahmefall in Ablösung vom ›praktischen und faktistischen Normalzustand des Menschen‹ (GW 8, S. 1146 f.) vorgestellt werden kann«.32 A film scene or sports highlights can be viewed again, but the performance cannot be extracted from its narrative and put toward other purposes without marring the original experience: »so befreit die Kunst zwar aus der Formelhaftigkeit der Sinne und Begriffe, aber dieser Zustand läßt sich nicht zur Totalität ›strecken‹.« (GW 8, S. 1147) To understand descriptions of the ephemeral nature of aesthetic and/or athletic experience as comprising a lament is to misunderstand Musil. The shift from thinking of a totality of experience to moments of experience is a shift necessary for an adequate understanding of what the modern person can make of antiquity’s legacy. This is the problem Ulrich is wrestling with in the second chapter of Der Mann ohne Eigenschaften, and which serves as catalyst for his narrative. In spite of different views on the role of consciousness in the aesthetic experience of sport, Musil’s and Gumbrecht’s extension of the state of Versunkenheit to the creator of beauty, the athlete, represents a categorical shift away from Kantian aesthetics, which limits the experience of beauty to the uninterested spectator,33 and a shift toward an almost Romantic aesthetics that seeks fragments of pleasure without the necessity to separate formally production from reception. The fleeting bond between performer and viewer created by witnessing a feat of athleticism is one place where Musil seeks the potentially positive value of sport – a value often occluded by the fact, »daß die Dichter nicht Sport treiben und die Zeitungsberichterstatter über ihn schreiben« (GW 7, S. 798). A further non-Kantian implication of Musil’s model is that experienced spectators are better at understanding. When one has done what one witnesses being done – or something simi-
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trix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung« (Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Helmut Sembdner. Bd. 2. München 2001, S. 338–345, hier S. 341). Cf. the narrator’s own confirmation of Kleist’s hypothesis using the example of Ulrich’s fight with three men: »Immerhin schien er doch angesichts dreier Strolche etwas zu viel gedacht zu haben. [. . .] Da nun der Fehler festgestellt war, den er begangen hatte, und nur auf sportlichem Gebiet lag, eben so, wie es vorkommt, daß man einmal zu kurz springt, schlief Ulrich, der noch immer vorzügliche Nerven besaß, ruhig ein« (MoE, S. 26 f.). Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein (s. Anm. 8), S. 351. Gumbrecht: Lob des Sports (s. Anm. 14), S. 33. Cf. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. [1790]. Mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme. Mit Sachanmerkungen v. Piero Giordanetti. Hamburg 2001, S. 49 f.
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lar – one usually is in a superior position to appreciate and describe a feat or event. One can infer Musil’s interest in developing a better understanding of sport from his low regard for reporters and the report (Bericht) as a narrative form, and from the distance he posits between himself and non-athletic »Dichter«:34 [W]enn ich meine Eindrücke zusammenfasse, der ich fast jeden Sport ausgeübt habe und heute alle Sportberichte lese, deren ich habhaft werden kann, so muß ich sagen: Wenn ich die Sache nicht aus eigener Erfahrung kennen würde, würde ich sie nach den Berichten verstehen; so aber nicht. So kann man über Theater schreiben, aber bei einer so ernsten und reellen Sache, wie es der Sport ist, ist es schade. (GW 7, S. 799)
The actual value of sport remains unspecified, as do the actual shortcomings of the sport reports. For Musil it suffices to suggest that its value is immense and yet unrealized since, in his opinion, it is unlikely, »daß viele unter [den Sportberichterstattern] wirklich Sportleute sind.« (GW 7, S. 798) Just as former and amateur athletes make better sports reporters – not always, but as a rule – so too in Die Portugiesin, do the other warriors appreciate the true worth of von Ketten’s »high performance« in war: Er wußte dreinzufahren wie ein Ochsenknecht, wo sich die Mannszucht lockerte; aber er schrie nicht, sein Wort war leis und kurz, die Soldaten fürchteten ihn, nie schien der Zorn ihn selbst zu ergreifen, aber er strahlte von ihm aus, und sein Gesicht wurde dunkel. Im Gefecht vergaß er sich; da ging alles diesen Weg gewaltiger, Wunden schlagender Gebärden aus ihm heraus, er wurde tanztrunken, bluttrunken, wußte nicht, was er tat, und tat immer das Rechte. Die Soldaten vergötterten ihn deshalb; es begann sich die Legende zu bilden, daß er sich aus Haß gegen den Bischof dem Teufel verschrieben habe und ihn heimlich besuche, der in Gestalt einer schönen fremden Frau auf seiner Burg weilte. / Der Herr von Ketten, als er das zum erstenmal hörte, wurde nicht unwillig, noch lachte er, aber er wurde ganz dunkelgolden vor Freude. (GW 6, S. 257 f.)
The soldiers share the experience of war, but not necessarily the virtuosic talent that von Ketten shows for it. Nonetheless, shared experience prompts them to create legends deifying him. Their tales please him even though they align him with the Devil. Or perhaps it is the narrative embellishment about von Ketten’s pact with the Devil, untrue or at least unverified, that follows a poetics more truthful in its depictions of von Ketten’s splendid and terrible formidability. Because there are no interdiegetic witnesses to von Ketten’s climb, the reader is accountable for inferring from the system of values (elaborated in
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Musil was a more cautious and thorough analyst than his contemporaries regarding sport’s social significance, even those involved in and appreciative of athletic pursuits. Cf. Uwe Baur: Sport und subjektive Bewegungserfahrung bei Musil, in: ders., Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i. Ts. 1980, S. 99–112, hier S. 103: »Mit der neuen Sachlich-
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the novella’s first half) that the athleticism demonstrated through the climb – also transpiring under the sign of the Devil (GW 6, S. 269) – makes von Ketten again worthy of Vergötterung. Such an inference might begin by addressing the following question: What motivates the climb? One simple, plausible answer is: Rage. In Die Portugiesin, the value of rage is by no means negative – neither in the sense of »producing nothing«, nor in the sense of »undesirable«. Rather, rage is presented as a positive quantity in accordance with a classical or neo-classical system of values: »Das Lied von der heroischen Energie eines Kriegers [. . .] erhebt den Zorn in den Rang der Substanz, aus der die Welt gefertigt ist«.35 The song, of course, is The Iliad, and its scope is much greater, pertaining to a world much larger than von Ketten’s. But a shift from thinking in totalities to thinking in fragments, as previously suggested, would expose how rage as heroic energy allows von Ketten to attain victory at key moments in his life’s narrative. In the first half, it helps him win a war of attrition against the Bishop. In the second half, the full range of his rage remains open. At the very least, it aids the recovery of his self-assuredness and bodily strength, which in turn facilitates the rapprochement with his wife that occurs in the novella’s final two paragraphs. In the second half, a number of factors incite his rage: Sickness has reduced his formidability to feebleness; his fortress is full of freeloaders; his wife seems to be involved in a flirt with another man, etc. Still more telling than any inferences one might draw from these factors are the clues left in the first half of the narrative that prime an understanding of the climb as ragedriven. Particularly conspicuous is the description of the von Kettens: »[S]ie wurden dunkel im Zorn und in der Freude strahlten sie wie Gold« (GW 6, S. 253). And in the heat of battle: »[N]ie schien der Zorn ihn selbst zu ergreifen, aber er strahlte von ihm aus, und sein Gesicht wurde dunkel.« (GW 6, S. 257) Further evidence of rage’s power and beauty emerges from descriptions occurring proximate to and thus as extensions of descriptions of his and his family’s physical splendor: »so schön und so selten«, »in ihren mittelgroßen, schlanken Körpern die ungeheure Kraft«, »schöne Söhne« (GW 6, S. 253), »[e]r blieb mitten drin schlank und fein« (GW 6, S. 257) etc. Rage is also connected with what would conventionally be considered to be his more positive side marked by joy and a golden hue36 – both by virtue
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keit – mit Bertolt Brecht, Ödön von Horváth, George Grosz u. a. – teilt er seine, allerdings kritisch abwägende Liebe zum Boxsport«. Sloterdijk: Zorn und Zeit (s. Anm. 21), S. 15. The merger of rage and joy problematizes many analyses that posit too clean a split between von Ketten and the Portugiesin and their ostensible domains – day (joy) and night (rage), light and dark, the rational and the magical, respectively. Such a split does not mark adequately how both figures possess features associated with both domains. Cf. Ronald M. Paulson: A Re-examination and Re-interpretation of some of the symbols in Robert Musil’s Die Portugiesin, in: Modern Austrian Literature 13/2 (1980), S. 111–121, hier S. 114 f.; Brigitte Röttger: Erzählexperimente: Studien zu Robert Musils Drei Frauen und Vereinigungen. Bonn 1973
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of the verb via which it appears in battle, »strahlen« and by the fact that rage melds with joy at key moments. That von Ketten »wurde ganz dunkelgolden vor Freude« when he hears the legends of his rage-driven victories demonstrates joy (golden) blending with rage (dunkel) and shows not only his tacit approval of the legends, but also allows little doubt that rage is a positive emotion in the context of this narrative. This fusion of joy and rage reveals a distinctly classical feature of Musil’s poetics: the positive valuation of an Angriffslust that can function in modernity but is not linked by necessity with modern warfare. Indeed, Peter Sloterdijk exempts Musil (and implicitly, himself) from the opposition the former posits between classical and modern sensibilities: »Kein moderner Mensch kann sich in die Zeit zurückversetzen, in der die Begriffe Krieg und Glück eine sinnvolle Konstellation bilden; für die ersten Hörer Homers sind sie ein unzertrennliches Paar.«37 Musil’s merit, in Sloterdijk’s view, is his depiction of moments in modernity in which the rage of Krieg or Kampf becomes analogous to the happy execution of some athletic feat.38 It is no coincidence that these moments occur in the novella under the purported influence of the Devil. From early modernity and Milton’s Paradise Lost to Niklas Luhmann, the Devil has appeared as a sympathetic and compelling figure who challenges prevailing value systems.39 In Die Portugiesin the narrator’s conflation of von Ketten and the Devil also constitutes a form of compliment. Following the Devil and following the darkness allows one to observe how von Ketten’s character undergoes little distortion in going from
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(= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 128), S. 23 ff.; Joachim von der Thüsen: Die Portugiesin. Zur Frage der literarischen Tradition bei Musil, in: Neophilologus 81/3 (1997), S. 433–444, hier S. 436. Sloterdijk: Zorn und Zeit (s. Anm. 21), S. 12. Cf. Sloterdijk: Zorn und Zeit (s. Anm. 21), S. 21: »Wo der Zorn aufflammt, ist der vollständige Krieger gegeben. Durch den Aufbruch des entflammten Helden in den Kampf verwirklicht sich eine Identität des Menschen mit seinen treibenden Kräften, von der die häuslichen Menschen in ihren besten Momenten träumen. Auch sie, so sehr sie ans Vertagen und Wartenmüssen gewohnt sind, haben die Erinnerung an die Momente des Lebens nicht ganz vergessen, in denen der Elan des Handelns aus den Umständen selbst zu fließen scheint. Wir können dieses Einswerden mit dem puren Antrieb, eine Wendung Robert Musils aufnehmend, die Utopie des motivierten Lebens nennen«. Luhmann gives his own narrative that portrays the Devil’s rift with God as the acquisition of a form of Freedom: »Statt die Einheit in der Differenz zu suchen, montiert man die positiven Seiten der Unterscheidungen zur Einheit: ens et verum et bonum convertuntur. Wer diese unüberbietbare Einheit noch beobachten, das heißt unterscheiden will, wird zum Teufel. Denn die Beobachtung der tranzendentalen Einheit erfordert eine Grenze, die den ausgrenzt, der das unternimmt. Die eigentümliche Dignität dieses Beobachters bleibt bemerkenswert. Er ist immer vom höchsten Adel und immer gebunden an die Vorgabe dessen, was er beobachten will. Er ist der, der am intensivsten liebt« (Niklas Luhmann: Die Weisung Gottes als Form der Freiheit, in: ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Wiesbaden 2005, S. 75–91, hier S. 81). For recurrent invocations of the Devil as the observer adequate to modernity’s complexity, cf. also Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 118 f., 194, 269, 492, 593.
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the scene of battle to the scene of individual challenge. The climb occurs at night. Darkness envelops von Ketten – unlike making war, this undertaking is not taghell. In terms of the senses, vision is not the lead sense. In the moonlight, vision detects the finger- and toeholds in the wall, but even these are described as »Schattenpunkte« (GW 6, S. 269). Touch and hearing are more essential for this struggle in the dark. For example, von Ketten judges his height by the sound of a falling stone (GW 6, S. 269). The darkness around von Ketten has its counterpart inside him: »[E]r gewann dunkles Gefühl für sich wie ein Gottesurteil oder ein nahendes Wunder.« (GW 6, S. 268) The notions of Gottesurteil, or trial by ordeal, and the miraculous are not unambiguous in view of the semantic field on which von Ketten’s character emerges. Darkness is connected with rage, rage with success, and success with the Devil’s blessing. These diabolical connections call into the question the provenance of the judgment passed on von Ketten. In fact, his martial victories stem from a pact with the Devil, and his success in scaling the rock wall owes to the fact that he becomes the Devil’s doppelgänger for the duration of this daredevil feat: »und die Wand hinauf [nur] der Teufel« (GW 6, S. 269). Punching the chaplain in the face shows von Ketten’s contempt for God’s earthly representatives. And elsewhere the Devil’s sponsorship is implied by statements bookending the narrative. In the beginning the sounding bells of God’s house cannot be heard in von Ketten’s castle (GW 6, S. 253), and the blasphemies uttered in von Ketten’s home cannot reach God’s ear at the narrative’s end (GW 6, S. 270). In view of Musil’s larger project, the Devil’s sympathy for von Ketten is mirrored in Ulrich’s sympathy for the Devil: »Das Gute ist beinahe schon seiner Natur nach Gemeinplatz, das Böse bleibt Kritik! Das Unmoralische gewinnt sein himmlisches Recht als eine drastische Kritik des Moralischen! Es zeigt uns, daß das Leben auch anders geht.« (MoE, S. 959) Ulrich’s sentiment resonates with the value system that von Ketten and the narrator of Die Portugiesin embrace.40 Von Ketten’s quest begins, after all, by breaking with conventional notions of the good, as represented by the Bishop of Trient. The successful climb – this dark knight’s rising – would indeed seem to reflect more a Teufelsurteil than Gottesurteil. While von Ketten’s arete or Höchstleistung occurs only once in narrated time, there is no indication that a similarly impressive performance might not reoccur under different circumstances. If one concedes the possibility of repeatability, one can observe athleticism’s actual and metaphorical utility in Musil’s designs for a form of heroism that combines classical aspects with modern ones. This modified form equips the warrior without war with the means to make his mark. 40
At another time, it would be worth examining in more detail how von Ketten and the narrator’s similar outlooks seem to replicate the harmonious relationship between Ulrich and MoE’s narrator.
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In Die Portugiesin the end of war prompts von Ketten’s entrance into a space where the old rules are beginning to give way to new ones that are, however, not yet fixed and not entirely clear. In his absence the castle has become a microcosm of inchoate modernity. In addition to the fact that the Portugiesin, a woman, has effective, if not official power in administering dayto-day life, several social systems that belong to Niklas Luhmann’s concept of a functionally differentiated society41 can be found within the castle walls, and their representatives make their influence felt throughout the narrative. Religion is present in the person of the chaplain (GW 6, S. 258, 264). Education appears in the figures of »reisende[n] Doktoren und Schüler[n]« (GW 6, S. 258). Economy leaves its trace in the hiring of a cook and in certain commodities, »kostbare Teppiche und Stoffe« (GW 6, S. 258), and the humanist enters as a representative of the early modern sciences (GW 6, S. 264). These forms of functional differentiation have begun to superimpose themselves upon the stratified order42 to which von Ketten is accustomed. It is appropriate then, that he first enters these new conditions – denen er nicht gewachsen ist – as an infant: »er ließ sich vom Kopf bis zu den Füßen einwickeln und nach Hause schaffen« (GW 6, S. 261). Once arrived, the question now becomes: How can he rise to the occasion when he does not even know what the occasion is? Treating the »Lümmel« (GW 6, S. 264) in his castle as counterparts to the suitors in Odysseus’ house would miss the point entirely.43 Neither at the end, nor in any other book in the Odyssey does Odysseus’ conduct conform to Gumbrecht’s three-part definition of sport, particularly the part concerning sport’s distance from real41
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The main features of this form of society are that it is flat or non-hierarchical, and that, correspondingly, each system »seine Funktion für sich selbst monoplisiert und mit einer Umwelt rechnet, die in dieser Hinsicht unzuständig oder inkompetent ist«; this applies to the social systems politics, economics, religion, art, education, family, etc., in Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S. 746. The result is that each system develops its own symbolic communication medium and manages it via a code that no other system can use and manage. For example, the economy’s medium is Eigentum and its code, correspondingly is Eigentum/Nichteigentum; property may be an artwork, but neither its status as art nor as anything else (i. e., as a political statement) determines its status as property in Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 187 f. Aesthetic discussions of its beauty or political discussions of its content can only indirectly influence its value and thus its desirability as property. Norbert Christian Wolf’s argument that these two forms of social organization occupy the same physical space in Der Mann ohne Eigenschaften constitutes yet another parallel between the novel and novella, with different emphases of course. Cf. Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 38, 465 f., 477. This comment does not refer to any one study that attempts to do this but to a general trend recognized by Theodore Ziolkowski: German literature and thought has an obsession with the Odyssey as the classical story that can best accommodate an understanding of modernity. Cf. Theodore Ziolowski: The Odyssey Theme in Recent German Fiction, in: Comparative Literature 14/3 (1962), S. 225–241.
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Todd Cesaratto
world stakes. Furthermore, von Ketten’s goal is not to set his house in order. If the end of Die Portugiesin hints at an orderly household, this is merely an ancillary benefit. The effect, if not the goal, of the climb is the restoration of the powers von Ketten possessed while at war: Er tastete suchend über sich. Bei jedem Griff hing das Leben in den zehn Riemchen der Fingersehnen; Schweiß trat aus der Stirn, Hitze flog im Körper, die Nerven wurden wie steinerne Fäden: aber, seltsam zu fühlen, begannen bei diesem Kampf mit dem Tod Kraft und Gesundheit in die Glieder zu fließen, als kehrten sie von außen wieder in den Körper zurück. [. . .] Mit der Kraft war die Wildheit wiedergekehrt. Er atmete sich aus. Seinen Dolch an der Seite hatte er nicht verloren. (GW 6, S. 269)
In addition to a restoration of his prior formidability, he acquires a new flexibility. No longer does he need war or conflict to serve as an outlet for the strength and wildness that are returned. Correspondingly, the conflict with the Portugiese that he had been anticipating does not occur. Instead of Die Moral des nächsten Schritts, von Ketten follows Die Moral des nächsten Griffs via climbing. As in war, he does not know what his next move will be until his adversary has made his next move. The adversary is no longer a man, the Bishop, but a thing, the rock wall. Challenging the wall has another dimension in which the shift from stratified society to functionally differentiated society is echoed. His foe is no longer an inherited foe but one of his choosing – a choice he had deferred while fighting his fathers’ war. Thus the climb is also a quest of his choosing. In fact, a free translation of »Er tastete suchend über sich« could be »he quests by touch the way above« – grip by grip.
4. Conclusion If one admits as plausible that the scene of von Ketten’s climb is an enactment of the description of athletic experience that Ulrich gives Bonadea (quoted above), one is still left with the matter of how it furthers the development of von Ketten’s character. The fact that, upon the completion of the climb, his dagger remains sheathed provides a nice handhold for addressing the issue. His battles with the Bishop took place in the light of day: »Befehlen ist klar; taghell, dingfest ist dieses Leben, der Stoß eines Speers unter den verschobenen Eisenkragen ist so einfach, wie wenn man mit dem Finger weist und sagen kann, das ist dies.« (GW 6, S. 259) But the clarity of this former life does not offer the same surety in the dark. In the evening, after the sun has presumably set and just prior to his endeavor, he realizes: »Pferde satteln, Harnisch anschnallen, ein Schwert ziehn, diese Musik seines Lebens war ihm mißtönend« (GW 6, S. 268).
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He is no longer in harmony with the ways of war. He is aware of this before the climb, and after the climb the state of affairs seems all the more clear. Yet Musil, in his typically masterful way, does not permit simple judgment of von Ketten’s character. He goads the reader with something irresolvable: Von Ketten does not draw his dagger after the climb. But would he have, had the Portugiese still been in his room? Or would he have given proof of a recalibrated code of conduct, since by being in his room, the Portugiese would at least have proven that he was not involved in an illicit liaison with von Ketten’s wife, at least not at the moment? We cannot answer this because the facts of the situation do not let us. Maybe von Ketten cannot resolve the uncertainty either. After the climb he sinks into a lengthy contemplation: »Der Herr von Ketten setzte sich auf einen Stapel halbentrindeter Hölzer, und die Wache wunderte sich, wie lang er saß« (GW 6, S. 269). After the fact, he would seem to be »lost in focused intensity«. Rightly so, for a number of fateful details have converged in the compressed time frame of a single evening. His recovered health would seem to verify that he has accomplished something, which, according to the soothsayer, is a necessary condition for a return to health (GW 6, S. 265). But what exactly has he accomplished? The interpretative problem, already mentioned – »Das Zeichen war dagewesen, aber wie war es zu deuten [. . .]?« (GW 6, S. 268) – is not resolved in the closing two paragraphs depicting the interaction between von Ketten and the Portugiesin: »Es war nichts bewiesen und nichts weggeschafft« (GW 6, S. 269). Yet, there is a fairly reliable indication that the outcome is nonetheless a good one. He is unbothered by her ostensible blasphemy, and they both recognize their relatively protected place: »kein Laut davon drang aus diesen Mauern hinaus« (GW 6, S. 270). These details would appear to justify the claim that through his climb, von Ketten uses a Moral des nächsten Griffs to make a mark whose meaning can only begin to be disclosed after the fact.
Mareike Schildmann
Ausnahmedichtung Tonka und das unsichere Wissen vom Exzeptionellen Abstract: In his theoretical and essayistic writings Robert Musil defined the »exception« as a programmatic concept in his poetics. With the example of Musil’s novella Tonka the exception will be conceived as a genuinely modern figure, which alongside its poetological implications, can be connected to various discourses of knowledge. The exception in Tonka appears in the guise of an impossible pregnancy and addresses an epistemological problem facing the sciences and humanities at the beginning of the 20th century: The challenge to the causal-mechanistic world order from the discovery of the accidental, unpredictable event and the aporias caused by the probabilistic and statistic paradigm that followed. By anticipating these modern discourses, it can be shown that Tonka represents a concept of modern poetry, which deals with the fragile borders of fate and accident, norm and deviation, exemplary and unprecedented.
1. Einleitung In seinem programmatischen Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) bestimmt Robert Musil die Ausnahme zum Kennzeichen jenes nicht-ratioïden Gebietes, das er als das genuine Schaffens- und Erkenntnisfeld der Literatur betrachtet (vgl. GW II, S. 1028 f.). Als »Giltigkeitsgrenze[ ] der Gesetze« und Moment des »Einmalige[n]« (GW II, S. 990), als Bruch mit konventionellen Ordnungsstrukturen bildet das Phänomen der Ausnahme den poetischen und poetologischen Fluchtpunkt seines Werkes.1 Auch Musils Novellenzyklus Drei Frauen, der 1924 erschien und von der Forschung lange vernachlässigt wurde, kreist um das Motiv der Ausnahme als dem singulären, außergewöhnlichen Einzelfall: Die Novelle wird hier zum Verhandlungsort seltsamer Zufälle und Anomalien, die die moralische, epistemologische und 1
Vgl. Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre. München 1994, S. 238. Während das Motiv der Ausnahme in Musils Erstlingswerk Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) im Kontext einer epistemologischen Fragestellung nach der anderen, nicht-begrifflichen Seite von Wirklichkeit thematisiert wird, entwickelt Musil in seinem unvollendeten Lebenswerk Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932/postum) ein literarisches Versuchslabor, in dem die Frage nach den Voraussetzungen eines möglichen Lebens außerhalb des Regelhaften experimentell durchgespielt wird.
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perzeptive Ordnung durchbrechen und existentielle Wendepunkte in den Biographien der Protagonisten markieren.2 Die Konfrontation mit dem ›Primitiven‹, das als Suspendierung der Regeln und Ordnung der Zivilisation erlebt wird (Grigia), das plötzliche Ende eines über Generationen andauernden Kampfes (Die Portugiesin) und eine rätselhafte Schwangerschaft der Geliebten (Tonka) werden in den Novellen als Ereignisse von irritierender Diskontinuität verhandelt. Die Ausnahme erscheint in ihren verschiedenen narrativen Figurationen als Störfall, als die willkürliche, aber auch befreiende Abweichung von der regelhaften Ordnung und verweist auf den ›blinden Fleck‹ im Streben nach einer logisch-rationalen Verfügbarmachung von Wirklichkeit. Die Bedeutung der Ausnahme für Robert Musils Œuvre bzw. für seine Novellen ist in der Forschungsliteratur bislang nur wenig beachtet worden. Wo sie Erwähnung findet, geschieht dies in einem beiläufigen oder rein werkimmanenten Sinne,3 in Bezug auf die dichtungstheoretischen Bestimmungen Musils, im Zusammenhang mit dem Begriff des ›Nicht-Ratioïden‹ und mit der insbesondere für Musils spätere Schriften konstituierenden Idee eines ›anderen Zustands‹.4 Im Unterschied zum Begriff des ›anderen Zustands‹, der seit 1925 von Musil selbst verstärkt als Schlüsselkonzept seines Werkes bemüht wurde,5 fehlt seinen Ausführungen zur Ausnahme jedoch eine klare theoretische Konsistenz: Die literarische und essayistische Auseinandersetzung mit Phänomenen der Ausnahme eröffnet vielmehr ein semantisches Feld, in dem Diskontinuitäten, Anomalien und Irritationen in Regelstrukturen der verschiedensten 2 3
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Vgl. Wolfgang Rath: Die Novelle. Göttingen 2002, S. 295. Dies kritisiert auch Elmar Locher, der die Ausnahme im Zusammenhang mit dem Ereignisund Singularitätsbegriff bei Musil erläutert und dabei als einer der wenigen auf Parallelen zu einer Rhetorik und Konzeption der Ausnahme bei Carl Schmitt und Walter Benjamin verweist. Vgl. Elmar Locher: Die Stimme der Amsel in den Stimmen der Amsel Robert Musils, in: Walter Busch, Ingo Breuer (Hg.): Robert Musils Die Amsel. Kritische Lektüren. Materialien aus dem Nachlaß. Wien, Innsbruck, Bozen 2000 (= Essay & Poesie, Bd. 11), S. 131–158, hier S. 156. Vgl. Hans-Georg Pott: Anderer Zustand/Ausnahmezustand, in: ders., Hans Feger, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 141–167. In seinem Aufsatz setzt Pott den Ausnahmebegriff von Carl Schmitt in Bezug zu Musils Konzept eines ›anderen Zustands‹, den er entgegen der verbreiteten Forschungsliteratur nicht als ein ästhetisches Programm, sondern als das »maskierte Politische« (S. 141) interpretiert und in die Nähe zu charismatischen und totalitären Gemeinschaftskonzepten der 1920er Jahre setzt. Robert Musil verweist zum ersten Mal in seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Film (1925) auf einen »›andern‹ Zustand[ ]«, den er zum Gegenstand der Kunst, Ethik und Mystik bestimmt und der insofern supplementär zu dem Konzept des ›Nicht-Ratioïden‹ gedacht werden kann (GW II, S. 1137–1154, hier S. 1154). Zentral wird der Begriff im Spätwerk Musils, insbesondere in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Das utopische Projekt des ›anderen Zustands‹ bildet einen Fluchtpunkt von Ulrichs Bestrebungen und wird als Gefühlsdisposition der Eigenschaftslosigkeit und Selbstidentität von Ich und Welt entworfen. Vgl. hierzu etwa Marie-Louise Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. München 1972, S. 90–112.
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Bereiche in den Blick genommen und in den zeitspezifischen Wissenskontext der Moderne gesetzt werden. In Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie wird die Ausnahme definiert als ein »Fall, [. . .] der wegen [. . .] besonderer Umstände nicht [. . .] von der Regel gedeckt ist«, als die »konkrete Nichtanwendbarkeit einer an sich einschlägigen Regel«.6 Der Begriff der Ausnahme erlebte in den 1920er Jahren eine Konjunktur7 und erhielt insbesondere in der dezisionistischen Rechtslehre Carl Schmitts eine theoretische Begründung.8 Auch jenseits seines juridischen Gebrauchs kann er jedoch als paradigmatisch für die Beschreibung einer Gesellschaft gelten, die angesichts der Erfahrung von Krieg, Revolution, aber auch sozialer und technisch-wissenschaftlicher Umwälzungen in ihren moralischen, ontologischen und epistemologischen Fundamenten erschüttert wurde.9 Die Erkenntnis der Grenzen der tradierten kategorialen Ordnung trifft in diesem historischen Rahmen auf einen Diskurs, der Anfang des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Wissensfeldern ausgebildet wird: In der politischen Theorie ebenso wie in den Naturwissenschaften (insbesondere der Physik und Mathematik), der Anthropologie, Moralphilosophie und Wahrnehmungstheorie wird jener »Sinn für Durchbrechungen«,10 für singuläre Abweichungen und ›Ausnahmefälle‹ entwickelt, der auch Robert Musils poetologischen Bestimmungen von 1918 eingeschrieben ist.11 Am Beispiel der Tonka-Novelle soll gezeigt werden, wie das Konzept der Ausnahme für die Lektüre der literarischen Texte Musils produktiv gemacht 6 7 8
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Hasso Hoffmann: Ausnahme, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A–C. Basel 1971, Sp. 668. Vgl. Michael Makropoulos: Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne. München 1989, S. 34. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1922. Schmitt bemüht sich insbesondere im 1. Kapitel um eine allgemein-epistemologische Behandlung des Ausnahmebegriffs und verweist auf die »[a]llgemeine Bedeutung des verschiedenartigen wissenschaftlichen Interesses an Regel (Norm) oder Ausnahme« (S. 6). Sowohl Walter Benjamin als auch Giorgio Agamben knüpfen an den Ausnahmebegriff bei Carl Schmitt an. Da sie sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Ausnahme auf die politisch-juridische Dimension des Begriffs konzentrieren, werden sie in diesem Aufsatz nicht bzw. nur am Rande berücksichtigt. Vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer II . Frankfurt a. M. 2004; Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1990, S. 697. Vgl. Makropoulos: Modernität (s. Anm. 7), S. 34–36. Carl Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939. Hamburg 1940, S. 47. Gaston Bachelard: Epistemologie. Berlin, Hamburg 1974, S. 20, beschreibt die »tiefgreifende epistemologische Diskontinuität«, die Anfang des 20. Jahrhunderts Naturwissenschaft und Mathematik erfuhren, in seiner Epistemologie: »Die Wissenschaften der Physik und der Chemie können in ihrer zeitgenössischen Entwicklung epistemologisch als Bereiche des Denkens charakterisiert werden, die geradewegs mit der gewöhnlichen Erkenntnis brechen«. Makropoulos: Modernität (s. Anm. 7), S. 31–35, bestimmt die Moderne im Anschluss an Benjamin als einen »kulturellen«, »ontologischen« und »metaphysischen« Ausnahmezustand, da die konventionellen Ordnungen als kontingent erkannt werden.
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werden kann, insofern es die poetologischen, narrativen und diskursiven Ebenen seines Schreibens pointiert miteinander in Verbindung setzt. Die hier vorgestellte Lektüre ist dabei von gewissen methodischen Vorentscheidungen bestimmt. Zum einen versucht der Artikel jener rekursiven Schleife zu entgehen, die droht, sobald eine Interpretation allein den Vorgaben einer Autorpoetik folgt. In diesem Sinne und auch als Ergänzung zu einer bereits umfangreichen bestehenden Forschungsliteratur steht eine dezidiert wissenspoetische Befragung der von Musil angeregten Denkfigur der Ausnahme und seines Textes im Vordergrund. Die Lektüre von Tonka konzentriert sich dabei – zum anderen – auf eine epistemologische Lesart des Ausnahmebegriffs, die einen spezifischen (natur-)wissenschaftlichen Diskurs der Zeit mit aufruft. Obwohl die Frage nach dem Verhältnis von Regel und Ausnahme durchaus auch für andere Schauplätze des Musil’schen Werkes relevant ist (in Bezug auf Tonka wäre etwa an Probleme der Moral und der Wahrnehmungsästhetik sowie des erzähllogischen Einsatzes einer »Ausnahmedichtung« zu denken), können diese Aspekte im Folgenden nur am Rande einbezogen werden. Zunächst soll die Stellung der Ausnahme in Musils dichtungstheoretischen Überlegungen eingehender betrachtet werden und in Bezug zu einem gattungspoetischen Wissen gesetzt werden. In einem zweiten Schritt wird die Frage nach dem Verhältnis von Norm und Abweichung, von Kontinuität und Ereignis, von Schicksal und Zufall, die Musils Novelle Tonka antreibt, in Zusammenhang mit jener epistemologischen Krise gestellt, die sowohl die Wissenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts als auch die theoretischen Studien Robert Musils jener Zeit prägt. Die Ausnahme wird in der Erzählung als ein Aussetzen der Regeln der Kausalität verhandelt, das eines der wirkmächtigsten Ordnungs- und Rationalitätsprinzipien seit der Frühen Neuzeit darstellt. Der durch den Protagonisten unternommene Versuch, den Störfall von Tonkas rätselhafter Schwangerschaft und Erkrankung durch Rekurse auf probabilistische Konzepte zu normalisieren, korrespondiert, wie zu zeigen sein wird, mit einer historischen Konjunktur des Wahrscheinlichkeitsdiskurses. Dabei treten jedoch Ambivalenzen auf, die zuletzt wiederum mit poetologischen Überlegungen Musils aus dem Nachlass enggeführt werden. Sie verdeutlichen, dass gerade für die Moderne die Frage nach dem Verhältnis von Ausnahme und Regel auf eine virulente Art und Weise neu verhandelt werden muss, und lassen Tonka als poetisches Experimentierfeld dieses Prozesses erscheinen.
2. Die Ausnahme als poetologisches Programm Die Ausnahme wird von Robert Musil explizit in seinem grundlegenden und vielzitierten Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (GW II, S. 1025–1030) von 1918 zum zentralen Gegenstand von Dichtung bestimmt und theoretisch
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fundiert. In diesem kurzen Text differenziert Musil zwei komplementäre Denkhaltungen und Bereiche menschlicher Erkenntnis, die er als das Ratioïde versus Nicht-Ratioïde konturiert.12 Das ratioïde Gebiet umfasst dabei, so Musil, »alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln zusammenfaßbare«, und ist gekennzeichnet durch »eine gewisse Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung«. Die Ereignisse fügen sich in vorgegebene Gesetze, Regeln und Begriffe ein, lassen sich eindeutig beschreiben und vermitteln (GW II, S. 1026 f.). Das Ratioïde ist nach Musil »beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht in Betracht kommenden Abweichung.« Deshalb bezeichnet er es als Gebiet »der Herrschaft der ›Regel mit Ausnahmen‹« (GW II, S. 1028) – und situiert es im Erkenntnisbereich der Naturwissenschaften und in der Mathematik. Im Gegensatz dazu definiert Musil das Nicht-Ratioïde als das »Gebiet der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel« (GW II, S. 1028). Die Ausnahme verweist auf die Dimension des Individuellen, des Nicht-Systematisierbaren und Unberechenbaren, das sich jeglicher gesetzlichen und regelhaften Subsumierung widersetzt: »Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf diesem Gebiete, die Gesetze sind Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern sind unbeschränkt variabel und individuell« (GW II, S. 1028). Das nicht-ratioïde Phänomen der Ausnahme ist für Musil vor allem in ethischen und ästhetischen Fragestellungen von Bedeutung (GW II, S. 1028), jedoch gewinnt es zunehmend auch in den klassisch ratioïden Bereichen an Bedeutung: Angesichts der historischen Umbrüche in den Wissenschaften und der Mathematik habe sich die Vorstellung eines rein ratioïden Gebietes letztlich als eine Fiktion erwiesen, denn auch hier »schwankt [. . .] der Boden«, sind die »Grundlagen [. . .] ungesichert« (GW II, S. 1027). Das nicht-ratioïde Feld der Ausnahme umfasst die »nicht beachtete Einsamkeit der bloßen Tatsachen, der Zufälle, dessen was nichts als Ereignis ist« (GW II, S. 990; Hervorhebungen M. S.). Es bildet damit für Musil das genuine »Heimatgebiet des Dichters«, das »Herrschaftsgebiet seiner Vernunft« (GW II, S. 1029). Die Novelle, so lässt sich aus frühen novellentheoretischen Überlegungen Musils schließen, stellt ein privilegiertes Format für die literarische Behandlung der Ausnahme dar. So bestimmt Musil drei Jahre nach der Publikation seines ersten Novellenbandes Vereinigungen (1911) das Erlebnis der Ausnahme zum poetischen Kern der Novelle. In einer Rezension mit dem Titel 12
Musil lässt allerdings offen, ob er das Ratioïde bzw. Nicht-Ratioïde als zwei ontologische Dimensionen von Wirklichkeit oder als zwei methodische Erkenntnishaltungen bzw. Herangehensweisen an Wirklichkeit – oder als beides – versteht. Vgl. Birgit Nübel: Relationismus und Perspektivismus. Karl Mannheim und Robert Musil, in: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): »Alle Welt ist medial geworden«. Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der klassischen Moderne. Internationales Darmstädter Musil-Symposium. Tübingen 2005 (= Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur, Bd. 4), S. 141–161, hier S. 158.
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Literarische Chronik (GW II, S. 1465–1471) stellt Musil unter dem Stichwort »Die Novelle als Problem« fest, dass ein Dichter »nur als Ausnahme eine bedeutende Novelle schreiben« könne und exploriert: Denn eine solche ist nicht er [i. e. der Dichter], sondern etwas, das über ihn hereinbricht, eine Erschütterung; nichts wozu man geboren ist, sondern eine Fügung des Geschicks. – In diesem einen Erlebnis vertieft sich plötzlich die Welt oder seine Augen kehren sich um; an diesem einen Beispiel glaubt er zu sehen, wie alles in Wahrheit sei: das ist das Erlebnis der Novelle. Dieses Erlebnis ist selten und wer es öfters hervorrufen will, betrügt sich. [. . .] Es ist ohne weiteres sicher, daß man große innere Umkehrungen nur ein- oder ein paarmal erlebt; die sie alle Monate erlebten [. . .], hätten ihr Weltbild nicht so fest verankert, daß seine Losreißung von Bedeutung sein könnte. (GW II, S. 1465)13
Das Erlebnis der Ausnahme ist damit gleichermaßen exklusive biographische Voraussetzung wie dramaturgischer Fluchtpunkt der novellistischen Narration.14 Es ist charakterisiert durch Plötzlichkeit, Ereignishaftigkeit und Singularität,15 es führt zu einer »Losreißung« vom »Weltbild«, zu »große[n] innere[n] Umkehrungen« und irreversiblen Brüchen in den Lebensläufen der Erlebenden. Diese Definition verweist auch auf die historische Gattungstradition der Novelle, gilt diese doch seit Goethe als Erzählung von der »sich ereignete[n], unerhörte[n] Begebenheit«.16 Die Fokussierung der Novelle auf den isolierten Einzelfall, dessen seltsame, nicht voraussehbare Wendung diesen zu einem einzigartigen, beispiellosen Ereignis werden lässt, kann als ein konstantes Merkmal der Novellendichtung gelten.17 So wird etwa in den Schriften des Novellentheoretikers Paul Heyse der zentrale Konflikt der Novelle
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Anlass der Rezension sind neuveröffentlichte Novellen von Robert Walser, Franz Kafka und Max Brod. Vgl. Rath: Novelle (s. Anm. 2), S. 273. Elmar Locher hat in diesem Kontext auf die Bedeutung des Singulären in der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie hingewiesen. In der Chaostheorie wird der Begriff für eine plötzlich auftauchende, marginale Änderung im Verhalten eines Systems verwendet, durch die sich das ganze System in unkontrollierbarer Weise transformiert. Vgl. Elmar Locher: Annäherungen an den Zusammenhang von Singularität, Differenz und Wiederholung in Robert Musils Die Amsel, in: Marianne Schuller, Elisabeth Strowick (Hg.): Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung. Freiburg i. Br. 2001, S. 73–92, hier S. 74. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Leipzig 1968, S. 201 (Gespräch vom 29.[25.] 01. 1827). Benno von Wiese: Novelle. Stuttgart 1969, S. 9. So heißt es etwa bei Tieck: »Die Novelle stellt einen großen oder kleinen Vorfall ins hellste Licht, der so leicht er sich ereignen kann – doch wunderbar, vielleicht einzig ist.« (Ludwig Tieck’s Schriften. Hg. v. Ludwig Tieck. Bd. 27: Ludwig Tieck’s Gesammelte Novellen. Vorbericht zum elften Band. Nachdr. der Ausg. 1828/1854. Berlin 1966, S. 86 f.) Gleichwohl hat sich Musil kaum mit der Theorie und Geschichte der Novelle auseinandergesetzt. Vgl. Nanda Fischer: »Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung . . .«. Zum Novellenbegriff Robert Musils, in: Monatshefte 65/3 (1973), S. 224– 240, hier S. 224.
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als »Ausnahmefall« und Ausdruck des »höchst [I]ndividuelle[n]« beschrieben.18 Das Erlebnis der Ausnahme ist ein singuläres Ereignis, das nur selten und scheinbar schicksalhaft über den Menschen »hereinbricht«.19 Dennoch setzt seine Wahrnehmung, so Musil, eine intellektuelle wie emotionale Grunddisposition voraus. Die Ausnahmeerscheinung verlangt ein Subjekt, das eine gewisse Empfänglichkeit, eine Aufmerksamkeit für das Besondere und die Grenzen des Regelhaften besitzt. Eine solche Qualität weist Musil in der Skizze dem Dichter zu. »Man könnte ihn beschreiben [. . .] als den Empfindlichen [. . .], [d]essen Gemüt auf die imponderablen Gründe vielmehr reagiert als auf gewichtige« (GW II, S. 1026). In kritischer Positionierung zu einer (neo-)romantischen Genieästhetik sieht Musil den Dichter nicht als den »Ausnahmsmenschen (von wo es zum Unzurechnungsfähigen nicht weit ist)«, sondern als den Menschen, »der auf die Ausnahmen achtet« (GW II, S. 1029; Hervorhebung M. S.).20
3. Unzureichende Gründe. Tonka im Wissenschaftsdiskurs der Zeit Die Drei Frauen zählen zu den ersten literarischen Texten, die Musil nach Ende des Krieges verfasst hat, sie sind insofern auch in unmittelbarer Folge seiner dichtungstheoretischen Reflexionen entstanden. Der Novellenband erscheint erstmals 1924 im Rowohlt Verlag, die einzelnen Novellen werden vorher bereits separat veröffentlicht. Tonka erscheint 1922 in der Zeitschrift Der Neue Roman, die Entstehungsgeschichte reicht jedoch auf Tagebuchnotizen bis ins Jahr 1903 zurück. Obwohl ihnen die politisch-gesellschaftlichen 18 19
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Zit. nach Rath: Novelle (s. Anm. 2), S. 245. Auch der Dichter – so der Umkehrschluss – kann nicht fortlaufend Novellen produzieren: Die Novelle erhält den Status einer exklusiven Gattung, die nur unter besonderen, unter Ausnahmebedingungen, entstehen kann. Vgl. auch Rath: Novelle (s. Anm. 2), S. 271. Obwohl Musils ›Theorie‹ der Ausnahme sich explizit als eine poetologische Programmatik erklärt und beinahe ausschließlich als solche gelesen wurde, verweist sein Text, 1918 verfasst, auch auf einen konkreten biographischen und historisch-lebensweltlichen Rahmen: Der Ausnahmezustand des Ersten Weltkrieges und die darauf folgenden politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen, die zu dem Zerfall der österreichischen k. u. k. Monarchie geführt haben, bildeten jene Erschütterungen, die das Weltbild des Dichters nachhaltig veränderten und zugleich seinen theoretischen wie literarischen Texten eingeschrieben sind. Dass sich Dichtung und Krieg durch das gleiche Prinzip, nämlich durch das Erlebnis der Ausnahme konstituieren, bezeugt Musil selbst unmittelbar nach Kriegsausbruch 1914 in euphorischen Worten: »Unsere Dichtung war eine [. . .] Dichtung der Ausnahme von der Regel und oft schon der Ausnahme von den Ausnahmen. In ihren stärksten Vertretern. Und sie war gerade dadurch in ihrer Art von dem gleichen kriegerischen und erobernden Geist belebt, den wir heute in seiner Urart verwundert und beglückt in uns und um uns fühlen.« Robert Musil: Europäertum, Krieg, Deutschtum [1914], in: GW II, S. 1020–1022, hier S. 1021. Der Aufsatz liest sich als Dokument der zeittypischen, wenn auch nur kurz andauernden Kriegsbegeisterung Musils.
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Krisen ihrer Zeit implizit eingeschrieben sind, verweisen die Ausnahmeerlebnisse, die in den Drei Frauen und damit auch Tonka verhandelt werden, keineswegs auf Ereignisse politischer und staatlicher Natur, sondern auf die Grenzgebiete der Moral, der Erkenntnis und der geistig-kulturellen Ordnung.21 Wie auch in den beiden anderen Novellen wird der Protagonist in Tonka eingeführt als Vertreter einer zweckrationalen, analytischen Denkweise und Lebensart. Der Chemiker entspricht jenem Typus Mensch, den Musil in seinem Fragment gebliebenen Aufsatz Der deutsche Mensch als Symptom als »Tatsachenmensch« (GW II, S. 1364) bezeichnet hat: Regelmäßigkeit, objektive Berechenbarkeit und Beschreibbarkeit der ›Wirklichkeit‹ sind die Fundamente seiner Weltauffassung.22 Er »stellte sich« – im Duktus des frühen Wittgenstein – »taub gegen alle Fragen, die nicht klar zu lösen sind«, und war »ein fanatischer Jünger des kühlen, trocken phantastischen, Bogen spannenden neuen Ingenieurgeist[es]« (GW II, S. 283). Als Naturwissenschaftler ist der Protagonist ein klassischer Repräsentant jenes kausal-mechanistischen Weltbildes, das seit der Frühaufklärung den dominierenden Rahmen des europäischen wissenschaftlichen und philosophischen Diskurses und seines Verständnisses von Rationalität gebildet hat.23 Er ist ein Mensch mit »dem festen Punkt a«, ein »rationale[r] Mensch auf ratioïdem Gebiet« (GW II, S. 1026). Wie auch in Die Portugiesin hält das »Außer-Ordentliche«24 in Tonka in Gestalt einer tödlichen Krankheit Einzug, von der die Geliebte des Chemikers kurz nach ihrer Schwangerschaft erfährt. Im Gegensatz zu der rätselhaften Erkrankung des Herrn von Ketten ist Tonkas Krankheit eine erforschte Krankheit, in der Ursache und Wirkung der Infektion klar bekannt sind: »Es war eine Krankheit, die entweder vom Kind ins Blut der Mutter getragen wird
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Die Portugiesin und Grigia verweisen auf autobiographische Erfahrungen Musils aus den Kriegsjahren 1914–1918: Die Tagebuchaufzeichnungen aus jener Zeit fließen teils wortwörtlich in die Novellen der Drei Frauen ein. Der Erste Weltkrieg als Paradigma einer existentiellen Ausnahmesituation kann insofern durchaus auch als imaginärer Ausgangs- und Fluchtpunkt der Drei Frauen betrachtet werden. Vgl. Kurt Krottendorfer: Versuchsanordnungen. Das experimentelle Verhältnis von Literatur und Realität in Robert Musils Drei Frauen. Wien u. a. 1995 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 35), S. 112. Becker versteht das Ideal der nüchternen Verstandesorientiertheit, des Tatsachendenkens und der »Genauigkeit als Denkgewohnheit«, das die Protagonisten der Musil’schen Schriften in den 1920er Jahren vertreten, nicht nur als Rückbezug zu Nietzsches Philosophie der Vivisektion, sondern auch als Antizipation einer Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Vgl. Sabina Becker: Von der »Trunksucht am Tatsächlichen«. Robert Musil und die neusachliche Moderne, in: Musil-Forum 29 (2005/2006), S. 140–160, hier S. 143. Tim Mehigan: Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 264–287, hier S. 278. Bernhard Waldenfels: Studien zur Phänomenologie des Fremden. Bd. 4: Vielstimmigkeit der Rede. Frankfurt a. M. 1999, S. 171.
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oder ohne diesen Umweg vom Vater« (GW II, S. 288).25 Da der Chemiker jedoch nicht krank ist, muss Tonkas Krankheit entweder – unter Bewahrung der kausal determinierten Ordnung – als Beweis ihrer Untreue gelten, oder aber als Produkt eines unvorhersehbaren und regellosen Zufalls.26 Musil notiert in sein Arbeitsheft: Tonka: Das eingekapselte Protozoon: Man trägt den Tod in sich, man braucht nur den bestimmten Zufall zu erfahren und das Protozoon entkapselt sich; es ist wie wenn der Tod irgendwo stünde und wartete, bis man zufällig vorbeikommt. (Tb I, S. 111)
Die Ereignisse um Tonka lassen eine Leerstelle zu Tage treten, in der sich ein Bruch offenbart, ein Moment des Akausalen, das das »Willkürliche im Naturgesetz«27 (Tb I, S. 459) offenlegt und – im Sinne der epistemologischen Deutung des Ausnahmebegriffs bei Carl Schmitt – »die Einheit und Ordnung des rationalistischen Schemas [verwirrt]«.28 Die schwangere Geliebte wird zu einem ›Störfall‹ innerhalb des auf Kausalität ausgerichteten Ordnungsdenkens des Chemikers.29 Diese Erschütterung des Denkens durch die Konfrontation mit einer im kausal-mechanistischen System nicht denkbaren Ausnahme ist eine Erfahrung, die nicht nur den Protagonisten der Novelle, sondern auch die Protagonisten der Wissenschaft jener Zeit – Robert Musil eingeschlossen – ereilt. So hat der Dichter und Diplomingenieur schon früh ein kritisches Bewusstsein für die Problematik des mechanistischen Weltbildes entwickelt; angeregt wurde es vor allem durch seine Nietzsche-Lektüre.30 Im Rahmen seiner Erkenntniskritik hatte Nietzsche den objektiven und universellen Wissensanspruch der positivistisch orientierten Wissenschaft einer Kritik unterzogen, die sich auch gegen ein traditionelles Verständnis von Kausalität richtet: Das abendländische Verständnis von Ursache und Kausalität, so hebt Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches hervor, ist eine Projektion des Menschen in die Welt, ein metaphorisches und anthropo25
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Die vom Erzähler skizzierten Übertragungswege sind medizinisch nicht korrekt, da die Mutter nur direkt durch den Vater infiziert werden kann. Allerdings glaubte man bis Anfang des 20. Jahrhunderts an die Möglichkeit einer genetischen Übertragung der Syphilis, die folglich vom Vater an das Kind weitergegeben werden kann und die Mutter durch den Mutterleib ansteckt. Vgl. Hermann Napp: Zur Frage der Vererbung der Syphilis, in: Archives of Dermatological Research 70/2 (1905), S. 263–276, hier S. 264. Vgl. Mehigan: Kausalität (s. Anm. 23), S. 278. So lautet der Titel eines geplanten, allerdings nie realisierten Aufsatzes Musils. Schmitt: Politische Theologie (s. Anm. 8), S. 20. Vgl. Roger Willemsen: Devotionalien. Über Musils Tonka und Godards Je vous salue Marie, in: Joseph Strutz (Hg.): Kunst, Wissenschaft und Politik von Robert Musil bis Ingeborg Bachmann. München 1986 (= Musil-Studien, Bd. 14), S. 81–103, hier S. 95: »Dem Logos des Protagonisten entzieht sich die Existenz Tonkas also [. . .]. Er bewegt sich weitgehend auf der Ebene einer vorausgesetzten Kausalität, während diese von Tonka existentiell durchbrochen wird.« Vgl. Hans-Joachim Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002, S. 9.
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morphes Produkt primitiver Vernunft und Sprache.31 Die nietzscheanische Wissenschafts- und Wissenskritik wurde einige Jahrzehnte später von dem Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach aufgegriffen, der in seinem Werk die Newton’schen Postulate einer absoluten Zeit, eines absoluten Raums und der Kausalität als bloße denkökonomische Notwendigkeiten entlarvte.32 Musil setzt sich in seiner Dissertation, die er 1908 bei Carl Stumpf, Direktor des Psychologischen Instituts in Berlin, einreichte, ausführlich mit Mach und auch der von ihm aufgeworfenen Kausalitätsproblematik auseinander.33 Mit seiner Infragestellung eines universellen Kausalgesetzes antizipierte Mach theoretisch die Umbrüche, die sich in den Naturwissenschaften und insbesondere in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts einstellten. »Die tiefsten Grundlagen der Mathematik sind ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur angenähert, und die Gestirne bewegen sich in einem Koordinatensystem, das nirgends einen Ort hat« (GW II, S. 1027). In diesen Worten fasst Musil in seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters die Krise der Rationalität in den Wissenschaften zusammen. Musil, der im Nebenfach Mathematik und Physik studiert hatte, wusste um die rasanten Erkenntnisfortschritte und die durch die Paradigmenwechsel entstandenen Grundlagenprobleme in den naturwissenschaftlichen Disziplinen:34 Im Rahmen seines Studiums wie auch in 31
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Vgl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke in 15 Bänden. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Berlin u. a. 1980, S. 34; vgl. auch Schraml: Anthropologie (s. Anm. 1), S. 134. Vgl. Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker. München 2006, S. 218. In Machs erstmals 1905 erschienener Schrift Erkenntnis und Irrtum heißt es: »In den höher entwickelten Naturwissenschaften wird der Gebrauch der Begriffe Ursache und Wirkung immer mehr eingeschränkt. Es hat dies seinen guten Grund darin, daß diese Begriffe nur sehr vorläufig und unvollständig einen Sachverhalt bezeichnen, daß ihnen die Schärfe mangelt« (Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig 1905, S. 278). Die Problematik des Kausalitätsbegriffs bei Mach, die dieser durch einen Funktionsbegriff ersetzt, referiert Musil in seiner Dissertation folgendermaßen: »Wie es überhaupt keine Erklärungen gibt, so gibt es insbesondere keine kausalen. Gäbe es kausale Zusammenhänge, so würde man mit ihrer Hilfe bestenfalls [. . .] eine Verkettung der Ereignisse konstatieren, ohne in die Gründe dieser Verkettung blicken zu können. Überdies zeigt aber die exakte Naturforschung, daß es selbst kausale Zusammenhänge nicht gibt. [. . .] Ihr wirkliches Ziel ist die Aufstellung funktionaler Beziehungen, welche [. . .] lediglich die Berechnung einer Tatsache aus einer anderen gestatten, welches Verhältnis durchaus umkehrbar ist.« (Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek b. Hamburg 1980, S. 16) Bereits die Thermodynamik, die ihren Siegeszug in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts antrat, führte bei der Formulierung des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes (dem so genannten Entropiesatz) an die Grenzen der klassischen Kausalität. Vgl. Ruth Bendels: Erzählen zwischen Hilbert und Einstein. Naturwissenschaft und Literatur in Hermann Brochs Eine methodologische Novelle und Robert Musils Drei Frauen. Würzburg 2008 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 650), S. 40 f. Gemäß der Quantentheorie, die ihre vorerst letztendliche Formulierung 1927 mit der Kopenhagener Interpretation fand, verlaufen physikalische Geschehen im atomaren und mikrophysikalischen Bereich nicht in kontinuierlichen Übergän-
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privaten Studien befasste er sich intensiv mit Thermodynamik, der Relativitäts- und Quantentheorie, die zu einer Revision des kausal-mechanistischen Wirklichkeitsmodells Newtons führten.35 Die Erkenntnis indeterministischer Prozesse in den paradigmatischen Newton’schen Disziplinen beförderte Anfang des 20. Jahrhunderts eine Aufwertung der Kontingenz in den Geisteswissenschaften, insbesondere in den Geschichtswissenschaften und der Philosophie: Der Zufall, den man seit der Antike lediglich als Symptom menschlicher Unwissenheit und mangelnder Erkenntnis verhandelt hatte (asylum ignorantiae), wurde auch hier zunehmend als eine Faktizität, ein Bestandteil der ›Wirklichkeit‹ selbst betrachtet.36 Zufall und Kausalität, Kontingenz und Determinismus wurden in der Folge zu populären Themen philosophischer Spekulationen und zahlreicher Buchpublikationen, die auch Musil bekannt waren,37 darunter nicht zuletzt Heinrich Emil Timerdings Analyse des Zufalls.38 Mit dessen formalisierten und mathematischen Methoden der Zufallsanalyse beschäftigte sich Musil systematisch ab 1918 – also parallel zur Konzeptionsphase der Drei Frauen in den Jahren 1919–23.39 Die Frage nach der Bedeutung des Zufalls stellte sich für Musil nach 1918 insbesondere im Zusammenhang mit geschichtsphilosophischen Überlegungen. So sei in der Betrachtung der neueren Weltgeschichte »ein merkwürdiges Gefühl von Zufall« (GW II, S. 1077) mitbeteiligt. Leibniz’ »Prinzip des zureichenden Grundes«, das philosophische Pendant zum physikalischen System
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gen, sondern sprunghaft. Ort, Geschwindigkeit und Bewegungen der kleinsten Teilchen sind ontisch ›unbestimmt‹, d. h. zufällig und damit weder eindeutig mess- noch beschreibbar. Vgl. Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970). Berlin u. a. 1995 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 236), S. 26–30. Musils Beschäftigung sowohl mit der Quantentheorie als auch der Relativitätstheorie wird aus Briefen ersichtlich, die Robert und Martha Musil am 10. und 17. 5. 1923 an Annina Marcovaldi schickten. Vgl. Br I, S. 297 f. u. 300 f. Weitere Verweise zur Quantentheorie finden sich in Musils Notizheften z. B. in Tb I, S. 634, 728 u. 741 und in seinem Nachlass. Unter anderem notiert Musil unter der Überschrift »Planck’sche Quantentheorie« Überlegungen zur Schwingungszahl und Schwingungsweite von Oszillatoren (KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/173). Vgl. Arnd Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte. Frankfurt a. M. 2005 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 184), S. 35. So etwa Wilhelm Windelband: Die Lehren vom Zufall. Berlin 1870, Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 20 (1910), S. 421– 430, und Adolf Lasson: Über den Zufall. Philosophische Vorträge veröffentlicht von der KantGesellschaft. Berlin 1918. Heinrich Emil Timerding: Die Analyse des Zufalls. Braunschweig 1915. In seinem Tagebuch, das darüber hinaus ausführliche Exzerpte und Notizen zur Definition, historischen Entwicklung und philosophischen Betrachtung des Zufallsbegriffs enthält, zitiert Musil Timerdings Definition des Zufalls: »›Zufällig ist ein Ereignis, wenn es nicht aus andren Ereignissen oder bestimmten Prämissen gefolgert werden kann‹ / – wenn aus allen beobachtbaren Umständen nicht geschlossen werden kann, ob das Ereignis eintritt od.[er] nicht.« (Tb I, S. 464)
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der Newton’schen Weltmechanik, habe ausgedient: In der modernen Welt, so proklamiert Ulrich im Mann ohne Eigenschaften, herrsche vielmehr das »Prinzip des unzureichenden Grundes« und so »geschieht immer das, was eigentlich keinen rechten Grund hat« (MoE, S. 134).40 Exakt jenes grundlose Moment gestaltet Musil zum dramatischen Fluchtpunkt der Tonka-Erzählung. Die Schwangerschaft und Erkrankung Tonkas wird dem Protagonisten zum ›Ausnahmeerlebnis‹, da sie seiner elementaren Auffassung von Kausalität als »logische[m] Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung«41 zuwiderläuft und damit auf poetische Weise jenes Krisenmoment aufgreift, das auch naturwissenschaftliche und geschichtsphilosophischen Diskurse der Zeit prägt. Sie entspricht dem »Wesentliche[n] zufälliger Ereignisse«, denn es ist »aus kausalen Verknüpfungen nicht zu erklären« (Tb I, S. 465).42 Durch die Assoziierung von Zufall und Schöpfung, die in der Deutung von Tonkas Schwangerschaft als die Folge einer unbefleckten und damit gewissermaßen ursachelosen Empfängnis kulminiert, greift der Text zudem ein klassisches Argument des historisches Zufallsdiskurses auf. So wurde seit Aristoteles die Schöpfung des Menschen (generatio spontanae) als paradigmatisches Beispiel des ›Zufalls‹ verhandelt, als eine Art »Urzufall« (Schelling), welcher der folgenden Menschheitsgeschichte eingeschrieben bleibt und sich permanent aktualisiert:43 Jede Art von Schöpfung als Entstehung von Neuem setzt schließlich einen Spielraum voraus, der nur in einer Welt, die nicht vollständig kausal determiniert ist, gegeben ist44 – ein Aspekt, der im 19. Jahrhun-
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Vgl. hierzu den grundlegenden Artikel von Jacques Bouveresse: Nichts geschieht mit Grund. Das ›Prinzip des unzureichenden Grundes‹, in: Bernhard Böschenstein, Marie-Louise Roth (Hg.): Hommage à Musil. Genfer Kolloquium zum 50. Todestag von Robert Musil. Bern u. a. 1995 (= Musiliana, Bd. 1), S. 111–144. Erhard Scheibe: Kausalität, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I–K. Basel 1976, Sp. 798–801, hier Sp. 800. Vgl. Schraml: Anthropologie (s. Anm. 1), S. 196. Bereits Rosmarie Zeller hat auf die Bedeutung des Zufalls als Strukturmoment in den Drei Frauen hingewiesen. Vgl. Rosmarie Zeller: Zur Komposition von Musils Drei Frauen, in: Gudrun Brokoph-Mauch (Hg.): Beiträge zur Musil-Kritik. Frankfurt a. M. u. a. 1983 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 596), S. 25–48, hier S. 41. Friedrich W. J. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, in: Schellings Werke. Hg. v. Manfred Schröter. Bd. 5: Schriften zur geschichtlichen Philosophie 1821–1854. München 1928, S. 169–173, hier S. 171. So wird bei Schelling der Zufall als die Vorgängigkeit eines jeden Anfangs relevant, der auf den »Urzufall« der Subjektgenese zurückweist. Vgl. Hoffmann: Zufall und Kontingenz (s. Anm. 36), S. 29. Im Übergang zum 20. Jahrhundert stellt auch Georg Simmel fest: »Die Zufälligkeit ist aus unserem Weltbild nicht zu entfernen, weil der Anfang desselben zufällig war und alles Spätere nur eine Entwicklung dieses ersten Zustands ist.« (Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie. Leipzig 1907, S. 146) Das Prinzip des Zufalls als Ursprung des ›Neuen‹ kann in diesem Sinne als konstitutiv für geistige und künstlerische Schöpfungsprozesse gelten. So beschreibt Willemsen: Devotionalien (s. Anm. 29), S. 90, Tonka als Metapher einer »poetischen Schöpfungsgeschichte«.
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dert insbesondere durch die darwinistische Evolutionstheorie neu fundiert wurde.45
4. Rechnen mit der Ausnahme: Probabilistische Diskurse in Tonka Kausalität, so lässt sich aus den wissenschaftlichen und epistemologischen Umbrüchen nach 1918 folgern, bildet keine lineare Kontinuität, sondern ist von ›Lücken‹ durchsetzt, sie stellt kein Universalgesetz dar, sondern ist eine ›Regel mit Ausnahme‹. Da jedoch die »Ausnahmslosigkeit« der »Causalität« – so exzerpiert Musil 1905 den Philosophen Edmund Husserl – als »ihre Existenzbedingung« gilt (Tb I, S. 120), d. h. eine Ausnahme in dem System der Kausalität per se nicht denkbar scheint, stellt der Zufall das gesamte Ordnungssystem in Frage.46 Auch in Tonka wird der Zufall als Erfahrung einer Krise verhandelt, die als epistemologische einsetzt, jedoch epidemisch auf andere Bereiche übergreift. Nicht zuletzt geht sie mit einer Destabilisierung des normativen Wertgefüges des Chemikers einher.47 So wird die Schwangerschaft Tonkas in ihrer doppelten Optik, als Signum einer willkürlichen und unfassbaren Abweichung einerseits und als Beweis der Untreue andererseits, zum Ausnahmefall einer bürgerlichen Moral, an dem die kategorialen Dichotomien von Gut und Böse, Schuld und Unschuld abzugleiten scheinen.48 45
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Obwohl die Evolutionstheorie Darwins grundsätzlich von kausalen Aporien ausgeht, setzt sie voraus, dass jede Form der Fortpflanzung nicht-voraussehbare Variationen und Mutationen der Erbanlagen mit sich zieht, die die Voraussetzungen für die Entstehung neuer Arten und für das Selektionsprinzip bilden. Die spätere Molekularbiologie bestätigte die Theorie zufälliger Mutationen, für die Jacques Monod die Formel von dem ›Spiel der Möglichkeiten‹ prägte. Vgl. hierzu auch Schraml: Anthropologie (s. Anm. 1), S. 186–188. Emter: Quantentheorie (s. Anm. 34), S. 25. Daneben wird die Erkenntniskrise des Chemikers von Störungen der perzeptiven und räumlichen Ordnung begleitet, die sich insbesondere in optischen Verfremdungen, Fragmentierungen und einer irritierenden Doppelperspektivik artikuliert. Der Zerfall sinnhafter Wahrnehmungsstrukturen wird zumeist als Zeugnis einer Identitätskrise des Protagonisten gedeutet (vgl. hierzu Rosmarie Zeller: Grenztilgung und Identitätskrise. Zu Musils Törleß und Drei Frauen, in: Musil-Forum 27 (2001/2002), S. 189–209), entspricht jedoch zugleich dem Wissensstand der zeitgenössischen gestaltpsychologischen und sinnesphysiologischen Forschung, mit der auch Robert Musil sich auseinandergesetzt hat. Vgl. hierzu z. B. Birthe Hoffmann: Die Seele im Labor. Gestaltpsychologische Experimente in Musils Grigia, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 734–765. Untreue wird von Musil in fast all seinen Texten als paradigmatischer Grenzfall des bürgerlichen Moralverständnisses aufgegriffen. In seinem Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom behauptet Musil, dass sich gerade am Beispiel der herrschenden Monogamie, die faktisch, wenn auch im Verborgenen, permanent unterlaufen werde, das »Rezept« der »Regel mit tolerierter Ausnahme« beobachten lasse, das für »unsere ganze Moral« kennzeichnend sei (GW II, S. 1370). Für den Chemiker wird die Ausnahme der Pflichtübertretung jedoch nicht
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Die Beschreibung von Tonkas »Fall« geht einher mit einer Rhetorik der epistemologischen Ratlosigkeit: Die Ereignisse erscheinen dem Chemiker als plötzliche »Wendung« (GW II, S. 303), als »Dornengeränk« (GW II, S. 282), »Unglücksfall« (GW II, S. 291) und »mystischer Vorgang« (GW II, S. 304). Obgleich verstärkt eine Terminologie der Mystik, des (Aber-)Glaubens und des Religiösen bemüht wird, sind die Spekulationen des Chemikers um Tonkas Unschuld von einem szientistischen Kalkül geleitet. Tonka, Zeichen einer verborgenen, geheimnisvollen Wirklichkeit, wird zugleich als Objekt des Wissens inszeniert, an dem paradigmatisch neue wissenschaftliche Erklärungsund Beschreibungsmodelle erprobt werden. So strebt der Chemiker mit Rekursen auf probabilistische Überlegungen eine Normalisierung des Ausnahmefalls der Schwangerschaft in eine neue Form der ›Regelmäßigkeit‹ an, die mit einer Konjunktur der Wahrscheinlichkeitstheorie in den Naturwissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts korrespondiert. So ist die »Kunst der Mutmaßung«, die in der Antike den rhetorischen Disziplinen zugeordnet wurde, seit der Frühen Neuzeit verstärkt in das Blickfeld mathematischer und logischer Kalkulationen gerückt.49 Mit der ›Entdeckung‹ des Zufalls in den Naturwissenschaften erlebte die Wahrscheinlichkeitstheorie Ende des 19. Jahrhunderts rasante Weiterentwicklungen und Umbrüche. Insbesondere in der Physik, in der sukzessive mechanistisch-deterministische Ansätze zugunsten von Modellen ersetzt wurden, die von akausalen und zufälligen Ereignissen ausgingen, nahmen Wahrscheinlichkeitsberechnungen einen immer wichtigeren Stellenwert ein. Musil beschäftigte sich seit 1918 ausführlich mit dem Begriff, der Geschichte und Mathematik der probabilistischen Zufallsanalyse.50 Aus sei-
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zu einer Bestätigung der moralischen Regel, sondern zu einem Siegel der Unzulänglichkeit und Kontingenz traditioneller moralischer Kategorien. Obwohl Tonka nach konventionellen Maßstäben »gemeine irdische Schuld auf sich geladen« (GW II, S. 288) hat, wird sie dem Chemiker zum Symbol einer natürlichen moralischen Integrität: »Denn auch sie war gut, und irgendwo mußte doch der Palast der Güte stehen, wo sie vereint leben sollten und sich niemals trennen.« (GW II, S. 305) Bereits 1913 hatte Musil in seinem Essay Moralische Fruchtbarkeit, anschließend an die Moralkritik Nietzsches, das Problem der moralischen Unentscheidbarkeit reflektiert: »Auch das Böse ist nicht der Gegensatz des Guten oder seine Abwesenheit, sondern sie sind parallele Erscheinungen. Sie sind keine grundlegenden oder gar letzten moralischen Grundsätze, wie man immer voraussetzte [. . .], sondern praktische und unreine Zusammenfassungen.« (GW II, S. 1002) Zu den Anfängen der Wahrscheinlichkeitstheorie im 17. Jahrhundert vgl. Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002, S. 21–210, sowie Gerd Gigerenzer, Zeno Swijtink, Theodore Porter, Lorraine Daston, John Beatty, Lorenz Krüger: Das Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten und Unschärfen. Heidelberg, Berlin 1999, S. 22–34. Neben den Notizen zu Timerdings Werk enthalten Musils Aufzeichnungen aus den Jahren 1918–1921 eine ausführliche Bibliographie mit Titeln zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, einen Zeitungsausschnitt über den Begründer der Wahrscheinlichkeitstheorie, Adolphe Jacques Quetelet, sowie einen Umschlag mit weiteren bibliographischen Vermerken zum Thema der Wahrscheinlichkeit (vgl. Tb I, S. 460 f.).
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nen detaillierten Exzerpten zu der bereits erwähnten Studie Die Analyse des Zufalls von Timerding (vgl. Tb I, S. 460–469) wird ersichtlich, dass er sich insbesondere mit dem Unterschied zwischen der »genetischen«, d. h. der von kausalistischen Aporien ausgehenden, klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie und dem »statistischen« Wahrscheinlichkeitsbegriff beschäftigt hat (vgl. Tb I, S. 463–469). Während die genetische Methode in der Tradition Laplaces eine apriorische Methode beschreibt, in welcher der Zufall ohne Rückgriff auf statistisches Material, d. h. »ohne eine sichere empirische Grundlage allein aus dem Denken heraus mithilfe der mathematischen Rechnung« einer Berechnung unterzogen wird,51 ist die statistische Methode empirischer Natur.52 In der statistischen Zufallsanalyse, die seit dem 19. Jahrhundert zu einem bevorzugten Rechenmodell der neuen physikalischen Disziplinen wurde, wird »nicht mehr das einzelne Ereignis« als solches, d. h. sein »innerer Mechanismus«, seine Entstehung und Bedeutung untersucht, sondern eine »Gesamtheit« an Ereignissen (Tb I, S. 465): »Die[ ] statistische W.[ahrscheinlichkeit] geht von Zahlenreihen aus. Deren Entstehung u[nd] Bedeutung ist irrelevant. Man prüft nur Eigenschaften der statistischen Gesamtheit« (Tb I, S. 462). Die Bedeutung statistischer und probabilistischer Diskurse bei Musil ist in der Forschung ausführlich für die Novelle Die Amsel sowie den Roman Der Mann ohne Eigenschaften gewürdigt und behandelt worden.53 Dabei wurde häufig übersehen, dass bereits Tonka als ein relativ frühes Beispiel für den Versuch Musils gelesen werden kann, Phänomene des Zufalls und der Kontingenz im Rahmen von wahrscheinlichkeitstheoretischen Reflexionen zu rationalisieren: Der Begriff der Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit avanciert in Tonka zu einem Leitbegriff, der die Überlegungen des Chemikers zu dem Ereignis der Schwangerschaft und Tonkas Krankheit bestimmt.
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Timerding: Analyse des Zufalls (s. Anm. 38), S. 164. Allerdings kannte schon Bernoulli den Unterschied zwischen einer Wahrscheinlichkeitstheorie a priori und einer a posteriori und operierte mit statistischen Methoden, etwa im Rahmen des von ihm formulierten Gesetzes der großen Zahl. Vgl. B. Buld: Wahrscheinlichkeit, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12: W–Z. Basel 2004, Sp. 265–290, hier Sp. 267. Vgl. etwa Ingo Breuer, Christian Kassung: Epistemologie und Poetologie. Zur Struktur des naturwissenschaftlichen Wissens in Robert Musils Die Amsel, in: Walter Busch, Ingo Breuer (Hg.): Robert Musils Die Amsel. Kritische Lektüren. Materialien aus dem Nachlaß. Wien u. a. 2000 (= Essay & Poesie, Bd. 11), S. 95–130; Christoph Hoffmann: Drei Geschichten. Erzählen als experimentelle Operation bei Musil (und Kleist), in: Michael Bies, Michael Gamper (Hg.): »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte«. Literatur und Experiment III : 1890– 2010. Göttingen 2011, S. 162–181; Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums, in: Jochen Hörisch, Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870–1920. München 1990 (= Literatur- und Medienanalysen, Bd. 2), S. 265–288.
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Die unwahrscheinliche Interpretation folgt Tonkas Beteuerung ihrer Treue, der zufolge das Kind vom Chemiker stammt. Diese Auslegung setzt voraus, dass der Empfängniszeitraum falsch berechnet wurde. Tatsächlich scheint das Datum ungewiss, da es von Tonkas »Zustand« heißt, dass »sein Beginn schon nicht mehr so genau festzustellen war«. Fragwürdig bleibt jedoch Tonkas Syphiliserkrankung. Der Chemiker scheint als Überträger nicht in Betracht zu kommen, da er »nach menschlichem Ermessen nicht krank« war (GW II, S. 288): »[D]ie Ärzte hatten ja nie eine Krankheit an ihm finden können« (GW II, S. 303).54 Allerdings besteht die Möglichkeit einer nicht-sexuellen Infizierung: »Es gab freilich auch andere natürliche Möglichkeiten – theoretische, platonische, wie man sagt.« Gleichwohl folgt die Einschränkung: »[P]raktisch war ihre Wahrscheinlichkeit so gut wie Null« (GW II, S. 288).55 Nach der wahrscheinlichen Lesart ist der Chemiker also »weder der Vater von Tonkas Kind noch der Urheber ihrer Krankheit«. Dies würde implizieren, dass Tonka untreu geworden ist und von dem unbekannten Vater ihres Kindes infiziert wurde. Die Wahrscheinlichkeit für diese Variante war »praktisch [. . .] gleich der Gewißheit« (GW II, S. 288). Der Wahrscheinlichkeitsbegriff des Chemikers ist zunächst terminologisch vage, in ihm vermengen sich Aspekte eines umgangssprachlichen, rhetorischen und mathematisch-szientistischen Wahrscheinlichkeitsverständnisses. Seine Überlegungen wecken Assoziationen zu jenen traditionellen Methoden der Vermutungskunst, wie sie vormathematische Überlegungen zur Probabilität in Rhetorik, Recht und Dichtungskunst seit der Antike beherrschten.56 Das Rätsel um die Schwangerschaft Tonkas verweist demnach nicht auf eine ontische Unbestimmtheit, sondern erscheint als Ausdruck subjektiver Unwissenheit, die durch eine gründliche Analyse der circumstantiae, durch vernünftiges Abwägen und individuelles Erfahrungswissen in einen 54
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Die Möglichkeit einer rezenten Erkrankung lässt sich dennoch nicht ausschließen; ein verlässlicher diagnostischer Test zum Nachweis der Syphilis wurde erst 1906 entwickelt. Auch ist es medizinisch möglich, dass der Chemiker eine frühere Syphiliserkrankung zwar ausgeheilt, aber dennoch übertragen hat. Vgl. Anja Schonlau: Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin 1880–2000. Würzburg 2005 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 504), S. 107. Auch Herma Dietz, die Freundin von Robert Musil und das Vorbild für die Tonka-Figur, starb an einer Syphiliserkrankung. Der Artikel zur Syphilis in der Brockhaus-Enzyklopädie von 1886 gibt Auskunft, dass die Krankheit »zumeist durch Beischlaf«, »sehr selten« aber auch »in anderer Weise, z. B. durch Kratzen mit den von Syphilisgift beschmutzten Nägeln u. dgl.« übertragen werde (Art. »Syphilis«, in: Brockhaus Conversations-Lexikon. Bd. 15. Leipzig 1886, S. 410). In der antiken Tradition der Rhetorik bezeichnete die Wahrscheinlichkeit einen hohen Grad von Glaubwürdigkeit. So heißt es bei Aristoteles: »Wahrscheinliche Sätze aber sind diejenigen, die allen oder den meisten oder den Weisen als wahr erscheinen, und auch von den Weisen wieder entweder allen oder den meisten oder den bekanntesten und angesehensten.« Zit. nach Robert Ineichen: Würfel, Zufall und Wahrscheinlichkeit. Ein Blick auf die Vorgeschichte der Stochastik, in: Magdeburger Wissenschaftsjournal 2 (2002), S. 39–46, hier S. 41 f.
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Zustand relativer Wahrscheinlichkeit überführt werden kann.57 Die Frage nach der Wahrscheinlichkeit ist für den Chemiker eine Frage der intrinsischen Evidenz, Plausibilität und Konsistenz von Argumenten,58 sie fordert die Fähigkeit zur Kombination und Abwägung sowie einen »gesunden Menschenverstand«.59 Der Chemiker bemüht sich, »alle möglichen Fingerkombinationen durch[zu]denken«,60 und setzt Tonka wiederholten Befragungen aus: »Er versuchte natürlich trotzdem von Zeit zu Zeit, Tonka das Geständnis zu entreißen; dazu war er ja ein Mann und kein Narr« (GW II, S. 289). In der Verhörszenerie wird die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Tonkas Schuld oder Unschuld zu einem juristisch-moralischen Drama und verweist damit nicht zuletzt auf die historische Verknüpfung von Wahrscheinlichkeitstheorie und Rechtswissenschaft.61 Auch der Chemiker macht diesen Bezug des Wahrscheinlichkeitskalküls zu der Sphäre des Rechts explizit: Ebenso ist ein Richter nie einen Augenblick im Zweifel, wenn ihm der Angeklagte erzählt, daß er das bei ihm gefundene Beweisstück von einem ›unbekannten Mann‹ erhalten habe. Und doch wäre einmal ja auch das möglich. Aber Handel und Wandel ruhen darauf, daß man nicht mit allen Möglichkeiten zu rechnen braucht, weil die äußersten praktisch nicht vorkommen. (GW II, S. 288)
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Damit folgt der Chemiker einer philosophischen Tradition, die den Zufall als Phänomen menschlicher Unkenntnis interpretiert. Musil zitiert diese Auffassung nach Timerding: »Alles geschieht nach Gesetzen. Zufällig heißen Ereignisse, deren Umstände wir nicht völlig kennen.« (Tb I, S. 464) Gigerenzer et al.: Reich des Zufalls (s. Anm. 49), S. 48 f. Pierre Simon de Laplace: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit. [1814] Frankfurt a. M. 2003, S. 88. Nach Laplace folgt das Wahrscheinlichkeitskalkül in den moralischen Wissenschaften dem »einfache[n] gesunde[n] Menschenverstand«, nach dem »die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums oder einer Lüge des Zeugen um so größer ist, je ungewöhnlicher die bezeugte Tatsache ist« (S. 88). Auch die Mutter des Chemikers bezieht sich auf das Kriterium des gesunden Menschenverstands (GW II, S. 291). Tonkas prekäre soziale Herkunft scheint die Wahrscheinlichkeit eines moralischen Fehltritts zu erhöhen: »Ahnungslos kann man das nennen, ahnungslos ausgeliefert sein eines jungen, armen Lebens an Einflüsse, die es abstumpfen müssen; [. . .] war hier schon das Feingefühl eines Gemüts für Schande verlorengegangen?« (GW II, S. 271) Zudem galt die Syphilis lange als Krankheit der Unterschicht und des Prostituiertenmilieus, dem auch Tonka zugeordnet wird. Vgl. Schonlau: Syphilis (s. Anm. 54), S. 62. Campe legt in seinem Buch dar, wie sich die mathematisch-szientistische Wahrscheinlichkeitstheorie im 17. Jahrhundert aus dem rhetorischen Wahrscheinlichkeitsbegriff entwickelte, der für das antike Gerichtswesen konstitutiv war. Vgl. Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit (s. Anm. 49), S. 9. Auch gab es im 17. Jahrhundert Bemühungen, die formalisierte und mathematisierte Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die ›moralischen Wissenschaften‹ und das Rechtswesen zu übertragen. So versuchte Bernoulli im Kapitel IV der Ars conjectandi, seine Lehre auf »bürgerliche, sittliche und wirtschaftliche Verhältnisse« anzuwenden (Jakob Bernoulli: Wahrscheinlichkeitsrechnung. [1713] Reprint der Ausgabe Leipzig 1899. Thun u. a. 2002).
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Richter (ebenso wie Kaufmänner62 ) werden hier mit einem anderen, modernen Wahrscheinlichkeitsbegriff in Verbindung gebracht, der auf eine Orientierung an »den größeren Wahrscheinlichkeiten« (GW II, S. 293) ausgerichtet ist und den unwahrscheinlichen Ausnahmefall vernachlässigt.63 Eine mathematische Ermittlung dieser größeren Wahrscheinlichkeit ermöglicht das von Bernoulli schon im 17. Jahrhundert eingeführte, statistisch operierende Gesetz der großen Zahl. Dieses besagt, dass bei der Zusammenfassung sehr vieler Zufallsereignisse Abweichungen und Schwankungen reduziert werden und sich stabile, charakteristische Werte ergeben.64 Der Sozialstatistiker Adolphe Quetelet verhalf dem Prinzip im 19. Jahrhundert zur Popularität, indem er es zum Beleg der universellen Gesetzmäßigkeit von Natur und Gesellschaft erklärte.65 Auch Musil zeigte sich fasziniert von dem Gesetz der großen Zahl, auf dem ihm zufolge »die Möglichkeit wirtschaftlichen u[nd] staatlichen Lebens« (Tb I, S. 465) beruhe.66 Im Mann ohne Eigenschaften greift er fast wortwörtlich seine Timerding-Notizen wieder auf: Die Regelmäßigkeit statistischer Zahlenfolgen ist bisweilen ebenso groß wie die von Gesetzen. [. . .] Etwa die Statistik der Ehescheidungen in Amerika. Oder das Verhältnis zwischen Knaben- und Mädchengeburten, das ja eine der konstantesten Verhältniszahlen ist. Und dann wissen Sie, daß sich jedes Jahr eine ziemlich gleichbleibende Zahl von Stellungspflichtigen durch Selbstverstümmelung dem Militärdienst zu entziehen sucht. Oder daß jedes Jahr ungefähr der gleiche Bruchteil der europäischen Menschheit Selbstmord begeht. [. . .] Man nennt das etwas schleierhaft das Gesetz der großen Zahlen. (MoE, S. 488 f.)
Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ergibt sich dabei aus der relativen Häufigkeit seines Vorkommens innerhalb einer statistischen Gesamtheit. 62
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»Kommst du zu einem Kaufmann und eröffnest nicht eine Aussicht, die bald seine Begehrlichkeit reizt, sondern hältst ihm eine lange Rede über Zeiten und das, was ein reicher Mann eigentlich tun müßte, so weiß er, du bist gekommen, um ihm sein Geld zu stehlen. Er wird sich nie irren darin, obgleich du ja auch gekommen sein könntest, um ihm Belehrung zu schenken.« (GW II, S. 288) Bendels: Naturwissenschaft und Literatur (s. Anm. 34), S. 387. Gigerenzer et al.: Reich des Zufalls (s. Anm. 49), S. 136 f. Adolphe Jacques Quetelet, der Musil bekannt war (vgl. Anm. 50), überführte die Methode der Statistik in die Soziologie und versuchte, moralische und physische Erscheinungen des individuellen und sozialen Lebens durch statistische Methoden zu erforschen. Er begründete die Disziplin der ›Sozialphysik‹ und gilt als Erfinder des Konzepts des ›Durchschnittsmenschen‹ (homme moyen). Vgl. Gigerenzer et al.: Reich des Zufalls (s. Anm. 49), S. 63. Das Gesetz der großen Zahl wurde ebenso wie die Gauß’sche Kurve der Normalverteilung im 19. Jahrhundert sowohl von Natur- als auch Sozialwissenschaftlern als Ausdruck der kosmischen Regelmäßigkeit sozialer und natürlicher Prozesse bewundert. So schreibt etwa der Arzt Francis Galton (zit. nach Klaus Mainzer: Der kreative Zufall. München 2007, S. 40): »Ich kenne kaum etwas, das die Vorstellungskraft so beeindruckt, wie die wunderbare Form kosmischer Ordnung, die durch das Gesetz der Fehlerhäufigkeit ausgedrückt wird. Es herrscht mit heiterer Gelassenheit und vollständiger Selbstverleugnung mitten in der wilden Konfusion. Je größer der Mob und je größer die offensichtliche Anarchie, um so perfekter ist sein Einfluß. Es ist das höchste Gesetz der Unvernunft.«
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Tonkas Arzt, den der Chemiker zu Rate zieht, orientiert sich an diesen empirischen Häufigkeitsverhältnissen: [E]r schien sagen zu wollen: Halten wir uns nicht dabei auf, es liegt unter der für menschliches Ermessen nötigen Wahrscheinlichkeit. Auch ein Gelehrter ist ein Mensch, und ehe er etwas annimmt, das medizinisch ganz unwahrscheinlich ist, nimmt er lieber einen menschlichen Fehler als Ursache an [. . .]. (GW II, S. 289)
»In der Natur«, argumentiert der Mediziner weiter, »sind die Ausnahmen selten«. So könne man »zwar kein Gesetz [. . .] angeben [. . .], daß sie [i. e. eine unbefleckte Empfängnis] ausschloß«, jedoch sprächen die statistischen Werte, ihre relative Häufigkeit, gegen sie: »Sie war eben noch nie da.« (GW II, S. 289) In der praktischen Handhabung der statistischen Analyse von Zufallsereignissen kommen also Ausnahmen oder »Abweichungen vom mittleren Wert« – und als solche müsste eine unbefleckte Schwangerschaft ebenso wie eine mögliche Vaterschaft des Chemikers zählen – »nicht inbetracht« (Tb I, S. 460).67 Von Timerding weiß Musil jedoch, dass zwar im praktischen Leben das Gesetz der großen Zahl eine notwendige Orientierung bietet, dieses aber eigentlich nur ein pragmatisches, subsidiäres Abkürzungsverfahren darstellt.68 Im Mann ohne Eigenschaften bezeichnet der Protagonist Ulrich die statistischen Messverfahren in den Naturwissenschaften als bloße Fiktion: Nicht einmal im Laboratorium zeigen sich die Dinge so, wie sie sein sollen. Sie weichen regellos nach allen Richtungen davon ab, und es ist einigermaßen eine Fiktion, daß wir das als Fehler der Ausführung ansehen und in ihrer Mitte einen wahren Wert vermuten. (MoE, S. 572)
Das Gesetz der großen Zahl ist weniger ein rationales Gesetz als ein »Prinzip der Auswahl« (Tb I, S. 465): Praktisch werden »[zu] große Abweichungen« als (Mess-)»Fehler u. Störungen« (Tb I, S. 460) ausgeschieden, theoretisch hingegen sind Ausnahmen von Normalverteilungen und relativen Häufigkeitswerten nicht auszuschließen: »Da die Konstanz nie absolut ist, liegt willkürliches Moment in Zusammenfassung«, notiert Musil in sein Arbeitsheft (Tb I, S. 465). Das statistisch-probabilistische Gesetz der großen Zahl zeichnet sich durch das Paradox aus, dass seine Werte aus Einzelfällen induziert 67
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Sehr wohl zieht der Chemiker jedoch einen Lottogewinn in einer »elenden Pferdelotterie« in Betracht, in der er mit Tonka zu spielen beginnt. Da die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns ebenso gering ist wie diejenige einer Vaterschaft des Chemikers, wäre ein Gewinn ein symbolisches »Zeichen« (GW II, S. 294) dafür, dass eine große Abweichung vom Wahrscheinlichen im Einzelfall möglich ist. Jedoch bestätigt sich das fatalistische Gesetz der Statistik: »[A]lle drei Lose waren Nieten.« Glücksspiele wie das Lotto bzw. das Urnenspiel gelten als klassische Zufallsexperimente und bildeten im Rahmen von ›Chancenberechnungen‹ die Grundlage der historischen Anfänge der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie im 17. Jahrhundert. Vgl. Gigerenzer et al.: Reich des Zufalls (s. Anm. 49), S. 39 f. Vgl. Bendels: Naturwissenschaft und Literatur (s. Anm. 34), S. 381. Solche nicht-rationalen Abkürzungsverfahren sind nach Musil charakteristisch für das moderne Tatsachendenken.
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werden, gleichzeitig aber keinen Rückschluss auf den Einzelfall erlauben.69 Verlässliche ›Wahrheits‹-Aussagen kann es hinsichtlich einer Gesamtheit an Ereignissen treffen, im Einzelfall hingegen bleibt der Zufall schlicht nicht kalkulierbar.70 Tonka avanciert damit zum Symbol der unwahrscheinlichen und willkürlichen Abweichung, sie ist die »mitten in einem Sommertag ganz allein niederfallende Schneeflocke« (GW II, S. 280). Das Unwahrscheinliche bildet hier den äußersten, aber denkbaren Rand des Möglichen. Und so gesteht auch der Mediziner gegenüber dem Chemiker ein: »Theoretisch hingegen? [. . .] Gewiß unmöglich nicht« (GW II, S. 288 f.). Obwohl sich die statistische Wahrscheinlichkeit als eine Beherrschung des Zufalls versteht, bleibt in ihrer Gesetzlichkeit also letztendlich ein »zufällige[s]« und »anthropoïde[s] Moment[ ]« (Tb I, S. 460) bestehen. Dieses Moment ist für Musil die Bedingung einer Dichtung, deren Wesensbestimmung es ist, »auf die Ausnahmen [zu] achten« (GW II, S. 1029) und damit den Sinn für die Register des Möglichen zu erweitern. Es ist gleichermaßen Bedingung wie auch Thema der Erzählung Tonka.
5. Narrationen der Ausnahme. Beispiellose Beispiele Ausnahmephänomene initiieren Brüche in den konventionellen Ordnungsstrukturen. Existentielle Ereignisse wie Schöpfung bzw. Geburt, Krankheit und Tod werden in den Drei Frauen als Störfälle der Kausalität inszeniert, als Einbruch des Zufalls und eines grundlosen Moments in eine vorausgesetzte regelhafte epistemologische Ordnung. Tonka demonstriert den Versuch, den Störfall der kausalen Ordnung durch die Subsumierung der Ereignisse unter die Gesetze der statistischen Wahrscheinlichkeit zu normalisieren. Die Statistik, die für Musil das Prinzip der kausalen Gesetzlichkeit in der Moderne ablöst (vgl. Tb I, S. 524), erscheint in der Novelle als flexibler Raum von Möglichkeiten, der die Rede von der Ausnahme obsolet macht: Schließlich ist auch ein Ereignis, das sich – wie etwa Tonkas Erkrankung und Schwangerschaft – der Normalverteilung durch große Abweichung entzieht, zugleich – als Wahrscheinlichkeitswert mit geringem Vorzeichen – in die statistische Logik inkludiert. Die pragmatische Handhabung des Gesetzes der großen Zahl ermöglicht es, kontingente Einzelwerte beherrschbar zu machen, indem es geringe Ver69
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Diese Erkenntnis ist insbesondere für die neuen physikalischen Disziplinen wie die Quantentheorie von Relevanz: Da für den Einzelfall (d. h. den einzelnen Quantensprung) gilt, dass alles möglich ist, auch das Unwahrscheinliche, ist das Rechnen mit der größten Wahrscheinlichkeit und statistischen Mittelwerten nur möglich, wo es auf das Verhalten größerer Mengen ankommt. Das atomare Einzelereignis ist nur in Spezialfällen vorhersehbar. Vgl. Bendels: Naturwissenschaft und Literatur (s. Anm. 34), S. 397. Vgl. Breuer/Kassung: Epistemologie und Poetologie (s. Anm. 53), S. 100. Vgl. auch Timerding: Analyse des Zufalls (s. Anm. 38), S. 20.
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teilungswerte aus dem Erwartungshorizont ausschließt. Allerdings handelt es sich um ein nicht-exaktes Abkürzungsverfahren, das nur für eine Gesamtheit an Aussagen anwendbar ist: Der Einzelfall – Tonka – entzieht sich einer probabilistischen Beherrschbarkeit. Obwohl das singuläre Ereignis also einerseits in die statistische Ordnung eingeschlossen ist, ist es zugleich in dieser nicht völlig erfassbar und markiert auch hier eine epistemologische Lücke. Diese paradoxe Figur einer gleichzeitigen Ein- und Ausschließung des Ausnahmefalls in der statistischen Logik korrespondiert mit einer poetologischen Problematik bei Musil: Seine Novelle Tonka berichtet von einem singulären Ereignis, von einem einzigartigen, nicht-subsumierbaren und irreversiblen Ausnahmefall. Zugleich wird diesem jedoch durch seine narrative Umsetzung eine spezifische Funktion eingeräumt: Das Erlebnis der Novelle, so betont Musil 1914, biete ein »Beispiel«, an dem man zu erkennen glaubt, »wie alles in Wahrheit« (GW II, S. 1465) ist. Damit erfüllt die Novelle für Musil das »Wesentliche« der Dichtung, das er um 1918 in seinem Notizheft unter der Formel »Exempla docent« zusammenfasst: »Lehre in Beispielen« (Tb I, S. 489).71 Das Erlebnis der Ausnahme, das Musil zum poetischen Kern seiner Novellendichtung bestimmt hat, erscheint damit zugleich als Beispiel einer Lehre und verweist auf die historischen Ursprünge der Novellengattung als Erzählform des Exemplarischen.72 Da jedoch die Ausnahme per definitionem außerhalb jeder paradigmatischen Ordnung steht, kommt es zu einem eigentümlichen Widerspruch: Das Ereignis der Novelle wird zu einem ›Beispiel des Beispiellosen‹,73 es ist gleichermaßen von dem Gesetz der Repräsentation ein- wie auch ausgeschlossen. 71
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73
In einem Tagebucheintrag bestärkt Musil: »Vielleicht ließe sich sagen: Die Wissenschaft strebt nach dem Allgemeinen, die Kunst nach dem Exemplarischen.« (Tb I, S. 940) Später relativiert er diese Bestimmung und bestätigt damit gewissermaßen die folgenden Thesen: »Ich habe Dichtung einmal eine Lebenslehre in Beispielen genannt. Exempla docent. Das ist zuviel. Sie gibt Fragmente einer Lebenslehre.« (GW II, S. 971) So entstand die Novelle im 13. Jahrhundert aus dem theologischen exemplum. Vgl. den äußerst aufschlussreichen Artikel von Davide Giuriato: Kleists Poetik der Ausnahme, in: Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes (Hg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007 (= LiteraturForschung, Bd. 4), S. 224–239, hier S. 225, an den die folgende Argumentation angelehnt ist. Zur Bedeutung des Exempels bzw. des demonstrandum bei Musil vgl. auch Roger Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils. München 1984 (= Münchener germanistische Beiträge, Bd. 34), S. 216 f. Dies weist auch auf ein grundsätzliches Paradox hin, das der Gattung des exemplums eingeschrieben ist: die Spannung zwischen der paradigmatischen Dimension des Beispielhaften als Stellvertreter einer Regel und seiner Isolierung als besonderer Fall, als Ausnahme. So funktioniert nach Agamben das Beispiel nach dem Prinzip einer »ausschließenden Einschließung« eines Einzelfalls in einer Regel, da seine Zugehörigkeit ›herausgestellt‹ wird. Dem gegenüber funktioniert die Ausnahme nach der Formel einer »einschließenden Ausschließung« – die Ausnahme ist in die Regel eingeschlossen, da sie in Bezug zu dieser gesetzt wird. Die Ausnahme treibt demgemäß den eigengesetzlichen Teil des exemplums, der durch keine Regel eingeholt werden kann, auf die Spitze. Ausnahme und Beispiel sind in diesem Sinne letztendlich unun-
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Eben jenem Paradox widmet sich Musil in einem nachgelassenen Essayentwurf Das Gute in der Literatur aus den frühen 1920er Jahren und beschreibt es hier als Resultat eines historischen Wandels:74 Während in der bürgerlichen Dichtung der Aufklärung und Klassik, so Musil, das Exzeptionelle außerhalb bzw. im unlösbaren Widerspruch zur bestehenden Ordnung situiert wurde – also nach dem Prinzip der »Ausnahme vom Gesetz«75 –, müsse sich der zeitgenössische Dichter der »Ausnahme im Gesetz«76 zuwenden, d. h. den Widersprüchen und Lücken, die das Regelhafte selbst durchsetzen.77 Diese Verschiebung, so Musil weiter, beruhe auf einer neuen »Einstellung auf das Gesetz«.78 In der Moderne werde nämlich das Gesetz nicht mehr als unhinterfragbares Ganzes, sondern selbst als diskontinuierlich gedacht: »Die Ausnahmen scheinen doch irgendwie in die Regel geflochten zu sein« (GW II, S. 1016). Der Auftrag einer modernen Dichtung, die das Phänomen der Ausnahme zu ihrem Fluchtpunkt bestimmt, bestehe demnach weder in einer Exklusion der Ausnahme noch in der »[Ein]ebn[ung] d[er] Ausnahme in die (bürg.) Regel«.79 »Regel und Ausnahme«, die »seit hundert Jahren« »asyntaktisch nebeneinander bestehen«,80 sollen vielmehr in ihrem Verhältnis zueinander, in ihrer konstitutiven Nähe und Interferenz, in ihren Ein- und Ausschließungsmechanismen problematisiert werden. Regel und Ausnahme, Exemplarisches und Beispielloses, bilden in der Gegenwart keine strenge Opposition mehr, sondern eine paradoxe Simultaneität:81 »Regeln und Gesetze, Ausnahmen und Einschränkungen [werden] immer ähnlicher« (MoE, S. 823). Robert Musils Novelle Tonka beschreibt diese paradoxe Annäherung und macht dabei zugleich auf eine Korrespondenz des zeitgenössischen wissenschaftlichstatistischen und poetologischen Paradigmas aufmerksam: Tonkas Schwangerschaft ist weder Ausnahme noch Regel, sondern konstituiert einen Fall, dessen Abweichung immer im Bereich des Möglichen und gerade dadurch bei-
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78 79 80 81
terscheidbare Begriffe. Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002, S. 32; vgl. auch Giuriato: Poetik (s. Anm. 72), S. 229. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Das Gute in der Literatur/3. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Das Gute in der Literatur/3 (Hervorhebung M. S.). KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Das Gute in der Literatur/3 (Hervorhebung M. S.). Vgl. auch einen zeitgleichen Tagebucheintrag Musils mit ähnlicher Betonung: »Das bürgerlich Tragische mag der Widerstreit des Individuums gegen das Gesetz sein, das dichterisch Tragische ist der Widerspruch im Gesetz« (Tb I, S. 470). KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Das Gute in der Literatur/3. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Das Gute in der Literatur/3. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Das Gute in der Literatur/3. Vgl. Giuriato: Poetik (s. Anm. 72), S. 226.
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spielhaft für eine Moderne ist, in der kategoriale Grenzziehungen an Plausibilität verlieren. Das in Tonka inszenierte Ereignis der ›Ausnahme‹ beschreibt keinen Akt der Übertretung mehr, sondern evoziert einen infinitesimalen Prozess der Entdifferenzierung, in dem das Innen und Außen der Regel oszillieren.82 Die historische Freilegung eines solchermaßen entdifferenzierten ›Möglichkeitsraums‹ jedoch birgt utopisches Potential – darauf verweist nicht zuletzt auch die Ausstattung Tonkas mit Attributen eschatologischer Verheißung.83 Anomalien und Widersprüche sind in diesem Sinne nicht ausschließlich defizitär definiert, sondern erscheinen als Versprechen eines ›anderen Zustands‹, der die Aufforderung zu einer experimentellen, selbstverantwortlichen Schaffung neuer, möglicher Ordnungen impliziert.84 Dem Chemiker fällt nach dem Tod Tonkas »vieles [. . .] ein, das ihn etwas besser machte als andre, weil auf seinem glänzenden Leben ein kleiner warmer Schatten lag« (GW II, S. 306). Die Erfahrung – wie auch Darstellung – der Ausnahme als einmalige, vorbildlose und spontane Durchbrechung der Kontinuität erhält somit eine genuin ethische, wertschöpfende Qualität:85 »Dichtung ist lebendiges Ethos. [. . .] [E]ine Schilderung moralischer Ausnahmen. Aber von Zeit zu Zeit auch eine Zusammenfassung der Ausnahmenmoral.« (GW II, S. 971) So beschreibt Musil diese paradoxe, aber zugleich 82
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Vgl. Giuriato: Poetik (s. Anm. 72), S. 229 f. Eine solche Verschiebung des Verhältnisses von Regel und Ausnahme stellt auch Agamben: Ausnahmezustand (s. Anm. 8), S. 35, fest: Während im 18. Jahrhundert die Ausnahme noch etwas »Inkommensurables« ist, das mit rechtlichen Begriffen nicht zu erfassen ist, ist die Moderne durch den Versuch gekennzeichnet, »die Ausnahme in die Rechtsordnung selbst einzuschließen, und zwar durch die Schaffung einer Zone der Unbestimmtheit«. Vgl. Giuriato: Poetik (s. Anm. 72), S. 230, Anm. 28. Die spezifische Verheißung Tonkas besteht also darin, dass ihr ›Fall‹ den Chemiker aus seinen Denkgewohnheiten heraustreten und jenen Möglichkeitssinn entwickeln lässt, der Lebensentwürfe, Überzeugungen und soziale Verhältnisse immer wieder als »hypothetisch« zu reflektieren und adjustieren zwingt. Ein solches Denken der Potentialität, das – wie der statistische Raum – Wirklichkeit und Möglichkeit als zwei gleichberechtigte Seinsmodi behandelt, bildet zugleich die Voraussetzung von Musils Idee eines ›anderen Zustands‹. Das utopische Projekt eines neuen Selbst- und Wirklichkeitsverhältnisses, das im Mann ohne Eigenschaften zentral wird, ist in diesem Sinne bereits in Tonka aufgerufen als Erfahrung einer Entgrenzung, die dennoch in keinem Augenblick im Widerspruch zu einem exakten oder szientistischen Denken steht, vielmehr von diesem selbst attachiert wird. Gilles Deleuze betont in diesem Sinne die immanente Verknüpfung von Prozessen der ›Deterritorialisierung‹, d. h. der Loslösung und Überschreitung von Ordnungsgrenzen und der ›Reterritorialisierung‹ als Neuschaffung: »Letztlich ist es unmöglich, zwischen Deterritorialisierung und Reterritorialisierung zu unterscheiden, da sie sich wechselseitig enthalten oder die beiden Seiten ein- und desselben Prozesses ausmachen« (zit. nach Friedrich Balke: Gilles Deleuze. Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 147 f.). Auch Søren Kierkegaard bestimmt die Ausnahme als das höchste Maß an Individualität, das ein genuin singuläres, ethisches Leben der Verantwortung konstituiere. Gleichwohl fordert Kierkegaard eine Unterordnung der Ausnahme unter das Allgemeine. Vgl. M. Theunissen: Ausnahme, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A–C. Basel 1971, Sp. 667 f.
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immanent ethische Koinzidenz von Ausnahme und Regel in einer Poetik, die die Ausnahme nicht auszutreiben trachtet, sondern immer wieder aufs Neue die fluktuierenden, variablen Grenzen und Regeln des Regellosen selbst in den Blick nimmt.
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Robert Musils Netz-Werk Abstract: What is the relevance of the net-metaphor and the technique of cross-linking in Robert Musil’s works? This paper analyses the characteristics of Musil’s use of the netmetaphor against the backdrop of the net-concepts in the philosophy of Gilles Deleuze and Félix Guattari as well as in the sociology of Pierre Bourdieu and Bruno Latour. Musil employs the metaphor of the net on the one hand to visualize interrelations between ideas, on the other hand to conceptualize autogenous, self-regulating, self-reflecting psychological and social processes. Not least, especially in The Man without Qualities, cross-linkage constitutes a paradoxical writing process in which manifold lines of force tangle and likewise lines of flight open between the mashes.
1. Das Netz der Beziehungen »Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, wovon ein Buch handelt, und der Art, in der es gemacht ist«,1 meinen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Sehr wohl unterscheidet sich aber die Art, wie Menschen leben und wie sie davon sprechen – folgt man Ulrichs Gedanken bei seinem nächtlichen Gang durch die Stadt nach der Aussprache mit seinem Gegenspieler Arnheim: Die meisten Menschen [. . .] lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen »Lauf« habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem »Faden« mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (MoE, S. 650)
Ulrich kommt zu diesem Ergebnis aufgrund seiner intellektuellen Kompromisslosigkeit, die sich von Arnheims Haltung deutlich abhebt: Als »Großschriftsteller« bedient sich dieser jener diffusen Floskeln, die eine Erkenntnis des großen Ganzen vorspiegeln. Seine Abwertung des sezierenden Verstandes zugunsten der ›Seele‹ dient nicht nur der Selbstermächtigung, sondern auch der Kaschierung seiner Geschäftspraxis, die ein eindeutiges Telos verfolgt, indem sie sich ausschließlich an der Logik des ökonomischen Kalküls und der Gewinnmaximierung orientiert.
1
Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Französischen v. Gabriele Ricke u. Ronald Vouillié. Berlin 6 2005, S. 13.
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Im Gegenzug zu solch profaner Teleologie lässt Musil Ulrich über eine metapoetische Metapher reflektieren, die für die ateleologische Struktur des eigenen Romans kennzeichnend ist: die »unendlich verwobene[ ] Fläche«. Ihr Gegenbild ist bei Deleuze/Guattari das »Wurzel-Buch« als »schöne Innerlichkeit, organisch, signifikant und subjektiv«.2 Eben die im Baummodell vorausgesetzte Logik binärer Dichotomien, die »von einer starken grundlegenden Einheit ausgehen«,3 wird im Mann ohne Eigenschaften zurückgewiesen. Bekanntlich verwendeten Deleuze und Guattari das Rhizom als Modell einer dezentralen, offenen Struktur und irreduziblen Vielheit, der jede individuierende Einheit fehlt. Das Rhizom bezeichnet auf der ontologischen Ebene »ein natürliches Prinzip, das sich in einem vernetzten System organisiert«,4 auf der epistemologischen einen Darstellungsmodus. Der offenen Netzstruktur der Welt durch ein offenes Netz-Werk des Schreibens gerecht zu werden, ist Musils Programm: Während die spezialisierten Wissenschaften die Tatsachen ihrer jeweiligen Gegenstände möglichst präzise zu analysieren hätten, sei es die Aufgabe der Dichter, die Beziehungen zwischen den Tatsachen und Einzelerkenntnissen zu erforschen. So heißt es in Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918): »Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden.« (GW 8, S. 1029) Der Dichter, wie ihn Musil versteht, muss also nicht nur Möglichkeits-, sondern auch »Beziehungssinn«5 besitzen. Dieses genuin dichterische Erkenntnisvermögen geht über die begrifflichen Verallgemeinerungen wissenschaftlicher und philosophischer Systematik hinaus. Ganz im Sinne des Rhizom-Modells sieht Musil die Unberechenbarkeit des Partikularen und die »Unendlichkeit der Gegenstandsbeziehungen« (GW 8, S. 1030) zwischen Empfindung, Wahrnehmung und Handeln, Ästhetik und Ethik als Kerngebiet der Literatur.
2. Akteur-Netzwerk Um die Funktion des Netzwerk-Modells bei Musil genauer zu bestimmen, lohnt sich ein Seitenblick auf Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie. Es geht hierbei weniger um Musils soziales Agieren als um das in seinen Texten entworfene Modell des Zusammenlebens. Wie für Musil so ist auch für Latour das Handeln der Menschen Effekt mannigfaltiger Kräfte: »Handeln ist ein Knoten, eine Schlinge, ein Konglomerat aus vielen überraschenden 2 3 4 5
Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus (s. Anm. 1), S. 14. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus (s. Anm. 1), S. 14. Klaus Lüber: Deleuzes Rhizom, in: http://waste.informatik.hu-berlin.de/koubek/netze/ rhizom/rhizom.pdf (Zugriff am 26. 5. 2012), S. 6. Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996, S. 9.
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Handlungsquellen, die man eine nach der anderen zu entwirren lernen muß.«6 Ein Netz besteht Latour zufolge aus »sternförmigen Verzweigungen, deren Linien zu anderen Punkten führen, die wiederum aus nichts als aus neuen Verbindungen bestehen.«7 In Musils Texten ist das Netz Metapher gesellschaftlicher Verstrickungen. Deren einengender, regulativer Aspekt wird im Mann ohne Eigenschaften besonders markant durch die Figur Clarisse erzählerisch gestaltet. Clarisse, deren Rebellion gegen die in der patriarchalen Gesellschaft der Vorkriegszeit sanktionierten weiblichen Rollen und Identitäten sich bis zum Wahnsinn steigert, verwendet in einem Brief an Ulrich ein technisches Netzwerk, nämlich das Schienennetz, als Bild repressiver Normen und kollektiver Regelsysteme, die den Einzelnen von jeder Entscheidung und persönlichen Verantwortung dispensieren: »In dem ungeheuren Netz von Schienen, das sich um den ganzen Erdball zieht, verlieren wir alle die Kraft des Gewissens.« (MoE, S. 713) Folglich können die Menschen, so Clarisses Botschaft an Ulrich, nicht mehr »das Nötige tun und das Unglück vermeiden« (MoE, S. 713). Wenn Clarisse die Metapher des Schienennetzes wörtlich nimmt, so trifft sie genau das, was im Roman als das Zwanghafte der durch Konvention und Gewöhnung eingeschliffenen Bahnungen – und der daraus resultierenden Zusammenstöße – erscheint. Wie sehr sich die Organisation des öffentlichen Lebens, insbesondere der Staat zu einem engmaschigen Netz verdichtet, zeigt der Erzählerkommentar zu einer Szene, in der Ulrich zusammen mit einem betrunkenen Arbeiter verhaftet wird – und über diesen Umweg dann ironischerweise zum Sekretär der ›Parallelaktion‹ avanciert: Nun hat der ständige Lebensaufenthalt in einem wohlgeordneten Staat aber durchaus etwas Gespenstisches; man kann weder auf die Straße treten, noch ein Glas Wasser trinken oder die Elektrische besteigen, ohne die ausgewogenen Hebel eines riesigen Apparats von Gesetzen und Beziehungen zu berühren, sie in Bewegung zu setzen oder sich von ihnen in der Ruhe seines Daseins erhalten zu lassen; man kennt die wenigsten von ihnen, die tief ins Innere greifen, während sie auf der anderen Seite sich in ein Netzwerk verlieren, dessen ganze Zusammensetzung überhaupt noch kein Mensch entwirrt hat; man leugnet sie deshalb, so wie der Staatsbürger die Luft leugnet und von ihr behauptet, daß sie die Leere sei, aber scheinbar liegt gerade darin, daß alles Geleugnete, alles Farb-, Geruch-, Geschmack-, Gewicht- und Sittenlose wie Wasser, Luft, Raum, Geld und Dahingehn der Zeit in Wahrheit das Wichtigste ist, eine gewisse Geisterhaftigkeit des Lebens; es kann den Menschen zuweilen eine Panik erfassen wie im willenlosen Traum, ein Bewegungssturm tollen Umsichschlagens wie ein Tier, das in den unverständlichen Mechanismus eines Netzes geraten ist. (MoE, S. 156 f.)
6 7
Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie. Aus dem Englischen v. Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 2007, S. 77. Latour: Eine neue Soziologie (s. Anm. 6), S. 230.
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Der Staat repräsentiert jene Macht, die den Körper, das Denken und das Handeln der Individuen bis in die feinsten Verästelungen hinein mit den Institutionen vernetzt. Das Gewebe der Zwangsmechanismen und institutionellen ›Hebelwerke‹ markiert den einen Pol in Musils Verwendung der durch große Schwingungsamplitude gekennzeichneten Netzmetapher. Am anderen Pol dieses Spannungsfeldes ist das Netzwerk Bild eines unabschließbaren komplexen Beziehungsgefüges – so in einem Notat zum Komplex »Arnheim und Diotima« aus dem Jahr 1928: »Denn wirkliches geistiges Leben ist ein unendliches Netzwerk von Abhängigkeiten«.8 Solche Einbettung des »geistigen Lebens« in seinen historischen und sozialen Kontext mutiert aber kaum merklich zur Gefangenschaft in bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und epistemologischen Verschleierungsstrategien, in der durch Einschleifung und Gewöhnung hervorgerufenen »formelhafte[n] Verkürzung« (GW 8, S. 1152) des Denkens und Fühlens. Daraus resultiert die Welt des »Seinesgleichen«, die der Roman im 34. Kapitel des Ersten Buchs, »Ein heißer Strahl und erkaltete Wände«, in der erlebten Rede Ulrichs wie folgt charakterisiert: »Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle.« (MoE, S. 129) Dieses Netz historisch abgelagerter Formen des Denkens, Sprechens und der symbolischen Verständigung mit ihrem eingespielten Repertoire der Gefühlsbahnungen und Verhaltensweisen prägt im Mann ohne Eigenschaften die öffentlichen wie privaten Beziehungen und Interaktionen zwischen den Figuren. So scheitert im Roman auch der wichtigste Versuch, aus diesem Netz auszubrechen: die Geschwisterliebe Ulrichs und Agathes, welche die herrschende soziale und familiale Ordnung subvertiert. In einer der Notizen zur »Zwillings-Elaborationsphase«9 aus dem Zeitraum 1924–26 wird für dieses Scheitern folgender Vergleich gewählt: »Die Welt wie ein Netz gespannt, in dem man sich verfängt.«10 Die Metapher des Netzes nimmt hier auf seine Zugehörigkeit zur Natur wie zur Technik Bezug – etwa auf das Spinnen- oder das Fischernetz.11 Wenn Musil in derselben Notiz bemerkt: »Das Leben des Körpers vollzieht sich unabhängig von der Vernunft. Wie das Summen der Bienen. Ebenso das Leben der Seele«,12 wird deutlich, dass die sozialen und kulturellen Codierungen die Physis und die Psyche der Individuen so sehr 8 9 10 11
12
KA/Transkriptionen/Mappe VII/3/105. KA/Kommentare/Seitendokumentation/Mappe VII/8/66. KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/66. Christian J. Emden: Netz, in: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Darmstadt 2007, S. 248–260, hier S. 249, hebt hervor, dass in der deutschen Sprache zwischen natürlichen und technischen Netzen »kaum unterschieden wird, [dagegen] differenziert das Englische zwischen web und net und das Französische zwischen einerseits toile und andererseits einer ganzen Reihe künstlicher Netze wie filet, reseau und voile.« KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/66.
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bestimmen, dass jedes Aufbegehren und jeder Widerstand von ihnen wieder eingeholt wird, sich in ihnen »verfängt«. Explizit durch das Spinnennetz wird in einer Vorstufe von 1927/28 zum 28. Kapitel des Ersten Buches das komplexe System der Zusammenhänge verbildlicht, in dem der Mensch gefangen ist: #zwischen ewigen Dingen u von ihm verfertigten Gebrauchsgegenständen# \dort| zappelt #der Mensch# Beziehungen – bald \weit| wie Sonnenstrahlen fahrend – bald wie das Netz einer Spinne wie eine Spinne, die nicht mehr weiß, was Mauer, was Spinndrüse, was Fliegen=, was Spinnenbein ist.13
Diese Passage wird in die endgültige Version des 28. Kapitels – »Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat« – nicht aufgenommen. Stattdessen wird die Vielfalt und Verworrenheit der Beziehungen und Bedeutungen an »einem so einfachen Ding, wie es das Wasser ist« (MoE, S. 113), exemplifiziert. Und nicht zufällig erinnert sich der denkende Ulrich daran, dass er »alles das wirklich Clarisse erzählt hatte« (MoE, S. 113). Denn mit der Gefangenschaft der Menschen in einem für sie undurchschaubaren Netz von Gegenstandsbeziehungen korrespondiert das undurchdringliche Netz der zwischenmenschlichen Relationen. Dass auch die intimsten individuellen Beziehungen im Netz sozialer Macht- und Kräfteverhältnisse verstrickt sind, manifestiert sich exemplarisch im von Anfang an verfahrenen Zustand der Ehe Walters und Clarisses. Dieser partnerschaftliche Deadlock, in dem Walter und Clarisse eingeklemmt sind, ist seinerseits symptomatisch für die Aporie der von ihnen repräsentierten zeitgenössischen Diskurse14 – womit sich der Kreis schließt und das Netz noch enger zusammenzieht. Deutlich wird an dieser Stelle die poetologische Produktivität der Netzmetapher: Die Netzwerk-Struktur bezeichnet die Art, wie die Figuren des Romans aufeinander bezogen sind und wie sie miteinander interagieren. Da diese Figuren immer schon Träger von Wissen, Paradigmen von Denk-, Empfindungs- wie Verhaltensformen und nicht zuletzt von Sprechweisen sind, visualisiert und modelliert die Netzwerkmetapher die interdiskursiven und epistemologischen Verschränkungen, die Musils Programm einer neuartigen Verknüpfung von Wissen und Erzählen zugrunde liegen. Wissensdiskurse werden im Wechsel subjektivierender und objektivierender, selbstreferentieller und selbstironischer Erzählverfahren gegenseitig perspektiviert und relativiert.15 Erzählen als Vernetzungsverfahren ermöglicht es dem Ver13 14
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KA/Transkriptionen/Mappe VII/6/396. Zur zeitdiagnostischen Funktion der Figuren Walter und Clarisse vgl. Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 788–799. Vgl. Irmgard Honnef-Becker: Selbstreferentielle Strukturen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: Wirkendes Wort 44 (1994), S. 72–88; Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (s. Anm. 14), S. 1140 f.
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fasser, erstarrte Wissensformationen analytisch aufzubrechen und die eigene Position als Beobachter im Dazwischen anzusiedeln, anstatt sie eindeutig zu bestimmen und unumstößlich festzulegen.16 Zugleich wird in den Schriften Musils der Netzmetapher ein hoher heuristischer Wert zugesprochen. Die im obigen Zitat aus einer Vorstufe zum »Gedanken«-Kapitel des Mann ohne Eigenschaften implizierte Vorstellung der organisch-technischen Verwachsenheit von Produzent und Produkt wie der Ununterscheidbarkeit von Täter und Opfer im Netz-Werk wird schon im Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) präludiert: »Diese Erwachsenen und ganz Gescheiten haben sich da vollständig in ein Netz eingesponnen, eine Masche stützt die andere, so daß das Ganze Wunder wie natürlich aussieht; wo aber die erste Masche steckt, durch die alles gehalten wird, weiß kein Mensch.« (GW 6, S. 82) Es ist das Bedürfnis nach Sicherheit, aus dem der Wunsch erwächst, sich in solche Netze einzuspinnen. Die psychologische und kulturanthropologische Bedeutung des Sicherheitsnetzes wird in einem späten Tagebucheintrag von 1940 durch eine politische ergänzt: Demokratie ist darum am meisten vorhanden, wo das föderalistische Prinzip am ausgeprägtesten ist. Um nicht zur Zersplitterung zu führen: umfaßt die ganze Welt mit einem Netz von wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Solidaritätsformen. Dieses Netz soll aber das individuelle Leben nicht ersticken, sondern schützen.17
Ist die Netzwerkstruktur die demokratische Alternative zur zentralistischen Machtkonzentration, so garantiert sie aber keineswegs per se die Freiheit der Einzelnen. Wie die bisher genannten Belege zeigen, ist Musils Verwendung der Netzmetapher ambivalent. Zwar mag der Grund für die Erzeugung künstlicher Netzwerke und für die Bereitwilligkeit, mit der sich Menschen in ihnen einrichten, das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit sein. Ihr Effekt ist aber bei Musil vornehmlich ein Freiheitsverlust, der jede Bewegung sistiert und das Leben erstickt. Musils Roman-Schreiben kann auch als Versuch gesehen werden, durch Lockerung der regulatorischen Regimes der ›Erstickungsgefahr‹ im Netz der Beziehungen entgegenzuwirken. An die Stelle fixierter Knotenpunkte treten Kraftlinien, ein bewegliches System von Wechselwirkungen. Festgefügte Strukturen lösen sich in Prozesse auf, offene und geschlossene Netzgefüge stehen einander nicht dichotom entgegen, sondern gehen ineinander über.
16
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Wie sehr sich Musil auch im Politischen dagegen sträubte, sich zu einer Partei oder einem Lager vorbehaltlos zu bekennen, hat Klaus Amann detailliert nachgewiesen. Vgl. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007. KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Tagebuchhefte/I/30.
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3. Psychologische Feldtheorie Musils Netzwerk-Konzeption greift auf zeitgenössische Entwicklungen in der Psychologie und Physik zurück. Im Entwurf des zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Essays Der deutsche Mensch als Symptom (1923) heißt es: »Den Problemen des Raums und der Zeit sind von der Psychologie wie von der Mathematik und Physik neue Ansichten abgewonnen worden, die Struktur der Materie wurde in ein Netz neuer Beziehungen aufgelöst« (GW 8, S. 1384). Wenn Musil an die Stelle statischer Strukturen Beziehungsnetze setzt, kann er sich auf Kurt Lewins Psychologie berufen. Denn dessen psychologische Feldtheorie berücksichtigt die Kräfte, von denen eine geometrische Netzstruktur abstrahiert. Musil teilte mit Lewin eine experimentalpsychologische Ausbildung bei Carl Stumpf in Berlin und exzerpierte später ausführlich zwei Aufsätze von Lewin.18 Wie sich bei diesem das Verhalten in einem von Energien durchzogenen Feld konstituiert, so eröffnet auch Musil im Mann ohne Eigenschaften ein Spiel erzählerischer und diskursiver Kräfte, in dem Figuren, Ideen und Affekte aufeinander einwirken und miteinander interagieren. An die Stelle von Substanzen treten Funktionen.19 Tatsachen sind nichts als »momentane Überschneidungen«,20 Vorfälle ereignen und Akteure konstituieren sich im kontingenten Zusammentreffen von Energien. Der Mensch wird, was er tut.21 Diese Formel, die Robert Musil 1922 prägte, ist symptomatisch für einen epochalen Umbruch. Das, was den Menschen ausmacht, wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts tendenziell nicht mehr von einer Ursache abgeleitet, einer treibenden Kraft – sei es Gott oder das Bewusstsein eines Subjekts, seien es Nerven und Reize –, sondern als ein Phänomen der Emergenz verstanden, das erst aus Handlungen hervorgeht. Im Mann ohne Eigenschaften belehrt Ulrich den vom Versagen des Zivilgeists enttäuschten, »Trost fordernd[en]« (MoE, S. 1151) General Stumm: 18
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Kurt Lewin: Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie I. Vorbemerkungen über die seelischen Kräfte und Energien und über die Struktur des Seelischen, in: Psychologische Forschung 7 (1926), S. 294–329; Kurt Lewin: Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie II . Vorsatz, Wille und Bedürfnis, in: Psychologische Forschung 7 (1926), S. 330–385. Daraus Exzerpte in: KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/130–148. Zum Verhältnis Musil/Lewin vgl. Roland Innerhofer, Katja Rothe: Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen. Robert Musil und Kurt Lewin, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33/4 (2010), S. 365–381. Zur zeitgenössischen philosophischen Grundlage des Übergangs vom »Substanzdenken« zum »Funktionsdenken«: Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910]. Darmstadt 2000 (= Gesammelte Werke. Hg. v. Birgit Recki, Bd. 6). Maurice Blanchot: Musil, in: ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. München 1962, S. 184–206, hier S. 190. Vgl. Robert Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste [1922], in: GW 8, S. 1075–1094, hier S. 1081: »Dieses Wesen [der Mensch, R. I.] ist ebensoleicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft. Man soll nicht immer denken, daß es das tut, was es ist, sondern es wird das, was es – aus Gott weiß welchen Gründen – tut.«
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»Der Geist ist ins Leben verflochten wie ein Rad, das er treibt und von dem er gerädert wird« (MoE, S. 1152) – und eben diese Verflechtung begreiflich und fühlbar zu machen, ist das Erzählprojekt von Musils Roman. Erklärt das Parallelprojekt der Psychoanalyse Verhaltensmuster als Teil einer Persönlichkeitsstruktur, die durch Aufdeckung und Aufarbeitung der individuellen Lebensgeschichte verändert werden kann, so ist nach Lewins Feldtheorie das Verhalten aktuale Funktion der interdependenten Größen Person und Umwelt, die ihrerseits jeweils als Kraftfelder strukturiert sind. Suchte Freuds Theorie ihre Bildquellen zunehmend in der Mythologie, so orientierte sich die psychologische Feldtheorie an der Mathematik und Physik. Mit dem Wissen vom Elektromagnetismus war die Welt der Physik keine mechanische mehr, sondern eine von Feldern bestimmte – von Effekten aus und in Wechselwirkungen. Lewin stellte aus holistischer Perspektive die Mensch-Umwelt-Beziehungen unter räumlich-relationalem Vorzeichen in den Vordergrund. Die psychologische Person – selbst ein gegliedertes psychologisches Feld – bewegt sich entlang der durch die räumliche Struktur vorgegebenen »Wege« als Vektor in die Umwelt hinein und verhält sich je nach den Relationen des Angrenzens, des Entferntseins, des Einschließens und Ausschließens zu den Valenzen der Kraftfelder.22 Das psychologische Feld ist ein »hodologischer«23 Raum, der erst im Vollzug der Erfahrung innerhalb einer dynamischen, energiegeladenen, relationalen Umwelt entsteht. Bei Musil wird die psychologische Feldtheorie mit der epistemologischen Funktion der Netzwerkmetapher verbunden. Diese verweist auf die Komplexität der tatsächlichen und möglichen Beziehungen und Abhängigkeiten, die die Sprache und das Denken ebenso wie das individuelle und kollektive Handeln kennzeichnet. Durch die Überlagerung mit der Metapher der Kraftfelder verliert die Netzwerkmetapher ihre Statik: An die Stelle festgelegter Orte und Positionen im Raum tritt ein bewegliches, zeitgebundenes Netz veränderlicher Kräfte und Relationen. Wie nahtlos sich die psychologische Feldtheorie mit dem sozialen Netzwerkmodell verbinden lässt, zeigt in der gegenwärtigen Soziologie Pierre Bourdieus Konzeption vom Feld des Sozialen »als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Positionen«,24 von veränderlichen Kräfteverhältnissen und Interaktionen.25 Bourdieu konnte sich in seinem Verständnis gesell22 23 24 25
Vgl. Kurt Lewin: Grundzüge der topologischen Psychologie [1936]. Aus dem Englischen u. hg. v. Raymund Falk u. Friedrich Winnefeld. Bern u. a. 1969. Kurt Lewin: Der Richtungsbegriff in der Psychologie: Der spezielle und allgemeine Hodologische Raum, in: Psychologische Forschung 19 (1934), S. 249–299. Pierre Bourdieu, Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Übersetzt v. Hella Beister. Frankfurt a. M. 1996, S. 127. Äußerst subtil und umsichtig greift Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (s. Anm. 14) auf Bourdieus literatursoziologische Verfahren zurück, um die gesellschaftsanalytische Dimension von Musils Werk, besonders seines Romanprojekts Der Mann ohne Eigenschaften, zu rekonstruieren.
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schaftlicher Prozesse auf die Tradition eines Émile Durkheim, Max Weber oder Georg Simmel berufen, die bereits an die Stelle kausaler Begründungen sozialen Handelns »ein Netzwerk dynamischer Beziehungen zwischen Akteuren und Gruppen«26 setzten. Die Einbettung der Akteure in mannigfaltige Beziehungsnetze verschiedener Reichweite und Dichte stellte zuletzt die soziale Netzwerkanalyse heraus.27 Für Musil wie für Lewin resultiert die psychische Struktur aus teils interagierenden, teils unabhängig voneinander wirkenden, verschieden starken Kräften. Der Mann ohne Eigenschaften ist in diesem Sinn als multizentrisches Netzwerk strukturiert.28 Als Hybrid polyfokaler Narrativität und essayistischer Diskursivität spannt er im Schriftmedium ein Kraftfeld beweglicher Relationen auf, in dem zahllose Positionen und Energien zusammen- und entgegenwirken. An die Stelle einer kontinuierlichen chronologischen Ordnung tritt eine Zerrissenheit, in der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges gleichzeitig verlaufen, weit auseinander zu liegen scheinende Schauplätze und an verschiedene zeitliche Ordnungen gebundene Handlungsstränge in eine unerwartete Nähe rücken. Der Roman trägt der »neue[n] Zeit multipolarer Beziehungen« (MoE, S. 1903) Rechnung, in der »paradoxe Gefühlsgemische«29 und das unvermittelte Nach- und Nebeneinander widersprüchlicher Verhaltensformen derselben Person nicht pathologische Ausnahmen, sondern die Regel bilden. Im Feld des Romans werden disparate Praktiken und Wissensbestände aneinander gemessen und unentwegt umgestellt, verrückt, relativiert. Radikal subjektive, von der Beobachterposition abhängige Verhaltensweisen finden in ihrerseits dynamischen Räumen statt. Sinnbild dieser Topologie des Möglichen ist die ›Parallelaktion‹, über deren Entstehung es heißt: Indes bestand die Parallelaktion eigentlich damals noch gar nicht, und worin sie bestehen werde, wußte selbst Graf Leinsdorf noch nicht. Wie sich mit Sicherheit sagen läßt, war das einzig Bestimmte, was ihm bis zu jenem Zeitpunkt eingefallen war, eine Reihe von Namen. Aber auch das ist ungemein viel. Denn so bestand in diesem Zeitpunkt, ohne daß irgend jemand eine sachliche Vorstellung zu haben brauchte, schon ein Netz von Bereitschaft, das einen großen Zusammenhang umspannte; und man darf wohl behaupten, daß dies die richtige Reihenfolge ist. (MoE, S. 137) 26 27
28
29
Emden: Netz (s. Anm. 11), S. 256. Vgl. etwa Christian Gulas: Netzwerke im Feld der Macht. Zur Bedeutung des Sozialkapitals für die Elitenbildung, in: Elisabeth J. Nöstlinger, Ulrike Schmitzer (Hg.): Bourdieus Erben. Gesellschaftliche Elitenbildung in Deutschland und Österreich. Wien 2007, S. 68–94. Zum Mann ohne Eigenschaften als plurizentrischer Diskursraum vgl. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), bes. S. 345–350. Vgl. dazu auch Luhmanns Theorie der Selbstreferentialität der als polyzentrische Netzwerke strukturierten sozialen Systeme: Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984. Robert Musil: Der deutsche Mensch als Symptom [1923], in: GW 8, S. 1353–1400, hier S. 1368.
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Doch dieses Netzwerk, aus dem in Leinsdorfs Erwartung nicht nur selbsterzeugende, selbststeuernde und selbstreflektierende soziale Prozesse, sondern auch politische Entscheidungen hervorgehen sollten, erweist sich als wenig tragfähig. Im Verlauf des Romans erweist sich die ›Parallelaktion‹ als Paradigma einer politischen und sozialen Unübersichtlichkeit: Bei der großen Sitzung der ›Parallelaktion‹, der die letzten fünf Kapitel des zu Lebzeiten publizierten (dritten) Teils des Mann ohne Eigenschaften gewidmet sind, erfährt das Durcheinander der Ideen und Intentionen der Einflussreichen aus dem Bereich von Politik und Kultur, von ›Besitz und Bildung‹ eine letzte Klimax. Progressive und konservative, aristokratische, bürgerlich-liberale, völkische und sozialreformerische Kräfte vermengen sich in einem undurchsichtigen Knäuel, in dem die Positionen in ihr Gegenteil umschlagen oder wechselnde, überraschende Abspaltungen, Koalitionen und Fusionen bilden. Diese von Ulrich konstatierte »unendliche Unordnung« (MoE, S. 1037) entzieht dessen im 103. Kapitel des Ersten Buchs ausgeführtem Gedankenexperiment den Boden: Der »erregt[en]« (MoE, S. 486) Gerda hatte Ulrich provokant vorgeschlagen, die Wirrnis widerstrebender Kräfte als »Experimentalgemeinschaft« zu betrachten, in der zwar das Handeln der Einzelnen »falsch«, »hirnlos« und »einseitig«, das Gesamtergebnis aller Handlungen aber doch »fruchtbar« sei (MoE, S. 490). Das Nebeneinander des Widersprüchlichen und Inkompatiblen führt schließlich in einem 1936 entstandenen Kapitelentwurf zur »Schlußsitzung« der ›Parallelaktion‹ zu deren Auflösung, die mit der »Flucht aus dem Frieden« (MoE, S. 1933), dem Ausbruch des Krieges zusammenfällt. Die Kapitulation vor dem undurchschaubaren Geflecht von Ideen, Interessen und verdeckten Absichten führt in der großen Sitzung am Ende des fertiggestellten Romantextes der staatlich approbierte Journalist Regierungsrat Meseritscher vor: Sein Bericht begnügt sich mit der schieren Aufzählung der anwesenden Prominenten, mit der »Reihe der Namen«, die schon am Ursprung der ›Parallelaktion‹ stand. Bar jeder Struktur beschränkt sich das Massenmedium Zeitung, wie Inka Mülder-Bach treffend bemerkt, auf ein »Verarbeitungsniveau«, auf dem »alles und jedes in der Eindimensionalen einer ungerichteten Reihe [. . .], deren Elemente beliebig aufeinanderfolgen«,30 untergebracht wird. Musils durch eine offene, dynamische Netzwerkstruktur modellierte Romanpoetik ist dessen Antwort auf eine epistemologische und ästhetische Aporie: Zum einen ist ihr der Versuch, der Disparatheit der Phänomene durch ihre genaueste, oft geradezu mikroskopische Beobachtung gerecht zu werden, anstatt sie voreilig einem begrifflich Allgemeinen und damit den eingespielten Wahrnehmungs-, Denk- und Sprachformeln unterzuordnen, unverzichtbar; 30
Inka Mülder-Bach: Poesie der Grammatik. Texturen des Geistes im Mann ohne Eigenschaften, in: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 173–192, hier S. 188.
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zum anderen aber führte die Aufgabe jedes intellektuellen Ordnungsbegehrens eben zu jener »Imbezillität« (MoE, S. 1015) der additiven Reihung, die dem Erzählerkommentar zufolge nicht nur einen Klatschjournalisten à la Meseritscher mit den »Geistesschwachen« vereint, sondern auch für den Zustand, in dem sich die gesamte Menschheit befindet, bedeutsam ist: Denn das Gemeinsame, um das es sich da handelt, ist ein Geisteszustand, der durch keine weitspannenden Begriffe zusammengehalten, durch keine Scheidungen und Abstraktionen geläutert wird, ein Geisteszustand der niedersten Zusammenfügung, wie er sich am anschaulichsten eben in der Beschränkung auf das einfachste BindeWort, das hilflos aneinanderreihende »Und« ausdrückt, das dem Geistesschwachen verwickeltere Beziehungen ersetzt [. . .]. (MoE, S. 1015)
Diese »verwickeltere[n] Beziehungen« können nicht durch systematische Ordnungen oder teleologische Erzählformen, die auf der zeitlichen Abfolge von Ursachen und Wirkungen beruhen, adäquat abgebildet werden. Ebenso wenig sind die verschiedenen Figuren als Träger von Wissen, als Vertreter von Praktiken, als Verkörperungen von Affekten auf ein Ziel hin zu vereinheitlichen, ihre Interaktionen bilden vielmehr ein Feld unberechenbar wechselnder Vektoren und Attraktoren. Die Figuren bewegen sich auf der Kippe zwischen relational-relativierender Ordnung und sinnlicher Gewissheit des Affekts, der sich gerade in seiner Mechanik der bewussten Steuerung entzieht. Musils Konzeption des Romans als Netzwerk, dessen Struktur von der Zeit abhängt und durch dynamische Relationen und Kräfteverhältnisse permanent verändert wird, erlaubt es, das Zusammenspiel zwischen der Wirrnis der Phänomene einerseits, ihrer symbolischen Verarbeitung und intellektuellen Durchdringung andererseits ergebnisoffen zu gestalten. Ein solches Romankonzept lässt – in einer paradoxen metagenerischen Selbstaufhebung – keinen endgültigen Abschluss des Schreibprozesses zu.31
4. Bewegungs- und Erzählformen im Netz Stattdessen konstituiert der fragmentarische, alineare und ateleologische Romantext ein topologisches Feld, das ohne Anfang und Ende ist, an jeder Stelle betreten und kreuz und quer durchschritten werden kann. Wenn nach Deleuze/Guattari »das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General«32 ist, so will im Gegenzug im Mann ohne Eigenschaften General Stumm in die chaotische Welt der Ideen eine militärisch-strategische, d. h. ziel- und zweckgerichtete Ordnung bringen. Der Roman demonstriert aber die Vergeblichkeit wie die Gefährlichkeit solchen Steuerungsbegehrens. Statt Höhe- und Schlusspunkte zu setzen, »breitet [er] 31 32
Der Mann ohne Eigenschaften nimmt unter diesem Gesichtspunkt gegenwärtige prozessorientierte Schreibformen im digitalen Netz vorweg. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus (s. Anm. 1), S. 36.
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sich« wie das Leben »in einer unendlich verwobenen Fläche aus« – in einem Gestrüpp der Beziehungen, in dem auch entfernte Punkte durch ›unterirdische‹ Stränge und Kraftlinien miteinander verbunden sind. In den Worten von Deleuze/Guattari: »Es ist nicht einfach, die Dinge von der Mitte her zu sehen, statt von oben auf sie herabzusehen oder von unten zu ihnen hinauf, oder von links nach rechts oder umgekehrt.«33 Solcher Unübersichtlichkeit der Text-Fläche entspricht exemplarisch Ulrichs Verhalten. Er scheint sich zwar im Zentrum eines Spinnennetzes zu befinden, da alle Figuren mit ihm in Verbindung stehen und meistens erst auftreten, wenn er mit ihnen in Kontakt tritt oder seinen Blick auf sie wirft. Doch ist sein Handeln keineswegs souverän, sondern Ergebnis steuernder und determinierender Kräfte, mit denen er in Verbindung kommt: Er »spürte, daß von einem Menschen ein Netz von Kreuz- und Querlinien ausging, und daß er – an und für sich ein Stück gleichgültigen Korks – einen kleinen Magnet trug, der ihn in diesem Feld von Kraftlinien zu bewegen begann«,34 heißt es in einer Vorstufe zum Mann ohne Eigenschaften (1924/25) zum Verhältnis zwischen Ulrich und Walter. Ulrichs Weg ist deshalb nicht durch zielgerichtete Progression, sondern durch Digression,35 durch Abbrüche und Neuansätze gekennzeichnet. Wege werden abgeschnitten, Bewegungen verlegt. Dem entspricht die Form des Romans, die sich nicht am Modell der Genealogie, sondern an dem der Montage orientiert. Ulrichs Bewegung im Netz der Kräftelinien konturiert sich im Kontrast zu der seines Gegenspielers Arnheim. Dieser ist der Spekulant,36 der auf die Zukunft wettet und so das neue Steuerungsdispositiv in einem beweglichen Kräftefeld zu seinem Beruf macht. Als Großindustrieller und Großschriftsteller profitiert er vom Zerfall des Wissens in Spezialgebiete, indem er das Bedürfnis nach Einheit durch Gesten des Universalen befriedigt. Die Metapher der Verflechtung wird in der Charakterisierung Arnheims gleich zweimal verwendet: Als »Großschriftsteller« ist Arnheim in »Betriebsamkeit verflochten« (MoE, S. 429). Der Verkehr mit möglichst vielen begründet seinen Erfolg, da »sein Gedeihen mit dem Gedeihen zahlloser anderer Menschen auf das innigste verflochten ist« (MoE, S. 431). Arnheim eignet sich gerade deshalb zum Mann der Verbindungen, zum Knotenpunkt im Netzwerk, weil er den flexiblen Spalttypus repräsentiert: Als Schriftsteller ist er Haussier und glaubt an die steigende Kraft der Ideen, als Geschäftsmann dagegen Baissier: List, 33 34 35
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Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus (s. Anm. 1), S. 39. KA/Lesetexte/Bd. 4 MoE/Die Zwillingsschwester/s5+d+1. Zum Begriff Digression vgl. Markus Klammer, Stefan Neuner: Was ist ein Weg? Bewegungsformen in einer globalen Welt. Exposé, in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie der Gestaltung und Kunst, Zürich 16–17 (2011), S. 4–15, hier S. 12. Zur Konturierung der Figur des Spekulanten im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Urs Stäheli: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie. Frankfurt a. M. 2007.
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Zwang und Gewalt sind für ihn die einzig kalkulierbaren Größen, »dressierte Niedrigkeit«37 das solide Fundament gesellschaftlicher Ordnung. Ulrich dagegen verkörpert den Essayisten: In ihm fallen Denk-, Schreibund Lebensform zusammen. Er folgt einer Grammatik, die den Modus potentialis privilegiert. Für den Essayismus ist das Potentielle das auch im Jetzt mögliche Viele, während das Spekulative das mögliche Eine der Zukunft ist. So nimmt der Essayist »ein Ding von vielen Seiten« und bewertet Handlungen holistisch in Relation zu einem »unendlichen System von Zusammenhängen« (MoE, S. 250), während der Spekulant die Fähigkeit besitzt, sich für das Eine zu entscheiden. Der Essayist weiß, dass Verhaltensstrategien der Logik des Fiktiven gehorchen. Dieses Wissen geht allerdings mit einem Handlungsverzicht einher. Seine Entscheidungsunfähigkeit resultiert daraus, dass er die Annahme einer Person, von der das Handeln ausgeht, für eine Illusion hält. Indem er Verhaltensformen vom Ich löst, kann er sie in einer Reihe von Situationen konfigurieren und experimentell testen. Anstatt in der Performanz typischer feedbackgesteuerter Verhaltensformen aufzugehen, sieht Ulrich Ereignisse und Handlungen als theatrales Geschehen, das in Zeit und Raum exponiert ist und von dem er sich als Beobachter »mit leidenschaftlicher Kälte«38 distanziert. Daraus resultiert allerdings die Gefahr der Handlungsunfähigkeit – und der moralischen Indifferenz einer skeptischen Haltung. Musil notiert 1930: »Skepsis? Eine Frage hat viele Seiten. Wer sich in diesem Gefühl ausruht, wie man aus einem Netz eine Hängematte macht, ist skeptisch in der moralischen«.39
5. Schreiben zwischen den Maschen Eben diesen Widerspruch zwischen selbstoptimierendem Aktivismus und reflektierender Immobilität entfaltet Musil auf der Erzählebene: Er lässt den Leser des Romans, der zu keinem Ende kommt, eine exemplarische Verfilzung der Erzählstruktur erleben, die einem dezisionistischen, gewaltsamen Durchschlagen der verknoteten Widersprüche entgegensteht. Für den Autor bedeutete eine solche ins Unüberschaubare diffundierende Vielfalt der Relationen zunächst eine administrative Herausforderung: Musils Textverarbeitung, seine Praktiken der Registratur und Archivierung orientierten sich an der zeitgenössischen wissenschaftlichen Betriebsführung. Listen, Indices 37
38 39
Im Kapitelentwurf Gerdas Rückkehr (1926–29) entgegnet Gerda ihrem Vater Leo Fischel, der ihr die planvolle psychologische Manipulierbarkeit der Menschen auseinandersetzt: »Aber dann wäre die Ordnung der Welt nichts als dressierte Niedrigkeit!« (KA/Lesetexte/Bd. 4 MoE/ VIII . Kapitelgruppe/Gerdas Rückkehr) Blanchot: Musil (s. Anm. 20), S. 205. Solche Kälte attestiert Blanchot nicht der Figur Ulrich, sondern ihrem Autor. KA/Transkriptionen/Mappe VII/17/4 Sua 7.
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und über 50 000 siglierte Querverweise verbinden die ständig überarbeiteten Entwürfe quer zur Entstehungsgeschichte. Dabei wurden, wie Walter Fanta gezeigt hat, die Aufbaupläne immer wieder revidiert, wurde die »Symmetrie der Linien« durch den auswuchernden Schreibprozess zerstört.40 Nicht das Spinnennetz, sondern das dezentrale Netzwerk ist das Prinzip von Musils Schreib-Ordnung: Das zeigen beispielhaft die »Ideen-Einzelblätter« des Mann ohne Eigenschaften, über die es in der Klagenfurter Ausgabe heißt: Alle IE-Blätter erfüllen den Zweck einer Art Relaisstelle für den Gedankenfluss während der Produktion, indem nämlich jedem Einzelblatt eine Idee (bzw. ein Ideenkomplex) als Knoten zugeordnet ist, von dem aus Verknüpfungen zu verschiedenen anderen Knotenpunkten in Notizen oder Entwurfstextstellen vorgenommen werden, die mit Siglenverweisen vermerkt sind.41
In einer »interdiskursive[n] Versuchsanordnung« werden »Elemente aus gemeiniglich von einander getrennt gehaltenen Diskursen (Literatur, Geschichte, Philosophie, Sozial- und Naturwissenschaften) im poetischen Verfahren miteinander verknüpft«,42 auf Figuren übertragen und in die Romanhandlung eingearbeitet. Alles Niedergeschriebene erweist sich dabei als vorläufig: Das Netz-Werk der Bezüge wird zu einem immer undurchdringlicheren Gestrüpp von Notizen und Entwürfen, Studien- und Schmierblättern, Fassungen und Überarbeitungen, Reflexionen und Selbstkommentaren. Diese Verstrüppung des Textes spiegelt die Gefangenschaft im Netz der Sprache: Schon Claudine in Die Vollendung der Liebe (1911) hat die beklemmende »Vorstellung, daß alles, was sie sagte, sich wie in einem Sack oder in einem Netz verstrickte; ihre eigenen Worte erschienen ihr fremd zwischen den fremden, wie Fische an den feuchtkalten Leibern anderer Fische zappelten sie in dem unausgesprochenen Gewirr der Meinungen.« (GW 6, S. 183) Das Bild vom Sprach-Netz, in dem sich die Sprechenden verheddern, kehrt in einem 1932/33 entstandenen Fortsetzungskapitel des Mann ohne Eigenschaften wieder, in dem sich Agathe und Ulrich zu einer neuen Beziehungsform vorzutasten suchen: Was sollte das nächste Wort sein, was sollten sie tun? Die Unsicherheit glich nun einem Netz, worin sich alle unausgesprochenen Worte gefangen hatten: Das Geflecht bog sich wohl auseinander, aber sie vermochten nicht hindurchzubrechen [. . .]. (MoE, S. 1434) 40
41 42
Walter Fanta: Editorisches, Hermaphroditisches. Wozu den Mann ohne Eigenschaften neu edieren?, in: Gunther Martens, Clemens Ruthner, Jaak De Vos (Hg.): Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Bern u. a. 2005 (= Musiliana, Bd. 11), S. 137– 170, hier S. 141 f. Ausführlich ders.: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien u. a. 2000 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 49). KA/Kommentare/Siglen/IE/Textgenetische Funktion. KA/Kommentare/Siglen/IE/Textgenetische Funktion.
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Roland Innerhofer
Die utopischen Fluchtlinien, die sich im ›anderen Zustand‹ der Geschwisterliebe abzeichnen, werden »durch eine stets beibehaltene reflexive Geisteshaltung, die als intellektuelle Kontrollinstanz fungiert«,43 gebrochen. Sie bleiben eingebunden in ein Netz interdiskursiver und epistemologischer Relationen, das sie zwar nicht auslöscht, aus dem sie aber nicht ausbrechen können. Wenn Musil 1926 seinen Roman in einem Interview mit Oskar Maurus Fontana als »Versuch einer Auflösung und Andeutung einer Synthese« (GW 7, S. 942) bezeichnet und damit nichts weniger als »Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben« (GW 7, S. 942) will, so bietet das Netzwerk das Modell einer Synthese jenseits teleologischer Totalität. Die Netzwerkmetapher verweist auf die Kulturtechnik der Vernetzung, die der Heterogenität der Erfahrungen und der Komplexität der Welt gerecht zu werden und sie in eine zusammenhängende Ordnung zu bringen versucht.44 Solchem Ansinnen entspricht die ursprüngliche Intention von Musils Romanprojekt. Die tatsächliche Form, in der uns der Roman als Komplex kanonischer und apokrypher Texte überliefert ist, widerspricht diesem Ansinnen. Das Fragment ist auch als Versuch zu verstehen, sich dem Fangnetz, zu dem sich das Geflecht der Machtbeziehungen in Sprache, Denken, Wissen und Gesellschaft zusammenzieht, zu entgehen. Nicht nur Ulrich und Agathe, auch ihr Autor will die »Anordnung der Welt« (MoE, S. 1434) lockern, aus dem engmaschigen Beziehungsnetz entkommen. So kreist Musils Romanästhetik um das von Wittgenstein formulierte Problem der Unhintergehbarkeit des Sprach- und Ideennetzes mit seinen durch Konventionen vorgeprägten Bahnen: Die Sprache hat für Alle die gleichen Fallen bereit; das ungeheure Netz gut gangbarer Irrwege. Und so sehen wir also Einen nach dem Anderen die gleichen Wege gehen, und wissen schon, wo er jetzt abbiegen wird, wo er geradeaus fortgehen wird, ohne die Abzweigung zu bemerken, etc. etc.45
In Musils polyfokalem, essayistischem Erzählen wird das zeitliche Kontinuum immer wieder durch eine lose Reihung von genau beobachteten Einzelheiten aufgelöst, die narrative Kohärenz durch die Konjunktion von Inkon-
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45
Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (s. Anm. 14), S. 995. Helmut Kuzmics und Gerald Mozetiˇc sprechen aus soziologischer Perspektive von einem »Bedeutungsbiotop«, das der Verfasser des Mann ohne Eigenschaften als »aufmerksamer Beobachter« und Deuter sozialer Daten anlegt. Die in vorliegendem Aufsatz analysierte Metapher des Netzwerks betont im Unterschied zu der des Biotops die konstruktive Komponente in der von Kuzmics und Mozetiˇc konstatierten »Verknüpfung des vermeintlich Heterogenen und Beziehungslosen«. Helmut Kuzmics, Gerald Mozetiˇc: Robert Musils Beitrag zur Soziologie, in: dies.: Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Konstanz 2003, S. 225–258, hier S. 257. Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, in: ders.: Werkausgabe. Bd. 8: Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen. Hg. v. Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1984, S. 445–573, hier S. 474. Emden: Netz (s. Anm. 11), S. 250, zieht eine Linie von Nietzsche zu Wittgenstein, denn jener bezeichnete »aus erkenntnis- wie auch
Robert Musils Netz-Werk
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gruentem, die Koinzidenz der Gegensätze46 unterminiert. Die Heterogenität und Diskontinuität des Mann ohne Eigenschaften resultiert nicht erst aus dem Gestrüpp der apokryphen Fragmente und Varianten zu seiner Fortsetzung, sondern ist schon in die Mikrostruktur des kanonischen Textes eingeschrieben. Auf der narrativen Mikro- wie Makroebene dominiert eine offene, dynamische Netzstruktur, die wie gegenwärtige Netzwerk-Modelle geeignet ist, »Brüchen und Kontingenzen Rechnung zu tragen«.47 So erscheint Musils Romanpoetik durch die Suche nach befreienden »Abzweigungen« von den schablonen- und formelhaften »Irrwegen« der Sprache und des Denkens motiviert. Solche Fluchtlinien sind, im Sinne Deleuzes, »keineswegs [. . .] durchgängige Linien, ungebrochen und geradlinig, sondern Kombinationen aus Strömen und Einschnitten, ein ständiges Stottern, ein Stolpern, ein immer wieder erfolgendes Neuansetzen, oft außerhalb der Spur.«48 An die Stelle des expressionistischen Aufbruchspathos des ›Neuen Menschen‹ tritt eine unbeständige Figur im »Gewoge von Empfindungen« (MoE, S. 762), im Oszillieren räumlicher und zeitlicher Wechselwirkungen. Soll das Netz nicht zur Hängematte werden, ist auf die Zwischenräume zwischen den Maschen zu achten. In seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters sieht Musil das moralische Gebiet als liquide Materie, in die Begriffe eingesenkt werden wie »Pfähle, auf deren Versteintheit gehalten wird, um daran das Netz der hunderte moralischen Einzelentscheidungen, die jeder Tag fordert, befestigen zu können.« (GW 8, S. 1027) Wie fragwürdig diese Stabilisierungsversuche sind, erläutert Musil am »populäre[n] Beispiel der Abwandlung des Gebotes ›Du sollst nicht töten‹, von Mord über Totschlag, Tötung des Ehebrechers, Duell, Hinrichtung bis zum Krieg [. . .].« (GW 8, S. 1028) Das Gebot gleiche einem »Sieb [. . .], bei dessen Anwendung die Löcher nicht weniger wichtig sind als das feste Geflecht.« (GW 8, S. 1028) Nach Bruno Latour ist das Unverbundene weit umfangreicher als das, was vom Netz abgedeckt wird.49 Demgemäß macht in Musils Roman erst das Netz mit seinen Verbindungen und Wegen, seinen Kraftlinien und Kanälen bewusst, welche ungeheuren Leerstellen des nicht Formatierten und nicht Formulierten zwischen den Maschen aufklaffen. So zeigt sich etwa im Kreisen um das Phänomen des ›anderen Zustands‹ ein scheinbar paradoxer Effekt: Je dichter der Text als Netz-Werk gewoben wird, desto stärker tritt hervor, was von diesem Netz nicht erfasst wird. Je größer der vom Text abgeschrittene Bereich ist, desto weiter erscheint das Gebiet des Inkommensurablen.
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sprachkritischer Perspektive das ›Gewebe der Ideen‹ als ›Illusionsnetz‹ [. . .], dem Metaphysiker und Positivisten zum Opfer fallen.« Vgl. Mülder-Bach: Poesie der Grammatik (s. Anm. 30), S. 189. Emden: Netz (s. Anm. 11), S. 257. Gerald Raunig: Fluchtlinie, in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie der Gestaltung und Kunst, Zürich 16–17 (2011), S. 67. Vgl. Latour: Eine neue Soziologie (s. Anm. 6), S. 423.
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Roland Innerhofer
Die Felder des Erkennens und Erlebens fügen sich nicht nahtlos zusammen, das Organisationsbegehren versagt. Damit wächst der Kontinent des Kontingenten. Denn das Wissen verläuft sich in zahllose Einzelheiten, die nicht zu überblicken, geschweige denn zu organisieren sind. Daraus resultiert eine Vielzahl konkurrierender, letztlich im Leerlauf durchdrehender Steuerungssysteme. Gerade darin ist der Roman Gegenwurf zum zeitgenössischen Projekt des Durchbruchs – das noch in der Zurückweisung kenntlich wird. Im Gewirr der Kraftlinien äußert sich der Widerstand gegen die dezisionistischen Verführungen: der Verzicht, die Spannung zwischen Individualisierung und Totalisierung zugunsten der letzteren aufzulösen. Eben eine solche Schwebe zwischen Aktivismus und Passivität kennzeichnet den ›anderen Zustand‹ in Ulrichs Sicht im Nachlasskapitel »Eine Eintragung« (1932/33): »Auch ist eine tiefe Sammlung mit einer weiten Zerstreutheit verbunden, und das Bewußtsein lebhafter Tätigkeit mit der Überwältigung durch ein Geschehen, das wir nicht genügend verstehen.« (MoE, S. 1423) Musils dynamische Vernetzungsstrategien lassen noch das letzte Projekt epistemologischer Totalität, die kybernetische Vorstellung selbstregulierender Steuerungsmechanismen, hinter sich, um der Mannigfaltigkeit, Heterogenität und Kontingenz der Phänomene gerecht zu werden. Wenn dabei das Netz verfilzt, so ist das Effekt einer erkenntnisfördernden Verdichtung – oder, wie Ulrich es mit Blick auf die Liebe zwischen ihm und Agathe formuliert: einer »Steigerung ohne Fortschritt« (MoE, S. 1423).
Claudia Öhlschläger
Komplexität im Kleinen Polychrone Zeitgestaltung und Medialität bei Ernst Jünger, Robert Musil, Undine Gruenter und Alexander Kluge Abstract: The present contribution asks how temporality is configured in modernist and postmodern short prose forms. It focuses on a consideration of the brevity of the moment as a formal element that characterizes the modernist notion of time as »suddenness« as well as its poetic, aesthetic and medial variations in works by Ernst Jünger, Robert Musil, Undine Gruenter and Alexander Kluge. It shows that it is precisely in the small prose forms, where presumably verifiable parameters of time are expanded by dimensions of a paradoxical consciousness of time that articulates itself in gestures, affects and images. The spectrum ranges from figurations of accelerated perception to those of a contemplative, epiphanic immobilization of time.
Das Phänomen Zeit und Zeitlichkeit wurde schon vor einigen Jahren in den Literaturwissenschaften prominent diskutiert;1 in jüngster Zeit erhält das Nachdenken über Temporalität erneut Konjunktur. Dieser Trend ist sicher dem in Wissenschaft und Öffentlichkeit breit reflektierten Problem einer immer weiter zunehmenden Beschleunigung unserer Lebensverhältnisse und dem Ruf nach mehr Ruhe und Muße geschuldet. Hartmut Rosa diagnostiziert in seiner einschlägigen Studie zum Thema Beschleunigung: »Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen«.2 Ein jüngst bei der DFG eingerichtetes Schwerpunktprogramm trägt den Titel Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne.3 Hier geht man davon aus, dass Artefakte, Literatur und Medien affirmativ oder negierend Bezug auf Prozesse der Synchronisierung oder Ordnung von Zeit nehmen. Kunstwerke, Texte, Medien, so lautet eine Hypothese des Programms, gestalten Veränderungen von Zeitlichkeit, geben deren Wahrnehmung und nicht-propositional zugänglichen Erscheinungsweisen eine Form. Sie machen damit die Erfah1
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Stellvertretend seien genannt: Christian Thomsen, Hans Holländer (Hg.): Augenblick und Zeitpunkt. Darmstadt 1984; Linda Simonis, Annette Simonis (Hg.): Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne. Bielefeld 2000; Wolfgang Lange, Jürgen Paul Schwindt, Karin Westerwelle (Hg.): Temporalität und Form. Autoren-Kolloquium mit Karl Heinz Bohrer. Heidelberg 2004 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 213). Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005, S. 11. Vgl. dazu das Konzept des Schwerpunktprogramms unter http://www.aesthetische-eigenzeiten.de/konzept (Zugriff am 5. 6. 2013).
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Claudia Öhlschläger
rung komplexer Zeitgestaltung und -reflexion lesbar. Unter der Prämisse, dass sich für Entwicklungsprozesse der Moderne historische Periodisierungen, die linear verfahren, als nicht mehr tragfähig erweisen und Beschreibungsmodelle für feinere Ausdifferenzierungen heterogener und vielfältiger Phänomene von Zeitlichkeit gefunden werden müssen,4 lässt sich von einer polychronen Moderne sprechen. Mit der »Vielfalt vergangener Stoffe und Stile« werden, so formulieren es die Herausgeber einer jüngeren Studie zur Zeitlichkeit der Moderne, »auch deren Zeiten verfügbar, vergegenwärtigt; so reflektiert sich der Zeitbegriff der ästhetischen Moderne immer schon in der Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und erscheint zerstreut in variationsreichen Optionen.«5 Literaturen, Artefakten und Medien kommt in ihrer kreativen Eigendynamik von Zeitgestaltung eine epistemologische Funktion zu. Der von Reinhart Koselleck eingeführte Begriff »Zeitschichten« erweist sich als fruchtbar für Fragen nach der raumzeitlichen Modellierung ästhetischer Eigenzeiten. Er markiert den Befund, dass heterogene Zeitqualitäten zu einem in chronologischer Hinsicht gleichen Zeitpunkt wirksam werden können. »Wer über Zeit spricht, ist auf Metaphern angewiesen«, denn »Zeit ist nur über Bewegung in bestimmten Raumeinheiten anschaulich zu machen« – so schreibt Koselleck in seiner anthropologischen Grundlegung von Wahrnehmung und Gliederung historischer Zeit.6 Der Begriff »Zeitschichten« erlaubt es, das Gleichzeitige des Ungleichzeitigen zu denken, das simultane Zusammentreffen heterogener Strömungen oder Zeitqualitäten; mit der geologischen Metapher »Schicht« erhält die Vorstellung von Zeit eine räumliche Struktur, Beschleunigungen oder Verzögerungen etwa werden in Bildern der Überschneidung, Durchdringung, Verschmelzung, Ablösung wahrnehmbar. Aus erzähltheoretischer Perspektive hat Paul Ricœur auf das Bedingungsverhältnis von Narration und Zeitlichkeit verwiesen. Poetische Texte besitzen das Potential, die Zeit der Lebenswelt, menschliche Zeiterfahrung, durch spezifische Verfahren temporaler Figuration zu erweitern, deren Aporien aber auch zu analysieren.7 In Anlehnung an diese hier kurz skizzierten theoretischen Vorgaben geht mein Beitrag davon aus, dass auch Kleine Prosaformen der Moderne und Postmoderne polychrone Zeitgestaltung fi4 5
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Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. Sabine Schneider, Heinz Brüggemann: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. München 2011, S. 7–35, hier S. 13. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2003, S. 9. Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Band I–III . Aus dem Französischen v. Rainer Rochlitz u. Andreas Knop. München, Paderborn 1988–1991. Zur Bedeutung dieser Theorie für die literarische Modellierung von Wartezeit in der Literatur der Moderne vgl. Nadine Benz: Erzählte Zeit des Wartens – Semantiken und Narrative eines temporalen Phänomens. Göttingen 2013 (= Zäsuren. Neue Perspektiven der Kultur- und Literaturwissenschaft, Bd. 5).
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gurieren – und dies gewissermaßen auf engstem Raum. Besonders wichtig erscheint hier der noch kaum in den Blick genommene Aspekt der Medialität ästhetischer Eigenzeiten. In Anlehnung an Dirk Göttsche werden im Folgenden Kurzprosa und Kleine Prosa synonym gebraucht, denn die historische und thematische Spannbreite ihrer Spielarten, die im Austausch miteinander stehen und sich somit in einem ständigen »Transformationsprozess« befinden, erlaubt es nicht, feste gattungstypologische Zuschreibungen vorzunehmen.8 Vielmehr scheint es so zu sein, dass die experimentelle Vielfalt an epischen Kurzformen, und dies gerade im Hinblick auf Fragen der sich in ihr gestaltenden Medialität, nach neuen Kategorien der Schriftbildlichkeit verlangt.9
1. Epische Kurzformen/Genese Zunächst ist die Affinität kurzer Prosaformen zur Gestaltung von Temporalität ihrem formalen Anforderungsprofil geschuldet. Ist doch ihr ästhetisches Kriterium die Kürze, was Prozesse der Raffung, der Zeitersparnis durch Stringenz, Pointierung, Konzentration und Verdichtung impliziert. Epische Kurzformen wurden gerade in jüngerer Zeit in Sammelbänden und Aufsätzen vor allem unter gattungsspezifischen Aspekten betrachtet. Die Frage nach der Gattungszugehörigkeit verdankt sich dem Umstand einer allgemeinen Verunsicherung. So ist auch die Bezeichnung Kurzprosa eher als Verlegenheitslösung in die Literaturgeschichtsschreibung eingegangen.10 Unter ihr fasst man das breite und durchaus heterogene Spektrum kurzer und kürzester Prosaformen zusammen. Moritz Baßler schlägt zwei Definitionen vor: (1) »Oberbegriff für alle Prosagattungen geringen Umfangs vom Aphorismus bis zur Kurzgeschichte« und (2) »Restkategorie«. Zwei Einsichten lassen sich aus diesen Definitionsversuchen ableiten: Kurzprosatexte haben eine lange Tradition. Formen der Anekdote, der Parabel, des Aphorismus, des Witzes, der Bispel, des Emblems, der Fabel, der Kalendergeschichte, des Rätsels, des Sprichworts, der Verserzählung wirken in Kurzprosatexte der Moderne hinein, der experimentelle und heterogene Zuschnitt epischer Kurzformen seit ca. 1900 erlaubt es jedoch nicht, feste Gattungsbestimmungen vorzunehmen. Für die Genese der deutschsprachigen Kurzprosa des frühen 20. Jahrhunderts wurde das französische Prosagedicht, das petit poème en prose eines Charles Baudelaire, Aloysius Bertrand, Arthur Rimbaud im späten 19. Jahr8 9 10
Dirk Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Münster 2006, S. 9 f. Dieser Aufgabe widmet sich die Studie von Burkhard Spinnen: Schriftbilder. Studien zu einer Geschichte emblematischer Kurzprosa. Münster 1991 (= Literatur als Sprache, Bd. 9). Moritz Baßler: Kurzprosa, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2: H–O. Berlin, New York 2000, S. 371–374.
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Claudia Öhlschläger
hundert, andererseits aber auch Turgenjews »narrative Gattungsvariante« des Prosagedichts in Anschlag gebracht.11 Jedoch ließen sich weder im einen noch im anderen Fall Merkmale für eine übergreifende Gattungstheorie fruchtbar machen.12 Es scheint also tatsächlich die von Baßler vorgeschlagene Bezeichnung »Restkategorie« dem Umstand gerecht zu werden, dass es sich bei der Vielfalt an epischen Kurzformen um Texte handelt, die innerhalb des Systems Literatur Marginalien darstellen. Allerdings Marginalien von Gewicht, zieht man in Betracht, dass solche Texte von ihrem Selbstverständnis her Schauplätze eines narrativen Experimentierens mit dargestellter Kürze sind. Das Spektrum solcher avantgardistischer Experimentierfelder in der Zeit ab 1900 ist indessen breit. Ich will hier nur einige Beispiele anführen: Glossen, Skizzen, Alltagsszenen (A. Döblin, A. Polgar), Capriccios (E. Jünger), Blitzlichter, Denkbilder/Stadtbilder (W. Benjamin, S. Kracauer, F. Hessel, F. Kafka, I. Aichinger), Stenogramme (E. Canetti), Betrachtungen (F. Kafka), Bilder (R. Musil, R. Walser), Kleinigkeiten, Erlebnisse, Streifzüge (R. Walser), Kinostücke (K. Pinthus, W. Hasenclever, A. Ehrenstein, E. Lasker-Schüler), Instantanés (A. Robbe-Grillet), Epiphanien (U. Gruenter), Tagträume (G. Kunert), Augenblicke (A. Duden, A. Ernaux), Bewegungen (B. Kronauer), Geschichten (B. Brecht, A. Kluge), Episoden/Begegnungen (B. Strauß), Notizen (M. Walser), Minicuentos (A. Monterroso), Ränder, »Maulwürfe« (G. Eich) oder gar Bagatellen. Die genannten Titel deuten trotz der Heterogenität ihres literarischen Status an, dass es einer Vielzahl epischer Kurzformen seit Beginn des 20. Jahrhunderts um die Verzeichnung von Dynamiken, von Bewegungen in Zeit und Raum und die Medialität von Wahrnehmung zu tun ist. Angesichts dieses Formenspektrums müssen Gattungsbegriffe wie »Kurzprosa« oder »Kleine Prosa« notwendig verkürzt erscheinen. Der vorliegende Beitrag schlägt daher vor, die Aufmerksamkeit weniger auf Fragen der Gattungszugehörigkeit zu richten, sondern die in epischen Kurzformen figurierte Medialität, und, damit verbunden, die Gestaltung von Zeitlichkeit zu fokussieren. Zeigen doch die oben genannten Fallbeispiele, dass es in vielen Kurzprosaformen seit Beginn des 20. Jahrhunderts um die Verzeichnung von Dynamiken, von Bewegungen in Zeit und Raum und die Medialität von Wahrnehmung geht. Wie, so muss gefragt werden, integrieren solche Prosaformen die Zeitlichkeit technischer oder, im herkömmlichen Sinne, bildlicher Medien, auf die sie teilweise schon mit Titeln wie »Bilder« (Robert Musil), »Momentaufnahmen« (Robbe-Grillet) oder »Kinostücke« (Kurt Pinthus) anspielen?13 Gerade hier, am Ort formaler Kürze und Knappheit, wird nicht 11 12 13
Wolfgang Bunzel: Das deutschsprachige Prosagedicht. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung der Moderne. Tübingen 2005 (= Communicatio, Bd. 37). Ulrich Fülleborn: Einleitung, in: ders. (Hg.): Deutsche Prosagedichte vom 18. Jahrhundert bis zur letzten Jahrhundertwende. In Zusammenarbeit mit Klaus Engelmann. München 1985, S. 17. Kurt Pinthus gab 1913 sogenannte »Kinostücke« heraus, bei denen es sich nicht etwa um literarische Nachahmungen von filmischen Einstellungen handelt, sondern um eigenständige
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nur Erfahrung von Zeitlichkeit reflektiert, sondern werden Maßstäbe von Temporalität mittels ästhetischer Gestaltung allererst hervorgebracht. Fotografie und Film sind es, die seit 1900 prominent auf die in kleinen Prosaformen modellierten Wahrnehmungsästhetiken einwirken und deren Dialog mit epischen Kurzformen der Moderne und Nachmoderne präzisiert werden soll. Ein expliziter Bezug zwischen Fotografie und kleiner Form lässt sich schon für die feuilletonistischen Städtebilder der 20er und frühen 30er Jahre eines Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer ausmachen, da hier auf Fotoausstellungen und Fotobücher der Zeit Bezug genommen und die Bedeutung der Fotografie für eine neue Form des Sehens kenntlich gemacht wird; für eine neue Form des Sehens, die im feuilletonistischen Text mit seiner genuinen Flüchtigkeit und Knappheit selbst eingeübt wird.14 So erweist sich denn das Feuilleton für die Genese epischer Kurzformen modernen Zuschnitts in grundsätzlicher Weise als bedeutend, da es sich sowohl formal wie auch programmatisch der Dynamik eines beschleunigten Lebensgefühls anpasst.15 Alfred Polgar, Feuilletonist, Journalist, Autor, erklärte 1926 die »Kleine Form« nach dem Maßstab ihrer massenmedialen Verortung zum Prototyp moderner Literatur. Den Kritikern seiner »journalistischen Bagatellen« hielt Polgar entgegen, dass Knappheit und Kürze das literarische Gebot der Stunde seien: Aber ich möchte für diese kleine Form, hätte ich nur hierzu das nötige Pathos, mit sehr großen Worten eintreten: denn ich glaube, dass sie der Spannung und dem Bedürfnis der Zeit gemäß ist [. . .]. Ich halte episodische Kürze für durchaus angemessen der Rolle, die heute der Schriftstellerei zukommt. [. . .] Wer von Erzählern und Be-
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literarische Szenen, die auf die Arbeit von Drehbuchautoren und Regisseuren zurückwirken sollten. Vgl. Kurt Pinthus: Vorwort zur Neu-Ausgabe [1963], in: ders. (Hg.): Das Kinobuch. Mit einer Nachbemerkung v. Walter Schobert. Frankfurt a. M. 1983, S. 7–17. Zum Kinostück vgl. Silke Horstkotte: Das Kinostück, in: Mitteilugen des Deutschen Germanistenverbandes 56/2 (2009), S. 258–270. Walter Benjamin: Paris, die Stadt im Spiegel. Liebeserklärungen der Dichter und Künstler an die ›Hauptstadt der Welt‹, in: Vogue, 30. 1. 1929, S. 27, erwähnt das Fotobuch von Mario von Bucovich: Paris. Geleitwort von Paul Morand. Berlin 1928. Vgl. auch Siegfried Kracauer: Photographiertes Berlin, in: ders.: Werke. Bd. 5.4: Essays, Feuilletons, Rezensionen. 1932–1965. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a. M. 2011, S. 310–312. Zum Verhältnis von feuilletonistischen und fotografischen Städtebildern der 20er und frühen 30er Jahre vgl. Claudia Öhlschläger: Figurationen der Krise: Literarische Feuilletons der 20er und frühen 30er Jahre. Forschungsbericht, in: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 22/3 (2012), S. 634–639. Funktionsgeschichtlich entwickelt sich das Feuilleton moderner Prägung aus der Berührung kommerzieller mit künstlerischen Interessen. Es entsteht an einem Ort, an dem sich die Nachricht bzw. die Information der Tagespresse mit »Gesten der Sprachmächtigkeit« aus dem Bereich der Literatur anreichert. Das tagesaktuelle Massenmedium Zeitung bekommt somit einen literarischen Zug. All das, was alltäglich anfällt, sich aber der amtlichen Berichterstattung entzieht, kann sich im Spielfeld des Feuilletons entfalten. Vgl. Gustav Frank, Stefan Scherer: Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons, in: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 22/3 (2012), S. 524–539; Rosa: Beschleunigung (s. Anm. 2).
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trachtern hat so Großes zu sagen, daß er sich unmöglich kürzer fassen könnte, als er tut?16
Die von Polgar prognostizierte Bedeutung der kleinen Form für die Literatur der Moderne findet in Publikationen literarischer Kurzformate auch von Autoren, die Zeit ihres Lebens an Romanprojekten gearbeitet haben, wie etwa Franz Kafka, Robert Musil oder Robert Walser, ihren Widerhall. Knappheit und Kürze scheinen die optimalen formalästhetischen Voraussetzungen zu schaffen für eine poetische Auseinandersetzung mit paradoxen Modi beschleunigter Zeiterfahrung. Im Folgenden möchte ich Figurationen polychroner Zeitgestaltung in Verbindung mit der durch sie reflektierten Medialität an Fallbeispielen kleiner Prosa von Ernst Jünger, Robert Musil, Undine Gruenter und Alexander Kluge vorführen. Fokussiert werden soll der Augenblick als Zeitmodus des »Plötzlichen«, wie er am explizitesten von Karl Heinz Bohrer für eine Ästhetik der Moderne geltend gemacht wurde.17 Dabei interessiert besonders seine diskursive Nähe zum Medium Fotografie. Eine diachrone Perspektivierung kleiner epischer Formate, die gleichwohl nur exemplarisch sein kann, ermöglicht es, Oszillationen sichtbar zu machen, die sich zwischen den Figurationen des Augenblicks als Modus eines beschleunigten Sehens einerseits, und als Inbegriff einer kontemplativen, gleichsam epiphanischen Stillstellung von Zeit andererseits, ergeben.
2. Augenblick Der Augenblick ist als Zeitmodus des Plötzlichen eine Schlüsselkategorie moderner Zeiterfahrung. Er steht für die unabänderliche Flüchtigkeit der Zeit. Er setzt deren Linearität für einen Moment außer Kraft und unterstreicht in einem durchaus emphatischen Sinn die Essenz des Unwiederbringlichen. In der Fotografie findet der Augenblick als flüchtiger Moment ein adäquates Medium der Darstellung: Roland Barthes zeigt in seiner phänomenologischen Studie La chambre claire, inwiefern das Klicken des Fotoapparats die Zeit zum Erklingen bringt und jenen Einschnitt markiert, der das, was ist, in ein unwiederbringliches »Es-ist-so-gewesen« verwandelt.18 Ob als Interesse am schöpferischen Augenblick, als Moment der künstlerischen Inspiration, plötzliche Erleuchtung oder als mystisches Erlebnis – auch für die Moderne 16
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Alfred Polgar: Die kleine Form (quasi ein Vorwort), in: ders.: Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek b. Hamburg 1984, S. 369–373, hier S. 372 f. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981; ders.: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung. München 2003 (= Edition Akzente). Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übersetzt v. Dietrich Leube. Frankfurt a. M. 1989, S. 35 f.
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ließe sich eine Typologie plötzlicher Augenblicke anlegen.19 In der Literatur um 1900 wird der Augenblick entweder emphatisch gefeiert oder als Code der Plötzlichkeit, als ein Selbstbeschreibungsmuster von Modernität reflektiert und mit seiner Unverfügbarkeit bzw. möglichen Verfügbarkeit experimentiert. Weil der Augenblick als Zeitmodus flüchtig und mit seiner Darstellung das Problem der Nachträglichkeit verbunden ist, eröffnet seine literarische und mediale Modellierung Fragen nach Grenzen (sprachlicher) Darstellbarkeit. Ernst Jünger, der, wie ihm von Karl Heinz Bohrer immer wieder attestiert wurde,20 ein besonderes Interesse für dieses Zeitmaß der Plötzlichkeit entwickelt, propagiert in den 20er und frühen 30er Jahren ein Neues Sehen, das sich als Angriffsakt auf die vorgefundene Wirklichkeit versteht und in der Fotografie die zeitgemäße Waffe sieht, um Augenblicke einzufangen.21 Einen solchen »emphatischen Augenblick« des Plötzlichen elaboriert Ernst Jünger nicht nur in seinen breit angelegten, in mehreren Fassungen erschienenen Tagebüchern In Stahlgewittern, sondern auch auf kleinstem Format. In einem Tagebucheintrag vom 29. Mai 1941, der sich als Kondensation eines Kriegsnarrativs und als ein zwischen Autobiographie und ästhetisch-philosophischer Reflexion changierendes Kommunikationsformat des Kleinen lesen lässt,22 berichtet Jünger von der Erschießung eines Fahnenflüchtigen, der er als Zeuge beiwohnte. Der Beobachter möchte den Augenblick des Sterbens verzeichnen. »Im Grunde war es höhere Neugier, die den Ausschlag gab. Ich sah schon viele sterben, doch keine im bestimmten Augenblick.«23 Die sprachliche Ausgestaltung des entscheidenden Augenblicks erfolgt im Präsens: Der Verfasser zoomt den Schauplatz, an dem sich die Erschießung ereignet, heran: Er fokussiert detailgenau die Körperregungen und das Mienenspiel des Deserteurs. Das 19 20
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Vgl. Ulrich Raulff: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte. Göttingen 1999 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 9). Vgl. Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München 1978, S. 149; Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914–1934. München 2006, S. 101 f. Vgl. Ernst Jünger: Krieg und Lichtbild, in: ders.: Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten. Berlin 1930, S. 9–11. In der Forschung zählt man diaristische Aufzeichnungen schon längst zur Familie der Kleinen Prosa. Vgl. Dirk Göttsche: Prosaskizzen als Denkbilder. Zum Zusammenspiel der Schreibweisen in der Kleinen Prosa der Gegenwart, in: ders., Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen 2007, S. 283–302, hier S. 298 f. Helena Topa: Wege der Aufzeichnung in der deutschsprachigen Kurzprosa. Canetti, Handke und Schnurre, in: Göttsche et al. (Hg.): Kleine Prosa (s. Anm. 22), S. 303–314, hier S. 305, sieht in der Aufzeichnung »den Fall einer Sedimentierung von diskursiven Eigenschaften anderer Gattungen (wie Essay oder Fragment)«. Unter dieser Prämisse unterscheidet sie zwischen drei unterschiedlichen kommunikativen und diskursiven Komponenten: 1) reflexiv-philosophisch, 2) ästhetisch-literarisch und 3) subjektiv-autobiographisch, die in der Aufzeichnung zum Tragen kommen. Ernst Jünger: Tagebucheintrag Paris, 29. Mai 1941, in: ders.: Strahlungen. Das Erste Pariser Tagebuch. Stuttgart 1994, S. 26–29, hier S. 26.
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Ereignishafte des Ereignisses stellt sich allerdings allein durch eine Aneinanderreihung von Seheindrücken her. »Man sieht zwei Serien von Einschlägen«; »Wir sehen den Verurteilten«; »ich sehe, daß ihm die Arme durch Handschellen auf dem Rücken gehalten sind«; »ich sehe, daß die Erregung ihm etwas Krauses, Blühendes, ja Kindliches verleiht«; »Ich sehe den Mund sich öffnen«. Auch wenn der Verfasser am Ende vermerkt, ihm sei »in grauenhafter Weise« etwas deutlich geworden, was den anderen verborgen blieb, kann der Text den entscheidenden Augenblick des Sterbens nicht einholen: An seine Stelle treten Symbole, Bilder, Metaphern, die vom Geschehen abstrahieren, es ästhetisieren, aber auch Assoziationsräume eröffnen und die Wahrnehmung dissoziieren: »Ich möchte fortblicken, zwinge mich aber, hinzusehen, und erfasse den Augenblick, in dem mit der Salve fünf kleine dunkle Löcher im Karton erscheinen, als schlügen Tautropfen darauf«.24 Mit Roland Barthes, der seinerseits an kleinen Formaten interessiert war und solche produzierte, lässt sich die Problematik einer rhetorischen Verzeitlichung des denkbar kürzesten Augenblicks verdeutlichen. Photos-Chocs lautet ein Text seiner 1957 erschienenen Mythologies/Mythen des Alltags; in ihm nimmt Barthes den Mythos von der Echtzeit-Darstellung überraschender Augenblicke kritisch unter die Lupe. Weil »Schockphotos« auf »perfekte Lesbarkeit« aus und konstruiert seien, setzten sie jeden Überraschungseffekt außer Kraft.25 Visuelles Staunen, so Barthes, entstehe nur dort, wo sich die »perfekte Lesbarkeit« des Schreckens an der Oberfläche des Schauspiels breche – dort, wo Mechanismen der Verzögerung, der Uneindeutigkeit hervortreten. An Jüngers Miniaturnarrativ zeigt sich dieses Repräsentationsdilemma: Er rüstet seine Sprache rhetorisch auf, um den Schrecken verfügbar zu halten, doch bedingt gerade die Fokussierung auf eine getreue Wirklichkeitswiedergabe auf engstem Raum die Erzeugung von Bildern und Metaphern, die den Bruchteil der zu zeigenden Sekunde dehnen, den Augenblick ausdifferenzieren, ihn mit Assoziationen anreichern. Während es Jünger dennoch um ein mimetisches Anliegen, um die Verfügbarmachung des Präsentischen ›Nu‹ zu tun ist, finden wir bei Robert Musil eine Variante, bei der ein unvorhergesehener Augenblick nicht nur die Welt, sondern auch das Narrativ aus den Fugen geraten lässt. Am 30. August 1931 erscheint in der Prager Presse Musils Artikel Ausgebrochener Augenblick. In einem Gerichtssaal haben sich Richter, Kläger und ein Angeklagter eingefunden. Der Angeklagte trägt, da er um »Ehre und Stellung« kämpft, eine Pistole bei sich. Er hat sich vorgenommen, seinen Widersacher zu töten, falls der Prozess zu seinen Ungunsten enden sollte. »Und gerade da« – in diesem Moment, der die Unterbrechung einer vorgesehenen Pause vorwegnimmt, auf die der endgültige Richtspruch folgen soll, in diesem vorgezogenen Moment eines unvorhergesehenen zeitlichen Einschnitts, 24 25
Jünger: Tagebucheintrag (s. Anm. 23), S. 28. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen v. Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 2010, S. 135–138.
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springt der Augenblick aus der Reihe, brechen sechs Schüsse aus. »Ein wirbelndes Zeitstück. Niemand weiß mehr, wie es sich losgerissen hat, nachdem es vorbei ist. Der Unentschlossene, die ausgeschossene Pistole in der Hand, befindet sich stumm in einer Stellung [. . .], plötzlich aber wendet er sich mit erhobener Waffe dem Richtertisch zu und ruft zweimal: ›Herr Richter, es ist zu spät, es ist zu spät!‹« (GW II, S. 651–654) Musils Prosaskizze handelt nicht nur vom Zu-Spät-Kommen der Gerechtigkeit, sondern vom Zu-SpätKommen der Erzählung selbst. Der Moment, in dem sich das »Zeitstück« losreißt, ja, verselbstständigt, ist nicht zu ermitteln. Vor Augen geführt wird, dass es nur ein Davor und ein Danach des plötzlichen Augenblicks gibt, nicht aber die Möglichkeit, das Dazwischen, den Augenblick in nuce zu zeigen. Die »Zeit der Auslösung, in der niemand sieht«,26 markiert den blinden Fleck der Darstellung. Musils Prosaskizze gibt dem »wirbelnden Zeitstück« eine performative Gestalt; sein Text präsentiert sich als Schreibgeste, die den »Wirbel« in sich aufnimmt, denn er wird auch im Vollzug seiner Lektüre nie bei dem Punkt angelangt sein, den er umkreist. Immer wieder experimentierte Musil in Prosaskizzen mit mikroskopischen Wahrnehmungseinstellungen. Seine »Bilder« aus Sprache in dem 1935 publizierten Nachlaß zu Lebzeiten eröffnen Wahrnehmungshorizonte, in denen das »Wirklichkeitsbewusstsein« in ein Ungleichgewicht gerät, gestört wird (GW II, S. 1137–1154). In seinen Ansätzen zu neuer Ästhetik nimmt Musil ausdrücklich auf Béla Balázs’ Filmtheorie Der sichtbare Mensch Bezug,27 in der die stumme Gebärde zum Schauplatz ungebundener »Affektsummen« wird. Um solche Affektsummen, die sich in »Bildern« zusammenballen, sich hier verdichten oder verschieben, ist es Musil in seinen Prosaskizzen zu tun.28 Mit seiner Fokussierung auf Tiere, auf me26
27 28
Peter Geimer: Ein Projektil und sein Selbstporträt. Räume der Selbstauslösung um 1887, in: Christoph Hoffmann, Peter Berz (Hg.): Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien. Göttingen 2001, S. 335–355, hier S. 335. Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt a. M. 2001. Einschlägige Beiträge zu Musils Kurzprosa seien hier exemplarisch genannt: Annette Fuchs: »Augen-Blicke«. Zur Kommunikationsstruktur der »Bilder« in Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Der Deutschunterricht 40/1 (1988), S. 66–79; Ewout van der Knaap: Musils filmischer Blick. Notsignale auf dem Fliegenpapier, in: Poetica 30/1–2 (1998), S. 165–178; Thomas Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998; Birgit Nübel: »Hinter der Sperre des Glases«. Gedankenexperimente in Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Susanne Knoche, Lennart Koch, Ralph Köhnen (Hg.): Lust am Kanon. Denkbilder in Literatur und Unterricht. Frankfurt a. M. 2003, S. 237– 256; Arno Rußegger: Kinema mundi. Studien zur Theorie des »Bildes« bei Robert Musil. Wien u. a. 1996 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 40); Isolde Schiffermüller: Kleine Zoopoetik der Moderne. Robert Musils »Bilder« im Vergleich mit Franz Kafka, in: Elmar Locher (Hg.): Die kleinen Formen in der Moderne. Innsbruck u. a. 2001 (= Essay & Poesie, Bd. 13), S. 197–217; Katharina Grätz: Die Erkenntnis des Dichters. Robert Musils Fliegenpapier als Modell seines poetischen Verfahrens, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 48 (2004), S. 206–230; Alice Bolterauer: Die Faszination der Form. Robert Musil und die Krisen der Moderne, in: Mosaïques littéraires 34 (2004), S. 19–36; Gunther Martens: Die Moderne als Straßenbahn. Zum Verhältnis von Stil und Epistemologie in Robert Musils Nachlaß
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diokre Kreaturen, deren Bewegungs- und Empfindungsapparatur, wird der anthropozentrische Standpunkt, den ein nüchterner Beobachter einnimmt, mindestens erschüttert. Damit werden jene »ausgeschlossenen Erfahrungsbereiche« von Zeitlichkeit zur Geltung gebracht, die sich auch in kleinen Momenten des Schocks entäußern.29 Betrachtet man das Dispositiv des Augenblicks in epischen Kurzformen der jüngeren und jüngsten Zeit, so lässt sich Folgendes festhalten: Auch wenn sich einige Prosaminiaturen des frühen 20. Jahrhunderts um eine sprachlichrhetorische Figuration von Plötzlichkeit bemühen, so zeigt doch schon das Beispiel Ernst Jünger, erst recht aber Musils literarische Momentaufnahme, dass solchen poetischen Figurationen von Temporalität Paradoxien eingeschrieben sind. In epischen Kurzformen der jüngeren und jüngsten Zeit wird mit der Polychronie von Zeiterfahrung weiterhin experimentiert. Eine Tendenz hin zur Entschleunigung von Augenblicken für allgemeinverbindlich zu erklären, würde sicherlich zu weit gehen; gleichwohl reflektieren epische Kurzformen den Umstand, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts bis hin zur Postmoderne »die in der Moderne konstitutiv angelegte soziale Beschleunigung [. . .] einen kritischen Punkt übersteigt«. Hartmut Rosa führt die paradoxen Folgen der »strukturformenden und kulturprägenden Kraft« von Beschleunigungstendenzen aus: Sie bestehen aus einer »komplexen Vielschichtigkeit temporaler Muster«, die die Vorstellung eines quantitativen Steigerungsvorgangs zugunsten von Polychronie unterlaufen. Es komme, so Rosa, gerade in der Post- und Nachmoderne nicht nur zu Effekten einer »paradoxen Simultaneität« von Zeiterfahrung, sondern zu Phänomenen der Erstarrung von Zeit.30 Sowohl eine Verstärkung paradoxer Simultaneität wie die Entfaltung von Beharrungs- und Verzögerungstendenzen lässt sich in literarischen Miniaturen der Post- und Nachmoderne beobachten. Augenblicke werden gedehnt, wiederholt, auf Dauer gestellt.
29
30
zu Lebzeiten, in: ders., Clemens Ruthner, Jaak de Vos (Hg.): Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Bern u. a. 2005 (= Musiliana, Bd. 11), S. 229–257; Claudia Öhlschläger: Evidenz und Ereignis. Musils poetische ›Momentaufnahmen‹ im Kontext der Moderne, in: Helmut Pfotenhauer, Wolfgang Riedel, Sabine Schneider (Hg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg 2005, S. 203–216; dies.: Poetik und Ethik Kleiner Prosa: Franz Kafka, Robert Musil, Heiner Müller, Michael Köhlmeier, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 128/2 (2009), S. 261–279. Karin Harrasser: Singularität und lange Dauer. Alexander Kluges idiosynkratische Filmtheorie der Geschichte, in: Christian Schulte (Hg.): Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext. Unter Mitarbeit v. Jana Koch u. Stefanie Schmitt. Berlin 2012, S. 64– 80, hier S. 66; Joseph Vogl: Über das Zaudern. Berlin 2007, S. 57–73 u. 107–115; Hartmut Böhme: Eine Zeit ohne Eigenschaften. Robert Musil und die Posthistoire, in: ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt a. M. 1988, S. 190–205. Online einzusehen unter: http://www.culture.huberlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/musil.html. Rosa: Beschleunigung (s. Anm. 2), S. 49 ff. u. 402 f. Rosa verfolgt diese These von der Entzeitlichung in der Spätmoderne am Gegenstand der Politik, spricht hier von einer »Zeitkrise des Politischen« in der »Desynchronisation zwischen der ›Eigenzeit‹ der Politik und den Zeitstrukturen anderer sozialer Sphären«, insbesondere der Wirtschaft und technischen Entwicklung.
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Mein erstes Beispiel führt zu einer für unseren Zusammenhang wichtigen Autorin, zu Undine Gruenter, die, 1952 geboren, überwiegend Erzählungen und Kurzprosa veröffentlichte, in denen Momentaufnahmen eine prominente Rolle spielen. Der 1993 veröffentlichte Band Epiphanien, abgeblendet versammelt kleinste und kleinere Prosastücke, in denen Möglichkeiten der Begegnung zwischen Mann und Frau in gleichsam surreal anmutenden, traumähnlichen Bildfolgen erwogen werden.31 Gruenter fokussiert immer wieder ein Zimmer, das einerseits durch Fenster und Türen begrenzt zu werden scheint, sich aber andererseits auf Räume des Imaginären hin öffnet. Wie es der Titel nahelegt, geht es um die Modellierung von Augenblicken mit »abnehmender Repräsentanz«,32 um Ereignisse einer höheren Ordnung, die bei Gruenter auf die Körpersinne ausgerichtet sind. Momentane Eingebungen von Sinn begegnen hier Momenten der Abdunkelung (Ellipsen, Reduktion von Dialogizität, Stummheit) – vergleichbar mit dem Vorgang des fotografischen Abblendens, bei dem durch schrittweises oder stufenloses Schließen der Blendenöffnung weniger Licht auf den Film gelangt, was bei unveränderter Beleuchtung durch eine längere Belichtungszeit kompensiert werden muss. Möglichkeiten des kairos, des glückenden Augenblicks, realisieren sich bei Gruenter in der bildlichen Stillstellung ›reiner Zeit‹, die sich durchaus auch als leere Zeit bezeichnen ließe. »Wer im Gedächtnis sucht, ist aus der Zeit gefallen. Also war im Zimmer weder Morgen noch Abend, weder Mittag noch Nacht. Es war Keine-Zeit.« Bildlich umgesetzt werden nun solche Stillstellungen von reiner Zeit in aus Sprache geformten natures mortes einerseits,33 in denen sich erlebte Zeit kristallisiert; und schließlich in Körpergesten andererseits, die keine mimetische Referenzqualität besitzen und sich zur Zeit der dargestellten, fiktiven Wirklichkeit quer stellen. Ihnen eignet die Signatur traumverschlüsselter Rätsel. Die Protagonistin richtet sich in diesem Raum der Zeitlosigkeit ein, sie zögert, beobachtet und wartet, setzt Handlung aus. Sowohl der an die Gegenwart gebundene Augenblick wie die ins Unendliche gedehnte Zeit der Zukunft werden zurückgewiesen. Am Fenster standen zwei Männer und stritten. [. . .] Das Kino, sagte der eine, ist der vorletzte Tempel der Kontemplation, die Zeit ins Unendliche gedehnt in jedem Schnitt. Das Theater, sagte der andere, ist das letzte öffentliche Forum der Agitation, die Zeit ins Augenblickliche zusammengezogen mit jedem Heben des Vorhangs. Die Schatten der Streitenden bewegten sich über den Vorhang wie Scherenschnitte. Kontemplation, sagte der erhobene Zeigefinger des einen, Agitation, sagte das hoch31 32 33
Undine Gruenter: Epiphanien, abgeblendet. Berlin 2010. Bohrer: Ekstasen der Zeit (s. Anm. 17), S. 72. Vgl. Gruenter: Epiphanien, abgeblendet (s. Anm. 31), S. 11: »Auf der Tafel bogen sich die unberührten und üppig aufgebauten Früchte nach der Wärme des Tages, in den Gläsern hatte sich hauchfein Staub angesammelt, und auch die Kerzen schrumpelten weich und welk in den Abend. Ein Korken war zwischen die Silberschüssel und gläsernen Aufsätze gerollt, an den Tischenden ragten zwei Stühle mit hohen Lehnen steif ins sich verwischende Licht, und eine abgelöste Traube fiel lautlos auf den Steinboden.«
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gestreckte Kinn des anderen. [. . .] Die Frau hatte eine winzige Musikwalze aus ihrer Rocktasche gezogen und drehte den Hebel. Da klimperte sich eine Melodie in die Sätze der Streitenden, und es trat eine Pause ein.34
In der zitierten, gleichsam programmatisch zu verstehenden Textpassage äußert sich eine Distanz gegenüber Formen ästhetischer Zeitgestaltung, die, wie im Kino oder Theater, so scheint es, Modelle von Zeitlichkeit verfügbar halten wollen, um der Negativität der Zeit zu entgehen. Zu ihr gehört das Faktum der Vergänglichkeit von Zeit ebenso wie der Tod. In Gruenters Prosastücken formiert sich gegen das Bedürfnis nach Ordnung, Referenz und Ewigkeit der Modus einer Beobachtung zweiter Ordnung: Zwischen Null- und interner Fokalisierung changierend, fokussieren Gruenters Prosastücke über den Augenblick als Epiphanie des Gegenwärtigen und das kontemplative Sich-Verlieren in Bildern des Zukünftigen hinaus die Geste der Pause, eine Geste, in der Zeit nicht mit Sinn angereichert ist. Im Drehen einer »winzige[n] Musikwalze«, der eine Melodie entströmt, im langsamen Ausziehen von Handschuhen, der wartenden Beobachtung am Fenster, im Winken oder anderen stummen Handgebärden kristallisiert sich verfließende Zeit in Bildern, die, wie Gilles Deleuze dies für den neorealistischen Film und das Kino der Moderne in Anschlag gebracht hat, Gegenwart mit Vergangenheit verschmelzen.35 Erinnerung und Vergegenwärtigung sind hier nicht linear ausgerichtet, sondern das Resultat einer imaginativen Schau. In dieser imaginativen Schau verbinden sich heterogene mediale Qualitäten, die fotografische Momentaufnahme weicht der auf Dauer gestellten Kristallisation verfließender Zeit im Stillleben und in gestischen Stills. Handlungszeit wird zugunsten einer Zeit des Wartens ausgesetzt. Mit einem Wortspiel, zu dem Alexander Kluge in einer seiner »Geschichten« aus dem Band Dezember einlädt, ließe sich sagen, dass sich in epischen Kurzformen jüngerer Zeit der »Riß« der Zeit, wie er sich im Augenblick, in der Momentaufnahme manifestiert, zuweilen in eine Reise in diesen »Riß« hinein verwandelt.36 Das Beispiel Gruenter, das für eine innerpsychische Perspektivierung polychroner Zeit einsteht, findet allerdings schon in Kurzprosaformen der Moderne nach 1900 Vorbilder. Robert Musils 1924 sowohl im Prager Tagblatt wie im Berliner Tageblatt erschienener Text Hellhörigkeit, wegen seiner Dichte und Kürze formal wahrhaftig eine Miniatur, schildert auf engstem Raum den Wartezustand eines berichtenden Ich-Erzählers, der, gleichsam im Zustand einer die Zeit stillstellenden Trance, dem »stummen Gebaren« einer weiblichen Person lauscht, die sich im Hotelzimmer entkleidet. Nicht der Sehsinn, konventionell als der ranghöchste eingestuft, sondern der 34 35 36
Gruenter: Epiphanien, abgeblendet (s. Anm. 31), S. 21. Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Übersetzt v. Klaus Englert. Frankfurt a. M. 1991. Alexander Kluge: 23. Dezember 1999: Zeit ist nicht gutmütig, in: ders., Gerhard Richter: Dezember. Berlin 2010, S. 74.
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auditive Sinn übernimmt hier die Aufgabe, Nuancen von »hundert kleinen Handlungen« zu registrieren: [. . .] ich sehe nicht hin. [. . .] Ich höre Dich das Nachthemd anziehn. Aber damit ist noch lange nicht alles vorbei. Wieder gibt es hundert kleine Handlungen. Ich weiß, daß Du dich meinethalben beeilst; offenbar ist das also notwendig, gehört zu deinem engsten Ich, und wie das stumme Gebaren der Tiere vom Morgen bis zum Abend ragst du breit, mit unzähligen Griffen, von denen du nichts weißt, in etwas hinein, wo du nie einen Hauch von mir gehört hast! Zufällig fühle ich es, weil ich Fieber habe und auf dich warte. (GW II, S. 490)
Der Höhepunkt der erotischen Begegnung zwischen Mann und Frau ereignet sich hier paradoxerweise im Aussetzen des optischen Augen-Blicks, dafür im Zustand einer ›bewusstlosen‹ Annäherung der Körper, die sich in der physischen Ferne tangieren. In Momenten und Handlungen, die sich außerhalb einer bestimmbaren Zeit abspielen, da sie sich in der Projektion des Hörers formieren und realisieren, öffnet sich das Ich mit allen seinen Sinnen seinem Gegenüber. Der Fieberwahn dehnt diese das Register des Optischen überschreitenden Augenblicke der Nähe ins Unendliche. Zu der Kürze und Dichte der von Musil gewählten Form treten sie in einen scharfen Kontrast. Sie präsentieren sich als Elemente einer ästhetischen Eigenzeit, die nicht in messbare Zeitparameter überführt werden kann. Rezeptionsästhetisch kann Musils Figuration ästhetischer Zeitgestaltung als Versuch gelten, den Leser in einen Grenzbereich temporaler Erfahrung hinein zu nehmen. Einen noch expliziteren Zugang zur Darstellung medial konstruierter, polychroner Zeiterfahrung sucht Alexander Kluge in seinen geschichtsphilosophisch motivierten Geschichten, die er auch ›Miniaturen‹ nennt. Als literarischer Autor, Journalist, Filmemacher und Produzent von Videoclips entwickelt Kluge ein Konzept ästhetischer Eigenzeit, das mehrere Medien integriert. Er bezieht in seine Texte Zeichnungen, Grafiken, Stills oder gar, wie in seinem mit Gerhard Richter herausgegebenen Band Dezember, bearbeitete Fotografien ein. In dieser multimedialen Ausrichtung zeigen sich seine Geschichten an massenmedial erzeugte Wirklichkeiten anschlussfähig, treten zu diesen allerdings kritisch in Distanz. Sie setzen nicht etwa, wie TV-Nachrichten, auf die Übermittlung von Fakten, von Informationen, sondern auf die Sichtbarmachung menschlicher Eigentümlichkeiten, zufälliger Ereignisse, die für historische Verläufe und Entscheidungen maßgeblich waren. Bei seinen Miniaturen, so Kluge, handle es sich um »Konzentrate«, d. h. »montagefähige, in sich geschlossene Kürzel, um Kurzschrift[en] der Erfahrung [. . .], um mikrostrukturelle Erzählweise[n]«.37 Kluges Geschichten setzen ganz bewusst an der Schnittstelle von historischem Dokument und Erfindung an. Sie entfalten ihr subversives, ihr kritisches und geschichtsphilosophisches Potential 37
Klaus Eder, Alexander Kluge: Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste. München, Wien 1980, S. 5.
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aus der Einsicht, dass in der Erfindung die Voraussetzung für die Kommunizierbarkeit von Realität liegt. Kluge interessieren die Kräfteverhältnisse, die zwischen menschlichen Bemühungen entstehen – Formen von Abweichung. In seinem kleinen Text Die Macht der unsichtbaren Kräfte beruft er sich auf ein naturwissenschaftliches Diktum, dem zufolge es Gewohnheiten, Trägheiten und Tätigkeiten von Menschen sind, die eine Art morphologische Gravitation erzeugen. Von solchen Gewohnheiten, Gravitationen abzuweichen, etwas ganz Individuelles zu tun, sei schwerer, als ihnen zu folgen.38 Alexander Kluges Geschichten möchte ich als Realisationen eines Denkens in Abweichungen bezeichnen. Abgewichen wird hinsichtlich der Gestaltung von Temporalität von einer narrativen Linearität zugunsten einer Desynchronisation von Handlungsführungen, Perspektiven und Diskursen. Während Hartmut Rosa die Desynchronisation als Signum der Beschleunigung aus soziologischer Perspektive für sozial unterverträglich hält und hier gewisse Gefahren der Zersplitterung sieht,39 kommt ihr bei Kluge als Modus ästhetischer Eigenzeit eine geschichtsphilosophische und kulturdiagnostische Funktion zu. Eine der zahllosen Geschichten, in denen Kluge die unsichtbaren Facetten wahrgenommener historischer Zeit durch eine Abweichung der Perspektive lesbar macht, ist der Bericht einer abgebrochenen Matinee-Vorstellung in einem Halberstädter Kino am Sonntag, den 8. April 1945. Das »Capitol« wird von einer Serie von Angriffswellen aus der Luft erschüttert, der gewohnte Verlauf einer Kinovorstellung – es wird der Spielfilm Heimkehr mit Paula Wessely und Attila Hörbiger gezeigt – jäh unterbrochen: »Jetzt sah Frau Schrader, die in die Ecke geschleudert wird, dort, wo die Balkonreihe rechts an die Decke stößt, ein Stück Rauchhimmel, eine Sprengbombe hat das Haus geöffnet und ist nach unten, zum Keller, durchgeschlagen.« Und es heißt weiter: »Die Verwüstung der rechten Seite des Theaters stand in keinem sinnvollen oder dramaturgischen Zusammenhang zu dem vorgeführten Film.«40 Desynchronisation greift hier in einer semantischen und in einer temporalen Perspektive: Die ideologisch verklärte Wirklichkeit, die der Film Heimkehr darstellt, ist auf die Verwüstung des Kinoraums nicht übertragbar. Die beiden »sozialen Teilbereiche« sind in den Worten Rosas nicht übersetzbar.41 In temporaler Hinsicht verbindet Kluges Geschichte unterschiedliche Zeithorizonte: die biographische Zeit der Protagonistin als Zeit des Traumas mit der historischen Zeit des Ereignisses und – durch das Bild des Filmplakats vermittelt42 – mit der künstlichen Erzeugung einer historischen Gegenwart, die mit der fak38 39 40 41 42
Alexander Kluge: Die Macht der unsichtbaren Kräfte, in: ders.: Die Kunst, Unterschiede zu machen. Frankfurt a. M. 2003, S. 16–17, hier S. 16. Rosa: Beschleunigung (s. Anm. 2), S. 44. Alexander Kluge: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a. M. 2008, S. 7. Rosa: Beschleunigung (s. Anm. 2), S. 44. Das Filmplakat wirbt für den deutschen, anti-polnischen Propagandafilm Heimkehr von Gustav Ucicky aus dem Jahr 1941, der suggeriert, dass alle ›Volksdeutschen‹ in einem großdeutschen Reich befreit werden müssten.
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tischen Gegenwart der Historie nicht in Einklang steht. Das Plakat würde so gesehen erst durch den Hiatus, die Nichtübereinstimmung verschiedener Wirklichkeitswahrnehmungen, zu einem Dokument im Sinne Kluges. Werden doch die Zeithorizonte im Vollzug eines Erzählens, das Tempi mischt, elliptisch, sprunghaft verfährt und Bildmaterial einbringt, wie unpassende Puzzlestücke miteinander kombiniert. Die polychrone Strukturierung geschichtlicher Zeit durch Verfahren der Bricolage bringt ein neues Verständnis von Dokument und Dokumentation hervor. Das Erzählen entlang der Risse der Zeit evoziert Gefühle und Idiosynkrasien, macht eine irrationale Seite des Realen lesbar und öffnet die historische Gegenwart für unsere Gegenwart, die zugleich Zukunft ist. Kluges intermediales Spiel mit Bild und Text befördert den Eindruck, dass erst Verfahren der Entschleunigung das in Prozessen der Beschleunigung Verschwindende aufzufangen und zu binden in der Lage sind. »Nur das, was als Gegenwärtigkeit verlangsamt wird«, so schreibt er, »kann auch in die Zukunft gerissen, gerettet werden.«43 Mein Beitrag konnte am Beispiel poetischer Modellierungen polychroner Zeitgestaltung zeigen, dass epische Kurzformen der Moderne insbesondere die Medialität ästhetischer Eigenzeitlichkeit zum Gegenstand ihrer experimentellen Verfahren machen. Epische Kurzformen der jüngeren und jüngsten Zeit intensivieren die Spannung eines paradoxen Zeitbewusstseins. Sie erweitern vermeintlich objektivierbare Zeitparameter um neue Erfahrungsdimensionen von Zeit, die sie dank narrativer, rhetorischer und medialer Strategien erzeugen. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit aber auch auf den Befund, dass gerade der ästhetische Anspruch der Kürze eine Erweiterung literarischer Darstellungsmöglichkeiten in der Auseinandersetzung mit (technischen) Bildmedien nach sich zieht.
43
Kluge/Richter: Dezember (s. Anm. 36), S. 73 f.
Dominik Müller
»In Prag gab es doch Aufregenderes zu lesen als Walsereien« Zur Publikation von Robert Walsers Feuilletontext Hodlers Buchenwald in der Prager Presse1 Abstract: Robert Walser spent his last productive years in Bern. Though local concerns often underlay the writings Walser composed during that period, he nonetheless submitted these prose works for publication abroad. Hodlers Buchenwald appeared in the Prager Presse in 1929. Readers of this periodical did not know what to make of Walser’s commentary on a newly inaugurated monument in Bern; nor could they understand that by praising a particular painting of Ferdinand Hodler, which the writer compared favorably to the aforementioned monument, Walser had thrust himself into the debate over the Bernese painter. One may thus draw the conclusion that Walser deliberately selected an uninformed readership for this sort of text, in the belief that these readers were less interested in the local issues which initially inspired Walser to compose the text than in the playful and artistic style of the feuilleton itself.
1. Am »falschen« Ort, zur »falschen« Zeit In Bern war ich manchmal wie besessen. Ich jagte wie der Jäger hinter dem Wild den poetischen Motiven nach. Am fruchtbarsten erwiesen sich Promenaden durch Straßen und lange Spaziergänge in die Umgebung der Stadt, deren gedanklichen Ertrag ich dann zuhause aufs Papier brachte. [. . .] Mein bester Kunde war damals die vom tschechischen Staat finanzierte ›Prager Presse‹, deren Feuilleton-Redaktor
1
Der vorliegenden Beitrag ist die überarbeitete und geringfügig erweiterte Fassung eines Vortrags, der im Rahmen des Kolloquiums der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft »Robert Musil und das literarische Leben seiner Zeit« (12.–14. April 2012) ein Porträt des Feuilletonisten Robert Walser entwerfen sollte. Für die äußerst zuvorkommende Hilfe bei der Beschaffung von Kopien des Erstdrucks von Hodlers Buchenwald in der Prager Presse, des einschlägigen Mikrogrammblattes 513 und dessen Transkription danke ich Barbara von Reibnitz und Christian Walt vom Herausgeberteam der Kritischen Robert Walser-Ausgabe sowie Lucas Marco Gisi vom Berner Robert Walser-Zentrum. Beim Titelzitat handelt es sich um eine von Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Neu hg. im Auftrag der Carl-SeeligStiftung und mit einem Nachwort versehen v. Elio Fröhlich. Mit Photographien v. Carl Seelig. Frankfurt a. M. 1990, S. 113, überlieferte Bemerkung Robert Walsers über dessen Prager Leser.
»In Prag gab es doch Aufregenderes zu lesen als Walsereien«
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Otto Pick alles von mir brachte, was ich schickte, auch Gedichte, die von anderen Zeitungen wie Bumerangs zurückflogen.2
Carl Seelig gibt in seinen Wanderungen mit Robert Walser die Erinnerungen seines Schützlings an dessen Berner Jahre in direkter Rede3 wieder. Die Hinweise darauf, dass Bern und seine Umgebung die reiche Produktion von Prosastücken in diesen Jahren stimulierten und Prag für diese der privilegierte Publikationsort war, stehen darin unvermittelt nebeneinander. Dabei war Walsers Lebensraum nicht bloß die austauschbare Kulisse für die Entstehung dieser Texte, sondern wird darin auch häufig zur Sprache gebracht. Deshalb stellt sich die Frage, ob dafür das Prager Publikum eigentlich nicht das falsche war, zumal Walser es in Bezug auf Lokalitäten und Lokalangelegenheiten oft bei Anspielungen bewenden ließ, die nur von Ortskundigen zu entschlüsseln waren. Mutmaßungen zu diesen Fragen sollen hier anhand eines Beispieltextes angestellt werden, der seinen Ausgang in der Schilderung eines Berner Spaziergangs nimmt und am 13. Dezember 1925 unter dem Titel Hodlers Buchenwald in der Prager Presse erschien.4 Wenn diese Überlegungen auf ein Forum von Musil-Kennern getragen werden, ist natürlich von Belang, dass die Prager Presse in den frühen 1920er Jahren auch für Robert Musil eine große Rolle spielte. Sehr weitreichende Rückschlüsse können aus dieser Koinzidenz hier allerdings nicht gezogen werden. Diese dokumentiert aber immerhin die transnationale Vernetzung des Feuilletons in der fraglichen Zeit. Dessen Texten, den ›Feuilletons‹ im engeren Wortsinn, ist häufig ein weltläufiger Zug anzumerken. Sie nehmen zwar im Lokalen ihren Ausgang, machen daran dann aber etwas Symptomatisches aus und heben es auf eine allgemeinere Bedeutungsebene. So schreibt Walser dem Feuilletonredakteur der Prager Presse, Otto Pick, im Begleitbrief zu einer Manuskriptsendung: »Hier übersende ich Ihnen anläßlich des vor zwei Wochen stattgefundenen Berner Kostümfestes das Gedicht ›Festzug‹, dem ich eine Allgemeinbedeutung einzuhauchen bestrebt war.«5 Viele Prosastücke Walsers verweigern sich jedoch diesem Verallgemeinerungsgebot. Das Undurchsichtige gewisser Anspielungen gehört hier offenbar gerade zum Kalkül. Die Publikation am »falschen« Ort, vor dem »falschen« Publikum ist ein Mittel, den Texten noch zu einem Mehr an artistischer Verspieltheit zu verhelfen. 2 3
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Seelig: Wanderungen mit Robert Walser (s. Anm. 1), S. 11. Karl Wagner: »Österreicheleien«, in: Wolfram Groddeck, Reto Sorg, Peter Utz, Karl Wagner (Hg.): Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forschung. München 2007, S. 97–105, hier S. 99, empfiehlt als »Faustregel für die Wanderungen«: »je direkter die Rede, desto weniger ist sie von Walser«. Erste Überlegungen zu diesem reizvollen Prosastück brachte ich bereits vor in Dominik Müller: Der liberale Bundesstaat (1830–1848–1914), in: Peter Rusterholz, Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stuttgart, Weimar 2007, S. 104–173, hier S. 171 f. Robert Walser: Briefe. Hg. v. Jörg Schäfer unter Mitarbeit v. Robert Mächler. Zürich 1979, S. 304 (17. 9. 1929).
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Für Uneingeweihtheit kann nicht nur örtliche, sondern auch zeitliche Distanz sorgen. Heutige Leserinnen und Leser können Walsers Feuilletons ähnlich irritiert gegenüberstehen wie die Leserinnen und Leser der Prager Presse. Ungleichzeitigkeit ist indessen – anders als »Ungleichortigkeit« – immer wieder Gegenstand des Nachdenkens in Walsers Feuilletontexten, auch in Hodlers Buchenwald. Sachkommentare bringen zwar erhellende Einblicke in die Entstehungskontexte von Walsers Feuilletontexten, sorgen aber auch für eine Verfälschung, indem sie diese zumindest punktuell der Undurchschaubarkeit berauben, die für sie konstitutiv ist.
2. Robert Walser und die Prager Presse Walsers Zusammenarbeit mit der Prager Presse war ausgesprochen intensiv. Barbara von Reibnitz vermutete, dass sie »für Walsers schriftstellerische Entwicklung in der 2. Hälfte der 1920er Jahre« von »kaum zu überschätzender Bedeutung war«.6 Zwischen 1925 und 1933 wurden hier 205 Texte Walsers – meist erstmals – veröffentlicht,7 mehr als in jeder anderen Zeitung. Knapp die Hälfte davon waren Gedichte. Was die Zahl, allerdings nicht den Gesamtumfang der Beiträge angeht, übertrumpfte Robert Walser damit auch Robert Musil, der Anfang der 1920er Jahre als Wiener Kulturkorrespondent und Theaterkritiker zum festen Mitarbeiterstab der Zeitung gehört hatte. Anders als Musil musste Walser mit jeder Manuskriptsendung den Feuilletonredakteur Otto Pick von Neuem um einen Abdruck bitten. Folgt man Daniel Spitzers Umschreibung, war bei der Prager Presse von den beiden Autoren nur Walser ein Feuilletonist im spezifischen Sinn, nämlich ein »Journalist ohne Portefeuille«.8 Nur er durfte oder musste die damit verbundene Lizenz ausschöpfen, über »alles und über nichts« zu schreiben.9 In der Zeit, in der Walser in der Prager Presse publizierte, lebte er ausschließlich von solcher Zeitungsarbeit, war also vollberuflicher Feuilletonist. Für Bücher fand er inzwischen keine Verleger mehr. Rowohlt war der letzte 6
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Barbara von Reibnitz: Feuilletons für Zürich, Berlin, Frankfurt und Prag. Zum druckortbezogenen Editionskonzept der Kritischen Robert Walser-Ausgabe, in: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 22/3 (2012), S. 581–598, hier S. 595. Reibnitz: Feuilletons für Zürich, Berlin, Frankfurt und Prag (s. Anm. 6), S. 593. Die Nachweise versammelt das Findbuch, das in aktualisierter Form auf der DVD zu finden ist, die jedem Band beiliegt von: Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Frankfurt a. M., Basel 2008 ff. Die Aussage aus dem Jahre 1886 wird ohne Quellenangabe im Einleitungstext des Herausgebers zu Daniel Spitzers Die Dummheit strikt zitiert, in: Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Sensationen des Alltags. Meisterwerke des modernen Journalismus. Wien 1992, S. 24. Peter Utz: Zu kurz gekommene Kleinigkeiten. Robert Walser und der Beitrag des Feuilletons zur literarischen Moderne, in: Elmar Locher (Hg.): Die kleinen Formen in der Moderne. Bozen u. a. 2001 (= Essay & Poesie, Bd. 13), S. 133–165, hier S. 144. Dieser Beitrag von Peter Utz ist wegleitend für die vorliegenden Ausführungen.
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gewesen, der 1925 noch eine Aufsatzsammlung – Die Rose – gedruckt hatte. Mit diesem Buch war Walser ein letztes Mal der auch von Berühmtheiten des Feuilletons stets gehegte Wunsch erfüllt worden, den flüchtigen Zeitungsbeiträgen zwischen zwei Buchdeckeln ein Nachleben – »Nachlaß zu Lebzeiten« – zu sichern. Walser war gezwungen, gleichsam im Akkord Gedichte, vor allem aber Prosastücke zu verfassen. Das geschah in diesen Jahren auf den legendären Mikrogrammen. Was dort an Publizierbarem entstand, schrieb Walser ins Reine und schickte es dann – als »zäher Prosafortsetzender«,10 wie er sich in einem Brief an Otto Pick selber bezeichnete – an Redaktionen in der Schweiz und im Ausland; eine Arbeit, die, mit eiserner Energie betrieben, die Honorare gerade noch am Tröpfeln hielt. Vor allem dank der materialreichen Untersuchung von Kurt Ifkovits11 wissen wir relativ gut Bescheid über die Prager Walser-Rezeption nach dem Ersten Weltkrieg. Ihre Exponenten waren, neben Max Brod, dem Feuilletonchef der zweiten deutschsprachigen Tageszeitung, dem Prager Tagblatt, der Chefredakteur der Prager Presse, Arne Laurin, und der Leiter des Feuilletons, Otto Pick. Laurin und Pick hatten zusammen mit Franz Werfel, Egon Erwin Kisch und Franz Blei 1918 im Wiener Kriegspressequartier der »Redaktionellen Gruppe bzw. F.[eind] P.[ropaganda]-Truppe« angehört, die von Musil geleitet wurde und mit der Herausgabe der Zeitschrift Heimat betraut war.12 Es ist schwer vorstellbar, dass die Herren dort in den turbulenten Monaten des Kriegsendes Gespräche über Robert Walser führten. Aber es ist doch auffällig, dass sich an dieser Arbeitsstelle so viele Exponenten der österreichischen Walser-Rezeption zusammenfanden. Pick und Laurin hatten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg über Robert Walser geäußert, was Kurt Ifkovits als Hinweis darauf deutet, dass der Schweizer Autor »innerhalb der Prager deutschen Literaten als Maßstab«13 galt. Pick schrieb schon 1911 – wie drei Jahre später auch Robert Musil14 – in einer Sammelrezension über Walser. Laurin tat dies 1913 in einem Artikel, der sich mit den Konsequenzen des Kinos für die Literatur beschäftigte. Neben denjenigen, die unter dem Eindruck technischer Innovationen eine »neue 10 11
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Robert Walser an Otto Pick, 5. 4. 1928, in: Walser: Briefe (s. Anm. 5), S. 325. Kurt Ifkovits: Robert Walsers Prager Spuren, in: Wolfram Groddeck, Reto Sorg, Peter Utz, Karl Wagner (Hg.): Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forschung. München 2007, S. 107–124. Zu Walsers Veröffentlichungen in den Prager Zeitungen außerdem von Reibnitz: Feuilletons für Zürich, Berlin, Frankfurt und Prag (s. Anm. 6), S. 593–598. Überlegungen dazu, warum die sehr innovativen Texte Walsers gerade in Prag so wohlwollend aufgenommen wurden, stellt Almut Todorow: Ekphrasis im Prager Feuilleton der Zwischenkriegszeit. Malerei-Texte von Robert Walser, in: Sibylle Schönborn (Hg.): Grenzdiskurse. Zeitungen deutschsprachiger Minderheiten und ihr Feuilleton in Mitteleuropa bis 1939. Essen 2009, S. 193–208, an. Ifkovits: Robert Walsers Prager Spuren (s. Anm. 11), S. 113. Ifkovits: Robert Walsers Prager Spuren (s. Anm. 11), S. 111. Robert Musils Literarische Chronik erschien im August 1914 in der Neuen Rundschau – vgl. GW 9, S. 1465–1471, zu Robert Walser S. 1467 f.
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Dichtkunst« entwickelten, macht Laurin auch eine Gruppe von Autoren aus, die »nach zarten Worten rufen, sich nach sanfter Liebkosung sehnen, voll Bitternis gegen den neuzeitlichen Lärm«15 . Pick nennt als Exponenten dieser Gruppe Max Brod und Robert Walser, beide fast rührend in ihren vergeblichen Bemühungen, aus der Vergangenheit etwas, das schon der Fäulnis zum Opfer fiel, für die Gegenwart zu bewahren. Gegen sie steht das moderne Zeitalter und sie werden zu den Verlierern zählen.16
Walser als – wie man heute sagen würde – ›Modernisierungsverlierer‹, als einer, der der eigenen Zeit den Rücken zukehrt: Wie diese Einschätzung zustande kommen konnte, liegt ebenso auf der Hand, wie dass sie falsch ist. In diesem Bild von Walser kann man aber eine Ursache dafür sehen, dass die Redakteure der Prager Presse dem Autor aus der Schweiz so großzügig ihre Spalten öffneten.17 Ein Autor, der aus einem verhältnismäßig fernen, neutralen Land leicht anachronistische und damit politisch unverdächtige Texte von hohem literarischen Niveau einsandte, kam – so die Vermutung von Kurt Ifkovits – der Redaktion, die mit ihrer vom tschechoslowakischen Außenministerium getragenen deutschsprachigen Zeitung in einem ideologisch stark verminten Feld agierte, sehr gelegen.18
3. Das Bider-Denkmal von Hermann Haller Hodlers Buchenwald evoziert in seinen Anfangssätzen den Aufbruch zu einem jener Stadtspaziergänge, wie Walser sie in seinen Erinnerungen als wichtigen Produktionsstimulus der Berner Zeit beschrieb. Dass der Name der Stadt nicht fällt, aber eine Sehenswürdigkeit genau bezeichnet wird, die dem Ortskundigen eindeutig Bern verrät, bringt den Text sogleich in einen Schwebezustand zwischen Fiktion und Realitätsbezug. Ich frühstückte herrlich und in Freuden, aber man sollte so etwas nicht so laut sagen in einer Zeit, wo zartere Naturen die unzarteste Menge von Sorgen auf ihren Schultern tragen. Dann lenkte ich meine Schritte, die eines Menschen Schritte sind, der auf der Höhe seiner Epoche zu stehen scheint, zum Denkmal Oskar Bi15 16
17
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Ifkovits: Robert Walsers Prager Spuren (s. Anm. 11), S. 112. Ifkovits: Robert Walsers Prager Spuren (s. Anm. 11), S. 112; der Walser betreffende Abschnitt aus Laurins Beitrag wird von Ifkovits im tschechischen Original und in deutscher Übersetzung zitiert. Als Fürsprecher Walsers fungierte auch Franz Blei, der ebenfalls für die Prager Presse schrieb. Dazu: Anne Gabrisch: Robert Walser und Franz Blei – Oder: vom Elend des literarischen Betriebs. Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft. Berlin 1999, in: http://robertwalser.ch/fileadmin/redaktion/dokumente/jahrestagungen/vortraege/ gabrisch99.pdf (Zugriff am 3. 9. 2012), S. 6. Ifkovits: Robert Walsers Prager Spuren (s. Anm. 11), S. 120. Todorow: Ekphrasis im Prager Feuilleton der Zwischenkriegszeit (s. Anm. 11) bringt demgegenüber auch die Aufgeschlossenheit des Prager Publikums für avantgardistische Kunst ins Spiel.
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Abb. 1: Hermann Haller: Denkmal für Oskar Bider (1924), Bern, Kleine Schanze.
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ders hin, ging rund um dasselbe herum und bekam den Eindruck von etwas Schönem.19
Die Schreiberfigur, die sich hier präsentiert, ist aus dem Feuilleton wohlbekannt: der Flaneur, der sich zu einem Stadtspaziergang aufmacht, auf Pirsch, um der Gegenwart eine noch unentdeckte Seite abzujagen. Er steht auf der Höhe seiner Epoche. Indem er aber gleich selber sagt, er erwecke diesen Anschein, rückt er sich selber ins Zwielicht. Von Flaneuren vernimmt man gewöhnlich auch nicht, dass sie frühstücken, bevor sie sich an ihr Werk machen. Haben wir es statt mit einem Flaneur also nur mit einem zu tun, der den Flaneur spielt? Das Eingeständnis, den Frühstücksfreuden könnte in einer von materieller Not überschatteten Zeit etwas Anrüchiges anhaften, mag die Behauptung vom Auf-der-Höhe-der-Epoche-Stehen stützen. Dass der Schreiber aber lieber seine Bedenken ausbreitet, statt die Bemerkung über das Frühstück einfach zu unterdrücken, lässt ihn als ein loses Plappermaul erscheinen. Der Text lanciert Versatzstücke des Feuilletons und unterminiert sie gleichzeitig. Moderne Kunst im öffentlichen Raum ist allerdings ein valables Feuilleton-Thema. Oskar Bider, dem es 1913 als Erstem gelang, von Bern nach Mailand die Alpen zu überfliegen, war möglicherweise 1925 dem Prager Publikum noch bekannt. Walser hält es jedenfalls nicht für nötig, zu erklären, um wen es sich handelt. Bestimmt wäre sein Publikum aber auf die Auskunft angewiesen gewesen, dass für Bider am 25. Oktober 1924 auf der Kleinen Schanze, einem zum Park umgestalteten Stück der alten Berner Stadtbefestigung mit Alpensicht, ein Denkmal (Abb. 1) eingeweiht worden war. Sein Schöpfer, Hermann Haller, war in der Zeit der wohl angesehenste Schweizer Bildhauer, dessen Ruhm auch über die Landesgrenzen ausstrahlte.20 Als Anhänger einer gemäßigten Moderne blieb er der gegenständlichen Kunst treu, anders als sein Stuttgarter Studienfreund Paul Klee und sein Pariser Kollege Alberto Giacometti. Für das Berner Denkmal schuf er eine schlanke Figur, die sich mit ausgebreiteten Armen über eine Kugel erhebt und Flieger und Flugzeug in einem darstellt. Das Himmelstürmerische wird durch einen überhohen, schlanken Sockel zusätzlich betont. Bei der Berner Bevölkerung stieß Hallers Werk offenbar auf Unverständnis, Ablehnung und Spott. Ein so
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Robert Walser: Wenn Schwache sich für stark halten. Prosa aus der Berner Zeit 1921–1925. Zürich, Frankfurt a. M. 1986 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven, Bd. 17), S. 187. Zitate aus dem Text werden künftig mit der Sigle BW zitiert. Erstmals in Buchform publiziert wurde der Text unter dem Titel Hodler’s Buchenwald in Robert Walser: Große kleine Welt. Eine Auswahl hg. v. Carl Seelig. Erlenbach-Zürich, Leipzig 1937, S. 92–95. Diese Publikation führte zu zwei Nachdrucken von Hodler’s Buchenwald in den Feuilletons von Schweizer Zeitungen: in der Morgenausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 16. 10. 1937 und im Sonntagsblatt der Solothurner Zeitung vom 30. 10. 1937. Vgl. Maria Apel: Artikel »Hermann Haller«, in: Biographisches Lexikon der Schweizer Kunst. Hg. v. Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft. Bd. 1. Zürich, Lausanne 1998, S. 456 f.
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schmächtiger Körper21 schien nicht zu einem Denkmal zu passen und wirkte in seiner expressiven Pose grotesk verzerrt. Das Schlimmste aber war, dass man im dem Alpenpanorama zugewandten Gesicht der Figur negroide Züge glaubte ausmachen zu können. Fassbar wird die Entrüstung, die sich – vor der Einführung der Rubrik »Leserbriefe« in den Zeitungen – vorwiegend an den Stammtischen Luft gemacht haben dürfte, in zwei Feuilletontexten, die in der Woche nach der Denkmalseinweihung in den Berner Tageszeitungen Der Bund und Neue Berner Zeitung erschienen.22 Die beiden Artikel resümieren vorerst ausführlich die Argumente der Kritiker, um diesen dann behutsam, aber bestimmt entgegenzutreten. Der Bund-Redakteur schreibt: Gehen wir einmal wirklich nur des Betrachtens wegen auf die Kleine Schanze und versparen wir unsere Aussetzungen, und wenn wir ehrlich um das Verständnis des Denkmals bemüht waren, so werden wir sehen, daß unsere Aussetzungen nachher zu einem kleinen Häufchen herabgeschmolzen, wo nicht ganz verschwunden sind.23
Auch der Autor des Artikels in der Neuen Berner Zeitung schlägt einen Gang zum Denkmal vor, wo er den Kommentaren der Passanten lauscht: Schrecklich sagt ein Fräulein, das in Begleitung seines Schatzes ist. Schaut die Bronzefigur an, betrachtet darauf ihren flotten, schöngewachsenen Liebsten, nimmt ihn am Arm und flüstert ihm ins Ohr, daß er ihr tausendmal besser gefalle, als der Neger dort oben. Ein anderer ist der bestimmten Ansicht, daß die ganze Figur total mißglückt und verzeichnet ist. So geht es weiter, unter zehn Besuchern ist nicht einer der sagt, das ist nun wirklich schön. Ein alter grauer Herr ist der Ansicht, daß die ganze Kunst in einer Sackgasse angelangt ist, und kränker als krank darniederliegt.24
Endlich erscheint ein »liebenswürdiger Herr«, der dem verunsicherten Beobachter dann doch noch eine positive Einschätzung unterbreitet. Ausgehend von der Person des tollkühnen Alpenfliegers interpretiert er die Skulptur als Versinnbildlichung des Wunsches, die Erdenschwere zu überwinden, die Bider in seinem mutwillig herbeigeführten Tod25 dann doch wieder einholte. Die Auslassungen über das Bider-Denkmal in Hodlers Buchenwald haben mit den beiden zitierten Feuilletons so viele Gemeinsamkeiten, dass die Annahme nahe liegt, Walser habe zumindest eines der beiden gekannt. Alle drei Texte inszenieren die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk als 21 22 23 24 25
Auffallende Schmächtigkeit zeichnete auch die Reiterfigur von Hallers ebenfalls umstrittenem Zürcher Denkmal für Hans Waldmann aus. In ihren Ausgaben vom Montag, dem 27. 10. 1924, berichteten die beiden Zeitungen bereits ausführlich über die Einweihungsfeier. Das Bider Denkmal, in: Der Bund, 31. 10. 1924. Vom Bider-Denkmal, in: Neue Berner Zeitung, 30. 10. 1924. Bider stürzte am 17. 7. 1919 ab, als er in betrunkenem Zustand Freunden seine Fliegerkünste demonstrieren wollte.
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Schilderung eines Spaziergangs. Sie kritisieren die Schnellfertigkeit der öffentlichen Ablehnung und stellen dieser dann, nicht ganz ohne dabei den volkserzieherischen Zeigefinger zu erheben, ihr Lob der Skulptur entgegen. Dies alles wird bei Walser in wenige Sätze komprimiert, die wie eine Parodie der sorgfältig argumentierenden Vorgängertexte anmuten. Das Lob ist auffallend unspezifisch gehalten und scheint sich, indem es sich als Frucht von Autoritätsgläubigkeit zu erkennen gibt, gleich selber zu untergraben. Meine bescheidene Meinung ist, man tut gut, vor einem Kunstwerk, das von der Gemeinde oder vom Staat von einem Künstler bestellt worden ist, und das auf dem und dem Platz aufgerichtet wurde, zunächst Respekt zu haben. Die meisten unserer Mitbürger glauben da immer gleich ihren Senf, will sagen, ihr Dafürhalten zum Besten geben zu können, als wenn jedes Werk gleich von ihnen begriffen sein müßte, und, wenn das nicht der Fall ist, so zu abfälligen Bemerkungen berechtigt seien. (BW, S. 187)
Vom Feuilletonisten erwartete man, dass er eine Meinung vertritt. Der Walser’sche Feuilletonist tut sich denn auch explizit als Meinungsträger hervor, hat aber eigentlich nichts Eigenes zu sagen. So erfahren die Prager Leser weder, worum es sich bei diesem Denkmal nun genau handle, noch, was der Berichterstatter wirklich darüber denke.26 Unterschlagen wird auch der Name des Künstlers. Dabei muss Walser genau gewusst haben, um wen es sich handelte. Der aus angesehener Berner Familie stammende Hermann Haller (1880–1950) war 1909 in Berlin von Bruno Cassirer in einer ehrenvollen Einzelausstellung als Nachwuchstalent präsentiert worden, genau in der Zeit also, in der das Nachwuchstalent Robert Walser mit Cassirer in engem Kontakt stand und für diesen als Sekretär arbeitete.
4. Der Buchenwald von Ferdinand Hodler Liest man nach dieser Abfertigung überhaupt noch weiter, stößt man dann auf die Evokation eines anderen Kunstwerks, eben jenes im Titel angekündigten »Buchenwalds« von Ferdinand Hodler. Das Gemälde wird nicht explizit mit Hallers Skulptur verglichen. Dem Rückverweis auf die am Denkmal geübte Kritik ist aber deutlich die Schadenfreude anzumerken: Ich kam dann zur Reproduktion eines Gemäldes, die im Schaufester einer Buchhandlung ausgestellt war. Hier blieb ich vergnügt, verjüngt stehen. Ich lachte noch still in mich hinein der Kritik wegen, die vor dem Bider-Denkmal abgeladen worden war. (BW, S. 187)
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Diese Verweigerung, die »die konventionelle Form der Kunstberichterstattung durchlöchert«, hat Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«. Frankfurt a. M. 1998, S. 336, an einem anderen Beitrag nachgewiesen, der unter dem Titel Belgische Kunstausstellung am 4. 8. 1926 ebenfalls in der Prager Presse erschien.
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Abb. 2: Ferdinand Hodler: Der Buchenwald (1885), Öl auf Leinwand, 102 × 131 cm, Kunstmuseum Solothurn.
Hodlers Gemälde27 (Abb. 2) lässt den Flaneur dann auf die feuilletonistische Hochform geistreicher Kommentierung und poetischer Vergegenwärtigungskraft auflaufen, die er in der Einleitungspartie so provokativ vermissen ließ. Die Evokation des Bildes enthält zwei Komponenten: einerseits den Erinnerungsbericht vom Besuch im Haus der Besitzerin des Originals der ausgestellten Reproduktion, andererseits eine eigentliche Ekphrasis. Mit diesem zweiteiligen Beschreibungsarrangement reflektiert Walser hier zehn Jahre vor Benjamin das »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Der Text lässt durchblicken, dass er selber bloß noch die Reproduktion einer Reproduktion darstellt. Walser wäre aber nicht Walser, wenn er dieses Eingeständnis von Unzulänglichkeit nicht umzumünzen wüsste in ein Auftrumpfen, das hier im Vorzeigen eines Exklusivkontakts zum Original besteht. Zur Ekphrasis gehören unter anderem folgende Sätze: 27
Der Buchenwald (Le Bois de Châtelaine), 1885, überarbeitet 1890 und um 1894, Öl auf Leinwand, 102 × 131 cm, bezeichnet unten links »LUX«, unten rechts »1890 F. Hodler«, in: Ferdinand Hodler: Catalogue raisonné der Gemälde. Bd. 1.1: Die Landschaften. Hg. v. Oskar Bätschmann u. Paul Müller. Zürich 2008, S. 158–159.
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Man konnte da in einen winterlich-kahlen Buchenwald hineinschauen, der mit der besten Charakteristik wiedergegeben ist. [. . .] Die Stämme sind schlank, hell und dünn, und hie und da hängen einige klappernde Blätter daran. (BW, S. 188)
Nach einer Abschweifung über die Besitzerin kehrt der Berichterstatter wieder zu dem Gemälde zurück, worin ein kalter Winterwind auf dem Wald liegt, nicht ein sehr starker. Aber was großartig ist: sehen Sie nicht, wie Kälte und kalter Wind ins Bild hineingemalt sind, und das Zappelnde dieser paar Blätter ist ebenfalls gemalt, und der Wald steht in einem kaltblauen, vor Winterbläue ins Grüne hinübergehenden Himmel, und das ist von solcher Abgelauschtheit, Erlebtheit, wie es wenige so überzeugende Beispiele gibt. (BW, S. 188 f.)
Das Flapsige des Textanfangs hat hier einem eindringlichen Ton Platz gemacht. Zum Verbindlichkeitsgestus passt, dass die Leserin/der Leser in typischer Feuilletonmanier direkt angesprochen wird.28 Der Schreiber rühmt die realistische Dimension von Hodlers Kunst, das Vermögen, den Gegenstand zu vergegenwärtigen. Das geschieht vor allem dadurch, dass ihr Darstellungsqualitäten attestiert werden, die das Optische übersteigen: »Kälte«, das »Zappelnde der Blätter«, Temperatur also, Bewegung und Klang. Auch die zusammenfassenden Formeln von der »Abgelauschtheit« und der »Erlebtheit« negieren die Beschränkung auf das Medium des Bildes.29 Im Erinnerungsbericht über den Besuch bei der Besitzerin von Hodlers Gemälde, der zweiten Komponente der Bildevokation, ist zuerst von der Hängung die Rede, allerdings mit Hilfe einer Formulierung, die ihre Uneigentlichkeit selber einbekennt: »Es hing gleichsam so in einer Domestikenstube.« (BW, S. 187 f.) In der Tat kann man sich schlecht vorstellen, dass das Gemälde des renommierten Malers – das zudem in der Breite fast anderthalb Meter misst – in einer Gesindekammer aufgehängt war. So bietet es sich an, die Aussage im übertragenen Sinn als Hinweis darauf zu verstehen, dass es sich hier um ein unscheinbares, intimistisches Bild handle, dem bei einem intimen Besuch die Aufwartung gemacht wird. Wie gesittet es dabei zugeht, zeigt sich daran, dass man ein Gespräch führt über hohe Literatur, über den Schweizer Nobelpreisträger Carl Spitteler. Kommentar: »meine tadellose Aufführung war eine Sehenswürdigkeit.« (BW, S. 188) Die Evokation des erotischen Knisterns zwischen Gast und Gastgeberin wird ausgelagert in eine Landschaftsbeschreibung: »Unten lag ein See wie Seide ausgespannt, wie ein Damengewand von anstandsvollster Durchschimmerigkeit« (BW, S. 188).
28 29
Vgl. Utz: Zu kurz gekommene Kleinigkeiten (s. Anm. 9), S. 160–165. Todorow: Ekphrasis im Prager Feuilleton der Zwischenkriegszeit (s. Anm. 11) illustriert »Walsers eigenwillige feuilletonistische Ekphrasis« (S. 201) unter anderem auch mit der Evokation von Hodlers Buchenwald und nimmt diese als Beleg für Walsers Einsicht, »dass Bilder die Wirklichkeit nicht abbildend wiedergeben und dass sie nicht einfach in Worte übertragen werden können« (S. 202).
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Erneut wird deutlich, dass der Text mit wichtigen Dingen hinter dem Berg hält, auch wenn das nun nicht mehr in so provokant tollpatschiger Weise geschieht wie in der Anfangspartie. Die Verschwiegenheit des Berichterstatters kann für sich ja auch noch in Anspruch nehmen, dass sie die Anonymität der reichen Kunstsammlerin wahren müsse. Hodlers Buchenwald – heute im Besitz des Kunstmuseums Solothurn – gehörte in der fraglichen Zeit dem Sammlerehepaar Oskar und Emma Schmidt-Müller, das es 1911 von Hodler erworben hatte und ca. 1923 seinem Sohn Rudolf Schmidt vererbte.30 Dass Walser – vielleicht mit seinem Bruder, dem Maler Karl Walser – einmal im Hause Schmidt-Müller in Zürich zu Gaste war, ist nicht auszuschließen. Als einen indirekten Hinweise darauf, dass ein solcher Besuch tatsächlich stattgefunden hat, kann die Bezeichnung »Figürchen« gedeutet werden, der dafür sorgt, dass die Besitzerin als ein Stück ihrer eigenen Sammlung erscheint. Zur Schmidt-Müller’schen Sammlung gehörte auch Ferdinand Hodlers Ganzkörperporträt der Hausherrin, für das mir »Figürchen« eine hervorragende Umschreibung zu sein scheint.31 Ferdinand Hodler gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zu den bekanntesten Malern Europas. Die Münchner und die Wiener Sezession ehrten ihn 1903 und 1904 mit großen Ausstellungen. Als er aber 1914 einen Protest gegen die Bombardierung der Kathedrale von Reims unterschrieb, wurden in deutschen und österreichischen Museen seine Bilder abgehängt. In der Schweiz blieb sein Ruhm überaus groß. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten öffentliche Kontroversen für Publizität gesorgt. Sie drehten sich etwa um das vom Kanton Bern erworbene Gemälde Die Nacht von 1890 oder um die Fresken im Schweizerischen Landesmuseum von 1900, die eine kriegerische Niederlage aus der Geschichte der Eidgenossenschaft ins Bild zu setzen wagten. Vollends zum populären Nationalmaler machten Hodler die Landschaften aus dem Hochgebirge. Doch genau von diesen Ruhmestaten im öffentlichen Raum führt Walsers Text weg: »Man kann mit dem Buchenwäldchen nicht Staat machen, und aus diesem Grunde kam es vielleicht ins Mansärdchen hinauf« (BW, S. 188). Hodler und der Diminutiv: Die Verbindung stellt das gängige HodlerBild kühn auf den Kopf.32 Walser, der Mansardendichter, holt sich den be30 31
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Hodler: Catalogue raisonné (s. Anm. 27), S. 159. Bildnis Frau Dr. E. Schmidt-Müller, 1915, Öl auf Leinwand, 147 × 75 cm, bezeichnet unten rechts »1915 F. Hodler«, Privatbesitz Kilchberg, in: Ferdinand Hodler: Ausstellungskatalog Berlin, Paris und Zürich. Zürich 1983, Nr. 187. Spiegel des Hodler-Rezeption und ihrer Präferenzen in den frühen 1920er Jahre ist beispielsweise die Serie von 35 Postkarten mit Schwarz-Weiß-Reproduktionen von Gemälden des Malers, die der Zürcher Verlag Rascher um 1920 veröffentlichte (Ferd. Hodler: 35 Hodler-Karten in Kupferdruck. Zürich ca. 1920, Schweizerische Nationalbibliothek Bern, Signatur: KLb 50 Res.). Die Zahl der Karten verteilt sich sehr ungleich auf die verschiedenen Motivgruppen: Historische Motive, Schlachten etc.: 8; Allegorische Figuren in Gruppen: 8; Allegorische Einzelfiguren: 9; Porträts: 6; Landschaften: 4.
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rühmten Landsmann in seine eigene Welt. Auch dieser verstand sich – so die Botschaft des Textes – auf unscheinbare Gegenstände, was die Distanz zum Prosastückeschreiber verringerte, der mit seinen Feuilletons Blätter beschrieb, wie der Maler die Buchenblätter auf seinem Bild im Wind klappern lässt.33 Das Lob gerade dieses Hodler-Gemäldes scheint indirekt gegen die Stilisierung Hodlers zum nationalen »Großmaler« (wie man in Anlehnung an Musils Wortschöpfung »Großschriftsteller« sagen könnte) zu opponieren. Das würde auch zur Stichelei gegen Carl Spitteler passen, der im Schweizer Kulturleben der Zeit in der Literatur eine ähnliche Rolle als Galionsfigur spielte wie Hodler in der Malerei, obwohl er nie dessen Popularität erreichte. Nicht zufällig wurde Spitteler von Hodler porträtiert und zwar auf Betreiben ihres gemeinsamen Apologeten, Carl Albert Loosli.34 Der Buchenwald ist zwar in Hodlers Schaffen ein Solitär – der Maler gestaltete das Motiv nicht wie in anderen Fällen in unterschiedlichen Fassungen –, es ist aber trotzdem kein abseitiges Werk. Hodler scheint darin zum ersten Mal das Kompositionsprinzip des Parallelismus erprobt zu haben, das insbesondere die großen Gemälde mit allegorischen Figurenreihen bestimmen sollte, die in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1900 entstanden. Hodler veranschaulichte seine Vision des Parallelismus selber einmal mit den Bäumen eines Waldes: Ob die Stämme sich hell auf einem sich immer mehr aufhellenden Hintergrund abheben, oder ob sie himmelwärts streben; es ist immer die gleiche, oft wiederholte Linie, die sich zu einer schönen Einheit verbindet. / Die Ursache, die diese Einheit bedingt, ist der Parallelismus.35
5. Kontexte und Kotexte Dass Robert Walser mit seinem Feuilletontext gegen ein gängiges Hodler-Bild Einspruch erhebt und eine verborgene Facette des Künstlers ins Licht rückt, hätte ein Schweizer Feuilletonpublikum wohl erkannt. Auf die Leserinnen und Leser hingegen, die in der Rubrik »Dichtung und Welt« der Prager Presse auf Hodlers Buchenwald stießen, traf dies wohl schwerlich zu. Für die meisten von ihnen dürfte es sich lediglich um einen amüsanten, evokationsreichen Text gehandelt haben, der sie in der noch gänzlich bilderlosen Tageszeitung 33 34
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Auf die Möglichkeit, im Hinweis auf die klappernden Blätter im Hodler-Text eine Anspielung auf Walsers eigene Feuilleton-Arbeit zu sehen, machte mich Claudia Öhlschläger aufmerksam. Vgl. dazu Carl Albert Loosli: Ferdinand Hodler und Carl Spitteler, in: ders.: Werke. Bd. 7: Hodlers Welt. Kunst und Kunstpolitik. Hg. v. Fredi Lerch u. Erwin Marti. [Zürich] 2008, S. 88–101. Carl Albert Loosli: Ferdinand Hodler. Leben, Werk und Nachlaß. In vier Bänden. Bd. 2. Bern 1922, S. 76.
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dazu einlud, sich ein schönes Gemälde vorzustellen. Von der kritischen Befragung des Denkmals Hodler ist anzunehmen, dass sie buchstäblich auf der Strecke blieb. Der Text wurde so auf »etwas Schönes« reduziert, wie in dem Text Hallers Werk, das die Tradition des Denkmals kritisch zu befragen sucht. Höchstens noch der ironische Ton mochte etwas Widerständiges ahnen lassen. Ihn konnte das feierliche Gedicht Dom von Siena von Josef Kalmer (1898– 1959), das in der Zeitung unmittelbar neben Walsers Text platziert war, im Kontrast noch deutlicher hörbar werden lassen. Seine ersten Strophen lauten: Wie die Blöcke mit der engelgroßen Anmut sich zur Macht des Domes fügen Und den Turm, den Boten, aufwärtsstoßen, Um dem Land als Krone zu genügen, Ist der Kuppel Kugel nur das kleine Erzne Bild für eines Himmels Bogen, Mit dem Gott um Mauern und Gesteine Seines Lichtes Bänder hat gezogen.36
Hodlers Buchenwald reiht sich in eine Serie von 12 Feuilletontexten über Werke der bildenden Kunst und über bildende Künstler ein, die Walser in der Prager Presse veröffentlichte.37 Texte dieser Art scheint Walser mit Vorliebe an diese Zeitung eingesandt zu haben, und es ist nicht auszuschließen, dass er einige davon eigens zu diesem Zweck verfasste. Von den zwanzig Prosatexten und Gedichten Walsers, die Bernhard Echte in der Textsammlung Vor Bildern der Insel-Bücherei vereinigte, waren elf zuerst in der Prager Presse erschienen.38 Wolfram Groddeck hat darauf hingewiesen, dass sich Walsers Bildertexte ausschließlich auf ältere Werke beziehen.39 Die Geste des hier untersuchten Texts, der ein neu entstandenes Werk beiseite schiebt, um sich einem älteren zuzuwenden, ist damit symptomatisch für einen Kunstgeschmack, der an dem orientiert blieb, was Walser in seinen Berliner Jahren schätzen lernte. Das vielleicht auffälligste Beispiel dafür ist ein Prosastück über den englischen Graphiker Aubrey Beardsley (1872–1898), das im Juli 1926 in der Prager 36 37
38 39
Prager Presse (Morgenausgabe), 13. 12. 1925. Olympia (1. 11. 1925); Hodlers Buchenwald (13. 12. 1925); Beardsley (20. 7. 1926); Bildbesprechung (29. 7. 1926); Belgische Kunstausstellung (4. 8. 1926); Sonett auf eine Venus von Tizian (3. 1. 1927); Das Brueghelbild (6. 5. 1927); Renoir (17. 7. 1927); Der verlorene Sohn (22. 4. 1928); Cézannegedanken (3. 3. 1929); Delacroix (19. 10. 1930); Der Berner Maler Albert Anker (8. 5. 1932); Van Gogh (7. 5. 1933). Zu diesem Korpus vgl. Todorow: Ekphrasis im Prager Feuilleton der Zwischenkriegszeit (s. Anm. 11). Robert Walser: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte. Hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Bernhard Echte. Frankfurt a. M., Leipzig 2006 (= Insel-Bücherei, Bd. 1282). Wolfram Groddeck: Robert Walser, in: Konstanze Fliedl, Martina Rauchenbacher, Joanna Wolf (Hg.): Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Berlin, Boston 2011, S. 785–788.
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Dominik Müller
Presse veröffentlicht wurde.40 Beardsley war ein Idol der Buchkünstler der Insel gewesen, zu denen auch Karl Walser gehört hatte, musste aber in den 20er Jahren wie ein Gespenst aus einer völlig entschwundenen Vorzeit erschienen sein. In seiner Berliner Zeit hatte Walser zusammen mit seinem Bruder in Kreisen verkehrt, die der neuen Kunst gegenüber sehr aufgeschlossen waren. Er schrieb damals in bewundernder Weise über van Gogh, einen privilegierten Zankapfel zwischen Konservativen und Progressisten, was deutlich machte, welchem Lager er sich zugehörig fühlte.41 Dass dies später anders wurde, könnte mit der Entfremdung zwischen Robert und Karl Walser im Zusammenhang stehen.42 Karl Walser wusste sich anzupassen, änderte seinen Stil und war in den 1920er und 1930er Jahren in der Schweiz für öffentliche Aufträge ein gefragter Mann, ähnlich wie der eigenständigere Hermann Haller. Dass Robert Walser an dem Kunstgeschmack seiner früheren Jahre festhielt, passt demgegenüber dazu, dass er keine grundlegende Neuorientierung vornahm und mit dem Risiko, auf dem literarischen Markt marginalisiert zu werden, den eingeschlagenen ästhetischen Kurs weiterverfolgte. Ob Walser in Biel und in Bern eine bildende Kunst noch wahrnahm, die ähnlich avanciert war, wie seine eigene Schreibkunst – man hat wiederholt auf diejenige Paul Klees hingewiesen43 –, ist schwer zu eruieren. Darüber geschrieben hat er jedenfalls nicht, oder, wie die Verlautbarungen über das Bider-Denkmal von Klees Studienkollegen Hermann Haller zeigen, nur knapp und wegwerfend. Dagegen veröffentlichte Walser – auch in der Prager Presse – etwa ein Gedicht über den »Berner Maler Albert Anker« (1831–1910). Es scheint Ankers populäre Malkunst durch seinen naiv-treuherzigen Ton imitieren zu wollen (und damit zu verharmlosen). Dabei kann man sich allerdings nicht des Eindrucks erwehren, dass dieser Ton die vordergründige Ehrbezeugung hart an die Grenze der Ironie rückt. Die Aussage, dass Anker mit seiner »Treue«, bei der es sich um mehr als die Abbildtreue des realistischen Malers handelt, »manches Neue« übertroffen habe, kann jedenfalls kaum als ein verbindliches Plädoyer für das Alte verstanden werden: 40
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43
Robert Walser: Beardsley, in: Prager Presse, 20. 7. 1926; vgl. Robert Walser: Zarte Zeilen. Prosa aus der Berner Zeit II . Zürich, Frankfurt a. M. 1986 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven, Bd. 18), S. 250–252. Dazu: Tamara S. Evans: »Ein Künstler ist hier gezwungen aufzuhorchen«. Zu Robert Walsers Kunstrezeption in der Berliner Zeit, in: Anna Fattori, Margit Gigerl (Hg.): Bildsprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. München 2008, S. 107–116. Dazu: Dominik Müller: Künstlerbrüder – Schwesterkünste. Robert und Karl Walser, in: Ulrich Stadler (Hg.): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Stuttgart, Weimar 1996, S. 382–395. Vgl. Tamara S. Evans: Robert Walsers Moderne. Bern, Stuttgart 1989; Kerstin Gräfin von Schwerin: »Eine nicht uninteressante kunstgewerbliche Spielerei.« Spinnengewebe und Teppichweberei im Werk von Robert Walser und Paul Klee, in: Wolfram Groddeck, Reto Sorg, Peter Utz, Karl Wagner (Hg.): Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forschung. München 2007, S. 265–275.
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Weil Abbildungen ihm gelangen, die sich hinauf ins Schöne schwangen, lebt er mit seinem Lebenswerke in unverminderlicher Stärke fort, und im Volk hat er gesiegt, da er bezüglich seiner Treue weit eher glänzt als manches Neue.44
Am Feuilletontext Hodlers Buchenwald lässt sich beobachten, wie Robert Walser Kontexte ins Spiel bringt und sich auch wieder darüber hinwegsetzt, einerseits indem er es bei Andeutungen bewenden lässt, andererseits indem er den Text einem Publikum zuleitet, das über diese Kontexte kaum informiert ist. Die diesbezüglichen Überlegungen sollen hier noch durch einen Blick auf die Kotexte abgerundet werden, welche die erste Niederschrift von Hodlers Buchenwald auf dem zweiseitig beschriebenen Mikrogrammblatt 513 umgeben.45 Die Seite, auf welcher der Text zur Hauptsache steht (nur wenige Zeilen des Schlusses kamen auf die andere Seite zu stehen, die eine Anzahl Gedichte enthält und bei der Archivierung als Vorderseite identifiziert wurde), ist durch eine Faltung zweigeteilt. Die eine Hälfte enthält einen Text, der wie die Folge eines Fortsetzungsromans anmutet. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls ein Textanfang, der mitten in ein Geschehen führt: »Nachdem dieser Messerstich zum Glück wieder geheilt war, d. h. in die erwünschte Vernarbtheit eingetreten war, besichtigte ich einen Marmorpalast [. . .].«46 Dreht man das Blatt um 180°, so ist auf der zweiten Hälfte der Seite zuerst ein Gedicht zu entziffern, dessen Beginn auf die Passage über den einem durchsichtigen Frauenrock ähnelnden See vorauszuweisen scheint: Ehrfurchtgebietend hängt ein Frauenrock an eines Hauses hellgestrich’ner Mauer. In irgendeiner Badewanne liegt vielleicht um diese liebe Morgenstunde in’s kos’ge Naß gebettet eine Frau, die ich unmöglich anders mir als reizend denken kann, über jede Art von Reim bin heute, wie Sie sehen, ich erhaben, mag sein, daß ich den Kopf nicht gern mir quäle, wo sich ein üpp’ger Regenschirm vor meinem Blicke prunkvoll präsentiert, und hinter seiner 44 45
46
Robert Walser: Die Gedichte. Zürich, Frankfurt a. M. 1986 (= Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven, Bd. 13), S. 144. Für das Inventar der auf Vorder- und Rückseite des Mikrogrammblattes 513 enthaltenen Texte siehe Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme. Hg. v. Bernhard Echte u. Werner Morlang. 6 Bde. Frankfurt a. M. 1985–2000, hier Bd. 6, S. 807 f. Die Ausbeute dieses Mikrogrammblattes bestand – neben Hodlers Buchenwald – aus sechs Gedichten, von denen fünf in der Prager Presse und eines im Prager Tagblatt erschienen. Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Bd. 5 (s. Anm. 45), S. 24.
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Dominik Müller
erheblichen Gestalt sitzt eine Kanne von himmelblauer Unbescholtenheit, auf der Veranda, die ich mit den Augen, den mancherorts bekannten, überprüfe, vertändelt sich auf einem Tisch ein Brief die Zeit, die ich mir mit Gedichtemachen zu kürzen suche, bis ich wissen werde, was mir ein lieber Mensch zu sagen hat, der mir versprochen hat, mir mitzuteilen, wann ich in seine Nähe reisen darf. O, wie sich leise, so als wüßten sie um alle meine vielen zärtlichen Verbindlichkeiten, jetzt die schlanken Zweige in dieses feine Lüftchens stummer Geige bewegen, wie ich denn ja nun auch schweige und mich entzückt an’s kleine Fenster neige.47
Wie so viele der Texte aus Walsers Berner Zeit thematisiert auch dieser sein eigenes Verfertigtwerden.48 Hier wird es als Zeitvertreib ausgegeben. Auch das Mikrogramm 513 erweist sich so als Textgenerator und als Textträger, der das Schreiben als Tätigkeit und als mühseliges Exerzitium spürbar macht. Es ist privates Journal, Labor avanciertester Erzählkunst, gleichzeitig aber auch Arbeitsplatz eines hoch professionellen Feuilletonisten. An die Niederschrift des Gedichts fügt sich in noch kleinerer Schrift und mit gespitztem Bleistift die von Hodlers Buchenwald an. Es gibt im hier noch titellosen Text kaum Korrekturen. Auch die nicht erhaltene Abschrift enthielt, wie der Zeitungsabdruck belegt, lediglich einige wenige stilistische Retuschen, die semantisch unbedeutend sind. Was man in der Prager Presse zu lesen bekam, war mit dem Mikrogrammtext nahezu identisch. Immer wieder wächst in den Mikrogrammen das, was einem öffentlichen Journal, der Zeitung zugeführt werden kann, aus den Privatnotizen hervor, die aber, anders als in einem Tagebuch, fast immer auch bereits das Format von Feuilletontexten haben. Auch dank ihrer Spalten ähneln die Mikrogrammblätter selber schon der Zeitung, in die viele ihrer Hervorbringungen hinüberwandern sollten.49 Unser Beispiel zeigt, wie ein Thema aus der Welt der Kunst eine private erotische Phantasie bindet. Die Lizenz des Feuilletons, das Private bei der Erörterung von Zeitfragen ins Spiel zu bringen, sicherte solchen Produktionen die Publizierbarkeit in den Tageszeitungen 47 48
49
Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Bd. 6 (s. Anm. 45), S. 383 f. Dazu: Stephan Kammer: Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit. Tübingen 2003 (= Hermaea. Germanistische Forschungen. N. F., Bd. 102). Auf die Zeitungsähnlichkeit der Mikrogrammblätter hat zuerst Werner Morlang: Melusines Hinterlassenschaft. Zur Demystifikation und Remystifikation von Robert Walsers Mikrographie, in: Gonçalo Vilas Boas (Hg.): Simpósio Robert Walser. Lissabon 1994 (= Runa, Bd. 21), S. 81–100, hier S. 96, hingewiesen.
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jener Zeit. Man kann heute nur staunen, wie viel Walser sich dabei erlauben durfte. Die durch das ›Aufschreibesystem‹ Mikrogramm bestimmte Arbeitsweise und die durch das Zeitungsfeuilleton bestimmten Publikationsmöglichkeiten arbeiteten sich so bei Robert Walser in die Hand und brachten etwas hervor, das ebenso unverwechselbar ist wie zeittypisch. Seinem treuen Prager Gewährsmann Otto Pick schrieb Walser am 31. Oktober 1928, offenbar als Antwort auf die Bitte, Texte mit Gegenwartsbezug einzusenden: Hochgeehrter Herr, Indem ich von Ihrem freundlichen Brief gebührend Notiz nehme, werde ich, wie bisher, bestrebt sein, Ihnen zukommen zu lassen, was sich an Aktuellem irgendwie durch mich und mein Individuelles, will sagen von meiner Feder, die abhängig und unabhängig zugleich ist, wird behandeln lassen können.50
In einer Fußnote zu diesem Satz fügt Walser noch bei: »weil beispielsweise Nichtaktuelles für mich aktuell, manches Aktuelle dagegen nicht aktuell sein kann«.51 Wird ein Text in einem Kontext rezipiert, der vom Entstehungskontext räumlich oder zeitlich entfernt ist, ist ihm der Grad an Aktualität oder Nichtaktualität, der ihm ursprünglich zukam, nicht mehr eindeutig anzumerken. Was in Bern noch Aktualität besaß, konnte diese auf dem Weg nach Prag leicht einbüßen. Von dort gelangte zwar die Bitte an Walser, Aktuelles zu behandeln. Doch hatte der Chefredakteur den Textlieferanten aus der Schweiz ja höchst persönlich längst auf die Rolle des Anachronisten festgelegt, was der Zeitung auch gelegen kam. Das Schwebende zwischen dem Aktuellen und dem Nichtaktuellen (das auch nur in einigen Fällen dem Anachronistischen gleichzusetzen ist), gehört zu den Feuilletontexten, die Walser in Bern schreib und in einem weiten Netz von Zeitungen und Zeitschriften publizieren ließ. Wer mit Kommentaren die Zeitbezüge dieser Texte offenzulegen versucht, muss dem Rechnung tragen. Nicht nur Zeit und Ort sind aber Akteure in dieser Wirtschaft von Aktualitäten und Anachronismen, sondern auch Walsers Art von den Dingen zu handeln, ihnen Leben zu- oder abzusprechen. Sie ist es auch, die dafür sorgt, dass Walsers kleine Feuilletons nicht nur den Transfer in eine ferne Stadt sondern auch in unsere Zeit unbeschadet, wenn auch nicht unverändert, überdauert haben.
50 51
Robert Walser an Otto Pick, 31. 10. 1928, in: Walser: Briefe (s. Anm. 5), S. 330 f. Walser: Briefe (s. Anm. 5), S. 331.
Anna Estermann
Panther – Bild – Kraft Zur Inszenierung (medien-)ästhetischer Konkurrenz in Kafkas Ein Hungerkünstler Abstract: Recent studies on Kafka’s A Hunger Artist, focusing on finding models for Kafka’s main character, are predominantly interested in fasting as a phenomenon of popular mass entertainment. A closer look on the perspective however may reveal further analogies to extratextual facts. In the first quarter of the twentieth century, the emergence of film as a dominant medium caused basic changes within the literary field. Whereas literary »Neue Sachlichkeit« tried to take up this challenge by adopting film’s realist and naturalist techniques, instances of non-naturalistic aesthetics (as Kafka’s own) were soon to be marginalized. Kafka’s Hunger Artist turns out as a parable of the fates of contemporary idealistic writing; the writer, a victim to conjunctural changes within the literary field, is finally replaced by his more vital antagonist.
1. Eine Analyse der Kritikerstimmen um 1925 zeigt, dass bereits kurz nach Kafkas Tod die Praxis der verrätselnden Deutungen seines Werks einsetzte, was eine an aktuellen Themen orientierte Lesart unterminierte.1 So beispielsweise auch bei Kurt Tucholsky. Ihm kamen zwar sowohl bei der Lektüre von In der Strafkolonie als auch von Der Proceß und Die Verwandlung allegorische Lesarten in den Sinn, die sich auf zeitgenössische Problematiken bezogen; letztlich distanzierte sich Tucholsky alias P. Panter jedoch von einer solchen ›beschränkenden‹ Lektüre. So heißt es 1920 in seiner Rezension von In der Strafkolonie: »[. . .] als ich so weit gelesen hatte, schluckte ich einen faden Blutgeschmack herunter und suchte nach einer Entschuldigung und dachte: Allegorie. . . Die Militärgerichtsbarkeit. . . Aber dieses Kunstwerk ist so groß, daß es keiner Entschuldigung bedarf, und eine Allegorie ist erst recht nicht vonnöten.«2 In seiner Rezension von Kafkas postum veröffentlichtem Romanfragment Der Proceß geht Tucholsky erneut auf die allegorische Lesart 1 2
Vgl. dazu Jürgen Born: Franz Kafka. Kritik und Rezeption. Bd. 2: 1924–1938. Frankfurt a. M. 1983, S. 75–84. Peter Panter: In der Strafkolonie, in: Die Weltbühne 16/1 (1920), S. 655–657, hier S. 655 f. Die Weltbühne wird im Folgenden zit. nach Die Weltbühne. Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933. Königstein i. Ts. 1978.
Panther – Bild – Kraft
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ein: »Also eine Justizsatire? Nichts davon. So wenig, wie die Strafkolonie eine Militärsatire ist oder die Verwandlung eine Bourgeois-Satire – es sind selbständige Gebilde, die niemals auszudeuten sind.«3 Tucholskys Zugang zu Kafka ist insofern erstaunlich, als »seine anderweitigen Rezensionen meist dem Ideal einer modernen realistischen Gesellschaftsliteratur verpflichtet sind«.4 Im Falle Kafkas war Tucholsky jedoch ohne Weiteres bereit, die ästhetische Dimension weit über den inhaltlichen Realitätsbezug zu stellen. Dass Kafkas Erzählungen indes durchaus mit außertextuellen Themen und Ereignissen in eine Beziehung zu setzen sind, haben seit der sozialgeschichtlichen Wende in der Kafka-Forschung unzählige Arbeiten gezeigt, die auf eine kulturgeschichtliche Kontextualisierung abzielen. Für Ein Hungerkünstler seien in diesem Zusammenhang die wegweisenden Forschungsbeiträge von Walter Bauer-Wabnegg, Breon Mitchell und Astrid Lange-Kirchheim genannt,5 die, das historische Phänomen der Hungerkunst aufarbeitend, um die Suche nach einer möglichen Quelle für Kafkas Hungerkünstler kreisen. Der Nachweis über Kafkas genaue Kenntnis dieses populären Massenphänomens6 wurde anhand der Analyse seiner Schilderung der Hungervor3 4
5
6
Peter Panter: Der Prozeß, in: Die Weltbühne 22/1 (1926), S. 383–386, hier S. 384. Sascha Kiefer: »Wir dürfen lesen, staunen, danken« – Tucholsky und Kafka, in: Manfred Engel, Dieter Lamping (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur. Göttingen 2006, S. 179–192, hier S. 184 f. Walter Bauer-Wabnegg konstatierte 1990, Kafkas Erzählung müsse »[s]olange entweder diese [die bisher unbekannte Quelle, auf die die Erzählung zurückgeht] oder ein anderer unabweislicher Bezugspunkt nicht gefunden sind, [. . .] im Grunde als uninterpretierbares Rätsel gelten.« (Walter Bauer-Wabnegg: Monster und Maschinen, Artisten und Technik in Franz Kafkas Werk, in: Gerhard Neumann, Wolf Kittler (Hg.): Franz Kafka. Schriftverkehr. Freiburg i. Br. 1990, S. 316–382, hier S. 372, Anm. 183) Bauer-Wabneggs Suche nach einer möglichen »Quelle« reiht sich in die Forschungsarbeiten der 90er Jahre ein, in denen man sich auf das historische Phänomen der Hungerkunst konzentrierte. Breon Mitchell machte bereits 1987 auf den italienischen Hungerkünstler Giovanni Succi als mögliches »Modell« aufmerksam (Breon Mitchell: Kafka and the Hunger-Artists, in: Alan Udoff (Hg.): Kafka and the contemporary critical performance. Bloomington u. a. 1987, S. 236–255). Ritchie Robertson: Der Künstler und das Volk. Kafkas Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Franz Kafka. München 1994 (= Text & Kritik: Sonderband), S. 180–191, greift diese These auf. Astrid LangeKirchheim: Nachrichten vom italienischen Hungerkünstler Giovanni Succi. Neue Materialien zu Franz Kafkas Hungerkünstler, in: Johannes Cremerius (Hg.): Größenphantasien. Würzburg 1999 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 18), S. 315–340, hier S. 315, schließlich sieht in Succi »das Modell für Kafkas Hungerkünstler«. Siehe außerdem dies.: Das fotografierte Hungern. Neues Material zu Franz Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 17 (2009), S. 7–56. Hungervorführungen standen ursprünglich unter dem Signum der Wissenschaft – die Auswirkung des Fastens auf den menschlichen Organismus sollte dokumentiert und untersucht werden. Schnell entwickelte sich ausgehend von diesen auf medizinischem Erkenntnisinteresse gegründeten Fastenvorführungen (die freilich von Beginn an auch von einem monetären Interesse begleitet waren) die populäre Form des Schauhungerns. Ein größeres Publikum erreichten die Hungerkunst-Vorführungen zwischen 1880 und 1905, wobei der Zenit um 1890 erreicht war. Genaueres zum historischen Phänomen der Hungerkünstler in den in Anm. 5 angeführten Arbeiten.
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Anna Estermann
führung zweifellos erbracht. Andere inhaltliche Aspekte, wie beispielsweise die Schlusssequenz, in der ein kraftstrotzender Panther den verstorbenen Hungerkünstler ersetzt, bleiben davon jedoch unberührt. Von eben dieser Konstellation ausgehend soll Kafkas Erzählung im Folgenden vor dem Hintergrund zeitgenössischer soziokultureller Entwicklungen untersucht werden. Die Analogien zwischen Text und kulturgeschichtlichem Kontext, die dabei ersichtlich werden, führen zu einer neuen Lesart der Erzählung. Aufgrund ihrer Ambiguität, die für Kafkas Texte, zumal für die späten, durchgängig konstitutiv ist, fordert auch die im Frühjahr 1922 entstandene Erzählung7 Ein Hungerkünstler eine allegorisierende Ausdeutung geradezu heraus. Neben dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der bereits durch den unbestimmten Artikel im Titel der Erzählung sowie im typisierenden Figurenentwurf deutlich wird, zeichnet die Engführung von ›niederem‹, populärkulturellem Sujet und ›hohem‹ Kunstverständnis in der Figur des Hungerkünstlers für die parabelhafte Wirkung des Textes verantwortlich. Indem Kafka mit der Hungerkunst, einem populärkulturellen Phänomen, mit dem sich keinerlei künstlerisches Kapital generieren ließ, eine emphatische Kunstauffassung verhandelt, die dem Bereich der ›hohen‹ Kunst zuzuordnen ist, entsteht eine inhaltliche Diskrepanz zwischen realhistorischen Gegebenheiten und deren Darstellung im Text. Gerade das Fehlen jeglichen Kunstcharakters dürfte die Figur eines Hungerkünstlers für die literarische Bearbeitung attraktiv gemacht haben, zumal es das historische Phänomen der Hungerkunst ermöglicht, mit dem Motiv der ›Askese‹ oder Weltabgewandtheit und des ökonomischen Prekariats Künstler-Topoi aufzurufen, die in der Moderne eine gewichtige Tradition haben. Die erste Hälfte des Textes stellt im Wesentlichen die Beschreibung einer Hungervorführung in guten Zeiten dar. Die Hungerkunst hat Konjunktur, die Vorführungen des Hungerkünstlers sind gut besucht. Der Beginn der Erzählung verweist auf die analeptische Gesamtanlage des ersten Textteils, dem die Peripetie gewissermaßen eingeschrieben ist: »In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten. Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler« (DL 333 f.). Schließlich folgt die Beschreibung des Abstiegs des Hungerkünstlers, der aufgrund einer Änderung im Publikumsgeschmack einsetzt und letztlich zum Tod führt: 7
Nach Ausweis einer Tagebucheintragung dürfte der Text um den 23. Mai 1922 entstanden sein (DL, Apparatband, 437). Kafkas Texte werden im Folgenden mit den Siglen DL (= Drucke zu Lebzeiten), NSF II (= Nachgelassene Schriften und Fragmente II) und T (= Tagebücher) nach folgender Ausgabe zitiert: Franz Kafka: Schriften, Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley u. Jost Schillemeit. Frankfurt a. M. 2002.
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Wenn die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre später daran zurück dachten, wurden sie sich oft selbst unverständlich. Denn inzwischen war jener erwähnte Umschwung eingetreten; fast plötzlich war das geschehen; es mochte tiefere Gründe haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der verwöhnte Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen Schaustellungen strömte. Noch einmal jagte der Impresario mit ihm durch halb Europa, um zu sehn, ob sich nicht noch hie und da das alte Interesse wiederfände; alles vergeblich; wie in einem geheimen Einverständnis hatte sich überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. Natürlich hatte das in Wirklichkeit nicht plötzlich so kommen können, und man erinnerte sich jetzt nachträglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge nicht genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu unternehmen, war zu spät. Zwar war es sicher, daß einmal auch für das Hungern wieder die Zeit kommen werde, aber für die Lebenden war das kein Trost. (DL 342 f.)
Der ›hohen‹ Kunstauffassung des Hungerkünstlers entsprechend, spielt der ökonomische Aspekt eine nebengeordnete Rolle. Es ist vielmehr die Problematik der fehlenden Aufmerksamkeit des Publikums und dessen Hinwendung zu »anderen Schaustellungen«, die den zweiten Teil des Textes inhaltlich dominiert. Ohne das strikte Reglement des Impresarios und die erforderlichen Konzessionen an das Publikum (Beschränkung des Hungerns auf 40 Tage, Ritual des Fastenbrechens) ist der Hungerkünstler zwar in der Lage, seine ›Kunst‹ uneingeschränkt auszuüben. Als Ergebnis der fehlenden Beachtung durch interessierte Zuschauer führt sich jedoch die künstlerische Praxis selbst ad absurdum, indem sie – schrankenlos ins Extrem praktiziert – letztlich den Tod des Künstlers verursacht. Die Spezifik von Kafkas Hungerkünstler, ›Künstler‹-Figur und ›Werk‹ in sich zu vereinen,8 steht in Analogie zu realhistorischen künstlerischen Positionen, die sich einem ›hohen‹ Kunstverständnis verpflichtet sehen. Eine Scheidung von ästhetischem Verfahren und ästhetischem Standpunkt als Künstler ist obsolet, was für die vorliegende Argumentation von Bedeutung ist. Kafkas Hungerkünstler sieht sich lediglich als Träger eines abstrakten Kunstwillens und seine ›Kunst‹ sieht er durch die äußeren Gegebenheiten eingeschränkt. Nicht seine vom Publikum unmittelbar wahrgenommene abgemagerte Erscheinung, »bleich, im schwarzen Trikot, mit mächtig vortretenden Rippen« (DL 334), stellt aus seiner Perspektive das eigentliche Kunstwerk dar, sondern seine Fähigkeit zu hungern, die ihn vor anderen auszeichnet, ihn letztlich aber das Leben kostet, und deren Rezeption dem Publikum Zeit und Verständnis abverlangt. Das antagonistische Gegenstück im Text stellt der »junge Pan8
Auch die Attraktivität des Artisten als literarische Figur, beispielsweise in Erstes Leid – der Text wurde im Sammelband Ein Hungerkünstler veröffentlicht –, dürfte auf die Beinah-Kongruenz von Kunst und Künstler zurückzuführen sein. Der Artist wie der Hungerkünstler ist seine jeweilige Kunst, da selbige an den Körper gebunden ist. Der Hungerkünstler weist noch einen Schritt über den Artisten hinaus, insofern seine ›Kunst‹ nicht nur nichts erschafft, sondern jegliche Form von ›Arbeit am Kunstwerk‹, wie sie im Falle des Artisten noch in Form von Übung respektive Training vorhanden ist, grundsätzlich negiert.
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ther« dar, der den verstorbenen Hungerkünstler im Käfig ersetzt und die Massen allein durch die »Freude am Leben« zu bannen vermag, die »mit derart starker Glut aus seinem Rachen« kommt, dass sich die überwältigten Zuschauer »gar nicht fortrühren« (DL 349) wollen. Der Panther wirkt unmittelbar als er selbst, seine ›Rezeption‹ erfordert kein Verständnis, auch der Faktor Zeit spielt im Gegensatz zur Rezeption der ›Kunst‹ des Hungerkünstlers keine Rolle. Für die folgende Interpretation sind zwei inhaltliche Aspekte der Erzählung maßgeblich: Zum einen die Schilderung der Konjunkturänderung im Bereich der Schaustellungen, die in eine Beziehung zu Entwicklungen im zeitgenössischen künstlerischen Feld zu setzen ist – letztlich ist der Hungerkünstler nur noch ein »Hindernis auf dem Weg zu den Ställen« (DL 346) –, sowie zum anderen die am Schluss des Textes evozierte semantische Opposition von Hungerkünstler und Panther: »Nun macht aber Ordnung!« sagte der Aufseher, und man begrub den Hungerkünstler samt dem Stroh. In den Käfig aber gab man einen jungen Panther. Es war eine selbst dem stumpfsten Sinn fühlbare Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herumwerfen zu sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten. Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und wollten sich gar nicht fortrühren. (DL 349)
Die Existenz einer semantischen Opposition Hinfälligkeit vs. Vitalität, Schwäche vs. Kraft, Öde vs. Wildheit und in Analogie dazu das im Text geschilderte jeweilige Rezeptionsverhalten des Publikums – Desinteresse vs. Interesse, Unverständnis vs. unmittelbar bannende Wirkung – ist augenscheinlich und soll im Folgenden vor der Folie zeitgenössischer soziokultureller Konstellationen untersucht werden.
2. In den künstlerischen Feldern9 der frühen 20er Jahre vollziehen sich gewichtige Veränderungen. Die literarische Strömung der Neuen Sachlichkeit, die auf ›naturalistische‹10 Darstellungsverfahren setzt, ist im Entstehen; der 9 10
Genaueres zu Charakteristika der Felder kultureller Produktion bei Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 2001, S. 340–345. ›Naturalistisch‹ verweist im Folgenden nicht auf die literarische Strömung am Ende des 19. Jahrhunderts, sondern wird im Sinne von ›naturalistische Darstellungsweise‹ verwendet: »[D]er Stilbegriff ›N.‹ bezeichnet Kunstrichtungen, die eine exakte Wiedergabe des Gegenstands ge-
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Spätexpressionismus liegt in den letzten Zügen. Das Medium Film, das sich zunehmend zum neuen Leitmedium aufschwingt und dem aufgrund seines technischen Dispositivs von vielen Seiten das Monopol auf die ›wahre‹, die ›realistischste‹ Darstellung der Wirklichkeit eingeräumt wird, tritt zunehmend in Konkurrenz zur Literatur. Anton Kaes sieht in seiner Anthologie zur Kino-Debatte 1909–1929 »die kritische Auseinandersetzung der Literatur mit dem aufkommenden Medium des Films als Teil der poetologischen Diskussion der zehner und zwanziger Jahre«.11 Das Eindringen des Films in den Bereich der Buchkultur habe in diesem Zeitraum eine soziologisch und ästhetisch folgenreiche Selbstreflexion der herrschenden Literatur erzwungen: »Kino wurde nämlich Diskussionsobjekt in dem Maße, in dem es gegen traditionelle Dichtungs- und Kulturvorstellungen verstieß.«12 Zum Standardrepertoire sowohl in der Argumentation der Kritiker als auch der Befürworter des Mediums Film gehört die rezeptionsästhetische Einschätzung des Films als leicht konsumierbar. Emilie Altenloh kommt in ihrer 1914 veröffentlichten Dissertation Zur Soziologie des Kino zu dem Ergebnis, das Kino sei »der Ort, an dem keinerlei geistige Anstrengung verlangt wird, wo man mühelos die größten Sensationen erlebt.«13 Das Kino befriedige den Schautrieb des Menschen: Ein Ausruhen von der Arbeit darf aber nicht neue Anforderungen an das Individuum stellen. Solange die Beschäftigung mit der Kunst also nicht Spiel wird [. . .], wird nebenher der bloße Schautrieb auf andere Weise sich Nahrung suchen. Der Durchschnittsmensch braucht etwas, das seine Sinne mühelos beschäftigt.14
Die Annahme einer Komplexitätsreduktion durch ›primitive Bildlichkeit‹ als vermeintliches rezeptions- bzw. wirkungsästhetisches Spezifikum des Films, wie es Altenloh feststellt, begegnet in der bei Kaes dokumentierten KinoDebatte in zahlreichen Beiträgen. Auch Béla Balázs, der 1924 eine der ersten Filmästhetiken verfasste, sieht gerade in der Primitivität des Mediums Film eine seiner herausragenden Eigenschaften.15 Der Film, so Balázs, sei »eine junge, noch unverschmockte Kunst und arbeitet mit neuen Urformen der Menschlichkeit. Darum gehört es gerade zu seinem richtigen Verständnis, sich auf das ganz Primitive und Naive einstellen zu können«.16 Die Ursa-
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genüber den subjektiven Bedingungen seiner Erfahrung wie den medialen Bedingungen seiner Reproduktion zur Norm erheben und Stilisierung ablehnen.« (Lothar Schneider: Naturalismus, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 4 2008, S. 530 f.) Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. München, Tübingen 1978, S. 1. Kaes: Kino-Debatte (s. Anm. 11), S. 1. Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher. Jena 1914, S. 95. Altenloh: Soziologie des Kino (s. Anm. 13), S. 96. Vgl. Bela Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt a. M. 2001. Balázs: Der sichtbare Mensch (s. Anm. 15), S. 14.
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che für die bannende Wirkung, die der Film auf das Publikum ausübte, sah man im vermeintlich filmspezifischen ästhetischen Vermögen, Wirklichkeit unmittelbar abzubilden: Da die im Film abgebildeten Dinge und Vorgänge als bare Wirklichkeit und nicht als Zeichen innerhalb eines bewußt hergestellten Signifikationszusammenhanges verstanden wurden, konnte der Film als gesteigerter Naturalismus gelten.[17] In diesem Sinne verwendet Georg Kaiser den von ihm geprägten Begriff ›Kinoismus‹, den er in diametralen Gegensatz zum Expressionismus stellt. Kinoismus ist hier synonym mit der Reproduktion banaler Oberflächlichkeit, die im Vorstoß auf das Wesentliche zurückgelassen werden muß.18
Kafkas Bewusstsein um die rezeptionsästhetischen Spezifika von Bild und Text verdeutlicht sich bereits 1913 in einem Brief an Kurt Wolff. Auf Anregung Franz Werfels und ohne Kafkas Wissen fügte der Verlag seinem Buch Der Heizer (1913) die Reproduktion eines Stahlstichs von New York aus dem Jahr 1838 als Frontispiz bei.19 Kafkas Reaktion, die der üblichen Zurückhaltung zum Trotz seinen Unwillen widerspiegelt, ist für den hier untersuchten 17
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Dieser Befund ging in der einschlägigen Debatte der 10er und 20er Jahre immer wieder mit metaphorischen Zuschreibungen aus dem semantischen Feld Vitalität/Leben einher, wie z. B. aus den folgenden Zitaten hervorgeht: »Von allen Kunstfertigkeiten unserer Zeit ist der Kintopp die stärkste, denn er ist die zeitgenössischste. Raum und Zeitlichkeit dienen bei ihm zur Hypnose von Zuschauern: wo ist eine Vitalität, wo eine Dimension auf der Erde, die seine unendliche Fähigkeit nicht erreichte?« (Walter Hasenclever: Der Kintopp als Erzieher. Eine Apologie, in: Revolution 1, 15. 10. 1913, o. S., zit. nach Kaes: Kino-Debatte [s. Anm. 11], S. 47– 49, hier S. 47 f.); »Eine wertvollere und reine Gegenständlichkeit ist und bleibt der Film. Heute befriedigt bereits der Film den Bildhunger von vielen, vielen tausend Menschen täglich. Der Film ist die modernste Bildebene überhaupt, er hat jede dynamische, simultane und futuristische Möglichkeit. Ist es ein Wunder, daß Chaplin und Fatty lebendiger wirken als die beste Kunstausstellung? – hier liegt auch die Kunst der Zukunft.« (George Groß: Antwort auf die Rundfrage »Ein neuer Naturalismus??«, in: Das Kunstblatt 6/9 (1922), S. 382 f.); »Damit hat der Kino [sic] kampflos gesiegt: er gibt nur dem Auge sich hin und dessen Lust. [. . .] Er wirft die Kulisse zum Fenster hinaus, beugt sich auf die Straße und photographiert. [. . .] Bild um Bild im lebensgetreuen Nacheinander der Bewegung: das ist keine Bühne und kein Bild, das ist Leben. Und in dieses Leben, das als exotische Naturaufnahme, als interessantes Pathé-Journal, als überraschender Lehrfilm der Schaulust leckere Vorspeise ist, setzt der Kino das entzogene Leben, das grausame, blutende, brennende.« (Walter Serner: Kino und Schaulust, in: Die Schaubühne 9 (1913), S. 807–811, zit. nach Kaes: Kino-Debatte [s. Anm. 11], S. 53–58, hier S. 55); Adolf Behne, der den Film 1926 als die »Dichtung unsrer Zeit« verstanden wissen will, weist dem Medium Schrift angesichts des technischen Fortschritts gar einen anachronistischen Status zu: »Es ist mir unverständlich, wie man dem Buch und dem Kauf des Buches Wichtigkeit beimessen kann. Das Buch ist doch nichts Anderes als ein Transportmittel, ist nichts als eine Form der Mitteilung. In demselben Augenblick, da wir eine intensivere Form, ein besseres Transportmittel haben, ist das Alte zum Untergang verurteilt.« (Adolf Behne: Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur, in: Die Weltbühne 22 (1926), S. 774–777, hier S. 775) Auffällig ist die häufig verwendete Nahrungsmetaphorik. Kaes: Kino-Debatte (s. Anm. 11), S. 25. Genaueres zu Kaisers »Kinoismus«-Begriff in Abschnitt V. Der Stich trägt den Titel View of the Ferry at Brooklyn, New York. Vgl. Gerhard Loose: Franz Kafka und Amerika. Frankfurt a. M. 1968, S. 26.
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Sachverhalt sehr aufschlussreich: »Als ich das Bild in meinem Buche sah, bin ich zuerst erschrocken, denn erstens widerlegte es mich, der ich doch das allermodernste New York dargestellt hatte, zweitens war es gegenüber der Geschichte im Vorteil, da es vor ihr wirkte und als Bild konzentrierter als Prosa [. . .].«20 Unter diplomatischer Zurückhaltung räumt Kafka schließlich ein, sich inzwischen mit dem Frontispiz abgefunden zu haben, er sei sogar »sehr froh«, dass Wolff ihn damit überrascht habe,21 denn »hätten Sie mich gefragt, hätte ich mich nicht dazu entschließen können [. . .]. Ich fühle mein Buch durchaus um das Bild bereichert und schon wird Kraft und Schwäche zwischen Bild und Buch ausgetauscht.«22 Für die vorliegende Untersuchung ist die wirkungsästhetische Zuordnung Bild – Kraft vs. Buch – Schwäche von eminenter Bedeutung. Kafka führt wirkungsästhetische Argumente ins Feld: Das Medium des Bildes sei demnach im Vorteil gegenüber dem Medium Schrift, da es »konzentrierter als Prosa« wirke. Auch Kafkas vehemente Verwahrung gegen eine Abbildung des Insekts als Titelbild der Verwandlung verdeutlicht seine Sicht auf medienästhetische Spezifika von Bild und Text: Sie schrieben letzthin, daß Ottomar Starke ein Titelblatt zur Verwandlung zeichnen wird. Nun habe ich einen kleinen [. . .] Schrecken bekommen. Es ist mir nämlich [. . .] eingefallen, er könnte etwa das Insekt selbst zeichnen wollen. Das nicht, bitte das nicht! [. . .] Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden. [. . .] Wenn ich für eine Illustration selbst Vorschläge machen dürfte, würde ich Szenen wählen, wie: die Eltern und der Prokurist vor der geschlossenen Tür oder noch besser die Eltern und die Schwester im beleuchteten Zimmer, während die Tür zum ganz finsteren Nebenzimmer offensteht.23
Demnach gefährde das Bild, das dem Leser eine Vorstellung ›aufzwingt‹ – es wirke »vor dem Text« –, das imaginative Potential der Erzählung. In seiner unmittelbaren visuellen Präsenz wirke es ›stärker‹ als das Medium Schrift. In dem Text selbst spielt ein Bild – genauer eine Fotografie – eine wichtige Rolle: Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender –, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob. (DL 115 f.) 20 21
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Kurt Wolff: Briefwechsel eines Verlegers. 1911–1963. Frankfurt a. M. 1980, S. 31 f. (Hervorhebungen A. E.). Nach Auskunft von Wolff: Briefwechsel (s. Anm. 20), S. 32, hatte Werfel dafür plädiert, »daß eine ganze Reihe von solchen Bildern gleichen Charakters Ihre Erzählung geschmückt hätten. Aber ich denke, dieses eine Bild war gerade richtig und mehr hätten spielerisch gewirkt.« Wolff: Briefwechsel (s. Anm. 20), S. 32. Wolff: Briefwechsel (s. Anm. 20), S. 37 – Kafka an den Kurt Wolff Verlag (G. H. Meyer), Brief v. 25. 10. 1915.
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Samsas Bild der Dame im Pelz, das er schließlich vor dem Zugriff durch Mutter und Schwester schützen wird, indem er »eilends hinauf [kroch] und [. . .] sich an das Glas [preßte], das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat« (DL 165), fungiert in diesem Fall als konzentrierter intertextueller Verweis auf Sacher-Masochs Venus im Pelz.24 Kafkas Ansichten zur medialen Spezifik von Bild und Text reihen sich nahtlos in die Diskussion zur medialen Konkurrenz ein, wie sie in den 10er und 20er Jahren geführt wurde. Mehr und mehr kamen in Zeitungen und Zeitschriften Fotografien zum Einsatz: »[I]n einer Zeit, in der das Leben ›durch das Auge‹ eine stärkere Rolle zu spielen anfing, war das Bedürfnis nach visueller Anschauung so stark geworden, daß man dazu übergehen konnte, das Bild selbst als Nachricht zu verwenden.«25 Kurt Korff, Chefredakteur der Berliner Illustrierten Zeitung, schreibt 1927 über die Bedeutung der Fotografie im journalistischen Bereich: »[D]as Ereignis in seinem vollen Ausmaße, in seiner vollen Wirkung, das sprach erst aus dem Bild zum Leser. Ohne Bild waren die Dinge, die in der Welt vorgingen, unvollständig wiedergegeben, erschienen oft unglaubwürdig – erst das Bild vermittelte den stärksten und nachhaltigsten Eindruck.«26 Das Argument der vermeintlichen medialen Überlegenheit des Bildes wird im Rahmen der »Kino-Debatte« rezeptionsästhetisch auch für den Film in Anspruch genommen: Immer gewaltiger dehnt sich der Kinematograph mit seinem lebenden Material aus. [. . .] Wir wollen nicht mehr nüchterne Buchstaben zu Worten zusammensetzen, die beim Buchstabieren und Sinn-Erfassen den Geist anstrengen, sondern leicht und flüchtig die bildliche Lektüre genießen. Die Wirklichkeit steht dann viel deutlicher vor uns und das Interesse ist doppelt so groß. Wir können beinahe den Geist dabei einschlafen lassen und mit den Augen schöpfen, was die Seele will. Die Freude am Bildwerk ist allgemein da. Wir sind jetzt mehr zum Schauen als zum Lesen aufgelegt, und darum strömt alles willig wie hypnotisch in den [sic] Kino, die Bilder-Zeitung, 24
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So Mark M. Anderson: Kafka and Sacher-Masoch, in: Harold Bloom (Hg.): Franz Kafka’s The Metamorphosis. New York u. a. 1988, S. 117–133, hier S. 120, der zahlreiche intertextuelle Beziehungen zwischen Kafkas Verwandlung und Sacher-Masochs Venus im Pelz aufzeigt: »[I]f we could understand the significance of this representation we would be closer to an understanding of Gregor’s metamorphosis.« Ausgehend von der Eingangssequenz der Verwandlung, in der Gregor Samsa mit dem Blick auf das Bild von der Dame im Pelz als Ungeziefer erwacht, weist Anderson auf eine Analogie zwischen der masochistisch-sadistischen Beziehung zwischen Sklave und Herrin bei Sacher-Masoch und Gregor Samsa und seiner Familie bei Kafka hin: »[A]s the story develops this domination [ausgeübt durch Wanda von Dunajew, die ›Venus im Pelz‹, A. E.] is increasingly exercised by Gregor’s family.« (S. 125) Das vielleicht konkreteste Indiz für eine intertextuelle Beziehung sieht Anderson in der »similarity of names. When Severin [Sacher-Masochs Protagonist, A. E.] agrees to become Wanda’s slave [. . .] she decides to rebaptize him.« (S. 124 f.) Severins neuer Name lautet Gregor. Für diesen Hinweis danke ich Clemens Peck. Kurt Korff: Die illustrierte Zeitschrift [1927], in: Wilfried Wiegand (Hg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Frankfurt a. M. 1981, S. 207– 209, hier S. 207. Korff: Die illustrierte Zeitschrift (s. Anm. 25), S. 207.
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wo man in Lektüre schwelgt. Das trockene Buch ist vom Publikum ad acta gelegt; die Zeitung wird flüchtig durchblättert, und abends wird der Bilderhunger im Kino befriedigt.27
Die Überlegungen, wie sie zu Fragen der Komplexitätsreduktion auf rezeptionsästhetischer Ebene vom Text zum Bild im Rahmen der zeitgenössischen Debatte über mediale Spezifika auftreten, lassen sich, der hier vorgeschlagenen Lesart folgend, auf Kafkas Ein Hungerkünstler übertragen: Der Panther fesselt die Massen unmittelbar durch reine körperliche Präsenz, während der Hungerkünstler im Sinne eines Vertreters einer antinaturalistischen Ästhetik Verständnis für seine Kunst einfordert und das Publikum für die ›Rezeption‹ der Hungervorführung Zeit aufbieten muss.28 Im Zusammenhang mit der Hungerkunst ist im Text an mehreren Stellen die Rede vom (fehlenden) »Verständnis«, z. B. »jener [Partei des Publikums], welche – sie wurde dem Hungerkünstler bald die peinlichere – ihn bequem ansehen wollte, nicht etwa aus Verständnis, sondern aus Laune und Trotz« (DL 345). Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Rezeption einer Hungervorführung (respektive ›abstrakter‹ Kunst) einerseits und der Betrachtung des Panthers (bzw. naturalistischer Kunst) andererseits liegt in der Rezeptionsdauer. Während eine Hungervorführung vierzig Tage lang jeden Tag vom Publikum verfolgt werden muss – »[v]ierzig Tage etwa konnte man erfahrungsgemäß durch allmählich sich steigernde Reklame das Interesse einer Stadt immer mehr aufstacheln, dann aber versagte das Publikum, eine wesentliche Abnahme des Zuspruchs war festzustellen« (DL 338), »an den spätern Tagen gab es Abonnenten, welche tagelang vor dem kleinen Gitterkäfig saßen« (DL 334) –, erfolgt die ›Rezeption‹ des Panthers nicht nur unmittelbarer, sondern auch schneller: Das Publikum drängt »in den Pausen der Vorstellung zu den Ställen [. . .], um die Tiere zu besichtigen« (DL 344, Hervorhebungen A. E.). Aus der Perspektive des Hungerkünstlers wird dem Publikum für die Betrachtung der Hungervorführung durchaus eine reflexive Leistung abverlangt (»Verständnis«): 27 28
N. N.: Neuland für Kinematographentheater, in: Lichtbild-Bühne 2/111 (September 1910), S. 3, zit. nach Kaes: Kino-Debatte (s. Anm. 11), S. 41. Manfred Engel: Kafka lesen. Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen, in: ders., Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. a. 2010, S. 411–427, hier S. 414, schlägt als ein »Lektüremodell« für Kafkas Texte die »absolute Metonymie« vor, die »einen Mittelweg zwischen ›absoluter Metaphorik‹ und ›Parabolik‹ zu gehen versucht«. Anstatt einer »metaphorische[n] Auflösung, die ein [. . .] auf der Textoberfläche nicht vorkommendes Signifikat (wie ›Schrift‹ oder ›Judentum‹) allegorisierend an die Stelle der Signifikanten setzt« (S. 426), werden die »auf der Textoberfläche dargestellten Konstellationen als eine abstrakte Modellsituation (also quasi ›wörtlich‹)« genommen und man »beschränkt sich bei der Deutung darauf, diese mit Hilfe der im Text vorgegebenen Leitbegriffe zu verallgemeinern.« (S. 414) Ein Hungerkünstler lässt sich solcherart als »absolute Metonymie« des Künstlers mit idealistischer Kunstauffassung um 1920 lesen, wohingegen die vorliegende Deutung des Panthers freilich eine »metaphorische Auflösung« darstellt.
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Und es war kein allzu häufiger Glücksfall, daß ein Familienvater mit seinen Kindern kam, mit dem Finger auf den Hungerkünstler zeigte, ausführlich erklärte, um was es sich hier handelte, von früheren Jahren erzählte, wo er bei ähnlichen, aber unvergleichlich großartigeren Vorführungen gewesen war, und dann die Kinder, wegen ihrer ungenügenden Vorbereitung von Schule und Leben her, zwar immer noch verständnislos blieben – was war ihnen Hungern? – aber doch in dem Glanz ihrer forschenden Augen etwas von neuen, kommenden, gnädigeren Zeiten verrieten. (DL 345 f., Hervorhebungen A. E.)
Der Panther hingegen besticht analog zur zeitgenössischen rezeptionsästhetischen Einschätzung filmisch-naturalistischer Darstellungsverfahren durch seine reine Unmittelbarkeit.29 Während ein Vater vor dem Käfig des Hungerkünstlers innehält, um seinen Kindern zu erklären, »um was es sich hier handelte«, ist eine solche Erklärung im Falle des Panthers obsolet; den bannenden Effekt, den er auf das Publikum ausübt, erzielt er durch seine bloße Präsenz. Aufgrund seiner bildhaften Zeichenqualität ist keine weitere Erklärung nötig, allein das unmittelbare Erleben steht im Vordergrund. Eine weitere Referenz auf die (rezeptions-)ästhetische Konkurrenz zwischen abstrahierender und naturalistischer Darstellungsweise stellt das Vorzeigen von Fotografien des Hungerkünstlers dar, die ihn »an einem vierzigsten Hungertag, im Bett, fast verlöscht vor Entkräftung« (DL 342) zeigen und dem Impresario als »Strafmittel« dienen: Dieser kam [. . .] auch auf die ebenso zu erklärende Behauptung des Hungerkünstlers zu sprechen, er könnte noch viel länger hungern, als er hungere; lobte das hohe Streben, den guten Willen, die große Selbstverleugnung, die gewiß auch in dieser Behauptung enthalten seien; suchte dann aber die Behauptung einfach genug durch Vorzeigen von Photographien, die gleichzeitig verkauft wurden, zu widerlegen [. . .]. (DL 341 f.)
Hier prallen zwei gegensätzliche Auffassungen von ›Wahrheit‹ aufeinander, wobei die idiosynkratisch-idealistische Wahrheit des Hungerkünstlers gegen die vermeintlich unhinterfragbare empirische Wahrheit der Fotografien nicht ankommt: Diese dem Hungerkünstler zwar wohlbekannte, immer aber von neuem ihn entnervende Verdrehung der Wahrheit war ihm zu viel. Was die Folge der vorzeitigen Beendigung des Hungerns war, stellte man hier als die Ursache dar! Gegen diesen Unverstand, gegen diese Welt des Unverstandes zu kämpfen, war unmöglich. (DL 342)30 29
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Dass die Annahme einer metaphorischen Beziehung zwischen Panther und dem Medium Film nicht so abwegig ist, wie sie vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag, zeigt die Tatsache, dass die amerikanische Filmproduktionsgesellschaft Goldwyn Pictures Corporation – eine Vorgängerfirma von Metro-Goldwyn-Mayer – seit 1916 als Firmenlogo einen brüllenden Löwen, umrahmt von einem Spruchband mit dem Emblem ars gratia artis, im Vorspann ihrer Filme verwendete. Interpretationen dieser Textstelle auch bei Michael Neumann: Die ›Zunge‹, die ›Ruhe‹, das ›Bild‹ und die ›Schrift‹. Franz Kafkas Phänomenologie des Photographischen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 672–695, bes. S. 692 ff., und bei Walter Bauer-Wabnegg: Monster und Maschinen (s. Anm. 5), S. 372 ff.
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Vor der skizzierten kulturhistorischen Folie erweist sich Kafkas Hungerkünstler als Parabel auf den Künstler mit idealistischer Kunstauffassung, dessen Existenz im veränderten künstlerischen Feld zu Beginn der 20er Jahre zunehmend prekär wird. Die semantische Opposition Hungerkünstler-Panther, die das Zentrum zahlreicher Analysen darstellt, kann als parabolische Inszenierung zweier gegensätzlicher ästhetischer Prinzipien gelesen werden, wie sie Anfang der 20er Jahre im künstlerischen Feld aufeinandertrafen: Ästhetischen Positionen, die einen naturalistischen Anspruch an das Kunstwerk stellen, standen solche gegenüber, die im Gegenteil von der Notwendigkeit künstlerischer Abstraktion des darzustellenden Gegenstandes ausgehen und einem antinaturalistischen künstlerischen Konzept verpflichtet sind. Die bisher skizzierte intermediale Dimension dieses zeitgenössischen Diskurses um naturalistische vs. antinaturalistische Ästhetiken kann auch, was im Folgenden unternommen werden soll, für den innerliterarischen Bereich aufgezeigt werden. Dabei ist Kafkas Position im literarischen Feld zu berücksichtigen. Die Einschätzung seines Werks als »Inbegriff des Mehrdeutigen«, wie sie auf dem Einband des jüngsten Handbuchs zitiert wird,31 kann forschungsgeschichtlich als kanonisiert gelten; kaum jedoch wurde bislang die Frage nach der Position gestellt, die Kafka mit dieser vom heutigen Standpunkt aus gemeinhin als »Musterfall« der Moderne32 eingeschätzten Ästhetik im zeitgenössischen literarischen Feld besetzte, zumal nicht für das Spätwerk ab 1920.
3. Der soziokulturelle Primat des Bildlichen forderte seinen Tribut im literarästhetischen Bereich. Spätestens ab 1920 wurden Forderungen nach literarischen Verfahren im Sinne eines »Neuen Naturalismus« laut.33 Antiästhetizistische, antiidealistische Positionen kamen auf, die vermeintlich filmanaloge naturalistische Darstellungsverfahren präferierten und propagierten, und ›neunaturalistische‹ Positionen gewannen im Bereich des Literarischen zu-
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Engel/Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch (s. Anm. 28). Engel/Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch (s. Anm. 28). Vgl. Alfred Döblin: Bekenntnis zum Naturalismus [1920], in: ders.: Kleine Schriften I. Olten, Freiburg i. Br. 1985 (= Ausgewählte Schriften in Einzelbänden), S. 291–294. (Döblin stellt freilich eine Ausnahme dar, veröffentlichte er doch mit seinem Berliner Programm bereits 1913 ein ›pronaturalistisches‹ Plädoyer.) Vgl. zudem die von der Zeitschrift Das Kunstblatt initiierte Umfrage Ein neuer Naturalismus?? vom September 1922. Die von Paul Westheim herausgegebene Zeitschrift mit Fokus auf die bildende Kunst wandte sich auch an Schriftsteller und Kritiker und konstatierte einleitend: »In den Ateliers, noch lebhafter in der Literatur wird immer entschiedener die Frage erörtert, ob die künstlerische Entwicklung einem neuen Naturalismus zustrebe.« (Das Kunstblatt 6/8 (1922), S. 368); die Texte der Beiträger (u. a. Alfred
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nehmend an Einfluss.34 Die Diskussion über die Vorzüge einer Komplexitätsreduktion, die oben in Bezug auf das Verhältnis Literatur-Film bereits thematisiert wurde, wird in den 20er Jahren mit dem Aufkommen der genannten ›neunaturalistischen‹ Positionen analog im Bereich des Literarischen geführt. Film und Rundfunk stellten eine schier übermächtige mediale Konkurrenz dar, der es sich mittels neuer literarästhetischer Konzepte zu stellen galt. Die Forderung von dokumentarischen, an die Reportage angelehnten Schreibpraktiken, die als zeitgemäße Alternative zur vermeintlich überkommenen hermetischen ›Ideendichtung‹ installiert wurde, ging einher mit einer Präferenz des Eindeutigen gegenüber dem Vieldeutigen, des Unmittelbaren gegenüber dem Mittelbaren: Zu den Attraktionen dieser [neusachlichen] Perspektive gehört schließlich auch das Versprechen einer Komplexitätsreduzierung. Im dokumentarischen Diskurs wird nämlich nicht nur das Wirkliche gegen die Ideen ausgespielt, sondern auch das Eindeutige gegen das Vieldeutige. Hatten Philosophie, Psychologie und Literatur der Jahrhundertwende in konstruktivistischer Manier jede Wirklichkeit als eine Form der subjektiven, vielfach vermittelten Wahrnehmung gefaßt und noch die sprachliche Verständigung über solche Wahrnehmungen dem Verdacht unkontrollierbarer Subjektivität ausgesetzt, so entnimmt der Diskurs der Zwanziger Jahre den technischen Medien Fotografie und Film das Versprechen, es gebe doch noch unverstellte, von keiner Erkenntniskritik angekränkelte Zugriffe auf die Wirklichkeit.35
Während Anton Kaes für die ›avantgardistische‹ Literatur konstatiert, sie habe »[a]uf die populistische Philosophie des Kinos [. . .] mit bewußter Hermetik«36 reagiert, könnte man im Fall der naturalistischen Tendenzen in der Literatur der 20er Jahre von einer gegenläufigen Strategie sprechen: Anstatt auf ästhetische Distinktion zu setzen, propagierten Vertreter dieser Richtung eine Art künstlerische ›Mimikry‹, wobei bewusst rezeptionsästhetische Aspekte im Vordergrund standen. Angestrebt wurde eine Komplexitätsreduktion mit dem Ziel, der Literatur analog zum ›leicht konsumierbaren‹ Film den Zugang zum Massenpublikum zu eröffnen, denn »[d]er Akzent verschiebt sich von einer Lesekultur zu einer Kultur der Zuschauer. [. . .] Die Vergnügungsindustrie wendet sich [. . .] an großstädtische Massen und Subkulturen, die ihre freie Zeit unterhaltsam verbringen wollen. Dies entzieht den Formen der Hochkultur zunehmend den Boden.«37 Ambiguität als Signum moder-
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Döblin, Georg Kaiser, George Grosz und Rudolf Kayser) sind zu finden in: Das Kunstblatt 6/9 (1922), S. 369–414. In Abgrenzung von der gängigen zeitlichen Einordnung (1924–1932) in der Nachfolge Helmut Lethens datiert Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933). Köln u. a. 2000, den Wirkungszeitraum der Neuen Sachlichkeit auf 1920–1933. Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik. Oxford u. a. 2007, S. 103. Kaes: Kino-Debatte (s. Anm. 11), S. 10. Bernhard Weyergraf: Einleitung, in: ders. (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918–1933. München 1995 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 8), S. 7–37, hier S. 23.
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ner Literatur wurde spätestens mit dem Aufkommen der neunaturalistischen Forderungen und der damit einhergehenden Kritik an der idealistischen Vorstellung vom Künstler als entrücktem, inspiriertem Dichtergenius massiv in Frage gestellt bzw. abgelehnt. In Abgrenzung zu bisherigen Entwürfen vom überzeitlich gültigen Kunstwerk, das sich als seiner Zeit enthoben präsentiert, avancierten gerade Zeitgebundenheit und Aktualität im Verbund mit realistischem Anspruch zur Norm der geforderten Literatur im Umkreis der Neuen Sachlichkeit. In der Aufwertung genuin journalistischer Gattungen wie der Reportage findet diese Forderung schließlich ihren Ausdruck. Unterschiedliche ästhetische Konzepte zeitigen unterschiedliche Rezeptionspraktiken: Während ambige, komplexe, ›dunkle‹ Texte, wie eben auch jene Kafkas, vom Leser Deutungsarbeit verlangen, zeichnen sich Texte, die naturalistischen Darstellungsverfahren verpflichtet sind, analog zum Film durch ihre leichtere Konsumierbarkeit aus. Komplexität bzw. Ambiguität als ästhetisches Prinzip wird im neunaturalistischen Diskurs der 20er Jahre zu Zwecken des Distinktionsgewinns mit »Lebensferne«, »Schwäche«, gar »Tod« assoziiert,38 wohingegen Vertextungsverfahren mit naturalistischem Anspruch im Rahmen dieses Diskurses analog zum Medium Film bzw. Bild vermeintlich ›Leben‹ darzustellen vermögen: Die Literatur wird in dem neuen Diskurs der Wirklichkeit entgegengesetzt und nimmt den negativen Pol der Opposition ein. Langeweile steht gegen Sensation, komplizierten Romankonstruktionen stellt man die »einfache Wahrheit« gegenüber und der »Literat« soll vom Reporter abgelöst werden. Weit verbreitet ist eine vom Vitalismus inspirierte Argumentation, die die »Wirklichkeit« mit dem »Leben« identifiziert und gegen die »Idee« als das »Unlebendige« abgrenzt. Hermann von Wedderkop beschrieb schon 1921 den Expressionismus als eine »Flucht vor der Wirklichkeit«, deren Motiv darin liege, daß ein »Einfangen von Wirklichkeit und Leben dem Unlebendigen unmöglich« sei.39
Analogien zwischen der skizzierten zeitgenössischen diskursiven Umgebung und der in Kafkas Ein Hungerkünstler dargestellten semantischen Konstellation bestehen einerseits in der Thematisierung des zunehmend prekären Status einer Kunst, die vom Publikum Anteilnahme, Zeit und »Verständnis« erfordert, andererseits kann der Schluss der Erzählung, wie gezeigt wurde, als Inszenierung der ästhetischen Konkurrenz zwischen antinaturalistischen und naturalistischen ästhetischen Konzepten (im innerliterarischen Bereich ebenso wie bezogen auf das Verhältnis zwischen Literatur und Film) gelesen werden. 38
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Der Schreibtisch des Schriftstellers werde »zum Symbol seiner Isolation von der Wirklichkeit, seine Fiktionen erscheinen nicht mehr als ›Verdichtung‹, sondern als fadenscheiniger Ersatz des wahren Lebens. [. . .] Im polaren Schema dieses Diskurses wird die fiktionale Literatur grundsätzlich mit mangelnder Vitalität oder Tod identifiziert«, so Uecker: Wirklichkeit und Literatur (s. Anm. 35), S. 82. Uecker: Wirklichkeit und Literatur (s. Anm. 35), S. 81.
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4. Kafkas dezidiert antinaturalistische Haltung ist in seiner Auseinandersetzung mit Franz Werfels Stück Schweiger40 im Winter 1922 gut dokumentiert. In einem Brief vom Dezember 1922 berichtet Kafka dem Freund Max Brod von einem Besuch Werfels, der ihn »verzweifelt gemacht« habe.41 Erschüttert stellt er darin die Frage, was er Werfel angesichts seines negativen Eindrucks von dessen neuestem Stück Schweiger hätte sagen sollen. Er bewundere ihn »sogar in diesem Stück [. . .], hier allerdings nur wegen der Kraft, diesen dreiaktigen Schlamm durchzuwaten.«42 Harte Worte angesichts der sonstigen literaturkritischen Zurückhaltung Kafkas. Er hatte in Werfel stets ein Idealbild der Dichterexistenz gesehen, dessen Drama Schweiger lehnte er jedoch rundweg ab. Diese radikale Ablehnung ist in einem an Werfel adressierten, vermutlich nicht abgeschickten Brief,43 in Skizzen zu diesem Brief (vgl. NSF II 526–530) sowie in dem bereits zitierten Brief an Max Brod dokumentiert. Kafka reagierte auf Werfels Stück mit ungewöhnlich harscher Kritik. Es handle sich nicht um »gewöhnliches Mißfallen«, wie er im Brief an Brod ausführt; vielmehr treffe ihn das Stück »abscheulich im Abscheulichsten«,44 habe ihn gar »beleidigt«.45 Was aber stieß Kafka an Schweiger derart ab, machte ihn »unglücklich«, ja löste »Entsetzen«46 in ihm aus? Die meisten Interpreten sahen den Grund für seine Ablehnung bislang in dem negativen Portrait des Arztes, Psychoanalytikers und Anarchisten Dr. Otto Gross, wie es Werfel in der Figur Dr. Ottokar Grund in Schweiger entwirft.47 Angesichts der Tatsache, dass Kafka an keiner Stelle explizit auf einen solchen kausalen Zusammenhang hinweist, und unter Berücksichtigung seiner Argumentation in den Briefen scheint es jedoch wahrscheinlich, dass die Gründe für sein Missfallen tiefer liegen und mit grundsätzlichen Fragen der künstlerischen Gestaltung zusammenhängen. Im Werfel’schen Werkkontext erweist
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Das »Trauerspiel« erschien im Winter 1922 im Kurt Wolff Verlag, die Uraufführung fand am 6. 1. 1923 im Prager Neuen Theater statt (Franz Werfel: Gesammelte Werke. Die Dramen I. Hg. v. Adolf D. Klarmann. Frankfurt a. M. 1959, S. 553 f.). An Max Brod, Dezember 1922, in: Franz Kafka: Briefe 1902–1924. Frankfurt a. M. 1975, S. 423– 424. Kafka: Briefe (s. Anm. 41), S. 424. An Franz Werfel, Prag, Dezember 1922, in: Kafka: Briefe (s. Anm. 41), S. 424 f. Kafka: Briefe (s. Anm. 41), S. 423. »Trotz allem aber will ich doch noch versuchen, nicht ganz stumm zu bleiben und kurz zu sagen, worin mich Schweiger beleidigt.« (NSF II 528) Kafka: Briefe (s. Anm. 41), S. 424. So Thomas Anz: »Jemand mußte Otto G. verleumdet haben. . .«. Kafka, Werfel, Otto Gross und eine »psychiatrische Geschichte«, in: Akzente 31 (1984), S. 184–191; desgleichen Norbert Abels: Franz Werfel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1990, S. 62 f., und Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt a. M. 2008, S. 517–520.
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sich Schweiger als Ausdruck einer ›naturalistischen Wende‹,48 was auch von zeitgenössischen Rezipienten so aufgefasst wurde, wie ein Blick auf eine Kritik Herbert Jherings beweist: Es kann unmöglich der Sinn des »expressionistischen« Dramas gewesen sein, auf dem Umweg über stilistische Experimente wieder zum naturalistischen Mitleidsdrama zurückzukehren. Oder bedeutete tatsächlich manche ekstatische Deklamation nichts anderes als das Grundgefühl des Naturalismus: soziales Mitleid – in eine neue Form gestreckt? Wenn man Tollers Hinkemann und Werfels Schweiger sieht, [. . .] so erkennt man, daß die Wendung zu kontrollierbaren Gestalten die Wendung zum Drama des Mitleides bei Toller, zum psychologischen Problemdrama bei Werfel bedeutete.49
Für Kafka begeht Werfel mit Schweiger einen »Verrat an der Generation«, als deren »Führer« er ihm gegolten hatte, wie er im Brief an den sonst stets Bewunderten darlegt. Ist hier von der Generation die Rede, handelt es sich um nichts weniger als um die Generation jener Schriftsteller, die wie Kafka selbst um 1910 zu publizieren begannen und die aus literaturgeschichtlicher Perspektive dem ›expressionistischen Jahrzehnt‹ bis 1920 angehören.50 Als Werfels Stück erschien, lag der literarische Expressionismus in den letzten Zügen. Die Strömung ereilte das Schicksal, das jeder Avantgarde letztlich droht: Sie kommt im künstlerischen Mainstream an, sodass sich damit kein künstlerisches Kapital mehr generieren lässt.51 Vor dem Hintergrund einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse im zeitgenössischen literarischen Feld stellt sich Schweiger somit als Werfels Versuch einer Neupositionierung dar. 48
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Vgl. dazu Michel Reffet: Franz Werfel entre expressionnisme et »Neue Sachlichkeit«, in: Germanica 9 (1991), S. 191–215, hier S. 197: »Sur le plan de l’esthétique, Werfel se rapproche de la ›Nouvelle Objectivité‹ en se distançant de l’expressionnisme.« Freilich soll an dieser Stelle keine literaturgeschichtliche Zuordnung von Werfels Schweiger zur Neuen Sachlichkeit behauptet werden; anhand der Darstellung von Kafkas Rezeption des Dramas lässt sich jedoch dessen antinaturalistische Haltung verdeutlichen. Herbert Jhering: Von Reinhardt bis Brecht. Eine Auswahl der Theaterkritiken von 1909–1932. Hg. u. mit einem Vorwort v. Rolf Badenhausen. Reinbek b. Hamburg 1967, S. 151 f. (Kritik ohne Titel vom 11. 12. 1923). Vgl. auch Rudolf Kayser: Das junge deutsche Drama. Berlin 1924, S. 42: »So war es auch das Schicksal des lyrisch-subjektiven Expressionismus, sich totzulaufen. Schon rühren sich aber die Gegenkräfte, die einer neuen Gegenständlichkeit und der von ihr bedingten Form zustreben.« Wenn Kafka auch nicht der expressionistischen Strömung zugerechnet werden kann, so teilte er doch zeitlebens expressionistische ästhetische Ansichten, wie die dezidiert antinaturalistische Haltung. Zum »expressionistische[n] Mißverständnis der zeitgenössischen Kafka-Rezeption« vgl. Joachim Unseld: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. Die Geschichte seiner Veröffentlichungen. Mit einer Bibliographie sämtlicher Drucke und Ausgaben der Dichtungen Franz Kafkas 1908–1924. Frankfurt a. M. 1984, S. 136 f. Zum hier verwendeten »Avantgarde«-Begriff: Bourdieu: Regeln der Kunst (s. Anm. 9), v. a. S. 187–270 u. passim. Zum literaturgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Hermann Korte: Spätexpressionismus und Dadaismus, in: Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik (s. Anm. 37), S. 99–134, passim.
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Anfang der 20er Jahre betrat Bertolt Brecht das literarische Feld. Sein Stück Trommeln in der Nacht hatte am 29. September 1922 in München äußerst erfolgreich Premiere. Wenige Tage später, am 5. Oktober, veröffentlichte Herbert Jhering eine hymnische Rezension des Stückes und attestierte Brecht, »über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands« verändert zu haben.52 Brecht wurde bereits vor der erfolgreichen Premiere von zahlreichen Verlagen heftig umworben: Die Aufführungen von Trommeln in der Nacht in München und Berlin, die die [sic] Kontroverse der Großkritiker über das Stück sowie schließlich die Verleihung des Kleist-Preises machten Brecht zu einem Autor, über den ›man‹ sprach. Die Verleger konkurrierten um den neuen, jungen Autor indes bereits seit Ende 1921/Anfang 1922, mithin vor Brechts erstem Bühnenerfolg. Brechts Verhandlungsgeschick und die Suche der Verleger der literarischen Avantgarde nach neuen Stücken hatten es möglich gemacht, daß er im Dezember 1921 und Januar 1922 mehrere Verlagsverträge unterzeichnen konnte.53
Werfel beendete seine Arbeit an Schweiger im Herbst 1922, wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht.54 Schweiger unterscheidet sich stilistisch in höchstem Grade von den beiden in unmittelbarer zeitlicher Nähe entstandenen Stücken Spiegelmensch und Bocksgesang.55 Es ist also in Werfels Fall aus mehreren Gründen davon auszugehen, dass er aus taktischem Kalkül an der ›neunaturalistischen Welle‹ partizipieren wollte; zwar war Werfels ›Wende‹ kommerzieller Erfolg beschieden, das Stück war ein großer Publikumserfolg – von der Kritik indes wurde es überwiegend abgelehnt.56 Vor der Folie der literarhistorischen Entwicklungen Anfang der 20er Jahre und Werfels ›naturalistischer Wende‹ erscheint Kafkas Ablehnung von Werfels Stück, sein 52
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Herbert Jhering: Der Dramatiker Brecht. Zu dem theatergeschichtlichen Verdienst der »Münchner Kammerspiele« [5. 10. 1922], in: ders.: Bert Brecht hat das dichterische Antlitz Deutschlands verändert. Gesammelte Kritiken zum Theater Bert Brechts. Hg. u. eingeleitet v. Klaus Völker. München 1980, S. 4–6. Ingrid Gilcher-Holtey: Theater und Politik. Bertolt Brechts »eingreifendes Denken«, in: dies. (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 117–151, hier S. 127. Vgl. dazu Abels: Franz Werfel (s. Anm. 47), S. 60. Zwar fällt die Entstehungszeit von Werfels Drama nicht mit Kafkas Ein Hungerkünstler zusammen, zur Erstpublikation der Erzählung kommt es aber im Oktober 1922 (Neue Rundschau 33 (1922), S. 983–992, unter dem Titel Ein Hungerkünstler. Erzählung von Franz Kafka), also just zu der Zeit, als Werfel sein Drama abschließt und Brecht am Theater reüssiert. So setzt Werfel die Handlung des 1920 im Kurt Wolff Verlag erschienenen und 1921 in München uraufgeführten Dramas Spiegelmensch in einem »sagenhaften Hochland« (1. Teil) bzw. im »Phantastische[n] Orient« (2. Teil) an, wohingegen im nur ein Jahr später erscheinenden Stück Schweiger eine »Provinzstadt« als Ort der Handlung angegeben ist, als Zeit wird »Mittwoch, der 28. April, Freitag, der 29. August, Sonntag, der 7. September eines Jahres nach dem Krieg« genannt. Während Spiegelmensch in gebundener Rede verfasst ist, weist die Sprache mancher Figuren in Schweiger eine ›typische‹ Wiener Soziolekt-Färbung auf. Harold Lenz: Franz Werfel’s Schweiger, in: Monatshefte für deutschen Unterricht 28 (1936), S. 168–172. Die (wohl enttäuschten, ehemals Werfel-affinen, pro-expressionistischen) Kritiker warfen Werfel unter anderem einen naturalistischen Gestus vor.
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»Entsetzen«, in neuem Licht. Werfels naturalistisch gefärbter Stil in Schweiger widersprach Kafkas eigenem ästhetischem Programm aufs Schärfste.57 Als Kenner der literarischen Szene und aktueller Entwicklungen muss Kafka Werfels ästhetische Annäherung an den neuen Stil als opportunistischer Akt erschienen sein – eben als »Verrat an der Generation«. In erster Linie war es die ›realistische‹ Darstellung von Schweiger als individueller Einzelfall, die Kafkas Missfallen erregte: Vor allem fühle ich eine Verschleierung darin, daß Schweiger zu einem allerdings tragischen Einzelfall degradiert ist; die Gegenwärtigkeit des ganzen Stückes verbietet das. Wenn man ein Märchen erzählt, dann wissen alle, daß man sich fremden Mächten anvertraut und die heutigen Gerichte ausgeschaltet hat. Hier weiß man das aber nicht. Das Stück will den Eindruck erwecken, daß nur heute, gerade an diesem Abend mehr zufällig als absichtlich der Fall Schweiger verhandelt wird, daß ebenso gut z. B. die Vorgänge in einem ganz anders gearteten Nachbarhaus hätten vorgenommen werden können. (NSF II 528 f.)
Kafkas eigene literarische Praxis mit ihrem Anspruch auf überindividuelle Allgemeingültigkeit (»Märchen«) stand dem diametral entgegen. Gerade das Fehlen des Transzendenten, der Überführung des Kunstwerks vom Besonderen ins Allgemeingültige, ja ›Übernatürliche‹ (»fremde Mächte«), wird von Kafka bemängelt. Anders als Werfel, der Schweiger zu einem »tragischen Einzelfall degradiert« und das symbolische Vertextungsverfahren, wie es noch für Spiegelmensch und Bocksgesang konstitutiv war, zugunsten einer naturalistischen Darstellung à la Brecht – freilich im weitesten Sinne – aufgibt, hält Kafka mit Ein Hungerkünstler an seiner antinaturalistischen Einstellung fest. In Kafkas Spätwerk verstärkte sich die Tendenz zum Gleichnishaften gegenüber dem Frühwerk sogar noch. Während frühe Publikationen wie die Miniaturen in Betrachtung, Das Urteil, Der Heizer und auch noch Die Verwandlung an realistische Verfahren angelehnt sind, orientierte sich Kafkas literarische Praxis mehr und mehr an einer Ästhetik, die auf der ›künstlerischen Transzendierung des Realen‹ fußt. Verallgemeinernd könnte man Kafkas literarisches Verfahren im mittleren Werk als Inszenierung eines ›Einbruchs des Irrealen‹ in eine realistisch dargestellte Welt beschreiben (vgl. paradigmatisch Die Verwandlung), wohingegen in den Texten des Spätwerks jeglicher Bezug zur realen Lebenswelt fehlt, das ehemals hereinbrechende Irreale selbst bildet die Diegese. In der Strafkolonie (entstanden 1914, publiziert 1919) und der 1920 veröffentlichte Band Ein Landarzt markieren entsprechende Entwicklungs57
Vgl. dazu Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München 2005, S. 190, der die Ursache für Kafkas Missfallen an dem Stück ebenfalls in Werfels »stilistische[m] Wechsel zu einem derben Milieu-Realismus« sieht. Auf einen Konnex zu naturalistischen Darstellungsverfahren weist Kafka, wohl auf Hauptmanns Einsame Menschen anspielend, im bereits zitierten Brief an Max Brod hin: »Bin ich für ›Anna‹ von Hauptmann vielleicht ertaubt, so bin ich für diese Anna [Werfels Protagonistin, A. E.] und den Rattenkönig um sie herum hellhörig bis zur Qual; nun diese Gehörerscheinungen hängen ja zusammen«.
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punkte. Der abstrahierende Stil dominiert schließlich endgültig in den Texten des Spätwerks – man denke etwa an Forschungen eines Hundes oder Der Bau sowie eben an den Band Ein Hungerkünstler.58 Wie ist diese poetologische Entwicklung nun vor dem Hintergrund der Konstellation im literarischen Feld Anfang der 20er Jahre zu beurteilen? Anzahl und Inhalt der zeitgenössischen Rezensionen und Kritiken zu Kafkas Texten sprechen eine deutliche Sprache: Zwischen der ersten Publikation Betrachtung (1912 noch im Ernst Rowohlt Verlag erschienen) und dem Band Ein Landarzt (1920) nimmt das Interesse der literarischen Öffentlichkeit sukzessive ab.59 Die Gründe dafür mögen wohl zum Teil in Kafkas passivem Verhalten in Publikationsangelegenheiten, seinem Hang zur kleinen Form und einer falschen Betreuung durch den Kurt Wolff Verlag60 zu suchen sein. Berücksichtigt man jedoch die Konstellation im literarischen Feld um 1920, spricht einiges dafür, Gründe für das fehlende Interesse an Kafkas Texten am Ende des expressionistischen Jahrzehnts auch in der ästhetischen Entwicklung zu suchen, die eine Verschiebung der feldinternen Kräfteverhältnisse bedingte. Diese Verschiebung wiederum ist im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen im soziokulturellen Bereich nach 1918 zu sehen. Die antiidealistischen, antiästhetizistischen Tendenzen, die daraus resultierten, dürften feldintern keine günstigen Rezeptionsbedingungen für Kafkas Texte geboten haben.
5. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung von Ein Hungerkünstler gilt es, neben Kafkas distinktiver textueller Praxis auch seine Auffassung von Kunst und Künstlertum sowie die Position, die er damit im zeitgenössischen künstlerischen Feld einnahm, zu berücksichtigen. Einschlägige Tagebuchnotizen und Aussagen in Briefen aus einem Zeitraum von über zwei Jahrzehnten lassen eine hohe Kontinuität in Kafkas Selbstverständnis als Künstler erkennen, das inspiratorische Züge aufweist. Spätestens seit Das Urteil (1912) präferierte er zudem eine automatisch-spontane Schreibpraxis:
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Einen guten Überblick gibt Engel: Kafka lesen (Anm. 28). Vgl. dazu die bei Jürgen Born gesammelten zeitgenössischen Kritiken. »Der kritische Widerhall auf den Landarzt-Band war, soweit sich übersehen läßt, äußerst gering« (Jürgen Born: Franz Kafka. Kritik und Rezeption. Bd. 1: 1912–1924. Frankfurt a. M. 1979, S. 101). Auch In der Strafkolonie (1919) wurde negativ aufgenommen: »Die Kritik reagierte auf diese Veröffentlichung allgemein ablehnend. Fast alle Rezensenten kamen [. . .] zu einem negativen Urteil« (S. 93). Kurt Tucholskys unter dem Pseudonym Peter Panter veröffentlichte äußerst positive Kritik stellt eine Ausnahme dar (s. Anm. 2). Kafkas Bücher verkauften sich zu seinen Lebzeiten generell sehr schleppend. Mehr dazu bei Unseld: Schriftstellerleben (s. Anm. 50), passim. Vgl. dazu Unseld: Schriftstellerleben (s. Anm. 50), S. 177–191 u. passim.
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Diese Geschichte »das Urteil« habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. [. . .] Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. [. . .] Die bestätigte Überzeugung, daß ich mich mit meinem Romanschreiben in schändlichen Niederungen des Schreibens befinde. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele. (T 460 f.)
Der inspiratorische Impetus ist hier nicht zu übersehen. Kafkas Kunstverständnis lässt sich in der Tradition der modernen Kunstmetaphysik verorten – er scheidet den Bereich der Kunst von der empirisch erfahrbaren Welt.61 Kafka vertrat damit eine Kunstauffassung, die im stark politisierten literarischen Feld Anfang der 20er Jahre abseits von marginalisierten spätexpressionistischen, völkischen oder konservativen Strömungen keine Konjunktur hatte. Der Status eines solchen Kunstverständnisses wurde in der literarischen Nachkriegsöffentlichkeit somit zunehmend prekär.62 Während sich Schriftstellerkollegen wie Franz Werfel, Walter Hasenclever und Kurt Pinthus von ihren expressionistischen Anfängen distanzierten und sich dem neuen Zeitgeist annäherten, hielt Kafka zeitlebens an seinem emphatisch-metaphysischen Verständnis von Kunst und Künstlertum fest. Seine Emphase dieser Kunstauffassung verstärkte sich im Gegenteil gegen Ende seines Lebens scheinbar umgekehrt proportional zu den antiidealistischen Tendenzen im literarischen Feld. Im Gegensatz zu Sabina Becker reduziert Matthias Uecker die neusachliche Antipathie gegenüber traditionellen Kunstauffassungen und Künstler-Bildern nicht auf einen bloßen antiexpressionistischen Reflex,63 sondern 61
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Aufschlussreich auch Kafkas Brief an Max Brod vom 5. Juli 1922: »Aber wie ist es mit dem Schriftstellersein selbst? Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wofür? In der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes klar, daß es der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwürdige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses« (Kafka: Briefe [s. Anm. 41], S. 382–387, hier S. 384). Auch Kaes: Kino-Debatte (s. Anm. 11), S. 35, weist darauf hin, dass »[d]er fortschreitende Prozeß der Entästhetisierung der Kunst [. . .] in den zwanziger Jahren seine Entsprechung in der Schwächung der ästhetisch-kultischen Funktion der Kunst zugunsten der politisch-funktionellen« finde. Vgl. Becker: Neue Sachlichkeit. Bd. 1 (s. Anm. 34), S. 101: »Die Diskussion um eine antiexpressionistische Sachlichkeitsästhetik beginnt im Jahr 1920, in jenem Jahr also, in dem der Expressionismus nur mehr als ein ›Manierismus‹ wahrgenommen wird [. . .]. Im Umkreis jener Manifeste, die den Anachronismus des expressionistischen O-Mensch-Pathos kritisieren und das Scheitern des Expressionismus proklamieren, finden sich zugleich die ersten Rufe nach einer Versachlichung und Materialisierung der Literatur.«
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möchte sie als allgemeine Kritik des »Literarischen« verstanden wissen,64 deren »Stoßrichtung doch unverkennbar über jede spezifische modernistische Ästhetik hinaus auf den Kern des Literarischen selbst« weist.65 Nicht nur vom »übersteigerten und sprachlich überspitzten Gefühlsausdruck« oder der »selbstreflexiven Ausstellung der Kunstmittel« habe sich die neue Richtung demnach abgegrenzt, sondern grundsätzlich »Fiktionalität, Ästhetik und Autonomie des Literatursystems« in Frage gestellt.66 Gefordert wurde mehr Lebensnähe der Künstler. Dem weltabgewandten, introspektiv-subjektbezogenen Dichter, der von einer ›höheren Warte‹ aus vermeintlich überzeitliche Wahrheiten in seinem Kunstwerk fasst, wurde ein Entwurf vom Schriftsteller als kühler, mitunter politisch engagierter, jedenfalls aber ganz seiner empirischen Gegenwart verhafteter Schreibarbeiter mit dem Anspruch auf die exoterische Darstellung der Objektwelt entgegengehalten. Der Schriftsteller sollte sich dem Leben zuwenden, seine Literatur sollte ›aus dem Leben gegriffen‹ sein, persönliches Erleben wird zur Voraussetzung des Schreibens.67 Von einer idealistischen Ideendichtung grenzt man sich radikal ab.68 64
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Uecker: Wirklichkeit und Literatur (s. Anm. 35), S. 74, fasst die Neue Sachlichkeit als ein (diskursives) Phänomen, das von den Zeitgenossen als »die gesamte Kultur« durchziehend begriffen wurde und das jenseits der Literatur »ganz neue Verhaltensformen und Lebensweisen« hervorgebracht habe bzw. vice versa, von diesen inspiriert gewesen sei. Innerhalb dieses Diskurses macht er drei wesentliche Positionen aus, nämlich die »Kritik des Literarischen«, die Debatte um »Wirklichkeit, Tatsachen und Dokumente« sowie die Frage nach »Gebrauchswert und Politisierung« der Literatur. Uecker: Wirklichkeit und Literatur (s. Anm. 35), S. 79. Uecker: Wirklichkeit und Literatur (s. Anm. 35), S. 79. Vgl. Döblin: Bekenntnis (s. Anm. 33). Auch Hermann von Wedderkop unterstreicht seinen naturalistischen Anspruch an die künstlerische Bearbeitung: »Wirklichkeit ist heute Qualitätsprobe, Voraussetzung für das Wort ›neu‹. Daß man sie selten findet, beweist, wie schwierig es ist, sie einzufangen und künstlerisch zu präsentieren. Dazu gehört Phantasie, denn im Grunde genommen ist Wirklichkeit stets das Phantastischste. Phantasie ist nicht ins Wesenlose schweifende Erfindung (vergleiche das sogenannte Phantasieren am Klavier), sondern Kombinationsgabe, Sehen des Wesentlichen, Bestimmenden und Aussondern des Toten. Wirklichkeit ist Synonym für Echtheit, Erlebnis, Lebendigkeit.« (Hermann von Wedderkop: Wandlungen des Geschmacks, in: Der Querschnitt 6/7 (1926), S. 497–505, zit. nach Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. Bd. 2: Quellen und Dokumente. Köln u. a. 2000, S. 98–101, hier S. 101) Von Wedderkop, der eine scharf antiexpressionistische Haltung an den Tag legt, veröffentlichte 1921 seinen Text Expressionismus und Wirklichkeit (in: Feuer 3/1 (1921), S. 141–144), seine antiexpressionistische Einstellung vertritt er noch radikaler in Querschnitt durch 1922, in: Der Querschnitt 3/1 (1922/23), unpag. S. [1–8]. Exemplarisch ist Oskar Maria Grafs Forderung nach mehr Lebensnähe der Literatur: »Es ist notwendig, daß der Mensch von heute mit anderen Ausmaßen an das Leben herangeht, daß er die unbezwingbar scheinende Gewalt der mechanisch-merkantilistischen Lebens-Vielfalt in seine schwingende Seele nimmt [. . .]. Es ist ja so banal, mit seinem vereinzelten Menschsein zu protzen! [. . .] Darum ging Vitalität verloren, Vitalität des Bejahenden um des Wachsens willen. [. . .] Es wird zuviel am Schreibtisch geschrieben. Man lasse die Lebendigen reden und erzählen, nicht die Prediger« (Oskar Maria Graf: Gegen den Dichter von heute, in: Die Bücherkiste 2/5–6 (1920/21), S. 33 ff., zit. nach Becker: Neue Sachlichkeit. Bd. 2 [s. Anm. 67], S. 48). Dazu diametral Kafka 1922 an Max Brod: »[. . .] denn das Dasein des Schriftstellers ist wirklich vom
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Im deutschsprachigen literarischen Feld der Nachkriegszeit kam es nicht nur zu Veränderungen im ästhetischen Bereich. Die schwierige gesamtwirtschaftliche Situation nach 1918, die sich auf die Lage zahlreicher Künstler negativ auswirkte, führte ebenfalls Veränderungen herbei. Durch die Folgen der Inflation gerieten zahlreiche Künstler in eine ökonomisch prekäre Lage, was wiederum den Abbau ihrer öffentlichen Machtstellung beschleunigte.69 Die Gefährdung der materiellen Basis hatte weitreichende Folgen für das literarische Feld: Das auf wirtschaftliche Unabhängigkeit gegründete, auratische Dichterideal, wie es noch etwa Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Rudolf Borchardt vertraten, wurde durch die Inflation radikal in Frage gestellt. Der Dichter war jetzt stärker als bisher auf den Markt angewiesen und erschien nun oft als Entrepreneur, der gleichzeitig für Zeitschriften, Zeitungen, Theater, Rundfunk, Film [. . .] arbeitete, um überleben zu können [. . .].70
Der unaufhaltsame Aufstieg des Films ließ bereits in den 10er Jahren neue Tätigkeitsfelder und Arbeitsbedingungen für Schriftsteller entstehen, die oftmals aus ökonomischen Erwägungen besetzt wurden: Der Schriftsteller ist nicht mehr Künstler, der frei schaffend produziert, wenn die Ideen reif sind und zur Form drängen; sondern der Schriftsteller – der Filmschriftsteller nämlich – ist zunächst einmal ein Teilchen eines großen industriellen Apparats, dem er mit seinen Leistungen eingegliedert ist. In erster Linie hat er deshalb die Anforderungen zu erfüllen, die nötig sind, damit der Betrieb nicht ins Stocken gerät.71
Kafkas Hungerkünstler als »ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen« vermag diese Anforderungen als lebender Anachronismus nicht zu erfüllen. Die Folge dieser strukturellen Veränderungen für den Schriftsteller war »eine tiefgreifende Wandlung seiner Arbeitsbedingungen und seines Selbstverständnisses. Und dieser Veränderungsprozess vom autonomen Dichter zu einem in arbeitsteilige Prozesse eingebundenen Textproduzenten war oft durchaus schmerzhaft.«72 Eine Analogie dazu findet sich in Kafkas Text, wenn der Hungerkünstler sich aufgrund der schlechten ökonomischen Lage dazu genötigt sieht, sich einem Zirkus anzuschließen: Ein großer Zirkus mit seiner Unzahl von einander immer wieder ausgleichenden und ergänzenden Menschen und Tieren und Apparaten kann jeden und zu jeder Zeit gebrauchen, auch einen Hungerkünstler, bei entsprechend bescheidenen Ansprüchen natürlich, und außerdem war es ja in diesem besonderen Fall nicht nur der Hunger-
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Schreibtisch abhängig, er darf sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen will, niemals vom Schreibtisch entfernen, mit den Zähnen muß er sich festhalten.« (Kafka: Briefe [s. Anm. 41], S. 386) Vgl. Anton Kaes: Schreiben und Lesen in der Weimarer Republik, in: Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik (s. Anm. 37), S. 38–64, hier S. 43. Kaes: Schreiben und Lesen (s. Anm. 69), S. 43. Altenloh: Soziologie des Kino (s. Anm. 13), S. 24 f. Wolfram Wessels: Die neuen Medien und die Literatur, in: Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik (s. Anm. 37), S. 65–98, hier S. 66.
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künstler selbst, der engagiert wurde, sondern auch sein alter berühmter Name [. . .]. (DL 343 f.)
Schriftsteller des traditionellen literarischen Marktes waren ihres bekannten Namens wegen als Skriptschreiber begehrt: »Die Filmgesellschaften begannen sich mit prominenten Namen zu schmücken. Nach dem Motto der Deutschen Bioscop Filmgesellschaft: ›Films berühmter Autoren sind die Zukunft des Kinos!‹ wurden zahlreiche Schriftsteller von der Industrie unter Vertrag genommen.«73 Die auch in Kafkas Erzählung so zentrale Problematik des veränderten Publikumsgeschmacks und die daraus resultierende Krise des Buchmarktes verschlimmerten nach 1918 die Situation vieler Schriftsteller zusätzlich.74 »Die Lage des deutschen Schriftstellers ist haltlos. Wenn er nicht Glück oder sehr viel Marktgeschick hat oder einen guten Nebenberuf, kann er verhungern.«75 Diese Sätze, die eine 1920 unter dem Titel Schriftsteller veröffentlichte Polemik (ein »Notschrei«) von Kurt Tucholsky einleiten, bringen die prekäre ökonomische Situation nach 1918 auf den Punkt: Der Schriftsteller außerhalb der Partei und außerhalb eines Pressekonzerns ist, im Gegensatz zu diesen Institutionen, erst der rechte und wahre Förderer der Kultur. [. . .] Der Typ ist heute am Verhungern. [. . .] Man sollte glauben, die wirtschaftliche Not zwänge den Stand zur Erkenntnis seiner Lage. Aber so groß ist die Macht anerzogener und gewohnter Laschheit, daß kaum Einer muckt, und daß sie so stolz, erhobenen Hauptes, und voll von Idealen, wie es gebildeten deutschen Männern gebührt, wirtschaftlich verkommen.76
Als eindrücklicher Beweis für die rapide Verschlechterung ihrer ökonomischen Lage seit Kriegsende habe den freischaffenden Schriftstellern der frühen Weimarer Republik die Verurteilung Georg Kaisers gegolten, so Anton Kaes. Der ›Fall Kaiser‹ schlug zu Beginn des Jahres 1921 innerhalb des künstlerischen Feldes hohe Wellen und kann ebenfalls mit Thema und Entstehungszeit von Kafkas Ein Hungerkünstler in Verbindung gebracht werden: Der 42-jährige expressionistische Dramatiker Georg Kaiser hatte sich am 16. Februar 1921 vor der Strafkammer des Münchner Landgerichts wegen Unterschlagung und Diebstahl zu verantworten. Kaiser befand sich seit 1919 in Untersuchungshaft und war zur Beobachtung seines Geisteszustandes zudem vorübergehend in der Münchner psychiatrischen Klinik untergebracht. Die Anklage warf ihm vor, aus der von ihm gemieteten Luxusvilla zahlreiche Einrichtungsgegenstände verpfändet oder verkauft zu haben, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne den zum Dichten nötigen Freiraum einzuschränken. Kaiser berief sich auf seine verzweifelte wirtschaftliche Lage, die ihm keine andere Wahl gelassen habe, die moralische innere Pflicht gegen 73 74 75 76
Wessels: Die neuen Medien (s. Anm. 72), S. 75. Zur Krise der Schriftsteller um 1920 vgl. Kaes: Schreiben und Lesen (s. Anm. 69), passim. Kurt Tucholsky: Schriftsteller, in: Die Weltbühne 16/1 (1920), S. 691–696, hier S. 691. Tucholsky: Schriftsteller (s. Anm. 75), S. 695.
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das eigene Werk, gegen die in ihm lebende Schöpferkraft habe ihn nie an die Normen des Gesetzes denken lassen. Obwohl Zeugen bestätigten, dass die Familie Kaiser wochenlang von Wasser und Brot gelebt habe, zeigte sich das Gericht ungerührt und verurteilte ihn wegen erwiesenen Diebstahls zu einem Jahr Gefängnis.77 Eine kurze Mitteilung über die Höhe des Strafmaßes findet sich auch im Prager Tagblatt,78 ein ausführlicher Bericht über die Gerichtsverhandlung in der Neuen Freien Presse.79 Der Beschreibung von Kaisers Persönlichkeit durch den psychiatrischen Gutachter, wie sie der Artikel in der Neuen Freien Presse wiedergibt, ist eine ›metaphysische‹ Kunstauffassung um 1920 implizit, wie sie auch von Kafkas Hungerkünstler vertreten wird: Dr. Kahn von der psychiatrischen Klinik, der längere Zeit den Angeklagten Kaiser beobachtet hat, gibt als Sachverständiger in etwa einstündiger Rede ein Gutachten ab, worin er zum Schlusse seine Meinung dahin zusammenfaßt, Kaiser sei ein außergewöhnlich begabter, geistreicher Mensch, er habe ein schwaches Nervensystem und ein labiles Gemütsleben, habe eine hysterische Störung erlitten und eine gewisse Weltfremdheit sei ihm eigen. Seine ganze Willenskraft sei nach seinen eigenen Äußerungen auf seine Werke konzentriert gewesen, so daß er nicht mehr übrig hatte [sic] für die materiellen Dinge des Alltags. Kaiser habe sich auf den Höhen des Ruhmes gefühlt. Der ungewöhnlich begabte Mensch und Künstler sei als ein willensschwacher Mensch anzusehen.80
Hier wird die bedrohte Autonomie einer Künstlerexistenz par excellence vorgeführt. Um die nötige ökonomische Unabhängigkeit zu gewährleisten, hatte Kaiser zu illegalen Mitteln gegriffen. In der Verhandlung appelliert er an das Verständnis des Gerichts, indem er seine genialische Schöpferkraft ins Feld führt, die er in eine Sphäre jenseits geltender Rechtsnormen versetzt. Die Haltung des zitierten Gerichtspsychiaters zeigt eine affirmativ-apologetische Grundtendenz, die die Kunstauffassung Kaisers, das von ihm vertretene Künstlerbild des genialen Schöpfers, jedenfalls partiell teilt.81 Kaiser, wie er 77 78 79 80 81
Die Rekapitulation des ›Falles Kaiser‹ folgt Kaes: Schreiben und Lesen (s. Anm. 69), S. 38. Prager Tagblatt, 16. 2. 1921, S. 4. Neue Freie Presse, 16. 2. 1921, S. 7. Neue Freie Presse, 16. 2. 1921, S. 7. Kaiser wendet sich dezidiert gegen eine ›naturalistische, zeitgebundene‹ Kunst, die vom alltäglichen Gegenstand nicht abstrahiert. Neben ästhetischen Gründen spielen dabei mediale Distinktionsbestrebungen eine Rolle, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht: »Die Situation ist eindeutig. Wir rubrizieren: Expressionismus – Naturalismus – Kinoismus. Expressionismus ist Kunst. [. . .] In Pausen der Ruhe der Kunstschaffenden (Expressionismus) dringt der Dilettantismus ein: Naturalismus – Kinoismus. Beide Beschäftigungen (die zur ernsthaften Betrachtung keinen Anlaß geben) reussieren [sic] nur vorübergehend durch ihre ununterbietbare Anspruchslosigkeit. Absorbiert wird in Zukunft der Naturalismus vom Kinoismus. Das Bedürfnis nach künstlicher Unterhaltung ist hier glatt gedeckt. Die Überlebenden des Naturalismus werden keine Kinder haben. Expressionismus ist die Dauer der Kunst. Mit beispiellosem Elan ist die Plattform für Expressionismus heute erobert. Der heiße Schrecken, der den Unbeteiligten in den Hals gefahren ist, keucht belanglosen Protest. Jede Reaktion ist Eingeständnis der Niederlage – diesmal der ewigen. Wir erleben die größte Epoche der Kunst: Der Expressionismus ist da« (Kaiser: Antwort auf die Rundfrage »Ein neuer Naturalismus??« [s. Anm. 33],
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sich in der Gerichtsverhandlung präsentierte, kann als Prototyp des ganz seiner Kunst verschriebenen Schriftstellers gelten, der den »materiellen Dinge[n] des Alltags« nicht gewachsenen ist.82 Parallelen zu Kafkas HungerkünstlerFigur zeigen sich im Topos der Weltabgewandtheit und Lebensferne, in der Semantik der (in Kaisers Fall nervenbedingten) Schwäche und Labilität und in der emphatischen Kunstauffassung.83 Das genialische künstlerische Selbstverständnis von Kafkas Hungerkünstler, an dem dieser allen Widrigkeiten zum Trotz unbeirrt festhält, deckt sich mit jenem Kaisers: Man gewöhnte sich an die Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen [. . .]. Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. (DL 346 f., Hervorhebungen A. E.)
Dass hier ein Kryptozitat aus Goethes Faust I Verwendung findet, das die Sturm-und-Drang-Haltung des aus sich selbst schöpfenden Genius aufruft,84 stellt eine besondere Pointe dar: Indem zwei Extreme auf der Skala der kulturellen Wertigkeit enggeführt werden, entsteht ein ironisierender, ›kafkaesker‹
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S. 406). Obwohl Kaiser dem Film wie dem Naturalismus jegliches künstlerisches Kapital abspricht, ist er aufgrund seiner misslichen ökonomischen Lage ab Anfang der 20er Jahre selbst für die Filmindustrie tätig. Er hatte »bei seinem Gerichtsprozeß schon 1921 davon gesprochen, daß ihm ausländische Filmgesellschaften ungeheure Geldsummen für die Verfilmung seiner Werke in Aussicht gestellt hätten. Der Richter hatte es ihm aber nicht geglaubt.« (Kaes: Schreiben und Lesen [s. Anm. 69], S. 42). Durch die Vermittlung Max Brods traf Kafka Georg Kaiser persönlich: »Spätestens seit Herbst 1921 [. . .] wurde es schwieriger, Kafka zu irgendwelchen Unternehmungen zu bewegen. [. . .] Allmählich wurde es üblich, ihn ohne langes Procedere zu Hause aufzusuchen, bisweilen öffnete das Dienstmädchen ganzen Besuchergruppen die Tür, ja, es kam sogar vor, dass er Menschen, die er nie zuvor gesehen hatte – etwa den Dramatiker Georg Kaiser, den Brod einfach mitbrachte –, vom Bett aus empfing.« (Stach: Kafka [s. Anm. 47], S. 516 f.) Auch die Bekanntschaft mit Kurt Tucholsky kam durch Brod zustande. Vgl. Kiefer: Tucholsky und Kafka (s. Anm. 4), S. 179 f. Wie bereits dargelegt, wurde der Status einer idealistischen Kunstauffassung und des entsprechenden Selbstbildes als Künstler spätestens seit 1920 zunehmend prekär, um schließlich im Laufe der 20er Jahre von pragmatischeren, nüchterneren Entwürfen im Umfeld der Neuen Sachlichkeit grundsätzlich in Frage gestellt respektive ersetzt zu werden. Vgl. Goethes Faust: »FAUST Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen, / Wenn es nicht aus der Seele dringt, / Und mit urkräftigem Behagen / Die Herzen aller Hörer zwingt. / Sitzt ihr nur immer! leimt zusammen, / Braut ein Ragout von andrer Schmaus, / Und blas’t die kümmerlichen Flammen / Aus eurem Aschehäufchen ’raus! / Bewund’rung von Kindern und Affen, / Wenn euch darnach der Gaumen steht; / Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen, / Wenn es euch nicht von Herzen geht.« (V. 534–545, zit. nach Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 6. 1.: Weimarer Klassik. 1798–1806. Hg. v. Victor Lange. München, Wien 1986, S. 550) Vgl. auch Astrid LangeKirchheim: Franz Kafka Ein Hungerkünstler – Zum Zusammenhang von Eßstörung, Größenphantasie und Geschlechterdifferenz (mit einem Blick auf neues Quellenmaterial), in: Johannes Cremerius (Hg.): Größenphantasien. Würzburg 1999 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 18), S. 291–313, hier S. 301 f., die zudem weitere Faust-Kryptozitate anführt.
Panther – Bild – Kraft
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Effekt, verweist doch das Faust-Zitat intertextuell auf jenes Werk, das wie wohl kaum ein anderes den Kanon der ›Hochkultur‹ repräsentiert. Wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, lässt sich Kafkas Erzählung mit verschiedenen Diskursformationen in Beziehung setzen, die zur Zeit ihrer Entstehung innerhalb des literarischen Feldes virulent waren. Sowohl der Diskurs zu ästhetischen Spezifika von naturalistischen und antinaturalistischen Darstellungsverfahren im intermedialen wie im innerliterarischen Bereich als auch der Diskurs über die »Not der geistigen Arbeiter« (Alfred Weber) durchdrangen in der Nachkriegszeit die gesamte bildungsbürgerliche Öffentlichkeit. Als Forum der Debatte um das Medium Film nennt Anton Kaes die Zeitungen und die literarischen Zeitschriften der zehner und zwanziger Jahre. Die Auseinandersetzung mit dem Kino war nicht auf ein Publikationsorgan, auch nicht auf einen kleinen Kreis von Kennern beschränkt. Sie war öffentlich in dem Sinne, daß jeder interessierte Leser sich daran beteiligen konnte, wenn sich in der Praxis auch zeigte, daß die Diskussion vor allem von Vertretern der bildungsbürgerlichen Schicht bestritten wurde.85
Auf einen der thematischen Bereiche – mediale Konkurrenz zwischen Film und Literatur, ästhetische Konkurrenz zwischen naturalistischen und antinaturalistischen Vertextungsverfahren, ökonomische und ästhetische Krise des Schriftstellers um 1920 – eindeutig ›festschreiben‹ lässt sich der Text indes nicht. Vor dem skizzierten kulturgeschichtlichen Hintergrund erhält die Tatsache, dass Kafka 1922 den Abstieg eines ›Künstlers‹ mit idealistischem Kunstverständnis, der einer Konjunkturänderung im ›künstlerischen Feld‹ zum Opfer fällt, zum Thema seiner Erzählung macht, eine bislang nicht beachtete Brisanz. Als Teil einer spezifischen Gruppe von literarischen Produzenten erreichte Kafka mit seinen Texten einen bestimmten Typ von Rezipienten: Auf den »Pol der reinen Produktion« ausgerichtete Schriftsteller werden in erster Linie von anderen Produzenten gelesen.86 Diese wiederum waren die Betroffenen der thematisch im Zentrum der Erzählung stehenden Krise des Künstlers. Im Hinblick auf Kafkas ›unzeitgemäßen‹ ästhetischen Standpunkt 85 86
Kaes: Kino-Debatte (s. Anm. 11), S. 1 f. Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst (s. Anm. 9), S. 340–345. Kafka war »zu Beginn der 20er Jahre [. . .] ›bekannt‹ geworden«, wie Joachim Unseld darlegt: »und zwar nicht durch den Verkauf seiner Bücher oder durch das literarische Meldeamt des Feuilletons« – vielmehr sei er – im Bereich der »reinen Produktion«, ließe sich mit Bourdieu hier ergänzen – zum »Geheimtip« geworden – ein »Schriftsteller für Schriftsteller« (Unseld: Schriftstellerleben [s. Anm. 50], S. 182). So äußerte sich beispielsweise Rainer Maria Rilke uneingeschränkt positiv zu Kafkas Werk, wie aus einem Brief an Kurt Wolff vom März 1922 hervorgeht: »Ich habe die Bücher meiner nächsten Lesezeit gutgeschrieben, – nur das Buch Kafka’s hab ich mir schon jetzt, gestern Abend, mitten in anderen Beschäftigungen, vorweggenommen. Ich habe nie eine Zeile von diesem Autor gelesen, die mir nicht auf das Eigenthümlichste mich angehend oder erstaunend gewesen wäre. [. . .] [S]o merken Sie mich, bitte, immer ganz besonders für alles vor, was von Franz Kafka bei Ihnen an den Tag kommt. Ich bin, darf ich versichern, nicht sein schlechtester Leser.« (zit. nach Unseld: Schriftstellerleben [s. Anm. 50], S. 183)
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und angesichts der Analogien, die zwischen dem Text und realhistorischen Konstellationen bestehen, kann Ein Hungerkünstler als fiktionales ›Positionierungsdokument‹ gelesen werden, das nicht nur Kafkas eigene Position im literarischen Feld propagiert und (selbst-)ironisch reflektiert.
Harald Gschwandtner
Musil – Schnitzler – Kracauer Neue Musil-Briefe im Deutschen Literaturarchiv Marbach1
1. Einleitender Kommentar Robert Musil und Arthur Schnitzler gehören zweifellos zu den zentralen Akteuren des österreichischen literarischen Feldes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts; Zeugnisse über Berührungspunkte ihrer Biographien sind gleichwohl relativ rar, der einzige bisher in den einschlägigen Musil-Brief-Ausgaben verzeichnete Beleg für eine Korrespondenz stammt aus dem Jahr 1921. In diesem Brief vom 11. 9. 1921 wendet sich Musil an den fast zwanzig Jahre älteren Schnitzler mit der im Namen der Prager Presse geäußerten devoten Bitte um dessen »geschätzte Mitarbeit« am Literaturteil der Zeitung, in dem – so Musils Hinweis – auch »Bahr, Hofmannsthal, Robert Müller, Werfel, Coudenhove, Rudolf Kayser, Bie, Michel [. . .] Beiträge veröffentlicht haben.« (Br I, S. 238) Eine mögliche Antwort Schnitzlers auf dieses Schreiben hat sich allerdings nicht erhalten.2 1 2
Für die Erteilung der Abdruckgenehmigung danke ich sehr herzlich der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach, namentlich deren Leiter Dr. Ulrich v. Bülow. Abseits konkreter biographischer Konstellationen setzen zahlreiche Studien Musil und Schnitzler als Autoren der literarischen Moderne zueinander in Beziehung. Vgl. etwa exemplarisch Horst Althaus: Zwischen Monarchie und Republik. Schnitzler – Hofmannsthal – Kafka – Musil. München 1976; Claudia Monti: La letteratura austriaca »doppio« della psicoanalisi. Musil e Schnitzler, in: Annali. Sezione Germanica 33 (1990), S. 9–28; Iris Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen 1992 (= Edition Orpheus, Bd. 7); Hans-Peter Kunisch: Gefährdete Spiegel. Körper in Texten der Frühen Moderne (1890–1930): Musil – Schnitzler – Kafka. Frankfurt a. M. u. a. 1995 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1560); Wendelin Schmidt-Dengler: Die Stadt wird ergangen: Wien bei Schnitzler, Musil, Doderer, in: Gerald Sommer (Hg.): Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers Dämonen vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Würzburg 2004 (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft, Bd. 3), S. 105–122; David Joravsky: Between science and art. Freud versus Schnitzler, Kafka, and Musil, in: Mark S. Micale (Hg.): The mind of modernism. Medicine, psychology, and the cultural arts in Europe and America, 1880–1940. Stanford 2004, S. 277–297; Nicole Streitler: Die schöne Unbekannte bei Schnitzler, Musil und Horváth, in: dies., Klaus Kastberger (Hg.): Vampir und Engel. Zur Genese und Funktion der Fräulein-Figur im Werk Ödön von Horváths. Wien 2006, S. 67–82.
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Harald Gschwandtner
Was bei Nicole Streitler im Modus der Vermutung geäußert wird, nämlich dass es »unwahrscheinlich« sei, dass sich Musil und Schnitzler im Wien der frühen 1920er Jahre nicht begegnet sein sollten,3 ist durch die Recherchen von Karl Corino bereits belegt: eine persönliche Bekanntschaft der beiden Autoren.4 Durch zwei weitere Briefe Musils an Schnitzler aus den Jahren 1922 und 1924 sowie einen Antwortbrief Schnitzlers aus dem Jahr 1922,5 die sich – von der Musil-Philologie bisher unbeachtet – im Deutschen Literaturarchiv Marbach befinden, gewinnt das bisher nur vage dokumentierte Verhältnis der beiden Schriftsteller eine zusätzliche Facette.6 Außerdem wird hier ein kurzer Brief Musils an Siegfried Kracauer von 1932 abgedruckt, der erstmals eine biographische Verbindung zwischen den beiden belegt.
Im ersten Brief vom 8. Februar 1922 fragt Robert Musil bei Arthur Schnitzler an, ob er sich dazu bereit erklären könne, sich anlässlich seines 60. Geburtstags von Martha Musil für die Prager Presse porträtieren zu lassen. Die dafür nötige »Sitzung« brauche »nicht viel mehr als einige Hilfen für das Gedächtnis zu ergeben« und nehme folglich auch »nur eine halbe Stunde« in Anspruch (2.1).7 Schnitzler antwortet vier Tage später jedoch abschlägig: Er bittet Musils »verehrte Gattin und die Redaktion der Prager Presse« – »[a]us inneren und äusseren Gründen« –, »von der freundlichen Portraitierungsabsicht vorläufig Abstand nehmen zu wollen.« (2.2) Eine Zeichnung Schnitzlers durch Martha Musil für die Prager Presse, für die sie zuvor bereits mehrere Arbeiten geliefert hatte,8 hat sich in der Folge nicht ergeben. Nicht uninteressant ist 3 4
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Streitler: Die schöne Unbekannte (s. Anm. 2), S. 67. Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 789. Auf die genaueren Umstände ihrer Bekanntschaft wird unten im Kommentar zu Brief 2.3 ausführlicher Bezug genommen. Der Antwortbrief Schnitzlers ist zwar in der 1984 erschienenen Schnitzler-Brief-Ausgabe enthalten, wurde jedoch m. W. in der Musil-Forschung noch nicht näher in den Blick genommen. Arthur Schnitzler an Robert Musil, 12. 2. 1922, in: Arthur Schnitzler: Briefe 1913–1931. Hg. v. Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1984, S. 269. Im Kommentar dieser Ausgabe findet sich auch ein Hinweis auf Musils Brief vom 8. 2. 1922: »Musil hatte in seinem Brief vom 8. 2. 1922 darum gebeten, daß A. S. sich für eine Porträtzeichnung von der Hand Martha Musils zur Verfügung stelle, die anläßlich seines 60. Geburtstags in der ›Prager Presse‹ erscheinen sollte.« (Ebd., S. 925) Neben den beiden Briefen von Musil an Schnitzler enthält die Mappe 1088 im Schnitzler-Bestand des DLA eine handschriftliche Beilage, auf der mit blauem Farbstift »Musil Robert / Brief / entnommen« vermerkt ist. Die Provenienz der Notiz ist unklar. Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein weiterer Brief Musils an Schnitzler aus dessen Korrespondenzenarchiv entnommen wurde; ob es sich dabei um den schon in der Frisé-Ausgabe verzeichneten Brief vom 11. 9. 1921 handelt, konnte nicht eruiert werden. Die Siglen beziehen sich hier und in der Folge auf die im Anhang dieses Beitrags abgedruckten Briefe. Vgl. dazu exemplarisch die Briefe von Robert und Martha Musil an Arne Laurin, den Chefredakteur der Prager Presse, vom 10. 6. 1923, 21. 11. 1923 u. 5./6. 12. 1923 (Br I, S. 305, 323 u. 325). Übersichtlich zusammengestellt findet sich die Korrespondenz mit Laurin in folgendem
Musil – Schnitzler – Kracauer
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dabei der mutmaßliche Briefentwurf, der sich auf der Rückseite des Durchschlags befindet und der in der Schnitzler-Brief-Ausgabe nicht erwähnt wird. Die hier noch etwas harschere Ablehnung von Musils Ansinnen (»Abgesehen davon, dass es mir in jedem Fall kein Vergnügen macht zu einer Zeichnung oder einem Portrait zu sitzen«; 2.2) ist in der schließlich wohl abgesendeten Fassung entschärft. Die historischen Kontexte und Implikationen des zweiten Briefs sind indes weitaus ergiebiger, denn Musils Schreiben an Schnitzler vom 5. Januar 1924 beleuchtet einen Aspekt des Agierens im zeitgenössischen Literaturbetrieb, der in der Auseinandersetzung mit Autoren und Texten der literarischen Moderne oft (zu) wenig Beachtung findet.9 – 1909/1910 war in Berlin der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« (SDS) gegründet worden,10 1914 konstituierte sich unter dem Vorsitz des für die ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geradezu exemplarischen Karl Hans Strobl eine Wiener Ortsgruppe, deren Aufbau freilich mit dem Ersten Weltkrieg ins Stocken geriet.11 Die Nachkriegszeit unter Franz Karl Ginzkey, der seit 1917 als 1. Vorsitzender an der Spitze der österreichischen Dependance stand, war, durchaus schon unter Beteiligung Musils, zusehends von politisch-weltanschaulichen Grabenkämpfen geprägt: 1922 hatte sich unter der Führung Robert Müllers eine ›oppositionelle Gruppe‹ gebildet, der ne-
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Band: Robert Musil: Briefe nach Prag. Hg. v. Barbara Köpplová u. Kurt Krolop. Reinbek b. Hamburg 1971. Insgesamt 31 von Martha Musil angefertigte Porträtzeichnungen finden sich in Marie-Louise Roth: Un destin de femme – Martha Musil. L’amante, l’épouse, la sœur. Bern u. a. 2006 (= Musiliana, Bd. 13), S. 147–177. Zu Martha Musils Tätigkeit als Zeichnerin für verschiedene Zeitungen vgl. ebd., S. 81 f.: »Martha contribue également au financement par des dessins qui paraissent dans la Prager Presse et dans l’hebdomadaire satirique berlinois Die Muskete.« Die einschlägigen Schnitzler-Biographien etwa interessieren sich meist nicht einmal peripher für diese literaturpolitischen – und literatursoziologisch hoch interessanten – Zusammenhänge und konzentrieren sich vielmehr auf das wechselvolle Privatleben des Autors, s. dazu v. a. Giuseppe Farese: Arthur Schnitzler: Ein Leben in Wien 1862–1931. Aus dem Italienischen v. Karin Krieger. München 1999; Renate Wagner: Wie ein weites Land. Arthur Schnitzler und seine Zeit. Mit 88 Abbildungen. Wien 2006. Auch die inzwischen doch deutlich veraltete Monographie von Hartmut Scheible: Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1976 sowie die sehr instruktive Schnitzler-Biographie von Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler. Stuttgart 2005 (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 17653) gehen auf jene historischen und institutionellen Aspekte, die im Kontext meiner Ausführungen von Interesse sind, leider nicht ein. Vgl. Ernst Fischer: Der Schutzverband deutscher Schriftsteller 1909–1933. Frankfurt a. M. 1980, Sp. 31 ff.; die Gründungsversammlung fand im Herbst 1909 in Berlin statt, die Gründung des Verbandes »im formaljuristischen Sinn« erfolgte im Januar 1910 (Sp. 33). Vgl. dazu auch ders: Literatur und Ideologie in Österreich 1918–1938. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 1 (1985), S. 183–255, hier S. 207; Murray G. Hall: Robert Musil und der Schutzverband deutscher Schriftsteller in Österreich, in: Österreich in Geschichte und Literatur 21/4 (1977), S. 202–221, hier S. 202; Corino: Robert Musil (s. Anm. 4), S. 769. Der Frisé-Kommentar nennt irrtümlicherweise erst 1912 als Berliner Gründungsdatum (vgl. Br II, S. 187). Vgl. Hall: Robert Musil und der Schutzverband (s. Anm. 10), S. 202.
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ben Oskar Maurus Fontana, Béla Balázs und Franz Theodor Csokor auch Musil zuzurechnen war, während im Vorstand »die Angst vor einem Linksruck« umging.12 Erst in der Generalversammlung vom 26. November 1923, in der sich der »Schutzverband deutscher Schriftsteller in Österreich« (SDSOe) als eigenständige Organisation konstituierte, vollzog sich eine entscheidende Neuausrichtung:13 Hugo von Hofmannsthal wurde zum 1. Vorsitzenden, Robert Musil zum 2. Vorsitzenden bestimmt. In den engeren Vorstand wurden Oskar Maurus Fontana, Rudolf Olden, Andreas Thom sowie der Rechtsanwalt Dr. Leo Fischmann gewählt. Der SDSOe war in der Folge vor allem damit beschäftigt, sich auf verschiedenen Gebieten für die finanziellen, sozialen und rechtlichen Belange der Schriftsteller in Österreich zu engagieren, etwa mit dem 1924 erschienenen Künstlerhilfe-Almanach der Literaria, der von Karl Oskar Piszk herausgegeben wurde14 und zu dem auch Musil zwei Texte – u. a. das Gedicht Isis und Osiris – beisteuerte.15 Der Schutzverband verhandelte mit den zuständigen Stellen über Zeitungs- und Radiotarife, die Neufassung des Urheberrechts und Möglichkeiten einer Krankenversicherung und Sterbekasse für Autoren, trat gegen die Zensur auf und positionierte sich in zeitgenössischen Debatten16 – etwa auch im 12 13 14
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Corino: Robert Musil (s. Anm. 4), S. 772. Vgl. Hall: Robert Musil und der Schutzverband (s. Anm. 10), S. 203–205. Vgl. Hall: Robert Musil und der Schutzverband (s. Anm. 10), S. 205 f. Künstlerhilfe-Almanach der Literaria. Bearbeitet v. Karl Oskar Piszk. Wien, Leipzig 1924. Vgl. dazu Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Bd. II : Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien, Köln, Graz 1985 (= Literatur und Leben. Neue Folge, Bd. 28/ II), S. 251. Dort ist als Erscheinungsjahr des Almanachs jedoch fälschlicherweise 1923 angegeben. Karl Oskar Piszk wird im unten abgedruckten Brief Musils vom 5. 1. 1924 als Mitglied der beiden für Schnitzler vorgesehenen Ausschüsse des SDSOe genannt. Vgl. Hall: Robert Musil und der Schutzverband (s. Anm. 10), S. 206. Der Künstlerhilfe-Almanach enthielt auch Musils am 14. 10. 1923 im Tag publizierten Essay mit dem Titel Wie hilft man Dichtern? (Künstlerhilfe-Almanach der Literaria [s. Anm. 14], S. 11–14) Das in der Erstfassung von 1923 konstatierte Fehlen einer »repräsentative[n] Vertretung der Schriftsteller« in Österreich (GW II, S. 1116) wurde für den Wiederabdruck im Almanach des Schutzverbandes durch eine Vorbemerkung als mittlerweile überholt bezeichnet: »Der Verfasser legt Wert darauf, daß die repräsentative Vertretung der Schriftsteller heute durch den ›Schutzverband Deutscher Schriftsteller in Österreich‹ gegeben ist und nur herangezogen zu werden braucht.« (GW II, S. 1112; vgl. dazu den Kommentar in GW II, S. 1820) Zwischen den Fassungen liegt die offizielle Gründung des SDSOe – und die damit verbundene Wahl Musils zum 2. Vorsitzenden des Verbandes. Zur Rolle Musils im SDSOe der 20er Jahre vgl. auch Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 88–91. Fischer: Der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« (s. Anm. 10), Sp. 290. Vgl. dazu jetzt auch Murray G. Hall: Publishers and Institutions in Austria, 1918–1945, in: Katrin Maria Kohl, Ritchie Robertson (Hg.): A History of Austrian Literature 1918–2000. Rochester/NY 2006 (= Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), S. 75–86, hier S. 83: »The SDSÖ sought equal opportunities for writers under the country’s social unsurance legislation, fought for authors’ royalties for the publication of their works in the new medium of radio, offered members free legal advice, and so on.« Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Bd. I: Geschichte des österreichischen Verlagswesens. Wien, Köln, Graz
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›Fall Bettauer‹.17 Gerade in Opposition zum ebenfalls 1923 konstituierten österreichischen P.E.N.-Club – der internationale P.E.N.-Club war 1921 gegründet worden –, der anfangs »mehr oder minder eine reine Bankettgesellschaft« vorstellte,18 handelte es sich beim SDSOe um eine »konsequent sachlich arbeitende, auf dichterische Attitüde und erstaunlicherweise auch auf landesübliche [!] Geselligkeit fast vollständig Verzicht leistende Schriftstellerorganisation«.19 Gleichwohl waren viele führende Akteure des SDSOe auch Mitglieder im P.E.N.-Club; die beiden Institutionen markierten gewissermaßen zwei Varianten dezidiert apolitischer schriftstellerischer Vergemeinschaftung in Zeiten zunehmend prekärer Lebensverhältnisse.20 Erster Ehrenpräsident des österreichischen P.E.N.-Clubs war im Übrigen Arthur Schnitzler, der damit nicht restlos glücklich gewesen zu sein scheint,21 als Generalsekretärin fungiert Grete v. Urbanitzky, die sich auf dem denkwürdigen XI . Kongress des Internationalen P.E.N.-Clubs in Ragusa (Dubrovnik) 1933 dem »demonstrativen Exodus« der deutschen Delegation angeschlossen hatte und damit wesentlich zur Spaltung der Organisation beitrug.22 In dem hier abgedruckten Brief vom 5. Januar 192423 versucht Musil in
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1985 (= Literatur und Leben. Neue Folge, Bd. 28/I), S. 123 f., verweist etwa auch auf die Initiativen des SDSOe gegen die im Oktober 1931 verhängte Devisensperre, die die Verdienstsituation für jene Autoren, die große Teile ihrer Einnahmen aus dem Ausland bezogen, wesentlich erschwerte. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 4), S. 776. Zum ›Fall Bettauer‹ vgl. zuletzt Clemens Peck: Hugo Bettauer, in: Literatur und Kritik (2012), H. 467/468, S. 101–108. Klaus Amann: P.E.N. Politik – Emigration – Nationalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub. Wien, Köln, Graz 1984, S. 18; vgl. ebd.: »Er versuchte, für die Idee der Völkerverständigung vor allem in der Form zu wirken, daß für bekannte ausländische Schriftsteller große Diners gegeben wurden.« Fischer: Der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« (s. Anm. 10), Sp. 292. Vgl. Fischer: Literatur und Ideologie in Österreich (s. Anm. 10), S. 207, der auf den »lagerübergreifenden« Charakter des SDSOe hinweist, bzw. Amann: P.E.N. (s. Anm. 18), S. 20, zur vom ersten Präsidenten des Internationalen P.E.N.-Clubs, John Galsworthy, ausgegebenen Parole: »›No politics in the PEN-Club under any circumstances‹«. Eine Haltung mithin, die mit den politischen Ereignissen 1933 in arge Bedrängnis geriet. Vgl. dazu folgende Stelle aus einem Brief an seine Ex-Frau: »Der P.E.N. Club (dessen Ehrenpräsident ich bin, trotz dreimaliger Ablehnung meinerseits) hat neulich sein erstes Souper gegeben zu Ehren Duhamels, den ich bei dieser Gelegenheit kennen gelernt habe.« (Arthur Schnitzler an Olga Schnitzler, 9. 12. 1923, in: Schnitzler: Briefe 1913–1931 [s. Anm. 5], S. 333– 336, hier S. 334) Amann: P.E.N. (s. Anm. 18), S. 29. Unter diesem Datum findet sich außerdem ein Brief von Martha Musil an Arne Laurin, in dem auch Schnitzler Erwähnung findet: »Lieber Herr Laurin! / Können Sie die Zeichnung von Ernst Deutsch verwenden? Wir haben die Briefe durchgesehen und finden leider wenige Korrespondenten, die Sie nicht schon besitzen dürften, darunter. Vielleicht aber fehlen Ihnen in Ihrer Sammlung noch Briefe von Kerr, Schnitzler, Hausenstein, Thomas Mann, Hofmannsthal, Polgar, Georg Kaiser, Hiller, Max Picard, Leo Matthias, – die Robert sich freuen würde, Ihnen zu schicken. / Mit den besten Grüßen von Haus zu Haus und den schönsten Wünschen für das neue Jahr. / Ihre / Martha Musil« (Br I, S. 334). Lt. KA/Kommentare & Apparate/
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seiner Funktion als 2. Vorsitzender des SDSOe, Schnitzler für die Arbeit in den Gremien des Schutzverbandes zu gewinnen. Musil verweist dabei auf den entsprechenden Beschluss des Vorstandes, Schnitzler zu bitten, Teil desselben zu werden, zumal der SDSOe nur dann »für die mannigfaltigen Interessen eintreten« könne, »wenn ihm die guten und einflussreichen Schriftsteller nicht ihre Unterstützung verweigern.« (2.3) Konkret gehe es um zwei Ausschüsse, in denen Schnitzler den Vorsitz übernehmen solle: »ein Ausschuss für Hilfsaktionen zugunsten notleidender Schriftsteller und einer zur Wahrung und Verbesserung der Stellung des Autors gegenüber dem Verleger« (2.3). Als weitere Mitglieder in den Ausschüssen seien einstweilen verschiedene Autoren und Funktionäre des österreichischen Literaturbetriebs »in Aussicht genommen«: Felix Salten, der 1927 die Nachfolge Schnitzlers als P.E.N.-Club-Präsident antreten sollte, Raoul Auernheimer, Oskar Maurus Fontana, dessen Gespräch mit Musil aus dem Jahr 1926 zu den meistzitierten öffentlichen Äußerungen Musils zählt (vgl. GW II, S. 939–942) und der Musil 1928 als 2. Vorsitzender des SDSOe ablöste, »unser Schriftführer« Karl Oskar Piszk sowie der auf Fragen des Urheberrechts spezialisierte Rechtsanwalt und Schriftsteller Leo Fischmann (2.3). Ein möglicher Antwortbrief Schnitzlers, der an der konstituierenden Sitzung des SDSOe am 26. November 1923 vermutlich nicht teilgenommen hatte,24 hat sich leider nicht erhalten; in seinem Tagebuch jedoch findet sich eine Notiz vom 9. Januar 1924, die auf eine Besprechung mit Musil über die Thematik hinweist: »Gegen Abend Dr. Robert Musil, in Angelegenheit des Schriftsteller-Schutz-Verbandes; – was man gegen die Incorrectheiten der Verleger etc. thun könnte; – ein Ausschuss für diese Dinge, den ich leiten soll. Ich betonte die Notwendigkeit eines internationalen Urheberrechts.«25 Ob Schnitzler die von Musil formulierte Einladung angenommen hat, konnte bisher nicht eruiert werden; sicher ist jedoch, dass sich Schnitzler in den folgenden Jahren, gerade auch in Zusammenarbeit mit Mitgliedern des SDSOe, intensiv mit der Frage eines adäquaten, nicht zuletzt den Herausforderungen neuer Medien gewachsenen Urheberrechts auseinandergesetzt hat.26 Seinem Tagebuch lassen sich in der Folge – neben knappen Lektürenotizen zu Werken Musils27 – auch sporadische Anmerkungen zu Gesprächen mit Mit-
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Register/Personen/Laurin, Arne besaß Arne Laurin »eine Sammlung von Schriftsteller-Autographen«, für die Musil ihm mögliche Antwortbriefe Schnitzlers überlassen haben könnte. Vgl. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1923–1926. Unter Mitwirkung v. Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien 1995, S. 100. Schnitzler: Tagebuch 1923–1926 (s. Anm. 24), S. 115. Vgl. »Sicherheit ist nirgends«. Das Tagebuch von Arthur Schnitzler. Bearbeitet v. Ulrich v. Bülow. In Verbindung mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Magistrat der Stadt Wien. Marbach a. Neckar 2001 (= Marbacher Magazin, Bd. 93), S. 132 f. Vgl. Schnitzler: Tagebuch 1923–1926 (s. Anm. 24), S. 150 f. u. 173; die zweite Notiz vom
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gliedern des Schutzverbandes über Aspekte des Urheberrechts entnehmen: So findet sich etwa noch im Januar die Notiz »Bei Dr. Leo Fischmann; Berathung über urheberrechtliche Fragen (H. Jacob, Auernheimer; – Dr. Piszk und Dr. Kaus).«28 Und schließlich am 29. Juli der Beleg für eine Unterhaltung mit Musil und Franz Theodor Csokor, der später im P.E.N.-Club eine wichtige Rolle spielen sollte: »Sprach Musil, den sehr begabten Schriftsteller, und Csokor; über Urheberrechtsfragen.«29 Kontakte zwischen Schnitzler und Musil im Kontext des Schutzverbandes waren bislang nur für die Jahre 1927 und 1928 belegt. Murray G. Hall verweist auf einen öffentlichen Protest des SDSOe gegen die österreichische Radio-Verkehrs-AG (kurz: Ravag) im November 1927, dem sich neben Schnitzler und Musil auch Richard Beer-Hofmann, Hugo v. Hofmannsthal und Franz Werfel angeschlossen hatten;30 Karl Corino verzeichnet eine Sitzung im Bundeskanzleramt vom 8. Juni 1928 zum Thema des »Schmutz- und Schundgesetzes«, an der neben dem christlich-sozialen Kanzler Ignaz Seipel, Schnitzler und Musil auch Josef Roth, Karl Hans Strobl, Anton Wildgans und andere teilnahmen.31 Gerade im ersten Fall waren Fragen des Urheber-
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15. 8. 1924 zeugt von einer für Schnitzler wohl durchaus mühevollen Leseerfahrung: »Versuche Musils Novellen [vermutlich Drei Frauen] weiter zu lesen.« Schnitzler: Tagebuch 1923–1926 (s. Anm. 24), S. 121. Schnitzler: Tagebuch 1923–1926 (s. Anm. 24), S. 169. Vgl. Hall: Robert Musil und der Schutzverband (s. Anm. 10), S. 210; vgl. dazu Schnitzlers Tagebucheintrag vom 7. 11. 1927: »Bei Dr. Leo Fischmann, Syndikus des Schutzverbandes. Richard [Beer-Hofmann], [Felix] Salten, [Raoul] Auernheimer, Praes. Lipschütz [i. e. der Präsident des Schriftstellerverbandes ›Concordia‹, der ebenfalls intensiv in die Diskussion eines neuen Urheberrechts involviert war], Osk. Maur. Fontana, Prof. [Franz] Spunda [zu dieser Zeit Geschäftsführer des SDSOe]. – Beratung über die bevorstehende Versammlung über die Ravag (die Bewegung geht von meiner Klage aus); – und Besprechung wegen des Urheberrechtscongresses in Rom, Frühjahr. – Wir verfassen eine Art Protest. Die Discussion über 3 Stunden, nicht unfruchtbar.« (Arthur Schnitzler: Tagebuch 1927–1930. Unter Mitwirkung v. Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien 1997, S. 103) An der Protestveranstaltung selbst hatte Schnitzler allerdings nicht teilgenommen, s. die Notiz vom 18. 11. 1927: »Bei Dr. Leo Fischmann (privat), der gestrigen Protestversammlung gegen die Ravag hatte ich nicht beigewohnt.« (S. 106) Vgl. dazu Richard M. Sheirich: Arthur Schnitzler’s Challenge to the Government Radio Monopoly, September 1927–Februar 1928, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33/ 1 (2008), S. 199–226, hier S. 214 u. 219: »Schnitzler did not attend this meeting, although Die Stunde had reported three weeks earlier that he would.« Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 4), S. 789 f.; schon Ende 1926 hatte Musil unter dem Titel »Bücher und Literatur« in der Literarischen Welt deutlich gegen das Gesetz Stellung bezogen: »Wenn das geplante Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor sog. Schund- und Schmutzgeschichten Wirklichkeit wird, ist unsere geistige Entwicklung bis auf weiteres zu Ende! Dieses scheinheiligste aller reaktionären Gesetze – welches das Schutzbedürfnis der Jugend in widerwärtiger Weise vorschützt – wird den deutschen Geist zwischen den Plattheiten der Parteien zerpressen.« (GW II, S. 1177) – In Schnitzlers Tagebuch finden sich dazu folgende Einträge: 1. 6. 1928: »Tel. durch Ernst Lothar, wegen Besprechung über das ›Schmutz- und Schundgesetz‹. Der Bundeskanzler legt angeblich Werth auf meine Anwesenheit, die ich bisher ablehnte,
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rechts von zentraler Bedeutung: Das Bemühen der 1924 gegründeten Ravag, einer Vorgängerorganisation des ORF, der Literatur einen wichtigen Platz in ihrem Radioprogramm einzuräumen, machte recht bald die Problematik eines für diese Fälle nur unzureichend geregelten Urheberrechts deutlich. Den Anstoß für eine umfassende Debatte sollte, nachdem der einschlägige Prozess zwischen der Ravag und den Erben Rudolf Baumbachs sich immer mehr verzögerte,32 schließlich Schnitzlers Klage gegen die Rundfunkanstalt im Jahr 1927 darstellen: Die Ravag hatte im Mai im Programm Österreichische Dichterstunde eine Lesung von drei seiner Novellen gesendet, »but it had neither sought permission from him nor his publisher, nor would it pay an honorarium.«33 Wenig später findet sich eine Eintragung in Schnitzlers Tagebuch, die ein Gespräch Schnitzlers mit Raoul Auernheimer über die Frage ausbleibender Tantiemen der Ravag dokumentiert.34 Am 25. September 1927 meldete schließlich die Wiener Zeitung Die Stunde, dass Schnitzler eine Klage gegen die Ravag eingebracht habe, was rasch auch das Interesse anderer Zeitungen auf sich zog: »Meine Klage gegen die Ravag in den Zeitungen lebhaft besprochen, wobei die Ravag sehr schlecht abschneidet.«35 In der folgenden Auseinandersetzung, in der die Rundfunkanstalt wiederholt darauf hinwies, dass es sich bei Tantiemen für epische und lyrische Werke in Rundfunksendungen – im Gegensatz zur Ausstrahlung von Dramen – »um eine noch nicht geklärte Streitfrage« handle,36 spielte der Schutzverband eine wichtige Rolle, wovon nicht zuletzt Schnitzlers Besprechungen mit führen-
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z. Th. aus Antipathie gegen Seipel. L. geht so weit zu behaupten, dass von mir nun abhänge, ob man das Gesetz fallen läßt oder nicht.« 8. 6. 1928: »Ins Ministerium. Sitzung bei Bundeskanzler Seipel wegen Schmutz und Schund Gesetz. Etwa 20 Leute (Schriftsteller) aller Parteien. S. ist derselbe, der vor 7 Jahren, – noch ein kleiner Politiker gegen Reigen hetzte. Indes hatte Julius ihn nach seiner Verwundung behandelt. Auf seinen wiederholten Wunsch, von E. Lothar überbracht wohnte ich heute einer Sitzung bei. Nach Lothar sprach ich – las meine Antworten über das gleiche Thema 1905 vor, – und fügte allerlei hinzu. S. polemisirte einigermaßen; und fand, ›in jeder Hinsicht‹ (dass ich die Frage vor allem von Standpunkt phys. Gesundheit auffasse) lägen ›Welten‹ zwischen uns.« (Schnitzler: Tagebuch 1927–1930 [s. Anm. 30], S. 160 u. 162) – Der SDSOe war schließlich, so Fischer: Der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« (s. Anm. 10), Sp. 291, »an der Zurückstellung des österreichischen ›Schmutz- und Schundgesetzes‹ führend beteiligt«. Vgl. dazu auch Amann: Robert Musil (s. Anm. 15), S. 90 f.: »Schließlich wurde kein eigenes Gesetz beschlossen, sondern im Rahmen der Strafgesetznovelle 1929 die Verkaufsbeschränkung für anstößige und unzüchtige Schriftwerke verschärft.« Vgl. Sheirich: Arthur Schnitzler’s Challenge (s. Anm. 30), S. 200 u. passim. Sheirich: Arthur Schnitzler’s Challenge (s. Anm. 30), S. 200. Schnitzler: Tagebuch 1927–1930 (s. Anm. 30), S. 56. Es folgen unregelmäßige Eintragungen, die die Vorbereitung der Klage betreffen: 18. 6.: »Dictirt Briefe (Ravag)[.]« (S. 57) – 5. 7.: »Vorher Dr. Hoffmann. – Ravag, und Menorah.« (S. 63) – 15. 7.: »Früh Dr. Hoffmann. Die Klage gegen die Ravag besprochen.« (S. 65) – 26. 7.: »Besorgungen. In der Kanzlei Dr. Hoffmann. Klage gegen die Ravag.« (S. 70) – 26. 9.: »Früh Dr. Norb. Hoffmann. – Zum kommenden Ravag-Prozess.« (S. 89) Schnitzler: Tagebuch 1927–1930 (s. Anm. 30), S. 90. N. N.: Der Standpunkt der »Ravag«, in: Neue Freie Presse, 1. 10. 1927.
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den SDSOe-Mitgliedern zeugen.37 Richard M. Sheirich hat den verwickelten Ablauf dieses Prozesses, der auch abseits urheberrechtlicher Fragen ein anschauliches Beispiel für die konfliktreichen kulturpolitischen Konstellationen der österreichischen Zwischenkriegszeit darstellt, gestützt auf reiches Quellenmaterial, ausführlich dokumentiert. Die Ravag, die sich lange Zeit »on a loop-hole in an outdated law« berufen hatte,38 musste jedenfalls im Frühjahr 1928 100 Schilling an Schnitzler zahlen, die dieser wiederum umgehend an den SDSOe spendete; für die zukünftige Vergütung von Rundfunkbeiträgen konnte zwischen den Schriftstellerverbänden und der Ravag ebenfalls eine Einigung erzielt werden, obgleich eine tiefgreifende Reform der Urheberrechts vorerst noch auf sich warten ließ.39 Der SDSOe hatte der staatlichen Rundfunkanstalt »harte Gefechte« geliefert, die der Schutzverband 1928 schließlich auch »mit Erfolg abschloß: die Ravag zahlte fortan Honorar für die von ihr gesendeten literarischen Beiträge.«40 Ob Musil, der im Februar 1928 nicht mehr als 2. Vorsitzender kandidierte und von Oskar Maurus Fontana in dieser Funktion abgelöst wurde, jedoch bis 1929 noch im Vorstand des SDSOe tätig war,41 in dieser Zeit über die gemeinsame Teilnahme am Gespräch mit Ignaz Seipel hinaus noch Kontakt mit Schnitzler hatte, bleibt freilich weiterhin ein Desiderat der Forschung.
Erstmals abgedruckt wird in der Folge auch eine kurze briefliche Mitteilung Robert Musils an Siegfried Kracauer aus dem Jahr 1932, die sich – als Mikrofiche – ebenfalls in den Beständen des DLA Marbach befindet. Hinweise zu möglichen Verbindungen zwischen Kracauer und Musil sind in der Musil-Biographik bisher kaum vorzeichnet.42 Karl Corino verweist zwar auf 37
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Vgl. Schnitzler: Tagebuch 1927–1930 (s. Anm. 30): 19. 10. 1927: »Nm. Notizen über ›Urheberrecht‹ (anschließend an einen Brief des Schutzverbands, bevorstehende Versammlung, anläßlich Ravag und meiner Klage, ich soll sprechen) [. . .].« (S. 97) – 25. 10. 1927: »Nm. bei mir Franz Spunda, – Schutzverband; – nächstens Versammlung in der Ravag-Sache; ich gebe Ratschläge [. . .].« (S. 99) Darauf, dass die Frage Schnitzler auch nach Abschluss des Ravag-Prozesses noch beschäftigte, verweist eine Eintragung vom 8. 10. 1929: »Im ›Schutzverband‹. Gespräch mit Fontana und Sonka (Sonnenschein) über Urheberrechtsverhältnisse. Meine Anregung zur Sammlung von Einzelfällen, persönl. Erfahrungen; – Aufklärung des Publikums.« (S. 282) Sheirich: Arthur Schnitzler’s Challenge (s. Anm. 30), S. 210. Vgl. Sheirich: Arthur Schnitzler’s Challenge (s. Anm. 30), S. 225. Fischer: Der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« (s. Anm. 10), Sp. 290; einen prägnanten Überblick über den Zusammenhang von Radio und Kultur in den 20er Jahren bietet jetzt Primus-Heinz Kucher: Radiokultur und Radioästhetik in Österreich 1924–1934. Zwischen Radiorundspruch, akustischen Bühnen, Bildfunk, Flugreportagen und vaterländischen Festspielen, in: ders., Rebecca Unterberger: »Akustisches Drama«. Radioästhetik, Kultur und Radiopolitik in Österreich 1924–1934. Bielefeld 2013, S. 11–39. Vgl. Hall: Robert Musil und der Schutzverband (s. Anm. 10), S. 211. Die Dissertation von Hildegard Hogen, die sich mit Individualisierungskonzepten u. a. bei Kracauer und Musil beschäftigt, führt an, dass Musil und Kracauer in den 1930er Jahren in Berlin – »beide gleichermaßen aufgrund von Existenznöten und Arbeitswille Geselligkeit ver-
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den erotischen Film Das nackte Mädchen, den 1929 bzw. 1930 sowohl Musil als auch Kracauer besprochen hatten43 und erwähnt Kracauers Ausreise aus Deutschland nach dem politischen Umsturz 1933,44 Belege für eine persönliche Bekanntschaft der beiden Intellektuellen fehlen jedoch vollständig. Gesichert war bislang lediglich der Umstand, dass Anfang der 1930er Jahre Kracauer, der im April 1930 von Frankfurt in die Hauptstadt gezogen war,45 und Musil in Berlin lebten. Musil, der zu dieser Zeit in der Pension Stern am Kurfürstendamm wohnte,46 teilt Kracauer in der handschriftlichen Karte vom 7. Juni 1932 – im Übrigen drei Tage nach der Aufhebung des seit April bestehenden Verbots gegen SA und SS in Deutschland47 – mit, er müsse ihm ein »Buch, mit vielem Dank, zurückstellen«, weil er »morgen für einige Wochen fort[reise]« (2.4).48 Es handelt sich dabei vermutlich um Musils OstseeAufenthalt, der sich nach Corinos Datierung von »Ca. Ende Juni 1932 bis ca. Mitte September 1932« erstreckte.49 Die den kurzen Brief abschließende Formel, Musil hoffe, Kracauer »nach meiner Rückkehr wieder [!] zu sehen« (2.4), lässt auf einen zumindest sporadischen persönlichen Kontakt in dieser Zeit schließen.
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meidend – nicht miteinander in Kontakt« gekommen seien; eine Einschätzung, die durch den vorliegenden Brief als widerlegt gelten kann. Hildegard Hogen: Die Modernisierung des Ich. Individualisierungskonzepte bei Siegfried Kracauer, Robert Musil und Elias Canetti. Würzburg 2000 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 323), S. 46. Vgl. auch ebd., S. 45. Auch die zuletzt erschienene Dissertation von David Wachter: Konstruktionen im Übergang. Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn. Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2013 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 194) enthält keine Belege für einen direkten Kontakt: »Obwohl die drei Autoren von 1907 bis 1909 und von 1931 bis 1933 gleichzeitig (mit Unterbrechungen) in Berlin lebten, ist eine persönliche Bekanntschaft nicht überliefert.« (S. 27) Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 4), S. 1052. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 4), S. 1123; vgl. dazu ausführlicher Momme Brodersen: Siegfried Kracauer. Reinbek b. Hamburg 2001, S. 91 ff. Vgl. Brodersen: Siegfried Kracauer (s. Anm. 44), S. 82. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 4), S. 1917. Vgl. Siegfried Kracauer. 1889–1966. Bearbeitet v. Ingrid Belke. Marbach a. Neckar 1989 (= Marbacher Magazin, Bd. 47), S. 69. Um welches »Buch« es sich dabei handelt, konnte leider nicht eruiert werden; es ist einerseits möglich, dass Kracauer Musil eines seiner eigenen Bücher zur Lektüre überlassen hatte (z. B. den Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben [1928] oder die Untersuchung Die Angestellten [1930]), andererseits könnte Musils Formulierung auch darauf hindeuten, dass Kracauer ihm ein beliebiges anderes Buch geliehen hatte. Vgl. Corino: Robert Musil (s. Anm. 4), S. 1918.
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2. Briefe 2.1 Robert Musil an Arthur Schnitzler, 8. Februar 1922 DLA Marbach/A: Schnitzler, Arthur. Mp. 1088. [Typoskript; Datum und Unterschrift handschriftlich]
Wien, III, Rasumofskygasse 20. 8. Februar 1922 Sehr geehrter Herr Doktor! Die Prager Presse würde bei Ihrem Geburtstag sehr gerne ein Bild von Ihnen bringen und hat meine Frau, die ständig für das Blatt zeichnet, damit beauftragt. Die Sitzung braucht nicht viel mehr als einige Hilfen für das Gedächtnis zu ergeben und dauert daher nur eine halbe Stunde. Wenn Sie diese dem Zweck einräumen und mir mitteilen wollten, wann meine Frau Sie besuchen kann, wäre ich Ihnen überaus verbunden. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener Robert Musil
2.2 Arthur Schnitzler an Robert Musil, 12. Februar 1922 DLA Marbach/A: Schnitzler, Arthur. Mp. 416. [Typoskript; Durchschlag; Unterstreichungen mit rotem Farbstift (im Text durch Kursivierung markiert); rechts unleserliche Kurznotiz]
12. 2. 1922 Sehr verehrter Herr Musil. Nehmen Sie mir es nicht übel, wenn ich Sie, Ihre verehrte Gattin und die Redaktion der Prager Presse bitte von der freundlichen Portraitierungsabsicht vorläufig Abstand nehmen zu wollen. Aus inneren und äusseren Gründen möchte ich mich allen noch so liebenswürdigen und schmeichelhaften Wünschen, Aufforderungen und Anforderungen versagen, wie sie anlässlich eines solchen angeblichen Festtages nah und näher zu dringen pflegen und bin überzeugt, auf Ihr gütiges Verständnis rechnen zu können. Mit verbindlichen Grüssen Ihr sehr ergebener [Arthur Schnitzler] Herrn Schriftsteller Robert Musil, Wien.
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[Auf der Rückseite des Typoskripts findet sich folgende, korrigierte und schließlich durchgestrichene vermutliche Entwurfsfassung des Briefes:] Sehr verehrter Herr Musil. Nehmen Sie mir es nicht übel, wenn ich Sie, Ihre verehrte Gattin und die Redaktion der Prager Presse bitte von der freundlichen Absicht Abstand nehmen zu wollen. Abgesehen davon, dass es mir in jedem Fall kein Vergnügen macht zu einer Zeichnung oder einem Portrait zu sitzen, möchte ich mich gerne allen solchen noch freundlichen und schmeichelhaften Auffor Wünschen, Aufforderungen und Anforderungen versagen, wie sie anlässlich eines solchen angeblichen Feststages nah und näher zu dringen pflegen, und bin überzeugt auf Ihr gütiges Verständnis rechnen zu können. Mit verbindlichen Grüssen Ihr sehr ergebener [Arthur Schnitzler]
2.3 Robert Musil an Arthur Schnitzler, 5. Januar 1924 DLA Marbach/A: Schnitzler, Arthur. Mp. 1088. [Typoskript; Unterschrift handschriftlich; Unterstreichung mit rotem Farbstift (im Text durch Kursivierung markiert)]
Wien, III, Rasumofskygasse 20. 5. 1. 1924 Verehrter Herr Schnitzler! In der ersten Sitzung des neuen Vorstands des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller in Oesterreich ist beschlossen worden, Sie zu bitten, dass Sie in den Vorstand eintreten. Indem ich die Ehre habe, Ihnen diese Einladung zu übermitteln, erlaube ich mir hinzu zu fügen, dass meiner Ansicht nach nur dann der S.D.S. erfolgreich für die mannigfaltigen Interessen eintreten kann, welche gute und schlechte, erfolgreiche und erfolglose Schriftsteller nun einmal gemeinsam haben, wenn ihm die guten und einflussreichen Schriftsteller nicht ihre Unterstützung verweigern. In diesem Sinn bitte ich Sie sehr, Ihre Zustimmung zu geben. Es sollen innerhalb des Vorstands u. a. ein Ausschuss für Hilfsaktionen zugunsten notleidender Schriftsteller und einer zur Wahrung und Verbesserung der Stellung des Autors gegenüber dem Verleger gebildet werden. In beiden Ausschüssen sind Sie gebeten, den Vorsitz zu übernehmen. Im ersten erscheint mir Ihr Name für den Erfolg unentbehrlich, im zweiten möchte ich von Ihren Erfahrungen profitieren. Es sind für den ersten Aus-
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schuss bisher in Aussicht genommen ausser Ihnen Salten, ich und unser Schriftführer Dr. Piszk; für den zweiten Auernheimer, unser Syndikus Dr. Fischmann, O. M. Fontana, Dr. Piszk und ich. Ich bitte Sie, mich Ihr grundsätzliches Einverständnis wissen zu lassen und mir zu gestatten, dass ich Sie besuche, um Ihnen nähere Aufklärungen zu geben. Ich glaube versichern zu können, dass die Bemühung, welche Ihnen aus einer Zusage erwächst, minimal sein wird. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener Robert Musil
2.4 Robert Musil an Siegfried Kracauer, 7. Juni 1932 DLA Marbach/A: Kracauer, Siegfried. [handschriftliche, unterzeichnete Korrespondenzkarte; im DLA als Mikrofiche vorhanden]
7. Juni 1932 Sehr verehrter Herr Doktor! Ihre Reise, mein Unwohlsein haben leider verhindert, daß wir uns noch sehen, denn ich reise morgen für einige Wochen fort, und ich muß Ihnen darum auch auf diesem nicht ganz regulären Weg Ihr Buch, mit vielem Dank, zurückstellen. In der Hoffnung, Sie nach meiner Rückkehr wieder zu sehen, bleibe ich mit vielen Empfehlungen an Ihre Frau Gema[h]lin, Ihr aufrichtig ergebener Robert Musil
Karl Corino
Törleß hochgejubelt Durch eine Frage des Übersetzerteams unter Prof. Nanao Hayasaka, das meine Biographie Musils für Hosei University Press ins Japanische überträgt, stellte sich heraus, dass man bislang von einer falschen Auflagenhöhe des Törleß ausgegangen ist. Die Ausgabe, die Rowohlt Ende 1930 auslieferte, bezeichnete er als das 11. bis 15. Tausend. Da der Wiener Verlag 1906/07 fünf Auflagen zu je 1000 Exemplaren gedruckt haben will, war der einfache Schluss, Georg Müller habe 1911 Die Verwirrungen des Zöglings Törleß mit 5000 Stück aufgelegt. Dies ist offenbar falsch. In seinem Zehnjahreskatalog, den Georg Müller im Spätjahr 1913 herausgebracht haben dürfte, bietet er vom Törleß wie von den Vereinigungen das 2. Tausend an. Es existieren allerdings Exemplare eines 3. Tausends (eines davon in meinem Besitz), die auf dem Titelblatt die Angabe »3. Auflage« tragen (eine Auflage entspricht nach damaligem Sprachgebrauch tausend Stück). Als S. Fischer im März 1914 den Törleß übernahm, waren es ca. 1800 Exemplare, 800 offenbar vom 2. Tausend und das gesamte 3. Tausend. S. Fischer band die Bücher neu, soweit sie noch in Bogen waren, und überklebte unten auf dem Titelblatt die Verlagsangabe Georg Müller. Das »gm« im Kreis fünf Zentimeter darüber blieb sichtbar. (Ich besitze ein solches Exemplar des 3. Tausends.) Fazit: Da Georg Müller nur 3000 Exemplare des Törleß gedruckt hatte, ist Rowohlts Angabe »11. bis 15. Tausend« falsch. Es müsste heißen: 9. bis 13. Tausend. Davon waren im Juli 1938, als Bermann Fischers Bestände von den Nazis bilanziert wurden – er hatte den Törleß mit dem übrigen Werk im Juni 1937 von Rowohlt übernommen –, noch 2509 Exemplare vorhanden. Der Gesamtverkauf von Musils Erstling betrug ergo zu seinen Lebzeiten maximal 10 500 Exemplare. Die Freiexemplare für die Kritik und den Autor in unbekannter Höhe müssten noch abgezogen werden. Ob Musil sich bei der Höhe seiner Auflage von 1911 im Jahre 1930 um 2000 Stück verrechnete oder Rowohlt aus Renommeegründen bewusst täuschte? Ich rechne eher auf sein schlechtes Zahlengedächtnis, das ihm in diesem Fall ein wenig schmeichelte.
Mathias Mayer
Gäste von oben Wie Robert Musil Thomas Mann einst zum Geburtstag gratulierte1 Beide haben sie mit voluminösen Romanen den Krieg, den sie anfangs begrüßt hatten, zu verarbeiten versucht. In einer allerdings unfreiwilligen Parallelaktion haben sie eine aus den Fugen geratende Welt dargestellt: Thomas Manns Zauberberg von 1924 fand in Robert Musil einen umso kritischer beargwöhnenden Leser, als er sich selber gerade anschickte, im Mann ohne Eigenschaften eine Diagnose der Kriegstreiberei von 1914 zu liefern. Aber nicht nur das Ziel, ihre Romane in die Katastrophe von 1914 münden zu lassen, teilen die beiden Jahrhundertwerke, sie greifen unter anderem auf Ironie und Mystik, auf enzyklopädisches Wissen aus Naturwissenschaft und Medizin zurück. Zu einem persönlichen Kontakt war es bereits 1919 gekommen, danach folgten Briefe gegenseitigen Respekts, die aber immer mehr Schlagseite bekamen, wohl bekommen mussten. Denn Thomas Mann wurde zu dem, was für Musil das zweifelhafte Bild des Großschriftstellers war, einflussreich und öffentlichkeitswirksam, 1929 durch den Nobelpreis erst recht bestätigt. Doch als die Kritiken den ersten Band von Musils Roman rühmten, folgten ihnen die Leser, und damit die Käufer, nicht nach, so dass der kompromisslose Österreicher nach und nach in immer größere Schwierigkeiten geriet. Thomas Mann hat sich, von Musils kritischen Kommentaren in den Tagebüchern nichts ahnend, großzügig für den anderen eingesetzt, auch in den überschatteten späten dreißiger Jahren. Schon zum 50. Geburtstag des um fünf Jahre Älteren hatte Musil sich in die Gratulantenschar eingereiht, ehe er 1935 ein in seiner schillernden Unlesbarkeit besonders denkwürdiges Geschenk zum 60. Geburtstag geschickt hat. Der S.-Fischer-Verlag überreichte einen Geschenkkarton mit Glückwünschen, aus denen Erika Mann mehr als dreißig Jahre später den folgenden Vierzeiler Musils an die Öffentlichkeit gab: Wenn sich die Menge verläuft stehen die Sterne am Himmel 1
Erstmals erschienen in: Neue Zürcher Zeitung, 4. 6. 2011, S. 20. Neuabdruck mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.
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Mathias Mayer
und ins verschlossene Haus kommen die Gäste von oben. (GW II, S. 469)
Es sind rätselhafte Zeilen – eine Reaktion Thomas Manns ist nicht bekannt, und auch die hauptamtlichen Leser der beiden Lager haben eher mit Schweigen geantwortet. Dabei kennzeichnet die Verse eine schwebende Leichtigkeit, die nicht mit Unerheblichkeit verwechselt werden sollte: Man kann sich wundern über dieses Experiment auf gleichsam neutralem Gebiet. Zunächst wird eine Erwartung enttäuscht, denn eine dem Anlass gemäße Huldigung ist nicht erkennbar. Vielmehr stellt das Gedicht behutsam andeutend zwei Dimensionen einander gegenüber und bringt sie vorsichtig in Bewegung. Im Unterschied zu dem unspezifisch bleibenden Kollektiv der sich verlaufenden Menge dringen die eigens angesprochenen Gäste auf überraschende Weise, fast wie Jesus unter die Jünger, in das verschlossene Haus. Oben und Unten stehen in einem nicht eindeutig aufzulösenden, lyrisch-schwebenden Kontrast. Ganz offenbar ist der kleine Vierzeiler nicht auf schnelle Entzifferbarkeit hin angelegt. Musil hat anspruchsvolle Vorstellungen von Lyrik entwickelt, ausgehend von Goethes späten Texten oder dem Werk Rilkes. So präsentiert er sich hier nicht als eifriger Gratulant, sondern er schenkt gleichsam ein Geheimnis, Lyrik als Wortkunst des Imaginären, nicht als Bedeutungsstiftung: Es ist die Andeutung eines nicht selbstverständlichen, eines der Menge entzogenen Vorgangs. Die Gäste von oben, im Unterschied zur Menge, die sich bereits verlaufen hat: Sie kommen spät, zur Nachtzeit, und auf ungewohnten Wegen ins Haus. Dieser Anspruch, so darf man vermuten, ist als eine versteckte, prophetische Huldigung und Anerkennung zu lesen, als Andeutung einer Begegnung unter außergewöhnlichen, jetzt noch nicht gegebenen Umständen, als Ausblick auf eine um den Abstand der Beteiligten wissende »Sternenfreundschaft«. Unter dieser Überschrift hatte Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse der einstigen Nähe zu Wagner einen Gedenkstein errichtet, aus vornehmer Distanz und ohne Häme. Musil, wie Thomas Mann ein Nietzsche-Kenner, scheint in diesem Zeichen eine künftige »Konstellation«, eine stellare Situation zu beschwören, in der für beide Romanciers Platz sein würde am Himmel des Ruhms.
Wolfram Malte Fues
Geburtstagsgeschenk In der NZZ vom 4. Juni 2011 macht sich Mathias Mayer Gedanken über einen Vierzeiler, den Robert Musil Thomas Mann zum 60. Geburtstag gesandt hat: »Wenn sich die Menge verläuft / stehen die Sterne am Himmel / und ins verschlossene Haus / kommen die Gäste von oben.« Musil beschwöre damit, so Mayer, »eine stellare Situation [. . .], in der für beide Romanciers Platz sein würde am Himmel des Ruhms«. Tatsächlich? Zunächst: Der angebliche Vierzeiler ist in Wirklichkeit ein Zweizeiler, ein Distichon: »Wenn sich die Menge verläuft / stehen die Sterne am Himmel // und ins verschlossene Haus / kommen die Gäste von oben.« Was Musil an Mann schickt, ist also (sehr passend) ein Xenion, ein Gastgeschenk, und die Parallele zu den Xenien Goethes und Schillers unübersehbar. Bleibt nur zu untersuchen, ob es sich um ein zahmes oder um ein scharfes Xenion handelt, etwa um eins der Art, nach denen die Xenien Martial fragen lassen: »Ißt man denn, mit Vergunst, / spanischen Pfeffer bei euch?« Auf den ersten Blick nicht. Auf den ersten Blick scheint Mayer völlig recht zu haben: Wenn sich die Menge verläuft, treten die Sterne vom Dichterhimmel – Robert Musil und Thomas Mann – gemeinsam in das der Menge nun verschlossene Haus. In brüderlicher Gleichheit. Nur: Sieht man das Distichon mit einem zweiten oder gar dritten Blick an, fällt auf, dass es inkorrekt, weil beschnitten ist – ihm fehlt im ersten Vers an der Zäsur der beiden Halbverse eine Silbe, wodurch es sich nun nicht aus einem Hexameter und einem Pentameter, sondern aus zwei Pentametern zusammensetzt. Gastgeschenk aus dem Fundus der deutschen Klassik, aber, Gastgeschenk minus Eins, weist es den Beschenkten in einen eine Silbe tieferen Himmel als den, aus dem es stammt und aus dem sich der Schenkende bedient. Spanischer Pfeffer? Das nicht. Aber cum grano salis.
Rezensionen
Genese Grill: The World as Metaphor in Robert Musil’s The Man without Qualities. Rochester: Camden House 2012 (= Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). 204 S. £ 50,– (Richtpreis). Genese Grill beginnt ihre Untersuchung mit einer anregenden These: Der Mann ohne Eigenschaften ist in seiner Unvollständigkeit vollständig. Die These ist ein Bruch mit spekulativen Untersuchungen, die von der Unvollständigkeit ausgehend entweder für eine der viel diskutierten Enden (Krieg, Tod, Wahnsinn, Verbrechen etc.) oder für das Scheitern des Romanciers plädieren wollen. Obwohl die Musil-Forschung in den letzten Jahren dem angeblich unvollendeten Status des Romans gegenüber sorgsamer und weniger missbilligend1 geworden ist, geht Grills Untersuchung noch einen Schritt weiter. Sie konzipiert die Offenheit des »unvollendeten« Romans als ein strukturbedingtes Merkmal von Musils poetologischem Programm, das die Kontingenz2 aller Erzählfäden betont und dadurch die Möglichkeit der Wiederkehr und Wiederholung immer offen hält. Laut Grill ermöglicht Musils Idee einer werdenden aber nie vollzogenen Vollendung ein Nebeneinander von gangbaren Schlüssen, in dem kein einziges Ende dauerhaft den Vorrang erhält. Musil hat eine Erzählstruktur erfunden, die ein »ongoing open experiment« (S. 11) fördert. Mit anderen Worten unterscheidet sich Musil von zeitgenössischen und gegenwärtigen Autoren dadurch, dass seine Handlungs- und Charakterentwicklung weder auf Notwendigkeit noch Teleologie basieren. Jeder Ausgang wird in der Schwebe gehalten, um gleichzeitig alle anderen Ausgänge zu stützen und in Frage zu stellen. Wenn ein Ende vor Gericht kommt, sind die 1
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Beispielhaft für eine Analyse der positiven Potentialitäten der Unvollständigkeit ist Walter Fanta: Krieg & Sex – Terror und Erlösung im Finale des Mann ohne Eigenschaften, in: Hans Feger, Hans-Georg Pott, Norbert Christian Wolf (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 209–225. Auf ähnliche Art und Weise, aber mit einem technischeren Vokabular beschreibt Martin Dillmann Musils poetologisches Programm in seiner fast gleichzeitig erscheinenden Monographie, s. M. D.: Poetologien der Kontingenz. Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge der Moderne. Wien u. a. 2011 (= Kölner Germanistische Studien, Bd. 11). Eine vergleichende Lektüre beider Werke lohnt sich, wenn man die Ansätze der U. S.- und deutschsprachigen Germanistik gegenüberstellen möchte. Das Fehlen eines einleitenden und auch so betitelten »Forschungsberichts« in Grills Buch ist das erste, was dem Germanisten aus dem deutschsprachigen Raum vielleicht auffallen wird.
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anderen Enden die Richter, die auch irgendwann den eigenen Fall werden vorbringen müssen. Um Musils andauernden Aufschub der Vollendung zu erläutern und plausibilisieren, konzentriert sich Grill hauptsächlich auf MoE-Passagen aus dem Nachlass, der für viele Romandeutungen eine brachliegende Landschaft geblieben ist. Grills analytische Begrifflichkeit stützt sich weder auf eine explizite Theorie noch spezifische Theoretiker – was keineswegs eine Schwäche darstellt. Man kann aber in der Kapiteleinteilung einen rhetorisch-philologischen Ansatz erkennen, der die vier Kapitel der Auslegung von vier Metaphern widmet: Kreise (circles), Wiederholbarkeit und Verbrechen (repeatability and crime), Wortzauber (word magic) und Stillleben (still life). In »Circles« will Grill zeigen, dass Musil aus einer Vorliebe für »the circular and unending over the simple straight line toward the end« (S. 17) ein poetologisches Programm entwickelt hat, das die Strukturen und Risse der Moderne besser in Erzählform be- und umarbeiten kann als traditionellere Poetiken, die von Anfang an ein Ende suchen. Nach Grill unterscheidet sich Musils fiktionale Wirklichkeit nicht wesentlich von der von ihm beobachteten »wirklichen« Wirklichkeit. Er findet, dass sich beide besser kreisförmig oder a-teleologisch als linear oder teleologisch darstellen lassen. Weder das Leben noch der Mensch bewegt sich zielgerichtet ohne Unterbrechung nach vorne, sondern beide wiederholen durch den Verlauf der Zeit gewisse Routinen und Varianten von Niederlage und Sieg. Musils poetologischem Programm zufolge sollen Handlung und Charakter – die fiktionalen Gegenüber von Leben und Mensch – auch in eine ewige Auseinandersetzung mit der Kreisförmigkeit verwickelt werden. Der Beitrag dieses Kapitels liegt darin, dass Grill in überzeugender Weise die ästhetischen und ethischen Vorteile einer solchen Lebens-, Les- und Schreibart von Musils Roman und Biographie ableitet. Bezüglich des ästhetischen Vorteils erlaubt die kreisförmige Wiederholung die Steigerung der schönen Augenblicke – für Musil dauert das Schöne selten länger als einen Atemzug – und das Weglassen von minderwertigem Lebensund Erzählstoff. Den ethischen Wert illustriert Grill durch einen Vergleich zwischen Musil und Nietzsche. Letzterer hat im Vorwort zu Morgenröte geschrieben, dass man das Buch »rück- und vorsichtig«3 lesen solle. Nach Grill heißt das: Leben/Lesen nicht nur mit einem Sinn für das, was vor- und nachher kommen könnte, sondern auch mit Toleranz und Bedachtsamkeit (S. 32). Das 2. Kapitel, »Repeatability and Crime«, beginnt mit einer Typologie der Arten und Grenzen der Wiederholbarkeit und geht in eine Erwägung von Musils befremdlich positivem Begriff des Verbrechens über. Wie die Figur des Kreises interpretiert Grill Musils verwandte Idee der Wiederholbarkeit als ein Paradox: Wir wünschen, dass manche Sachen zyklisch wieder 3
Friedrich Nietzsche: Morgenröte, in: ders.: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. 3. München 1999, S. 17.
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vorkommen und andere nicht; aber es kann sein, dass sogar die gewünschten Ereignisse und Erfahrungen nicht mehr begehrenswert werden, wenn sie sich plangemäß wiederholen. Wiederholbarkeit dieser Art läuft Gefahr, ins »Seinesgleichen geschieht« (S. 49) zu münden. Um sich vom »Seinesgleichen geschieht« fernzuhalten, verwendet Musil »Verbrechen« als eine Metapher. Verbrechen ist nicht notwendig kriminell. Seine Hauptfunktion liegt darin, dass es einen Ausnahmezustand herbeiführt. Dieser Ausnahmezustand ermöglicht einen Bruch mit dem Status quo und/oder sein Ab- und Umbauen, sodass »the usual securities of definition and category are suspended or dissolved« (S. 50, 53). Es wird nicht überraschen, dass Grill diesen Zustand mit Musils berühmtem »anderen Zustand« gleichsetzt (S. 54), wobei sein Begriff der »induktiven Gesinnung« den regelnden Wert der Metapher im Mann ohne Eigenschaften vielleicht besser hätte erklären können. Immerhin liefert Grill eine überzeugende Demonstration des zweiten metaphorischen Lebens, das Musil alltäglichen Begriffen wie Krankheit (S. 55), Hund (S. 57), Straße (S. 62) usw. einhaucht. Musils metaphorische Poetik stellt nicht nur ein Verbrechen gegen den »guten« Geschmack dar, sondern paradoxerweise auch den ersten Zug im Begründen eines neuen reflektierten guten Geschmacks, der sich für die Suche nach dem »right way to live« (63) besser eignet. Im 3. Kapitel, »Word Magic«, legt Grill Musils eigenwilliges poetologisches Verfahren durch Vergleiche mit Schriftstellern und Theoretikern (Baudelaire, Proust und Walter Benjamin) aus, mit denen er sowohl seinem eigenen Selbstverständnis als auch einer thematischen Analyse nach keine tiefe Verwandtschaft teilt.4 Der Durchführung der Vergleiche mangelt es dementsprechend an Überzeugungskraft. Sie scheinen oft eher um der Ähnlichkeit willen aufzutauchen, als wegen eines argumentativen Vorteils, der in der Musil-Forschung bis jetzt nicht herangezogen worden ist. Bzgl. des vom 2. Kapitel fortgesetzten Proust-Vergleichs ist die Ähnlichkeit nicht viel mehr als eine der Seitenzahl, die der eigentliche Grund für die vielen wiederholten und weithergeholten Vergleiche zwischen Musil, Proust (und Joyce) sein muss. Grill hätte eine äquivalente oder bessere Wirkung erzielen können, wenn sie auf Musils »Wortzauber« alleine fokussiert hätte, da Musil auf andere vielleicht entgegengesetzte Ziele aus ist. Wo Benjamin und Proust die Gefahren einer autoritären Moderne mit Wortzauber vermeiden oder vermindern wollen, will Musil ihn einsetzen, um fixierte Weltanschauungen mit einer Mannigfaltigkeit bewohnbarer Welten zu konfrontieren (S. 115). 4
Grill gibt das selbst zu (S. 5), folgt aber einer von ihr wahrgenommenen tieferen Verwandtschaft mit »experimental modernists«. Musil weiß auch, dass er wegen seiner Poetisierung der Kontingenz des alltäglichen Lebens mit Proust und Joyce verglichen wird, aber anders als Grill erklärt er den Vergleich für einen unvollständigen, weil er auf die Folgen der Kontingenz nicht wie Proust, Joyce usw. reagiert. Kontingenz ruft bei ihm keine Gleichgültigkeit hervor, sondern eine entschlossenere Entscheidung, bessere Erzählmöglichkeiten zu entfalten. Vgl. KA/ Lesetexte/Bd. 12 Essays/Literat und Literatur/397.
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Als Dichter des Möglichkeitssinnes hat Musil lebenslang mit dem Problem gerungen, dass sich narrative Möglichkeiten versteinern können, sobald die Tinte auf dem Papier getrocknet ist. Deswegen müsste eine Methode für ihre Wiederauflockerung auch im Druck gefunden werden. Grill schlägt die Metapher des »still life« im gleichnamigen 4. Kapitel vor. Das Stillleben nimmt zumindest zwei metaphorische Bedeutungen in Grills Behandlung an: die gattungsspezifische der Malerei und die des »stillen«, oder mit Musil gesprochen, »nicht appetitiven« Lebens (S. 124), das Musil in den »Atemzüge eines Sommertags«-Varianten darstellt. Beide Bedeutungen haben die Kapazität für die Darstellung bzw. Ausführung des Unendlichen in einem endlichen Zeit-Raum. Mit diesem Paradox knüpft Grill geschickt ihre abschließenden Überlegungen kreisförmig an ihre einführenden an, um zu zeigen, wie Musil die Metapher des Kreises in seine Schreibpraxis und die Romanhandlung einflicht. Auf der Rezeptionsseite begegnen Beobachter (Ulrich, Agathe, die Leser usw.) einem Stillleben wie einem im Leben gefrorenen Augenblick. Es bleibt dasselbe – aber wir nicht, denn wir sind nicht mitgefroren, sondern bei jeder Wiederbegegnung mit ihm anders. Um einem Verständnis der Produktionsseite eines Kunstwerks näher zu kommen, erörtert Grill den Begriff des stillen, nicht appetitiven oder kontemplativen Lebens. Wenn der Beobachter für einen Moment still bleibt, kann er das »fountaining« (S. 120) eines Kunstwerkes betrachten. Der Brunnen ist eine von Musils Lieblingsmetaphern,5 die es ihm erlaubt, die Kunst, den Menschen und den literarischen Charakter formal zu verschmelzen: Das springende Wasser eines Brunnens beschreibt eine relativ gleichbleibende Form, aber jeder Tropfen bewegt sich und taucht im Brunnenstrahl innerhalb einer nie wieder gleichen Tropfenkonstellation auf.6 Mittels der anscheinend widersprüchlichen Bezeichnung »still life« demonstriert Grill erfolgreich Musils Verständnis der ewigen Lebendigkeit wertvoller Kunstwerke: Wenn Literatur, Menschen und Charaktere geschickt gestaltet worden sind, lassen sie sich nie als versteinerte Dinge betrachten.
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Die Metapher des Brunnens schlägt eine Brücke unter anderem zwischen Die Portugiesin und Der Mann ohne Eigenschaften. Darüber hinaus zeigt diese Metapher, wie Musil den Menschen und das Kunstwerk als metaphorisch vergleichbare Sachen behandelt. In Die Portugiesin vergleicht er die Titelfigur und von Ketten, ihren Mann, mit jedem »wohlgebaute[n] Ding« – einem Brunnenstrahl z. B. (KA/Lesetexte/Bd. 6 Novellen/Drei Frauen/Die Portugiesin/64 u. 66). Im Mann ohne Eigenschaften erscheint eine metaphorische Warnung gegen die Vergeblichkeit, der flüchtigen Ewigkeit eines Moments in Form eines Kunstwerks oder einer Person »appetitiv« – d. h. mit endgültig bestimmenden Absichten – entgegenzukommen: »In diesem Wechsel der Erscheinungen Halt finden zu wollen, ist so schwer wie einen Nagel in einen Brunnenstrahl zu schlagen« (KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/725). Obwohl sie nicht in Grills Studie zitiert wird, ist Lilith Jappes Analyse des Tropfens als einer Metapher für den Menschen und das Leben von Interesse. Vgl. L. J.: Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im Mann ohne Eigenschaften. München 2011 (= Musil-Studien, Bd. 38), S. 76–83.
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The World as Metaphor bietet (trotz des manchmal fraglichen vergleichenden Ansatzes) einen wertvollen Beitrag zur internationalen Musil-Forschung. Grill erlangt damit den seltenen Status einer Wissenschaftlerin, die eine These – nämlich wie man nach Musil die Welt als Metapher erfahren kann – zugleich erklärt und im eigenen Schreiben ausführt. Für ihre konsequente Arbeit am Nachlass verdient die Studie insbesondere das Lob und Interesse derjenigen, die sich mit den kanonischen Werken der Moderne wie dem Mann ohne Eigenschaften eingehender beschäftigen wollen. Todd Cesaratto
Florian Kappeler: Situiertes Geschlecht. Organisation, Psychiatrie und Anthropologie in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München: Wilhelm Fink 2012 (= Musil-Studien, Bd. 39). 482 S. € 59,–. Als die zwecks Beteiligung an der »Parallelaktion« zur Feier der kakanischen Nation im Salon der Gastgeberin Diotima versammelte Wissenschaft den Vorschlägen der ebenfalls anwesenden Dichterschaft zuhören muss, »lächelt« sie. Doch tut sie das in Musils Roman nicht nur kollektiv und gewissermaßen supraindividuell; sie lächelt darüber hinaus »ein Männerlächeln« (MoE, S. 301), dem ein gleichfalls nicht individualisierter Bart zugeordnet ist, in den sich dieses Lächeln überhaupt erst lächeln lässt. An dieser Stelle setzt die Studie Florian Kappelers, Koordinator am Graduiertenkolleg »Geschichte des Wissens« der ETH und der Universität Zürich, ein: Ihr Gegenstand sind die geschlechtlichen Codierungen, denen nicht etwa nur soziologische Rollenbilder und an diesen partizipierende literarische Figurendarstellungen unterliegen, sondern auch die Wissenschaft, und zwar über die ihr zugehörigen (bärtigen) Wissenssubjekte hinaus auch deren Gegenstände und Darstellungskonventionen. Kappeler siedelt seine Studie somit im Überschneidungsbereich zweier Theoriefelder an, die einander wechselseitig konturieren: der literarischen Gendertheorie sowie der Poetologien des Wissens. Sein Erkenntnisinteresse liegt also nicht in einer historischen Analyse von Geschlechtertheorien, sondern auf dem Gebiet einer historischen Epistemologie unter genderkritischen Vorzeichen. Das Geschlechtliche wird damit zur Strukturkategorie und dient der Studie als methodologische Klammer, die einen Parcours durch eine Reihe sehr unterschiedlicher Wissensfelder zusammenfasst, die von der politischen Ökonomie über Psychiatrie, Kriminologie, Sexualwissenschaft, Ethnologie und Zoologie bis zu Historiographie und Statistik reichen. Methodologisch sind vor allem zwei Referenzen für Kappelers Arbeit zentral. Zunächst Michel Foucaults Archäologie des Wissens, die ihm dazu dient, Wissen in strukturale Kategorien zu fassen, die neben Gegenständen, Begriffen und Strategien vor allem Subjektpositionen als von Diskurszusam-
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menhängen determinierte zu beschreiben erlauben.7 Daran knüpft die zweite theoretische Referenz der Arbeit an: Donna Haraways Konzeption »Situierten Wissens«.8 Mit Haraway nimmt Kappeler an, dass wissenschaftlich autorisierte Subjektpositionen Aspekte wie Status oder institutionelle Verortungen umfassen und insofern auch als geschlechtlich codierte angesehen werden müssen. Solche Situierungen versteht er mit Haraway als »wissensbegründende Praktiken«, durch die sich Gender, noch vor den es repräsentierenden Subjekten, in die Konstitution des Wissens selbst einschreibt – ein Phänomen, das sich an einer Romanfigur wie der Astronomin Dr. Strastil bestens belegen lässt, die bei dem Bemühen, die männlich codierte Subjektposition des Wissenschaftlers einzunehmen, sowohl in ihrer wissenschaftlichen Autorität als auch in ihrer Weiblichkeit diskreditiert wird. An diesem Beispiel wird allerdings auch schon das Spannungsfeld deutlich, das sich durch die Kombination der beiden Ansätze eröffnet: Bezieht sich der Roman hier analytisch und kritisch auf ein das Verhältnis von Gender und Wissen betreffendes Klischee, oder wird er zum Medium seiner Inszenierung? Ist er also Element eines diskurshistorischen Feldes, dessen bereits determinierte Subjektpositionen er übernimmt, oder gelingt es ihm, sich von ihnen zu lösen? Kappeler geht davon aus, dass derartige Positionen innerhalb des Romans vor allem als Positionen seiner Figuren zu identifizieren sind, zu deren Medium sein allwissender Erzähler sich machen kann, aber nicht muss. Er sieht die Funktion der Literatur und insbesondere die Qualität des Mann ohne Eigenschaften daher in dessen Praxis, solche Positionen durch Kontextualisierung zu situieren und folglich zu relativieren. Der Begriff der Situierung beinhaltet insofern eine gewisse Offenheit hinsichtlich des Status von Literatur: Diese wird zwar einerseits als ein »Funktionselement historischen Wissens« (S. 15), das Situierungen nachbildet, andererseits aber als das Medium verstanden, das die Bedingtheiten situierten Wissens kritisch zu explizieren erlaubt – ein Verfahren, das der Autor allerdings nicht als notwendig explizite Reflexion verstehen möchte, sondern als eine Präsentationsform geschlechtlicher Zuschreibungen, welche die Herstellung dieser Kategorien selbst »kontaminiert« (S. 30). In dieser Betonung der Darstellungsformen (S. 16) rekurriert der Autor zugleich auf ein Prinzip der Poetologien des Wissens.9 In ihrem Parcours durch einige der für den Mann ohne Eigenschaften zentralen Wissensfelder und deren geschlechtliche Implikationen geht die Studie nach dem Prinzip der Verzahnung ihrer Gegenstandsbereiche vor, 7 8
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Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1973. Donna Haraway: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Hg. v. Carmen Hammer u. Immanuel Stiess. Frankfurt a. M. 1995, S. 73–97. Vgl. etwa Joseph Vogl: Robuste und idiosynkratische Theorie, in: KulturPoetik 7/2 (2007), S. 249–258.
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die im Roman auf vielerlei thematische, aber auch metaphorische Weise ineinandergreifen. Kappeler beginnt mit einer Rekonstruktion des sozioökonomischen Organisationsdiskurses der 1910er und 1920er Jahre, dessen Repräsentanten, wie der Sozialdemokrat Johann Plenge oder der Liberale Walther Rathenau, das freiheitliche Element der Marktliberalität mit dem autoritären eines (proto-totalitären) Planungsprinzips kombinieren und dabei, genderkritisch betrachtet, die chaotische Entwicklung einer weiblich konnotierten Konjunktur einer männlich konnotierten sozialtechnologischen Kontrolle zu unterwerfen suchen. Vor diesem Hintergrund kann Kappeler die »Parallelaktion« als einen gescheiterten Organisationsversuch deuten, bei dem die Balance zwischen demokratischer Willensbildung und autoritärer Kontrolle zugunsten letzterer und zugleich ins Männlich-Militärische kippt. Wie Kappeler zeigt, ist die Rolle der für die Parallelaktion nur symbolisch, aber nicht organisatorisch relevanten Salondame Diotima eine, die hinter die in den 1910er Jahren von dem Psychiater und Soziologen Franz MüllerLyer beschriebene gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen sogar noch zurückfällt. Der Organisationsdiskurs umgreift jedoch nicht nur ökonomische, soziale und politische Aspekte, sondern auch die Produktion des (gesellschaftlichen) Wissens. Tatsächlich finden sich im Mann ohne Eigenschaften unterschiedliche Modelle »geistiger Organisation«: vom eher karikaturalen Fall General Stumms, der im Dienste der durch die Parallelaktion betriebenen Suche nach der großen Idee das Wissen zu quasimilitärischen Schlachtformationen anordnet, über den Wissensökonomen Arnheim, dessen Universaldilettantentum es um die restlose Konvertierbarkeit aller Formen von Wissen zu tun ist, bis hin zum Sekretär Ulrich, der in der Funktion einer vernetzenden und systematisierenden Schaltstelle von Wissen und damit als Organisator im engeren Sinne auftritt (S. 119). An der Figur des organisierenden Sekretärs lässt sich Kappeler zufolge daher eine neue, dynamische Form hegemonialer Männlichkeit festmachen, die zwischen politischer Macht und Verwaltung angesiedelt ist und somit zwar keine patriarchale Autorität mehr repräsentiert, aber auch als reine Funktionsstelle noch »männliche Köpfe« wie Ulrich erfordert. Das zeigt sich auch im Hinblick auf einen weiteren Wissensdiskurs, der für die Figur Ulrichs relevant ist, die Psychotechnik. Kappeler versteht sie als die Subjektivierungsweise der hier geforderten neuen Form von Männlichkeit, insofern als diese nicht mehr auf Sittlichkeit, Mut und Tugend, sondern auf (sportliche) Selbstoptimierung setzt, für die psychische Funktionen als zu optimierende Leistungen gelten. Solche selbstfunktionalisierende Selbstbeherrschung ist jedoch ihrerseits ein Herrschaftswissen, wie Kappeler zufolge an Ulrichs »dem eisernen Kriegsgesetz der geistigen Eroberung« unterstehender Utopie der Exaktheit deutlich wird (MoE, S. 304). Hier zeigt sich Kappelers Arbeit einer weiteren grundlegenden theoretischen Referenz, den Thesen des Männlichkeitsforschers Robert W. Connell, verpflichtet, dem zufolge in kapitalistischen Gesellschaf-
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ten ein patriarchales Männerbild durch ein von Expertisierung, Technisierung und Rationalisierung geprägtes ersetzt wird, in dem das Männliche also bis zu einem gewissen Grad funktionalisiert wird, ohne dadurch seine Dominanz einzubüßen.10 Von der Psychotechnik gelangt Kappelers Arbeit zur Psychiatrie. Er verortet die Figuren Moosbruggers und Clarisses hinsichtlich der Theorien Eugen Bleulers und Ernst Kretschmers, zeigt aber zugleich, wie der Roman psychiatrische Subjektpositionen relativiert, indem er die ihnen zugrundeliegende männliche Hegemonie ausstellt: So geschieht es nicht nur in Clarisses prekärem Versuch, diese Rolle beim Irrenhausbesuch mittels weißen Kittels zu usurpieren, sondern auch im »ärztlichen« Rat ihres Bruders Siegmund, der ihren Gatten Walter mittelbar zur Vergewaltigung auffordert (MoE, S. 929). Hinsichtlich Moosbruggers geht die Argumentation in den Wissensbereich der Kriminologie über, in deren Zusammenhang Kappeler den »Schulenstreit« der Juristen Franz von Liszt, Karl Binding und Karl von Birkmeyer um den Begriff der Zurechnungsfähigkeit rekonstruiert, der die Basis für die rechtstheoretischen Reflexionen von Ulrichs Vater bildet. Vom kriminologischen Kontext wiederum leitet er, über das Psychopathie-Konzept Julius Ludwig Kochs, zur Psychopathologie der Sexualität über, in deren Zusammenhang Moosbrugger und Clarisse als ambivalente, an sich selbst scheiternde Sexualidentitäten gezeichnet werden, letztere im Kontext einer Problematisierung eines sozialpsychologischen Modells der Ehe als sexuelles Disziplinierungsprojekt, an dem (mit größerem oder geringerem Erfolg) auch die Figuren Diotima und Bonadea sich abarbeiten. Dieser Verschränkung psychiatrischer und soziohistorischer Fragestellungen fügt Kappelers Studie noch die Ethnologie hinzu, deren Vertreter Lucien Lévy-Bruhl gegenüber älteren, evolutionistischen Ansätzen wie denen Burnett Tylors und James George Frazers als Initiator einer soziohistorischen Wende des Fachs eingeführt wird. Der Rekurs hierauf ermöglicht Musil, Kappeler zufolge, einen kulturrelativistischen Standpunkt, von dem aus eine »Ethnologie des Eigenen« (S. 268) angegangen werden kann, die er als Vorlage nicht nur für die im Roman vorgenommene ideologiekritische Analyse bestimmter primitivismusaffiner Diskurse der europäischen Moderne wie den völkischen Nationalismus Hans Sepps oder die männerbündische Gemeinschaftsmystik Meingasts begreift, sondern auch für Ulrichs und Agathes Explorationen in den Erfahrungsbereich des »anderen Zustands«. Die Geschlechterdifferenz erscheint in diesem Zusammenhang als eine sich mit der Differenz von kulturell Eigenem und Anderem überschneidende Kategorie; doch während die antimodernen Modernen Sepp und Meingast als unfreiwillig prekäre Männlichkeiten gezeichnet werden, riskiert Ulrich die 10
Vgl. Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen 1999 (= Geschlecht und Gesellschaft, Bd. 8).
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seine in einer bewussten Überschreitung seiner bisherigen Geschlechtsidentität. Als Mann ohne Eigenschaften erscheint er in dieser Perspektive – und im Gegensatz zu der im Ersten Buch des Romans entworfenen funktionalen und dennoch hegemonialen Männlichkeit des Wissenssubjekts – vor allem als ein Mann ohne gesicherte männliche Eigenschaften. Ein letzter Wissensbereich, der an die früheren anknüpft, ist die Zoologie, die der Roman vor allem auf der Ebene der Metaphorik aufruft, zum einen hinsichtlich des Vergleichs gesellschaftlicher Strukturen mit der Organisation von Insektenstaaten, zum anderen hinsichtlich der Bedeutung von Tiermetaphorik für die Darstellung von Geschlechterrollen. In einem abschließenden Kapitel widmet Kappeler sich der Frage nach den für das Genre des Romans spezifischen situierenden Darstellungsformen von Wissen; es soll also die erzählerische Einbettung genderspezifischer Wissensformen analysiert werden. Hier stehen zum einen die Abfolge und Verknüpfung narrativer Ereignisse und zum anderen die Figurenkonzeption im Fokus. Dabei werden allerdings nicht, wie man geneigt sein könnte zu erwarten, die zuvor untersuchten Wissensbereiche unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten systematisiert; vielmehr werden die Strategien zur Darstellung von Wissen im Mann ohne Eigenschaften ihrerseits auf zwei weitere Wissensdiskurse, nämlich Historiographie und Statistik, bezogen, welche Kappelers Analyse zufolge einerseits die Logik des Narrationsverlaufs und andererseits die Figurenkonzeption »anleiten« (S. 360); diese Wissensdiskurse treten also nicht als situiertes, sondern als situierendes Wissen auf. Hier wartet die Studie ein weiteres Mal mit einer komplexen Präsentation diskurshistorischen Materials auf. Im Fall der Historiographie verweist Kappeler auf die in den 1930er Jahren entstandene nouvelle histoire der Annales-Schule, die statt von singulären von kollektiven Subjekten ausgeht und folglich nicht nur keine Geschichte »großer Männer« mehr schreibt, sondern auch keine kausal-linearen Verläufe mehr voraussetzt. Im Mann ohne Eigenschaften findet sich dies im Prinzip eines erzählerischen »Sich-Verlaufens« wieder, das Bedingungszusammenhänge und nicht Ereignisfolgen wiedergeben soll und, so Kappeler, somit auch männlich codierte »große Erzählungen« vermeide. Für den im Roman in vielerlei Hinsicht thematisch verankerten Wissensdiskurs der Statistik wiederum werden als Stichwortgeber der Mathematiker Heinrich Emil Timerding und der Physiker Erwin Schrödinger hervorgehoben; dieser Diskurs wird zum Teil mit den narrativen Prinzipien des Romans in Verbindung gebracht, insofern als er an das den Roman auch erzählerisch strukturierende Prinzip des »Seinesgleichen geschieht« angeschlossen werden kann, vor allem aber mit der Figurenkonstitution. Hiefür bringt Kappeler das Konzept des Durchschnittmenschen in Anschlag, der in der Figur Walters als Mittelmaß (und folglich als Typ), in der Ulrichs aber als Kontingenz (und folglich als Mann ohne Eigenschaften) auftritt – aber in jedem Fall ein Mann ist. Doch auch für die Figurenkonzeption im Allgemeinen spielt Statistik eine
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Rolle, insofern als inhaltliche Aussagen gleichen Typs nach einer Art Distributionsschlüssel auf unterschiedliche Figuren verteilt und auf diese Weise, so Kappelers These, als diskursgenerierte Durchschnittsaussagen kenntlich gemacht werden. Mit diesem Versuch einer Zusammenfassung ist tatsächlich nur ein Teil der in Kappelers Studie verhandelten Aspekte des Romans und der ihnen zugehörigen, in komplexen Verweisungszusammenhängen stehenden genderund wissensrelevanten Themen erfasst. Man könnte den Autor daher insofern als kongenialen Interpreten Musils bezeichnen, als die Gesamtanlage seines Buchs in gewisser Weise das widerspiegelt, was Ulrich als ein Modernephänomen diagnostiziert, während Kappeler selbst darin das zentrale Erzählprinzip des Romans ausmacht: dass »alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ›Faden‹ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet« (MoE, S. 650). Der hinsichtlich des breiten Spektrums der vertretenen Wissensfelder, der vielfältigen Aspekte der Genderproblematik und der unterschiedlichen literarischen Darstellungsebenen enormen Komplexität des Buchs gerecht zu werden, ist daher nicht leicht. Als Fazit ließe sich zumindest formulieren, dass es Leser voraussetzt, die keine »primitiv epischen« Bedürfnisse an geisteswissenschaftliche Studien herantragen. Im Hinblick auf ihr Kernthema Gender lässt sich jedoch eine grundlegende methodologische Frage stellen, welche die Kompatibilität ihrer zwei Hauptreferenzen betrifft: Der genderkritische Ansatz Haraways nämlich geht davon aus, dass angesichts eines immer schon dem binären Geschlechtercode unterliegenden Wissensfelds Objektivität nicht aus einer vermeintlich neutralen, sondern nur aus einer partialen Perspektive heraus möglich sei (S. 29). Die Foucault’sche Archäologie des Wissens wiederum ist im Grunde nur unter der Maßgabe plausibel, dass sie von einer jenseits des erfassten historischen Zusammenhangs stehenden Perspektive aus erfolgt. Der Begriff der Situierung hat zweifellos das Potenzial, dieses Spannungsverhältnis zu entschärfen, da er nicht dazu zwingt, die Literatur eindeutig darauf festzulegen, ob sie einen bestimmten Diskurs (affirmativ) reproduziert oder aber kritisch verortet; es hieße die Eigenart literarischen Wissens verleugnen, wenn nicht angenommen würde, dass beides zugleich möglich ist. Und dennoch ist deutlich, dass der Autor einer genderkritischen Studie zu Musils Mann ohne Eigenschaften sich der wertenden Verortung der Gender-Position des gesamten Romans kaum entziehen kann. Hier fragt sich die Leserin, ob der Autor, wenn er Musils Roman nicht nur als einen diskurshistorisch situierten, sondern auch als einen Diskurse selbst situierenden beschreibt, ihm nicht zumindest in genderkritischer Hinsicht mehr zutraut, als er leistet. Folgt aus der Relativierung der verschiedenen Männlichkeitsmodelle, die der Roman vornimmt, und aus der Psychologisierung etwa von Ulrichs sexistischen Abwehrreflexen gegen Diotima, die dieser durch Tiervergleiche abwertet (MoE, S. 276), dass er sich männlichen Sprechercodes entzieht? Die Frage, ob der Erzähler,
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wenn er Ulrichs Verhalten in dieser Weise motiviert, dessen Sexismus in tatsächlich anti-sexistischer Weise situiert, wie Kappeler annimmt (S. 453), lässt noch Raum für Reflexionen, denn so sehr Ulrich hier entlarvt wird, so wenig wird er deshalb schon widerlegt. Und gerade das für Kappelers Ansatz so aussagekräftige »Männerlächeln«, das im 72. Kapitel der Ausdruck einer versteckten Komplizität der Wissenschaft mit »dem Bösen« ist, wirft die Frage auf, ob nicht auch Autor und/oder Erzähler hier im Grunde mit im Bunde stehen – schließlich ließe sich nicht behaupten, dass »Rausch und Feuer der Nüchternheit«, die diese Gesinnung begleiten, oder aber Ulrichs »Utopie der Exaktheit«, bei aller männlichen Codiertheit, vorwiegend negativ bewertet würden. Zudem scheint der Multivalenz der Männlichkeiten im Roman kein weibliches Korrelat gegenüberzustehen; vor allem die Möglichkeit, die eigene Geschlechtsidentität in Frage zu stellen, wie es Ulrich im Zweiten Buch tut, bleibt offensichtlich ein männliches Privileg, wie die an der Usurpation männlicher Geschlechtsrollen scheiternden Frauenfiguren Clarisse und Dr. Strastil zu verstehen geben. Kappeler ist sich des Problems bewusst und sucht es zu lösen, indem er in gewisser Weise mit dem Erzähler gegen den Erzähler Stellung nimmt: Er geht davon aus, dass dessen (sich auf seine Allwissenheit als Erzählinstanz beziehende) Ironiefähigkeit ihm erlaube, sich nicht nur in Bezug auf seine Figuren, sondern gewissermaßen auch in Bezug auf sich selbst zu situieren (S. 127). Von einem Bachtin’schen Dialogizitätsmodell aus betrachtet, hätte die Hypothese manches für sich, doch bliebe zu fragen, ob hier nicht eher von der Brechung einer diskursiven Subjektposition als von einer Situierung im eigentlichen Sinne zu sprechen ist, denn die Kontextualisierung, die diese erfordert, könnte nur jenseits des Romans geleistet werden. Vielleicht aber ist der Versuch der Vereindeutigung, zu dem Haraways Standpunkt bezüglich der Neutralitätsproblematik im genderkritischen Diskurs einlädt, weniger zwingend, als es scheint. Denn wie Kappelers Arbeit in überzeugender Weise deutlich macht, liegt der literaturwissenschaftliche Wert des Konzepts der Situierung ja gerade darin, Diskurskritik als ein performatives Moment zu begreifen, das nicht darauf angewiesen ist, Literatur auf ein grundsätzliches Mehr- oder Besser-Wissen festzulegen. Sandra Janßen
Stefanie Kreuzer (Hg.): Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst. Bielefeld: transcript 2012 (= Kultur- und Medientheorie). 426 S. € 34,80. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion hat der Begriff ›Experiment‹ in jüngerer Zeit an Brisanz gewonnen. Das von Michael Gamper geleitete Forschungsprojekt »Experimentierkunst. Poetologie und Ästhetik des Ver-
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suchs in Neuzeit und Moderne« war wohl das Hauptenzym dieser Diskussion über die Experimente im Medium der Schrift. Seit 2007 wurden an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich von Gamper und seinen Mitarbeitern Jahrestagungen organisiert, auf denen sich Literaturwissenschaftler mit dem Thema »Experiment und Literatur« auseinandersetzten.11 Aber auch in den Kunst-, Theater- und Medienwissenschaften liegt nun eine Vielfalt unterschiedlicher Studien zum Experiment in den einzelnen Künsten vor, ohne dass aber die Gemeinsamkeiten der Experimente in den verschiedenen Kunstbereichen bisher interdisziplinär untersucht wurden. Diese Lücke möchte der hier besprochene Band füllen, indem er eine gattungsübergreifende Perspektive zum Experiment in den Künsten bietet, in der künstlerische Experimente in Literatur, Theater, Kunst, Musik und Film der letzten hundert Jahre fokussiert werden. Experimentelle Werke sind in allen Kunstformen bekannt und der von Stefanie Kreuzer herausgegebene Sammelband hebt deren Bandbreite hervor, weil er nicht nur experimentelle Phänomene in einer bestimmten Kunstform betrachtet, sondern auch zwischen den Künsten. Kursorisch kann auf die Beiträge verwiesen werden, die solche Brücken zwischen Literatur und bildender Kunst (Heibach, Spies), Film und Musik (Kiefer, Noeske), Musik und Literatur (Schober) oder zwischen Literatur und Film (Becker, Kreuzer) schlagen. Der hier vorgestellte Sammelband zeugt von der Vielfalt und dem Reichtum der künstlerischen Experimente und von der Schwierigkeit eines definitorischen Begriffs. Stefanie Kreuzer versucht deshalb in der Einleitung zum Band (S. 7–15) eine Synthese anzubieten, in der sie die drei Ebenen nachzeichnet, in denen künstlerische Experimente angesiedelt sein können: a) aus der Perspektive des Werks, indem Texte, Materialien, Medien oder Klänge neu erprobt, kombiniert oder kontextualisiert werden; b) aus produktionsästhetischer Sicht, wenn etwa bestimmte Techniken verwendet werden oder mit Regeln und Bewusstseinsprozessen experimentiert wird; c) aus rezeptionsästhetischer Perspektive, wenn mit der Erwartungshaltung des Adressaten der Kunstwerke experimentiert wird. Der Begriff des Experiments ist in den Humanwissenschaften umstritten; viele Literaturwissenschaftler sind der Meinung, dass keine überzeugende Definition für die ›experimentelle Literatur‹ herausgearbeitet worden ist. Marcus Krause und Nicolas Pethes unterstreichen im Vorwort zu dem von ihnen herausgegebenen Band Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des 11
Vgl. dazu die drei seit 2009 erschienenen Aktenbände, die die Beziehung zwischen Literatur und ›Experiment‹ in unterschiedlichen historischen Zeitspannen untersuchen: Michael Gamper, Martina Wernli, Jörg Zimmer (Hg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580–1790. Göttingen 2009; Michael Gamper, Martina Wernli, Jörg Zimmer (Hg.): »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«. Experiment und Literatur II : 1790–1890. Göttingen 2010; Michael Bies, Michael Gamper (Hg.): »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte«. Experiment und Literatur III : 1890–2010. Göttingen 2011.
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Experiments im 19. Jahrhundert (2005) die Vorsicht, mit der man diesen Begriff verwenden sollte: Daß es literarische Experimente gibt, wird hier [. . .] nicht vorausgesetzt, sondern in Frage gestellt. Dabei gilt es, eine voreilige Verabschiedung des Experiments als literarisch nicht umsetzbare Methode ebenso zu vermeiden wie seine unverbindliche metaphorische Vereinnahmung. Statt dessen ist genau zu unterscheiden, welche Elemente literarische Verfahren und Schreibweisen mit wissenschaftlichen Vorgehensweisen teilen, welche Elemente naturwissenschaftlichen Paradigmen entgegenstehen und welche Elemente zuallererst aus literarischen Szenarien gewonnen werden.12
Wie wir gerade gelesen haben, ist einer der Gründe für diese Skepsis, dass der Begriff der Experimentalkunst immer in Analogie zum wissenschaftlichen Experiment gebraucht wird. Auch Stefanie Kreuzer bestätigt diesen Umstand, wenn sie am Anfang des Bandes beobachtet: »Der Begriff des Experiments steht in engem Zusammenhang mit methodologisch angelegten wissenschaftlichen Untersuchungsanordnungen, wie sie insbesondere in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Psychologie und Soziologie betrieben wird« (S. 8). Wenige Zeilen später betont sie aber: »Doch auch in den Künsten wird experimentiert. Künstlerische Experimente in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst basieren allerdings weniger auf Reproduzierbarkeit, Kontrolle und Messbarkeit, sondern zeichnen sich vielmehr durch Novität, Erprobung und Überraschungsmomente sowie mitunter eine intendierte Ungewissheit in werkimmanenter, produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht aus« (S. 8). Das künstlerische Experiment wird also gleichzeitig in Beziehung zur Wissenschaft gebracht und davon abgesetzt. Aber wie strukturiert sich dieses Differentialverhältnis? Wenn es, wie wir am reichen Angebot des Bandes erkennen können, viele Typen von künstlerischen Experimenten gibt, müssen wir davon ausgehen, dass es auch viele Formen von wissenschaftlichem Experiment gibt; aber auf welches Konzept von wissenschaftlichem Experiment wird in der besprochenen Studie Bezug genommen? Die meisten Beiträge gehen auf diese Frage nicht ein. Sosehr dieser Band interdisziplinär angelegt ist, hat er meines Erachtens eine grundlegende Perspektive der Interdisziplinarität in Bezug auf das Experiment vernachlässigt, nämlich die der Wissenschaft. Der Band ist also, entgegen seiner eigenen Positionierung, mehr intermedial als interdisziplinär ausgerichtet. Bei der Rede vom Experiment im Kunstzusammenhang ist zu beachten, auf welchen Entwicklungsstand in den Naturwissenschaften sie sich jeweils bezieht. Diese oft vernachlässigte Dimension der historischen Beziehung zwischen Literatur und Wissenschaft sollte gerade in einem interdisziplinär ausgerichteten Band nicht vernachlässigt werden. Es gibt Autoren wie 12
Marcus Krause, Nicolas Pethes: Zwischen Erfahrung und Möglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005 (= Studien zur Kulturpoetik, Bd. 4), S. 7–18, hier S. 10.
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Robert Musil, Max Bense oder Oswald Wiener, die ein ihren Zeiten entsprechendes Verständnis des wissenschaftlichen Experiments hatten, während bei den unterschiedlichen Literaten die Dinge anders liegen. Das wissenschaftliche Experiment ist ein geschichtliches Phänomen: Es behauptete sich ab dem 17. Jahrhundert zunehmend als eines der wichtigsten Mittel zur Wissensproduktion, als sich die Experimentalpraxis allmählich von alchimistischen Praktiken entfernte und eine neue Form von Erkenntnisgewinn darstellte, die sich rein auf überprüfbare Tatsachen stützte. Demnach sollte man das Experiment in der Wissenschaft nicht als eine fixe, unveränderliche Größe ansehen. Das Konzept des positivistischen Experiments, das z. B. Émile Zola in die Literatur übersetzen wollte, kann heute sicher nicht mehr als aktuell angesehen werden. Im hier diskutierten Band wird aber auf neuere Konzepte des Experiments nur begrenzt Bezug genommen (s. die spärlichen Hinweise zu Rheinberger, Knorr-Cetina, Michael Heidelberger). Das ›Experiment‹ in der Literatur lässt sich somit nur differential definieren: Es hängt erstens immer vom naturwissenschaftlichen Experimentbegriff ab, auf den es sich bezieht. Zweitens setzt sich eine ›experimentelle Literatur‹ immer von einer ›klassischen‹ Tradition ab, die sie als solche erst an- und erkennen muss. Dieser kritische Punkt des Bandes schlägt sich nicht auf die Qualität der einzelnen Beiträge nieder; noch weniger gilt das für die ersten beiden Beiträge, die den Themenkomplex aus literaturwissenschaftlicher Perspektive beleuchten: Michael Gamper, der gegenwärtige maestro der Theorie der literarischen Experimentierkunst, liefert genau das Antidot gegen die selbstreferenzielle Betrachtung des Experiments der Humanities, die ich im vorherigen Paragraphen beschrieben habe, indem er eine transdisziplinäre Literaturgeschichte des Experiments skizziert, die sich vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart erstreckt. Richtigerweise versteht er die ›Experimentierkunst‹ als ein Phänomen, »das Wissenschaft und Literatur umfasst und dabei poetologische und epistemologische, ästhetische und wissenschaftstheoretische Implikationen in beiden Bereichen in den Blick nimmt« (S. 21). Diese Form der Literaturgeschichte muss sich vor allem mit den experimentellen Zwischenräumen an der Grenze der etablierten Disziplinen und Diskursformen befassen, ohne eine »reduktionistisch orientierte wissenschaftstheoretische Position [zu] verabsolutieren« (S. 38). Birgit Nübel analysiert in ihrem Beitrag die Verknüpfung von Experimentalismus und Essayismus im Werk des österreichischen Schriftstellers Robert Musil, die sich im Spannungsfeld von Technik- und Naturwissenschaft und Literatur herauskristallisiert. Der »essayistische Experimentalismus« und der »experimentelle Essayismus«, die sich daraus ergeben, versuchen die Grenzen zwischen »Wissenschaft und Leben auf der einen Seite und Kunst und Leben auf der anderen Seite in einem Konzept phantastischer Genauigkeit aufzuheben« (S. 56). Diese Kontamination gipfelt in der »Utopie des Essayismus« der Hauptfigur des Romans Der Mann ohne Eigenschaften, der im 62. Kapitel einen »hypothetischen Lebenszustand« verlangt,
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in dem die exakte, wissenschaftliche »ratioïde« Genauigkeit auf das Leben angewandt werden sollte; diese ins Utopische gewendete experimentelle Exaktheit ermöglicht nur mehr Partiallösungen und muss ironisch relativiert werden. Um die Übertragung des Experimentalcharakters von der Naturwissenschaft in die Literatur nachzuzeichnen, beschreibt Nübel synthetisch den wissenschaftlichen Werdegang des Ingenieurs und promovierten Philosophen und Experimentalpsychologen Musil. Es ist schade, dass Birgit Nübel in ihrem interessanten Beitrag nicht einen jüngst erschienenen Aufsatz von Silvia Bonacchi rezipiert hat,13 der um denselben Themenkomplex kreist und m. E. ihre Studie um weitere Nuancierungen bereichert hätte: Wie Bonacchi zeigt Nübel, dass man es in Musils Werk mit Erzählexperimenten zu tun hat, die von epistemologischen Fragestellungen ausgehen. Musil kam früh zur Einsicht, dass es neben der logischen auch eine »dichterische Erkenntnis« gibt, die zu einer Überbordung der Grenzen zwischen wissenschaftlichem und dichterischem Diskurs führte. Florian Vaßen erklärt, wie sich Bertolt Brecht in poetologischen Schriften wie Über experimentelles Theater und Kleines Organon für das Theater und in literarischen Werken wie Leben des Galilei und in der Erzählung Das Experiment direkt auf Galileis und Bacons wissenschaftliche Experimente bezieht. Brecht habe versucht, das Theater zu reformieren und durch das »epische Theater« eine wissenschaftliche Orientierung zu geben, um eine »adäquate ästhetische Antwort auf die gesellschaftlichen Widersprüche des wissenschaftlichen Zeitalters zu finden«. Daher scheint es, laut Vaßen, fast als ein Paradox, »dass Brecht weniger als ein Vertreter des künstlerischen Experiments, denn als Klassiker des Theaters gesehen wird« (S. 92). Sind die bisher kommentierten Beiträge eher theoretisch ausgerichtet, so führen die Beiträge von Patrick Primavesi und Ole Hruschka Beispiele aus Theater- und Medienaufführungen an, in denen sich die künstlerischen Experimente performativ, vor und mit den Zuschauern vollziehen. Andreas Becker benützt hingegen den Benjamin’schen Begriff des »Optisch-Unbewussten«, der die Zeitdehnung im Film beschreibt, um neuere Filmexperimente von Antonioni, Gus van Sant und Ridley Scott auszulegen. Die zahlreichen Beobachtungstechniken wie Mikroskop, Teleskop, Röntgenfotografie, und die visuellen Medien wie Photographie und Kino, die sich am Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzten, erschütterten die übliche Alltagserfahrung, indem die unmittelbare Wahrnehmung durch eine mediale, oft verformte Wahrnehmung ersetzt wurde. Diese Techniken eröffneten ungesehene, unbewusste Bereiche der Wahrnehmung, welche die Beziehung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, An- und Abwesendem neu gestalteten. Am Ende seines Beitrags vollzieht Becker einen Brückenschlag zu aktuellen Filmexperimenten: 13
Vgl. Silvia Bonacchi: Robert Musils Vereinigungen als Erzählexperiment, in: Raul Calzoni, Massimo Salgaro (Hg.): »Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment«. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. Göttingen 2010, S. 191–215.
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Zweifelsohne ist auch Christopher Nolans Memento, der ein Beispiel einer Rückwärtserzählung darstellt, ein solches filmisches Experiment. Dieser Film erzählt die Geschichte des Versicherungsangestellten Leonard Shelby, der an anterograder Amnesie leidet, dessen ungeachtet aber den Mörder seiner Frau aufzuspüren versucht. Um seinen Gedächtnisdefekt wettzumachen, zeichnet er die wichtigsten Informationen mit Tattoos auf seinem Körper auf oder hält sie durch eine Polaroid-Kamera fest. Stefanie Kreuzer liefert eine sehr raffinierte narratologische Analyse des Films, um zu zeigen, dass er sowohl aus produktions- als auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive experimentell ist, da er den Kinozuschauer in die pathologische Perspektive der Hauptfigur drängt. Mehrere Beispiele von Filmmusik werden von Nina Noeske unter die Lupe genommen, um das Zusammenspiel von Ton und Bild als Wahrnehmungsexperiment zu erproben; die Exempel sind sehr verschiedenartig und reichen vom filmmusikalischen Experiment The Dark Side of Oz, das mit der Musik des Pink-Floyd-Albums The Dark Side of the Moon gekoppelt wird, über Un chien andalou mit der Filmmusik aus Tristan und Isolde, bis hin zum Film Regen von 1929, dessen Filmmusik von Hanns Eisler komponiert wurde. Zum Schluss wird das künstlerisch-musikalische Experiment als ein »äußerst vager Begriff« (S. 300) definiert und ist laut des Standardwerks Die Musik in Geschichte und Gegenwart »zumindest seit den letzten 200 Jahren tautologisch« (S. 301). Christian Spies widmete seine Analyse den monochromen Gemälden der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die provozierend die Kunsttradition in Frage stellen. Sehr prägnant werden diese Bilder als eine »tabula rasa« (S. 369) oder, in Anlehnung an Umberto Eco, »offene Kunstwerke« (S. 370) definiert. Bei den bekannten Beispielen von Malewitsch, Rauschenberg und Ryman handelt es sich, laut Spies, nicht um den Ausdruck einer ikonoklastischen Intention, sondern um Start- und Ausgangspunkte für neue künstlerische Innovationen und Selbstreflexionen. Nicht zuletzt bezeugen diese letzten Beispiele, dass sich die von Michael Gamper anvisierte »Literaturgeschichte des Experiments« unschwer zu einer Kulturgeschichte des Experiments ausweiten könnte; mit dieser Aufsatzsammlung dürfte ihr ein Grundstein gelegt sein. Massimo Salgaro
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Oliver Pfohlmann: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2012 (= rowohlts monographien). 159 S. € 8,99. Ein Buch über Robert Musil ›wie aus einem Guss‹ vorzulegen, ist schwierig. Wilfried Berghahn war es seinerzeit, vor knapp 50 Jahren, in seiner rororoMonographie gelungen,14 da er sich noch nicht mit der heutigen Fülle an biographischen Informationen, Nachlassteilen und Interpretationen konfrontiert sah, sondern sich auf die Frisé-Ausgaben der 1950er Jahre stützte und sein Augenmerk auf Musils ›Arbeitsweise‹ und die historischen Zusammenhänge legte. Oliver Pfohlmann ist in seinem Berghahn-Remake dieser Wurf nicht zu hundert Prozent geglückt, dennoch ist die Lektüre des Büchleins ein Genuss und streckenweise ein großer Gewinn. Allerdings bietet bereits die Einleitung mit der Überschrift »Ich schreibe für Menschen, die nicht da sind« Anlass zu Missverständnissen, die es bei Musil-Interpretationen und vor allem bei der Musil-Biographie wahrscheinlich immer geben wird. Schon die Kapitelüberschrift scheint mir nicht ganz zutreffend zu sein, denn die Resignation Musils stammt aus einer Zeit, als ihm die Leser, die er zwischen 1906 und 1933 zweifellos hatte, verloren gingen, weil der Faschismus die Aufmerksamkeit für sein Werk gewaltsam unterband. Die enthusiastischen Reaktionen auf das Erste Buch des Mann ohne Eigenschaften zeigen ja, welch tiefen Eindruck Musils Werk gemacht hat. Dass mit der Nazi-Machtergreifung in Deutschland und mit dem österreichischen Ständestaat beinahe sämtliche geistigen Fäden gekappt wurden, hatte den Autor im letzten Lebensjahrzehnt zu seiner Klage bewogen, er schreibe nicht für die Menschen von heute, sei sich aber sicher, dass er nach dem »nächsten Massenunglück« (MoE, S. 1038) wieder Leser finden würde. Pfohlmanns leichte Tendenz zum Pessimismus oder auch zu einem gewissen feuilletonistischen Jargon irritiert manchmal. Im genannten Eingangskapitel spricht er von Musils Leben als einem »Desaster in Fortsetzungen«, von »prekärer Existenz«, von Musils angeblicher Verachtung des »Gutmenschentums« (S. 8). Ich sehe bis auf seine unglückliche Trennung von Herma Dietz und seine Psychose im »Sommer 1914« kein wirkliches Desaster in Musils Leben, zumal er diese Brüche und Traumata nicht verdrängt, sondern intensiv aufgearbeitet hat. Sein ganzes Werk ist eine Trauerarbeit über den Zerfall eines Staates, »der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist« (MoE, S. 32), und über eine »mitten an einem Sommertag allein niederfallende Schneeflocke« (Tonka, GW II, S. 304). Eine prekäre Existenz war Musil niemals, trotz seiner vielen beruflichen Sprünge und Wendungen, seiner Affären und Zynismen, die aus einem Verlangen nach dem »Liebeszustand« kamen, den er seit frühester Zeit in der Welt vermisste. Wenn also etwas »prekär« 14
Vgl. Wilfried Berghahn: Robert Musil in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1963 (= rowohlts monographien).
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war, auf Widerruf existent, dann die Welt, nicht aber Musil und »die Erde«, auf die er sich (»zwischen die beiden Stühle Wissen und Nichtwissen«) gerne setzte (Die Schwärmer, 3. Aufzug, GW II, S. 394). Auch was Musils Herkunft und Kindheit betrifft, schießt die von Pfohlmann herangezogene Forschung leicht übers Ziel hinaus, wenn sie vom »Genauigkeitsgen« (Karl Corino) spricht. Im Grunde war es ein »Beamten-Gen«, das ganz dem kamelgestaltigen »tragsamen« Zeitgeist entsprach, über den sich Musil (auch selbstironisch) lustig macht. Wieder sind die Schwärmer (mit den Figuren Josef und Stader) ein hervorragendes Beispiel, das bei Pfohlmann auch entsprechend gewürdigt wird (S. 85–92). Die Jahre zwischen 1900 und 1921 (vom Dandy und Literaten in Brünn bis zum Erscheinen der Schwärmer) sind bei Pfohlmann in mehrere Phasen der Berufs- und Berufungssprünge gegliedert – eben Ulrichs »Versuche, ein bedeutender Mensch zu werden« –, allerdings sind hier die biographischen Kästchen manchmal etwas beliebig beschriftet, etwa wenn Pfohlmann einen Abschnitt mit »Zwischen Valerie und Herma« (S. 31–37) überschreibt. Gewiss, das Valerie-Erlebnis war für den jungen Autor immens wichtig, jenes Verliebtsein in den Liebeszustand, das Unvermögen, eine Partnerin zu lieben, weil man schon in der Phantasie geliebt hat oder erst das Verlorene liebt. Aber das Verhältnis Robert Musils zu Herma Dietz, seiner Hanka oder Toninka aus Brünn/Brno, hat für mich doch eine ganz andere Dimension, was sich dann auch in der Novelle Tonka zeigt. Zwar widmet sich Pfohlmann ihr im Zusammenhang mit den Drei Frauen noch einmal, aber er stellt Tonka als Text unter die Portugiesin, die ihm als gelungenstes Beispiel der Verbindung von ratioïd und nicht-ratioïd erscheint, ohne zu erwägen, dass die geheimnisvolle »Katze« mit dem »Heiligenschein« in der Portugiesin etwas mit jenem »einfache[n] Ladenmädchen« (S. 99) zu tun haben könnte, das so energisch ans Tor von Musils Leben geklopft hat. Pfohlmann skizziert ansonsten sehr übersichtlich die Genese und Struktur der Musil-Texte, ausgehend vom Törleß, der Musil in die Beletage der Literatur katapultiert hatte (S. 47). Bei den Vereinigungen ist sein Ansatz spürbar verhalten, was umso mehr erstaunt, als er eine klare Verbindung zu den Studien über Hysterie von Breuer/Freud sieht, einem Buch, das 1895 die Geisteswelt erschütterte. Angesichts dieser Nachbarschaft müsste einen der Inhalt der Vereinigungen nicht unbedingt »bizarr an[muten]« (S. 57), zumal Musil selbst Interpretationsansätze geliefert hat (die »Doppelpyramide der Vereinigungen«, das »Mal einer unbekannten Gottheit« mit »Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle«; GW II, S. 996). Gerade bei seinem zweiten Buch hat Musil sein Programm konsequent eingehalten, indem er Geschichten und Bilder à la Freud erzählerisch bis in kleinste Seelenregungen verdichtet (»motiviert«) und so Energie- und Gefühlswandlungen (Konversionen) dargestellt hat, wie Pfohlmann in Anlehnung an die Bücher von Gerhard Meisel, Fred Lönker und Elizabeth R. Neswald ausführt, wobei er auch auf zahlreiche ei-
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gene Studien verweisen kann.15 Gerade der Abschnitt über »Psychologie und Literatur« (S. 62 f.) gibt ein vorzügliches Resümee von Musils Schreibansatz, demzufolge ästhetische Produktion immer im Dienste von ethischen Möglichkeiten steht, als beständig zu erweiterndes »›Register von innerlich noch Möglichem‹« (S. 63). Geradezu kontraproduktiv (auch im Sinne der Schwärmer, 3. Aufzug) mutet es aber dann an, wenn Musils Figuren pseudowissenschaftliche Etiketten angehängt werden: »Veronika ist eine Sodomitin, Claudine eine Nymphomanin, ebenso wie Regine in den Schwärmern, Clarisse im Mann ohne Eigenschaften eine Psychotikerin«, »de[r] Borderliner Anselm« (S. 63 u. 91). Hier widerspricht Pfohlmann seinen eigenen Thesen im Hinblick auf Musils ethisch-ästhetisches Programm (S. 62 f.), denn gerade jene Figuren sind keine ›Krankheitsfälle‹, sondern Modelle der inneren Wandlung und deren Ausdeutung, was auch auf Anselm zutrifft. Anselm selbst (als Figur u. a. aus Maeterlincks Lebensstil entwickelt) schätzt die Lage durchaus mit höchstem Reflexionsgrad ein, wenn er zu Maria sagt: »Ich weiß nicht, ob Sie das beleidigt: Ich liebe Thomas viel mehr, als Sie ihn lieben. Denn ich bin ihm viel ähnlicher. Den Absturz, den er jetzt durchlebt, macht er mir nur nach. « (GW II, S. 332) Und auch Thomas, der ihn gegen Josef verteidigt, sieht in Anselm einen Doppelgänger, ein Vexierbild möglicher Identität: »Man findet einen Gefährten und es ist ein Betrüger! Man entlarvt einen Betrüger und es ist ein Gefährte.« (GW II, S. 379) Pfohlmanns Einschätzung des Schwärmer-Schlusses gerät im Sog dieser Verknappungen wiederum in die pessimistische Falle, wenn er über Regine sagt, sie sei eine Figur, »die sich am Ende wohl für den Suizid entscheidet« (S. 89). Nun, Musils »Schauspiel« ist gewiss keine Tragödie; der Dichter hasste katastrophale Schlüsse, und die »Anti-Liebesszene« in den Schwärmern ist nur der Beginn für eine Liebesgeschichte zwischen Thomas und Regine bzw. für das Geschwisterpaar im Mann ohne Eigenschaften, dessen Vorläufer Thomas und Regine sind: REGINE : Geh mit mir fort! Machen wir etwas! [. . .] Regine küßt ihn rasch und eilt hinaus, bevor er nach ihr greifen kann. THOMAS : Aber Regine! . . . Nein, nein, sie wird doch keinen Unsinn tun. Steht aber doch auf und geht ihr nach. (GW II, S. 407)
Die letzten 40 Seiten seiner Monographie widmet Pfohlmann Musils Hauptwerk, dem Mann ohne Eigenschaften. Auch hier werden Genese und Struktur der »Intellektuellenbibel« (S. 102) vorbildlich dargestellt, allerdings stechen wiederum einige (journalistisch gefärbte) negative Charakteristika hervor, die 15
Vgl. etwa Oliver Pfohlmann: ›Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht?‹ Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003 (= Musil-Studien, Bd. 32). Zu den Vereinigungen vgl. auch ders.: Von der Abreaktion zur Energieverwandlung. Musils Auseinandersetzung mit den Studien über Hysterie in den Vereinigungen, in: Peter-André Alt, Thomas Anz (Hg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Berlin, New York 2008 (= Spectrum Literaturwissenschaft, Bd. 16), S. 169–191.
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das Bild des Autors und seines Werkes einigermaßen verdunkeln: »Wie ein Tumor fraß dieses gigantische Romanprojekt Leben, Schaffenskraft und Gesundheit seines Autors« (S. 103). Solche Urteile wechseln mit enthusiastischen »Superlativen«, in denen Pfohlmann vom »Roman der Moderne schlechthin« spricht. Er zeichnet einerseits die Romanlinien und das Figurenensemble markant nach, ohne allerdings ganz so sachlich zu bleiben, wie es Berghahn in seinem Buch war. In Ulrich sieht er die Verkörperung von Musils »Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit«, eines jeweils (literarisch, kulturell) erst durch Sinnstiftung zu beseelenden Menschen. Dazu dass der Roman, der immerhin – wie auch Pfohlmann darlegt – in den vom Autor publizierten zwei Bänden mehr als »1600 Seiten« umfasste (Band I: 1075 Seiten, Band II : 608 Seiten), scheint es mir angebracht, dem Lamentieren über den Moloch Mann ohne Eigenschaften einmal eine Pause zu vergönnen. Denn Musil hat mit dem Roman zu Lebzeiten ein gewaltiges Werk vorgelegt, dessen beide Bände alle Fragen der Existenz berühren. Es gibt im 1. Band von 1930 (Kap. 114–123) wie auch im zweiten Band von 1932 (Kap. 10–12, 21 u. 22) zahlreiche Kapitel, in denen die Bereiche Mystik, anderer Zustand, Leben in Liebe etc. gültig dargestellt sind, sodass auch in dieser Hinsicht nicht von einem beängstigend wuchernden Textmoloch die Rede sein kann. Musil hat es in seiner 1938 an Otto Pächt übermittelten Selbstdarstellung elegant ausformuliert Unter dem Vorwand, das letzte Lebensjahr Österreichs zu beschreiben, werden die Sinnfragen der Existenz des modernen Menschen darin aufgeworfen und in einer ganz neuartigen, aber sowohl leicht-ironischen wie philosophisch-tiefen Weise beantwortet. Das Epische befindet sich in vollendetem Gleichgewicht mit dem Gedanklichen und die Geschlossenheit des Riesenbaus mit der lebendigen Fülle des Details. (Curriculum vitae, GW II, S. 950 f.)
Pfohlmanns Monographie neigt manchmal aus Platznot dazu, diese Aspekte zu verkürzen, etwa in der Charakteristik der Figuren: »Man flüchtet vor seiner komplex gewordenen Zeit ins warme Heim wie Ulrichs Jugendfreund Walter [. . .], vertraut wie Graf Leinsdorf harmonisierenden Trostformeln von Besitz und Bildung« (S. 113). Gerade was die Figur des Grafen Leinsdorf betrifft, ist die Beschäftigung mit dem sozialpolitischen status quo eines der Hauptthemen des Romans und nicht mit »Trostformeln« abzutun. Musils Satz, er sei ein Kritiker des Bürgertums, ohne sich für dessen Gegenteil entscheiden zu können, hat genau in der Figur des Grafen Leinsdorf sein erzählerisches Vis-à-Vis. An ihr hängt Musil alles auf, was die Gesellschaft in den Antagonismus von sozialem Ausgleich und kapitalistischer Ausbeutung treibt, allerdings gelten Begriffe wie Kapitalismus, Ausbeutung oder soziale Gerechtigkeit heute als obsolet und daher wird auch die Thematisierung dieser Bereiche immer schwieriger. Viel lieber wird Ulrich in die Nähe des ›Abgrunds‹ gerückt, wie Pfohlmann in einem völlig unnötigen Rekurs auf Walter Jens anfügt, der schrieb (wiewohl als seinerzeitiger Nazimitläufer keinesfalls eine Vertrauensfigur in solchen Fragen), es gehöre zum Preis für
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die Suche nach moralischen Grenzüberschreitungen, dass aus Törleß (und auch Ulrich) »alles werden kann, ein hellsichtiger Aufklärer am Rande des Abgrunds, aber auch ein Faschist – beides ist möglich« (zit. nach S. 46). Nun, eines ist klar, Musil wäre nie zum Faschisten geworden. Seine Rede Der Dichter in dieser Zeit von 1934 (auf die Pfohlmann gottlob ausführlich hinweist) zeigt ihn eher als Mann des Protestes, des Widerstands, der im August 1914 zwar den Krieg begrüßt hatte, aber als Versuch, einen Vielvölkerstaat zu bewahren, in dem er einiges an Utopie und Möglichkeitssinn wahrnehmen konnte. Oliver Pfohlmanns frischgemaltes Porträt Robert Musils, das den Dichter vom vorbewussten Klagenfurt über Komotau, Steyr und Brünn/Brno bis ins Schweizer Exil begleitet, zeigt uns einen unruhigen Künstler, der im Mann ohne Eigenschaften einen unvollendbaren Gobelin der Welt begonnen hatte, welcher jedoch in jedem seiner vollendeten Teile das Ganze enthält. Pfohlmanns Musil-Buch zieht an und reizt zum Widerspruch, ist aber gerade deshalb geeignet, die Diskussion um den »König im Papierreich« (so Broch über Musil) am Brennen zu halten. Josef Strutz
Massimo Salgaro: Robert Musil teorico della ricezione. Contiene il saggio indedito La psicotecnica e la sua possibilità di applicazione nell’esercito. Bern u. a.: Lang 2012 (= Musiliana, Bd. 16). 424 S. € 78,10. In seinem Buch Robert Musil teorico della ricezione unternimmt Massimo Salgaro den Versuch, den Bogen zwischen Wirkungs- und Rezeptionsästhetik bei Robert Musil zu spannen. Keine leichte Aufgabe – sogar für einen erfahrenen Musil-Forscher wie Massimo Salgaro, dessen Alma Mater die für ihre Musil-Forschungen bekannte Universität Verona ist –, weil die Analyse des komplexen Zusammenspiels von Autor, Text und Leser (»la mente del lettore«, S. 11) viele Schwierigkeiten bereitet, allen voran die, dass Salgaro in seiner Analyse von einer zielgerichteten Rekonstruktionsarbeit der poetologischen Reflexion Musils auf der Grundlage seiner theoretischen und literarischen Texte ausgeht. Jedoch, soviel sei vorweggenommen, es ist ihm zweifellos gelungen in einer Mischung aus literarischer Hermeneutik, Neuhistorizismus und textimmanenter Analyse einerseits und empirischen neuroästhetischen Ansätzen, mit denen sich Salgaro bereits früher befasst hat,16 andererseits, eine umfangreiche Studie zu präsentieren, die Grundlage für weitere Analysen zu spezifischen Aspekten von Musils »Leser-Konzept« sein kann. »Das Bild des Modell-Lesers« habe sich, so Salgaro im Vorwort mit klarer Bezugnahme auf Umberto Ecos Lector in fabula (1979), »im Laufe der 16
Vgl. Massimo Salgaro (Hg.): Verso una neuroestetica della letteratura. Rom 2009 (= Scienze dell’antichità, filologico-letterarie e storico-artistiche, Bd. 462).
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Zeit geändert« (S. 11): An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, dass der »Modell-Leser« von Umberto Eco vom Autor her gedacht worden ist: Laut Eco projektiert der Autor beim Schreiben einen »Modell-Leser«, der den Text genau so interpretieren wird, wie er es vorgesehen hat.17 Der Autor »selektiert« seine Leser z. B. durch die Wahl der Erzählstrategien, der Themen oder des Wortschatzes. Musil geht nach Salgaro einen Schritt weiter: Autor und Leser sind für Musil keine statischen Größen, sondern stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander, wobei Musil dem Autor eine vorrangige Rolle als Regisseur der Texteffekte (der »Textwirkung«, vgl. dazu S. 15 ff.) zuerkennt. Nicht immer erreicht aber der Autor sein Publikum bzw. seinen Modell-Leser, was Musil zu einer bewussten Auseinandersetzung mit dem Prozess des Schreibens und des Lesens führt. Diese hat nach Salgaro vielfache Gründe, nicht nur poetologischer, sondern auch psychologischer Natur. Einer dieser Gründe ist dem Umstand zuzuschreiben, dass Musil zu Lebzeiten dauerhafter Erfolg als Schriftsteller versagt geblieben ist (S. 11). Nach dem überraschenden Erfolg des Erstlingswerks Die Verwirrungen des Zöglings Törleß musste Musil viele Misserfolge hinnehmen und sich darüber hinaus mit erfolgreichen zeitgenössischen Schriftstellern messen wie etwa Thomas Mann und Hermann Broch. Das Gefühl, keine Anerkennung unter den Zeitgenossen zu finden, vertiefte sich im Laufe der Zeit und führte Musil zur Theorie der »Nachwirkung«, die dann zum poetologischen Konzept entwickelt wurde. Wegen dieser sehr intensiven Auseinandersetzung mit den Rezeptions- und Wirkungsprozessen sieht Salgaro in Musil einen Vorläufer der neuesten Theorien über die Lektüre literarischer Texte (für einen Überblick vgl. S. 221 ff.). Salgaro stellt die Theorien vor, auf denen Musils Wirkungs- und Rezeptionsästhetik basiert: die Psychotechnik und die Gestalttheorie, mit denen sich Musil sein ganzes Leben lang auseinandergesetzt hat und die sein wirkungs- und rezeptionsästhetisches Konzept bestimmen. Das Buch besteht aus vier Kapiteln. Im 1. Kapitel wird Musils Wirkungsästhetik dargelegt. Salgaro geht hier vor allem auf Musils Rezeption der Psychotechnik ein (eröffnet wird der Abschnitt durch die Übersetzung ins Italienische der Schrift Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeiten im Bundesheere, die Musil 1922 als Mitglied des Fachbeirates im Bundesministerium für Heereswesen verfasste). In diesem Kapitel wird eine Analyse der Überschriften in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften präsentiert, in der auf die Mechanismen der Bedeutungsrekonstruktion in Bezug auf den durch die Überschriften evozierten Erwartungshorizont des Lesers eingegangen wird (S. 109–137). Salgaro lehnt sich hier an die kühne These Albert Kümmels in seinem Buch Das MoE-Programm (2001) an, dass der Roman von Robert Musil eine Art Software sei, die den Leser (als Hardware) benötige. Die Überschriften im Mann ohne Eigenschaften seien ein 17
Vgl. dazu Umberto Eco: Lector in fabula. Mailand 1979, S. 55.
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»algorithmisches Handbuch« Musils (S. 121), die bestimmte Bedeutungskonstitutionsmechanismen in Gang setzen und damit die Lektüre steuern können. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einem Exkurs über den Philosophen Arnold Gehlen und seinen Bezug zum psychotechnischen Denken. Im 2. Kapitel zeigt Salgaro, wie Musil die Gestalttheorie als »Korrektiv« für die Psychotechnik benutzt hat (»Die Grenzen der Psychotechnik«, S. 139– 152; »Die zwei Psychologien und die Plastizität des Menschen«, S. 153–175), vor allem in Anlehnung an Kurt Lewins Kritik der Psychotechnik (S. 195– 208). Dieses Kapitel wird ergänzt durch einen Vergleich zwischen der Theorie der »dichterischen Rezeption« Robert Musils und der »wissenschaftlichen Rezeption« Wolfgang Isers. Sowohl Iser als auch Musil theoretisieren die Anteilnahme des Lesers an der »Konkretisation« des Werks und analysieren die komplexen Beziehungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Salgaro stellt eine »frappierende Analogie« zwischen den theoretischen Annahmen Isers, des Mitbegründers der Konstanzer Schule, und denen Musils fest, allen voran die Unterscheidung zwischen einer Rezeptionsästhetik, die sich mit dem historischen und soziokontextuellem Rahmen der Aufnahme eines Werkes durch einen Leserkreis beschäftigt, und einer Wirkungsästhetik, die sich primär mit der Interaktion zwischen Autor und Text auf der Grundlage der im Text immanenten Textstrukturen beschäftigt (S. 209). Salgaro analysiert sehr sorgfältig die Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Musils Konzeption und der Ästhetik Isers und kommt zum Schluss, dass für beide Autoren der Leser die Instanz ist, die den Text in seinem interpretatorischen Potential im Akt des Lesens aktualisiert bzw. konkretisiert, indem er die »Leerstellen« im Text füllt (S. 219). Dabei wird auf die Begrifflichkeit der Frametheorie zurückgegriffen, die Musil durch die gestalttheoretische Begriffsbildung antizipierte. Salgaro sieht in der Gestalttheorie und in der Psychotechnik die zwei gedanklichen Pole, die die Entwicklung von Musils Wirkungs- und Rezeptionsästhetik bedingen. Insbesondere gilt nach Salgaro die Gestalttheorie als »Korrektiv« der Psychotechnik. An dieser Stelle ist eine kleine Präzisierung angebracht: Musil lernte zunächst die Gestalttheorie kennen bzw. kam während seiner Studienzeit in Berlin in Berührung mit der wissenschaftlichen Debatte, die zum Aufkommen der Gestalttheorie führte, und erst dann, während des Ersten Weltkriegs, mit der Psychotechnik. In diesem Sinne sollte man vielleicht nicht von einem »Korrektiv« sprechen, sondern von einer Integration, die in den verschiedenen Phasen von Musils poetologischem Denken eine andere Akzentsetzung findet. Wünschenswert wäre daher eine Präzisierung der Phasen der Rezeption Musils bezüglich der einen und der anderen psychologischen Orientierung – zahlreiche Vorstudien dazu gibt es bereits; sie sind in der Bibliographie von Salgaros Buch verzeichnet.18 18
Folgende Vorstudien zum Einfluss der Gestalttheorie und der Psychotechnik auf das Werk Robert Musils liegen vor: Elena Calamari: Hugo Münsterberg nell’opera di Musil, in: Studi
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Im 3. Kapitel des Buches geht Salgaro auf Musils Rezeptionsästhetik ein, mit besonderem Akzent auf der Synthese von Psychotechnik und Gestalttheorie. Im Folgenden sei kurz zusammengefasst, wie Salgaro den Einfluss der Psychotechnik und der Gestalttheorie für die Entwicklung von Musils Ästhetik sieht. Die Frage der Relevanz dieser Theorien für die Herauskristallisierung von Musils poetologischer Konzeption wurde mehrmals in der Musil-Forschung diskutiert. Es soll hier nicht auf die inhaltlichen Aspekte dieser Diskussion eingegangen werden, die wohl den meisten Lesern bekannt sind, sondern nur hervorgehoben werden, dass in der Musil-Forschung diesbezüglich zwei Grundtendenzen zu erkennen sind, die hier in stark verkürzter Form als eine »historische« und eine »hermeneutische« Tendenz bezeichnet sein sollen. In den ideengeschichtlich und wissenschaftshistorisch orientierten Studien wird versucht, den gedanklichen (philosophischen, wissenschaftlichen, psychologischen etc.) kontextuellen Rahmen zu rekonstruieren, in dem Musil sich bewegt hat;19 die hermeneutisch orientierten
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tedeschi 23 (1980), S. 287–314; Aldo Venturelli: Il mondo come laboratorio. Musil e la psicologia della Gestalt di Wolfgang Köhler, in: Paolo Chiarini (Hg.): Musil nostro contemporaneo. Rom 1986, S. 205–239; Kevin Mulligan: Musils Analyse des Gefühls, in: Marie-Louise Roth, Bernhard Böschenstein (Hg.): Hommage à Musil. Genfer Kolloquium zum 50. Todestag von Robert Musil. Bern u. a. 1995 (= Musiliana, Bd. 1), S. 87–110; Christoph Hoffmann: »Der Dichter am Apparat«. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997 (= Musil-Studien, Bd. 26); Silvia Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluss der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern u. a. 1998 (= Musiliana, Bd. 4); Margaret Kaiser-El-Safti: Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit, in: Hans-Georg Pott (Hg.): Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler. München 1993 (= Musil-Studien, Bd. 8), S. 126–170. Es ist schade, dass Salgaro die Monographie von Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), nicht kennen konnte. Dort finden sich erhellende Passagen über Musils Poetik und vor allem über das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹ als negative Anthropologie, die in verschiedenen Punkten Salgaros Ausführungen ergänzen könnten. Unter den »historischen« Studien sind zu erwähnen: Calamari: Hugo Münsterberg (s. Anm. 18); Charlotte Dresler-Brumme: Nietzsches Philosophie in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis. Frankfurt a. M. 1987 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 13); Hoffmann: »Der Dichter am Apparat« (s. Anm. 18); Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums, in: Jochen Hörisch, Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870–1920. München 1990 (= Literatur- und Medienanalysen, Bd. 2), S. 265–288; ders.: I-Welten, in: Hans-Georg Pott (Hrsg.): Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler. München 1993 (= Musil-Studien, Bd. 8), S. 171–192; Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung (s. Anm. 18); Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17). Unter den »hermeneutischen« Studien sind zu erwähnen: Manfred Jahn: Frames, preferences and the reading of third-person narratives. Toward a cognitive narratology, in: Poetics today 18/4 (1997), S. 441–468; Matthias Luserke: Wirklichkeit und Möglichkeit. Modaltheoretische Untersuchung zum Werk Robert Musils. Frankfurt a. M. u. a. 1986 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1000); Gunther Martens: Ein Text ohne Ende für den Denkenden. Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften.
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Studien verzichten oft auf eine solche detaillierte Rekonstruktionsarbeit und interpretieren Musils Ästhetik (als Theorie des ästhetischen Effektes) im Lichte unterschiedlicher (literatur-)theoretischer Instrumente, ohne prioritäre Bezugnahme auf den historischen Rahmen. Beide Orientierungen haben zu wertvollen Ergebnissen geführt. Wie ist nun Salgaros Perspektive einzuordnen? Salgaro ist sehr genau, was die historischen Fakten angeht und orientiert sich am aktuellen Stand der Forschung, er zitiert alle wichtigen Quellen und nimmt kritisch Stellung dazu. Er bemüht sich darüber hinaus, die Ergebnisse dieser »historischen« Studien mit den »hermeneutischen« zu verbinden. Salgaro entscheidet sich also nicht für eine historische Rekonstruktion, in der etwa interdiskursiven und quellengeschichtlichen Prozessen nachgegangen wird, sondern erhellt von seinem hermeneutischen Standpunkt her Musils Werk. Er greift auf die Fachliteratur zurück, behält aber den roten Faden seiner Gedankenführung, die darauf abzielt, den Zusammenhang zwischen Rezeptions- und Wirkungsästhetik in Musils Werk zu zeigen und verliert sich so nicht im Detail. Zu betonen ist auch sein Versuch, die neueren neuroästhetischen Studien in seine Analyse mit einzubeziehen. Salgaro, der sich intensiv mit empirischer Literaturforschung beschäftigt, sieht in Musil den Vorläufer einiger Grundtheorien der empirischen Neuroästhetik (vgl. S. 225 ff.). In Kapitel 4 geht Salgaro auf weitere gedankliche Anregungen ein, die für Musils poetologischen Diskurs wichtig sind: allen voran die Reflexion über das vorprädikative Denken von Lucien Lévy-Bruhl, das sich vor allem im »Gestus« manifestiert (»Der Gestus als kommunikative Utopie«, S. 279 ff.). Salgaro liefert hier wichtige Impulse für die Entdeckung von Musil als Theoretiker der kommunikativen Funktionen der Gestualität in einer Linie, die von Karl Bühler über André Leroi-Gourhan zu den neuesten Studien, etwa von Sven Werkmeister und Nicola Gess,20 führt und die bestimmt noch weitere Studien anregen wird. Resümierend lässt sich feststellen, dass Massimo Salgaros Buch wichtige Erkenntnisse zu Musils Theorie des »ästhetischen Effektes« liefert und eine Neudeutung von Essays und Textpassagen aus Erzählwerken vorschlägt, die zum etablierten Repertoire bzw. zum Kanon der Musil’schen Werke gehören. Ein wichtiges Verdienst dieses Buches ist es, dass die Fachliteratur in italienischer Sprache in vollem Umfang berücksichtigt wird, was die Hoffnung auf
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Frankfurt a. M. u. a. 1999 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1716); Birgit Nübel: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006; Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (s. Anm. 18). Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Jena 1934; André Leroi-Gourhan: Il gesto e la parola. Turin 1977; Sven Werkmeister: Kulturen jenseits der Schrift. Zur Figur des Primitiven in Ethnologie, Kulturtheorie und Literatur um 1900. München 2010; Nicola Gess: Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften. Zum Primitivismus bei Robert Musil, in: Musil-Forum 31 (2009/2010), S. 5–23.
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eine Renaissance der Musil-Forschung in Italien, vielleicht im Zeichen der Neuroästhetik und der empirischen Literaturtheorie, nährt. Silvia Bonacchi
Dale Adams: Die Konfrontation von Denken und Wirklichkeit. Die Rolle und Bedeutung der Mathematik bei Robert Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt. St. Ingbert: Röhrig 2011 (= Transpositionen. Australische Studien zur deutschen Literatur, Philosophie und Kultur, Bd. 2). 399 S. € 38,–. In seinem Essay Der mathematische Mensch von 1913 schreibt Robert Musil mit ebenso ironischer wie zielgenauer Kritik an der Literaturproduktion seiner Zeit: »Wir haben damit unsre Dichtkunst schon so weit ruiniert, daß man nach je zwei hintereinander gelesenen deutschen Romanen ein Integral auflösen muß, um abzumagern.« (GW II, S. 1007) Romane verursachen Blähungen und Dickleibigkeit – weshalb Ulrich, der ›Mann ohne Eigenschaften‹, nicht nur Mathematiker ist, sondern zugleich ungewöhnlich sportlich. Lassen sich Mathematik und Sport zusammendenken? Ist Mathematik gar eine Kulturtechnik? Immer wieder schlagen sich Untersuchungen zum Wechselverhältnis von Wissenschaft und Literatur mit dem Problem herum, dass selbst bei so prominenten Autoren wie Robert Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt, die sich sehr für die Naturwissenschaften interessiert und im Falle Musils diese sogar dezidiert studiert haben, in deren Werken dann doch eher wenige konkrete wissenschaftliche Inhalte und Themen verhandelt werden. Um dieses Problem zu bändigen oder eben literaturwissenschaftlich produktiv zu machen, wird zumeist die Strategie verfolgt, die Argumentation auf eine der Wissenschaft und Literatur vorgelagerte oder darunterliegende epistemologische Tiefenschicht zu verlegen. So gebändigt, weist die Mathematik dann beispielsweise über sich selbst hinaus (vgl. S. 64), etwa auf den Zusammenhang von Denken und Wirklichkeit (vgl. S. 56), die Selbstreflexivität von symbolischen Ordnungen (vgl. S. 26) schlechthin oder sie wird zu Musik (vgl. S. 209). Der Preis für eine solche Argumentationsstrategie sind zwei nicht unerhebliche blinde Flecken. Erstens verliert man das wissenschaftliche Wissen selbst aus dem Blick und setzt sich damit der Gefahr aus, zumindest historisch unsauber zu werden. Zweitens wird auch die spezifische Poetologie der Mathematik sekundär, also das andere Funktionieren des mathematischen Wissens als Literatur. Denn ein Wissen der Literatur kann es nur dann geben, wenn sich dieses von anderem Wissen – sei dies, um die für hier wichtigsten drei Bereiche zu nennen, mathematisch, philosophisch oder physikalisch – unterscheidet.
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Das vorliegende Buch von Dale Adams, Die Konfrontation von Denken und Wirklichkeit. Die Rolle und Bedeutung der Mathematik bei Robert Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt, schlägt (leider jedoch nicht mit letzter Konsequenz) eine neue Vergleichsebene vor, nämlich diejenige von Wissenschaft als einer Kulturtechnik. So gilt für die Mathematik um 1900 (mit ihren beiden berühmtesten Beispielen der imaginären Zahlen und des Unendlichen) ebenso wie für die Chaostheorie der 1980er Jahre, was Thomas Macho für die frühen Hochkulturen beschrieben hat: Zählen kann man auch ohne abstrakte Zahlsysteme. Musils Faszination an der Mathematik – wie auch der Physik – entzündet sich an ihrer Fähigkeit, auch und vielleicht gerade in der Zeit einer massiven Grundlagenkrise als kulturelle Praxis extrem produktiv zu sein. Die Frage also ist, wenn der Künstler Wissenschaft betreibt, wie sich dieses Tun in der konkreten Textgestalt(ung) niederschlägt. Welche Form von literarischer Sprache entspricht einem naturwissenschaftlichen Denken? Was heißt mathematische Arbeit am Text? Wenn die kulturelle Praxis des mathematischen Denkens sich vor allem dadurch auszeichnet, Dinge produktiv in Frage zu stellen: Welche Konsequenzen hat dies für die Textproduktion? Oder wenn es eine mathematische Dramatik gibt: Was geschieht dann wie und warum auf der Bühne? So konkret und produktiv diese Frage ist, so – leider – wenig konsequent wird sie an den Texten abgearbeitet bzw. verliert sich immer wieder im epistemischen Strudel einer oder mehrerer Philosophien der Mathematik. Obwohl beispielsweise das berühmte Eingangskapitel des Mann ohne Eigenschaften ausführlich zitiert wird, gibt es keine Annäherung an den durchaus wesentlichen Umstand, dass der Roman mit der Schilderung gerade eines Unfalls, eines zufälligen Ereignisses beginnt. Oder es wird die essayistische, offene Form des Romans nicht mit der selbstkritischen und selbstreflexiven Dimension der Mathematik in Verbindung gebracht. Im Falle von Hermann Broch liegen die Dinge freilich, und wie von Dale Adams ebenso ausführlich wie eindringlich beschrieben, deutlich anders: Wenn bei Broch (überhaupt) von einer expliziten mathematischen Theoriebildung gesprochen werden kann, so ist sie Ausdruck der Suche nach der Einheit der Erkenntnis bzw. steht im Schatten der Frage nach dem Verhältnis von Denken und Wirklichkeit und wird so automatisch zu Erkenntnistheorie: »Brochs Ausführungen [sind] allerdings so allgemein gehalten und beruhen zudem in einem solchen Maße auf seinen eigenen werttheoretischen Voraussetzungen, dass ihnen kaum ein real mathematischer Wert zugesprochen werden kann.« (S. 184) Insofern verwundert es kaum, dass die Analyse des mathematischen Denkens im Tod des Vergil den Umweg über die Musik als einem zweidimensionalen Ereignisraum nimmt. Viel näher an eine eigenständige poetologische Dimension von Mathematik dagegen gelangt das Dürrenmatt-Kapitel, etwa durch den Verweis auf das berühmte Diktum Albert Einsteins, demzufolge es ein großes Rätsel sei, warum sich ein hoch abstraktes Denksystem wie die Mathematik so passgenau auf
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die Wirklichkeit abbilden lässt – ein Argument, das Dürrenmatt direkt zur Legitimation seiner eigenen Dramaturgie übernimmt. Der seine Theaterstücke kennzeichnende komisch-trotzige Pessimismus erklärt sich so (auch) aus der Absage an die Möglichkeit einer deterministischen Weltbeschreibung und der Offenlegung der Konstruiertheit jeder Fiktion: der Physik oder Mathematik ebenso wie der Literatur. Die von Dale Adams vorgelegte Untersuchung besitzt – mit Blick aufs Gesamte – zwei konstruktive Schwachstellen. Das ist erstens die nahezu vollständig auf das Schlusskapitel verschobene Querverschaltung zwischen den drei behandelten Autoren. Wie Dale Adams schreibt, wurden die Werke »separat und [. . .] aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Gedanken und Aussagen zur Mathematik betrachtet.« (S. 327) Der Nachteil einer solchen, in sich sicherlich klaren und nachvollziehbaren Vorgehensweise jedoch ist, dass zentrale Vergleichsmomente wie beispielsweise die Funktion des Unfalls oder des Gesetzes der Großen Zahlen bei Musil und Dürrenmatt nicht am Text diskutiert werden, sondern sich im Schlusskapitel in der Gegenüberstellung von Denken und Wirklichkeit epistemisch auflösen. Die zweite Schwachstelle liegt im Begriff der Wirklichkeit selbst. Immer wieder fragt sich der Leser, ob es für die jeweiligen Autoren um eine mehr oder minder wahre Abbildung von Wirklichkeit oder um die Konstruktion eines fiktionalen Geschehens geht, das die Bedingungen seiner Konstruiertheit als Kennzeichen moderner Literatur wie auch der Mathematik selbst beständig reflektiert. Es wäre sicherlich hilfreich gewesen, hier von Beginn an mit einer klaren begrifflichen Differenzierung (etwa durch die Unterscheidung von Wirklichkeit und Realität) zu arbeiten. Fokussiert man den Blick dagegen eher auf die jeweiligen Autorenkapitel, so wird die Unentschiedenheit oder Unbestimmtheit des Wirklichkeitsbegriffs durchaus produktiv, weil so die internen Spannungen im Schreiben besonders von Friedrich Dürrenmatt sichtbar werden (vgl. etwa S. 315). Jedes der drei Autorenkapitel funktioniert in sich abgeschlossen, unter ausführlicher (allerdings rein systematischer und nicht historischer) Berücksichtigung der Forschung. Hier lernt man viel über die sehr unterschiedlichen Rollen, die die Mathematik im Denken von Robert Musil, Hermann Broch und Friedrich Dürrenmatt spielt. Allerdings lernt man weniger über die spezifischen narrativen Funktionen der Mathematik in den konkreten Texten. Dale Adams hat kein Buch über das mathematische Wissen der Literatur geschrieben, sondern eines über das mathematische Denken von Literaten. Christian Kassung
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Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper, Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich: Chronos 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17). 363 S. € 28,–. Robert Musil gehört zu jenen Autoren der Moderne, deren Werk durch und durch mit dem wissenschaftlichen und technischen Wissen seiner Zeit imprägniert ist. Vorliegender Band will diesem Tatbestand in zweifacher Hinsicht gerecht werden, indem zum einen der Wissenstransfer im Einzelnen untersucht, zum anderen der Prozess der Wissensübertragung theoretisch durchleuchtet wird. Das Konzept der Wissensübertragung knüpft, wie Michael Gamper in der Einleitung (S. 7–14) ausführt, an Joseph Vogls »Poetologie des Wissens« an, weicht aber in einem wesentlichen Punkt von dieser ab: Gamper zufolge »lokalisiert die ›Wissensübertragung‹ die ›Gegenstände des Wissens‹ [. . .] nicht vorrangig in den ›Aussageweisen‹, sondern zieht hierfür auch die ›Referenten der Aussage‹ maßgeblich in Betracht« (S. 9). Dementsprechend wird Wissensübertragung in eine an Régis Debray orientierte Mediologie eingebunden, welche die soziale Dimension der Medien betont. Entscheidend sind für Gamper in Anschluss an Ludwik Fleck die historischen und sozialen Bedingungen einer Wissensübertragung, die »das Moment des Transformationellen« (S. 11) hervorhebt. Der Literatur wird dabei die besondere epistemische Kompetenz zugesprochen, »(bisweilen) zu wissen, was sie weiß, wenn sie überträgt« (S. 12). Solcher Kompetenz geht schon der erste Beitrag des Bandes (Brigitte Weingart: Verbindungen, Vorverbindungen: Zur Poetik der »Partizipation« (Levy-Bruhl) bei Musil, S. 19–46) nach. Musils literarische Adaption des Partizipationsbegriffs, besonders dessen Produktivität im Zusammenhang mit Musils Motivkonzept und dem Problemkomplex ›anderer Zustand‹, macht deutlich, dass der Transfer von anthropologischem und psychologischem Wissen in erzählende Literatur nicht bloß auf thematischer Ebene erfolgt, sondern den Beschreibungsmodus dessen, was Musil als »nicht-ratioïdes Gebiet« bezeichnet, prägt. Den zeitgenössischen Ethnologie- und Psychiatriediskurs, der Musils Rede vom ›anderen Zustand‹ in-formiert, rekonstruiert auch, anknüpfend an die einschlägige Forschung, der Beitrag Marcus Hahns (Zusammenfließende Eichhörnchen. Über Lucien Lévy-Bruhl und die Ethnologie-Rezeption Robert Musils, S. 47–72). Hahn stellt dabei eine signifikante Differenz zwischen den beiden Wissensgebieten heraus: zwischen »eigentlichen«, sich aus der Ethnologie speisenden, und »uneigentlichen«, der Psychopathologie zuzuordnenden Formen des ›anderen Zustands‹ (S. 67). Den ersten, der Ethno-Poetologie gewidmeten Abschnitt des Bandes beschließt ein Beitrag zur Auseinandersetzung Musils mit den Schriften Johann Jakob Bachofens zum Matriarchat (Ulrich Boss: ›Mutterrecht‹ im Mann ohne
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Eigenschaften, S. 73–92). Deutlicher als im Falle Lévy-Bruhls wird hier, wie Musil zeitgenössische Diskursformationen literarisch nutzt und in Figuren ummünzt, zu ihnen aber zugleich durch die Gebrochenheit dieser Figuren auf Distanz geht. Während Bachofen das patriarchale System legitimiert, indem er die vermeintlichen Exzesse des Matriarchats vor Augen führt, werden die patriarchal-familialen Strukturen im Mann ohne Eigenschaften immer wieder unterlaufen und außer Kraft gesetzt. In den letzten autorisierten Kapiteln des Romans wird der »›vaterrechtliche‹ Umschwung« (S. 87) vollends delegitimiert, indem er mit der Katastrophe des Weltkriegs in eins gesetzt wird. Den zweiten, Mediale Konstellationen, mögliche Welten betitelten Abschnitt eröffnet Ulrich Johannes Beils Beitrag über Alterität, Aura, Präsenz bei Hofmannsthal, Musil und Benjamin (S. 95–118). In Hofmannsthals Chandos-Brief, in Musils Ansätzen zu neuer Ästhetik und in Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit überlagern sich Mediendiskurse und religiös-mystische Elemente. Aus dieser diskursiven Verschränkung resultieren, wie Beil überzeugend darlegt, bei allen drei Autoren Präsenzeffekte. Während aber Hofmannsthal und Musil diese durch »Inszenierung eines Medienwechsels in dem am meisten von Absenz gezeichneten Medium, der Schrift«, erzeugten und in der Folge die Paradoxierung des Medialen und der Mystik zusammenfielen (S. 109 f.), verdanke sich die »Trennung von Präsenz und Präsenzeffekt« bei Benjamin »dem Phantasma des Extra-Medialen« (S. 109). Allerdings wird der Abstand zu Hofmannsthal und Musil dann doch wieder durch die Beobachtung verringert, dass Benjamins »Phantasma reiner Unmittelbarkeit« (S. 110) unter den historischen Bedingungen der Moderne nur in der Form des Schocks und der Zerstörung, durch die »Zertrümmerung der Aura« (Benjamin) in eine »medial erzeugte Präsenz« (S. 110) übertragen werden kann. Um Diskurs- und Medienwechsel zwischen Literatur, Psychologie/ Psychiatrie und Film geht es auch in Norbert Christian Wolfs Beitrag In bed with Gerda. Musils klinischer Blick und das Kino (S. 119–142). Im 119. Kapitel des Ersten Buches des Mann ohne Eigenschaften wird – so zeigt der Verfasser – durch rasch wechselnde Fokalisierungen das Verhalten des Protagonisten Ulrich exponiert und damit der Leser bzw. die Leserin zu dessen kritischer Beobachtung aufgefordert. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehende Allianz von Psychiatrie und Kinematographie wird von Musil genutzt, um im literarischen Medium Effekte zu erzielen, die jene des zeitgenössischen Stummfilms an Radikalität übertreffen: Durch die Sichtbarmachung körperlicher wie seelischer Mechanismen und Defekte werden die humanistischen Illusionen zerstört und die »systemischen Zwänge« (S. 137) im Leben der Individuen offengelegt. Filmische Bilder sind das Ferment des Erzählens im Mann ohne Eigenschaften, wie Andrea Gnam (Technopoetische Bilder in Musils Mann ohne
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Eigenschaften, S. 143–156) anhand einer Reihe von Beispielen vorführt: Musil nimmt in seiner Aversion gegen stereotype Bilder kinematographische Verfahren vorweg, die in diesem Medium erst später voll entfaltet wurden und »durch Rhythmisierung und Sequenzierung von Blickfolge, Aktion, Kommentar und emotional eindringlichen Bildern komplexe Lebens- und Denkwelten in ihrer Vernetzung einen Augenblick aufscheinen lassen« (S. 153). Weniger medien- und mehr diskursanalytisch ausgerichtet ist Alexander Honolds Aufsatz über Denkraum, Leibraum, Diskursraum. Musils dynamische Architekturen (S. 157–170). Architektur konstituiert im Roman Spielräume, in denen sich Verhaltenskodizes und soziale Ordnungen manifestieren. Ohne Anspruch auf Systematik zeigt Honold verschiedene – mimetische, analytische, kritische, satirische – Funktionen, die der Raumdynamik und -metamorphose im Roman zukommen. Die Kollision inkompatibler kultureller Verhaltensregeln und die daraus resultierende Deplatziertheit von Ulrichs Auftritt beim Grafen Stallburg (S. 165), die Diskrepanz zwischen weitreichendem politischem Anspruch und eng umgrenzter institutioneller Pragmatik der Parallelaktion (S. 167 f.), die Abhängigkeit der Moral von der gesellschaftlichen Position (S. 168 f.) – sie werden als Situationen im Mann ohne Eigenschaften in räumlicher Dimension und Relation gezeigt. Honolds Beispiele belegen, wie ungeheuer plastisch Musils dynamische Architekturbilder wirken; sie spiegeln keine Evidenzen vor, sondern setzen Gedankenprozesse in Gang. Das wissensgeschichtliche Erkenntnisinteresse steht im dritten Abschnitt (Epistemologie im Dazwischen) im Vordergrund. Inka Mülder-Bachs Beitrag Poesie der Grammatik. Texturen des Geistes im Mann ohne Eigenschaften (S. 173–191) nimmt mit der Linguistik ein Wissenschaftsgebiet unter die Lupe, das in den epistemologischen Untersuchungen zu Musil bislang noch unterbelichtet ist, obwohl etwa Musils Auseinandersetzung mit Karl Bühler gut belegt ist. Mülder-Bachs scharfsinnige Untersuchung der Funktion der Konjunktion ›und‹ in Musils opus magnum erinnert daran, dass sich die geistige Verfassung von Figuren wie von Epochen fundamental in der Grammatik manifestiert. Fragen der Motivierung des Romangeschehens sind bei Musil immer schon Fragen der grammatischen und rhetorischen Verfahren. So wird die poetologische und epistemologische Funktion der Grammatik im Roman selbst thematisch und ästhetisch reflektiert. An der Konjunktion ›und‹ zeigt Mülder-Bach zum einen die zeitkritische Komponente: Im Modus der inkongruenten Auflistung wird der Zustand des Zeitgeistes mit der Geistesschwäche Moosbruggers, das symptomatische Ordnungsprinzip der Tageszeitung mit der Psychopathologie des ›Idioten‹ parallelisiert. Zum anderen zerfällt die Romanform in Musils später Schreibpraxis in eine unabsehbare Vermehrung der Fassungen, in eine unabschließbare Reihe von Entwürfen und Varianten. Dass Literatur nicht einfach Wissensbestände inkorporiert, sondern ihr Interesse zuallererst darauf richtet, was sich dem Wissen entzieht, stellt
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Michael Gamper in seinem Aufsatz zur Massen-Übertragung (S. 193–207) heraus. Literatur macht etwa im Sozialen auf Momente des Nicht-Wissens aufmerksam, vor deren Hintergrund erst das ›normale‹, durch Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung zu ermittelnde Wissen sichtbar wird – oder, in Musil’scher Terminologie, das »ratioïde Gebiet« zeichnet sich erst vor der Folie des »nicht-ratioïden« ab. Wie Gamper anhand der im 120. Kapitel des Mann ohne Eigenschaften dargestellten Übertragungsphänomene bei der Bildung von Menschenmassen erläutert, beschränkt sich die Funktion des ›Nicht-Ratioïden‹ aber nicht darauf, die Ordnungen des ›Normalismus‹ zu irritieren, sondern fördert alternative Erkenntnisse, die aus den »figuralen Konstellationen der Personen, Gegenstände und sprachlichen Zeichen« (S. 203) hervorgehen. Der Verunsicherung des ›normalistischen‹ Wissens gehen zwei Beiträge zur Bedeutung der Tiere bei Musil nach. Christoph Hoffmann konstatiert in Augen und Blicke. Robert Musils Tierbilder (S. 209–218) einen »epistemologischen Bruch« (S. 210), der sich auf das Ende des 19. Jahrhunderts datieren lässt und von der Frage herrührt, wie Tiere die Welt erleben. Untersucht wird das Auseinandertreten von Sehorgan und Blick in Musils – teilweise in den Nachlaß zu Lebzeiten aufgenommenen – ›Tierbildern‹ und ›Tiergeschichten‹. Befunde der Verhaltensbiologie werden hier zugespitzt zu einer radikalen Infragestellung des menschlichen Betrachters. Dieser kann seine Position weder als »Zuschauer« noch als »Adressat« noch als vom Tier wahrgenommene »Umwelt« halten, sodass er möglicherweise »in der Empfindung des Tiers einfach nicht vorkommt« (S. 217). Wenn der Beitrag von Florentine Biere (Unter Beobachtung. Robert Musils Tierleben, S. 219–235) in Musils Texten auch stärker die Verwandtschaft von Mensch und Tier hervorhebt, so zeigt sie zugleich, dass Musil weder das Tierische am Menschen verherrlicht noch das Tier vermenschlicht (S. 223). So sind es gerade die Differenzen zwischen dem Tier und dem »Geisttier« Mensch, die bei Musil einen Imaginations- und Möglichkeitsraum eröffnen, in dem Momente des ›Nicht-Ratioïden‹ und des ›anderen Zustands‹ wie die »Identitätslosigkeit«, die »Selbstentäußerung des individuell Persönlichen«, die »Teilhabe am Anderen« sowie die »Zeit- und Seinsvergessenheit« mit Beschreibungen von Tieren und mit dem Übertritt von Menschen in Tierexistenzen verknüpft werden (S. 225 f.). Noch stärker als im Bereich der Zoologie und Verhaltensbiologie zeigt sich die Eigenständigkeit von Musils literarischem Schreiben im Feld der Anthropologie. Sein ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, mit dem sich Klaus Amann beschäftigt (S. 237–254), hat Musil der zeitgenössischen Öffentlichkeit vorenthalten, es aber als »Arbeitshypothese« (S. 238) poetologisch fruchtbar gemacht. Amann konzentriert sich weniger auf die bereits erforschten wissenschaftlichen (psychologischen und gestalttheoretischen) Bezüge von Musils ›Theorem‹, stattdessen zeigt er dessen biographische und politi-
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sche Aspekte. Der Erste Weltkrieg bildet hier die entscheidende Erfahrung, die sich in den Ereignissen des Frühjahrs 1933 in Deutschland wiederholt: »Die Unfesten, die ›Feiglinge‹ auch, die zum ›Gewährenlassen‹ Bereiten, werden fest durch die Infusion von Idealen gepaart mit Zwang.« (S. 244) Die ›Gestaltlosigkeit‹ und beinahe beliebige Formbarkeit des Menschen wird Amann zufolge zum entscheidenden Element der Handlungsstruktur des Mann ohne Eigenschaften. Insbesondere Musils schon von Walter Fanta herausgestellte Idee der umfassenden Figureninversion am Ende des Romans passt genau zum ›Theorem der Gestaltlosigkeit‹. Da Musils Einfälle für diese Umkehrung der moralischen und charakterlichen Profile mehrheitlich auf dieselbe Zeit datieren, in der Musil an seinem ›Theorem‹ arbeitete, markiert dieses Amann zufolge eine entscheidende »Weichenstellung« (S. 251) in der Genese des schon im Titel programmatisch ›Gestaltlosigkeit‹ indizierenden Mann ohne Eigenschaften. Der letzte Beitrag des Epistemologie-Abschnitts (Robert Stockhammer: Wahr-Falsch-Spiele und andere Sprachspiele. Übertragbarkeit des Wissens bei Musil und Wittgenstein, S. 255–286) kehrt zur Frage nach dem Wissen der Sprache zurück. Ohne die Differenzen einzuebnen, zeigt Stockhammer eine Reihe Wittgenstein und Musil gemeinsamer Anliegen auf, etwa die Aufmerksamkeit für die »Sprachgeronnenheit des Wissens« (S. 256) und die daraus resultierende Negation einer scharfen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft. Deutlich wird dabei, dass für Musil wie für Wittgenstein auch die Mathematik als Sprachspiel funktioniert. Die ›phantastische Genauigkeit‹, die in Musils Poetik eine Schlüsselstellung einnimmt, erweist sich vor dem Hintergrund von Wittgensteins Sprachspieltheorie als »Kontextadäquatheit« (S. 281). In einem Punkt betont Stockhammer die Überlegenheit des Dichters Musil über den Philosophen Wittgenstein: Im Unterschied zu dessen Ideal der »übersichtlichen Darstellung« versieht die Form des Romans wie des Essays die Sprachspiele mit einem historischen Index – sie konstatiert »die Abhängigkeit noch durchaus theoretischer Denk- und Sprechbewegungen vom Zeitpunkt ihres Auftretens« (S. 283). Der letzte Abschnitt des Bandes (Schreiben(d) Übertragen) wird mit einem Beitrag von Robert Leucht und Susanne Reichlin (»Ein Gleichgewicht ohne festen Widerhalt, für das wir noch keine rechte Beschreibung gefunden haben«. Robert Musils ›anderer Zustand‹ als Ort der Wissensübertragung, S. 289–322) eröffnet, der ein zentrales Thema des Bandes aufgreift: Indem der Komplex des ›anderen Zustands‹ auf verschiedenen Ebenen betrachtet und in verschiedene Diskursschichten differenziert wird, vervielfältigt er sich zu einem Spektrum ambivalenter, einander überlappender und oft widersprechender ›anderer Zustände‹. Deutlich wird Musils Verfahren einer ›Mobilisierung des Wissens‹, bei der Diskursfragmente de- und rekontextualisiert, mit anderen Diskursen kombiniert, kontrastiert und so neu adaptiert und transformiert werden. Mystisches Sprechen und utopisches Denken sowie die
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damit verbundenen Metaphern, etwa des Schiffsbruchs oder der Grenzüberschreitung, werden durch die Transposition in den Romankontext vielfach ironisch gebrochen und reflektiert. Nicht zuletzt wird dieses Verfahren als politische Intervention verstanden: Sichtbar gemacht werden die Gefahren der ideologischen Verfestigung in der mit dem ›anderen Zustand‹ markierten Diskursformation, ohne damit deren utopisches Versprechen fundamental ›anderer‹ Formen der Moral und des Zusammenlebens aufzugeben. Mit intertextuellen Bezügen beschäftigt sich auch Walter Fantas Aufsatz (Musils Umkodierungen. Wissenstransfer im Schreibfeld als Form der Intertextualität, S. 323–346). Er nennt drei für den Mann ohne Eigenschaften relevante Unterscheidungen in der Zitierweise: explizit vs. implizit, Erzähler- vs. Figuren-zugeordnet und affirmativ vs. ironisch/denunzierend (S. 329). Als ein Beispiel für affirmatives und implizites Zitieren wird Musils Verarbeitung von Gedanken Ralph Waldo Emersons untersucht. Obschon der Name Emerson in den fertiggestellten Teilen des Romans nur einmal genannt wird, scheint Musils Schreiben von dessen Gedanken durchtränkt zu sein, in den Worten Fantas: »Das gedankliche Vermächtnis diffundiert im Gesamtkorpus der Texte Musils« (S. 333). Dass Musil (wissenschaftliches) Wissen als gestaltbares Material betrachtete, zeigt der Verfasser am Beispiel von Musils Umgang mit Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie. In einer »Doppelkodierung« (S. 336) werden im Mann ohne Eigenschaften individuelle und kollektive Wahnzustände nach Bleulers Psychopathologie modelliert. Diffiziler gestaltete sich das Verhältnis Musils zu Freud, mit dem sich Fanta abschließend beschäftigt. Musils Aversion gegen Freud scheint sich zum einen »gegen geschlossene Lehrgebäude und gegen die Monokausalität ihrer Erklärungen« (S. 338) zu richten, zum anderen aber wohl auch einer »Einflussangst« (Harold Bloom) geschuldet zu sein. Zugleich weist Fanta nachdrücklich darauf hin, wie stark »Musils Konzept von 1936 für das Finale des Mann ohne Eigenschaften [. . .] einem kulturpessimistischen Muster [gehorcht], zu dem eine direkte Linie von Freuds Das Unbehagen in der Kultur (1930) führt« (S. 339). Der abschließende Beitrag von Karl Wagner (Ideale Gegnerschaft. Musil, Handke und das Wissen (in) der Literatur, S. 345–358) setzt in zweifacher Hinsicht andere Akzente: Hier geht es erstens nicht darum, wie ein bestimmtes Wissen in den literarischen Text übertragen wird, sondern welche Bedeutung dem Wissen in der Literatur überhaupt zukommt und wie es sich zu einem spezifisch literarischen Wissen verhält. Zweitens wird mit Handkes Äußerungen zu Musil eine Brücke zur Gegenwartsliteratur geschlagen. Wagner unterscheidet in Handkes Polemik gegen Musil drei Argumente: »gegen die Art der Figurendarstellung, gegen das unepische Referieren und gegen das Wissen in der Literatur« (S. 349). Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass »die Opposition Handke und Musil nicht sehr stabil zu sein [scheint]« (S. 350). Analogien sind nicht nur in der »Kritik des romanhaften Erzählens« (S. 350) festzustellen. Auch Handkes Vorstellung einer »begriffsauflösenden
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[. . .] Kraft des poetischen Denkens« (zit. nach S. 352) erinnert an Musils Überlegungen zum »nicht-ratioïden Gebiet«, das in die besondere Kompetenz der Literatur fällt. Und selbst Handkes Plädoyer für ein Erzählen, das jegliche Abstraktion meidet, ist nicht so weit von Musil entfernt, wenn es sich mit einer Sprachkritik verbindet, die sich, Musil ganz ähnlich, gegen ideologische Verfestigungen richtet, und seien sie solche einer ritualisierten Ideologiekritik. Die Sprachkritik, wie sie von Hofmannsthal im Chandos-Brief ebenso wie von Mauthner und Wittgenstein betrieben wurde, begründet ein weiteres gemeinsames Problem der beiden Autoren: das der »Artikulierbarkeit mystischer Erfahrung« (S. 355). Einer damit in den Blick geratenden »Ersetzung der Religion durch Literatur« (S. 356) widersetzt sich Musil »subtiler« (S. 356) als Handke – diesbezüglich attestiert Wagner jenem eine Klugheit, die entgegen dem Benjamin’schen Verdikt durchaus ›nötig‹ erscheint. Aus der stetig steigenden Flut der Publikationen über Musil ragt dieser Band dadurch heraus, dass sämtliche Beiträge von hoher wissenschaftlicher Qualität sind. Zwar ist auch hier eine tagungsbandtypische Heterogenität der Themen und Methoden festzustellen, die zu beklagen allerdings von einer Unkenntnis des Genres zeugte. Jedenfalls wird die mangelnde Systematik durch eine Vielfalt neuer Einsichten und Differenzierungen kompensiert. Überzeugend belegt der Band, wie sehr Fragen der Wissensübertragung die methodische Diskussion über die Wissenspoetik im Allgemeinen und die Auseinandersetzung mit Musil im Besonderen anzuspornen vermögen. Roland Innerhofer
Philippe Chardin: Musil et la littérature. Amours lointaines et fureurs intempestives. Dijon: Editions universitaires de Dijon 2011. 286 S. € 23,–. Der an der Universität Tours tätige Komparatist Philippe Chardin gehört zu den profilierten Musil-Kennern in Frankreich. Jetzt legt er eine Sammlung von Essays vor, in denen es vor allem um den literarischen Aspekt von Musils Werk geht und weniger um den philosophischen und naturwissenschaftlichen. Das Plädoyer für einen literarischen Zugang zu Musil mag in Frankreich umso nötiger sein, als Musil dort noch mehr als im deutschen Sprachgebiet aus philosophischer und naturwissenschaftlicher Perspektive wahrgenommen wird.21 Chardin setzt Musil einerseits in Bezug zu nichtdeutschen Autoren (daher der Untertitel »Amours lointaines«), welche Musil selbst geschätzt und über die er sich mehrfach geäußert hat (wie z. B. Dos-
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Man denke etwa an Jean-Pierre Cometti: Musil philosophe, l’utopie de l’essayisme. Paris 2001, oder an die wichtigen, im deutschen Sprachgebiet leider nicht rezipierten Arbeiten von Jacques Bouveresse: L’homme probable. Robert Musil, le hasard, la moyenne et l’escargot de l’histoire.
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tojewskij oder Flaubert), und andererseits zu solchen, mit denen er gewisse Themen oder literarische Verfahren teilt (wie Joseph Roth, Proust, Henry James oder Joyce). Vier der neun Kapitel sind verschiedenen Aspekten von Musils Werk mit nur marginalen komparatistischen Einschüben gewidmet. Unter dem Obertitel eines Flaubert-Zitats (»La bêtise consiste à vouloir conclure«22 ) untersucht Chardin verschiedene Aspekte von Gemeinsamkeiten der beiden Autoren, einen gewissen »Bovarysme« sieht er in den »extravaganten« Selbstmordabsichten von Agathe und Clarisse. Flauberts Neigung zu Listen, wie er sie in Bouvard und Pécuchet ausgiebig verwendet, sieht er als Parallele zu den verschiedenen Versuchen im Mann ohne Eigenschaften, Ordnung zu schaffen. Die Vorliebe von Bouvard und Pécuchet, alles zu zitieren, was ihnen vor die Augen kommt, vergleicht er mit Musils Zitiertechnik, die sich allerdings dadurch von Flaubert unterscheidet, dass er bestimmten Personen bestimmte Autoren zuweist, wie z. B. Clarisse Nietzsche, Diotima Maeterlinck oder Arnheim Rathenau usw. Er sieht auch Parallelen im unbestimmten Charakter des Helden der Éducation sentimentale und dem Helden ohne Charakter bei Musil. Generell versuchten beide Autoren, die Grundlagen der Kultur zu sabotieren, sie hätten die ironische Unbestimmtheit ebenso gemeinsam wie ihre Abneigung gegen das Endgültige, gegen den Abschluss. So wird Musil gewissermaßen mit der Brille Flauberts gelesen, oder umgekehrt Flauberts von der Forschung und auch von den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts immer wieder festgestellte Modernität im Lichte Musils beleuchtet. Jedenfalls führt das Verfahren zu interessanten Beobachtungen, welche oft ganz neue Zusammenhänge aufblitzen lassen. Der Titel des Dostojewskij-Kapitels »alles ist erlaubt« zeigt das Thema an, unter dem Chardin die beiden Autoren zusammenbringt. Beide Autoren sind fasziniert vom Prinzip »alles ist erlaubt«, welches sich vor allem in den sexuellen Transgressionen und in der Neigung zu moralischen Verstößen, insbesondere zum Mord, äußert. Das Interesse an Normverletzungen ist ja generell hoch in der Literatur der Jahrhundertwende,23 so erstaunt es nicht, dass die beiden Autoren in dieser Beziehung Gemeinsamkeiten aufweisen, auch wenn Dostojewskij, wie der Autor hervorhebt, christlichen Werten verhaftet bleibt. Chardin weist zurecht darauf hin, dass man unter diesem Aspekt auch Gide einbeziehen könnte, zu dem sich Musil aber kaum geäußert hat, während Gide den Wert des Mann ohne Eigenschaften sogleich erkannt hat, ohne dass er wissen konnte, dass Musil in einer Skizze zur letzten Sitzung der Parallelaktion erwogen hat, Ulrich sagen zu lassen, er hätte Spion oder
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Paris 1993; ders.: La voix de l’âme et les chemins de l’esprit. Dix études sur Robert Musil. Paris 2001. Dt.: »Die Dummheit besteht darin, abschließen zu wollen.« Siehe dazu Michael Titzmann: ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹, in: Hans Krah, Claus-Michael Ort (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Kiel 2002, S. 181–210.
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Falschmünzer werden sollen.24 Interessant ist hier wie auch in den anderen komparatistischen Kapiteln, wie Chardin durch den Vergleich mit anderen Autoren oft überlesene Stellen im Mann ohne Eigenschaften, wie z. B. die Überlegung Ulrichs, Arnheim zu töten, zum Sprechen bringt. Er weist darauf hin, dass bei Musil im Gegensatz zu Dostojewskij nur die Nebenfiguren die Grenzen überschreiten bzw. die normverletzende Tat ausführen, andererseits aber Musil an Dostojewskij gerade die Darstellung der Realisierung der Tat faszinierte. Grenzüberschreitungen bzw. die Diskussion des Möglichen und Unmöglichen (possibilisme/impossibilisme) verbinde auch Henry James mit Musil. Während Grenzüberschreitungen für die Personen im Werk von James etwas Erschreckendes haben, sind sie für die Musil’schen Figuren eher faszinierend. Die Parallelen zwischen Musil (Törleß), Joyce (Ein Porträt des Künstlers als junger Mann), Proust und James (Maisie) werden unter dem Gesichtspunkt des Spiels mit der Gattung Bildungsroman abgehandelt. Die Romane sind alle durch eine gewisse Ratlosigkeit oder Verunsicherung des jugendlichen Helden bzw. der Heldin gekennzeichnet. Wiederum weist Chardin auf erstaunliche Parallelen zwischen den Romanen hin, die Wichtigkeit der Mutter, die Unwichtigkeit des Vaters, die Verlogenheit der Erwachsenen, die Begegnung mit Prostituierten, die Aufteilung der Gesellschaft in Lager oder Clans, welche die Jugendlichen zwingt, Position zu beziehen, wo sie neutral bleiben möchten. Eine besondere Gemeinsamkeit von Proust und Musil sieht Chardin in dem, was er die analytische Ironie nennt, die Entferntes miteinander in Verbindung und dadurch jede Art von Übertreibung und Hohlheit zu Fall bringt. Im Kapitel, das dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich und der Vorkriegszeit gewidmet ist, geht Chardin verschiedenen Gesichtspunkten nach. Er vergleicht den Radetzkymarsch von Joseph Roth mit dem Törleß in Bezug auf die Darstellung der Militärschule und der Spannung zwischen Ordnung und Unordnung. Er widmet sich ausführlich einem Vergleich von Musil und Jules Romains unter dem Aspekt der Weltdarstellung und der Organisation der Zeit. Er hebt die Art von Musils und Romains’ Erzählen ab von dem amerikanischen, welches durch Lakonismus, Behaviorismus, Atomisierung der Intrige gekennzeichnet ist; trotzdem versuchen beide Autoren wie die Amerikaner, die Gleichzeitigkeit des Heterogenen darzustellen, einen Überblick über die Gesellschaft und die Geschichte zu geben. Am erstaunlichsten in dieser Serie von Vergleichen von Musil mit Autoren der Moderne dürfte jener mit André Breton sein. In Bretons Nadja wie im Mann ohne Eigenschaften wird immer wieder über die Grenze von Wahnsinn und Vernunft/Verstand reflektiert. Es wird dargestellt, wie ein Intellektueller mit dem oder der Wahnsinnigen sympathisiert, ja der bzw. dem Wahnsinnigen illegalerweise zu Hilfe eilen will. Im Möglichkeitssinn sieht Chardin ein 24
KA/Transkriptionen/Mappe II/7/120.
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Unternehmen des kontrollierten Wahnsinns, wie es auch der Surrealismus als Erweiterung des Bewusstseins anstrebte. Während aber bei Musil diese Beziehung ironisiert und perspektiviert wird, wird sie bei Breton eindeutiger und ohne Einschränkungen dargestellt. Die letzten vier Kapitel des Buches sind verschiedenen Aspekten von Musils Werk gewidmet: Musil als Meister der kurzen Form, wobei vor allem die Drei Frauen untersucht werden, Musil und das Theater am Beispiel der Schwärmer, wobei er diese mit Claudels L’Echange (Tausch) vergleicht, einem Stück, das Musil selbst kannte und besprochen hat. Chardin findet abgesehen vom religiösen Aspekt viele Parallelen zwischen den beiden Stücken. Im Kapitel »›Sprechen wie ein Buch‹, ›Leben wie man liest‹« geht Chardin den Stellen nach, wo von Büchern und vom Lesen die Rede ist, wobei er nochmals dafür plädiert, angesichts der Wichtigkeit, die Musil den Büchern und dem Lesen in seinem Werk einräumt, sein Werk nicht nur unter philosophischen und naturwissenschaftlichen Aspekten, sondern vor allem auch unter literarischen Gesichtspunkten zu analysieren. Das hat er in der vorliegenden Sammlung von Essays getan, ganz im Sinne von Musils Essay-Begriff eine Sache – in diesem Fall Musils Werk – von verschiedenen Seiten anzusehen. Das Buch enthält viele schöne und überraschende Beobachtungen, wenn man an den wohl noch nie angestellten Vergleich zwischen Flaubert und Musil oder Breton und Musil denkt, ihm fehlt aber, wie es für Essays nicht anders zu erwarten ist, die Systematik und die explizite Auseinandersetzung mit der Forschung, die Chardin durchaus kennt und berücksichtigt. Rosmarie Zeller
Martin Dillmann: Poetologien der Kontingenz. Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge der Moderne. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2011 (= Kölner Germanistische Studien. N. F., Bd. 11). 335 S. € 44,90. Martin Dillmanns Poetologien der Kontingenz ist im Großen und Ganzen eine Begriffsgeschichte, welche die Laufbahn des Kontingenzbegriffs durch wissenschaftliche und literarische Texte der klassischen Moderne nachzeichnet. Dillmann argumentiert gegen die in und seit dieser Zeit vorherrschende Tendenz, die Kontingenz mit dem Begriffsfeld »Zufall« zu verschmelzen und als eine zu kontrollierende »Allergie« zu behandeln (S. 2). Diesem Verständnis entgegen setzt er eine unerwartete, aber überzeugende Lesart, die aus der Kontingenz einen die überlieferten Denkmuster auflockernden Gegenbegriff ableitet, der etwas »[D]iabolisches« – eine äußerst positive Bezeichnung in Dillmanns Wortschatz – an sich hat. Dillmann gliedert sein Unternehmen in fünf Kapitel. Die Einleitung im ersten Kapitel bietet den obligatorischen Forschungsbericht. Kapitel zwei gibt einen Überblick des Kontingenzbegriffs in den Naturwissenschaften um
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die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und erläutert, wie der Begriff in Disziplinen wie Physik und Mathematik mit Wert beladen wird. Der Schwerpunkt der Studie findet sich im dritten Kapitel, das Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften als Musterbeispiel einer Poetologie der Kontingenz behandelt. Kapitel vier dient als Überlegung zu erzählerischen Kleinformen – zum Essay vor allem – und ihrer Beziehung zum Mann ohne Eigenschaften. Im fünften Kapitel wird die formale Argumentation mit einer Analyse der »Möglichkeits-Sinne: Kontingenz und Utopie« abgeschlossen. Mit einem ausführlichen Überblick der (von Dillmann auch zugegeben) unüberschaubaren Primär- und Sekundärliteratur zur Entwicklungsgeschichte des Kontingenzbegriffs fängt die Studie ziemlich schwerfällig an. Wie es oft der Fall mit Forschungsberichten ist, belegt auch dieser eine akribische Kenntnis des schon oft Gesagten durch viele Zitate und eine ordnungsgemäße Unzahl von Fußnoten. Wer sich eher dafür interessiert, was Dillmann über Kontingenz denkt, als was er darüber gelesen hat, kann dieses Kapitel ruhig überfliegen. Erwähnenswert ist doch ein ironisches Detail: Hinterfragt wird der Wert solcher obligatorischen Forschungsberichte im dritten Kapitel, in dem der Skeptizismus von Ulrich und General Stumm von Bordwehr bzgl. der Möglichkeit sowohl als der Begehrtheit eines Überblicks einer jeden Wissenschaft präsentiert wird. Im zweiten Kapitel kommt die Analyse in Gang. Dillmann legt eine Ableitung der Poetologien der Kontingenz von der übergeordneten Begrifflichkeit der Poetologie des Wissens vor. Von der letzteren Begrifflichkeit nimmt er den Maßstab für seine Analyse: Aus der Auseinandersetzung mit diesen Positionen [›gelehrtem‹ und ›literarischem‹ Wissen bzw. Natur- und Geisteswissenschaften] leite ich das methodische Postulat ab, im Rahmen kulturwissenschaftlicher Arbeiten programmatisch von der Orientierung an ›Inhalten‹ oder ›Fakten‹ abzusehen und stattdessen die kulturellen Interpretationen naturwissenschaftlicher Theorien und Resultate ohne Rekurs auf den wissenschaftsspezifischen Code wahr/falsch gerade in ihrer Vielfalt zu fokussieren [. . .]. (S. 41 f.)
Demzufolge wendet er sich an Werke von Umberto Eco, Werner Heisenberg, Niklas Luhmann usw. Solche Werke demonstrieren durch die verwandte Methodik der Diskursanalyse und der Systemtheorie, dass Naturwissenschaften wie die Physik und Mathematik seit Langem ihre Wahrheitssemantik mit einer ästhetischen Semantik unterstützt haben. An sich ist diese Beobachtung keine Neuigkeit. Dillmanns originaler Beitrag zur Diskussion liegt darin, dass er die unterschwellige, den Begriff der Kontingenz begleitende Moralsemantik bloßlegt, die mit der auch oft verschwiegenen ästhetischen Semantik einhergeht. Diese ästhetisch-moralisierende Semantik behandelt die Kontingenz als etwas eher Unerwünschtes. In Dillmanns Lektüre von Ernst Cassirers Wissenschaftsphilosophie wird die Physik als eine Wissenschaft konzipiert, »die vornehmlich auf Kontingenzbewältigung zielt« (S. 66),
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d. h. auf die Minimierung und Abgrenzung von Zufall und Gefahr, welchen in der Zwischenkriegszeit verständlicherweise ein kulturhistorisch negativer Wert beigelegt wurde. Der unschöne Begriff der Kontingenz ist also auch ungut: Dillmann zeigt wie die Gefahren der Kontingenz und des Zufalls in der Physik bis zu Katastrophen in der Mathematik gesteigert werden. Oswald Spenglers apokalyptischer Traktat Untergang des Abendlandes bietet ein kaum zu übertreffendes Vorbild für die ästhetisch-moralisierende Semantik, mit der Spengler neuere Wissenschaften wie Thermodynamik, Relativitätstheorie und Quantenmechanik als »Degenerationserscheinungen« charakterisiert (S. 87). Dieser Vorwurf basiert nicht zuletzt darauf, dass diese Theorien die Kontingenz nicht ohne Weiteres aus ihrem Begriffsrepertoire verweisen, sondern sie zu einer wichtigen und an sich wertfreien Komponente ihres begrifflichen Gerüsts machen. Am Beispiel Spengler zeigt Dillmann, dass Ankündigungen des Jüngsten Gerichts – obwohl Affekten der Angst, des Ekels und der Selbstgerechtigkeit wohltuend – verfrüht waren. Für Dillmann bietet Spenglers Untergang einen glücklichen Übergang zu Musils heitererem Umgang mit dem Kontingenzbegriff im dritten Kapitel. Die Spannung zwischen dem Einsturz des Himmels und »ein[em] schöne[n] Augusttag des Jahres 1913« (MoE, S. 9) findet Dillmann offensichtlich reizvoll und im Einspannen dieses Reizes findet er auch die eigene Stimme (obwohl er mit den Fußnoten nur ein bisschen nachlässt). Das dritte Kapitel ist nicht nur das beste des Buches, sondern präsentiert auch ein bahnbrechendes Argument in der Musil-Forschung. In überzeugender Weise zeigt Dillmann, dass Kontingenz keine Note der Verzweiflung in einer Zerfallsgeschichte ist, wie der Mann ohne Eigenschaften aufgrund seiner Fragmenthaftigkeit schon oft gedeutet worden ist, sondern das Schlüsselwort in »ein[em] diabolische[n] Liebesgedicht der Moderne« (S. 102). Mit diesem Untertitel zum dritten Kapitel tauft Dillmann den Mann ohne Eigenschaften aufs Neue und weist mit »diabolisch« sowohl auf eine »Ästhetik der Dämonie« (S. 98) als auch auf den von Luhmann abgeleiteten Begriff der »Beobachtung zweiter Ordnung« hin. Der diabolische Beobachter zweiter Ordnung beobachtet die Welt frei von Voreingenommenheit und sieht seinem Namen gemäß die zwei Seiten jeder Situation bzw. Person – und alles dazwischen. Dementsprechend liegt Kontingenz wie kaum ein anderer Begriff den thematischen, kompositorischen und einstellungsbezogenen Verwandtschaften zwischen dem Erzähler des Mann ohne Eigenschaften und dem Protagonisten Ulrich und damit der Poetologie des Romans zugrunde. Eine glänzende Darstellung dieser Gabe bietet Dillmann durch seine Analyse der von Ulrich und dem Erzähler geteilten Gewohnheit, in Listen zu denken (siehe S. 112–161). Die systematische Untersuchung des Hangs zur Begriffsauflistung als Denkhilfe ist meines Wissens die erste ihrer Art in der Musil-Forschung und gelingt Dillmann vollständig. Durch die Herstellung
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von Listen – deren Elemente Dillmann aus dem Fließtext heraushebt und als Aufzählungspunkte präsentiert – verstehen der Erzähler, Ulrich und General Stumm von Bordwehr (letzterer als Beobachter zweiter Ordnung »wider Willen«, S. 155) die Widersinnigkeit jeder absoluten Gleichsetzung von Idee und Wert. In der folgenden Liste ist jede Bezeichnung das eigene absolut Gute und gleichzeitig paradoxerweise das absolut Böse ihres jeweiligen Gegenübers: »die Juden oder die römische Kirche, der Sozialismus oder der Kapitalismus, die mechanistische Denkweise oder die Vernachlässigung der technischen Entwicklung, die Rassenmischung oder die Rassenentmischung, der Großgrundbesitz oder die Großstädte, die Intellektualisierung oder der ungenügende Volksunterricht.« (MoE, S. 271; zitiert in Dillmann, S. 145) Das im Roman immer wiederkehrende Nebeneinander von begrifflichen und ideologischen Erzfeinden bezeugt die Unentbehrlichkeit der Kontingenz für ein Verständnis der Moderne, was unabdingbar für den Anspruch auf adäquate Behandlung solcher heiklen Oppositionen ist. Der Begriff des Essayismus verbindet das vierte und fünfte Kapitel thematisch miteinander. Im vierten Kapitel geht es Dillmann um gattungstheoretische Spezifikationen des Mann ohne Eigenschaften, den er früher schon ein »Romanfragment« genannt hat (S. 91). Theoretisiert werden »die traditionell dem Peripheren gewidmeten Genres des Feuilletons und des Essays [als] Leitgattungen innerhalb einer maßgeblich durch Kontingenzbewusstsein geprägten Kultur der Klassischen Moderne« (S. 165). Die offene Struktur des Mann ohne Eigenschaften, in welcher der »Anteil [von essayistischen Reflexionen] den der konventionell erzählenden Passagen bei weitem übersteigt« (S. 164), erlaubt es dem Leser, an die Erzählfäden und Essaystränge gedanklich so anzuknüpfen, dass sie einander auf der Basis der Kontingenz komplementieren und verstärken. Laut Dillmann ist ein zentrales Anliegen des Essayismus eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen und der Berechtigung der eigenen formalen Existenz als »Kontingenzgattung der Moderne« (S. 194). Im fünften Kapitel geht die Analyse von einem gattungsspezifischen Ansatz zu einem geistesgeschichtlichen über. In dessen Blickfeld wird der Essay zum Vehikel einer neuen »Theologie«, in der Musil Kontingenz als Medium des ›anderen Zustands‹ konzeptualisiert. Hier geht Dillmann dem positiven Gegenteil von Musils negativer »Kontingenzdiagnose« (S. 263) nach, die alle scheinbaren Notwendigkeiten als bloß kontingente Realisierungen einer einzigen Möglichkeit unter vielen entlarvt. Im Schlusskapitel seiner Monographie gibt Dillmann eine anregende Erläuterung zu Musils »MöglichkeitsSinnen: Kontingenz und Utopie« als sich der negativen Diagnose widersetzende Heilmittel, wodurch »das bloß Mögliche zu einem Reich des Möglichen umgedeutet wird« (S. 263). Abschließend liefert Dillmann ein Plädoyer für den ›anderen Zustand‹ als den passenden Bauplatz für dieses Reich (obwohl die von Musil im Nachlass entworfene »Utopie der induktiven Gesinnung« genauso gut oder vielleicht sogar besser dazu getaugt hätte).
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Trotz des langsamen Starts ist Dillmanns Studie zweifelsohne ein wertvoller Beitrag zur Musil-Forschung und zur interdisziplinären Forschung im Allgemeinen. Für die erstere ist allein das dritte Kapitel eine mächtige Aussage, die künftige Lektüren des Romans beeinflussen sollte. Für die letztere bietet diese Poetologie der Kontingenz einen konsequent fokussierten Ausbau zur Begrifflichkeit des Überbegriffs der Poetologie des Wissens. Todd Cesaratto
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.): Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse. Bielefeld: transcript 2011 (= Edition Kulturwissenschaft, Bd. 5). 338 S. € 29,80. Der von Roland Innerhofer, Katja Rothe und Karin Harrasser herausgegebene Sammelband Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse geht auf eine Graduiertenkonferenz zurück, die im Juli 2009 an der Universität Wien unter dem Titel Das Mögliche regieren abgehalten worden ist. 2011 im transcript-Verlag erschienen, umschließt der in vier Abschnitte unterteilte Band fünfzehn Aufsätze, vier Kommentare, die jeweils einen der vier Abschnitte einleiten, sowie eine alle Abschnitte übergreifende Einleitung. Der konzeptionelle Ausgangspunkt des Buches ist der Befund einer spezifischen Relation zwischen dem Begriff des Regierens und jenem des Möglichen. Diese, so zwei der Herausgeber einleitend, bestehe darin, dass das Mögliche nicht nur einen Status, sondern – ebenso wie das Regieren auch – eine Fähigkeit bezeichne, genauer: eine »Potenz zur Veränderung« (S. 10). Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität, so Innerhofer und Rothe weiter, verweise auf eben diese Relation, zumal mit ihm eine Form der Lenkung bezeichnet sei, durch die sich die Eigenheiten der gelenkten Objekte verschiedentlich entfalteten. Mit diesen einleitenden Überlegungen ist kein alle Beiträge umschließendes Theoriemodell entworfen, jedoch jene Begrifflichkeit etabliert, um die ein Großteil der versammelten Beiträge kreist: Möglichkeit/Möglichkeitssinn, Regierung/Regierungswissen sowie Gouvernementalität. Auffällig ist, dass die Schlüsselbegriffe des Bandes aus verschiedenen historischen Kontexten stammen, nämlich aus der Literatur der Zwischenkriegszeit (Möglichkeitssinn) sowie der Philosophie nach 1945 (Gouvernementalität). Die von den Herausgebern einleitend angesprochenen Leitfragen des Bandes beziehen sich (I) auf die Frage nach den Konsequenzen des »Möglichkeitsdenkens innerhalb künstlerischer, ökonomischer und medialer Konstellationen für das 20. Jahrhundert« (S. 12), (II) auf die Skizzierung eines Wissen vom »strategischen Einsatz des Möglichen« (S. 13) sowie (III) – im Anschluss
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an die von Joseph Vogl entwickelte Poetologie des Wissens – auf eine Beschreibung der »Inszenierungsweisen des Möglichkeitsdenkens« (S. 13). Die Beiträge des ersten Teils, Literarischer Möglichkeitssinn in der Moderne, eingeleitet von Burkhardt Wolf, kreisen um zwei paradigmatische Autoren der literarischen Moderne: Robert Musil und Franz Kafka. Niklaus Largier untersucht von der Beobachtung ausgehend, dass Mystik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein allgegenwärtiger Begriff sei, dessen Rezeption bei Georg Lukács, Karl Mannheim und Robert Musil. Dabei profiliert er Mystik als eine »Denkfigur« (S.32), die einer »rhetorischen Freisetzung des Möglichen [. . .] inmitten des Wirklichen« (S. 32) diene, und somit den Einbruch einer »Möglichkeit ins Wirkliche« (S. 42) anzeige. Largiers für Differenzen zwischen den Mystik-Auffassungen der drei Autoren überaus sensible Ausführungen münden in dem Befund, dass sich von den Mystik-Konzepten Lukács’, Mannheims und Musils eine nicht markierte Verbindung zu Foucaults Konzept der Kritik aufweisen lasse, zumal dieses in ganz ähnlicher Weise eine »›experimentelle‹ Haltung« (S. 45) profiliere. Der Frage nach dem Organisationswissen in Musils Mann ohne Eigenschaften geht Florian Kappeler in einem materialreichen Beitrag nach, der in einem ersten Schritt Verbindungen zu zeitgenössischen Organisationsdiskursen, Texten von Johann Plenge, Walther Rathenau und Franz Müller-Lyer, aufweist. Kappeler vermag zu zeigen, dass verschiedene Organisationsformen in Musils Roman an verschiedene seiner Figuren, den General Stumm von Bordwehr, Paul Arnheim oder die Mittelpunktsfigur Ulrich gebunden sind, wobei er letzteren als »Wissensorganisator des Möglichen« (S. 69) bezeichnet. Originell ist Kappelers Beobachtung, dass diese Organisationsformen auch geschlechtliche Konnotationen aufweisen, was ihn zu der Schlussfolgerung führt, dass Ulrich als Generalsekretär der Parallelaktion ein neueres Modell »hegemonialer Männlichkeit« (S. 70) repräsentiere. David Wachter geht in seinem Beitrag zur Poetik funktionaler Gesellschaftsorganisation im Mann ohne Eigenschaften davon aus, dass der für diesen Roman fundamentale Möglichkeitssinn ein Spiel betreibe, das sich die Potenziale sozialer Regulierungstechniken aneigne und diese zugleich dekonstruiere. Eine spezifische Stärke von Wachters Beitrag besteht darin, deutlich zu machen, dass Musils Roman zeitgenössisches Disziplinierungs-, Organisations- und Regulierungswissens nicht nur aufgreift oder gar affirmiert, sondern vielmehr an seine Grenzen führt. Damit rücken die spezifisch literarischen Möglichkeiten einer Aneignung von »Wissensformate[n]« (S. 76) in den Blick, was etwa anhand des Ingenieurwesens evident wird, das im Mann ohne Eigenschaften als »Phantasie[n] eines noch etwas ungestümen jungen Mannes« (S. 83) eingeführt und dadurch ironisiert wird. Der erste Abschnitt endet mit einer Lektüre von Kafkas Das Schloss, die besonders die Figuren Hans und Otto Brunswick unter die Lupe nimmt:
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Malte Kleinwort, der davon ausgeht, dass in Kafkas früheren und späteren Texten je unterschiedliche Formen von Macht verhandelt würden, erkennt in der Figur des eigentümlichen Hans die Darstellung einer »neue[n] Form von Subjektivität« (S. 107), wie Foucault sie analytisch entfaltet. Die dieser Beobachtung übergeordnete Prämisse ist, dass Kafkas Text »Strategien des Lebens und Überlebens in einer verwalteten Welt« (S. 93) aufzeige und diese narrativ erkunde. Alle Beiträge des ersten Teils kehren also Verbindungen hervor zwischen Texten der Zwischenkriegszeit und Foucaults Reflexionen zur Regierungsthematik aus den Jahren 1978/79. Diese Verbindungen werden als Denkfigur (Largier), als literarische Figur (Wachter) oder als Wissensdiskurs (Kappeler, Wachter) auf je verschiedenen Ebenen angesiedelt. In allen Fällen handelt es sich um (Re-)Lektüren paradigmatischer Texte der Moderne im Lichte dieser Foucault’schen Überlegungen. Der zweite Teil, Verworfene Selbstentwürfe, eingeleitet von Karin Harrasser, greift die von dem französischen Philosophen im Kontext der Vorlesungen zur Gouvernementalität angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Herrschaftstechniken und Praktiken des Selbst auf und verbindet diese teilweise mit der Darstellung von und Arbeit mit dem Körper innerhalb der Kunst des 20. Jahrhunderts. Wolfgang Paternos Beitrag widmet sich der Figur des Boxers, den er im Kontext der Sportbegeisterung während der Weimarer Republik situiert und als einen »große[n] Mann eines Volkes« (S. 120) profiliert. Der Boxring, so Paterno weiter, fungiere während dieser Zeit als ein Raum, innerhalb dessen eine vom Krieg ruinierte Männlichkeit neu erfunden werden konnte. Die Verbindung zu Foucaults Überlegungen schlägt Paterno, indem er das Boxen der Weimarer Jahre als eine Möglichkeit erachtet, neue »körperbezogene Technologien und Selbstregulierungsmechanismen zu etablieren« (S. 123), als eine Praxis also, an der gesellschaftliche Probleme der Zeit ausgetragen und abgelesen werden können. Während sich Paternos Beitrag innerhalb eines eng gefassten historischen Kontexts bewegt, versucht Kathi Hofer, sich der Thematik dieses Abschnittes anhand einer historisch weiter gefassten Konstellation zu nähern: Auf Grundlage einer Gegenüberstellung zweier Bilder von Ernst Mach (1886) und Gilles Deleuze (1994) kommt Hofer zu dem Schluss, dass erstes einen Mann ohne Eigenschaften, zweites Eigenschaften ohne Mann darstelle. Die Produktion von Bildern wird von ihr als eine politische Praxis bezeichnet, der Bezug zu den Foucault’schen Überlegungen bleibt in ihren Analysen jedoch nur implizit. Eine historisch noch weiter gefasste Linie zieht Rosemarie Brucher, wenn sie dem »paradoxen Freiheitsentwurf« (S. 151) bei Friedrich Schiller (Über das Erhabene), Michel Foucault (Vorlesungen zur Gouvernementalität) sowie in der Body Art der 1960er Jahre (Günter Brus) und der Gegenwart (STEL-
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ARC) nachgeht. Dass Freiheit stets ein paradoxes Moment miteinschließe, im Sinne einer Koexistenz von Freiheit und Endlichkeit, vermag Brucher in allen der genannten Quellen aufzuweisen, wobei sie die Body Art des 20. Jahrhunderts als eine Form der Rückgewinnung des Körpers vor dem Staat erachtet: Durch Selbstverletzung würde hier ein aktives Verfügen über den Körper wiedererlangt. Kontextuell enger gearbeitet ist wiederum der letzte Beitrag dieses Teils, in dem Dominik Maeder die zwischen 2001 und 2005 ausgestrahlte amerikanische HBO-Serie Six Feet Under analysiert. Dabei kehrt er zum einen die selbstreflexiven Momente dieser Serie hervor, verstanden als Reflexion über die Transformation des Mediums Fernsehen, zum anderen schlägt Maeder einen expliziten Bogen zu Foucault, wenn er wörtlich meint, dass die ästhetischen Verfahren dieser Serie »jenen Schauplatz [erschaffen], an dem sich die liberale Gouvernementalität der Subjektivierungsformen effektiv zur Aufführung bringt« (S. 172). Ungeachtet der enormen Bandbreite des Materials sowie der historischen Kontexte, die in diesem Abschnitt verhandelt werden, können die vier Beiträge dahingehend zusammengefasst werden, dass sie auf einer Ebene von höherer Allgemeinheit die von Karin Harrasser einleitend aufgestellte Behauptung, dass der menschliche Körper zu einem Austragungsort für politische und epistemologische Fragen werde, aufgreifen.
Der dritte Teil, Utopische Räume, eingeleitet von Ingo Lauggas, setzt mit einer Lektüre von Michael Dominik Hagel ein, der sich in seiner Analyse von Johann Karl Wezels Variante des Robinson Crusoe, dem 1779/80 publizierten Robinson Krusoe, auf die Darstellung des dort errichteten Reiches nach Robinsons Verlassen der Insel konzentriert. Wo Wezel die Geschichte von einer untergehenden Gesellschaft und einem Zustand der Regierungslosigkeit erzählt, erkennt Hagel die Abwesenheit »gouvernementalen Wissens« (S. 206) und den wörtlich »spezifischen Entwurf einer bürgerlichen Versuchsstation des Weltunterganges« (S. 206). Eine literarische Utopie im Lichte von Foucaults Vorlesungen zur Gouvernementalität untersucht auch Clemens Peck, der anhand von Theodor Herzls 1902 erschienenem Altneuland ein Lenkungsmodell profiliert, das einerseits eines Unten (der ostjüdischen Massen), andererseits einer Lenkung von Oben bedürfe, die, so Peck, an Foucaults Technologie pastoraler Lenkung erinnere. Evidenz erhalten Pecks Ausführungen dadurch, dass die Verbindung zu Foucaults Pastoralmodell aus einer genauen Analyse einzelner Geschehensmomente und Formulierungen in Herzls Utopie entwickelt wird. Christian Zemsauer unternimmt in seinem Beitrag eine Deutung der Gesellschaftsordnung in Franz Werfels 1946 publiziertem Stern der Ungeborenen und gelangt dabei zu dem Befund, dass die dort beschriebenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf Individuen und deren Körper wirk-
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ten. Das dystopische Potenzial dieses Textes, so der Autor weiter, liege darin begründet, was bei Foucault als »Bio-Macht« (S. 233) bezeichnet wird. Zemsauers Beitrag zeichnet sich durch ein besonders hohes Problembewusstsein aus, zumal er auch die Schwierigkeiten benennt, diesen literarischen Text mit Foucaults Konzept zu verbinden. Der dritte Abschnitt endet mit einem Beitrag, der sich gegenüber den anderen vom Korpus der literarischen Utopien bzw. jenem der Robinsonadenliteratur entfernt: Gegenstand von Clemens Apprichs Beitrag ist nämlich der Cyberspace, den er als einen sozial umkämpften Raum beschreibt, innerhalb dessen neue Formen der Kontrolle und des Regierens möglich würden. Als Verbindung zu den anderen stärker literaturwissenschaftlich ausgerichteten Beiträgen bleibt das von Ingo Lauggas einleitend aufgewiesene Interesse an räumlichen Strukturen und deren dystopischen Potenzialen jedoch auch in diesem Beitrag hörbar. Zu Beginn des vierten, von Sabine Müller eingeleiteten Abschnitts, Soziale und ökonomische Szenarien, steht wiederum eine Kafka-Lektüre, diesmal eine des Verschollenen, dessen Protagonist im Spannungsfeld von Eigentümlichkeit und Durchschnittlichkeit untersucht wird. Lucia Iacomella rekurriert dabei auf die Theorie der Mittelwerte des Belgiers Adolphe Quételet, besonders auf dessen Figur des »homme moyen« (S. 280). Gelesen als vermeintlicher Bildungsroman, in dem es – eben nur vermeintlich – um die Ausbildung eines besonderen Subjekts gehe, rückt Iacomella den Ort des Theaters in den Blick, der bei Kafka zu einem der sozialen Kontrolle gewandelt wäre. Auf diese Kafka-Lektüre folgt eine überaus informative Charakterisierung von Edgar Zilsels »Epistemologie der Massenerscheinungen«. Monika Wulz vermag zu zeigen, wie der österreichische Philosoph die »Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden in geisteswissenschaftlichen Disziplinen« (S. 303), also eine Verwissenschaftlichung der Sozial- und Geisteswissenschaften, fordere und epistemische Gegenstände dadurch als wandelbare und provisorische Objekte erscheinen. Eine solche Herangehensweise ordnet Wulz als eine politische Intervention ein, zumal Zilsel diese »quantifizierbaren Veränderungen« (S. 313) gegen die ideologischen Verhärtungen seiner Zeit richte. Der letzte Teil des Bandes endet mit der Analyse einer Institution: der nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufenen Mont Pèlerin Society, die von Lea Hartung als ein »Think Tank avant la lettre« (S. 320) beschrieben wird. Hartung bemerkt, dass innerhalb dieser Institution »Wissen über und zum Regieren« (S. 319) produziert werde und anstatt direkt Politik zu betreiben die Verschiebung der Grenze zwischen möglich/unmöglich auf dem Spiel stehe. Deutlicher als der vorangegangene ist dieser Beitrag wiederum auf die den Sammelband leitenden Begriffe der Regierung, der Gouvernementalität sowie der Möglichkeit bezogen.
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Sowohl die historische Vielfalt des diskutierten Materials (Texte der Spätaufklärung, Jahrhundertwende, Zwischenkriegszeit, Literatur nach 1945, Arbeiten der Gegenwartskunst) als auch die Komplexität der in diesem Band behandelten Werke (Schiller, Musil, Mach, Kafka, Werfel, Zilsel, Deleuze u. a.) ist enorm hoch. Hinzu kommt eine Durchmischung kulturwissenschaftlich ausgerichteter Analysen, in denen bildende Kunst (Brucher), Fernsehen (Maeder) oder Aspekte des Internet (Apprich) diskutiert werden, mit solchen von literaturwissenschaftlicher Ausrichtung. Unterschiedlich gestalten sich auch die beitragsinternen Konstellationen: Sie reichen von historisch dichten Beschreibungen (bspw. Largier, Kappeler, Hagel, Peck) bis hin zu historisch übergreifenden Textgruppierungen (bspw. Hofer, Brucher). Es handelt sich – kurz gesagt – um einen Sammelband, der in verschiedener Hinsicht durch Vielfalt gekennzeichnet ist. Mit Blick darauf lassen sich abschließend zwei gegensätzliche, einander aber nicht ausschließende Positionen beziehen: Auf der einen Seite kann der Band als eine an unterschiedlichen Materialien erfolgte und ergebnisoffene Erprobung beschrieben werden, inwiefern Foucaults Überlegungen zur Gouvernementalität für eine Analyse kultureller Gegenstände erkenntnisfördernd sein können. In diesem Sinne zeigt der Band eine Reihe weiterzuverfolgender Wege auf. Auf der anderen Seite kann nicht so sehr die Heterogenität des Materials, oder die Verschiedenheit der Zugänge, sehr wohl aber die in einzelnen Beiträgen nur angedeutete Bezugnahme auf die einleitend formulierten Leitfragen als ein Mangel an Homogenität erachtet werden. Wenn Heterogenität zweifellos zu den Merkmalen des wissenschaftlichen Formats Sammelband zählt, kann das nicht davon entlasten, die Einzelbeiträge deutlicher auf die ihnen übergeordneten Fragestellungen zu beziehen und so den Zusammenhang des Buches zu stärken. Wünschenswert wäre auch gewesen, hätte dieser überaus innovative Sammelband seine eigene Position und damit eine seiner Leistungen innerhalb der literaturwissenschaftlichen Debatten stärker hervorgekehrt. Ein Mehrwert des Bandes liegt zweifellos darin, ein noch weniger aufgegriffenes Werksegment aus Foucaults Schaffen zum Ausgangspunkt literatur- und kulturwissenschaftlicher Arbeiten zu nehmen. Diese Neuakzentuierung innerhalb der von Foucault geprägten Literatur- und Kulturwissenschaften hätte eine klarere Markierung verdient. Diesen kleinen Einschränkungen gegenüber aber stehen die Originalität, die viele der hier versammelten Beiträge aufweisen, sowie die Innovationskraft des Buches insgesamt. Außer Zweifel steht, dass wer diesen Band zur Hand nimmt, eine Fülle von Anregungen finden wird, um die Möglichkeiten einer von Foucaults Konzept der Gouvernementalität inspirierten Literaturund Kulturanalyse weiter zu erkunden. Robert Leucht
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Lilith Jappe: Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im Mann ohne Eigenschaften. München: Wilhelm Fink 2011 (= Musil-Studien, Bd. 38). 472 S. € 59,–. Wenn sich Sigmund Freud literarischen Texten widmete, ging er davon aus, dass sich fiktive Figuren wie reale Personen (psycho-)analysieren lassen, mochten sie nun Ödipus oder Hamlet heißen. Eine solch naiv anmutende Umgangsweise mit dem Personal fiktionaler Texte – in der Praxis der psychoanalytischen Literaturwissenschaft bis heute häufig nur die Vorstufe zur Analyse des Autors – wurde bereits früh kritisiert, auch von Robert Musil. In seinem Nachlass findet sich der (undatierte) Entwurf einer Besprechung von Arthur Schnitzler als Psycholog, 1913 von dem Freud-Schüler Theodor Reik veröffentlicht: »Der Irrtum ist: Gestalten eines Dichters haben keine Seele. Keine kausale. Keine in sich selbst verständliche. Das ganze Unterfangen geht von einer falschen Voraussetzung aus. Personen eines Dichtwerks wie lebende Menschen behandeln ist die Naivität eines Affen, der in den Spiegel greift.«25 Dennoch machte die Vernachlässigung des Unterschieds von Realität und Fiktion auch und gerade in der psychoanalytisch orientierten MusilForschung Schule. So wurde Musils Protagonist etwa von Hans-Rudolf Schärer auf die Couch gelegt: Ulrichs im Roman beschriebenes Verhalten weise »fast lückenlos jene spezifischen Merkmale auf [. . .], die das Syndrom der ›narzißtischen Persönlichkeitsstörung‹ bilden.«26 Und Peter Dettmering kam angesichts des gegen Ende in ›Depersonalisation‹ und ›regressive Psychose‹ umschlagenden ›anderen Zustandes‹ der Geschwister aus seiner ärztlichen Sicht zu der Diagnose: »Die Aufgabe wäre wahrscheinlich gewesen, die Geschwister erneut zu trennen [. . .]«.27 Das erinnert ein wenig an jenen naiven Zuschauer, der den auf der Bühne seinem Mörder ahnungslos den Rücken zukehrenden Helden mit einem Ruf zu warnen versucht. In ihrer Dissertation Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im »Mann ohne Eigenschaften« kommt die Freiburger Germanistin Lilith Jappe am Ende zwar zu einem durchaus ähnlichen Resultat, allerdings – im Unterschied zum Gros der psychoanalytisch orientierten Musil-Forschung – von methodisch reflektierten Voraussetzungen aus. Die Hauptfigur Ulrich wird [. . .] in Hinblick auf ihre exemplarische Funktion betrachtet, nicht als individueller Fall. [. . .] Keinesfalls soll Ulrich pathologisiert wer25 26
27
KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/82. Hans Rudolf Schärer: Narzißmus und Utopismus. Eine literaturpsychologische Untersuchung zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. München 1990 (= Musil-Studien, Bd. 20), S. 14. Peter Dettmering: Narzißtische Konfigurationen in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Psyche 35 (1981), S. 1122–1135, hier S. 1134.
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den. [. . .] Der Roman wird stattdessen als eine Auseinandersetzung mit der Frage nach den Möglichkeiten von ›Identität‹, persönlichem Sein, Formen ›motivierten Lebens‹ in der Moderne in literarisch-essayistischer Form begriffen. Ulrich dient als Figur, die diese Fragen sowohl theoretisch reflektiert, als auch selbst ›durchlebt‹ [. . .]. (S. 43)
Das Thema dieser systematisch-problemorientierten Arbeit ist die Entstehung von Selbst und Identität zwischen Verschmelzung und Abgrenzung unter den spezifischen Bedingungen der Moderne in Musils Roman – fraglos ein, wenn nicht sogar das Hauptthema des Mann ohne Eigenschaften – und der daran anschließende Vergleich mit psychoanalytischen (zeitgenössischen wie aktuellen) Vorstellungen/Theorien dieser Selbst-Problematik. »Statt das Romangeschehen einer psychoanalytischen Sichtweise zu unterwerfen, wird ein Modell der Selbstkonstitution rekonstruiert, das der Roman selbst formuliert, das mit dem psychoanalytischen Modell allerdings in mancher Hinsicht vergleichbar ist.« (S. 390) Der erste Teil der Studie bietet denn auch eine durchgehend überzeugende werkimmanente Untersuchung von Musils Roman, die den MoE-Leitbegriffen ›Seinesgleichen geschieht‹, ›Eigenschaftslosigkeit‹, ›anderer Zustand‹ sowie dem Gegensatzpaar ›Liebe und Gewalt‹ folgt. Die Eigenschaftslosigkeit des Protagonisten versteht Jappe als eine Art passiver Widerstand: Ulrich weigert sich, sich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmen zu lassen, und verharrt lieber in einer Art Präexistenz. Als eine zentrale Textstelle im Roman erweist sich Musils Beschreibung des zehnten Charakters eines Menschen: »ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.«28 Auffallend für Jappe ist dabei, dass Ulrich die Vorstellung, die erstarrt erscheinende, von der Imagination verlassene Wirklichkeit aktiv verändern zu können, abzugehen scheint. Kennzeichnend für Musils Figur sei vielmehr die Angst, beim Versuch, sich auf die Wirklichkeit einzulassen, selbst zu erstarren. Das Verhältnis von Selbst und Wirklichkeit spiegelt sich in der Metaphorik von Nebel und kalten Steinmauern wider. Alternative Formen der Selbstkonstitution untersucht Jappe am Beispiel weiterer Romanfiguren, die nahezu alle (was bislang von der Forschung eher selten beobachtet wurde) ebenfalls ›andere Zustände‹ kennen, freilich mit diesen Ausnahmeerfahrungen anders umgehen als Ulrich (Hans Sepp beispielsweise baut darauf seine christgermanische Ideologie, vgl. S. 125). Im zweiten Teil des Mann ohne Eigenschaften gibt Ulrich seine Distanzierung von der Wirklichkeit auf und strebt nach einer symbiotischen Verschmelzung von Selbst und Wirklichkeit. Ulrich lässt sich gemeinsam mit seiner Schwester auf eine enthusiastische Vereinigung mit der Welt ein. »Dies lässt sich ebenso wenig [wie Ulrichs vorangegangene Distanzierung von der Realität; O. P.] als erreichte Selbstkonstitution begreifen, da in der Verschmelzung mit der Welt jegliche 28
KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/51.
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Grenzen aufgehoben werden und die Erweiterung des Selbst somit gewissermaßen einer Selbstauflösung gleichkommt. – In diesem Sinne lässt sich der andere Zustand auch als Steigerung der ›Eigenschaftslosigkeit‹ begreifen.« (S. 293) Zu den herausragenden Passagen von Jappes Arbeit gehört ihr Kapitel über das Gegensatzpaar von ›Gewalt‹ und ›Liebe‹ in Ulrichs Reflexionen: Die Autorin liefert hier einen erhellenden Leitfaden durch Ulrichs/Musils Emotionspsychologie, wie sie in den nachgelassenen Tagebuchkapiteln und in den Gesprächen mit Agathe entwickelt wird: Gefühl, Erkenntnis, Zustand (anderer und normaler Zustand) sowie Selbstliebe erscheinen demnach in Musils Roman in zweierlei Gestalt, je nachdem, ob sie sich zur Bestimmtheit (Gewalt) oder Unbestimmtheit (Liebe) hin entwickeln. Der zweite Teil von Jappes Arbeit stellt einschlägige psychoanalytische Theorien vor, die sich mit Selbst, Selbstkonstitution, Verschmelzung und Abgrenzung sowie Narzissmus beschäftigen: von den Anfängen bei Freud (primärer Narzissmus, ozeanisches Gefühl) über die Konzepte zeitgenössischer Analytiker wie Lou Andreas-Salomé, Sandór Ferenczi, Victor Tausk, Paul Federn bis hin zu neueren Theorien von Melanie Klein oder Didier Anzieu. (Unberücksichtigt bleiben allerdings Heinz Kohut, dessen Selbstpsychologie nach Jappe nicht mehr auf psychoanalytischem Boden stehe, und Lacan.) Gemeinsam sei den psychoanalytischen Auffassungen, dass, ähnlich wie in Musils Roman, für das Verhältnis von Selbst und Realität zwei gegensätzliche Erlebnisformen angenommen werden (etwa bei Freud als Gegensatz von Realitäts- und Lustprinzip), die ihren Ursprung im frühen Verschmelzungserleben von Säugling und Umwelt haben (bei Musil eher allgemein im Kindheitserleben). Allerdings unterschieden sich diese psychoanalytischen Theorien in ihrer Bewertung des ›anderen Zustands‹: Freud hatte bekanntlich gegenüber dem ›ozeanischen Erleben‹ erhebliche Vorbehalte, während viele seiner Nachfolger Erlebnissen der Verschmelzung (etwa im ästhetischen Erleben oder in der Liebe) positive Aspekte für das Individuum abgewannen. Die unterschiedliche Bewertung von Verschmelzungserlebnissen spiegelt sich auch, wie Jappe zeigt, in der psychoanalytisch orientierten Musil-Forschung wider, die Musils Konzept des ›anderen Zustandes‹ mal als Regressionsversuch pathologisiert (z. B. von Jürgen Manthey), mal positiv als Rückkehr zu einem emphatischen Weltverhältnis feiert (z. B. von Sabine Kyora). Als besonders aufschlussreich im Hinblick auf Musils Roman erweisen sich für Jappe die Selbst-Theorien der beiden Analytiker Donald W. Winnicott und Christopher Bollas: Heute geht die Psychoanalyse davon aus, dass für eine gesunde Entwicklung und Konstituierung des Selbst ein lebenslanger Austauschprozess zwischen den beiden Denk- und Erlebnisweisen ›Normalzustand‹ und ›anderer Zustand‹ Voraussetzung ist. Das vorübergehende Eingehen symbiotischer Beziehungen wechselt sich demnach mit der erneuten Grenzziehung und Unterscheidung ab, wofür ein bestimmtes Maß an (reifer) Aggression notwendig sei, so Jappe. Sei die Aggression nicht ins Selbst integriert, wie
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gerade Musils Protagonist zeige (Faszination für Moosbrugger, Verführung Gerdas), das heißt als notwendig und zulässig anerkannt, könne sie in einer abgespaltenen Form erheblichen Schaden für das Individuum wie auch für seine Umwelt anrichten. Jappes Vergleich von Roman und psychoanalytischer Theorie kommt zu dem Ergebnis einer weitgehenden Übereinstimmung, mit dem Unterschied freilich, dass Musil den nächsten Entwicklungsschritt, die erneute Trennung der Geschwister, bekanntlich nicht mehr ausgeführt hat, er aber im projektierten Scheitern des ›anderen Zustands‹ zwangsläufig angelegt sei (bei der Frage der Fortsetzung beruft sich Jappe auf die Forschungen zum Nachlass von Enrico de Angelis). An dieser Stelle stellt sich die Frage, was durch diesen Vergleich eigentlich gewonnen ist. Hätte die (durchweg vorzügliche) werkimmanente Rekonstruktion des ersten Teiles nicht gereicht? Welche Funktion hat hier der Rekurs auf psychoanalytische Konzepte? In ihrer Studie, die von Carl Pietzcker, dem Mitbegründer des Freiburger Arbeitskreises Literatur und Psychoanalyse, betreut wurde, folgt Jappe, wie eingangs gesagt, nicht dem berühmt-berüchtigten Therapiemodell, bei der Figur und/oder Autor auf die Couch des Literaturanalytikers gelegt werden. Stattdessen folgt sie einer aktualisierten Variante des (ebenfalls auf Freud zurückgehenden) Kooperationsmodells:29 Analytiker und Dichter gelten nach diesem Modell als Bundesgenossen bei der Aufklärung des menschlichen Seelenlebens. Im Unterschied zum ›klassischen‹ Kooperationsmodell, bei dem der Dichter (nur) als (unbeabsichtigt Bestätigungen liefernder) Vorläufer der Wissenschaft gilt, haben bei Jappe (unter Berufung auf Frederick Wyatt) psychoanalytische Wissenschaft und Literatur den Status gleichrangiger Erkenntnismedien, mögen sie sich auch in ihren Mitteln und Zielen unterscheiden. Interessanterweise gewinnt man als Leser aber den Eindruck, Jappes Untersuchung richte sich, ungeachtet ihres Erscheinungsortes in den »Musil-Studien«, in erster Linie an eine psychoanalytische Leserschaft. So kommt die Autorin im Vergleich von Literatur und Wissenschaft zu dem Schluss: In dieser Form der Ausgestaltung leistet der Roman etwas, was der Psychoanalyse als Theorie so nicht möglich ist. Der Vergleich mit dem Roman bietet damit auch gegenüber der Psychoanalyse eine Perspektivenerweiterung, da der Roman die beiden Erlebnismodi nicht nur sehr anschaulich in ihrem Zusammenspiel mit verschiedenen subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen darstellt, sondern sie zudem aus einer anderen Perspektive betrachtet. Der Roman erweitert die Psychoanalyse zwar nicht um ein ergänzendes Theorem, er behandelt jedoch Fragestellungen und Themen, die für die Psychoanalyse interessant sind – wie das Verhältnis von Selbst und Wirklich29
Zu den Begriffen Therapie- und Kooperationsmodell vgl. Oliver Pfohlmann: ›Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht‹? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003 (= Musil-Studien, Bd. 32), Kap. 2: Funktionen von Literaturanalysen.
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keit oder verschiedene Formen, Wirklichkeit zu erleben – auf eine andere Weise. [. . .] Eventuell lässt sich die mehr utopisch-zielgerichtete als pathogenetische Herangehensweise des Romans als eine Bereicherung auch für die Psychoanalyse betrachten. (S. 446)
Es scheint also zumindest untergründig darum zu gehen, den Wert der Literatur für die Wissenschaft herauszustellen. Dazu passt, dass die Autorin Fragen einer etwaigen Psychoanalyse-Rezeption Musils für ihren Vergleich als sekundär einstuft. So wird denn auch nur in wenigen Fußnoten auf mögliche Spuren dieser Rezeption im Roman bzw. ihren etwaigen Einfluss bei der Gestaltung des Themas Selbstkonstitution hingewiesen.30 Bedauerlich ist dabei, dass Jappe bei der Einschätzung von Musils Psychoanalyse-Kenntnissen im Wesentlichen dem ›Cremerius-Paradigma‹ folgt. Diesem in der Forschung lange dominanten Paradigma zufolge habe Musil Freuds Theorie im Großen und Ganzen abgelehnt, sich auch kaum mit ihr beschäftigt, und sofern er es doch tat, habe er seine Rezeption aufgrund seines Konkurrenzdenkens ›verdrängt‹ bzw. geleugnet.31 In Jappes Worten: »Einige seiner [Musils] Nebenbemerkungen zur Psychoanalyse zeugen [. . .] von einer eher oberflächlichen Kenntnis und teilweise auch von einem Missverstehen ihrer Konzepte« (S. 29 f.). Wäre dies anders, würde dies den behaupteten Wert des Romans für die Wissenschaft wohl auch relativieren.32 Oliver Pfohlmann
Robert Lemon: Imperial Messages. Orientalism as Self-Critique in the Habsburg Fin de Siècle. Rochester, New York: Camden House 2011 (= Studies in German Literature, Linguistics, and Culture, Bd. 101). 171 S. £ 50,– (Richtpreis). Im viel zitierten »Kakanien«-Kapitel von Musils Mann ohne Eigenschaften verweist der Erzähler auf eine relative Ambitionslosigkeit, die neben dem technischen Fortschritt besonders geeignet scheint, jenes »unverstandene« habsburgische Staatswesen retrospektiv zu skizzieren: »Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren: aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittel30
31
32
Vgl. z. B. S. 320, Anm. 5: Eine Kenntnis Musils von Lou Andreas-Salomés Aufsatz Narzißmus als Doppelrichtung (1921), der inhaltlich deutliche Parallelen zu Musils Konzept eines »anderen Zustandes« aufweise, sei »sehr gut denkbar«. Vgl. Johannes Cremerius: Robert Musil. Das Dilemma eines Schriftstellers vom Typus »poeta doctus« nach Freud, in: Psyche 33 (1979), S. 733–772. Auch in: Johannes Cremerius: Freud und die Dichter. Freiburg 1995, S. 140–185. Zur Kritik am »Cremerius-Paradigma« und seinen Folgen für die Musil-Forschung vgl. Pfohlmann: ›Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht‹ (s. Anm. 29), Kap. 2: Funktionen
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punkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes.« (MoE, S. 13) Während sich nicht zuletzt in Musils Roman gerade diese realpolitische Leerstelle als Relais kolonialer Phantasmagorien entpuppt, dient jenes Kakanien in den neueren post-colonial-studies als Beleg für eine ›andere‹ Form des Kolonialismus: Dieser Kolonialismus erschließt sich nicht in Analogie zum imperialen Machtanspruch des Britischen Empire oder Frankreichs, sondern vielmehr in Homologie. So resultiert zwar kein national-imperialer Gestus aus dem hierarchischen Verhältnis zu Übersee-Kolonien, allerdings basiert ein supranationaler Machtanspruch deutschsprachiger Eliten auf einer strukturell vergleichbaren Form der Alterität unterschiedlicher Ethnien und Nationalitäten innerhalb der k. k. Monarchie.33 In diesem kulturgeschichtlichen und theoretisch produktiven Spannungsfeld ist Robert Lemons Imperial Messages. Orientalism as Self-Critique in the Habsburg Fin de Siècle anzusiedeln. Grundsätzlich bietet sich, wie Lemon argumentiert, der Orientalismus insofern als Bindeglied zwischen dem herkömmlichen Kolonialismus und der habsburgischen Binnenvariante an, als Österreich-Ungarn und nicht zuletzt die k. k. Residenzstadt Wien lange Zeit als Übergang zwischen Okzident und Orient bzw. porta orientis verstanden wurde. Lemons nun als Buch erschienene Dissertation über koloniale Konstellationen bei Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil und Franz Kafka reiht sich damit in eine Forschungsdebatte ein, die ihren Gründungstext in Edward W. Saids nicht unumstrittener Studie Orientalism (1978)34 hat. In Anlehnung an Michel Foucault hat Said – vor allem auf britische und französische Materialien gestützt – einen westlichen Diskurs über den Orient herausgearbeitet, dessen Wirkmächtigkeit orientalische Attribute, Subjekte und Territorien überhaupt erst hervorzubringen und solchermaßen in stereotype Muster des imperialen Superioritätsanspruchs zu ordnen vermag. Zwar geht Lemon von Saids Orientalismus-Verständnis aus, wendet es jedoch bereits durch den titelgebenden Begriff der »self-critique«: Während so die erwähnte Leerstelle kolonialer Bemühungen in der Habsburgermonarchie und jene andere Form des Binnenkolonialismus bzw. das ausgewählte literarische Textkorpus der klassischen Moderne für eine geografische, kulturelle und literaturgeschichtliche Differenzierung des Orientalismus-Diskurses sorgen, folgt der Autor damit allerdings auch einer theoretischen Kritik an Saids rigidem Ausschluss von Diversität und Heterogenität im Orientalismus-Diskurs, wie sie bereits von Ziauddin Sardar, Lisa Lowe und anderen vorgebracht
33
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von Literaturanalysen; zu einer alternativen Einschätzung von Musils Psychoanalyse-Rezeption vgl. ebd., S. 364–377. Vgl. dazu etwa Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener, Clemens Ruthner (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen 2002 (= Kultur – Herrschaft – Differenz, Bd. 1). Vgl. Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a. M. u. a. 1981.
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wurde.35 Demgemäß verfolgt die Studie das Ziel, zu zeigen, »how Austrian fiction challenges the conventional post-Saidian view of orientalist discourse« (S. 3). Lemon postuliert damit eine Lektüre der Texte Hofmannsthals, Musils und Kafkas, deren »self-critique« nicht nur auf Dekonstruktionen nationaler und kultureller Identität, sondern auch auf Dynamisierungen der Opposition von Subjekt und Objekt, d. h. auf fundamentale Herausforderungen des Selbst in der Kultur der Moderne fokussiert. Am Kaufmannssohn aus Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht belegt Lemon zunächst schlüssig, dass das Phänomen »Orientalismus« im Text nicht als Positiv der Landkarte oder realpolitischer Grenzen erscheint, sondern vielmehr als eine Kopfgeburt männlichen Begehrens des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Als Beleg für diese imaginäre Disposition wird vor allem das Verhältnis des Kaufmannssohns zu Interieur und Dienerschaft herangezogen. Während der Text solchermaßen einerseits an der orientalisierenden Wahrnehmung des Protagonisten jene von Homi K. Bhabha konstatierte, kulturellen Stereotypen zugrundeliegende »Ambivalenz«36 in nuce vorführt, tritt andererseits gerade über die Orientalisierung des Umfelds ein Verlust des empirischen und sozialen Herrschaftsanspruchs ein. Der kolonial-imperialistische Diskurs verdeutliche so bis ins Bewusstsein des Kaufmannssohns, dass das Ich – mit Freud gesprochen – alles andere als Herr im eigenen Haus ist. Hier kommt schließlich Lemons Pointe der (post-)kolonialen »self-critique« zum Tragen: Denn durch ebendiese Dezentralisierung des Blicks stehen die soziale und politische Ordnung Wiens und die legitimistische Imagination des Habsburgerreichs selbst auf dem Spiel. Diese am Märchen erarbeitete Lektürefigur wird schließlich am Gedicht »Der Kaiser von China spricht« weiter zugespitzt. Der Autor stellt Hofmannsthals lyrischen Monolog dabei in die Tradition Börnes und Grillparzers, die China als satirische Metapher für Despotie und Rückwärtsgewandtheit der Habsburgermonarchie verwendeten, obwohl Hofmannsthals Einsatz des chinesischen Kaisers sowohl im sozialen als auch im epistemologischen Kontext über die politische Reichsanalogie hinausführe: Lemons Lektüre verdeutlicht, dass den auf den ersten Blick höchste Zentral- und Ordnungsmacht suggerierenden Verszeilen »In der Mitte aller Dinge / Wohne Ich, der Sohn des Himmels«37 beharrlich der Boden entzogen wird; einerseits im sozialen und ethnischen Sinn durch die Bedrohung der »unterworfnen Völker, / Völker immer dumpfern Blutes«, andererseits 35
36 37
Vgl. Ziauddin Sardar: Orientalism. Philadelphia 1999; Lisa Lowe: Critical Terrains. French and British Colonialisms. Ithaca 1991, und zuletzt Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin, New York 2005 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 35). Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000 (= Stauffenburg discussion, Bd. 5), S. 99 ff. Hugo von Hofmannsthal: Der Kaiser von China spricht, in: ders.: Gedichte. Dramen I. 1891–1898. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979 (= Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 50–51, hier S. 50.
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epistemologisch dadurch, dass (»Bis ans Meer, die letzte Mauer, / Die mein Reich und mich umlagert«38 ) das lyrisch-koloniale Ich am Ende selbst umgeben, nachgerade eingeschlossen wirkt und durch das »mich« schließlich nicht als ordnendes Subjekt, sondern als angeordnetes Objekt erscheint. Dass sich damit die ethnisch-nationalistischen und sozialen Konflikte der Donaumonarchie wie die von Ernst Mach postulierte »Ich-Krise« gleichermaßen in den Text reklamieren, kommt Lemons Ausführungen zugute, umschifft der Autor dadurch doch gekonnt die literaturgeschichtlichen Gemeinplätze. Während die Bedingungen und textuellen Praktiken postkolonialer Selbstkritik im Hofmannsthal-Kapitel aufgeschlüsselt werden, dient Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß im Folgenden der Erprobung und weiteren Differenzierung. In Absetzung von älteren ideologiekritischen und postkolonialen Lektüren von Musils Roman versucht Lemon zu zeigen, how the novel probes rather than promotes both the notion of Austro-German supremacy and the assumption that the West stands for a healthy rational and orientalist superiority and the East for its antithesis. [. . .] the novel in fact undermines pretensions to cultural superiority by delving into the psychosexual mechanisms of fantasy and repression behind Törleß’s response to alterity. (S. 54)
Am deutlichsten wird dies wiederum an einer Inversion des kolonialen Blicks bzw. der orientalistischen Konsumption von Landschaft und ›anderen‹ Frauen. So wartet Törleß beim voyeuristischen Blick in einen der slawischen Bauernhöfe auf »ein Erlebnis, das in irgendeiner noch ganz unklaren Weise mit den schmutzigen Kitteln der Weiber, mit ihren rauen Händen, mit der Niedrigkeit ihrer Stuben, mit . . . mit einer Beschmutzung, an dem Kot der Höfe . . . zusammenhängen müsse . . .« (GW II, S. 18) Lemon liest diese Passage als Gegenbild zur imperialistischen Besetzung durch den kolonialen Blick, da Musils Text dieses Schema umkehre: Nun ist es der westliche Protagonist, der von der ›östlichen‹ Szene konsumiert und ergriffen werden will. Im Gegensatz zu Hofmannsthals Einsatz der postkolonialen Selbstkritik erweist sich Musils erzählerische Anlage des Adoleszenzromans als Medium, in dem die koloniale Imagination auf die Ebene des sexuellen Begehrens und der Fetischisierung transferiert wird. Aus dieser Perspektive werden nun auch die postkolonialen agencies im Text figurativ fassbarer als bei Hofmannsthals empiriokritizistischer Dezentralisierung der Wahrnehmung: So zeigt Lemon am Beispiel Bozenas schließlich, wie Musils Text die mährische Prostituierte zur Trägerin eines Gegendiskurses macht, dessen soziale Kritik die kulturellen Stereotypen mehr als herausfordert. Beinahe die Hälfte des Buches widmet sich Franz Kafkas Prosa, zunächst den Prosastücken »Betrachtung eines Kampfes«, »Jackale und Araber« und »In der Strafkolonie«. Während die Formel der »self-critique« verstärkt die Ambivalenz der erzählerischen Konstruktion der »Jackale« markiert – in 38
Hofmannsthal: Der Kaiser von China spricht (s. Anm. 37), S. 51.
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der Forschungsliteratur oft eindimensional als Trope für das Judentum gehandelt –, fördern Lemons Ausführungen zu »Betrachtung eines Kampfes« zum Teil überraschende Bedeutungsebenen zutage: Ausgehend von der Figurendarstellung und -rede des »Dicken« aus Kafkas Fassung A beschreibt Lemon Kafkas literarisches Verfahren, das zwar orientalistische Stereotypen bereitstellt, gleichzeitig allerdings jene Figuren und Motive, die orientalische Alterität verkörpern, als Emanationen okzidentaler Fantasie dekuvriert. Dabei verfolgt der Autor die Spur zu chinesischen Porzellanfiguren und einem japanischen Holzschnitt, auf die sich Kafkas beleibte Figur beziehen lässt: »As an amalgam of China and Japan, Taoism and Buddhism, the figure of the Fat Man reflects ironically on the Western tendency to disregard important cultural differences in the production of a homogenized Orient.« (S. 85) Mit Kafka kommt nun auch jene wissenschaftliche Disziplin zu ihrem Auftritt, die bei den Passagen zu Hofmannsthal und Musil seltsam abwesend erscheint: die Ethnologie. Allerdings darf man auch an dieser Stelle keine wissensgeschichtliche Vertiefung erwarten – institutionelle Bestrebungen in der Donaumonarchie wie etwa das »Kronprinzenwerk« oder die »Völkerschauen« stellen keine extra-diegetischen Referenzen der Studie dar, vielmehr argumentiert Lemon auch hier vor allem textorientiert. Es geht grundsätzlich um das Interaktionsproblem des ethnologischen Beobachters, das der Autor vor allem in der Lektüre von »In der Strafkolonie« entdeckt. Davon ausgehend kann die ethische Involvierung des »Forschungsreisenden« in die primitiven Verhältnisse der französischen Strafkolonie allgemein als Vexierbild und Auflösung der Okzident/Orient-Dichotomie gelesen werden: Die westliche Strafkolonie weist einerseits klischierte Charakteristika primitiver Lebensformen auf, andererseits fungiert diese Imagination als Spiegel auf die eigene, westliche Welt. Während dieser Teil des Buchs allgemein die diskursiven Begründungszusammenhänge westlicher Perzeption und Epistemologie problematisiert, schließt sich in einem letzten, weiteren Kapitel zu Kafka, genauer zu »Beim Bau der chinesischen Mauer« und »Ein altes Blatt«, der Kreis zum ›selbstkritischen‹ Ausgangspunkt bei Hofmannsthals »Der Kaiser von China spricht«: »In both ›Beim Bau der chinesischen Mauer‹ and ›Ein altes Blatt‹ Kafka [. . .] questions both the project of orientalism and his own fictional depiction of China.« (S. 141) Solchermaßen erscheint auch die Österreich-China-Analogie aus der Perspektive der »self-critique« weniger als politische Satire, denn als politisch imaginäre Introspektion des »habsburgischen Mythos« (Claudio Magris). Wenn Robert Lemon mit der Formel »Orientalism as Self-Critique« auch eine theoretisch äußerst fruchtbare Figur gefunden hat, sich einerseits der österreichischen Literatur der Moderne zu nähern und andererseits Saids Orientalism zu problematisieren (und kritisch fortzuschreiben), fällt doch bei zunehmender Lektüre auf, dass die Literatur hier als souveräner Metadiskurs etabliert wird. Dies fördert zwar im Rahmen ästhetischer Kategorien und
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genauer Textlektüren einen hohen Erkenntnisgrad, wird allerdings dort zum Problem, wo dieser literarische Diskurs (vorbei an Fragen nach Autorschaft oder dem Verhältnis von politischem, wissenschaftlichem und literarischem Feld) bruchlos mit der biografischen Person von Autoren kurzgeschlossen wird. So zeigen möglicherweise auch die untersuchten Texte selbst angesichts des von Lemon herausgearbeiteten Reflexionspotentials ambivalentere Verstrickungen in kolonialistische Diskurse. Dieser Einwand soll allerdings keineswegs die Leistung des Buchs verdecken. Vielmehr kann der in der konsequenten Lektüre aufgezeigte Metadiskurs wiederum als Aufforderung zur weiteren historischen Differenzierung verstanden werden. Clemens Peck
Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20). 1216 S. € 98,–. Norbert Christian Wolfs erstes Anliegen ist es, eine neue Sicht auf Robert Musils bereits vielfach interpretierten Roman Der Mann ohne Eigenschaften zu geben und dabei nicht etwa nur einzelne Aspekte zu beleuchten, sondern vielmehr eine neue Gesamtinterpretation vorzulegen. Angesichts der Fülle der vorhandenen Untersuchungen zu Musils wichtigstem Werk einerseits und dem Volumen von Musils Roman andererseits, scheint es nicht erstaunlich, dass Norbert Christian Wolf mit seiner im Jahr 2011 veröffentlichten, insgesamt ca. 1200 Textseiten umfassenden Habilitationsschrift eine nicht weniger umfangreiche Untersuchung vorgelegt hat. Allgemein vorteilhaft wirkt sich dabei Wolfs stringente, immer nah am Primärtext vollzogene Arbeitsweise aus, bei der er mit der gesamten Fülle von Musils Textdokumenten – von den Nachlass-Mappen bis zu den Essays – arbeitet. Als erster Vertreter der Musil-Forschung nutzt Norbert Christian Wolf in seiner Interpretation den Ansatz des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002) und beweist damit – durch zahlreiche Verweise auf dessen Schriften – eine tiefgehende Kenntnis der Methodologie Bourdieus. Wolf greift dabei nicht auf die bekanntere Feldtheorie zurück, sondern auf eine spezielle Form von Bourdieus Ansatz – die Sozioanalyse. Beide Theorien unterscheiden sich durch ihren Blickwinkel. Während die Feldtheorie den literarischen Text aus den Strukturen des sozialen (oder literarischen) Feldes erklärt, leitet die Sozioanalyse die strukturelle Beschaffenheit des Sozialen aus dem literarischen Text her.39 Ein abschließender Teil ergänzt diese Sichtweise 39
Vgl. S. 43: »Im Unterschied zur allgemeinen soziologischen Feldtheorie Bourdieus erklärt diese Methode der Interpretation von Erzähltexten [. . .] das einzelne künstlerische Produkt
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wiederum durch eine Analyse der Entstehungsbedingungen des Romans in seinem literarischen Feld (s. Teil III). Eine der Grundannahmen der Analyse ist die »strukturelle Homologie zwischen den Musil’schen Romanfiguren und ihrem jeweiligen sozialen Feld« (S. 298). Norbert Christian Wolfs titelgebender Ansatz, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion zu lesen, muss daher auch auf der Annahme einer vom Autor intendierten sozialen Analyse basieren.40 Eine Aufwertung der sozialen Wirklichkeit ist demnach entscheidend für Norbert Christian Wolfs methodischen Ansatz. Er verankert die Interpretation des Mann ohne Eigenschaften wieder stärker in seinem historischen und sozialen Umfeld, indem er sagt: »Musil zufolge muss die Wirklichkeit selbst jenseits aller innerdiegetischen Motivierung singulärer Realitätsverweigerung als eigentlicher Reflexionsgegenstand des Romans erscheinen« (S. 207). Norbert Christian Wolf distanziert sich daher vorsichtig von poststrukturalistischen Deutungsansätzen, ohne sich jedoch explizit von ihnen zu verabschieden. Bereits vorhandene Forschungspositionen klammert er in seiner Untersuchung nicht aus, sondern diskutiert – sozusagen en passant – die wichtigsten Stationen und Ansätze der Musil-Forschung seit ihren Anfängen. So betont er beispielsweise einleitend, dass er den Mann ohne Eigenschaften zwar nicht als »Diskurs-Enzyklopädie«,41 aber »als Enzyklopädie zeitgenössischer sozialer Praktiken, welche die Diskurse begleiten« (S. 29), interpretiert. Von radikalkonstruktivistischen Sichtweisen auf den Mann ohne Eigenschaften grenzt er sich jedoch ebenso ab (S. 267) wie von einer »zu einseitigen Betonung der Autoreferenzialität von Literatur« (S. 278).
I. Die Untersuchung ist in drei Hauptteile gegliedert, die nun einzeln dargestellt werden sollen: »Teil I: Grundlegung«, »Teil II : Romantext als Kräftefeld« und »Teil III : Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors«. Die Ausführungen, die Norbert Christian Wolf im einleitenden »Teil I: Grundlegung« macht, sind nur in Bezug auf die in ihm behandelten elementaren Begrifflichkeiten Musils grundlegend. Inhaltlich setzt Wolf bei der Be-
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und seine Struktur [. . .] nicht vom Kontext des sozialen Feldes her, in dem es entstanden ist, sondern beschreitet den umgekehrten Weg: Die Struktur des Textes erhellt die ihm erkenntnislogisch vorausgehende Struktur des Feldes.« Vgl. S. 101: »Ebenso maßgeblich wie die Komponente des Sozialen ist ihr [der Lektüre des Romans als Gesellschaftskonstruktion] dessen textuelle Konstruiertheit, die – teils bewusst, teils unbewusst – durch einen selbst sozial situierbaren Autor erfolgt und zutiefst von dessen sozialen sowie intellektuellen Dispositionen geprägt erscheint.« Diesen Begriff entlehnt Wolf (S. 29, Anm. 87) von Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Uwe Baur, Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i. Ts. 1980, S. 170–197, hier S. 188.
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schreibung der für eine Gesamtinterpretation des Mann ohne Eigenschaften unerlässlichen »Basiskategorien« (S. 204) Eigenschaftslosigkeit (Gestaltlosigkeit), Essayismus und Möglichkeitssinn dort an, wo die Musil-Forschung zuvor aufgehört hat – auf einem hohen und bereits elaborierten Niveau. Der erste Hauptteil schafft eine methodische Basis und stellt zudem eine Weiterführung bereits ausdifferenzierter Forschungspositionen dar. Aufgrund seiner Feststellung, dass die Sozioanalyse in der Literaturwissenschaft noch weitgehend unbekannt sei, stellt Norbert Christian Wolf im ersten Hauptteil seiner Arbeit die Theorien Bourdieus und ihre Anwendungsmöglichkeiten auf den Mann ohne Eigenschaften dar (»I.1.1 Vorstellung der Methode: Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte«), nicht ohne auch kritische Stimmen zu Wort kommen zu lassen (»I.1.2 Methodologische Einwände: Kritik der Sozioanalyse«). Den methodischen Grundlagen lässt Wolf das Kapitel »I.2 Grundlagen der Poetik Musils« folgen, in welchem er das Theorem der Gestaltlosigkeit als anthropologisches und gesellschaftliches Konzept untersucht (»I.2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften: ›Gestaltlosigkeit‹ als negative ›Anthropologie‹« und »I.2.2 ›Gestaltlosigkeit‹ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion«). Neu ist die im Kapitel »I.2.3 Medienkonkurrenz: Essayistisches vs. filmisches Erzählen (Musil kontra Balázs)« entwickelte Sicht auf die Erzählhaltung Musils. Die extradiegetische Erzählposition Musils wird hier aus einer Kontradiktion heraus diskutiert. Dabei wird das Festhalten Musils an einer vermittelnden, essayistischen Erzählinstanz aus dem Fehlen einer solchen im zur damaligen Zeit aufkommenden Stummfilm erklärt. Die Opposition Musils gegenüber dem erzählerischen Konzept der Neuen Sachlichkeit und der Filmtheorie Balázs’ (der zufolge die literarische Form der filmischen folgen solle) erklärt Wolf aus einer protektionistischen Haltung Musils gegenüber seinem eigenen Erzählstil. Im Kapitel »I.3 Grundbegriffe des Romankonzepts« begreift Norbert Christian Wolf Musils Theorem der Gestaltlosigkeit nicht nur als einen wirkungsmächtigen Mechanismus, der sich während der Entstehungszeit des Mann ohne Eigenschaften längst als soziale Wirklichkeit (Geschehenlassen, Gewähren) entpuppt hat (S. 196; vgl. das Kapitel »I.3.1 Eigenschaftslosigkeit«). Er stellt sich darüber hinaus auch die Frage, was aus dem kritischen Projekt eines »Lebens ohne Eigenschaften« auf dem Prüfstand der Lebenswirklichkeit eigentlich werden kann. Norbert Christian Wolf versucht die Konsequenzen eines neuen Menschen ohne Eigenschaften zu denken und diese Konsequenz auf die Position Musils zurückzuspiegeln. Er kommt zu dem Schluss, dass Musils Konzept der Eigenschaftslosigkeit kein System im Sinne einer planbaren Psychotechnik darstellt. Er rettet damit Musils Utopie vom neuen Menschen vor der Fatalität eines reinen Ordnungskonstrukts und schließt zudem aus, dass Eigenschaftslosigkeit als »gangbare politische Alternative erwogen worden sein soll« (S. 199).
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Auch Musils Essayismus attestiert Norbert Christian Wolf eine »zukunftsoffene und antitotalitäre Struktur« (S. 257) und bewahrt ihn damit davor, als neue Ordnungsstruktur missverstanden zu werden, welche lediglich eine Totalität gegen eine andere ersetzt (vgl. das Kapitel »I.3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus«). Vielmehr stellt Wolf Musils Essaykonzept als »Partiallösung« (S. 255) in den Vordergrund, welches sich jeglichem (politischen, sozialen, poetologischen) Totalitarismus entzieht. Zudem verbindet er den Essayismus mit einer weiteren zentralen Dichotomie Musils – mit dem (nur scheinbaren) Gegensatz zwischen Genauigkeit und Seele. Verstand und Gefühl, so Wolf, seien im Essay so miteinander verknüpft, dass beide Konzepte sich gegenseitig in Frage stellten.42
II. »Teil II : Romantext als Kräftefeld« bildet mit knapp 840 Seiten den umfangreichsten Teil und gleichzeitig den Beginn der eigentlichen Textinterpretation. Zu Beginn dieses Abschnitts (»II .1 ›Versuchsstation des Weltuntergangs‹: Chronotopos und sozialer Raum«) widmet sich Norbert Christian Wolf anhand des programmatischen ersten Kapitels des Mann ohne Eigenschaften zunächst einer Einordnung des Romans nach Michail Bachtins Begriff des »Chronotopos«. Dabei untersucht er den konkreten physischen Raum des Romans (»II .1.1 Selbstreferenzialität und Außenreferenz: Das Eingangskapitel« und »II .1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell«) und geht anschließend zum sozialen Raum über (»II .1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften«). Die Theorie Bourdieus lässt Wolf dabei immer wieder in die Erläuterungen einfließen, so dass sowohl das Romangeschehen soziologisch erläutert als auch eine weiterführende methodische Einführung für die Hauptteile der Untersuchung gegeben wird (»II .2 ›Zeitfiguren‹ 1913/ 1930 ›am gesellschaftlichen Schachbrett‹: Kapitalausstattung und Habitusbildung« und »II .3 ›Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft‹: Konstellationen und Interaktionen«). Wie Wolf ausführt, wird die Zeit des Geschehens (1913) schon recht früh benannt, während die Benennung der für die Einordnung des Romangeschehens nicht minder wichtigen Ortsangabe im ersten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften etwas zurück steht. Bekanntermaßen stammt in Musils Auffassung die »Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, [. . .] aus der 42
Vgl. S. 229: »Diesen Worten lässt sich wiederum entnehmen, dass Musil den Essayismus auf keinen der beiden Pole ›Verstand‹ oder ›Gefühl‹ festlegen will, sondern sie so miteinander verknüpft, dass jeder den jeweils anderen in Frage stellt. [. . .] Die essayistische Lebens-, Reflexions- und Darstellungsweise Musils orientiert sich nicht nur an den topischen negativen Leitbildern Antisystematik und Antiideologie, sondern auch am Ziel einer Aufhebung des traditionellen Gegensatzes zwischen Gefühl und Verstand.«
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Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte«.43 Dass die Benennung des Ortes trotzdem von einiger Wichtigkeit für sein Romankonzept sein muss, zeigt Wolf sehr einleuchtend an den zentralen Topoi des Romans: der »Reichshaupt- und Residenzstadt Wien«44 und »Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat«.45 Wolf wird seinem Ansatz gerecht, die weitere Untersuchung immer wieder auch auf die zentralen Themen Musils (Eigenschaftslosigkeit, Gestaltlosigkeit) zu beziehen, indem er eine Verbindung zwischen der exemplarischen Ortswahl und diesen poetologisch so wichtigen Konzepten herstellt. Damit arbeitet er gleichzeitig dem Titel »Kakanien als Gesellschaftskonstruktion« zu. Kakanien als Staat und Wien als dessen Hauptstadt seien in besonderem Maße selbst charakter- bzw. eigenschaftslos, da sich in diesem Staatsgefüge über Jahrhunderte die verschiedensten Ethnien, Kulturen und Nationen versammelt und gegenseitig beeinflusst hätten. Wien habe seine charakteristische Prägung daher nicht selbst hervorgebracht, sondern »von außen erhalten« (S. 271). Daher biete sich die Hauptstadt Kakaniens als »Handlungsort eines Romans, der sich in seiner programmatischen Aufwertung von Relativität und Kontingenz auf die Anthropologie der ›menschlichen Gestaltlosigkeit‹ stützt« (S. 270), nahezu an. Mit Bourdieu geht Wolf davon aus, dass es eine »strukturelle Homologie zwischen den individuellen Habitus und ihrem sozialen Feld« (S. 282) gebe. Kakanien sei sowohl durch seine multi-ethnische, multi-nationale Vergangenheit als auch durch die Ambivalenz hinsichtlich des eigenen Selbstverständnisses ein »staatsgewordenes Musterbeispiel innerer ›Eigenschaftslosigkeit‹« (S. 287). Als solches befinde sich Kakanien ebenso »als Ganzes in einer strukturellen Homologie zur männlichen Hauptfigur des Romans« (S. 283). Der soziale Raum – so Wolf weiter – bestimme sich nach Bourdieu nicht wie der physische Raum durch eine Unterscheidung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, sondern durch gegenseitige Ausschließung bzw. Distinktion der ihn bildenden Positionen. Im sozialen Raum bildeten sich Strukturen heraus, die sich durch ihre relative Stellung und die Distanz gegenüber anderen Orten bestimmen.46 Darüber hinaus definiere sich der soziale Raum über die in ihm wirkenden verschiedenen Arten des Kapitals,47 weshalb Wolf anhand dieses Begriffs »die [im Mann ohne Eigenschaften] durchaus vorhandene soziale Topographie, in der sich zentrale textkonstitutive Distinktionsbildungen niederschlagen« (S. 303), abbilden möchte. Unter den Kapitalbegriff 43 44 45 46
47
KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/10. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/10. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/47. Vgl. Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt a. M., New York 1991, S. 26–34, hier S. 26 (zit. nach Wolf, S. 302). Vgl. Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum (s. Anm. 46), S. 28 (zit. nach Wolf, S. 308).
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subsumieren sich sowohl das ökonomische als auch das kulturelle, soziale und symbolische Kapital. Als ergänzende Analysekategorie zieht Wolf Bourdieus Feld der Macht heran (S. 311). Das Feld der Macht ist dabei nach Bourdieu das Feld, in dem sich jene Personen und Institutionen bewegen, die auch tatsächlich mit den richtigen Kapitalien ausgestattet sind, um in den jeweiligen Feldern die dominierenden Positionen zu besetzten.48 Da nun der Mann ohne Eigenschaften hauptsächlich mit Figuren agiert, die sich in eben diesem Feld der Macht bewegen und demnach mit den nötigen Kapitalien ausgestattet sind (bspw. Graf Leinsdorf in Bezug auf politische und ökonomische Macht, Sektionschef Tuzzi in Bezug auf politische Macht), erscheint diese methodische Konsequenz durchaus folgerichtig. Im Kapitel »II .2 ›Zeitfiguren‹ 1913/1930 ›am gesellschaftlichen Schachbrett‹: Kapitalausstattung und Habitusbildung« wendet Wolf die zuvor dargelegte Methode konsequent auf einzelne Figuren an, während in »II .3 ›Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft‹: Konstellationen und Interaktionen« Figurenkonstellationen in den Vordergrund treten. Die Figuren und Konstellation des Mann ohne Eigenschaften – und nicht etwa nur die, die im Zentrum der Erzählung stehen – untersucht er jeweils auf ihre Position im Feld der Macht, beschreibt ihr jeweiliges Kapital und skizziert die Konsequenzen, die für den Habitus der Figuren im Roman daraus entstehen. Es gelingt Norbert Christian Wolf dabei, konsequent und nachvollziehbar zu argumentieren; eine Argumentation, die durch die vielfache Einfügung von Zitaten sowohl nah am Primärtext arbeitet als auch die methodische Grundlage – die soziologische Theorie Bourdieus – in Zitat oder Referatsform immer wieder einfließen lässt. Besonders gut lässt sich Wolfs Vorgehensweise an der Figur Dr. Paul Arnheim illustrieren, zumal »[ü]ber Arnheims soziales Erbe und Kapitalausstattung [. . .] so ausführlich wie bei keiner anderen wichtigen Nebenfigur des Mann ohne Eigenschaften berichtet« (S. 414) wird. Aus diesem Grund wird hier – in aller Kürze – die Sozioanalyse dieser Figur exemplarisch skizziert. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf der Untersuchung und Herleitung des Zusammenspiels verschiedener Kapitalien liegen.49
48
49
Mit Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999, S. 342, definiert Wolf (S. 312) dieses Macht-Feld als einen »Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteuren oder Institutionen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, über das Kapital zu verfügen, das dazu erforderlich ist, dominierende Positionen in den unterschiedlichen Feldern [. . .] zu besetzen.« Darüber hinaus nimmt Wolf weitere spezialisierte Analysen des Romangeschehens und der Figur vor. Dabei wird u. a. Arnheims »Metaphysik des Besitzes« mit der romantheoretischen Grundkomponente der Eigenschaftslosigkeit in Beziehung gesetzt (S. 435–439), Arnheim als »Vertreter des (besitz)bürgerlichen Leistungsprinzips« (S. 443) identifiziert und seine Auffas-
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In Bezug auf Arnheim, so betont Norbert Christian Wolf im einschlägigen Abschnitt aus Kapitel II .2.1 – und das ist ebenfalls wichtig für die Gesamtanalyse –, sei ihm ebenso wenig an einer Kritik wie an einer Positivierung der Figur gelegen, sondern daran, in der Untersuchung eine »möglichst genaue sozioanalytische Objektivierung der äußerst widersprüchlichen und aspektreichen Romanfigur« (S. 412) anzustreben. Diese Objektivierung bringt es allerdings mit sich, dass Musils Stilmittel der Ironie, welches in großen Teilen auch für die Figur Arnheim bezeichnend ist, in der Sozioanalyse Wolfs in den Hintergrund tritt. Die eigentliche Sozioanalyse Arnheims setzt – überdies wie bei der Darstellung Ulrichs – bei seinem Vater ein. Sowohl Ulrichs als auch Arnheims Ausgangsituation im Roman ist geprägt vom Erbe des durch den Vater akkumulierten Kapitals. Während sich jedoch bei Ulrich durch das Wissen um seine soziale und ökonomische Sicherheit eine Bereitschaft und Neigung zur Negation ausbildet (S. 363), nimmt Arnheim das Erbe des Vater an und »definiert sich habituell ausdrücklich über sie« (S. 413). Arnheims Verhältnis zu seinem Vater lässt zunächst augenscheinlich – und im ganzen Gegensatz zu Ulrichs Verhalten – jedes Distinktionsbestreben vermissen (S. 417). In der Struktur der Kapitalmischung identifiziert Norbert Christian Wolf indes Unterschiede. So stellt er etwa dar, dass in Arnheims Familie zwar eine vergleichsweise größere Menge an ökonomischem Kapital über den Vater vererbt wird, dass aber im Unterschied zu Ulrichs Familie in dieser ersten Generation kaum kulturelles Kapital erworben wurde (S. 415). Erst der Sohn Paul Arnheim partizipiert an einer »privilegierten Privaterziehung«, »die ihn nicht nur kulturell, sondern auch habituell prägt« (S. 415). Dass der Vater sich nicht aus den laufenden Geschäften zurückziehen möchte, hat – wie Norbert Christian Wolf zeigt – jedoch »einschneidende habituelle Konsequenzen« (S. 421). Es macht Paul Arnheim zum »ewigen Sohn« (S. 414), der nicht vermag, sich »vom übermächtigen Vater zu befreien« (S. 422). Die Differenz zwischen Arnheim und seinem Vater kommt nicht durch einen Distinktionswillen des Sohns gegen seinen Vater zum Ausdruck, sondern dadurch, dass der Vater das erworbene kulturelle Kapital seines Sohns in geschäftlichen Belangen nicht anerkennt (S. 422). Arnheims Credo, »Ideen in Machtsphären zu tragen«,50 oder schlicht die Verbindung der Dichotomie »Besitz und Bildung«, leitet Wolf aus eben diesem habituellen Generationenkonflikt her (S. 428), indem er Musils Erzähler mit folgendem Satz zitiert: »Es hatte für Arnheim [. . .] nie eine andere Möglichkeit gegeben, sich neben seinem Vater zu behaupten, als die von ihm gewählte, Geist, Politik und Gesellschaft in den Dienst des Geschäfts zu stellen.«51
50 51
sung der Welt als »Soziodizee«, »jener reaktionären Ansicht, die herrschende Wirklichkeit sei die bestmögliche« (S. 445), dargestellt. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/170. KA/Lesetexte/Bd. 1 MoE/876.
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Arnheim hegt geradezu einen Unwillen gegenüber der Überhöhung des ökonomischen Kapitals in seiner Familie, die Norbert Christian Wolf mit »seiner Erfahrung rassistischer Diskriminierung« (S. 425) erklärt. Dass die Familie Arnheim zur jüdischen Minorität gehört, ist in der Sozioanalyse der Figur kein unerheblicher Faktor. Arnheim verkörpere als Preuße jüdischer Abstammung in Kakanien »eine doppelte soziale Exteriorität« (S. 421) und stehe damit »überdies für die assimilatorische Strömung innerhalb des deutschen Judentums, die in der latent bis manifest antisemitischen Gesellschaft Kakaniens genauso wie im Wilhelminischen Reich mit heftigen Ressentiments zu rechnen hat« (S. 421). Durch immer wieder eingestreute Zitate nah am Text argumentierend, zeichnet die Untersuchung an dieser Stelle nach, inwiefern sich Arnheims »forcierter Aristokratismus« (S. 425) eigentlich durch die »implizite Anerkennung und Anverwandlung jener antisemitischen Stereotype, die seine eigene soziale Position gefährden« (S. 424), ergibt. Diese Autostereotypie spiegelt sich in Arnheims Ablehnung des durch den Vater erworbenen ökonomischen Kapitals gegenüber dem Kapital, das sich aus dem aristokratisch ererbten Besitz von Grund und Boden ergibt. Die Ablehnung des väterlichen Erbes und die Hinwendung zum Aristokratismus wird außerdem begründet durch eine Diskriminierung, die sowohl Arnheim als auch sein biografisches Modell Walther Rathenau, schmerzlich erfahren: der Ausschluss von der militärischen Laufbahn aufgrund der jüdischen Abstammung (S. 425 f.). Aus Arnheims vertrackten familiären Strukturen, welche die Basis für Arnheims Dasein als »schreibender Großindustrieller« legen, ergibt sich allerdings ebenso die habituelle Grundlage für Arnheims sozialen Erfolg und seine Berühmtheit: »Entscheidend für Arnheims öffentliche Reputation« – so Norbert Christian Wolf – »ist demnach die einzigartige Verbindung von unermesslichem Reichtum, ostensibler Kultiviertheit und schriftstellerischer Produktion in einer Person« (S. 435). Mit anderen Worten: Das ererbte ökonomische Kapital, gepaart mit der Notwendigkeit, sich gegen die väterliche Ablehnung des (durch sein Studium) erworbenen kulturellen Kapitals mit Hilfe der ideellen Verbindung von »Besitz und Bildung« zu erwehren, legt den Grundstein für den Erwerb von nicht unerheblichem sozialem Kapital und die Vermehrung des eigenen ökonomischen Kapitals. Arnheims soziales Kapital öffnet ihm die Türen zur Parallelaktion und damit auch zu seiner Position als »Ulrichs Gegenspieler« im Roman.
III. Der abschließende »Teil III : Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors« besteht aus zwei Themenkomplexen: »III .1 Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld« und »III .2 Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse«. Im
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Vergleich zur vorangegangenen Analyse ist dieser Teil weniger umfangreich. Wolf selbst räumt dabei ein, dass es sich bei dieser abschließenden Untersuchung nicht um eine erschöpfende Analyse handle. Der Wechsel der Perspektive hin zur Rolle des Romans im literarischen Feld (und damit weg von der bisherigen Sichtweise) werde allerdings in Hinsicht auf eine vollständige methodische Anwendung der Theorie Bourdieus notwendig. Es soll in diesem Kapitel der Versuch unternommen werden, in umgekehrter Weise zum Vorangegangenen, den Roman aus Musils persönlichem Habitus und seiner Position im literarischen Feld zu erläutern (S. 1100). Aus heuristischen Gründen beschränkt sich Wolf dabei auf zweierlei: zum ersten auf eine Darstellung der zeitgenössischen literarischen Strömungen und Vertreter und auf die Positionierung Musils ihnen gegenüber (III .1.1); zum zweiten auf Textdokumente und Sprachstilanalysen, welche ebenfalls auf Distinktionen Musils gegenüber dem zeitgenössischen literarischen Feld schließen lassen (III .1.2). Wolf geht von zwei antagonistischen Positionen im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit aus und demnach von einem Konflikt »zwischen (radikal)pazifistischen und gewaltverherrlichenden Schriftstellern« (S. 1103).52 Anhand zahlreicher Belege aus dem Nachlass und verschiedener Essays kann Norbert Christian Wolf nachvollziehbar und schlüssig zeigen, dass Musil sich zwar dieser bipolaren Struktur der zeitgenössischen Literatur bewusst ist, dass er sich aber – erwartungsgemäß – zu keinem der beiden Lager bekennt. Er vollziehe vielmehr einen »doppelten Bruch« (S. 1118) mit beiden Strömungen, der sich letztlich – und hier steckt der Kern der Analyse des literarischen Feldes – auch auf das literarische Programm des Mann ohne Eigenschaften ausgewirkt habe (S. 1119). Durch diesen Bruch habe sich Musil als Vertreter einer intellektuellen Avantgarde positioniert und gleichzeitig eine neue Position im literarischen Feld etabliert (S. 1125 f.).53 Auch die Stilistik Musils sei – so Wolf – auf einen Bruch mit dem zeitgenössischen literarischen Feld zurückzuführen: »Erst aus ihrer spezifischen Verknüpfung, einer einzigartigen Konstellation von Distinktionen, ist – so eine zentrale These der vorliegenden Arbeit – das charakteristische Erzählprogramm des Mann ohne Eigenschaften differenziell herzuleiten – und damit auch seine ästhetisch distinkte ›Erzeugungsformel‹« (S. 1142). Als besonders zentral wird dabei Musils Vorhaben, einen ›denkenden Menschen‹ (S. 1143) zu erzählen, dargestellt. Dieses »Projekt« begründe »neben der Tech52 53
Beispielhaft für die Vertreter des pazifistischen Lagers gilt dabei Franz Werfel; zum gewaltverherrlichenden Lager etwa Ernst Jünger. In Abgrenzung zu beiden Antagonismen verfolge Musil eine Denkfigur der »negativen Anthropologie«, indem er zum einen davon ausgeht, dass es sich »bei den so unterschiedlichen Ideologien des Pazifismus, des Sozialismus (bzw. Kommunismus) und des Nationalismus jeweils um ›Beschränktheiten‹« (S. 1121) handele, und zum anderen davon, dass der Mensch weder gut noch schlecht, sondern eine »liquide Masse« sei (S. 1123); vgl. dazu KA/Lesetexte/ Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Krieg und Nachkrieg (1917– 1921)/Und Nationalismus. Internationalismus.
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nik der erlebten Rede auch seinen erzählerischen Essayismus und mit ihm die tragende Rolle reflexiver Passagen innerhalb der Narration« (S. 1143). Im Sinne des Ziels, den Mann ohne Eigenschaften als Versuch einer Selbstanalyse zu verstehen, vollzieht Wolf – wiederum mit Bourdieu – eine Aufwertung des Einflusses der Schriftstellerbiografie gegenüber (post)strukturalistischen Tendenzen der Literaturkritik. Angesichts der offensichtlichen und von Norbert Christian Wolf zur Erläuterung herangezogenen Parallelen zwischen dem Protagonisten Ulrich und dem Dichter Musil scheint diese Strategie durchaus folgerichtig (S. 1154–1157). Zudem kann Wolf seine Theorie mit selbstreflexiven Passagen aus dem Nachlass zum Mann ohne Eigenschaften untermauern (S. 1157). Die ebenfalls augenscheinlichen Unterschiede zwischen Ulrich und Musil begründet Wolf mit der Strategie des Autors, in Ulrich sowohl Wunsch- als auch Gegenbild zu schaffen (S. 1159). Norbert Christian Wolf bewegt sich methodisch sicher, argumentativ an jeder Stelle durch aussagekräftige Zitate aus den Primärtexten, Essays und Nachlass-Dokumenten gestützt, durch den Mann ohne Eigenschaften. Es handelt sich bei dieser Arbeit sowohl um eine durch den soziologischen Ansatz neue als auch nahezu vollständige Untersuchung der im Roman vertretenen Figuren und Figurenkonstellationen. Obwohl Norbert Christian Wolf mit der Sozioanalyse Bourdieus eine neuartige Sichtweise einnimmt, werden bisherige Forschungserkenntnisse zu den einzelnen Komplexen in die Analyse integriert, so dass diese Arbeit durchaus dem Anspruch gerecht wird, eine Gesamtanalyse von Musils großem Roman zu sein. Johanna Bücker
Paula Böndel: Die Künstlerthematik in den frühen Romanen von Marcel Proust, Robert Musil und James Joyce. Heidelberg: Winter 2010 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 276). 434 S. € 48,–. Die Studie von Paula Böndel wurde 2001 von der Technischen Universität Berlin als Dissertation angenommen und für die Publikation »geringfügig überarbeitet«. Die untersuchten Werke sind der autobiographische Jugendroman Marcel Prousts Jean Santeuil, der unvollendet geblieben war, erst 1952 zum ersten Mal publiziert wurde und meistens nur als Vorstufe zur Suche nach der verlorenen Zeit verstanden wird, Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) und schließlich James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man (1914–1915). Eine (vielleicht zu) knappe Einleitung (S. 11–23) präsentiert den Kontext und die den drei Werken gemeinsame Jugend- und Künstlerthematik. Man
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kann sich hier schon fragen, wie Musils erster Roman als Künstlerroman gelesen werden kann: Törleß sieht aus wie ein kleiner und zukünftiger Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, der sagt, er sei von einer Frau und nicht von einem Tintenfass geboren worden. Die Untersuchung von Jean Santeuil ist die längste (187 Seiten insgesamt) von den dreien; nicht berücksichtigt wurde die Arbeit von Thanh-Van TônThat,54 die zwar erst 2012 gedruckt, aber bereits 1993 geschrieben wurde und als Mikrofilm zugänglich war. Die Verfasserin liest die Texte sehr genau und belegt ihre Aussagen mit teilweise langen Zitaten, oft von einer halben Seite. Ihre Methode bleibt aber dem Thematischen verhaftet. Im Grunde macht sie eine Art Spaziergang durch die Texte, indem sie die Jugend- und Kunstmotive in den Werken verfolgt. Dieselbe Methode findet man auch im zweiten Teil, der dem Törleß gewidmet ist (S. 213–308). Es werden nur wenige Seiten der »äußeren« und »inneren« »Disposition zum Künstler« gewidmet, was umso problematischer ist, als keineswegs feststeht, dass – wie erwähnt – Törleß Anlagen zum Künstler hat. Er scheint vielmehr wie Ulrich eher zum Denker prädestiniert. Beide Figuren träumen nie von einer Zukunft als Künstler und sie schreiben auch keine literarischen Texte. Ist in diesem Roman nicht die Neugier für Sexualität und Grausamkeit und überhaupt für alle Arten von unheimlichen und heimlichen Beziehungen zwischen dem Guten und dem Bösen, welches bisher in der kindlichen Weltanschauung scharf getrennt war, wichtiger als die Künstlerthematik? Diese »schwarze« Thematik findet sich auch in Jean Santeuil (und später natürlich auch in der Suche nach der verlorenen Zeit, mit ihrer Darstellung von Grausamkeit und Sadismus) und in A Portrait, wo sie mit dem distanzierten und ironischen »point of view of the refined Author« eng verbunden ist. Der letzte Teil der Untersuchung von Paula Böndel ist Joyces Roman gewidmet (S. 309–404). In diesem ist die künstlerische Bestimmung des Helden ebenso wie in Jean Santeuil allgegenwärtig – im Gegensatz zu Musils Roman. Die Untersuchung der Bemühungen des Helden, sich von der Außenwelt zu distanzieren, um besser schreiben zu können, werden sehr genau analysiert. So zum Beispiel, wo Stephens Schaffensprozess beschrieben wird: »Je weiter Stephens Entwicklung voranschreitet, desto weniger reagiert er auf Eindrücke, die von außen komme, und umso stärker konzentriert er sich auf seine innere Stimme.« (S. 381) Dieser Befund zeigt eine Ähnlichkeit mit einer der wichtigsten Entdeckungen des zukünftigen Schriftstellers in Prousts Jean Santeuil. Schade, dass die Autorin am Ende ihres Buches keine Synthese dieser drei sorgfältigen Studien präsentiert. Es fehlt meiner Meinung nach generell an einer synthetischen Perspektive in diesem interessanten Buch, das die drei Autoren und Werke nacheinander untersucht, ohne sie in einer systematischen Weise zu vergleichen. Es gibt 54
Thanh-Van Tôn-That: Proust avant la Recherche. Jeunesse et genèse d’une écriture au tournant du siècle. Bern u. a. 2012 (= Modern French identities, Bd. 56).
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weder präzise Analysen der Beziehungen zwischen den drei Autoren in der Einleitung, noch eine vergleichende Schlussfolgerung. Der Leser muss also die »Verwandtschaft« zwischen den drei Autoren aus den drei Abschnitten selbst konstruieren, wie die Verfasserin in der Einleitung schreibt: »Diese Vorgehensweise, einzelne Kapitel, Teilkapitel und Motive parallel zu untersuchen, ohne sie explizit aufeinander zu beziehen oder sie gar einander zuzuordnen, bietet dem Leser Gelegenheit, sich jederzeit auf die detaillierten Textanalysen der Einzelwerke zu konzentrieren, ohne dabei das Vergleichbare der drei Werke aus den Augen zu verlieren.« (S. 22 f.) Als Komparatistin ist man erstaunt zu lesen, dass detaillierte Textanalysen mit einer vergleichenden Synthese unvereinbar sind, während der Titel einen Vergleich zwischen den Romanen suggeriert. Die späte Publikation der Arbeit hätte die Möglichkeit zu einem solchen Vergleich geboten. Auch hätte die Bibliographie aktualisiert und besser präsentiert werden können. So fehlen wichtige Werke der neueren Forschung;55 diese Studien untersuchen alle Themen und Motive, über die Paula Böndel arbeitet, das heißt: den Konflikt zwischen Leben und Kunst, der Künstler als Außenseiter, »dem ein nach bürgerlichen Vorstellungen normales Leben versagt bleibt«, usw. Die Textauswahl von Paula Böndel ist originell, und das Buch bietet eine seriöse und anregende Lektüre dieser drei works in progress. Florence Godeau
Carlo Salzani: Crisi e possibilità. Robert Musil e il tramonto dell’Occidente. Bern u. a.: Lang 2010 (= Musiliana, Bd. 15). 274 S. € 78,–. Das Buch von Carlo Salzani, Crisi e possibilità. Robert Musil e il tramonto dell’Occidente, hält – so lässt sich zunächst feststellen – eben das, was sein Titel verspricht: Das dialektische Begriffspaar »Krise und Möglichkeit«, das im Zentrum dieser Arbeit über »Robert Musil und den Untergang des Abendlandes« steht, erhebt keinen besonderen Anspruch auf Originalität und Innovation. Salzanis Kommentar, der den Mann ohne Eigenschaften als Spiegel einer epochalen Krise erörtert, entnimmt seine Begriffe zum Großteil Musils Roman und stützt sich dabei auf die umfassende Diskussion der Sekundärliteratur, damit allerdings auch oft auf eine etwas überstrapazierte und zum Teil auch überholte Terminologie. Am Beispiel des großen Klassikers der Mo55
Vgl. z. B. Sébastien Hubier: Le Roman des quêtes de l’écrivain (1890–1925). Dijon 2004 (= Collection Écritures), Gerald Gillespie: Proust, Mann, Joyce in the Modernist Context. Washington 2010, aber auch ältere Werke wie die gründlichen Studien von Philippe Chardin: Le roman de la conscience malheureuse: Svevo, Gorki, Proust, Mann, Musil, Martin du Gard, Broch, Roth, Aragon. Genf 1982 (= Histoire des idées et critique littéraire, Bd. 206) und ders.: Musil et la littérature européenne. Paris 1998, letztere mit treffenden Analysen der Beziehungen zwischen Musil, Proust und Joyce.
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derne soll noch einmal Musils Antwort auf die Krise der europäischen Kultur diskutiert werden, wobei Musils Roman als Reflexionsangebot für mögliche Lösungen und Antworten befragt wird, die immer noch aktuell sein könnten. Der Mann ohne Eigenschaften stellt sich in dieser Perspektive als ein großes Affresko der Kulturkrise der Moderne dar, deren ungelöste Probleme uns heute noch betreffen. Die Kapiteleinteilung des Buches folgt der Diskussion von drei Kategorien, die im Zentrum der Untersuchung stehen: »Subjekt« (Kapitel 1), »Staat« (Kapitel 2) und »Geschichte« (Kapitel 3), Konzepte, deren Krise bekanntlich seit Beginn des letzten Jahrhunderts feststeht. Ausgehend von Musils Konzeption der Eigenschaftslosigkeit und der Gestaltlosigkeit wird so etwa zu Beginn die Krise des autonomen Subjekts diskutiert, die Auflösung des anthropozentrischen Weltbilds, die Abdankung des souveränen Ich und der Erfahrungsverlust in einer Welt der »Eigenschaften ohne Mensch«, kurz eine Problematik, die vom »unrettbaren Ich« (H. Bahr) der Wiener Moderne bis zu Musils Versuchen einer utopischen Rettung des Selbst reicht. Salzani zieht die Grundlinien nach, die seit Jahrzehnten die kulturhistorische Erzählung der Moderne und ihren Diskurs der Krise bestimmt haben und durchquert dabei die mehr oder weniger obligatorischen Topoi, die diesen Diskurs definierten, die Rede vom Tod des Subjekts und vom Ende der Geschichte, von der Krise der Teleologie und vom Zerfall der großen historischen Erzählung. Salzanis klar geschriebenes Buch liest sich als gute Einführung in einige Problemkonstanten des Musil’schen Werks und in die loci communi der Forschung, es versammelt die Mosaiksteinchen des Finis Austriae zum anschaulichen Bild einer Kulturkrise, die ihre besonderen Bedingungen in der »fröhlichen Apokalypse« (H. Broch) Wiens und im »habsburgischen Mythos« (C. Magris) ihrer Nachkommen findet. Musils »Kakanien« wird als Antwort auf diese Konstellation dargestellt. Besprochen werden dabei die verschiedenen Aspekte der typisch »kakanischen« Epochenkrise, die den Begriff der »Austriazität« als geistige und intellektuelle Kategorie hervorgebracht hat: die habsburgische Politik des »Fortwurstelns«, die Widersprüche und Kuriositäten der kaiserlich-königlichen Monarchie mit ihren barocken Anachronismen, die Masken und Fassaden der belle époque, nicht zuletzt auch die Antinomien der Seele, die sich in den Hohlräumen dieser Realität bilden, in denen der homo austriacus seine moderne Selbstentfremdung auf höchst individuelle Weise lebt. In Salzanis Arbeit zeigen sich exemplarisch – so kann man festhalten – die Möglichkeiten und Grenzen der großen kulturhistorischen Erzählung von der Krise der abendländischen Kultur, die einen Teil der Musil-Rezeption geprägt und die vor allem auch die italienische Germanistik wesentlich bestimmt hat. Die kritische Literatur kommt in dieser Arbeit ausführlich zu Wort, oft allerdings ohne der Rezeptionsgeschichte und der diachronischen
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Entwicklung der Kritik genügend Rechnung zu tragen und ohne ihre impliziten Voraussetzungen zu reflektieren. Reproduziert werden so manchmal überholte Kontroversen, die in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und in die Blütezeit der ideologiekritischen Diskurse zurückreichen; Diskussionen, die inzwischen obsolet geworden sind, so etwa die alte querelle über Musils »Konservativismus«, über seine nostalgische Haltung (C. Cases) und seine Zugehörigkeit zum »habsburgischen Mythos« (C. Magris). Was auch heute noch von den Arbeiten dieser großen Kritiker gültig bleibt, ist die Sensibilität für die spezifische Physiognomie der Epoche, für die Stimmung und Atmosphäre des kulturellen Milieus, in dem sich der Mann ohne Eigenschaften verortet, ein geistiges Ambiente, das sich dem technokratischen und futuristischen Fortschrittsdenken widersetzt. Salzani beruft sich auf den Charme des Unzeitgemäßen und die spezifisch vormoderne Sensibilität des homo austriacus und sucht in Musils charakteristischer Mischung von Sarkasmus und Melancholie, von Nostalgie und Ironie eine »kakanische« Weisheit, die auf die Probleme der posthistoire zu antworten vermag. Der Akzent liegt dabei nicht allein auf der Dekadenz und Zersetzung traditioneller Kategorien oder auf der Handlungslähmung eines ewigen Kakanien, in dem nur »Seinesgleichen geschieht«, auch nicht so sehr auf einem universalen Kakanien der Anomie, der Simulakren und der zynischen Feier einer fröhlichen Apokalypse, das sich als Postmoderne ante litteram darstellt, die Betonung liegt vielmehr auf einer ironischen Dekomposition, deren Chemie die Fermente neuer Lebensmöglichkeiten freisetzen kann. Im Versuch, die Utopie der Vergangenheit in die posthistoire zu retten, soll das Unzeitgemäße mehr oder weniger unmittelbar übergehen in eine ambigue Aktualität, in der sich Vormoderne und Postmoderne berühren. Musil – so die Hauptthese, die allerdings kaum überraschen kann – begnüge sich nicht mit der pars destruens einer Kritik der zentralen Kategorien der Modernität, das Projekt des Mann ohne Eigenschaften betreffe vor allem die Konstruktion von Möglichkeiten, keine Lösungen, sondern eine unermüdliche und offene recherche, kurz das Experiment mit dem Möglichkeitsmenschen, das heute nichts an Aktualität verloren habe. Der »Möglichkeitssinn« des Mann ohne Eigenschaften wird damit zum tragenden Konzept einer Analyse, die die Musil’sche Konzeption der Utopie für die Jetztzeit neu entdecken und fruchtbar machen will. Das vierte und letzte Kapitel von Salzanis Buch mit dem Titel Modus potentialis diskutiert in dieser Perspektive die Utopien Musils, die »Utopie des exakten Lebens«, die das wissenschaftliche Postulat der Genauigkeit auf die Gefühle übertragen will, die »Utopie der induktiven Gesinnung«, der eine »Moral des nächsten Schritts« entspricht, und vor allem die »Utopie des Essayismus«, die nicht den exakten, sondern den potentiellen Menschen ins Auge fasst und die Wirklichkeit nur als Hypothese gelten lässt. Erläutert wird, wie die jugendliche Vorstellung, »hypothetisch zu leben«, die Philosophie
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des Essayismus als kognitives und moralisches Abenteuer hervorbringt und den Mann ohne Eigenschaften auf seiner Suche nach dem »rechten Leben« weiter leitet und ihm die Richtung vorgibt. Was dem Autor dabei am Herzen liegt, ist der Essayismus als intellektuelle und existentielle Haltung, die – wie Salzani betont – keineswegs Subjektivismus bedeutet, sondern mutige und verantwortliche Übernahme der existentiellen Unsicherheit, Akzeptanz der moralischen Aufgabe der Erneuerung, die aller kritischen und ironischen Skepsis zum Trotz nicht auf die »Sehnsucht nach Totalität« verzichten will. Salzanis Erörterung der Musil’schen Utopie – nicht Inhalt, sondern »Form«, nicht Chimäre, sondern Transformation des Realen – umkreist paraphrastisch den Text des Romans. Musil kommt dabei umfassend zu Wort, ja er behält in gewissem Sinn auch das letzte Wort in einem Kommentar, der sich oft weniger als ein Nachdenken als vielmehr ein Fortdenken in vorgeprägten Begriffen darstellt und einem nicht ganz durchdachten Impuls der Aktualisierung entspringt. Zitat und Paraphrase bestimmen diesen Kommentar, in dem der Roman gleichsam zur Bibel der Moderne wird, zur Projektionsfläche intellektueller Suche und geistig-ethischer Orientierung. Wieweit kann Salzanis kulturhistorisch orientierte Forschung die Leidenschaft der Musil’schen recherche und ihr utopisches Potential wirklich erneuern? Salzani folgt Musil eine bestimmte Wegstrecke lang auf seiner Reise an den Rand des Möglichen und Unmöglichen, die die Konturen des Hohlraums der Seele als Reservoir erforscht und den Binnenraum einer weltabgewandten modernen Psyche exploriert. Klar exponiert wird die kritische Haltung gegenüber allen irrationalen und spiritualistischen Tendenzen, die den »Untergang des Abendlandes« (O. Spengler) begleitet haben und die bis in unsere Gegenwart hinein immer wieder aufblühen. Doch Musils Moral des »anderen Zustands«, die auf diese Tendenzen antwortet und die im 2. Buch des Mann ohne Eigenschaften bekanntlich ins »Tausendjährige Reich« führt, wird nur angedeutet und bleibt letztlich marginal, so auch die Liebe zur Schwester als amor sui, als traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst. Selbst wenn von der Konstruktion des Selbst als Utopie die Rede ist, vermittelt sich kaum etwas von der Magie und vom erotischen Fluidum der »heiligen Gespräche« und von der Leiblichkeit der lebendigen Worte, die das Ethos der Musil’schen Gleichnisse prägen; wenig auch von den Potentialitäten des Moosbrugger-Komplexes und vom »Ausflug ins logisch-sittliche Reich«, der den verborgenen Kern der Moral und des Bösen erkundet, um Themen wie Wahnsinn, Exzess und Gewalt einer radikalen Befragung zu unterziehen. Die Erbschaft Nietzsches, die das Romanprojekt des Mann ohne Eigenschaften in seiner Grundkonzeption entscheidend geprägt hat, wird so zwar angesprochen, meist jedoch nur in den bekannten Formeln der Nietzsche-Rezeption, in denen von der Krise der Werte und vom Nihilismus der Moderne »jenseits von gut und böse« die Rede ist. Es könnte sich dagegen gerade heute wieder lohnen, die aktuelle Tragweite dieser Philosophie auszuschöpfen, die eine der
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signifikantesten Antworten auf den »Untergang des Abendlandes« darstellt, der Salzanis Buch ja seinen Titel gibt. Nietzsches leibhaft gelebtes Denken ist mehr als Kulturkritik und Kritik der Moral, die philosophische Fabel des Zarathustra etwa inszeniert im Medium des Gleichnisses eine moderne Poiesis des Selbst, die – wie die aktuelle Diskussion zeigt – nichts mit dem Übermenschen des vergangenen Jahrhunderts oder mit der Karikatur des superman zu tun hat. Salzanis Buch ist durchaus ernst zu nehmen als Versuch, die Kategorie des Möglichen in unsere Zeit zu retten und Musils Credo zu beerben, damit auch den ethisch-moralischen Impuls einer reflexiven Poetologie, die das Leben als Literatur begreift, ja den Ernst einer Literatur, die sich als Forschungsprojekt versteht und mit der Utopie des Essayismus verbindet. Die Fragen, die dabei offen bleiben, betreffen – um Salzanis Begriffspaar noch einmal aufzunehmen – weniger die »Krise« als die »Möglichkeit«, und damit vor allem die Aktualität des Mann ohne Eigenschaften: Wieweit lässt sich das lebendige Ethos der Musil’schen recherche wirklich in die Jetztzeit übertragen? Welche Rolle kann der konstruktive Utopismus der Literatur in der heutigen posthumanistischen Massengesellschaft und Medienlandschaft spielen, in der die Physiognomie des geistigen Menschen beinahe unkenntlich geworden ist? Kann uns der Mann ohne Eigenschaften heute mehr bedeuten als das grandiose Panorama einer vergangenen Epoche, die im Labyrinth der zeittypischen Theorien und Ideologeme noch einmal ihr »geistig Typisches« an den Tag zu bringen vermochte? Was bleibt uns vom Wissen einer Zeit, das sich im Mann ohne Eigenschaften exemplarisch verdichtet und verkörpert hat in unvergesslichen Figuren wie Clarisse und Walter, Arnheim oder Diotima, deren Namen die Aura und die geistige Ambition einer ganzen Epoche wachrufen? Wieweit ist heute noch eine Konstruktion von Individualität denkbar, die ihre Fühler und Tentakel im kulturellen Panorama ihrer Zeit ausstreckt und den Anspruch erhebt, die Theorien und Diskurse einer ganzen Epoche zu erfassen? Wieweit entsprechen die Macht des Wissens und der Reflexion und die Zentralität des denkenden Menschen, die den Mann ohne Eigenschaften und die Form des essayistischen Romans bestimmen, noch der heutigen Sensibilität? Oder ist Musils extreme Differenzierung des psychischen Binnenraums schon implodiert im seelischen Infarkt der Neuronenkunde und der kognitiven Wissenschaften des homo sapiens? – Dies sind nur einige Fragen, die man an Musils Roman stellen könnte, wenn man ihn als Klassiker ernst nimmt, der zweifellos als Monument und Meilenstein steht in der Selbstreflexion der europäischen Kultur: ein großartiger Versuch, mit dem geistigen Panorama der mitteleuropäischen Kulturkrise auch den Raum einer modernen Seele und die Möglichkeiten des neuen inneren Menschen zu erforschen. Salzanis Buch liest sich als Hommage an Musils grandioses Romanfragment und mehr noch als Wunsch, dessen Credo zu beerben, als Suche nach einer modernen Weisheit, die auf die allgemeine Krise unserer Kultur Antwort geben kann.
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Die aktuelle Entwicklungsfähigkeit von Musils Utopien bleibt dabei letztlich jedoch eine offene Frage. Isolde Schiffermüller
Constanze Breuer: Werk neben dem Werk. Tagebuch und Autobiographie bei Robert Musil. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2009 (= Germanistische Texte und Studien, Bd. 82). 358 S. € 49,80. Wenn Robert Musil zuweilen bemerkte, dass sich »später einmal [. . .] Literaturhistoriker an meinen Notizen den Kopf zerbrechen« würden,56 so liegt in dieser Bemerkung nicht nur eine Anmutung an die Nachwelt. Musil selbst hatten seine Notizen schon größtes »Kopfzerbrechen« bereitet. Wobei insbesondere die neben den sogenannten »Mappen« im Nachlass aufgefundenen »Hefte«, zweitere von Adolf Frisé 1976 bzw. 1983 als »Tagebücher« zugänglich gemacht, immer wieder Musils am Mann ohne Eigenschaften sich abarbeitenden Schriftsinn herausforderten. So heißt es etwa in Heft 33, Notiz 128: Wenn es noch eine Rettung geben sollte, müßte ich wohl nicht aus diesen Heften schreiben, denn zu Ende werde ich diese Gedanken niemals führen können, ja nicht einmal zur Bedeutung; sondern ich müßte über diese Hefte schreiben, mich u. ihren Inhalt beurteilen, die Ziele u. Hindernisse darstellen. Das ergäbe eine Vereinigung des Biographischen mit dem Gegenständlichen, also der beiden lange miteinander konkurrierenden Pläne. //Titel: Die 40 Hefte. //Haltung: die eines Mannes, der auch mit sich nicht einverstanden ist.57
Schon der Titel des Schreibprojekts, der mit der durch den tatsächlichen Nachlass nicht gedeckten Zahl 40 an biblische Nöte erinnert, mag anzeigen, worauf man sich einlässt, wenn man daran geht, etwas zu tun, was Musil selbst letztendlich nicht tat – »über diese Hefte« zu schreiben. Constanze Breuer hat nun eine umfangreiche Studie vorgelegt, die das Problem der »Hefte« gattungsspezifisch zu entfalten sucht. Ausgangspunkt ist die Frage nach jener autobiographischen Gattung, die den »Heften« in Frisés bis heute maßgeblicher Edition den Namen gegeben hat: »Tagebücher«. Breuer macht die Problematik dieser Vorgabe ausführlich deutlich: der Begriff »Tagebuch« geht im Fall der Musil’schen »Hefte« nicht in der Gattungsbezeichnung auf; Musil führt in seinen »Heften« immer wieder »Tagebuch«, auch »Tagebuch«; aber »Tagebücher« im generischen Sinn sind die »Hefte« nicht. Auch »Reflexionen über das Genre«, so der Befund Breuers, sind bei Musil »kaum vorhanden«. Die Frage drängt sich nachgerade auf: Weshalb, in dergestalt auffälliger Form, durch die parallel und zeitweise syn56 57
Überliefert von Martha Musil in einem Brief an Carlo Pietzner vom 5. 7. 1942. KA/Transkriptionen/Heft 33/81.
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chron geführten »Hefte« hindurch, beschäftigt Musil wenn schon nicht das »Tagebuch« als Gattung, so doch die Idee des »Tagebuchs«. Oder anders: Was fasziniert Musil in seinem universalen Schreiblaboratorium an einer Form, die er von vornherein als die »bequemste, zuchtloseste Form«, im selben Atemzug aber auch als Instrument der »Analyse selbst« bestimmt (Heft 4, Eintrag unmittelbar vor dem 13. 2. 190258 ). Breuer argumentiert mehrschichtig. Zum einen gibt sie einen Überblick über Musils vielfältiges Changieren zwischen verschiedenen Funktionen des Tagebuchs (künstlerisch, analytisch, stilistisch, ästhetisch, memorial, introspektiv, zeitgeschichtlich, historisch etc.). Unter dem Leitgedanken des »Tagebuchs« als einem »poetischen Konzept« beschäftigen Breuer daraufhin Texte des Autors, in denen die Idee des »Tagebuchs« auf je unterschiedliche Weise kompositorisch ausagiert wird – im »Nachtbuch des monsieur le vivisecteur« etwa im Sinn einer radikalen Selbsterfindung; im »Tagebuch Hippolyte« als Protokoll einer am Kontinuum des Journals auskristallisierten Unverbindlichkeit; in der vorletzten Version der Versuchung der stillen Veronika als später wiederum verworfene Brechung durch Schriftlichkeit; im »Kriegstagebuch eines Flohs« in satirischer Absicht; schließlich in den beiden Fassungen von »Ulrichs Tagebuch« (1934 und 1937/1938), für die Breuer den Übergang von einer philosophischen Diarisierung des ›a. Z.‹, des ›anderen Zustands‹, zu einer psychologischen Deutung aufzeigen kann. Im dritten und größten ihrer Kapitel wendet sich Breuer dann wieder den mit Frisé als »Werk neben dem Werk« bezeichneten »Heften« zu, und zwar dergestalt, dass sie – hoch spannend – einzelne »Hefte« untersucht, und zwar als »Hefte«, mithin den materialen Zusammenhang der Schriftträger »Heft« interpretatorisch fruchtbar zu machen versucht. So figuriert Heft 17 unter der Rubrik »Frieden, Krieg und Mathematik«, Heft 19 unter »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«, Heft 28 unter der Rubrik »Krise des Möglichkeitsdenkens« und Heft 35 unter »Spätes Glück«; letzterem Abschnitt hat das besondere Interesse der Verfasserin gegolten; er stellt eine schöne Abhandlung dar über den »Genfer Garten« als Teil eines »Glücksdiskurses« im Spätwerk Musils (paradoxerweise ist allerdings gerade dieses Kapitel, nach all der gründlich und von vornherein betriebenen Einschreibung der diaristischen Poetik der »Hefte« in die Dialektik des großen Romanfragments, nur um den Preis einer »Intimisierung« der »Tagebuchidee« zu haben). Der eine oder andere Kritikpunkt an dieser klug konzipierten, arbeitsintensiven, sich weit in den Gegenstand versenkenden und a priori intrikaten Auseinandersetzung mit Musils »Tagebüchern« sei indes nicht unerwähnt gelassen. Dass Klaus Amanns Standardwerk Robert Musil – Literatur und Politik (2007) nicht in Breuers Buch eingegangen ist, mag mit der Ungleichzeitigkeit von akademischer Qualifikationsarbeit und deren Drucklegung zu 58
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erklären sein; den entsprechenden Passagen gereicht es nicht zum Vorteil. Manch mehr hätte man sich auch an theoretischer Trennschärfe gewünscht: Die Schwierigkeiten, die sich aus einer Verwischung von Gattung, autobiographischem Diskurs und autobiographischer Sprechinstanz ergeben, sind – bei gleichzeitiger Außer-Acht-Lassung rezenterer Literatur zum Problem – nicht durch Rekurse auf Sekundärliteratur aus den späten 50er Jahren wettzumachen (vgl. insbesondere Kapitel 4.5 zu »Tagebuch und Autobiographie«). Dass historische Probleme, die nicht zu lösen, sondern anzuerkennen sind, von der Objektebene her in eine offensive Poetologie der »Offenheit« verrutschen, ist eine Verlegenheit, die indes nicht erst diese Arbeit über Musil betrifft. Das große Verdienst des Buches von Breuer, so lässt sich abschließend festhalten, ist die Konsequenz, mit der es das Thema »Tagebuch« durch den Musil’schen Nachlass-Kontinent hindurch nachzeichnet. Es zeigt ein symbolisches Kapital der Gattung »Tagebuch« an, das Musil – abseits allen formalen Experiments – nicht umgehen wollte und »neben« oder auch: im Radius seines Romanprojekts produktiv zu machen suchte. Die schon sehr frühe Rede der »Hefte« vom »Tagebuch« als einem »Zeichen der Zeit«, die »Alles andere Unerträglich findet« (wiederum Heft 4, Eintrag unmittelbar vor dem Datum des 13. 2. 190259 ), hat das Konzept des unvollendbaren Romans wesentlich affiziert, und sei es nur durch das große Versprechen der akuten Vergegenwärtigung, das das »Tagebuch« im täglichen Datieren, diesem »Immer-wiederin-der-Gegenwart-Anfangen-Können« gibt. Arno Dusini
Jiyoung Shin: Der ›bewußte Utopismus‹ im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 619). 192 S. € 28,–. Dem Utopischen und den Utopien im Werk von Robert Musil widmeten sich in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Studien. Die südkoreanische Germanistin Jiyoung Shin nähert sich nun rund 30 Jahre nach diesem Höhepunkt mit ihrer 2007 eingereichten Dissertation Musils Mann ohne Eigenschaften noch einmal unter dieser Forschungsperspektive. Allfälligen Zweifeln an der Notwendigkeit einer weiteren Arbeit zu diesem Thema weiß Shin durch ihre differenzierte Behandlung des Utopischen und der verschiedenen Utopien in Musils großem Roman zu begegnen. Im Gegensatz zur älteren Musil-Forschung geht Shin von der These aus, dass die Utopien im Mann ohne Eigenschaften nicht in einem Konkurrenzverhältnis stehen, »sondern [dass diese] funktional aufeinander bezogen und 59
KA/Transkriptionen/Heft 4/35.
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in eine umgreifende Struktur eingebunden« (S. 17) sind. Der Vorteil von Shins These besteht darin, dass die mystischen Tendenzen im Roman mit der Forderung des exakten Denkens ausgesöhnt und die Utopien im Mann ohne Eigenschaften auf eine zentrale Perspektive ausgerichtet werden, was auch dem ganzheitlichen Verständnis des Romans und dessen Nachlass zugutekommt. Dem zentralen, dritten Kapitel (S. 119–167), in welchem Shin ihre These textanalytisch überzeugend entwickelt, gehen zwei Kapitel voraus. Im ersten Kapitel (S. 18–36) nimmt sich Shin einer Begriffsklärung an, auf welche mit dem zweiten Kapitel eine Darstellung von Musils Zeitdiagnose folgt (S. 39–118). Gemäß den theoretischen Ansätzen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlägt Shin anstatt der Rede von der ›Utopie‹ oder dem ›Utopismus‹ den Begriff des ›Utopischen‹ vor, den sie als »eine bestimmte Bewußtseinsform oder als eine bestimmte Verfahrensweise des Bewußtseins« (S. 13) versteht. Shin begreift somit das Utopische als kognitive Struktur, die »sich auch in bestimmten literarischen Phänomenen mehr oder minder intensiv manifestieren kann« (ebd.). Anhand von Karl Mannheim, Ernst Bloch und Raymond Ruyer modelliert Shin ihr Verständnis des Utopischen genauer: Das Utopische besteht zum einen aus historisch und sozial bedingten intentionalen Akten (Mannheim, Bloch) und zum anderen aus einem wissenschaftlichen Denken (Ruyer), welches das regelgeleitete Gedankenexperiment zur Bewusstseinssteigerung und zur Schöpfung von »›Alternativ-Möglichkeiten‹ zur Wirklichkeit« (S. 31) nutzt. Die historisch orientierte Begriffsklärung bereitet den Leser auf Musils Definition der Utopie vor, die nach Shin direkt an die Kategorie des ›Utopischen‹ angeschlossen werden kann: »Nach dieser Theorie der Utopie Musils sind die Utopien im Roman einerseits als die Artikulationen des ›Möglichkeitssinns‹, der als utopisches Bewußtsein im Sinne Mannheims und Blochs gelten kann, zu sehen, andererseits als gedankliches und praktisches Experimentieren mit dem Möglichen.« (S. 38) Bezüglich Shins Begriffsklärung ist allerdings zu bemängeln, dass sie die eingeführten Differenzierungen zwischen der ›Utopie‹, dem ›Utopischen‹ und dem ›Utopismus‹ im weiteren Verlauf der Arbeit zu wenig beachtet und die Begriffe vielfach synonym verwendet. Im zweiten Kapitel widmet sich Shin der Zeitdiagnose Musils im Mann ohne Eigenschaften. Nach der historischen Kontextualisierung der Unmöglichkeit des Erzählens im Mann ohne Eigenschaften und der Bestimmung von Ulrich als ›Utopisten‹ entwickelt Shin die diversen, teilweise konkurrierenden Ideologien. Die Unordnung der Zeit teilt sie sinnvoll in zwei Hauptströmungen ein: in die ›Spekulationen à la hausse‹ und die ›Spekulationen à la baisse‹. Erstere stehen für antirationalistische, mystische Denksysteme wie den Seelen- und Rassenidealismus; letztere, worunter der Kapitalismus oder die Politik zu zählen sind, verzichten geradezu auf jegliche höhere Werte und setzen auf ›Tatsachen‹.
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Shins Behandlung von Musils Zeitdiagnose besitzt die große Tugend, dass die Figuren nicht nur als Statisten dargestellt, sondern in einen funktionalen Bezug zu Ulrich und seinem utopischen Denken gesetzt werden, wodurch ein differenziertes Bild des ›Utopisten‹ Ulrich entsteht und das folgende dritte Kapitel gut vorbereitet wird. In der ausführlichen Darstellung von Musils Zeitdiagnose bleiben aber zwei grundsätzliche Fragen offen. Erstens werden die komplexen Zeitverhältnisse zwischen erzählter Zeit, Abfassungszeit und adressierter Leserschaft nicht thematisiert, was für die Besprechung einer literarischen Zeitkritik eigentlich unabdingbar ist; zweitens werden die institutionellen Strukturen nur am Rande angesprochen, obwohl diese sowohl in der Tradition der literarischen Utopien eine durchaus entscheidende Funktion einnehmen als auch im Mann ohne Eigenschaften Teil des Utopischen sind. Nachdem der ›Utopist‹ Ulrich in Abgrenzung zu ›Kakanien‹ gezeichnet ist, wendet sich Shin in ihrem Hauptkapitel den utopischen Experimenten und Bewusstseinsstrukturen im Mann ohne Eigenschaften zu. Dabei beschreibt die Autorin die Utopien nicht nur, sondern problematisiert sie in Hinblick auf Ulrichs Versuch, »eine Form der geistigen Organisation« (S. 119) zu finden. Gemäß ihrer Hauptthese, dass die Utopien funktional aufeinander bezogen und zudem durch eine utopische Bewusstseinsstruktur ausgerichtet sind, betont Shin nochmals, dass die einzelnen Utopien lediglich Teillösungen entsprechen, die erst in ihrem funktionalen Zusammenhang zu einem Ganzen werden. Grundsätzlich kann das Utopische nach Shin in zwei Utopiekomplexe aufgeteilt werden: Die ›Utopie der induktiven Gesinnung‹ und die ›Utopie des Tausendjährigen Reichs‹. Zuerst geht Shin auf die ›Utopie der induktiven Gesinnung‹ ein, die sie weiter in die ›Utopie des exakten Lebens‹ und die ›Utopie des Essayismus‹ unterteilt. Die ›Utopie des exakten Lebens‹ verlangt zum einen die Verwirklichung der »Phantasie der Exaktheit auf dem moralischen Gebiet« (S. 124) und zum anderen eine grundsätzliche Offenheit in diesen Fragen. Sowohl an die Kunst als auch an die Wissenschaft schließt sich dann die ›Utopie des Essayismus‹ an, die durch ihr schöpferisches Moment über die erste Utopie hinausgeht. Das Problem beider Utopien liegt aber nach Shin darin, dass jegliches Kriterium fehlt, welches den exakt und essayistisch operierenden Geist einschränkt. Im schlimmsten Fall endet die ›Utopie der induktiven Gesinnung‹ in einem moralischen Nihilismus, der selbst den Wahnsinn Moosbruggers gutheißen kann. Von diesem Defizit leitet Shin zum zweiten Utopiekomplex über, der sich aus der ›Utopie des motivierten Lebens in Liebe‹ und der ›Utopie des anderen Zustandes‹ zusammensetzt. Diese beiden Utopien sollen das Defizit des ersten Utopiekomplexes ausmerzen. Angesichts des drohenden Einbruchs der Beliebigkeit in die exakten Utopien formuliert Shin eine gleichermaßen originelle wie einleuchtende These: Es sind gerade Ulrichs Versuche im Irra-
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tionalen, welche der ›Utopie der induktiven Gesinnung‹ eine feste Grundlage geben. Dieses ergänzende Verhältnis der beiden großen Utopiekomplexe leitet Shin aus der wissenschaftlichen Empirie ab. Der Induktion ist trotz strenger Beobachtung der Tatsachen ein Moment des Glaubens (zumeist an die Kausalität) inhärent, aus dem ihre Geltungsbedingungen deduktiv abgeleitet sind. Die Liebe und der ›andere Zustand‹ sollen in Analogie dazu die ›Utopie der induktiven Gesinnung‹ als Bedingungen der Geltung regulieren. In der ersten Utopie, jener des ›motivierten Lebens in Liebe‹, tritt Ulrich zusammen mit Agathe in einen ekstatischen Zustand voller Möglichkeiten, dem ein aktives Schöpfungsmoment innewohnt, aus der die andere Moral des ›Steigens und Sinkens‹ entspringt. Durch die Liebe wäre der induktiven Gesinnung eine Richtung gegeben. Aber dieser Zustand ist auch durch Asozialität und Antirationalität geprägt, was der ernsthafte ›Utopist‹ Ulrich nicht gutheißen kann. Eine weitere Teillösung für das Geltungsproblem findet Shin im apokryphen Teil des Mann ohne Eigenschaften: den ›anderen Zustand‹. Der ›andere Zustand‹, der den Geschwistern Ulrich und Agathe widerfährt, ist »tagehelle Mystik« (S. 159). Im Modus des Gesprächs gelingt die Ekstase ohne Selbstverlust und mit Selbstreflexion. Wie Shin gut herausarbeitet, ist für beide Utopien Ulrichs Schwester Agathe von entscheidender Bedeutung, zuerst als Objekt einer christlichen Liebe und dann als Gesprächspartnerin. Von der kritischen Darstellung der Utopien leitet Shin zu deren funktionalem Verhältnis über. Die ›Utopie des anderen Zustands‹ bildet eine mögliche Lösung für das Geltungsproblem der induktiven Methode: Der ›andere Zustand‹ liefert den Glaubensakt für die ›Utopie der induktiven Gesinnung‹ und bildet gleichzeitig deren Regulativ. Er entspricht dem verlorenen Paradies, das dem Utopischen als Sehnsuchtsmoment seine Berechtigung verleiht. Ulrichs und Agathes gemeinsames Erleben des ›anderen Zustands‹ zeigt aber, dass im wiedergefundenen Paradies die Welt abhandenkommt. Darum hält das Erleben des ›anderen Zustands‹ auch zur »induktiven Demut« an, die zur »›äußerste[n] Höflichkeit und Zurückhaltung‹« (S. 165) in allen Handlungen zwingt. In dieser Demut sieht Shin die entscheidende Entwicklung von Ulrich im Mann ohne Eigenschaften: »Die induktive Demut macht den Unterschied zwischen der Utopie des motivierten Lebens vor dem Erlebnis der Utopie des anderen Zustands und danach aus.« (S. 165) Die ›Utopie des motivierten Lebens in Liebe‹ ergänzt wiederum deswegen den ›anderen Zustand‹, weil die mystische Weltabgewandtheit und Kontemplation zur Passivität führen würde. Keine Utopie kann also aus dem funktionalen Zusammenhang gelöst werden, ohne dass Shins utopische Gleichung dysfunktional werden würde. In den ersten drei Kapiteln gelingt es Shin somit, die funktionale Bezogenheit der Utopien im Mann ohne Eigenschaften aufzuzeigen und die ›Utopie der induktiven Gesinnung‹ als Superstruktur zu identifizieren. Damit bestätigt sie nicht nur ihre These, sondern liefert auch ein wichtiges, bisher
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fehlendes Verbindungsstück in der Utopieforschung zu Robert Musil. Den Abschluss ihrer Studie bilden zwei kürzere Kapitel zur problemgeschichtlichen Einordnung von Musils Utopiekonzeptionen und der Literatur als Utopie. Die Problemgeschichte ist informativ und zeichnet Musils Roman als spezifisches Projekt der Moderne aus, nur wäre zusätzlich zu den philosophischen und soziologischen Erörterungen ein Bezug zur literarischen Utopiediskussion, wie sie z. B. von Franz Werfel, Ernst Jünger, Walter Benjamin und Thomas Mann geführt wurde, wünschenswert. Diese Ausblendung des Literarischen der Utopie entwickelt sich dann im letzten Kapitel zu einem Problem. Zwar wird abschließend die Frage nach der Literatur als Utopie gestellt, aber das Kapitel rekapituliert äußerst kurz bereits Bekanntes und verpasst, das Utopische auf Rhetorik und Form des Mann ohne Eigenschaften zu beziehen. Damit bleibt ein Desiderat der MusilForschung auch nach Shins Dissertation bestehen: eine Analyse der utopischen Form. Obwohl Shin wiederholt von Musils Stilproblem im Mann ohne Eigenschaften und dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik spricht, gelingt es ihr nicht, das Poetische und Poetologische an den Utopien und dem Utopischen im Roman herauszuarbeiten. Damit kann abschließend festgehalten werden, dass Shin eine solide Studie zum Utopischen im Mann ohne Eigenschaften verfasst und somit ein Forschungsproblem entschärft hat, aber die Arbeit einige blinde Flecken besitzt. Eine ohne Einschränkung erfreuliche Nachricht versteckt sich aber zu guter Letzt in den Danksagungen: Shin plant eine Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften ins Koreanische – ein Projekt, das hoffentlich keine ›bewusste‹ Utopie bleiben wird. Sergej Rickenbacher
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger Prof. Dr. Silvia Bonacchi Warschauer Universität Fachbereich Angewandte Linguistik Institut für anthropozentrische Linguistik und Kulturstudien Ul. Szturmowa 4 PL –02-687 Warschau [email protected]
Oliver Böni M. A. Westfälische Wilhelms-Universität Münster Graduate School »Practices of Literature« Schlossplatz 34 D–48143 Münster [email protected]
Dr. Karl Corino Biesingerstr. 8 D–72070 Tübingen [email protected]
Prof. Dr. Arno Dusini Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 A–1010 Wien [email protected]
Anna Estermann M. A. Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]
Johanna Bücker M. A. Fürstenwall 222 D–40215 Düsseldorf [email protected]
Dr. Todd Cesaratto Visiting Assistant Professor of German Department of World Languages, Literatures, and Cultures University of Arkansas Kimpel 503 USA –Fayetteville AR 72701 [email protected]
PD Dr. Walter Fanta Robert-Musil-Institut für Literaturforschung Universität Klagenfurt Bahnhofstr. 50 A–9020 Klagenfurt [email protected]
Prof. Dr. Wolfram Malte Fues Aeschstr. 3B CH –4202 Duggingen [email protected]
304
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
Prof. Dr. Florence Godeau Université Jean Moulin – Lyon 3 Faculté des Lettres et Civilisations 7 rue Chevreul F–69362 Lyon cedex 07
Prof. Dr. Mathias Mayer Universität Augsburg Philologisch-Historische Fakultät Universitätsstr. 10 D–86135 Augsburg
[email protected]
[email protected]
Harald Gschwandtner M. A. Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]
Prof. Dr. Roland Innerhofer Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 A–1010 Wien [email protected]
Dr. Sandra Janßen Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Habelschwerdter Allee 45 D–14195 Berlin
Dr. Dominik Müller Université de Genève Département de langue et de littérature allemandes Faculté des lettres/UNI-Bastions Rue de Candolle 5 CH –1211 Genève 4 [email protected]
Prof. Dr. Claudia Öhlschläger Universität Paderborn Fakultät für Kulturwissenschaften Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft Warburger Str. 100 D–33098 Paderborn [email protected]
[email protected]
Prof. Dr. Christian Kassung Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Kulturwissenschaft Georgenstr. 47 D–10117 Berlin [email protected]
Dr. Clemens Peck Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]
Dr. Robert Leucht Universität Zürich Deutsches Seminar Rämistr. 42 CH –8001 Zürich
Dr. Oliver Pfohlmann Gönnerstr. 20 D–96050 Bamberg
[email protected]
[email protected]
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
Sergej Rickenbacher lic. phil. Université de Lausanne Faculté des lettres – Section d’allemand Projet FNS »Stimmung« Anthropole 4061.1 CH –1015 Lausanne [email protected]
305
Mareike Schildmann M. A. Badstr. 20 D–13357 Berlin [email protected]
Dr. Josef Strutz Ringstr. 10 A–9020 Klagenfurt/Celovec [email protected]
Dr. Massimo Salgaro Università degli Studi di Verona Dipartimento di Lingue e Letterature straniere Lungadige Porta Vittoria 41 I–37129 Verona [email protected]
Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Str. 1 A–5020 Salzburg [email protected]
Prof. Dr. Isolde Schiffermüller Università degli Studi di Verona Dipartimento di Lingue e Letterature straniere Lungadige Porta Vittoria 41 I–37129 Verona
Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel
[email protected]
[email protected]
Siglen GW 1–9: Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit arabischer Bandzählung]
Bd. 1–5: Bd. 6: Bd. 7: Bd. 8: Bd. 9:
Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches Essays und Reden Kritik
GW I–II : Robert Musil: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit römischer Bandzählung]
Bd. I : Bd. II :
Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik
MoE: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Reinbek b. Hamburg 1978 u. ö. [Seitenidentisch mit den Bänden 1–5 der Gesammelten Werke] Tb I–II : Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1983 [1. Auflage 1976]. Bd. I : Bd. II :
Tagebücher Anmerkungen. Anhang. Register
Br I–II : Robert Musil: Briefe 1901–1942. 2 Bde. Mit Briefen v. Martha Musil, Alfred Döblin, Efraim Frisch, Hugo von Hofmannsthal, Robert Lejeune, Thomas Mann, Dorothy Norman, Viktor Zuckerkandl u. a. Hg. v. Adolf Frisé. Unter Mithilfe v. Murray G. Hall. Reinbek b. Hamburg 1981. Bd. I : Bd. II :
Briefe 1901–1942 Kommentar. Register
KA : Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann, Karl Corino. Klagenfurt 2009.
Redaktioneller Hinweis Die Zusendung von Manuskripten wird an folgende Anschriften erbeten:
Musil-Forum c/o Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH –4051 Basel [email protected] c/o Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Salzburg Fachbereich Germanistik Erzabt-Klotz-Straße 1 A –5020 Salzburg [email protected]
Internationale Robert-Musil-Gesellschaft c/o Robert-Musil-Institut für Literaturforschung der Universität Klagenfurt Bahnhofstr. 50 A –9020 Klagenfurt www.musilgesellschaft.at [email protected]
Redaktion dieses Bandes: Harald Gschwandtner, Universität Salzburg
Register Adams, Dale 250 f. Adorno, Theodor W. 2 Agamben, Giorgio 108, 126 Aichinger, Ilse 150 Amann, Klaus 135, 255 f., 297 Angelis, Enrico de 274 Anker, Albert 176 Anzieu, Didier 273 Apprich, Clemens 269 f. Arbuckle, Roscoe 186 Aristoteles 117, 121 Auernheimer, Raoul 212–214, 219
Bachmann, Ingeborg 40 Bachofen, Johann Jakob 252 f. Bachtin, Michail 234, 283 Bacon, Francis 238 Baecker, Dirk 75 Bahr, Hermann 207, 292 Balázs, Béla 85 f., 155, 185, 210, 282 Barthes, Roland 65, 67 f., 84, 152, 154 Baßler, Moritz 66–69, 149 f. Baudelaire, Charles 149, 226 Bauer-Wabnegg, Walter 181 Baumbach, Rudolf 214 Beardsley, Aubrey 175 f. Becker, Andreas 235, 238 Becker, Sabina 113, 199 Beer-Hofmann, Richard 213 Beil, Ulrich Johannes 253 Bendels, Ruth 73, 75, 82, 98 Benjamin, Walter 2, 107 f., 150 f., 171, 226, 238, 253, 258, 302 Bense, Max 237 Berghahn, Wilfried 240, 243 Bermann Fischer, Gottfried 220 Bernoulli, Jakob 120, 122 f. Bertrand, Aloysius 149 Bettauer, Hugo 211 Bhabha, Homi K. 277 Biasi, Pierre-Marc de 3 Bider, Oskar 166, 168–170, 176
Bie, Oscar 207 Biebuyck, Benjamin 67, 70, 79 Biere, Florentine 255 Binding, Karl 231 Birkmeyer, Karl von 231 Blanchot, Maurice 142 Blei, Franz 165 f. Bleuler, Eugen 231, 257 Bloch, Ernst 299 Bloom, Harold 257 Bodmer, Martin 43 Böndel, Paula 289–291 Börne, Ludwig 277 Bohrer, Karl Heinz 152 f. Bollas, Christopher 273 Bonacchi, Silvia 238 Borchardt, Rudolf 201 Born, Jürgen 198 Boss, Ulrich 252 Bourdieu, Pierre 130, 137, 205, 280, 282–285, 288 f. Brecht, Bertolt 100, 150, 196 f., 238 Breton, André 260 f. Breuer, Constanze 6, 296–298 Breuer, Josef 241 Broch, Hermann 244 f., 249–251, 292 Brod, Max 111, 165 f., 194, 197, 199 f., 204 Brucher, Rosemarie 267 f., 270 Brus, Günter 267 Bühler, Karl 248, 254
Canetti, Elias 150 Cases, Cesare 293 Cassirer, Bruno 170 Cassirer, Ernst 262 Catani, Stephanie 47 f. Chaplin, Charles 186 Chardin, Philippe 258–261 Claudel, Camille 261 Cohn, Dorrit 46 Connell, Robert W. 230
Register
Corino, Karl 8, 10, 13, 16, 19, 41, 208, 213, 215 f., 241 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus Graf 207 Csokor, Franz Theodor 210, 213 Döblin, Alfred 192 Daigger, Annette 14 Darwin, Charles 118 Debray, Régis 252 Deleuze, Gilles 128, 130 f., 140 f., 145, 158, 267, 270 Dettmering, Peter 271 Dietz, Herma 4, 12 f., 15 f., 27, 40, 121, 240 f. Dillmann, Martin 224, 261–265 Döblin, Alfred 150, 191 Donath, Alice 25 Donath, Gustav 13 Dostojewski, Fjodor M. 258–260 Duden, Anne 150 Dürrenmatt, Friedrich 249–251 Duhamel, Georges 211 Durkheim, Émile 138 Eco, Umberto 239, 244 f., 262 Ehrenstein, Albert 150 Eibl, Karl 11, 69, 78 f., 88 Eich, Günter 150 Einstein, Albert 250 Eisler, Hanns 239 Emden, Christian J. 133, 144 Emerson, Ralph Waldo 257 Ernaux, Annie 150 Fanta, Walter 143, 256 f. Farrar, Geraldine 43, 55 f. Federn, Paul 273 Ferenczi, Sandór 273 Fischmann, Leo 210, 212 f., 219 Flaubert, Gustave 259, 261 Fleck, Ludwik 252 Fontana, Oskar Maurus 144, 210, 212 f., 215, 219 Foucault, Michel 228, 233, 265–270, 276 Frazer, James George 231 Freud, Sigmund 137, 241, 257, 271, 273–275, 277 Frisch, Efraim 44
309
Frisé, Adolf 6, 8, 16, 296 f. Galilei, Galileo 238 Galsworthy, John 211 Galton, Francis 123 Gamper, Michael 234 f., 237, 239, 252, 255 Genette, Gérard 46 George, Stefan 201 Gess, Nicola 248 Giacometti, Alberto 168 Gide, André 259 Ginzkey, Franz Karl 209 Gisi, Lucas Marco 162 Giuliano, Salvatore 11 Glander, Kordula 76, 86 Gnam, Andrea 253 Goethe, Johann Wolfgang 111, 204, 222 f. Göttsche, Dirk 149 Gogh, Vincent van 176 Grésillon, Almuth 1, 3, 14, 41 Grill, Genese 224–228 Grillparzer, Franz 277 Groddeck, Wolfram 175 Gross, Otto 194 Großmann, Bernhard 75, 80 Grosz, George 100, 192 Gruenter, Undine 147, 150, 152, 157 f. Guattari, Félix 130 f., 140 f. Gumbrecht, Hans Ulrich 96–98, 103 Hagel, Michael Dominik 268, 270 Hahn, Marcus 252 Hall, Murray G. 213 Haller, Hermann 166, 168–170, 175 f. Handke, Peter 257 f. Haraway, Donna 229, 233 f. Harrasser, Karin 265, 267 f. Hartung, Lea 269 Hasenclever, Walter 150, 199 Haug, Walter 73 Hauptmann, Gerhart 197 Hausenstein, Wilhelm 211 Hayasaka, Nanao 220 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 87 Heibach, Christiane 235 Heidelberger, Michael 237 Heisenberg, Werner 262
310
Register
Herzl, Theodor 268 Hessel, Franz 150 Heyse, Paul 111 Hiller, Kurt 211 Hodler, Ferdinand 162, 170, 172–175 Hörbiger, Attila 160 Hofer, Kathi 267, 270 Hoffmann, Birthe 71, 79 Hoffmann, Norbert 214 Hofmannsthal, Hugo von 65, 201, 207, 210 f., 213, 253, 258, 276–279 Hogen, Hildegard 215 Homer 101 Honold, Alexander 254 Horváth, Ödön von 100 Hruschka, Ole 238 Husserl, Edmund 118 Huszai, Villö 1 f., 19, 30, 39 f., 66 Iacomella, Lucia 269 Ifkovits, Kurt 165 f. Innerhofer, Roland 265 Iser, Wolfgang 246 Jacob, Hans 213 James, Henry 259 f. Jappe, Lilith 227, 271–275 Jens, Walter 243 Jhering, Herbert 195 f. Joyce, James 226, 259 f., 289–291 Jünger, Ernst 147, 150, 152–154, 156, 288, 302 Kaes, Anton 185, 192, 202, 205 Kafka, Franz 111, 150, 152, 180–183, 186–189, 191, 193–206, 266 f., 269 f., 276–279 Kaiser, Ernst 16 Kaiser, Georg 186, 192, 202–204, 211 Kalmer, Josef 175 Kant, Immanuel 97 f. Kappeler, Florian 228–234, 266 f., 270 Kaus, Otto 213 Kayser, Rudolf 192, 207 Kerr, Alfred 211 Kiefer, Bernd 235 Kierkegaard, Søren 128 Kisch, Egon Erwin 165 Klages, Ludwig 83
Klee, Paul 168, 176 Klein, Melanie 273 Kleinwort, Malte 267 Kleist, Heinrich von 97 f. Kluge, Alexander 147, 150, 152, 158–161 Knorr-Cetina, Karin 237 Koch, Julius Ludwig 231 Kohut, Heinz 273 Korff, Kurt 188 Koselleck, Reinhart 148 Kracauer, Siegfried 150 f., 207 f., 215 f., 219 Krause, Marcus 235 Kretschmer, Ernst 231 Kreuzer, Stefanie 235 f., 239 Kronauer, Brigitte 150 Krottendorfer, Kurt 46 f. Kümmel, Albert 245 Kuhn, Heribert 71 Kunert, Günter 150 Kuzmics, Helmut 144 Kuzniar, Alice 91 Kyora, Sabine 273 Lacan, Jacques 273 Lange-Kirchheim, Astrid 181 Laplace, Pierre Simon de 120, 122 Largier, Niklaus 266 f., 270 Lasker-Schüler, Else 150 Latour, Bruno 130–132, 145 Lauggas, Ingo 268 f. Laurin, Arne 165 f., 208, 211 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 116 Leitgeb, Christoph 66–68 Lemon, Robert 276–280 Lenzi, Magdalene 8 Leroi-Gourhan, André 248 Lethen, Helmut 192 Leucht, Robert 256 Leupold, Dagmar 74 Lévy-Bruhl, Lucien 231, 248, 253 Lewin, Kurt 136–138, 246 Lipschütz, Leopold 213 Liszt, Franz von 231 Locher, Elmar 107, 111 Löhner-Beda, Fritz 76 Lönker, Fred 241 Loosli, Carl Albert 174 Lothar, Ernst 213 f.
Register
Lowe, Lisa 276 Luhmann, Niklas 97, 101, 103, 138, 262 f. Lukács, Georg 87, 266
311
Noeske, Nina 235, 239 Nolan, Christopher 239 Nübel, Birgit 237 f. Olden, Rudolf 210
Mach, Ernst 115, 267, 270, 278 Macho, Thomas 250 Maeder, Dominik 268, 270 Maeterlinck, Maurice 19, 242, 259 Magris, Claudio 279, 292 f. Malewitsch, Kasimir 239 Mann, Erika 221 Mann, Thomas 211, 221–223, 245, 302 Mannheim, Karl 266, 299 Manthey, Jürgen 273 Marcovaldi, Annina 34, 116 Martialis, Marcus Valerius 223 Matthias, Leo 211 Mauthner, Fritz 258 Mayer, Mathias 223 Meier Ruf, Ursula 46 Meisel, Gerhard 241 Michel, Robert 207 Milton, John 101 Mitchell, Breon 181 Monod, Jacques 118 Monterroso, Augusto 150 Morlang, Werner 178 Mozetiˇc, Gerald 144 Mülder-Bach, Inka 139, 254 Müller, Georg 220 Müller, Robert 207, 209 Müller, Sabine 269 Müller-Lyer, Franz 230, 266 Musil, Martha 10, 22, 34, 60, 116, 208 f., 211, 217 Musil, Robert 1, 3 f., 6–8, 10–16, 18 f., 21 f., 25–31, 33 f., 36–66, 68–71, 74, 76–79, 81–83, 85–91, 93–99, 101–103, 105–128, 130–140, 142–147, 150, 152, 154–156, 158 f., 163–165, 174, 207–213, 215–228, 231, 233, 237 f., 240–266, 270–284, 286, 288–300, 302 Neswald, Elizabeth R. 241 Newton, Isaac 115–117 Nietzsche, Friedrich 70, 113 f., 119, 144, 222, 225, 259, 294 f.
Pächt, Otto 243 Paterno, Wolfgang 267 Peck, Clemens 268, 270 Pekar, Thomas 84 Pethes, Nicolas 235 Pfohlmann, Oliver 240–244 Pfungst, Oscar 18 Phelan, James 89, 93 Picard, Max 211 Pick, Otto 163–166, 179 Pietzcker, Carl 274 Pinthus, Kurt 150, 199 Piszk, Karl Oskar 210, 212 f., 219 Plenge, Johann 230, 266 Polgar, Alfred 150–152, 211 Pott, Hans-Georg 80, 84, 107 Prawdzik, Emilie 12 f. Primavesi, Patrick 238 Proust, Marcel 226, 259 f., 289–291 Quetelet, Adolphe Jacques 119, 123 Raepke, Franz Werner 75, 83 Rathenau, Walther 13, 230, 259, 266, 287 Rauch, Marja 72 f. Rauschenberg, Robert 239 Reibnitz, Barbara von 162, 164 Reichensperger, Richard 67 f., 70 Reichlin, Susanne 256 Reik, Theodor 271 Reiter, Heinrich 28 Rheinberger, Hans-Jörg 237 Richter, Gerhard 159 Ricœur, Paul 148 Rilke, Rainer Maria 81, 201, 205, 222 Rimbaud, Arthur 149 Ritter, Joachim 108 Robbe-Grillet, Alain 150 Romains, Jules 260 Rosa, Hartmut 147, 156, 160 Roth, Joseph 213, 259 f. Rothe, Katja 265 Ruyer, Raymond 299 Ryman, Robert 239
312
Register
Sacher-Masoch, Leopold von 188 Said, Edward W. 276, 279 Salgaro, Massimo 244–248 Salten, Felix 212 f., 219 Salzani, Carlo 291–295 Sant, Gus van 238 Sardar, Ziauddin 276 Schärer, Hans-Rudolf 271 Scharold, Irmgard 75 Schaunig, Regina 14 f., 19, 27 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 117 Schiller, Friedrich 223, 267, 270 Schmidt-Müller, Emma 173 Schmidt-Müller, Oskar 173 Schmidt, Rudolf 173 Schmitt, Carl 107 f., 114 Schnitzler, Arthur 207–215, 217 f. Schober, Regina 235 Schrödinger, Erwin 232 Schwanitz, Dietrich 89 Scott, Ridley 238 Seelig, Carl 36, 163 Seipel, Ignaz 213–215 Sheirich, Richard M. 215 Shin, Jiyoung 298–302 Simmel, Georg 117, 138 Sloterdijk, Peter 95–97, 101 Sonnenschein, Hugo 215 Spengler, Oswald 263, 294 Spies, Christian 235, 239 Spitteler, Carl 172, 174 Spitzer, Daniel 164 Spunda, Franz 213, 215 Starke, Ottomar 187 Stockhammer, Robert 256 Strauß, Botho 150 Streitler, Nicole 208 Strobl, Karl Hans 209, 213 Stumpf, Carl 18, 115, 136 Succi, Giovanni 181 Tausk, Victor 273 Thom, Andreas 210 Timerding, Heinrich Emil 116, 119 f., 122–124, 232 Todorow, Almut 165, 172 Toller, Ernst 195 Tôn-That, Thanh-Van 290
Tucholsky, Kurt 180 f., 198, 202, 204 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 150 Tylor, Edward Burnett 231 Ucicky, Gustav 160 Uecker, Matthias 199 Unseld, Joachim 205 Urbanitzky, Grete von 211 Utz, Peter 164, 170 Vaßen, Florian 238 Vogl, Joseph 252, 266 Wachter, David 266 f. Wagner, Karl 257 f. Wagner, Wilhelm Richard 222 Waldmann, Hans 169 Walser, Karl 173, 176 Walser, Martin 150 Walser, Robert 111, 150, 152, 162–166, 168–179 Walt, Christian 162 Weber, Alfred 138, 205 Wedderkop, Hermann von 193, 200 Weingart, Brigitte 252 Werfel, Franz 165, 186 f., 194–197, 199, 207, 213, 268, 270, 288, 302 Werkmeister, Sven 248 Wessely, Paula 160 Westheim, Paul 191 Wezel, Johann Karl 268 Wiener, Oswald 237 Wilde, Oscar 19 Wildgans, Anton 213 Wilkins, Eithne 16 Willemsen, Roger 117 Winnicott, Donald W. 273 Wittgenstein, Ludwig 113, 144, 256, 258 Wolf, Burkhardt 266 Wolf, Norbert Christian 103, 134, 137, 247, 253, 280–289 Wolff, Kurt 186 f., 205 Wyatt, Frederick 274 Zeller, Rosmarie 1, 4, 6, 15, 117 Zemsauer, Christian 268 f. Zilsel, Edgar 269 f. Zola, Émile 237