Mörderische Meteorologie: Wetterphänomene im französischen Kriminalroman 3837668479, 9783837668476

Im Krimi regnet es immer - so eine gängige und von Lesern und Leserinnen sowie der Wissenschaft geteilte Meinung. Doch s

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Inhalt
1 Im Krimi regnet es immer!?
1.1 Nebel, Regen und Sonnenschein – Krimi und Wetter in der Forschungsliteratur
1.2 Kriminalroman und Wetter in der Literatur – Definitionen
1.3 Skybeamer und Wetterprophetie – Forschungsfrage, Textauswahl und Methode
2 Eugene Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman
2.1 Wetter und Stadt in den Mystères de Paris
2.1.1 Die Publikationsform der Mystères de Paris
2.1.2 Der Handlungsbeginn nach dem Prolog
2.1.3 Der Topos Cite
2.1.4 Das (historisch‐faktuale) Wetter um 1838/40
2.1.5 Der Schauerroman
2.1.6 Das Zusammenspiel von Cite und Wetter
2.1.7 Die Signifikanz des Zusammenspiels von Cite und Wetter
2.2 Faktur der MdP– Von regnerischem Wetter und »erzählerischem Selbstmord«
2.2.1 Der »erzählerische Selbstmord«
2.2.2 Der anhaltende Regen – auch bei Nichtregen
2.2.3 Wetter‐Enden
2.2.4 Rue du Temple 17
2.2.5 Wetter als sozialer Spiegel
2.2.5.1 Die Kälte in der Dachkammer
2.2.5.2 Die (soziale) Kälte der Einsamkeit
2.3 Gangster, Opfer, Detektive – und das Wetter
2.3.1 Schau(d)erwetter in verbrecherischen Momenten
2.3.2 Krimi‐Spuren – Der Schnee als Indiz für und Ausdruck von Insekurität
2.3.2.1 Temple – Opposition zur Kriminalität
2.3.2.2 Indiz
2.3.2.3 Saisonale Dichotomie der Insekurität
2.3.3 Rodolphe Prince Gerolstein – Nebelgrenze und fataler Regen
2.3.3.1 Die Identität bzw. Identitätskrise
2.3.3.2 Die Nebelgrenze
2.3.3.3 Tödliche Regenmassen
2.3.4 Fleur‐de‐Marie – Sonne und kalter Tod
2.3.4.1 Entstehung der Verbindung Fleur‐de‐Maries zur Sonne – Utopie und Tod
2.3.4.2 Sonnenuntergang – Transzendenz des Lebens von Fleur‐de‐Marie
2.3.4.3 Sonnenuntergänge bei Entführung(-sversuchen) von Fleur‐de‐Marie
2.3.5 Anselme Duresnel – Kalte Angst und Frühlingswandel
2.3.5.1 Initialmoment: Sonnenuntergangsperspektive 4 – Die kalte Angst
2.3.5.2 Intrusion: Die Verbindung zu Fleur‐de‐Marie
2.3.5.3 Dichotomie als Affirmative für den Läuterungsprozess
2.3.5.4 Festigung in Selbsterkenntnis: Der Traum Duresnels (Le rêve)
2.3.5.5 Lösung: Mord und Sonnenschein
2.3.6 Jacques Ferrand – Tod durch Wind
2.3.6.1 Voraussetzung: Die Verbindung Haus und Psyche
2.3.6.2 Genese der Verbindung Wetter und Begehren
2.3.6.3 Windabsenz und Wolke
2.3.6.4 Moment der (Selbst‑)Erkenntnis
2.3.6.5 Letaler Effekt des Wetters
2.4 Zusammenfassung
3 Émile Gaboriau – Der Beginn des französischen Kriminalromans
3.1 Wetter‐Faktur: Ermittlung und Vorgeschichte
3.1.1 Die Analepse und das Wetter
3.1.2 Die Basiserzählung und das Wetter
3.1.3 Saisonale Konzeption von Basiserzählung und Analepse
3.1.4 Saisonales Avancement
3.2 Wetter als Spur
3.2.1 Der Fall Lerouge – Wenn Regen über Leben oder Tod entscheidet
3.2.1.1 Mord und Enquete
3.2.1.2 Entwicklung einer Hypothese auf Basis der Spuren: Falscher Verdächtiger
3.2.1.3 Bleibt die Frage: Wer ist der wahre Täter?
3.2.2 Die Spuren im Schnee – Der Fall von Monsieur Lecoq
3.2.2.1 Das terrain vague und das schauerliche Wetter
3.2.2.2 Rationalisierung: Der Schnee als Einschreibefläche
3.2.2.3 Der Wetterumschwung zur Illustration des Ermittlergenius
3.2.2.4 Die Karte des Schnees
3.2.3 Die verräterischen Tropfen – Morde in Orcival
3.2.3.1 Der erste Mord in Orcival – Die psychologisch‐analytische Analepse
3.2.3.1.1 Die doppelte Kriminalgeschichte und das Wetter
3.2.3.1.2 Die meteorologische Relation von Antagonist und Protagonist
3.2.3.2 Die Vorwegnahme von Elementen des roman à suspense
3.3 Errer dans les temps – Naturphänomene im Ermittlungsprozess
3.3.1 Die Männer und die Nacht in L’affaire Lerouge
3.3.1.1 Richter – Daburon
3.3.1.2 Detektiv – Tabaret
3.3.1.3 Täter – Noel Gerdy
3.3.2 Lecoq – Nebel und Nacht
3.3.2.1 Monsieur Lecoq
3.3.2.2 Nebel, Nacht und Lecoqs Inkognito
3.4 Zusammenfassung
4 Léo Malet – Der Auftakt zum französischen roman noir
4.1 La norme est la pluie, l’anormal est le beau temps
4.1.1 Der Regen in Boulevard… ossements
4.1.2 Der Regen in Brouillard au pont de Tolbiac
4.1.3 Der Regen in Pas de bavards à la Muette
4.2 Das Wetter am Anfang und am Ende
4.2.1 Das Wetter als Schlüssel zum Fall
4.2.1.1 Sommerhitze ­– La nuit de Saint‐Germain‐des‐Prés
4.2.1.2 Schnee – Micmac moche au Boul’Mich’
4.2.2 Das Wetter am Ende
4.2.2.1 Meteorologische Klammer – Micmac moche au Boul’Mich’
4.2.2.2 Sonnenaufgänge – La nuit de Saint‐Germain‐des‐Prés
4.3 Wetter in Paris
4.3.1 Paris – Stadtdarstellung
4.3.2 Stadt – Wetter
4.3.3 Pariser Wettersysteme
4.3.3.1 Paris im Makro‐Regen
4.3.3.2 Paris im Mikro‐Wetter
4.4 Das Wetter und die Deduktion
4.4.1 Ratio – plu(s) ou moi(n)s
4.4.2 Surreal – »carcan« of (meteo‑)logic
4.4.2.1 Meteo‐Correctio
4.4.2.2 Träume
4.4.2.3 Psychotropes Wetter
4.4.2.4 In persona
4.4.3 Das Wetter an Tatorten – Le cadavre exquis – boira – le vent – nouveau
4.4.3.1 Schock, Ekel, Horror – Männerleichen
4.4.3.2 ›Ästhetische‹ Inszenierung – Frauenleichen
4.5 Nestor Burma und sein Wetter
4.5.1 Ton und Atmo – Der hard‐boiled
4.5.2 Burma zweifach – moi‐narrateur und moi‐narré
4.5.3 Burma – saisonale Eu‑/Dysphorie
4.5.4 Burmas Erinnerungen, Liebe und das Wetter
4.5.5 Burmas Wetter in Brouillard au pont de Tolbiac
4.5.5.1 13. Arrondissement
4.5.5.2 Nebel der Vergangenheit
4.5.5.3 Nebel, Wetterwechsel und Vergangenheit
4.5.5.4 Liebe und Novembernebel
4.6 Zusammenfassung
5 Georges Simenon – Die Kriminalromanreihe mit Commissaire Maigret
5.1 Wetterdarstellung
5.1.1 Dauerregen und Saisonalität
5.1.2 Der kinematografische Wetterfaktor
5.1.3 Intensiver Wettereindruck – Frequenz
5.1.4 Intensiver Wettereindruck – mots matières und Wetterimpressionen
5.1.4.1 Mots matières
5.1.4.2 Wetterimpressionen
5.1.4.3 Die berühmte Atmosphäre
5.1.4.4 Das Wetter am Romanende
5.1.4.5 Fakturen
5.2 Maigret – Wetter, Theorie und Methode
5.2.1 Kommissar Maigret – Theorie und Methode
5.2.1.1 Das Wetter und die Theorie der fissure (Pietr le Letton)
5.2.2 Wettersensibilität
5.2.2.1 Das Wetter und die Phasen der Ermittlung
5.2.2.2 Météo‐logisch: Wetter als Spur
5.2.2.3 Wetter‐Erinnerungen
5.2.3 Das Wetter, Maigret, Täter und Opfer
5.2.3.1 Wetter maßgeschneidert auf den Fall
5.2.3.1.1 Mon ami Maigret und das postimpressionistische Wetter
5.2.3.1.2 Liberty Bar: Die Fluchten des William Brown
5.2.4 Täterfiguren und Wetter
5.2.4.1 Jean Radek – Kälte in La tête d’un homme
5.2.4.1.1 Maigret und Radek als Alter‐Egos
5.2.4.1.2 Die neue Linie des Verbrechens
5.2.4.1.3 Radeks Wetter
5.2.4.2 Marcel Moncin – Hitze in Maigret tend un piège (1955)
5.2.4.2.1 Nacht als Handlungsraum und Hitze als externalisierte Wetterlage des Drucks
5.2.4.3 Robert Bureau – Extreme Wetter in Maigret et le tueur
5.2.4.3.1 Fatale Wetterfühligkeit
5.3 Wetter in Paris
5.3.1 Das Pariser Wetter in den Maigret‐Romanen
5.3.2 Die Verbindung bestimmter Wetterlagen mit einzelnen Orten
5.3.3 Die Präsentation von Paris unter Einfluss des Wetters
5.4 Wetter statt Stadt
5.5 Zusammenfassung
6 Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi
6.1 Le sang des Atrides
6.1.1 Der Tathintergrund und das Wetter
6.1.1.1 Der Schnee
6.1.1.2 Der Wind – St. Pancratius
6.1.2 Das Wetter als Spur für die Ermittlung?
6.1.2.1 Saisonalität als Hinweis auf die Tatwaffe
6.1.2.2 Schnee als Spurenträger und zur Irreführung
6.1.2.3 Naturphänomene als Verhaltensmuster des Serientäters
6.1.3 Chabrand im Abendrot
6.1.4 Saisonale Konzeption der Reihe
6.2 Le commissaire dans la truffière
6.2.1 Das Wetter für den Täter: Ange noir oder suggestive Projektion?
6.2.1.1 Relation Wetter und Täter: Die Evokation des Bösen
6.2.2 Laviolette auf Trüffelsuche
6.2.2.1 Das Wetter der Ermittlung
6.2.2.2 Das Wetter um Laviolette
6.2.2.3 Wetterwahrnehmungsänderung
6.2.2.4 Transformationswetter
6.2.2.5 Die Auswirkung des Transformationswetters auf die Laviolette‐Reihe
6.3 Le secret des Andrônes
6.3.1 Imago est animi vultus
6.3.2 Laviolette im Bann des Wetters
6.3.3 Sisteron
6.3.4 Der böse Sommerduft der Glyzinie und der Mord von 1944
6.3.5 Saisonale Faktur der Mordserie
6.4 Le tombeau d’Hélios
6.4.1 Die Serientäterin als Naturphänomen
6.4.1.1 Quiproquo
6.4.1.1.1 Helios‐Helios
6.4.1.2 Mörderisches Wetter
6.4.1.3 Cordelies Landschaft
6.4.1.4 Helios und Bel‐Air
6.4.1.4.1 Bel‐Air und Wind
6.4.1.4.2 Tod der Sonne
6.4.2 Wetter und Laviolette – von Hinweisen und der perception extra‐sensorielle
6.4.2.1 Das Wetter und die Ermittlung
6.4.2.2 Die perception extra‐sensorielle Laviolettes
6.5 Les courriers de la mort
6.5.1 Geopsychologie und Klimatologie
6.5.2 Das Wetter und der Täter
6.5.2.1 Expositorische Verknüpfung: Der Lehrer im Zentrum des Windes
6.5.2.2 Der Initialmoment und das Transformationswetter
6.5.2.3 Mord – Identität
6.5.2.4 Die Relation des Wetters zum Täter
6.5.3 Wetter als Aggressor und Täter
6.5.4 Laviolettes Wetterbedeutungen und Wetterwahrnehmungen
6.5.4.1 Individuelle Wetterbedeutung
6.5.4.2 Wetter und Ermittlung
6.5.4.3 Wetterdichotomie zum Täter
6.5.4.4 Das Wetter und die Mesnie Hellequin
6.5.4.5 Tous ces crimes aient été commis pour du vent!
6.6 Zusammenfassung
7 Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller
7.1 Fred Vargas – Ängste und Sommerhitze im Rompol
7.1.1 Nachtmahre
7.1.2 Sommerhitze
7.1.3 Adamsberg und das Wetter
7.1.3.1 Pelleteux de nuages
7.1.3.2 Sehen im Nebel
7.1.3.3 Wettergespiegelte Emotionen bei Bedrohung und zu Camille
7.1.3.4 Inneres Wetter und der Serientäter Fulgence
7.2 Bernard Minier – Ein Seitenblick auf den Märchenwinter im Thriller Glacé
7.3 Jean‐Christophe Grangé – Nebel und dissoziative Fugue in Le passager
7.3.1 Le passager – »voyageur sans bagages«
7.3.2 Wetter und Identität
7.3.2.1 Der Nebel am Anfang als Metapher der Fugues
7.3.2.2 Die aufgedeckten Identitäten Freires
7.3.2.3 Der Sturm der Aufklärung
7.3.2.4 Das Wetter für Anais Chatelet
7.4 Zusammenfassung
8 Im Krimi regnet es nicht immer!
8.1 Regnet es im Krimi immer?
8.2 Gibt es Entwicklungstendenzen?
8.2.1 Gibt es Darstellungen und Funktionen, die über die Dezennien fortgeführt werden?
8.2.2 Wird das Wetter konstant als Spur bzw. Spurenträger eingesetzt?
8.3 Kann eine Verschiebung der Wetterposition nach dem Greimas’schen Aktantenmodell nachgewiesen werden?
8.4 Hat sich die gewählte Methodik zur Analyse bewährt?
8.5 Gibt es weitere Forschungsperspektiven?
8.6 Gibt es einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn?
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Weitere Primärliteratur
Sekundärliteratur
Abbildungen, Diagramme und Tabellen
1.1 Abbildungen
1.2 Diagramme
1.3 Tabellen im Text
1.4 Tabellen im Anhang
Anhang
Anmerkungen
Im Krimi regnet es immer!?
Eugene Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman
Émile Gaboriau – Der Beginn desfranzösischenKriminalromans
Leo Malet – Der Auftakt zum französischen roman noir
Georges Simenon – Die Kriminalromanreihe mit Commissaire Maigret
Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi
Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller
Im Krimi regnet es nicht immer!
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Mörderische Meteorologie: Wetterphänomene im französischen Kriminalroman
 3837668479, 9783837668476

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Katia Schorn Mörderische Meteorologie

Lettre

Katia Schorn, geb. Harbrecht, ist Literaturwissenschaftlerin. Sie studierte Frankoromanistik, Hispanistik und Transnationale Literaturwissenschaften in Nizza und Bremen und arbeitete u.a. im Fokusprojekt »Entzauberte Städte. Urbaner Raum und Migration in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur« mit. Sie promovierte dort 2021 bei Prof. Karen Struve und Prof. Gisela Febel mit einer Untersuchung zum Wetter im französischen Kriminalroman.

Katia Schorn

Mörderische Meteorologie Wetterphänomene im französischen Kriminalroman

Das Manuskript wurde als Dissertation 2020 an der Universität Bremen unter dem Titel »Heiter bis tödlich: meteorologische Phänomene im französischen Kriminalroman« angenommen. Die Disputation fand am 09.02.2021 statt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dn b.de/ abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bild von Kati auf Pixabay Lektorat: Angelika Wulff Korrektorat: Angelika Wulff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839468470 Print-ISBN: 978-3-8376-6847-6 PDF-ISBN: 978-3-8394-6847-0 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Für Jorne

Rorate caeli desuper, et nubes pluant iustum. Jesaja 45, 8

Inhalt

1 1.1 1.2 1.3

Im Krimi regnet es immer!? .............................................................. 13 Nebel, Regen und Sonnenschein – Krimi und Wetter in der Forschungsliteratur .............. 15 Kriminalroman und Wetter in der Literatur – Definitionen ................................... 18 Skybeamer und Wetterprophetie – Forschungsfrage, Textauswahl und Methode ............ 20

2 Eugène Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman.................................. 25 2.1 Wetter und Stadt in den Mystères de Paris ..................................................27 2.1.1 Die Publikationsform der Mystères de Paris.......................................... 28 2.1.2 Der Handlungsbeginn nach dem Prolog ............................................. 28 2.1.3 Der Topos Cité ..................................................................... 29 2.1.4 Das (historisch-faktuale) Wetter um 1838/40 ........................................ 30 2.1.5 Der Schauerroman ................................................................. 30 2.1.6 Das Zusammenspiel von Cité und Wetter ............................................ 32 2.1.7 Die Signifikanz des Zusammenspiels von Cité und Wetter ............................ 35 2.2 Faktur der MdP– Von regnerischem Wetter und »erzählerischem Selbstmord« ............. 37 2.2.1 Der »erzählerische Selbstmord« .................................................... 37 2.2.2 Der anhaltende Regen – auch bei Nichtregen ........................................ 38 2.2.3 Wetter-Enden ...................................................................... 39 2.2.4 Rue du Temple 17 .................................................................. 40 2.2.5 Wetter als sozialer Spiegel.......................................................... 46 2.3 Gangster, Opfer, Detektive – und das Wetter ............................................... 50 2.3.1 Schau(d)erwetter in verbrecherischen Momenten .................................... 51 2.3.2 Krimi-Spuren – Der Schnee als Indiz für und Ausdruck von Insekurität ............... 53 2.3.3 Rodolphe Prince Gerolstein – Nebelgrenze und fataler Regen......................... 56 2.3.4 Fleur-de-Marie – Sonne und kalter Tod .............................................. 60 2.3.5 Anselme Duresnel – Kalte Angst und Frühlingswandel................................ 65 2.3.6 Jacques Ferrand – Tod durch Wind................................................... 71 2.4 Zusammenfassung ....................................................................... 78 3 Émile Gaboriau – Der Beginn des französischen Kriminalromans ........................ 81 3.1 Wetter-Faktur: Ermittlung und Vorgeschichte ............................................. 83

3.1.1 Die Analepse und das Wetter ....................................................... 85 3.1.2 Die Basiserzählung und das Wetter ................................................. 86 3.1.3 Saisonale Konzeption von Basiserzählung und Analepse ............................. 88 3.1.4 Saisonales Avancement ............................................................ 88 3.2 Wetter als Spur .......................................................................... 89 3.2.1 Der Fall Lerouge – Wenn Regen über Leben oder Tod entscheidet .................... 90 3.2.2 Die Spuren im Schnee – Der Fall von Monsieur Lecoq................................. 94 3.2.3 Die verräterischen Tropfen – Morde in Orcival ....................................... 101 3.3 Errer dans les temps – Naturphänomene im Ermittlungsprozess ............................ 107 3.3.1 Die Männer und die Nacht in L’affaire Lerouge .......................................108 3.3.2 Lecoq – Nebel und Nacht ............................................................111 3.4 Zusammenfassung ....................................................................... 117 4 Léo Malet – Der Auftakt zum französischen roman noir ................................. 119 4.1 La norme est la pluie, l’anormal est le beau temps ..........................................123 4.1.1 Der Regen in Boulevard… ossements ................................................124 4.1.2 Der Regen in Brouillard au pont de Tolbiac ...........................................126 4.1.3 Der Regen in Pas de bavards à la Muette.............................................126 4.2 Das Wetter am Anfang und am Ende ......................................................128 4.2.1 Das Wetter als Schlüssel zum Fall ..................................................129 4.2.2 Das Wetter am Ende ................................................................134 4.3 Wetter in Paris ...........................................................................136 4.3.1 Paris – Stadtdarstellung ...........................................................137 4.3.2 Stadt – Wetter .....................................................................138 4.3.3 Pariser Wettersysteme .............................................................138 4.4 Das Wetter und die Deduktion .............................................................146 4.4.1 Ratio – plu(s) ou moi(n)s ............................................................ 147 4.4.2 Surreal – »carcan« of (meteo-)logic ................................................149 4.4.3 Das Wetter an Tatorten – Le cadavre exquis – boira – le vent – nouveau ...............152 4.5 Nestor Burma und sein Wetter ............................................................158 4.5.1 Ton und Atmo – Der hard-boiled ....................................................158 4.5.2 Burma zweifach – moi-narrateur und moi-narré .....................................160 4.5.3 Burma – saisonale Eu-/Dysphorie ...................................................163 4.5.4 Burmas Erinnerungen, Liebe und das Wetter ........................................166 4.5.5 Burmas Wetter in Brouillard au pont de Tolbiac ......................................169 4.6 Zusammenfassung ....................................................................... 174 5 Georges Simenon – Die Kriminalromanreihe mit Commissaire Maigret ................. 177 5.1 Wetterdarstellung ........................................................................180 5.1.1 Dauerregen und Saisonalität........................................................ 181 5.1.2 Der kinematografische Wetterfaktor ................................................182 5.1.3 Intensiver Wettereindruck – Frequenz ...............................................184 5.1.4 Intensiver Wettereindruck – mots matières und Wetterimpressionen .................185 5.2 Maigret – Wetter, Theorie und Methode ................................................... 200 5.2.1 Kommissar Maigret – Theorie und Methode ..........................................201

5.2.2 Wettersensibilität ................................................................. 206 5.2.3 Das Wetter, Maigret, Täter und Opfer ............................................... 215 5.2.4 Täterfiguren und Wetter ........................................................... 226 5.3 Wetter in Paris .......................................................................... 242 5.3.1 Das Pariser Wetter in den Maigret-Romanen........................................ 243 5.3.2 Die Verbindung bestimmter Wetterlagen mit einzelnen Orten ....................... 244 5.3.3 Die Präsentation von Paris unter Einfluss des Wetters .............................. 245 5.4 Wetter statt Stadt ....................................................................... 247 5.5 Zusammenfassung ...................................................................... 250 6 Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi ...................................... 253 6.1 Le sang des Atrides ..................................................................... 257 6.1.1 Der Tathintergrund und das Wetter ................................................ 257 6.1.2 Das Wetter als Spur für die Ermittlung? ............................................. 261 6.1.3 Chabrand im Abendrot............................................................. 265 6.1.4 Saisonale Konzeption der Reihe ................................................... 266 6.2 Le commissaire dans la truffière .......................................................... 267 6.2.1 Das Wetter für den Täter: Ange noir oder suggestive Projektion? .................... 268 6.2.2 Laviolette auf Trüffelsuche ....................................................... 277 6.3 Le secret des Andrônes .................................................................. 283 6.3.1 Imago est animi vultus ............................................................ 284 6.3.2 Laviolette im Bann des Wetters .................................................... 284 6.3.3 Sisteron .......................................................................... 287 6.3.4 Der böse Sommerduft der Glyzinie und der Mord von 1944........................... 288 6.3.5 Saisonale Faktur der Mordserie .................................................... 289 6.4 Le tombeau d’Hélios ...................................................................... 289 6.4.1 Die Serientäterin als Naturphänomen .............................................. 290 6.4.2 Wetter und Laviolette – von Hinweisen und der perception extra-sensorielle ......... 297 6.5 Les courriers de la mort .................................................................. 300 6.5.1 Geopsychologie und Klimatologie .................................................. 300 6.5.2 Das Wetter und der Täter .......................................................... 302 6.5.3 Wetter als Aggressor und Täter .................................................... 308 6.5.4 Laviolettes Wetterbedeutungen und Wetterwahrnehmungen .........................312 6.6 Zusammenfassung .......................................................................318 7 Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller .............................321 7.1 Fred Vargas – Ängste und Sommerhitze im Rompol ........................................321 7.1.1 Nachtmahre....................................................................... 323 7.1.2 Sommerhitze...................................................................... 324 7.1.3 Adamsberg und das Wetter ........................................................ 326 7.2 Bernard Minier – Ein Seitenblick auf den Märchenwinter im Thriller Glacé .................. 330 7.3 Jean-Christophe Grangé – Nebel und dissoziative Fugue in Le passager ....................331 7.3.1 Le passager – »voyageur sans bagages« ............................................331 7.3.2 Wetter und Identität ............................................................... 332 7.4 Zusammenfassung ...................................................................... 338

8 Im Krimi regnet es nicht immer! .......................................................341 8.1 Regnet es im Krimi immer? .............................................................. 342 8.2 Gibt es Entwicklungstendenzen? ......................................................... 343 8.2.1 Gibt es Darstellungen und Funktionen, die über die Dezennien fortgeführt werden? .............................................................. 344 8.2.2 Wird das Wetter konstant als Spur bzw. Spurenträger eingesetzt? .................. 346 8.3 Kann eine Verschiebung der Wetterposition nach dem Greimas’schen Aktantenmodell nachgewiesen werden? .................................................................. 347 8.4 Hat sich die gewählte Methodik zur Analyse bewährt?..................................... 349 8.5 Gibt es weitere Forschungsperspektiven? ................................................ 350 8.6 Gibt es einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn? ......................................351 Literaturverzeichnis ........................................................................ 353 Primärliteratur ............................................................................... 353 Weitere Primärliteratur ....................................................................... 356 Sekundärliteratur ............................................................................ 359 Abbildungen, Diagramme und Tabellen ......................................................381 1.1 Abbildungen ..............................................................................381 1.2 Diagramme ...............................................................................381 1.3 Tabellen im Text ......................................................................... 382 1.4 Tabellen im Anhang...................................................................... 382 Anhang...................................................................................... 383 Anmerkungen ............................................................................... 387

1 Im Krimi regnet es immer!?

»Im Krimi regnet es immer«, so könnte eine scheinbar unumstößliche Maxime lauten, wenn selbst der Kriminalromanautor Dæninckx – leicht mokant – feststellt: »[L]a météo, c’est une chose extrêmement importante dans le roman policier. Beaucoup de romans policiers commencent par cette phrase: ›Ce jour-là, il pleuvait…‹.«1 Auch in Polarville, dem Referenzwerk2 zur Stadtrepräsentation im roman policier, hebt Blanc den Regen als zentrales Element heraus: »C’est peu de dire qu’il y pleut systématiquement. En vérité, c’est un déluge qui s’abat sur les rues et les immeubles. […] La norme est la pluie, l’anormal est le beau temps.«3 Dunkelmänner, Serientäterinnen und verzweifelte Figuren morden auffallend gern bei Regen – so der Gemeinplatz. Dementsprechend sorgte auf einer Tagung zum Kriminalroman 2015 die profane Feststellung, in einem Kriminalroman von Malet regne es, für Erheiterung.4 Ob Wind oder Regen: Wenn ein Kriminalroman dem Wetter ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit entgegenbringt, scheint dies nicht zu überraschen. Vielmehr wirkt es wie ein abgenutzter dramaturgischer Effekt, wenn Regen, dunkle Wolken oder Sturm eine negative Handlungsentwicklung alludieren und die Witterungsverhältnisse als Hintergrunduntermalung die Spannung befördern sollen.5 Betrachtet man aber den Kriminalroman von seinen Vorläufern im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart näher, so fällt auf, dass dem Wetter immer wieder narrative Aufmerksamkeit zukommt und nicht nur dunkle Wolken und stürmische Regenschauer dominieren, sondern dass die Palette der meteorologischen Phänomene breit gefächert ist. Folgende Schlaglichter mögen dies verdeutlichen: •



Bereits im frühen roman policier entscheidet das Erkennen von wetterdependenten Spuren über Leben oder Schafott, wenn es bei Tabaret (1866), Lecoq (1866–68), Rouletabille (1908) oder in der Folge bei Holmes (1891–1927) gilt, Schuhabdrücke zu untersuchen und damit Täter zu überführen – ohne ausreichend Regen oder Schnee kann die Gartenerde keine Abdrücke konservieren oder der Täter nasse Abdrücke im Salon hinterlassen. Eines der bekanntesten Wetterphänomene, aber gleichzeitig ein unbemerktes, ist die Schneewehe in Agatha Christies Murder on the Orient Express (1934): Sie verhindert die Weiterfahrt, konstituiert damit den Erhalt des begrenzten Raumes (close room)6

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• •

des pointierten Rätselromans (roman-problème) und ist funktional für den Plot, in dem sich erstmals alle Figuren – bis auf den Detektiv – als Täterfiguren erweisen. Auch Hitze scheint Ruchlosigkeit und Mord zuträglich zu sein. So beginnt La nuit de Saint-Germain-des-Prés (1955) von Léo Malet in einer heißen Juninacht. Die Wetterlage bildet den Mittelpunkt des Romananfangs, sie vermittelt die »Pariser Atmosphäre«, moduliert die Stadtlandschaft in einer leicht surrealen Weise und bietet durch die Darstellung der Apperzeption einen Einblick in den Charakter des narrateur-je. Wetterparameter werden indes auch perfider, etwa als Teil der Mordmethode, eingesetzt, beispielsweise wenn hohe Temperaturen in Franck Thiliez’ Deuils de Miel (2006) Bienenwachs auf den Wunden des Opfers schmelzen lassen, wodurch dieses verblutet. In Pierre Magnans Le parme convient à Laviolette (2000) lenken Hitze und Sonne Bienen auf das Opfer und führen zum Tod durch anaphylaktischen Schock. Hierneben zeichnet sich von Anfang an immer wieder eine psychische Relation zwischen dem Wetter und den Täterfiguren, Opfern oder detektivischen Instanzen ab; so scheint in Jean-Christophe Grangés Le passager (2011) jede der pharmakologisch ausgelösten dissoziativen Fugues durch eine spezifische, ästhetisierte Wetterlage markiert und auf besondere Weise mit der im Kriminalroman virulenten Frage nach Identität und Aufklärung verbunden.

Bereits in dieser kurzen Skizze treten eine Variationsbreite und Wandlungsfähigkeit der Wetterverwendung hervor, die das eingangs aufgeworfene und bisher relativ feste Klischee vom Regen modifizieren. Doch woher kommt die als genretypisch wahrgenommene Verbindung von Verbrechen, Mord und Regen im Kriminalroman? Gibt es diese Verbindung überhaupt? Lassen sich hierzu Spuren in der Literatur finden? Und welche konkrete Signifikanz hat das Wetter für den Kriminalroman? Verändert es sich im Laufe der Dezennien? Die Welt des Kriminalromans ist eine heitere bis tödliche – in ihr wirken sich die Nichtbeachtung des Wetters oder eine falsche Wetterinterpretation mitunter letal aus, wenn Wetterlagen nicht nur für die Aufklärung eines Falles entscheidend sind, sondern als Mordmittel oder psychotroper Aspekt fungieren. Insofern fordern einige Kriminalromane die Ermittelnden, aber auch die designierten Opfer- und Täterfiguren immer wieder dazu heraus, das Wetter zu beobachten und auf seine Spezifika zu achten. In unterschiedlicher Weise werden dergestalt Ermittler wie etwa Lecoq oder Maigret dabei gezeigt, wie sie gen Himmel blicken, aufziehende Wetterlagen reflektieren oder sich affektiv von diesen beeinflusst fühlen. Hierbei wirkt die Relation der Protagonisten zum Wetter vielschichtig und ambivalent, die rationale Facette oszilliert mit einer emotionalen. Die Beunruhigung ob der möglichen Gefahr eines Naturphänomens kann ebenso eine erotische Komponente enthalten.7 Ferner scheint es, dass insbesondere Kriminalromane, die gattungsgeschichtlich als relevant gewertet werden, etwa weil sie neue Impulse setzen oder mit Bisherigem brechen, sich oft durch Wetterlagen auszeichnen, die funktional für die von den Ermittlerfiguren geleistete Deduktion oder in ihrem Bedeutungsgehalt für einzelne Figuren konzipiert sind und auf verschiedenen Ebenen wirken. Gemeinhin aber werden Wetterphänomene bei der Lektüre eher unspezifisch wahrgenommen oder als Dekorelement im Hintergrund überlesen. Damit bleiben mögliche

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Strukturen, Relationen sowie Parameter meteorologisch vielfältiger Funktionen von Leserin oder Leser zunächst unbemerkt, die prima facie nicht mit dem Plot oder der Deduktion verbunden sind und immer wieder auch den Figuren entgehen, obwohl sie ihr Verhalten maßgeblich beeinflussen. Diese Seite des Wetters bleibt von den Ermittler-, Täter- und Opferfiguren meist unbemerkt. Sie kann nur durch die Instanz der Lesenden ermittelt werden. Gerade dies macht das Wetter im Kriminalroman ambig und reizvoll.

1.1 Nebel, Regen und Sonnenschein – Krimi und Wetter in der Forschungsliteratur Trotz der Präsenz des Wetters in vielen Kriminalromanen ist das Wettermotiv in der Forschungsliteratur zum Kriminalroman – nicht zuletzt zu den ikonischen Werken der ausgewählten Untersuchungstexte – kaum im Einzelnen reflektiert oder in einen größeren Zusammenhang mit zentralen Motiven oder Strukturen wie etwa der kriminalliterarischen Figurentrias Täter – Opfer – Ermittler gebracht worden. Dies ist zumindest bemerkenswert, wenn man zum einen auf den breiten Forschungsstand zum Kriminalroman8 sowie zum anderen auf das seit einigen Jahren verstärkte Interesse im Bereich der Forschung zum Wetter in der Literatur blickt.9 Die Schnittmenge indes, das Wetter im Kriminalroman, ist nur vereinzelt Gegenstand einer eigenen Untersuchung geworden. In Arbeiten zum Kriminalroman im Allgemeinen, wie auch in Überblickswerken, findet das Wetter zwar zuweilen Erwähnung, doch bleibt es meist reduziert auf das Phänomen Regen und grundlegende Beobachtungen wie zum roman noir, der »von einzelgängerischen Männern [erzählt], die rastlos durch die nachtschwarzen Straßen einer kalten Grossstadt streifen, zur Unterstreichung der Tristesse oft bei Dauerregen«10 . Im Speziellen, d.h. in der einschlägigen Literatur zu einzelnen Autoren und Autorinnen, wird das Wetter zwar mitunter en passant erwähnt und etwa als für die Konstruktion der Atmosphäre relevant oder »unabkömmlich«11 herausgestellt. Diese Beobachtungen bilden aber keinen eigenen Schwerpunkt der Analysen, sodass Wetterspuren als scheinbare Marginalie nicht verschlagwortet sind12 – sie können entsprechend nur in unsystematischer Weise aufgedeckt werden. Erste allgemeine Hinweise zum Wetter im Kriminalroman finden sich bereits 1938 bei Bertolt Brecht. Dieser definiert den Krimi noch als schematisiert und stellt fest, der klassische Detektivroman habe […] ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation. […] Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau. Es ist eines der Merkmale eines kultivierten Literaturzweigs.13 Brecht führt als Baustein eines »Grundschema[s] des guten Kriminalromans«14 neben handlungsauslösendem Objekt, Zeit und Figurenrelation das stimmungsvoll sekundierende Wetter an: »Da ist ein Leichnam. Die Uhr ist zerbrochen und zeigt auf 2 Uhr. Die Haushälterin hat eine gesunde Tante.15 Der Himmel war in dieser Nacht bewölkt. Und so weiter und so weiter.«16 Diese sekundierende bzw. atmosphärische Funktion findet sich

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auch im 1971 erschienenen Standardwerk zur literarischen Wetterforschung Der Held und sein Wetter von Friedrich Christian Delius, der das Wetter im Kriminalroman als Begleiterscheinung von Prolepsen und als spannungserzeugendes Dekor versteht: Das Muster der Vorausdeutung mit bedrohlich zurechtgemachtem Wetter wird, besonders in der Trivialliteratur und im Kriminalroman, vielfach angewendet. Was solche Szenen für den Leser attraktiv macht, ist klar: Sie schaffen Spannung und Erregung […].17 Bei Karl May, im Heimatroman, im Frauenroman und im Kriminalroman wird das Wetter mit den Kunstmitteln traktiert, die der Roman des 19. Jahrhunderts zur Blüte brachte.18 Eines dieser Romangenres des 19. Jahrhunderts ist der Schauerroman, dem ein starker generischer Einfluss auf den Kriminalroman zugeschrieben wird.19 Auf diese gattungsgeschichtliche Verbindung weist 1978 auch Elisabeth Frenzel hin: Aus der um 1800 erfolgten Rationalisierung des Schauerromans, der den Motivbestand des älteren Ritter-und-Räuber-Romans und dessen revolutionäres Kernthema übernahm, ging, unter Ausnutzung des gesamten Motivmechanismus, die Detektivliteratur hervor, nachdem Edgar Allen Poe diesem leeren Mechanismus durch die Gestalt des Detektivs und durch dessen Funktion als eines rationalistischen Entwirrers rätselhafter Ereignisse eine neue Zentralidee gegeben hatte.20 Unter den angeführten »gesamten Motivmechanismus« fällt auch der Bereich Wetter, denn zum Motivinventar des Schauerromans zählen neben niederträchtigen Tyrannen, bösen Mönchen, der Jungfer in Nöten oder der Femme fatale ›unheilvolle Vorzeichen‹ wie Gewitter, Regen oder vor dem Vollmond aufziehende Wolkenfelder. Auf diese Wettermotive sowie die übereinstimmende Verwendung weist auch Christian Schärf (2013) in seiner Schreibanleitung hin, der zufolge […] der Schauerroman und nach ihm der Kriminalroman jene literarischen Gattungen [sind], die den intensivsten Umgang mit den Gegebenheiten der Meteorologie pflegen. In jedem Fall sollte man nicht davor zurückschrecken, mit dem Umschlagen des Wetters den Umschlag in der Figurenkonstellation und das Eindringen einer Bedrohung anzukündigen.21 Es kristallisiert sich demnach – mit Blick auf die Genese des Kriminalromans aus dem Schauerroman sowie durch die übereinstimmend intensive Nutzung – ein möglicher Ausgangspunkt des kriminalliterarischen Wetters heraus. Offen bleibt aber auch hier die Frage nach einer potenziellen Entwicklung sowie nach der individuellen Verwendung in konkreten Kriminalromanen. Das Wetter wird seit Längerem, wie aufgezeigt, als fester Bestandteil des Kriminalromans bestimmt, aber es scheint – grosso modo – in der Perspektive der Forschung merkwürdig erstarrt. Denn obzwar der von Frenzel bereits angeführte Edgar Allen Poe das Wetter im Mordfall Marie Rogêt22 als Indikator für die Zeit rationalisiert – d.h. wie lange der Regenschirm am Tatort lag und entsprechende Verwitterungsspuren aufweist – und damit vom Schema des Schauerromans entfernt, bleibt ad interim in der Forschung

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unbeachtet, ob und inwieweit das Wetter als Teil des Motivinventars an das neu entstehende Genre angepasst wird. Zu den Studien, die sich eingehender mit einem Autor, einer Autorin bzw. einem konkreten Kriminalroman befassen und das Wetter berücksichtigen, zählt die anglistische Monografie Renate Guidices von 1979 zur Darstellung und Funktion des Raumes im Romanwerk von Raymond Chandler. Die Autorin nimmt als Nebenbefund zu räumlichen Mustern oder zur Darstellungsweise von Orten die meteorologische Gestaltung in den Blick. Sie zeichnet eine Entwicklung des Wetters von The Big Sleep über The Long Goodbye und Playback zu späteren Romanen Chandlers nach, in denen die Handlung in das »erbarmungslose Sonnenlicht Südkaliforniens«23 getaucht ist und sich ein suggestiver Kontrast zwischen blendender Helligkeit und dunklen Vorgängen einstellt.24 Daneben finden sich einige Aufsätze, die das Wetter in einzelnen Werken oder in Relation zu einer Figur untersuchen. So betrachtet Clémentine Chasles, ebenfalls anglistisch geprägt, 2014 in »Les fonctions du brouillard dans la littérature anglaise au XIXe siècle«25 den Nebel in Le chien des Baskervilles als »élément perturbateur«.26 Das Wetter in der Sherlock-Holmes-Reihe nimmt Loïc Ravenel 2013 in seinem Aufsatz »Sherlock Holmes au fil du temps: éléments de climatologie ›holmésienne‹« genauer unter die Lupe und zeigt etwa, dass der häufig mit Holmes in Verbindung gebrachte Londoner Nebel nur in fünf der Holmes-Fälle erscheint und das britische Wetter nicht nur die Abenteueratmosphäre unterstreicht, sondern zuweilen dazu beiträgt, einen Fall zu lösen.27 Als romanistischer Beitrag ist der Artikel von Sven Thorsten Kilian (2015) »Rhetorik der Wolken in Niccolò Ammanitis Come Dio commanda«28 hervorzuheben, in dem die Inszenierungstechnik des Wetters an einem Vierstufenmodell und als Spiel mit theologischen und metanarrativen Kategorien aufgezeigt wird; dieser Beitrag geht mithin wetterfokussierter und differenzierter vor. Einen Blick auf den Nebel im französischen Roman Les Gommes von Alain Robbe-Grillet wirft Judith Schönhoff (2015) in »La diabólica invención de la nivola«29 . Ihr zufolge fungiert der Nebel als Teilelement nicht zuletzt als Zeichen der Unsicherheit des Detektivs. Eine Einzeluntersuchung des Wetters in den Maigret-Romanen von Georges Simenon bietet der Onlinebeitrag von Murielle Wenger (2007) »Maigret Météo«30 , in dem das Wetter nach verschiedenen Kriterien statistisch erfasst und durch eine exemplifizierende Zusammenstellung von Textauszügen ergänzt, allerdings nicht gezielt und methodisch analysiert wird. Das Feld des Wetters im französischen Kriminalroman wurde somit bisher in seiner Spezifik innerhalb des Genres, in seinen Mustern und Darstellungsformen, epochenspezifischen Einflüssen und damit in seiner potenziellen historischen Entwicklung übersehen. Weder lassen sich Forschungen finden, die sich speziell mit der Geschichte des Wetters im Kriminalroman befassen, noch gibt es in den Einzelanalysen systematische Untersuchungen zur Entwicklung der literarischen Konstruktion und Funktion des Wetters im französischen Kriminalroman. Bisher ist mithin ungeklärt, ob das Wetter und seine Integration in das Genre Teil der Geschichte des Kriminalromans sind; ob vice versa die Differenzierungen des Genres die Darstellung und Funktion des Wetters beeinflussen, oder wie sich etwa das Zusammenspiel von Region und Wetter in Subgattungen wie dem polar rural entwirft. In diesem Sinne geht es in dieser Studie darum, die verschiedenen Funktionen des kriminalliterarischen Wetters zu systematisieren, seine Entwicklung exemplarisch im Werk von

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für die Kriminalliteratur kanonischen Autoren von den Vorläufern bis zur Gegenwart zu skizzieren und damit den Stellenwert des Wetters für das Genre herauszustellen.

1.2 Kriminalroman und Wetter in der Literatur – Definitionen Doch »[w]as zum Teufel ist ein Kriminalroman?«31 So fragt Jochen Schmidt 2009 und gelangt trotz einer mehr als elfhundert Seiten umfassenden komparatistischen Übersicht zu keiner abschließenden Begriffsbestimmung. Während Brecht 1938 den Kriminalroman resp. Detektivroman noch als weitgehend fixiert und schematisch beschreibt, gilt heute für die Definition der Kriminalliteratur, was Chandler diesbezüglich bereits 1949 notiert: Sie ist immer noch fließend in Bewegung, ist immer noch mannigfaltig, um sich einfach klassifizieren und abstempeln zu lassen, und immer noch wartet sie nach allen Richtungen mit neuen Überraschungen auf. […] und man kann in ihre Definition keine einzige Eigenschaft eintragen, die dann nicht doch in irgendeinem erfolgreichen Beispiel wieder fehlte.32 Der Kriminalroman entzieht sich bis dato einer einheitlichen und konsensfähigen Definition.33 Vor diesem Hintergrund fungiert der Terminus Kriminalroman in Arbeiten zum Thema vielfach eher als Hyperonym für verschiedene Spielarten des Genres, die sich mit dem Verbrechen und seiner Aufklärung befassen.34 Elementar und damit genrebildend, so Nusser, sei der Aspekt der Darstellung der »Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und [bedingt] zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind«35 Die Fragen, »wer diese Anstrengungen unternimmt und wie sie unternommen und erzählt werden, führen dann zu weiteren Untergliederungen«36 Die nachfolgende Tabelle (Tabelle 1) der verschiedenen Subgattungen ist an Ellen Schwarz angelehnt und wurde für die vorliegende Arbeit erweitert.37

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Tabelle 1: Übersicht zum Kriminalroman

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Und das Wetter? Meteorologisch ist Wetter als physikalischer Zustand der Troposphäre zu definieren, der zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort herrscht. Wetter wird durch die Größe der meteorologischen Elemente beschrieben.38 Die räumliche Zusammenfassung des Wetters ergibt die jeweilige Wetterlage, wie Nebel oder Gewittersturm. Im Text aber ist dem Wetter von A wie Abendrot39 bis Z wie Zirruswolke ein besonderes Spezifikum inhärent: Es ist intentional und für diesen einen Fall, dieses Figurenensemble arrangiert. Hinter dem literarischen Wetter steht der Erzähler bzw. ein sehr spezieller Petrus, Aiolos oder, wie Wolf Haas formuliert: »der Superheld persönlich, nämlich der jeweils diensthabende Autor. Er ist es [.], der ›sein‹ Wetter immer dann auffahren kann, wenn literarischer Wind gebraucht wird […].«40 Dieses – so die Prämisse – intentional gestaltete Wetter ist hier als Motiv gesetzt.41 Als Motiv wird hier ein in unterschiedlichen Texten wiederkehrendes Element begriffen, das in Beziehung zum erzählerischen Zusammenhang tritt. Bezüglich des Motivs wird dem Ansatz von Theodor Wolpers gefolgt.42 Wolpers kategorisiert zum einen Wetter zu den Motiven43 und geht davon aus, dass ein Motiv ein Werk passagenweise oder ganz prägt. Zum anderen ist das Motiv nach Wolpers wandlungsfähig, insofern differenziert er in Primärmotive, die menschheitstypisch und universell verständlich sind sowie Sekundärmotive, die zeit- und kulturtypisch sind und sich an historischen Erfahrungs- und Vorstellungswelten orientieren. Für ihr volles Verständnis setzten Sekundärmotive ein historisches und oder kulturelles Wissen voraus oder suchten dieses zu vermitteln; insofern verfügen Motive nach Wolpers über eine Wandlungsfähigkeit – dies ist gerade mit dem Blick auf einen potenziell epochenspezifischen Bedeutungswandel des Wetters im Kriminalroman interessant.

1.3 Skybeamer und Wetterprophetie – Forschungsfrage, Textauswahl und Methode Für diese Arbeit wird vom begründeten Verdacht ausgegangen, dass es im Kriminalroman nicht nur regnet und meteorologische Phänomene weder rein arbiträre Dekorelemente darstellen noch eine ausschließlich dienende Rolle als atmosphärischer Hintergrund ausfüllen, sondern sich vielmehr als Strukturelemente und Darstellungsmittel mit der Gattungsentwicklung verändern. Zentrales Anliegen ist die Klärung der Frage, wie Wetter im jeweiligen Fall formalästhetisch konstruiert wird, welche Funktion es besitzt und wie sich (möglicherweise) Darstellung, Funktion und Muster auch im Verlauf von Kriminalromanserien wandeln und verändern. Die leitenden Forschungsfragen lauten entsprechend: Wie wird das Wetter in einzelnen Ausprägungen des Kriminalromans dargestellt und eingesetzt? Wie haben sich Darstellung und Funktion meteorologischer Phänomene von seinen Vorläufern bis zur Gegenwart verändert? Um diesen Fragen nachzugehen, beleuchtet die vorliegende Arbeit ausgewählte Texte der französischen Kriminalliteratur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, d.h. von den Vorläufern bis zur Gegenwart, die aus verschiedenen Subgenres stammen, und die exemplarisch für die Entwicklung der Kriminalliteratur sind. Ein besonderes Augenmerk gilt Serien, die sich zunächst durch similäre Wetterdarstellung auszeichnen, in denen

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aber saisonale Konzeptionen, Muster oder Veränderungen etwa in Verbindung zur Figurenentwicklung auftreten. Für den Hauptteil wurden Werke von fünf Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts ausgewählt; abschließend folgen Betrachtungen zu neueren Titeln des 21. Jahrhunderts. Analysiert werden: • • • •

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Eugène Sue: Les Mystères de Paris (1843–1844) – als Vorläufer des Kriminalromans Emile Gaboriau: die Reihe um Tabaret bzw. Lecoq (1866–1868) – sie steht für den roman policier bzw. roman-problème Léo Malet: Nouveaux Mystères de Paris (1954–1959) – exemplarisch für den roman noir Georges Simenon: die Maigret-Reihe (1929–1972) – bei der die Zuordnung zu einer Kategorie wie dem roman noir umstritten ist und die mitunter innerhalb des Kriminalromans als ›unklassifizierbar‹ betrachtet wird Pierre Magnan: die Laviolette-Reihe (1977–2000) – ist exemplarisch für den Regionalkrimi, den polar rural bzw. polar régionaliste Fred Vargas (1999–2017): Rompol, ein Seitenblick auf Bernard Minier Glacé (2011) und Jean-Christophe Grangés Le passager (2011) (Thriller) – dieser Ausblick zeigt aktuelle Tendenzen

Dass die vorliegende Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, ist mit Blick auf die Variationsbreite des Kriminalromans und auf die Vielzahl der Publikationen selbsterklärend. Obzwar hinter der getroffenen Auswahl ein Bemühen um ein möglichst aussagekräftiges Panorama steht, ist hervorzuheben, dass aus der Vielfalt, Entwicklung und Verflechtung des Kriminalromans und des kriminalliterarischen Wetters hier ein ›Skybeamer‹ gesetzt ist. Krimis, die keine Wetterdarstellung aufweisen oder deren Wettererwähnungen sich etwa auf die Erzeugung von Atmosphäre oder auf eine Funktion als reines Spannungsmoment beschränken,44 bleiben selbstredend ausgeschlossen. Aus dieser Auswahl ergibt sich auch der Aufbau der vorliegenden Arbeit: Neben dem hier einführenden und dem abschließenden Kapitel erfolgt die Untersuchung in fünf Hauptkapiteln sowie einem Kapitel mit einem Ausblick auf aktuelle Tendenzen, auf denen jeweils ein gattungsgeschichtlicher Fokus liegt. Die Texte werden in chronologischer Reihung betrachtet und vollständig behandelt; lediglich bei der Maigret-Reihe erfolgt eine Auswahl, da sie mit 102 Titeln sehr umfangreich ist. Zu den Vargas-Romanen sei angemerkt, dass die Reihe vermutlich noch nicht abgeschlossen ist. Am Beginn des jeweiligen Kapitels erfolgt, insbesondere mit Blick auf die Position innerhalb der Kriminalliteratur, eine kurze Einordnung in die Gattungsgeschichte. Hierbei wird, soweit möglich, ausführlicher auf die Forschungsliteratur eingegangen, die das Wetter in den jeweiligen Werken behandelt. Das Ziel ist es, aufzuzeigen, dass Darstellungen und Funktionen des Wetters im Kriminalroman nicht trivial oder schematisch, sondern ästhetisch vielfältig sind und dass das Wetter einen bisher unbekannten Impetus für die Gattung stellt. Es geht mithin darum, die besondere Signifikanz des Wetters im Kriminalroman herauszustellen, dabei verschiedene Arten der Darstellung und der Funktionen aufzuspüren und eine bisher nicht erprobte Sichtweise auf den Kriminalroman zu verfolgen; mit der diachronen Be-

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leuchtung von Subgattungen erfolgt indirekt auch eine gattungspoetische Annäherung an das kriminalliterarische Wetter. Während sich formalistische und strukturalistische Methoden bereits als fruchtbar für die Analyse von schematisierten Kriminalromanen erwiesen haben,45 stellt sich die Frage nach der Vorgehensweise bei Analyse der Weiterentwicklungen mit ihren Subgattungen. Die Analyse erfolgt jeweils werkimmanent und verwendet als Methode eine Kombination aus close reading46 und wide reading. Diese beiden Methoden gemeinsam einzusetzen bietet sich besonders deshalb an, weil sie mit Wolpers Motivdefinition bzw. -analyse47 gut kombinierbar sind: Zum einen, weil das close reading einer textgenauen und detailbezogenen Lektüre dient und auf Erfassung der einzelnen Elemente, ästhetischen Strukturen und Funktionsbreite sowie ihrer reziproken Verbindung zielt, um nach Mustern, Wiederholungen, Widersprüchen und Ähnlichkeiten zu suchen, sowie der Fragen was den zu untersuchenden Text ausmacht und wie dies erreicht wird, sodass hiermit die textimmanente Frage nach der Darstellung und Funktion untersucht werden kann. Zum anderen, da das wide reading geeignet ist, die – nach Wolpers – einem Motiv inhärente historische bzw. kulturelle Wandlungsfähigkeit zu erfassen. Insofern ist es sinnvoll, an einigen Stellen die Fokussierung auf den Text zu öffnen. Im Verlauf der Arbeit zeichnete sich ab, dass sich einige der Wetterfunktionen nur unzureichend mit der Motivanalyse fassen lassen. Ergänzt wird diese daher mit dem Aktantenmodell von Algirdas Julien Greimas48 .

Abbildung 1: Aktantenmodell nach Algirdas Julien Greimas

Das Modell bietet aus zwei Gründen einen Mehrwert für die systematische Analyse: einerseits, weil es eine abstrahierte Figuren-Analyse resp. Analyse der Handlungsstrukturen ermöglicht. Das Modell stellt so etwa nicht die Figur als quasi menschliches Individuum in den Fokus, sondern interessiert sich für die Funktion, die sie in Bezug auf die Gesamthandlung einnimmt. Andrerseits, weil die einzelnen Aktantenrollen auch von abstrakten Kategorien wie Gerechtigkeit oder Liebe oder – wie im vorliegenden Fall vom Wetter – eingenommen werden können. Mit dem Aktantenmodell kann die Funktion des Wetters sowie die Relation zu den einzelnen Figuren ermittelt und stärker verdeutlicht werden. Im Folgenden stehen eine systematische ›Spurensuche‹ nach dem kriminalliterarischen Wetter und seiner Entwicklung sowie die Analyse von disparaten Wetterphäno-

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menen, noch unbekannten Verstrickungen und Hinweisen im Zentrum. Ziel ist es, das Wetter nicht als (vermeintliches) Dekorum zu betrachten, sondern es in den Fokus zu stellen, um diesem die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken, die es bisher in der Forschung nicht erhalten hat, obwohl es von Anfang an im Blick der Ermittlerfiguren liegt und selbst seine Wirkungskraft immer wieder auf diese Figuren richtet.

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2 Eugène Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman Lisez, c’est peut-être bête comme un chou.1

»[…] bête comme un chou«, urteilt Eugène Sue2 1842 in einem Brief über den Anfang seiner Mystères de Paris – nicht ahnend, dass er einen der erfolgreichsten Feuilletonromane (1842–1843)3 verfassen würde, der zudem die Entwicklung einer neuen Gattung maßgeblich beeinflussen wird. Les Mystères de Paris »ont représenté une évolution du roman populaire ayant largement facilité, par le climat et les personnages, l’éclosion du roman policier. Les premiers ›grands‹ du policier français devront beaucoup à Eugène Sue […].«4 Retrospektiv sind die Mystères de Paris (MdP) nach Neuschäfer »ein direkter Vorläufer des Thrillers«5 , ziehen »eine gerade Linie zu den James Bond-Filmen unserer Tage«6 und entwerfen den »Urtext« für den Kriminalroman französischer Prägung. Als Vorläufer verkörpern die MdP noch keinen Kriminalroman sui generis, sondern weisen eine generische Ambiguität auf, in deren Folge sie je nach Perspektive als Schauer-, Abenteuer-, Sozial-, Familien-, Stadtroman oder Melodrama erscheinen.7 Entsprechend lässt sich fragen, inwiefern die MdP tatsächlich als Vorläufer dem Kriminalroman zuzuordnen sind. Olivier-Martin etwa merkt an, die MdP »n’offre[nt] avec le roman policier qu’une ressemblance accidentelle; cela de situer son action dans le même milieu«8 . Dem lassen sich zunächst einige Aspekte der Figuren-, Handlungs- und Raumkonstitution entgegenhalten, die in die Richtung des Kriminalromans resp. Thrillers weisen: So vollzieht sich am Protagonisten Rodolphe von Gerolstein der Übergang vom Abenteurer zur Ermittlerinstanz, die gegen das Böse antritt. Es findet sich gleichsam das erste Stalkingopfer, M. Pipelet; die Dispositionen des Chourineurs und Ferrands lassen diese als (serielle) Triebtäter erscheinen und Duresnel könnte als Serienmörder betrachtet werden. James weist in ihrem Artikel auf das Geheimnis des Sekretärs vom Temple9 als Indiz für einen Kriminalroman hin, denn dieser »leads to a real, urban mystery that must be chased up by clues to discover first the woman’s identity and then her whereabouts«10 . Mit Blick auf die literarische Entwicklung und die des Kriminalromans wurde insbesondere die Ortsgestaltung der MdP als bedeutend herausgestellt: Die Lokalisierung in Paris sei zunächst nach Weber eines »der wesentlichen Elemente, die kulturell adaptiert werden«11 und das die Gestaltung des Handlungsortes in der Erzählliteratur nachhaltig verändert. Das innovative Moment sei die konzeptionelle Bedeutung, die Paris als Set-

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ting zukomme, weil die MdP untrennbar mit Paris verbunden seien und zur weiteren Ausbildung der Topik der Parisliteratur beitrügen. Rohlff betrachtet das in den MdP beschriebene souterrain als konstitutiv hinsichtlich archetypischer Angstvorstellungen, die sich in suggestiven Bildern manifestieren und zu Motiven der französischen Abenteuerund Parisliteratur werden.12 Der Sue’sche Handlungsraum birgt zudem ein besonderes Element hinsichtlich der »construction culturelle du crime«, denn zusätzlich zum Raum stellt Kalifa in den MdP die Ausbildung eines »modèle cohérent et persistant« fest – eine Relation zwischen Raum, Verbrechen und Identitätsfunktion: »[C]es récits constituent autant de marques de reconnaissance ou d’identité qui accompagnent l’appropriation de la ville par tous ceux qui l’occupent.«13 Im Kontext des verbrecherischen Paris’ nehmen nach Kalifa die MdP eine herausragende Stellung als »texte mythique et fondateur qui constitue une sorte de matrice illimitée, sans cesse réactivée«14 ein. Die Ortsgestaltung ist mit Nusser ferner hervorzuheben als »Vorbild für den Handlungsraum und die offene Auseinandersetzung der Kontrahenten«15 im Thriller. Exemplarisch für das Setting kann diesbezüglich die Gefangenschaft Gerolsteins im Keller angeführt werden, denn diese spektakuläre Actionszene ist, so Neuschäfer, nicht nur charakteristisch für das Feuilleton, sondern von ihr lasse sich »eine gerade Linie zu den James Bond-Filmen unserer Tage ziehen«16 , d.h. zur späteren Subgattung des Thrillers.17 Im Gegensatz zum Handlungsraum wurde das Wetter der MdP eher beiläufig unter einem mentalgeschichtlichen oder »genre-charakteristischen« Aspekt thematisiert. So geht James kurz auf die Dichotomie Kälte – Wärme im Kontext des Wintergartens ein, wobei aus ihren Ausführungen implizit eine binäre Struktur von Wetter und Sozialschicht abgeleitet werden kann.18 Hülk blickt insbesondere auf die Humiditätsereignisse der Eingangsszene (Kapitel Le tapis-franc) im Kontext der Cholera und skizziert dazu ein Raum-Klima-Modell.19 Ricken und Heidenreich thematisieren das Wetter der Eingangsszene primär im Hinblick auf die atmosphärische Wirkung. Heidenreich setzt diese explizit in den Rahmen der »Gothic Novel«, wobei »Nacht, fahles Mondlicht, heftiger Wind« dazu dienen, eine »unheilschwangere Atmosphäre zu erzeugen«20 . Ricken betrachtet die MdP unter dem Fokus des Panoramaromans und verweist, von der Eingangsszene ausgehend, auf die Verwendung und Funktion des Wetters für den gesamten Roman: Der Abend ist regnerisch und kalt. Laternen schaukeln im Sturm. Sue greift dieses Motiv der entfesselten Naturgewalten gerne auf, wenn wichtige Ereignisse bevorstehen. Rudolf ertrinkt fast im entfesselten, unheimlichen Hochwasser der Seine, die Ereignisse auf der Insel des Schrottsammlers und die Bestrafung des Notar [sic!] Ferrand finden in derselben Atmosphäre statt.21 Das Wetter fungiert, und hierbei ist Ricken zuzustimmen, als Antizipation und dient der Konstruktion einer »unheimlichen« Atmosphäre. Doch die skizzierten Forschungshypothesen zur Funktion des Wetters greifen im Allgemeinen wie im Speziellen zu kurz. Denn bereits die Atmosphäre auf der Insel, die in Verbindung zur Leiche eines ermordeten Mannes gesehen werden muss und durch die ein schauerliches Moment entsteht, unterscheidet sich von der durch den Sturm aufgebauten erotischen Spannung und psychosomatischen Wirkung des Wetters um den Master criminal Ferrand. Erste Fragen, die sich daraus ergeben, sind: I. Wie weit bleibt das Wetter den Motiven und Suggestionen

2 Eugène Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman

des Schauerromans verhaftet? II. Wie weit wird es im Vorläufertext des Kriminalromans in Relation zu Kriminalität oder III. zur Figurentrias Gangster – Opfer – Detektive gesetzt? Um diesen Fragen nachzugehen, werden folgende Aspekte beleuchtet: • • • • •

Die Eingangsszene und ihre Bedeutung für die meteorologische Konnotierung Die Wetterstruktur der MdP Regen in kriminellen Kontexten Krimi-Spuren: Wetter in Verwendung für die Deduktion Figurenentwicklung: fort vom Abenteurer hin zur Figurentrias Gangster – Opfer – Detektiv

Ziel ist es, die Darstellung und Funktion des Wetters sowie meteorologische Konzeptionen zu identifizieren, die auf eine Entwicklung zum Kriminalroman deuten.

2.1 Wetter und Stadt in den Mystères de Paris Wetter bzw. Wetterlagen können nicht nur die Qualität des Ortes selbst, sondern auch seine Wahrnehmung entscheidend beeinflussen. Veränderte Lichtzustände oder Humiditätsereignisse, wie Nebel oder Regen, spielen für die Perzeption eine Rolle und abhängig von der Wetterlage erscheint ein Ort etwa finster und bedrohlich oder lichterfüllt und erquicklich. In diesem Sinne ist das Wetter essenziell für die atmosphärische Wirkung. Die explizite Darstellung von Witterungsverhältnissen im Roman ist entsprechend in der Lage, etwa das Setting zu einer Atmosphäre zu formen, einen gestimmten Raum22 zu konstruieren oder Stimmungen zu vergegenwärtigen bzw. zu modulieren. Der Wettereindruck in seiner Gesamtschau wird meist durch ein Element bestimmt, »gewissermaßen als Grundtönung. Am deutlichsten wird das beim Ausdruck regnerisches Wetter. Dieser Ausdruck meint, […] dass es sich um eine Wetterlage handelt, bei der Regen alles andere dominiert.«23 Zugleich kann die literarische Konstruktion von Regen, Kälte und Kriminalität mit spezifischen Stadtbewertungen einhergehen. Im Falle der MdP fungiert die Pariser Cité zeitgenössisch als Trigger für kriminelle Assoziationen und Konnotationen. Für die MdP geht die folgende Analyse von einer besonderen Reziprozität von Stadt und Wetter aus, die zu einer Übertragung der urbanen kriminellen Konnotation auf das Wetter führt. Für das Zusammenspiel von Stadt und Wetter werden im Folgenden fünf Aspekte als relevant angenommen und erläutert: • • • • •

die Publikationsform, der Handlungsbeginn nach dem Prolog, der Topos Cité, das (historisch-faktuale) Wetter um 1838/40 sowie der Schauerroman.

Pointiert zusammengefasst wird damit die Frage verfolgt: Wie kam der Regen in den Krimi?

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2.1.1 Die Publikationsform der Mystères de Paris Die Publikationsform ist aus zwei Gründen bedeutend: Zum einen, recht basal, ist »[b]esonders wichtig für das Krimi-Genre [.] die Erfindung des Fortsetzungsromans Mitte des 19. Jahrhunderts. Damit wird Literatur überhaupt erst der breiten Masse zugänglich […].«24 Zum anderen legt die Publikationsform eine besondere Basis für die Verbindung von Fiktion und Realität, weil die MdP als Feuilleton25 unter dem Rez-deChaussée26 erscheinen. Hierdurch stehen sie nach Bachleitner in einer engen Relation zum eigentlichen Nachrichtenteil, sodass es verstärkt zu einer (potenziellen) Verwischung der Trennlinie von Realität und Fiktion kommt resp. zu einer Wechselwirkung zwischen »Nachrichten und Romanfiktion, die in einer Zeitschrift undenkbar wären«27 . Die Inkorporation von realistischen Elementen wirkt dabei, so Bachleitner, besonders »illusionsbildend«28 , denn diese Feuilletontexte enthalten: […] in ausreichendem Maße dem Leser bekannte Details […], um als imaginierte Realität akzeptiert zu werden. Hans Ulrich Gumbrecht nennt solche tendenziell realistischen Texte »illusionsbildend«, sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie »den Unterschied zwischen den in ihnen beschriebenen Sachlagen und der Wirklichkeit zu verwischen suchen.« Der Feuilletonroman versucht […] ein detailreiches Bild der fingierten Welten zu liefern […]. Nicht nur durch realistische Details, sondern auch durch Bezugnahme auf beim Leser vorausgesetztes Wissen stellt die Unterhaltungsliteratur Verbindungen zur Wirklichkeit her.29

2.1.2 Der Handlungsbeginn nach dem Prolog Die Relevanz dieses Romananfangs begründet sich durch die von Lotman formulierte »besondere modellbildende Rolle der Kategorien Text-Anfang und Text-Ende«30 sowie im Rahmen der Rezeptionsästhetik mit Torgovnik: »[B]eginnings and endings remain in the memory and decisively shape our sense of a novel as a whole.«31 Als illusionsbildende Elemente oder auch effet de réel im Sinne Bachleitners sind besonders der Ort und das Wetter bedeutsam. Der folgende Ausschnitt des Handlungsbeginns ist als »establishing shot«32 konzipiert: Le 13 décembre 1838, par une soirée pluvieuse et froide, un homme d’une taille athlétique, vêtu d’une mauvaise blouse, traversa le Pont au Change et s’enfonça dans la cité, dédale de rues obscures, étroites, tortueuses qui s’étend depuis le Palais de Justice jusqu’à Notre Dame. Le quartier du Palais de Justice, très circonscrit, très surveillé, sert pourtant d’asile ou de rendez-vous aux malfaiteurs de Paris. N’est-il pas étrange, ou plutôt fatal, qu’une irréstible attraction fasse toujours graviter ces criminels autour du formidable tribunal qui les condamne à la prison, au bagne, à l’échafaud! Cette nuit-là, donc, le vent s’engouffrait violemment dans les espèces de ruelles de ce lugubre quartier: la lueur blafarde, vacillante des réverbères agités par la bise, se reflétait dans le ruisseau d’eau noirâtre qui coulait au milieu des pavés fangeux. Les maisons, couleur de boue, étaient percées de quelques rares fenêtres aux châssis vermoulus et presque sans carreaux. Des noires, d’infectes allées conduisaient à

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des escaliers plus noirs, plus infectes encore et si perpendiculaires, que l’on pouvait à peine les gravir à l’aide d’une corde à puits fixée aux murailles humides par des crampons de fer. Le rez-de-chaussée de quelques-unes de ces maisons était occupé par les étalages de charbonniers, de tripiers ou de revendeurs de mauvaises viandes. Malgré le peu de valeur de ces denrées, la devanture de presque toutes ces misérables boutiques était grillagée de fer, tant les marchands redoutaient les audacieux voleurs de ce quartier. L’homme dont nous parlons, en entrant dans la rue aux Fèves, située au centre de la cité, ralentit beaucoup sa marche: il se sentait sur son terrain. La nuit était profonde, l’eau tombait à torrents, de fortes rafales de vent et de pluie fouettaient les murailles. Dix heures sonnaient dans le lointain à l’horloge du Palais de Justice. […] Cet homme repris de justice […] inspirait une grande terreur dans le quartier. […] Et il donna dans l’ombre […] un si violent coup de poing à cette malheureuse, qu’elle poussa un cri de douleur aigu.33 Ein der Leserschaft noch unbekannter Mann, der als kriminelles Subjekt erscheint, eilt in einer Dezembernacht 1838 in die Cité. Dieser Bereich von Paris wird als abstoßendes und kriminelles Areal beschrieben. Es ist kalt, regnerisch und windig. Was passiert, ist erst einmal nicht viel – interessant ist aber, wo es passiert: in der Cité von Paris. Geht man von einer Interdependenz oder gar von einem Effekt der Stadt auf das Wetter aus, so ist gerade diese Verortung bedeutsam, weil die Cité auf der Ebene der Diegese zwei historisch-faktuale Konnotationen des Ortes aufgreift: die Dualität von Kriminalität und Schauerlichkeit.

2.1.3 Der Topos Cité Zeitgenössisch wird das Areal der Cité nach James mit Verbrechen und Gefahr verbunden: »The streets of the Cité are the district of ›la bourse ou la vie‹ which […] were associated only with their reputed violence. […] [H]is [Sues] description in this heart of darkness had clear roots in reality.«34 Diese Vorstellung wird, so Kalifa, durch den kulturellen Diskurs der Zeit verstärkt und aufrechterhalten – dies geschieht nicht zuletzt durch die Zeitungen, d.h. möglicherweise entsprechend der Publikationszeit auch durch die MdP: »Circulant de la presse aux enquête sociales […] ces représentations bâtissent un modèle cohérent et persistant, qui fait de la Cité […] l’espace presque naturel du crime.«35 Im kulturellen Diskurs wirke die Cité gar als »imaginaire criminel du XIXe siècle«36 . Neben der Wahrnehmung der Cité als Gefahrenzone existiert im zeitgenössischen Diskurs eine zweite Perspektive.37 Vor der Umgestaltung durch Hausmann war das Areal, wie James ausführt, durch verwinkelte Straßen, feuchte Wände und morastige Wege und Häuser, die so gebaut sind, dass kein Sonnenlicht in die engen Straßen fällt, gekennzeichnet.38 Dies führt, wie es der Historiker Chevalier formuliert, zu einer spezifischen Sicht der oberen Schichten auf die Cité, in der diese als »truly worth of the gothic treatment«39 erscheint. Der historische Ort birgt mithin ebenso Reminiszenzen an den Schauerroman.

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2.1.4 Das (historisch-faktuale) Wetter um 1838/40 Nicht nur der Ort weist eine referenzielle Qualität auf und wird in der literarischen Konstruktion mit Bezug auf die real-historische Stadt genutzt. Auch die Darstellung des Wetters funktioniert auf diese Weise als ein historisch-faktuales Element. Temperatur und Niederschlag stellen hierbei die referentiellen Größen dar. Diese Referenzialität ist für den Text insofern signifikant, als er sich an realistisches Erzählen anlehnt und rezeptionssteuernde Elemente integriert, die insbesondere das zeitgenössische Publikum adressieren. Temperatur: Der Zeitpunkt der Handlung (1838) sowie die Genese und Publikation des ersten Teils der MdP (1842) fallen in eine Phase besonders kalter Winter: So ist bereits der Winter 1829/30, d.h. wenige Jahre vor der angesetzten Handlung, zu diesem Zeitpunkt der strengste des 19. Jahrhunderts.40 Nah zum Handlungsbeginn war der Winter 1837/38 zwar anfangs noch mild, doch sanken die Temperaturen auf -19 °C und die Seine gefror über mehrere Wochen.41 Nach Rudloff zählt dieser Winter zu den zehn kältesten und mit Blick auf einen europäischen Gesamtvergleich wird 1839 an einigen Messstationen der kälteste Januar zwischen 1771 und 1990 notiert.42 Der Winter vor der Genese 1840/41 kann ebenso als einer der strengsten Winter in Paris betrachtet werden (-14 °C), in dem zahlreiche Menschen aufgrund der Kälte starben.43 Die Winter sowohl um die Genese der MdP als auch zum Handlungsbeginn zeichnen sich mithin durch ihre niedrigen und mitunter lebensbedrohlichen Temperaturen aus, sodass das Adjektiv »froide«44 in der zeitgenössischen Perspektive intensive Eindrücke und Geschehnisse evoziert.45 Ferner kann aufgrund der anhaltenden Phase frostiger Winter die Kälte als ein meteorologischer »vecteur […] de création d’une mémoire individuelle et collective«46 betrachtet werden. Verstärkend wirkt die Verbindung zu den Kälteopfern besonders im Winter 1841/42, da im unmittelbaren Erleben Kälte und Tod verbunden erscheinen. Niederschlag: Eine ähnliche, wenn auch weniger dramatische Signifikanz ist für den in der Eingangsszene mehrfach erwähnten Regen zu sehen, betrachtet man die von Rudloff für Frankreich in den Dezennienmitteln dargestellten Niederschlagsüberschüsse von bis zu fast 20 %.47 Hervorzuheben ist der Winter 1841, denn der Dezember ist der regenreichste seit 1833; es fallen 517 % mehr Niederschlag als im Dezember 1840.48 Auch im Januar und Februar 1842 erhöht sich der Niederschlag, verglichen mit Januar 1841, deutlich. Statistisch steigt die Quantität des Niederschlags an, was mit der Darstellung des Regens in der Eingangsszene aufgegriffen und poetisiert wird. Ferner wird über die Humiditätsereignisse in den MdP eine Assoziation zum Tod gezogen, die insbesondere die Cité negativ markiert und Bezug nimmt auf die Choleraepidemie49 1832 und die Miasmatheorie.50 Die Wettermotive bergen mithin eine spezifische Referenzebene. Sie bewirken nicht nur eine Illusion der Wirklichkeit, sondern eine Poetisierung der Realität, indem die meteorologischen Bedingungen literarisch verdichtet werden.

2.1.5 Der Schauerroman Der Schauerroman war einige Jahre vor der Publikation der MdP en vogue,51 und entsprechend wurden in der Sue-Forschung Verbindungen und Parallelen der MdP zum Schau-

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erroman52 vielfach diskutiert.53 So merkt etwa Roger Bozetto an: »Nul doute que cette ›familiarité‹ avec le gothique jouera, lorsqu’il s’agira de peindre le Paris truqué, occulté, masqué et ses mystères«54 , schränkt aber gleichzeitig ein: »Les Mystères de Paris ne peuvent passer […] pour un roman gothique, si l’on se réfère au Château d’Otrante, par exemple.«55 In diesem Moment der »familiarité« und der parallelen Veränderung bzw. Abkehr liegt das generische Potenzial der MdP. Grundsätzlich bildet der Schauerroman einen Vorläufer des Kriminalromans,56 der Motive übernimmt und neu besetzt.57 Ein Aspekt der Neubesetzung liegt etwa auf dem Ort oder dem Wegfall der Panikstruktur. Fruchtbar für die Untersuchung scheint der Blick auf die potenzielle Übernahme und Neubesetzung meteorologischer Motive zu sein, denn, wie Schärf anmerkt, das Wetter ist im Schauerroman »von nicht gerade kleiner Bedeutung für die Gestaltung von Atmosphäre und Stimmungen, und vielleicht [ist] der Schauerroman […] [eine] jene[r] literarischen Gattungen, die den intensivsten Umgang mit den Gegebenheiten der Meteorologie pfleg[t]«58 . Bereits die Wahl des Handlungsortes der Eingangsszene weist in Ansätzen auf die Entwicklung vom Schauerroman zum Kriminalroman hin. Dies liegt gerade an der Wahl des Handlungsortes selbst, daher klassifiziert Richard Alewyn die MdP als Beginn einer neuen Phase des Schauerromans, der verstärkt (auch) in Großstädten angesiedelt ist, und konstatiert: »Nun unterscheidet den Detektivroman vom Schauerroman sein Schauplatz.«59 Die Entwicklung des Kriminalromans wird vielfach mit der Entwicklung der Metropolen selbst in Relation gesetzt. Zwei Aspekte der Differenzierung der Schauplatzwahl fort vom Schauerroman liegen darin, dass die MdP mit dem zeitgenössischen Paris nicht die Zeit-Ort-Struktur des klassischen Schauerromans aufweisen und als erster Roman60 mit der distanzierten Erzählwelt brechen:61 Zeit und Raum, sowie später die gesellschaftlichen Implikationen, rekurrieren auf eine direkte Nähe und auf die zeitgenössische Erfahrungswelt. Diese Koordinaten sind nicht verfremdet oder entrückt, sondern wirken dokumentierend.62 Die Handlung verläuft für den Protagonisten Gerolstein nach dem Schema ›Vertrauter Ort‹ (Herzogtum Gerolstein) – ›Auszug zum unbekannten Ort‹ (Paris),63 mithin nicht zuletzt wie ein roman initiatique. Für die Pariser Feuilletonleserschaft allerdings entsteht in diesem Sinn ein Verfremdungseffekt, wenn das Bekannte zum potenziell Unbekannten und die (potenzielle) Nähe fremd werden: »Die direkteste Nähe des Verbrechens hat paradoxerweise eine distanzierende Wirkung. Der Grund dafür liegt in der unterschwelligen Poetisierung der Großstadt.«64 Hierdurch wird nach Cornelia Strieder erreicht, dass »die geheimnisvolle Qualität der wahrnehmbaren Welt an Authentizität«65 gewinnt und der scheinbar sichere Alltag der Großstadt Paris als brüchig und von einem »Labyrinth von verbrecherischen Verschwörungen«66 durchzogen entlarvt wird. Dies betrifft im Verlauf der MdP alle gesellschaftlichen Schichten und ist damit kein Einzelfall, sondern ein »kriminelles Syndrom«67 , ein Umstand, der sich auch im späteren Kriminalroman findet. Eine motivische Veränderung zeigt sich ferner in der Charakterisierung des Ortes als Labyrinth. Es ist zunächst der Verweis auf einen (potenziellen) Baustein des Schauerromans (Schloss), der in der Evokation der Metropole als Labyrinth aufgenommen und aktualisiert wird.68 Markant ist, dass das Betreten des Labyrinths Cité mit dem Wechsel des Abendlichtes zur nächtlichen Dunkelheit zusammenfällt. ›Dédale‹ gemahnt vor diesem Hintergrund verstärkt an die griechische Mythologie und in Kombination mit der Tageszeit an den Abstieg in die Unterwelt. Das Labyrinth in den MdP wird allerdings durch

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Formulierungen wie »d’asile ou rendez-vous aux malfaiteurs«69 oder »graviter ces criminels«70 nicht mit dem Mythischen oder Paranormalen, Unheimlichen verbunden, sondern expressis verbis als Areal der Kriminalität markiert. Im Motiv des Labyrinths verbinden sich die Unterwelt des Verbrechens der Großstadt und die metaphorische Unterwelt des Schauerromans, wobei beide auf eine Form der »Macht der unteren Sphäre«71 rekurrieren.72 In der Eingangsszene sind Labyrinth und Cité kongruent,73 im weiteren Verlauf der MdP differenzieren sich jedoch die Orte des Verbrechens; das Labyrinth verweist auf die Verwobenheit des Verbrechens und dehnt sich über Paris aus. Hiermit erscheint es nicht mehr ortsgebunden, sondern steht metaphorisch für das (Beziehungs-)Netz der Kriminellen.74 Später wird das Labyrinth als Sinnbild der unübersichtlichen Großstadt und des Rätsels und Geheimnisses zum Signum des frühen roman policier,75 insofern stellen die MdP eine Schnittstelle dar.

2.1.6 Das Zusammenspiel von Cité und Wetter Die Reminiszenz der Cité an den Schauerroman wird auf der Ebene der Diegese eingesetzt, Historisch-Faktuales und Fiktionales gehen ineinander über: Die räumlichen Elemente, die den Schauerroman kennzeichnen, werden aufgegriffen und mit der Cité verknüpft – etwa Ruinen und dunkle, labyrinthische Gänge, im Wind flackerndes Licht bzw. schaukelnde Laternen.76 Mit Heidenreich lässt sich entsprechend für den Romananfang festhalten, dass die räumlichen Elemente den Eindruck von »Verfall und Gefahr [erzeugen]. Es ist die Intention erkennbar, über die Beschreibung der Örtlichkeit Distanz zur hellen Alltagswelt herzustellen und die ›andere‹ Welt des Schauerromans aufzubauen.«77 Wettertechnisch bedeutend ist, dass im Schauerroman die Wirkung des Ortes abhängig von Naturphänomenen ist,78 denn die Szenerie des Schauerlichen konstituiert sich erst, wenn die »Requisiten mit der Natur verbunden werden«79 . Die Eröffnungsszene rekurriert auf die Genretradition des Schauerromans, von dem sie die »Metaphernfront«80 des Wetters übernimmt – durch Regen, Wind und Nacht wirkt der Ort unwirtlich und gefahrvoll: Unmittelbar, als der noch unbekannte Mann die Cité betritt, wird es dunkel, die Laternen schaukeln im Wind, der Regen scheint die Straßen aufzulösen. Das Wetter steigert sich sukzessive vom harmlosen Umstand »pluvieuse et froid«81 zur Personifizierung und Regen wie Wind haben die Rollen der eigenständigen Akteure inne, wodurch ein (leicht) fantastisches und unheimliches Moment entsteht. Durch das Wetter wird die Cité zum schauerlichen Ort, wobei hier ein Verweis auf die extratextuelle Konnotation vorliegt, wie sie James und Chevalier explizieren, sowie auf die Wettergegebenheiten um 1840. Für die Relation Wetter und Stadt ist elementar, dass parallel die zweite historische Konnotation zum extratextuellen Ort der Cité als kriminelles Areal aufgegriffen wird. Auffallend sind hierbei die auf der Textebene suggestiv angelegte Präsentation und die explizite Markierung als kriminelles Areal (»d’asile ou de rendez-vous aux malfaiteurs«82 etc.): Diese erfolgt in einem dreigliedrigen Aufbau: I. das Betreten der Cité, II. der spezifische Fokus auf die Bewohner, III. die Beschreibung der Cité. I. Die Toponyme (Pont au Change, Palais de Justice und Notre-Dame) fungieren als räumliche Trigger83 und bilden die Rahmenpunkte für den semantischen Raum, der

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verlassen, und der Cité, die betreten wird. Der »homme d’une taille athlétique«84 lässt mit Notre-Dame und dem Palais de Justice wortwörtlich Religion sowie Recht und Ordnung hinter sich, um ein als Inbegriff der Kriminalität assoziiertes Areal zu betreten. Ergänzend stehen der Cité mit dem Palais de Justice und dem Verweis auf das »échafaud«85 , dem Verbrechen die Aufklärung und Bestrafung gegenüber. II. Während die Koordinatenpunkte Pont au Change, Palais de Justice und Notre-Dame nur genannt werden, informiert gleich der zweite Absatz scheinbar sachlich über die Bewohner, fokussiert aber die Kriminalität (Asyl für Verbrecher, Anziehungsmagnet für Kriminelle, Diebe des Stadtviertels), wodurch die kriminelle Dimension der Cité konstituiert wird. III. Im vierten Absatz wird der Ort konkretisiert und als dunkle, heruntergekommene und abschreckende Gegend gezeichnet. Hierbei wird wirkungsvoll erneut auf den kriminellen Charakter der Bewohner verwiesen und damit diese Konnotation verstärkt und gefestigt. Es zeichnet sich ab, dass weniger auf eine topografische Beschreibung abgehoben wird als auf den Aufbau eines abschlägigen Bildes mit der assoziativen Verbindung des Areals zur Kriminalität. Basal erscheint die Entfaltung der Naturphänomene unabhängig vom jeweiligen Ort, wirkt jedoch auf die Wahrnehmung desselben. In der Eingangsszene der MdP verändert sich das Wetter kongruent mit der Darstellung des Ortes und knüpft am Ende an die Figurenebene an. Das Wetter ist als dreigliedrige Gradation aufgebaut: es leitet zwei Mal einen Absatz ein und bildet für sich einen eigenen vorletzten Absatz. Die ausgewählte Eingangsszene ist durch die Alternanz von Wetter und Ort nach dem Muster ababa arrangiert und der eigentlichen Handlung vorgelagert. Das Wetter erscheint zudem substanziell, weil es als kurzzeitiger Handlungsträger fungiert. Ferner werden in auffälliger Weise mit den ersten acht Wörtern ›Wetter‹, ›Jahreszeit‹ und ›Tageszeit‹ noch vor dem Ort angegeben. Diese Konstituenten stellen zunächst einen meteorologischen Rahmen für die weitere Darstellung bzw. das Geschehen. Die Wettergrenze und die räumliche Grenze zeigen sich passend, denn der Übergang von der helleren, sicheren Stadt in das Labyrinth und das Übertreten einer suggestiven Werte- und Normengrenze86 fällt mit dem Hereinbrechen der Dunkelheit (»soirée« zu »nuit«) und dem Wechsel der Wetterdarstellung von adjektivisch zu substantivisch zusammen.87 Die Naturphänomene der Eingangsszene werden im Folgenden kurz einzeln betrachtet. Temperatur: Das Wettergeschehen hebt mit »décembre«88 als jahreszeitlichem Stimulus an und verbindet sich unmittelbar mit der adjektivischen Spezifizierung des Abends, der durch »pluvieuse et froide« näher bestimmt wird. »Décembre« und »froid« wirken hier zusammen, sodass ein sensueller Eindruck entsteht. Intensiviert erscheint die Kopplung »décembre« und »froid« im Rekurs auf den extrem kalten Winter 1838. Neben diesem extratextuellen Bezug besteht eine implizite archetypische Affinität in einer natürlichen und gleichsam schicksalhaften Zwangsläufigkeit der Kälte zum Tod. Die Assoziation des Todes korreliert mit der zum Ort aufgebauten Kriminalität, in ihrer Verbindung zum Kapitalverbrechen (etwa Mord) und der Bestrafung (Todesstrafe – échafaud).

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Licht und Schatten: »Soirée« und »nuit« können, so sei ergänzt, ebenso mit einem extratextuellen Moment verbunden werden, weil die hereinbrechende Dunkelheit den Gedanken an die attaques nocturnes evoziert und mithin in Relation zum Verbrechen steht.89 Ferner können die Laternen in Bezug zum Kontext der Kriminalität gesetzt werden, da ein Grund für ihre Installation wenige Jahre vor Handlungsbeginn die Bekämpfung der angestiegenen Kriminalitätsraten war.90 Wind: Mit dem dritten Absatz, der primär dem Wetter gewidmet ist, wird der Wind in den Fokus gesetzt und die Darstellung des Wetters wechselt von adjektivisch (»pluvieuse et froide«) zu substantivisch (»le vent s’engouffrait«). Das Wetter ist ab diesem Moment nicht mehr bloßes Element des Hintergrundes bzw. der Kulisse, sondern wird mit der Personifizierung zum Akteur. Der Wind kann als eigenständiges Subjekt begriffen werden, das als solches im Sinne des Schauerlichen auf die Sphäre des Übernatürlichen und Dämonischen verweist. Als Naturphänomen verfügt er zudem per se über eine nicht zu kontrollierende Kraft bzw. Macht. Als personifiziertes Element beherrscht der Wind die Cité, deren Requisiten seiner Kraft anheimfallen und zum Spielball werden: »vacillante, des réverbères agités par la bise«. Das Wetter bestimmt damit die »visuelle« Qualität des Ortes.91 Der Wind erhält durch die Personifizierung eine besondere Substanzialität, die durch den Fokus befördert wird, denn die Figur, der »homme d’une taille athlétique«92 , bleibt in dieser Phase unerwähnt. Dergestalt fungiert das Wetter als guide – in diesem Zuge gilt die Vertrautheit mit dem terrain nicht nur für den Mann, sondern auch für den Wind, der dezidiert erst in der Cité in Erscheinung tritt und entsprechend mit diesem Ort verbunden scheint. Erst im Zentrum der Cité wechselt der Fokus zurück auf den Mann, der seine Schritte nun stark verlangsamt: Es präzisiert sich auch hierüber der Eindruck, als führten bzw. drängten ihn Wind und Regen durch die Gassen. Die eindringliche Präsenz des Windes entsteht durch wiederholte Erwähnung, die Steigerung von »vent« zu »bise« sowie durch die evozierte Bedrohlichkeit und Gewalt, die unmittelbar mit »le vent s’engouffrait violemment« substanziiert sind. Die Assoziation des Windes mit physischer Bedrohung und Gewalt wird durch die synästhetische und insbesondere »phonetische Rekurrenz«93 (vent – violemment – violence) weiter lanciert und gefestigt. Mit der Konkretisierung als »bise« entsteht zudem eine Verweisstruktur; zum einen zur Kälte und zu den diesbezüglichen Assoziationen, zum anderen nuanciert das Denotat der Himmelsrichtung (Norden) eine kulturelle Komponente. Diese enthält eine negative Konnotation des Nordens als ›böse‹ und ›unheildrohend‹, als Sphäre, aus der Halunken, Tod und Teufel kommen. Eine solche Konnotation der »bise« weist mit der vorausgehenden Darstellung der Cité einen gemeinsamen Nexus auf (Kriminalität und das ›Böse‹).94 Regen: Der Regen bildet die deutlichste Wirkung auf den Umraum aus, scil. vom Himmel über den Luftraum bis zum Boden. Dies resultiert in einer ersten Stufe aus der Quantität heraus, denn mit mehr als fünf Variationen ist er das am häufigsten angeführte Wetterphänomen. Er ist zudem dasjenige, welches im weiteren Verlauf der Ereignisse im ersten und in den weiteren Kapiteln konstant Erwähnung findet. Mit der Kälte wird der Regen zunächst adjektivisch »pluvieuse« als Aspekt des Umraums gesetzt. Basal hierfür ist die Position im Text unmittelbar zu Beginn. Der Regen moduliert damit zum einen das Setting, zum anderen wird über ihn direkt der visuelle,

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auditive und haptische Sinn angeregt: Die Wetterlage in ihrer Gesamtschau wird in ihrer Grundtönung durch den Regen in seiner Quantität und der sensuellen Evokation beherrscht. Die verschiedenen Humiditätsformen modulieren damit die Atmosphäre der gesamten Szenerie, wirken aber dezidiert parallel auf die Topografie der Cité, indem sie diese liquidieren: So wird die Gegenwart des Regens im dritten Absatz nicht expliziert, erscheint aber implizit im Bild des »le ruisseau d’eau noirâtre qui coulait au milieu des pavés fangeux.« In der Contradictio in Adjecto verbinden sich Niederschlag und Finsternis und inkorporieren die Cité mit dem Dreck.95 Der Regen hat keine reinigende Funktion, im Gegenteil: Er vermatscht den Boden, löst ihn auf und trägt hierüber zum widrigen Bild der Umgebung bei, besonders, da »pavé« im nächsten Absatz assoziativ zu »pavé de bœuf« den Faktor des Degouts erhöht. Im Wasser könnte sich das Licht der Laternen spiegeln, doch mit »fangeux« wird deutlich, dass hier vielmehr eine Absorption des Lichts vorliegt. Damit und mit der Quantität des Regens wird jegliches illuminierendes Potenzial (der Laternen, aber auch im übertragenen Sinn) konterkariert. In der Darstellung der »murailles humides« dringt der Regen ebenfalls in die Substanz der Cité ein. In Verbindung mit dem Wind wandelt sich der Regen deutlich zum Subjekt, ist anthropomorpher Akteur auf der meteorologischen Handlungsebene und erscheint im Moment der Klimax gleich zweifach: »[L]’eau tombait à torrents, de fortes rafales […] de pluie fouettaient les murailles.« Durch die dargestellte Bewegung gewinnt der Regen an zusätzlicher Substanz, Dynamik und Bedrohlichkeit. An diesem Kulminationspunkt sind Wind und Regen vereint, sind personifiziert als Subjekte, die sich in einem gewalttätigen Akt (»fouettaient«) gegen die Cité entladen. Die Kraft des Regens wird durch die Personifikation wesenhaft und verdeutlicht die Wirkungsmacht auf die Cité: Der Regen löst sie auf, peitscht gegen die Mauern, die er bereits zuvor als Feuchtigkeit in seine Gewalt gebracht hatte. Anthropomorphisiert ist die Cité (ohnmächtiges) Opfer des feindseligen Windes und Regens. Auffallend an dem meteorologischen Gewaltakt (Regen und Wind) gegen die Cité ist die Parallelität zur Figurenebene, d.h. zum tätlichen Angriff des Kriminellen (Chourineur) auf eine junge Frau (Fleur-de-Marie):96 Durch diese Parallelität entsteht eine Verbindung zwischen dem personifizierten Wetter und der Figurenebene, Naturgewalt und physische Gewalt fallen zusammen.97 Dadurch, dass die Handlung der Szene fast ausschließlich auf dem Wetter beruht,98 markiert der Wechsel auf die Figurenebene einen präfigurierten spannenden Höhepunkt, wirkt aber reziprok auf das Wetter. Mit Blick auf den Schauerroman wäre das Wetter die potenzielle Präfiguration eines numinosen bzw. grausamen Ereignisses, doch dies realisiert sich nicht. Die beiden kurzen Auseinandersetzungen lösen sich in Wohlgefallen auf und man kehrt friedlich im Lapin Blanc ein. An dieser Stelle ist die elementare Angststruktur des Schauerromans nicht mehr vorhanden. Die MdP weichen in diesem Punkt vom etablierten (schauerromantischem) Muster des Wettermotivs ab.

2.1.7 Die Signifikanz des Zusammenspiels von Cité und Wetter Welche Bedeutung hat nun die Reziprozität von Wetter und Dualität des Stadtviertels? Durch den Topos der Cité werden beide historisch konnotativen Ebenen der Schauerlichkeit und der Kriminalität des Stadtareals wirksam. Über die Substanzialität als his-

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torisch-faktuales Element besteht auf dieser Ebene bereits eine Verbindung zum Wetter um 1840. Auf der Textebene moduliert das Wetter in einem ersten Schritt den Eindruck eines schauerromantischen Ortes. Diese Dependenz zwischen Wetter und Ort bildet gleichsam eine Basis für die zweite Verbindung: Während der Ort in seiner Atmosphäre durch das Wetter beeinflusst erscheint, fällt auf, dass die kriminelle Facette des Ortes selbst hervorgehoben und auch die Figur als kriminelles Subjekt charakterisiert wird (»il se sentait sur son terrain«99 ). Befördert wird die Verknüpfung durch Facetten der Wetterdarstellung, welche in Richtung Kriminalität weisen. An dieser Stelle wird der Textaufbau konstitutiv. Verknüpft werden Wetter und Ort mittels Alternanz, d.h. durch einen oszillierenden Textaufbau, bei dem Ort wie Wetter sukzessiv gereiht sind, sodass sich ein Muster aus Wetter und Ort abzeichnet. Dieses Muster veranschaulicht Abbildung 2.

Abbildung 2: Schaubild zum Verknüpfungsmuster von Cité und Wetter

Aus der Alternanz entsteht eine Wechselwirkung und aus dieser wiederum eine Rückkopplung des Ortes auf das Wetter: Der Nexus zur Kriminalität, der dem Raum inhärent ist, wird auf das Wetter übertragen und erweist sich als substanziell. Denn die hier lancierte Verbindung ist aus zwei Gründen bedeutsam: Die Relation ist für

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die MdP modellbildend und bleibt im weiteren Verlauf des Romans erhalten, d.h. über ca. 1214 Seiten und über ein Jahr Publikationszeit von 1842 bis 1843.100 Am Konnex von Regen, Cité und Kriminalität ist signifikant, dass die Cité zunächst als Ausgangspunkt für die Kriminalität fungiert, jedoch mit der Erweiterung des Figurenpanoramas als Handlungsmittelpunkt weitestgehend aufgegeben wird; der Regen in Verbindung zu kriminellen Handlungen bleibt hingegen erhalten. Die in der Eingangsszene geschaffene und im ersten Teil massiv umgesetzte Verbindung regt potenziell eine Neumodulierung der sekundärmotivischen Ebene der meteorologischen Phänomene an.101 Blickt man, ausgehend von den MdP, auf die weitere Entwicklung des Kriminalromans, so kann dieser Verbindung von Regen, Kälte und Kriminalität, mit Lotman gleichsam ein Modellcharakter zugeschrieben werden, insofern gerade die Annahme einer Trias aus Regen, Stadt und Kriminalität für den Kriminalroman, wie sie etwa Blanc102 oder Keunen103 explizieren, propagiert wird. Gerade mit Blick auf den néo-polar, für den die MdP ebenso als Vorläufer gewertet werden, scheint das hier ausgebildete Modell der Naturphänomene ebenso konstitutiv, da wie Lahmédi ausführt Kälte und Nacht die relevanten Konstituenten bilden: »le froid, l’obscurité et l’insécurité constituent les trois ingrédients basiques de l’alchimie scripturale du néo-polar«104 . Die in den MdP geschaffene Wetter-Verbrechens-Relation zeigt sich damit als Gattungskonstitutiv.

2.2 Faktur der MdP– Von regnerischem Wetter und »erzählerischem Selbstmord« Ausgehend von der Eingangsszene umreißt dieses Kapitel den Nexus zwischen Wetter und Kriminalität für den weiteren Verlauf der MdP. Vor diesem Hintergrund wird die Wetterentwicklung in Bezug zu dem von Eco aufgeworfenen Bruch innerhalb der MdP gesetzt. Das Augenmerk liegt anschließend auf den Szenen, die eine Dichotomie bzw. Abkehr vom schauerromantischen zum Kriminalroman aufweisen. Den zweiten Teil dieses Kapitels bildet zum einen das Haus Rue du Temple als potenzieller Spiegel der meteorologischen Faktur bezogen auf den gesamten Roman sowie zum anderen der weitere historisch-faktuale Einsatz des Wetters als sozialkritischer Faktor.

2.2.1 Der »erzählerische Selbstmord« Mit mehr als 1200 Seiten sind die MdP umfangreicher geworden als wohl ursprünglich von Sue angedacht. Dies führte zu Veränderungen im Figurenensemble, in der Handlung, bei den Intrigen u.a.m., aber auch zu einer veränderten Wettergestaltung. Nach Eco enthalten die MdP einen Bruch, der in den eigentümlichen Gesetzen der Feuilletonpublikation gründet, denn durch die überaus positive Aufnahme des Romans sei Sue gezwungen gewesen, »seine Geschichte zu verlängern, ohne auf eine längere Erzählkurve eingerichtet gewesen zu sein«105 . Die Bruchstelle bzw. Zweiteilung der Erzählkurven sieht Eco durch einen »erzählerischen Selbstmord« markiert, der darin liege, dass Sue an einer Stelle relativ unmotiviert und plötzlich preisgibt, dass Fleur-de-Marie Gerolsteins Tochter ist, ohne dies erzählerisch ausführlich zu nutzen.106 Hülk sieht in diesem Bruch auch eine thematische Veränderung von der Erzählung der »›Barbaren‹ intro mu-

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ros nach dem Muster des Schauer- und Abenteuerromans […] zu einer die Thematik der späteren Sozialromane vorwegnehmenden Romankonzeption«107 . Im Folgenden soll der Bruch innerhalb der MdP mit Blick auf das Wetter untersucht werden.

2.2.2 Der anhaltende Regen – auch bei Nichtregen Zunächst ist der Eindruck basal, es regne zu Beginn der MdP ununterbrochen, denn nicht nur der Erzähler, auch die Figuren beziehen den anhaltenden Regen in ihre Gespräche ein: So wird in den Kapiteln, die sich im Lapin-Blanc ereignen und direkt an die Eingangsszene anschließen (etwa im Gespräch zwischen Gerolstein, Chourineur und Fleurde-Marie108 ), wiederholt auf den Regen rekurriert, während die Gespräche selbst kriminelle Themen wie Verfolgung, Misshandlung sowie geplante Verbrechen beinhalten. Die zweite Szene ereignet sich im Außenraum. Sie greift das Wetter der Eingangsszene auf, als es zu einem Überfall auf Sarah MacGregor (die frühere Mätresse und spätere Ehefrau Gerolsteins) und ihren Bruder Tom kommt. Hier wird das Motiv der attaques nocturnes aufgenommen und mit dem Wetter verbunden. Bis auf eine Ausnahme regnet es konstant im Verlauf der ersten 21 Kapitel.109 Selbst im Kapitel Promenade, bei dem es auf einer sonnenbeschienenen Wiese zu einem überraschenden Treffen zwischen Gerolstein, Fleur-de-Marie und dem Chourineur kommt, wird der Regen vom Chourineur als Teil des Settings einer beobachteten Straftat erwähnt;110 beobachtet wurde die attaque nocturne auf die MacGregors sowie die sich hieraus entwickelnde Allianz mit Duresnel und Chouette inklusive der Planung eines Mordanschlages gegen Gerolstein. In seinem Bericht erwähnt der Chourineur immer wieder den Regen, der während des von ihm belauschten Gesprächs fiel, obwohl dies für die eigentliche Informationsvergabe irrelevant ist. Hierdurch wird das Wetter als Teil der Erinnerung an ein zuvor (aus anderer Perspektive) geschildertes Geschehen genutzt und mit dem Ereignis verknüpft. – Diese meteorologischen Retrospektiven finden sich bei Erzählungen von kriminellen Ereignissen, etwa in der Lebensgeschichte Fleur-de-Maries (Bericht der Entführung durch Duresnel), beim Einbruch oder bei der Rettung Gerolsteins vor dem Ertrinken. Auf diese Weise wird die Verbindung von Regen und Kriminalität aufrechterhalten und manifestiert sich.111 Der Sonnenschein auf dem Land (Kapitel Promenade, La Surprise) ist in bemerkenswerter Weise von Kapiteln mit Regen und Humiditätsereignissen gerahmt. Parallel markiert die Sonne einen Höhepunkt, scil. Fleurde-Maries ›Befreiung‹ durch Gerolstein aus der Cité und der Prostitution mittels Unterbringung auf dem Mustergut Bouqueval. Dieses Ereignis wird durch den Wettereinsatz dezidiert positiv markiert und erscheint gleichsam als realisierte märchenhafte Utopie. Sonne und Land wirken prima facie idyllisch und harmonisch und bilden an dieser Stelle eine Opposition zur kriminellen Cité. Die Stadtgrenze markiert auf dem Rückweg für Gerolstein sodann eine Wettergrenze: »[N]on loin de la barrière de Bercy«112 tritt Gerolstein wieder in den Regen; mit dieser Grenzüberschreitung wird zudem das Verbrechen wieder Thema der Handlung (Verabredung Gerolsteins mit Duresnel).

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2.2.3 Wetter-Enden Mit Fokus auf die Handlung lassen sich (zusätzlich) zwei andere Stellen identifizieren, an denen es zu einer Zweiteilung innerhalb der MdP kommt. Markant ist hierbei, dass die diesbezüglichen Handlungsenden meteorologisch markiert sind. Mit La Punition und Le Départ enden zwei Handlungsstränge: Zum einen betrifft dies die Figur des Antagonisten Duresnel, zum anderen die des Adjuvanten Chourineur. Mit Fokus auf das Wetter ließe sich formulieren: Mit La Punition hört es auf zu regnen; mit Le Départ bleibt in den MdP der Wind aus. Dies wirft die Frage auf, welche Auswirkungen die meteorologischen Veränderungen haben. La Punition: Duresnel alias Maître d’école wurde in den ersten Kapiteln als Master criminal aufgebaut. Nach der Intrige gegen Gerolstein und dessen Beinahe-Tod im Keller des Cœur-Saignant inszeniert Gerolstein eine Art Tribunal, in dessen Zuge es zu einem Verhör und der anschließenden Bestrafung des mehrfachen Mörders kommt.113 Auffallend ist die Weise, mit der die Relation von Regen und Kriminalität gesetzt wird. Als Gerolstein sich in der Szene erstmals an Duresnel wendet, geht die auditive Darstellung des Wetters unmittelbar voraus: »Le plus profond silence règne au-dehors. Seulement l’on entend le bruit de la pluie qui tombe… tombe du toit sur le pavé.«114 Hervorstechend ist, dass in der nächtlichen Stille der Regen nur zu hören ist. Nacht und Regen greifen die etablierte Relation (Regen – Kriminalität) auf, liefern außerdem parallel die visuelle (Dunkelheit) und auditive Antizipation der Strafe, zu der Gerolstein Duresnel »verurteilt«: die Blendung, denn der Regen ist nur zu hören, nicht aber zu sehen.115 Nach ›Überführung‹ und Strafe ist scheinbar eine gewisse Ordnung wiederhergestellt. So gesehen ist die diesbezügliche Krimihandlung abgeschlossen. Bemerkenswert ist hierbei, dass in den folgenden zwei Kapiteln kein Regen mehr fällt und in Verbindung zur Eingangsszene eine erste meteorologische Klammer geschlossen wird. Die Fortsetzung der MdP gelingt dadurch, dass Duresnel während des Tribunals durch seinen Hinweis auf die Rue du Temple 17, dem letzten bekannten Aufenthaltsort von François Germain, die Suche nach diesem voranbringt.116 Das Haus in der Rue du Temple gehört Notar Ferrand, der hierüber in das Figurenensemble aufgenommen wird. Mit diesen drei Komponenten, Germain, Rue du Temple 17 und Ferrand, ergibt sich der Startpunkt der neuen Quest. Nachdem Duresnel in der Funktion des Master criminal wegfällt, wird Ferrand in dieser Eigenschaft aufgebaut. Der Staffelstab der Antagonisten wird mithin im Verhör von einem zum nächsten weitergereicht. Pointiert zusammengefasst bereitet Duresnels Hinweis der Fortführung bzw. »Langversion« der MdP den Weg. Le Départ: Die regenfreien Kapitel L’Ile-Adam und Le Départ setzen einen Monat nach der Bestrafung Duresnels an und thematisieren principaliter das (weitere) Leben des Chourineurs, der als guter Mensch präsentiert wird. Sie enden mit seiner Abreise aus Paris. Wettertechnisch interessant ist die konzeptionelle Relation des Chourineurs zum Wind: Chourineur und Wind(stärke) entwickeln sich sukzessive abnehmend I. von der »bise« der Eingangsszene, in welcher der Chourineur als gefürchteter und aggressiver Krimineller präsentiert wird, über II. den seichten Wind in Cœur-Saignant und die Funktion des Chourineurs als Adjuvant und Retter Gerolsteins bis III. zu seiner Abreise als geläuterter Verbrecher. Mit seinem Aufbruch nach Algerien wird eine zweite meteo-

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rologische Klammer zum Anfang geschlossen. Über lange Zeit (über 17 Kapitel) scheint in Paris kein Wind mehr zu wehen. Mit Blick auf die Faktur ermöglicht die Kalme später in der Fortsetzung der MdP die Modulierung einer neuen Wind-Relation, scil. zu Ferrand. Auffallend ist hieran die triebhafte Problematik, die sowohl der Chourineur als auch Ferrand aufweisen; diese Verbindung verweist gleichsam auf eine Konstante im Wettersystem der MdP. Der Chourineur kehrt später in die Handlung der MdP zurück. Ausgelöst wird dies mit einem »Wetterzeichen«: Auf dem Weg zur Schiffspassage nach Algerien verdunkelt sich der Himmel stetig, was er als Zeichen deutet, zu Gerolstein zurückzukehren. Am Schluss der Pariser Handlung (markiert durch die Abreise Gerolsteins) wird die meteorologische Verbindung des Chourineurs aufgegriffen und zum Ende geführt: IV. Er wird bei Windstille als guter Mensch und ›Leibwächter‹ Gerolsteins ermordet.117 La Punition sowie Le Départ können als zweifaches Ende eines ersten Teiles supponiert werden. Wettertechnisch wird dies untermauert, weil nach diesem Teil eine wetterlose Phase folgt. Die Wettererwähnungen in den weiteren Kapiteln nehmen zudem quantitativ ab. Hiermit einhergehend finden sich immer wieder Kapitel ohne Wetter. Nach den Kapiteln La Punition und Le Départ folgen in der Handlung und beim Figurenensemble118 , aber auch auf der Wetterebene, signifikante Änderungen: Ab diesem Moment ist die Wetterlage in Paris nicht mehr (weitgehend) gleichbleibend – in Form von Humiditätsereignissen und Wind –, und sie tritt, neben den Protagonisten und Antagonisten, in differenzierte Relation zu einzelnen Figuren und Handlungssituationen.119 Die Wetter-Enden im Konnex von Regen, Cité und Kriminalität fallen dahingehend auf, dass die Cité im ersten Teil als Ausgangspunkt für die Kriminalität fungierte, aber sukzessive als Handlungsmittelpunkt im Sinne eines prononcierten espace du crime120 abnimmt. Hierzu passt die Akzentverschiebung, die, wie Ricken ausführt, von Paris zu den Mystères wandert, sodass Paris nur noch Hintergrund resp. »Instrumentalisierung« ist.121 Diese Veränderung hängt zudem mit der Entwicklung der Figur Gerolsteins und der Relation des Wetters zu ihm zusammen, wie in Kapitel 2.3 näher ausgeführt wird.

2.2.4 Rue du Temple 17 Eine zentrale Position wird dem Haus Rue du Temple 17 zugeschrieben, etwa von Strieder als Spiegel der Gesellschaftsschichten.122 Auf unterschiedliche Arten weisen einige der Wohnungen durch ihre Bewohner Verbindungen zu Themenkreisen der Kriminalität auf, wie sie in den MdP vorkommen; ferner laufen in der Rue du Temple 17 Handlungen zusammen oder Entwicklungen nehmen dort ihren Ausgangspunkt, etwa die Ermittlung durch Gerolstein. Insofern bildet das Haus ein gewisses Konglomerat.123 Hervorzuheben ist, dass mit der Darstellung einiger Wohnungen Bezüge zum Wetter oder zu sich aus diesem ergebenden Effekten (Humidität etc.) erfolgen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das Haus Rue du Temple 17 dem Notar Ferrand gehört, wodurch bereits alle Mieter eine (wenn auch latente) Verbindung zu diesem haben; die Bewohner der Etagen eins bis drei haben zudem eine direkte Beziehung zu Ferrand. Das Haus selbst wird im Osten von Paris (um 1840) verortet, etwa in der Ebene zwischen der Rue Sentier (Ferrand) und der Allée des Veuves (Gerolstein). Diese räumliche Verortung korrespondiert mit seiner Schlüsselfunktion zur Aufklärung einiger Ver-

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brechen und zur Klärung der Figurenbeziehungen durch Gerolstein – die Verführung (Robert), die Verbindung zu Ferrand, die Vergewaltigung, die Fermonts, Germain etc.124 Die Signifikanz hebt Gerolstein selbst hervor: »Les résultats de sa visite à la maison de la Rue du Temple étaient assez importants […] pour la solution du mystère.«125

Abbildung 3: Rue du Temple 17

Ferner bildet Rue du Temple 17 eine Art Verlaufsmodell der Pole ›Gut‹ (vierte Etage und Mansarde) und ›Böse‹ (erste Etage sowie besonders die Etage drei) sowie von dun-

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kel zu hell. Auf diese Weise ist sie nicht nur über Ferrand eine Verknüpfung der Bösen und der Guten, der Reichen und der Armen, sondern das Beziehungsgeflecht dieser beiden ›Ebenen‹ baut sich an diesem Ort sukzessive auf (z.B. Louise und Ferrand, Polidori und Gerolstein bzw. Ferrand sowie zu Chouette und Tortillard). Das Haus in der Rue du Temple 17 erscheint insofern als Prismatoid der Verbrechen von Oberschicht und Unterschicht: Ehebruch und sexueller Sadismus, Prostitution, Raub und Diebstahl sowie die Ausstellung falscher Wechsel. Die scheinbare Dichotomie wird über die Spiegelachse des Hauses aufgelöst; über sie erweist sich die gesellschaftliche Grenze als permeabel.126 Mit Blick auf die Spiegelfunktion, wie sie etwa Strieder expliziert, kann gefragt werden, ob diese auch für die Verbindung von Kriminalität und einer potenziellen Verweisfunktion des Wetters besteht. Denn für die Relation Wetter – Verbrechen zeigt sich: Mehreren Wohnungen ist eine übergeordnete kriminelle Thematik zuschreibbar, wobei sich die jeweilige meteorologische Relation an anderer Stelle bei similären Themenkreisen findet; d.h., an der Rue du Temple 17 kristallisieren sich Relationen von Naturphänomen und kriminellen Thematiken heraus. Diese Aspekte sind im Folgenden mit drei Schwerpunkten zusammengestellt: I. die meteorologische Darstellung der jeweiligen Wohnung, II. die Funktion der Figur bzw. der Wohnung sowie III. die Übertragung der Relation Wetter und Figur vom Haus auf die MdP bzw. das Wettersystem der MdP. 1. La Mansarde des Morel Assoziation: Kälte, Sonnenschein als vom Schnee gedämpftes Licht; Sonnenschein nach dem Umzug Funktion der Figuren und der Wohnung: Familie Morel ist u.a. eines der Opfer Ferrands, insbesondere die Tochter Louise. Sie ermöglichen die Illustration der Bedingungen der Arbeiter und markieren u.a. die Wendung zum sozialkritischen Roman. Das Wetter trägt zur Verzweiflung Morels bei. Die Kälte und die Lebensumstände veranschaulichen Armut und Elend. Die Kälte bedingt den Tod der Tochter Adèle mit. Die Verzweiflung steigert sich mit dem Tod Adèles und der Anklage gegen Louise zum akuten psychotischen Schub Morels (der mithin indirekt durch Ferrand provoziert wird). Morel wird grundlegend als tugendhaft präsentiert und widersteht der Prüfung, eine Unterschlagung (von Diamanten) zu begehen. Tochter Louise: Über sie besteht eine direkte Verbindung zu Ferrand, für den sie als Hausmädchen arbeitet. Sie wird von ihm unter Drogen gesetzt und missbraucht. In einer kalten Nacht stirbt ihr Baby kurz nach der Geburt im Haus Ferrands. → Über Louise erfolgt die Thematisierung juristischen Unrechts gegen Frauen. Umzug in vierte Etage: Sonnenlicht und Wärme → Gesundung der Familie. Der Umzug in Sonne und Wärme ist eine Antizipation der psychischen Gesundung Morels in Bicêtre (bei Sonnenschein/Wärme). Die Rettung der Familie, d.h. der Umzug, führt zur Entdeckung des Geheimnisses des Sekretärs vom Temple. Über diesen wird das von Ferrand verursachte Unglück und Verbrechen an der Familie Fermont bekannt und von Gerolstein verfolgt. → Verdeutlicht den Einfluss von Verbrechen auf das Leben der Familien.

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Wetterrelationen in den MdP: Kälte: spiegelt bzw. steht konstant im Nexus von Angst, Schmerz und Tod (Louises Baby, D’Harville, Duresnel etc.) → Tod der Guten in der Kälte Humidität/Kälte: stehen in Relation zu psychischen Krisen → Fleur-de-Marie Wärme: Heilung und Wandel sowie psychische und physische Gesundheit und Glück → Duresnel, Familie Fermont Entwurf einer sozial-klimatischen Dichotomie: Kälte bei den Armen vs. Wärme bei den Wohlhabenden. Auffällig ist die Relation von Morel (Vater) und Ferrand (Vergewaltiger) über das Motiv der Wolke. 2. Cabrion, François Germain, Rodolphe Assoziation: hell, trocken, warm Funktion der Figuren und der Wohnung: 2.1 Künstler Cabrion: Nach seinem Auszug stellt er M. Pipelet nach. Aus heutiger Perspektive erscheint der ›Scherz‹ fast als Stalking. 2.2 François Germain: Seinetwegen kommt Gerolstein auf das Haus. Die Liebe Rigolettes ermöglicht mitunter die Lösung des Verbleibs François’ → Aufklärung und Denunziationen monetärer Straftaten Ferrands und Verbindung zum Bankbetrug u.a. durch Duresnel. 2.3 Rodolphe (Gerolstein): Deckt die Identität Polidoris auf. Die räumliche Nähe bzw. Verbindung zu Ferrand ermöglicht dessen sichere Identifikation als Master criminal sowie dessen Überführung und Bestrafung; d.h. letztlich dessen Tod. Gerolstein und Polidori bilden eine Opposition aus gut – böse; hell – dunkel sowie Vergangenheit und Gegenwart, Schuld und Anschuldigung. Durch die Lage der Wohnung hat die detektivische Instanz einen Überblick (über Paris). Während Polidori auch semantisch ›unten‹ steht. Relation in den MdP: Bekämpfung des Verbrechens auf dessen Terrain, d.h. von innen heraus; detektivische Ermittlungen François Germain und Gerolstein können dem ›Hellen‹ zugeordnet werden und wohnen trocken und warm, entsprechend können sie als die ›Guten‹ klassifiziert werden. 3. Rigolette Assoziation: Sonnenschein (ungetrübt und behaglich) Funktion der Figur und der Wohnung: Die Lage der Wohnung von Rigolette ist bezeichnend: Als tugendhaftes Ideal und positiver Gegenpol liegt sie direkt über jener von Polidori. Die Freundin Fleur-de-Maries ist ihr unbeschwertes und frohes Spiegelbild. → Figur des Guten

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Während Fleur-de-Marie aufgrund ihres Schicksals depressive Züge aufweist, ist Rigolette gleichsam die Person, die Fleur-de-Marie ohne die Niederträchtigkeit und verbrecherischen Handlungen der Koberin hätte werden können. Aus dem Fenster Rigolettes ist ein fast unbegrenzter Blick über Paris möglich. Im ganzen Haus ist ihre kleine Wohnung die einzige, in die von Anfang an Sonnenschein fallen kann. Die Sonnenstrahlen entsprechen ihrem frohen Gemüt und der Wärme, die sie versucht, in das Leben der anderen Figuren zu bringen – (zunächst) deutlicher Kontrast zur Wohnung der Pipelets. → Sozialkritische Entwicklung der MdP: Rigolette – »Grisette«. Als Grisette aber tugendhaft, moralisch einwandfrei, ist idealisiert und widersteht allen Prüfungen. Hierdurch verdient sie Gerolsteins Hilfe.127 Sie steht metaphorisch wie expressis verbis über dem Bösen. Relation in den MdP: Sonnenschein – Glück; Regen (Besuch Germains im Gefängnis) – Unglück. Sonnenschein: in erster Linie nur im Kontext von Fleur-de-Marie, seltener für ihr Gegenstück Rigolette oder Gerolstein; Sonnenschein nur für die Guten und die, die sich dem Guten zuwenden; Rigolette ist der Gegenpol zu Ferrand und La Louve; Fleur-deMarie zu Duresnel. 4. César Bradamanti alias Polidori Assoziation: Dunkelheit, Feuchtigkeit Funktion der Figuren und der Wohnung: Polidori gibt sich als italienischer Arzt Bradamanti aus.128 In der dichotomischen Auffächerung des Hauses bildet Polidoris Wohnung den dunkelsten Pol. Seine kriminelle Energie ist vielfältig und reicht von medizinisch fragwürdigen Eingriffen, Betrug und Mord über seine Vergangenheit als Abbé Polidori in Gerolstein zu religiöser Unmoral und der negativen geistigen Beeinflussung als Lehrer Gerolsteins sowie seiner Privation des Guten in der Person Murphs (→ religiöse Unmoral → psychische Beeinflussung →Verführung Minderjähriger zum Bösen). Er stellt in seiner Wohnung Gift her, dies verkauft er u.a. an St. Remy sowie an Mme Roland. Damit ist er indirekt am Mord an der Mutter Mme d’Harvilles sowie direkt am Mordversuch an ihrem Vater beteiligt. Tod durch Dolchstoß → Verbindung zu Sarah – beide stehen für die sexuelle und machtambitionierte Vergangenheit Gerolsteins → sind ursächlich für seinen Wunsch nach Buße Tod durch Dolch ≈ Befreiung von Gerolsteins sexueller Vergangenheit wie Schuldigkeit. Polidori fungiert als Knotenpunkt: I. zwischen der Vergangenheit und Gegenwart Gerolsteins, II. zwischen verschiedenen Verbrechergruppierungen: Neben Mme Roland (Erbschleicherei), der er Gift verkauft, ist er zudem eng mit Ferrand vertraut, von dem Mordaufträge, wie etwa zur Beseitigung Louises, annimmt; Polidori empfiehlt Ferrand die Martials (Diebstahl, Auftragsmord an Fleur-de-Marie); Duresnel/Finette Grevais (Entführung, Diebstahl, Mord); Tortillard, der Sohn Bras-Rouges, arbeitet für Polidori, und tut sich mit Duresnel und Finette Grevais zusammen; Mord am Chourineur. Wetterrelation in den MdP: Dunkelheit und Humiditätsformen: Kriminalität und Tod der Kriminellen (bspw. Ferrand, Chouette)

2 Eugène Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman

5. La Mère Burette Assoziation: Dunkelheit und Feuchtigkeit Funktion der Figuren und der Wohnung: Die Verbrechen Mme Burettes sind Wucherei und Betrug über ihre Tätigkeit als Pfandleiherin. Sie steht als Geliebte Bras-Rouges in direkter Verbindung zu Duresnel und Finette Grevais. Über ihre ökonomische Kriminalität erscheint sie schematisch beinahe als weibliches Pendant zu Ferrand. Dunkelheit und Humidität finden sich auch bei Ferrand. 6. »Le Commandant« Assoziation: Feuchtigkeit, Versuch der Verdrängung durch Kaminfeuer (→ Schwüle) Funktion der Figuren und der Wohnung: In der ersten Etage wohnt Charles Robert »Le Commandant«. Die Funktion und die Atmosphäre seiner Wohnung weisen auf zwei Facetten der MdP: auf die Scheinwelt der Ober- und Adelsschicht und auf die sexuelle Unmoral, die besonders mit den oberen gesellschaftlichen Schichten assoziiert wird.129 Robert strebt danach, ein Teil der adeligen Gesellschaft zu sein und wünscht sich nicht zuletzt deswegen eine Affäre mit Mme d’Harville.130 Die Wohnung mietet er eigens zu diesem Zweck und richtet sie entsprechend ein. Seine Absichten sind deutlich, doch Mme d’Harville gegenüber gibt er sich als ernsthaft verliebt. Charles Robert und seine Wohnung entsprechen dem Prinzip ›mehr Schein als Sein‹. Mme Pipelet betont gegenüber Gerolstein, dass sie für Roberts Wohnung nicht nur das Reinemachen übernimmt, sondern auch das Anzünden des Kamins, um sowohl für Wärme zu sorgen als auch die Feuchtigkeit zu vertreiben. Über die Humidität und die Figur ergibt sich zum einen eine Verbindung der Etage zur Szene im Wintergarten und damit zur Scheinwelt der Adelsgesellschaft. Der Anschein und die Funktion der Wohnung entsprechen zudem den auf Verführung angelegten Teilen des Hauses des jungen Grafen von St. Remy (Geld und Verführung).131 Zum anderen ergibt sich über die Humidität, ihre negative Konnotation und als Indikator für zweifelhafte Intentionen – neben der monetären – eine Verbindung zu Ferrand, denn beide sind auf die Wahrung des Scheins bedacht; beide suchen nach Erfüllung ihres Begehrens unter unmoralischen Vorzeichen und danach, diese zu verschleiern. Wetterrelation in den MdP: Humiditätsform: sexuelles Begehren; Schwüle: Wintergarten;132 Verbindung zur Oberschicht; sexuelle Fauxpas und ehebrecherische Affären; Ferrand: Geld und über Humidität unmoralisches sexuelles Begehren, die alle verborgen werden müssen. 7. Les Pipelet Assoziation: Wärme und Licht Funktion der Figuren und der Wohnung:133 Gleich neben der Treppe liegt die Portiersloge der Pipelets,134 sie strahlt eine ganz eigene Gemütlichkeit aus und wird vom Herd in der Mitte des Raumes erwärmt, sodass das Innere der Loge nicht mit Feuchtigkeit verbunden wird. Allerdings spiegelt sich die Beziehung des Hauses zur »sombre maison« Ferrands

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in den Lichtverhältnissen wider, denn die Portiersloge erscheint similär zur »sombre maison«135 Ferrands durch Darstellung als »loge enfumée par la combustion d’une lampe, nécessaire même en plein midi pour éclairer cet antre obscur«136 (Position der Pipelets möglicherweise noch unklar). Dies ändert sich an dem Nachmittag, als Gerolstein mit Anastasia Pipelet über die ›Einschleusung‹ Cecilys in das Haus Ferrands spricht (Mme Pipelet → Schaltstellenfunktion zwischen Ferrand und Gerolstein) und ihre Beziehung zu Mme Seraphine für die Überführung Ferrands hinreichend relevant wird; hier heißt es kurz zuvor plötzlich: »La loge était éclairée par la clarté blafarde d’un jour d’hiver«.137 Die Lichtveränderung antizipiert die Entwicklung der Aufklärung und den Funktionswandel des Hauses zum ›guten‹ Ort (Armenbank). M. Pipelet: Als running gag in der Rolle des Opfers des ehemaligen Mieters Cabrion; Veränderung der Beziehung gegen Ende der MdP → die eigentliche Dramatik weist Pipelet geradezu als Stalkingopfer aus. Der Wandel der Lichtverhältnisse während einer neuen Nachstellung durch Cabrion deutet hier auch auf die Befreiung Alfred Pipelets durch Gerolstein, der von Mme Pipelet von dem neuen Leid ihres Mannes in Kenntnis gesetzt wird. Gerolstein beruft Cabrion nach Gerolstein und an einem Frühlingstag an dem »le soleil dorait le sable«138 ist Alfred Pipelet nicht mehr melancholisch und wirkt befreit und vergnügt.139 Mit dem Haus und der Befreiung von Ferrand ist für die Pipelets auch eine soziale Entwicklung verbunden, da »le portier de cette maison a travaillé dans le neuf avant de descendre jusqu’à la restauration des vieilles chaussures«140 ; er wird Portier und Aufseher des Hauses, dessen neue Funktion die Beherbergung der neu gegründeten Armenbank ist. Wetterrelation in den MdP: Wandel der Verhältnisse durch Unterstützung des Guten. 8. Le Rogomiste Assoziation: keine Funktion: »Un escalier humide et noir«:141 Durch die Ähnlichkeit der Beschreibung markiert die Treppe sowohl eine Verbindung zu der von Ferrands Haus als auch zu denen der Cité. Wetterrelation in den MdP: Humidität außen, an den Wänden der Häuser/an Treppen: Bewohner mit krimineller Zuordnung

2.2.5 Wetter als sozialer Spiegel Mit dem Bruch innerhalb der MdP verbindet Hülk, wie bereits erwähnt, eine Veränderung der Erzählausrichtung von den »›Barbaren‹ intro muros nach dem Muster des Schauer- und Abenteuerromans […] zu einer die Thematik der späteren Sozialromane vorwegnehmenden Romankonzeption«142 . Neuschäfer bezeichnet die MdP gar als einen der »frühesten Sozialromane«143 . Mit Blick zum sich entwickelnden Kriminalroman ist die von Sue eingebrachte sozialkritische Tendenz insofern relevant, als dass diese später ein Element innerhalb der französischen Linie wird.144

2 Eugène Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman Publications des Mystères de Paris dans le Journal des débats Partie

Date du premier chapitre

Date du dernier chapitre

Première partie

19 juin 1842

13 juillet 1842

Seconde partie

6 septembre 1842

28 septembre 1842

Troisième partie

1er novembre 1842

17 novembre 1842

Quatrième partie

23 novembre 1842

30 décembre 1842

Cinquième partie

1er février 1843

19 février 1843

Sixième partie

16 mars 1843

31 mars 1843

Septième partie

10 mai 1843

24 juin 1843

Huitième partie

27 juillet 1843

2 septembre 1843

Épilogue

5 octobre 1843

15 octobre 1843

Tabelle 2: Zeitlicher Ablauf der Publikation

Auch nach dem Bruch145 werden historisch-faktuale Wetterlagen, soweit nachvollziehbar, mitunter als Teil der Faktur aufgegriffen und verarbeitet, zur Veranschaulichung der Verbindung Wetter und sozialer Spiegel werden nachstehend zwei Beispiele ausgeführt. Mit der sozialen Konzeption verändert sich damit die Wetterfunktion. Der statistische Anstieg des Niederschlags bis 1842 wurde skizziert, als die Eingangsszene behandelt wurde. Dieser bleibt über die Eingangsszene hinaus im zuerst publizierten Teil präsent und wird auf der Figurenebene, etwa von Duresnel, als langanhaltender Regen thematisiert. Bemerkenswert ist nun, dass 1842 das niederschlagsärmste Jahr zwischen 1770 und 1921 ist. – Es sind allerdings die Monate Juli, August, Oktober und Dezember, in denen der Niederschlag signifikant geringer ausfällt (im Juli 1842 etwa 85 % weniger als im Juli 1841), d.h., es regnet nach der Publikation der ersten Kapitel weniger. Diesen Niederschlagsrückgang greifen die MdP auf: Es bleibt über einen Großteil des Romans trocken. Der Sommer 1842 zeichnet sich zudem durch eine Abweichung von plus 2,5 °C146 als drittheißester in Paris zwischen 1801 und 1851 aus.147 Die hohen Temperaturen, etwa im August 1842, finden sich im Kapitel Histoire de David et Cecily wieder, denn hier ist die Handlung nach Florida verlegt. Während des Balls (Le bal) findet die Temperatur einen Nachhall im Klima des Wintergartens (Le jardin d’hiver), in dem die Figuren des Adels zusammentreffen.148

2.2.5.1 Die Kälte in der Dachkammer Neben der Inkorporation des Wetters um 1840 kommt es mit der von Hülk thematisierten sozialkritischen Hinwendung zu einer entsprechenden textuellen Funktionalisierung des Wetters. Über die Schwüle im Wintergarten deutet sich bereits eine Temperatur-Dichotomie bezüglich der gesellschaftlichen Schichten an; wohlhabende Figuren erscheinen vorwiegend in warmen Räumen.149 Für die oberen Schichten der MdP zeigt sich insgesamt keine physisch negative Bedeutung der Winterkälte. Für die unteren Schichten stellt sich die Kälte als Problem und Bedrohung heraus; dies sind insbesondere

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der Tod durch die Kälte sowie die Themen Feuerholz und Krankheit. Nachdruck verliehen wird dem auf der Figurenebene sowie durch Metakommentare. Besonders deutlich findet sich die Kältethematik an der mittellosen Familie Morel veranschaulicht (präfigurierend heißt das Kapitel Misère, hieran schließen La Dette und Le Jugement an).150 Klotz identifiziert verschiedene »Schockmotive«, die Sue verwendet und deren unverbrauchter Reiz darin besteht, […] dem Pariser Bürger ein aufregendes Exotikum aus unmittelbarer Nähe […] zu liefern: die versteckten, gemiedenen, literarisch kaum je zur Kenntnis genommenen Schlupfwinkel der eigenen Stadt als ein Inferno von Mord und Einbruch, Erpressung und Kindesunterschlagung, Hurerei und Hehlerei, Hunger und Kälte151 . Neben Mord und Prostitution wird Kälte von Klotz bemerkenswerterweise als ein Schockmotiv betrachtet; dieses findet sich (in dieser Form nur) bei den Morels. Für Sues veränderte Nutzung der Wetterfunktion erscheint zunächst ein biografischer Punkt relevant, denn, wie Ricken anschaulich resümiert: Der Autor »stürzt […] sich ohne die geringste Vorstellung von der Gesamtkonzeption in die ersten Kapitel der ›Mystères de Paris‹«152 . Es wandeln sich jedoch Sues politische Einstellung und Schreibhaltung, sodass er sich bei der Publikation des Kapitels Misère schon seit geraumer Zeit als Autor mit sozialkritischem Auftrag resp. als Autor des Volkes versteht.153 Obwohl die Sozialkritik bei Sue zwiespältig bewertet werden kann, haben nach Hülk die »Feuilletonromane Sues, mehr als die populäre Literatur des 20. Jahrhunderts, […] die Funktion eines Informationsträgers und ideologischen Apparates, der die Widersprüche der Gesellschaft im formal-inhaltlichen Chaos desorganisiert strukturiert und auf diese zurückwirkt«154 . Ähnlich führt Weber aus, dass die »in hohem Maße idealisierten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen […] für die zeitgenössischen gebildeten Leser ein hohes Attraktionspotenzial [hatten], weil aktuelle Probleme reflektiert wurden, und die Geschichte somit eine gewisse Alltagsnähe bietet«155 . Hierzu gehört auch das Schicksal der Familie Morel. Die Schilderung von deren Lebenssituation stellt für Neuschäfer »ein erstes literarisches Dokument für die Proletarisierung des kleinen Handwerkers […] dar«156 . Das Leben der Morels wird in Gesprächen zwischen Gerolstein und anderen Figuren als desolat beschrieben und damit die konkrete Einführung der Figuren vorbereitet; in Misère und La Dette erfolgt dann die Darstellung der Lebenssituation in der Dachkammer in der Rue du Temple 17. Eingeleitet wird diese durch eine direkte Ansprache an die Lesenden, die suggestive Formulierung »triste logis« sowie die zunächst knappe Präsentation der Naturphänomene: »Au dehors le silence est profond, la nuit noire, glaciale; il neige.«157 Auffallend ist die anschließende hohe Quantität und Frequenz, mit der Kälte, Schnee sowie entsprechende Hyponyme und sensuelle Impressionen besonders in Misère erscheinen. Durch die hohe Quantität wird die Kälte evokativ wahrnehmbar und zu einem der beherrschenden Momente in der Dachkammer. Über die Beschreibung des Raumes assoziiert sich die Kälte mit Elend und Armut und wird zum kritischen Moment; so ist das Wasser in einem Krug gefroren und Morel kann seiner sterbenskranken Frau keine Flüssigkeit reichen. In La Dette wird das Tageslicht durch den Schnee auf dem Dachfenster gedämpft und wirft »une triste clarté dans l’intérieur de ce réduit, et rendait son aspect plus affreux encore«158 . Das Wetter präfiguriert an dieser Stelle deutlich

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eines der nachfolgenden Ereignisse: Das Sonnenlicht, sinnbildlich für das Leben, wird durch den Schnee und die damit verbundene Kälte zu einer traurigen Helle geschwächt und kündigt den Tod an. Die Kälte ist durchdringend und schließlich übermächtig: Die jüngste Tochter der Morels, Adèle, stirbt. Über einen Metakommentar wird sodann explizit ein Nexus zwischen Kälte, Armut und Tod hergestellt: »Le froid […] avai[…]t hâté sa fin… […] fût mortelle. Ses pauvres petits membres étaient déjà roidis et glacés…«159 Der Tod Adèles knüpft eine Verbindung zu den Kälteopfern der strengen Pariser Winter um 1840 und verweist auf die Erfahrungswelt insbesondere der ärmeren Schichten. Die Darstellung von Tod und Kälte zielt auf das sich in den MdP entwickelnde Leitmotiv des »si les riches savaient«.160 Die Darstellung des Frostwetters und seiner Folgen zielt mithin auf eine Bewusstmachung der Bedrohung durch die kalten Pariser Winter. Die Schilderung der Dachkammer lässt sich mit der sich entwickelnden Sue’schen Sozialkritik fassen und der Wandel der MdP hin zu einem sozialkritischen Roman zeigt sich an dieser Stelle unter Verwendung des Kältemotivs.161 Als Feuilletonroman nutzt er durch die Faktualität die potenzielle Verwischung der Trennlinie von Realität und Fiktion und vermittelt einen dokumentarischen Eindruck. Durch diese Funktionalisierung wird das Wetter Teil der intendierten sozialkritischen Facette, d.h. es entsteht gleichsam eine sozialkritische Wetterperspektive. Im weiteren Verlauf der MdP entwickelt sich wiederholt eine Kritik an den Wohnverhältnissen, die dezidiert einen Nexus zu den jeweiligen klimatischen Gegebenheiten aufbaut, etwa zur Humidität bei Mme und Mlle Fermont, und eine Relation zum physischen, aber auch psychischen Gesundheitszustand der Figuren. Die implizierte klimatische Zuschreibung verdeutlicht sich nicht zuletzt bei der Familie Morel: Die als sterbenskrank eingeführte Mme Morel gesundet, nachdem es ihr Gerolstein ermöglicht, mit ihrer Familie in eine hellere und wärmere Etage des Hauses zu ziehen.162 M. Morel, der in der Kälte der Dachkammer auf einen psychischen Zusammenbruch zusteuert,163 erscheint gegen Ende der MdP bei frühlingshaftem Sonnenschein in gesundeter mentaler Verfassung (Bicêtre).

2.2.5.2 Die (soziale) Kälte der Einsamkeit Exemplarisch für die andere Seite des gesellschaftlichen Panoramas steht die Apperzeption der Kälte durch Marquis d’Harville. Die Emotionen D’Harvilles und seine psychische Verfassung werden zum meteorologischen Geschehen (Winter, Frost) parallelisiert, welches auf der Figurenebene durch Mme d’Harville in ihrer emotionalen Kälte übertragen wird. Die meteorologische Kälte entwickelt sich nicht zu einer physischen Bedrohung, doch manifestiert sie sich als innere Gestimmtheit und kulminiert in seinem Suizid. Dies geschieht über die (Polar-)Struktur von (erloschenen) Flammen, Kälte und Frost.164 D’Harville scheint die Kälte sukzessive zu absorbieren, sodass seine Melancholie, Depression und seine aufwallenden Gefühle, verquickt mit der repetitiven Nähe zu Assoziationen der Kälte und Dunkelheit, geradezu meteorologisch gebunden erscheinen; so kommt es unter diesem Einfluss zum Entschluss zum Suizid, als ihn der Gedanke an seine Zukunft als metaphorische Eiseskälte seine Sinne berührt: »L’avenir lui pesait, lourd, sombre, glacé.«165 Trotz der gebotenen Kritik an der Psychologie der MdP166 lässt sich mit M. d’Harville die Frage nach der Beeinflussung durch die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts diskutierte depressive Störung Seasonal Affective Disorder stellen. D’Harvilles Er-

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krankung und die sich daraus problematisch entwickelnde Beziehung zu seiner Frau führen zu einer gewissen emotionalen Labilität, die sich durch die psychosomatischen Auswirkungen des Winters potenziell verstärkt.167 Gerade die extremen Winter um 1840 könnten in diese Richtung gedeutet werden, nimmt man sie als ›schlechtes Wetter‹ an, das nach Spasova168 bei emotional labilen Personen zu einer stärkeren Reaktion führt. Auch D’Harvilles Schlaf- und Appetitprobleme, seine Lethargie und Angstgefühle könnten damit verbunden oder verstärkt erscheinen. Wie Adèle stirbt D’Harville im Nexus der Kälte. Mit beiden Figuren etabliert sich eine recht konstante Relation innerhalb des Wettersystems der MdP. Unter Berücksichtigung des singulären Kontextes sowie der individuellen Wahrnehmung und Bedeutung erscheint die Kälte in Verbindung mit physischem oder psychischem Leid, Bedrohung und Tod. Diese Relation wird im Verlauf der MdP etwa bei der Todesangst Duresnels oder beim Tod Fleur-de-Maries aufgegriffen bzw. fortgeführt.

2.3 Gangster, Opfer, Detektive – und das Wetter Der Schauerroman gründet in der Aufklärung, indem er entweder das Unheimliche als erklärlich aufzeigt – diese Seite wird dann zum Vorläufer des Kriminalromans –, oder das irrationale Moment als eine nicht logisch zu erklärende Realität präsentiert.169 Ein Schritt vom Schauerroman zum Kriminalroman wird unter anderem im Wegfall des elementaren Bausteins der Panik gesehen, die in den MdP durch die Aufdeckung der Geheimnisse ersetzt wird, die Gerolstein vornimmt. Im echten Schauerroman ist die schaudererweckende Macht im ganzen Geschehen spürbar, die Spannung hängt von einer durchweg unerklärlichen, ereignisreichen, wundersamen Handlung ab. Die Ereignisse und Schicksale des Helden, die immer wieder zum Staunen und Furchthaben Anlaß geben, sind in ihrer Gesamtheit Kriterium des Schauerromans.170 Diese spezifische Angststruktur gibt es in den MdP nicht. Mit der Aufdeckung des Geheimnisses erfüllt sich ein Deutungsmuster, das einen Einblick in die Wahrheit erlaubt. Nicht die Oberfläche wird gedeutet, sondern sie erhält eine Komponente, mit der deutlich wird, dass sie das Eigentliche verhüllt.171 Geheimnisse und Rätsel sind in den MdP Teil einer rational greifbaren Kriminalität und bedürfen eines Moments, der die Zusammenhänge ordnet und mit dem das Verborgene gelesen werden kann. Diese Aufgabe fällt der Figur der ermittelnden Instanz zu, die – als Detektiv – Teil der Trias Gangster – Opfer – Detektiv wird. Obwohl in den MdP viele Reat-Lösungen zu finden sind, werden Handlung und Ereignisse zunächst als Rätsel bzw. als Geheimnis dargestellt.172 Etwa das ›LouiseMysterium‹: Die Violation Louise Morels wird durch die Umstände des Verbrechens zum Geheimnis – sie wird betäubt, indem ihr heimlich mit dem Wein eine Droge verabreicht wird. Die Nacht des Übergriffs stellt für Louise Morel ein Geheimnis dar, welches (scheinbar) erst durch Gerolstein gelüftet werden kann.173 Das Beklemmungsgefühl des Unerklärlichen besteht für Louise so lange, bis Gerolstein das Erklärungsvakuum ratio-

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nal bzw. mittels Analyse füllt. Die rationale Erklärung bedeutet mithin eine Aufhebung des Unverständnisses, nicht der Panik: Louises Beklommenheit entsteht nicht, wie im Schauerroman, durch auf sie einstürzende Ereignisse, sondern aus der Unfähigkeit, die Kausalität der Indizien zu entschlüsseln.174 Indes ist das, was der späteren Detektivgeschichte Kontur geben wird – die Ermittlung des Täters auf Basis von Indizien, Spuren und Beweisen –, nur bedingt vorhanden, denn die Täter sind meist unmittelbar bekannt.175 Indizien und Beweise werden daher etwa gegen Ferrand gesammelt, um ihn bestrafen zu können, nicht, um auf seine Spur zu kommen.176 Im Folgenden wird zunächst die Funktionsveränderung des Wetters im Zuge der Entstehung des Genres Kriminalroman betrachtet, zunächst mit Blick auf den gesamten Roman, sodann an drei ausgewählten ›Spuren‹. Anschließend werden die Figuren, die der späteren Figurentrias des Kriminalromans entsprechen – Ermittler (Gerolstein), Opfer (Fleur-de-Marie), Täter (Duresnel und Ferrand) – im Hinblick auf meteorologische Phänomene beleuchtet und erörtert, ob diesen für die Figurenfunktion eine Bedeutung zukommt.

2.3.1 Schau(d)erwetter in verbrecherischen Momenten Trotz der Veränderung des Handlungsorts und des Figurenensembles bleibt die in der Eingangsszene angelegte Verbindung von Wetter und Kriminalität bestehen. Diese spezifische Kombination erscheint in Situationen bzw. an Orten, an denen viele Verbrecher zusammentreffen, bspw. die Insel der Martials (Wind),177 am Männergefängnis (Wind und Regen, auch in Erzählungen der Inhaftierten) oder um den Master criminal Ferrand. Ferner weisen die ›kriminellen‹ Koordinaten, d.h. insbesondere die Heimstätten der Kriminellen, eine Verbindung zu Humidität und Dunkelheit auf.178 Eine weitere Relation zur Eingangsszene entsteht durch die Verortung und die »bise«. Die Wohnorte der Kriminellen greifen die Verbindung zwischen Kriminalität und Himmelsrichtung auf, die auf die Stadtgeografie übertragen wird:179 Das ›Böse‹ kommt aus dem Norden. Zur Frage des Übergangs vom Schauerroman zum Kriminalroman im Hinblick auf das Wetter folgt hier ein konziser Überblick der Szenen, die aufgrund der Wettergestaltung potenziell eine originäre Verbindung zum Schauerroman aufweisen, aber in kriminellen Kontexten stehen. Grundlegend sind hierbei nicht zuletzt diejenigen Szenen, die Heidenreich notiert und die etwa bezüglich ihrer Schauplätze auf die »typische ›Szenerie‹ der Gothic Novel und auf Grundbedingungen ihrer Ästhetik, wie ›obscurity‹ und ›terror‹«180 verweisen. Die Anzahl der Kapitel, deren Wetterlagen diese ›unheimliche‹ Facette aufweisen, liegt bei fünf bzw. elf. Diese sind: I. Le tapis-franc – u.a. mit der Eingangsszene (s.o.) II. Le Cœur-Saignant (u. Préparatifs u. Le caveau) – u.a. mit Gerolstein III. Le rêve – mit Duresnel alias Maître d’école IV. L’île du ravageur (u. Le pirate d’eau douce) – mit der Familie Martial V. Luxurieux point ne seras… (u. Le guichet u. Fortsetzung in Furens amoris u. Les visions) – mit Ferrand.

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Diese Kapitel heben sich wegen ihres potenziell sensationellen Effektes heraus, d.h. ihnen ist gemein, dass sie prima facie über meteorologische Versatzstücke eine schreckenerregende bzw. unheimliche Atmosphäre aufbauen. Markant ist ihre stete Verbindung zur Thematik der Kriminalität. Bezogen auf die Gesamtheit aller Kapitel ist die Anzahl zwar gering, aber ihre Position innerhalb der Faktur ist dennoch interessant, weil sie Höhepunkte der Kriminalhandlung markieren: So stellt II. die Action-Modellszene für den Thriller, III. leitet die Läuterung eines Kriminellen ein, IV. markiert die verstärkte Erweiterung des Verbrechenspanoramas, V. sekundiert und initiiert Bestrafung, Überführung sowie Tod Ferrands. I., II., III. und V. beinhalten eine Veränderung der Charaktere der Verbrecher bzw. den Wandel von der Abenteuer- zur detektivischen Instanz (II.). II., III., IV., V. vereint, dass sie in Zusammenhang mit einem oder mehreren Morden oder Mordkomplotten stehen; in III., IV. und V. sind dies Geständnisse von Mordtaten, wobei das ›schauerliche‹ Wetter stets deutlich mit dem Geständnis, d.h. implizit der Aufklärung, verwoben ist. In III. und IV. entspricht die unheilschwangere Stimmung des Wetters der Gestimmtheit einer Figur: In IV. ist dies der kleine François mit seiner Furcht angesichts der Leiche,181 eines von der Familie Martial ermordeten Mannes, doch nur in III. wird das Wetter dezidiert unheimlich, allerdings eher im Freud’schen Sinne und affektbezogen gedeutet, sowie figurenbezogen reflektiert.182 II., III., IV., V. verbindet ferner, dass eine der Figuren eine spezifische Art von Furcht empfindet: Gerolsteins Furcht zu sterben; Duresnels Furcht vor sich selbst, vor seinem Schuldbewusstsein und seiner Zukunft; François’ Furcht vor der Leiche; Ferrands Furcht vor Enttarnung und Verlust. Zu IV. und V. kann die Anmerkung Rickens aufgegriffen werden, wonach »die Ereignisse auf der Insel des Schrottsammlers und die Bestrafung des Notars Ferrand in derselben Atmosphäre statt[finden]«183 . Auch wenn für IV. und V. von einer jeweils potenziell unheimlichen Atmosphäre auszugehen ist, so unterscheiden sie sich sowohl in ihrem meteorologischen Aufbau als auch in der Funktion der meteorologischen Elemente. So weist V. bspw. die Besonderheit auf, dass kein Regen fällt; hier stellt sich die unheimliche Stimmung besonders in der Fokussierung auf den kleinen François heraus, bleibt sonst jedoch trotz der rasselnden Bootsketten und ähnlicher Hinweise nur geringfügig schauererregend. Markanterweise erfolgt mit dem regenfreien IV. die Einführung der Verbrechergruppe, die nicht von Gerolstein überführt wird, sondern von der Polizei. V. hebt sich auffallend ab, da sich hier die einzigen Gewitterstürme in den MdP finden (nebenbei bemerkt: im Norden). Gerade zu diesen konstituiert sich, wie zu Ferrand noch näher ausgeführt wird (Kapitel 2.3.6), bezüglich des Master criminals eine in den MdP einmalige Funktion des Wetters, die letal endet. Grundlegend zeichnet sich die Atmosphäre in V. im Gegensatz zu IV. durch eine erotische Grundstimmung aus, die in IV. absolut nicht vorhanden ist. Zusammenfassend ist markant, dass es in den untersuchten Kapiteln zu einer Verschiebung bzw. Aktualisierung auf der Motivebene kommt, denn alle Wetterdarstellungen sind mit der Thematik der Kriminalität verknüpft.

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2.3.2 Krimi-Spuren – Der Schnee als Indiz für und Ausdruck von Insekurität Fast der gesamte Teil der Handlung ereignet sich im Winter in Paris und Umgebung. Obwohl der Winter damit die Hauptjahreszeit darstellt, ist bspw. Schnee in der Stadt ein seltenes Phänomen, denn meist sind als hibernale Elemente lediglich Frost und Kälte präsent. Schnee stellt mithin ein besonderes Wetterereignis dar. Auffallend ist jeweils seine Funktion im Nexus der MdP als Vorläufer des Kriminalromans. Im Folgenden werden die drei (elementaren) Schneestellen beleuchtet: • • •

Temple Indiz saisonale Dichotomie der Insekurität

In allen drei Fällen steht der Schnee in einem Nexus zur Aufklärung.

2.3.2.1 Temple – Opposition zur Kriminalität Schnee auf den Straßen von Paris liegt in dem Moment, als Rigolette und Gerolstein sich zum Temple begeben, um Möbel für die Familie Morel zu erwerben: »À la neige de la nuit avait succédé un vent froid; le pavé de la rue, ordinairement fangeux, était presque sec.«184 Das Wetter und die Straßenbeschaffenheit rufen an dieser Stelle in der Rue des Archives, die vom Norden her zur Cité führt, die Eingangsszene in Erinnerung. Auch hier wirkt die Wetterlage auf die Wirkung des Ortes, sie steht allerdings kontrastiv zur Nacht des 13. Dezember: Der Wind ist kalt, aber nicht stürmisch; sein Ursprung wird nicht benannt. Die Straße ist nicht feucht und matschig, sondern trocken. Schnee und kalter Wind erscheinen gleichsam als reinigende Kraft. Das Wetter wirkt zusammen mit der Handlungsentwicklung, die oppositionell zur Kriminalität der Eingangsszene gesetzt werden kann. Dies betrifft zum einen das (Leit-)Motiv Gerolsteins, Gutes für die unschuldig in Not Geratenen zu tun, an dieser Stelle mit Bezug zur Familie Morel, und den Ereignissen in der Dachkammer. Zum anderen besteht eine Verbindung zum Kontext der sich entwickelnden deduktiven Handlungslinien: Der Schnee am Tage präfiguriert die Aufklärung von kriminellen Machenschaften. Die von diesem Punkt ausgehende Handlungsentwicklung ist: Gerolstein wird im Temple auf den Sekretär aufmerksam und die Spuren führen zu weiteren Opfern Ferrands, M., Mme und Mlle Fermont. Das Wetter kann mithin dazu in Verbindung gesetzt werden, was James als Indiz für die Entwicklung des Kriminalromans denominiert: […] a fragmented letter revealing the story of a gentlewoman swindled of her fortune. This incident has been seen by several critics as an almost perfect precursor of the detective genre, as it leads to a real, urban mystery that must be chased up by clues to discover first the woman’s identity and then her whereabouts.185 Mit dem Schnee kommt an dieser Stelle die detektivische Komponente hinzu. Er rekurriert auf das evokative Spektrum von Hell und Dunkel, indem Hell und Klärung – hier die eines Geheimnisses –, formelhaft miteinander in Verbindung stehen und in ihrer Lichtmetaphorik auf Platon wie auf die Aufklärung verweisen. Markanterweise werden

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»weit über das illustrative Moment […] [der] Metaphorik hinaus […] Hell und Dunkel zu strukturierenden Elementen, die das gesamte Gattungsgefüge durchdringen«186 . Dies geschieht dergestalt, dass sich – mit Schulz-Buschhaus – die Struktur des Kriminalromans an das »Schema des fortschreitend verdunkelten und schließlich jäh erhellten Geheimnisses«187 anknüpfen und abstrahieren lässt. Die wirkende Binärstruktur zeichnet sich in den MdP fernerhin über die Struktur von Winter und Frühling ab. Als Element der Aufklärung tritt der Schnee besonders hervor, wenn er selbst in der Funktion als Spurenträger (Indiz) genutzt wird.

2.3.2.2 Indiz Orte haben in den MdP nur eine marginale Funktion als Indizienträger, d.h. sie sind nicht etwa als Tatorte (z.B. für das Attentat an MacGregor) für die Aufklärung relevant. Dies hängt damit zusammen, dass die Verbrechen noch kein Logical oder Mystery im eigentlichen Sinne darstellen. Mit dem Einsatz des Schnees ändert sich dies jedoch an einer Stelle: Im Fall von Louise Morel spielt der Schnee für die Aufdeckung des Verbrechens eine Rolle und wird zum Spurenträger. Louise bringt allein und in Furcht vor Ferrands Mordabsichten das gemeinsame Baby im Haus des Notars zur Welt. An dieser Stelle wird die herrschende Kälte (erneut) mit dem Tod verbunden, denn ihr Neugeborenes stirbt.188 Der Frost verhindert zunächst das Verstecken resp. Vergraben der Leiche. Erst der fallende Schnee gibt Louise die Hoffnung, ihr Kind unbemerkt begraben zu können und ihr eigenes Leben zu retten. Mond, Schnee und Frost bilden die meteorologische Transzendenz des Momentes: Je remis de la neige par-dessus la terre, pour qu’on ne s’aperçût de rien… La Lune m’avait éclairée. Quand tout fut fini, je ne pouvais me résoudre à m’en aller… Pauvre petit, dans la terre glacée… sous la neige… Quoiqu’il fût mort… il me semblait qu’il devait ressentir le froid …189 Der bedeckende Schnee erhält für diesen Moment eine behütende und mütterliche Qualität.190 Der Schnee erscheint prima facie wie eine Decke, die sich über das Kind legt und damit die tragischen Ereignisse »bedeckt«. Doch intensivieren die Temperatur und der Schnee die Emotionalität, den Schmerz und die Beklemmung durch die sensuelle Evokation und greifen parallel den Nexus von Kälte und Tod wieder auf. Doch der Schnee birgt gleichzeitig die Unmöglichkeit der Vertuschung und des Entkommens vor Ferrand, denn der Schnee wandelt seine Funktion zum Spurenträger: Die Spuren, die Louise im Schnee hinterlässt, werden zum Indiz. Sie führen die Polizisten, die Ferrand ruft, zur Leiche und bewirken mittelbar die Verhaftung Louise Morels. Die Bedeutung des Schnees wird durch einen der Polizisten bei der Verhaftung Louise Morels explizit: »Après quelques investigations, des pas marqués sur la neige avaient conduit à la découverte du corps d’un enfant nouveau-né enterré dans le jardin.«191 Diese Erwähnung – geradezu en passant – ist so unscheinbar wie von großer Tragweite. Sie ist intratextuell die Basis für die Ermittlungen und die Anklage gegen Louise, und sie führt mittelbar zur Aufklärung von Ferrands Verbrechen an Louise, womit dem Schnee im weitesten Sinne eine faktisch aufklärende Funktion zukommt.192

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Extratextuell bedeutend ist das Wetter durch seine Funktion im deduktiven Kontext, die über seine Verwendung als Umweltphänomen hinausgeht. Dieser analytische Gebrauch wird richtungsweisend für den (potenziellen) Einsatz im Kriminalroman. Die Funktion von Naturphänomenen als Spurenträger oder eigenständiges Indiz findet sich später etwa bei Gaboriau, Leroux, Lerouge oder Doyle. Dort werden sie als bedeutendes detektivisches Moment mitunter effektvoll lanciert und eingesetzt. Das Motiv der Spur und des Spurenlesens versteht Kessler als »zentrales Motiv einer ganzen Gattung […] der Kriminal- bzw. Detektivliteratur« und als gattungskonstituierendes Element,193 das hier in den MdP seinen Ausgang nimmt.

2.3.2.3 Saisonale Dichotomie der Insekurität Der Schnee wird auch außerhalb der Stadt liegend erwähnt, scil. im Panoramablick auf dem Land um das Gut Bouqueval, wohin Gerolstein Fleur-de-Marie bringt. Die meteorologische Darstellung und ihre Wirkung auf den Ort sind an folgender Stelle besonders auffallend, weil es sich um eine potenzielle Wetterlage handelt: »Tantôt la neige éblouissante change la campagne en d’immenses paysages d’albâtre qui déploient leurs splendeurs immaculées sur un ciel d’un gris-rose. […] Tantôt, dès le matin, le givre suspend aux arbres ses girandoles de cristal que le soleil d’hiver fait scintiller de l’éclat diamanté du prisme […].«194 Landschaft und Wetter evozieren ein malerisches Bild und nach Ricken ist »Sue […] hier ganz Kind seiner Zeit, überwältigt von Motiven der panoramatischen Fernsicht.«195 Als solches verzaubern die meteorologischen Phänomene die Landschaft in eine Idylle – so auch der suggestive Titel des Kapitels – und rücken das Mustergut Bouqueval in ein entsprechendes Licht. In Anknüpfung an den ersten Teil der MdP erscheint das Land kontrastiv zur Cité prima facie als idealisierter, positiver Bereich.196 Aber die Darstellung der Landschaft offenbart in kleinen Hinweisen, wie »tantôt«, »Aux champs, chaque saison offre presque toujours des aspects charmant«,197 dass es sich nicht um einen tatsächlichen Zustand handelt. Vielmehr manifestiert sich eine saisonale Dichotomie,198 die sich hier speziell in Bezug zur Insekurität Fleur-de-Maries abzeichnet. Denn: »Cachée pendant l’été au milieu des arbres, comme un nid dans le feuillage, la ferme où était retirée la Goualeuse apparaissait alors tout entière et sans voile de verdure.«199 Dies bedeutet, das Bouqueval im Winter sichtbar und nicht als sommerliche Idylle vor kriminellen Einbrüchen gefeit ist. Durch die Jahreszeit verliert der Ort damit aber seine Schutzfunktion als Zufluchtsstätte (»cachée«, »nid«), sodass Finette Grevais und Duresnel Fleur-de-Marie aufspüren können.200 Die ländliche Idylle mit ihrer impliziten Sekurität als locus amoenus wird in den MdP im Winter aufgehoben resp. zerstört und in ihrer Existenz letztlich grundsätzlich infrage gestellt. Diese Signifikanz der Aufhebung des scheinbar idyllischen Landschaftsraumes greift Fleur-de-Maries Utopie auf der Wiese wieder auf und stellt das damit verbundene erhoffte Potenzial als genau dieses, scil. als Utopie heraus.201 Die entworfene saisonale Insekurität steht im Nexus zur saisonalen Konzeption der gesamten MdP. Fast der gesamte Hauptteil der Handlung, von der Eingangsszene in der Cité bis zum Epilog in Gerolstein, ereignet sich im Winter in Paris und Umgebung.202 Damit spielt logischerweise auch die gesamte ›Krimihandlung‹ im Winter. Saisonale Oppositionen können somit nur durch Erinnerungen, Vorstellungen oder suggerierte Wetterlagen wie saisonale Bedingungen entstehen. Frühling und Sommer werden hierbei

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von den Figuren stets positiv bewertet und als Kontrastfolie zur hibernalen Saison gesetzt. Am Ende der Pariser Handlung hält der Frühling frühzeitig Einzug (»printemps hâtif«203 ). Hiermit ist der für die meisten Figuren positive Handlungsausgang verbunden: So erholt sich M. Morel von seinem akuten psychotischen Schub und die Familie ist wieder vereint, M. Pipelet ist von seinem ›Stalker‹ Cabrion befreit und erhält eine neue Aufgabe in der gegründeten Armenbank, Fleur-de-Marie verlässt als Prinzessin Amélie Paris mit ihrem Vater, Gerolstein und Mme d’Harville sind zusammen, Duresnel ist ›geläutert‹ etc. Für Viele beginnt hier analog zum saisonalen Zyklus ein Neuanfang. Daraus folgt, dass ein positives Ende für die Pariser Figuren in auffälliger Weise mit dem vorgezogenen Frühlingseinzug zusammenfällt. Damit wird die positive Frühlingsbewertung aktualisiert und reziprok mit der Handlungsebene wirksam. Dieses Moment verdeutlicht dezidiert die saisonale Dichotomie in den MdP: Auf der einen Seite steht die durchgängig positive Zuschreibung und implizite Sekurität des Frühlings/Sommers, während auf der anderen der Winter mit Kriminalität, Tod, Gefahr und Insekurität verbunden ist. Diese entworfene Konzeption erscheint mit Blick auf die Gattungsentwicklung interessant, denn erneut lässt sich mit Lahmédi auf den Nexus von Kälte, Dunkelheit und Unsicherheit als Konstituenten des späteren néo-polar, d.h. als gattungscharakteristisch, verweisen.204

2.3.3 Rodolphe Prince Gerolstein – Nebelgrenze und fataler Regen Rodolphe Prince Gerolstein stammt aus dem Herzogtum Gerolstein und befindet sich zu Handlungsbeginn der MdP bereits in Paris. Die Handlung verläuft – wie schon in Abschnitt 2.1 erwähnt – für den Protagonisten Gerolstein nach dem klassischen Schema ›Vertrauter Ort‹ (Heimat Gerolstein) → ›Auszug zum unbekannten Ort‹ (Paris) → ›Rückkehr‹ (Gerolstein). Damit entspricht er zunächst der Figur des Abenteurers, doch zeichnet sich an der Figur Gerolsteins nach Ricken der »Übergang vom Abenteurer zum Polizisten«205 ab. Dieser Übergang ist gattungsgeschichtlich stringent, da der Abenteuerroman einen der Vorläufer des späteren Kriminalromans stellt. Allerdings erscheint Gerolstein eher als früher Detektiv bzw. Privatermittler (auch wenn es diesen Terminus zur damaligen Zeit noch nicht gab) denn als Polizist; nicht zuletzt, da er nicht dem staatlichen Recht, sondern seiner eigenen Vorstellung von Recht und Ordnung folgt. Zu Handlungsbeginn lässt Gerolstein Züge der ersten Ausprägung der späteren Detektivfigur erahnen, wie sie Heißenbüttel differenziert: Da ist zum einen der Typus, »der im rauen bis rüden Einsatz so lange Gegner zusammendrischt (und natürlich zwischendurch auch selber zusammengedroschen wird), bis er heraus hat, wer es gewesen ist« (Marlow, Spade, Hammer & Co.); zum anderen gibt es den »der durch eine Mischung aus Faktenermittlung und kombinatorischer Rätselei das zunächst Verworrene und Undurchschaubare in plausible Zusammenhänge bringt und durchschaubar macht«206 . Im Verlauf der MdP werden an Gerolstein diese zwei Typen des Detektivs sichtbar. Etymologisch leitet sich Detektiv von lat. detegere ab, welches primär aufdecken, enthüllen, entblößen bedeutet, im übertragenen Sinne aber auch das Aufdecken, Offenbaren oder Verraten einer »culpam« (einer Schuld) oder von »insidias« (Nachstellungen) meint.207 Diese beiden Funktionen, das Aufspüren und das Schützen potenzieller Opfer, werden

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ab einem bestimmten Zeitpunkt in den MdP durch Gerolstein realisiert und zeigen sich etwa am »Louise-Mysterium«. Markant ist im vorliegenden Kontext, dass der Wandel der Funktion, der sich an Gerolstein abzeichnet, durch die zwei Wetterphänomene Nebel und Regen nicht nur begleitet und markiert wird, sondern dass der Regen elementarer Teil dieses Impetus ist. Die Ausgangssituation bildet Gerolsteins Vergangenheit in Gerolstein, die Veränderung erfolgt in mehreren Etappen: I. die Identität bzw. Identitätskrise (die Vergangenheit in Gerolstein), II. die Nebelgrenze, III. tödliche Regenmassen/der »Initiationsmoment«.

Während I. vor der Paris-Handlung liegt und nur in Retrospektionen dargestellt wird, liegen II. und III. (chronologisch) im ersten Teil der MdP (vor Le Départ). Im Folgenden wird der Nexus resp. die Kontiguität, die zwischen Nebel (II.) und Regen (III.) sowie der Veränderung Gerolsteins besteht, aufgezeigt.

2.3.3.1 Die Identität bzw. Identitätskrise Der Aufenthalt in Paris stellt für Gerolstein ein Abenteuer dar;208 mit Blick auf die Vergangenheit in Gerolstein rückt dieser Aufenthalt allerdings zugleich in die Nähe eines selbst gewählten Exils, resultierend aus einer »Identitätskrise«209 . Diese entsteht aus dem psychologischen Konflikt der Rebellion gegen den Vater, in deren Zuge dessen Gebote übertreten werden.210 Das schlechte Gewissen des jugendlichen Aufbegehrens kulminiert im subjektiven Erleben des »Vatermords«. Die Reisemotivation gründet sich in diesem Sinne in der Flucht vor dem direkten Ausagieren. Gerolsteins Handlungen stellen zunächst eine (physische) Selbstbestrafung später aber einen Abwehrmechanismus dar, indem er anderen gegenüber handelt, wie es den Prinzipien des Vaters entsprechen würde.211 In alias verbis: Die innere Spannung des Aufbegehrens führt zu einer Substitution bzw., wie sich mit Hülk ausführen lässt, zu einer Projektion des Konflikts auf die Kriminellen von Paris, um diese stellvertretend der »väterlichen Autorität und Wertordnung«212 zu unterwerfen. Der Konflikt moduliert das spätere Handeln. So ist markant, dass die Strafen, die Gerolstein auferlegt, zwar ein Spiegel der Taten des Kriminellen (Duresnel und Ferrand) sein sollen, aber die Taten der Master criminals wie der Polidoris weisen Facetten von Gerolsteins eigenen Handlungen in Gerolstein auf (etwa die Affäre mit »der bösen sexualisierten«213 Sarah similär zur sexuellen Begier Ferrands). Der Suche nach sich selbst als Teil der Konfliktlösung entspricht spiegelverkehrt die Suche nach François Germain, insofern Gerolstein als ›verlorener Sohn‹ den verlorenen Sohn Mme Germains sucht. Der Konflikt Gerolsteins wird letztlich zwar nur über diese Stellvertreter gelöst, doch Gerolstein kann in seine Heimat zurückkehren. Gleichwohl räumt Gerolstein zum Ende der Pariser Handlung in seinem eigenen Leben auf: Er gibt sich als Prinz von Gerolstein zu erkennen, heiratet Sarah Comtesse MacGregor, um Fleur-de-Marie zu legitimieren und nach dem schnellen Ableben Sarahs – die just in time von Finette Grevais erstochen wird (auch hier ließe sich eine gewisse Symbolik erkennen), – Mme d’Harville zu ehelichen.214

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2.3.3.2 Die Nebelgrenze Sowohl für die Figur Gerolstein als auch für die Verknüpfung bzw. den veränderten Nutzen schauerromantischer Motive im Rahmen des Kriminalromanvorläufers ist der Nebel vor der Schenke Bras-Rouges, dem Cœur-Saignant, bezeichnend. Der Nebel erscheint als Naturphänomen nur an diesem Abend, wobei er durch diese Singularität bereits seine besondere Relevanz beweist. Gerolstein ist zusammen mit Duresnel, Finette Grevais (alias Chouette) und Tortillard auf dem Weg ins Cœur-Saignant, um gemeinsame kriminelle Interessen zu erörtern: […] les nuages, chassés par la violence du vent, étaient si noir, si bas, qu’il faisait déjà presque nuit. […] Le vent faisait tristement grincer sur ses gonds une méchante plaque de tôle; à travers la rouille qui la couvrait on distinguait encore un cœur rouge percé d’un trait. L’enseigne se balançait à un poteau dressé au-dessus de cet antre, véritable terrier humain. Une brume épaisse, humide, se joignait à la pluie; la nuit approchait. […] [La Chouette] disparut bientôt avec Tortillard au milieu des vapeurs amoncelées par le crépuscule, et des tristes murmures du vent qui agitait les branches noires et dépouillés des grands ormes des Champs-Elysées.215 Das Wetter weckt Reminiszenzen an den Schauerroman und wirkt entsprechend suggestiv, insofern dieses den Zweck erfüllt, eine unheimliche resp. bedrohliche Atmosphäre zu erzeugen. Parallel steht der Nebel bezogen auf die Handlung dezidiert im Nexus zweier krimineller Intentionen: zum einen der geplante Raubzug mit Gerolstein als (scheinbarem) Komplizen als offene Intention, zum anderen die verborgene Intention Duresnels und Finette Grevais’ gegen Gerolstein (Raubzug und Mordanschlag). Auffallend gestalten sich hier die Anthropomorphisierung bzw. Personifizierung sowie die Antiklimax des Windes im Vergleich zur Klimax der Eingangsszene.216 Der Wind erscheint »triste« und »tristement«, dies unterstreicht die unheimliche Atmosphäre, verweist aber ebenso auf ein Moment der Trauer und stellt sich damit sowohl als Präfiguration der Ereignisse als auch als Markierung eines ›Abschieds‹, einer Veränderung heraus. Das Humiditätsereignis fungiert (I.) als unheimliches (Schauerroman) bzw. bedrohliches (Krimiperspektive) Omen der Gefahr. Für Gerolstein verspricht das Vordringen in den Nebel – das Unbekannte – das Eindringen in kriminelle Kreise, abenteuerliche und spannende Erfahrung. Der Nebel verweist zudem (II.) auf die konfliktäre Disposition (des Reisenden).217 In diesem Kontext erhält er eine Erweiterung als meteorologische, semiotische, topologische Grenze. Einstweilen figuriert der Nebel als Grenzbereich, in dem das Unangemessene mit der blinden Suche nach sich selbst bzw. zurück nach dem rechten Weg verbunden erscheint.218 Ferner symbolisiert (III.) der Nebel als eine Art Privationselement die ›Vernebelung‹ der Sicht bzw. des Verstehens durch die Schuldkomplexität. Gerolstein wiegt sich in Sicherheit und plant eine Falle gegen Duresnel und Finette Grevais, obwohl er um die Tötungsintention ihm gegenüber weiß. Insofern verweist der Nebel auch auf die Dualität der Hybris, die Situation kontrollieren zu können, und den Verlust der inneren Sicherheit, den Wunsch nach letaler Strafe bzw. Sühne. Der Nebel als Grenzbereich markiert (IV.) durch den bewussten Eintritt, in Verbindung mit III., den Übergang vom Abenteurer zur detektivischen Instanz und bereitet diesen vor.219

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2.3.3.3 Tödliche Regenmassen Gerolstein betritt mit Duresnel das Cœur-Saignant. Während des hier stattfindenden Gesprächs stößt Duresnel Gerolstein in den Keller – aus schauerromantischer Perspektive in das Verlies. Wegen des anhaltenden Regens werden die Kellerräume geflutet und, um es mit Ricken dramatisch zu formulieren: »Rudolf ertrinkt fast im entfesselten, unheimlichen Hochwasser der Seine«220 : Sous le coup de son horrible chute, Rodolphe était resté évanoui […] Le Maître d’école, le traînant jusqu’à l’entrée d’un second caveau beaucoup plus profond, l’y avait descendu et enfermé au moyen d’une porte épaisse garnie de ferrures […]. Ressentant à ses pieds une vive impression de fraîcheur, il y porta la main… C’était une flaque d’eau. […] son étourdissement se dissipait peu à peu […]. Il écouta… il n’entendit rien… rien qu’une espèce de petit clapotement sourd, faible, mais continu. […] il se baissa, tâta; il avait de l’eau jusqu’à la cheville. Et, au milieu du morne silence qui l’environnait, il entendit plus distinctement encore le petit clapotement sourd, faible, continu. […] il en comprit la cause: l’eau envahissait le caveau… La crue de la Seine était formidable, et ce lieu souterrain se trouvait au-dessous du niveau du fleuve… […] Sans ses craintes pour Murph, Rodolphe eût attendu la mort avec sérénité… […] il vit dans cette destinée une juste punition d’une fatale action non encore expiée […] Dans peu d’instants il ne pourrait plus crier, l’eau avait atteint la hauteur de son cou, bientôt elle arriverait jusqu’à sa bouche. […] Lorsque l’agonie obscurcit ses idées, absolument livré à l’instinct vital, il se débattit, si cela peut dire, physiquement, mais non moralement, contre la mort.221 Diese Kellerszene ist im vorliegenden Kontext aus drei Gründen besonders bedeutend: Nach Neuschäfer verkörpert sie – wie schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnt – die spektakuläre Actionszene, die nicht nur charakteristisch für das Feuilleton ist, sondern von der sich »eine gerade Linie zu den James Bond-Filmen unserer Tage ziehen«222 lasse. Die Bedingung hierfür entsteht durch den Niederschlag, denn der Regen lässt die Seine signifikant ansteigen und den Kellerraum überfluten.223 Der zuvor intratextuell thematisierte Regen wird damit spezifisch funktionalisiert. In dieser Szene begleitet der Regen nicht nur das Verbrechen oder erscheint personifiziert, das Wasser wird zum Mordinstrument.224 Das Wetter hat hier mithin die Funktion die Wandlung der Figur zur detektivischen Instanz zu bedingen. Für die Figur Gerolsteins ist der Tod eine akzeptable Sühne für seinen noch nicht bewältigten Konflikt. Dem Tode nahe, wird er im letzten Moment durch den Chourineur gerettet. Bis zum scheinbar letzten Atemzug mit dem eigenen Ende konfrontiert, beinhaltet der Moment der Rettung aus dem Wasser physisch wie psychisch eine Befreiung, sodass er zur Katharsis wird. Diese plurale Befreiung zieht eine Veränderung in der Agitationsweise Gerolsteins nach sich: Der autodestruktive und physisch geprägte Wunsch nach Bestrafung transformiert sich; der Bewältigungsversuch der Gerolsteiner Ereignisse richtet sich nicht mehr gegen ihn selbst, sondern in der Projektion auf die Kriminellen von Paris. Als Abenteurer resp. als Büßer war Gerolstein nicht in der Lage, die kriminellen Strukturen wirklich zu durchdringen, dies ändert sich erst mit dem durchlebten Initialmoment. In chronotopischer Perspektive

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wird der Nebel zur Grenze der Ausrichtung von Vergangenheit auf Zukünftiges und Veränderung.225 Dieses Moment hat Auswirkungen auf die Figur wie die Figurenkonzeption:226 Gerolstein tritt nicht mehr in gewalttätigen Auseinandersetzungen in Erscheinung, sondern beginnt, Spuren, Indizien, Dokumente gegen die Kriminellen (bes. Ferrand) zu sammeln,227 d.h. es kommt in diesem Zuge zu einer Veränderung des deduktiven Ansatzes, das Vorgehen erscheint volvierter, und es zeichnen sich Ermittlungen ab,228 wie etwa die Suche nach den Fermonts oder nach Germain, die Aufklärung des ›LouiseMysteriums‹ oder die Einschleusung Cecilys bei Ferrand.229 Damit ist Gerolstein nicht mehr Opfer des Bösen, etwa Sarah MacGregors oder Duresnels,230 sondern er beginnt, eine aktive Funktion bei dessen Bekämpfung einzunehmen.

2.3.4 Fleur-de-Marie – Sonne und kalter Tod Fleur-de-Marie alias Goualeuse alias Prinzessin Amalia (als Tochter Gerolsteins) ist neben Gerolstein die zweite positive Hauptfigur. Sie ist Opfer ihrer Mutter Sarah MacGregor, die sie ihrem Vater gegenüber für tot erklärte und fortgab, sowie mehrfach der Kriminellen Grevais und Duresnel, die sie entführen und bisweilen im Auftrag MacGregors töten sollen. Nach dem Tod der Adoptiveltern geriet sie in die Hände Grevais’, floh und wurde als Herumtreiberin festgenommen, nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis von der sog. L’Ogresse231 unter Drogen gesetzt und in die Prostitution gezwungen. Der damit verbundene ›Fall‹, d.h. der ›Makel‹, die Schuldgefühle, die moralisch wie religiös negative Konnotation, werden zum Punctum saliens für Fleur-de-Marie, sie schlagen sich als oppositionelle Empfindungen nieder und der Erzähler führt wie folgt aus: »[…] jetée à seize ans au milieu de la horde de bêtes sauvages ou féroces qui infestaient la Cité, n’ait éprouvé qu’horreur et effroi, et soit sortie moralement pure de ce cloaque?«232 Die Erlebnisse aus dieser Zeit kann Fleur-de-Marie nicht verarbeiten bzw. verkraftet sie nicht; trotz ihrer moralischen Unbedenklichkeit verwahrt sie sich daher selbst gegen ihr Glück. Mit Fokus auf das Wetter verdeutlicht sich, dass Fleur-de-Marie vielfach in Verbindung zur Sonne erscheint. Diese Relation wird an folgenden Punkten skizziert und berücksichtigt dabei ihre Funktion im Rahmen der Figurentrias Gangster – Opfer – Detektiv: • • •

Entstehung der Verbindung Fleur-de-Maries zur Sonne – Utopie und Tod Sonnenuntergang – Transzendenz des Lebens von Fleur-de-Marie Sonnenuntergänge bei Entführung(-sversuchen) Fleur-de-Maries

2.3.4.1 Entstehung der Verbindung Fleur-de-Maries zur Sonne – Utopie und Tod Fleur-de-Marie wird quantitativ am häufigsten in Verbindung zum Sonnenschein, der ihr als positive Protagonistin im Kapitel Promenade während des Landausflugs mit Gerolstein zugeordnet wird, erwähnt. Bereits zuvor scheint erstmals in den MdP die Sonne, und die meteorologischen Elemente bilden eine absolute Opposition zur Darstellung der Cité in der Eingangsszene: als Gerolstein am 14. Dezember durch die Cité geht, um Fleur-de-Marie abzuholen. Hier zeigt sich, wie sehr die Wahrnehmung der Cité durch die Wetterlage und saisonale Elemente geprägt ist:

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[U]n radieux soleil d’automne brillait au milieu d’un ciel pur; la tourmente de la nuit avait cessé […] le hideux quartier où le lecteur nous a suivi semblait moins horrible, vu à la clarté d’un beau jour. Soit que Rodolphe ne craignît plus la rencontre des deux personnes qu’il avait évitées la veille […] vers onze heures du matin il entra dans la Rue aux Fèves […].233 Im Licht der strahlenden Herbstsonne und des blauen Himmels wirkt der Ort verändert und weniger bedrohlich als noch am Abend zuvor. Die Wahrnehmung der Cité ist hier expressis verbis abhängig von »vu à la clarté d’un beau jour«. So verändert die visuelle Qualität des Ortes die Atmosphäre und die Gestimmtheit der Figur: Befürchtungen sind in die Ferne gerückt, im Tageslicht werden der Schrecken und die Angst weitestgehend aufgelöst und die Rue aux Fèves erscheint geradezu als positiv gestimmter Raum. Die an dieser Stelle veränderte Wetterlage und Stimmung deuten darauf, dass das Wetter hier nicht im Kontext der mit Kriminalität besetzten Cité steht. Es bahnt sich eine neue Wetterrelation an, scil. die zu Fleur-de-Marie. Auf dem Land ist die Luft rein und nicht von Gestank erfüllt,234 der Sonnenschein verdrängt den Regen, die trockenen Wiesen kontrastieren den Dreck der Cité. Während der Kutschfahrt wird mit Wetter und Saisonalität die Zeit durchbrochen, indem die Darstellung des Landes aus der natürlich chronologischen Ordnung herausgelöst wird. Es kommt zu einer Art Zeitsprung, als Fleur-de-Marie ihren Wunschtraum gedanklich durchlebt – interessanterweise in eine Zeit, bevor der von ihr verehrte Gerolstein (d.h. ihr Vater) von ihrem Lebenswandel als Prostituierte erfuhr: »Ce charmant paysage était éclairé par un beau soleil de novembre… Les feuilles jaunes et pourpres des châtaigniers les couvraient encore et se découpaient sur l’azur du ciel.«235 Das Land wie das Leben auf dem Land sind für Fleur-de-Marie der Inbegriff der Glückseligkeit; in ihrer Assoziation werden Land, Sonne, Glück und eine (im pluralen Sinne) Unschuld bzw. Reinheit in einen Nexus gesetzt. Höhepunkt der Promenade ist der Augenblick, als Fleur-de-Marie eine Wiese betritt: Le soleil était radieux, le ciel sans nuages, le froid un peu piquant; l’air circulait vif et frais […]. [E]lle aspirait le grand air avec ivresse. […] À la vue de plusieurs touffes de pâquerettes et de quelques boutons d’or épargnés par les premières gelées blanches, […] elle ne laissa pas une de ces petites fleurs, et glana tout le pré.236 Die Herauslösung der Szene verdeutlicht sich an der Vegetation, die nicht der autumnalen bzw. hibernalen Darstellung entspricht, wie sie sich im bisherigen und weiteren Verlauf darstellt und die auch unter extratextuellem Blick auf die niedrigen Temperaturen unwahrscheinlich ist.237 Fleur-de-Maries Assoziationskomplex zum Landleben wie die Darstellung der Saisonalität sind ein utopisches und regressives Wunscherleben. Diese Utopie wird ihr von Gerolstein im ersten Teil der MdP erfüllt, indem er sie auf dem Gut Bouqueval unterbringt: Ihr Traum wird Realität und der Makel (zunächst) aufgehoben; Bouqueval erscheint damit heterotopisch.238 Allerdings wird nach dem ersten Teil der MdP die Realisierung der Utopie als unmöglich aufgelöst.239 Auf der Wiese selbst vollzieht sich die Verbindung von Naturphänomenen und Figur. Fleur-de-Marie pflückt die Blumen auf der Wiese und setzt sie damit der Kälte und dem

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Tod aus, »während sie doch, ›selbstverantwortlich‹, überwintern konnten«240 . In gewisser Hinsicht ist das Pflücken der unschuldigen Blumen bereits eine metaphorische Parallele zu Fleur-de-Maries Leben (nomen est omen), denn nach Hülk nimmt Fleur-de-Marie, indem sie die Blumen pflückt, »ihr eigenes Schicksal vorweg«241 . In der »orgiastischen Vereinigung Fleur-de-Maries mit der […] Natur«242 entsteht auch eine Wetter-FigurenRelation zwischen Sonne und Fleur-de-Marie. Ab diesem Moment steht sie oppositionell zu den Figuren, die vornehmlich nachts in Erscheinung treten, wie insbesondere Duresnel. Doch bleibt sie physisch und psychisch im Nexus der »froid un peu piquant […] l’air […] frais«, der ihren inneren Konflikt wiederaufgreift. Der Sonnenschein dringt indes nicht durch die Schwermut und die Schuldgefühle, die von der für sie problematischen Vergangenheit ausgelöst werden. Fleur-de-Marie bringt allerdings – wörtlich und im übertragenen Sinn – Sonne in das Leben der anderen Figuren.243 Selbst im Gefängnis wandelt sich der zuvor als dunkel dargestellte Ort durch ihre Gegenwart und wird von einer Wetterlage, die jener auf der Wiese gleicht, erhellt.244 Am Ende der Pariser Handlung,245 als Gerolstein in Fleur-de-Marie seine Tochter erkannt hat, verlässt sie Paris ein zweites Mal und folgt ihrem Vater als Prinzessin Amélie in das »Märchenreich«246 Gerolstein, das als solches Konstrukt eine zweite Utopie darstellt. Erneut wird hier eine Opposition entworfen, die sich in Anlehnung an Hülk wie folgt darstellt:247 Ideal (Bouqueval, Gerolstein, Familie, Prinzessin, Liebe, Wärme) vs. Realität (Paris, Makel, Misere, Opferfigur, Kälte). Doch Fleur-de-Marie ist es nicht vergönnt, die Grenze248 von Paris vollständig zu übertreten: Nach dem vorzeitigen Frühling in Paris manifestieren sich in Gerolstein die Schuldgefühle und die Identitätskrise Fleur-de-Maries. Dies steht kontrastiv zur gängigen Frühlingsbewertung, was den Effekt verstärkt – Fleur-de-Marie erhält durch Gerolstein einen neuen Namen, womit auch ihr eine neue Identität oktroyiert wird. Die Grenzüberschreitung stellt für sie damit einen Identitätswechsel dar, den sie nicht vollziehen kann.249 Hervorzuheben ist, dass die Sommerlichkeit in Gerolstein textimmanent nur eine sehr kurze Episode darstellt und für Fleur-de-Marie besonders mit der Liebe von und zu Heinrich von Herkausen-Oldenzaal (Henri) verbunden erscheint. Diese Liebe verschlimmert allerdings den Schuldkomplex. Wegen des Konflikts zwischen Vergangenheit und Liebe und der Sehnsucht nach Läuterung tritt Fleur-de-Marie in Gerolstein in ein Kloster ein.250 Trotz Wärme und Sonnenschein ist der Sommer nicht positiv für Fleur-de-Marie; die Grenze des Winters kann quasi nicht überschritten werden. Als markante Zäsur schließt an dieser Stelle ein Kälteeinbruch an, der an die Pariser Handlung anknüpft und die Vergangenheit von Fleur-de-Marie auf der Wetterebene aktualisiert, und der in Relation zu Fleur-de-Maries Gefühlsdisposition und zu ihrem Tod gesetzt werden kann. Fleur-de-Marie tritt im Kloster in einen Bereich der Kälte (temperaturbezogen) ein, der letztlich physisch-physikalisch transzendierend ihrer inneren Gestimmtheit entspricht. Das »sad end«251 wird mithin durch Kälte als Begleiter des Todes arrangiert.252 Die Verbindung, die bezüglich der emotionalen Ebene in Bezug auf D’Harville zwischen Tod und Kälte entstand, wird aktualisiert: Das Datum 13. Januar bildet ferner einen Bezug zum Beginn der MdP, zum 13. Dezember. Fleur-de-Marie bleibt eine ›Gefangene‹ des kriminell konnotierten Winters von Paris und kann sich bis zu ihrem Ende nicht von diesem lösen.

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2.3.4.2 Sonnenuntergang – Transzendenz des Lebens von Fleur-de-Marie Auf dem Land begleitet Fleur-de-Marie eines Abends Abbé Laport zum Pfarrhaus. Ein besonderes Moment bildet die Darstellung von Landschaft und Sonnenuntergang. Die Landschaft ist durch die winterliche Wetterlage geprägt: Tantôt la neige éblouissante change la campagne en d’immense paysages d’albâtre qui déploient leurs splendeurs immaculées sur un ciel d’un gris-rose. […] Tantôt, dès le matin, le givre suspend aux arbres ses girandoles de cristal que le soleil d’hiver fait scintiller de l’éclat diamanté du prisme [.].253 Die Winterlandschaft erhält durch die verwendete Isotopie einen reinen und idyllischen Anklang und wirkt in Verbindung mit der ihr suggestiv inhärenten heterotopischen Manifestation besonders zauberhaft. Hervorzuheben ist der Verweis auf das Prisma, d.h. die Lichtbrechung und die potenzielle Auffächerung des Sichtbaren. Parallel weist die Winterlandschaft etwa ein Korrelat zur Präsentation Fleur-de-Maries im Lapin Blanc (Le Tapis-Franc) auf (blendend weiße Schönheit, Zauber der Stimme, arm, aber reinlich etc.). Die Verbindung der meteorologischen Ebene zu Fleur-de-Marie wird hierüber vorbereitet und impliziert präfigurierend das Moment der Insekurität, denn das Wetter des Abends erweist sich für zwei parallele Handlungsstränge (Simulepse) als relevant: I. Fleur-de-Marie und Abbé Laport und II. Duresnel (und die geplante Entführung); das Wetter kann insgesamt in vier Perspektiven betrachtet werden. Im Handlungsstrang II entzaubert sich die (potenzielle) ländliche Idylle vollständig durch die Angst Duresnels, die boshafte Intriganz Finettes sowie die bedrohliche Kälte und bildet keine Opposition mehr zur Stadt. Mit dieser Auflösung geht die Ausdehnung der Kriminalität von der Stadt auf das Land einher; diese Entwicklung konturieren die Naturphänomene: »Ce groupe étrange, encadré dans les talus du ravin, éclairé par les lueurs rougeâtres du crépuscule, était hideux à voir. […] L’ombre projetée par l’escarpement du ravin redoublait l’horreur de cette scène, que l’obscurité croissante voilait à demi.«254 Die Darstellung der Naturphänomene verweist auf die negative Intention und kontrastiert mit der sich unmittelbar anschließenden (erneuten) Darstellung und Apperzeption derselben Wetterlage durch Fleur-de-Marie und Abbé Laport. Durch die kontrastive Darstellung ein und derselben Wetterlage erhöht sich die Bedrohlichkeit angesichts derer, die im Schatten lauern. Die Verbindung Fleur-de-Maries zur Sonne kulminiert in der Darstellung des Sonnenuntergangs, den Abbé Laport und Fleur-de-Marie vom Weg aus, der sich über einen Hügel schlängelt, in freier Sicht apperzipieren: (I) Les dernières lueurs du soleil s’éteignaient lentement derrière la masse imposante du château d’Ecouen […]. [d]e tous côtés s’entendaient à perte de vue des plaines immenses aux sillons bruns, durcis par la gelée […]. (II) Le ciel, d’une sérénité parfaite, se marbrait au couchant de longues traînées de pourpre, signe certain de vent et de froid; (III) ces tons, d’abord d’un rouge vif, devenaient violets à mesure que le crépuscule envahissait l’atmosphère. […] (IV) Le croissant de la lune, fin, délié comme la moitié d’un anneau d’argent, commençait à brûler doucement dans (V) un milieu d’azur et d’ombre.255

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Aus dem Spektrum der möglichen Darstellungen der Naturphänomene treten jene hervor, die in multipler Weise eine Parallele zu Figur und Handlung bilden. In der Perspektive Abbé Laports zeigt sich die Abendstimmung als feierlicher Moment: Die Natur wird von ihm als erhaben und erquickend empfunden und die Schönheit des Augenblicks in einem religiösen Kontext gedeutet. Laport erlebt das Naturschauspiel als »calme imposante qui règne à cette heure«.256 Seine Wahrnehmung entspricht der durch das Wetter am evidentesten suggerierten Stimmung. Allein – die erquickliche und solenne Wirkung, die die positive Naturdarstellung prima facie hat, ergibt sich nur für diese Nebenfigur. Fleur-de-Marie deutet die Wettererscheinungen zwar ähnlich, aufgrund ihres Schuldkomplexes führt sie die Erhabenheit des Augenblicks indes zu einer anderen Gestimmtheit:257 »[J]e me suis sentie émue à l’aspect de cette soirée calme et triste… mon cœur s’est brisé… et j’ai pleuré…«258 Die Glückseligkeit und die Realisierung ihres Lebenstraums werden getrübt, die Schatten der Vergangenheit beginnen, sie einzuholen, die Reziprozität ihrer Stimmung und der Wetterwahrnehmung führt zu einem negativ gestimmten Wetter: »Mon père, je suis bien malheureuse!«259 Neben der meteorologischen Gestimmtheit entspricht der Verlauf des Geschehens am Himmel pointiert dem Lebensweg und der psychischen Entwicklung Fleur-de-Maries’:260 I. Geburt in Gerolstein, II. Leben in Paris, III. Leben auf dem Land, IV. Leben, Gelübde (Mondform) und V. Liebe zu Henri und schmerzliche Unüberwindbarkeit der Vergangenheit in einem neuen Leben sowie der Tod im Kloster; das »milieu d’azur« kann als symbolischer Verweis auf das Kloster (Maria [Marie]) gesehen werden). Mit der Transzendenz von Fleur-de-Maries Leben wandelt sich der Sonnenuntergang zum schmerzhaften, sühnehaften (»brûler«) wie thanatalen Facettenkomplex wie Antizipationskomplex.

2.3.4.3 Sonnenuntergänge bei Entführung(-sversuchen) von Fleur-de-Marie Mit dem Sonnenuntergang und der Schuld, mit der Identitätsproblematik bzw. dem Geheimnis um die Identität Fleur-de-Maries und der daraus resultierenden Opferrolle, können dieser wie weitere Sonnenuntergänge in Beziehung zueinander gesetzt werden. Im unmittelbaren Handlungsgeschehen (Perspektive 3) wird die hibernale Insekurität wirksam, die spezifischen Naturdarstellungen261 fungieren parallel als potenzielle Vorausdeutung und tragen dazu bei, die Spannung zu steigern. Dies gelingt durch den direkten Anschluss an die Darstellung Duresnels, Finette Grevais’ und Tortillards am Hohlweg, sodass die Wetterbeschreibung zunächst zwar scheinbar die Ereigniskette unterbricht, dann aber doch verbindet.262 Spannungssteigernd wirkt die aufzulösende kontrastive wie pittoreske Darstellung zur potenziellen Handlungsentwicklung. Es kommt hinzu, dass die kriminelle Bedrohungslage mit meteorologischen und hiermit verbundenen psychologischen Faktoren zusammenfällt. Im chronologischen Verlauf der MdP gibt es für Fleur-de-Marie drei Bedrohungslagen, von denen zwei scheitern (I. erster Entführungsversuch, III. Mordanschlag263 ), eine sich indes als erfolgreich erweist (II. zweiter Entführungsversuch264 ). Gemein ist allen dreien, dass sie sich bei Sonnenuntergang ereignen, wodurch die besondere Beziehung Fleur-de-Maries zur Sonne einbezogen wird. Sie divergieren allerdings im Aufbau der Wetterdarstellung: Beim Misserfolg des geplanten Übergriffs ist die Naturdarstellung relativ ausführlich und auf Idylle angelegt. Besonders die Wahrnehmung des Wetters

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vor dem Mordanschlag ist auffallend, denn es handelt sich um einen der wenigen Momente, in dem die Wetterlage und Jahreszeit mittels einer Figur wortreich eingeflochten und reflektiert werden: Si j’étais triste, comment ma tristesse ne s’effacerait-elle pas? Et puis, voyez donc… le ciel est si gai avec ses nuages roses! Et le gazon… est-il vert malgré la saison! […] le soleil y brille, c’est éblouissant… on dirait des reflets d’or… […] Puis, ramenée par le souvenir de sa captivité à mieux apprécier encore le bonheur d’être libre, elle s’écria dans un élan de joie naïve: cette jolie petite île […] doit être charmante pendant l’été quand tous les arbres sont couverts de feuilles […] quelle fraîcheur […].265 Das retardierende Element funktioniert an dieser Stelle ähnlich wie beim ersten Entführungsversuch. Markant ist zudem die Opposition zwischen den Jahreszeiten, die hier allerdings der Situation entspricht, wobei die Verbindung Sommer und Insekurität auffällt. Fleur-de-Marie erscheint voller Glück und ihre Gefühlslage überträgt sich auf die Apperzeption des Wetters, sodass sich ihre Stimmung und die mögliche Naturwahrnehmung reziprok beeinflussen. An dieser Stelle resultiert die Spannung aus dem Kontrast zwischen Natur, der betont positiven Apperzeption sowie der unmittelbaren Lebensbedrohung auf der Handlungsebene.266 Die Naturphänomene und ihre Empfindungen verschleiern Fleur-de-Marie den Blick für die bösen Absichten, die Unstimmigkeiten in Mme Séraphines Verhalten und den falschen Weg. Bei der erfolgreichen Entführung Fleur-de-Maries durch Finette Grevais und Tortillard findet die Tat am Hohlweg auf dem Land statt, die Darstellung des Wetters ist im Gegensatz zur ersten Schilderung deutlich kürzer und hebt stringent die Kälte hervor.267 Diese Kälte ist parallel auf emotionaler Ebene angelegt, denn während Fleur-de-Marie bei den gescheiterten Angriffen positiv gestimmt ist oder ihr Trost gespendet wird, musste sie vor der erfolgreichen Entführung die Denunziation durch die Milchfrau und den Entzug von Freundschaft ob ihrer Vergangenheit durchstehen. Fleur-de-Marie ist in diesem Moment unglücklich und einsam; es zeichnet sich eine Form der Parallelisierung von Wetter, Stimmungslage und kriminellem Erfolg, resp. eine Divergenz von idyllischer Natur und tatsächlicher Gefahr, ab. Die innerliche Verbindung zu Naturphänomenen hat mitunter eine geradezu prohibitive Funktion bezüglich der Bedrohung bzw. deren Wahrnehmung et vice versa.

2.3.5 Anselme Duresnel – Kalte Angst und Frühlingswandel Anselme Duresnel alias Maître d’école erscheint im ersten Teil der MdP als Master criminal; er erkennt Gerolsteins doppeltes Spiel und versucht, ihn im Cœur-Saignant zu töten. Von Gerolstein wird er in einem von diesem in Szene gesetzten Tribunal verurteilt und mit Blendung bestraft (La Punition), er endet als scheinbarer »fou et muet«268 in Bicêtre. Duresnel ist nach Ricken die »Personifikation des Bösen«269 . Tatsächlich aber war Duresnel nicht von Beginn an ein schlechter Mensch (und bleibt es auch nicht), sondern ein gebildeter Aristokrat, für den es aus pekuniärer Sicht nicht notwendig gewesen wäre, kriminell zu werden; daher sieht Strieder in ihm einen »prinzipiellen Willen zum Bösen«270 . Marx charakterisiert ihn hingegen als einen Mann von immenser geistiger Ener-

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gie, der in Konflikt mit den Gesetzen und Gewohnheiten einer bürgerlichen Gesellschaft gerät, »deren allgemeines Maß die Mittelmäßigkeit, die zarte Moral und der stille Handel ist. Er wird zum Mörder und überläßt sich allen Ausschweifungen eines gewaltigen Temperaments, das nirgends eine angemessene menschliche Tätigkeit findet«271 . In den Augen Duresnels selbst ist Finette Grevais schuld an seiner Entwicklung vom pekuniär motivierten Verbrecher, dem betrügerischen Aristokraten, zum Mörder.272 Das Besondere an Duresnel ist ein sich im zweiten Teil der MdP entwickelnder Läuterungsprozess. Dieser Prozess, so die hier vertretene These, wird substanziell von meteorologischen Phänomenen mitprovoziert. Die Grundlage hierfür ist zunächst, dass Duresnel im ersten Teil der MdP als Master criminal mit Regen und Nacht verbunden ist. Der Moment der Blendung (La Punition) und der hierbei fallende Regen wurden im Rahmen des Aufbaus der MdP bereits skizziert, sodass der Fokus in diesem Kapitel auf der Verbindung meteorologischer Phänomene zur Veränderung liegt: I. Initialmoment: Sonnenuntergangsperspektive 4 – Die kalte Angst II. Intrusion: Die Verbindung zu Fleur-de-Marie III. Dichotomie als Affirmative für den Läuterungsprozess IV. Festigung in Selbsterkenntnis: Der Traum Duresnels (Le rêve) V. Lösung: Mord und Sonnenschein

2.3.5.1 Initialmoment: Sonnenuntergangsperspektive 4 – Die kalte Angst Parallel zur Handlung um Fleur-de-Marie und Abbé Laport verläuft diese um ihre designierten Entführer: Duresnel, Finette Grevais und den jungen Tortillard. Nach La Punition tritt hier der Maître d’école erstmals wieder auf. Während Abbé Laport den Sonnenuntergang in seiner Erhabenheit bewundert, erhält das Wetter des Abends in der Perspektive Duresnels eine ganz andere Bedeutung. Nach der Blendung ist Duresnel, insbesondere in der unbekannten Umgebung auf dem Land, abhängig von seinen kriminellen Verbündeten Finette Grevais und Tortillard. Da zuvor zwischen Duresnel und seinen kriminellen Intentionen eine stringente Verbindung zum Regen bestand, ist die Abwesenheit desselben bemerkenswert. Im Zuge der Auffächerung von meteorologischen Phänomenen und der Figurenkonzeption innerhalb der MdP kann daher supponiert werden, dass es nicht prinzipaliter um das geplante Verbrechen geht, sondern der Fokus auf der Figur liegt. Statt einfach auf das Eintreffen des designierten Opfers Fleur-de-Marie zu warten, entspinnt sich ein Streit zwischen Duresnel und Finette Grevais; in diesem verdeutlicht sich die entstandene Dependenz der einstigen kriminellen Persönlichkeit und die hieraus resultierende Oppression durch Grevais. Nachdem Grevais Duresnel bereits bestohlen hatte und damit diesem das von Gerolstein abgesicherte Leben verwehrte, setzt sie ihm zu, indem sie droht, ihn allein zu lassen. Dies impliziert für den Blinden nicht nur den Entzug der Sicherheit, scil. der Gemeinschaft und der damit verbundenen Orientierung auf unbekanntem Terrain, sondern wird in Kombination mit der Temperatur zur Morddrohung, als Grevais expressis verbis die Wetterlage ins Spiel bringt:

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Dis donc, fourline, quelle farce si nous deux Tortillard, nous nous esbignions avec la voiture, et que nous te laissions là, au milieu des champs, par cette nuit où le froid va pincer dur […]! À cette menace, le Maître d’école frémît. […] dépêche-toi, ou nous te lâchons; et je t’en préviens, dans une demi-heure il fera nuit.273 Grevais und Tortillard verbalisieren die hereinbrechende nächtliche Dunkelheit und intensivieren damit den für Duresnel perzipierbaren Eindruck der Kälte.274 Diese Szene initiiert den Wandlungsprozess Duresnels, insofern Temperatur und Verweis auf die hereinbrechende Nacht, einen konkreten Angstauslöser darstellen, denn die nächtlichen Minustemperaturen auf freiem Feld bedeuten den sicheren Tod. Die Strafe der Blendung potenziert sich gleichsam zur Todesstrafe. Auf dieser mit Todesangst einhergehenden Kälte beruht die weitere Apperzeption des Wetters durch Duresnel, das seinen Wandlungsprozess flankiert.

2.3.5.2 Intrusion: Die Verbindung zu Fleur-de-Marie Meteorologisch-metaphorisch scheint der Wandel Duresnels dadurch befördert zu werden, dass die positive Konnotosphäre Fleur-de-Maries – quasi der Einfluss des ›Guten‹ auf das ›Böse‹ – erzähltechnisch durch die Sonnenuntergangsdichotomie bzw. -simulepse auf ihn einwirkt. Grundlegend hierfür ist die Verbindung der beiden Figuren275 zueinander sowie Duresnels zur Nacht und Fleur-de-Maries zur Sonne sowie ihre moralische Binarität. Die Simulepse des Sonnenuntergangs beinhaltet eine divergente Lichtsituation: Während bei Fleur-de-Marie die Sonne noch sichtbar scheint (s. 2.3.4, werden bei Duresnel die hereinbrechenden Schatten besonders hervorgehoben.276 Die Zuschreibung der Figuren (Sonne = Gut; Nacht = Böse) wird somit im meteorologischen Fokus aktualisiert. Interessant ist nun die parallele Handlung: Fleur-de-Marie sinkt auf die Knie, »ressent pour sa vie passée une douloureuse et incurable horreur«277 , und Duresnel, »un effroyable meurtrier, portant la peine de ses forfaits, s’était aussi agenouillé«278 , sinkt ebenfalls nieder vor »sa complice… cause première des malheurs de Fleur-de-Marie. De Fleur-de-Marie que torturait un remords incessant.«279 Während Fleur-de-Marie bei Abbé Laport von ihren Gefühlen niedergedrückt wird, kniet Duresnel vor Grevais, die für sein derzeitiges Leid und die emotionale Disposition verantwortlich zeichnet, aber gleichermaßen mittelbar verantwortlich ist für den ›Fall‹ Fleur-de-Maries, d.h. deren derzeitige emotionale Disposition. Der Sonnenuntergang als Knotenpunkt beider Figuren erscheint für Duresnel als semipermeables Moment, indem Facetten des Guten (Sonne, Fleur-de-Marie) auf ihn transferiert werden – nicht jedoch reziprok ›Böses‹ auf Fleur-de-Marie. Die Todesangst vor der Kälte sowie erzähltechnisch die Simulepse stößt eine bedeutsame Veränderung Duresnels an: Duresnel ist nicht mehr fähig, Fleur-de-Marie gefährlich zu werden. Er verhindert den Mord an ihr und trägt für ihren Schutz Sorge, indem er vehement für ihre Verbringung nach Saint-Lazare argumentiert. Auffallend ist ferner die sich nach diesem Punkt entwickelnde meteorologische Relation der beiden Figuren: Ihre Lebenswege verlaufen von nun an meteorologisch antiparallel. Fleur-de-Marie stirbt am Ende in einem Nexus der Kälte, Duresnel erlebt am Ende der Pariser Handlung einen Wandel zum Guten und erscheint im Sonnenschein.

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2.3.5.3 Dichotomie als Affirmative für den Läuterungsprozess Mit der Kälte, der Dopplung der Dunkelheit wie der Todesangst beginnt für Duresnel ein Läuterungsprozess. Von weiterer Bedeutung zeigt sich die Kälte sodann in der Dichotomie zum Wärmeerleben auf Bouqueval. Eine meteorologische, semantische und topologische Grenze markiert diesbezüglich die Türschwelle des Guts Bouqueval. Hier findet Duresnel als Blinder (mit Tortillard) Zuflucht vor dem Nachtfrost.280 Im Gespräch mit den (guten) Menschen auf Bouqueval wird Duresnel mit der Aussicht auf ein Leben konfrontiert, wie er es hätte haben können, wäre er nicht zum Verbrecher geworden.281 An diesem Ort erfährt Duresnel somit nicht nur physische, sondern auch soziale Wärme. Dies kontrastiert mit der Kälte und der damit assoziierten Inhumanität und Angst. Mit dieser sensuellen wie psychischen binären Struktur intensivieren sich die Ausführungen der Bewohner und wirken elementar auf die Disposition Duresnels. Markant ist, dass Duresnel zwar ›Böses‹ hegt – etwa, seine Frau zu töten –, aber die Tat realiter ausbleibt.282 Das ›Böse‹ scheint durch den heterotopischen Ort Bouqueval ›draußen‹ zu bleiben und mithin an die Kälte gebunden. Für Duresnel ergibt sich durch die mit Kälte und Wärme assoziierten Prämissen eine semantische Dichotomie. Im übertragenen Sinn korrespondieren diese Aspekte im weiteren Verlauf mit seiner Vergangenheit und Zukunft. Folgende Tabelle listet die Dichotomie zwischen Kälte und Wärme auf:

Kälte/Frost – Feld von Bouqueval

Wärme – Gut Bouqueval

Sternenklare Nacht, Frost, Winter

Wärme Betonung der Wärme in der Küche und durch häufige kontrastive Erwähnung der Kälte

Draußen

Drinnen

Locus horridus

Idylle/Utopie

Todesangst

Ruhe und Behaglichkeit

Seelische Qual, erlebte innere Kälte

Freundlichkeit, zwischenmenschliche Wärme

Abhängigkeit vom Wohlwollen Finette Grevais’

Hoffnung auf Pflege

Kriminalität

Hoffnung auf ein friedliches, ›gutes‹ Leben

Dunkelheit

Helligkeit

Tabelle 3: Zum dichotomischen Erleben Duresnels

Über die Dichotomie manifestiert sich der Wunsch nach Geborgenheit bzw. einem anderen Leben; Duresnel hegt (zeitweise) die Hoffnung, auf Bouqueval Aufnahme zu finden und sein weiteres Leben in dieser friedlichen Welt zu verbringen. Der Kontrast zwischen meteorologischer, physischer, psychischer sowie sozialer Kälte und Wärme fungiert als Affirmative für den auf dem Feld angelegten Wandel der Figur Duresnels.

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2.3.5.4 Festigung in Selbsterkenntnis: Der Traum Duresnels (Le rêve) Der Wandel Duresnels festigt sich durch seinen Traum in der Nacht auf Bouqueval und die implizite Konfrontation mit den Lebensperspektiven, die aus der Binäropposition Läuterung vs. Bosheit resultieren.283 Der Traum greift die Dichotomie von Kälte und Wärme auf und ist von meteorologischen Phänomenen durchzogen. Zudem finden sich Ähnlichkeiten der räumlichen Gestaltung Bouquevals im Traum, wie insbesondere die erlebte Grenzüberschreitung. Der Traum weist zwar Elemente auf, die ein Schauerpotenzial bergen, doch entspricht der (latente) Trauminhalt primär dem Schuldbewusstsein (Analogie zu Fleur-de-Marie) und zielt auf eine Veränderung der Figur Duresnels. Effektvoll ist der meteorologische Aufbau des Traums: Duresnel durchlebt seine Vergangenheit (Nebel), seine Gegenwart (Dunkelheit) und seine potenziellen Zukunftsperspektiven (Frühling vs. Finsternis).284 Le lac de sang est calme, uni comme un miroir rouge. Le Maître d’école voit s’y refléter sa hideuse image. […] De leur surface agitée s’élève comme l’exhalaison fétide d’un marécage, d’un brouillard livide […] à la mesure que ce brouillard monte, monte… les figures de Rodolphe, Chourineur et du nègre continuent de grandir […]. Au milieu de cette vapeur, le Maître d’école voit apparaître des spectres pâles, des scènes meurtrières dont il est l’acteur…285 Der Blutspiegel zeigt Duresnels eigenes Gesicht im Blut seiner Opfer und fungiert damit als Reflexionselement seiner Mordlust, die begonnen hat, ihn zu beherrschen. Sie ist der Ursprung der folgenden Szenen, die sich auf der Oberfläche abzeichnen: Im kalten Nebel der Vergangenheit werden ihm drei seiner Verbrechen ins Gedächtnis gerufen. Sie stehen exemplarisch für seine Entwicklung als Täter. Auffallend und möglicherweise Effekt der erlebten Kälte auf dem Feld, erscheint jede Tat verbunden mit der Erinnerung an die jeweilige Wetterlage bzw. entsprechende Effekten von Mondschein, Wind; dicker und düsterer Nebel; grünliche Dunstwolke. Neben ihrer atmosphärischen Funktion markieren die meteorologischen Phänomene die Taten als relevante Erlebnisse. Die Naturphänomene weisen in sich eine Intensivierung auf, die die ansteigende Grausamkeit des Tatverhaltens transzendiert. Vor dem Hintergrund, dass der Trauminhalt Ausdruck des Unterbewusstseins ist, ist die sensuelle Verbindung zum Wetter zum Zeitpunkt der Taten nuanciert konzipiert: Jede tatbegleitende Wetterlage spricht mindestens einen der Sinn an und die Opfer verbinden sich nach ihrem Tod mit einem der Sinne des blinden Duresnels; so etwa der Wind beim alten Richard und dem Zusammenwachsen mit der Leiche (Haptik): »Au travers la fenêtre, éclairée par une lune blafarde, qui blanchit la cime de quelques grands arbres agités par le vent […] La main de l’assassin tient au manche du poignard, comme la lame du poignard tient au cadavre de l’assassiné.«286 Die Dame aus dem Kanal von Saint-Martin bedient den visuell-olfaktorischen und den auditiven Sinn. Es entspannt sich damit eine Verbindung zwischen der Privation des visuellen Sinns (Strafe Gerolsteins), der unterbewussten Selbstkonfrontation mit den Taten, d.h. der Schuld, und der Bewusstwerdung der psychisch-physischen Kontiguität bzw. Relation. Nach der Konfrontation mit Vergangenheit und Gegenwart widmet sich ein Abschnitt des Traumes zwei potenziellen Zukunftsversionen. In diesem Rahmen wird die

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Blindheit zunächst durch die Frühlingsevokation, durch olfaktorische (Frühlingsdüfte – Frühling = Neuanfang) sowie verschiedene sensorische (Wärme, Brise) und auditive Elemente (Rascheln der Blätter) kompensiert. Sie führen zu einem Zustand des inneren Wohlbehagens und bieten eine Idee der Zukunft, hätte sich Duresnel nach La Punition endgültig vom Verbrechen abgewandt. Die saisonalen Impressionen bieten einen signifikanten und folgenreichen Kontrast, der die Temperaturdichotomie des Abends aktualisiert. Denn der Frühling verschwindet, Duresnel bleibt in der Finsternis zurück, in der er sich selbst als einen von einer ohnmächtigen Wut erfüllten und von seinen Mitschuldigen gequälten Kriminellen erkennt. Duresnels Unterbewusstsein resp. ÜberIch (bemerkenswerterweise in der Personifizierung von Gerolstein) konfrontiert sein Bewusstsein bzw. Ich mit seinem entwickelten Morddrang, den er (noch) nicht kontrollieren könne. In der Furcht, alles sei zu spät, die Strafe nicht als Ausgangspunkt zur Sühne angenommen, konfrontiert ihn der Traum mit einer entsetzlichen und schrecklichen Zukunftsperspektive. Dieser Blick auf die zweite Zukunftsvision kulminiert in einer visuellen (!) und dezidiert suggestiven Impression »d’une telle épouvante«. An diesem emotionalen Höhepunkt bricht der Traum mitten im Entsetzen ab – vielleicht, da die Zukunft noch nicht festgeschrieben ist – und Duresnel erwacht.

2.3.5.5 Lösung: Mord und Sonnenschein Aufgrund der Umstände kommt Duresnel nach seinem Traum noch nicht von Grevais los. Wieder in der Stadt quält sie ihn weiter und plant, ihn zu töten. Auffallend ist die Ähnlichkeit des Mordplans mit seinem eigenen gegen Gerolstein in just demselben Keller des Cœur-Saignant. Insofern wird die Relation zur Humidität und Dunkelheit der Mordanschläge aktualisiert. Duresnel bricht aus der (Bedrohungs-)Situation aus, indem er Grevais ermordet. Damit befreit er sich von der akuten Bedrohung, (physisch und) psychisch von der Oppression wie metaphorisch von seiner Vergangenheit. Duresnel wird für den Mord an Grevais von der Polizei verhaftet, jedoch nicht ins Gefängnis gebracht, sondern nach Bicêtre.287 Die Befreiungstat wird damit, similär zu Gerolstein, auf anderer Ebene zur Erlösung: Befreit von Grevais, abgewandt von seiner Vergangenheit, nimmt er Bicêtre als positive Zukunftsperspektive (Frühling) und hofft, als der »fou et muet«288 (pointiert findet sich hier ein Schweigegelübde als Sühne), den er mimt, in Frieden leben zu können. Mit dem Aufenthalt in Bicêtre löst sich die Relation Kriminalität – Dunkelheit – Kälte – Humiditätsformen auf. Die im Traum mit dem Frühling verbundene Zukunftsperspektive wird Realität. Dies wird explizit am Ende der Pariser Handlung:289 Duresnel erscheint im Frühling und erstmals in der Wärme des Sonnenscheins. Sonne und Wärme sind hier realisierter Gegenpol zu Nacht, Kälte und Todesangst. Ferner erscheint Duresnel durch andere Personen emotionalisiert: Er vernimmt nach langer Zeit die Stimme seines Sohnes und seiner Frau, doch, charakterlich gewandelt, gibt er sich nicht zu erkennen, um sie nicht unglücklich zu machen. Die Worte seines Sohnes, der Mitleid mit ihm empfindet, rühren ihn. Das Leben als Master criminal und Mörder, der Wandel und das neue Leben Duresnels zeigen sich über den Verlauf der MdP mittels Naturphänomene transzendiert und initiiert: vom Anfang in der Cité über die Bestrafung, den Prozess der Läuterung, den Traum

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bis zum Ende in geschützter Umgebung samt Läuterung und der Erinnerung an seine Familie – d.h. vom Regen über Kälte bis zum wärmenden Sonnenschein.

2.3.6 Jacques Ferrand – Tod durch Wind Der Notar Jacques Ferrand fungiert im zweiten Teil der MdP als Master criminal. Als solcher geht von ihm ein Netz aus Intrigen und Kriminalität aus, das sich, im Rahmen des aufgeworfenen Figurenpanoramas, über Paris legt und nicht nur ökonomischen Betrug und finanziellen wie physischen und psychischen Ruin (Morel, Fermont) beinhaltet, sondern ebenso Violation und Mordaufträge. Über das Haus Rue du Temple 17, das ihm gehört, entsteht eine weitere Verbindung zu verschiedenen sozialen Schichten des Figurenpanoramas und anderen Kriminellen. Vor diesem Hintergrund ist es markant, dass es im Zuge der Bestrafung Ferrands heißen wird, die Geheimnisse von Paris seien die seinen. Der erste Master criminal Duresnel bringt in La Punition die Figur Ferrand ein; er legt unmittelbar nahe, dass Ferrand kriminell ist. Als zweiter Master criminal stellt Ferrand zu einem gewissen Grad eine Weiterentwicklung Duresnels dar: Beide begehen mit Diebstahl, Kindesentzug, Mord ähnliche Taten, unterscheiden sich allerdings in der Organisation und Umsetzung: Während Duresnel primär physisch operiert, d.h. brachial, agiert Ferrand subtiler und verschleiert seine Taten.290 Duresnel wird nolens volens durch seine Situation zum Täter, bei Ferrand hingegen leitet sich die kriminelle Facette aus seinem Charakter her.291 Obwohl Duresnel und Ferrand über verschiedene Aspekte als Master criminal eine Verbindung aufweisen, zeigt sich an der Veränderung der Täterkonzeption ein Faktum, das Schwarz eigentlich für den Übergang vom Feuilletonroman des »Sue’schen Typs zum Kriminalroman ausmacht«292 , da es nicht mehr die Umstände sind, die die Figur zum Verbrecher werden lassen, sondern ein »›artiste du crime‹ […]. Ses mobiles réduits à sa propre personne, ne concernent que lui, ne visent que son intérêt.«293 Für die Figur Ferrand ist die Opposition aus der nach außen getragenen Frömmigkeit auf der einen und der hinter der Fassade wirkenden Wollust wie pekuniärer Gier auf der anderen Seite kennzeichnend; sie prägt damit eine Struktur von Anschein und Sein. Wie bei Duresnel steht die Schuld Ferrands von Anfang an fest; es geht mithin bei seiner Figur nicht um die Identifizierung eines Täters, sondern um das Erlangen von Beweisen sowie die Bestrafung. Ferrand hat sich mehrerer Verbrechen schuldig gemacht,294 der Ansatzpunkt Gerolsteins ist allerdings das Vergehen an Louise Morel.295 Um Beweismaterial zu erhalten, wird Cecily als Hausmädchen (Ersatz für Louise) eingeschleust, sie soll Ferrand ver- bzw. überführen. Bei Betrachtung der Wetterrelation der Figur Ferrands zeigt sich das Besondere in ihrem speziellen Aufbau und dem meteorologisch-psychischen Effekt, der im Rahmen der ›Überführung‹ durch Cecily angelegt und nach der eigentlichen Bestrafung durch Gerolstein letal wirksam wird. Die Wetterfunktion und ihre Wirkungsweise entstehen gradatim in vier Phasen, die – nach Klärung der Voraussetzung – im Folgenden skizziert werden: • •

Voraussetzung: Die Verbindung Haus und Psyche Genese der Verbindung Wetter und Begehren – Verführung und Bestrafung (Luxurieux point ne seras…, Le guichet)

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• • •

Windabsenz und Wolke Moment der (Selbst-)Erkenntnis (Ende des Kapitels Le guichet) Letaler Effekt des Wetters (Furens amoris und Les visions)

In Luxurieux point ne seras… wird die Entwicklung der Beziehung bzw. Verführungsgeschichte Cecilys und Ferrands dargestellt und die Verbindung zwischen Wetter und Begehren konzipiert. In Le guichet kommt es zur Entwendung des Beweismaterials, in Furens amoris und Les visions endet die Bestrafung Ferrands tödlich.

2.3.6.1 Voraussetzung: Die Verbindung Haus und Psyche Die Verbindung Ferrands zu seinem Haus ist ad interim basal für das Zusammenspiel von Wetter und Psyche, weil sich eine stete Parallelisierung zwischen der Wirkung des Wetters auf das Haus und den Effekten auf Ferrand manifestiert. Die Kopplung von Haus und Ferrand erfolgt auf verschiedenen Ebenen, besitzt aber bereits über die Verortung eine Verbindung zum Wettersystem der MdP: So deckt sich die Verortung des Hauses im Norden von Paris mit der »bise« aus der Eingangsszene. Dies ist substanziell, weil es als einziges Haus im Norden lokalisiert ist. Im Detail weist die Darstellung der Türstufen als »moussues, verdâtre«296 eine weitere Verbindung zur Cité auf und impliziert die Assoziation Verbrechen mit Humidität und Humiditätsereignisse. Das Innere des Hauses lässt sich nach Ricken ebenso mit der Eingangsszene verknüpfen. Er bemerkt: »Selbst die Architektur gleicht einem Labyrinth.«297 Auch wenn sich dies angesichts der Aufteilung und etwa der expliziten Beschilderung zur Kanzlei hinterfragen lässt, ist die Assoziation bedeutend, weil damit im zweiten Teil der MdP das labyrinthische Domizil Ferrands analog zur Cité im ersten Teil den wesentlichen Ausgangspunkt des Verbrechens markiert. Die Verbindung von Ferrand zu seinem Haus wird ferner auf der Figurenebene expliziert. So gleicht sein Charakter nach Mme Pipelet »à la sombre maison de M. Ferrand«298 . Hier scheint bereits ein Hinweis auf den wahren Charakter Ferrands durch, auf die Spiegelung von Haus und Figur mit ihrer binären Persönlichkeit: Nach außen wirkt die Fassade leicht heruntergekommen, sie suggeriert Sparsamkeit und damit Ehrbarkeit. Im hermetisch isolierten Interieur tun sich die Abgründe auf, die andere Seite der Persönlichkeit Ferrands offenbart sich. So wird hier Louise Morel bedrängt und überwältigt oder Mme de Lucenay erweckt sein Verlangen.299 Hervorzuheben ist, dass auch für die inneren Räumlichkeiten eine Assoziation zur Relation Humidität, Kälte und Verbrechen besteht. Beispielsweise weist Ferrands »sanctus sanctorum«300 ein »carrelage jaunâtre, humide et glacial«301 auf. Hülk sieht in Ferrand die Spuren jener Triebversagung, die den ›normalen‹ Geiz markierten und in einem engen Zusammenhang mit einem Schuldkomplex stünden. Hülk hebt ferner auf eine symbolische Beziehung zwischen Geld und Sexualität ab, die in der Figur bestehe und die letztlich Ferrand zu Fall bringe.302 Gleichwohl bewirkt der Kontrollverlust sowohl über seinen Geiz, durch den er zum kriminellen Notar wird, als auch über sein sexuelles Begehren in Kombination mit dem Bedürfnis nach Macht – was in der Violation Louises kulminiert – seine kriminelle Entwicklung: Er wird zum Auftraggeber einiger Morde,303 außerdem der Entführung und des Betrugs, der (mitunter) andere in den Tod führt.

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Durch die Konzeptualisierung von außen (Fassade, Frömmigkeit) und Interieur (Triebe, Verbrechen) wird der Ausgangspunkt für das destruktive Potenzial zur Bestrafung durch Cecily ermöglicht:304 Cecily wird über Mme Pipelets Beziehungen als ›Spionin‹ im Auftrag Gerolsteins bei Ferrand als Hausmädchen ›eingeschleust‹. Sie ist im Vorteil, weil sie um das Geheimnis Ferrands weiß. Wie Ferrand verfügt sie damit über eine offenbarte und eine verborgene Identität. Indem Ferrand Cecily Zugang zu seinem Haus gewährt, hat das Haus seine Schutzfunktion für die verborgene Persönlichkeit verloren.305 Durch Cecily fallen Enttarnung, Überführung und Strafe zusammen – zwar in Gerolsteins Auftrag agierend, richtet damit nicht die detektivische Instanz, sondern (dezidiert) der Nachrichter.

2.3.6.2 Genese der Verbindung Wetter und Begehren Die Verbindungen Ferrands zum Wettersystem der MdP können in seiner Funktion als Master criminal und im Vergleich zu Duresnels, dem Master criminal im ersten Teil, entworfen werden: Verhör und Bestrafung Duresnels werden auditiv vom Regen begleitet, hiernach folgt eine lange regenlose Phase. Erst als es zur Überführung und Bestrafung Ferrands kommt, regnet es wieder. Die Kapitel Luxurieux point ne seras…, Le guichet sowie die Fortsetzung in Furens amoris und Les visions evolvieren die Ver- bzw. Überführung und Bestrafung Ferrands durch Cecily. Nach Ricken ist Le guichet das »Kapitel der Darstellung hemmungslosen Begehrens, bei dem Ferrand praktisch den Verstand verliert. Um das Schauerliche der […] Nacht zu unterstreichen, läßt Sue noch die Natur mitspielen […].«306 Die »entfesselten Naturgewalten«307 sind mit Ricken insofern rekursiv zum Schauerroman. Das Wetter, so die These, zeichnet sich in diesen Kapiteln indes durch eine spezifische Funktion und Relation zur Täterfigur aus und ist Teil des Komplexes Detektiv/Richter – Täter im Rahmen von Delinquenz/Überführung und Strafe. Es wird eine meteo-psychische Relation konzipiert, die zwar der zu D’Harville ähnelt, aber, in ihrer extremen Form, im Wettersystem der MdP einzigartig ist: Über Cecily entsteht sukzessive nicht nur eine erotische,308 sondern eine psychosomatische Funktion des Wetters, die zu Wahnsinn und Tod führt. Nach und nach bringt Cecily die scheinbare Enthaltsamkeit Ferrands ins Wanken. Sinnfällig stellt sich seine kühle Vernunft noch dem Begehren entgegen: Ferrand versucht etwa im Garten, pointiert bei Regen und Kälte »à calmer, à briser ses ardeurs«309 , bleibt jedoch erfolglos. Wie bei Louise Morel scheint es ihm unmöglich, sich zu beherrschen. Besonders dieser Aspekt der Dominanz des Triebes über den Intellekt wird von Cecily ausgenutzt und forciert, als Ferrand eines Abends durch eine Türklappe ins Dienstmädchenzimmer blickt. Ricken merkt zu diesem Moment an: »Hier kann nicht nur Ferrand seine Sehnsucht ausleben, sondern auch der Leser. Denn es folgt eine wohl für die damalige Zeit recht aufreizende Beschreibung von Cecilys Äußerem. Wie Ferrand wird an dieser Stelle auch der Leser zum Voyeur.«310 Entscheidend an dieser Szene ist die lancierte Verquickung von Begehren und Wind, die über die Wirkung des Wetters auf das Haus katalysiert wird: Il fait nuit. Le profond silence qui règne dans le pavillon habité par Jacques Ferrand est interrompu de temps en temps par les gémissements du vent et par les rafales de la

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pluie qui tombe à torrents. Ces bruits mélancoliques semblent rendre plus complète encore la solitude de cette demeure.311 Die Einsamkeit des Hauses und die melancholische Wertung der meteorologisch erzeugten Geräusche entsprechen der Einsamkeit Ferrands, der, um sein wahres Ich zu verbergen, zu allen anderen Distanz wahren und durch alle Mitwisser Verrat fürchten muss.312 Die meteorologischen Elemente setzen die zuvor latente Verbindung Ferrands zu Wetterphänomenen fort, indem sie Ferrands Begehren (»gémissement«) nach Cecily transzendieren. Der anschwellende Sturm erscheint primär als auditiver Eindruck, womit er der sinnlichen Begrenzung Ferrands entspricht: Durch die Tür getrennt, kann Ferrand Cecily nur hören; dank der Klappe in der Tür kann er sie sehen, jedoch nicht berühren. Während die Aktualisierung des visuellen Eindrucks ein fantastisches Moment erzeugt, erscheint das Wetter kontinuierlich als mit der Disposition Ferrands verbunden: Pour compléter l’effet de ce tableau, que le lecteur se rappelle l’aspect […] presque fantastique, d’un appartement où la flamme de la cheminée lutte contre les grandes ombres noires qui tremblent au plafond et sur les murailles… L’ouragan redoublait de violence, on l’entendait mugir au-dehors.313   Wie der Sturm draußen, so steht Ferrand vor der Tür. Die Parallele manifestiert die Verquickung von Wind und sexuellem Begehren. Eros und Wind verquicken sich, sodass die erotische Wirkung Cecilys auf die Psyche Ferrands nicht nur verbal zwischen den Figuren zum Ausdruck kommt, sondern parallel auf der Wetterebene als Allegorie wie auch in der direkten Wirkung des Wetters auf das Haus.314 Die Verquickung von Eros und Wind entwickelt sich in einer (dreistufigen) Klimax vom Wind zum Sturm: »Les paroles de cette lente mélodie étaient suaves et expressives. Quoique contenu, le mâle contralto de Cecily dominait le bruit des torrents de pluie et les violentes rafales de vent qui semblaient ébranler la vieille maison jusque dans ses fondements«.315 Es ist nunmehr der Gesang Cecilys, der den Wind dominiert. Dabei manifestiert sich die Verquickung von sexuellem Begehren und Wind weiter (›é-branler‹. Es ist besonders die Stimme Cecilys, also die auditive Impression, die den Wind, Ferrands Begehren, kontrolliert und gleichzeitig in seinen Grundfesten (»fondements«) erschüttert. Diese Dominanz und Verkehrung der Herr-Dienerin-Struktur (= Täter-Opfer-Beziehung) entspricht der von Hülk konstatierten »sado-masochistischen Psychostruktur«316 , die hier über das Wetter Ausdruck findet. Stimme und Wind vermischen sich zu einer akustischen Einheit, die eine Assoziationskette ausbildet und zum »Stoff, aus dem die Träume sind«317 , wird. Die Kombination aus Wind und Haus (gémissement – ébranler) bringt diesen Wunsch zum Ausdruck resp. realisiert ihn auf der meteorologischen Ebene. In ihrer Inszenierung greift Cecily das Anschwellen des Windes als Strategem zur Intensitätssteigerung auf: »Maître, entends-tu?… au dehors le vent redouble, la tempête se déchaîne… quelle belle nuit pour deux amants […].«318 Sie festigt so die Verquickung von Begehren, Wettergeschehen und Stimme. Diese Dreiheit, psychische und physische Erregung, Wind und Gesang, wird zur konkreten (metonymischen) Verbindung dreier Ereignisse, von denen das eine später genutzt wird, um das andere zu evozieren. Diese Dreiheit wird durch die Faktur untermauert, indem der Fokus zwischen Ferrands vi-

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sueller wie auditiver Apperzeption, Wetterhandlung und Gesangsinszenierung Cecilys oszilliert.

2.3.6.3 Windabsenz und Wolke Ein interruptives Vakuum wird plötzlich durch die auditive Absenz des Winds erzeugt: »Paroles amoureuses, musique enivrante, regards enflammés, beauté sensuellement idéale, au dehors le silence, la nuit… […] C’est à en perdre la tête!…«319 Das plötzliche Ausbleiben des Winds kulminiert im Gewahrwerden eines anderen Phänomens: Mit dem Motiv der Wolke manifestiert sich Ferrands absolutes Begehren; er fühlt, wie »une vapeur impure«320 ihn umschließt. Das Wolkenmotiv, das zuvor bereits als »nuage ardent« Zeichen seiner aufflackernden Gelüste war,321 beinhaltete, dass sie temporär seinen Verstand beeinträchtigten, weitet sich zum unreinen Nebel, der seinen Intellekt dauerhaft verschleiert.322 Die negativ gekennzeichnete Wolke wird zum Ausdruck des Kontrollverlusts über die versteckt gehaltenen Wünsche und kennzeichnet ebenso die Entschleierung und den Verlust der als Fassade gelebten Identität.323 In diesem Sinne führt Cecily metaphorisch zu dem, was ihr Name in phonetischer Rekurrenz bereits andeutet, zur »cécité«.324 Durch seine Begierde wird Ferrand blind, Ratio, Vorsicht, eigene Durchtriebenheit sind perdu: Er ist dabei, nicht nur im übertragenen Sinne seinen Kopf zu verlieren (Bezug zur Todesstrafe): »Ma tête pour tes caresses… veuxtu?«325 Ferrand offenbart nicht nur seine Verbrechen, die »mystères de Paris«, um Cecily zu beeindrucken, für sich einzunehmen und sein Verlangen zu realisieren, sondern liefert ihr Beweise. Über die Gefahr, die sein Geständnis und die Übergabe der Papiere bergen,326 wird die Situation intensiviert: Eros und Thanatos verweben sich.327 Relativ am Kulminationspunkt von Ekstase und Wetter kann Ferrand das Zimmer betreten, doch Cecily ist mit den Beweisen in der Nacht verschwunden. Durch das repetierte Vakuum (Wind/Windstille – Cecily/Cecilys Verschwinden) kippt für Ferrand die Situation, die sich retrospektiv als traumatischer und letztlich letaler Moment identifizieren lässt.

2.3.6.4 Moment der (Selbst-)Erkenntnis Ferrand begibt sich in seinen Garten und verharrt »à la clarté de la lune qui se dégageait des nuages amoncelés par l’ouragan«.328 Im Mondschein kommt es kurz zu einem Moment der Einsicht und Klarheit: der Humiditätsschleier des (sexuellen) Wahns, der »vapeur impure«, ist zerrissen wie die Wolken vor dem Mond. Die nun folgende vierte meteorologische Darstellung ist die Durchbrechung der Gradation und dirigiert Frustration, aber auch Erkenntnis: La pluie avait cessé. Le vent continuant de souffler avec force, chassait de lourdes nuées grises qui voilaient, sans l’obscurcir, la clarté de la lune, dont la lumière blafarde éclairait la maison. Un peu calmé par l’air vif et froid de la nuit, Jacques Ferrand espérant combattre son agitation intérieure […].329 Im Mondschein (quasi im Licht der Erkenntnis) erfasst Ferrand, dass Cecily ihn betrogen hat und »emportait avec elle la preuve de ses crimes!…«330 Angesichts dieser Situation

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sinkt er zu Boden, hat das Gefühl, völlig den Verstand zu verlieren und in einen bodenlosen Abgrund zu versinken. – Just in diesem Moment hört es auf zu regnen. Wurde bisher Kriminalität mit Regen assoziiert, so markiert das Ende des Regens hier selbst das Ende des Verbrechers. Der Wind weht noch immer heftig und entsprechend ist die innere Erregung Ferrands persistent. Allerdings nimmt sie einen autodestruktiven Charakter an; ihm wird bewusst, dass Cecily alle Beweise gegen ihn in der Hand hat und damit seinen Kopf, sein Leben bedrohen kann. In der Dynamik der Wolken finden sich die schwindelerregenden Gedanken und Gefühle wieder: »comme s’il sortait d’une ivresse profonde…«331 Letztlich reißt der Wind den metaphorischen Wolkenschleier nieder. Bedeutsam erscheint hierzu, dass das Mondlicht durch die Wolken nicht verdunkelt wird, das fahle Licht des Mondes auf die Aufdeckung bzw. Überführung der Täterfigur durch die detektivische Opposition verweist und Ferrand sich im Mondlicht selbst erkennt, indem er mit der »Fülle seines sexuellen und ökonomischen Begehrens konfrontiert wird«332 . Mit dem Mondlicht entsteht eine meteorologische Verbindung zu jener Situation, in der der Mondschein den Ort erhellte, an dem Louise Morel ihr Kind bestattete. Tat und Strafe rücken über das Naturphänomen zusammen, beeinflussen die Erkenntnis und intensivieren die Emotionalität: Ferrand sinkt am (nun leeren) Grab seines Kindes zusammen und erkennt für einen Moment gleichsam sich selbst: »Il y avait quelque chose de fatal dans ce rapprochement. Poursuivi par la punition vengeresse de sa luxure, le hasard le ramenait sur la fosse de son enfant… malheureux fruit de sa violence et de sa luxure!«333 Diese Einsicht ist ad interim stärker als die Furcht davor, was mit ihm geschehen wird. Mit dem Tod seines Kindes konfrontiert, erschaudert Ferrand vor sich selbst. Das Mondlicht bespiegelt damit Vergangenheit, Erkenntnis, Schmerz und erstmals eine bisher verborgene Seite seines Selbst.

2.3.6.5 Letaler Effekt des Wetters Während Duresnels Taten als primär physischer Natur betrachtet werden können und dieser eine physische Strafe erhielt, die ihm eine Läuterung ermöglichte, sind Ferrand Läuterung und ein damit einhergehender Neubeginn nicht vergönnt. Seine Taten sind zwar mitunter physisch, verfügen aber für seine Opfer über eine dezidiert psychische Komponente. Die Strafe für Ferrand334 setzt analog dazu physisch an und wirkt sich psychisch aus.335 Denn als letal erweist sich die Verquickung von Wetter und Begehren in den Kapiteln Furens amoris und Les visions. Damit bleibt es nicht bei einer Bestrafung durch den Verlust von Amt und Vermögen. In Furens amoris diagnostiziert Polidori bei Ferrand eine psychische Krise, die sich als psychosomatisch erweist und droht, ihn umzubringen. Wirksam wird dies, als die gleichen Wetterphänomene wie in der Nacht mit Cecily aufziehen und sich über dem Haus Ferrands manifestieren: Le pavillon occupé par Jacques Ferrand est plongé dans une obscurité profonde… Le vent gémit… La pluie tombe… Le vent gémissait, la pluie tombait aussi pendant cette nuit sinistre où Cecily, avant de quitter pour jamais la maison du notaire, avait exalté la brutale passion de cet homme jusqu’à la frénésie.336

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Substanziell wird an dieser Stelle die in Le Guichet geschaffene Trias (Wind, Ekstase und letztlich Verlust), indem der Wind als akustischer Stimulus die Assoziationskette des »Stoff[s], aus dem die Träume sind«337 , in Gang setzt. Die similäre Wetterlage zwingt Ferrand, der zuvor seine ›Identitätskrise‹ (intellektueller Entzug etc.) und Frustration kompensieren konnte, dazu, die Nacht mit Cecily erneut zu durchleben. Wie zuvor wird die Verquickung von Wind und Ferrands Begehren wirksam, sodass auch hier »gémir« doppelbezüglich ist. Das Heulen des Windes entspricht der Qual Ferrands. Durch die aus Le Guichet bestehende Verbindung von Physis und Psyche wirkt das Wetter in Furens amoris expressis verbis als Faktor der »tosenden Liebe«: Pendant la crise qui a failli emporter Jacques, je me croyais sous l’obsession d’un rêve en l’entendant décrire une à une, et d’une voix haletante, les monstrueuses hallucinations qui traversaient son cerveau… […] Au-dehors l’ouragan redoublait de furie… – Quel orage! reprit Polidori […]. Quelle nuit… quelle nuit! Il ne peut y en avoir de plus funeste pour l’état de Jacques.338 In dieser Nacht steigert sich das Wetter in sechs Stufen zu einem Sturm. Der Sturm wird stringent zur Repräsentation der psychischen Qual und zur leiblichen Bedrohung. Dies verdeutlicht sich mit der Wirkung des Wetters auf das Haus: [L]a tempête était dans toute sa fureur; une cheminée […] renversé par la violence du vent, tomba sur le toit et dans la cour avec le fracas retentissant de la foudre. […] un affreux ouragan ébranle la maison jusque dans ses fondements…339 Auffallend ist die fast identische Formulierung der Wetterhandlung. In Le Guichet stand diese in Verbindung zur Wunschebene, sodass hier vom »vent qui semblaient ébranler la vieille maison jusque dans ses fondements«340 die Rede war – im Gegensatz zur Realisierung in Furens amoris. In dieser Situation wird das Haus in seiner Materialität, seiner Substanz vom Sturm beschädigt. Die Erschütterungen des Sturms dringen in die Basis des Hauses, d.h. bis in die Tiefen der Psyche Ferrands: Der Schornstein ruft im Kontext zudem das Bild des sexualisierten Körpers auf, als Verdichtung und Verschiebung erscheint er als klassisches Phallussymbol und verweist auf die (metaphorische) Kastration durch Cecily und das durch sie entstandene Vakuum. Entsprechend ist der Einsturz des Schornsteins temporell kongruent mit dem vollständigen Zusammenbruch Ferrands. Die Assoziationskette entwickelt ihre Signifikanz »au milieu de ce fracas, de ces souffrances sans nom, je distinguais la voix passionnée de Cecily qui m’appelait…«341 . Die auditive Impression des Windes wird zur metonymischen Repräsentation des Objekts der Begierde. Der Stoff, mit dem sich Ferrands Träume verwoben haben, wird zum Toxikum: Wie die Naturgewalt nicht zu kontrollieren ist, verliert Ferrand die Kontrolle und die Gradation des Wetters verläuft kongruent zum akuten psychotischen Schub – es kommt zum Verlust des Realitätsbezugs und zur Auflösung seines Selbst. Polidori warnt Ferrand, dass eine weitere Steigerung seines Wahns ihm physisch Schmerzen bereiten werde. Doch unter dem meteorologischen Einfluss steigern sich Ferrands Wahn und Realitätsverlust kontinuierlich; die Trias fungiert weiter als rezi-

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proke Evokation und ist nicht zu unterbinden.342 In der Folge versucht Ferrand mit aller Macht, das Zimmer zu verlassen, da er glaubt, Cecily rufe im Sturm nach ihm.343 Das anschließende Heraustreten aus der Dunkelheit des Zimmers344 mündet in der Begegnung Ferrands mit Gerolstein. Es sind die Worte Gerolsteins, »Monstre! […] c’est ma fille que tu as tuée!«345 , die Ferrand wie durch einen Blitzstrahl blenden (»foudroyé«346 ).347 Das Heraustreten ins Licht konstituiert mit dieser Anklage eine Verbindung zur Mondscheinszene, d.h. die Titulierung und die Konfrontation mit dem Tod eines Kindes greifen den Moment der Erkenntnis wieder auf. Unter dem Eindruck der auditiven (Wind, Cecily, Anklage) und visuellen (metaphorische wie räumliche Helligkeit) Bedingungen kommt es zum Delirium in extremis, in dessen Verlauf die vielfältigen Taten und die Selbsterkenntnis bzw. Traumata Ferrands durchscheinen: Ferrand wiederholt seine Geständnisse, gesteht sein Vergehen an Louise Morel und ihrem Kind, rekurriert auf sein Amt als Notar sowie das leere Objekt Cecilys, das ersetzt werden muss. Trotz der Einsichten bricht auch in dieser Phase das Begehren immer wieder an die Oberfläche und wird verbalisiert. Ferrand versucht mehrfach, sich von seinen Wahnvorstellungen zu befreien, sich selbst zur Räson zu bringen, doch er verliert: »Arrivé à la période mortelle de son délire, à travers cette suprême hallucination, il se souvenait encore des paroles de Cecily […] peu à peu sa raison s’égara.«348 Für den Einsturz sorgt der Wind. Obzwar Teil der evokativen Trias, verweist dies auf den Umstand, dass Ferrand in Gänze nicht von einer dritten Person entmachtet wird, sondern durch sich selbst. Die nach außen hin gelebte Unterdrückung, das scheinbar nur im Geheimen auslebbare Begehren bedingen die Selbstzerstörung. Die meteorologischpsychische Relation zwischen Wind und Ferrand bedingt das letale Potenzial des Wetters und einer meteorologisch initiierten Gradation. Dadurch, dass Cecily die Bildung der Kontiguität des Windes mit der Begierde zu einem inkurablen psychischen Trigger forciert, ist das Wetter sowohl Instrument der Enttarnung wie Überführung als auch der Bestrafung des Master criminal. In diesem Sinne fällt die Entlarvung mit der Vernichtung (materiell, psychisch, physisch) zusammen, die Strafe wird durch die Wettertrias zur Todesstrafe.349

2.4 Zusammenfassung •



Die Mystères de Paris weisen ein deutlich wie konsequent strukturiertes Wettersystem auf, in dem einzelnen Wetterlagen bzw. meteorologischen Phänomenen eine Funktion für den Aufbau der Handlung zugeordnet ist. Das Wetter kann als strukturgebendes Element der MdP betrachtet werden; so markiert es bspw. den ersten Teil als abgeschlossene Einheit. Insgesamt wird ein komplexes Klimasystem mit Bezugsachsen zu Raum, Figur und Handlung entwickelt. Der wesentliche Teil der Handlung spielt im Winter, die Verbrechen und ihre Aufklärung sind mithin an diese Jahreszeit gebunden. Zum positiven Ende der (Pariser-)Haupthandlung, als alle Geheimnisse gelüftet sind, zieht wirkungsvoll frühzeitig der Frühling ein, sodass sich ein Bogen von Winter zu Frühling spannt. Der Sommer in Gerolstein indes kann durch den Tod Fleur-de-Maries nicht positiv konnotiert werden.

2 Eugène Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman















Diese saisonale Gestaltung eröffnet eine Reminiszenz an das Drama, in dem es eine archetypische Affinität zwischen Winter und Tragödie gibt – und entsprechend zwischen Frühling und Sommer zur Komödie.350 Hierüber ließe sich der gemeinhin als charakteristisch für den Kriminalroman angenommene Bogen von Mord bei Regen und Kälte zur Auflösung bei Sonnenschein, der gemeinhin mit Heiterem verbunden ist, erklären. Diese semantische Verbindung findet sich sodann in der vielfach als Wettermuster des Kriminalromans angenommenen Verbindung wieder. Bedeutsam für die Entwicklung des kriminalliterarischen Wetters – d.h. für die im Entstehen begriffene Kriminalliteratur – ist in der Eingangsszene die Verbindung von Wetter und Kriminalität. Diese Verbindung wird über den gesamten Feuilletonroman beibehalten. Ausgehend von der These, dass Wetterlagen nicht nur die Qualität eines Ortes beeinflussen, sondern vice versa Orte ihre spezifischen Konnotationen auf das Wetter übertragen können, wurden der Romananfang und dessen Reziprozität von Cité und Regen vor dem Hintergrund aus Genrebezüglichkeit (Schauerromantik), Histoire und zeitgenössischer Konnotation der Cité als kriminelles Areal untersucht. Hierbei zeigte sich eine Übertragung der Konnotationen und Assoziationen des Stadtteils auf das Wetter. Der Eingangsszene kann ein gewisser architextueller und damit potenziell meteorologischer ›Modellcharakter‹ zugeschrieben werden. Den MdP ist insofern ein Modellcharakter inhärent, als sich in ihnen die Relation von Regen, Stadt und Kriminalität aufbaut, wie sie für den späteren Kriminalroman resp. polar etwa von Blanc als »norme«351 herausgestellt ist. Die Relation von Kälte, Dunkelheit und Unsicherheit bildet Lahmédi zufolge eine der Konstituenten des néopolar. Ebenso wie der historische Ort die literarische Beschreibung der Cité prägt, liegt ein Einfluss der historischen Wetterlagen auf die literarische Gestaltung nahe. Hierbei werden mit sozialkritischer Perspektive mitunter realitätsnahe Wettererfahrungen mit gesellschaftlichen Lebensbedingungen kombiniert und bspw. eine Kausalbeziehung zwischen den Kindstoden (Adèle und Luises Baby) gezogen. In diesem Sinne zeigt sich das Wetter in den MdP nicht nur als mit den meteorologischen Gegebenheiten zur Zeit der Entstehung zusammenhängend, es wird dezidiert als sozialkritisches Element eingesetzt. Dies ist gerade mit Blick auf die sozialkritische Linie des französischen Kriminalromans hervorzuheben. Ferner stehen jeweils spezifische meteorologische Phänomene in Verbindung zu einzelnen Figuren und ihrer Entwicklung. So sind die Entwicklungen der Master criminals signifikantermaßen unter dem Einfluss von Wetterphänomene aufgebaut: Für Duresnel ist der durch das Wetter angeregte Läuterungsprozess hervorzuheben. Für Ferrand ist die letale psychophysische Verbindung zum Wind als Teil seiner Bestrafung bemerkenswert. Die detektivische Instanz ist noch keine wetterreflektierende Figur, doch wird der Übergang vom Abenteurer zum Detektiv durch die Wetterlagen Nebel und Regen (daraus resultierendes Hochwasser) initiiert. Dennoch fungiert das Wetter als Spurenträger (Schnee) für die Deduktion und wird in dieser Form später von Autoren wie Gaboriau oder Doyle weitergeführt.

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In den MdP wird der Regen als Triggerelement des Schauerromans eingesetzt, aber parallel in den Nexus des Kriminalromans überführt und konsequent mit Verbrechen und Kriminalität verbunden. Hierdurch kommt es zu einer Neumodulierung des Sekundärmotivs.

3 Émile Gaboriau – Der Beginn des französischen Kriminalromans Elle eut une de ces nuits horribles pendant lesquelles se conçoivent les crimes.1

Émile Gaboriau2 legt als »père de toute la littérature détective moderne«3 in den 1860erJahren den Grundstein des roman policier und begründet mit der Figur des Polizisten Lecoq die französische Linie des Kriminalromans.4 Zudem beeinflusst er nachhaltig Arthur Conan Doyle, der mit Sherlock Holmes als eine Art Synthese aus Dupin und Lecoq eine der berühmtesten Detektivfiguren erschafft. Doyle stellt in Memories and Adventure den Einfluss Gaboriaus auf sein eigenes Werk deutlich heraus: »Gaboriau had rather attracted me by the neat dovetailing of his plots, and Poe’s masterful detective, M. Dupin, had from boyhood been one of my heroes.«5 L’affaire Lerouge erscheint 1863 in Le Pays, einer Zeitschrift mit geringer Auflagenstärke, und ist zunächst ein unbeachteter Feuilletonroman.6 Doch Moïse Millaud, Begründer und Herausgeber des erfolgreichen Petit Journal, erkennt das innovative Potenzial des Werkes und publiziert es 1866 erneut, wodurch es ein breiteres Publikum erreicht. Um die bei ihm erscheinenden Romane Gaboriaus zu charakterisieren, prägt Millaud den Terminus roman judiciaire, denn erstmals übernimmt ein Detektiv bzw. ein Polizist mit System und Methode die Aufklärung von Verbrechen: In L’affaire Lerouge ermittelt zunächst der Privatier Monsieur Tabaret, genannt Tirauclair; in den folgenden Romanen Le crime d’Orcival (1866–1867), Le dossier No 113 (1867)7 , Les esclaves de Paris (1867–1868)8 und Monsieur Lecoq (1868) wird mit Lecoq zum ersten Mal ein Polizist zum Helden einer Romanserie.9 In L’affaire Lerouge mit Tabaret zunächst einen Amateurdetektiv als ermittelnde Instanz einzusetzen, ist der zeitgenössischen Reputation der Polizei geschuldet, der kaum Vertrauen entgegengebracht wird.10 Mit der späteren Wahl des Polizisten Lecoq als positive Hauptfigur wendet sich Gaboriau erstmals bewusst gegen die Vorurteile der Zeit und rückt die Polizeiarbeit in ein vorteilhafteres Licht.11 Hieraus entwickelt sich auch der eingangs erwähnte Terminus des roman policier, der sich gerade auf die Figur des Ermittlers als Beamter der Polizei bezieht.12

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Mit diesem Ansatz weicht Gaboriau deutlich von Edgar A. Poes Figur Dupin (erstmals 1841) ab: von Poes Detektiv Dupin zwar inspiriert, erscheinen Tabaret und Lecoq im Gegensatz zu diesem nicht als reine Denkmaschinen oder Übermenschen.13 Sie werden mit emotionalen Regungen und Gefühlsausbrüchen gezeichnet; hierdurch und besonders, weil sie, trotz aller Genialität, nicht frei von Irrtümern sind und sich in ihrer Deduktion selbstreflektierend korrigieren, erscheinen sie lebendiger und realitätsnäher als Dupin.14 Zu diesem Bild trägt auch bei, dass beide Protagonisten in jeweils einen Fall als Privatperson verwickelt sind;15 Lecoq ist zudem physisch aktiv und scheut vor körperlichen Konfrontationen nicht zurück. Insbesondere mit Lecoq verschiebt sich die Deduktion vom unverbindlichen Spiel der Privatperson – wie bei Dupin oder Gerolstein – zu einer (tendenziell) juristisch eingebundenen Exekutive. Mit seiner Konzeption und der Figurengestaltung weicht Gaboriau mithin maßgeblich von Poe ab und übt einen beträchtlichen Einfluss auf den sich entwickelnden französischen Kriminalroman aus:16 »Gaboriau et Poe ont inventé, en somme, les deux personnages clés du récit policier, le détective amateur et le policier professionnell. Ils ont créé ainsi deux écoles nettement différenciées: la française et l’anglo-américaine.«17 Markanterweise enthalten die Romane Gaboriaus bereits alle charakteristischen Elemente des roman policier resp. roman à énigme: • • •

• •

das Verbrechen als auslösendes Moment (dreimal ist dies ein Mord, einmal ein Bankraub), den professionellen Ermittler (Privatdetektiv und Polizist), falsche Fährten (Tabaret läuft in die Irre, Lecoq erkennt hingegen in Le crime d’Orcival, dass die Spuren nur platziert sind, und souverän deduziert er, was wirklich passiert ist), unschuldige Verdächtige, deren Unschuld durch die Ermittlungsinstanz nachgewiesen werden muss, die überraschende Lösung, die sich hieraus (etwa in L’affaire Lerouge) ergibt.18

Erstmals ist bei Gaboriau zudem der Ermittlungsprozess das bestimmende Thema in einem Roman,19 womit verstärkt Funktion und Konzeption der detektivischen Instanz in den Mittelpunkt rücken. Ein relevanter Faktor für die Darstellung der Ermittlung, die Analyse des Tatorts und nicht zuletzt das systematische und methodische Vorgehen der detektivischen Instanz ist der kulturelle und literarische Kontext der Zeit: Gaboriau publie ses œuvres à une époque dominée par le courant réaliste (1850–1870) et réaliste-scientifique ou naturaliste (1860–1880). Le roman se comprend alors comme une représentation objective et rigoureuse de la réalité, où la science positiviste devient modèle d’approche et de démarche pour les écrivains dans l’observation et l’analyse du monde.20 In diesem Zuge bindet Gaboriau neue Errungenschaften, wie die Fotografie, die Analyse von Daktylogrammen und Ansätze aus der Rechtsmedizin oder der Toxikologie21 ein, und es zeichnen sich Hinweise auf die »Einführung gewisser technischer Mittel zur Verbrechensaufklärung«22 ab. Das heißt, die Fälle verweisen auf die sich entwickelnde

3 Émile Gaboriau – Der Beginn des französischen Kriminalromans

Kriminaltechnik und greifen sie auf. Ferner sei mit Schulze-Witzenrath auf »die auffällige Bezugnahme auf die zeitgenössische französische Strafverfolgung, die unverkennbar der Authentifizierung des Erzählten dient«23 hingewiesen. Allerdings kommt es in der Regel nicht zur Verhaftung des Schuldigen – Raoul kann fliehen, Louis verfällt dem Wahnsinn, Noël begeht Selbstmord etc. Weil Gaboriau einen eher rationalistischen Ansatz verfolgt, – erkennbar an den neuen technischen Mitteln –, die er in die Fälle Tabarets und Lecoqs einflicht, stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem Wetter zukommt. Vor dem Hintergrund des »courant réaliste […] [bzw.] réaliste-scientifique«24 und der entwickelten Kriminaltechnik kann die These aufgestellt werden, dass sich eine veränderte und angepasste Darstellung und Funktion des Wetters ergibt. Die Romane sind durch die Publikationsform des Feuilletons geprägt, wodurch die Konstruktion heute als ›mühsam zu lesen‹ erscheint, wie es Leonhardt für einige Fälle auf den Punkt bringt.25 Messac sieht indessen im Aufbau der Romane »un compromis entre deux esthétiques contradictoires: celle de la nouvelle, qu’il avait reçue de Poe, et celle du feuilleton, que lui imposèrent les circonstances«26 . Für Depken haben die Analepsen überdies folgende Funktion: »Gaboriau benutzt den zweiten Teil, die Erzählung der Vorgeschichte, stets dazu, um den für die Franzosen anscheinend unentbehrlichen Liebesroman in den Kriminalroman einzuspinnen.«27 Diesbezüglich ist zu fragen, ob das Wetter hier primär der Gefühlstranszendierung dient bzw. diese zu vermitteln sucht. Um dieser Dualität nachzugehen, richtet sich der Fokus zunächst auf den Aufbau der Romane, die sich durch eine Struktur von Basiserzählungen (Ermittlungsgeschichte) und Analepsen auszeichnen, und auf die hiermit verbundene Quantität sowie die – so die These – jeweils unterschiedliche Funktion des Wetters. Ein weiteres Moment ist der Ermittlungsprozess, der in den Fällen Lecoqs und Tabarets erstmals im Mittelpunkt steht, denn hier scheint sich eine andere Qualität oder Funktion des Wetters abzuzeichnen als etwa direkt an den Tatorten. Insgesamt erscheinen damit drei Wetter-Achsen als relevant: • • •

Wetter-Faktur: Basiserzählung und Analepse, Wetter als (kriminaltechnische) Spur am Tatort, Wetter im Ermittlungsprozess.

3.1 Wetter-Faktur: Ermittlung und Vorgeschichte Durch den Rahmen des Feuilletons bedingt, bezieht Gaboriau nicht nur spezifische Motive wie das des Kindertauschs in die Geschichte ein; das Problem der erforderlichen Länge löst er geschickt durch den Einschub einer Analepse, die die (Familien-)Geschichte bzw. die Entwicklung der in den Fall verwickelten Figuren darlegt und veranschaulicht, wie es zum Verbrechen kam.28 Durch die Vorgeschichte erhalten die Täterfiguren eine »identité sociale et psychologique«29 , wodurch die Figurenentwicklung zum Verbrecher nachvollzogen und ein (Tat-)Motiv aufgebaut wird. Die Einfügung der Analepse bewirkt allerdings zunächst eine Retardation, weil sie erscheint, sobald ein ermittlungstechnischer Erfolg unmittelbar bevorsteht. Die Analep-

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sen in Le dossier No 113 und Le crime d’Orcival werden durch das Vortragen eines umfangreichen Manuskriptes, wie einen Brief, eingebunden, wodurch mit Beginn der Analepse deutlich ist, dass sie die Hintergründe des Verbrechens aufzeigen. In Monsieur Lecoq wird mit der Analepse als fast eigenständiger zweiter Teil ein deutlicher Spannungsabbruch erzeugt, denn sie führt zu einer weitreichend veränderten Situation, die zunächst mit der Basiserzählung nichts zu tun hat; erst sukzessive, mit dem Wiedererkennen der Charaktere, kann die Analepse an Spannung gewinnen. Allein durch den kurzen Epilog wird der Anschluss zur eigentlichen Basiserzählung, der Ermittlung Lecoqs, wiederhergestellt. In der Analepse werden nicht nur die Ursprünge bzw. Hintergründe des Verbrechens geschildert, sondern es ereignet sich bemerkenswerterweise in den Analepsen ebenso ein Verbrechen (in drei von vier Fällen ein Mord), dass dem der Basiserzählung chronologisch vorausging und erst durch den Impetus der Mordermittlung (Basiserzählung) aufgedeckt wird; der Mord an Gaston in Le dossier No 113 etwa wird erst von Lecoq überhaupt als solcher erkannt. Durch den Einschub der (meist längeren externen) Analepsen ergibt sich eine Dreiteilung der Romane: I. »l’enquête, après le crime«30 , II. »l’histoire des personnages, avant le crime«31 , III.  l’enquête, Auflösung auf der Ebene der Basiserzählung.

Durch diese Faktur entsteht der Eindruck, die Fälle würden von zwei Seiten gelöst:32 einmal achronologisch durch die Basiserzählung, einmal chronologisch über die Analepse; oder, anders formuliert: einmal durch die Ermittlung, einmal aus der Geschichte selbst heraus. Dies ist mit Blick auf die Ausführungen Hühns gattungsgeschichtlich interessant: Der Plot eines klassischen Detektivromans umfasst zwei grundsätzlich getrennte Geschichten – die Geschichte des Verbrechens […] und die Geschichte der Ermittlung […]. Die erste Geschichte (das Verbrechen) geschah in der Vergangenheit und ist – als verborgene – nicht gegenwärtig; die zweite Geschichte (die Ermittlung) passiert in der Gegenwart und besteht aus der Aufdeckung der ersten Geschichte.33 Im Normalfall lässt sich das Verhältnis dieser beiden Geschichten mit Hühn als erzähltheoretisches Verhältnis von histoire und discours im Sinne Genettes und Chatmans diskutieren:34 »Die normale Konstellation von Geschichte und Diskurs […] tritt zweimal in Erscheinung: Die Geschichte des Verbrechens wird im Diskurs der detektivischen Ermittlung vermittelt; die Geschichte der detektivischen Untersuchung ihrerseits wird durch den Diskurs des Erzählens vermittelt […].«35 In aliis verbis: Im Normalfall des Detektivromans wäre das »unerzählte Geschehen vor dem Einsetzen des Erzählens […] unumkehrbar vergangen«36 und bliebe uneinholbar vollzogen, weil es nicht in die Gegenwart zu transportieren ist. Erzähltheoretisch handelt es sich mit Kessler damit in der Basalstruktur des Detektivromans um eine histoire, die nur im discours als Rekonstruktion erfahrbar ist.37 Durch die Analepse wird indes bei Gaboriau dieses Moment unterlaufen,

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das Verbrechen ist, indem es erzählt wird, in einigen Fällen discours und unterliegt damit einem anderen Status.

3.1.1 Die Analepse und das Wetter Mit der Struktur aus Basiserzählung und Analepse entsteht weitgehend eine Zweiteilung der Wetterfunktionen und ihrer literarhistorischen Verbindung zwischen Romantik und Rationalisierung. Dies lässt sich mit Dethloff mit Blick auf die Natur konzise fassen: Alors que, dans la pensée romantique, la nature fait figure de cosmos à l’intérieur duquel s’inscrivent les pensées, les sensations et les faits humains, les réalistes la concevront comme un phénomène plutôt extérieur, comme faisant partie de l’objectivité ambiante qui ne dégage que virtuellement un impact affectif sur le psychisme humain. A partir des années cinquante du XIXe siècle, le style empathique, dans lequel les romantiques s’adonnent au dynamisme envoûtant de la nature, est progressivement supplanté par une description moins émotionalisée de la nature qui apparaît comme filtrée par le rationalisme de la science positive.38 Während in der Analepse Wetter vielfach eine eher emotionale Komponente aufweist, erscheinen Naturphänomene in der Basiserzählung prinzipaliter verknüpft mit der Ermittlung Lecoqs bzw. Tabarets, die im Folgenden den Schwerpunkt bildet. Ein Charakteristikum in den Romanen ist ferner die Verwendung des Wetters als Bild oder Vergleich wie bspw.: »Il ferma les yeux et chercha recueillir ses idées, qui s’étaient éparpillées comme les feuilles d’un arbre en automne par une tempête. Le passé lui semblait noyé dans un brouillard opaque […].«39 Über diese Einbindung erhöht sich die Verweisbezüglichkeit um ein Vielfaches; es entsteht der Eindruck, dass auch dann, wenn nicht auf das meteorologische Geschehen rekurriert wird, Wetter deutlich präsent ist. Über die Fälle hinweg sind zudem diese Vergleiche bzw. Bilder in den Analepsen nicht nur häufiger zu finden als in der Basiserzählung, sondern zwischen beiden besteht ein meteorologischer Frequenzunterschied: So wird, insbesondere in den Fällen der Reihe vor resp. nach Monsieur Lecoq, in den Analepsen das unmittelbare meteorologische Geschehen häufiger dargestellt als während der Enquête. Dies ist insofern nicht erstaunlich, als die Analepsen den ›emotionalen‹ Hintergrund zum Verbrechen bzw. zur Basiserzählung darstellen. Somit kann die Feststellung Bonniots bezüglich der abondance des images auf den Kontrast von Ermittlungs- und Vorgeschichte erweitert werden: »La plupart de ces comparaisons révèlent à la fois un sens aigu de l’observation et une très vive sensibilité. […] au bénéfice de l’homme et concernent uniquement ses sentiments et son comportement.«40 Hiervon ausgehend lässt sich eine Funktionsbindung des Wetters feststellen, die weitgehend der Trennung zwischen Basiserzählung und Analepse entspricht: In der Analepse weist das Wetter vielfach eine Relation zur Figurenemotionalität oder zur Reziprozität zwischen psychischer und meteorologischer Gestimmtheit auf und betrifft meist eine der Hauptfiguren. In der Analepse partizipiert das Wetter verstärkt an der Transzendierung der Figurenemotionen; ferner entsteht eine Reziprozität bzw. Parallelität zwischen psychischer und meteorologischer Gestimmtheit.

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So besteht in L’affaire Lerouge eine Relation zwischen der sich verändernden Wetterlage und die Liebe des Richter Daburon zu Claire d’Arlange. Als er die Einwilligung der Marquise zur Ehe mit Claire erhält, scheint ihm der Himmel blauer und die Sonne heller zu strahlen; am Abend, an dem er sich überwindet, Claire endlich seine Liebe zu gestehen, ist ein Tag mit drückender Hitze vorausgegangen und es erhebt sich eine Brise und bezeichnenderweise liegt ein Gewitter in der Luft: Claire setzt ihm bei melancholischer Abendstimmung im Garten auseinander, dass sie sich für den Vicomte de Commerin entschieden hat. Die Hitze und das herannahende Gewitter antizipieren das Gespräch und transzendieren die emotionale Aufwallung Daburons, der sich entscheidet, den Vicomte zu erschießen. Während Daburon echauffiert durch die Nacht geht, wandelt sich mit dem Wetter seine Erregung; das Gewitter bricht nicht aus und flacht zum Wind ab. Er sucht den Vicomte zwar in seinem Klub auf, doch kehrt er auf dem Fuße um, ohne ein Wort zu sagen. Die Verbindung von Wetterlage und Emotionalität als Reziprozität zum gestimmten Raum zeigt sich bezüglich Albert de Commerin, als er kurz vor seiner Verhaftung den Park im Mondschein in melancholischer Stimmung zwischen Verlust, Erinnerung und romantischen Gefühlen zu Claire bewundert und den in diesem Sinne auch symbolisch mondbeschienenen Park als bisherige und vermeintlich irrige Lebensbühne betrachtet.

3.1.2 Die Basiserzählung und das Wetter Die quantitative Darstellung des Wetters variiert von Fall zu Fall: Die Frequenz der Wetterphänomene ist in Monsieur Lecoq am höchsten. In keinem anderen Fall wird das Wetter innerhalb der Basiserzählung so häufig erwähnt, wobei sich eine starke Häufung unmittelbar zu Beginn der Erzählung abzeichnet. Ihr häufiges Vorkommen wird besonders im Vergleich zur Basiserzählung in L’affaire Lerouge deutlich, weil sich hier über den gesamten Roman nur vier Referenzen auf ein direktes meteorologisches Geschehen finden. Alle weiteren meteorologischen Erwähnungen rekurrieren auf vergangenes Wetter und sind damit Teil der Deduktion oder erscheinen in Analepsen. In den beiden anderen Fällen verhält es sich ähnlich: In Le crime d’Orcival wird zwar bereits im ersten Satz auf den anbrechenden Tag verwiesen, doch die nächste meteorologische Referenz findet sich erst auf Seite 111 – im unmittelbaren Kontext der Ermittlung. Bis zum Beginn der Analepse mit Kapitel 12 gibt es dann insgesamt nur acht Stellen, an denen meteorologische Phänomene erwähnt werden; nach der Analepse sind es bis zum Ende der Erzählung nur noch drei weitere. Obwohl die ersten französischen Kriminalromane das Wetter in einen ›kriminaltechnischen‹ Kontext stellen, so die Vermutung, erfolgt die Darstellung des Wetters, wie es in diesem Zusammenhang anzunehmen wäre, nicht quantifizierend, etwa in Form einer konkreten Temperaturangabe; Wetter und Naturphänomene werden zwar zuweilen einfach benannt, vielfach sind sie aber evaluativ, mit einer leicht emotionalen Komponente versehen und damit evokativ dargestellt: »Il faisait un temps magnifique, une resplendissante journée de printemps.«41 Im Fokus von Emotionalität ist der Verzicht auf bestimmte Wetterlagen auffällig. So finden sich keine Wetterextreme wie starke Hitzewellen im Sommer oder Gewitter.

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In der Exposition versäumt es der auktoriale Erzähler allerdings bei keiner der Ermittlungen, gleich im ersten Satz das Datum zu erwähnen. Hierdurch kann unmittelbar auf die Jahreszeit geschlossen und eine meteorologische, atmosphärische Evokation aufgebaut werden. Dieser mensual geschaffene erste Eindruck wird, etwa besonders in Monsieur Lecoq, durch die verstärkte Einbindung von Wetterphänomenen intensiviert. In der Mehrzahl der Fälle aber, wie in L’affaire Lerouge, wird die Naturimpression durch indirekte jahreszeitliche Bezüge, wie die pittoreske und touristische Darstellung Bougivals, effiziert: Die beiden Fälle, die auf dem Land beginnen (Lerouge und Orcival), setzen im Frühling bzw. Sommer an. Die jahreszeitliche Assoziation trägt dazu bei, das Bild einer scheinbar unspektakulären, ländlichen Region zu erschaffen, d.h. zunächst einen idyllischen Hintergrund zu modellieren, zu dem der entdeckte Mord einen scharfen Kontrast bildet. Die Darstellung des Lands als friedlicher Raum wird in allen Fällen, wenn nicht in der Basiserzählung, so doch in der Analepse, unterlaufen, indem sich Verbrechen, die jeweilige Außendarstellung und das Innere (bes. der Häuser) sowie die scheinbare Unfähigkeit der örtlichen staatlichen Institutionen diametral zur pittoresken Umgebung verhalten; in diesem Zuge tritt die in den Romanen Gaboriaus relevante Divergenz von Schein und Sein hervor. Wetter, Landschaft und der Mord an Mme Lerouge beinhalten zudem speziell vor dem Hintergrund des historischen Kontexts ein Innuendo, das gleich im ersten Fall zu einer Entzauberung des friedlichen Landschaftsraums beiträgt: The twentieth-century reader, less familiar with the historical detail of the period than Gaboriau’s contemporary reading public, would not necessarily realize that in the description of this first scene, the author was quite likely alluding – consciously or unconsciously – to the modus operandi of certain well-known criminals who terrorized the French countryside during the early part of the nineteenth century.42 Neben L’affaire Lerouge greift auch Monsieur Lecoq eine bedrohliche bzw. mit Kriminalität assoziierte räumliche Konnotation auf, hier nicht zum Land, sondern zum Bereich des terrain vague in der Metropole.43 Die meteorologisch kontrastive Verknüpfung bleibt allerdings räumlich gebunden, da Le dossier No 113 (wie L’affaire Lerouge) im März44 ansetzt, die Urbanität aber einen Rahmen zum Diebstahl stellt – zumal er nur eines der vielen Dinge ist, die sich, wie den eingefügten Zeitungsmeldungen zu entnehmen ist, am entscheidenden Tag ereigneten. Eine stark saisonal geprägte Wetterlage wird zu Beginn in Monsieur Lecoq aufgebaut; es ist der erste Fall Lecoqs und markanterweise die einzige Ermittlung zu einem Mord, der sich in Paris ereignet. Die ersten drei Wettereinflechtungen in Le dossier No 113, die sich über etwa 180 Seiten verteilen, transzendieren in unauffälliger Weise eine Entwicklung Prospers: I. Das Einzige, was der nach seinem putativen Diebstahl verhaftete Prosper auf dem Weg zur Präfektur wahrnimmt, ist der Sonnenschein, der gerade an dieser Stelle positiv und kontrastiv wirkt und ihn trotz aller Vorwürfe als unschuldig markiert. II. Ein kräftiger Windstoß wirbelt die Briefe Ninas auf. III. Der emotionale Höhepunkt ereignet sich während des Wolkenbruchs, als Prosper mit dem verkleideten Lecoq Madeleine verfolgt, sie beim Gespräch mit Raoul durchs

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Fenster beobachtet und Prosper, von Eifersucht ergriffen, am liebsten direkt ins Haus stürzen würde. Interessant ist, dass dieser meteorologische Höhepunkt für Lecoq zeitgleich den Schlüsselmoment der Aufklärung bildet und dies, nicht zuletzt dank des Verhaltens Madeleines gegenüber Raoul,45 die meteorologische Verbindung zur Analepse um Madeleine darstellt.

3.1.3 Saisonale Konzeption von Basiserzählung und Analepse Hinsichtlich des Wechsels von Vorgeschichte und Ermittlung ist die saisonale Komposition der Fälle interessant, weil die Analepsen meist jahreszeitlich divergent zur Ermittlung in der Basiserzählung angelegt sind. Besonders deutlich ist dies in Le crime d’Orcival: Der Racheplan Sauvresys sowie der Giftmord an ihm ereignen sich im Winter (Analepse), der Mord an der Gräfin und die Ermittlung Lecoqs im Sommer (Basiserzählung). Auch bei Analepsen, die einen längeren Zeitraum umfassen, liegen diese mensual bzw. saisonal ad interim und nicht in der Basiserzählung. Hierdurch kommen Wetter und Jahreszeit eine semantische Funktion zu. Vorgeschichte und Ermittlung korrelieren nicht, werden aber saisonal als chronologischer Prozess markiert, denn die Vorgeschichten reichen meist an die der Ermittlung (komplette Analepse) heran. Ferner kommt es bspw. in L’affaire Lerouge, Monsieur Lecoq und Le dossier No 113 zu Berührungspunkten zwischen Basiserzählung und Analepse; pointierterweise markiert ein meteorologisches Phänomen diesen Berührungspunkt. Das Wetter verbindet beide, sodass es selbst zu einer narrativen Spur wird. Zur Verbindung der variablen Fokalisierung, der Handlungsstränge und Ebenen nachfolgend ein Beispiel: In Le dossier No 113 finden sich innerhalb der Enquête nur fünf Punkte, an denen das Wetter erwähnt wird; an einem dieser Punkte kommt es zu einer signifikanten Häufung von Wind und Regen, scil. als Prosper und Lecoq durch ein Fenster blicken, um Madeleine und Raoul zu beobachten.46 Dieses Unwetter findet sich dann ebenso in der Analepse47 um Madeleine. Die hohe Frequenz des Regens markiert das Zusammentreffen mehrerer Figuren- bzw. Handlungsstränge48 und darüber hinaus den Punkt, der für Lecoq den Moment des »mot de l’énigme« darstellt,49 aber nicht fasslich wird, denn der Regen fungiert einem Theatercoup gleich an dieser Stelle als Privationselement: Die Stimmen werden überlagert. Auf diese Weise bleibt die Information verborgen und wird erst in der Analepse um Madeleine aufgedeckt, wodurch ein gewisses Spannungspotenzial entsteht.

3.1.4 Saisonales Avancement In achronologischer Weise zur Publikation zeichnen die Romane den Werdegang des jungen Lecoq zum erfolgreichen und von Kollegen bewunderten Agenten der Sûreté nach, der schließlich selbst zum Mentor eines Polizisten, Fanferlot, wird. Durch das saisonale Arrangement der Romane ergibt sich eine Einbettung der Karriere Lecoqs in einen jahreszeitlichen Zyklus: Berücksichtigt man die Reihenfolge, in der die Fälle geschrieben wurden und nicht die ihrer Publikation,50 so fällt auf, dass Lecoqs Karriere als Hauptermittler im Winter beginnt und der Jahreshöhepunkt dem Höhepunkt seiner

3 Émile Gaboriau – Der Beginn des französischen Kriminalromans

Karriere im Sommer und Frühling entspricht. Besonders auffällig ist, dass Lecoq im Frühlingsfall Fanferlot gleichsam als Schüler unter seine Fittiche nimmt, weil der Fall L’affaire Lerouge ebenso im Frühling angesiedelt ist und Lecoq hier als Nebenfigur, scil. als Schüler Tabarets, erscheint. Wertet man Les esclaves de Paris als letzten Fall Lecoqs, wird der Romanzyklus um Lecoq als Hauptfigur hibernal abgeschlossen und damit durch eine saisonale Konzeption gespiegelt und gerahmt.51 Die Ermittlungsgeschichte zeichnet sich durch eine Trennung mit meteorologischen Phänomenen am Tatort und das Wetter während des Ermittlungsprozesses aus. Im jeweils ersten Fall Tabarets bzw. Lecoqs ist das Wetter am Tatort Element der rationalen Deduktion, im weiteren Ermittlungsprozess ergibt sich darüber hinaus, besonders bei Lecoq, eine meteorologisch-psychische Kontiguität, die in den weiteren Fällen Lecoqs weitgehend aufgelöst ist. Diese Struktur findet im Folgenden Berücksichtigung.

3.2 Wetter als Spur Die Fälle Lecoqs und Tabarets folgen gemeinhin einem rationalistisch geprägten Investigationsansatz, weil die Ermittlungen stets mit einer Analyse der Fakten beginnen, wobei der Tatort als ein Konglomerat von Objekten betrachtet wird,52 aus denen nur Tabaret, Lecoq oder Gévrol die relevante Spur erkennen und als solche interpretieren können. Tabaret und Lecoq äußern sich beide zu ihrer Methode; während Tabarets Explikation im konkreten Konnex zum Fall Lerouge steht, formuliert Lecoq Leitsätze von allgemeinerer Gültigkeit, die nach ihm etwa Holmes aufgreifen wird und die auch heutige Ermittler noch vermittelt bekommen: »se défier surtout de la vraisemblance. Commencer toujours par croire ce qui paraît incroyable«53 sowie »[s]e défier extraordinairement de toutes les circonstances qui paraissent favoriser nos secrets désirs«54 . In der Explikation zeigt sich ein betont logischer Ansatz; allerdings zeichnen sich auch zwei Facetten der ermittelnden Instanz ab. Dies ist zum einen die quasi wunschgeprägte Spur, zum anderen, so sei mit Verweis auf Kadane und die Spieltheorie angemerkt, die emotionale Disposition, die an Lecoq sichtbar werden wird, denn: »Taken together they suggest a tinge of paranoia […] but […] [i]t also suggests a touch of Lindley’s Cromwell’s Rule, not to put zero probability on any conceivable possibility.«55 Im Rahmen der Detektivliteratur wird die Methode der Aufklärung, d.h. in diesem Falle das Spurenerkennen und -lesen, zum zentralen Motiv und lässt sich nach Kessler »geradezu als ein gattungskonstituierendes Element begreifen«56 . Markant ist, dass sich gleichsam im Sinne der Spieltheorie und vor dem Hintergrund des gattungskonstituierenden Motivs meteorologische Phänomene bei Tabaret und Lecoq als konstitutiv bzw. programmatisch erweisen; sie ermöglichen der detektivischen Instanz mitunter die Konklusion, d.h. sie bilden einen substanziellen Bestandteil der Ermittlung: Ein spezifisches Wetterphänomen erregt die Aufmerksamkeit des Detektivs und rückt ins Zentrum der Untersuchung. In einigen Fällen tritt das Wetter dann wieder in den Hintergrund, doch drängt es besonders in den Fällen L’affaire Lerouge und Monsieur Lecoq wiederholt ins Bewusstsein des Ermittlers, wodurch ihre Signifikanz hervorgehoben wird. Das Wetter ist in drei Fällen für die Lösung des Falles resp. zur Erlangung ermittlungsrelevanter Lösungsteile substanziell: L’affaire Lerouge, Monsieur Lecoq und Le crime

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d’Orcival. Die saisonale Konzeption der Reihe erweist sich hierbei als durchdacht, da sich dergestalt verschiedene Wetter(lagen) (Regen, Schnee und Sonnenschein) als fruchtbar und essenziell für die Investigation zeigen. Dieser Spurenlage wird im Folgenden nachgegangen.

3.2.1 Der Fall Lerouge – Wenn Regen über Leben oder Tod entscheidet Der Fall Lerouge rekurriert nur an vier Stellen auf ein direktes meteorologisches Geschehen innerhalb der Basiserzählung, doch der Regen wird zum Motor der Geschichte und ist als solcher eng verbunden mit der Faktur des Romans, auf die er wiederholt zurückweist. Elementar ist hierbei, dass es auf der Ebene der Basiserzählung nicht regnet – die richtige Interpretation des Regens aber über Leben oder Tod entscheidet. Der Aufbau von L’affaire Lerouge lässt sich in drei Phasen unterteilen, in deren Ermittlungsfokus der Regen der Mordnacht und die hieraus resultierende Spurenlage stehen. Pointiert formuliert, baut der erste Fall des französischen Kriminalromans auf dem Regen als deduktivem Element auf.

Abbildung 4: Faktur der L’affaire Lerouge

Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der dargestellten Faktur.57

3.2.1.1 Mord und Enquête Auslöser der Ermittlungen ist der Mord an Mme Lerouge, die in ihrem Haus in Bougival erstochen aufgefunden wird. Gleich zu Beginn der Ermittlung wird der Wetterwechsel am Fastnachtsdienstag thematisiert und von Commissaire Gévrol in den Fokus gerückt: […] n’est-ce pas mardi que le temps a changé? Il gelait depuis une quinzaine et nous avons eu de l’eau. A quelle heure la pluie a-t-elle commencé ici? A neuf heures et demie, répondit le brigadier. Je sortais de souper et j’allais faire ma

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tournée dans les bals, quand j’ai été pris par une averse vis-à-vis de la rue des Pêcheurs. En moins de dix minutes, il y avait un demi-pouce d’eau sur la chaussée.58 Im Gegensatz zum Brigadier, der sich des Wetters vornehmlich wegen der sensationellen Niederschlagsmenge erinnert, objektiviert Gévrol den Niederschlag und erkennt die Relevanz des Wetterwechsels für die Ermittlung. Gévrol verwandelt einen scheinbar nebensächlichen Aspekt zu einem wertvollen Indiz. Der Regen schafft eine ermittlungsrelevante Voraussetzung zum Lesen der Spuren am Tatort, denn durch ihn richtet sich die Aufmerksamkeit auf einen spezifischen Sachverhalt: die Abwesenheit von Gartenerde an den Schuhen des Täters: »›Très bien!‹ dit Gévrol. Donc si l’homme est venu après neuf heures et demie, il devait avoir ses souliers pleins de boue… sinon, c’est qu’il est arrivé avant.«59 Da es keine Spuren auf dem Teppich im Haus Mme Lerouges gibt, die wegen des aufgeweichten Gartenbodens vor dem Haus entstanden wären, kann Gévrol die Tatzeit eingrenzen: Diese meteorologisch dependente Konklusion am Anfang des Romans wird zu einem Kardinalpunkt der Ermittlung. Commissaire Gévrol hat einen guten Ausgangspunkt, doch liegt der Fokus der Erzählung auf der Ermittlung durch den von Gévrols Assistenten Lecoq hinzugerufenen Privatermittler Tabaret, der Gévrol aussticht, indem er auf Basis der Wetterbedingungen an jenem Abend weitere Schlüsse auf den Täter zieht: »C’est un homme encore jeune, d’une taille un peu au-dessus de la moyenne, élégamment vêtu. Il portait, ce soir-là, un chapeau à haute forme, il avait un parapluie et fumait un trabucos avec un porte-cigares…«60 Es ist diese Analyseszene im Haus Lerouge, mit der – prononciert mit dem Wetter – Krimigeschichte geschrieben wird: […] ce qu’il y a […] d’unique dans son récit, c’est la méthode du père Tabaret, son étonnante interprétation des moindres traces laissées par le criminel. Nulle part ailleurs, on n’avait assisté à une telle scène, à la révélation de ce que peut être le génie d’un détective, à travers lequel apparaît le génie de l’auteur. Ici, vraiment, commence la grande aventure du roman policier […].61 Der Wetterumbruch ist ein unverzichtbares Element der Ermittlung: Zum einen hätten sich auf dem zuvor gefrorenen Boden keine Spuren befunden, d.h. der Wetterumsturz kam zum besten Zeitpunkt. Zum anderen scheint der Niederschlag zwar in großer Menge gefallen zu sein, erstaunlicherweise aber nur so viel, um den Boden aufzuweichen und Spuren zu fixieren; aber nicht zu viel, so dass sich die Spuren auf dem dann matschigen Boden wieder aufgelöst hätten. Von den acht Erkenntnissen zum Täter kann Tabaret fünf aufgrund der Spuren im Garten ziehen. Diese können als besonders substanziell betrachtet werden, weil sie ein erstes Täterprofil ermöglichen. Durch die Recherche zu Lebensumständen und zu weiteren Informationen zu Mme Lerouge bei den Dorfbewohnern wird dieses Profil gefestigt und weist auf eine gutsituierte Person.

3.2.1.2 Entwicklung einer Hypothese auf Basis der Spuren: Falscher Verdächtiger Zurück in Paris erkennt Tabaret als ein mögliches Motiv der Tat, dass Mme Lerouge von einem unehelichen Kind gewusst und dieses Wissen zur Erpressung genutzt hat. Auf-

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grund der freundschaftlichen Beziehung Tabarets zu seiner Mieterin Mme Gerdy und ihrem Sohn Noël werden seine Überlegungen bestätigt: In einem Gespräch mit Noël erfährt Tabaret von der Vergangenheit Mme Gerdys, speziell von ihrer unehelichen Beziehung zum Comte de Commerin. Durch einige Briefe, die Noël bei seiner Mutter gefunden hat, erfuhr dieser nicht nur von der unehelichen Beziehung, sondern bringt Tabaret gegenüber Mme Lerouge ins Spiel. Sie sei als Amme für die Familie De Commerin tätig gewesen und habe dem Grafen bei der Vertauschung seiner beiden Söhne – ein ehelicher und damit rechtmäßiger Erbe und ein illegitimer – geholfen.62 Durch dieses zufällige Gespräch wird nicht nur die Vermutung Tabarets hinsichtlich des Kindes bestätigt, es wird auch das scheinbare Opfer der Kindsvertauschung erkannt und auf den wahrscheinlichen Mörder von Mme Lerouge hingewiesen: Der von Tabaret verehrte Noël Gerdy ist einer der vertauschten Söhne des Comte de Commerin. Als dies aufgedeckt ist, engt sich der Täterkreis für Tabaret auf den als Vicomte aufgewachsenen Sohn Albert ein. Denn Noël Gerdy berichtet Tabaret, er habe bereits mit seinem Halbbruder Albert gesprochen und diesem gegenüber angekündigt, seine Rechte als legitimer Sohn, scil. Titel und Vermögen, einfordern zu wollen. Wollte Albert de Commerin mit dem Mord an Mme Lerouge die Zeugin der Kindsvertauschung beseitigen? I. Überführung durch Regenspuren: Tabaret veranlasst den Untersuchungsrichter Daburon, eine Hausdurchsuchung bei Albert de Commerin vorzunehmen. Hier finden die Beamten folgende Indizien: »[…] un pantalon de drap noir encore humide, portant des traces de boue ou plutôt de terre. […] Deux paires de bottines, dont une, bien que nettoyée et vernie, encore humide. Un parapluie récemment mouillé, dont le bout est taché de boue blanche.«63 Diese wetterbedingten Spuren an Kleidung und Schirm lassen den bereits verdächtigen Albert eindeutig als Täter erscheinen. Gerade hiermit aber trägt das Wetter zur Verrätselung der Ermittlung bei, denn die scheinbar sicheren Hinweise und Indizien sind eine falsche Fährte. Eine falsche Fährte zeigt auf, dass »auch die offenkundigsten Beweisgründe manchmal das Richtige nicht treffen und daher bei jeder Untersuchung der Grundsatz: Mißtraue dem Indizienbeweis! zu gelten hat«64 . Das Besondere ist, dass sich das Motiv der falschen Fährte erstmals in Gaboriaus L’affaire Lerouge findet und von hier in den Detektivroman gelangt.65 Interessanterweise handelt es sich bei der ersten falschen Fährte um eine wettergeleitete. An ihr manifestiert sich die Problematik der Spur an sich. Das Problem gründet in ihrer medialen Funktionslogik, mit der, wie Kessler ausführt, ›spezifischen Besonderheit‹ der Spur: »Es gibt keine Gewissheit darüber, was Zeichen ist und was nicht und schon gar nicht, wie diese Zeichen dann, einmal als Zeichen identifiziert, gelesen werden müssen, geschweige denn, was sie bedeuten.«66 Die Identifizierung des Zeichens (Schuhabdrücke etc.) für sich ist hier obsolet, bedeutsam ist der unklare Verweis, die plurale, in diesem Fall doppelte, Verweisfunktion. II. Entlastung durch Regenspuren: Albert de Commerin wird vom Untersuchungsrichter Daburon verhört. Der Eindruck seiner Schuldigkeit als Mörder verstärkt sich, weil Albert zwar andeutet, ein Alibi für den Tatzeitpunkt zu haben, sich jedoch vehement weigert, genauere

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Angaben zu machen und jemanden zu benennen, der sein Alibi bestätigt. Deshalb droht ihm die Hinrichtung auf dem Schafott.67 Der Tod schwebt über Albert de Commerin, als Claire d’Arlange, seine Verlobte, Richter Daburon aufsucht. Mlle d’Arlange gibt an, ihr Verlobter sei mit ihr zum fraglichen Zeitpunkt bei einem heimlichen Rendezvous im Garten ihrer Tante gewesen.68 Richter Daburon lässt sich auf den Gedanken ein, erinnert sich an den Regen in der Mordnacht und so verwandelt auch er den Regen zu einem deutbaren Zeichen, zu einer Spur. Vor diesem Hintergrund stellt Daburon die Hypothese auf, dass es Spuren an der Mauer geben muss, die Albert beim Darüberklettern hinterlassen hat, wenn es sich so zugetragen hat, wie Mlle d’Arlange behauptet: Mademoiselle, demande-t-il, la pluie avait-elle commencé lorsque monsieur Albert a franchi le mur? Pas encore monsieur. Les premières gouttes sont tombées lorsque nous étions sur le banc, je me le rappelle fort bien, parce qu’il a ouvert son parapluie […]. Par la seconde, il chargeait un agent de la sûreté de se transporter immédiatement au faubourg Saint-Germain […] pour examiner le mur du fond du jardin […]. Il expliquait que le mur avait été franchi deux fois, avant et pendant la pluie. En conséquence, les empreintes de l’aller et du retour devaient être différentes.69 Die bei der Überprüfung durch die Polizei gefundenen und wetterbedingt unterschiedlich ausfallenden Kratzer, die Albert de Commerin mit den Schuhspitzen an der Mauer hinterlassen hat, bestätigen das Alibi und retten sein Leben.70 Erneut ist das Wetter elementar für die Spurenlage, diesmal der Beweis für Albert de Commerins Unschuld, da das Alibi vom Regen in der Mordnacht abhängig ist. Das Wetter wird dergestalt unter anderen Vorzeichen nicht nur zum Indiz, sondern zum Beweis. Diese besondere Funktion, die der Regen hier einnimmt, erklärt übrigens auch, warum es den Roman über nicht regnet – ja, gar nicht regnen darf. Ein weiterer Regen hätte die Spuren an der Mauer (wahrscheinlich) vernichtet.

3.2.1.3 Bleibt die Frage: Wer ist der wahre Täter? Im Zuge seiner Ermittlung findet Commissaire Gévrol den in Wahrheit noch lebenden Mann der nunmehr vermeintlichen Witwe Lerouge. Bereits in L’affaire Lerouge erscheint der Polizist Gévrol bei genauer Betrachtung in einem positiven Licht, weil er als fähiger Ermittler den Fall lösen kann. Gévrol erkennt die Bedeutung des Wettersturzes und findet durch seine Methode M. Lerouge.71 Denn M. Lerouge widerspricht der Behauptung Noël Gerdys, der legitime Sohn des Grafen zu sein; es habe gar keine Kindsvertauschung gegeben. Diese habe M. Lerouge damals verhindert. Erst als Gévrol dies gegenüber Tabaret resümiert, drängt sich Tabaret der Verdacht auf: Gerdy muss der Mörder von Mme Lerouge sein. Zur Überführung des Täters tragen zwei weitere Punkte bei: Erstens schildert Juliette Chaffour, ihr Liebhaber sei am Tatabend verschwunden. Außerdem wird der Verlust von Gerdys Regenschirm bemerkt. Zweitens werden erneut die am Tatort entdeckten wetterbedingten Spuren relevant und vor dem Hintergrund der Aussage Chaffours neu bewertet: Der Paletot und der Re-

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genschirm, dessen Rosette Spuren im Garten der Mme Lerouge hinterließ, wurden von Gerdy bei der Rückkehr nach Paris im Zug vergessen. Von Juliette Chaffour auf die abhanden gekommenen Objekte aufmerksam gemacht, begibt sich Tabaret zum Fundamt und findet dort Gerdys Paletot und Regenschirm. Für Tabaret fungieren sie als letzte Beweise gegen den Täter. Am Ende sind es folglich das fehlende Alibi zum Zeitpunkt des Regens sowie die wetterbedingten Spuren an Regenmantel und Schirm, die gegen Noël Gerdy sprechen und durch die er als wahrer Täter überführt wird. Erst als es zum Wetterumsturz kommt und es zu regnen beginnt, schreitet Gerdy zur Tat und wird zum Mörder. Es ist der Regen, über den sowohl der falsche als auch der wahre Mörder identifiziert werden, indem das Niederschlagsereignis zum deduktiven Element wird. Auch zeichnet sich an der Figur Gerdys und dem vergessenen Regenschirm, der im Verlauf des Falles nicht zuletzt zum meteorologisch-symbolischen Indiz für den Mord resp. für Schuld und Unschuld wird, eine subtile Art von Humor ab, wenn sie im Zusammenhang mit dem Tatmotiv erscheinen: »Noël acceptait l’éloquence de son banquier-providence à peu près comme un homme qui n’a pas de parapluie accepte une averse.«72 Die Welt der »einfachen Gegenstände oder ›normalen‹ Zeichen«, wie mit Kessler ausgeführt werden kann, wandelt sich »in eine Welt aus Spuren«73 , in deren Zentrum hier ein normalerweise scheinbar nebensächliches Wetterphänomen steht. Durch den detektivischen Blick transformiert sich die Bedeutung des Wetters, es erhält den gleichen Status wie Alewyns Whiskyglas: Das Whiskyglas [.], das auf dem Tisch gegenüber dem Platz des Ermordeten am Morgen nach der Tat gefunden wird und auf einen letzten Besucher schließen läßt, ist nicht mehr das gleiche, wie die anderen Whiskygläser im Schrank und nicht mehr das gleiche, das es vorher gewesen war. Es hat seine Unschuld verloren.74 Wenn das Wetter nicht mehr das ist, was es scheint, sondern potenzielles Zeichen, dann wird dieses Teil eines »fragwürdige[n] Zustand[es] der Realität« und erhält »existenzielle Bedeutung«75 . Ab hier fungiert das Wetter deutlich nicht mehr als Dekorelement, sondern ist von nun an funktional für den Kriminalroman.

3.2.2 Die Spuren im Schnee – Der Fall von Monsieur Lecoq Ein herausragendes Signum der Fälle Tabarets und Lecoqs ist die Analyse und Interpretation der Spurenlage an Tatorten, woran sich jeweils ihre besondere detektivischen Kompetenz zeigt.76 Interessant sind L’affaire Lerouge und Monsieur Lecoq zum einen aufgrund der Wetterimplikation für die Deduktion, zum anderen wegen ihrer chronologischen Reihung. So scheint Lecoq prima facie während der affaire Lerouge bei Tabaret einiges über die Bedeutung des Wetters im Nexus der Kriminaltechnik gelernt zu haben, aber Monsieur Lecoq ist der erste Fall, den Gaboriau konzipiert. Das Spurenlesen wird hier konzeptualisiert und zwar im Cluster der notwendigen meteorologischen Bedingungen. Das Besondere an Monsieur Lecoq sind die fast vollständige Rekonstruktion der Ereignisse um die Tat über das Wetter, der Ort des Handlungsbeginns für die Deduktion sowie die

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Bedeutung des Lecoq’schen Ergebnisses für das Genre. Folgende Punkte werden daher beleuchtet: • • • •

Das terrain vague und das schauerliche Wetter Rationalisierung: Der Schnee als Einschreibefläche Der Wetterumschwung zur Illustration des Ermittlergenius Die Karte des Schnees

3.2.2.1 Das terrain vague und das schauerliche Wetter Es ist der 20. Februar, 23 Uhr. Einige Agenten der Sûreté begeben sich zu einem terrain vague,77 der »parages déserts«, mit einigen »décombres des maisons abandonnées«. Dieses Areal ist suggestiv durch seine »fâcheuse réputation«78 gestimmt. Es werde besonders zu dieser Nachtzeit durch bestimmte Subjekte okkupiert, denn, so heißt es, »encore nombreux, devenaient, passée minuit, le domaine de cette tourbe de misérables sans aveu et sans asile«, und »vagabonds et les repris de justice s’y donnaient rendez-vous«.79 Mit dieser negativen Darstellung des Ortes knüpft die Exposition an eine historischfaktuale Assoziation an, da, wie Kalifa ausführt, im Zuge der Haussmann’schen Maßnahmen Armut, Kriminalität und Heimstätten der Verbrecher aus der Cité verbannt werden sollten. Gaboriau reagiert mit dieser Darstellung auf die Dezentralisation der Kriminalität, indem er die Gefahr in die Peripherie verlegt.80 Der Ort erscheint nicht nur in die Périphérie verschoben, sondern aus der Stadt herausgelöst: »On se serait cru à mille lieues de Paris, sans ce bruit profond et continu qui monte de la grande ville comme le mugissement d’un torrent au fond d’un gouffre.«81 Die Übertragung der nächtlichen Stadtgeräusche in Elemente der Natur bzw. des Landes trägt zur Distanzierung bei. Mit der Einführung der nächtlichen Dunkelheit, von Schnee und Nebel, komplettiert sich der atmosphärische Eindruck durch die sensuelle Implikation und die suggestive Verweisfunktion der meteorologischen Motive: […] le temps était aussi mauvais que possible. Il avait abondamment neigé les jours précédents […]. Il faisait encore froid […], un froid humide à transir jusqu’à la moelle des os. Avec cela le brouillard était si intense que, le bras étendu, on ne distinguait pas sa main.82 Die sensuelle Gestaltung ist auffallend, weil es sich um eine der wenigen ausgesuchten Stellen der Romanreihe handelt, an denen die physische Perzeption einbezogen wird. Gerade sie evoziert, neben der kältebedingten Impression, eine doppelte visuelle Privation (Nebel, Dunkelheit). Dies fokussiert und intensiviert den Effekt der auditiven Stimuli, sodass beide ein sensuelles ›Rauschen‹, aber keine konkrete Information bergen. Kälte und Nebel weisen ferner in die gleiche Richtung und forcieren die durch die Konnotation des Ortes aufgebauten Befürchtungen ob der nächtlichen Mission der Polizisten. In einer affirmativen Lesart des Romananfangs, die diesen als Anlehnung an den Schauerroman betrachtet, wirkt der Nebel wie ein Klischee, das eine entsprechende atmosphärische Einbettung der Geschichte sicherstellt. Doch das terrain vague ist bereits deutlich kriminell konnotiert und durch das Wetter transformiert sich der Ort auch expressis verbis in ein gefährliches No Man’s Land: »La ronde venait de s’engager dans un chemin à

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peine tracé, n’ayant pas même de nom […] et que le brouillard, la boue et la neige rendaient périlleux.«83 Im Zusammenspiel erzeugen Wetter und terrain vague ein unheilvolles Omen: »plus de lumière […] ni pas, ni voix, rien que la solitude, les ténèbres, le silence«84 . Die visuelle Privation, scil. die dunkle Stille, strebt auf den schnellen Kulminationspunkt zu: »un cri déchirant traversa l’espace […] ce cri était si affreusement significatif, que […] tous les hommes s’arrêtèrent«85 . Der Schrei, Schüsse und Kampfgeräusche dringen aus dem Wirtshaus Poivrière durch den Nebel.86 Die Basiserzählung in Monsieur Lecoq setzt damit vor dem Mord an. Der als kriminell konnotierte Ort des terrain vague wird mittels der textuellen wie der extratextuellen Konnotation als kriminelles und gefährliches Areal markiert. Durch die meteorologischen Motive, die Assoziationen zum Schauerroman bergen, entsteht eine (latent) unheimliche Atmosphäre und eine gewisse Reziprozität. Die Kriminalität des Ortes bzw. das durch das Wetter als gefährlich erscheinende Areal kann durch die visuell restringierte Polizeimannschaft nicht beherrscht werden; es kommt zu einem Mord, der nur durch die Zeichen (Schrei), Verweise (Lichtmetapher rot) und Reaktionen (»Horrible!«) lanciert wird. Die Konzeption mit dem historisch-faktual konnotierten terrain vague und dem Einsatz des Wetters erinnert an die Eingangsszene der Mystères de Paris (siehe Kapitel 2). Es besteht allerdings der signifikante Unterschied nicht nur der Polizeipräsenz, sondern des sich unmittelbar realisierenden Verbrechens, das Ausgangspunkt der weiteren Handlung (Basiserzählung) wird. Mit Blick auf die Entwicklung des Kriminalromans ist mit Schulze-Witzenrath darauf hinzuweisen, dass Gaboriau die sogenannte klassische Form der Eröffnungsszene des Detektivromans prägt.87 Auch hier wird das Wetter über den kriminell markierten Ort sowie den Mord vom Schauerroman gelöst und in den Kontext des Kriminalromans gesetzt, womit es sodann in Anknüpfung zu Schulze-Witzenrath als Teil der Gestaltung der Eröffnungsszene fungiert.

3.2.2.2 Rationalisierung: Der Schnee als Einschreibefläche Das ›Horrible‹-Moment bricht mit dem Betreten des Poivrière durch die Polizei ab.88 Für den Polizisten Gévrol erscheinen Tat und Tathergang eindeutig, sogar der Mörder, der sich Mai nennt, konnte den Tatort noch nicht verlassen und wird direkt verhaftet. Aufgrund der Offensichtlichkeit verzichtet Gévrol auf eine genaue Untersuchung des Tatorts. Einzig der junge Polizist Lecoq ahnt, dass hinter dem scheinbar Offensichtlichen mehr steht. Der Nebel der Eingangsszene ist insofern nicht nur Naturphänomen, sondern birgt in seiner metaphorisierten Form ein Geheimnis, ein Rätsel, das gelöst werden muss und erweist sich parallel als Teil der Deduktion; die Quantität ist in diesem Fall für den kriminalistischen Moment und die Irreführung funktionalisiert. Mit dem Auftritt und der Übertragung der Tatortuntersuchung an Lecoq vollziehen sich drei Dinge: Im Sinne des Kriminalromans wird der scheinbar gelöste Fall wieder zu einem Rätsel. Unter diesem Bezugsrahmen wandelt sich durch Lecoqs Blick der Ort: Das Areal des terrain vague als topografischer wie topologischer Bereich um das Poivrière herum erweist sich von diesem Moment an als für den meteorologischen Komplex funktionalisiert. Es dient dazu, eine topologische Einschreibfläche zu ermöglichen. Dies geschieht im Zuge der Verschiebung des Fokus vom als schauerlich konnotierten Privationselement Nebel zum Schnee, der, durch die Figur Lecoqs in einen analytischen Kontext gestellt, zum Signum des Sichtbaren wird. Durch die veränderte Fokussierung unter-

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schiedlicher Facetten derselben Wetterlage differenzieren sich die divergenten Funktionen des Wetters und werden explizit. Lecoq rationalisiert den Schnee und versteht ihn zu interpretieren89 : »Il allait, venait, tournait, s’écartait, revenait encore […]; tantôt debout, le plus souvent à genoux, quelquefois à plat ventre, le visage si près de terre que son haleine devait faire fondre la neige.«90 Die Spuren im Schnee sind für Lecoq Zeichen, gar Schrift und Wort, die es zu lesen gilt: Maintenant je sais tout… Ce terrain vague, couvert de neige, est comme une immense page blanche où les gens que nous recherchons ont écrit non seulement leurs mouvements et leurs démarches, mais encore leurs secrètes pensées, les espérances et les angoisses qui les agitaient. Que vous disent-elles ces empreintes fugitives? Rien. Pour moi, elles vivent comme ceux qui les ont laissées, elles palpitent, elles parlent, elles accusent!91

Abbildung 5: Titelbild zu Monsieur Lecoq (1948)

Die detektivische Lesbarkeit gründet sich auf der Tradition von Schnee (Eis und die Weiße per se) als Motiv und Metapher der Medialität.92 Der Schnee prägt bzw. schreibt die Topografie des Ortes selbst und tritt hier mit dem »Textraum in ein […] analog[es] Verhältnis zueinander, denn der Schnee […] schreibt sowohl die Topographie der Land-

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schaft als auch die des Textes […]«93 . Lecoq dekontextualisiert den Schnee als Wetterphänomen und rekontextualisiert ihn als rationale Abstraktion; die Oberfläche des Schnees metaphorisiert sich zu einem »poeto- und podo-logischen Einschreibsystem«94 . In den Augen des Ermittlers Lecoq ist die Schneedecke keine simple hibernale Wetterlage. Aber, und dies sei betont, der Schnee auf dem terrain vague ist das einzige Wetterphänomen, das in dieser Weise als Spurenträger fungieren kann und eine solch detaillierte Interpretation erlaubt, wie sie Lecoq vornimmt. Der Schnee wird zum weißen Blatt, auf dem die Spuren der Personen sich wie eine einzigartige Handschrift eingeschrieben haben, einen Teil der Geschichte erzählen und auf die Wahrheit deuten: Lecoq nimmt die Spuren nicht nur als Schrift wahr, sondern sie werden gradatim zum personifizierten Verweis, zum lebendigen Wort, zur Anklage. Wirksam wird über den Schnee eine chronologische Verbindung zwischen den zwei Geschichten, d.h. der Geschichte der Umstände des Verbrechens und der der Ermittlung.95 Hier kommt eine Funktion der Spur zum Tragen, wie sie Kessler fasst: »Die Geschichte selbst ist als bereits vergangene nirgends tatsächlich nachzulesen. Was ›lesbar‹ ist, sind allein Reste dieser Geschichte, Spuren also, die eine Rekonstruktion der Ereignisse erlauben.«96 Lecoq gelangt mittels des Schnees zu Hinweisen auf die verdeckte Geschichte um die Tat, ihrer Chronologie, die sich über die Höhe des gefallenen Schnees, der sich über bereits eingeschriebene Spuren legt, offenbart und – durch Verwischungen und Abdrücke – Physis, Psyche, Ortskenntnisse und gesellschaftlichen Stand der Handelnden dokumentiert: Quand ces deux malheureuses sortent épouvantées de chez la Chupin, la femme aux petits pieds s’élance d’un bon dans le jardin, elle court en avant, elle entraîne l’autre, elle la distance. L’horreur de la situation, l’infamie du lieu, l’effroi du scandale, l’idée d’une situation à sauver lui communiquent une merveilleuse énergie. Mais son effort, ainsi qu’il arrive toujours aux femmes délicates et nerveuses, ne dure que quelques secondes. Elle n’est pas à la moitié du chemin qu’il y a d’ici à la Poivrière que son élan se ralentit, ses jambes fléchissent. Dix pas plus loin, elle chancelle et trébuche. Quelques pas encore, elle s’affaisse si bien que ses jupes appuient sur la neige et y tracent un léger cercle.97 Durch Lecoqs Umgang mit den Spuren wird die ›klassische‹ Transzendierung von Emotionen auf eine meteorologische Ebene in neuer Form moduliert und in pluraler Weise zum detektivischen Moment der Aufklärung. Für die detektivische Instanz Lecoq ist der Schnee nicht nur Rekonstruktionsmoment und Basis seiner Theorie der Ereignisse, sondern parallel ein Reflexionselement, vermittels dessen die zuvor (im Poivrière) aufgestellte Theorie neu bespiegelt und falsifiziert wird. Lecoq spürt in der Folge keiner falschen Fährte nach, sodass, mit der Ergänzung durch Spuren, die am Tatort im Poivrière entdeckt werden, am Ende eine Aufdeckung der Ereignisse möglich sein wird.98

3.2.2.3 Der Wetterumschwung zur Illustration des Ermittlergenius Die meteorologische Kompetenz Lecoqs zeigt sich nicht nur daran, dass er als einziger die Bedeutung des Schnees erkennt, er nimmt auch den bevorstehenden Wetterum-

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schwung wahr. Der drohende Regen löst bei Lecoq fast Panik aus: Der Regen könnte die Spuren vernichten. Lecoq sieht in diesem Fall eine Möglichkeit, sich zu profilieren und als Ermittler zu etablieren, sodass Aufklärung und hiermit verbunden die eigene Karriere, verwoben und damit beide vom aufkommenden Südwind und dessen Regenwolken abhängig sind. Die drängende Frage ist: Wie können die Spuren gerettet werden? Durch die Figur des Père Absinth wird zunächst die sich entwickelnde Kriminologie einbezogen und an die Affaire de la Maison-Blanche erinnert, bei der es einem Chemiker gelang, Spuren im Schnee zu sichern. Freilich zeigt sich Lecoq vertraut mit der »Methode Hugolin«, doch ist diese nicht anwendbar, da die Möglichkeit, mit Gelatine Abdrücke zu sichern, ad hoc nicht gegeben ist. Die Zeit drängt. Der Regen naht. Doch Lecoq gelingt es innerhalb kürzester Zeit, eine Methode zu ersinnen, die es ermöglicht, die Spuren vor dem einsetzenden Regen zu sichern. Über das Wetter werden dergestalt das Genie und der Einfallsreichtum Lecoqs in Szene gesetzt.99

3.2.2.4 Die Karte des Schnees Nach der Sicherung der Spuren fertigt Lecoq für den (beeindruckten) Untersuchungsrichter eine Karte an, die die Spurenlage um das Poivrière zeigt und seine Thesen zum Tathergang untermauert. An der Karte verdeutlicht sich die Uniformierung und Funktionalisierung des terrain vague für die Funktion des Schnees. Er wird zum visuellen Feld, indem die Spuren im Schnee und der Schnee selbst zur Spur werden, durch die der dreiund vierdimensionale Raum lesbar wird. Die Karte wird zum Abbild des Schnees und seiner emblematischen Signa einer logischen Geschichte und Chronologie, die gedeutet werden muss – aber nicht vollständig aufgelöst werden kann. Bezüglich der Karte ist in der verwendeten Ausgabe von Monsieur Lecoq ein mit Blick auf das Wetter nicht ohne Humor zu betrachtendes Erratum festzustellen: die Karte fehlt, abgebildet ist nur eine weiße Fläche. Dieser Druckfehler eröffnet eine ganz andere (Deutungs-)Perspektive des Wetters: Bedingt durch die weiße Fläche kommt es an dieser Stelle zu einem vollständigen Whiteout.100 Der Schnee beherrscht den Ort und tilgt letztlich die Landschaft. Das terrain vague verschwindet unter dem Schnee:

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Abbildung 6: Die Karte Lecoqs mit Erratum

Als Phänomen in literarischen Texten verändert das Whiteout durch die verstellte Sicht die Perspektive auf den Text und erweitert die Möglichkeit der Lektüre, die ein störungsfreier Text offeriert. Das textuelle Whiteout ist sowohl eine Störung, die den Leser an die Grenzen des Sichtbaren und Lesbaren führt, als auch ein ästhetischer Effekt, der während des Störens etwas Neues immanent werden lässt.101 Hier erzeugt das Erratum ein Whiteout und schafft eine Wahrnehmungsstörung, die auf der textuellen Ebene zur Irritation der impliziten Lesenden führt, die mit einem Signum konfrontiert werden, dem als ›Gestöber im Text‹ eine veränderte Bedeutung zukommt, wenn die spätere Undurchdringlichkeit, als Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sichtbarkeit und Lesbarkeit der Zeichen, des Detektivs präfigurierend gedoppelt und in ihrer Unsichtbarkeit sichtbar wird. Insofern verweist das Weiße des Schnees bereits auf den weißen Nebel des Anfangs und die für den Ermittler relevanten Momente.102 Der Effekt des Whiteout deutet auf die doppelte Störung: die der Ordnung (Mord) und die der Deduktion. Der Schnee, die weiße Karte, wird zum Verweis auf die nicht mehr transzendierbaren Narrative und präfiguriert doch gleichzeitig die Unmöglichkeit der Entzifferung. Das Whiteout transzendiert ferner die nie vollständig auflösbare Leerstelle der »erste[n] Geschichte (das Verbrechen) […] – als verborgene – nicht gegenwärtig[e]«103 . Lecoq kann über die Einschreibungen der Schuhabdrücke den Weg der drei Personen nachlesen, sodass eine Verfolgung trotz des Privationselements Nebel durch den Schnee möglich ist. Doch an der Grenze des terrain vague, an einer Straße der Stadt, endet die Einschreibfläche des Schnees. Es gibt nur noch Spuren im Matsch, die Lecoq zwar über einen Kutscher zu einem Haus, jedoch nicht an ein Ziel führen. Obwohl Lecoq vieles mittels der Schneespuren rekonstruieren kann und er die richtigen Schlüsse zieht, gelingt es ihm bis zum Ende nicht, den Fall zu lösen. Die Schneededuktion ist ein Puzzleteil, führt aber nicht direkt zur Täterfigur. Markant ist die nach diesem raschen Erkenntniszugewinn nur zäh voranschreitende Ermittlung: Lecoq benötigt etwa sechs Monate, um die wahre Identität des am Tatort verhafteten Mai aufzudecken. Gerade hiermit verdeutlicht sich mit Kalifa die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, die dieser als Konstituente

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des Kriminalromans analysiert.104 Letztlich macht dies jedoch mit Blick auf die zeitgenössische Perspektive nicht nur eine intratextuelle, sondern gleichzeitig eine extratextuelle Diskrepanz sichtbar. Die Karte an sich, so sei mit Blick auf die Gattungsentwicklung angemerkt, stellt eine signifikante Neuerung dar. Durch diese Einfügung des nun zweidimensional konzipierten Raums und der Spuren in den Text etabliert Gaboriau die Erstellung und Einfügung von Kartenmaterial in den Kriminalroman.105 Was jedoch auf der Karte Lecoqs zu sehen ist, sind die Spuren im Schnee, die zwar vom terrain vague als unberührte Grundlage in ihrer Sichtbarkeit gefördert werden – ein ruhiger Hinterhof, ein Park, ein Garten hätte diesen Zweck, abgesehen von der zeitgenössischen Konnotation, auch erfüllt –, jedoch ohne die entsprechende Wetterlage nicht vorhanden wären.

Abbildung 7: Die korrekte Karte Lecoqs im Roman Monsieur Lecoq

3.2.3 Die verräterischen Tropfen – Morde in Orcival Über die Romane hinweg tritt das Wetter als Element der Deduktion am Tatort zurück. In Le crime d’Orcival ist das kriminaltechnische Moment des Wetters weniger ausgeprägt als noch in L’affaire Lerouge oder Monsieur Lecoq, es bildet indes ebenso einen signifikanten Anhaltspunkt. Exzeptionell an den Morden in Orcival ist die doppelte Faktur, da sowohl in der Basiserzählung als auch in der Analepse die meteorologische Spur und die Fähigkeit ihrer Interpretation zum punctum saliens wird. Die ersten indirekten meteorologischen Hinweise finden sich gleich zu Beginn: Es ist Juli, Sommer, und gegen drei Uhr morgens erhebt sich der Tag über dem Fluss.106 Eine friedliche Morgenstimmung wird angebahnt, zwei Fischer entdecken die Leiche der Comtesse de Trémorel. Das scheinbar nebensächliche Naturphänomen (Sonnenaufgang) erweist sich (mit drei weiteren Momenten) als entscheidend für die Faktur und die Deduktion. Erst auf Seite 111 rückt das Wetter dann durch Lecoq in den Fokus und es bestätigt sich, was zuvor durch den Hinweis auf den Monat Juli impliziert war: scil. dass an diesem Tag die Sonne schien. Denn während die Herren vermuten, die Tat habe sich

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nicht im Haus, sondern im Garten ereignet, macht Lecoq das Wetter als unbeabsichtigte Spur, als Indiz, fruchtbar: Non, disait-il, non monsieur le juge de paix, madame de Trémorel n’a pas fui. Frappée ici, elle serait tombée avec une certaine violence; son poids, par conséquent, eût jaillir de l’eau assez loin […]. Mais, ne pensez-vous pas que depuis ce matin, le soleil… Le soleil, monsieur, aurait absorbé l’eau, mais la tâche de boue sèche serait restée, or, j’ai beau regardé, un à un pour ainsi dire, tous les cailloux de l’allée, je n’ai rien trouvé. […] sur toutes ces plantes vous trouvez une couche de poussière, très légère […]. Apercevez-vous la trace d’une seule goutte d’eau? Non. C’est qu’il n’y a point eu jaillissement, par conséquent pas de chute violente, c’est donc que la comtesse n’a pas été tuée ici […].107 Interessanterweise ist es die Absenz der Spur, nicht ihr Vorhandensein, die durch das Wetter induziert und zu einem Indiz erhoben wird. Diese Feststellung markiert den substanziellen Ausgangspunkt der Rekonstruktion des Tathergangs. Dank der Wetterlage ist es möglich, den Fundort der Leiche als Tatort auszuschließen und etwa die Spuren im Sand108 anders zu interpretieren – das Wetter ist mithin notwendige Bedingung der deduktiven Gestaltung: ein Regenschauer hätte die Spurenlage verändert oder zerstört. Von diesem Punkt aus können einige Spuren als richtige bzw. als falsche Fährte eingeordnet werden: Lecoq erkennt, dass der vermeintliche Mord an Trémorel nie stattgefunden hat. Bereits am selben Abend legt Lecoq dem Richter dar,109 wie Hector Comte de Trémorel seine Frau getötet und die falschen Spuren positioniert hat, um seine Suche nach wichtigen Dokumenten zu kaschieren. Diese Dokumente, der Bericht des Ermordeten Clément Sauvresy, des ersten Gatten der Comtesse de Trémorel, lagen jedoch bei Père Plantat, sodass Hector Comte de Trémorel sie nicht finden konnte. Bei Tagesanbruch entschließt sich Plantat, das Manuskript Lecoq und dem Arzt vorzutragen: Hiermit beginnt die Analepse. Durch den Sonnenaufgang verbindet sich die Erzählung vom Morgen mit der Erzählung der Deduktion: der anbrechende Tag und die damit einhergehenden Geräusche im Park nach Lecoqs Ermittlung waren für Trémorel das entscheidende Zeichen, dass die Nacht keinen Schutz mehr bietet und er den Ort seines Verbrechens verlassen muss, um nicht entdeckt zu werden. Der Augenblick des Tagesanbruchs verbindet faktural und prozessual das Auffinden der Leiche mit der parallel, aber im Verborgenen stattfindenden Flucht des Täters sowie mit der vollständigen Aufklärung, mit der meteorologisch und metaphorisch Licht ins Dunkel kommt. Neben dem Mord an der Comtesse de Trémorel gelingt es Lecoq durch die zusätzlichen Informationen (Bericht der Analepse), den Giftmord an Sauvresy aufzuklären. Lecoq erhebt die Jahreszeit zum Indikator und damit – im Gegensatz zu den anderen Ermittlern vor Ort – als sachdienlich. Die Saisonalität bildet den Schlüssel, um die Beweisstücke in ihrem Versteck zu finden: »Enfin il revint à la cheminée, devant laquelle plusieurs fois déjà il s’était arrêté. Nous sommes au mois de juillet, disait-il, et cependant voici bien des cendres dans ce foyer.«110

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3.2.3.1 Der erste Mord in Orcival – Die psychologisch-analytische Analepse Die Analepse um den ersten Mord in Orcival erzählt die subtile sozial-psychologische Genese der eigenwilligen Affäre Berthe Sauvresys mit dem Freund ihres Mannes, Hector Comte de Trémorel. Die sich entwickelnde Beziehung ist perfide, weil Hector Comte de Trémorel, als Clément Sauvresy ihn zufällig findet, aus pekuniären Gründen mit dem Gedanken des Suizids spielt und nach seiner Rettung sein finanzielles Auskommen Clément Sauvresy verdankt, der dessen Angelegenheiten regelt und ausgerechnet ihn als Dauergast auf seinen Landsitz Valfeuillu einlädt. Nach und nach entwickelt Berthe die Idee, ihren Geliebten (Hector), der sich nach einiger Zeit von ihr abwenden will, mit Geld und Schuld an sich zu binden, und macht ihn zum Komplizen beim geplanten Mord an ihrem Mann. Doch als Sauvresy von der Affäre erfährt, lässt er sich bewusst ermorden (seine Frau vergiftet ihn langsam), nicht aber, ohne seiner Frau und Hector eines Abends seinen Racheplan offenzulegen, wonach sie nach seinem Tod gezwungen sind zu heiraten; lehnen sie dies ab, wird ein von ihm verfasster und beim Richter hinterlegter Bericht ihre Täterschaft ans Licht bringen. Sauvresy kettet damit Berthe und Hector in einer Hass-Beziehung aneinander, die schließlich im Mord an Berthe, dem Auslöser der Basiserzählung, kulminiert. Die Analepse um die Verbrechen in Orcival sind in Bezug auf drei Dinge bedeutend: I. die doppelte Kriminalgeschichte und das Wetter, II. die meteorologische Relation von Antagonist zu Protagonist, III. die Vorwegnahme von Elementen des roman à suspense.

3.2.3.1.1 Die doppelte Kriminalgeschichte und das Wetter Die Analepse in Orcival ist die einzige, in der eine zweite Kriminalgeschichte aufgebaut wird. In deren Zentrum steht ein Opfer, das seinen eigenen Tod gegen seine Mörder einsetzt. Die Verschmelzung von Selbstmord und Mord ist hier besonders interessant, wenn man an das »psychologische Axiom erinnert, wonach jeder Selbstmord der Ersatz eines richtigen Mordes sei«111 . Während es Lecoq gelingt, aus jeder Wetterlage einen effektiven Nutzen für die Deduktion zu gewinnen, ist gerade in der Analepse von Le crime d’Orcival das Unvermögen der Mörder Hector und Berthe auffallend, meteorologische Spuren als solche zu erkennen, Schlussfolgerungen zu ziehen und so das eigene Schicksal abzuwenden. Dies erweist sich als fatal: Ce n’est qu’arrivé dans sa chambre qu’il [Sauvresy] s’aperçut qu’il était resté dans la neige; même il gardait quelques gros flocons à ses sandales et elles étaient toutes mouillées […]. C’est que depuis que je suis monté, c’est-à-dire depuis moins d’une demi-heure, quelqu’un est allé dans le jardin et est rentré. […] Il y a de la neige, et la personne qui est sortie en a rapporté à ses chaussures. Cette neige, tombée sur les dalles du vestibule, a fondu… […] Si c’était lui? Ce ne peut être, dit enfin Berthe […].

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»Pourvu, pensait-il, qu’ils n’aient pas l’idée de visiter ma robe de chambre et de chercher mes sandales.« Heureusement cette idée si simple ne leur vint pas […].112 Die eklatante Weigerung Berthes, die Spuren als solche zu erkennen, erlaubt es Sauvresy, seinen Plan weiterzuverfolgen. An dieser Stelle verdeutlicht sich die diametrale meteorologische Kompetenz von Ermittler vs. Täterin. Signifikant wird dies, da Hector Comte de Trémorel Lecoqs Fähigkeit, Wetter und Saisonalität zu lesen, zum Verhängnis wird. 3.2.3.1.2 Die meteorologische Relation von Antagonist und Protagonist Psychologisch und sozial sind Clément Sauvresy und Hector Comte de Trémorel ein antithetisches Figurenpaar.113 Allerdings sehen beide den Suizid als die einzige Lösung an.114 Interessant ist hierbei die meteorologische Äquivalenz zwischen der Selbstmordidee des Täters und dem endgültigen Selbstmord des Mordopfers. Antagonist – Hector Comte de Trémorel Trémorel läuft, nachdem er seinen Selbstmordplan gefasst hat, zwei Tage lang mit seiner Pistole ziellos durch die Straßen von Paris und saugt mit dem Wetter immer wieder das Leben in sich auf: »respirait à plein poumons l’air pur et vif, savourant cette béatitude physique […], heureux de se sentir vivre, aux tièdes rayons du soleil. Le temps était splendide […].«115 Unter dieser Verquickung von Physis und Wetterlage zeichnet sich deren Wirkung auf seine psychische Disposition ab und Trémorel schreckt immer wieder vor dem Suizid zurück. Mit dem hereinbrechenden Abend kommt die Kälte, die Trémorel physisch zusetzt: »La nuit était venue, et avec la nuit un brouillard épais et froid se levait. […] [I]l était glacé jusqu’aux os.«116 Der Nichtvollzug bleibt bei Trémorel durch die Verbindung von meteorologischen Elementen und Körperlichkeit bis zum mokanten Kommentar der Figur verbunden: »Si je ne devais mourir cette nuit […], je serais enrhumé demain.«117 Trémorel zieht rastlos umher und sucht nach passenden Orten für seinen Selbstmord, aber es geht nicht, denn: »Comme la veille le temps était superbe.«118 Die meteorologisch geprägte errance ist mithin nichts anderes als die Flucht vor seinem Entschluss. Während Trémorel so noch die »gaité« des Tages mit seiner Misere kontrastiert, findet ihn sein alter Freund Sauvresy, der ihn von dieser »situation affreusement ridicule«119 befreit und ihn bei sich in Orcival aufnimmt. Protagonist – Clément Sauvresy Antithetisch, aber äquivalent zur psychischen Konfusion ist die Wetterlage um Clément Sauvresy und seine Selbsttötungsabsicht konzipiert. An dem Morgen, an dem Sauvresy das Haus verlässt, um zu Jenny Fancy, der Geliebten Trémorels aus Paris, zu gehen, liegt dichter Nebel über seinem Weg: »[…] [L]e temps était froid et humide. Il faisait un brouillard si épais qu’on ne distinguait pas les objets à dix pas devant soi.«120 Die Wetterlage ist in zweifacher Hinsicht charakteristisch für die Fälle Lecoqs: Nebel und Kälte sind keine simple atmosphärische Gestaltung, sondern fungieren zum einen als Präfiguration des figurenbestimmten Handlungsverlaufs, zum anderen markieren die Humiditätsereignisse den Erkenntnisprozess einer ›ermittelnden‹ Instanz (Sauvresy), die zunächst die sich ihr aufdrängenden Informationen nicht auflösen kann. Durch

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Jenny wird Sauvresy bestätigt, was er erahnt hat, scil. die Affäre seines besten Freundes mit seiner angebeteten Gattin Berthe. Analog zu Hector Comte de Trémorel streift Clément Sauvresy nach dieser Bestätigung durch den Landschaftsraum, doch endet diese errance auf einem liegenden Baumstamm mitten im Wald von Mauprévoir:121 »Au brouillard du matin avait succédé une petite pluie fine, pénétrante, glaciale. Mais Sauvresy ne s’en apercevait pas.«122 Spätestens hier wird der Regen auch erzähltechnisch die Basis für die psycho-physische Relation von Clément Sauvresy zu den meteorologischen Phänomenen gelegt. Es ist keine dezidierte Wahrnehmung, doch sukzessive dringt der parallel zur Entwicklung seines Plans stärker werdende Regen in Physis und Psyche und wird mediat Bestandteil des Plans selbst: Ma perfidité […] égalera la leur. […] Berthe était la finesse même et elle était femme, au premier soupçon que son mari se doutait de quelque chose, à fuir avec son amant. Hector, maintenant, ne possédait-il pas, grâce à lui, tout près de quatre cent mille francs? Cette idée qu’il pourrait échapper à sa vengeance lui rendait avec son énergie toute la lucidité de son esprit. Alors seulement il songea au temps écoulé, à la pluie qui tombait à torrents […]. Il était brisé, […] il se sentait glacé jusque dans la moelle des os.123 Des Wetters wird Clément Sauvresy nur als scheinbare Nichtigkeit gewahr. In diesem Sinne entwickelt es sich unauffällig zum narrativ folgenreichen Element: Die beiden antithetischen Figuren absorbieren die ihnen zugedachte Wetterlage unterbewusst – Sauvresy gar bewusst. Der Regen transzendiert und forciert die depressive Verstimmung Clément Sauvresys und wirkt als psychosomatischer Indikator: Sauvresy erkrankt schwer und wird dadurch ein leichteres Opfer für den Mord an sich, wodurch sich sein Plan umso perfider realisiert. Die physisch perzipierte Wetterlage wird zur psychischen, insistenten Macht sowie zur Bestrafung gegenüber Berthe und Hector kanalisiert, womit der unter dem Einfluss von Regen und Eiseskälte entstehende Plan letztlich auch zum Auslöser des Mordes an Berthe wird. Pointiert fungiert der Regen für beide Morde als Impetus. Trémorel und Sauvresy werden durch ihre meteorologische Relation in eine substanzielle Nähe gesetzt. Markant ist hierbei, dass beider psychischer Tiefpunkte mittels einer fast parallelen Formel angelegt ist: »[I]l était glacé jusqu’aux os«124 und »[I]l se sentait glacé jusque dans la moelle des os.«125 Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr auf das Château d’Orcival hat der Regen für Sauvresy positive Konsequenzen; denn seine ungewohnte Haltung an diesem Abend, resultierend aus dem entstandenen Degout, führt zur berechtigten Sorge Berthes, Clément könne etwas von der Affäre ahnen, die Hector mit dem Verweis darauf zurückweist, dass dieser den ganzen Tag im Regen verbracht hat. Meteorologische Implikationen werden so zweimal zu Gunsten Cléments und seines Vorhabens von seinen Opponenten interpretiert. Sauvresy pendelt zwischen Gesundheit und schwerer Erkrankung, die der gerufene Arzt nicht heilen kann, da Sauvresy die wahren Symptome im Sinne seines Plans verheimlicht: Er wird bereits von Berthe vergiftet. Die angelegte Verbindung zwischen Sauvresy und Wetterphänomenen wird, an den Tag im Wald anknüpfend, als Gradation fortgeführt. Als Sauvresy sein Krankenzimmer verlässt, um einen Brief zu beseitigen, den er

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von Jenny erhalten hat und dessen Entdecken seinen Plan durchkreuzen könnte, kann er seine Mörder durch die Gardinen beobachten. Die meteorologischen Elemente greifen nicht nur geschickt die archaische Verbindung von Nacht und Tod auf, sie bilden zudem eine Steigerung der Wetterlage im Wald und transzendieren die Emotionen Sauvresys in einer Atmosphäre der Düsternis, Traurigkeit und Enttäuschung. Durch die Kombination aus schlossähnlichem Anwesen als Handlungsort und der gezeichneten Wetterlage ergibt sich zwar eine Reminiszenz an den Schauerroman, doch in der gleichzeitigen Abkehr verfestigt sich die Bindung des Opfers an das Wetter. Die entstehende Atmosphäre intensiviert die Emotionalität und wirkt reziprok; Sauvresy sieht erstmals eine heimliche Zusammenkunft von Berthe und Hector. Es ist der Blick auf seine Mörderin. Blick, Kälte/Schnee und Entsetzen/Trauma weisen auf den Moment im Wald zurück, festigen die Verbindung Sauvresys zu einer psychosomatisch letalen Einheit. Im Angesicht des Todes erscheint dieser Moment als der Kernpunkt, wiederholt sich und expliziert den Moment der Herzenspein wie der letalen Erkenntnis: J’ai froid, j’ai froid! Son corps, en effet, était glacé, et rien ne pouvait le réchauffer. […] Enfin, un peu avant deux heures, ses joues tout à coup se colorèrent, un frisson le secoua. […] Là, derrière le rideau, je les vois.126 Kurz zuvor hat Clément Berthe beim Zubereiten eines giftigen Getränks für ihn in flagranti erwischt und ihr offen mitgeteilt, dass er das langsame Sterben, wie sie es ihm durch das Gift bereite, nicht mehr ertragen könne. Das Motiv der Morde an Clément Sauvresy wie auch an Berthe de Trémorel ist nicht pekuniärer Natur, sondern resultiert in beiden Fällen aus der Persönlichkeit des Opfers, die die Täterin bzw. der Täter meint, nicht mehr ertragen zu können. Während das Wetter für Trémorel vor seinem geplanten Selbstmord immer wieder belebende Funktion hat, stirbt Sauvresy in einem Nexus der Kälte, sodass beide Figuren in eine meteorologische Nähe gesetzt, doch parallel oppositionell wirken.

3.2.3.2 Die Vorwegnahme von Elementen des roman à suspense Die Naturphänomene verflechten sich in der Analepse der Verbrechen von Orcival mit der teilweise extremen, indes psychologisch entwickelten Disposition der Figuren, der doppelten Ehebruchstragödie und der Vergeltung. Bedeutsam an dieser Analepse ist gattungsgeschichtlich die Vorwegnahme einiger Elemente des roman à suspense, auf die Schulze-Witzenrath hinweist, nach der Gaboriau mit der »Konstellation der Personen und deren subtilen gegenseitigen Verletzungen manche Romane von Boileau/Narcéjac vorweg[nimmt]«127 . Boileau und Narcéjac sind die Hauptvertreter dieser Ausprägung des Kriminalromans, des roman à suspense, in Frankreich. Sie schufen mit der Abkehr vom »schwachen und schutzbedürftigen Opfer[]«, wie es sich noch bei Irish gefunden habe, eine »eigene Literaturform«128 , so Schwarz. Reuter unterteilt den roman policier in roman à énigme, roman noir und roman à suspense. Bei Ersterem geht es um die Frage, wer das Verbrechen begangen hat und wie; bei Zweiterem geht es darum, weitere zukünftige Verbrechen zu unterbinden, und bei Letzterem darum, die drohende Straftat, die Gegenstand des Kri-

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minalfalls ist, zu verhindern.129 Der roman à suspense zeichnet sich ferner u.a. dadurch aus, dass das Geschehen aus der Perspektive des Opfers geschildert wird, die Figur des Ermittlers entfällt und »des existences humaines fragilisées par la menace«130 geschildert werden. – Es geht mithin nicht um die Aufklärung eines Verbrechens, sondern prinzipaliter um die Verschleierung von Fakten, wie sie auch Clément Sauvresy vornimmt. Allerdings birgt auch hier das Ende eine Überraschung, denn das Mordopfer selbst wendet sich (in der Konsequenz erfolgreich) gegen die Täter. Die Verbrechen in Le crime d’Orcival, Basiserzählung und Analepse, zeichnen sich durch eine semipermeable Dualität aus, denn der »roman à suspense unterscheidet sich vom roman-problème dadurch, daß nicht mehr die Frage nach dem ›Wer‹ im Vordergrund steht, sondern die Frage nach dem ›Wie‹ und dem ›Warum‹ der Tat«131 .

3.3 Errer dans les temps – Naturphänomene im Ermittlungsprozess Wenn die Ermittler bei Gaboriau Spezialisten im Lesen meteorologischer Spuren sind, so liegt das daran, dass das Wetter ihrer (Roman-)Welt es ihnen gestattet. Die jeweilige Jahreszeit bringt ihnen immer eine spezifische Wetterlage, die sich für die Ermittlung als ausgesprochen zweckdienlich erweist132 und so zum unverzichtbaren Element der deduktiven Narration am Tatort wird oder, wie Lecoq es formuliert: »sachant que le vent qui souffle ou la pluie qui tombe suffisent pour effacer l’empreinte«133 . Das verbindende Element über die Fälle hinweg ist der Zeitpunkt der Verbrechen und Morde: Alle ereignen sich am späten Abend. Diese Relation exemplifiziert sich qua Funktion expressis verbis in Le crime d’Orcival bezüglich des sich konstituierenden Mordplans von Berthe: »Elle eut une de ces nuits horribles pendant lesquelles se conçoivent les crimes.«134 Tat und Tatortuntersuchung weisen ein gewisses Muster auf, von dem sich meteorologisch separiert der Ermittlungsprozess abhebt, indem er sich durch eine eigene Wettergestaltung auszeichnet, die den Wetterphänomenen der Tatortuntersuchung in Art und Funktion diametral steht: In Monsieur Lecoq verschwindet beispielsweise der Schnee nach der meteorologisch ermöglichten Spurenanalyse vollständig und es fällt auch kein weiterer. Mehr noch: Die Aufklärung des Falles gelingt Lecoq erst im Frühling bzw. Sommer;135 die Untersuchung des Tatorts in Orcival findet bei sommerlichem Sonnenschein statt, Aufklärungsprozess und Lösung des Falles erfolgen hingegen spät am Abend resp. am frühen Morgen136 – interessanterweise gibt es während des gesamten Verlaufs (der Basiserzählung) keine weitere Erwähnung von Sonnenschein mehr. Der Ermittlungsprozess selbst zeichnet sich meteorologisch prinzipaliter dadurch aus, dass Naturphänomene nicht rationalisiert, sondern mit einer emotionalen Facette des Ermittlers verbunden sind bzw. eine atmosphärisch-narrative Funktion einnehmen. Obwohl die Frequenz der Naturphänomene in den Romanen Gaboriaus stark variiert, ist auffallend, dass Schlüsselmomente der Aufklärung faktural immer in der Nähe von Darstellungen oder Einschüben von Naturphänomenen stehen; so wird in den ersten Fällen der Ermittler Tabaret und Lecoq bspw. der mentale Prozess bei der Ermittlung besonders herausgestellt und emotional eingefärbt. Der Ermittlungsprozess verfügt über eine eigene meteorologische Faktur, die im Folgenden zunächst an L’affaire

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Lerouge für die darin verwickelten Männer Daburon, Tabaret und Gerdy kurz skizziert wird. Abschließend wird die Relation Lecoqs zum Wetter am Beispiel von Monsieur Lecoq veranschaulicht.

3.3.1 Die Männer und die Nacht in L’affaire Lerouge In L’affaire Lerouge findet sich die Erwähnung von Wetterphänomenen, insofern sie sich nicht auf die am Tatort gefundenen Spuren von Schuhen und Regenschirm beziehen, vornehmlich in den Analepsen. Während die Tatortanalyse mit dem Niederschlag verbunden ist, zeichnet sich der Ermittlungsprozess in diesem Fall durch eine Tag-NachtDichotomie aus, die sich in den Figuren Richter, Detektiv, Täter spiegelt. Der narrative Verlauf baut in der Dichotomie von Tag und Nacht die Separation von Verstand und Rationalität vs. Emotionen, Träume, Wünsche und Erinnerungen auf und greift parallel auf die kulturell verankerte Separation von Gut und Böse zurück. Im Sinne Genettes ist die Relation von Tag und Nacht hier nicht nur Kontradiktion, […] donc d’exclusion réciproque, mais aussi une relation d’inclusion, et naturellement, d’inclusion non réciproque: en un de ses sens, le jour exclut la nuit, en l’autre il la comprend; c’est-à-dire que nous avons ici un paradigme à deux termes, dont l’un sert aussi à désigner l’ensemble du paradigme.137 Diese permeable Dualität nutzt L’affaire Lerouge und bespiegelt die zwei Seiten der Figuren Daburon, Tabaret und Gerdy. Mit der Separation von Ratio (Tag) und Emotio (Nacht) verwebt sich die Frage nach Schuld und Unschuld, Gerechtigkeit und Tod. In L’affaire Lerouge beleuchtet bzw. relativiert die Helle des Tages das Dunkel der Mordermittlung, denn der Handlungsaufbau, d.h. der Lösungsprozess, folgt dem semantisierten Rhythmus der Tageszeiten: Der Mord an Claudine Lerouge ereignet sich in der Nacht (Fastnachtsdienstag). Der Verdacht auf Albert de Commerin fällt für Daburon nachts durch Tabaret; wobei die Verhaftung des unschuldigen De Commerins zu Tagesanbruch erfolgt, also gleichsam grenzwertig ist. Daburon erfährt tagsüber vom Alibi De Commerins; am Tag findet damit auch die Spurensicherung an der Mauer statt. Tabaret erhält die Aufklärung am Tag (nächtlich gewonnene Erkenntnisse tragen hierzu bei): I. am Morgen den letzten entscheidenden Hinweis, scil. die Aussage M. Lerouges und die Beweissicherung nach der Aussage Claire d’Arlanges, II. später die Aussage des Geldverleihers und die Entkräftung des Alibis Gerdys durch Juliette – dezidiert erfolgt Letzteres sogar, als es heißt: »[L]e temps était beau.«138

Nachts sind die Ermittlerfiguren (Daburon, Tabaret) be- und gefangen, sodass die Wahrnehmung subjektiv durch die Wünsche und Verlustängste geprägt ist. Die wirkliche Aufklärung und Befreiung von der Last der Vergangenheit kann daher (auch für den Comte de Commerin) nur tagsüber erfolgen.139 Die Nacht »devient un lieu de solitude et d’errance pour des personnages perdus, sous le coup d’émotions fortes«140 . Dies gilt neben Tabaret und Lecoq auch für die weiteren Hauptfiguren und Antagonisten Prosper, Hector de Trémorel, Noël Gerdy, Albert de

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Commerin und Richter Daburon. Bemerkenswert ist, dass sich die Figur während dieser errance in irgendeiner Form mit dem Tod befasst, sei es mit dem metaphorischen Tod der Identität,141 als Selbstmörder, als Mörder oder als Ermittler. Keiner flaniert simple et pur durch Paris. Ferner finden sich in diesen Momenten der errance dezente Einpassungen meteorologischer Phänomene, die auf die Psyche der Figuren wirken.

3.3.1.1 Richter – Daburon Daburon erscheint zu Beginn von L’affaire Lerouge als sympathischer Richter mit hohem Rechtsempfinden und Verantwortungsbewusstsein. Der Dramaturgie ist es geschuldet, dass er seit langem Claire d’Arlange zugetan ist, die seinen Heiratsantrag wegen Albert de Commerin zurückgewiesen hat. Als Tabaret nun spät am Abend bei Daburon erscheint, um ihm den Mörder zu nennen, kommt Daburon die Aufgabe zu, ebendiesen Mann, De Commerin, anzuklagen. Die Analepse in L’affaire Lerouge beleuchtet weniger die Hintergründe des Mordes an Mme Lerouge als vielmehr die emotionale Implikation Richter Daburons sowie seiner errance durch die Nacht. Daburon irrt wie »ivre«142 durch die nächtlichen Straßen, über denen ein Gewitter heraufzieht, »cherchant un peu de fraîcheur pour sa tête brûlante, demandant un peu de calme à une lassitude excessive«143 . Daburon versucht, sich wieder zu beruhigen, doch die Emotionen nehmen ihm wortwörtlich die Luft zum Atmen; die Zurückweisung durch Claire ist für ihn wie der Verlust seiner Jugend, eines Teils seiner selbst: Dieser Verlust und der tiefe Schmerz zeigen sich im Moment seiner errance, als er symbolisch »avait arraché sa cravate et l’avait jetée au vent«144 . Präfigurierend steht parallel in der Ablage des Signums des »Ehrenmannes«, d.h. hier des Richters, die spätere (ad interim) Befangenheit gegenüber dem Rivalen. In diesem Augenblick überwältigen ihn die Wut über die Zurückweisung wie das damit verbundene Kränkungsgefühl; beide verweben sich mit dem suggestiven Motiv der Nacht zu einem Impetus: Daburon beschließt, Albert de Commerin zu töten. Während ein Gewitter über der Nacht liegt, eilt Daburon durch die Straßen, doch wandelt sich, wie bereits oben angemerkt, mit dem Wetter seine Erregung: Das Gewitter bricht nicht aus und flacht zum Wind ab. Mit der Nacht verbinden sich auch der Wunsch nach Claire und das Verlangen, den Rivalen zu beseitigen. Im Angesicht der Grenzüberschreitung durch den Mord steht indes auch die Konfrontation mit dem im Freud’schen Sinne unheimlichen Aspekt seines Selbst.145 Mit Bronfen lässt sich diesbezüglich verdeutlichen: Entscheidend ist [.], dass nächtliche Schauplätze die Grenze zwischen äußerer und innerer Erfahrung verflüssigen. […] So fungiert der nächtliche Schauplatz oft als Projektionsfläche für die Phantasien derjenigen, die in ihn eintreten. […] Das Unheimliche, das der Nacht zugesprochen wird, egal ob bedrohlich oder verlockend, löst die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten […] auf.146 Nach dem Mord an Lerouge erhält Daburon nachts die Information, der Täter sei Albert de Commerin. Mit De Commerin konfrontiert, flammen die Wut und die emotionale Zurückweisung wieder auf. Nicht von ungefähr ist es tiefe Nacht, als Daburon sich des Gedankens nicht erwehren kann, wie es wäre, wenn De Commerin die Todesstrafe er-

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hielte und er Claire doch für sich gewänne. Die mit der Figur Daburon verknüpfte Funktion von Gerechtigkeit und Gesetzestreue wird mit der Nacht korrumpiert und zu einem doppelbödigen Gedankenexperiment. In der Folge schwankt Daburon zwischen der Genugtuung, das Leben De Commerins aufs Neue in der Hand zu haben, und dem anderen Extremum, ihn um jeden Preis als unschuldig darzustellen.147 Interessant ist, dass Daburon die Erkenntnis Tabarets – der auffälligerweise abends noch mit der Nachricht zu ihm kommt, man habe den Falschen verhaftet –, nicht zulassen kann, weil er sich selbst unbewusst nichts sehnlicher als dessen Schuld wünscht. Diese Implikation wird erst aufgelöst, als Claire d’Arlange – bezeichnenderweise am Montagmorgen, bei lichtem Tag – ihn besucht und mit ihrer Aussage die Behauptung Tabarets bekräftigt. Erst am Tag fungiert Daburon damit wieder als Richter. Jetzt kann er auf die Idee der wetterbedingten Spuren an der Mauer kommen und sich entscheiden, diese zu prüfen, um die Unschuld des Rivalen für das Glück Claires zu beweisen.

3.3.1.2 Detektiv – Tabaret Die Nacht ist vielfach der Raum, in dem versucht wird, Probleme zu bewältigen oder vor der Wahrheit zu fliehen. Dies zeigt sich auch bei Tabaret, als er auf die Verbindung von Noël und Mme Gerdy zu Mme Lerouge stößt. Von seinen Gefühlen getäuscht, (zu Unrecht) desillusioniert von der Frau, die er sogar heiraten wollte, tritt er in die Nacht, um zu Richter Daburon zu gehen. Bewusst verzichtet er auf eine Droschke und unter dem Einfluss der »grand air […] les idées, dans sa cervelle, se classaient et s’emboîtaient […]«148 . Der Weg durch die Nacht ist für Tabaret ein Mittel, den Fall »croyait-il«149 zu lösen. Doch die Nacht ist kein Bereich der Erkenntnis und der Aufklärung, sondern der Gefangenschaft in der eigenen subjektiven Wahrnehmung kontrafaktischer Wünsche. Tabaret fällt auf die Inszenierung Noël Gerdys herein, sieht er in ihm doch gleichsam den Sohn, den er nie hatte. Entsprechend glaubt er sich der Wahrheit nahe und verdächtigt aufgrund der Ausführungen des wahren Mörders den Falschen. Auch wegen der ›Enthüllungen‹ über Mme Gerdy irritiert, stolpert er fast schon symbolisch »semblable au buveur«150 seines Weg »glissant sur le pavé gras«151 . Noël Gerdy drängt sich als Täter, spätestens nach der bewiesenen Unschuld Albert de Commerins, förmlich auf. Aber Tabaret kann diese Schlussfolgerung nicht zulassen und verdrängt die Wahrheit; der Detektiv verweigert sich, obwohl es zwangsläufig nur noch eine Lösung gibt, lange Zeit der Erkenntnis, dass Noël Gerdy der wahre Schuldige ist, ja, sein muss – bis er bei implizit schönem Wetter den Kai entlang geht.152 Kontrastiv zum falschen Verdacht erhält Tabaret die Information über die Aussage M. Lerouges, die Beweissicherung nach der Aussage Claire d’Arlanges am Morgen, die Aussage des Geldverleihers und die Entkräftigung des Alibis von Gerdy durch Juliette Chaffour bei Tag. Er beobachtet Chaffour, und es erfolgt eine der wenigen Wetterdarstellungen innerhalb der Basiserzählung, die gleichsam eine meteorologische Klammer zum (Roman-)Anfang bildet: »[L]e temps était beau.«153 »Le temps était beau« markiert den Hinweis und letztlich das wahre Motiv der Taten: Juliette Chaffour. Für beide Ermittlerfiguren markiert die Nacht, nicht zuletzt in Kombination mit der errance »ivre«, einen emotionalen und mentalen Prozess sowie den Kontrollverlusts über ihr rationales Denken. Beide wehren sich zunächst gegen die sich ihnen aufdrängende

3 Émile Gaboriau – Der Beginn des französischen Kriminalromans

Wahrheit und wollen doch am Ende, aus unterschiedlichen Motiven, den wahren Schuldigen überführen.

3.3.1.3 Täter – Noël Gerdy Deutlich ausgeprägt zeigt sich die Tag-Nacht-Dualität bei Noël Gerdy. Tagsüber ist er ein redlicher Anwalt, doch geht er nachts zu seiner Geliebten Juliette Chaffour, die er vor der Öffentlichkeit zu verbergen sucht. Diese Trennung verweist bereits auf die Vorstellung einer Unmoral und damit der verdrehten Rechtschaffenheit. Um sich den Wunsch nach Juliettes (vorgetäuschter) Liebe zu erfüllen, stürzt Gerdy sich in den finanziellen Ruin. Der Misere sucht er schließlich durch den Erhalt des Titels und die Anerkennung als legitimer Sohn des Vicomte de Commerin zu entkommen. Noël Gerdy wird zum Gefangenen der Nacht und seiner damit assoziierten Träume und Wünsche (in Bezug auf Juliette), indem die mit der Nacht verankerte Relation zum Bösen wirksam wird: Gerdy tötet Mme Lerouge. Dieser Mord wirkt mit Fokus auf die Entwicklung dieser Figur fast wie das Ende einer Kausalkette aus Eitelkeit, pekuniären Motiven und für den Schein der Liebe Juliettes. Der Mord selbst ereignet sich bei Nacht.154 Mit dem Mord wird Gerdy quasi zu einem Teil des nächtlichen Assoziationskomplexes, metaphorisch zu einem ›Geschöpf der Nacht‹. Für ihn bedeutet die Nacht in diesem Zuge zunächst Schutz, indem er den Mord in Bougival ungesehen begehen kann; auch bietet sie mit dem Ball ein (vermeintliches) Alibi. Für Noël Gerdy wird die Nacht ferner kurzzeitig zum Fluchtraum; einerseits vor der Polizei, da er nunmehr als Mörder gesucht wird, aber andererseits auch vor sich selbst: »[…] [L]a nuit était venue, et avec l’obscurité Noël sentait renaître son assurance et son audace.«155 Die errance in der Nacht nährt die Verzerrung, die Illusion und den Wunschtraum. In diesem Nexus gelangt Gerdy zu dem Schluss, er könne fliehen und das Land verlassen. Er denkt jedoch an Juliette, die Frau, die er stets abends aufsucht, ohne die er nicht sein will. Doch die Illusion der Nacht, scil. seine Liebe Juliette, kann in der logischen Konsequenz nachts nicht aufgelöst werden. Er will mit ihr fliehen. Doch die materialistisch verhaftete Juliette braucht zu lange, um zu packen. Die Polizei ist da. Noël Gerdy gibt ihr sein letztes, vom Grafen erpresstes Geld. Er selbst sieht keinen Ausweg mehr und erschießt sich.156

3.3.2 Lecoq – Nebel und Nacht In den meisten Fällen Gaboriaus ist Lecoq die detektivische Instanz; in L’affaire Lerouge erscheint er als Protegé Tabarets. Sein erster Fall, in dem er bereits durch den Titel ins Zentrum rückt, ist Monsieur Lecoq. In diesem Fall werden der mentale Prozess der Ermittlung und seine diesbezügliche emotionale Disposition am deutlichsten herausgestellt. In Monsieur Lecoq zeichnet sich eine enge Relation zwischen Ermittler, Fall und der meteorologischen Faktur ab. Die deutliche emotionale Komponente Lecoqs zu meteorologischen Phänomenen reduziert sich in den später entstandenen Fällen Le crime d’Orcival und Le dossier No 113 löst sich auf. Parallel tritt die Facette des intellektualisierten resp. rationalisierten Ermittlers gegenüber anderen Figuren deutlicher heraus. Im Zentrum steht für ihn die Jagd nach der Wahrheit. Die in Monsieur Lecoq angedeutete, jedoch mit Selbstzweifeln relativierte Hybris festigt Lecoq in Le crime d’Orcival: »Les rébus faciles, je

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le laisse aux enfants. Ce qu’il me faut, […] c’est l’énigme indéchiffrable pour la déchiffrer; la lutte pour montrer ma force; l’obstacle pour le vaincre.«157 Bestehen bleibt zudem seine körperliche Einsatzbereitschaft (Kampf in Orcival; geradezu provozierter Überfall in Le dossier No 113). Einige meteorologische Relationen, die sich in Monsieur Lecoq entwickeln, erhalten sich: So werden vielfach relevante Lösungsschritte, wie Schlüsselmomente der Aufklärung und der Ermittlung, jeweils mit einem Wetterphänomen verbunden und, mit Blick auf die relativ geringe Wetterquantität, hierüber markiert. Fortgesetzt wird zudem die Konfrontation mit Täterfiguren, die sich des Nachts ereignen.

3.3.2.1 Monsieur Lecoq In seinem ersten Fall verbindet Lecoq die Aufklärung des Verbrechens mit Anerkennung und Avancement, er erscheint nicht nur als nüchterner Ermittler, sondern auch »dévoré d’ambition«158 , wobei er zwischen Gewissheit wie auch Zweifeln, den Fall lösen zu können, und der Sorge, was seine Vorgesetzten von ihm denken könnten, schwankt.159 Zwar löst er am Ende den Fall und klärt die Identität Mais, doch benötigt er Tabaret zu seiner Bestätigung. Das interessanteste meteorologische Phänomen ist in diesem Fall der Nebel, der an folgenden Stellen insgesamt viermal aufgerufen wird: • • • •

terrain vague Fenster Mauer Analepse und Identität

Dem Nebel kommt in Monsieur Lecoq die Funktion zu, einen Konnex zwischen Verbrechen, Aufklärung und entsprechenden Spuren, d.h. auch zwischen Analepse und Basiserzählung herzustellen. Fenster Beide Persönlichkeitsfacetten (rationaler Ermittler vs. Selbstzweifel) Lecoqs sind mit meteorologischen Phänomenen verbunden bzw. werden über diese sichtbar. Der geniale Ermittler zeigt sich etwa an der Kompetenz des Erkennens, Deutens und Sicherns der Schneespuren. Auf der anderen Seite begleitet die Perzeption des Wetters die Stimmung Lecoqs und wirkt dergestalt auf die Ermittlungsebene zurück. Hierbei gestaltet sich zunächst eine Dualität zwischen Tag und Nacht; Tag und Tagesanbruch inspirieren und lassen ihn auf seinen Erfolg vertrauen. Die persönliche Relation zum Wetter expliziert sich besonders nach dem schlecht verlaufenen Verhör Mais, als Lecoq sich vom Ort des Geschehens entfernt und (subkonszient) in Verbindung zum Wetter tritt: Si peu impressionnable que fût Lecoq, il eut le cœur serré […] et il se hâta de gagner l’escalier pour échapper à l’écho de ses pas […]. À l’étage inférieur, une fenêtre était restée ouverte, il s’y pencha pour reconnaître l’état du temps au-dehors. La température s’était singulièrement adoucie. Plus de neige, les pavés étaient presque secs. C’était à peine qu’un léger brouillard, illuminé des lueurs rouges du gaz, se balançait comme un vélum de pourpre au-dessus de Paris. […] Ce spectacle arracha un soupir au jeune policier.160

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Der Nebel ist zunächst ein stimmungsbildendes Motiv. Die Emotionalität geht in der Reziprozität zwischen Wetter und der empfindenden Figur auf: Die Stimmung Lecoqs beeinflusst seine Wahrnehmung, die Wahrnehmung beeinflusst die Stimmung Lecoqs, sodass ein gestimmtes Wetter entsteht. Die Emotionen Lecoqs artikulieren sich im Moment des Seufzens. Impliziert ist die Frage nach der Selbstbewertung, dem Umgang mit der Situation und der reflektierten Problematik des Erkennens der Wahrheit. Der Nebel verweist insofern parallel symbolisch auf das Erleben der Situation (Verhör Mais, scheinbare Unlösbarkeit des Falls) und die damit verbundene (Identitäts-)Krise des Ermittlers. Meteorologisch-poetologisch wird hier das Erkennen (der verborgenen Wahrheit) mit dem Erkennen des Wetterzustands gleichgesetzt und fällt letztlich zusammen: Der Nebel als Moment der »Wahrheitsfindung angesichts einer unbestimmten Seinserfahrung der Wirklichkeit«161 (das Spiel mit der Identität Mais) wird zum poetologischen Verbindungselement der Person und der Funktion, zwischen subjektivem Wettererleben und Nexus des Kriminalromans selbst, zwischen der Identitätsproblematik des Ermittlers (Hybris; Zweifel) und des vermeintlichen Täters (Mai = Sairmeuse) sowie zur Klammer zwischen Anfang und Ende, zwischen Ermittlung – Basiserzählung und Wahrheit – Analepse. Als Element der Deduktion rekurriert der Nebel auf den Tatort,162 in doppelter Weise auf die Vergangenheit, symbolisch als Motiv per se sowie auf die spätere Analepse. Er ist in diesem Sinne Indikator für die Faktur selbst, weil der Nebel an signifikanten Stellen aufzieht (Tatort [Anfang der Ermittlungsgeschichte], Mauer und Tatort [Verbrechensgeschichte/Analepse]) und auf die Ebene des Vergangenen verweist, die Lecoq rekonstruieren muss; die Ebene der Vergangenheit wird in der Analepse vollständig aufgelöst und geht mit dem Nebel in die Basiserzählung ein. Mit der Veränderung der inneren Situation Lecoqs wandelt sich fast unmerklich die meteorologische Funktion. Es sind kurze Zeit später weder Richter noch Père Absinth, denen Lecoq seine neueste Erkenntnis über die am Tatort gefundenen Ohrringe mitteilt, sondern dem Wind, unter dessen Einfluss sich der Rausch der Erkenntnis verflüchtigt und der Lecoq zur Vernunft bringt: Tant qu’il avait été sous l’œil du bijoutier, Lecoq avait eu la force de garder le secret de ses impressions. Mais une fois hors du magasin […] il jetait au vent un monologue victorieux. – Enfin! […] J’arrive aux véritables acteurs du drame […]. [C]e vertige peu à peu dissipa, le bon sens reprenait ses droits.163 Der Wind markiert an dieser Stelle den Wandel der persönlichen Implikation hin zur detektivischen, rationalisierten Wetterbetrachtung und Nutzung. Lecoq kann bei der Marquise, auf die ihn der Juwelier (Ohrringe am Tatort) brachte, gleichsam im doppelten Sinne, klare und logische Konklusionen auf meteorologischer Basis ziehen: »Puis, le jeune policier se rappelait combien étaient petites les empreintes laissées sur la neige par les deux fugitives, et le pied de la marquise, qui dépassait la robe, était d’une héroïque grandeur.«164 Lecoq schließt nunmehr Mme d’Arlange als potenzielle Tatverdächtige aus.165

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Mauer Es ist Nacht, als Lecoq Opfer des abgekarteten Spiels wird und wider Erwarten den Koffer Mais in einem Hotelzimmer findet. Mit dem Koffer wird zunächst Lecoqs Theorie falsifiziert.166 Doch die Nacht evolviert nicht die gleiche Problematik für Lecoq wie für Tabaret: Quand, vers minuit, Lecoq quitta l’Hôtel de Mariembourg, les rues étaient bruyantes et peuplées comme en plein midi […]. Il se mêlait à la foule sans la voir et fendait les groupes sans entendre des imprécations que soulevait sa brusquerie. Où il allait ?… Il l’ignorait. Il marchait droit devant lui, sans but […].167 Über den auditiven Vergleich erhält die Nacht für Lecoq den Status des Tages; sie ist die Verdrehung zur Aufklärung. Mit der Bewegung durch die Nacht entsteht zunächst eine Veränderung des von sich selbst enttäuschten Lecoq, der sich an das Verborgene (noch Dunkle) der Ermittlung annähert, in die er durch die Flow-Wirkung der errance metaphorisch physisch wie psychisch gelangt. Jedwede temporale Relation unterbleibt, sodass das Erleben der Gedanken betont wird. Die Nacht ist zum (Bewusstseins- und) Denkraum geworden. Mit dem Erreichen des hellerleuchteten Boulevards, dem Übertreten der Grenze von metaphorisch bereits aufgelöster Grenze von Dunkelheit und Licht, kulminiert der Gedankenprozess mit der nächtlichen-Erleuchtung: »[U]ne idée jaillit de sa cervelle, si éblouissante qu’il ne put retenir un cri. […] Et il se frappait le front à le briser. […] [I]l est sûr que j’ai raison!… ou la logique n’est plus la logique.«168 Präfigurierend, als Vorbereitung, erscheint diese Nacht als die Nacht, in der Lecoq das Erkennen der Lösung des Falles möglich ist. Lecoqs Plan beinhaltet zunächst eine intensive Befassung mit und Annäherung an Mai und das Erlangen weiterer Hinweise. Meteorologisch untermalt handelt es sich um drei schöne Tage. So ist es ein »beau matin«169 , an dem Lecoq den Richter für seine Idee, Mai in seiner Zelle zu beobachten, begeistern kann.170 Doch erst als er Mai eine inszenierte Fluchtmöglichkeit bietet, um diesen zu verfolgen, kommt Lecoq der Lösung näher. Wie eine positive Affirmation des Erfolgs erscheint die dezidierte Wettereinflechtung: »On était le 14 avril, le temps était beau, l’atmosphère tiède, les cimes des marronniers des Tuileries verdoyaient à l’horizon.«171 Während des Tages verläuft die Verfolgung relativ reibungslos und Lecoq kann einige Rückschlüsse aus Mais Verhalten ziehen, etwa, dass er sich in Paris auskennt und nicht, wie von ihm behauptet, erst vor kurzem in Paris angekommen ist. Doch der Tag vergeht: La poursuite présentait d’horribles difficultés. La nuit était venue, et en même temps s’était élevé ce léger brouillard qui suit invariablement les premières belles journées du printemps. Le gaz des réverbères brûlait rouge dans la brume sans projeter des lueurs. Et pour comble, c’était l’heure où ces rues laborieuses sont les plus peuplées […].172 Nicht nur der Tageszyklus, auch die meteorologische Veränderung erscheint wie eine natürliche Zwangsläufigkeit. Die doppelte Privation (Nacht und Nebel) weist hierbei auf

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den Ausgangspunkt der Basiserzählung zurück173 und wird geradezu zu einem Omen, insofern sich die metaphorische Dopplung – die Kontiguität von Nacht und Nebel – als Verbündete Mais erweist. Der Nebel wird Teil der Situationsspannung,174 der Flucht und Verfolgungsjagd sowie von Mais Verschwinden: Mai klettert über eine Mauer;175 mit dieser Grenzüberschreitung im nunmehr zeitgleich metaphorisierten Nebel vollzieht sich ein ›Zaubertrick‹: Mai löst sich im Nebel auf. Der Nebel weist an dieser Stelle auf die Vergangenheit, die Lecoq als die bereits realisierte Verbrechensgeschichte rekonstruiert. Die Vergangenheit wird zum Reflektor der Unsicherheit und der nahenden Ratlosigkeit des Ermittlers über die Identität Mais. Analepse und Identität An dieser Stelle verbindet sich das Nebelmotiv mit der Frage nach der Identität und der Faktur. Mai verwandelt sich wieder in sich selbst. Denn Mai ist nicht echt, er existiert nicht. Deshalb kann er einerseits Lecoq nicht entkommen, andererseits kann er in doppelter Hinsicht im Nebel verschwinden und parallel zum Durchschreiten der Nebelgrenze Duc de Sairmeuse werden. Entsprechend bleibt Mai trotz aller Bemühungen Lecoqs und der unmittelbaren Durchsuchung von Garten und Haus verschwunden. Im Nexus zu Mai verweist der »état du temps«176 ferner auf die Unmöglichkeit, im Winter zu entkommen und auf Lecoqs Unvermögen, dessen Identität aufzuklären. Für Lecoq fallen »l’état du temps«177 und Deduktion gleichsam erneut zusammen, der Nebel verweist auf die Schwierigkeit, Mai als Mörder zu entlarven. Am erhöhten Fenster wird eine distanzierte Perspektive auf den Nebel möglich, sodass eine distanzierte Betrachtung erfolgen kann, am Boden befindet sich Lecoq aber selbst im Nebel. Die Privationsfunktion führt damit die Problematik der Wahrheitsfindung, des Wechselspiels von Verschleierung und Entzauberung expressis verbis vor Augen. Der Nebel verweist als Element der Faktur damit erneut auf die Vergangenheit und damit auf die Identität, die Lecoq als detektivische Instanz rekonstruieren muss. Nur für einen kurzen Augenblick führt ihn diese Nacht zur wahren Identität Mais; Lecoq ahnt, dass Mai und De Sairmeuse ein und dieselbe Person sind.178 Er weist diese Idee jedoch von sich, verfällt (erneut) in Selbstzweifel und benötigt Tabaret für die Lösung des Falls. Tabaret bestätigt jedoch nur, was Lecoq bereits deduziert hat, und ergänzt den familiären Hintergrund. Hierüber erfolgt die Einbindung der Analepse. In einer schauerromantischen Lesart des Romananfangs wirkt der Nebel wie ein genretypisches Klischee, das eine entsprechend atmosphärische Einbettung der Geschichte sicherstellt; in gewandelter Perspektive wird der Nebel als multiples Verbindungselement erkennbar: In die Basiserzählung eingebettet, markiert er – auch metaphorisch – den Übergang zwischen dem Ende der Analepse, mithin der Retrospektive Martial de Sairmeuses, zur Basiserzählung, d.h. den Punkt unmittelbar vor Beginn der Romanhandlung. Durch die starke Häufung meteorologischer Beschreibungen zu Beginn des Romans ist hier der Bezug besonders deutlich. Die eingangs evozierten Emotionen, die kriminelle Konnotation des terrain vague und die Wirkung des Nebels werden aufgerufen und wirken an diesem Verbindungspunkt suggestiv: In Kombination mit der veränderten Figurenperspektive und dem Wissen um das Zulaufen auf die Mordtat entsteht ein außergewöhnlicher Spannungsbogen. Dem Nebel kommt in Monsieur Lecoq die Funktion zu, einen Konnex zwischen Verbrechen, Aufklärung und den

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entsprechenden Spuren zu schaffen. Die Analepse De Sairmeuses geht im meteorologischen wie metaphorischen Nebel in die Basiserzählung über. In diesem Sinne verbindet der Nebel einem Ouroboros gleich die (vollständige) Analepse mit der Vergangenheit und die Basiserzählung mit der Aufklärung.

3.3.2.2 Nebel, Nacht und Lecoqs Inkognito Abschließend sei auf zwei Stellen der meteorologischen Relation zu Lecoq in Le crime d’Orcival sowie Le dossier No 113 hingewiesen. Auch in Le crime d’Orcival wird der Spannungshöhepunkt vor der Analepse mit dem Nebel und der Nacht aufgebaut. In den sehr frühen Morgenstunden im Haus des Richters blickt Lecoq immer wieder nach draußen in den Nebel. Der Nebel verweist prima facie auf die noch ungelöste Situation, den mangelnden Durchblick des Ermittlers, da die Wahrnehmung durch die Feuchtigkeitspartikel gestört ist. Mit dem durch die Repetition bewussten Blick in den Nebel deutet sich indes die Ahnung Lecoqs an, das Wissen darum, was noch im Nebel zu liegen scheint: Tout à coup […] il s’élança sur l’appui de la fenêtre ouverte, et de là dans le jardin. Presque simultanément, on entendit le bruit de la chute, un cri étouffé, un juron, puis les trépignements d’une lutte. Le docteur et le père Plantat s’étaient précipités à la fenêtre. […] les arbres frissonnaient au vent frais […] les objets apparaissaient vaguement distincts, sans formes arrêtées, au travers de ce brouillard blanc qui plane, les nuits d’été, sur la vallée de la Seine.179 Die physische Konfrontation bleibt auf die Perspektive des Doktors und Père Plantats beschränkt, sodass Gefahr spürbar und der Kampf im Nebel hörbar, aber nicht sichtbar sind. Das Wetterphänomen wird zum tragenden Element der Spannung. Durch den Sprung in den Nebel und das anschließende Heraustreten erfolgen zwei Dinge. Lecoq zieht die Adjuvantenfigur Robelot aus dem Nebel, der das Gespräch belauscht hat, um die Gefahr für sich selbst abzuschätzen. Robelot ist »herboriste par prudence et empoisonneur par vocation«180 . In dieser Eigenschaft ist er mittelbar am Mord an Sauvresy beteiligt und mithin indirekt am Tod von Berthe. Über Robelot gelangt Lecoq zum unumstößlichen Beweis (Ofen), dass Berthe Sauvresy vergiftet hat.181 Zum anderen zeigt sich auch hier in Le crime d’Orcival die Frage nach der (wahren) Identität mit dem Nebel verbunden. Denn nach der physischen Konfrontation tritt auch Lecoq aus dem Nebel, der zuvor inkognito ermittelt hat und dessen Verkleidung von Robelot heruntergerissen wurde. – Vice versa zu De Sairmeuse wird die Identität des Ermittlers durch den Täter aufgehoben. Lecoq führt aus, dass es ihm durch seine Erfolge (nach Monsieur Lecoq) nur noch möglich sei, verkleidet zu ermitteln.182 Ferner entsteht durch die Nebel-Motivik eine Verbindung zwischen Basiserzählung und Analepse. In Le crime d’Orcival bilden Humiditätsereignisse eine Einheit mit dem Uferbereich der Seine und formen ein wiederkehrendes Landschaftsbild, das sowohl in der Basiserzählung als auch in der Analepse aufgebaut wird: »La nuit tombait, un brouillard léger comme la fumée d’un feu de paille se balançait au-dessus de la Seine.«183 Der Nebel konstituiert dergestalt eine zeitliche und räumliche Verbindung zwischen dem Ort der Morde wie des Leichenfunds, dem Ort der Verbrechensaufklärung und dem Mo-

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ment, in dem die Vergangenheit (Analepse) durch den Richter gelüftet wird: Da der Nebel als metaphorisches Motiv bereits auf die Vergangenheit sowie hier auf den deduktiven Prozess verweist, fungiert er als Marker für das Zusammenfallen der Analepse und Basiserzählung.

3.4 Zusammenfassung •





• •





In den Romanen Gaboriaus wird die noch bestehende Nähe zum Feuilletonroman in den Titeln mit Lecoq als Ermittler deutlich, bei denen es zwei Geschichten gibt: die der Ermittlung und die der Vorgeschichte. Diese zeichnen sich durch eine jeweils individuelle Wetterkonzeption für die rationale Seite (Ermittlung) vs. die emotionale Verbindung (Vorgeschichte) aus. Hierbei fungieren ausgewählte Wetterphänomene als narrative Anknüpfungsmomente zwischen Analepse und Basiserzählung. Darüber hinaus ergibt sich eine saisonal-prozessuale Konzeption beider Teile. Lecoqs Werdegang, vom jungen Ermittler zum etablierten Agenten der Sûreté, ist in einen jahreszeitlichen Ablauf vom Winter zum Frühling eingebettet. Über dieses Muster ergibt sich ein jeweils spezifisch saisonales Arrangement der Wetterspuren und ihrer Deduktion in den einzelnen Fällen. Das Wetter wird in L’affaire Lerouge als bedeutsame Spur und damit für die Deduktion funktionalisiert. Die Interpretation der Regenspuren bildet einen Motor der Geschichte; Gaboriau entwirft mit dem Regen die erste falsche Fährte des französischen Kriminalromans – die damit eine wetterbedingte und wettergeleitete ist. Gaboriaus L’affaire Lerouge greift die in den Sue’schen Mystères de Paris lancierte Verbindung von Regen und Verbrechen nur zu einem gewissen Grad wieder auf. Im Rahmen der Ermittlung wird das Wetter rationalisiert und mit einem (zeitgenössischen) wissenschaftlichen Ansatz als deduktives Element fruchtbar gemacht. Das Erkennen von meteorologischen Spuren stellt das Genie des Ermittlers heraus. Der Schnee in M. Lecoq fungiert verbaliter als Einschreibefläche der Ereignisse um den Mordzeitpunkt wie auch danach. Lecoq gelingt es, das Verhalten und die Emotionen der Personen aus den Spuren im Schnee zu ›lesen‹. Die ermittlungstechnische Relevanz von Wetterspuren ist als Fortsetzung der Spuren im Schnee aus den Mystères de Paris lesbar. Bei Gaboriau werden diese Spuren und ihre Interpretation immer wieder zu einem wesentlichen Moment der Erzählung – dies greift Doyle bei der Figur Sherlock Holmes wiederholt auf und auch in Leroux’ Le Mystère de la chambre jaune ist die Untersuchung von wetterbedingten Spuren in Tatortnähe herausgestellt. Hiermit erfolgt bei Gaboriau eine nachhaltige wirksame Veränderung der sekundärmotivliche Seite für die detektivische Instanz. Im Zuge der Rationalisierung des Wetters in der Deduktionsgeschichte findet sich in Monsieur Lecoq mit dem dichten Nebel zwar ein evokativer Anklang an Schauer und Spannung, doch wird dieser mit dem Wirken Lecoqs am Tatort instantan aufgelöst. Das Humiditätsereignis Nebel ist indes hinsichtlich der Identität bzw. der Frage nach Identitäten hervorzuheben. Bei Gaboriau wird dieses Wetterphänomen sowohl für Lecoq als auch für den Verdächtigen alias Mai bedeutsam. In Monsieur Lecoq signalisiert er zudem die Verbindung bzw. Anknüpfung von Vergangenheit und

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Gegenwart und fungiert als fakturales Moment wie in pluraler Weise als Verweis auf die Vergangenheit, die vom Ermittler rekonstruiert werden muss.

4 Léo Malet – Der Auftakt zum französischen roman noir Le brouillard […] avait repris possession du quartier.1

Burma. Nestor Burma. Flic privé und l’homme qui met le mystère knock-out, Held der Nouveaux Mystères de Paris (1954–1959).2 Mit Burma scheibt Léo Malet3 den ersten »roman noir français«4 , überführt damit die amerikanische hard-boiled novel5 à la Chandler und Hammett in eine französische Form und ebnet der neuen Strömung des néo-polar bzw. des roman noir den Weg. Mit Malets Romanen wird, so René Magritte, der »Surrealismus in den Kriminalroman hinübergerettet«6 . Obwohl der eigentliche Kult um Nestor Burma erst in den 1970er-Jahren entsteht, spielt Malet eine elementare Rolle bei der Entwicklung des französischen Kriminalromans: »Léo Malet ne doit rien à personne, mais le roman policier moderne lui doit tout.«7 Hierbei sind die Nouveaux Mystères de Paris (NMdP) immer auch »als ironische Replik auf die Traditionen des Kriminalromans zu lesen«8 . Die Entwicklung der Romane Malets ist mit der Zeit der Okkupation und der Atmosphäre der Nachkriegszeit verbunden, denn sie erwachsen zunächst aus einem Mangel an US-amerikanischer Kriminalliteratur im okkupierten Frankreich: In den 1930er-Jahren verzeichnen die Übersetzungen der hard-boiled-Romane von Autoren wie Chandler und Hammett in Frankreich große Erfolge, während der Okkupation jedoch sind keine weiteren Importe möglich. Daher beginnen französische Autoren unter amerikanisiertem Pseudonym zu schreiben und lassen ihre Helden in einem stereotypen »Amérique de fantaisie«9 agieren.10 In dieser Weise verfasst auch Léo Malet unter dem Pseudonym Frank Harding die Kriminalromanserie um den amerikanischen Journalisten Johnny Métal.11 Malet ist sich seiner Unkenntnis der amerikanischen Lebenswelt und der daraus entstehenden Problematik bewusst und formuliert pointiert: »Un américain qui lirait Johnny Métal se roulerait par terre.«12 Aufgrund dessen zieht es Malet zu einem Ort, den er kennt und »qui lui semble en parfaite osmose avec le roman policier: le Paris de l’Occupation«13 . In diese Überlegung Malets spielt eine meteorologische hinein: Der düstere Rahmen, den in den klassischen englischen Kriminalromanen der scheinbar charakteristische Nebel formt, soll durch zeitgenössische Elemente der Okkupationszeit, geprägt von einer omnipräsenten Bedrohung und düsteren Stadtimpressionen, moduliert werden:

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Il y avait aussi autre chose: le côté »artistique« de l’Occupation. Dans les romans policiers d’avant-guerre, manquait l’ambiance qui était l’apanage des romans anglo-saxons: le fameux brouillard… […] Or, qu’est-ce qui remplaçait le brouillard […]: le blackout de l’Occupation. Paris sans voitures était très impressionnant: cette atmosphère lourde, à peine troublée par les patrouilles allemandes, ce noir absolu, voilà un décor dans lequel pouvait se dérouler un roman policier, plutôt qu’en plein soleil. Je me suis décidé à utiliser ce décor et j’ai écrit L’Homme qui mourut au stalag, premier titre de 120 rue de la Gare.14 Mit 120, rue de la Gare (1943) schreibt Malet den ersten »roman noir français«15 und bis 1949 bilden sieben weitere Titel den ersten Zyklus um Nestor Burma. Insgesamt entstehen drei Romanzyklen mit dem Protagonisten Burma, von denen der bekannteste die NMdP sind: 1954, während eines Spazierganges mit seinem Sohn, kommt Malet die Idee zu diesem zweiten Zyklus, in dem Paris eine Schlüsselrolle einnehmen soll: […] devant le paysage parisien qui s’offre à ma vue – le métro aérien sur le pont de Passy, la Seine, la tour Eiffel –, que c’était quand même extraordinaire que, depuis Louis Feuillade, et son film Les Vampires, personne n’ait vraiment utilisé ce décor si prestigieux. […] L’idée me vint d’une série de romans policiers se passant chacun dans un arrondissement, sans en franchir les limites administratives. Ce serait – paradoxe – le roman en vase clos, mais en plein air.16 Maurice Renault17 schlägt dann, ursprünglich als Scherz, für die geplante Serie den Titel Les Nouveaux Mystères de Paris vor. Der Titel knüpft assoziativ an den im 2. Kapitel der vorliegenden Studie behandelten Roman von Eugène Sue an und stellt ihn in einen aktualisierten Bezugsrahmen.18 Bezeichnenderweise greift der erste Fall der NMdP die konzeptuelle und oszillierende Verbindung zwischen Wetter (Regen, Wind und Winter), Ort, Thematik und Figureneinführung der Anfangsszene Sues auf. Anstelle des unbekannten Mannes wird einem Ich-Erzähler durch den Regen gefolgt, dessen Identität ebenso wie bei Sue erst durch die angesprochene Prostituierte geklärt wird. Meteorologisch entwickelt sich eine gewisse Intertextualität, da die NMdP immer wieder thematische und figürliche Wetterrelationen aus den MdP aufnehmen, wie Fleur-de-Marie/Geneviève – Sonnenschein/ Sonnenuntergang, um sie im Kontext des roman noir zu aktualisieren. Die Verbindung zu den Geliebten Burmas und Fleur-de-Marie realisiert sich bspw. an der Figur Bélitas, die Lenantais zum Blumenmädchen macht und aus ihrem angestammten Lebensumfeld herausnimmt, damit sie glücklich werde. Auch das Nebelmotiv um Gerolstein findet sich in ähnlicher Funktion in Brouillard au pont de Tolbiac wieder; die Verbindung des Chourineurs mit dem Wind erinnert an die Verbindung Bénech – Regen. Die Fälle, die durch sommerliche Wetterlagen geprägt sind, lassen sich zudem in thematischer Adaption und klimatischer Similarität der Sue’schen Salons lesen. Ferner finden sich ähnlich angelegte Figuren (etwa Van Straeten als Polidori, Bélita als Fleur-de-Marie), Räume, Handlungsmuster und Elemente, aber ebenso meteorologische Konzeptionen. Strahlte die Kriminalität bei Sue noch von der Cité bzw. vom Master criminal auf die Stadt aus, so gibt es in den NMdP kein Zentrum der Kriminalität mehr, denn Paris wird

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nicht als Ganzes in den Blick genommen, sondern als jeu de l’oie19 durchlaufen und sind dementsprechend auf ein Arrondissement fokussiert. Zwei literarisch-künstlerische Einflussbereiche stellen wesentliche Faktoren für die NMdP dar: Der erste Faktor ist der Kontakt Malets zu den Surrealisten um André Breton in den 1930er-Jahren.20 Malet greift Aspekte der künstlerischen Strömung auf, wodurch sich zwischen Kriminalroman und Surrealismus eine Verbindung ergibt, mit der die Burma-Reihe nach Emanuel charakteristische Züge erhält: Surrealism is not just a new poetic movement, but rather a new way of looking at the same familiar object. A detective novel tends to be a series of familiar if not formulaic items: a detective, a dead body, a weapon, a search for the guilty. Burma not only reacts to these familiar items […] with the detached sarcasm expected in a roman noir, but also with the relish of an avant-garde artist.21 Surrealistische Elemente und Anspielungen durchziehen die Fälle meist auf eine ironische und autoreferenzielle Weise.22 Struktureller Bestandteil sind bspw. Träume von Burma und zuweilen von seiner Sekretärin Hélène, die Einfügung von faits divers, palimpsestartigen Überlagerungen der Stadt oder Elemente, die das Wunderbare durchscheinen lassen. Während diese Aspekte für die Burma-Reihe bereits beleuchtet wurden,23 gilt der Blick hier dem Wetter, das eng mit der hard-boiled novel verbunden scheint. Die hard-boiled novel bildet den zweiten Einflussbereich, insofern Malet diese zum roman noir weiterentwickelt. Die hard-boiled novel bzw. der roman noir weisen im Vergleich zum ›klassischen‹ Detektivroman spezifische Konstituenten auf. So konturiert Lits zum roman noir: Le détective cessera […] d’être un fonctionnaire de police ou un amateur éclairé de la noblesse ou de la bourgeoisie, la place sera prise par les détectives privés, plus ou moins honnêtes, plus ou moins violents, à l’image d’un monde où le Bien et le Mal ne sont plus très distincts et où les valeurs morales ont tendance à perdre de leur importance.24 Dies gilt auch für die Figur Nestor Burma, für die Malet eine similäre Erzählsituation wie Chandler wählt: Burma berichtet retrospektiv – als autodiegetischer Erzähler – von seinen eigenen Fällen.25 Der hard-boiled – und in dessen Folge der roman noir – ist nach Scaggs zudem mit einer spezifischen Atmosphäre verbunden: [T]he French term »roman noir« [.] was used to describe the American hard-boiled fiction that was popular in France in translation, and which became an enormous influence on French writing. The word »noir« codifies the dark, shadowy atmosphere and setting of hard-boiled fiction, which is a clear indicator of the Gothic heritage of crime fiction.26 Diese Ausführung lässt sich auf die Aussage Malets zum Blackout und auf die Entwicklung innerhalb der Gattung beziehen. Dies führt zu der Frage, ob die NMdP bezüglich des Wetters nach Sue eine Rückentwicklung zum Schauerroman darstellen.

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Ein Wetterphänomen scheint sich hierbei für den roman noir als substanziell zu erweisen: der Regen. So definiert Flückiger das Subgenre nicht nur durch die Figurencharakteristik und das Setting Großstadt, sondern ebenso durch die Wetterkonstituente: Der »Schwarze Krimi« erzählt von einzelgängerischen Männern, die rastlos durch die nachtschwarzen Strassen einer kalten Grossstadt streifen, zur Unterstreichung der Tristesse oft bei Dauerregen, die immer wieder auf die falschen Leute treffen (Betrüger, Verräter, abgebrühte Nutten); die ihrem Schicksal nicht entkommen können – und deshalb in aller Regel ins Gras beissen.27 Diese Verbindung von Stadt, Kriminalität und Regen deutet sich ebenso in Polarville von Blanc an, der neben amerikanischen Autoren auch Malet, Simenon und Demouzon in den Blick nimmt und bezüglich Quantität und Intensität konstatiert: La météorologie manque de clémence dans les villes du polar. C’est peu de dire qu’il pleut systématiquement. En vérité, c’est un déluge qui s’abat sur les rues et les immeubles. […] La norme est la pluie, l’anormal est le beau temps.28 Gleichermaßen stellt Dulout in ihrem Überblickswerk den Regen, indiziert durch die regennassen Straßen der Großstadt, als spezifischen Teil der Atmosphäre des roman noir heraus: [A]mbiance et décor tiennent une place essentielle dans le roman noir français. C’est cette atmosphère qu’illustreront à merveille Georges Simenon et Léo Malet, qui peignent comme personne la grisaille des banlieues, la solitude des rues désertes, et les lueurs blafardes de l’aube sur les pavés humides de la ville.29 Der Regen scheint mithin das charakteristische Wetterphänomen von hard-boiled wie roman noir zu sein. Die Bedeutung des Wetters weist hierbei über die des reinen ›Dekorelementes‹ hinaus, denn, so konstatiert Keunen, der den »endlose[n] Regen«30 als typisch ansieht,31 der Regen ist ein Element der Großstadtdarstellung, der zu ihrer »bedrohlichen Unvorhersehbarkeit«32 beiträgt. »[V]erregnete […] Straßen« seien eine Komponente des Settings, die zeigen, dass »Großstadtdarstellungen Gefühle der Machtlosigkeit«33 zum Ausdruck bringen und dass die sich »unter anderen Umständen […] entziehenden Phänomene wie Moral oder ›Zeitgeist‹«34 erst hierdurch greifbar würden. Zum einen legt die skizzierte Vormachtstellung des Regens nahe, dass möglicherweise die Verbindung von Regen und Kriminalität, die für die MdP im zweiten Kapitel gezeigt wurde, in den NMdP als roman noir reaktiviert und aktualisiert wird. Zum anderen aber irritieren bereits die Fälle der NMdP, in denen es dem ersten Eindruck nach gar nicht regnet. Ausgehend von diesem Lektüreeindruck entsteht die Hypothese von wesentlich vielfältigeren Wetterlagen in den NMdP. Dies mag auf den ersten Blick unbedeutend scheinen, aber die Quantität des Wetters, so die sich ergebende zweite Hypothese, hat Auswirkungen etwa auf die Relation des Wetters zur Stadt. Denn mit Blick auf das jeu de l’oie Schulmans kann gefragt werden, ob sich neben dem Fokus auf das jeweilige Arrondissement und dessen spezielle Prägung eine besondere Wetterlage abzeich-

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net und ein spezielles Wettersystem entworfen wird. Hieran schließt sich die Frage nach dem Einsatz des Wetters für die Deduktion bzw. für die detektivische Instanz an. Auch vor dem Hintergrund des surrealistischen Einflusses stellt sich die Frage, ob oder wie das Wetter noch als rationalisierte Spur fungiert. In den Ausführungen Malets zeigt sich zudem ein Bewusstsein für das Wetter. Dem kommt die Wahl des autodiegetischen Erzählers entgegen, mit dem Wetterphänomene in die Narration integriert sind und eine subjektive Apperzeption wie Reflexion vermittelt wird. Hierdurch sind die Naturphänomene hervorgehoben und stellen ein »eyecatching«35 -Moment dar.

4.1 La norme est la pluie, l’anormal est le beau temps Der Regen scheint das Wetterphänomen zu sein, das wie kein anderes den polar bzw. den roman noir prägt. Er wird in Verbindung gesetzt zur Stadt, zur Kriminalität sowie zur der Subgattung immanenten Tristesse, dem désespoir du noir. Eine systematische Wirkung des Regens auf die Stadt und eine systematische Relation zwischen Regen und Stadt bemerkt, wie bereits erwähnt, Blanc in Polarville.36 Diese Verbindung besteht nicht nur allgemein für die Subgattung roman noir, sondern auch im Speziellen; Rohlff fasst apodiktisch für die NMdP zusammen: »Schönes Wetter ist eher die Ausnahme […], Regen die Norm.«37 Der Regen scheint die Wetterlage zu sein, denn durch die Setzung als ›Norm‹ wird ihm eine weitreichende und serielle Präsenz zugeschrieben. Allerdings irritieren vor diesem Hintergrund die Fälle der NMdP, in denen Sonne und Hitze zu dominieren oder es nur ausgesprochen selten zu regnen scheint wie in Des kilomètres de linceuls, Les rats de Montsouris, Corrida aux Champs-Élysées oder Pas de bavards à la Muette. Hinzu kommen solche Fälle, in denen nicht der Regen das primäre Wetterphänomen ist, sondern Schnee, wie in Micmac moche au Boul’Mich’. Ausgehend von dieser Faktenlage wird hier infrage gestellt, dass Regen bei Malet die Norm ist und gefragt, wie oft es in den NMdP tatsächlich regnet. Um dies zu visualisieren, zeigt das nachstehende Diagramm den Regenanteil der das Wetter betreffenden Stellen in den Romanen. Geht man vom Regen als ›Norm‹ und damit dominante Wetterlage aus, erstaunen nicht nur die Fälle, in denen es de facto gar nicht regnet, sondern auch der geringe Regenanteil insgesamt. Dieser liegt nach der obenstehenden Darstellung im Durchschnitt (für alle Romane) bei 20 %. Die statistische Erhebung falsifiziert den Regen als Norm. Dies ist aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen für die Forschung zum Kriminalroman, wenn allgemein für den polar bzw. speziell für die NMdP als omnipräsentes Wetter den Regen postuliert wird. Zum anderen hat dies Konsequenzen für die Analyse der NMdP, insofern der Regen sowohl bei Rohlff als auch bei Blanc in Verbindung mit der Auslöschung der Stadt, gar als ihr »meurtre« gelesen wird: »il pleut systématiquement. En vérité, c’est un déluge qui s’abat sur les rues et les immeubles. […] La ville y disparaît.«38 Mit Blanc ließe sich gar pointieren, der Regen sei »le meurtre essentiel qui hante le polar«39 .

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Diagramm 1: Übersicht der NMdP mit Darstellung des Regenanteils

Doch schauen wir uns zunächst den Regen und seine Funktion in den NMdP genauer an. Denn für die Untersuchung ist mit der statistischen Erhebung zunächst nicht viel gewonnen, außer einem wenig aussagekräftigen Durchschnittswert. Dies verdeutlicht sich, wenn man sich vergegenwärtigt, was die prozentuale Auswertung nicht berücksichtigen kann, scil. zum einen die Art des Regens, zum anderen seine relative Häufigkeit: So fallen in Du rébecca rue des Rosiers zuweilen nur einige Tropfen, an anderer Stelle handelt es sich um einen leichten Nieselregen. 44 % Regen dort scheinen viel, aber insgesamt wird das direkte Niederschlagsereignis nur an 18 Stellen erwähnt. Nach der Quantität zu fragen, dürfte daher weniger relevant sein als zu untersuchen, in welchen Momenten (bspw. der Handlung oder bezüglich der Figurenrelation) der Regen überhaupt fällt und welche Funktion ihm dabei zukommt. Denn betrachtet man diese Textstellen genauer, so zeigt sich, dass der Regen mit bestimmten Elementen wie Handlung, Figur oder Raum verquickt ist. Exemplarisch wird dies nachfolgend in den Romanen Boulevard… ossements, Brouillard au pont de Tolbiac und Pas de bavards à la Muette konturiert.

4.1.1 Der Regen in Boulevard… ossements In Boulevard… ossements finden sich rund 25 meteorologische Verweise, in Brouillard au pont de Tolbiac doppelt so viele bei einer etwa gleichen Textlänge von 186 bzw. 187 Seiten. Auf die Textlänge bezogen, ist die Frequenz damit schwankend. Bei näherer Betrachtung der beiden Texte wird deutlich, dass in Boulevard… ossements das Wetter an einer Stelle relativ gehäuft Erwähnung findet, scil. während des Berichts von Hélène Chatelain, aus deren Perspektive zunächst von der Modenschau in der Boutique von Sonia und Natascha erzählt wird, sowie im Anschluss bei der Einladung zu einem Abendessen in deren Haus in Sceaux40 – nur hier regnet bzw. ›unwettert‹ es.

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Der nächtliche Regen erfüllt dabei mehrere Funktionen: Neben der atmosphärischen, suggestiv schauerromantischen Reminiszenz – alte Villa bei Unwetter – beeinflusst der Niederschlag den Handlungsraum und entwirft eine nicht nur räumliche, sondern ebenso meteorologische Binärstruktur: Wegen des starken Regens kann Hélène nicht nach Paris zurück und muss in der Villa übernachten; pointiert hält der Regen sie damit am Ort »gefangen«, ermöglicht damit aber erst die Gewinnung von Lösungsansätzen. Im Schlaf dringt das Unwetter in Hélènes Unterbewusstsein und wird Teil ihres Albtraums. Realität und Traum verbinden sich und bereiten das nachfolgende Ereignis atmosphärisch vor: Ein zerschlagener Spiegel wird traumhafte Manifestation eines Fensters, das Wind und Regen auf- und dadurch Hélène aus dem Schlaf reißt. Der Regen, der durch das offene Fenster hereinstürmt, verbindet sodann Innen- und Außenraum und lenkt Hélènes Aufmerksamkeit auf den Garten: […] une rafale d’un vent violent secoue la fenêtre et l’ouvre. […] Un air glacial pénètre dans la pièce. […] Un paquet de pluie m’inonde. […] à nouveau la foudre fulgure, illuminant comme en plein jour, de sa vénéneuse teinte mauve […]. Et je vois l’homme. Il est là, debout au pied d’un arbre, indifférent à la pluie qui lui cingle le visage, l’air d’un fantôme […].41 Der kalte Regen bereitet haptisch das unheimliche Moment vor, indem neben dem auditiven Eindruck ein visueller evoziert wird: Das Gewitter färbt Garten und Wäldchen der Villa zunächst unangenehm ein, erst im Anschluss hieran wird Hélène des Mannes gewahr, der wie ein Geist im Regen unter ihrem Fenster steht und sie anstarrt. Dieser Moment wird metaphorisch durch den Blitz gleichsam als fotografisches Schlüsselbild fixiert, über das Burma den Fall lösen kann. Nach dem Schließen des Fensters folgt ein kurzer Spannungshöhepunkt, als es plötzlich an Hélènes Tür hämmert. Gerade zu diesem Zeitpunkt aber hat sich das Unwetter aufgelöst und es steht nicht der Mann aus dem Garten vor der Tür, sondern Sonia. Sie vertraut Hélène den Grund an, weswegen sie erpresst wird. Mit der Vergangenheit Sonias sind wiederum indirekt die Morde verbunden, sodass sich die Umstände des Falls erhellen. Bezogen auf die Deduktion markieren und transzendieren Gewitter und anschließende Klärung des Himmels den Weg zur Aufklärung des Falls. Der pointiert gesetzte Regen ermöglicht es, da er sich auf die Wägbarkeit des Raumes auswirkt, einen abgegrenzten Teilraum zu schaffen, d.h. zwei topografische, meteorologische (Regen vs. Frühlingswetter) und semantische Teilbereiche zu konstituieren: In einem Bereich ist es Sonia möglich, sich Hélène anzuvertrauen und die Vergangenheit (Prostitution, Schmuck) offenzulegen. Dieser Bereich wird vom Bereich der Gegenwart dezidiert abgegrenzt; allerdings ist die Grenze semipermeabel, denn der erste Bereich wirkt sich auf den zweiten aus (Erpressung, Mord Goldy etc.). An den Bereich der Vergangenheit sind der Hintergrund sowie die damit verbundenen Hinweise für die Lösung der Fälle der Gegenwart geknüpft. Damit erweist sich der Starkregen als unerlässlich für die Deduktion.

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4.1.2 Der Regen in Brouillard au pont de Tolbiac In Brouillard au pont de Tolbiac wird der Regen nur an fünf Stellen erwähnt, hiervon viermal gleich zu Beginn des ersten Kapitels. Basal steht der Regen in Verbindung zum Tod und zu Figuren, die an die Vergangenheit des 13. Arrondissements gebunden sind. So ist der Regen präsent, als Burma sich ins Krankenhaus und dann ins Leichenschauhaus begibt, wo er vom Tod Lenantais’ erfährt, einem Freund aus Vegetalierzeiten, der ermordet wurde. Einige Zeit später regnet es ebenso, als Burma mit Bélita Morales in Lenantais’ Wagen eine unbekannte Leiche wegschaffen will, über die sie in dessen Wohnung gestolpert sind. Der Regen unterstreicht die angespannte und dysphorische Situation des Leichentransports, wird aber in dem Moment signifikant, als er einen Beinahezusammenstoß provoziert: »Ce fut comme un éclair. […] [J]e vis, avant que les phares puissants ne m’aveuglent, s’iriser les gouttelettes de flotte en suspension dans l’atmosphère et luire les arceaux d’acier de l’ouvrage d’art. Je braquais désespérément et escaladais le trottoir […].«42 In gewisser Weise fungiert der Regen an dieser Stelle als Steuerelement für den weiteren Handlungsverlauf, denn durch das Schlingern des Wagens rutscht der Tote von der Ladefläche. Dies führt dazu, dass der Tote gefunden und Burma über dessen Identität am nächsten Morgen durch eine Zeitungsnotiz aufgeklärt wird. Die Identifikation der Leiche als der Polizist (Ballin), der nach Jahrzehnten immer noch einen Überfall auf einen Geldtransporter bearbeitet hat, wird für Burma elementarer Hinweis und damit Bestandteil des deduktiven Puzzles. Ferner entsteht durch den Regen ein Bezug zum ersten Kapitel und damit auf meteorologischer Ebene eine Verbindung zwischen den Mordopfern (Ballin und Benoit).43 Diese meteorologische Verbindung ist deshalb bemerkenswert, weil beide Taten in einem Zusammenhang (Geldtransporter) stehen. Dieser kann durch den Regen zur modulierten meteorologischen Dichotomie, mittels derer der Nebel, wie noch gezeigt wird, eine spezifische räumliche, zeitliche und figurenbezügliche (Burma) Funktion ausbilden kann, in Relation gesetzt werden. Diese Struktur wird dadurch angelegt, dass das Wetter für Burma bereits vor dem Betreten des 13. Arrondissements relevant wird. Der Regen zwingt ihn dazu, die Metro zu nehmen: »Il crachinait salement et dès qu’il flotte un tant soit peu, les bahuts se raréfient. Ils doivent rétrécir à l’humidité. […] Je pris donc le métro.«44 Damit bedingt der Regen ein auch metaphorisches ›Hinabsteigen‹ und eine Bewegung auf einer vorgegebenen Strecke ins 13. Arrondissement, ins Quartier von Burmas Jugend – dies parallelisiert den postalischen Ruf aus der Vergangenheit, den Brief von Lenantais, der Burma auf eine bestimmte Fährte lenkt.

4.1.3 Der Regen in Pas de bavards à la Muette Quantitativ liegt der Regenanteil in Pas de bavards à la Muette45 bei ca. 12 %. In diesem Fall ist der Regen explizit an die Figur des Chauffeurs Bénech gebunden und erscheint nur während des Zusammentreffens zwischen Bénech und Burma in Kapitel zwei. Markanterweise lenkt Burma die Aufmerksamkeit – wenn auch mokant – auf dieses Phänomen: »Cet Yves Bénech devait être une variété de tempestaire. Il amenait la flotte avec

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lui et il suffisait de le quitter pour qu’elle cesse.«46 Über den Regen zieht Burma zudem Rückschlüsse bezüglich des Verhaltens der Figur: Burma geht davon aus, dass Bénech schuldig am Diebstahl zum Nachteil von Mme Ailot ist. Wenn nun der Chauffeur Bénech sein Hotelzimmer bei starkem Regen verlässt, so vermutet Burma einen sehr triftigen Grund, und dieser ist für den Detektiv von krimineller Natur: »Il est vrai que l’averse de tout à l’heure […] n’incitait guère à la promenade. Raison de plus pour supposer que si Yves Bénech en entreprenait une, de solides raisons l’y poussaient. Très bien raisonné.«47 Mit diesem Verhalten wird der durch Burmas Klientin Mme Ailot suggerierte Verdacht, bei Bénech handele es sich um einen Juwelendieb, aufgegriffen; d.h. das Wetter befördert den Eindruck einer kriminellen Implikation Bénechs. Der Eindruck bestätigt sich scheinbar, als Bénech eine regennasse Treppe nutzt, um Burma, der ihm beharrlich folgt, hinunterzustoßen und damit abzuschütteln. Mittels des Regens und der mit ihm verbundenen Wetterbewertung48 – Regen verweist auf den schlechten Charakter einer Figur – wird mit den Leseerwartungen gespielt, letztlich werden aber Leserschaft wie Detektiv auf eine falsche Spur gelenkt. Andere mögliche Gründe für Bénechs Spaziergang durch den Regen, wie etwa eine Verabredung mit seiner Geliebten, sind durch die aufgebaute suggestiv kriminelle Verbindung zum Regen überlagert. So führt Burmas scheinbar logische Schlussfolgerung der Wetterfährte in die Irre. Die explizite Verbindung des Regens zu Bénech und zur meteorologischen Spur ist von der suggestiven Wetterdeutung Burmas zu lösen, denn es regnet nur in dem Kapitel, in dem Bénech existent ist. Den meteorologischen Schlüssel zur Lösung des Falls bildet die von Burma explizierte Relation des Regens zu Bénech. Dies geschieht allerdings pointiert expressis verbis, wie der weitere Handlungsverlauf zeigt: An einem Abend führt Mme Ailot Burma in ein leerstehendes Haus, wo er scheinbar Ohrenzeuge des Mordes an Bénech wird. Interessant ist hierbei der meteorologische Informationsgehalt; denn zum vermeintlichen Zeitpunkt des Mordes regnet es nicht mehr. Sobald die Verbindung Bénech – Regen als meteorologischer Hinweis entschlüsselt ist, bildet die Abwesenheit des Regens ein Indiz dafür, dass Bénech zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist und die Szene für Burma als (vermeintlicher) Zeuge des Mordes inszeniert ist. Wie sich herausstellt, steht letztlich Burmas Klientin Mme Ailot selbst hinter dem Mord an Bénech.49 Als in meteorologischer Hinsicht subtil erweist sich damit, dass es nach Bénechs Tod in Kapitel sechs zwar nach Regen aussieht, es aber nicht regnet – dafür wird just an dieser Stelle über den Mord am Chauffeur im Radio berichtet. Der drohende Wolkenbruch scheint sich quasi so lange zu halten, bis Burma erkennt, dass der von ihm gehörte Mord an Bénech eine Inszenierung Mme Ailots gewesen ist, resp. Burma beginnt, den Fall zu durchschauen. Die Darstellung des Wetters nimmt von diesem Moment an quantitativ zwar ab, doch durch den Wegfall des Regens verdeutlicht sich, dass das Wetter Burmas Ermittlung, die nun gezielter geführt wird, parallelisiert: »Les nuages qui, un peu plus tôt, menaçaient étaient allés crever honteusement ailleurs. La nuit commençante était douce; une belle nuit de printemps en perspective.«50 Die Verbindung des Regens zum vermeintlichen ›Unhold‹ Bénech erinnert an die meteorologische Motivverwendung des Schauerromans und nutzt diese; mit der gewollten Irreführung wird diese jedoch torpediert.

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In den hier kurz dargestellten Fällen fungiert der Regen mitunter als Spannungsträger, wirkt sich auf die Raumkonzeption aus oder ist am Aufbau einer meteorologischen Dichotomie beteiligt, eröffnet Verbindungen zwischen Verbrechen, bewirkt eine Aufdeckung der Identität und markiert Figuren auf eine besondere Weise, wodurch ein Spiel mit Leseerwartungen und das Legen einer falschen Fährte möglich ist. Der Regen ist damit mehr als »ambiance et décor«,51 er wird gezielt eingesetzt und verweist darauf, dass das meteorologische Strukturgeflecht sorgsam und kunstvoll aufgebaut ist. Ihre Funktionsbreite reicht vom atmosphärischen Effekt und dem Indiz über die Figurencharakterisierung, die Verwendung als Metapher und die Kontrastierung sowie Parallelisierung der Ereignisse resp. der Figuren bis zur Anthropomorphisierung, wobei das Wetter zum Agent Provocateur werden kann. Besonders an den Stellen, wo das Wetter personifiziert wird, wird es zum eigenständigen Element der Narration. Erweitert werden die direkten meteorologischen Implikationen durch indirekte Formen, etwa als Vergleich oder image. Vielfach findet sich das Wetter zudem in Gesprächen, etwa mit Hélène Chatelain oder als Smalltalkthema zur Erleichterung der Zeugenbefragung durch die detektivische Instanz, sodass es auch indirekt präsent ist. Über ihn deutet sich an, dass jedes Wetterphänomen in einem singulären Kontext steht, d.h. in individueller Verbindung zum Fall, sodass in der Burma-Serie nicht von einem Fall auf eine Generalisierung der meteorologischen Verwendung geschlossen werden kann.52

4.2 Das Wetter am Anfang und am Ende Rohlff determiniert einige Standardelemente für die Anfänge der NMdP53 , darunter die Nennung suggestiver noms référentiels wie in Corrida aux Champs-Élysées (Hollywood, Festival de Cannes zum Aufbau des Filmmilieus), das (mitunter dramatische) Erscheinen einer Klientin oder eines Klienten, durch die Burma einen Auftrag erhält (Fall 1, 2, 4, 5, 8, 10, 11, 13)54 oder das Entdecken einer Leiche als Handlungsauslöser (Fall 3, 14, 15). Die Erzählschablone sowie die ritualisierten Verwendungen von wiederkehrenden Mustern und Motiven bildeten ein Sequenzmuster; so führe sich »zu Beginn jedes Romans […] der Erzähler-Protagonist Burma umgehend als Individuum (›je‹) ein«55 . In diesem Zuge werde die Figur nicht jedes Mal neu vorgestellt, indes ergäben sich vielfach Rückschlüsse auf Burmas Charaktereigenschaften wie Sensibilität, Liberalität und soziale Verantwortung. Rohlff summiert diese als »wesentliche Züge seiner [Burmas] rôle psycho-professionnel, das der Zyklus entwirft«56 . Ferner werde der Schauplatz mittels bekannter Elemente der Stadtgeografie unmittelbar evoziert sowie meist, als effet de réel, Ausschnitte des Stadtplans dem Fall vorangestellt.57 Hiermit findet sich die Einfügung der Karte um den Tatort Lecoqs, die im dritten Kapitel dieser Arbeit thematisiert wurde, auf das primäre Areal der Krimihandlung erweitert. Im vorliegenden Kontext ist die »atmosphärische Situierung«58 als ein charakteristisches Merkmal der NMdP herauszustellen: »eine (jahres- bzw. tages-)zeitliche und darüber hinaus durchgängig atmosphärische Situierung, die sowohl auf die Eröffnungssätze des Modells von Eugène Sue zurückgreift als auch die klassische schwarze Stimmung der hard-boiled novels imitiert. […] Präzise Datumsangaben sind die Ausnahme«59 . Dieser Verweis auf die MdP Sues ist interessant – wobei der Erzähler dort konkrete Datums-

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angaben macht –, da sich in einigen Fällen der NMdP nicht nur die sog. atmosphärische Einstimmung durch die adjektivische Wetterevokation findet, sondern sich eine Verbindung zwischen Wetter und Stadt abzeichnet. Diese erfolgt allerdings weniger nach dem Sue’schen Aufbau der Eingangsszene. Gleichwohl findet sich mithin der Modellcharakter der MdP fortgesetzt. Rohlff fokussiert bezüglich des Wetters in den NMdP auf dessen Primärfunktion für die Atmosphäre, besonders im Rahmen des roman noir, und führt aus: Wetter, Jahres- und Tageszeiten [werden] zur Konstituierung einer schwarzen und feindlichen Atmosphäre eingesetzt. Neben dem nahezu undurchdringlichen Herbstnebel in Brouillard au pont de Tolbiac, der vorzeitigen Dämmerung eines verregnetes Frühlings in Fièvre au Marais und dem tristen, trüben Winter in Micmac moche au Boul’Mich’, die über die gemeinsamen semantischen Merkmale der Undeutlichkeit, Konturlosigkeit und Undurchschaubarkeit mit der zentralen Kategorie mystère verbunden sind, werden auch die Sommermonate mit ihrer lastenden Schwüle und Gewitterneigung in La nuit de Saint-Germain-des-Prés […] oder heißen, nahezu lautlosen Nächten wie in Les rats de Montsouris zu Metaphern der steten Bedrohung. Explizite Erzählkommentare ([…] »printemps pourri« […] »cette immaculée saloperie«) verstärken die instinktive Leserreaktion und sichern die negative Markierung ab.60 Hieraus ergibt sich pointiert, dass jede Wetterlage innerhalb der NMdP bedrohlich wirkt. Daher stellt sich die Frage, wie diese konzipiert sind oder ob dieser Eindruck aus dem architextuellen Rahmen der Gattung Kriminalroman entsteht – bzw. ob dem überhaupt so ist. Zudem, so die hier vertretene These, bieten die Wetterlagen an den jeweiligen Anfängen und Enden mehr als eine Metapher steten Bedrohung: vielmehr stellen sie Verweise zum Fall dar. Dies soll im Folgenden ausgeführt werden.

4.2.1 Das Wetter als Schlüssel zum Fall Burma, der Chronist seiner eigenen Fälle, versäumt es nicht, zu Beginn eines Romans auf die Wetterlage und/oder die Jahreszeit hinzuweisen.61 Quantität und Qualität des atmosphärischen Arrangements variieren hierbei stark zwischen kurzen Einschüben und längeren Passagen. Bereits kleine Verweise in adjektivischer Form, wie »des effluves printaniers«62 oder »un après-midi brumeux de février«63 , genügen jedoch, um eine erste atmosphärische Impression zu erzeugen. Vielfach wird das Wetter unmittelbar in Bezug zu Motiven des Kriminalromans gesetzt; so dringen »effluves printaniers« durch das Fenster der Agentur Fiat Lux oder der nebelige Nachmittag wird direkt mit der Ermittlung verbunden: »[U]n après-midi brumeux, il n’y a, par extraordinaire, qu’une seule femme, chez Fred Baget […]. [E]lle est morte.«64 Daneben finden sich Wetterbeschreibungen von mittlerer Länge, solche, die über einen Absatz reichen oder in der Langform über eine Seite. Diese Textstellen können, so die These, aber nicht nur als atmosphärische Einstimmung in den Roman gelesen werden, sondern haben in einigen Fällen eine tiefere Bedeutung: Sie sind verschlüsselte Hinweise. Der Anfang eines Falls ist bereits durch seinen per se expositorischen Charakter besonders markiert. Diesbezüglich kann mit Torgovnik angeführt werden: »[I]t is difficult to recall all of a work after a completed reading, but climatic moments […] and beginnings and endings remain in the memory and decisively shape our sense of a novel

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as a whole.«65 Handlungsentwicklungen und sukzessiv gewonnene Informationen werden demnach auf den Erzählanfang bezogen und erhalten eine abschließende Wertung durch das Ende. Der Darstellung des Wetters insbesondere in der Exposition und am Ende kann daher eine besondere Signifikanz zugeschrieben werden. Außerdem schenkt der autodiegetische Erzähler der NMdP dem Wetter in einigen Romananfängen quantitativ so viel Aufmerksamkeit wie an wenigen Stellen sonst. Insbesondere die längeren Expositionen zeichnen sich durch die Verwendung raffinierter Bilder aus: Einige wecken positive Assoziationen und Einstimmungen, doch erweisen sie sich bei näherer Betrachtung als hintersinnige Reflexion mit einer humorvollen, ironischen Qualität und zugleich geprägt von Erwägungen des narrateur-je; sie sind mokant und kippen bei genauerer Betrachtung. Vor dem skizzierten Hintergrund kann die Bedeutung bzw. Funktion der Romananfänge in Bezug zum Gesamttext gestellt werden. Diese Textstellen leuchten in den NMdP geradezu fähnchenschwingend auf und verlangen ein genaueres Hinsehen, denn tatsächlich kann der von Torgovnik genannte ›Sinn‹ verbaliter genommen werden. Das Wetter stellt eine Spur dar, die wie bei der detektivischen Ermittlung zu entschlüsseln ist. In codierter Form erscheinen Elemente des Falls oder mitunter der ganze Fall in der Wetterexposition. Das Wetter wird hierbei zum Schlüssel selbst, weil es als meta-narratives Element sichtbar ist und auf die Verwischung von moi-narrateur und moi-narré verweist. Die Verschlüsselung wird im Folgenden anhand eines winterlichen Beispiels aus Micmac moche au Boul’Mich’ sowie der Darstellung im hitzegeprägten Fall La nuit de SaintGermain-des-Prés veranschaulicht.66

4.2.1.1 Sommerhitze – La nuit de Saint-Germain-des-Prés Fall 4, La nuit de Saint-Germain-des-Prés, entwirft seine meteorologische Verweisstruktur bereits vor dem eigentlichen Handlungsbeginn über den Titel. Es sind sowohl die Nächte im Arrondissement Saint-Germain-des-Prés als auch die Figur Germain Saint-Germain, die das Schicksal der Figuren bestimmen. Germain Saint-Germain ist im Quartier nicht nur an vielen Orten in persona oder durch Verweise omnipräsent, sondern scheint durch seine fêtes und soirées für viele der (jüngeren) Figuren die Nacht zu ›beherrschen‹. Die Omnipräsenz Saint-Germains entsteht intentional bereits mit dem Namen selbst, denn Albert Bergougnoux wählt den Namen Germain Saint-Germain als (Autoren-)Pseudonym; hierüber markiert sich nicht nur sein Territorium (Arrondissement), sondern im Nexus des Genres entsteht ein Verweis auf das Spiel der Identitäten. SaintGermain intendiert, direkt und indirekt das Schicksal der Figuren in seinem Umkreis zu bestimmen bzw. zu manipulieren, um ihnen vampirgleich67 das Leben auszusaugen, indem er ihr Schicksal für seine Romane ausschöpft – oder dies zumindest beabsichtigt. Mit der Assoziation Saint-Germains zur historischen Figur des Grafen von Saint-Germain eröffnet sich ferner die Implikation des vampirhaften ›ewigen‹ Lebens für SaintGermain (Bergougnoux) in der wunsch-, fast wahnhaften Identifizierung als ein Autor, der ›Unsterblichkeit‹ durch das Werk erlangt. Über die Figur des Comte entwirft sich außerdem intratextuell wie intertextuell die Relation zum Comte Zaroff.68 Der eigentliche Text beginnt mit einer Wetterexposition, die die starke Hitze des Junis herausstellt und in den Fall einführt:

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Le métro me cracha à Saint-Germain-des-Prés. Je sortis du wagon pour ainsi dire à la nage, tellement je transpirais. C’était une moite nuit de juin avec, suspendu sur la capitale, un orage de Marseille qui menaçait toujours sans jamais passer aux actes. A la surface, il faisait encore plus chaud que dans le souterrain. J’émergeai sur le boulevard […].69 Die Hitze ist das beherrschende Phänomen. Sie bestimmt die physische wie psychische Impression Burmas und transformiert den Stadtraum in die Motivik einer Insel: Die Hitze führt zum taktilen Eindruck des An-die-Wasseroberfläche-Gelangens und Schwimmens (»cracher«, »nage«, »à la surface«, »émerger«) und lässt Burma zum Schiffbrüchigen im 6. Arrondissement werden. Bereits durch das jeu de l’oie ist das Arrondissement ein begrenztes und durch den Fokus herausgelöstes Areal, das mit der Inselmetapher in zweifacher Weise zu einem isolierten Raum wird. Mit dem über allem stehenden, drohenden Gewitter, »suspendu sur la capitale, un orage […] menaçait […] sans jamais passer aux actes«, findet sich eine codierte Anspielung auf die Figur, die den Insel-Stadt-Raum zu beherrschen scheint: Germain SaintGermain. Interessant gestaltet sich hierbei, dass Saint-Germains Unvermögen in der ersten Wetterdarstellung enthalten ist und damit eine Teillösung des Falls; denn nach seinem Romanerfolg will Saint-Germain einen neuen Bestseller schreiben, doch »sans jamais passer aux actes«. Ferner sind die Tatorte bzw. Leichenfundorte impliziert:70 »A la surface, il faisait encore plus chaud que dans le souterrain.« Parallel schließt sich das detektivische Moment der Dualität zwischen Sichtbarem und Verborgenem, das Brodelnde in Form des Gewitters, und damit der Anschein von Bergougnoux sowie die erfundene Geschichte um den Juwelenraub. Von der Hitze und von der Inselmotivik aus entwerfen sich zwei Handlungsstränge, die jeweils eine intertextuelle Relation aufweisen und in der für die NMdP charakteristischen Weise gegen Ende zusammenlaufen: zum einen die Assoziation zu Treasure Island, die sich in Burmas quest durch die Schmucksuche und den Versicherungsdirektor realisiert, zum anderen die intermediale Assoziation zu The most dangerous game/La chasse du comte Zaroff . Analog zur Filmfigur Robert Rainsfort, der als Schiffbrüchiger auf der Insel Zaroffs anlangt, landet Burma auf der ›Insel‹ Saint-Germain(s). Über die Wettermotivik des Gewitters wie der Hitze und der damit verbundenen Inselmetaphorik, die beide das Arrondissement als Machtbereich entwerfen, kann der Schriftsteller Germain Saint-Germain bisweilen mit Zaroff gleichgesetzt werden. Die intermediale Verknüpfung ist spätestens evident, wenn expressis verbis der Film Pichels und Schoedsacks benannt und das repetitive Vorführen von Filmausschnitten während der soirées exponiert wird – markanterweise zeigt Saint-Germain bevorzugt die Jagdszenen und spart das Filmende aus, als ob es nicht stattfinden würde bzw. darf.71 Das, was der Autor Saint-Germain als chef d’œuvre bezeichnet, scil. der Film, ist bereits die implizite Aufdeckung verborgener Teile seiner wahren Identität. Es ist alles nur geklaut – und das in doppelter Hinsicht: Zaroff und Bergougnoux provozieren intentional Schiffbrüche der Figuren, der eine im wörtlichen, der andere im übertragenen Sinn. Während der ennuyierte Zaroff mit dem Gewehr auf Menschen Jagd macht, versucht der vom cineastischen Material inspirierte Saint-Germain seine eigene (Inspirations-)Leere mit der Jagd nach den Geschichten der Figuren um ihn herum zu füllen, und treibt diese analog zu Zaroff in Situationen der psychischen

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Überforderung und Ausweglosigkeit, um seine Beobachtungen literarisch zu verarbeiten. Durch die Wetterdarstellung und mediale Verbindung ist bereits die Thematik des Schiffbruchs und der Menschenjagd impliziert. Eine erste Parallele bietet diesbezüglich auch der Titel, da die Jagden Zaroffs des Nachts stattfinden. Hervorzuheben ist allerdings, dass Burma als Detektiv nicht zum Schiffbrüchigen in der ›Gefangenschaft‹ SaintGermains wird, sondern vielmehr nahezu in detektivischer Umwandlung des Beobachters im Blumberg’schen Sinne derjenige ist, der den provozierten Schiffbruch aufdeckt. Markanterweise wiederholt sich das Wetter der Exposition an späterer Stelle – allerdings unter anderen meteorologischen wie fallspezifischen Vorzeichen. Burma ist auf dem Weg zu Bergougnoux, um den Fall endgültig aufzuklären und Brandonnel als Täter zu identifizieren: C’était une nuit comme toutes celles que nous avions ces temps-ci. Chaude et magnifique. Etoilée. Cette fois, ce ne fut pas à Saint-Germain-des-Prés que le métro me cracha, mais à Vavin. Toutefois, comme l’autre jour à Saint-Germain-des-Prés, je sortis du wagon pour ainsi dire à la nage, tellement je suais.72 An La nuit de Saint-Germain-des-Prés zeigt sich auf besondere Weise die, wie Wilde sie benennt, »Orgie des Irrationalen«73 . Festes Element und intrinsische Motivation des Detektivs ist die Jagd nach der Wahrheit.74 Der Umgang mit dem den Kriminalroman kennzeichnenden Motivkomplex, »dem Motiv logisch-deduktive Enträtselung und das Motiv der Jagd«75 , findet sich auch in den NMdP, vielfach allerdings in irrealer bis surrealistischer Form. Malet spielt mit den Komponenten des Kriminalromans,76 was sich etwa auf eigenwillige Weise an der gebrochenen Form des Motivkomplexes in La nuit de SainteGermain zeigt: Hier wird, angebahnt durch das Wetter, das Motiv der Jagd des Ermittlers auf perfide Art gespiegelt und zur (ge-)doppelten Motivstruktur.

4.2.1.2 Schnee – Micmac moche au Boul’Mich’ Micmac moche au Boul’Mich’ vermittelt eine fast schon psychoanalytisch geprägte Wetterexposition – der psychoanalytische Aspekt kann wiederum auf die surrealistische Implikation bezogen werden: C’était une journée maussade, qui déteignait sur tout. Ciel et moral étaient bas de plafond. Environ trois semaines nous séparaient de Noël, mais le Père Éternel, là-haut, préparait déjà le réveillon des hôtes de sa pension de Sainte Famille. Les plumes et duvets qu’il arrachait du corps des oies tombaient sur Paris. Et ces premiers flocons de neige encore timide seraient suivis d’autres plus hardis.77 Der Roman beginnt kurz vor Weihnachten 1956. Die junge Theaterstudentin Jacqueline Carrier engagiert Burma, weil sie nicht glaubt, dass sich ihr Freund, der Medizinstudent Paul Leverrier, mittels Drogen umgebracht hat. Im Zuge der Ermittlung trifft Burma auf den Vater Pauls, den Gynäkologen Dr. Leverrier. Dieser beteuert, sein Sohn habe Selbstmord begangen, weil er den Tod seiner Mutter drei Jahre zuvor nicht überwunden habe. Burmas Misstrauen ist dennoch geweckt: Er entdeckt nicht nur einen Erpresserring, sondern gerät auch in einen Strudel aus Kriminalität und Morden. Der Kopf der Er-

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presserorganisation, M. van Straeten, beobachtet Fehltritte von angesehenen Personen oder Studenten aus gutem Hause, um sie später, etwa wenn sie in guten geschäftlichen Positionen sind, zu erpressen. Hiervon ist auch Pauls Vater betroffen. Der Sohn (Paul), schwer erschüttert über die Machenschaften seines Vaters und von der Erkenntnis, dass dieser die Mutter ermordet hat, beging tatsächlich Suizid. Vor dem Hintergrund des Falls kann der Romananfang ›entschlüsselt‹ werden. In diesem Sinne ist das Wetter nicht mehr nur informants,78 sondern wandelt sich im Barthes’schen Schema zum kernel.

Abbildung 8: Wetterexposition in Micmac moche au Boul’Mich’

Der Romananfang enthält Elemente, die als Hinweise lesbar sind, scil. auf das Familienleben sowie die vergötterte Vaterfigur (père = Petrus ou Dieu), die über allem steht, und die ursächlich für das Familiendrama ist, das auf alles abfärbt. Der Schnee verweist symbolisch bereits auf die emotionale Kälte der Figur und so befindet sich der Tag, der »déteignait sur tout« alles verändert, der Tag, an dem Dr. Leverrier seine Frau (Pauls Mutter) ermordet, im Wirkbereich des Schnees. Der Tod der Mutter wird zum Auslöser für Pauls Nachforschungen. Als er erkennt, dass der von ihm vergötterte Vater seine Mutter vergiftet hat und in verbrecherische Machenschaften verwickelt ist, kann er dies nicht ertragen und begeht Selbstmord. Der Schnee entspricht hier, über die farbliche Konnotation und die etablierte Metapher, Federn resp. vice versa (»plumes et duvets qu’il arrachait du corps des oies«) und steht symbolisch für die Seele (Himmel, Freiheit), die durch den Mord gewaltsam dem Leben entrissen wird. Die Wetterexposition stellt sowohl das Bild des scheinbar liebevollen Vaters, der bereits gewaltbereit erscheint, sowie den Machtapparat Familie heraus und damit infrage. Im Verlauf des Romans wird deutlich, wie über den Vater die (Familien-)Problematik u.a. aufgrund der Beziehung zu seiner Geliebten, entsteht. Zudem finden sich in der Wetterverschlüsselung die illegalen Aborte von Dr. Leverrier wieder, die u.a. zum Tod einer Jurastudentin führen (oie, das über die Federn mit dem Schnee verbunden ist, steht zwar symbolisch für neues Leben, verweist aber im

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Kontext in pluraler Form auf den Tod). Zudem kann entschlüsselt werden, dass auf Dr. Leverriers erstes, noch von persönlichem Interesse geprägtes Verbrechen weitere und brutalere, »plus hardis« folgen; über die Beziehung zu Van Straeten in der weiteren Lektüre klärt sich sodann, warum. Mit dem Szenen-Synonym ›Schnee‹ für Kokain wird neben dem Familiendrama der Komplex Kriminalität aufgerufen. Wird der Romananfang als Hinweis- oder Orientierungselement verstanden, erleichtert dies das Erkennen von Textstellen, die bspw. als Schaltstellen Hinweise zur Lösung des Verbrechens enthalten und mithin als Schlüssel für das Verständnis der Fallkonstruktion lesbar sind.

4.2.2 Das Wetter am Ende Während in den Fällen der genialen Ermittler Gaboriaus oder Doyles und Christies am Ende weitgehend die Ordnung wiederhergestellt ist, zeichnet sich bereits in den MdP das unhappy end ab. Dies ist nicht zuletzt charakteristisch für den roman noir und realisiert sich ebenso in den NMdP.79 Am Ende bleibt trotz oder gerade wegen der Aufdeckung der Wahrheit ein negativer Beigeschmack oder, wie Burma es formuliert, ein »goût de cendres«80 zurück.

4.2.2.1 Meteorologische Klammer – Micmac moche au Boul’Mich’ Während in fast jedem Romananfang der Burma-Reihe die Wetterbedingungen Einzug in die Erzählung finden, greifen nicht alle Romane das Wetter am Ende wieder auf, sondern nur dann, wenn das letzte Kapitel eine Zusammenfassung darstellt bzw. dort letzte Fragen für Hélène Chatelain oder Faroux (und damit für die Leserschaft) geklärt werden oder etwa das weitere Schicksal der Figuren angeführt wird, wie der ›Unfall‹ von Odette in Fièvre au Marais. Wenn die Naturphänomene einbezogen sind, handelt es sich meist, wie in Du rébecca rue des Rosiers, um einen Satz: »Je démarre et m’enfonce dans la nuit.«81 Teilweise geschieht dies auch in einem kürzeren Absatz, wobei die abschließende Darstellung in Relation zum Fall steht oder einen Aspekt des Falls aufgreift. Manchmal, wie in Micmac moche au Boul’Mich’, bildet sich hierbei eine meteorologische Klammer heraus: Hier verbindet die Textstelle am Romanende über das Motiv der Schneeflocken Anfang und Ende miteinander: »Lentement, lentement, quelques flocons de neige dansèrent devant mes yeux. L’un d’eux échoua dans le fourneau de ma pipe et fondit dans un grésillement bref.«82 Konträr zum Romanbeginn wird kein vom Schnee geprägtes Stadtpanorama aufgebaut; vielmehr verkleinert sich der Fokus auf Burma und das, was direkt in seinen Blick gerät. Durch die hierdurch entstehende visuell und auditiv fokussierte Perzeption des Wetters wird die Aufmerksamkeit auf ein Detail gelenkt, das die im gesamten Fall eingeflochtene Metaphorik zwischen Schnee, Familie und fast religiöser Verehrung im Bild eines schiefen Memento mori aufgreift. Der Tod der Schneeflocke »is metaphoric in this particular novel where the murders are primarily of university students, who seemed to have their whole lives ahead of them«83 . Die junge Schneeflocke kann, wie die in diesem Fall zu Tode kommenden jungen Menschen, nicht mehr Teil der Stadt (und damit des gesellschaftlichen Stadtpanoramas) sein, sie stirbt mit einem allegorischen letzten Aufschrei – dem Suizid Pauls vergleichbar, vorher dem von Burma wahrgenommenen und berührenden »grésillement bref«.

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Parallelisierend zum Fall, der sich sukzessive auf bestimmte Figuren konzentriert, deren Schuldigkeit sich am Ende herauskristallisiert, lässt das letzte Bild nur Fragmente erkennen. Diesbezüglich ist die meteorologisch-farbliche Dichotomie von Anfang und Ende aufschlussreich, denn sie entwickelt sich vom panoramatischen Weiß zu einem fokussierten Schwarz (Dunkelheit und Trauer), in dem das Weiß stirbt. Die Aufdeckung des Falls stellt in diesem Sinne keine Lösung dar, denn am Ende ist die gesamte Familie Leverrier tot – einsam zurück bleiben nur die beiden Geliebten, Lucienne Barboud und Jacqueline Carrier. Dem Schnee kommt, wie am Anfang, keine aussöhnende, freudvolle Wirkung zu,84 sondern er evoziert, resultierend aus den Ereignissen des Falls, ein melancholisches und beklemmendes Bild, mit dem der Roman ausklingt. Die Relationen zwischen den individuellen Schicksalen der Figuren und der Schneeflocke, die ephemerer Teil der Natur ist, suggerieren eine größere, überhöhte Bedeutung des Endes. Das auditiv untermalte Stimmungsbild der sterbenden Schneeflocke drückt aus, was nicht in Worte gefasst werden kann.

4.2.2.2 Sonnenaufgänge – La nuit de Saint-Germain-des-Prés Rohlff zufolge enden mehrere Romane der NMdP mit einem Sonnenaufgang und damit mit einem recht konventionellen Bild der Katharsis, das jedoch (auf der Textebene) an diesen Stellen negiert werde.85 Der Sonnenaufgang als tatsächlich finales meteorologisches Hauptnaturphänomen findet sich in zwei Romanen – was ihn eigentlich, zumindest für die NMdP, als besonders erscheinen lässt:86 In Le soleil naît derrière le Louvre – hier steht der Sonnenuntergang in enger Relation zu den Figuren Geneviève und Burma87 – sowie bei La nuit de Saint-Germain-des-Prés. Den beiden Sonnenaufgängen in diesen Romanen ist gemein, dass bereits zuvor jeweils ein Sonnenaufgang an einer wesentlichen Stelle zugeordnet und mit der Thematik des Falls verquickt wird. In La nuit de Saint-Germain-des-Prés ist dies nach der Präsentation der Filmausschnitte aus La chasse du comte Zaroff, in Le soleil naît derrière le Louvre nach der ersten Liebesnacht mit Geneviève. Die abschließenden Sonnenaufgänge rekurrieren daher immer auch auf Schlüsselmomente des Falles. Durch diese intratextuelle Struktur zieht sich im meteorologischen Bild der Fall zusammen und intensiviert die emotionale Wirkung für Burma. In La nuit de Saint-Germain-des-Prés knüpft der Sonnenaufgang an die fallthematische Implikation, Zaroffs Insel, an, sodass der abrupte Blick auf den morgendlichen Jardin du Luxembourg den Moment der ›Rettung‹ bzw. Befreiung spiegelt und an die Rettung der beiden Film-Protagonisten anbindet; die Insel als locus horridus verliert einen Teil ihres albtraumhaften Schreckens und ist Sinnbild der (Zukunfts-)Hoffnung. Der vom Detektiv erlebte Sonnenaufgang nach der Lösung coram publico und dem Spannungshöhepunkt der Schießerei transzendiert zudem das Motto der Agentur Fiat Lux, weil die mörderischen Implikationen ans Licht gebracht sind, und verweist als symbolisches Motiv der Deduktion auf den Sieg über Saint-Germain, der wie Zaroff stirbt. Durch diese beiden Punkte, Intermedialität und Showdown, wird die Idee des Sonnenaufgangs als kathartisches Moment realisiert. Es ist der einzige Fall, bei dem Burma am Ende lachen muss, was zwar ein sardonisches, aber gleichermaßen befreiendes Moment darstellt. Burma erlebt den Sonnenaufgang als durchaus idyllisch und, obwohl er abschließend einen aristophanischen Kommentar anführt, berührt dieser die positive Apperzeption des Son-

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nenaufgangs nicht: »Et brusquement, je me mis à rire, d’un inextinguible rire nerveux, et qui me faisait mal […]. Bergougnoux, puisque’il manquait de souffle, auait dû embaucher un nègre. Il en avait bien rencontré un, mais le résultat n’était pas fameux…«88 Der Sonnenaufgang verströmt Heiterkeit über dem Grün der ›Insel‹ des Arrondissements; die Sonne und die durch sie bedingte auditive Impression des morgendlichen Gesangs der Vögel erfüllen Burma: »Dans les arbres du Luxembourg, les oiseaux, des centaines d’oiseaux se mirent à chanter, saluant un jour nouveau, un joyeux jour d’été, un jour chaud comme je les aimes.«89 Der Sonnenaufgang suggeriert nicht die Reetablierung einer heilen Welt: Am Ende rekurriert die Sonne von Les rats de Montsouris90 maximal kontrastiv auf die zuvor erlebte Dunkelheit im höhlenartigen Wasserspeicher und die Lebensbedrohung von Burma. Holzmanns Ausführungen zum Sonnenlicht bei Chandler können auf diesen Fall übertragen werden: »Eher schon geht es um einen Empfindungskomplex: Je dunkler die Nacht erlebt wurde, desto heller, aber auch gleißender und trügerischer, zeigt sich die Wirklichkeit bei Tag.«91 Für Burma spiegelt sie die physische Bedrohung und wird schmerzhafter Effekt: »Le soleil qui inondait la cour de sa lueur aveuglante me frappa aux orbites comme un coup de matraque.«92 Gerade die längeren Wetterexpositionen zeichnen sich als zu entschlüsselnde Verweise auf den Fall aus, sie enthalten dergestalt eine deutliche Kontur und entwerfen eine fallspezifische Durchschaubarkeit, die sich als tiefgehender erweist als eine bloße Dekorfunktion behufs einer Bedrohlichkeit. In Micmac moche au Boul’Mich’ oder auch in M’astu vu en cadavre? vermittelt das Wetter die dysphorische Stimmung des Ichs (narrateurje/moi-narré) und löst über die surrealistische meteorologische Impression als leichteste Berührung von außen »unmerklich […] das Gefühl eines ›Berührtseins von innen‹«93 aus.

4.3 Wetter in Paris Für Malet nimmt die Stadt resp. nehmen die Arrondissements von Paris eine Schlüsselrolle bei der Konzeption der NMdP ein: »Ce serait […] le roman en vase clos, mais en plein air.«94 Er verweist damit bereits auf einen basalen Stellenwert des Wetters für die Stadt. Auch die Konzeption der Romanreihe weist in diesem Kontext einen interessanten Punkt auf, denn wenn dem Regen keine absolute Position mehr zukommt, kann vor dem Hintergrund des jeu de l’oie nach einem Nexus zwischen Wetter und Arrondissement gefragt werden. Hierzu folgt zunächst ein Blick auf einige Aspekte der Stadtdarstellung sowie anschließend auf das Zusammenspiel von Wetter und Stadt: • • • • • • •

Paris – Stadtdarstellung Stadt – Wetter Pariser Wettersysteme Paris im Makro-Regen Paris im Mikro-Wetter Pariser Saisondimorphismus Paris und die drückende Atmosphäre der Sommernacht – Corrida aux Champs-Élysées – Nacht in Paris

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4.3.1 Paris – Stadtdarstellung Paris erscheint selten als Ganzes. Die Zergliederung der Stadt apostrophiert einen Bruch der Einheit, wodurch der bereits bei Sue angelegte Gedanke des panoramatischen Blicks eine neue Form erhält: Die Arrondissements werden mit Burma in Form eines jeu de l’oie durchlaufen.95 Hierdurch unterscheidet sich die Konzeption der Stadt von der des hardboiled von Chandler und Hammett, die sich durch eine konsequent räumliche Entgrenzung und eine Nichtbindung an einzelne Teilbereiche der Metropole auszeichnet.96 Mit der Konzentration auf die einzelnen Arrondissements in den NMdP geht eine individualisierte Gestaltung einher, weil jeder Fall einen thematischen Schwerpunkt und eine eigene Art von Delikten besitzt, die von geschichtlichen Hintergründen, sozialen Schichten und Traditionen des jeweiligen Arrondissements geprägt sind. Hieraus ergeben sich mitunter die modi operandi, etwa der Mord durch Ertränken im Weintank im 12. Arrondissement.97 Die einzelnen Arrondissements bilden zwar eine Version des local clos, doch sind sie keine veritablen geschlossenen Bereiche, auch nicht im administrativen Sinne. Dies wird bereits an der Figur des Detektivs offenkundig, da Burma die Grenzen der einzelnen Arrondissements überschreitet und als Grenzgänger im Sinne Lotmans agiert.98 Ferner ist dies in einigen Fällen Hélène Chatelain, aber ebenso Commissaire Florimond Faroux möglich.99 Die einzelnen Bereiche werden darüber hinaus durch die kriminellen Figuren und die Objekte ihrer Begierde zu nationalen und transnationalen Räumen,100 die das scheinbar geschlossene Gefüge untergraben. Die Stadtdarstellung selbst ist mitunter auf Toponyme bzw. Landmarken reduziert, die als kognitive Trigger fungieren. Konkret zur Darstellung der Stadt bzw. der Schauplatzwahl führt Emanuel aus: »Le Paris décrit par Léo Malet, avec toutes ses petites touches sensibles […] n’a jamais été, bizarrement, un Paris ›réaliste‹«, Malet’s portrait of Paris suggests details of everyday French life. The side of Paris that he chooses to portray is not the city of the gentleman-cambrioleur, or even the city of flâneur, but the dark corners, back alleys, and banal habits that most writers of popular fiction were choosing to ignore.101 Entsprechend werden Wahrzeichen wie der Eiffelturm, der Louvre oder ähnliche bekannte Orte nicht zu Handlungsorten, sondern werden, wenn überhaupt, aus der Distanz wahrgenommen.102 Eine Besonderheit der Stadtgestaltung resultiert aus dem künstlerischen Hintergrund und Einflussbereich, denn nach Rohlff knüpft Malet an »den in seinem surrealistischen Umkreis erneut beliebten Mythos des Paris der allgegenwärtigen überraschenden Entdeckungen, der ›mystères‹ […] und ›curiosités‹«103 an. Ein surrealistisches Charakteristikum der Reihe ist die palimpsestartige Überlagerung der Stadt durch historische Assoziationen resp. Anekdoten, die assoziativ und subkonszient Teil von Burmas Gedankenstrom104 sind, während er sich durch Paris bewegt.105 Eine wetterbezügliche Assoziation der Pariser Geschichte zeigt sich an zwei Stellen, gleichsam als meteorologische Stadtdokumentation, wie in Les rats de Montsouris: »Le pluviomètre de Montsouris, qui est le plus bel ornement de la copie du Palais du Bardo érigée dans le parc depuis l’Exposition de 1867 resta sur sa soif.«106 Die Assoziationen zur Meteorologie

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zeichnen sich sowohl durch ihre historische Referenz als auch durch eine Implikation des jeweiligen Falles aus. In Montsouris lanciert der Ort über seine Funktion eine Verbindung zum Mord und das (vermeintliche) Geldversteck im Wasserspeicher, sowie einem ersehnten, aber ausbleibenden (Geld-)Regen.107

4.3.2 Stadt – Wetter Stadtraum und Wetterlage sind per se nicht voneinander zu trennen, wobei das Wetter die Atmosphäre der Orte mitbestimmt. Hierbei ist Burmas Blick meist abhängig von seiner Gestimmtheit, die wiederum vielfach mit dem Wetter verknüpft ist;108 d.h. die Stimmung Burmas beeinflusst die Wetter- und Stadtwahrnehmung und vice versa. Das Wetter lanciert die Atmosphäre in Paris und verleiht der Stadt zuweilen einen leicht surrealen Hauch. In surrealistischer Manier fungieren die Naturphänomene als Trigger, um hinter dem Sichtbaren einen (vergangenen) Ort zu fühlen: »Dans ce quartier tout imprégné d’histoire, où […] fait surgir un souvenir, la nuit […] aux rues […] balayées par une douce brise, et il me semblait vivre à une époque révolue.«109 Darüber hinaus löscht das Wetter als natürlicher Prozess Teile der Stadt aus, etwa durch Erosion, oder lässt sie ganz verschwinden: »bouffé par le temps, la pluie et le soleil«110 . Hier zeigt sich das Wetter wirkmächtig auf die Stadt. Die ambivalente Wirkungsweise, dependent von der Apperzeption, lässt sich gut durch die Kombination von Nacht und Nebel und ihr Spiel mit Stadtausschnitten veranschaulichen. In Les rats de Montsouris wandelt sich der gleiche Ort in seiner Gestimmtheit zwischen den Polen von Sonnenschein zu Dunkelheit/Nebel und von sicher zu bedrohlich/bösartig: »Des coins pépères, inoffensifs et débonnaires sous la franche clarté du soleil, mais que les ténèbres transforment, rendent inquiétants, étranges et hostiles…«111 Mit der gleichen Kombination von Naturphänomenen wird bspw. in M’as-tu vu en cadavre Humor erzeugt und städtischen Institutionen ein ironischer Seitenhieb verpasst: »Nous passâmes devant la Ferme Saint-Lazare, lugubre comme tout, avec l’enseigne en saillie d’un hôtel louche, autour de laquelle la brume dessinait un halo […].«112 Neben der destruktiven oder dysphorischen Wirkung erhalten einige Orte durch das Wetter eine Erhabenheit wie in Fièvre au Marais: »Dans ce quartier […] la nuit et la tranquillité conféraient une étrange solennité aux rues désertes balayées par une douce brise.«113

4.3.3 Pariser Wettersysteme Aus der besonderen Bedeutung, die in den NMdP der Stadt, aber auch den einzelnen Arrondissements zugeschrieben wird, können zwei Perspektiven abgeleitet werden: I. auf Paris in seiner Gesamtheit sowie II. auf jedes Arrondissement als singulärer Teilbereich. In Verbindung zum Wetter müssten beide Perspektiven als Basis für ein Wettersystem fungieren können. Aber die Wahl der Perspektive hat Konsequenzen für die Wirkung des Wetters auf die Stadt und ihr Zusammenspiel.

4.3.3.1 Paris im Makro-Regen Die erste Perspektive beleuchtet die Stadt als Gesamtkonzept innerhalb der Serie unter dem Einfluss des Regens und knüpft an die Ausführungen von Rohlff an. Rohlff geht,

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wie bereits erwähnt, davon aus, dass der Regen die Wetterlage innerhalb der NMdP darstellt, und konstatiert apodiktisch: »Schönes Wetter ist eher die Ausnahme […], Regen die Norm.«114 Zudem führt sie den Nebel als ein weiteres substanzielles Wetterphänomen an. Rohlff betrachtet in Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris in der Tradition von Kriminal- und Parisroman die Wirkung des Wetters auf die Stadt und nimmt diese dabei im Ganzen in den Blick: Oft fördert der Nebel[] die illisibilité der Stadt und trägt wesentlich zu einer negativen Markierung des Stadtbildes bei. […] Wesentlicher für Malet ist jedoch die Tatsache, daß Formen und Sinn des Stadtuniversums wortwörtlich im Nebel verschwinden. Die Stadt verliert sich darin und entzieht sich dem Betrachter. An ihre Stelle tritt eine unergründbare und feindliche Welt, in der Unsicherheit und Angst vorherrschen […]. Dasselbe gilt für den Regen. Im roman noir regnet es so gut wie systematisch […]. Manchmal wächst er zu einem Unwetter an, in dem die Stadt einmal mehr untergeht […]. Es handelt sich hier nicht nur um das Bild einer beunruhigenden und feindlichen Stadt, sondern vielmehr um die Darstellung einer Stadt, die selbst flüssig wird, sich auflöst und zerrinnt, bis nichts Festes, Greif- und Lesbares übrig bleibt. Das Thema einer pathologischen Erosion des Stadtuniversums […] Flauberts […] setzt Malet schlüssig fort. […] Die Stadt verfault, wird übel riechend und abstoßend […].115 Hieraus lässt sich folgern, dass in den NMdP der Regen auf die topografische, topologische und letztlich die semantische Ebene der Stadt Einfluss nimmt; durch ihn kommt es zu einer Transformation der Stadt und letztlich zu ihrer Auflösung. In den NMdP evoziert die Transformation, die Liquidierung und Auflösung, eine ästhetisch-surrealistische Implikation – ad nihilum. Regen und Nebel als elementaren Wetterphänomenen bzw. Wetterlagen kommt damit für die Konzeption und Bedeutung der Stadt eine zentrale Rolle für ihre Liquidierung zu.

4.3.3.2 Paris im Mikro-Wetter Für das Mikro-Wetter in Paris, d.h. nicht als Ganzes unter einer Gesamtwetterlage, sind zwei Konstituenten bestimmend: die Arrondissements sowie die übergeordnete Fallthematik. Die besondere Bedeutung der Stadt für die Konzeption der Serie wurde bereits eingangs mit einem Zitat von Malet aufgezeigt: […] devant le paysage parisien qui s’offre à ma vue […] L’idée me vint d’une série de romans policiers se passant chacun dans un arrondissement, sans en franchir les limites administratives. Ce serait – paradoxe – le roman en vase clos, mais en plein air 116 . Mit dieser Konzeption rücken die Arrondissements als geschlossene Bereiche in den Vordergrund. Hierzu wurde bereits festgehalten, dass sich jedes Arrondissement durch besondere Charakteristika auszeichnet, die sich etwa als individuelle Form des Verbrechens oder als Themenkomplex eines Falls niederschlagen.117 Hieraus ergibt sich die These, dass das Wetter für jedes Arrondissement und damit für den jeweiligen Fall mit seinem übergeordneten Thema konzipiert ist. Um dieser Annahme nachzugehen, wird zunächst ein Blick auf die Wetterverteilung u.a. am Beispiel des 13. Arrondissements geworfen. Sodann erfolgt ein Blick auf die Saisonalität. Hierzu wird exemplifizierend das

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Zusammenspiel von Wetter und Stadt an Corrida aux Champs-Élysées skizziert.118 Abgeschlossen wird das Kapitel mit einer Betrachtung der Saisonalität im Kontext zur Nacht in den NMdP. Bei einer Einzelbetrachtung offenbart sich, dass bestimmte Wetterphänomene aus einzelnen Stadtarealen ausgeschlossen sind, wie etwa der Regen aus dem 2. Arr. (Des kilomètres de linceuls) und dem 8. Arr. (Corrida aux Champs-Élysées) oder, in Burmas Perspektive, die Sonne aus der Rue de la Saïda (Les eaux troubles de Javel) und ad interim aus dem 13. Arr. (Brouillard au pont de Tolbiac). Andere meteorologische Phänomene hingegen erscheinen (fast) ausschließlich in einem Arrondissement, wie etwa der Schnee in Micmac moche au Boul’Mich’ oder der Nebel in Brouillard au pont de Tolbiac.119 Durch den Ich-Erzähler Burmas werden Stadt und Wetter wahrgenommen und dargestellt.120 Die Stimmung Burmas beeinflusst die Wetter- und Stadtwahrnehmung und vice versa.121 Durch die teilweise expressis verbis markierte Singularität einzelner bzw. spezifischer Naturphänomene (bspw. in Brouillard au pont de Tolbiac, Les eaux troubles de Javel oder Micmac moche au Boul’Mich’) erscheinen diese als besonders. Hierdurch wiederum, so steht zu vermuten, kommt ihnen im jeweiligen Fall eine Bedeutung resp. Funktion zu. Dies soll im Folgenden an einem Beispiel aus Fall 9 sowie ausführlicher an Fall 8 exemplifiziert werden. Die besondere Hervorhebung betrifft dezidierterweise etwa das Humiditätsereignis Nebel (Brouillard au pont de Tolbiac). Über die Wetterapperzeption wird Burmas negative Sicht auf das 13. Arr. deutlich, denn er schließt ein elementares Wetterelement aus und konstatiert meteorologisch-lokal determinierend: Sale coin, nom de Dieu! Je n’y viendrai donc jamais un jour où il y aura du soleil? Nous arrivons Place d’Italie. Un brouillard sournois, à l’image de quelques ombres que l’on surprenait à s’engager furtivement dans le boulevard de la Gare, s’effilochait aux branches dégarnies des arbres du square central et des terre-pleins en bordure.122 Der im 13. Arr. vorherrschende Nebel, der den Stadtteil bedrohlich erscheinen lässt und zunächst zu seiner Unlesbarkeit führt, korrespondiert mit der individuellen Disposition Burmas, scil. der Verdrängung seiner Jugend, und deren Verbindung zum aktuellen Fall. Tatsächlich erweist sich die Wirkung des Nebels auf die Stadt abhängig von Burma. Erst durch ihn erhält der Nebel eine metaphorische Qualität, die ausschlaggebend für die Wirkung auf den Ort ist. Pointiert ließe sich formulieren, dass der Nebel eine externalisierte Gefühlswetterlage darstellt, die sich über das Stadtbild legt. Deutlich wird Burmas symptomatische Wetterwahrnehmung besonders an der Veränderung. Erst als sich Burma seiner Vergangenheit stellt, können sich Wetter und dessen Apperzeption verändern. Erst damit ändert sich die Wahrnehmung des Viertels: Il faisait frisquet, mais on n’aurait certainement pas de brouillard, aujourd’hui. […] Un soleil jaune léchait les acacias décharnés de la rue de Tolbiac. Des passants pressés allaient à leurs occupations. Comme partout ailleurs. […] C’était un arrondissement, un quartier semblable aux autres […].123

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Burma erkennt durch den Sonnenschein, dass das 13. Arr. ein Viertel ist wie jedes andere. Die singuläre Wetterlage wird an dieser Stelle aufgelöst und führt zu einer veränderten Wahrnehmung und einem Konnotationswandel für den Protagonisten. Das Wetter in diesem Arrondissement ist mithin nicht arbiträr, sondern von individueller bzw. subjektiver Signifikanz für die Figur – und für die meteorologische Transzendierung des Falles selbst. Saisondimorphismus Das Wetter unterliegt einer saisonalen Dependenz von den Jahreszeiten, die auch in den NMdP nicht aufgehoben wird. Besonders die Frühlingsfälle zeichnen sich immer wieder durch Burmas positive Wahrnehmung der Wetterlagen aus und verleihen der Stadt etwas Heilsames und Anziehendes: So dringt in Burmas Büro in der Rue des Petits-Champs124 ein »rayon de soleil printanier […] par la fenêtre ouvert«125 ein oder bringt »des effluves printaniers […] dans les locaux de l’Agence Fiat Lux«126 . Bei diesem frühlingshaften und sommerlichen Wetter hält es Burma nicht in der Detektei und die Außenräume von Paris werden zum Ort der Fallreflexion mit Hélène. Auf diese Weise ist Paris in den Frühlings- und Sommerfällen verstärkt Raum der gemeinsamen Deduktionsarbeit und fungiert als Interaktionsbereich. In diesem doppelten Sinne ist auch Hélène Chatelains Reaktion auf Burmas Frage zu verstehen: »Qu’est-ce qu’on fait, poupée jolie? Cinéma ou bois de Chaville ? – Je préfère le cinéma […]. Au printemps, Chaville est dangereux.«127 Es lohnt sich daher der Fokus darauf, wie sich die Themen saisonal verteilen. Die meteorologischen Dokumentationen durch Burma gleich zu Beginn der einzelnen Romane ermöglichen die Zuordnung fast jedes Falles zu einem Monat. Ausnahmen bilden Juni und November, da hier zwei Fälle situiert werden, und die Monate August und September, in denen kein Fall spielt.128 Zwar bleibt bei einigen Fällen eine explizite mensuale Nennung offen, eine jahreszeitliche Einordnung ist jedoch so gut wie immer möglich:129 sieben bzw. acht der fünfzehn Fälle spielen im Frühling und Sommer. Bemerkenswert ist, dass sich einige der Fälle durch die betont intensive sommerliche Wetterlage von den anderen Fällen der NMdP abheben (Fälle 4, 5, 7). Sie erscheinen, abgesehen von der Oktober-Unterbrechung durch M’as-tu vu en cadavre?, in den Jahren 1955/56 direkt nacheinander und mit ihnen (La nuit de Saint-Germain-des-Prés) wird die numerische Reihenfolge der Arrondissements aufgegeben. Fièvre au Marais endet mit frühlingshaften Sonnenstrahlen und bildet meteorologisch den Übergang zu den Sommerfällen.130 M’as-tu vu en cadavre? spielt aber in einem Oktober, der gleich zu Beginn als sehr mild beschrieben wird und in dem »des derniers prolongements de l’été«131 für einen nächtlichen Spaziergang am Kanal von Hélène und Burma genutzt werden, sodass eine meteorologische Anknüpfung an den Sommer entsteht. Auffallend ist die Gemeinsamkeit dieser Fälle, durch die sie als kleinere Einheit innerhalb der NMdP erscheinen: Sie befassen sich nacheinander mit verschiedenen künstlerischen Bereichen:132 Literatur, Malerei, Gesang und Cineastik. Während die meisten Täterfiguren in den anderen BurmaFällen durch Motive pekuniärer Art getrieben sind, zeichnen sich die Täterfiguren der Sommerfälle durch perfide (Tat-)Motive aus, die in einem Konnex zu einer (tief verwurzelten) identitären Krise stehen, wie etwa Germain Saint-Germain oder Mme Gaudebert und ihr Kindheitstrauma.

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Paris und die drückende Atmosphäre der Sommernacht – Corrida aux Champs-Élysées Das Zusammenspiel von Arrondissement, Thematik und Wetter zeigt sich bei anhaltender Hitze in Corrida aux Champs-Élysées, im 8. Arrondissement.133 Die Hitze des Sommers spielt in diesem Fall mit der Thematik der Cineastik zusammen, beides wird unter dem Fokus von Künstlichkeit, Schein und Sein, Leben und Vergänglichkeit bzw. Tod verhandelt. Vor diesem Hintergrund wirkt sich Burmas Apperzeption des Wetters auf die Stadtwahrnehmung aus. Bereits der Beginn des Romans fällt in dieser Hinsicht durch seine Darstellung des Sommers auf und fungiert konzeptualisierend: Le soleil de juin baignait les Champs-Elysées, faisant étinceler les carrosseries des somptueuses bagnoles, qui coulaient en un flot ininterrompu. Les trottoirs étaient noirs de monde et de la terrasse […] Les arbres, les gens, les choses, tout respirait la joie de vivre. Quatre étages plus bas, juste devant le Cosmopolitain-Hôtel, on avait ouvert récemment un chantier […] Il est évidemment plus chic de turbiner qu’à Ménilmuche, même si on n’a pas droit qu’à un regard vaguement curieux de la part des belles promeneuses. […] Et voilà! Elle était partie. Je ne la reverrais certainement jamais. Never more, comme on dit dans sa langue. Un peu de son parfum flottait encore dans la pièce, mais il serait bientôt dissipé.134 Die Sonne in Corrida aux Champs-Élysées evoziert prima facie ein heiteres Bild, als Burma und Marc Covet auf dem Balkon des Cosmopolitan-Hôtel sitzen. Für den wissenden narrateur-je ist die Perspektive von oben eine doppelte; er blickt nicht nur auf die Stadt hinunter, er blickt auch auf die Ereignisse zurück. Gerade aus dieser Retrospektive ist es möglich, die Schönheit des Sommers zu hinterfragen und die meteorologische Gestimmtheit entsprechend zu prägen. Bereits an dieser Stelle entsteht ein deutliches Netz aus Sommer, Sonnenschein, Temperatur, Stadt und dem Blick Burmas. Es zeigt sich indes ebenso die Wirkung des Wetters auf Facetten der Stadt bzw. des Stadtlebens: Die Sonne lässt die Luxusautos funkeln und verleiht ihnen mehr Glanz. Sie erscheinen ferner nicht einzeln, sondern bilden eine Einheit, die in das Bild des Flusses übersetzt wird. Sie können aber nicht wie das Wasser der (natürlichen) Seine kühlen, sondern steigern implizit die Hitze als artifizieller Fluss; die Baustelle stürzt Paris expressis verbis ins Chaos und trägt zu einer Negativierung des Sommers bei.135 In diesem Kontext wirkt, im Moment, da alles voller Lebensfreude scheint, diese Contradictio als Kontrast nicht nur auffallend, sondern geradezu präfigurierend.136 Die Konstituenten des Zusammenspiels von Hitze des Sommers und cineastischer Thematik ziehen sich weiter durch den Fall und wirken sich über Burmas Apperzeption des Wetters auf die Stadtwahrnehmung aus. Dies lässt sich bspw. an der Darstellung resp. Apperzeption des Wetters und der Stadt während eines Abendspaziergangs Burmas mit dem Journalisten Marc Covet veranschaulichen: Nach der gemeinsam besuchten Filmpremiere herrscht die drückende Atmosphäre einer Sommernacht: Pas un pouce d’air, comme on dit. Les arbres sous lesquels nous passions s’érigeaient dans une immobilité de décor de théâtre. […] Aucune fraîcheur n’en montait. Dans la perspective, les signalisations vertes et rouges du Pont des Invalides se reflétaient en zigzag […], dans l’onde noire [Seine]. A intervalles réguliers, le phare tournant de la tour Eiffel balayait le ciel clair de Paris.137

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Die Natürlichkeit von Flora, Fauna, Nacht und Stadtraum wird auf den Ebenen (oben und unten) Erde, Atmosphäre und Himmel auf plurale Weise aufgehoben. Durch die Reziprozität von Naturphänomenen und Stadt entsteht eine spezifische Wahrnehmung: Die Stadt bzw. der Raum wird als Inszenierung erkennbar. Die Nacht an den Champs-Élysées wird durch die künstlichen Lichter zum Tag, die Bäume recken sich wie kulissenhaft zum Himmel. Die Naturelemente, Wasser und Himmel, werden durch die künstlichen Lichter der Stadt beleuchtet und in Szene gesetzt, wodurch fast alles andere in vollkommener Dunkelheit versinkt. Der Himmel ist seiner eigenen Schönheit beraubt und nur noch artifizielle Folie, indem er durch die Scheinwerfer des Eiffelturms (wie eine vedette) beleuchtet wird. Die Luft steht und erhält durch den Fluss keine erfrischende und belebende Humidität; die Seine ist wie der Himmel Projektionsfläche für die Farbreflexe. Auffallend erscheint die stehende Luft, sodass trotz der Lichtreflexe und Beleuchtungsinszenierung der Anschein von Zweidimensionalität entsteht, was den Eindruck einer kinematografischen Perspektive verstärkt. Die Naturphänomene verwandeln den Stadtteil in einen Schauplatz, der durch die Figur als Kulisse eines Films, d.h. einer Inszenierung flagrant wird. Diese Stadtwahrnehmung bildet den Rahmen für Burmas Ermittlung im Filmmilieu. Das Wetter fungiert als Inszenierungseffekt für die Figuren, die außerhalb des Films in der Filmwelt auftreten. Die hier meteorologisch geprägte Stadtwahrnehmung nach der Filmpremiere, bei der Burma bereits auf die ›Täterin‹ traf, ist retrospektiv als Hinweis auf den Mord als (inszenierten) Selbstmord lesbar. Insofern stellen Wetter, Stadt und Thema fallspezifische Konstituenten dar, die entschlüsselt werden müssen.138 Saisonale Farbgestaltung Durch saisonale Konzeption der Fälle entsteht quasi ein Saisondimorphismus, der nicht nur Einfluss auf Burma nimmt, sondern zudem die farbliche Komposition der Stadt beeinflusst, die vielfach subkonszient die Atmosphäre bestimmt: Die großen »Farbflächen«, die durch Straßenlaternen entstehen, deren Licht sich in den dunklen, nassen Straßen der Stadt spiegelt und eine resignative Schwarz-Weiß-Impression evozieren, finden sich vorrangig in den Herbst- und Winterfällen.139 Die Verbindung der Naturphänomene zu künstlichen Lichtern setzt gezielt einige Orte der Stadt etwa in ein expressionistisches Fluidum, steht wie in M’as-tu vu en cadavre? (Oktober) in Relation zum Fall. Die ästhetische Bedeutung des Lichts als Moment der Inszenierung thematisiert Clara Nox dezidiert in M’as-tu vu en cadavre? als Teil ihrer Auftritte und damit auch als Teil ihres Selbstwertgefühls; Selbstwertgefühl, Nacht, Licht und Schatten werden für sie Ausdruck ihres Innersten. Wetter und Licht verbinden sich gerade in diesem Fall und werden inszenatorischer Verweis auf den Täter: »Sous la flotte qui s’irisait, le nom de Gil Andréa continuait à s’allumer et s’éteindre […] comme un gigantesque clin d’œil équivoque.«140 Das Zusammenspiel von Licht und Regen hat weniger eine atmosphärische Funktion, sondern dient vielmehr dazu, eine Spur auszubilden. Ein Regen-Licht-Effekt findet sich in Pas de bavards à la Muette während des ›Spaziergangs‹ mit Bénech. Der Effekt ist hier im Frühling ausschließlich mit der Figur des »Korrigan«141 verbunden: »Les trottoirs mouillés luisaient sous les globes électriques. De-ci de-là, quelques rais de lumière filtraient à des fenêtres. Mais il n’y avait personne en vue de la perspective. […] par une nuit de printemps.«142 Das Licht unterstützt die

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Dynamik der Situation und ruft dabei eine kinomorph-ästhetische Erfahrung auf, die durch die Erzeugung der Perspektive pointiert wird. Durch den Regen entsteht zudem ein Schwarz-Weiß-Eindruck, der dem ersten Anschein nach dem (inszenierten) Fall entspricht. Durch das saisonale Gefühl Burmas und die impliziten Lichtverhältnisse in Frühling-/Sommerfällen wie Corrida aux Champs-Élysées, in dem es nicht regnet, wirkt die Stadt polychrom und weiträumig: so auch im Sommerfall Corrida aux Champs-Élysées: »Pas un pouce d’air […]. Dans la perspective, les signalisations vertes et rouges du Pont des Invalides se reflétaient en zigzag […], dans l’onde noire [Seine]. […] [L]e phare tournant de la tour Eiffel balayait le ciel clair de Paris.«143 In einigen Fällen finden sich verstärkt polychrom-pointilistische,144 fast magische Eindrücke etwa in Boulevard… ossements und dort in den Parkanlagen oder über den Dächern von Paris: Tous deux accoudés de la barre d’appui de la fenêtre, nous offrons notre visage au nocturne vent printanier de Paris qui glisse sur les toits. Au-delà d’une forêt de cheminée, en direction de la gare Saint-Lazare, le ciel change alternativement de teint: il rougeoie, verdoie etc. selon que s’allument ou s’éteignent telles et telles enseignes lumineuses de la place du Havre.145 Nacht in Paris Obzwar die Nacht nicht direkt Teil des Wetters ist, beeinflusst die Saisonalität die Funktion und Wahrnehmung der Nacht in den NMdP. In den NMdP, stellt Rohlff fest, zeichnen sich einige Orte als bevorzugte Schauplätze der Handlung ab, etwa die »verlassene Straße« oder das »unheimliche Viertel«. Rohlff weist auf die negative Konnotierung dieser Topoi durch die Verbindung zur Nacht hin, denn »nachts […] wird die Straße ihrer eigentlichen Bestimmung nicht mehr gerecht, zeigt sich gespenstisch, düster und menschenleer«146 . Basal ist die nächtliche Absenz von Personen im Stadtraum nicht ungewöhnlich, ebenso wie eine hieraus resultierende emotionale Wirkung. Auch für den Ich-Erzähler evozieren nächtliche, verlassene Straßen ein beklemmendes und bedrohliches Potenzial, wie sich am Beispiel der Rue Watt zeigen lässt: »C’est sinistre, surtout entre chien et loup, un jour de novembre. On y éprouve une désagréable sensation d’étouffement, d’écrasement.«147 Das Erleben der nächtlichen Straße lässt sich als Ausdrucksmittel innerer Befindlichkeit, der Verlorenheit des Protagonisten in der nächtlichen Metropole lesen. Es ist hier aber auch die Tatsache, die mit dem spezifischen Modus der Wahrnehmung zusammenhängt, denn die Rue Watt ist der Tatort des Mordes an Burmas Vegetalierfreund Benoit. Aber während die Nacht einigen Straßenzügen das Leben nimmt: »ce quartier qui cesse de vivre dès la nuit venue«148 , bieten andere Schutz vor dem Wetter und Seitenstraßen werden in der Sommerhitze zur »oasis de fraîcheur et de tranquillité«149 . Auch dies legt, entsprechend der meteorologischen Konzeption des jeweiligen Falles, eine Wechselwirkung der Nacht mit dem Wetter nahe. Die Zusammenführung von Arrondissement und Naturphänomenen scheint auf eine reziproke Wirkung zu verweisen, dies führt in Extremfällen, wie in Des kilomètres de linceuls dazu, dass einzelnen Straßen bspw. durch die Nacht das Leben entzogen wird: »Par les rues désertes et obscures de la partie de ce quartier qui cesse de vivre dès la nuit

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venue, nous dirigions vers le domicile de Lévyberg.«150 Gerade in Des kilomètres de linceuls und in Du rébecca rue des Rosiers könnte die Nacht in Verbindung zum von Malet als ›Nebelersatz‹ und mit Schrecken verwobenen Blackout der Okkupationszeit mit seiner metaphorisch omnipräsenten Bedrohung und den düsteren Eindrücken der Stadt gebracht werden. Essenziell hierfür ist aber gerade die fallthematische Relation zum jüdischen Viertel, zu Verrat, Deportation und Tod. Dies zeigt sich deutlich an der divergenten Bewertung derselben Nacht durch Burma in der Agentur Fiat Lux, d.h. in einem anderen Arrondissement; hier nimmt er sie wahr als »[u]ne nuit calme et sereine«.151 Entsprechend lässt sich fragen, wie die nächtlichen Straßen im Nexus der Deduktion potenziell funktionalisiert werden. Malet selbst formulierte als eine historisch bedingte Konnotation der Nacht die absolute Dunkelheit während der Okkupationszeit: »[…] le black-out de l’Occupation. Paris sans voitures était très impressionnant: cette atmosphère lourde, à peine troublée par les patrouilles allemandes, ce noir absolu«152 . Alfu befasst sich mit der Einbindung der Nacht im Nexus der Okkupation und stellt eine Omnipräsenz der Nacht bei Malet fest; gerade in den ersten Romanen, aber auch während Burmas gesamter Karriere sei dieses »décor« präsent und durchzogen von »le climat ambiant de l’Occupation, avec ses couvre-feux, ses black-out«153 . In der Folge konstatiert Alfu: »[B]eaucoup d’enquêtes de Burma commencent la nuit et se terminent la nuit.«154 Die Referenz zur Okkupationszeit mit ihren spezifischen Schrecken und Bedrohlichkeiten kann damit als intendierte Assoziation bzw. als potenzielle Modulation der sekundärmotivischen Ebene betrachtet werden. Doch wie sieht sie innerhalb der NMdP konkret aus? Wie viele Fälle beginnen bzw. enden in der Nacht? Der Roman Du rébecca rue des Rosiers ist hier zunächst hervorzuheben, weil er durch die Fallthematik de facto durchgängig einen Bezug zur Okkupationszeit aufweist und mit einer nächtlichen Steinigung am jüdischen Mahnmal endet.155 Dieser resultiert aber primär aus dem Nexus des dezidiert historisch geprägten Fallhintergrunds.156 In Du rébecca rue des Rosiers sind es Wind, Regen und die Nachtstunden, die dafür sorgen, dass von Zeit zu Zeit die Straßen leer sind: »Dans la rue du Bourg-Tibourg désert, lavée pas la pluie, aucun passande ne se hasarde.«157 Das Phänomen der leeren Straße steht in den NMdP in der Regel in einem fallspezifischen Kontext: Die leere Straße in Du rébecca rue des Rosiers erleichtert den unbemerkten Einstieg in ein Haus und in der Folge das Auffinden der Leiche Bramos. Der Aufenthalt in der Straße und ihre Leere scheinen in diesem Moment nicht zuletzt für die Ermittlung bzw. Handlung konzipiert. Ähnlich verhält es sich in Pas de bavards à la Muette, Fièvre au Marais, Des kilomètres de linceuls oder in Brouillard au pont de Tolbiac, wo ein nächtliches geplantes bzw. ungeplantes Zusammentreffen jeweils den Ausschlag für die Ermittlung gibt. Für die übrigen 14 Fälle der NMdP (außer Du rébecca rue des Rosiers) lässt sich fragen, ob die Verknüpfung mit der Zeit um 1954/59 in Romanen, die zwar immer wieder, aber nicht durchgehend einen Bezug zur Okkupation aufweisen, wirksam ist. Hier zeigt sich, entgegen der Feststellung Alfus für die NMdP, dass dies nur auf fünf Romananfänge zutrifft,158 die nachts beginnen – ohne jedoch bei Nacht zu enden. Bei drei von ihnen scheint im letzten Kapitel die Sonne. Dies könnte aus einem kriminalromantechnischen Aspekt und dem Motto des Fiat Lux resultieren. Nur drei (andere) Fälle der NMdP (Nr. 8, 13, 14) enden während der Nacht.

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Hinzu kommt, dass in den 1950er-Jahren ein gesteigertes Bedürfnis nach positivem Empfinden zum Ausdruck kommt, sodass gerade die Zeit des Pariser Après-Guerre nicht nur das Gefühl der années folles, der 1920er, aufgreift, sondern dies noch steigert – das Leben dehnt sich regelrecht in die Nacht aus. Dieses Bedürfnis nach heiterer Stimmung und Vergnügen spiegelt sich in einigen Bänden der NMdP deutlich wider. So zeichnen sich die Nächte in St. Germain durch reges Treiben, lärmende Menschenmengen und volle Caféterrassen aus. Die Atmosphäre der flirrenden Stadt wird kontrastiv verstärkt, indem Burma eine weniger belebte Seitenstraße als kühle Oase der Ruhe159 erscheint. Und im 8. Arrondissement wird die Nacht (fallthematisch) durch künstliches Licht entzaubert, die Nacht zum Tag gemacht und voller Leben präsentiert.160 Wenn die Straße bzw. das Quartier der Funktion als Kontaktzone nicht entspricht, dann, so steht zu vermuten, weil die Naturphänomene zum einen dafür sorgen, dass der Raum der (Ermittlungs-)Handlung untergeordnet wird, zum anderen aufgrund der Wetterlage selbst. Dies lässt sich aus der Beobachtung ableiten, dass die Pariser Straßen in den NMdP des Nachts nicht grundsätzlich menschenleer sind, sondern dies saisonal variiert. Gerade frühlingshafte und sommerliche Wetterlagen beleben das nächtliche Stadtbild: Sie wirken anziehend auf die Figuren, und in den warmen Nächten ist die eine oder andere »terrasse illuminée pleine de […] amateurs de soirs printaniers«161 , zu denen auch Burma zählt. In den Sommerfällen des 6. und 8. Arrondissements sind die Straßen, Cafés und Plätze voller Nachtschwärmer, die das Viertel beleben und eine Geräuschkulisse evozieren, die den Stadtraum erfüllt. Dergestalt stellen gerade nächtliche Stadtorte bspw. in Corrida aux Champs-Élysées oder La nuit de Saint-Germain-des-Prés den Kontaktbereich der Figuren.162 Dies scheint ein Hinweis nicht nur für die saisonale Gestaltung der NMdP, sondern auch für ein Zusammenspiel von Wetter, Fall und Arrondissement zu sein. Hinzukommt der surrealistische Rahmen, in dem die NMdP stehen; denn gerade die Surrealisten entdecken die Nacht wieder zum Flanieren und werden zu Nachtschwärmern. Eine Besonderheit des Wetters in den NMdP liegt darin, dass ein eigenes Klimasystem aufgebaut wird, das mit dem scheinbaren Paradoxon des vase close en plein air entsteht, sodass jedes Arrondissement über ein eigenes Wettersystem und eine eigene meteorologische Faktur verfügt.163 Diese Faktur und Gestaltung ist mit historischen, sozialen oder kulturellen Spezifika des Arrondissements sowie der damit verknüpften Fallthematik verbunden.164

4.4 Das Wetter und die Deduktion Als Detektiv ist es Burmas Aufgabe, Fälle zu lösen – nicht immer mit Auftrag, sondern zuweilen auch aus persönlichem Interesse. Als detektivische Instanz verfügt Burma über eine präzise Beobachtungsgabe und folgt einer gewissen Methodik und Organisation; so ist es bspw. die nachträgliche Untersuchung des Tatorts in Pas de bavards à la Muette oder die intensive Betrachtung der Seite eines Gedichts in Micmac moche au Boul’Mich’, die ihn auf eine Spur bringen. Außerdem führt er ein Karteisystem über Pariser Bistros, die von bestimmten Berufsgruppen aufgesucht werden. Diese Facette Burmas lässt sich, Alfu

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folgend, mit dem roman à énigme verbinden, der für die Deduktion auf zwei Einflussbereiche verweist: Certes, Léo Malet est unanimement considéré comme le père du »roman noir« en France, dans la mesure où il est le premier à avoir introduit dans la littérature policière française un personnage de privé utilisant autant ses capacités physiques qu’intellectuelles. […] Les romans policiers écrits par Malet sont bien spécifiques en cela que s’y mêlent habilement énigme policière traditionnelle et atmosphère hard-boiled.165 Die Frage, die sich mit Alfu stellen lässt, ist, inwiefern das Wetter im Rahmen des roman à énigme fungiert. Für Burma ist Wetter stets mehr als ein akzidentelles Umweltphänomen. Bedenkt man zudem das ›Eingreifen‹ einzelner Wetterphänomene in die Handlungsebene, wie in Des kilomètres des linceuls, so kommt ein dritter Einflussbereich hinzu, der Surrealismus. Zwischen den Polen des rationalen Ansatzes des roman à énigme und des Surrealen entfaltet sich das Wetter als Element der Deduktion. Basal transzendiert das Wetter an zahlreichen Stellen den Ermittlungsprozess,166 etwa als Parallelisierung der Progression167 oder Antizipation. Ferner wird der Einbezug des Wetters an Tatorten unter der Annahme dargestellt, dass sich der Wettereffekt bezüglich femininer bzw. maskuliner Leichen saisonal kategorisieren lässt. • • •

Ratio – plu(s) ou moi(n)s Surreal – »carcan« of (meteo-)logic Das Wetter an Tatorten – Le cadavre exquis – boira – le vent – nouveau.

4.4.1 Ratio – plu(s) ou moi(n)s Nach dem Auffinden der Leiche von Simone übernachtet Burma in Casse-pipe à la Nation168 in der leerstehenden Villa Mme Parmentiers, um den Dieb und Mörder zu fassen. Hier erwecken die wetterinduzierten Spuren ad interim den Eindruck einer klassischen Spur: Le ciel ne semble lavé et il ne pleut plus. Mais c’est depuis peu. […] Certes je n’aurais pas dû roupiller, mais il n’y a pas de mal. Personne n’est venu. […] Il ne pleuvra peutêtre pas, la nuit prochaine. On reviendra. […] Je […] examine si je ne laisse aucune trace de mon séjour […]. Parvenu sur la dernière marche de l’escalier, je m’immobilise brusquement. Nestor le mariole! Lui est sa garde, alors! Quelqu’un est venu ici, cette nuit, […]. Sur le carrelage du vestibule, des empreintes de pas, boueuse et humides, sont nettement visible. […] Quelqu’un est venu… quelqu’un qui est peut-être encore là.169 Mit Burma folgt an dieser Stelle keine Analyse der regennassen Schuhabdrücke à la Lecoq,170 die auf die Größe oder den gesellschaftlichen Stand der Person schließen ließe. Doch dient die Spur auch hier der Konklusion – als Hypothese zum (psychologischen) Verhalten des Täters. Burma ist zunächst davon ausgegangen, der Täter würde am Grab im Garten weiterschaufeln, um die Leiche von Simone zu beseitigen – allerdings nicht bei dem herrschenden »temps de chien«171 . Die regeninduzierten Spuren werfen für Bur-

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ma, similär zu Fall 8, die Frage nach der Intention auf: »[Q]u’est-ce qu’il est venu faire, sous la flotte battante? Bon dieu! il n’aurait pas embarqué le cadavre, par hasarde? […] Il cherchait quelque chose […] Malgré la flotte.«172 Da das Wetter denkbar ungeeignet zum Graben ist, muss der Täter etwas im Haus suchen. Die folgende regenlose Nacht scheint erneut geeignet für Erdarbeiten, und wie Burma vermutet, kommt der Täter zurück. Es kommt zum beinahe tödlichen Showdown zwischen Detektiv und Verdächtigem. Einzig das von Neugier getriebene Auftauchen Mme Parmentiers rettet Burma das Leben, der das überraschende Erscheinen der Besitzerin nutzt, um den Täter zu überwältigen. Ironischerweise wird im nachfolgenden Gespräch mit Mme Parmentier deutlich, dass nicht nur das Verhalten des Täters, sondern auch das Verhalten der Lebensretterin vom Regen abhängig war: C’est toujours la nuit, et vers son milieu, que se passent les choses. Malheureusement, la nuit du jour où vous êtes venu me voir, il a plu. Je n’ai pas bougé. Mais le lendemain… Quelle belle nuit c’était, n’est-ce pas?173 Mme Parmentier formuliert implizit zwei Aspekte, die sich innerhalb der NMdP bezüglich Burmas Investigationsansätzen abzeichnen. Zum einen ist die Signifikanz, die dem Wetter bezüglich des Verhaltens der Figuren, insbesondere der Täterfiguren, zugeschrieben wird, worüber Burma Rückschlüsse auf die (kriminelle) Intention zieht.174 Zum anderen konstatiert Mme Parmentier, dass die ›interessanten‹ Ereignisse (Mord, Showdown etc.) in der Nacht stattfinden, sodass durch diese Zuordnung eine Dichotomie zur Aufklärung im Sinne des Fiat lux impliziert wird. Das meteorologische bzw. saisonale Agieren und das sich abzeichnende psychologische Muster der Figuren stellt gleich im ersten Fall das Gerüst für die Aufklärung bereit.175 Vor dem Hintergrund einer saisonalen ›Reflexion‹ wird am Ende von Le soleil naît derrière le Louvre nicht einfach ein »Zwillingsbruder aus der Tasche gezogen […] um eine halbwegs plausible Lösung anbieten zu können«176 , denn das Doppelgängermotiv ist von Beginn an über die saisonale Dichotomie, quasi als psychologisches Profil, konzipiert. Aufgrund seiner Sensibilität für saisonale Muster ist Burma frühzeitig in der Lage, das nicht mit dem Januar korrelierende Verhalten seines ›Klienten‹ zu bemerken und zu konkludieren, dass es sich bei diesem und dem Toten in den Halles um Zwillinge handelt: »Louis Lheureux […]. L’hiver ne lui réussissait pas. Il était plus sociable au printemps. En hiver, il préférerait ne pas me mettre dans le secret de ses fredaines, si je ne comprenais bien. […]«177 Die saisonale Divergenz nutzt Burma fallanalytisch zur Aufklärung des Mords und des Diebstahls des Raffael-Gemäldes. Explizit formuliert er diesbezüglich gegenüber dem Brudermörder Larpent bei dessen Überführung: »Et voici 1954. Fugue inhabituelle en janvier. Sa saison, c’était l’été. Et cette fois, il ne me téléphone pas pour m’annoncer son escapade.«178 Die Nutzung des Wetters als Teil eines ›naturwissenschaftlich‹ geleiteten Deduktionsprozesses findet sich in Corrida aux Champs-Élysées, wenn die Temperaturen rechtsmedizinisch zur Eingrenzung des Tatzeitpunkts fungieren: »Avec cette chaleur, et d’après l’état du corps, il n’est pas possible qu’elle ait été tuée plus tôt.«179 Die Eingrenzung des Tatzeitpunkts führt allerdings nur bedingt zu weiteren Ergebnissen. Bedeutend interessanter erscheint hier der physische Effekt des Wetters auf den Täter,

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der das Verhalten beeinflusst: »[L]ui, il n’est pas né d’hier, et il travaille avec des gants, mais vous savez, quand il fait chaud, comme actuellement, on sue, et les gants ça ne sert pas à pipette… […] L’empreinte est un peu brouillé, mais il paraît que c’est la bonne.«180 Über das Wetter kann mithin auf eine vorhandene Spur konkludiert werden. Im Rahmen der Ermittlung wird das Wetter zuweilen als Smalltalkthema genutzt. In diesem Sinne erfüllt das Wetter im Kontext der Zeugenbefragungen vordergründig eine rein illokutive Funktion der Kontaktherstellung.181 Die scheinbar gewöhnliche saisonal bedingte Beobachtung der Kohlelieferung bei Gil Andréa in M’as-tu vu en cadavre? verbindet Burma nach dem Gespräch mit der Concierge: »›Peut quand même pas en faire rentrer tous les jours.‹ Ç’avait été dit sur un ton qui laissait supposer que cette livraison de combustible était récente. Pour un type qui s’apprêtait à passer l’hiver hors de France…«182 Burma lanciert Hypothesen und falsifiziert sie: Zunächst vermutet er, die Kohlelieferung sei für den Vater Andréas, der während der Tournee des Sohns im Winter in Paris bleibt: Et il faisait quand même provision de charbon pour l’hiver, alors que son boulot allait l’éloigner de son appartement jusqu’à la belle saison… J’éclatai brusquement de rire. […] Vraiment pas en forme aujourd’hui. Il [Nestor Burma] se cassait le bonnet pour pas grand-chose. […] Son père restait à Paris. Il fallait bien qu’il chauffe ses os.183 Markant ist die Thematisierung der Reflexion, die eine offensichtliche Erkenntnis darstellt. Gerade diese Offensichtlichkeit verweist (quasi obligat durch den Nexus roman à énigme) auf die Notwendigkeit der Hinterfragung, weil gerade die offenkundigsten Hinweise nicht das Richtige treffen und auf eine falsche Fährte locken. Burma erkennt die wahre Bedeutung der scheinbar hivernalen Vorbereitung: »Monsieur Gil Andréa, il y a un macchabée dans votre cave, sous le charbon que vous avez fait entrer récemment. […] Le bonhomme qui est dans la cave […] c’est votre père.«184 Das Wetter wird in den NMdP nicht mehr wie bei Lecoq oder Tabaret rein im Rahmen einer rationalen Analyse genutzt. Es bleibt indes fallanalytisch relevant, um auf wetterbedingtes physisches oder psychisches Verhalten der Figuren zu schließen oder stellt Hinweise auf das Verbrechen per se wie in Fall 6.

4.4.2 Surreal – »carcan« of (meteo-)logic Eine ihrer individuellen Charakteristika erhalten die NMdP durch den Einbezug von surrealistischen Elementen, die sich (zuweilen) auf die Deduktionsart auswirken: »Surrealism expands poetic boundaries imposed by the ›carcan‹ of logic. Malet brings the same surrealistic concerns to the detective novel.«185 Das Prinzip einer in erster Linie logisch-deduktiven Enträtselung wird hiermit verwandelt, wenngleich der Kerngedanke bestehen bleibt, denn der Detektiv sucht die Wahrheit hinter dem Offensichtlichen, »les choses qui sont derrière les choses«186 , ein Prozess, den Burma mit – teilweise ironisierten – Elementen des Surrealismus ineinander windet. Exemplarisch werden im Folgenden vier Verbindungen zum Wetter betrachtet: die Meteo-Correctio, Träume, das psychotrope Wetter sowie das Erscheinen des Wetters in persona.

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4.4.2.1 Meteo-Correctio Charakteristisch für Burma ist, dass er vielfach subkonszient Details und Nuancen wahrnimmt, deren Bedeutungen erst sukzessive in sein Bewusstsein rücken und zur Lösung des Falles führen. Zuweilen werden diese Erkenntnisse in den Bereich des Wetters verschoben und hierüber zugänglich. In diesem Nexus steht etwa die korrektive Wetterevokation und -bewertung in Le soleil naît derrière le Louvre. Als Burma zum Hafen kommt, um den Klienten Corbigny auf dessen Yacht kennenzulernen, bemerkt er: »Il ne manquait que quelques effilochures de brouillard pour parfaire le décor. Mais la légère brume qui flottait sur Paris dans les premières heures de la matinée, le soleil de midi l’avait dissipée sans espoir de retour […].«187 In Burmas gleichsam korrigierender Wetterpräsentation eröffnet sich ein Vor-Eindruck Corbignys, der über das eigentlich Bekannte hinausgeht und mehrere Funktionen erfüllt: Er offenbart die Kulissenhaftigkeit, der aber etwas fehlt. Explizit wird auf eine Unstimmigkeit verwiesen und korrigierend das Bild von Nebelschwaden evoziert. Über den atmosphärischen Hall der Gruselmetaphorik des Schauerromans entsteht ein korrektives Doppelbild des Klienten, der im Verweisnexus des Schauerromans als ›Unhold‹ markiert wird. Die Divergenz von Sichtbarem und passenderem Wetter verweist darauf, dass hinter der Fassade Corbignys als ehrbarer Klient die eigentliche Wahrheit steckt, scil. die kriminelle Verwicklung in den Kunstdiebstahl. Durch diese correctio wird im Rahmen der Deduktion nicht nur Burmas Gespür für Nuancen deutlich, sie legt auch figurenmarkierend und präfigurierend eine Spur für den Deduktionsprozess.

4.4.2.2 Träume Eine Intention der Surrealisten ist die Synthese von scheinbaren Widersprüchlichkeiten in einem Moment der absoluten Wirklichkeit, die die Elemente von Zufall, Traum und Wunderbarem kombiniert, um unvermutete Zusammenhänge aufzudecken. Dies sollte durch die systematische Aktivierung von kreativ-spielerischen Möglichkeiten geschehen.188 In diesem Sinne ist der Surrealismus für die detektivische Instanz ein fruchtbares Konzept. Zum Tragen kommt dieses etwa über die assoziative Verquickung wesensfremder Elemente, die eine Irritation resp. ein befremdliches Moment generieren und der Deduktion dienen. Für Burma geschieht dies auf ›kreative‹ Art, allerdings durch nicht kontrollierbare Auslöser wie den Schlag auf den Kopf sowie durch Träume oder ›Halluzinationen‹. Durch diese erfolgt in den NMdP eine Auseinandersetzung mit dem Fall, wobei Burma »seems to enjoy these hallucinatory moments and the ›frisson‹ of being in danger like a dreamer who knows he is dreaming«189 . Spannend ist, dass die ›Klarträume‹ bzw. ›Klarhalluzinationen‹ vielfach nicht nur eine (klassisch) Freud’sche Transzendierung (etwa Verschiebungen, Verdichtungen etc.) enthalten, sondern Lösungsansätze oder Unstimmigkeiten des Falles aufzeigen. Während der Knock-out als Blackout bereits per se eine Nachtwerdung darstellt und auf eine Wahrnehmungsveränderung im Sinne einer Störung hinweist, werden Wetterphänomene wie in M’as-tu vu en cadavre? 190 selbst Teil des Traums oder der Halluzination und stellen eine Verbindung zur fiktiven Realität oder zur meteorologischen Faktur dar. In Pas de bavards à la Muette findet sich in der auditiven Evokation des Windes die Aufklärung des Mordes an Bénech.

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Elle [Hélène] venait de tuer cet homme sous mes yeux. […] Une voix ricana sarcastiquement: ›Toujours aux premières loges, Nestor Burma! Un don. Ce n’est pas normal. Tu devrais te soigner.‹ Le ricanement se transformait en murmure, le murmure que produisent les feuilles agitées par le vent.191 Hélène erscheint in Burmas Traum stellvertretend für Suzanne, die Bénech dezidiert nicht wie Hélène vor Burmas Augen, sondern vor Burmas Ohren getötet hat. Die Aussage »permières loges, […]. Ce n’est pas normal« verweist auf den Inszenierungscharakter des Erlebten und entlarvt den vermeintlichen Tatablauf als falsch. Hierbei konstituiert der meteorologische Eindruck den entscheidenden Hinweis, denn Burma hat an dem Abend den Schuss nicht gesehen, sondern gehört. Die scheinbar objektive Wahrnehmung dessen, was Burma geglaubt hat zu erleben, wird im Traum durch den Wind infrage gestellt, sobald die Kontrolle über das Bewusstsein aufgelöst ist.

4.4.2.3 Psychotropes Wetter Entrückte oder unbewusste Eindrücke entstehen nicht nur im Traum oder durch Knockout, sondern auch durch alkoholische Exzesse, obzwar ein »true surrealist trusts his mental sharpness and does not need drugs to access his inconscient«192 . Aber nicht nur Alkohol fungiert als wahrnehmungsverändernde Substanz, auch dem Wetter kommt in einigen Fällen eine psychotrope Wirkung zu. Für Dritte erscheint Burma in dieser Phase aus der Welt entrückt. Dies verdeutlicht sich etwa in La nuit de Saint-Germain-desPrés, als Burma, in der brütenden Pariser Sommerhitze auf der Brücke am Place SaintMichel stehend von einem Polizisten angesprochen wird: »[O]n va plonger? […] Restez pas là […]. La chaleur ne vous vaut rien.«193 Eine ähnliche Wirkung hat die Hitze in Pas de bavards à la Muette während des Gesprächs über den aktuellen Fall mit Hélène im Park: »[C]e fut comme si, brusquement, je nageais dans une atmosphère onirique. La voix d’Hélène me parvint, lointaine: – Et alors, patron, vous rêvez? […] – Exactement. […] Ce doit être ce soleil […].«194 Sonne und Hitze tragen Burma aus seiner Realität in einen Grenzzustand. In beiden angeführten Situationen gelangt er zu einer veränderten Perspektive bzw. Idee zum Fall; in La nuit de Saint-Germain-des-Prés etwa zwischen den Figuren (Witwer = Polizist/Vater – Brandwell) und dem Tatort in der Rue des Quatres Vents (!), d.h. letztlich zum Täter.

4.4.2.4 In persona Neben diesen Facetten kulminiert die surrealistische Implikation, wenn das Wetter in persona erscheint. Als Naturphänomen einer natürlichen Arbitrarität unterworfen, wird es als surrealistisches objet naturel von den Gesetzen der Wirklichkeit losgelöst. So betreten einige Wetterphänomene in personifizierter Form, ausgestattet mit eigenen Charakterzügen oder Befindlichkeiten, die Handlungsebene. In persona gesetzt, greifen diese Wetterphänomene intentional und aktiv in den Handlungsverlauf und zuweilen in den Deduktionsprozess ein, wenn sie bspw. Burma Hinweise zuspielen oder die Handlungslogik rechtfertigen, wie bspw. in Des kilomètres de linceuls, Boulevard… ossements, La nuit de Saint-Germain-des-Prés oder mehrfach in Brouillard au pont de Tolbiac: »[L]e vent qui soufflait maintenant encore plus fortement […] et […] m’emporta […] au pont National […].«195 Diese Wetterphänomene fungieren als Adjuvanten für Burma im Sinne des Aktantenmo-

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dells von Greimas. Dieser meteorologische Einsatz wird in den Abschnitten 4.5.2 (Burma zweifach – moi-narrateur und moi-narré) sowie 4.1.2 (Der Regen in Brouillard au pont de Tolbiac) näher beleuchtet.

4.4.3 Das Wetter an Tatorten – Le cadavre exquis – boira – le vent – nouveau Eines der Kernelemente in den meisten Kriminalromanen ist die Leiche und mit ihr der Tatort bzw. Fundort. Hier sichern die Ermittlerfiguren Spuren, sammeln Hinweise, ziehen erste Rückschlüsse auf den Täter oder die Täterin und potenzielle Motive. In den NMdP indes sind die Tatorte weniger als etwa bei Lecoq für eine detaillierte Analyse konzipiert.196 Die Leiche steht in den NMdP nicht mehr als unerhörter Einbruch im absoluten Zentrum der Handlung wie im klassischen Detektivroman bzw. roman à énigme, sondern wird mit einer surrealistischen Implikation verbunden. Diesbezüglich führt Emanuel an: Malet takes the image of the cadaver, prominent in surrealist literature, and fuses it with the detective novel’s use of a cadaver as the centre around which the story of an investigation revolves. However, in Malet’s version, the cadaver is no longer the sole focal point; it is rather one of many generative points scattered throughout the novel. Solving the crime is not the only focus of a Malet mystery. For Burma, the sight of a dead body is all too banal, and his psyche is rarely upset by what most detectives would consider extraordinary events. Burma is transfixed and fascinated by ordinary details that another observer in the novel fails to find significant.197 Alfu hingegen konzentriert sich besonders auf die Verbindung zum hard-boiled: »La morte est au cœur de l’œuvre de Malet et joue un rôle tout aussi important que ses héros. Elle est tout d’abord la conséquence majeure d’une violence obligatoirement présente dans le ›roman noir‹.«198 Mit dem hard-boiled einher geht seine spezifische Atmosphäre: »Les romans policiers écrits par Malet […] mêlent habilement énigme policière traditionnelle et atmosphère hard-boiled.«199 Anders als im klassischen Detektivroman versteht der hard-boiled Kriminalität nicht als Ausnahme, sondern als ein tendenziell der Gesellschaft inhärentes Phänomen. Damit ändere sich, so Nusser, das »Verhältnis von Mördern und Ermordeten. Sie stehen sich nicht wie im Detektivroman als Schuldige und Unschuldige gegenüber, sondern eher als Sieger und Opfer in einem Konkurrenzkampf, der von der persönlichen Geschicklichkeit bzw. dem Zufall«200 bestimmt wird. Potenziell ergeben sich für das Wetter an Tatorten der NMdP drei Bezugsrahmen, scil. die des roman à énigme, des hard-boiled und des Surrealismus. Hierbei ist vorauszuschicken, dass nicht an allen Tatorten bzw. Leichenfundorten Wetterphänomene erscheinen und dass sich die Bezugsrahmen überlagern. Der roman à énigme zeichnet sich durch eine spezifische Raumsituation (local clos) aus sowie durch eine scheinbar harmonische Atmosphäre, in welche der Mord als Moment des Chaos einbricht.201 Diese finden sich in den NMdP nicht zuletzt über die Wetterkonzeption wieder, wenn Burma etwa Frühlingswetter genießt oder das Wetter Stadtausschnitte pittoresk stimmt. So in L’envahissant cadavre de la plaine Monceau: »C’est par une de ces lumineuses matinées de mars, presque printanière […] il fait bon. Un vent léger

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et doux caresse les branches chargées de bourgeons des arbres de l’avenue de Wagram. Tout est calme et paisible.«202 Dieser frühlingshafte Eindruck wird kurz darauf durch das Betreten des Tatorts, d.h. das Finden der Leichen im Haus Désiris gestört: »Quelque chose, derrière [Tür], l’empêche d’aller plus loin. […] Allons! la journée commence bien! Ce que mes doigts rencontrent […]. C’est plutôt un os […].«203 Mit dem hard-boiled verbunden ist vielfach eine dysphorische Stimmung, die spezifisch mit bestimmten Wetterlagen zusammenhängt. Dieses Moment wird etwa in Fièvre au Marais Teil des Tatorts: Machinalement, tout en étreignant dans ma paume moite et humide le fourneau était de ma pipe, j’écoutais la vénérable bicoque gémir sous les assauts du mauvais temps. Printemps pourri! La pluie, poussée par le vent qu’on entendait hululer, tambourinait contre les carreaux de la fenêtre sans rideaux. A travers les vitres brouillées je découvrais un paysage de toits mouillés sur lequel le ciel plombé répandait une déprimante teinte vénéneuse. […] La fumée qui s’en échappait rejoignait les nuages noirs et s’y incorporait. […] l’obscurité précoce commençait à envahir […]. [P]luvieuse d’avril, le père Samuel ressemblait aux illusions des pauvres bougres qui venaient chez lui convertir leurs souvenirs en un morceau de pain. Il était aussi mort qu’elles. Peut-être même un peu plus.204 Die detailreiche Betrachtung des Wetters und der von ihm gestimmten Stadtlandschaft legt die atmosphärische Basis für den erst hiernach folgenden Blick auf die Leiche. Gerade dies zeigt Burma am Tatort als aufmerksamen Betrachter, d.h. als Detektiv, der in Ausnahmemomenten besonnen seine Umgebung wahrnehmen kann.205 Mit dem Wetter, der Atmosphäre und der Situation zeigt sich an dieser Stelle darüber hinaus der für den hard-boiled charakteristische Sprachwitz sowie die Figurenkonstituente des Gleichmuts gegenüber dem Tod.206 So findet sich in Du rébecca rue des Rosiers mit dem Blick des Ermittlers prima facie die Facette des hartgesottenen Detektivs: »[L]e jour dont je parle, un après-midi brumeux de février, il n’y a, par extraordinaire, qu’une seule femme chez Fred Baget […] Elle n’est pas nue, mais elle est morte.«207 Erst auf den zweiten Blick eröffnet sich die Signifikanz des Wettereinschubs. Dieser wirkt zunächst retardierend, verbindet aber unmittelbar Nebel und die Leiche Rachel Blums. Der Nebel versinnbildlicht die Undurchsichtigkeit des Falls – sowie im Nexus der Malet’schen Intention den Impetus der Okkupationszeit und die Verbindung zum jüdischen Viertel. Durch die konzise Wetterevokation bettet sich der Leichenfundort in die meteorologische Faktur, des Falles und des Klimasystems der NMdP ein. Zwischen dem Vorhandensein sowie dem späteren Fehlen des Nebels und der Deduktion lässt sich mithin eine reziproke Relation entdecken.208 Eine der charakteristischen Wetterlagen, die Guidice für Chandler herausarbeitet, ist die Hitze: »Auch hier betont […] eine meteorologische Sondersituation, die Hitze […] ein Geschehen, das über den Rahmen normaler Alltagserfahrung hinausgeht. Chandler gestaltet in Farewell, My Lovely jene ›sunfilled but nightmarish landscape‹, die für alle weiteren Romane bestimmend bleibt.«209 Die basale Wetterlage des Chandler’schen hardboiled findet sich in den NMdP wieder, und zwar mit drei Fällen, die durch eine Hitzelage geprägt sind: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, Les rats de Montsouris, Corrida aux Champs-

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Élysées, von diesen ist damit der hierzu meteorologisch abweichende Fall M’as-tu vu en cadavre? eingeschlossen. Die Sommerhitze wird in diesen Fällen durch die hohe Frequenz von Wetterwahrnehmungen gleich zu Beginn der Fälle konstituiert; sie haben die Funktion »[to] shape our sense of a novel as a whole«210 . Wie keine andere Wetterlage wird die Hitze in ihrer physischen und psychischen Wirkung evoziert; es ist schwül, drückend, schweißtreibend, alles scheint klebrig vom eigenen Körper zu sein und wird zum synästhetischen Eindruck der »gluante paix nocturne«211 . Gestützt wird der Eindruck durch die nur in diesen Fällen konkreten Temperaturangaben innerhalb der NMdP. So sind etwa »28 degrés indiqué au thermomètre Martini«212 im 14. und 35 °C im 6. Arrondissement. Bemerkenswerterweise zeichnen sich in diesen Fällen die Tatorte bzw. Leichenfundorte besonders durch zwei surrealistische Facetten aus: I. Schock, Ekel, Horror vs. II. ›ästhetische‹ Inszenierung. Mit diesem Moment verquickt ist der Entwurf einer Divergenz der meteorologischen Wirkung bei weiblichen vs. männlichen Leichen, sodass sich die meteorologische Relation wie folgt darstellt: • •

Schock, Ekel, Horror – Männerleichen ›ästhetische‹ Inszenierung – Frauenleichen

4.4.3.1 Schock, Ekel, Horror – Männerleichen Die Hitze in La nuit de Saint-Germain-des-Prés ist als omnipräsent gestaltet. So finden sich im ersten sowie zweiten Kapitel mehr als zehn direkte und indirekte Verweisstellen auf die Hitze, und sie entfaltet ihre Wirkung: Die Gedanken Burmas kriechen dahin, an Schlaf ist nicht zu denken. In dieser Nacht sucht Burma das leicht heruntergekommene Didert-Hôtel auf, um Charlie Mac Gee zu sprechen, den er in den Juwelendiebstahl involviert glaubt. Ein Wetterwechsel begleitet Burmas Weg durch das Hotel und deutet eine präfigurierende Wirkung an: Es ist spät und »il continuait à faire tiède, mais quelques grosses gouttes de pluie commençaient à s’écraser sur les trottoirs«213 . Prima facie erscheint der Regen kontrastiv zu Hitze, als eine Art auflösender oder aufklärender Effekt; erhält indes mit der Qualifikation »s’écraser« eine brutale Note. Funktionalisiert erscheint er retrospektiv gleichsam als Hinweis auf die Tat. – Burma klopft an die Tür Mac Gees; niemand öffnet. Mit einem Dietrich verschafft sich Burma Zugang und betritt den Raum: Cela chlinguait bigrement, là-dedans. Un mélange de renfermé, de tabac froid, de suif et d’effluves rances de parfum à bas prix. Avec, brochant sur le tout, une autre odeur, indéfinissable, plutôt dégueulasse, à vue de nez. La chaleur, qui n’arrangeait rien, pesait sur mes épaules. […] Quelque part, très près, le robinet d’un lavabo fuyait en chuintant. […] l’obscurité était rompue à intervalles réguliers par le bref rayon sanglant que projetait à travers la pièce […] l’enseigne extérieure de l’hôtel […].214 Mit dem Betreten des Zimmers liegt der Wahrnehmungsfokus evokativ auf den olfaktorischen, haptischen und visuellen Impressionen, wobei insbesondere Geruch und Hitze durch die Wetterlage bestimmt werden. Über die betonte Leiblichkeit und die adjektivische Konkretisierung erhält der expressionistisch-visuelle Eindruck des Lichts eine

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intensive physische Deutlichkeit, sobald die Leiche mit diesem ins visuelle Feld gesetzt wird:215 A la lueur d’un de ces traits écarlates, j’aperçus un homme étendu tout habillé sur le plumard, le bras droit pendant jusqu’à toucher la descente de lit, tellement il était long. […] puis je manœuvrais l’interrupteur […]. Ma chemise collait à ma peau. Je respirais avec difficulté. Mon col était à tordre. J’épongeai la sueur qui dégoulinait sur mon visage et revins au macchabée, la gorge sèche. Il avait rejoint les verts pâturages […].216 Die betont leibliche Erfahrung der Hitze bleibt insbesondere auf der haptischen und respiratorischen Ebene bestehen, mit ihnen verquickt sich der Tod: Der fötide Geruch wird zugeordnet, der Ekel, das Empfinden der Vomitio intensiviert. Das »surrealist images aim to shock the observer«217 realisiert sich durch die Hitze von der aus die sukzessive Wahrnehmung des Todes entsteht: Der verwesende Körper wird als Paradigma des Ekelhaften erfahrbar. In diesem Sinne provoziert die Hitze das Moment des Degouts bzw. Horrors, oder, anders formuliert: »Der Ekel geht über die Nase«218 und wird von Burma als physisch intensivierte Apperzeption referentiell.219 Die Lust am Ekel bzw. am Horror zeigt sich auch im zweiten Sommerfall Les rats de Montsouris. Auch hier wird zunächst die nächtliche Sommerhitze als dominierende Wetterlage aufgebaut. Burma findet die Leiche seines Freundes Ferrand: Le silence et la chaleur. Plus les odeurs habituelles. […] La lampe fixée au plafond envoya sa lueur jaunâtre. Et le papillon de nuit se remit à tournicoter autour de l’ampoule […]. Les ombres qu’il projetait étaient immenses et fantastiques. Zébrant et rezébrant le visage anguleux du Rat de Montsouris [Ferrand]. Il s’en fallait d’un poil […] que sa tête ne se balade pas à plusieurs mètres de là. Le coup de rasif l’avait presque détachée du tronc. […] qui me remit en mémoire des souvenirs coloniaux. Il y avait du sang partout, et son odeur, à la fois fade et sucrée, suprêment dégueulasse, commençait à devenir envahissant. Un grésillement m’apprit que le papillon de nuit s’était approché trop près de la lampe. Les ailes brûlées, l’insecte tomba au beau milieu de la plaie ouvert dans la gorge de Ferrand. Il y palpita quelques secondes, comme un vampire qui s’abreuve à la source de vie, avant de clamser à son tour.220 Durch die Kombination der sensuellen Impressionen steigern sich hier ebenso die Spannung wie das »schockierende Moment« zu einer grotesken Szenerie. Bezüglich des erzeugten Eindrucks bemerkt Emanuel: »Despite the number of grisly murders in Malet’s work, this is one of the rare images that could also be found in an art or horror film.«221 Die Hitze steigert wiederum den olfaktorischen Eindruck des Todes und erscheint reziprok selbst intensiviert. Dieses Potenzial zeitigt sich durch den Nexus Hitze, Nacht, papillon de nuit und artifizielle Sonne und wird zur fast mythologisch gestalteten Szene. Der papillon de nuit erschien bereits zuvor als »emprisonnant avec nous un papillon nocturne qui s’empressa de voleter autour de la calbombe à l’agonie«222 . Das besinnungslose Verhalten des Nachtfalters entspricht dem Ferrands als Rat de Montsouris. In diesem Sinne wiederholt sich der Tod Ferrands im Tod des Nachtfalters, der wie Ikaros um seiner Freiheit willen einer Situation (Gefängnis, Labyrinth = Wasserspeicher)

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zu entkommen sucht, doch, trotz der Warnung (seitens Daidalos wie implizit Burmas) zu nah an die Sonne heran fliegt, abstürzt und im (Blut-)Meer stirbt. Im repetitiven Moment entwirft sich die Fragilität und Brüchigkeit, die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Sinnes- und Seinsebene. Bemerkenswert ist, dass sich diese Inszenierungen wie bei Mac Gee und Ferrand zum einen nur in den Sommerfällen finden, zum anderen in ihrer Art der Darstellung nur bei männlichen Leichen.

4.4.3.2 ›Ästhetische‹ Inszenierung – Frauenleichen Während männliche Leichen, auf die Burma in ihren ›Domizilen‹ trifft, durch die Hitze einen fötiden Geruch aufweisen, zeigt sich das Wetter bei weiblichen Leichen geradezu pietätvoll und chevaleresk.223 Auffallend wird dies in Les rats de Montsouris im meteorologischen Kontrast zwischen Ferrand und Madame Courtenay. Hier wird zunächst ein Moment gesetzt, welches Starck-Ottkowitz anführt, so konzentriere sich die surrealistische Kunst vorrangig auf die Frau, wobei der weibliche Körper meist in Verbindung zur Gewalt dargestellt werde, etwa zerstückelt oder als maschineller Apparat.224 Dadurch, dass Madame Courtenay von einem Zug getötet wird, ist die Zerstückelung in Verbindung mit der Gewalteinwirkung absolut. Interessant ist hierbei gerade die Divergenz der Darstellung: »Elle était fort peu reconnaissable, […]. Son corps, dont j’avais pu fugitivement juger de la beauté, ne vibrerait plus sous les étraintes amoureuses […]. [S]es pauvres restes mutilés […] sanglant.«225 Der sexualisierte, männliche Blick Burmas trifft hier auch den toten weiblichen Körper; auffallend wird damit aber, dass dieser Tat-/Leichenfundort in seiner Brutalität weniger als Moment des Horrors visualisiert bzw. überhaupt sensuell erfahren wird.226 Die Wetterlage ist an dieser Stelle des Sommerfalls durch den heranziehenden Regen bzw. das Gewitter geprägt – nicht durch die Sommerhitze –, welches aber mit Blick auf die tote Frau nicht ausbrechen will: »Les arbres des talus bruissaient sous l’action d’un vent fallacieusement annonciateur d’un orage qui […] ne voulait pas crever encore.«227 Das Unwetter hält sich, solange die tote Madame Courtenay dem Wetter ausgesetzt ist, zurück; erst als ihre Leiche geborgen ist, setzt der Regen ein. Eine künstlerisch-ästhetisch gestaltete Qualität weisen hingegen die Tat-/Leichenfundorte zu Cathrine Caprond und Lucie Ponceau auf. Die Leiche Cathrine Capronds (Taxi) in Fall 4, der Miss Poubelle (nomen est omen), findet Burma zwischen Abfalltüten, die Schilderung kreiert ein inszenatorisches Moment: […] de bouteilles vides […]. Un tas de charbon, mêlé de quelques bûches, croulait jusqu’à de vieilles chaises démantibulées, entassées là en attendant l’hiver. […] deux poubelles […] débordant d’invraisemblables saloperies […]. Un grand sac de jute, contenant je ne sais quoi, mais assez rebondi, reposait à même le sol de terre battue, entre les deux poubelles. […] Dans un sac de jute […]. Entre deux poubelles, véritables demoiselles d’honneur. Taxi! En voiture! Son joli visage exprimait une indicible souffrance. Ses longs cheveux blonds en désordre étaient poisseux de sang coagulé. On ne l’avait pas poignardée. On ne l’avait pas farcie de plomb. Elle avait simplement reçu un coup malheureux, parmi d’autres […].228 Obwohl über Paris die brütende Hitze des Sommers herrscht, wird Cathrine Capronds Leiche im Gegensatz zu Mac Gee ohne meteorologische Implikation wahrgenommen.

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Obwohl sie zwischen Müll und Abfalltonnen liegt, geht von ihr kein Geruch aus, die Hitze ist absent. Cathrine Caprond wird zum veritablen objet trouvé bzw. in wortspielerischer Manier zum ready made.229 Gerade diese Inszenierung der Leiche zeigt aber wie prekär die Assoziation der Frau zwischen objet trouvé und Wegwerfobjekt ist. Markant ist hierbei der fast sardonische Umgang mit dem Tod über den sich die Beklommenheit zeigt, auch wenn Burma eines gewissen schwarzen Humors nicht entbehrt. Die Konstituenten des Zusammenspiels von Hitze des Sommers und cineastischer Thematik ziehen sich durch den Fall Corrida aux Champs-Élysées, mit dem die spezielle ästhetische Inszenierung der Frauenleiche bzw. der Topos der schönen Leiche besonders deutlich und in die meteorologische Faktur eingebettet ist. Es ist Juni und Hitze herrscht über Paris. Es ist jedoch einer der wenigen Momente, in dem die Hitze nicht negativ empfunden wird und steht damit diametral zur bisherigen Wetterapperzeption. Während der Autofahrt mit Covet zum Haus der Schauspielerin Lucie Ponceau wird die Sommernacht positiv gestimmt und fast als Moment des flows erlebt: »La canicule continuait à servir. Le vent de la course nous ébouriffait, sans nous rafraîchir pour autant. C’était une belle nuit; une chaude belle nuit.«230 An dieser Wahrnehmung des Wetters und der Natur fallen zwei Dinge auf: zum einen der zuvor angelegte artifizielle Effekt, zum anderen gerade die parallele, repetitive Bezeichnung der Nacht als schön, in einem einzigen ›Atemzug‹. Hierdurch wird das positive Gefühlserleben Burmas intensiviert und die Nacht erscheint als eine ganz besondere. Über den bestehenden Nexus zwischen Sternenbild und Hitze evoziert sich ein Moment des Schicksalhaften, nicht Greifbaren und gleichsam wird etwas Magisches beschworen. Es ist das letzte Mal innerhalb der NMdP, dass Burma die Schönheit einer Sommernacht erlebt. Kontrastiv zu den übrigen Orten des Arrondissements erscheint der Parc Monceau und hier der Ort des Todes von Lucie Ponceau, als einziger durch seine Natürlichkeit auszeichnet. Obzwar es am Parc Monceau sommerlich heiß ist, wird keine drückende Hitze, sondern die idyllische Impression einer Sommernacht aufgebaut. Im Kontext der sich daraus anbahnenden Ermittlung ist das Naturbild als Transzendierung der Ereignisse lesbar: »Rien que le silence. Une brise se leva, le rompant. Les arbres du Parc Monceau murmurèrent, mécontents d’être dérangés dans leur rêverie. Ce vent était tiède.«231 Diese Wetterdarstellung stellt eine Analogie dar: Der Wind stört die Ruhe – wie auch der Regisseur Lucie Ponceau in ihrer Zurückgezogenheit und Träumerei von vergangenen Zeiten gestört hat, als ihre Schauspielkarriere auf dem Höhepunkt gewesen ist. Durch das Engagement wurde sie wieder mit der Realität und mit Selbstzweifeln konfrontiert.232 In ihrem Haus am Parc Monceau finden Burma und Covet im Schlafzimmer die sterbende Mlle Ponceau. Dieser Moment wird durch die Naturphänomene gestimmt: »Par la fenêtre ouverte sur la nuit, pénétrait l’odeur végétale du Parc Monceau.«233 Die omnipräsente Hitze der Sommernacht wird in diesem Moment relevant, denn durch die Wärme entfalten die Pflanzen erst ihren Duft. Die Hitze wirkt daher nicht nur haptisch und visuell, sondern ebenso olfaktorisch. Durch seine assoziative Wirkung ist das Wetter wesentlicher Teil der Inszenierung des (Tat-)Ortes als Topos der »Schönen Frauenleiche«.234 Expressis verbis theatralisch, aber bedingt durch den perzeptiven Eindruck der Natur wird ihr Sterben als eine poetische Inszenierung evoziert. Als Schauspielerin ist Lucie beliebige und unendliche Projektionsfläche für die Wunschphantasien des Publikums;

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in der Darstellung ihres Körpers, so wie er hätte gefunden werden sollen, wird sie selbst zur Schöpferin und zum Kunstobjekt, indem sie in die Unsterblichkeit des ästhetischen Bildes hinein stirbt. Das offenstehende Fenster verbindet hier Innen- und Außenraum und lässt die Natur ins Zimmer. Gerade Wetter und Naturimpression lösen das Artifizielle des reinen Bildes auf und rücken ihr Ableben in die Realität des Betrachters, denn Bild und Ton (das Ticken der Standuhr) werden durch den Pflanzenduft, der durch die Temperatur entsteht, welche eine rein cineastische Inszenierung nicht erreichen kann. Die Implikation der Natur beim Tod Lucie Ponceaus kann als herausragendes Element der Wetterstruktur innerhalb des Textes gesehen werden, da die Stadt und andere Orte als artifiziell konzipiert und von Burma ebenso empfunden werden. Der Kontrast zwischen Künstlichkeit und Natur wird besonders in den Momenten deutlich, in denen Figuren, die direkt oder indirekt am Tod Lucies schuldig sind, versuchen, sich durch Ventilatoren künstliche Kühlung zu verschaffen – was aber nicht zu gelingen scheint und den Aspekt von Künstlichkeit und Schein noch hervorhebt: »Les baies étaient ouvertes sur le parc, mais la bise qui agitait le journal que le producteur était en train de lire à mon entrée provenait d’un ventilateur invisible.«235 »(Il s’interrompit, se leva et al. la changer l’orientation du ventilateur, en bougonnant.)… Quelle chaleur!… (Il revient s’asseoir, épongeant les plis de son cou massif à l’aide d’un mouchoir de soie jaune.)…«236 Auch durch die Gestaltung der weiteren Orte werden diese durch die Verbindung zum Wetter und die Möglichkeiten der künstlichen Klimabeeinflussung zu Orten, die als Bühne für die einzelnen Figuren funktionieren, sodass Schein und Realität durch Burma erkannt und wieder aufgelöst werden müssen. Hiermit sowie dem Wetter am Tatort entsteht die meteorologische Faktur in Fall 8.

4.5 Nestor Burma und sein Wetter Burma berichtet retrospektiv als autodiegetischer Erzähler von seinen eigenen Fällen.237 Damit wird das Wetter durch den Ich-Erzähler Burma vermittelt und ist entsprechend subjektiv geprägt und bezieht visuelle, auditive, taktile, olfaktorische und gustatorische Impressionen ein. Mit Burma kommen dem Wetter unterschiedliche Funktionen zu, bezüglich derer mitunter der Einflussbereich des hard-boiled, des Surrealismus sowie hier der ontologischen Bestimmung des Erzählers selbst wirksam werden. • • • • •

Ton und Atmo – Der hard-boiled Burma zweifach – moi-narrateur und moi-narré Burma – saisonale Eu-/Dysphorie Burmas Erinnerungen, Liebe und das Wetter Burmas Nebel der Vergangenheit

4.5.1 Ton und Atmo – Der hard-boiled Aus der Verbindung zum hard-boiled entsteht in den NMdP ein spezifischer Ton, durch u.a. den die sarkastische Grundhaltung des Protagonisten zum Ausdruck gelangt. Bei Burma schlägt sich dieser Ton in der Wahrnehmung und Darstellung des Wetters nie-

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der. Hierzu lässt sich eine Feststellung Alfus anschließen: »Malet […] aime les formules, les tournures de phrases très personnelles reflétant un sarcasme permanent. Avec lui, la météo n’est jamais triste: […] ›Ce vent qui vous cinglait aurait fait les délices d’un masochiste breveté‹.«238 Mit dem Sarkasmus verbunden erscheint die desillusionierte Weltsicht, der »désespoir du noir«239 oder »goût de cendre«.240 Diese nimmt die Wahrnehmung und Darstellung des Wetters auf und bespiegelt sie: »Il faisait trop beau, depuis quelques jours. Ça ne pouvait durer. Ça ne dure jamais, dans cette sacrée bon Dieu d’Îlede-France!«241 Wie bei Chandler können meteorologische Gegebenheiten bei Burma »handlungsintensivierende und sogar symbolische Wirkkraft haben; […] und […] melodramatische Akzente setzen, deren schauerromantische Herkunft gut zu erkennen war«242 . Im Nexus der physischen Gewalt fungieren Wettereinschübe nicht als retardierendes Moment oder gar deskriptive Pause, sondern intensivieren die Situationsspannung – etwa durch die multisensorische Implikation, durch die sich die Distanz besonders weiter reduziert – und sind entsprechend Teil der Actionszenen: Je donne le coup en question. Le bois craque, se fendille. Un second coup. […] le panneau sauterait hors de ses gonds. […] Un grand soufflé d’air, chargé de pluie et d’odeur de cordite, me fouette le visage, m’enveloppe tout.243 Die Beziehung Burmas zum Wetter zeichnet sich in der unmittelbaren physischen Bedrohung ab, entwirft sich in diesem Sinne ebenso existentiell, wenn meteorologische Phänomene lebensspendend oder lebensrettend werden. In diesen Momenten apperzipiert der Detektiv das Wetter (zuweilen) ex abrupto wie in L’envahissant cadavre de la plaine Monceau oder Boulevard… ossements. In Boulevard… ossements befindet sich Burma in der Wohnung über dem Restaurant des Gangsters Tschang-Pu, die er heimlich durchsucht. Als er einen Schrank öffnet, fällt ihm plötzlich ein lebloser Frauenkörper entgegen. In diesem Moment trifft Tschang-Pu in seiner Wohnung ein. Es kommt zur Konfrontation und zur Verfolgungsjagd mit mehreren Chinesen durch das Treppenhaus des Restaurants: Du vent, Nestor. Décanille en vitesse. […] Je me retourne pour foutre le camp et alors… […] Là-dessus, le gars de l’escalier […] rentre en scène et fonce sur moi. Mais il glisse sur le riz […]. Je n’attends pas qu’il se relève […]. […] et me voilà dehors, rue de la GrangeBatelière. Je souffle un peu. […] Je respire à pleins poumons l’air nocturne, l’air parisien, l’air printanier.244 Nach der unmittelbaren Gefahr nimmt Burma das Wetter bewusst wahr; es markiert den Übergang aus dem bedrohlichen Bereich in den des Entkommens und Überlebens. Similär wird Burma in L’envahissant cadavre de la plaine Monceau im Haus in der Rue du Dabropol in eine Schießerei verwickelt. Er wird angeschossen und fühlt sich halb tot. Doch es gelingt ihm mit Régine, auf die Straße zu flüchten, wo beide kurz innehalten: […] moitié évanoui, et le bras droit, que je ne sens plus, depuis qu’il a écopé, toujours prolongé de mon automatique, qu’il l’alourdit encore. […] Le froid pince, mais j’ai l’im-

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pression qu’il m’est bénéfique. Moi qui, pourtant, le déteste, je me livre à lui, veston ouvert et cravate arrachée.245 Die Kälte verweist nicht metaphorisch präfigurierend auf den Tod, sondern »pince« nur so lange, dass Burma nicht das Bewusstsein verliert und es zu einem Arzt schafft. Zur regelmäßig wiederkehrenden Gewalt gegen Burma zählt der »Schlag auf den Kopf«246 . Er ist letztlich Ausdruck des roman noir und Teil dessen, was Wild als für diesen charakteristisch darstellt: »Die für den ›roman noir‹ […] charakteristische Intrigenführung mit ihren häufig unmotivierten Brutalitäten führt […] immer wieder zu unerwarteten Umschwüngen.«247 – Interessant ist diesbezüglich die naturphänomenologische Metaphorik, die mit der körperlichen Gewalt im Moment des Knock-out verquickt ist: die Nacht. In der Bewusstlosigkeit wird die gewaltsam intendierte Nacht zur Wahrnehmungsstörung, die in einem surrealistischen Rahmen mitunter zu ermittlungsrelevanten Erkenntnissen führt.248 Potenziell kann die Bewusstlosigkeit letal sein; in M’as-tu vu en cadavre? wird Burma nachts auf der Straße attackiert und mit einer Schaufel niedergeschlagen. Als für Burma spezifisch wirkt in diesem Moment das Wetter: Ça m’atteignit derrière le cigare et un éclair fulgura. Et puis, j’entendis des cloches… […] Maintenant, une averse drue avait succédé au crachin. Ce que, dans mon coma comac, je prenais pour le carillon Westminster du tabassé-maison, n’était que le bruit de l’eau du ciel tambourinant sur le couvercle d’une poubelle, le toit de la voiture et mon visage. […] Je me hissais sur mes guibolles flageolantes, ouvris la portière et me traînai sous le volant. […] La pluie martelait le toit de la bagnole, me berçant sournoisement.249 Der Regen zeigt sich lebensrettend. Er dringt bis in Burmas »absence« ein und hält eine Verbindung zur Realität aufrecht, wodurch Burma nicht vollständig das Bewusstsein verliert und wieder zu sich kommt. Auffallend gestaltet sich der Funktionswechsel, denn sobald Burma im schützenden Raum des Dugat ist, verändert sich der qualitative Effekt des Regens. Er wiegt ihn in Sicherheit und spendet Geborgenheit.

4.5.2 Burma zweifach – moi-narrateur und moi-narré An diesen Stellen zwischen Gewalt und Überleben entsteht der Eindruck, als würde das Wetter in seinen unterschiedlichen Formen für das Wohlbefinden bzw. das Überleben des Protagonisten Sorge tragen. Sehr deutlich wird dies in Des kilomètres des linceuls, denn hier greift das Wetter auf der Figurenebene ein. Burma erwacht nackt und unter Drogen stehend neben der toten Marion in ihrer Wohnung. Benommen versucht er, mit Handschellen an die Leiche gefesselt, die Wohnung zu verlassen und sich hinter einer Tür, in einem abgetrennten Teil des Flurs, vor plötzlichen ›Besuchern‹ Marions zu verstecken. Just in diesem Augenblick nähern sich Schritte. Eine Person bleibt bei der Tür stehen. In dieser misslichen und bedrohlichen Lage Burmas greift der Wind ein. Ein »intempestive saute de vent« bewegt die Tür und öffnet diese mit einem »ricanement«.250 Der Wind markiert die Situation damit prima facie mit einem sarkastischen Kommentar und weckt böse Vorahnungen, greift hier in die Handlungsentwicklung ein, denn die Person, die

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durch den Wind auf Burma aufmerksam wird, ist Hélène Chatelain, die ihren Chef von der Leiche befreit. An diesen Textstellen werden Wetterphänomene von ihrer meteorologischen Seinslogik gelöst und betreten als Adjuvanten die Handlungsebene, um den Verlauf der Ereignisse zu lenken. Denn geradezu panurgisch erscheint das personifizierte und kommentierende Wetter, mit dem schon keine meteorologische Arbitrarität mehr vorgegaukelt werden kann. Von diesen Situationen ausgehend stellt sich die Frage, wer oder was hier Wetter wirkt. Obzwar sich der Topos des Autor-Gottes als ironische Inszenierung anbringen ließe, scheint ein Blick auf die Gemachtheit der NMdP lohnenswert. Denn hierdurch tritt durch die Erzähllogik der autodiegetische Erzähler hervor, der qua meteorologischer Inszenierung Verantwortung für seine Figur zu übernehmen scheint. Rohlff führt den besonderen Reiz an, der in den NMdP mittels der »quasi-autobiographischen Erzählsituation« entstehe. Ferner ließe »Malet seinen Helden keinen Hehl daraus machen, daß er den Verlauf des Geschehens und die Lösung zum Zeitpunkt des Erzählens bereits kennt«251 . Das korreliert damit, dass meist das ›erzählende Ich‹ im Vordergrund stehe und das ›erlebende Ich‹ in spezifischen Situationen wie den Action- oder Traumsequenzen deutlich werde.252 Basal liegt in der autodiegetischen Struktur eine ›Spaltung des Ich‹ vor, denn sie gewinn[t] ihr charakteristisches Profil aus dem ›geheimnisvolle[n] Doppelspiel der beiden Ich, des überlegen erzählenden und des benommen, dumpf erlebenden‹253 , wie Leo Spitzer konstatiert. Der moi-narrateur Burma tritt markant in Erscheinung, etwa durch explizite Kommentare, die ein Wissen sichtbar machen, über das die Figur Burma noch nicht verfügen kann. Dergestalt wird der moi-narrateur bereits in den meteorologisch codierten Anfängen einiger Fälle sichtbar. Mit ihrer Dechiffrierung löst sich die sonst chronologische Ordnung ephemer auf und lässt einen Blick hinter den ›Vorhang‹ zu.254 Als autodiegetischer und autobiografischer Erzähler, der seine Geschichte (meist) retrospektiv erzählt,255 kann er erzähllogisch eigentlich nicht in sein eigenes Schicksal eingreifen, dieses steuern oder verändern. Dennoch tut er dies, und zwar mittels des Wetters. Der moi-narrateur sendet Regen oder Wind, um die Wege seines Helden zu lenken und zu behüten. Das personifizierte und eingreifende Wetter macht den moi-narrateur als metteur en scène sichtbar, der als Erzähler oder impliziter Autor nicht nur Sorge für seine Figur trägt, sondern Hinweise zuregnet oder zuweht256 und seine eigene Vergangenheit bzw. Gegenwart moduliert resp. manipuliert. Gleichsam offenbart sich die Sinnstiftung und -infragestellung qua Ich-Manifestation als meteorologische Projektion. In surrealistischer Manier wird eine Ebene hinter der Seinsebene der Figur und damit hinter dem moi-narrateur selbst dekuvriert und erscheint wie ein ironisches Augenzwinkern.257 Hinzu kommt das an einigen Stellen durchscheinende Bewusstsein Burmas als moinarré, d.h. dezidiert als intradiegetische Figur, die sich ihrer eigenen Fiktivität bewusst ist: »Et qu’est-ce que vous êtes, alors? […] – Philip Marlowe, Hercule Poirot ou Nestor Burma, comme tu voudras.«258 Als gleichsam mythische Figur259 ist Burma nicht greifbar und projiziert sich als Erzähler »vaporeusement dans les rues de Paris«260 . Die Wolkenhaftigkeit schlägt sich in der Nicht-Greifbarkeit seiner Physis nieder. So führt selbst Malet an: »Physiquement, je n’ai jamais su très bien décrire Nestor Burma. Est-il grand? petit? maigre? rondouillard? Dans mon esprit il change de forme. Aussi imprécis que son

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domicile. Le flou des personnages de rêve.«261 Burma erscheint in gewisser Weise als surrealistische personnage nuageux, die aus sich heraus eine besondere Relation zum Wetter aufweist. Die besondere Beziehung zwischen moi-narré und moi-narrateur über das Wetter wird als Doppelung explizit, wenn Burma in L’envahissant cadavre de la plaine Monceau prima facie durch das wahrgenommene Wetter seine Innenwelt bzw. sein Befinden im Sinne der traditionellen motivischen Verknüpfung ganz klassisch spiegelt und formuliert: »Vendredi 7 novembre. Le temps est maussade. Lui et moi, nous formons une belle paire.«262 Die eigentümliche Verbindung über das Wetter geht in Les rats de Montsouris hierüber hinaus und kulminiert in einer meteorologisch-metaleptischen Selbstanklage. Burma befindet sich auf der Rückfahrt von Saint-Rémy-lès-Chevreuse, wo er dringend Mme Courtenay sprechen wollte, die er (wieder) verpasst hat:263 Je rentrai à Paris en m’engueulant quatre fois. Tout d’abord, avec moi-même. […] En dernier lieu, je m’en pris au ciel. Il faisait trop beau, depuis quelques jours. Ça ne pouvait pas durer. […] Le soleil disparut, le ciel se couvrit et j’eus droit à la flotte en traversant Orsay. Paris était sec, mais il ne perdait rien pour attendre. De gros nuages noirs se promenaient au-dessus de lui et les rayons solaires qu’ils laissaient filtrer se teintaient d’un jaune déplaisant. La température avait grimpé de plusieurs degrés et l’atmosphère rappelait celle d’un bain de vapeur. Quelques roulements lointains de tonnerre préludaient à l’orage menaçant.264 Der Aufbau des Wetters ist besonders raffiniert, weil er eine Doppelbödigkeit beinhaltet. Flagrant wird sie spätestens über den Kommentar M. Courtenays unter meteorologischer Bezugnahme. Basal unterstreichen Wetterwechsel und Burmas Wut auf den Himmel die Spannung, die sich aus der hastigen Rückfahrt und dem Wunsch, Marie Courtenay zu sprechen, ergibt. Dass es sich nicht nur um einen simplen Wetterumschwung handelt, zeigt sich bereits an der Verwendung des etablierten suggestiven Bildes, eines sich bedeckenden Himmels als Zeichen negativ präfigurierter Handlungsentwicklung. Durch die spezifische auditive Verbindung, die der Maler Courtenay zwischen Regen und Zugverkehr zieht, erhält der Wetterwechsel eine spezifische Nuance und wird als meteorologischer »climatic moment[s]« sichtbar, der »decisively shape[s] our sense«265 : »C’est le tonnerre? – Non. Le train de chez Citroën, qui, passe sur l’ancienne ligne de Ceinture, en bas. Quand on l’entend si nettement, c’est qu’il va pleuvoir.«266 Die per se negative Wetterdarstellung, der drohende Regen, wird mit dem Eisenbahnverkehr in direkte Verknüpfung gesetzt. »[J]aune déplaisant«, »vapeur« und »tonnerre« sowie das Schlüsselwort »menaçant« des Wetters assoziieren sich mit der Eisenbahn und verweisen auf die Bedrohung für Mme Courtenay in Paris. Die besondere Signifikanz der Wetterstelle liegt im ›theodizeeischen Blick‹. Es ist die Stelle, an der Burma deutlich den Himmel attackiert. Aufgrund der ontologischen Bestimmung weiß der Erzähler Burma, dass Marie Courtenay getötet und vor einen Zug geworfen worden sein wird. Über die meteorologische Faktur durch den narrateur-je wird die Trennung zwischen moi-narré und moi-narrateur verwischt und ausgehend vom moinarré zur metaleptischen Selbstanklage: Wenn Burma den Himmel anschreit und gegen

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das Wetter wettert, tritt er als moi-narré in Kommunikation mit dem moi-narrateur, welcher vice versa über das Wetter interagiert. Durch die metaleptische Verwischung weiß Burma, dass es zu spät ist, und er konstatiert in resignierter Wendung: »[J]’eus droit à la flotte.« Der Tod auf der Figurenebene kann von Erzähler und Figur nur noch präfiguriert und meteorologisch kommentiert werden, ist aber nicht mehr abwendbar. Der häufige Blick auf das Wetter durch die Figur erhält vor diesem Hintergrund eine gesteigerte und metaphysische Bedeutung und ist an bestimmten Stellen als ein Kommunikationsmittel zwischen moi-narrateur und moi-narré lesbar, derer sich beide bewusst sind; das moi-narré weiß um die Welt hinter dem bloßen Sichtbaren, das Wetter ist ein surrealistisches Element par excellence.

4.5.3 Burma – saisonale Eu-/Dysphorie Ein wiederkehrendes Phänomen bilden die autoreferenziellen Apperzeptionen des Wetters in Form von Parallelisierungen zu Physis und Psyche: »La nuit était venue. La température se maintenait basse et, peut-être pour faire contrepoids, la mienne se mit à monter.«267 »Le lendemain, par un beau soleil, je m’éveillai de bonne heure, complètement à l’attaque.«268 »[Q]u’est-ce que tu as, Nestor? Tu es hargneux […]. C’est la neige? […]. Elle me fait broyer du noir.«269 Durch die Parallelisierungen ist das Wetter sowohl einfache Transzendierung und internalisierter Ausdruck der Situation durch die Reziprozität als gestimmtes Wetter als auch die komplizenhafte Spiegelachse der Erzähler-Figur. In den Sommerfällen wirkt sich das Wetter besonders auf Burma aus. Er ist sich vielfach seiner Zyklonopathie bewusst und setzt seine detektivische Leistungsfähigkeit hierzu in Relation: »Brusquement, j’avais fait claquer mes doigts. Et comment, que je le situais, Joseph Caillaux! Un peu à la bourre, mais la chaleur en était sans doute responsable.«270 Die Hitze in den Sommerfällen nimmt Einfluss auf seine mentalen Fähigkeiten und Burma verfällt des Öfteren dem Eindruck, wegen des Wetters ziehe sich die Lösung in diesen Fällen ungebührlich lange hin.271 Im Prinzip gestaltet sich an diesen Stellen die implizite Selbstkritik, Zusammenhänge nicht schnell genug zu erkennen. In ihrer Gesamtheit, so die These, illustrieren die meteorologischen bzw. saisonalen Parallelisierungen mehr als eine bloße singulative Darstellung der Verfassung Burmas. Um dieser nachzugehen, darf zunächst an die saisonale Faktur in den NMdP und ihre Auswirkungen etwa auf die Stadt erinnert werden. Acht der NMdP-Fälle spielen im Frühjahr bzw. mit sommerlicher Wetterlage. Die saisonale Verteilung ist mithin umgekehrt zu der der MdP, die in Kapitel 2 untersucht wurde. Die saisonale Distribution ist bemerkenswert, weil das Verbrechen in den NMdP damit tendenziell an eine Jahreshälfte gebunden erscheint, deren klassische Assoziationen im Bereich Neubeginn, Hoffnung, Leben, positive Gefühle etc. liegen. Die Frühlings- bzw. Sommerwetterlagen bilden jedoch in den NMdP die Kernzeit der Bedrohung und Kriminalität und werden meteorologisch zum Teil der Desillusion, d.h. Teil des désespoir du noir. Die Desillusionierung manifestiert sich schrittweise in der Wahrnehmung der Jahreszeit durch Burma. Insbesondere der Frühling wird sukzessive zu einem zyklisch-irreversiblen Moment272 der perpetuellen Wiederkehr von Gewalt und Tod – der Frühling wird assoziativ zu einem Paradoxon. Die saisonale Konzeption der Reihe erweist sich als substanziell für die psychische Disposition Burmas. Dies manifestiert sich etwa durch die Präferenz für oder Abnei-

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gung gegenüber einzelnen Jahreszeiten bzw. Monaten; so hegt Burma etwa eine Aversion gegen den Februar, »le plus sale mochard mois de l’année«273 . Trotz der in der Reihe bestehenden letalen Verbindung zeichnet sich zunächst eine besondere Begeisterung und Sehnsucht für den Pariser Frühling, den »printemps parisien, le plus beau de toute la terre«274 , ab, sodass Burma selbst im winterlichen Nieselregen ein Frühlingsversprechen zu erkennen meint: »Il tombe un petit crachin assez vif, mais supportable. Chargé d’une promesse de printemps, d’ailleurs. Il n’est pas loin, le printemps.«275 Verstärkt wird der Eindruck der saisonalen Euphorie dadurch, dass der Sommer und besonders der Frühling die Jahreszeiten sind, zu denen sich Burma positiv äußert: Er schildert Ausflüge mit Hélène Chatelain als angenehm und spricht von Ferien, die Burma sowohl in der Stadt als auch auf dem Land verbringt.276 Für Burma erscheint der Frühling geradezu idealisiert und stellt einen Moment der Muße. Seine Passion für diese Jahreszeit ist derart ausgeprägt, dass Burma mitunter auf eine erotische Tendelei verzichtet und in Boulevard… ossements lieber den Frühling über Paris genießt: Tous deux accoudés à la barre d’appui de la fenêtre, nous offrons notre visage au nocturne vent printanier de Paris qui glisse sur les toits. Au-delà d’une forêt de cheminées, en direction de la gare Saint-Lazare, le ciel change alternativement de teint: il rougeoie, verdoie etc. selon que s’allument ou s’éteignent telles et telles enseignes lumineuses de la place du Havre.277 Die wiederholte Konfrontation mit dem Thanatalen in Fall 11 bricht – hier etwa durch den Blick auf das Skelett in der Nachbarwohnung – das positiv gestimmte Panorama. Es ergibt sich eine Brüchigkeit des saisonalen Enthusiasmus, die in einen schmerzhaften Prozess mündet, denn die sich abzeichnende Präferenz der Mörder für Frühling und Sommer scheint auch Burma bewusst zu werden. In Pas de bavards à la Muette, dem achten Fall der NMdP und dem fünften, der im Frühling/Sommer spielt, äußert er sarkastisch gegenüber Florimond Faroux: »Un macchabée. Le premier de la saison.«278 Über diese Momente und durch die subjektive Perspektive Burmas wird die Perzeption der Jahreszeit immer wieder gebrochen: In Fall 11 ist es etwa die Frühlingssonne, die auf die Kupferschilder in der Rue La Fayette fällt und bei Burma Assoziationen zu einem Friedhof279 auslöst. Dieser Moment leitet faktural den Wetterwechsel ein, der dann auch die erste Leiche mit sich bringt. Die Einbrüche des Todes verändern Burmas Relation zu den Jahreszeiten und seine meteorologische Wahrnehmung. Endgültiger Auslöser ist der Mord an Lucieu Ponceau in Corrida aux Champs-Élysées: hier erlebt Burma während der Autofahrt durch die Sommernacht ein Hochgefühl – bevor dieses durch den Tod gebrochen wird. Innerhalb des Falls ist ihr Dahinscheiden der einzige Moment, in dem Naturphänomene auf eine besondere und berührende Weise erlebt werden. Auffallend ist, dass sich hiernach die Darstellung bzw. Wahrnehmung des Sommers verändert. Der Sommer wird als Faktum erwähnt, etwa als Hinweis bzw. Umstand bezüglich des Verwesungszustands einer Leiche. Doch es gibt keine Korrespondenz mehr zwischen Innenwelt und Wetterlage.280 Aus der subjektiv positiven Stimmung und der quantitativen Zuordnung resp. Verbindung der Verbrechen zur ersten Jahreshälfte erwächst eine Divergenz zwischen ›zau-

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berhafter‹ Wetterzuschreibung und dem kontrastiven Einbruch des gewaltsamen Todes, woraus sich sukzessive eine dysphorische, resignierte Haltung entwickelt: La nuit commençante était douce; une belle nuit de printemps en perspective. […] Sur le trottoir, quelques jeunes gens […] se racontaient des trucs que les faisaient rire – ce genre de trucs printaniers qui font rire avant qu’ils ne fassent pleurer.281 Die Kulmination der Desillusionierung zeigt sich deutlich im letzten Fall, L’envahissant cadavre de la plaine Monceau. Die meteorologische Exposition zeichnet noch die Vorfreude und die (dezidierterweise noch) »paisible« Frühlingshaftigkeit aus: C’est par une de ces lumineuses matinées de mars, presque printanière, comme Paris, qui en a le secret en réserve souvent, malgré ce qu’on raconte. Le printemps, d’ailleurs, à en croire le calendrier, rapplique. Dans deux semaines, il sera là, officiellement. Alors, ça se gâtera peut-être, mais pour le moment, il fait bon. Un vent léger et doux caresse les branches chargées de bourgeons des arbres de l’avenue de Wagram. Tout est calme est paisible.282 Charakteristisch für die längere meteorologische Exposition enthält diese eine wesentliche Facette des Falles, scil. die drohende Veränderung des Frühlings bzw. seine negative Wendung. Der désespoir du noir erscheint sichtbar in der mokanten Feststellung Burmas: »Bref, assassins et voleurs ne se sentent plus, par ce printemps. Ils crachent le feu […].«283 Die positive Apperzeption geht verloren. Das Changieren des Frühlings wird mit der plötzlichen Raffung und anschließenden Ellipse – dem einzigen saisonalen Bruch in den NMdP – bespiegelt, der sowohl die subjektive Desillusion als auch das detektivische284 Potenzial tangiert: Der Frühling vergeht und »novembre pointe son museau embrumé«285 mit dem Wechsel von Kapitel II zu III, ist das Wetter ›zum Kotzen‹ und entspricht Burmas Stimmung. Die Veränderung schlägt sich im meteorologischen Wirken auf die Stadt nieder. Erstrahlte einst die Sonne über der Place am Boulevard VitalBouhot, werden nun Details der Stadt durch das Wetter aufgezehrt: »Le reste a été bouffé par le temps, la pluie et le soleil.«286 Auffallend ist hier die saisonale Kontrastfolie, die eine Similarität zu der Fleur-de-Maries bzw. des Frühlings in den MdP aufweist: La Seine roule ses flots jaunâtres moirés, çà et là, à la surface, de longues traînées d’huile. Entre deux arbres dénudés, dont les branches basses trempent dans l’eau, je distingue une guinguette bâtie sur pilotis, avec un hangar à bateaux et un squelette de tonnelle qui doit être fleuri, l’été. […] Sous le ciel gris, tout ce saint-frusquin de l’évasion du rabais pour couples à la nostalgie romantique facilement apaisable, exhale une indicible tristesse.287 In der Folge werden Wetter und Stadt von einem Fluidum der Düsternis geprägt. Die Sonne scheint in den NMdP nie wieder. Burma verliert das Gespür für sie. So heißt es: »Il se lève ou il se couche? – Qui? – Phébus?288 – On ne l’a pas vu de la journée, mais, théoriquement, il se couche.«289 Interessant ist die Personifizierung und die in der Frage Burmas enthaltene Auflösung einer zuvor persistenten Relation zu den Naturphänomenen. Ab diesem Moment zeichnet sich eine Trennung zwischen Burma, Burmas Innenwelt

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und dem Wetter ab. Über Paris bleibt es dunkel, im weiteren Verlauf des Falls erscheinen Nacht, Wind und Humiditätsereignisse nur noch als Teil der Atmosphäre. Das Wetter ist geradezu zum Dekorelement des Außenraums ›degradiert‹ und effiziert dergestalt keine Beziehung mehr zum moi-narrateur. Die Veränderung in L’envahissant cadavre de la plaine Monceau markiert fernerhin einen Bruch resp. ein Ende auf quasi intratextueller Ebene. Der Dialog zwischen Faroux und Burma bezieht sich prima facie auf den Fall, erhält jedoch als letzte meteorologische Erwähnung eine besondere Qualität und Aussagefunktion: »Et les voilà partis, sous la pluie et le vent, dans la froide nuit de novembre. – Assez de littérature […]! éructe Faroux.«290 Burma nimmt unter Referenz zum Wetter an dieser Stelle das den Abschluss der NMdP vorweg. Denn mit Fall 15 endet der Zyklus um Nestor Burma.

4.5.4 Burmas Erinnerungen, Liebe und das Wetter Zwei weitere Facetten der Wetter-Relation sind die Verknüpfungen von meteorologischen Phänomenen und Erinnerungen sowie zum Thema Liebe. Bezüglich der Erinnerungen finden sich zwei Varianten am häufigsten, die Befreiung von Erinnerungen und das Auslösen von (meteorologisch verknüpften) Erinnerungen. Die Befreiung von Erinnerungen findet sich bspw. in La nuit de Saint-Germain-des-Prés: Burma erhofft sich durch den fallenden Regen eine physische Reinigung von der olfaktorischen Verbindung sowie eine metaphorische Reinigung von der anhaftenden Erinnerung an die fötide Leiche Mac Gees: »J’aspirais à être trempé. L’eau du ciel chasserait peut-être les odeurs […] du mort et dont il me semblait être imprégné jusqu’à l’os.«291 Etwas komplexer erscheint das Wetter im Nexus zu weiter zurückliegenden Ereignissen; hier ist es von zwei Seiten zugänglich. In Corrida aux Champs-Élysées fungiert die Wetterlage als Auslöser der Erinnerungen: In diesem Fall erinnert der feuerrote Himmel über die assoziative Similarität an den toten Journalisten Rabastens (wegen dessen roten Haaren) und löst ein Gefühl der Beklemmung aus, wodurch ein Impuls für den Fall entsteht. Daneben finden sich Erinnerungen an Erlebnisse oder Situationen, die nicht durch eine Wetterlage ausgelöst werden, sondern mit dieser verbunden sind; wie etwa Erinnerungen an Burmas Kindheit und Jugend. Rückblicke hierauf finden sich nur an sehr wenigen Stellen, doch das Wetter ist stets Bestandteil der Erinnerung, die hierdurch nicht zuletzt eine affektive Bewertung erhält.292 Gleichsam als Ironisierung der Proust’schen Madelaine versetzt Burma die olfaktorische Impression des Treppenhauses bei den Dolmets in seine Kindheit bei der Großmutter: Je regardais par la fenêtre la rue déserte inondée de soleil brûlant, j’écoutais ma grand’mère vaquer à ses occupations dans une pièce voisine, ou, plus souvent, le piano sur lequel quelqu’un jouait le même air, dans la maison d’en face […].293 Die Erinnerung ist olfaktorisch, auditiv und haptisch angelegt und enthält durch die instinktiv positive Bewertung des Sonnenscheins ein Gefühl der Geborgenheit. Doch unterläuft der Kommentar zur Erinnerung die eigentlich mit der Sonne assoziierbare glückliche Stimmung: »[J]e n’avais pas de copains ou […] je désirais être seul.«294 Ob dies tatsächlich dem Wunsch entspringt oder den Umständen geschuldet ist, bleibt offen.

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Diese an die Sonne gekoppelte Bespiegelung verweist (gleichsam retrospektiv als Orientierung) indes auf zwei Momente, die ein Charakteristikum Burmas als Detektiv abbilden: die Distanz als Beobachter sowie das Moment des Einzelgängers. Mit der Sonne verquickt sich eine gewisse Melancholie, die sich auf spezifische Weise durch Burmas Leben zieht.295 In Verbindung zum désespoir du noir erhält sie in den NMdP eine subjektive Facette, die sich insbesondere an Beziehungen zu Frauen abzeichnet. In den NMdP verliebt Burma sich zwei Mal, einmal am Anfang (Fall 1), das zweite Mal in der Mitte (Fall 9), und beginnt eine Romanze. Beide Male wird die Beziehung durch den gewaltsamen Tod der Partnerin beendet. Durch die Distribution entsteht gleichsam ein perpetuiertes ›Trauma‹, durch das sich potenziell erklärt, warum Burma (nach diesen Fällen) keine Beziehung mehr eingeht. Inter- wie extratextuell spielen hier allerdings zwei Aspekte hinein. Zum einen das Bild des einsamen Helden, wie er charakteristisch für die hard-boiled novel und den Topos lonesome hero ist, der sich mit der Vorstellung von Unabhängigkeit und Freiheit verbindet.296 Die Frauen in Burmas Leben müssten mithin schon aus Gründen der Gattungskonvention sterben. Zum anderen spielt eine Erklärung Malets hinein, auf die Alfu verweist: Certes, pour expliquer cela, Malet a évoqué des impératifs techniques, liés à la liberté que devait conserver son héros, mais il a aussi avancé d’autres arguments: »Burma est un type dans mon genre, il a des idées sur l’amour un peu particulières: il est l’homme d’une seule femme. Même s’il a des femmes successives. Son amour est exclusif, et la seule rupture possible, c’est la mort.«297 Vor dem Hintergrund des Wetters fällt auf, dass sich die Beziehung und der Tod der Frauen in Burmas Leben in den NMdP mit Naturphänomenen verquicken: Sonne bzw. Sonnenaufgang sowie Nacht und Nebel. Die erinnerte Sonne verankert den Konnex (aus der Erinnerung), der sich in Le soleil naît derrière le Louvre als erstem Fall aktualisiert. Der Nebel ist markant, insofern er innerhalb der NMdP kontinuierlich auf die Vergangenheit verweist: In Nestor Burma contre CQFD298 verliebt er sich in Lydia Valbois. Es ist diese Beziehung, die Alfu als »aventure la plus poignante«299 charakterisiert. Burma schickt Lydia Valbois nach Spanien (weil er sie irrtümlich in den Tod ihres Gatten verwickelt glaubt), auf dem Weg kommt sie ums Leben. In gewisser Weise ist Burma mithin schuld an ihrem Tod. Dieser Eindruck lastet möglicherweise in den NMdP weiterhin auf ihm, aber legt zudem jeder weiteren Beziehung gleichsam prädeterminierend einen ›Schleier‹ auf.300 Dergestalt fungiert der Nebel in Le soleil naît derrière le Louvre sowie in Brouillard au pont de Tolbiac auch als Schatten der Vergangenheit und des Verlusts, wodurch er eine Schlüsselfunktion für die Vorausdeutung des unheilvollen Schicksals erhält und damit symbolisch resp. symptomatisch auf das Verlustgeschehen Burmas verweist. Die Einbindung der Sonnenaufgänge in Le soleil naît derrière le Louvre im Zusammenhang mit Burma und der Beziehung zu Geneviève Levasseur wird nachfolgend kurz skizziert. Im Anschluss erfolgt ein Blick auf den titelgebenden Nebel im 9. Fall sowie auf die Verbindung Burmas zu Bélita Morales. Die meteorologische Faktur in Le soleil naît derrière le Louvre kann mit unterschiedlichen Perspektiven gelesen werden, etwa in Transzendierung zum Fall und seiner Ent-

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wicklung, zur Kunst,301 aber auch mit Fokus auf die Beziehung zwischen Geneviève Levasseur und Burma. Diese kann an vier Etappen, von der Sonne kaleidoskopartig begleitet, nachvollzogen werden: I. Burma verliebt sich zu einem Zeitpunkt in Geneviève, der durch das Motiv der Nacht geprägt ist. Nach der Liebesnacht mit ihr tritt Burma auf den Balkon des Hotels und die Kälte des Morgens zeugt bereits von einem physischen ersten Kontrast zur ›Wärme‹ der Nacht: »L’air était glacial. Un brouillard jaunâtre stagnait sur Paris. Mais il serait bientôt dissipé. Le soleil naissait derrière le Louvre.«302 In kurzen Eindrücken wird das meteorologisch geprägte »post-coital«303 Panorama körperlich und seinsbezüglich (haptisch, visuell, temporär und räumlich) eingefangen. Auffallend ist, dass der Sonnenaufgang als symbolisches Zeichen für einen Neuanfang zweifach verdeckt erscheint: erstens durch das Humiditätsereignis des Nebels, der als gelbliche (gleichsam giftige) Trübung über ›ganz‹ Paris liegt, und zweitens durch ein Gebäude, das im Nexus zum Fall selbst steht: der Louvre. Die Verbindung schafft die literarische Darstellung des meteorologischen Phänomens Nebels über welche alle relevanten Elemente ausgewiesen und verbunden werden: Geneviève, die »plus belle que les tableaux du Louvre«304 , selbst, aus dem ein Raffael-Gemälde gestohlen wird (Anspielung auf den Raub der Joconde), die doppelte Bedeutung von »soleil« als Himmelskörper sowie (argot) »un million de francs (anciens)«305 und der Nebel, der als Symbol auf die persönliche Vergangenheit verweist. Letzteres ist umso signifikanter, weil Geneviève konträr zu Lydia de facto in die Affäre um den gestohlenen Raffael verwickelt ist. II. Insofern muss sich zunächst die Vorausdeutung der Nebelauflösung als nicht realisiert zeigen. Die Sonne kommt nicht gegen den Nebel an: »La brume subsistait […]. Le soleil n’avait pas tenu […] les promesses de l’aube.«306 Bemerkenswert ist das plurale negative Potenzial; die Enttäuschung über das nicht eingelöste ›Versprechen‹ steht in Verbindung zum Sonnenaufgang (I.). Der Nebel hält sich und transzendiert einerseits den ›Jetzt-Zustand‹, andererseits präfiguriert er die Unmöglichkeit des Versprechens von einem (zyklischen) Neuanfang. III. Das dritte Sonnenbild nach der Liebesnacht mit Geneviève findet sich, als Burma mit Hélène die Vögel am Quai befreit. Die Vögel stieben zum Himmel, »dans le ciel de Paris qu’un rayon de soleil perça d’une flèche lumineuse«307 . Die Vögel, der Himmel, die Sonne, die Kinder erscheinen zauberhaft, erzeugen indes parallel einen Verweisnexus zum Fall, zur Erinnerung Burmas und zu den Konstituenten der Detektivfigur. Die Befreiung der Vögel parallelisiert die eigene Befreiung aus dem Hinterzimmer der Vogelhandlung, in der er zuvor kurz gefangengehalten wurde, und wird zum metaphorischen Gegenbild für seine eigene Freiheit und letztlich selbstjustiziable Independenz, die mit dem Konzept des Detektives als lonesome hero verbunden werden kann. Markant erscheint die Verbindung zwischen der eigenen Freiheit und der meteorologisch brutalen Wirkung, des Sonnenstrahlpfeils, der den Himmel durchbzw. ersticht. Mit der Freiheit assoziiert ist mithin eine letale Komponente. IV. Mit der letzten Darstellung des Sonnenaufgangs blickt Burma auf den Sonnenaufgang hinter dem Louvre. Es ist der Morgen nach dem nächtlichen Showdown, bei dem Geneviève sich vor Burma stellt und von der für diesen bestimmte Kugel ver-

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letzt wird. Parallel zum Sterben Genevièves wird der Himmel über Paris blasser. »Je me détournai, avançai sur le balcon et regardai poindre l’aube dans le ciel de Paris. Le soleil naissait derrière le Louvre.«308 Die Parallele zum Moment der ›surrealistischen‹ Freiheitsdarstellung über die gewaltassoziierende Präsentation am Himmel ist flagrant. Die Sonne bleibt hinter dem Louvre und damit stets hinter dem Fall. Obwohl mit jedem Sonnenaufgang die Hoffnung auf einen Zukunftsglauben verbunden ist, markiert dieser immer auch das, hier multiple, fiat lux der Aufklärung durch den Detektiv. Mit diesem kommt der goût de cendre, die désespoir du noir.

4.5.5 Burmas Wetter in Brouillard au pont de Tolbiac Wie in keinem anderen Fall weist der Nebel in Fall 9309 eine spezifische Intensität auf. Für Burma verbindet der Nebel das Arrondissement (Burmas Jugend), die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit sowie seine Emotionen (Liebesbeziehung zu Bélita, Vater-Sohn-Beziehung zu Lenantais [Abel Benoit]), aber auch den Deduktionsprozess als meteorologischer Nexus der Fälle der Gegenwart (1956 – Mord an Benoit) und der Vergangenheit (1936 – Überfall auf einen Geldtransporter und Verschwinden des Fahrers). Die Besonderheit des Falls für Burma gründet sich in der Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit, durch die ihm die Lösung der Fälle als detektivische Instanz erst möglich wird. Im Folgenden werden die meteorologischen Implikationen skizziert.

4.5.5.1 13. Arrondissement Der Nebel ist lokal begrenzt an das 13. Arrondissement gebunden; dies zeigt sich sobald Burma sich an anderen Orten, wie in seiner Wohnung, aufhält, denn hier scheint die Sonne. Das Mikro-Wetter im 13 Arrondissement innerhalb des Pariser Klimasystems manifestiert sich sukzessive und zunächst durch die Dichotomie zum Regen.310 Der Nebel erscheint zunächst als »brume timide, mais qui s’enhardirait certainement«311 und intensiviert sich schließlich entsprechend der Vorausdeutung: »[U]n crépuscule précoce, haté encore par un insidieux brouillard, prenait possession de cette partie de la ville.«312 Bereits hier zeichnet sich eine auffallende Anthropomorphisierung ab, welche einen ersten Blick auf die herrschenden Mächte offenbart, die im weiteren Verlauf virulent werden. Mit ›Betreten‹ des 13. Arrondissement an der Place d’Italie wirkt der Nebel als beherrschendes Wetterphänomen und tritt dezidiert lokal-determinierend hervor:313 Sale coin, nom de Dieu! Je n’y viendrai donc jamais un jour où il y aura du soleil? Nous arrivons Place d’Italie. Un brouillard sournois, à l’image de quelques ombres que l’on surprenait à s’engager furtivement dans le boulevard de la Gare, s’effilochait aux branches dégarnies des arbres du square central et des terre-pleins en bordure.314 Mit Emanuel kann der Nebel zunächst in einen surrealistischen Bezug gesetzt werden: »Nature’s fog […] [is] an all-enveloping surrealist milieu that actively obscures clear vision.«315 Der Nebel effiziert prima facie einen schauerromantisch gestimmten Raum, er rückt den Stadtteil in ein unheimliches Licht und lässt ganze Straßenzüge verschwin-

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den. Die Apperzeption des Wetters transzendiert Raum und Figuren in etwas Fantasmagorisches, Unwirkliches. Basal für diese Wahrnehmung Burmas ist seine persönliche Beziehung zum Viertel. Die Grundlage bildet die Relation zu Burmas Jugend, Distanzierung bzw. Verdrängung dieser Zeit und die nicht gelungene Auseinandersetzung mit ihr. Die Apperzeption der illisibilité des 13. Arr. verweist dergestalt auf die illisibilité der eigenen (Burmas) Vergangenheit: Die apperzeptiv-suggestive Evokation ab der Arrondissementgrenze ist so signifikant, dass sich fragen ließe, ob die Intensität des Nebels intrafigural ›real‹ ist und nicht vielmehr einer Art météorologie mentale entspricht. Der Nebel prägt die Wahrnehmung des vermeintlich Sichtbaren und führt zu einer surrealen Sichtweise. Das Humiditätsereignis transformiert das Areal in einen Grenzbereich, in dem Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Illusion verwischen. An dieser Stelle offenbart sich nicht zuletzt über die suggestive Präsentation des Nebels bereits, was Smith thematisch für den neunten Fall konstatiert, ein »quasi-Freudian scenario of a past event traumatically returning to haunt the past«316 .

4.5.5.2 Nebel der Vergangenheit Markanterweise scheint der (metaphorische) Nebel gleichsam psychotrop zu wirken und Burmas mentale Karte zu beeinflussen. Denn das 13. ist das einzige Arrondissement, in dem Burma sich so fremd fühlt, dass er einen Stadtteilplan erwirbt, um sich zu orientieren.317 Bridgeman interpretiert den Erwerb dergestalt, dass dieser »demonstrates his reluctance to acknowledge his personal experience of the area, to distance the young Burma […] there, and to keep at bay the beginnings of a loss of control«.318 Prinzipaliter ist das vertraute Arrondissement zu einem fremden Ort geworden. Dieses Moment ist neben der persönlichen, identitären Bedeutung relevant und wirkmächtig für die detektivische Instanz: Waldenfels formuliert in Topographie des Fremden, dass sich »Fremdes nur von einem Ort der Fremde denken läßt«319 . Wenn man die Figur des Detektivs als Mittler oder »Agent der Alterität«320 betrachtet, dessen Funktion die Entschlüsselung des Fremden ist, so gilt dies in spezifischer Weise für diesen Fall. Die räumliche Orientierungslosigkeit kann durch einen Blick auf die Karte aufgelöst werden, doch die Fremdheit bzw. das Nicht-mehr-Zurechtfinden erhält sich auf der Ebene des Nebels. Er exponiert fortgesetzt Burmas Wissen um die Verquickung von Arrondissement, Geschichte und seiner Selbst. Burma geht mithilfe der Karte zu Benoits Haus, doch je weiter er ins Viertel vordringt, desto weiter gelangt er in den Bereich des Nebels und wandelt fast wie in einem Traum durch die Straßen:321 »Maintenant, la nuit était presque totale. Une légère brume nimbait le paysage. Des gouttelettes froides tombaient des extrémités des branches […] où elles s’étaient accumulées dans l’attente d’une victime.«322 Der Nebel scheint, personifiziert als eigenständiges Wesen, auf sein nächstes Opfer zu lauern. Er ist nicht nur unheimlich, sondern angstbesetzt. – Dem Nebel wird eine Gefahr zugeschrieben: Sie kann einerseits psychisch auf die Figur Burmas bezogen werden, insofern es um die Weigerung geht, die eigene Vergangenheit auszuagieren, bei anderer Betrachtung auch als metaphorisch-letales (Vergangenheit) Gefahrenmoment für Daniel, Benoit, Ballin, Lacorre, Baurénot und letztlich auch für Bélita. Diese Wirkung des Nebels führt zu einer

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befremdlichen Gestimmtheit Burmas: »[J]’éprouvais une étrange sensation de volupté – teintée d’un arrière-goût suspect.«323 Durch Bélita Morales erfährt Burma, dass Benoit gezielt in der Rue Watt niedergestochen worden ist.324 Burma erkennt, dass er weitersuchen und eine andere Perspektive als die Polizei einnehmen muss: Mon objectif est différent. Tel indice sans valeur à leurs yeux peut m’ouvrir des horizons… Je me levai et m’approchai de la fenêtre. Si les horizons que j’espérais découvrir étaient aussi bouchés que celui que j’apercevais de mon observatoire, ça n’irait pas très loin. Le passage des Hautes-Formes n’existait plus. Le brouillard l’avait bouffé.325 Als indice (nicht zuletzt in der Barthes’schen Funktion) löst der Nebel die Stadt vollständig auf, wodurch der Nebel als kernel in den Fokus rückt und letztlich auf seine (paradoxale) Substanzialität verweist. Das Ausagieren der Vergangenheit erscheint relevanter als die der räumlichen Re-Aneignung. Burma ist hierzu allerdings noch nicht bereit und so liefert die nächtliche Hinweissuche mit Bélita keine konkreten Hinweise, doch dringt der Nebel physisch in Burma ein: »Le brouillard qui envahissait la cour se plaqua sur nos épaules comme un linge mouillé. La fumée de ma pipe et la buée de nos respirations se mêlaient à la brume fuligineuse.«326 Just nach dieser »Inkorporation«, beginnt Burma, sich an Benoit zu erinnern und erzählt Bélita »d’un môme nommé Nestor Burma, et qui avait furieusement traîné la savate dans le coin«327 .

4.5.5.3 Nebel, Wetterwechsel und Vergangenheit Beeindruckend ist an dieser Stelle das Ende des Kapitels, womit die Nacht bei Bélita Morales abbricht. Der kurze Absatz zu Beginn des sechsten Kapitels schildert einen Eindruck des nächsten Morgens und beleuchtet die veränderte meteorologisch-topografische Situation: »Il [le passage] était toujours là, mais débarrassé du brouillard. Sous l’aube naissante, les contours des masures d’en face se précisaient.«328 Mit dem veränderten Wetter zeichnet sich eine veränderte Haltung zu diesem selbst ab und dies legt das Potenzial einer veränderten Perspektive offen, in der Fragmente der Vergangenheit (masures), beginnen, klare Form anzunehmen. Mittels der Isochronie exponiert sich, dass in der Nacht etwas geschah, das für Burma zu einer Veränderung führt. Mokanterweise wird dieses Ereignis aber durch die Analepse selbst zu etwas Vergangenem bzw. in der Vergangenheit verankert. Dieses Moment lässt sich mit einer Formulierung Smiths psychologisch fassen, scil. als Geschehen, das »conjures up an element of the real that cannot as yet be integrated within the perspective of his current identity«329 . Der Nebel wird durch die Chronofaktur hervorgehoben, weil er selbst zum Erinnerten wird; daraus entsteht eine motivische Dopplung des Nebels. Die Naturphänomene haben Burma davon abgehalten, Bélitas Wohnung zu verlassen, insofern fungiert der Nebel zusätzlich als Kuppler für die Figuren. Doch der Nebel entfaltet auf dem Höhepunkt seiner Intensität weniger eine romantische Stimmung als vielmehr eine klaustrophobische Atmosphäre der äußersten Anspannung und der latenten Bedrohlichkeit: »Le brouillard cernait la maison. On le devinait aux aguets, prêt à s’insinuer par la moindre brèche. La nuit était silencieuse comme aux premiers

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âges.«330 Der Nebel ist in Burma Apperzeption längst kein einfaches Wetterphänomen mehr. Der personifizierte Nebel erscheint als eigenständig agierendes Wesen, vor dem es kein Entkommen gibt. Diese personifizierte Apperzeption verweist in ihrer Motivik bereits wieder auf das Unheimliche, das Verdrängen des Eigenen, vor dem keine Flucht mehr möglich ist: Je l’avais rejointe. […] J’avais essayé de percer l’épaisseur du brouillard. […] Je le savais hostile, fumeux […]. Maintenant, nous étions l’un contre l’autre, à nous communiquer notre chaleur et à narguer le brouillard, ou essayer. Ma main avait effleuré un des seins de la fille. […] C’était un sale coin. J’y avais été écrasé, humilié, je n’avais jamais été considéré comme un être-humain… Je l’avais prise dans mes bras, la serrant fortement […]. Nos deux cœurs battaient sur un même rythme, comme un lointain appel de tamtam, et puis, plus rien n’avait existé. Même le brouillard avait été balayé.331 Im surrealistischen Sinne entspricht der Nebel der Bewusstwerdung des Unbewussten sowie in der Erzähllogik als Figuration des moi-narrateur und wirkt entsprechend bereits hier adjuvantisch für bzw. auf die Figur Burma. Der Nebel dringt ins Haus (= Bewusstsein) und Erinnerungen an Gefühle der Ungerechtigkeit, Kränkung, Wut und Wehrlosigkeit dringen zurück an die Oberfläche seines Bewusstseins. An dieser Stelle kommen mit der Funktion Bélitas und des Nebels mehrere Faktoren zusammen: In Smiths psychologischer Interpretation des Falls »[Bélita] functions to represent Benoit for Burma beyond his death«.332 Benoit ist ein entscheidender Teil von Burmas Vergangenheit, mit der er sich durch den Nebel provoziert über Bélita (zunächst als Adressatin seiner Erinnerungen) auseinandersetzt. Hinzugezogen werden kann eine surrealistische Perspektive auf ihre Funktion, so formuliert Starck-Ottkowitz: »Die Frau bringt dem Mann im Liebesakt aus surrealistischer Sicht die ersehnte Vollständigkeit, führt ihn zum Unbewussten und gilt somit als Erlöserin.«333 Betrachtet man Bélita (als metaphorisches Alter Ego Benoits) als Verbindung zu Burmas Vergangenheit, zeichnet sich im körperlichen Akt die Vereinigung resp. Aussöhnung mit seiner eigenen Vergangenheit ab. Als externalisierte Vergangenheit hat sich der Nebel genähert und fällt im Liebesakt mit Bélita, selbst Teil des Nebels geworden,334 zusammen. Bélita wird zur Verkörperung der größtmöglichen Nähe, die Burma zu seiner Vergangenheit erfahren kann. Nicht von ungefähr bemerkt Burma in actu das Verschwinden des Nebels.335 Als Burma (relativ in der Mitte des Falls) seine Vergangenheit zulässt und akzeptiert, verändern sich das Wetter und damit der zuvor abschätzige Blick auf das Viertel: Il faisait frisquet, mais on n’aurait certainement pas de brouillard, aujourd’hui. […] Un soleil jaune léchait les acacias décharnés de la rue de Tolbiac. Des passants pressés allaient à leurs occupations. Comme partout ailleurs. […] C’était un arrondissement, un quartier semblable aux autres […].336 Das veränderte Wetter und die ›Auseinandersetzung‹ mit seiner Vergangenheit wirken über die Gestimmtheit des Wetters und damit die Bewertung des Viertels auf Burma in seiner Funktion als detektivische Instanz. Mit dem Sonnenschein können gleichsam Anagnorisis und Peripetie verknüpft werden. Der meteorologische Einzug der Sonne

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wird zum pluralen fiat lux und so werden Erinnerungen bspw. an Erlebnisse und Hinweise für die Aufklärung zugänglich. Hierdurch wird die im Fall lancierte doppelte Spurensuche (des narrateur-je und des Detektivs) zusammengeführt und die Aufdeckung der beiden ersten Geschichten, die der Verbrechen in der Vergangenheit, möglich. Bezüglich der Erinnerungen und der Detektivfunktion kann mit Bridgeman angeführt werden: Instead of sources of plot solutions are to be found in the labyrinth of Burma’s memories, both of the Foyer, and other texts. Thus, one of the final pieces in the puzzle surrounding Lenantais’s death, the presence of his murderer, Lacorre, in Paris is produced by Burma’s fortuitous memory of a newspaper article concerning the rehabilitation of criminals by the Armée du Salut […]. The detective structure is also emptied of its logic by a confrontation scene between Burma and his two ex-associates from the Foyer, Baurénot (previously Bernis) and Deslandes (previously Jean L’Insoumis). This scene is marked by non-recognition and false moves, and the discoveries made in it have less to do with detection than with Burma’s reflections on the changed situations and attitudes of himself and his erstwhile associates […].337 Mit dem Wetterwechsel wirkt der später einsetzende Nebel auf Burma nicht mehr feindselig, er erscheint gleichwohl zu Momenten, die mit der Vergangenheit Burmas wie mit den Fällen zu tun haben. Die Relation Burmas zum Nebel wandelt sich vom Ungewollten, Bedrohlichen zum Adjuvanten. Dies zeigt sich, als Burma und Bélita die Leiche Ballins fortschaffen: »J’espère que le brouillard ne s’est pas dissipé…. . […] Le passage des HautesFormes était calme, la nuit silencieuse, la brume assez épaisse. Ça irait.«338 Ferner wird der Nebel für Baurénots letal: Er stürzt während der Verfolgungsjagd im Nebel auf die Gleise (nachdem Burma ihn als Mörder seines ehemaligen Komplizen identifiziert hat). Der Nebel ist zwar für Baurénot eine Gefahr, parallel wirkt er aber nie so, dass er Burma in Gefahr bringt. Prima facie werden die Ereignisse durch Wind und Nebel in eine unheimliche und präfigurierende Atmosphäre gerückt. So legt sich der Nebel als »linceul glacé«339 . Similär erzeugt der kalte Wind340 einen auditiven Eindruck und präfiguriert das Finden der Leiche, sodass er mit dem Nebel zusammenspielt und in einen detektivischen Nexus eingebunden ist: »Le vent soufflait en rafales, gémissant dans les branches squelettiques des arbres.«341 Nunmehr als Komplize des Nebels, tritt der Wind hervor und greift in die Handlung ein, indem er zunächst einen Hinweis bringt: »Une rafale plus brutale que les précédents fit surgir de la rue du Chevaleret […] une casquette de salutiste. […] Le corps ne devait pas être loin.«342 Der textuell bereits personifizierte Wind suggeriert eine Richtung und fungiert adjuvantisch als Spiritus Rector: »Je ne sais comment je fis mon compte, peut-être était-ce le vent qui […] m’emporta.«343 Die deduktive Logik der Schlussfolgerungen aus Beweisen wird an diesen Stellen deutlich ironisch unterlaufen.

4.5.5.4 Liebe und Novembernebel Besonders mit Rückblick auf Le soleil naît derrière le Louvre fällt auf, dass sich die Beziehung zu Bélita in den nebligen Nächten entwickelt und (weitgehend) auf diese begrenzt ist. Durch das repetitive Moment der Beziehungen und des gewaltsamen Endes entsteht der Eindruck einer dichotomischen Isolation des Gefühlslebens Burmas auf die Nacht.

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Nach dem Showdown, bei dem Burma in die Seine stürzt und im Krankenhaus wieder zu sich kommt, bemerkt er gegenüber Faroux: »Moi, je suis vivante, mais c’est en moi qu’un tas de trucs sont morts. Enfin, c’est novembre, n’est-ce pas? Et novembre, c’est le mois des morts.«344 Auffallend erscheint qua religiöser Markierung die explizite mensual-thanatale Konnotation. Mit ihr entsteht ein Rückbezug zu Burmas Wahrnehmung der Schatten im Nebel an der Place d’Italie. Bemerkenswert ist das Ausbleiben meteorologischer Eindrücke oder Darstellungen zugunsten des mensualen Fokus, denn die Nennung des Novembers erscheint an der meteorologischen, topografischen und semantischen Grenze des Pont de Tolbiac, als Burma Bélita an einem »après-midi de novembre«345 wiedersieht. Der November erhält hier apodiktische Signifikanz: Bélita wird von Salvador getötet. In ihrer Funktion als Figur (Vergangenheit, Nebel, hard-boiled) ist sie an die Nacht, den Nebel und den Ort gebunden, als letztes Verbindungsglied für Burma muss sie sterben. In diesem Sinne wiederholt sich der Tod Benoits im Tod Bélitas. Über ihren Tod wird indes auch die Verquickung von Vergangenheit und Gegenwart erneut expliziert, denn es ist ihr Tod, der Burma bewegt, Gerechtigkeit für Inspektor Ballin zu fordern. Der Fall des Geldtransporters (1936) ist Ballins Obsession, als detektivische Instanz ist er quasi ein Alter Ego Burmas;346 als er während des Nebels im Haus des ermordeten Benoit nach Hinweisen sucht, wird er von Salvador getötet, weil dieser, so steht zu vermuten, Ballin mit Burma verwechselt. Ballin stirbt also an Burmas Stelle. Burma wiederum vollzieht mit der Identifikation der Täter des Falles 1936, seiner Freunde aus Vegetalierzeiten, die Auflösung der Obsession für die andere detektivische Instanz. Durch die Verquickung von Vergangenheit und Gegenwart erscheint es daher konsequent, den Tod Bélitas als Anlass für die Aufklärung Ballins zu setzen.347 In diesem Sinne ist »son mystére«348 des Pont de Tolbiac jeweils das gleiche, das Geheimnis des anderen.

4.6 Zusammenfassung •







Innerhalb der NMdP erscheint der Regen quantitativ nicht signifikant häufig – das Klischee des Dauerregens als Hintergrunduntermalung im roman noir wird hier nicht bestätigt resp. für die NMdP falsifiziert. Die Analyse zeigt hingegen auf, dass dem Wetter jeweils eine Funktion inhärent ist, die mit der Raum-, Figuren- bzw. Handlungsebene verbunden ist. Wettermuster, die einen Anklang an den Schauerroman stellen, werden in den NMdP aufgegriffen, so etwa im Falle des vermeintlichen ›Unholds‹ Bénech, aber im Rahmen des Kriminalromans unterlaufen. Hier zeigt sich die Fortführung der bei Gaboriau angelegten Modifikation des Sekundärmotivs. Im Rahmen des deduktiven Prozesses verliert die visuelle Wetterspur (wie etwa noch die Spuren im Schnee bei Lecoq) ihren Status, relevant werden nun Wetterimplikationen als Hinweis auf das potenzielle Verhalten von Figuren. Das Wetter an Tatorten und seine Implikation bei der Darstellung der Leiche divergiert in Abhängigkeit davon, ob es sich um weibliche oder männliche Opfer handelt. Über das Wetter entstehen dergestalt auch saisonale tatortspezifische Besonderheiten, wie ästhetische Anspielungen auf das Horrorgenre oder den Surrealismus.

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• •

Das Wetter wird durch den narrateur-je zu einem herausragenden Element der Narration und steht in substanzieller Verbindung zur individuellen Disposition der Figur. So zeichnet sich über die NMdP eine Relation zwischen der Saisonalität und Burmas Entwicklung als Detektiv ab, insofern sich nach der saisonalen Euphorie die Wetterwahrnehmung verändert und in einer Desillusionierung kulminiert. Wie bei Graf Gerolstein und Lecoq entwirft sich für Burma eine Verbindung zwischen Nebel und Identität sowie Akzeptanz der eigenen Vergangenheit (Brouillard au pont de Tolbiac). Burma weist als Figur eine enge Verbindung zum Wetter auf, die über die einer traditionellen motivischen Verbindung des ›Helden mit seinem Wetter‹ hinausgeht. Ein besonderes Moment ist die Relation zwischen moi-narrateur und moi-narré, die sich über das Wetter lanciert, wobei durchscheint, dass sich die Figur Burma an einigen Stellen ihrer eigenen Figürlichkeit bzw. Gemachtheit bewusst ist. Als quasi meteorologisches Phänomen ist es dergestalt möglich, dass der moi-narrateur in die Handlung und die (Lebens-)Geschichte seines moi-narré eingreift. Über das Wetter entsteht mitunter eine Auflösung der Grenze bzw. eine kommunikative Verbindung zwischen moi-narrateur und moi-narré und evoziert damit eine surrealité. Die besondere Beziehung zeichnet sich auch über die meteorologischen Parallelisierungen ab, die nicht einfacher Zufall, sondern vom moi-narrateur angelegt und vom moi-narré auf sich bezogen und damit aufgedeckt werden. Einige der Wetterexpositionen in den NMdP weisen eine besondere Gestaltung auf. Sie sind als verschlüsselte Hinweise des moi-narrateur lesbar, in denen wesentliche Aspekte des sich für das moi-narré entwickelnden Falles resümiert sind. Das Wetter ist mehr als reines Naturgeschehen. Hierzu gehören die Konstituierung und Wahrnehmung des Wetters als eigenständiges Wesen, das zuweilen in die Handlung eingreift. Hiermit gerät die Definition des Wetters an ihre Grenzen; das Wetter wird deutlich in adjuvantischer Aktantenrolle eingesetzt. Insofern erscheint ein ›meteorologischer‹ Perspektivwechsel sinnvoll und das Wetter kann als Adjuvant im Sinne von Greimas’Aktantenmodell klassifiziert werden. Insgesamt dienen meteorologische Phänomene nicht mehr nur der Situierung der Handlung, der Spannungserzeugung oder der Deduktion, sondern konstituieren verstärkt ein eigenständiges (psychologisierendes) Element der Erzählungen. Bezüglich der Wechselwirkung von Wetter und Stadt offenbarte sich, dass unterschiedliche Perspektiven auf die Stadt ein divergierendes Verständnis der Wetterfunktionen bedingen. Die Perspektive auf Paris als Ganzes unter Einwirkung des Regens führt zu einer Transformation der Stadt und ihrer Auflösung. Die Betrachtung der einzelnen Arrondissements, die der besonderen Konzeption der Reihe immanent ist, konturiert hingegen eine meteorologische Besonderheit der NMdP: Das jedem Arrondissement zugeordnete Wettersystem ist jeweils mit den Thematiken der Kriminalfälle oder mit den Figuren verknüpft und wirkt auf die lokalspezifische Wahrnehmung selbst zurück. Eine lohnenswerte Anschlussfrage wäre, inwiefern oder in welcher Hinsicht Malets Romane dem roman noir zugeordnet oder eher als Vorläufer gelten könnten. Auch ob es sich bezüglich der Arrondissements um ein Klimasystem-Modell handelt, das auch nachfolgende in Paris spielende Kriminalromanreihen verwenden, ist ein

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spannender Punkt. Die ersten Titel der Reihe von Cara Black um die Privatdetektivin Aimée Leduc scheinen diese Aspekte aufzugreifen.349

5 Georges Simenon – Die Kriminalromanreihe mit Commissaire Maigret Un peu de vent en moins et le crime n’avait pas lieu! …1

Eine schemenhafte Gestalt im Regen. Pfeife, Mantel, Melone, ein mürrisches, unverständliches Gebrummel: Maigret. Jules Maigret, erster literarischer Commissaire der Pariser PJ ermittelt von 1929–1972 in 102 Fällen2 und wird bekannter als sein Autor Georges Simenon.3 Mit Maigret erfährt der französische Kriminalroman einen Wandel und erhält eine neue Subgattung:4 »Inventeur du roman policier psychologique […] Simenon donne au genre une dimension littéraire dont certains le croyaient privé. Son œuvre demeure inclassable.«5 Es entsteht eine neue Art, Verbrechen zu verfolgen und zu bewerten, und auch das Wetter bekommt in diesem Zuge eine neue Funktion und Implikation für die Ermittlung, denn, wie Simenon anmerkt, »il déforme assez la réalité pour lui donner une autre dimension et une autre poésie.«6 Von Gaboriau ausgehend entwickeln sich zwei Tendenzen des französischen Kriminalromans mit dem Gentleman-cambrioleur Lupin von Maurice Leblanc (1864–1941)7 sowie dem Journalisten Rouletabille von Gaston Leroux (1868–1927).8 Krabbe kategorisiert diese Zeit von Gaboriau, Leblanc und Leroux als die des »klassischen französischen Kriminalromans, der in die Zeit vom 19. Jahrhundert bis etwa zum Ersten Weltkrieg einzuordnen ist«9 und in der noch der Einfluss der Abenteuerliteratur und der fantastischen Literatur durchscheine.10 Mit der Belle Époque erfolgt eine erste Hochzeit, in der die Gattung »ihre Charakteristika entwickelt […]: Das System von Schuld und Sühne […], später die Struktur von ›Verbrechen-Untersuchung-Strafe‹«.11 Die 1920er- und 1930erJahre sind dann die Zeit des Golden Age des englischen Rätselkrimis sowie der amerikanischen hard-boiled school.12 In Frankreich entstehen zwischen 1918 und 1945 zwar Kriminalromanreihen wie Le Masque, vielfach werden aber Titel importiert oder die Autoren, wie später zunächst Malet, folgen dem Muster des hard-boiled. Das Genre selbst indes scheint vernachlässigt.13 Der Anfang der Maigret-Reihe (1929) fällt damit in den Beginn der Ära des cozy mystery und des hard-boiled. Obzwar sich Maigret-Fälle finden, die eine Tendenz zu einer dieser beiden Strömungen aufweisen, lässt sich die Gesamtheit »nicht der Kategorie jener

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Spannungs- oder Puzzelromane«14 zuordnen. Mit Simenon kommt es zur Auflösung der bisherigen ›Regeln‹ zugunsten einer »realistisch-psychologischen Gestaltung«:15 »In Simenon there are no bizarre murders with infernal machines, no diabolically clever criminals using advanced scientific methods. Instead, people driven by […] human emotions […] simply kill other people.«16 Den Ausgangspunkt der Ermittlung bildet nach wie vor das Verbrechen, aber die ›Leiche‹ ist nicht mehr wie im klassischen Detektivroman bloßes Requisit17 und Handlungsauslöser, sondern ein Mensch mit einem Leben und Gefühlen, der, auf besondere Weise mit der Täterfigur verbunden, zum Opfer wurde; es sind die »misère, la solitude et les rancœurs«18 , d.h. die Beziehung zwischen Täterfiguren und Opfern, die zur Tat führen. Mit dieser Veränderung geht eine Anpassung der Deduktion einher, die, wie Becker skizziert, den Einfluss der sich entwickelnden Psychologie zeigt: The detective novel was to change […] in the wake of the disillusion with science that followed World War I. At the same time, faith in reason was diminishing as Freud gave primacy to the irrational forces of the unconscious. New methods of investigation that relied on instinct, intuition, and empathy replaced rational deduction. Simenon’s Maigret, who has been called the Bergson of the detective novel, illustrates this change in emphasis. Maigret’s role, unlike that of Holmes, is not to reason but to understand intuitively.19 In einigen Fällen erscheint Maigret insofern weniger als Kriminalbeamter denn als Psychologe oder Priester20 und fungiert als »›raccommodeur de destinées‹ – et conduit les coupables à se réconcilier avec eux-mêmes«21 . Die Veränderung des Kriminalromans und die Psychologisierung erfolgt nicht instantan, sondern im 40-jährigem Verlauf der Reihe. So erhalten die Maigrets,22 wie Tschimmel feststellt, erst in den 1940er-Jahren ihre gedankliche »Vertiefung und Dichte«23 . Eine Entwicklung der Maigrets deutet auch Boyer an und verknüpft diese mit der Publikation in den drei Verlagshäusern: »Fayard où sont sortis la plupart des Maigret, puis Gallimard où l’intrigue policière garde le pas, enfin la presse de la Cité où ont paru les romans purement psychologiques.«24 Insgesamt seien die Maigrets »pas exactement des romans policiers au sens traditionnel du terme, mais des romans d’atmosphère sur une trame policière«25 . Implizit ist mit Boyers Herausstellung der Atmosphäre bereits das Wetter in dieser neuen Form des Kriminalromans angesprochen und mit Geherin kann ergänzt werden: »Simenon aims not to describe but to evoke atmosphere, and one highly effective way of achieving this is by detailing the weather.«26 Obwohl der Aspekt Wetter in verschiedenen Arbeiten zu den Maigrets vielfach als relevant angesprochen wird, so geschieht dies dennoch eher en passant und es bleibt im Rahmen anderer Schwerpunkte meist bei kurzen Bemerkungen oder allgemeinen Feststellungen – etwa eines intensiven Wettereindrucks bei der Lektüre wie ihn Symons anführt,27 des Eindrucks von tendenziell schlechtem Wetter oder es wird lediglich auf die Funktion für die Atmosphäre hingewiesen. So führt Krabbe in ihrer Vergleichsstudie an, […], dass in den Maigrets das Wetter […] eine besondere Rolle spiel[t]. Diese dien[t] Simenon dazu, eine besondere, die Handlung untermalende Atmosphäre zu schaffen,

5 Georges Simenon – Die Kriminalromanreihe mit Commissaire Maigret

was ihm in seinen Romanen besonders wichtig ist. Der Regen sowie das schlechte Wetter sind in den Maigret-Romanen unabkömmlich.28 Explizit widmet sich erst Wenger 2007 mit dem Onlinebeitrag »Maigret Météo« dem Wetter in den Maigret-Romanen. Sie erfasst Regen, Sonnenschein und Jahreszeiten statistisch und bietet illustrierend als »tableau[] météorologique« eine Zusammenstellung einiger Wetterstellen aus den Romanen.29 Doch die Rolle des Wetters fern einer handlungsuntermalenden Atmosphäre oder einer statistischen Erhebung bleibt damit ungenügend erfasst. In Anbetracht der Wetteraffinität Simenons erstaunt dies ein wenig: Au fond, j’aime le passage des saisons et je le savoure également les unes et les autres. Je saluerai avec autant de joie le soleil de mars ou d’avril, voire de mai s’il est en retard. Je ne rechigne ni contre la pluie ni contre une chaleur excessive.30 Notabel ist diesbezüglich die Einschreibung einer Wetterbegeisterung, die Simenon similär zu seiner Figur formuliert. So heißt es in Maigret au Picratt’s: Au fond, peu importait à Maigret que ce fût gai ou non. Il aimait tous les temps. Il aimait surtout les temps extrêmes, […] les pluies diluviennes, les tornades, les grands froids ou les chaleurs torrides. La neige lui faisait plaisir aussi, parce qu’elle lui rappelait son enfance […].31 Maigret zeichnet sich immer wieder durch eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit gegenüber dem Wetter sowie eine hohe, fast sensitive Apperzeption aus, wodurch der Eindruck entsteht, die Wetteraffinität wirke sich auf die Deduktion resp., vice versa, der Fall auf die Apperzeption des Wetters, aus. Die enge Verbindung zwischen Kommissar und meteorologischen Phänomenen wird nicht zuletzt durch die wechselnde Erzählperspektive befördert, durch die vielfach auch Wetterdarstellungen in ihrer Fokalisierung uneindeutig bleiben. Die reine Wetterbegeisterung ist freilich nicht der einzige Faktor, der das Wetter herausstellt. Das Besondere ist das ästhetisch-poetologische Potenzial, das Simenon Nebel, Regen, Schnee und Sonnenschein beimisst: J’aime […] le brouillard, probablement parce qu’il déforme assez la réalité pour lui donner une autre dimension et une autre poésie. J’aime la pluie aussi, à peu près pour la même raison, surtout dans les villes, le soir, quand toutes les lumières se reflètent en zigzaguant sur les pavés mouillés. […] La neige transfigure le paysage.32 In Verbindung mit der veränderten Konzeption des Kriminalromans stellt sich die Frage, ob diese dimensionsverändernde resp. realitätsverändernde Funktion des Wetters integrativer Bestandteil der Fälle ist. Denn bereits in den ersten Romanen Pietr le Letton oder kurz darauf in Le chien jaune deklarieren die Figuren selbst das Wetter als handlungsbestimmende Zufallsvariable für ihre Überführung (Pietr) oder es wird gar bemerkt: »Un peu de vent en moins et le crime n’avait pas lieu!…«33

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Damit würde das Wetter par force eine Realität für Täter, Opfer und den Ermittler erschaffen. Es ist danach zu fragen, wie Wetter vor diesem Hintergrund im Verhältnis zum gewandelten Verständnis von Ermittlung und Konzeption von Täterfiguren und Opfern steht und welche Bedeutung dies für Maigret als Ermittler hat. So ist das Wetter etwa in Liberty Bar (1932) für Maigret eine wahrnehmungsästhetische Dimension, die eine Annäherung an die Lebenswelt des Opfers Brown ermöglicht und die Ermittlung befördert: Tout cela était encore bien flou. […] il regardait le soleil qui […] plongeait lentement dans la mer. […] Il bâtissait déjà un monde dans la villa de Brown et de ses femmes était au centre. Un monde tout gluant de soleil […].34 Das Wetter ist vielfach mit psychischen Momenten verbunden. Zum einen mit der Ermittlerfigur Maigret, sodass sich hier fragen ließe, ob das Wetter womöglich das manifeste Oberflächenphänomen für seinen psychologischen Zustand darstellt. So zeigt sich die besondere Wahrnehmung und Apperzeption des Wetters durch Maigret, die, so die weitere These, relevant für die Konzeption der Individualität der jeweiligen Figur ist und hiervon ausgehend die Deduktion bzw. die Phasen der Deduktion beeinflusst. Aber zum anderen, und dies stellt eine eher innovative These bezüglich der Maigret-Romane dar, steht das Wetter und die von ihm ausgehende Atmosphäre in Verbindung zu der Täteroder, wie in Liberty Bar, zu den Opferfiguren und zeigt ihre jeweilige emotionale Disposition, obzwar die Relation zwischen Wetterlagen und Opfer- und Täterfiguren in den meisten Fällen nicht besonders intensiv erscheint, weil diese Figuren bis auf wenige Ausnahmen überhaupt nicht auf die Witterung achten. Um dem Wetter in den Maigret-Romanen auf die Spur zu kommen, richtet sich der Fokus unabhängig vom Fall zunächst auf die Wetterdarstellung sowie auf folgende Schwerpunkte:35 • • • • •

Die Darstellung des Wetters, Quantität und Qualität, Fakturen und Atmosphäre Das Wetter und Maigret Das Wetter im Ermittlungsprozess Das Wetter und die Täter: Radek, Moncin und Bureau Das Wetter und seine Relation zu Paris

5.1 Wetterdarstellung Die Maigret-Reihe gehört zu den Kriminalromanserien, die mit dem Eindruck von herbstlichem Dauerregen assoziiert werden: »Quand on pense à Maigret, on imagine souvent notre brave commissaire, les mains enfoncée dans les poches de son pardessus, fumant une pipe dont le tabac s’éteint sous la pluie diluvienne d’un humide jour d’automne…«36 Auch die Ausführungen von Krabbe37 oder von Blanc in Polarville weisen in diese Richtung: »La norme est la pluie, l’anormal est le beau temps.«38 Demgegenüber stehen Eindrücke von Freeling, Mercier, Alavoin, die auf ein breites Wetterspektrum deuten und ähnlich wie Geherin bemerken: »Simenon gives us […] all […] distinctive seasons.«39 Auf Wettervielfalt deutet auch Symons, der als weiteren Faktor die Wetterin-

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tensität und den Eindruck der leiblichen Evokation hervorhebt: »[M]an [hat] das Gefühl […], der Autor ertrinke tatsächlich im Regen, den er beschreibt, oder schwitze unter der sengenden Sonne.«40 Hieraus lassen sich drei Positionen ziehen: I. Es regnet vorwiegend, II. das Wetter ist vielgestaltig und saisonal divers, III. es gibt eine spezifische Wettergestaltung, die zu einem intensiven Wettereindruck führt.

Diese Perspektiven werden im Folgenden quantitativ und qualitativ beleuchtet.

5.1.1 Dauerregen und Saisonalität Zum Eindruck, die Romane spielten weithin bei Regen, bemerkt selbst Simenon: »On a écrit souvent que j’étais le romancier de la pluie. C’est faux. J’ai écrit autant de romans se déroulant sous le soleil, y compris sous l’accablant soleil tropical, que de romans se passant par temps pluvieux.«41 Einen statistischen Nachweis hierzu führt Wenger, indem sie in verschiedenen Erhebungen das Wetter und die Jahreszeiten in den 74 Maigret-Romanen unter einer »tendance générale«42 erfasst. Für die Auswertung zur Verteilung von Regen und Sonnenschein hat Wenger die Fälle nach Jahreszeiten gruppiert und die Ergebnisse in einem Diagramm dokumentiert, das nachfolgend abgebildet ist:43

Diagramm 2: Verteilung der Maigret-Fälle von Sonne und Regen auf die Jahreszeiten

Aus Wengers Erhebung lässt sich ableiten, dass in 32 der untersuchten Romane mit »tendance générale« Niederschlagsereignisse (Regen, Schnee etc.) vorherrschen, aber in 42 die Sonne dominiert. Damit zeigt sich zum einen keine absolute Präferenz für den Regen (der als einzelnes Niederschlagsereignis noch seltener sein dürfte, als es die Sta-

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tistik hier zeigt), zum anderen besteht mithin für die Gesamtheit der Romane ein relativ ausgeglichenes Verhältnis von Niederschlag und Sonnenschein. Während die Regendominanz damit auch für die Maigrets falsifiziert ist, verifiziert sich mit Wengers statistischen Auswertungen der Eindruck Geherins, dass alle Jahreszeiten genutzt werden:

Diagramm 3: Verteilung der Maigret-Ermittlungen auf Monate und Jahreszeiten

Insgesamt spielen nach Wenger mehr Fälle im Frühling (27) als in den anderen Jahreszeiten (Sommer: 17, Herbst: 18, Winter: 12), womit es zwar eine leichte saisonale Präferenz gibt, das Verbrechen ist aber insgesamt nicht ausschließlich mit einer Jahreszeit verknüpft wie beispielsweise in den Mystères de Paris.44

5.1.2 Der kinematografische Wetterfaktor Obzwar der Regen in der Maigret-Reihe nicht dominiert, stellt sich die Frage nach der Ursache der angenommenen Regendominanz. Eine mögliche Erklärung liegt in der Verfilmung der Fälle in den 1920er-Jahren sowie der Integration cineastisch evokativer Wetterdarstellungen in den Romanen. Wenger und Trussel sehen zunächst einen Grund für die Regenassoziation darin, dass »at the beginning of the Fayard period, the most popular novels took place in the fall (Le chien jaune and L’affaire Saint-Fiacre […])«45 . Fern der von Wenger und Trussel postulierten ›Beliebtheit‹ lässt sich aber für die ersten 19 Romane eine relativ ausgeglichene Verteilung zwischen Frühlings- und Sommer-Fällen (9; u.a. Le Charretier de ›La Providence‹, La nuit du carrefour, Liberty Bar) zu Herbst- und Winter-Fällen (10) feststellen.46 Ausschlaggebend scheint daher vielmehr die meteorologische Abänderung des Wetters in der Romanverfilmung: Der Roman La nuit du carrefour spielt im Frühling, Maigret erscheint im Sonnenschein, allenfalls nieselt es an einer Stelle oder zieht punktuell Nebel auf. Die erste Verfilmung (1932) aber zeigt »primarily a landscape of rain and fog«47 . Gerade diese Verfilmung von Jean Renoir ist filmhistorisch richtungsweisend, denn die Verfilmung Renoirs ebnet den Weg für den »poetischen Realismus […], besonders auf-

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grund seiner Licht- und Schattendramaturgie, die ›eine klaustrophobische und obskure Osmose aus Licht und Nebel, Nacht und Regen herausfiltert‹«48 . Entscheidend für die Dauerregenimpression könnte mithin die kinematografische Seherfahrung sein, welche gleichsam re-transmedial als einbezogenes Vorstellungsmaterial das Wetter der Romane überlagert. Gerade in der Adaption visualisiert sich »der Widerschein der Gaslampen und Autolichter auf der verregneten, zumeist menschenleeren Straße«49 als häufiges Motiv. Der durch den Regen reflektierte Schein des Lichts ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein etabliertes poetisches Bild für Trauer, Verlassenheit und Kälte.50 – Bis zu einem gewissen Grad kann hier eine Verbindung zur Eingangsszene der Mystères de Paris gezogen werden, die die Konstellation von Regen, Kälte und Straße in Verbindung zum Kriminalroman anlegt und die Erklärung Citrons für das poetische Bild schon zeigt, scil. die Verdunklung und Verunreinigung des Lichts durch die Berührung mit dem Straßenboden.51 – Grundsätzlich nutze der psychologische Kriminalroman der 1920-/30er-Jahre, wie Holzmann ausführt, Licht und Schatten, um die »Verlorenheit der Protagonisten im ›nächtlichen Großstadtdschungel‹ in den Mittelpunkt zu stellen«52 . Diese Gestaltung sowie das Moment der Verlorenheit trifft tatsächlich auch auf einige der Täterfiguren der ersten Maigret-Fälle zu. Es entstehen Wirklichkeitseindrücke, die auf das poetische Bild von Verlassenheit, Trauer und Kälte rekurrieren und »als Momentaufnahmen von großstädtischer Anonymität und von Ichverlust lesbar werden«53 . Vor allem seien dies, so Holzmann mit Verweis auf den Non-Maigret Les fiançailles de Monsieur Hire, »Simenons Protagonisten, die auf ihren ziellosen Streifzügen der Einsamkeit zu entfliehen trachten und sich wärmesuchend von einer Lichtinsel zur nächsten bewegen«54 . Dieses Moment findet sich vereinzelt auch in einigen Szenen von Le chien jaune oder La tête d’un homme. Im Nexus der Geschichte der Opfer und Täterfiguren wird das vom Regen schummrige Tageslicht mit einem dysphorischen Erstaunen ob der eigenen Existenz verbunden: »Les pavés de la cour étaient luisants de pluie […]. C’était une de ces journées mornes par lesquelles on se demande ce qu’on est venu faire sur la terre et pourquoi on se donne tant de mal pour y rester.«55 Die Verbindung des emotionalen Zustands mit dem Wetter bzw. die Umweltdarstellung als Projektionsfläche ist demnach im Simenon’schen Werk gegeben, sodass eine Übertragung gleichsam pars pro toto denkbar ist. Gefestigt wird die kinematografische Seherfahrung durch die intermediale Wetterdarstellung, die den visuellen Eindruck im Roman verstärkt. Auf ironische Weise werden bereits in Le chien jaune (1931) die durch die Verfilmungen geprägten Sehgewohnheiten zum Wetter und der mit ihm assoziierte Hall aufgegriffen und mokant reflektiert: C’était idiot! On n’avait jamais vu pareille chose. Cela rappelait les orages tels qu’on les représente parfois au cinéma. On montre une rue riante, un ciel serein. Puis un nuage glisse en surimpression, cache le soleil. Un vent violent balaie la rue. Eclairage glauque. Volets qui claquent. Tourbillons de poussière. Larges gouttes d’eau. Et voilà la rue sous une pluie battante, sous un ciel dramatique!56 Befördert durch einen kinematografischen Eindruck ist die Verbindung Maigrets mit Regenwetter, besonders für die ersten Romane, nachvollziehbar. Die Assoziation Maigrets im Regen oder eines »déluge«57 über Paris deutet möglicherweise auch auf eine

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scheinbar ›literarisierte‹ Konstellation von Regen, Kriminalität und der Zuweisung von Unmoral sowie metaphorisch grauem Regenwetter, die einer grundsätzlichen Gattungszuschreibung entspricht und durch den medialen Einfluss oder gattungsgeschichtlich befördert wird. Ähnlich wie der Londoner Nebel (primär assoziiert mit Holmes) wird der Regen dergestalt »au travers de nos valeurs culturelles le symbole d’une ville, d’un personnage et d’une action«58 . Das Wetterphänomen wird zu einer der geeignetsten Facetten des Imaginaires von der Unlesbarkeit der Kriminalität, des Ich-Verlusts, der Auflösung in ihrer multiplen Form und zum Ausdruck einer Beunruhigung. Das meteorologische Phänomen der Liquidität ist verbunden mit der Liquidation. Nicht von ungefähr sieht Blanc im Regen ein grundsätzliches Moment der Auflösung der Stadt im polar und mit ›ihrem‹ Identitätsverlust verbunden.

5.1.3 Intensiver Wettereindruck – Frequenz Neben dem anschaulichen Vergleich des Ertrinkens im Regen, wie ihn Symons vorbringt, weist eine Bemerkung Freelings auf eine hohe Anzahl an Wettererwähnungen: »A Simenon book is saturated in climate and weather […] The nature and quality of light: this painter […] tastes the texture of rain or the dust motes in a sunbeam.«59 Es scheint fast, als spreche der Erzähler in den Maigret-Romanen über nichts so häufig wie über das Wetter. Um festzustellen, wie viele Wetterstellen notwendig sind, um den Eindruck der Durchdringung zu erreichen, hat die Verfasserin eine Stichprobe von rund 10 % der Reihe ausgewertet. Berücksichtigt sind Romane aus verschiedenen Dezennien sowie die besonders mit Regen oder schlechtem Wetter assoziierten ersten Titel Pietr le Letton und Le chien jaune.60 Um das Verhältnis zu visualisieren, sind im nachfolgenden Diagramm die Wetterstellen und die Seitenzahlen dargestellt:

Diagramm 4: Wetter-Frequenz – Anzahl der Wetterstellen in Bezug zur Seitenanzahl

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Die Anzahl der Wetterstellen überrascht, da sie sich als geringer erweist als vermutet und die ausgewählten Titel maximal rund 45 Fundstellen aufweisen. Bemerkenswert ist die sich andeutende relative Konstanz vom ersten bis zum 97. Fall. Die meteorologische Sättigung und Intensität lässt sich dergestalt nicht mit einer besonders hohen Zahl an Wettererwähnungen erklären. Ausschlaggebend könnte die Verteilung innerhalb der Romane sein, doch auch dies scheint als alleinige Explikation für den Eindruck einer Durchdringung nicht ausreichend: Rein auf das Verhältnis bezogen, erfolgt etwa in Mon ami Maigret alle fünf Seiten eine Wetterwähnung. Tatsächlich findet sich in diesem wie in einigen anderen Fällen eine (leichte) Häufung am Anfang, mit einer folgenden gleichmäßigen Verteilung. Gerade die Häufung am Anfang scheint bedeutsam, geht man davon aus, dass gerade der Beginn eines Romans und die dort erschaffene Wetterpräsenz die Lektüre nachhaltig prägen.61 So nimmt in Maigret tend un piège die zunächst hohe direkte oder indirekte Wetterpräsentation (etwa physische Reaktionen) im Verlauf ab, ferner bleibt das meteorologische Geschehen in Mon ami Maigret wie auch in Les caves du Majestic oder Maigret et le tueur am Romanende unerwähnt. Gerade mit Blick auf die zugeschriebene Bedeutung etwa als zufallsbestimmend oder handlungssteuernd durch die Täterfiguren, wie in Pietr le Letton oder Maigret et le tueur, ist damit die reine Anzahl der Wetterwähnungen nicht tragend.

5.1.4 Intensiver Wettereindruck – mots matières und Wetterimpressionen Des feuilles mortes voletaient sur le sol. Leur froissement sec indiquait qu’il avait gelé pendant la nuit.62 Ein weiterer Erklärungsansatz für die Intensität ist die qualitative Wetterdarstellung, die als besonderer Stil Simenons in den Fokus rückt.

5.1.4.1 Mots matières Simenon wurde vielfach für sein minimales Vokabular kritisiert; es sei zu wenig etabliert und mit zu flachen und repetitiven Evokationen versehen.63 Dies trifft insofern, wie die Analyse des Vokabulars durch Krechel bestätigt, auf die Wetterdarstellung zu als das Wortfeld Wetter »fast ausschließlich dem elementaren Vokabular an[gehört]«64 . Dennoch oder gerade deshalb lösen die Texte affektive wie sensuelle Wirkungen aus, wie sie Bajomé beschreibt: »L’écriture de Simenon […] se coule dans l’émotion, veut épouser des états de conscience, des moments d’adhésion de nos sens avec le monde.«65 Die Basis hierzu bildet der Einsatz der sogenannten mots matières. Obwohl dieses Konzept nicht auf das Wetter begrenzt ist, sticht es heraus, weil Simenon daran in einem Interview die Simplizität seines Stils exemplifiziert: Ich […] verwende nur noch ›gegenständliche‹ Wörter [mots matières, Anm. der Verf.] […]. Wenn es regnet, schreibe ich: ›Es regnet.‹ Sie werden nirgendwo in meinen Büchern die Beschreibung von Wassertropfen finden, die sich in Perlen verwandeln oder ähnliches Zeugs. Ich will jeden Anschein von Literatur vermeiden. Ich habe einen Horror vor Literatur! In meinen Augen ist Literatur mit großem ›L‹ Unsinn.66

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Die Idee der mots matières konkretisiert Simenon an anderer Stelle folgendermaßen: »J’essaie de faire les phrases les plus simples avec des mots les plus simples. J’écris avec des mots-matière, le mot vent, le mot chaud, le mot froid. Les mots matières sont les équivalents des couleurs pures […].«67 Die rezeptionsästhetische Funktionsweise der mots matières erklärt sodann Vanoncini: »Simenon fait affleurer […] la fonction dénotative de l’expression langagière, une signifiance connotative mise en œuvre de manière discrète mais systématique. Celle-ci résulte […] d’une mise en valeur de la matérialité des mots.«68 Grundsätzlich ist, wie Delius anmerkt, das Wetter per se einfach übertragbar und verfügt über ein entsprechendes evokatives Potenzial.69 Die Kategorie der mots matières ist somit eine stilistische Facette des Wetters, die die intensive Wetterwahrnehmung konzeptibel macht. Eine zweite Facette ist die des Impressionismus.

5.1.4.2 Wetterimpressionen Das Wetter verfügt nach Simenon über ein besonderes ästhetisches Potenzial und wird in seiner apperzeptiven Wirkung in einen Zusammenhang zum Impressionismus gebracht,70 denn dieser beeinflusste Simenon und prägt sein schriftstellerisches Selbstkonzept: Toute ma vie, j’ai été plus proche de la peinture que de la littérature. […] Mon enfance a été surtout marquée par l’impressionnisme et le pointillisme (la peinture la plus gaie, la plus heureuse, où chaque tache de lumière est comme un chant), et j’admets volontiers que mes romans s’en sont ressentis.71 I consider myself an impressionist because I work by little touches. I believe a ray of sun on a nose is as important as a deep thought.72 Bestreben des Impressionismus ist es, eine Gesamtwirkung, d.h. die von einem Motiv »ausgelösten Sinneseindrücke, die ›Impressionen‹ einzufangen.«73 Eines der grundlegendsten Elemente auf der literarischen Ebene bzw. des impressionistischen Schreibens ist für Simenon die ästhetische Dimension des Wetters als Farbe. So seien »le mot vent, le mot chaud, le mot froid […] les équivalent des couleurs pures«74 und gestalterisches Mittel: »le soir [.] toutes les lumières se reflètent en zigzaguant sur les pavés mouillés. […] Le soleil […] le décompose en paillettes de couleur et de lumière et c’est pourquoi j’ai une telle passion pour eux.«75 Dieses Moment zeigt sich exemplarisch an der Darstellung der Stadtlandschaft in Maigret et le corps sans tête: [L]e ciel qui se teintait de rose. Les pots de cheminée au-dessus des toits, étaient la première chose dans le paysage, à prendre vie et couleur tandis que sur les ardoises ou les tuiles, comme sur certaines pierres de la chaussée, le froid des dernières heures de la nuit avait mis une délicate couche de givre qui commençait à s’effacer.76 Unter dem impressionistischen Ziel, Sinneseindrücke einzufangen, bleibt es nicht bei einer polychromen Wirkung des Wetters, entsprechend sind meteorologische Phänomene mit allen sensuellen Bereichen verwoben. So ist Wetter beispielsweise in Maigret tend

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un piège oder La guinguette à deux sous degustierbar: »Cette pluie-là était si fraîche et si savoureuse que de temps en temps, il [Maigret] avançait la langue pour en happer quelques gouttes qui avaient un goût spécial.«77 Oder synästhetisch: »Une fin d’après-midi radieuse. Un soleil presque sirupeux […].«78 Haptisch wirken auf diese Weise nicht nur Regen oder Schnee, denn mit der stofflichen Transformation etwa in Félicie est là wird die Präsentation des Himmels zum taktilen Eindruck: »La fenêtre est ouverte sur le bleu de la nuit qui devient comme de velours et qui s’étoile […].«79 Verstärkend erscheint zuweilen die Ansprache »vous« (»Il y a de petites bouffées tièdes qui vous caressent les joues«80 ), mit der das Wetter besonders rezeptionsästhetisch konzipiert scheint; so führen entsprechend Wenger und Trussel zu den »Sensations of the skin« aus: »[T]hese sensations are particularly eloquent for the reader, who is able to ›feel‹ these impressions himself.«81 Auf diese Weise ist das Wetter selbst als multisensorische ›Impression‹ eingefangen und verstärkt die evokative Funktion der mots matières. Die sensuellen assoziativen Verbindungen, die vom Wetter ausgehen, werden mit ›Wetterkonzepten‹ oder gleichsam kulturellen Vorstellungen ergänzt und triggern Emotionen oder Vorstellungen wie Regen zu Allerseelen oder Sonnenschein am 14. Juli. Um die verschiedenen Verbindungen aufzuzeigen, folgt eine Kategorisierung in wesentliche und wiederkehrende Bereiche (vgl. Tabelle 4); hierbei sind Kombinationen und Überschneidungen möglich.82 Zudem nimmt die Tabelle einige der Ergebnisse aus den folgenden Kapiteln zu Maigret vorweg. Denn die Darstellungen und Funktionen des Wetters gehen über die ›Impression‹ hinaus und fungieren auch in anderen Bezugsrahmen wie Wetterhandlung oder bspw. als Ausdruck von Maigrets innerer Wetterlage. Angemerkt sei noch, dass eine schnörkellose Wetterdarstellung, wie sie Simenon darlegt – wenn es regne, würde Simenon schreiben »es regnet«, sodass es keine gekünstelten Formulierungen »wie Wassertropfen. die wie Sterne funkelten« geben sollte83 , doch dem ist nicht so, denn, so heißt es scil. in Le pendu de Saint-Pholien: »Une pluie fine commençait à tomber, et chaque goutte, lorsqu’on passait devant un réverbère, devenait une étoile.«84

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Tabelle 4: Einige Funktionen und Darstellungen des Wetters in Simenons Maigret-Romanen

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5.1.4.3 Die berühmte Atmosphäre Boyer deklariert die Maigret-Romane als »pas exactement des romans policiers au sens traditionnel du terme, mais des romans d’atmosphère sur une trame policière«85 und führt damit eine Besonderheit der Romane an, die »fameuse ›atmosphère simenonienne‹«. Konsens besteht darin, dass in ihr eine der Qualitäten der Maigrets liegt. Je nach Perspektive zeichnen sich indes variierende Determinanten ihrer Entstehung ab. So zieht für Dubois »Simenon [.] un grand parti de ce que l’on peut appeler les notes d’atmosphère et qui expriment une géographie humaine en attente d’événement.«86 MeyerBolzinger hebt stärker den Raum hervor: »La célèbre atmosphère de Simenon résulte de courtes descriptions, où l’espace est surtout nommé et structuré par des oppositions binaires.«87 Für Bajomée entsteht die Atmosphäre auch durch die mots matières: »La fameuse ›atmosphère‹ ne consisterait-elle pas en cet art de faire surgir l’espace, une ambiance, par des petites touches, avec des mots matières?«88 Alvoine schließlich führt für die Atmosphäre die sensuellen Eindrücke Maigrets sowie das Wetter an: La fameuse atmosphère de Simenon est présente dans ces romans du début des années 30 et se caractérise par l’utilisation originale du monde des sensations. Les lecteurs partageront avec Maigret le fracas de la tempête dans Le chien jaune, le brouillard oppressant du Port des brumes ou encore la pluie lancinante du Charretier de ›La Providence'… Importance des conditions atmosphériques, mais aussi omniprésence des odeurs, des goûts ou des sensations tactiles qui touchent un public plutôt surpris par un style à la fois simple et efficace.89 Auch Krabbe weist in die gleiche Richtung, wenn sie ausführt, […], dass in den Maigrets das Wetter, die Gerüche und die Geräusche eine besondere Rolle spielen. Diese dienen Simenon dazu, eine besondere, die Handlung untermalende Atmosphäre zu schaffen, was ihm in seinen Romanen besonders wichtig ist. Der Regen sowie das schlechte Wetter sind in den Maigret-Romanen unabkömmlich.90 Das Moment des regnerischen Wetters als die Handlung untermalende Atmosphäre erinnert mitunter an die Wetterkonzeption des Schauerromans des 18. Jahrhunderts, verknüpft mit dem Ziel, Witterungsverhältnisse zur Intensivierung und Untermalung von Gemütszuständen des bzw. der Protagonisten zu nutzen. In diesem Sinne müsste das Wetter konstant die Gefühlszustände Maigrets nach außen projizieren, das ist jedoch nicht der Fall. Die Wirkung des Wetters auf Maigret hängt weiterhin mit dem jeweiligen Fall zusammen, ist aber gemeinhin nicht von Maigret selbst dependent, sohin reziprok konzipiert, sondern geht von der Täter- bzw. Opferfigur aus; wird aber von Maigret als Protagonisten rezipiert bzw. die Darstellung erfolgt tendenziell mit Fokus auf Maigret. Dies soll zunächst im Vergleich von Un Noël de Maigret (1950) und Maigret au Picratt’s (1950) über das Wetterphänomen Schnee veranschaulicht werden: Schnee wird vielfach mit positiven Kindheitserinnerungen assoziiert, so auch in Un Noël de Maigret, bei der ein Kind bzw. das Kinderzimmer, in dem etwas versteckt ist, die zentrale Rolle spielt. In dieser eher harmlosen Geschichte korrespondiert dann auch die vom Wetter für Maigret ausgehende Stimmung mit dem kindlichen Weihnachtsgefühl:

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Il ne neigeait pas. C’était ridicule, passé cinquante ans, d’être encore déçu parce qu’il n’y avait pas de neige un matin de […]. Ce n’était pas de la vraie neige. Il tombait du ciel comme une fine poussière blanche et cela lui rappelait que, quand il était petit, il tirait la langue pour en happer quelques grains.91 Konträr hierzu ist die Wirkung des Schnees in Maigret au Picratt’s (ebenfalls 1950): La neige lui faisait plaisir […] mais […] ce matin-là […]. Le ciel était encore plus plombé que la veille et le blanc des flocons rendait plus noir le noir des toits luisants, faisait ressortir les couleurs tristes et sales des maisons, la propreté douteuse des rideaux de la plupart des fenêtres.92 [L]a neige […] les rues étaient couvertes d’une mince couche de boue noirâtre et glissante.93 Die dysphorische Wetterstimmung ist ausgehend von der Täterfigur Bonvoisin konzeptualisiert, der sich wie ein Schatten über die anderen Figuren, die Opfer, ausbreitet, diese von sich abhängig macht und manche von ihnen außerdem tötet. Explizit wird dies durch den flagranten meteorologischen Vergleich: »Il en était ainsi de lui comme des ombres, toujours plus impressionnantes que la réalité qu’elle reflètent.«94 Der Schnee zeigt hier den vertrauten Stadtausschnitt aus dem Wohnungsfenster verändert und legt sich als düstere – und damit auffallend paradoxe – Wetteratmosphäre als Grundtönung über Paris. Dies zieht sich durch den gesamten Fall und obschon Maigret sich eigentlich für jedes Wetter begeistert, erwartet er von der Wetterlage in diesem Fall nicht mehr viel: [I]l pleuvrait toute la journée, une pluie froide et monotone, avec un ciel bas et les lampes allumées dans tous les bureaux, des traces mouillées sur les planchers. […] C’était une de ces journées mornes par lesquelles on se demande ce qu’on est venu faire sur la terre et pourquoi on se donne tant de mal pour y rester.95 Während Bonvoisin zwischen seinem Häuschen in der Provinz – dem ›ehrlichen‹ Leben, das er durch seine Kriminalität finanziert – und dem Montmartre pendelt, versuchen die anderen Figuren, dem von ihm kontrollierten Bereich zu entkommen. Dies zeigt sich nicht zuletzt über den Eindruck der Gefangenschaft, der durch das Wetter entsteht; das Wirkpotenzial, welches von der bedrohlichen und schattenhaften Präsenz Bonvoisins ausgeht, ist mit dem Wetter synchronisiert und influenziert die Wettertönung und Atmosphäre: »Il [Maigret] déjeuna tard […]. Paris était toujours aussi fantomatique sous la pluie fine et sale, et les gens dans la rue avaient l’air de s’agiter avec l’espoir de sortir de cette espèce d’aquarium.«96 Obzwar das Verbrechen sich auf ein Viertel begrenzt97 , legt sich die suggestive Wetterdarstellung über ganz Paris und indoktriniert die subjektive Wahrnehmung (Maigrets). Hierdurch potenziert sich die Atmosphäre. Der Regen überlagert die ville lumière, die verschwindet: »L’eau ruisselait sur les vitres et il ne voyait les lumières de la ville qu’à travers les hachures serrées de la pluie.«98 Der anhaltende Regen unterstützt durch die erhöhte Frequenz die Spannung der Actionszene zwischen Bonvoisin und der Polizei, die mit der Erschießung Bonvoisins durch Lapointe endet. Wie sehr das Wetter hier mit der Täterfigur zusammenhängt, illustriert

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sich auch daran, dass entsprechend konsequent die sinister gehaltene Wetterdarstellung mit dem Tod Bonvoisins vollständig abbricht.99 Das Wetter am Romananfang In den meisten Fällen wird gleich zu Beginn eines Romans die Wetterlage und/oder die Jahreszeit etabliert. Quantität und Qualität des atmosphärischen Arrangements variieren hierbei zwischen kurzen Einschüben und etwas längeren Passagen. Gerade die festgestellte Häufung am Anfang einiger Romane scheint bedeutsam. Die Wetterposition am Anfang eines Falls ist durch seinen per se expositorischen Charakter besonders wirkungsvoll, geht man davon aus, dass gerade der Beginn eines Romans und die dort erschaffene Wetterpräsenz die Lektüre nachhaltig prägt.100 Diesbezüglich kann auch mit Torgovnik angeführt werden: »[I]t is difficult to recall all of a work after a completed reading, but climatic moments […] and beginnings and endings remain in the memory and decisively shape our sense of a novel as a whole.«101 Handlungsentwicklungen und sukzessiv gewonnene Informationen werden demnach auf den Erzählanfang bezogen und erhalten eine abschließende Wertung durch das Ende. Gerade in den Maigret-Romanen kann die meteorologische Exposition auch als atmosphärischer Ausgangspunkt betrachtet werden, von dem aus sich die Atmosphäre des Falles moduliert, insofern von dieser eine nachhaltige Grundtönung ausgeht.102 Dies zeigt sich etwa im bereits angesprochenen Fall Maigret au Picratt’s. Bereits die erste Wettererwähnung durch die Erzählinstanz legt die negative und versehrende Konnotation der Niederschlagsereignisse an: »Il tombait de la neige fondue […]. L’enseigne du Picratt’s était une des rares du quartier à être encore allumée et mettait comme des flaques de sang sur le pavé mouillé.«103 Die farbliche Gestaltung, die mit dem Schnee entsteht, ist die erste einstimmende Projektionsfläche und lanciert die für die Figuren bereits herrschende Bedrohungssituation in Verbindung mit dem Ort. In Maigret et les témoins récalcitrants (1958) ist die auffallend mittelmäßige Wetterlage kongruent mit der Situation der in diesem Fall im Zentrum stehenden Fabrikantenfamilie Lachaume, den faden Waffelprodukten, der finanziellen Situation sowie dem Mordmotiv und der zähen Ermittlung: »On n’était qu’en novembre – le 3 novembre – et il ne faisait pas particulièrement froid. Il tombait seulement, d’un ciel bas et uniforme, une de ces pluies qui surtout dans le petit matin, paraissaient comme plus fluides et plus traîtresses que d’autres.«104 In beiden Beispielen erhält der Fall durch das Wetter eine Einstimmung. Diese erfolgt in unterschiedlicher Intensität. In Maigret et la jeune morte wird das Wetter sodann explizit gedeutet und legt eine Basis für die Verbindung zur Geschichte des Opfers Louise Laboine: Noch bevor die eigentliche Handlung mit dem Auffinden der Leiche von Mlle Laboine anläuft, prägt die Wetterbewertung suggestiv die Tonalität: »Il pleuvait déjà, de cette pluie fine et mélancolique qui tombait toujours. […]«105 Der explizit als melancholisch bewertete Regen verwebt sich mit dem Eindruck der Toten im Regen, was Maigret in eindrücklicher Erinnerung bleibt: Les rues étaient désertes, mouillées, avec de fines gouttes qui mettaient une auréole aux becs de gaz […]

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La jeune femme était couchée […] une joue sur le trottoir mouillé […]. Son maquillage, sous la pluie, s’était un peu dilué et […] cela la rendait plus jeune, plus attachante.106 Immer wieder drängt sich ferner das Bild in die Erinnerung Maigrets und zieht sich leitmotivisch durch den Roman. Die Atmosphäre in Le chien jaune Besonders illustrativ entwirft sich der Wetternexus ausgehend vom Täter und von der Atmosphäre auch im 6. Fall. Die expositorische Winddarstellung in Le chien jaune (1931)107 zeichnet sich als unmittelbare Vorbereitung auf den und als Verbindung zum Mordanschlag aus: Vendredi 7 novembre. Concarneau est désert. L’horloge lumineuse de la vieille ville, qu’on aperçoit au-dessus des remparts, marque onze heures moins cinq. C’est plein de la marée et une tempête du sud-ouest fait s’entrechoquer les barques dans le port. Le vent s’engouffre dans les rues, où l’on voit parfois des bouts de papier filer à toute allure au ras du sol. […] dans le bassin, un caboteur qui […] est venu se mettre à l’abri. […] La porte de l’Hôtel de l’Amiral s’ouvre. Un homme paraît […]. La tempête le happe, agite les pans de son manteau, soulève son chapeau melon qu’il rattrape à temps […].[…] c’est une lutte comique entre l’ivrogne, son manteau que le vent veut lui arracher et son chapeau qui fuit le long du trottoir. […] Le fumeur vacille, se raccroche au bouton de la porte. […] un bruit étranger à la tempête? […] Il s’étale sur le sol, au bord du trottoir, la tête dans la boue du ruisseau.108 Die Darstellung der Hafenszene mit der auffallenden Personifizierung des Windes bildet die Emotionen resp. die Ursache der Emotionen zweier Figuren ab: Die Angst (entrechoquer, engouffrer), die Ernest Michoux vor Le Glérec (tempête) hat und vor dem er sich durch die Tat schützen will (mettre à l’abri). Ursächlich ist die Geschichte des Verrats: Einige Jahre zuvor überredeten die Honoratioren von Concarneau Léon Le Glérec dazu, eine Schiffsladung (Hafen) Heroin in die Vereinigten Staaten zu bringen, verrieten ihn aber an die dortigen Behörden (engouffrer, entrechoquer, happer). Nach der Entlassung aus dem Gefängnis kehrt Le Glérec nach Concarneau zurück, um sich zu rächen (soulever, lutte, fuire, agiter). Das Wetter bildet den Ausgangspunkt für die sich entwickelnde Atmosphäre der Beunruhigung in Concarneau. Formalästhetisch fungiert hier par excellence das Moment der Exposition, denn entsprechend bemerkt auch Alavoine mit Blick auf das zentrale mot matière »vent«: »[L]es verbes principalement font écho au substantif vent et donnent à la description une touche impressionniste conforme au climat psychologique (la peur).«109 Diese Atmosphäre der Angst entwickelt sich zügig mit weiteren Mordanschlägen, wie dem Strychnin in den Gläsern der Honoratioren im Hôtel de l’Amiral, sowie mit dem wiederholten Erscheinen eines gelben Hundes, der allein durch seine Präsenz – fast wie der Hund von Baskerville – Unheil zu bringen scheint und der von den sich gruselnden Bewohnern erschossen wird. Die Ereignisse und die beunruhigende Grundstimmung werden explizit angeführt und damit gefestigt: »Jamais Maigret n’avait vu poindre aussi vite l’ombre pâle de la peur.«110 Die Atmosphäre erscheint mithin kontinuierlich assozi-

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iert mit dem widrigen Wetter. Pointiert lässt sich formulieren: Ob windig oder windstill – sobald Regen, Nacht, Wind und Sturm als ›Gefährte‹ der Todesgefahr erkannt und konnotiert sind, wirkt das Wetter als böses Omen und beunruhigt anscheinend selbst Maigret: »Il s’étonna du silence qui régnait, de l’angoisse compacte qui prenait à la gorge.«111 Am Ende des Romans erhält die Wetteratmosphäre und die Funktion des Windes der Exposition rückwirkend eine besondere Intensivierung und Bedeutungszuschreibung. Der Wind wird als Schlüsselmoment für den Schuss auf Mostaguen gesetzt und damit als ursächlich für die gesamte Handlung: »Un peu de vent en moins et le crime n’avait pas lieu!…«112 Etwas weniger Wind und Mostaguen wäre nicht in den Hauseingang getreten, um sich eine Zigarette anzuzünden, und es wäre nicht zum Quiproquo der Personen gekommen. Der Wind wirkt gleichsam adjuvantisch bzw. in erzähllogischer Manier gleichsam als ursächlich. Hierdurch und mittels der Personifikation unmittelbar zu Beginn ist dem Wind selbst ein unheimliches und letales Moment eingeschrieben. »La tempête le happe« und die rhetorisch lesbare und implizit verneinte Frage »un bruit étranger à la tempête?«113 erscheint dergestalt in einer anderen Dimension. Das Wetter geht besonders in Le chien jaune deutlich über die Funktion einer Hintergrundatmosphäre hinaus und ist substanziell für die Handlungsentwicklung.114

5.1.4.4 Das Wetter am Romanende Ergänzend zu den Wetterlagen an den Romananfängen können verschiedene WetterEnden für die Romane spezifiziert werden. Während das Wetter in vielen Maigrets mittelbar oder unmittelbar zum Anfang des jeweiligen Romans erscheint, ist dies am Ende nicht immer der Fall. In einigen Fällen zeigt sich ein Ausbleiben der Wettererwähnungen bereits vor dem letzten Kapitel, wie in La nuit du carrefour oder Le chien jaune, oder im Verlauf des letzten Kapitels, d.h. vor dem eigentlichen Ende. Insgesamt wird selten mit einem meteorologischen Bild geschlossen. Dieser Fortfall kann damit erklärt werden, dass mit der Lösung des Falls das Wetter für die Verbindung zur Täterfigur bzw. zum Opfer wie zu Maigret nicht mehr relevant ist oder dass die Täterfigur stirbt. Häufig erfolgt eine Reduktion, d.h. es wird weniger intensiv apperzipiert als im Verlauf des Falls (Liberty Bar, Mon ami Maigret, Maigret tend un piège, Maigret et l’inspecteur Malgracieux). Erscheint das Wetter gegen Ende, so zeichnen sich folgende Funktionen ab: •





Abschluss: Das Wetter bildet einen Abschluss für Maigret. Etwa als kontemplatives Moment der Urlaubsstimmung und einer fast erhabenen Landschaft in Maigret s’amuse oder bspw. als Teil der Stadtwahrnehmung (Paris) in Mademoiselle Berthe et son amant. Synthese: Stark wechselhafte Wetterlagen, die in Verbindung mit der Identität und den hin- und her gerissenen Emotionen des Täters stehen, erscheinen am Ende gleichzeitig und markieren eine Auflösung hin zum Tod des Täters in Le Charretier de ›La Providence‹. Spannungshöhepunkt: Das Wetter markiert zum Ende einen Spannungshöhepunkt, etwa als Teil einer Actionszene, und entfällt bspw. in Maigret au Picratt’s ab dem Tod des Täters.

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Zukunftsgerichtet: Das ›positive‹ bspw. frühlingshafte Wetter suggeriert für einzelne Figuren eine spätere positive Entwicklung wie bspw. in L’homme dans la rue, Maigret et son mort. Deutung: Das Wetter erzeugt eine (rückwirkende) Deutung oder eine Veränderung im Verständnis oder in der Wirkung der Täterfigur (La tête d’un homme) oder des Opfers (Maigret et la jeune morte).

5.1.4.5 Fakturen Ein Aspekt der Wettergestaltung neben der Quantität und Qualität ist der Einsatz des Wetters als Strukturelement für den Fall und die Deduktion. Das bedeutet, es besteht etwa eine Entwicklung des Wetters von ›schlecht‹ zu ›gut‹ parallel zum Fortschritt der Ermittlung wie bspw. in Le chien jaune (1931) oder L’homme dans la rue (1939). Diese Wettergestaltung als einfache Parallele zur Ermittlung wird vielfach als die ›klassische‹ Wetterentwicklung für den Kriminalroman angenommen; sie entspricht einem einfach übertragbaren rezeptionsästhetischen Konzept. Diese Faktur findet sich auch in anderen Maigret-Romanen wieder, sodass Bedner sie als charakteristisch herausstellt: Beaucoup de romans vont jusqu’à suggérer une correspondance secrète entre les dispositions du policier et les changements de l’état atmosphérique: plongeant la première phase de l’enquête dans la pluie, le froid, l’obscurité, Simenon y fait apparaître le soleil au moment où Maigret approche de la solution. Ainsi les six premiers chapitres d’Un Echec de Maigret évoquent un Paris mouillé, froid, lugubre; lorsque Maigret se réveille après un rêve révélateur, le temps s’est remis au beau, comme par enchantement: ›Les visages étaient gais autour de lui, à cause du soleil. L’air n’avait déjà plus son arrière-goût d’humidité et de poussière. Le ciel était bleu pâle. Les trottoirs, les toits étaient secs et il n’y avait que le tronc des arbres à rester mouillé.‹ Eclairage sans doute mythique, associant la nature à la lutte du héros.115 Bedner stellt fest, dass dieses Muster auf alle Titel seines Korpus zutrifft: Le chien jaune, Maigret à New York, Maigret et le corps sans tête, Un échec de Maigret und Maigret et Monsieur Charles.116 Neben der Parallelfaktur kristallisieren sich mit einem etwas größeren Korpus folgende Muster heraus: I.    Parallele II.    Antiparallele III.    Keine Wetterveränderung IV.    Intensivierung V.    Wetter-Einschübe i. Einmalig mit dem Muster ABA ii. Mehrfache Einschübe VI.    Triasstruktur VII.   Binär-Opposition VIII. Herauslösung

Nachfolgend werden diese Muster jeweils an einem Beispiel veranschaulicht.

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I. Parallele Wie bereits vorausgehend ausgeführt, sieht Bedner eine Parallele zwischen der Wetterund der Fallentwicklung vom schlechten zum guten Wetter.117 II. Antiparallele Als Antiparallele ließ sich das Gegenmuster zu Bedners Paralleler-Wettergestaltung benennen. Hier entwickelt sich der Plot unter dem Muster eines allgemein als ›gut‹ wahrgenommenen Wetters zu einem ›schlechten‹. Eine Antiparallele findet sich in Maigret s’amuse (1956), in dem der Kommissar im Urlaub ist. Der Urlaub ist eine Ausnahme und bildet die Grundlage dafür, Maigrets Vergnügen, den Fall, der ganz Paris beschäftigt, aus der Zeitung zu verfolgen. Allerdings mischt er sich diskret in die Ermittlung ein. Das Urlaubsmotiv bildet den Ausgangspunkt des Wetters, denn die meteorologische Faktur greift dies auf, indem zunächst Augusthitze in Paris evoziert wird – »L’été était chaud.«118 Mit der Einmischung Maigrets in den Fall bleibt das Wetter ad interim kongruent zur Urlaubsstimmung, doch zieht bereits leichter Nebel auf: Tout semblait le ravir, la musique, les couples […] les canotiers […] la nuit qui les enveloppait peu à peu. On sentait qu’il [Maigret] aurait aimé tomber la veste comme les autres mais n’osait pas, peut-être à cause de Pardon. […] L’air était doux, humide, avec une légère buée qui montait de la rivière.119 Je mehr Maigret sich mit dem Fall befasst und dabei völlig vom Mordfall absorbiert wird, d.h. seine Ferien aufgibt, desto mehr Regen zieht auf: »de larges gouttes d’eau commençaient à s’écraser sur le sol et sur son chapeau«120 . III. Keine Wetterveränderung Das Wetter bleibt konstant und verändert sich nicht. In Monsieur Lundi (1938) wird der Regen nur zu Beginn dreimal erwähnt. Eine Wetterveränderung gibt es nicht. Allerdings entspricht die Wetterabsenz der psychischen Problematik bzw. Fantasie der Täterin, die sich in Dr. Barion verliebt (unerwidert) und schließlich in einer psychiatrischen Klinik endet: »Et là, depuis deux ans, elle annonce à ses compagnes qu’elle va mettre un fils au monde.«121 IV. Intensivierung Von Anfang an liegt eine Grundwetterlage vor, die sich nicht nach dem Muster Parallele oder Antiparallele verändert, hingegen kommt es zu einer Intensivierung der herrschenden Bedingungen, es regnet immer stärker, schneit immer mehr oder die Hitze nimmt stetig zu wie in Stan le tueur (1938). Das Frühlingswetter erscheint zunächst kontrastiv zur Bewertung des Falls als »une des affaires les plus angoissantes«122 . Eine Bande terrorisiert Bauernhöfe im Norden, die quält, raubt, tötet: 16 Menschen in vier Jahren fallen ihnen zum Opfer. Das Wetter evoziert kontrastiv hierzu zunächst eine Atmosphäre der Leichtigkeit: »[L]a rue SaintAntoine qui vivait […] avec du soleil qui ruisselait d’un ciel clair sur les petites charrettes chargées de fruits et de légumes […]«123 symbolisch entsteht ein Kontrast von Wetter

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vs. Fall und Leben vs. Tod. Im Verlauf des Falls verändert sich die Wetterintensität: Die Temperaturen steigen und die Leichtigkeit des Frühlingswetters wandelt sich zu einer »air épais«124 und zum Eindruck führte, dass »la vie s’écoulait au ralenti«125 . Diese Veränderung geht mit dem Einbezug Ozeps einher, der Maigret seine Unterstützung bei der Ergreifung von Stan le tueur anbietet. Nach einigem Zögern akzeptiert Maigret, und Ozep begibt sich ins Hotel, wo Mitglieder der Bande, so auch Stéphanie Polintskaïa, wohnen. Ozep tötet Stéphanie »égorgée comme toutes les victimes de Stan«126 und richtet sich selbst. Tatsächlich nimmt die Hitze bis hierhin stetig zu und zeigt sich mit der Emotionalität Ozeps und dessen Geschichte verbunden. »[L]a fenêtre ouvert laissa pénétrer une lumière crue.«127 Unter diesem Wettereindruck identifiziert Maigret Stéphanie als Stan le tueur sowie als Ozeps Frau, die das gemeinsame Kind getötet hat, bevor sie nach Frankreich verschwunden ist und als Stan in Erscheinung tritt. Die Wetterentwicklung von Leichtigkeit zur »air épais« und zur »lumière crue« entspricht in konziser Form der Lebensgeschichte und Beziehung Ozeps zu Stéphanie. V. Wetter-Einschübe In einigen Romanen gibt es eine konstante Wetterlage – etwa winterliche Kälte und Schnee –, welche bspw. durch Retrospektiven, die mit einer kontrastierenden Wetterlage verbunden sind – bspw. Sommerhitze –, unterbrochen wird. Wettereinschübe können zudem mit einem Wechsel von der Figur Maigrets auf die Täterfigur verbunden sein. i. Fast wie Wetterblöcke erscheinen die saisonalen oder klimatischen Einschübe, die in La tête d’un homme (1930) mit der Retrospektive die Morde im Juli von der Handlung im Herbst kontrastiv abheben. Solche mit der Ermittlung verbundenen kontrastiv konzipierten Wetter-Einschübe weist ebenso Maigret tend un piège (1955) auf; hier wird die Augusthitze durchbrochen von Regensequenzen, die mit dem Ermittlungsansatz zur Ergreifung des Serientäters synchronisiert sind.128 Auch in Pietr le Letton (1929) besteht eine Klammer nach dem Muster ABA, die sich aus der Relation des Wetters zum Täter sowie in Kombination mit dem für die Ermittlung Maigrets funktionalisierten Wetter ergibt. A – das Wetter entspricht der emotionalen Disposition des Täters: Regen und stürmischer Wind; B – das Wetter entspricht der Ermittlung, verbunden mit Maigrets Theorie der fissure; A – in Zusammenhang mit dem Täter treten starker Wind und Nacht auf, es kommt zum Suizid des Täters.129 ii. Auf den ersten Blick recht geradlinig verläuft die saisonale Entwicklung in Les caves du Majestic (1939/40) vom Mord im Winter zur Aufklärung im Frühling. Der topologische, topografische Aufbau ist in diesem Roman jedoch temporal und meteorologisch verwoben und erweist sich als im Lotman’schen Sinne semantisch aufgeladen. Es ist frostig kalt in Paris, als Mimi Clark, Frau eines amerikanischen Millionärs, im schwülwarmen Untergeschoss des Majestic ermordet in einem Schrank gefunden wird. Ins Visier der Ermittlungen gerät Prosper Donge, der in der Kaffeeküche des Luxushotels arbeitet. Maigret findet heraus, dass Donge in Cannes mit der damals noch mittellosen Mimi eine gemeinsame Vergangenheit hatte und erfährt hier unter den Eindrücken der mediterranen Hitze, dass der kleine Sohn der Clarks in Wah-

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rheit der Sohn Donges ist. Die klimatische, temporale, räumliche und ökonomische Opposition Paris – Cannes findet Resonanz im Hotel mit der Suite (Clark) und dem Klima des Untergeschosses mit der Kaffeeküche (Donge). Bemerkenswert ist, dass Maigret weniger im oberen Teil des Hotels, scil. in der Suite, eine Verbindung zum Opfer sucht als vielmehr im unteren, genauer in der Kaffeeküche. Es scheint, als wäre der Tatort hier ein Hinweis auf den Bereich des Täters. Der Übergang – nachgerade im Lotman’schen Sinne – zwischen Paris und Cannes wird während der Zugfahrt Maigrets durch eine Nebelgrenze markiert. Diese verweist auf die zwei Lebensseiten Traum und Realität, die durch die ›Reise‹ in Mimis (und Donges) Vergangenheit entsteht und verdeutlicht die Faktur: »[…] Maigret garda l’impression déplaisante de patauger dans une sorte de no man’s land, entre la réalité et le rêve. […] le train avait roulé dans un tunnel de brouillasse«130 . Die Auflösung coram publico erfolgt, so sei in Ergänzung zu Bedner herausgestellt, nachts in den Räumen der PJ.131 VI. Triasstruktur Eine ähnliche Faktur wie Wettereinschübe bietet die Triasstruktur, bei der ein bestimmtes Wetterphänomen eine Verbindung zwischen den für den Fall konstitutiven Momenten zieht und diese dergestalt heraushebt. Maigret et son mort (1947) beginnt im Februar: »Le temps était doux, ensoleillé, avec parfois un nuage mou de giboulée qui humectait le ciel. […] Les rues commençaient à sentir le printemps. […] Paris était clair et gai. […] on appréciait […] les bouffées de printemps […].«132 Was bei dieser frühlingshaften Grundwetterlage aufeinanderstößt, sind extreme Treuherzigkeit und Freundschaft vs. extreme Grausamkeit und Gewalt.133 An einem Tag im Februar erhält Maigret zwei Anrufe: 1. von einer Frau, die glaubt, ihre Familie wolle sie vergiften, 2. von einem Mann, der sich verfolgt und bedroht fühlt und angibt, man wolle ihn töten. Beide Anrufer werden als Verrückte kategorisiert und mit einer Klischeevorstellung abgetan: »[I]l avait remarqué que les fous vont généralement par série, comme si certains lunes les influençaient. Il se promit […] de consulter le calendrier.«134 Der meteorologische Schlüssel der Faktur liegt indes nicht in den Mondphasen, sondern im Regen. Der zweite Anrufer meldet sich wiederholt, sodass Maigret letztlich seine Inspektoren auf die Suche nach ihm von Bar zu Bar, von Café zu Café schickt. Das Frühlingswetter – »Paris […] clair et gai«135 – wird nun langsam gebrochen: »[C]’était déjà la troisième giboulée qui tombait depuis le matin […].«136 Mit dem vierten Regenschauer137 wird die Leiche des Anrufers Albert Rochain gefunden. Dieser Regen ist Komponente des RegenNexus, der Mord, Motiv und Täter, die Picardie-Bande, verbindet.138 i. Mord: Es regnet zum Tod Albert Rochains. ii. Verbindung Picardie-Bande: Es regnet, als die Mörderin Maria verhört wird.139 iii. Motiv für den Mord: Es hat während des dritten Pferderennens geregnet140 , als Albert Rochain unbedarft ein Zugbillett aufhebt und erkennt, dass der Mann, dem es aus der Tasche gefallen ist, Bronsky, zu den »tueurs de Picardie« gehört.

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VII. Binär-Opposition In einigen Fällen erfolgt eine Wetterstruktur nach dem Muster kalt vs. warm oder drinnen vs. draußen woraus sich eine semantische Funktion ergibt die für Sicherheit vs. Angst steht. Der oppositionelle Aufbau wird in Le temoignage de l’enfant de chœur (1946) konstitutiv für die Zeugenbefragung des Ministranten, denn »il y avait deux pôles entre lesquels, chaque matin, le gamin se précipitait […]: sa chambre […] la sacristie«141 ; dazwischen liegen die noch dunklen und kalten Straßen der Kleinstadt, in denen sich der Mord ereignet. Die hibernalen Bedingungen modulieren den Außenraum zu einem Ort der Kälte, die »brutale immersion dans le noir, le froid, l’hostilité de la ville déserte au petit matin«142 , der hier metaphorisch fungiert und einen Bereich des ›Unbehagens‹ bzw. der ›verbotenen Wünsche‹ aufbaut. Dieser Bereich ist der des Täters, (ausgerechnet) ein gewisser Frankelstein. Hier verspricht er dem Ministranten Justin ein langersehntes Fahrrad, mit dem sein Schweigen erkauft werden soll. Für die Aufklärung wird die Opposition von winterlich geheizten und kalten Bereichen und die suggestiv aufgeladene Bewertung der Dualität bedeutend – sie rekurriert auf eine Zuordnung von Gut und Böse (Sakristei, Maigrets Wohnung hell bzw. geheizt vs. nächtliche Straßen [Mord], dunkel und kalt). Maigret bemerkt zwar in der frühmorgendlichen Rekonstruktion im Außenraum, dass der Ministrant Justin etwas verschweigt, doch kann dieser erst in der warmen und sicheren Wohnung Maigrets die Wahrheit sagen. Die Binärstruktur ist in einigen Fällen nicht (nur) räumlich, sondern (auch) meteorologisch temporal (Les caves du Majestic, bes. La tête d’un homme) aufgebaut und mit einer entsprechenden dichotomischen Wetterstruktur angelegt sowie mit den zwei Geschichten des Kriminalromans verbunden.143 Besonders temporal und mit Blick auf die Verbindung von Geschichte der Aufklärung und Tat ist die saisonale Opposition von Sommer (Mord) und Winter (Aufklärung) in La tête d’un homme (1930). Eine meteorologisch-semantische Faktur, deren dichotomische Grenze durch den Einsatz von Nebel markiert ist und gleichsam zwei Welten oder zwei Realitäten voneinander separiert, findet sich etwa in Les caves du Majestic (1939/40), Liberty Bar (1932) oder Mon ami Maigret (1949). VIII. Herauslösung In den Maigrets gewinnt, so Wigbers, die räumliche Begrenzung wieder an Bedeutung. Innerhalb von Paris sei dies der begrenzte Ort, »der in besonderer Weise zu dem Verbrechen in Beziehung steht, und auf den sich die Aufmerksamkeit Maigrets vorrangig konzentriert«144 . So entstehen in den Maigrets immer wieder kleine eigene Welten. Jeder Bereich kann mittels der Naturphänomene als eigener Mikrokosmos markiert werden, sodass durch sie erst eine Begrenzung bzw. Herauslösung entsteht. Besonders funktionalisiert ist dies auch in anderen Städten wie in Liberty Bar (1932) für die Herauslösung der verschiedenen sensuellen Welten Browns an der Côte d’Azur. In Maigret en meublé (1951) entsteht die Herauslösung eines Straßenabschnitts als Mikrokosmos über die Naturapperzeption Maigrets. Maigret mietet sich bei Mlle Clément in der Rue Lhomond ein, weil hier Inspector Janvier auf offener Straße angeschossen wurde. Am ersten Abend isoliert Maigret durch

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einen Blick zum Sternenhimmel ein begrenztes Areal mit zwei Häusern und erschafft den Eindruck einer Insel (local clos) mitten in Paris: L’air était d’une douceur de velours, presque palpable. Aucun mouvement, aucun bruit ne troublait la paix de la rue Lhomond […]. [C]’était dans un autre monde et, entre les toits des maisons, entre les cheminées, on jouissait d’une échappée sur un infini peuplé d’étoiles.145 Über die konstituierte Welt deutet sich eine spezifische Bedeutung der räumlichen Parameter an, das Haus von Mlle Clément, der Tatort auf der Straße und das Haus gegenüber.146 Markant ist, dass der Blick immer wieder mit Naturphänomenen kombiniert wird. Dies ist insofern bedeutsam, als das Zusammenspiel von Sonnenschein oder dessen Absenz und ein Teil des beobachteten Straßenausschnitts (Anschauungsraum) elementar für die Lösung werden, indem das ›Geheimnis‹ der wetterbedingt passend oder unpassend aufgestellten Topfpflanze zum Mörder Fourcier führt. Die Wetterlage und die über diese entstehende Grundtönung des Wetters zeigt sich als eine reine Dekorfunktion, mit ihr entsteht eine sehr spezifische Atmosphäre, die mit dem Fall zusammenhängt. So entsteht etwa in Maigret au Picratt’s ausgehend von der Täterfigur eine eher bedrohliche bzw. beklemmende Wetterstimmung. In vielen Fällen wird die Atmosphäre gleich zu Beginn durch das Wetter lanciert und resultiert aus einer Verbindung zur psychischen Disposition der Täterfigur oder gleichsam auf symbolische Weise die Situation bzw. Geschichte des Opfers sowie zu weiteren Elementen, wie der Tat. Hiermit hängt sodann auch die meteorologische Faktur zusammen. Die erarbeiteten Fakturen und ihre Beispiele verdeutlichen, dass die Wetterfaktur in den MaigretFällen nicht nur vielfältiger ist als eine einfache parallele Entwicklung von schlechtem zu gutem Wetter, die Wetterfaktur ist darüber hinaus funktionalisiert für die Transzendierung der Gefühlsdispositionen, die Semantisierung der Orte oder etwa auch das Markieren von handlungsrelevanten Momenten (Triasstruktur). Auffallend gestaltet sich auch hier der tendenzielle Zusammenhang zwischen der Wetterfaktur und der Täter- bzw. Opferfiguren.

5.2 Maigret – Wetter, Theorie und Methode Maigret ne me ressemble pas. C’est moi qui me suis mis à lui ressembler en vieillissant.147 Jules Maigret wird 1881 oder 1882 in Saint-Fiacre im Allier geboren. Nach dem frühen Verlust seiner Mutter (Maigret ist acht Jahre alt), stirbt sein Vater um 1901/1902, weshalb Maigret sein Medizinstudium in Nantes nicht fortsetzen kann. Er geht nach Paris, wo er Polizist und Sekretär des Kommissars des Viertels Saint-Georges (!)148 wird. Kurz darauf begegnet er Louise, der späteren Madame Maigret. Zu dieser Zeit arbeitet Maigret bei der Brigade à clou, wodurch er die Straßen, Plätze, Bahnhöfe und Sitten in Paris kennenlernt. Um 1911/1912, Maigret ist etwa 30, erfüllt sich ein Traum und er wird Teil der Brigade

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spéciale unter Commissaire Guillaume. 1927, so schreibt sich Simenon mit Les mémoires de Maigret (1950) quasi metaleptisch in die Geschichte seiner Figur ein, lernt Maigret den jungen Autor Georges Sim kennen, der über die Fälle Maigrets berichten möchte und zu dem sich, so Maigret in seinen Memoiren, eine Freundschaft entwickelt.149 Kommissar Maigret, zwischenzeitlich auch Chef der Kriminalpolizei, zieht sich mit etwa 68 Jahren in sein Häuschen in Meung-sur-Loire zurück.150 Für die Verbindung Maigrets mit dem Wetter betrachten wir • • • • • •

die in den Romanen entworfene Theorie und Methode das Wetter und die Theorie der fissure am Beispiel von Pietr le Letton Maigrets Wettersensibilität das Wetter in den Phasen der Ermittlung méteo-logisch: Wetter als Spur Wetter-Erinnerungen

5.2.1 Kommissar Maigret – Theorie und Methode Nach Wörtche ist Maigret »eine hochartifizielle, stilisierte Figur, seine Darstellung der Polizeiarbeit ist nach ›realistischen‹ bzw. ›circumstantial‹-realistischen Parametern eher surrealistisch – so sah die Polizeiarbeit selbst in der autoritären französischen Republik nicht aus«151 . Hier kann in Bezug auf den Umgang mit den Täterfiguren entgegengehalten werden, dass sich diese mit einer zu der Zeit neuen Entwicklung bei der Polizeiarbeit in Berlin verknüpfen lässt. Während Verhöre zuvor wenig ›freundlich‹ verlaufen und Verdächtige unter Druck gesetzt werden,152 etabliert Ernst Gennat bei der ersten Kriminalpolizei in den 1920erJahren in Berlin einen neuen Ansatz: mit Verständnis zum Geständnis. Gennat betrachtet – ähnlich wie die Figur Maigret – den Täter stets auch als Opfer und es bildet sich zwischen ihm und »seinen ›Kunden‹ ein geradezu vertrauliches Verhältnis. ›Kriminalistik ist zu einem großen Teil Kunst der Menschenbehandlung‹.«153 Wiederholt wird auch Maigret für die Täterfiguren zum »raccommodeur de destinées«154 und »conduit les coupables à se réconcilier avec eux-mêmes«155 . Mit Gennat konform geht ferner die Dauer der Maigret-Ermittlungen, die meist nur ein paar Tage bedürfen und den Ansatz spiegeln, dass die ersten 24 Stunden von enormer Bedeutung sind. Bemerkenswert für die Gestaltung der Figur Maigret ist dessen physische Veränderung: Maigret, zunächst von muskulärer Statur, wird mit der Zeit eher korpulent und erinnert damit an die Erscheinung Gennats.156 Auch wenn Maigret behauptet: »ma méthode […] [est] de ne pas en avoir«157 , können aus den Fällen zwei weitere Ansätze kristallisiert werden: die Theorie der fissure und Connaître le milieu. Die théorie de la fissure lanciert Maigret gleich in Pietr le Letton. Nach dieser gebe es, wie in jedem Verbrecher, zwei Persönlichkeiten: Dans tout malfaiteur, dans tout bandit, il y a un homme. Mais il y a aussi un joueur, un adversaire, et c’est lui que la police est tentée de voir, c’est à lui, généralement, qu’elle s’attaque. […] Mais il cherchait, attendait, guettait surtout la fissure. Le moment, autrement dit, où derrière le joueur, apparaît l’homme.158

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Die fissure ist eine Grenze, die überschritten wird, ein einschneidender Faktor, eine (seelische) Verletzung meist infolge des Übermaßes einer anhaltenden Situation oder eines kurzen Augenblicks, der zur ›Krise‹ führte. In diesem Sinne sieht Maigret in der Verbindung von Opfern und Tätern kein intellektuelles Rätsel, sondern eine menschliche Beziehung. Daher sucht er in der Geschichte des Opfers das Moment der »misère, la solitude et les rancœurs«159 , das zur Tat geführt hat und über welches eine Verbindung zum Täter bzw. zur Täterin besteht. Um zunächst das Opfer zu verstehen und sich den Umständen, die zur Tat geführt haben, anzunähern, ist für Maigret das Milieu bedeutend, in dem sich der Mord ereignet. Um sich mit diesem vertraut zu machen, kommt es zur Theorie, zur Methode des Connaître und der Imprägnation.160 So erläutert Maigret in Les mémoires de Maigret: »Il s’agit de connaître. Connaître le milieu où un crime est commis, connaître le genre de vie, les habitudes, les mœurs, les réactions des gens qui y sont mêlés, victimes, coupables et simples témoins.«161 Als Basis seiner Ermittlungen ist es essenziell, selbst an den Orten zu sein und sich mit allem vertraut zu machen. Dies verdeutlicht sich beispielsweise in Les caves du Majestic (1939/40): »Il aurait pu envoyer un inspecteur. Mais un inspecteur pouvait-il renifler à sa place l’atmosphère d’une maison?«162 sowie in Maigret hésite (1968): »Maigret fumait […] en essayant de s’imprégner de tout ce monde qu’il ne connaissait pas la veille et qui venait de surgir dans sa vie.«163 Maigret dringt mit seiner Methode der Imprägnation, der Intuition und der Verknüpfung von scheinbar nebensächlichen und zusammenhanglosen Spuren zum Opfer und zum Täter vor.

5.2.1.1 Das Wetter und die Theorie der fissure (Pietr le Letton) Am Beispiel von Maigrets erstem Fall Pietr le Letton (1929) steht die Wetterwahrnehmung Maigrets im Rahmen des deduktiven Prozesses im Mittelpunkt sowie zentral Maigrets Theorie der fissure, die formuliert und an der Figur des Täters veranschaulicht wird. Gerade dieser erste Fall eröffnet bereits eine Verbindung zwischen Täter und Wetter. Diese doppelte meteorologische Relation ist durch die Faktur mittels eines Wettereinschubs nach dem Muster ABA möglich (s.o.). Funktionalisiert wird das Wetter in Verknüpfung mit dem Kriminalroman auf zwei Ebenen: Die eine ist die des Täters, indem sich eine Projektion entwirft und die Identitätskrise nachzeichnet, die andere ist das Wetter für die deduktive Instanz als Indikator der Problematik des Verfolgten. Hans Johansson – Wetterspiegelung Vom klassischen Kriminalroman-Motiv des Doppelgängers geht die Problematik bzw. das Moment der »misère, la solitude et les rancœurs«164 für die Täterfigur aus und es entwirft sich – charakteristisch für die Maigrets – die Frage, wer der tatsächlich ›Schuldige‹ ist. Seit früher Kindheit besteht zwischen den Zwillingen Pietr Johannson (alias Pietr-le-Letton, alias Olaf Swaan) und Hans Johannson (alias Oswald Oppenheim, alias Fedor Yourovitch) eine Dualität. Sie verkörpern die Polarität des Doppelgängermotivs in einer negativen, dunklen (paradoxiert durch das Alias Swaan) und einer positiveren, hellen Identität (paradoxiert durch den Wohnort von Yourovitch). Über die Jahre besteht eine Figurenkonstellation aus Dominierendem und Unterdrücktem, die von Hans ausgehalten wird, dessen Talent als Fälscher sich Pietr zunutze macht. Ein starkes Kränkungsgeschehen markiert die Heirat Pietrs mit Berthe, der Frau, die Hans liebt, und

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ihr gemeinsames Leben in einer Villa in Fécamp. Hans zieht sich zurück in ein ›Ghetto‹, das als dunkler Teil von Paris evoziert wird, kontrastiv zu den hellen Straßen der Rue de Rivoli, der Rue Saint-Antoine oder dem Majestic, mithin zu Orten, an denen sein Bruder agiert.165 Pietr drängt Hans sukzessive in eine topografische, semantische und letztlich naturphänomenologische Dunkelheit, die Hans’ Charakter nicht entspricht. Die Situation eskaliert, als Hans entscheidet, sich zu rächen, den Verhältnissen zu entfliehen und seinen Zwilling zu überwinden, indem er Pietr im Nord-Express tötet und dessen Identität annimmt.166 Mit diesem Ereignis setzt eine Wetter-Parallelität zu Hans Johannson ein, indem sich der Mord in den Naturphänomenen spiegelt: »La nuit tombait«167 – der dunkle Zwilling fällt. Die zweite hieran anknüpfende Wettererwähnung bringt das Überraschungsmoment Pietrs ob des Angriffs und deutet parallel die Problematik an, denn der Fall Pietrs zieht Hans selbst in die »Dunkelheit«; der unerwartete Umstand zeigt sich in der Perspektive Maigrets mit Blick auf das Wetter: »[I]l fut surpris par le vent qui s’engouffrait.«168 Hans begibt sich nach dem Mord ins Hotel Majestic, wo er unter der Identität Pietrs dessen kriminelle Geschäftsbeziehung mit Mortimer-Levingston fortzusetzen plant. Das Konzept, die Dopplung durch die Positionseinnahme des anderen aufzulösen, funktioniert nicht, denn gerade mit dieser Identitäts- oder Rollenannahme löst Hans sich nicht von Pietr. Das resultierende heikle Spiel mit den Identitäten offenbart sich in der Wetterdarstellung in Paris: »La tempête redoublait. Les rues étaient parcourues par des tourbillons qui donnaient aux passantes des silhouettes d’ivrognes. Une tuile tomba, quelque part, sur le trottoir. Les autobus déferlaient.«169 Das Wetter projiziert Hans’ Gefühlslage und zeichnet die Problematik der Identitätsannahme nach; denn MortimerLevingston bemerkt, dass er es nicht mit dem ›echten‹ Pietr zu tun hat. Die Fassade, die angenommene Identität, bröckelt und auch Hans’ eigenes Ich gerät ins Wanken. Die Verwobenheit des Wetters mit dem Doppelgängermotiv kulminiert in der Szene in Fécamp, als Hans im Nebel verschwindet: »Le trench-coat s’estompa enfin dans la brume et la pluie, le long du quai, dans la direction de la gare. […] La silhouette beige disparaissait […].«170 Im Blick des Verfolgers Maigret erscheint Hans allegorisch reduziert als Mantel; er ist keine Person, kein Individuum mehr. Hans wird zum Schatten und löst sich im Nebel auf. Das aus Feuchtigkeitspartikeln bestehende Wetterphänomen evolviert seine negative Qualität, die Partikel des Ichs vaporisieren gleichsam. Bedingt durch den Tod des Bruders, der dunklen Zwillingsseite, verändert sich die Doppelgängerdynamik: Mit der Tat wird der ›gute‹ zum ›bösen‹ Zwilling und schuldig gegenüber seinem Bruder. Der Tod des Bruders ist dergestalt mit der Auflösung der primär über die Dualität bestehenden Individualität verbunden. Das Humiditätsereignis erscheint symbolhaft für die Verlorenheit und den Identitätsverlust von Hans. Die Auflösung im Nebel antizipiert in diesem Sinne den bevorstehenden Tod des zweiten Zwillings. Die Polarität der Geschwister wird mit dem Mord nur scheinbar aufgelöst, der Bruder wurde durch die Tat und versuchte Identitätsannahme eine Facette des Selbst, die als innere Dunkelheit am Brudermörder zu nagen beginnt. Dieses Moment zeigt sich an der Landschaftsdarstellung, die im Sinne einer symbolischen Kulisse lesbar ist und mithin Hans’ Inneres und das ›Wirken‹ des toten Bruders veranschaulicht; so verharrt Hans: »à regarder défiler un paysage confus que la nuit grignotait peu à peu«171 .

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Die Schuld der Tat und die unannehmbaren Identitäten projizieren sich in der letzten meteorologischen Darstellung vor dem Selbstmord Hans’, indem dieser als einsame Figur auf einem sturmumtosten Felsen am Meer steht. Der Sturmwind bringt die maximale Verzweiflung Hans Johannsons im Hinblick auf seine verlorenen Hoffnungen, Träume und sein ganzes Leben zum Ausdruck. Perspektive Maigret: Wetter-Refraktor Auf der deduktiven Seite gibt es zwei elementare Szenen, in denen das Wetter Maigret zum Bemerken der Doppelgänger-Problematik dient. Das Wetter fungiert hierbei als Indikator für einen rezeptiv-produktiven Prozess aus Wahrnehmung, Irritation, Hypothese und Verstehen. Dieses Moment ist verbunden mit der Theorie der fissure. Moment I. Fécamp – Regen und Nebel Maigret spürt Johannson bis nach Fécamp nach, wo Berthe Swaan, die Frau von Pietr Johannson (alias Pietr-le-Letton, alias Olaf Swaan) mit den gemeinsamen Kindern lebt. Nach Mme Swaan sei ihr Mann zwar Offizier auf einem deutschen Handelsschiff, aber nicht Lette – als Maigret beim Verlassen der Villa auf eines der spielenden Kinder trifft, bemerkt er allerdings die frappierende Ähnlichkeit zu Pietr und ist sicher, das verborgene Doppelleben und die zweite Persönlichkeit des Letten gefunden zu haben – womit sich die Theorie der fissure verifiziert. Allerdings deckt Maigret hier die zweite Identität des toten Pietr Johannsons auf und nicht oder nur indirekt die des gesuchten Mörders Hans Johannson. Maigret beobachtet die Villa der Swaans. Es regnet und durchnässt überlegt Maigret, den Posten aufzugeben. In diesem Moment hängt alles von der Intensität des Regens ab, scil. ob ein Streichholz so nass ist, dass es nicht zündet: »Sa pipe elle-même, dans sa poche, était mouillée. […] Il eut toutes les peines du monde à frotter une allumette. […] Et peut-être, si un des bouts de bois n’eût flambé enfin, par miracle, fût-il parti?«172 Der Regen bildet eine scheinbare Zufallsvariable. Denn so sieht Maigret einen Mann aus der Villa der Swaans kommen. Geradezu mokant erscheint dann schon das zweite Zufallselement, weil der Verfolgte sich ausgerechnet vor dem im Schatten stehenden Maigret eine Zigarette entzündet und sich damit selbst »illuminiert«. Fast philosophisch befördert dieses Feuer das Erkennen von Original und Schatten: A croire qu’il avait le souci de placer son visage en pleine lumière, de permettre au policier de le détailler. […] l’homme en trench-coat ressemblait au Letton et n’y ressemblait pas! […] Rien n’empêchait qu’il fu l’original du portrait parlé […] Et pourtant c’était un autre homme! Les yeux, par exemple […] Le gris en était plus clair; comme si les prunelles eussent été délayées par la pluie.173 Der Eindruck des Regeneffekts akkumuliert Wahrnehmung, Irritation und erste Hypothese zur Identität des Mannes. Der Regenvergleich ist produktive Interpretation, die noch nicht vollständig fassbar ist, lanciert aber die Idee der Technik des Verdoppelns, mit der die Kopie nicht mehr so deutlich ist wie das Original. Dieser Eindruck Maigrets festigt sich weiter über die Auflösung resp. Dekonstruktion des Verfolgten im Nebel. Die doppelte Verweisbezüglichkeit des Wetters verbindet sich, indem Maigret Hans zum

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Schatten im Nebel werden sieht. Die identitäre Zwillingsproblematik ist assoziiert mit der deduktiven Identitätsfrage, da das Humiditätsereignis das Abbild sichtbar macht und eine verschwindende, im doppelten Sinne gesuchte Täterfigur ›zeigt‹: »Le trenchcoat s’estompa enfin dans la brume et la pluie, le long du quai, dans la direction de la gare. […] La silhouette beige disparaissait […].«174 Moment II. Paris – Sonne Eine Phase des Sonnenscheins durchbricht das vornehmlich regnerische und windige Wetter. Dieses Sonnenlicht fungiert als Indikator der Theorie Maigrets, indem es die Identitäten Hans Johannsons prismatisiert und damit enthüllt. Die Irritation an Johannsons Identität ist präsent, als Maigret den Mann durch die Straßen von Paris verfolgt und im Sonnenschein auf den Champs-Élysées beobachtet. Unter dem Eindruck der Sonne flackern in Maigrets Perspektive die verschiedenen, nicht integrierbaren Persönlichkeiten Hans Johannsons wie ein Prisma auf: Grâce au soleil qui baignait tout une moitié des Champs-Elysées, il faisait assez doux. […] Pietr parcourut deux fois le chemin de l’Etoile au Rond-Point et à la fin Maigret connaissait sa silhouette dans ses moindres détails, en avait saisi à fond le caractère. […] Une perfection qui n’était pas seulement de surface! […] Maigret en gros marchand de bestiaux par exemple […] jouait le marchand de bestiaux. Mais il ne l’était pas. Le personnage était tout extérieur. Pietr-Fédor était ou Pietr ou Fédor par l’intérieur. Et l’impression […] pouvait se résumer ainsi: il était à la fois l’un et l’autre […] par essence. […] Ce n’était là que des idées décousues, qui assaillaient Maigret tandis qu’il allait à pas lents dans une atmosphère d’une légèreté savoureuse. Soudain, pourtant le personnage du Letton s’écailla.175 Meteorologische Induktion, Wahrnehmen, Erkennen und Verstehen bilden eine Synthese, wodurch die angenommene Identität des Bruders wie ein gläsernes Futteral zersplittert. Die (identitäre) Brüchigkeit Hans Johannsons wird an dieser Stelle mittels des Wetters für Maigrets konkret wahrnehmbar. Wetter und Maigrets Theorie der zwei Identitäten eines Verbrechers wirken pointiert reziprok. Maigret folgt Johannson in eine Bar. Unter dem Alkoholeinfluss kann Hans die Fassade immer weniger aufrechterhalten, wodurch weitere Persönlichkeitssplitter durchscheinen. In der direkten Konfrontation von Maigret und Hans Johannson wiederholt sich die beobachtete Metamorphose in Fécamp und wird explizit in der Inkorporation des Nebels, denn Maigret ahnt: [P]lein de whisky […] [l]’effet fut impressionnant. […] Il assistait à la […] transformation […] dix fois, cent fois plus fort. […] Un homme du monde et un savant […]. Et soudain […] une marionnette aux ficelles […]. Il regardait plutôt le Letton qui, son premier émoi passé tentait de retrouver sa lucidité. Mais il n’était plus temps. […] Il ne devait voir les gens, et les objets qu’à travers un brouillard déformant.176 Hans Johannson ist als das sichtbar, was er war, die Spielfigur des Bruders, und als das, was er ist, aber nicht mehr sein kann, bedingt durch die Tat, die er gegenüber Maigret mit Verweis auf 1. Mose 4,2-16 obsigniert. Nachdem es das notwendige Licht für die Auf-

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klärung geliefert hat, nimmt das Wetter wieder die Funktion der Projektion Johannsons auf. Der innere Nebel lässt sich nicht mehr auflösen und die Verzweiflung projiziert sich fürderhin über die »air glacé«177 auf Wind und Dunkelheit.

5.2.2 Wettersensibilität Im Folgenden liegt der Fokus auf Maigrets Wettersensibilität und der Bedeutung für die Ermittlung. Maigret begeistert sich für jedes Wetter und bringt diesem eine verstärkte Aufmerksamkeit entgegen, wodurch meteorologische Phänomene eine deutliche Präsenz erhalten und einen Anziehungspunkt der Narration bilden. Sowohl über die Erzählinstanz wie über Maigret ist Wetter oftmalig multisensorisch angelegt,178 ferner entstehen emotionale sowie synästhetische Evokationen, insbesondere zu Lebens- und Genussmitteln. Hierbei zeigt sich die Subjektivität der Wetterwahrnehmung: »Il aimait tous les temps. Il aimait surtout les temps extrêmes, […] les pluies diluviennes, les tornades, les grands froids ou les chaleurs torrides. La neige lui faisait plaisir aussi, parce qu’elle lui rappelait son enfance […].«179 Bien qu’on fût en mars, la peau était moite, avec une odeur d’été. […] Il y a de petites bouffées tièdes qui vous caressent les joues.180 L’air était savoureux comme un fruit, avec des bouffées fraîches sur un fond de chaleur.181 Le temps était radieux, l’air tellement savoureux dans sa fraîcheur matinale qu’on avait envie d’y mordre comme dans un fruit.182 Une fin d’après-midi radieuse. Un soleil presque sirupeux […].183 Das Besondere oder gar Innovative ist, dass Wetter nicht primär als Umweltaspekt erscheint, sondern eine ›Wetterlust‹ zum Ausdruck kommt: »[L]’air était encore frais, un air qu’on avait envie de boire comme un petit vin blanc et qui vous tendait la peau du visage.«184 Dies zeigt sich auch daran, dass anderen Figuren das Wetter schlicht egal ist, während Maigret sich auch in ungewöhnlichen Situationen hierfür interessiert: »– Il pleut chez vous aussi? – Je n’en sais rien! hurla Naud. Je m’en fous! Tu m’entends?«185 Maigrets Wetteraffinität geht soweit, dass er in Le voleur de Maigret im Wettereindruck versinkt und sogar einen Diebstahl zum Nachteil seiner Person nicht bemerkt: »Le sourire de Maigret était ironique, non pas tant parce qu’il venait d’être la victime d’un pickpocket, mais parce qu’il était dans l’impossibilité de le poursuivre. A cause du printemps, justement à cause de cet air champagnisé qu’il avait commencé à respirer la veille.«186 Durch die Aufmerksamkeit und meteorologische Zugewandtheit entsteht der Eindruck: »The Chief Inspector uses the elements as a veritable barometer of his moods«,187 so Wenger und Trussel. Die Figur Maigret erscheint derart gestaltet über eine »météosensibilité«188 zu verfügen resp. wirkt das Wetter als »›baromètre de l’âme‹, qui suggère la possibilité de mesurer assez précisément les variations auxquelles la pluie et le beau temps soumettent l’organisme et les états d’âme du sujet«189 . Tatsächlich beeinflussen

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verschiedene Witterungen Maigrets physisches und seelisches Befinden: Der Tau am Ende von Maigret et son mort erzeugt einen Augenblick der Unbekümmertheit und fast kindlichen Erheiterung: »C’était amusant, après la nuit […] de marcher dans l’herbe mouillé de rosée, de sentir l’odeur de la terre […].«190 Oder die Hitze an der Côte d’Azur versetzt ihn in Urlaubsstimmung und löst eine physische Reaktion aus – beides führt indes zu der Schwierigkeit, den Mordfall ernst zu nehmen: »Tout ce soleil qui lui entrait dans la tête l’étourdissait et il clignait de l’œil […].«191 Die Sensibilität und Emotionalität, die ungefilterte Wahrnehmung des Wetters, wie generell von Umweltreizen, kann mit einem Phänomen erklärt werden, das als Sensory Processing Sensitivity (SPS) beschrieben wird. Hierbei handelt es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal, bei dem die Wahrnehmungsfilter auch unterschwellige Reize durchlassen, wodurch alle Sinne sie intensiver und detaillierter erfassen, sodass entsprechend eine erhöhte Empfänglichkeit oder Sensibilität gegenüber inneren wie äußeren Reizen besteht. Hierdurch können Eindrücke schlecht oder gar nicht ausgeblendet werden, sodass eine permanente Geräuschkulisse, Hitze oder starke Gerüche schnell zu einer Reizüberflutung oder Überreiztheit führen. Innere Reize, erlebte Situationen in Form von Erinnerungen, Ideen und Gedankengängen bleiben ferner intensiver und länger im Bewusstsein.192 Zentrale Spezifika, die sich in Maigrets Persönlichkeit widerspiegeln, sind die intensive Wahrnehmung, die prolongierte Resonanz von Impressionen und Emotionen, ein relativ kleiner Bereich zwischen Übermaß und Langeweile (deutlich in jedem Urlaub Maigrets) sowie ein schnelles Überreizen – auch befördert durch meteorologische Elemente. Besonders zu Beginn der Reihe erscheint Maigret mit Charakteristika und Symptomen einer Highly Sensitive Person. Ein Indikator für SPS stellt das Wetter, bzw. vice versa bietet SPS einen Erklärungsansatz, warum dem Wetter eine gesteigerte Aufmerksamkeit zukommt und es in seiner sensorischen und multiplen Wirkung entfaltet wird. Für die Figur der ermittelnden Instanz ist dies besonders spannend, weil Verhaltensmuster bzw. Charakteristika der SPS mit den Ermittlungsphasen korrespondieren; dies wird im Folgenden unter besonderer Einbeziehung des Wetters skizziert.

5.2.2.1 Das Wetter und die Phasen der Ermittlung Unabhängig vom Einzelfall ist die Unterteilung der Ermittlung in einzelne Phasen. Mercier untergliedert die Maigret-Fälle in 13 Ermittlungsphasen.193 Für die vorliegende Arbeit sind die folgenden Phasen auszumachen: • • • • •

Imprägnation Reizüberflutung Kompensation: Alkohol und Wetter Rückzug und Lösung Loslösung

Imprägnation Das Moment der Imprägnation194 zeichnet sich dadurch aus, dass Maigret nicht nur Fakten sammelt, sondern Eindrücke auf ihn einströmen und er diese aufnimmt. Für Mercier ist diese spezielle Umweltwahrnehmung mit einer entwicklungspsychologischen Pha-

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se assoziierbar: »Pour un psychologue, cette attitude évoque l’ambiance perçue par le tout jeune bébé, ›le scanning inconscient‹, avec un balayage d’impressions sensorielles du champ perceptif sans privilégier intentionnellement une zone particulière.«195 Dieses Moment realisiere sich insbesondere zu Beginn der eigentlichen Ermittlung, etwa mit dem Eintreffen am Ort des Verbrechens. Zur Deskription der besonderen Wahrnehmung Maigrets findet sich häufig die Metapher der »éponge«, die nicht zuletzt die unwillkürliche Reiz-Absorption zum Ausdruck bringt: »Il était là, comme une éponge, à s’imprégner lentement de tout ce qu’il suintait autour de lui.«196 Die autodynamische, gesteigerte Wahrnehmung, das Aufsaugen der Emotionen anderer wie der jeweiligen Stimmung zeichnet Aron exemplifizierend als eine Facette von SPS: Die meisten Leute bemerken vielleicht die Möbel und die anderen Menschen, wenn sie ein Zimmer betreten, mehr aber auch nicht. HSM können, ob sie nun wollen oder nicht, sofort auch die frische oder verbrauchte Luft im Raum wahrnehmen, die vorherrschende Stimmung, die Freundschaften und Feindschaften sowie die Persönlichkeit desjenigen erahnen, der die Blumen arrangiert hat.197 Dieses Moment des Registrierens von Einzelheiten und Persönlichkeitsmerkmalen zeigt sich für Maigret exemplarisch in der Phase, in der er sich in Maigret et le voleur paresseux (1961) in das Milieu einfindet: Dans la première étape, c’est-à-dire quand il se trouvait face à un milieu nouveau, avec des gens dont il ne savait rien, on aurait dit qu’il aspirait machinalement la vie qui l’entourait et s’en gonflait comme une éponge. […] Sa mémoire enregistrait à son insu les moindres détails de l’atmosphère, les gestes, les jeux de physionomie de chacun.198 Bestandteil der Imprägnation sind auch die Wetter- und Naturphänomene. Maigret registriert und verbindet mit ihnen die Orte, Tatorte und Begebenheiten. So ist das Tatortwetter für Maigret integrativer Bestandteil seiner Wahrnehmung, mit dem sich ein besonderes Erinnerungspotenzial (zugehörig zur SPS) wie in Félicie est là (1941) verbindet: Maigret, des années plus tard, aurait encore pu montrer l’endroit exact où cela s’était produit, la portion du trottoir où il avait les pieds […] il aurait pu, non seulement reconstituer les moindres détails du décor, mais retrouver l’odeur éparse, les vibrations de l’air qui avaient un goût de souvenir d’enfance. C’était la première fois, cette année-là, qu’il sortait sans pardessus […]. Sa grosse pipe elle-même avait une saveur de printemps.199 Oder wie in Maigret et la Grande Perche, wo das Wetter retrospektiv präsenter ist als die Beteiligten des Falles: Maigret ne se rappelait ni ce nom Micou, ni Jussiaume, ni ce surnom de Grande perche, Mais il gardait un souvenir précis de la rue de la Lune, par un jour très chaude comme

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aujourd’hui, qui rend le bitume élastique sous les semelles et imprègne Paris d’une odeur de goudron.200 Das Wetter wird verstärkt erinnert und erhält in einzelnen Fällen eine Funktion für den Deduktionsprozess, indem es sich Maigret wiederholt aufdrängt, wie in Maigret et le tueur, Maigret et l’inspecteur Malgracieux, oder wenn, wie in Maigret et la jeune morte, mit dem Wetter ein Bild entsteht, das Maigret nicht loslässt: Les rues étaient désertes, mouillées, avec des fines gouttes qui mettaient une auréole aux becs de gaz […] – Elle est mort? questionna-t-il en désignant la femme étendue sur le trottoir […] La jeune femme était couchée sur le côté droit, une joue sur le trottoir mouillé, un de ses pieds déchaussé. […] On était en mars. L’air était doux, pas assez cependant, pour qu’on se promène la nuit, surtout sous la pluie, avec une robe légère […]. Son maquillage, sous la pluie, s’était un peu dilué et, au lieu de la vieillir ou de l’enlaidir, cela la rendait plus jeune, plus attachante.201 In L’Inspecteur Cadavre (1941) absorbiert Maigret insbesondere den Nebel und die Nacht. Diese Aufnahme beeinflusst die anderen Komponenten wie den Handlungsort: […] debout dans la rue humide et froide, il ne pensait pas. Il ne suivait aucune idée. Peut-on dire qu’il était un peu comme une éponge? Le mot était du brigadier Lucas, qui avait travaillé si souvent avec lui et qui le connaissait mieux que quiconque. – Il y a un moment au cours d’une enquête, […] où le patron [Maigret] se gonfle soudain comme une éponge. On dirait qu’il fait le plein. Mais le plein de quoi? Pour l’instant […] il faisait le plein de brouillard et de nuit. Ce n’était plus un village quelconque qui l’entourait.202 Die Wahrnehmung des Wetters befördert in einigen Fällen die Annäherung an das Milieu und das Sich-Hineinversetzen, das Vertrautwerden mit dem Mordopfer. Dies deutet sich etwa in Maigret et les braves gens (1961) über den Spaziergang sowie in Maigret et Monsieur Charles (1972) an: »Il avait envie de faire lui-même la promenade que Josselin faisait chaque matin, de voir ce qu’il voyait, de s’arrêter sur les mêmes bancs.«203 Der Grund ist, dass Maigret »avait besoin d’échapper à son bureau, de respirer l’air du temps, de découvrir, à chaque nouvelle enquête, des mondes différents«204 . Reizüberflutung Speziell in den ersten Maigret-Fällen entsteht durch die ungefilterte Aufnahme von Eindrücken eine Reizüberflutung.205 Dieser schmale Grat zwischen aufmerksamer Wahrnehmung und Überreizung zeigt sich etwa in Le Charretier de ›La Providence‹ (1930): Au Quai des Orfèvres, sa placidité était légendaire. Pourtant, cette fois, il était impatienté par le calme de son interlocuteur. […] Un détail entre cent. […] Maigret faisait un effort pour donner un sens précis à son interrogatoire. Mais il était sollicité sans cesse par des impressions nouvelles. Malgré lui, il regardait tout, pensait à tout à la fois, si bien qu’il avait la tête pleine d’un bouillonnement d’idées informes. […] Dans

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l’atmosphère neutre de son bureau, le commissaire eût sans doute mené à bien un interrogatoire ordonné.206 Ohne die bekannte und strukturgebende Umgebung des Quai des Orfèvres mündet die unkontrollierte Quantität an neuen Eindrücken physisch spürbar in Unwohlsein, Wut und Aggression, womit sich auch die Wahrnehmung des Wetters verändert; das Bedürfnis, jemanden zu schlagen, ist in diesem Rahmen als Kompensation zu lesen: Maigret ne sourcilla pas. Seulement, dès lors, il posa ses questions avec un rien de brutalité. […] En sortant, Maigret aurait volontiers cassé la figure à quelqu’un, tant il était énervé. […] C’était peut-être une impression. Mais Maigret avait l’impression que la pluie redoublait, que le ciel était plus noir et plus bas qu’il ne l’avait jamais vu.207 Ebenso physisch reagiert Maigret in La tête d’un homme (1930) im La Coupole208 auf die Vielzahl der Gäste, die Gerüche und Geräusche:209 »Le commissaire fumait nerveusement, les tempes moites, les nerfs tellement tendus qu’il lui semblait que sa sensibilité était décuplée. […] Chose étrange, sans le vouloir, sans même s’en rendre compte, Maigret ne perdait rien d’un spectacle aussi complexe.«210 Wetterelemente, insbesondere hohe Temperaturen, können bereits allein eine Überreizung auslösen oder triggern. Das spezielle Klima der Côte d’Azur fungiert in Liberty Bar (1932), Les caves du Majestic (1939/40) und Les vacances de Maigret (1947) als Katalysator, indem die Hitze den haptischen Eindruck der Luft wie auch auditive Eindrücke und die Intensität von Pflanzendüften befördert: Il faisait trop chaud. […] Des mimosas partout, dans un soleil éclatant de 14 juillet. Des mimosas aux locomotives, aux wagons, aux poteaux de fer de la gare! Et un grouillement de voyageurs […] C’était une orgie de lumière, de sons, de couleurs. […] et surtout, partout des mimosas dorés qui répandait une odeur sucrée […]. Il entra. […] du dehors de loin, de près, de partout […] de fanfares et comme un relent de mimosas, de la poussière agitée par les pieds de la foule, des cris, des appels de klaxons… Un demi! grogna Maigret […].211 Für Maigret entsteht ein unangenehmer, albtraumhafter Eindruck von Hitze und Corso Fleuri: »[I]l devait garder un souvenir cauchemardeux de ces heures à Cannes dans une atmosphère de fête.«212 Diese Form der Reizüberflutung zeigt sich vornehmlich zu Beginn der MaigretReihe, in den Bänden, in denen die Aufnahme von Details und Sinneseindrücken noch nicht als Imprägnation oder »éponge« konzeptualisiert ist. Erst später ›lernt‹ Maigret einen konstruktiven Umgang mit dieser Wahrnehmung und macht sie als Teil seiner Methode (Connaître le milieu und Imprégnation) fruchtbar. Kompensation: Alkohol und Wetter Eine Möglichkeit, die einströmenden Reize zu kompensieren, zeichnet sich bereits im obenstehenden Zitat aus Les caves du Majestic ab: Alkohol. Der häufige Griff zu alkoholischen Getränken in fast allen Maigret-Fällen213 lässt sich mit dessen relativ schneller

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Wirkung in Form von Erregungsabbrüchen erklären, d.h. sensuelle Eindrücke erscheinen gedämpft und weniger intensiv. Dies passt zu den Ausführungen Arons, wonach HSP bei starker Überreizung zuweilen einen Ausweg in Alkohol suchten.214 Diese Reizreduktion durch Alkohol exemplifiziert sich bspw. in Maigret et la vieille dame (1950): »Il savait qu’il y avait un moment comme celui-là à passer au cours de chaque enquête, et que comme par hasard – ou bien était-ce un instinct qui le poussait? – presque chaque fois il lui arrivait de boire un peu trop. C’était quand, comme il disait à part lui, cela ›se mettait à grouiller‹.«215 Der Moment des »grouiller«, des Wimmelns, ist als Hinweis auf die Verarbeitung der Details und Informationen lesbar, ebenso das Trinken als instinktive ›Schutzhandlung‹ zur Intensitätsreduktion. Hierzu reicht Bier nicht immer aus. In Liberty Bar, unter dem Druck der Hitze und des intensiven Sonnenlichts, greift Maigret (fast immer) zu nichts Geringerem als Vierzigprozentigem:216 zu einem Anis, Whisky aus der Bar des Toten, Vermouth, Wein, Enzian, Rum, einem nicht näher bestimmten Alkohol, aber auch zu Bier und einer Flasche Mineralwasser – »which is probably useful to help handle all that!«217 . Wie Alkohol wirken auch meteorologische Phänomene für Maigret beruhigend und kompensierend. Bereits in Les caves du Majestic zeigt sich die Wirksamkeit einer Wetterauszeit, nach der er wieder in Interaktion treten kann: »Puis, seul dans son bureau, il alla ouvrir la fenêtre et respira l’air humide. Dix bonnes minutes s’écoulèrent avant qu’il ouvrît la porte des inspecteurs. A présent, il paraissait frais et dispos […].«218 Die Wirkung des Wetters auf seine emotionale Disposition zeigt sich besonders in späteren Fällen wie Maigret tend un piège (1955): »C’était de la colère, presque de la rage. Elle s’évaporait petit à petit dans la fraîcheur relative de la nuit […].«219 Rückzug und Lösung An die Phase der Imprägnation schließt sich nach Mercier eine Phase der trance an, der absence, des »no man’s land entre la réalité et le rêve«220 . Vor allem gehe es Maigret in dieser Phase darum, »qu’on le laisse tranquille. Il s’installe dans un état de semiconscience et cherche l’excuse de l’état grippal, […] de l’insomnie du voyage de nuit, de mauvaises digestions, pour se replier dans sa coquille.«221 Die Beispiele Merciers markieren damit zunächst ein Bedürfnis nach Rückzug,222 nach einem Ausstieg aus der eigentlichen Situation, der potenziellen Reizüberflutungsphase: »Maigret ne se rendait pas compte qu’il n’écoutait que d’une oreille distraite, regardait sa femme dont la voix coulait comme une musique agréable […]. Il avait eu une absence. Cela lui arrivait.«223 Der trou ist eine Möglichkeit, sich nicht an einen konkreten Ort zurückziehen zu müssen, sondern bildet prinzipaliter in späteren Fällen Maigrets Technik, instantan Eindrücke von außen für eine begrenzte Zeit zu blockieren. Hilfreich hierfür kann etwa das Beobachten des Sonnenscheins sein und seine Gedanken nehmen gleichsam die Form eines meteorologischen Phänomens an: C’était une façon de se replier sur lui-même. […] Le décalage se produisait presque sur commande. Au lieu que ses idées devinissent précises, elles se brouillaient […]. [L]a réalité prenait de nouvelles formes […] les ombres et les lumières […] jouaient aussi leur rôle […].224

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In der Phase des Rückzugs oder, in verstärkter Form, als Flucht in eine Krankheit, wenn der Körper nach einer andauernden Reizüberflutung und Informationsverarbeitung rebelliert bis Maigret eine Erholungspause einlegt, erfolgt häufig die Lösung. Das Potenzial des trou liegt darin, die erworbenen Eindrücke und Informationen zu einer Lösung zu arrangieren. Dieses Moment funktionalisiert Maigret für seine Ermittlungen, so in Maigret et l’affaire Nahour (1966): Dans presque toutes les enquêtes, il y a, à un moment donné, ce que Maigret appelait volontiers le trou, un moment où l’on possède un certain nombre d’éléments […] et qu’il est encore impossible de mettre en place. C’est une période à la fois paisible et irritante, car on est tenté d’échafauder des hypothèses, de tirer des conclusions qui risquent […] de se révéler fausses. […] Il allait […] en s’efforçant surtout de ne pas se forger d’opinion.225 Genussvoller Aspekt und mit beruhigendem Wirkpotenzial226 ist das Wetter gerade in späteren Fällen – ob mild (Maigret et le tueur, Fall 97) oder extremer wie in Mon ami Maigret (Fall 57) – bewusst genutzter Teil der rekreativen Verarbeitungsphase: »[I]l aurait aimé être sur la place, en plein soleil, à fumer sa pipe en regardant les joueurs de boule […].«227 Mit Maigret ergibt sich weniger eine rationale Deduktion, sondern er nähert sich der Lösung unterschwellig, fast intuitiv: Il sentait la vérité toute proche et il était impuissant à la saisir. […] Il n’y avait pas, comme la plupart des cas, une seule solution possible. […] Pourtant une seule était bonne, une seule était la vérité humaine. Il fallait, non la découvrir par un raisonnement [sic!] rigoureux, par une reconstitution logique des faits, mais la sentir.228 Dieses Erspüren »sans savoir comment« weist auf das intuitive Verarbeiten bei SPS, wie es Aron skizziert: Ihr größeres Wahrnehmungsvermögen gegenüber Feinheiten trägt auch zu einer ausgeprägten Intuition bei, was ganz einfach bedeutet, dass […] [HSP] Informationen unbewusst beziehungsweise halbbewusst aufnehmen und weiterverarbeiten. Das Ergebnis ist, dass […] [HSP] oft etwas einfach so wissen, ohne dass [i]hnen klar ist, wieso.229 Für Maigret gibt es einen Moment, das déclic, mit dem sich der Sachverhalt klärt. Dieser wird in einigen Fällen, wie Mon ami Maigret, mit dem Wetter angebahnt. Hier vollzieht sich die Durchdingung des Falls unter der sich wandelnden ästhetischen Qualität des Sonnenlichts: Il avait trouvé. […] Maigret restait là, sa tasse à la main, à fixer le rectangle lumineux […]. dans la lumière […] Il y était presque. Un petit effort et les idées allaient s’emboîter.230 On y est bien, n’est-ce pas?231

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Il fallait croire que la qualité, la densité de l’air n’était pas la même qu’ailleurs.232 Auch gleich im ersten Fall, Pietr le Letton (1929), ist dies mit der Theorie Maigrets verbunden und wird vom Wetter ausgelöst: Grâce au soleil qui baignait tout une moitié des Champs-Elysées, il faisait assez doux. […] Ce n’était là que des idées décousues, qui assaillaient Maigret tandis qu’il n’allait pas lents dans une atmosphère d’une légèreté savoureuse. Soudain, pourtant le personnage du Letton s’écailla.233 Loslösung Die Phase nach der Überführung des Täters bildet die Rückkehr zur ›Normalität‹. In einigen Fällen, wie in Maigret tend un piège (1955, Fall 74), besteht für Maigret ein erneuter Rekreationsbedarf: Il avait envie, d’abord, d’aller s’asseoir à la terrasse de la Brasserie Dauphine […] – Un demi, commissaire? Comme ironique, d’une ironie qui s’adressait à lui-même, il répondit en levant les yeux: – Deux! […] Il dormit jusqu’à six heures du soir dans les draps moites, la fenêtre ouverte sur les bruits de Paris, et quand il parut enfin, […] dans la salle à manger, ce fut pour annoncer à sa femme. – Ce soir, nous allons au cinéma… […] Elle sentait confusément qu’il venait de loin, qu’il avait besoin de se réhabituer à la vie de tous les jours, de coudoyer des hommes qui le rassurent.234 Auffallend ist an dieser Stelle der Fortfall des Wetters. Während der Ermittlungen herrscht eine starke Hitze. Diese von Maigret zwangsweise inkorporierte Hitze schwitzt er nach der Aufklärung gewissermaßen aus, um sich vom Erlebten zu trennen. Der Wegfall des Wetters am Ende des Romans markiert, dass nach der Aufklärung das Wetter nicht mehr relevant ist, und stellt die Phase einer Loslösung von Opfern und Tätern dar. Bereits in La tête d’un homme (1930) wird die Verbindung eines Wetterparameters zum Täter von Maigret derart intensiv negativ erlebt, dass es am Ende des Falls zu einer fast manischen Wetterdistanzierung kommt.235

5.2.2.2 Météo-logisch: Wetter als Spur Für die Ermittlung nutzt Maigret kriminaltechnische Methoden etwa von Bertillon, Locard oder Reiss und vertraut auf den Labortechniker Josef Moers, wenn es um Fasern, Knöpfe, Einschusslöcher etc. geht. In den (zeitlichen) Vorgängertexten von Gaboriaus oder Leroux bildet das Spurenlesen, bspw. Schuhabdrücke im nassen Erdboden, ein zentrales Motiv der Deduktion und wird im Rahmen einer rationalen Analyse genutzt. Im untersuchten Korpus der Maigret-Romane findet sich dieses Moment allerdings höchst selten und spielt so gut wie keine Rolle. Dies zeigt sich deutlich in Les vacances de Maigret: »S’il a laissé des traces de pas, dit l’inspecteur à mi-voix, la pluie de ce matin les a fondues. Mon collègue Charbonnet a cherché… Il guettait l’approbation de Maigret qui ne brochait pas. S’était-il jamais préoccupé d’empreintes?«236 Das Wetter wird vielmehr als ›Zeichen‹ bzw. im Zuge der ›Psychologisierung‹ der Maigret-Romane als Hinweis eingesetzt. D.h. hier manifestiert sich ein verändertes

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Wetter-Spurenlesen, indem Wetter ›psychologisch‹, im Kontext des Handelns und Verhaltens von Figuren, gelesen wird. Ein Beispiel hierzu findet sich in L’étoile du Nord (1938); die Kurzgeschichte spielt in einem recht kühlen März. Der Umstand, dass die 19-jährige Geneviève Blanchon bei diesen Witterungsverhältnissen keine Strümpfe trägt, irritiert Maigret. Dieses Detail veranlasst ihn, Mlle Blanchon im Hotel festzuhalten und weiter zu verhören. Das Witterungsdetail nimmt hier den Stellenwert eines Schaltelements ein, indem von ihm die weitere Ermittlungsrichtung ausgeht und Maigret sowohl die in einem Abfluss versteckten Strümpfe findet als auch die Komplizin und Täterin Lucienne Jouffroy ermittelt. Interessant ist hierbei, dass sich diese Art der Wetter-Spur auch in den zeitlich später erscheinenden Nestor Burma Fällen von Léo Malet findet und hier verstärkt konzeptualisiert ist.

5.2.2.3 Wetter-Erinnerungen Bei Maigret sind Erinnerungen verstärkt an meteorologische Phänomene gebunden und werden Teil des deduktiven Prozesses, indem sich um sie ein Rahmen aus Orten oder Situationen legt, aus dem über das Wetter maßgeblich Vorwissen, Hypothesen und Interpretationen generiert werden können. Als besonders konstitutiv erweist sich dies etwa in Maigret et l’Inspecteur Malgracieux (1946), in Maigret et son mort (1947) oder in Maigret la jeune morte (1954) im Zusammenhang mit dem Opfer; in Maigret et le tueur (1969) zieht sich mit Konnex zum Täter eine Wettererinnerung durch die gesamte Ermittlung. An diesen Fällen verdeutlicht sich die subjektive Wetterqualität als funktional gleichsam im Sinne Bergsons,237 wonach jede Wahrnehmung zugleich eine Möglichkeit ist, sich zu erinnern, und das Gedächtnis der Wahrnehmung ihren subjektiven Charakter verleiht, insofern es stets die Erinnerung von jemandem ist und nicht von etwas. Aufgrund seiner Wetter-Affinität verbindet Maigret Momente bzw. Erinnerungen mit einzelnen Wetterphänomenen, die zuweilen andere Faktoren deutlich überlagern, wie in Maigret et la Grande Perche: Maigret ne se rappelait ni ce nom Micou, ni Jussiaume, ni ce surnom de Grande perche, mail il gardait un souvenir précis de la rue de la Lune, par un jour très chaude comme aujourd’hui, qui rend le bitume élastique sous les semelles et imprègne Paris d’une odeur de goudron.238 Biografisch-meteorologisch verwoben gestaltet sich beispielsweise eine Erinnerung an seinen ersten Fall in Paris: »De son après-midi, il lui restait un souvenir radieux, celui du plus beau printemps de Paris, et d’un air si doux, si parfumé, qu’on s’arrêtait pour le respirer.«239 Wetter ist mithin auch Verbindung zu Ereignissen und fungiert für Maigret in diesem Sinne als Auslöser insbesondere von Kindheitserinnerungen, wodurch er zuweilen in einen leicht regressiven Zustand versetzt wird – was mit einer genussvollen Absorption von Wetterphänomenen verbunden ist:240 Elle [Mme Maigret] fit semblant de ne pas voir ce que Maigret était en train de faire, furtivement, comme quand il était gamin. Cette pluie-là était si fraîche et si savoureuse que de temps en temps, il avançait la langue pour en happer quelques gouttes qui avaient un goût spécial.241

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Il tombait du ciel comme une fine poussière blanche et cela lui rappelait que, quand il était petit, il tirait la langue pour en happer quelques grains.242 Das Wetter bildet jedoch auch einen Trigger und wirkt bspw. unterstützend bei der Fallaufklärung in Maigret et l’inspecteur Malgracieux. In dieser Kurzgeschichte bildet der Regen ein substanzielles Verbindungselement zwischen zwei Todesfällen – einem Suizid und einem vermeintlichen Suizid. Maigret ist bei seinem Neffen, dem Diensthabenden der Abteilung Police-Secours und es regnet: »[O]n voyait la pluie tomber à torrents, une pluie d’été, longue et très fluide, qui mettait des hachures claires dans la nuit.«243 Maigrets Neffe nimmt einen Notruf entgegen und Maigret stellt sich die Szenerie vor, wie ein Mann oder eine Frau durch den Regen dieser Nacht läuft und die Scheibe einer Notrufsäule einschlägt: »On imagine le carrefour désert dans la nuit, les hachures de pluie, le pavé mouillé, avec de flaques de lumières du réverbère […] quelqu’un a peur ou qui a besoin d’aide, s’entourant la main d’un mouchoir pour briser la vitre…«244 Dergestalt ist das Regenwetter bereits in Maigrets Imagination vor dem eigentlichen handlungsauslösenden Ereignis präsent: 22.15 Uhr. Ein Anruf geht ein. Am Ende der Leitung fallen Verunglimpfungen gegenüber der Polizei. Ein Schuss. – Dieses Szenario, der Regen als fast symbolische Szenerie, verbunden mit den Beschimpfungen und dem (scheinbaren) Selbstmord mittels Schusswaffe, ruft Maigret die Umstände des identisch ablaufenden Freitods Stan le tueurs245 einige Monate zuvor in Erinnerung. Der Todesfall scheint wie die vollständige Kopie – nur mit anderer Besetzung. Während der Untersuchungen zum (scheinbaren) Selbstmord des Diamantenhändlers Michel Goldfinger erscheint Maigret repetitiv das Bild des Mannes resp. der Männer im Regen. Die Erinnerung und die Verbindung zum aktuellen Fall lassen ihn immer stärker zweifeln und so formuliert er schließlich: »[O]n invente rien une deuxième fois: on imite.«246 Irritiert durch das Doppelbild der Suizidanten im Regen überlegt Maigret, wer von den Umständen des Todes Stan le tueurs wusste. Dies führt auf die Spur von Mariani, einem ehemaligen Inspektor Maigrets. Mariani verwendete die Szene als Folie mit Regen und Beschimpfungen wieder, um den Selbstmord zu inszenieren und mit seiner Geliebten Mme Goldfinger, die nach dem Tod ihres Mannes eine Million Francs von der Versicherung erhalten würde, ein neues Leben zu beginnen.

5.2.3 Das Wetter, Maigret, Täter und Opfer An vielen Textstellen scheint es, als ob Witterungsverhältnisse prinzipaliter zur Intensivierung oder Untermalung von Maigrets Gemütszuständen gesetzt sind. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Wirkung des Wetters auf Maigret, so die hier verfolgte These, hängt in Vielem vom Fall ab, und ist nicht von Maigret dependent, mithin reziprok konzipiert. Maigret als wetteraffine Figur nimmt das Wetter wahr, wodurch dieses Teil des deduktiven Prozesses werden kann.247 Entsprechend funktioniert das Wetter als Stimmungsbarometer für Maigret nicht formelhaft kongruent nach dem Schema: gutes Wetter gleich gute Stimmung – bzw. funktioniert gar nicht erst als unilaterales »barometer of his moods«248 .

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Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen: In Les caves du Majestic: »On aurait dit que le printemps l’irritait au lieu de le dérider.«249 In Les vacances de Maigret löst der Mord an der 12-jährigen Lucielle gleichsam eine Correctio des sonnigen Sommerwetters aus: »Il […] enfonçait […] les mains dans ses poches comme en plein hiver […].«250 An beiden exemplarischen Textstellen passt das Wetter für Maigret nicht zum Fall, es irritiert mehr, als dass es zu seiner Stimmung passt oder als Stimmungsbarometer fungiert. Losgelöst von meteorologisch korrekt gestaltetem Wetter erzeugen Wetterphänomene in einigen Fällen einen im Simenon’schen Sinne spezifischen Wirklichkeitseindruck bzw. eine eigene (Fall-)Poetik. Das Wetter erhält die Funktion zur Erzeugung einer »réalité pour lui donner une autre dimension et une autre poésie«251 . Dieses Moment ist in einigen Fällen besonders deutlich um das Motiv oder die Welt des Opfers konzeptualisiert, in anderen Fällen um die Täterfigur. Diese Wetterlagen stellen gewissermaßen Wetterprojektionen dar, die von Maigret rezipiert bzw. apperzipiert werden (können).252 Es gibt drei Arten von Wetterkonnexionen. Aufgrund der unterschiedlichen Intensität und Variabilität dieser lassen sich die Fälle zwischen folgenden Polen verteilen: •





›Maigrets Wetter‹ – Das Wetter ist unmittelbar mit Maigrets Disposition verbunden. Hierunter kann auch eine eher ›distanzierte Wetterwahrnehmung‹ subsumiert werden, wie sie in einigen Fällen vorkommt (bspw. Monsieur Lundi, L’étoile du Nord, Maigret et son mort) ›Wahrnehmungsästhetische Dimension‹ – Das Wetter ist als besonderes ästhetisches Moment konzipiert und hängt mit dem Opfer bzw. dem Motiv oder Thema des Falles zusammen (bspw. Liberty Bar, Mon ami Maigret). ›Täter Wetter‹ – Das Wetter ist auf unterschiedliche und in besonderer Weise mit den Täterfiguren verwoben (bspw. Maigret et le tueur)

Maigrets Wetter Ein Beispiel zur Wetterkonnexität, in denen die Figur Maigrets zentral gesetzt ist, ist Maigret s’amuse. Es ist einer der wenigen Fälle, in dem Maigret sich tatsächlich im Urlaub befindet und nicht direkt als Kommissar, sondern aus Freude auf Basis der Zeitungslektüre ermittelt. Das Wetter ist unmittelbar mit Maigrets Disposition relationiert. Dies bedingt sodann die Faktur von sonnigem Urlaubswetter zum Regen – je mehr Maigret arbeitet und sich trotz der gegenteiligen ärztlichen Anweisungen doch in den Fall einbringt. Auffallend ist an der Saisonalität, dass sich – obzwar statistisch keine signifikante Kopplung des Wetters an das Verbrechen erfolgt (s.o.) – mit dem Frühling eine psychische und physische Erschöpfung abzeichnet: Ce que les autres ignoraient, c’est qu’il s’était fait, au printemps, plus de mauvais sang qu’il n’avait voulu l’avouer et se l’avouer à lui-même. Il lui arrivait de se sentir usé, fatigué pour un rien, et il s’était demandé s’il ne finirait pas comme Bodard.253 Diese Frühjahrserschöpfung ist inhaltlich mit der sog. Frühjahrsmüdigkeit erklärbar; literaturwissenschaftlich ist sie insofern für das Genre Kriminalroman bemerkenswert, als sich die Verbindung der Erschöpfung mit allgemein positiven oder aufblühenden Jah-

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reszeiten (Frühling, Sommer) auch bei der Figur Burma von Léo Malet zeigte und auch international auftreten zu scheint, so etwa bei Kurt Wallander von Henning Mankell. Die These der Gestaltung und in der Folge die Wahrnehmung durch Maigret in Abhängigkeit von der Täter- bzw. Opferfigur oder dem Motiv bzw. Thema des Falles soll zunächst im Vergleich von Un Noël de Maigret (1950) und Maigret au Picratt’s (1950) über das Wetterphänomen Schnee veranschaulicht werden.254 Schnee wird vielfach mit positiven Kindheitserinnerungen assoziiert, so auch in Un Noël de Maigret, bei der ein Kind bzw. das Kinderzimmer, indem etwas versteckt ist, die zentrale Rolle spielt. In dieser eher harmlosen Geschichte korrespondiert dann auch die vom Wetter für Maigret ausgehende Stimmung mit dem kindlichen Weihnachtsgefühl: Il ne neigeait pas. C’était ridicule, passé cinquante ans, d’être encore déçu parce qu’il n’y avait pas de neige un matin de […]. Ce n’était pas de la vraie neige. Il tombait du ciel comme une fine poussière blanche et cela lui rappelait que, quand il était petit, il tirait la langue pour en happer quelques grains.255 Konträr hierzu ist die Wirkung des Schnees in Maigret au Picratt’s (ebenfalls 1950): La neige lui faisait plaisir […] mais […] ce matin-là […]. Le ciel était encore plus plombé que la veille et le blanc des flocons rendait plus noir le noir des toits luisants, faisait ressortir les couleurs tristes et sales des maisons, la propreté douteuse des rideaux de la plupart des fenêtres.256 [L]a neige […] les rues étaient couvertes d’une mince couche de boue noirâtre et glissante.257 Der Schnee zeigt hier den vertrauten Stadtausschnitt aus dem Wohnungsfenster verändert und legt sich – auffallend paradox – als düstere Grundtönung über Paris. Die dysphorische Wetterstimmung ist ausgehend von der Täterfigur Bonvoisin konzeptualisiert, der sich wie ein Schatten über die anderen Figuren, die Opfer, ausbreitet, diese von sich abhängig macht und manche ermordet. Explizit wird dies durch den flagranten meteorologischen Vergleich: »Il en était ainsi de lui comme des ombres, toujours plus impressionnantes que la réalité qu’elle reflètent.«258 Dies zieht sich durch den gesamten Roman.

5.2.3.1 Wetter maßgeschneidert auf den Fall Tempestas est aut percipere aut percipi. Das Potenzial des Wetters zur Modulation der »réalité pour lui donner une autre dimension et une autre poésie«259 ist in einigen Fällen besonders deutlich um das Thema des Falles oder die Welt des Opfers konzeptualisiert. In Liberty Bar (1932) eröffnet das Wetter Maigret einen Zugang zur Lebenswelt des Opfers Brown. Eine speziell postimpressionistische Darstellung bzw. Wahrnehmung wiederum weist das Wetter in Mon ami Maigret (1949) auf. In beiden hier exemplarisch betrachteten Fällen fungiert das Wetter als Teil eines zirkulären Prozesses von Wahrnehmung und Interpretation. Die meteorologische

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Apperzeption Maigrets ist dergestalt in Liberty Bar und in Mon ami Maigret Ausdruck einer Reziprozität von Fall und Wetter, insofern dieses als Eröffnung wie Projektionsfläche unterbewusster agglomerierter Erkenntnisse und Hypothesen zum Opfer oder Tatmotiv hervortritt. 5.2.3.1.1 Mon ami Maigret und das postimpressionistische Wetter In Mon ami Maigret reist der Kommissar mit seinem Kollegen Pyke von Scotland Yard auf die Insel Porquerolles vor der Côte d’Azur. Der Fischer Marcel Pacaud, vulgo Marcellin, rühmt sich einer Freundschaft mit Maigret, die sich allenfalls als Bekanntschaft herausstellt, und wird kurz darauf erschossen. Dabei kann sich Maigret kaum an den vermeintlichen Freund erinnern. Hintergrund der Tat ist eine florierende Produktion von Kunstfälschungen – diesem Moment folgt sodann auch die Wettergestaltung: Einer der Verdächtigen, Jef de Greef, ist Kunstfälscher, der zusammen mit Philippe de Moricourt der reichen Ellen Wilcox mehrere ›Meisterwerke‹ verkauft. Marcellin stößt hierauf und möchte finanziell beteiligt werden: Grund genug ihn umzubringen. Die Gestaltung des Wetters ist mit der Entwicklung eines Gemäldes vergleichbar und erfolgt in spezifischen, künstlerisch gestalteten Etappen. Die Wettergestaltung wird im Folgenden chronologisch skizziert. Für Maigret bietet der Mord an Marcellin eine doppelte Fluchtperspektive:260 zum einen vor Pyke, der den Kommissar belagert, um dessen Methode zu studieren, zum anderen – und dies ganz besonders – ist es eine Flucht aus dem sehr regnerischen Paris: Le ciel était gris, d’un vilain gris sans espoir et il n’y avait pas jusqu’au mot mistral qui ne prît une allure tentatrice. […] Maigret regarda la Seine […] à travers le rideau de pluie, et pensa au soleil de la Méditerranée.261 Mit dem Hinweis auf den Mistral deutet sich zwar eine besondere Wetterimplikation an: »Le mistral? […] Il a soufflé pendant neuf jours et c’est assez pour mettre tout le monde à cran.«262 Der potenzielle Effekt des Mistrals, vergleichbar etwa mit dem Fön oder dem Schirokko,263 fungiert allerdings nicht als psychologischer Tatauslöser, sondern hat, wie sich herausstellt, lediglich den Schuss überdeckt. Und obzwar die Bewohner immer wieder die Wirkung des Mistrals auf die Psyche hervorheben, bleibt Maigret skeptisch und nimmt dies als jemand aus dem ›Norden‹ nicht ernst.264 Wetterfreeze – ein Entwurf von Porquerolle Die Figuren in Porquerolle bilden eine eigene kleine Gesellschaft, eine eigene Welt und werden durch die repetierte Wendung des »Klimas der verlorenen Seelen«265 gesetzt und parallel hierüber charakterisiert. Die ›Welt‹ von Porquerolle ist auch erzähltechnisch durch zwei Wetterphänomene von Paris getrennt; zum einen durch den Kontrast aus Regen und mediterraner Sonne, zum anderen durch den Nebel während der Fahrt im Blauen Express zwischen Paris und Porquerolle, der als Mixtum compositum aus Regen und Hitze eine Grenze markiert, mit deren Übertretung Maigret und Pyke in die Welt von Porquerolle gelangen.266 Durch diesen Nebel wird Porquerolle zudem als begrenzter Ort konstruiert und als local clos markiert.

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Während der Regen in Paris eine meteorologische Dynamik impliziert, erzeugt die Wetterlage auf der Insel ein Freeze – den Eindruck eines Stillstandes: »Les palmiers, autour de la gare, étaient immobiles, figés dans un soleil saharien. […] On sentait vraiment qu’on entrait dans un autre monde […].«267 Dieser Stillstand wird durch die vorgebrachte ›plötzliche‹ Absenz des Winds forciert: »un ciel d’un bleu de porcelaine, une atmosphère parfaitement immobile. […] ›Le mistral?‹ […] ›Il a cessé tout à coup hier au soir‹«268 . Der Verweis auf den Mistral deutet einerseits auf die angespannte Atmosphäre zwischen den Figuren. Mit dem betonten Aussetzen der Mistrallage entsteht dann andererseits der Eindruck eines stehenden, nicht mehr dynamischen Wetters. In diesem Wetterfixativ erscheinen dergestalt auch die Figuren in ihrem täglichen Leben ›gebannt‹. Sonne und Hitze dominieren fortan und fördern den Eindruck eines merkwürdig erstarrten Ortes, über dem eine Art ›cloche‹ hängt: »[U]n soleil épais, bruissant de mouche, s’appesantissait sur la place.«269 Für Maigret kann die als unangenehm assoziierbare Wetterlage als Ausdruck der Situation mit Pyke gelesen werden: Beobachtet zu werden erscheint so unangenehm, dass Maigret sich zunächst verstellt und seine etablierte Methode nicht anwendet. Bemüht um ein positives Bild als beobachteter Beobachter, agiert und ermittelt er zunächst anders, doch: Il avait l’impression que tout cela était futile, que c’était autrement qu’il aurait fallu s’y prendre. Par exemple, il aurait aimé être sur la place, en plein soleil, à fumer sa pipe en regardant les joueurs de boules qui avaient commencé une grande partie; il aurait aimé rôder dans le port, regarder les pêcheurs qui réparaient leurs filets […].270 Hierüber zeigt sich, dass die Hitze, sobald Maigret seiner Methode folgt, nicht per se eine Problematik darstellt, sondern das Wetter implizit als Teil der Imprägnationsphase definiert sowie als elementares Moment der Impressionen des zentralen Platzes von Porquerolle wird – zu dem ursprünglich die Figur Marcellin gehörte. Obschon die einzelnen Szenen eine Handlung implizieren, entfaltet sich keine Dynamik; pointiert erscheinen die Figuren wie von der Hitze auf Leinwand gebannt. Markant an dieser pointilistischen Evokation ist die intermediale Ähnlichkeit der skizzierten Szenen zu Werken von Paul Signac Concarneau, Sardinenfischer (1891) aus der Serie Das Meer, die Boote, Concarneau, Raoul Dufy Das weiße Segel (1906) oder Albert Marquets Bilder des Hafens von Porquerolle. Farbauftrag Mit der Emanzipation des Gefühls der Beobachtung und des inneren Kampfes sammeln sich für Maigret Eindrücke, Informationen und Hinweise auf das Leben des Opfers. Nach dem verzögerten Einsatz der Methode Maigrets erhalten die Figuren sukzessive wörtlich wie im übertragenen Sinne ›Farbe‹. Dergestalt entsteht etwa eine Verbindung zwischen affektiv emotionaler Reaktion, der Figur Ginettes und wetterinduzierter Farbgebung: Et il eut comme un pincement au cœur en la laissant toute seule, vieillie, anxieuse, dans la petite chambre où le soleil couchant pénétrait par la lucarne, mettant partout,

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sur le papier peint des murs et sur la courtepointe, de rose qui ressemblait au rose des fards.271 Vor dem Hintergrund des Falles erscheinen zwei Aspekte besonders bedeutend: Zum einen evoziert der Verweis auf das Puder einen künstlichen, nicht originären Anschein, zum anderen ist das papier peint in seinem originären Sinne eines »bemalte [n] Papiers«272 hervorzuheben. Ein weiteres Moment der Farbgebung sind die Sonnenuntergänge. Die Handlung erstreckt sich über vier Tage,273 wovon zwei in Porquerolle mit einem Sonnenuntergang enden. Sie sind Teil der Imprägnation Maigrets und der Annäherung an das Opfer Marcellin. Mit dem ersten verbindet sich ein besonderer farblicher Eindruck, der zweite verknüpft sich mit einer Gewohnheit Marcellins: De rose qu’elle était tout à l’heure, l’église, au bout de la place, devenait violette; le ciel, doucement, tournait au vert pâle, et les hommes s’en allaient les uns après les autres […]274 Les autres soirs, Marcellin, à cette heure, devait participer à la partie de boules, sur la place, dans le soleil couchant.275 Das Wetterfragment und der Lebensausschnitt werden zu einer ›künstlerischen‹ Einheit, vor allem durch die mitschwingende subtile Relation zwischen den Motiven an sich. Für Maigret bewirkt der Sonnenuntergang eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber der polychromen Qualität sowie durch die hereinbrechende Nacht eine Reduktion der Wetterschwüle und allmählich eine Entspannung gegenüber Pyke: »Le soleil avait disparu, et on sentait dans l’air comme une immense détente.«276 Zusätzlich lösen meteorologische Phänomene sensuelle Impressionen (olfaktorisch etwa durch die Hitze entstehende Pflanzendüfte) aus und verweben sich mit Emotionen gegenüber den Figuren, wie Ginette und Marcellin (Schmerz, Trauer),277 sodass mit dem Wetter sukzessive eine ganzheitliche Impression eingefangen wird: »L’odeur était encore plus prononcé que la veille, sans doute à cause de l’humidité de l’aube. Il n’y avait […] pas un bruit sur la place, où le feuillage des eucalyptus était immobile dans le soleil levant.«278 Reziprozität von Wetterfarben und Erkenntnisgewinn (Van Gogh) Mit der hereinbrechenden Nacht wird der visuelle Eindruck der Farben auf eine Monochromie reduziert. Ferner erinnert sich Maigret an den Regen in Paris, etwa während des Ferngesprächs mit Lucas. Durch die schwarz-weiß erscheinende Regenschraffur wirkt der farbliche Wettereindruck auf der Insel besonders kontrastiv und intensiviert.279 Auffälligerweise ist dieser Effekt mit der Deduktion verknüpft. Der Regen erscheint mithin kontrastiv, verbindet gleichsam den deduktiven Prozess mit einem kühleren Wetter (= ›kühler Kopf‹) und markiert den Fortschritt der Ermittlung. Denn mit der Erwähnung des Wetters bzw. kurz darauf gelangt Maigret jeweils zu einer Idee oder zu einem Hinweis, wodurch sich eine oszillierende Farbfaktur entwirf; sodass ohne Überreizung durch die Farben eine erste Ahnung zur Tat entsteht – die für Maigret dann auch ganz passend metaphorisch als Humiditätsereignis gestaltet ist:

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L’obscurité était presque complète, et les bateaux, dans le port, se balançaient au rythme de la respiration de la mer. […] C’était tout différent. Il sentait quelque chose. Il sentait des tas de choses, comme toujours au début d’une enquête, mais il n’aurait pas pu dire comment ce brouillard d’idées finirait […] par s’éclaircir.280 Der zweite Rekurs auf den die Umwelt schwarz-weiß oder gräulich färbenden Regen ist gesetzt, als Maigret sich nah der Lösung wähnt. Erhebt die Wirkung des Lichts in Porquerolle hervor und verstärkt Maigrets Gefühl nah an der Lösung zu sein: L’idée le frappa qu’à Paris il pleuvait. Quand il était parti, il faisait presque aussi froid qu’en hiver. […] Il avait trouvé. […] Maigret restait là, sa tasse à la main, à fixer le rectangle lumineux de la porte […]. il y était presque. Un petit effort et les idées allaient s’emboîter.281 Dieser meteorologische Aufbau setzt sich um den entscheidenden Hinweis fort, als Maigret in der Sonne vor der Post sitzend die Information zu einem von Marcellin empfangenen Telegramm erhält: [L]’air était plus chaud, plus épais. […] ›Quel temps fait-il, là-bas, vieux? Il pleut toujours? Des avers? […]282 ›Elle [Ginette] lui [Marcellin] a envoyé la réponse par télégramme.‹ […]: Mort en 1890.283 Später erklärt Ginette Maigret, es sei ein gewisser Van Gogh, der 1890 starb. Ihre Frage »Vous supposez que le crime a un rapport avec le van Gogh en question?«284 deckt nun endgültig den künstlerischen Zusammenhang auf und macht die folgenden Wettereindrücke explizit. Mit der Information zu Van Gogh verändert sich die Wetterlage zur angenehmeren Humboldt-Stunde und Maigret nähert sich der Lösung: C’était l’heure la plus savoureuse de la journée. Toute l’île se détendait, et la mer autour d’elle et les arbres, […] le sol de la place qui semblait respirer à un autre rythme après la chaleur de la journée. […] ›Je veux dire que je n’en ai sans doute plus pour longtemps […] On y est bien […].‹285 Die Lösung bzw. das Erkennen der Lösung manifestiert sich in der Klimax der Wetterwahrnehmung, der Himmelsbetrachtung. Himmelsbetrachtung Die künstlerische Darstellung des Wetters und die entsprechende Funktionalisierte Wetterwahrnehmung Maigrets erinnert an einigen Stellen an den Effekt von Lysergsäurediethylamid (LSD). Mehrfach erscheint die Kirche von Porquerolle im Zentrum eines synästhetisch wirksamen Wetterbilds, in dem Hinweise, Interpretation und Wetterwahrnehmung zusammenfließen:

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[…] des cloches grêles et légères comme celles des chapelles ou des couvents. Il fallait croire que la qualité, la densité de l’air n’était pas la même qu’ailleurs. […] le phénomène commençait: un premier anneau se dessinait dans le ciel pâle et encore frais, s’étirait, hésitant comme un rond de fumée, devenait un cercle parfait d’où sortaient par magie d’autres cercles, toujours plus grands, toujours plus purs. Les cercles dépassaient la place, les maisons, s’étendaient par-dessus le port et bien loin sur la mer où se balançaient de petites barques.286 Das Gewebe der Informationen und Zusammenhänge wird zum Bild, zu einer schwebenden Wetterimpression. Mit dem rein Sichtbaren der Erscheinungswelt bildet sich eine Synthese. Die Thematik und das Motiv werden in Maigrets Perspektive auf die Naturphänomene zu einer auditiv ausgelösten meteorologischen Impression transponiert und projizieren die Lösung des Falls als künstlerischer, dezidiert post-impressionistischer Eindruck, der sich über die Insel legt und damit die Gesamtwelt der Figuren umfasst. Das erzeugte Wetterbild weist eine auffallende Ähnlichkeit zu Die Sternennacht (1889) bzw. Blick auf Auvers mit Kirche (1890) von Vincent van Gogh auf. Die Maigret’schen Himmelsbetrachtungen wie der Sonnenuntergang in Verbindung zum Opfer entfalten hier ein similäres Potenzial wie die von Van Gogh formulierte suggestive Farbe.287 Der Rekurs befördert die meteorologische Evokation und deutet parallel auf das gefälschte Gemälde De Greefs und damit auf die Lösung. Entsprechend malt nach dem Gespräch mit Mrs. Wilcox das Läuten der Glocken kontinuierlich weiter Kreise in den Himmel: »Les cloches faisaient toujours des ronds dans le ciel.«288 Dieses synästhetische Wetter nimmt seinen Ursprung in der Einflusssphäre des Postimpressionismus und stellt die Klimax der Resonanz auf den Tathintergrund, scil. ein gefälschtes Van-Gogh-Gemälde: Der Kunstfälscher Jef de Greef verkauft zusammen mit Philippe de Moricourt der reichen Ellen Wilcox mehrere ›Meisterwerke‹. Das Bild, das Marcellin auf den Schwindel bringt und weswegen er ermordet wurde, war die Kopie eines Van Gogh. Die Wetterdarstellung, die Wahrnehmung und der Ermittlungsprozess sind zirkulär gestaltet. Das Wetter fungiert hierbei als Teil der Schraubenlinie von der Wahrnehmung und Interpretation zur Lösung. Diesbezüglich kann mit Kessler angeführt werden: »Weil unsere Wahrnehmung kein Bild der Wirklichkeit liefert, das wir dann interpretieren könnten, gibt es demnach keine Wahrnehmung ohne Interpretation, bzw. unsere Wahrnehmung ist immer schon eine Interpretation.«289 In diesem Sinne verläuft die Ermittlung – mit Imprägnation, Kompensation, Rückzug und Lösung – wie die Entstehung eines Gemäldes; nach einer ersten Skizze eines Stilllebens erhält dieses durch mehr Informationen Farbe und wirkt schließlich in Gänze (Lösung) auf den Betrachter bzw. die Betrachterin.

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Abbildung 9: Vincent van Gogh, Blick auf Auvers mit Kirche

Abbildung 10: Vincent van Gogh, Die Sternennacht

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Die Wetterwahrnehmung läuft hierbei auf einen Schlussprozess hin, indem für Maigret die Wetterwahrnehmung nicht passiv als Betrachter restringiert bleibt, sondern sich seine Hypothesen und die Lösung des Falls in der Wetterwahrnehmung als ästhetische, wie auch synästhetische Transgression bzw. Projektion als produktiv erweisen. Mit der Phase des Verhörs von De Greef und Moricourt gelangt Maigret zur Wahrheit hinter der Tat. Mit diesem Moment kommt es erneut zu einer Qualitätsveränderung der Farben: »[U]n bleu qui devenait plus profonde, somptueux, dans le soleil […] et les chemises blanches étaient éclatantes.«290 Nach der Aufklärung des Falles ändert sich markanterweise die Wetterdarstellung und das ›postimpressionistische Wetter‹ entfällt. Die Kirchenglocken schweigen, es entsteht der Eindruck einer weniger ästhetischen, aber ›aufgeklärten‹ Wetterpräsenz, die eine Rückkehr zur ›Normalität‹ andeutet und den Abschluss der Wetterdarstellung bildet: »Le clocher blanc avait l’air serti dans le ciel, d’une matière à la fois dure et transparente.«291 5.2.3.1.2 Liberty Bar: Die Fluchten des William Brown Maigret wird nach Antibes gerufen, um den Mord an William Brown aufzuklären, einem reichen Australier, der sich für ein Leben an der Côte d’Azur entschieden und sich damit von seiner Familie abgewandt hat. Brown vollzieht zwei Fluchten und lebt in diesen verschiedene Persönlichkeitsanteile aus. Die erste erfolgt aus der kapitalistischen australischen Familie, als er geschäftlich an die Côte d’Azur kommt und gleichsam gefangen vom Wetter im Klima der verlorenen Seelen bleibt, wie es bereits in Mon ami Maigret charakterisiert wird: »On était en quelque sorte happé malgré soi par le soleil […].«292 Brown, der »avait renoncé à organiser sa vie autour d’une idole, homme, femme ou argent«,293 baut sich seine eigene Welt, die er nicht mehr verlassen kann: »incapable de quitter son boulevard, la molle atmosphère de la Côte, son indulgence, sa facilité…«294 . Die zweite Flucht vollzieht sich wiederholend, zyklusartig als neuvaine aus dem in Antibes mit Gina Martini aufgebauten Leben in die Welt der Liberty Bar zur Besitzerin Jaja und der sich dort oft aufhaltenden Prostituierten Sylvie. Beide Fluchten sind von einer gesellschaftlichen und ökonomischen Tendenz nach ›unten‹ gekennzeichnet; parallel hierzu hat sich für Brown die Intensität der sensuellen Wahrnehmung gesteigert, die er jeweils näher am ›Abgrund‹ als durchdringender erlebt. Die Entwicklung kulminiert im frenetischen Verlangen, der sinnlichen Begierde nach der Prostituierten Sylvie. Das basale Bedürfnis nach immer intensiveren sinnlichen Eindrücken wird zum Verhängnis, denn Jaja tötet ihn aus Eifersucht. In diesem Fall entsteht durch Klima und Wetterparameter ein sensueller, leiblicher Effekt als apperzeptiver und re-produktiver Vorgang in der Annäherung an das Mordopfer Brown. Dies liefert einen Lösungsteil, weil die Wahrnehmung spezifische Hypothesen über die (Um-)Welt Browns generiert.295 Das Wetter fungiert als Mittler der Imprägnation der Atmosphäre vor Ort bzw. zwischen den Figuren sowie hinsichtlich des Einlebens in die Welt des Opfers. In diesem Sinne fungiert es für Maigret als Indikator dazu, den sensuellen Welten Browns nachzuspüren. Der spezielle Zugang zu Brown erfolgt durch die Wetter-Gestaltung und hiervon ausgehend durch das Wetter-Erleben

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Maigrets, indem unklar wird, ob die meteorologischen Sinneseindrücke die ›Realität‹ verfälschen oder eine veränderte ›Realität‹ eröffnen. Vergleichbar mit Browns erster Flucht versetzt das Wetter in Antibes Maigret nach dessen Ankunft unvermittelt in Urlaubsstimmung, weshalb er sich immer zur Ernsthaftigkeit ermahnt und wiederholt: »Brown a été assassiné!«296 Das Klima, die Hitze wirken nicht nur physisch, sondern auch psychisch und rauben Maigret scheinbar die Orientierung: »Tout ce soleil qui lui entrait dans la tête l’étourdissait […].«297 Diese Wirkung erweist sich als erster Zugangspunkt in die spezifische Welt des Opfers und bildet die Basis der Imprägnation bis »[s]a tête est trop pleine de soleil […]«298 . Irritierend wirkt für Maigret ein Blick auf die Fotografie Browns in dessen Villa, denn er bemerkt eine geradezu ›unverschämte‹ Ähnlichkeit.299 Über die äußerliche Ähnlichkeit konkretisiert sich die Verbindung zu Maigret als physische Facette; wobei Browns Bedürfnis nach immer intensiveren sensuellen Eindrücken eine veränderte, aber komparable Funktion aufweist wie Maigrets SPS. Von der Ähnlichkeit zu Brown motiviert, sammelt Maigret Eindrücke und lanciert erste Hypothesen zu dessen Lebenswelt. Als Maigret die Villa verlässt, wirken die Wetter- und Naturphänomene als Katalysator und Browns Lebenswelt perzeptibel werden: Tout cela était encore bien flou. […] il regardait le soleil qui […] plongeait lentement dans la mer. […] Il bâtissait déjà un monde dans la villa de Brown et de ses femmes était au centre. Un monde tout gluant de soleil […].300 Der visuelle und haptische meteorologische Eindruck löst die Distanz von Ermittler und Opfer auf und eröffnet für den Kommissar den sinnlichen Eindruck der Welt des anderen. Trunken von der intensiven Witterung entsteht durch die Farbe, die geometrische Figur und die Platzierung der Objekte der Gedanke, dass dieser Ort, diese Welt Browns die Spitze der drei Welten bildet: »Maigret en était comme ivre! […] en se retournant, une image tellement différente de la villa, toute blanche dans la verdure. La lune était juste à l’angle du toit.«301 Die nächst ›tiefere Welt‹ sucht Maigret, indem er Browns neuvaine in den Straßen von Cannes verfolgt. In der Liberty Bar findet er Browns letzte dunklere Lebenswelt: Et soudain ce ne fut plus Cannes […] mais un monde nouveau […]. Dans la lumière indécise […] on avait l’impression de vivre dans une demi-obscurité […]. Sans le rectangle de soleil, on n’eût même pu dire à quelle heure du jour ou de la nuit on vivait.302 Parallel zum Erkunden der Sinneswelten Browns stellt sich die Frage, was echt und was nicht echt ist, sowie nach den meteorologisch indizierten Impressionen und provozierten Sinnestäuschungen: C’était l’heure rose, équivoque, où les moiteurs du soleil couchant se dissipent […]. Maigret sortit du Liberty Bar comme on sort d’un mauvais lieu […]. Après une dizaine de pas, il éprouva le besoin de se retourner, comme pour s’assurer de la réalité de cette atmosphère qu’il quittait.303

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Die Wetterdarstellung befördert das Verständnis für Brown und verweist auf die unwirkliche Liebesgeschichte (rose, équivoque) und das mit der Flucht (mauvais lieu) assoziierte Motiv. Die Frage nach dem Wahrheitsgrad von Impressionen und Sinnen führt letztlich zur Lösung des Falls. Die Verbindung von Brown und Maigret hebt sich am Ende durch das Wettermotiv selbst auf. Maigret tritt, als er die Liberty Bar verlässt, durch einen Nebel zurück in seine »Realität«: »[I]l s’exhalait du sol une humidité qui ressemblait à un brouillard.«304 Die Loslösung verdeutlicht sich über die veränderte, reduzierte Apperzeption von meteorologischen Reizen. Sonne und Hitze, der zuvor effizierte Eindruck des Klebrigen und Schwülen bleiben aus.305 An den Beispielen Mon ami Maigret und Liberty Bar zeigte sich, wie das Wetter jeweils spezifisch für einen Fall zurechtgemacht ist. Eine zentrale Bedeutsamkeit des Wetters resultiert mithin aus seiner Anpassungsfähigkeit und dem entworfenen ästhetischen, sensorischen und projektiven Potential. Besonders in Mon ami Maigret erweisen sich die spezifische Wetterdarstellung, Wahrnehmung Maigrets und Ermittlungsprozess gleichsam als zirkulär gestaltet. In Liberty Bar ermöglichen Hitze und Sonne für Maigret einen sensorisch geprägten Zugang zu den Lebenswelten Browns und eröffnet eine Verbundenheit zwischen Opfer und Kommissar, durch die ein besonderes Verständnis generiert wird. In beiden exemplarisch betrachteten Fällen fungiert das Wetter als Teil eines zirkulären Prozesses von Wahrnehmung und Interpretation. Die meteorologische Apperzeption Maigrets ist dergestalt in Liberty Bar und in Mon ami Maigret Ausdruck einer Reziprozität von Fall und Wetter, insofern dieses als Eröffnung wie Projektionsfläche unterbewusster agglomerierter Erkenntnisse und Hypothesen zum Opfer oder Tatmotiv hervortritt. Das Wetter wird Teil des deduktiven Prozesses und erhält damit eine adjuvantische Funktion im Sinne des Aktantenmodells. Die Wetterlagen spiegeln menschliche Regungen, Erlebnisse und prekäre Figurenrelationen. Auf diese Weise sind sie mit einer der elementaren, innovativen Konstituenten der Maigret-Romane verbunden, scil. der Einbeziehung psychologischer Aspekte in den Kriminalroman. Das Wetter ist nicht flüchtige Impression, sondern erschafft einen Einblick in das Schicksal der Figuren, in den subjektiven und zuweilen verzerrten Strom ihrer Wirklichkeit. Über die Wetterapperzeption entsteht in immer wieder unterschiedlicher Qualität und Intensität eine Verbindung zu Maigret und wird damit Teil des deduktiven Prozesses.

5.2.4 Täterfiguren und Wetter In den Maigrets, so führt Tschimmel aus, erscheint das Verbrechen, insbesondere ab 1945, als ein weitverbreitetes Phänomen, doch seien über die Konzeption des Falls mit Haupt- und Nebenhandlung zwei Tätergruppen zu unterscheiden. So fänden sich in der Nebenhandlung hauptsächlich Berufsverbrecher, wobei es bedingt durch den technischen und sozialen Wandel über die Dezennien zu einem Wandel von Berufsverbrechern als Einzeltäter zu spezialisierten Banden komme. Das Verbrechen gründe sich bei diesen meist in einer pekuniären Motivation.306 In der Haupthandlung hingegen kommen meist Einzeltäter vor, bei denen »die psychischen Motive des Verbrechens betont«307 sind. Die rekonstruktive Geschichte des Kri-

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minalromans zeigt dabei auf, wie eine ›normale‹ Person zum Täter bzw. zur Täterin wird. Als ursächlich erscheint für gewöhnlich eine belastete Relation oder Situation und mangelnde Interaktion: »Les relations interindividuelles sont à l’origine des crises.«308 Bedingt durch die aufgedeckte entstandene Krise erscheinen viele Täterfiguren gleichzeitig als Opfer der Umstände oder, wie Thoorens formuliert: »des moins en moins des criminels responsables, de plus en plus de victimes«309 . Durch die Tat suchen diese Figuren aus der Situation auszubrechen und sich zu befreien. Für einige designierte Täterfiguren wird dieser Wunsch existenziell und die Tat wie in Maigret et le marchand de vin zur »raison d’être«310 . Um eine soziale oder psychologische Kausalrelation zwischen Opfer und Täter und eine mit Maigrets Methode kompatible Deduktion herzustellen, erweisen sich die Fälle als so konzipiert, dass die meisten Täterfiguren (nur) eine Person (die sie kennen) töten und in einem begrenzten Umfeld handeln. Exzeptionell sind damit die Fälle, in denen kein solcher Nexus besteht, wie etwa mit der Picardie-Bande (Maigret et son mort oder Stan le tueur), die, prinzipaliter pekuniär motiviert, mehrere Morde begeht. Keine derartige Verbindung zum Opfer besteht ferner bei Serientätern oder potenziellen Serientätern, die innerhalb der Maigret-Reihe ebenfalls eine Ausnahme bilden. Mit ihnen entsteht kein ›Hype‹ wie bei späteren Tendenzen des Genres, doch mit Marcel Moncin (Maigret tend un piège) deutet sich der Serienmord als ›Phänomen‹ an, da diese Mordserie mit denen von Jack the Ripper, dem Laternenanzünder von Wien oder Kürtens, dem sog. Vampir von Düsseldorf, in einem Gespräch der Figuren über die Psyche des Täters verglichen und klassifiziert wird. Diese Täterfiguren verweisen zwangsweise auf die Grenzen und auf eine Destabilisierung der Maigret’schen Methode – eben weil Täter wie Moncin, Bureau (Maigret et le tueur) oder Meyer keine Verbindung mehr zum Opfer haben und ein Vertrautwerden mit dessen Welt damit nahezu gänzlich sinnfrei werden muss. Mit Tätern wie Marcel Moncin, Robert Bureau oder Jean Radek zeigen sich veränderte ›psychologische‹ Beweggründe bzw. Verhaltensmatrizen sowie dezidiert eine veränderte Art des Verbrechens. Radek weist gleichsam eine Form des Thrillkill auf. Moncin ist als serieller Frauenmörder konzipiert. Doch erst Fall 97 (Maigret et le tueur) thematisiert und verdeutlicht – insbesondere durch Maigret selbst – die Notwendigkeit einer modifizierten Herangehensweise, scil. sich weniger mit dem Opfer als vielmehr mit dem Täter zu ›identifizieren‹: »[C]’est avec quelle énergie il essayait de comprendre, quelle concentration était la sienne au cours de certaines enquêtes. On aurait dit qu’il s’identifiait à ceux qu’il traquait et qu’il souffrait les mêmes affres qu’eux.«311 Diese drei Täter sind ›Einzelfälle‹ innerhalb der Maigret-Reihe und gerade daher mit Blick auf die Wetterkonstruktion interessant, weil sich an ihnen, so die hier verfolgte Hypothese, eine Modifizierung der Art des Verbrechens – d.h. abweichend von den Verbrechertypen wie sie sich für die Maigret-Reihe als charakteristisch erweisen – zeigt, die mit einer besonderen Gestaltung des Wetters einhergeht und über das Wetter eine Konnexität zu Maigret lanciert.

5.2.4.1 Jean Radek – Kälte in La tête d’un homme Maigret ist in La tête d’un homme (1930) von der Unschuld des wegen Mordes zum Tode verurteilten Heurtin überzeugt und verhilft diesem zur Flucht aus dem Gefängnis. Im Zuge der Verfolgung kehrt Maigret im La Coupole ein, wo er auf Jean Radek trifft, der

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sich schnell selbst ins Zentrum der Untersuchung stellt. Er empfiehlt, Maigret solle dem Offensichtlichen misstrauen, fragt, ob ihm die Bedeutung der Seine für den Fall nicht aufgefallen sei und rät ihm dann, die Finger von dem Fall zu lassen. Das Besondere an der Figur Radeks ist seine Gestaltung als ›negatives‹ Alter-Ego zu Maigret sowie die um ihn konzipierte meteorologische Kälte, die von ihm ausgeht, und die sehr deutlich Einfluss auf Maigret nimmt. 5.2.4.1.1 Maigret und Radek als Alter-Egos Eine Besonderheit des fünften Falls sind die auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen Maigret und Radek: Wie Maigret studierte Radek Medizin, wie Maigret verfügt Radek über eine besondere Beobachtungsgabe für Details und das Bestreben, stetig Diagnosen über andere zu stellen – eine Eigenschaft, die Dr. Bellamy Jahre später Maigret attestiert312 –, und Radek verwendet eine Form der Theorie der fissure. Die erste Begegnung zwischen Radek und Maigret ist diesbezüglich erzähltechnisch derart offensichtlich, dass auch der letzte Leser über diese Dopplung stolpern muss, gestaltet. Maigret sieht Radek erstmals in einem Spiegel, bei dieser Spiegelung ist dem Kommissar zunächst unklar, ob er sich selbst sieht oder jemand anderen: »Alors soudain, dans le miroir, Maigret aperçut un visage, deux yeux vifs derrière des sourcils épais, un sourire à peine dessiné mais tout vibrant d’ironie.«313 Die Relation beider Figuren nimmt ihren Ausgangspunkt mithin wortwörtlich im Spiegelbild. Während Maigret aber seine Fähigkeit nutzt, um die Schicksale anderer zurechtzurücken, steht auf der anderen Seite der Spiegelachse mit Radek eine Figur mit fast similären Voraussetzungen, die aufgrund des persönlichen ›Fatums‹ einen oppositionellen Weg wählt, indem sie sich ihren ›bösen‹ Instinkten und narzisstischen Spielen hingibt: Radek rückt nicht ins Gleichgewicht, er manipuliert und führt andere an ihre Grenzen – auch, indem er ihm unbekannte Personen tötet. Hiermit wird an Radek die Theorie des Risses gedoppelt, zum einen, indem er sie gegen andere einsetzt, zum anderen, insofern er die Entscheidung der ›Aufspaltung‹ zum Bösen bewusst trifft. Ab dem Moment, da er von seiner Krankheit erfährt, entsteht der letzte moralische Bruch und seine inneren aggressiven und destruktiven Tendenzen fokussieren sich im Spiel mit dem Tod, der Angst und der fast sardonischen Beobachtung anderer in Extremsituationen. Er sieht sich als Überlegenen und implementiert sich zum Mächtigen über das Schicksal und das Leben. Indem er sich als ›Spielleiter‹ verhält, kennt er allein die Wahrheit der Figurenverstrickungen – interessanterweise eine Position, die Maigret zuvor in den Fällen 2 und 3 eingenommen hat. 5.2.4.1.2 Die neue Linie des Verbrechens Mit Radek (tschechisch řádek: Reihe, Zeile), dessen Name wie ein Signal wirkt, tritt eine bisher unbekannte Art des Verbrechers, gleichsam als neue Linie des ›Bösen‹ auf. So konstatiert Maigret am Ende gegenüber Richter Coméliau: Il fait froid […]. Vous connaissez comme moi la psychologie des différentes sortes de criminels. […] nous ne connaissions, ni l’un ni l’autre, celle de Radek. […] Une mentalité qui échappe à toutes nos classifications. […] Rien ne le rattache au monde! […] il trouve plus amusant de commettre un beau crime! […] seul à se délecter de sa puissance!314

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Auffallend ist die bestehende assoziative Verbindung zwischen dem Eindruck der Kälte und dem Täter, der wie ein Grenzüberschreiter315 eines bisher unausgesprochenen Verbrechenskodexes erscheint. Radek ist der erste Täter am (potenziellen) Beginn einer Entwicklungsreihe, bei der für Maigret als Ermittler eine Beunruhigung ob des Unbekannten, den nicht mehr nach bekannten rationalen Maßstäben agierenden Tätern und Täterinnen, und infolge unzureichender Ermittlungsmethoden entsteht. Die Beunruhigung, die von Radek ausgeht, ist der mangelnde persönliche Bezug zu seinen (Mord-)Opfern, gepaart mit der Zufälligkeit der Auswahl. Verstärkt wird diese Zufallsdependenz von Crosby, der nicht entscheidet, sondern im wahrsten Sinne des Wortes würfelt. Mme Henderson, Mlle Chartier, Crosby, Heurtin sind auf gewisse Weise beliebige Opfer, wodurch die Art des Verbrechens einen beängstigenden und ›unheimlichen‹ Charakter erhält, denn die Taten dienen einer narzisstischen Befriedigung von Macht- und Kontrollbedürfnissen sowie dem Ausagieren des inneren Schmerzes (Radeks), was sich (für Maigret) mit bekannten Tat-Motiven und Konstellationen nicht erklären oder fassen lässt. Würde Radek sich nicht selbst ins Spiel bringen und verdächtig machen, wäre er mit Maigrets Theorie einer Verbindung zwischen Täter und Opfer nicht mehr greifbar. 5.2.4.1.3 Radeks Wetter Aufgrund seiner Similarität zu Maigret geht von Radek bereits ein gewisses Unbehagen aus: Erstens die Similarität zwischen dem Kommissar, die diesem natürlich nicht verborgen bleibt und zweitens durch die meteorologische Konzeption, insofern Radek in einem Komplex aus Kälte und Humiditätsereignissen verwoben ist. Der Doppelmord an Mme Henderson und Mlle Chartier wird am 7. Juli, also im Sommer, begangen, die neue Ermittlung316 setzt im Oktober ein und Maigret trifft auf Radek. Bezeichnend ist, dass der Oktober dezidiert als ungewöhnlich kalt konzipiert ist, nachgerade winterlich. Diese meteorologische Kälte breitet sich aus, je mehr Radek sich selbst ins Zentrum der Ermittlung rückt.317 Sukzessive wirkt Radek mit Kälte und Humiditätsereignissen assoziiert, wodurch gradatim der Eindruck entsteht, die spezifische und für Maigret wahrnehmungsästhetische Wetterlage gehe von dieser Figur aus. Charakteristisch hierfür ist folgendes exemplarisches Wetterbild: Paris avait son aspect morne des vilains jours d’octobre: une lumière crue tombait du ciel pareil à un plafond sale. Sur les trottoirs subsistaient des traces des pluies de la nuit. Et les passantes eux-mêmes avaient l’air renfrogné de gens qui ne se sont pas encore adapté à l’hiver.318 Über die Wetterlage zeigt sich die Verbindung zwischen Radek und Wetter: Denn auch Maigret ist sowohl an das vorzeitige Winter-Wetter als auch an die neue Art des ›kalten‹ Verbrechers noch nicht angepasst. Die ›Anonymität‹ der Opfer, die durch den Studiencharakter als Objekt Radeks ihrer Ich-Identität beraubt werden, erweitert sich im Blick auf die anonymen und teils nur noch implizit durch die Parameter der Metropole sichtbaren Menschen, die fortgesetzt im Nexus des Wetters erscheinen. Dies ist als Hinweis auf die Einsamkeit lesbar, aber auch auf das beunruhigende Gefühl der Belanglosigkeit des Einzelnen. Mit Radek gründet sich eine anbahnende Pathologie der Normalität.319 Markant ist das gesteigerte objekthafte Erscheinen dieser anonymen Figuren, die als In-

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dividuen im sich ausbreitenden Nebel verwischen, der just zu dem Zeitpunkt aufzieht, als Radek das Le Coupole verlässt und den Stadtraum betritt: Dans le miroir, le commissaire voyait rire les yeux mi-clos du consommateur [Radek]. […] Des tramways, des autos, des gens en foule circulaient sur le boulevard où le crépuscule mettait un brouillard épais. [Radek] […] avant de sortir, alluma une nouvelle cigarette […].320 Radek versucht, Maigret zu manipulieren, sät Zweifel, weckt das Verlangen, mehr zu verstehen.321 Er zieht selbst die Aufmerksamkeit Maigrets auf sich und manifestiert sich nach und nach als Obskurant. Später im Dunst der kühlen Herbstnacht treffen Maigret und Radek getrennt an der Villa Henderson ein: »La nuit était fraîche. Les lampes électriques de la route se feutraient d’un halo d’humidité.«322 Mit Maigrets Annäherung an Radek wandelt sich bei diesem Zusammentreffen die Qualität des Humiditätsereignisses. Im aufziehenden Nebel lösen sich die Konturen auf, verliert sich die innere Sicherheit, verflüchtigt sich die Grenze des Individuums. Die zuvor klare Opposition zwischen Ermittler und Täter, Jäger und Gejagtem wird im Nebel so weit verwischt bis nahezu unklar ist, wer welche Rolle spielt: »Comment ce retournement s’était-il produit? Et pourquoi? Radek ne regardait plus son compagnon [Maigret] avec ironie, mais avec une inquiétude qu’il était capable de cacher.«323 Metaphorisiert erhält der Nebel einen evokativen Hall, der sich als im Freud’schen Sinne an das ›Unheimliche‹ gebundene Element in Verbindung der Alter-Ego-Konstellation erweist. Der Nebel stellt die sichere Identität infrage und erhält durch das Humiditätsereignis eine leicht metaphysische Dimension. Dieses Moment intensiviert für Maigret Radeks Gehalt des Bedrohlichen und Beunruhigenden. Radeks Kälte Die Kälte kulminiert im Januar nach der Verurteilung Radeks. Als Wetterlage ist sie die Manifestation der Absenz von Wärme, Menschlichkeit, Mitleid und verweist auf das innere Wetter Radeks: auf die Angst angesichts des eigenen Todes, auf die Gefühle, auf die Identität, die eingefroren und zum Schweigen gebracht werden. Fast ironisch bringen ihn meteorologische Kälte und Humiditätsereignis zu Fall, wirken auf Radek zurück und spielen mit der von ihm aufgebauten Macht; durch sie erhält das Motiv des ›Sturz des Mächtigen‹ eine veränderte Dimension: [I]l ne s’en inquiétait pas et il se mit à marcher à grands pas dans la direction de l’échafaud. C’est alors qu’il glissa soudain sur le verglas. Il tomba. […] peut-être cette chute futelle plus pénible que tout le reste, pénible surtout le visage honteux du condamné quand il se redressa, ayant perdu tout prestige, toute l’assurance qu’il s’était donnée. […] Alors Radek se retourna vers la plaque de verglas, avec un sourire sarcastique, puis désigna l’échafaud, ricana: – Raté!…324 Als Persönlichkeit ist Radek eine Reflektorfigur, deren psychische ›Mechanismen‹ und veränderte Matrizen des Verbrechens einen Nexus zur Beschaffenheit von Wetterpara-

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metern bilden und die Wahrnehmung und Beunruhigung Maigrets prägen. Da Radek der Kälte zugeordnet ist und diese von ihm ausgeht, versucht Maigret nach Radeks Tod zunächst der physisch perzeptiblen Kälte der Jahreszeiten etwa mit Mantel sowie seinem Ofen im Büro entgegenzuwirken, sodass die Doppelgänger-Opposition zwischen Gut und Böse in der Konzeption von Kälte und Wärme zwar fortbesteht, aber versucht wird, diese aufzulösen. Doch, so zeigt sich am Ende, geht nicht nur für den Kommissar von Radek Unbehagen bzw. etwas ›Böses‹ aus. Radek ist als negativer Doppelgänger auch Aspekt einer dunklen Persönlichkeit Maigrets. Fast nagend perfide setzt Radek dies fort, indem er vor seinem Tod Mme Maigret ins Spiel bringt und mit seinen letzten Worten, dem Verweis auf die Behaglichkeit, die scheinbare Normalität mehr suggeriert als verbalisiert und damit das Unbehagen vor seinem ›Schatten‹ in Maigret implantiert: […] – Vous allez retrouver votre femme, n’est-ce pas?… Et elle vous a préparé du café… Maigret ne vit rien d’autre, n’ntendait [sic!] plus rien. C’était vrai! Sa femme l’attendait, dans la salle à manger tiède où le petit déjeuner était servi.325 Nach dem Tod Radeks bleibt die Kälte zurück, die suggestive Ahnung – der Sicherheit, die geschützt werden muss: »Sans savoir pourquoi, il n osa [sic!] pas y aller. Il rentra directement au Quai des Orfèvres, chargea le poêle de son bureau jusqu’a [sic!] la gueule, tisonna à en casser la grille.«326 Hieran zeigt sich die enge Verbindung zwischen Maigret-Radek und der von Radek ausgehenden Kälte. Die Kälte ist mit Radek Manifestation einer beängstigenden Gefühlsdichotomie von etwas Vertrautem (Biografie, Erkennen des Risses) und etwas Schreckhaftem (die negative Nutzung des Spielers). Radek steht in multipler Weise für eine Entwicklung, aber auch für etwas, das verborgen bleiben müsste und doch hervortrat. Vor diesem Hintergrund wagt Maigret es nicht, zu Henriette nach Hause zu gehen, er hat Angst. Erst muss er die Verbindung zu Radek lösen, hierzu wird der alte Ofen am Quai des Orfèvres, mit dem Maigret immer wieder beschrieben wird und der fast ein Teil seiner Persönlichkeit ist, beinahe überfüllt und erzeugt eine extreme Wärme als Gegenpol. Fast als religiöser Akt einer Selbstbewahrung erscheint dies wie ein Exorzismus der Kälte und dient der Befreiung von Radek.

5.2.4.2 Marcel Moncin – Hitze in Maigret tend un piège (1955) In Maigret tend un piège ist ein Serienmörder in Paris umtriebig. Er ermordet mehrere Frauen, wird aber bezogen auf die erzählte Zeit recht schnell durch eine Falle Maigrets gefasst. Hiernach liegt der Fokus auf dem Täter Marcel Moncin und der ›psychologischen‹ Frage, warum er zum Täter wurde. Auch in diesem Fall können Theorie und Methode Maigrets nicht funktionieren. Vor diesem Hintergrund erhält die Wettergestaltung mehrere Funktionen: Sie ist Ausdruck der psychischen Verfassung des Täters, als meteorologische Faktur markiert sie wichtige Punkte der Ermittlung, sie ist Ausdruck von Maigrets Befinden im Zusammenhang mit der Ermittlung, d.h. das Wetter wirkt auf Maigret und lanciert eine Verbindung zu Moncin. Am 2. Februar wird Arlette Dutour ermordet. Sie ist das erste Opfer eines Serientäters, der in Montmartre fünf Frauen ersticht. Der Täter Marcel Moncin kann erst gefasst werden, als Maigret ihm im August (Einsatz der Handlung) eine Falle stellt. Mit Moncin

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wird das Phänomen der seriellen Tötung als Wechselspiel eines psychischen und sozialen Prozesses resp. einer psychischen und sozialen Problematik thematisiert. Dies geschieht in einem ersten Schritt über ein Gespräch zwischen Maigret und dem Psychiater Prof. Tissot. Als zweiter Schritt steht die frühe Identifikation Moncins, die »early in the book [.] contrary to all of the rules of the detective novel« erfolgt, »it is not the identity of the criminal that is important, but the reasons for his crime«327 . Moncin, so zeichnet es Maigret in einem späteren Verhör nach, leidet an einem Minderwertigkeitskomplex, der durch seine dominante Mutter entsteht und den er auch auf beruflicher Ebene nicht kompensieren kann, zumal er kein Architekt, wie von ihm erträumt, sondern ›nur‹ Innenausstatter ist. Forciert wird die psychische Problematik privat durch die Ehe, mit der er sich nicht von einer übermächtigen Frau (Mutter) löst, sondern sich zusätzlich an eine sich als dominant herausstellende Frau bindet. Moncin wird zu »leur chose«328 , somit entsubjektiviert zum Spielball zwischen Mutter und Ehefrau, die sich als Rivalinnen betrachten. Moncins Gefühl des Versagens erwächst damit insbesondere aus dem familiären Bereich und ist zudem durch den von der Mutter abgewerteten Vater, der ›nur‹ Metzger war, markiert. Das Versagen erweitert sich insofern auf den »privaten geschlechtlichen Bereich«329 , als beide Frauen ihn in eine Art Regression und »infantile Abhängigkeit«330 drängen und sich Moncin letztlich »als sexuelle[r] Versager definiert, was […] [die] Tendenz zum psychisch-moralischen Zusammenbruch verstärkend beeinflußt«331 . Schließlich ist Moncin ein Extremfall der Maigret’schen Theorie: Die Tötungsmotivation resultiert aus der permanenten Unterdrückung, empfundenen Minderwertigkeit, Reduzierung zum Objekt, die in einen Zustand permanenter Anspannung, Wut und Aggression münden. Diese innere Anspannung – oder misère – kann Moncin nicht konstruktiv bewältigen, vielmehr werden die angestauten Persönlichkeitsanteile und das Erleben der Unterdrückung mit der physischen Tat nach außen verschoben. Die Ausführungen Thomas’ zu Serientätern können auf die Figur Moncin übertragen werden. Nach ihr entlädt sich bei Tätern das »nicht verarbeitete und integrierte innere Destruktionspotenzial, welches in Gewalt und Mordvorstellungen präsent ist, […] in eine nach außen gerichtete Destruktion – am Körper des Opfers«332 . In gewisser Weise werden dergestalt die Opfer Moncins zum »Abbild seiner Innenwelt: seiner Vorstellungen und Bedürfnisse«333 . Die Opfer sind für Moncin Unbekannte, weil jegliche Vorbeziehung fehlt; durch die Anonymität wird ihnen ihre Individualität abgesprochen. Auf ihre Körperlichkeit reduziert, werden sie zum Objekt. Ein gemeinsames Moment der Opfer ist ihre Physis, sodass sie potenziell als Wunschobjekte oder als Stellvertreterinnen der dominanten Frauen fungieren. Für einen kurzen Moment erlaubt die Tat Moncin einen Ausbruch aus der Situation sowie eine Umkehrung der Machtverhältnisse, Moncin wird vom Objekt zum handelnden und entscheidenden Subjekt über das Objekt, die Stellvertreterin. Die Tat verschafft kurzfristige Erleichterung und sublimiert das Insuffizienzgefühl einerseits episodenhaft, bis zum erneuten Aufbau des inneren Drucks durch die Unterdrückung, andererseits über längere Zeit durch die Serie selbst als gesuchter Täter, der Angst erzeugt und damit eine gewisse Macht generiert. Die serielle Tötung erhält damit teilweise eine identitätsstiftende Kraft, die sich additiv entwickelt und eine »lustvolle Aktivität der Überlegenheit«334 erzeugt, die aber in ihrer Ausführung insofern nur begrenztes Po-

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tenzial hat, als dass die eigentliche Tat, der Ausbruch aus der Dreieckskonstellation bzw. der Mord an Mutter oder Ehefrau, nicht erfolgt. 5.2.4.2.1 Nacht als Handlungsraum und Hitze als externalisierte Wetterlage des Drucks Das Wetter ist als doppelte Wetterstruktur konzipiert: I. ausgehend von Moncin als Täterfigur, und damit für den Kommissar als Verbindung zur Psyche des Täters II. als Status der Ermittlung und für den Kommissar als Verbindung zur Psyche des Täters

Obzwar die Nacht nicht direkt Teil des Wetters ist, wird diese hier berücksichtigt, da sie eine wesentliche Relevanz für die Täterfigur hat und die Saisonalität die Funktion und Wahrnehmung der Nacht bedingt. Praktisch anknüpfend an den Fall Radek als neue Reihe des Verbrechens und an die Mordserie Meyers335 , beginnt die Mordserie Moncins am 2. Februar und setzt sich in relativ regelmäßigem Abstand im März, April, Juni und Juli und mit dem versuchten Mord am 5. August fort. Im Gespräch mit Prof. Tissot deutet sich die Suche nach einem naturphänomenologischen Muster im Tatverhalten des Täters an, etwa ob die Taten bei Vollmond begangen werden – doch nur auf zwei Mordnächte trifft dies zu.336 Drei Konstituenten lassen sich schließlich ausmachen: die Physis der Opfer, die geografische Beschränkung des Täters auf einen limitierten Bereich des 18. Arrondissements, einen »secteur très restreint qu’on pouvait délimiter par quatre stations de métro«337 ; das dritte Moment ist die Tatzeit, die Maigret formelhaft wiederholt und damit hervorhebt: Le premier attentat a eu lieu à huit heures du soir et c’était en février. Il faisait donc nuit. Le crime du 3 mars s’est commis un quart d’heure plus tard et ainsi de suite pour finir, en juillet, quelques minutes avant dix heures. Il est évident que le meurtrier attend que l’obscurité soit tombée.338 Basal greift die Nacht als Tatzeit die kulturelle Trennung von Hell und Dunkel, Gut und Böse sowie den Topos der Nacht als Ort des Affekts auf. Für Moncin wird die permeable Dichotomie zum substanziellen Faktor konzipiert, der Erfahrungsbereich der Nacht verwebt sich eng mit der Figurenpsyche. Mit dem Einbruch der Nacht ermöglicht sich für Moncin ein Übertreten der Grenze. Die Nacht wird mit dem mit ihr assoziierten Bewusstseinszustand des Traums und mit dem sich mit diesem eröffnenden Möglichkeitsraum für Wünsche und unterdrückte Persönlichkeitsanteile zu einem für Moncin neuen Erfahrungsbereich und Agitationsraum, in dem spezifische Handlungsmatrizen nicht nur vorstellbar, sondern ausführbar sind. Die Nacht verflüssigt die Grenze »zwischen äußerer und innerer Erfahrung«339 und erlaubt die temporäre Befreiung, doch keine absolute Durchbrechung des Kreislaufs, da der Zyklus von Nacht und Tag auch die erneute Unterdrückung bedingt. Dieser wird zur permeablen Dichotomie, weil die zwei Seiten Moncins hierin wurzeln, der Tag als Innenausstatter, Sohn, Ehemann und ›Unterdrückter‹, die Nacht als Täter, Mann, Befreiter und ›Mächtiger‹.

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Dieses Moment der Nacht als psychischer Agitationsraum legt sich über das Stadtareal, das durch ihn über Monate zum nächtlichen Gefahrenbereich, zum Bereich der Angst wird. Bedingt durch die Sommerhitze während der erzählten Zeit finden sich die Straßenszenen mit belebten Caféterrassen oder Straßenakrobatik mit Feuerschluckern, doch gibt es auch die Straßenzüge, die im Sommer wie ausgestorben sind und in denen sich die Bewohnerinnen in Angst bewegen: »Place du Tertre, aux allures de fête foraine […]. Or, à moins de cent mètre, les ruelles étaient désertes et le tueur pouvait agir sans danger.«340 Neben der Nacht fungieren die extreme Hitze und der kurz einsetzende leichte Regen als Spiegel Moncins; während des dargestellten Handlungszeitraums transzendieren die meteorologischen Phänomene die Anspannungsphase, die Tat sowie die Abkühlungsphase nach der Tat und machen sie spürbar: Die Anspannung, die innere Hitze steigt in der tatfreien Phase nach dem Mord an Georgette Lecoin im Juli wieder an. Pointiert »kocht« Moncin vor innerer Anspannung. Parallel beherrscht eine außergewöhnlich extreme Hitze Paris, die sich auf die stoffliche Beschaffenheit der Stadt auswirkt und etwa die Wasserader Seine zum »Kochen« bringt: Les fenêtres [PJ] avaient beau être ouvertes, on n’en était pas rafraîchi car elles faisaient pénétrer un air chaud qui semblait émaner du bitume amolli, des pierres brûlantes, de la Seine elle-même qu’on s’attendait à voir fumer comme de l’eau chaude sur un poêle. […]341 Tagsüber herrschen 36 °C im Schatten, die Luft ist glühend heiß: Das Wetter projiziert an dieser Stelle den inneren Druck und den sich ausbildenden Entschluss bzw. den Drang zu einer neuen Tat, die in der folgenden Nacht im Angriff auf Marthe Jusserand erfolgt. Doch der Mord an der jungen Polizistin aus Maigrets Team scheitert. Bemerkenswerterweise zeichnet sich am Morgen nach dem missglückten Mord über die Wetterdarstellung ab, dass die Realisierung der Tat Erleichterung gebracht hätte. So verdüstert sich indes Moncins Stimmung und das unerfüllte Bedürfnis raubt ihm die Luft zum Atmen: Le ciel s’était couvert, mais pas de vrais nuages qui auraient apporté une certaine fraîcheur. Un voile grisâtre s’était tendu peu à peu au-dessus de la ville, une buée collante descendait lentement dans les rues, chargée de poussière, d’odeur d’essence qui prenait à la gorge. […] l’air du dehors était plus irrespirable […].342 Der Regen und die Falle In einem späteren Fall wird es über Maigret heißen: »[C]’est avec quelle énergie il essayait de comprendre, quelle concentration était la sienne au cours de certaines enquêtes. On aurait dit qu’il s’identifiait à ceux qu’il traquait et qu’il souffrait les mêmes affres qu’eux.«343 So wirkt die extreme Augusthitze auf den Kommissar zunächst drückend, er schwitzt, wechselt mehrmals die Hemden und jede Abkühlung scheint willkommen. Für ihn als Leiter der Ermittlung spiegelt die Hitze zudem den Druck, nicht nur den Fall aufzuklären, sondern einen weiteren Mord zu verhindern: »La question, pour la société, n’était pas, comme presque toujours, de punir un assassin. C’était une question de dé-

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fense. Cinq femmes étaient mortes et rien ne permettait de supposer que la liste était close.«344 Unter diesen Bedingungen entsteht die Falle für den Serientäter im Zuge des Gesprächs mit Prof. Tissot, das als Erinnerungsanalepse Maigrets in die Erzählung eingebaut ist. Auffallend diametral zur Hitze ist das Wetter an besagtem Abend konzeptualisiert: »Il faisait chaud mais, vers la fin du repas, une pluie fine et douce se mit à tomber, dont le bruissement, au-delà des fenêtres restées ouvertes, accompagna leur soirée.«345 Die regengeprägte Luft und der auditive Eindruck des Regens werden im Verlauf des Gesprächs wiederholt wahrgenommen und bilden einen meteorologischen Kontrapunkt zur Hitze um Moncin: »Ils bavardèrent ainsi, dans une lumière aussi douce que la pluie qui tombait dehors […].«346 Konträr zur Assoziation der Aufklärungsarbeit als Moment des fiat lux mit dem Tageslicht oder dem Tagesanbruch, gleichsam als Opposition zum nächtlichen Handeln des Täters, entsteht die Idee der Falle nachts: Vom nächtlichen Raum und meteorologisch oppositionellem Regen her wird die Figur des Täters zugänglich und er wird erstmals in seiner psychischen Dimension ›greifbar‹; hier ist mit Tissots Ausführungen Maigret ein Zugang zum Täter möglich, ein Eintritt in den Grenzbereich. Markant ist, dass es nach dem Gespräch, als sich Maigret dem noch unbekannten Täter annähert und die Falle entwirft, über das Wetter zu einem interessanten Phänomen kommt. Moncin tötet die Frauen, wie er als Kind sein Spielzeug zerstört hat,347 seine Aggression findet sich in der Hitze projiziert – Der Regen des Abends erzeugt für den Kommissar tatsächlich einen (kurzen) regressiven Zustand bzw. infantilen Zauber: Elle [Mme Maigret] fit semblant de ne pas voir ce que Maigret était en train de faire, furtivement, comme quand il était gamin. Cette pluie-là était si fraîche et si savoureuse que, de temps en temps, il avançait la langue pour en happer quelques gouttes qui avaient un goût spécial.348 In sehr spezieller Manier entsteht dergestalt zwischen Maigret und dem Täter eine Verbindung über meteorologische Effekte. Einem Täter übrigens, dem Maigret zu diesem Zeitpunkt noch einen »trait de génie«349 zuspricht und der in seiner Art beunruhigend und faszinierend zugleich erscheint. Während der Angriff auf Marthe Jusserand unter dem Eindruck der Hitze, d.h. Moncins Wetter, verübt wird, verändert sich nach dem Erfolg der Falle die Wetterlage: Le ciel s’était couvert, mais pas de vrais nuages qui auraient apporté une certaine fraîcheur. Un voile grisâtre s’était tendu peu à peu au-dessus de la ville, une buée collante descendait lentement dans les rues, chargée de poussière, d’odeur d’essence qui prenait à la gorge. […] l’air du dehors était plus irrespirable […].350 An dieser Wetterstelle zeigt sich die doppelte Verweisstruktur; die von Moncin ausgehende innere Hitze trifft auf den Regen, der mit der Falle – ausgehend von Maigret – verbunden ist und aus dessen Zusammentreffen eine Art klebriger Dunstschleier entsteht. Moncin ist in die Falle gegangen, die Polizistin Marthe Jusserand hat ihm einen Knopf mit Faden abreißen können, den der Kriminaltechniker Moers untersucht. Hieraufhin ziehen Beamte durch die Straßen von Paris und befragen die Knopffabrikanten

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und Schneider – die Schlinge zieht sich zu (»prenait à la gorge«). Moncin wird identifiziert. Die Rekonstruktion der Tat mit Jusserand und Moncin steht nicht unter dem Eindruck der drückenden Hitze, sondern durch die Falle unter gewandelten Vorzeichen: »Quelques grosses gouttes de pluie s’étaient écrasées sur les pavés […] tout le monde avait espéré l’orage, mais, s’il avait éclaté, c’était quelques part vers l’est, où le ciel était encore d’un noir vénéneux.«351 Die wenigen Regentropfen, die bei der Rekonstruktion des Abends des gescheiterten Mordes niedergehen, stellen eine Verbindung zum Abend des Gesprächs mit Tissot. Zu einem gewissen Grad deutet der Regen eine kathartische Funktion an, der Täter ist gefasst, tatsächlich aber bleibt das abschließende lösende Gefühl als kräftiger Niederschlag aus. In der Meteo-Logik des Falles gründet sich dies darin, dass die psychologische Familienkonstellation noch nicht geklärt ist, es bleibt die Rivalität (vénéneux) zwischen den beiden Frauen (Mutter und Ehefrau). Es folgt ein weiterer Mord, begangen von Mme Moncin, um ihren Mann zu entlasten, sodass Moncin »lui doive la vie. En somme, atteindre dans l’esprit de son mari à la même valeur que sa mère«352 . Konträr zur Wetterkonzeption um Moncin fungiert das Wetter für Maigret, als er vom Mord an einem sechsten Opfer erfährt. Die meteorologischen Phänomene gehen nicht von ihm aus und spiegeln seine Aggression, sondern wirken positiv auf ihn ein: »C’était la colère, presque de la rage. Elle s’évaporait petit à petit dans la fraîcheur relative de la nuit […].«353 Erst als die negative Familienkonstellation aufgedeckt ist, normalisiert sich das Wetter. Die angespannte Hitze wird durch einen leichten Wind, der die Bäume und die Papiere auf Maigrets Schreibtisch rascheln lässt, abgelöst: »Le temps était à nouveau clair, le soleil brillant, mais il faisait moins lourde que les jours précédents, car une brise faisait frémir le feuillage des arbres et, parfois les papiers sur le bureau.«354 Mit dem veränderten Wetter fühlt sich auch Maigret erlöst, der in der Brasserie Dauphine einkehrt. Ein abschließender Wolkenbruch und ein damit assoziierter kathartischer Effekt als Abschluss bleiben allerdings aus. Dies mag zum einen darin gründen, dass das Wetter an dieser Stelle nicht mehr wichtig ist, zum anderen aber weist der unvollständige Abschluss des Wetters auf eine nicht wiederherstellbare Ordnung angesichts des veränderten und (im Maigret-Universum) neuen Phänomens des Serientäters.

5.2.4.3 Robert Bureau – Extreme Wetter in Maigret et le tueur In Maigret et le tueur (1969) geht über Paris mehrere Tage ein Starkregen nieder. Es ist ein Regen wie seit 35 Jahren nicht mehr, als Antoine Batille auf offener Straße mit sieben Messerstichen getötet wird. Nach einer lancierten Pressemitteilung, Batille sei Opfer eines Raubmords, schreibt ein Mann Maigret und tritt in telefonischen Kontakt mit ihm – er sei der Mörder. Es bestand keine Beziehung zwischen Täter und Opfer, doch Maigret kann aufgrund einiger Fotos der Beerdigung Batilles in einer Person den Täter identifizieren. Er lässt allerdings nicht nach ihm fahnden, weil er fürchtet, in die Enge getrieben, könne dieser Selbstmord begehen. Maigret wartet – bis der Mörder Robert Bureau bei Mme Maigret im Wohnzimmer sitzt und mit ihr über den Pariser Frühling plaudert. Die besonnene Mme Maigret telefoniert nach ihrem Mann und es kommt zur Aussprache zwischen Kommissar und Mörder. Auch hier ist der Fall mit Maigrets angestammter Methode und Theorie nicht lösbar, da keine Beziehung zwischen Täter und

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Opfer besteht. Auch hier bedarf es einer veränderten ermittlungstaktischen Vorgehensweise. Und auch hier besteht zwischen dem Täter und Maigret durch die auf der einen Seite pathologische Wetterfühligkeit eine Verbindung. Auf der anderen Seite verfügt das Wetter in diesem 97. Fall über eine ganz besondere Funktion: Es ist der Tatauslöser. 5.2.4.3.1 Fatale Wetterfühligkeit Während das Wetter für die Persönlichkeit Radeks oder die psychische Problematik Moncins als Reflektor fungiert, ist das Wetter ursächlich für Robert Bureau, denn der extreme Regen im März ist der Tatauslöser. Die Funktion des Wetters bildet damit in diesem Fall das Extremum der bisherigen Wetter-Täter-Relation als psychopathologische Facette des potenziellen Serientäters. Das Wetter als Tat- bzw. Handlungsauslöser erscheint bereits andeutungsweise in Le chien jaune (1931), wo festgestellt wird: »Un peu de vent en moins et le crime n’avait pas lieu!…«355 Allerdings kann der Wind hier als Zufallsvariable im Wahrscheinlichkeitsraum des Unwetters betrachtet werden – auch wenn durch die personifizierte Darstellung latent der Eindruck entstehen könnte, es sei der Wind, der Mostaguen zu töten sucht. In Mon ami Maigret (1949) skizziert der Inspektor von Porquerolle das ›biotrope‹ Potenzial des Mistrals: »Le mistral? […] Il a soufflé pendant neuf jours et c’est assez pour mettre tout le monde à cran.«356 Einen effektiven Anteil, d.h. eine tatauslösende Funktion, an der Gemeinschaftstat von De Greef und De Moricourt scheint der Wind aber nicht zu haben; so führen die Täter lediglich an, der Wind habe das Geräusch des Schusses auf Marcellin überdeckt. Mit dem Mistral deutet sich indes eine Wetterfunktion an, die in Maigret et le tueur realisiert wird. Extremen Wetterlagen ist eine psychophysische Kraft inhärent, der Bureau sich nicht entziehen kann und die in ihm den Drang zu töten auslöst. Diese Konzeption und Funktion sind aus mehreren Gründen signifikant. Zum einen greifen sie im Rahmen der Klimatologie konzentriert Wetterextreme als psychisch wirksame Faktoren auf,357 zum anderen entspricht dies recht subtil Artikel 64 des Code Penal: »Il n’y a ni crime ni délit lorsque le prévenu était en état de démence au temps de l’action, ou lorsqu’il a été contraint par une force à laquelle il n’a pu résister.«358 Das Wetter selbst intratextuell als »force« einzusetzen, geht mit der psychologischen Idee Simenons einher, dass das Wetter auf das Individuum eine Wirkung hat: Quant au climat que j’essaie de créer autour de mes personnages, il a son importance. En effet, nous ne réagissons pas de la même manière un soir d’orage et de pluie battante qu’un matin de printemps ou une journée d’été.359 Mit Bureau rückt dezidiert die wahrnehmungsästhetische Dimension qua faktischer Bedeutung für den Täter (und die Handlung) ins Zentrum des Falles. Erzähltechnisch fungiert das Wetter dergestalt als Agent Provocateur; im Sinne Greimas ließe es sich nachgerade als Sender für den Mörder verstehen. Für Bureau sind extreme Wetter mehr als eine Zufallsvariable, sie wirken als meteorologischer Agent Provocateur und sind zentraler Faktor der Täterbiografie. Extreme Wetterlagen, so Bureau, lösen einen inneren Drang, einen Tötungszwang aus. Im Gespräch

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mit Maigret benennt er die Wirkung meteorologischer Phänomene, die sich auf seine psychische Verfassung auswirken: Il y a eu trois jours de pluie diluvienne… […] C’est […] une certaine intensité qui compte… Au mois de juliet, quand il fait très chaud, par exemple… L’hiver, quand il neige à gros flocons… On dirait que la nature passe une crise et… […] Cette pluie qui n’arrêtait pas de tomber, les bourrasques, le bruit du vent qui secouait les volets de ma chambre, tout cela a fini par me mettre les nerfs à bout… Le soir, je suis sorti de chez moi et me suis mis à marcher dans la tempête… […] je n’ai pas entendu le signal ou, si je l’ai entendu, je n’y ai pas obéi… J’aurais dû rentrer chez moi au lieu de m’obstiner… […] Un jeune homme en blouson clair est sorti, ses cheveux longs plaqués à la nuque, et le déclic s’est produit… […] J’ai frappé plusieurs fois… Puis, alors que je m’éloignais, je me suis rendu compte que la détente ne venait pas et je suis retourné sur mes pas pour frapper à nouveau et pour lui soulever la tête… .360 Bureaus Explikationsversuch verdeutlicht die Bedeutung von verbaliter großen Ausprägungen von Wetterphänomenen, die psychisch wirksam und übermächtig werden: So ermordete Bureau als 14-Jähriger einen Jungen gleichen Alters unter dem Einfluss der Sommerhitze.361 Es zeigt sich ferner, dass Bureau zwar über Jahre hinweg – scheinbar – fähig war, dem Druck des Wetters nicht bis zum Tötungsakt nachzugeben, indes verdeutlicht sich gleichzeitig die Seelenqual, da Bureau selbst keine Tötungsintention hat, sondern vielmehr den Morddrang fürchtet und zu vermeiden sucht.362 Dem psychophysischen Effekt des extremen Regens kann sich Bureau in diesem Frühling jedoch nicht entziehen: Es gibt zwei wettergebundene Trigger, scil. der Eindruck des anhaltenden Starkregens und der visuelle Reiz des nassen Haars. Der Mord selbst bringt noch keine Befriedigung und führt nicht zu einer inneren Erleichterung. Erst im Overkill sieht Bureau die Hoffnung, die innere Unruhe physisch zu kompensieren. Die Tötungsart entspricht quasi als Abbild dem inneren Spannungszustand des Täters. Bureau setzt damit die meteorologische ›Krise‹ korrelativ zu seinen Krisenmomenten. Wolkenbruch als Schlüsselmoment Mit Blick auf Maigret und die Ermittlung weist Krechel in seiner Analyse dem Regen die Funktion eines Leitmotivs bzw. Schlüsselbegriffs zu: Wie die Distribution der Bezeichnungen für das Wettergeschehen in ›Maigret et le tueur‹ zeigt, lassen sich Wendungen für extreme Wetterlagen bereits zu Beginn […] nachweisen. Der Leser erfährt, dass Maigret sehr unangenehme Gefühle mit den extrem schlechten Wetterverhältnissen an einem Abend verbindet, an dem er gemeinsam mit seiner Frau den Pardons einen Besuch abstatten will und er gezwungen ist, ein Taxi zu bestellen. Ausdrücke, wie tomber par rafales, glacé, die von Ausdrücken der Zeit, wie depuis trois jours und depuis trente-cinq ans ergänzt werden, kennzeichnen extrem starke Niederschläge sowie eine eisige Kälte. Wenige Seiten später wird das Prasseln des Regens an diesem Abend (la pluie crépitait) wieder aufgenommen. Dabei werden die Wetterverhältnisse zur Tatzeit angegeben. Diese Wetterverhältnisse zur Tatzeit werden auf den folgenden Seiten immer wieder erwähnt; sie werden zu einem Leitmotiv des Romans. Von daher kommt dem Begriff

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›CLIMAT‹ die Wertigkeit eines Schlüsselbegriffes zu. Maigret assoziiert im weiteren Verlauf des Romangeschehens den Mord immer mit den Wetterverhältnissen zur Tatzeit. In der Tiefenstruktur sind in diesem Fall ›CRIME‹ und ›CLIMAT‹ assoziiert. […] Dabei korrelieren auf der Oberflächenstruktur häufig Ausdrücke für ›CLIMAT‹ mit Elementen des Schlüsselbegriffsfeldes ›SOUVENIR‹ […].363 Die starke Regenpräsenz des Romananfangs und seine Bedeutung als Tatauslöser für den Täter zeichnen den Fall Maigret et le tueur aus. Dergestalt wird etwa extreme Niederschlag von den Figuren immer wieder an den extremen Niederschlag erinnert, womit eine besonders nachhaltige Präsenz entsteht und der Regen als signifikantes Moment in den Mittelpunkt gesetzt ist. Damit aber in der Logik des Falls eine Aussprache möglich ist – und es keinen weiteren Mord gibt – wandelt sich das Wetter nach dem Mord schleunig zu einem konstant milden resp. ›neutralen‹ Frühlingswetter. Im letzten Kapitel bleibt das meteorologische Wetter aus, damit es fokussiert zum Gegenstand des Gesprächs werden kann. Die starke Intensität und meteorologische Frequenz zu Beginn des Romans erhält in der Erklärung Bureaus seine Bedeutung und verklammert die nun lesbare Funktion. Wettersensibilitäten Maigrets und Bureaus Ähnlich wie bei Radek besteht bei Bureau eine Verbindung zur Persönlichkeit Maigrets. Das Relationsmoment zwischen den beiden Figuren eröffnet sich mit der Formel: »[C]’est avec quelle énergie il essayait de comprendre, quelle concentration était la sienne au cours de certaines enquêtes. On aurait dit qu’il s’identifiait à ceux qu’il traquait et qu’il souffrait les mêmes affres qu’eux.«364 Maigret und Bureau zeichnet je eine unterschiedliche Ausprägung einer Meteosensibilität aus; während das Wetter für Bureau negativ, bedrohlich erscheint und eine destruktive Wirkung hat, hat Maigret nicht nur ein Faible für jedes Wetter, sondern empfindet dies konträr zu Bureau: »Au fond, peu importait à Maigret que ce fût gai ou non. Il aimait tous les temps. Il aimait surtout les temps extrêmes, […] les pluies diluviennes, les tornades, les grands froids ou les chaleurs torrides.«365 Maigret hat im Rahmen der SPS einen positiven und konstruktiven Umgang mit den meisten Wetterphänomenen gelernt, negative Stimmungen wie Wut und Aggression können durch milde Wetter kompensiert werden, Tau und Schnee lösen Heiterkeit und Glücksmomente aus. Wie sich an Liberty Bar oder Les caves du Majestic zeigt, führen allerdings auch für Maigret einige extreme Wetterparameter zu einer gewissen Überstimulation. Maigret absorbiert Wetter als Umweltreiz und in einigen Fällen lösen meteorologische Phänomene einen déclic für die Ermittlung aus. Wie bei Radek und Moncin entwirft sich hier über das Wetter eine gewisse Similarität zu diesem exzeptionellen Täter. Denn das Moment des meteorologischen ›déclic‹ findet sich dezidierterweise auch bei Bureau, hier aber löst der Regen nicht einen konstruktiven Verstehensprozess aus, sondern eine aggressive und destruktive Verhaltensmatrize. Durch seine SPS und Wettersensibilität ist Maigret empfänglich für Reaktionen anderer auf besondere Wetterlagen.366 Auffallend ist daher am Romananfang von Maigret et le tueur die Objektivierung der Intensität durch die präsentierte Statistik von MétéoFrance sowie des emotionalen meteorologischen Effekts:

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[I]l pleuvait, depuis trois jours, comme, selon la radio, il n’avait pas plu depuis trentecinq ans. L’eau tombait par rafales, glacées, vous fouettant le visage et les mains, collant les vêtements mouillés au corps. Dans les escaliers, les ascenseurs, les bureaux, les pas se marquaient en taches sombres et l’humeur des gens était exécrable.367 Der zweite Absatz mit der meteorologischen Eröffnung enthält bereits den ›Sinn‹ des Romans als Ganzes. Er spricht von der besonders außergewöhnlichen Wetterlage, objektiviert das Wetterereignis, sodass es in seiner Besonderheit als ›wissenschaftlich‹ herausgestellt wird. Mit der Einbindung der impliziten Leserschaft und der Wirkung auf die Stimmung der Menschen ist es dadurch allgemein nachfühlbar und als abgeschwächte Reaktion Bureaus implementiert. Besonders subtil ist die Verbindung, die bereits zum Täter lanciert ist. Das Wetter beeinflusst jedoch nicht die Stimmung Maigrets, damit bleibt über die SPS das Moment des »affres«368 nachvollziehbar, aber die Objektivität als Ermittler gewahrt. Wolkenbruch mit Zuschauer In Maigret et le tueur verändert der Starkregen die Topografie des Straßenzugs, in dem Bureau den déclic erlebt und Batille in Gegenwart von Maigret und Dr. Pardon stirbt. Das Wetterereignis nimmt einen aktiven Part ein und transformiert im Sinne Simenons den Raum in eine andere »réalité«: »La moitié de ses paroles [Ginos] se perdaient dans la tempête. Les caniveaux étaient de vrais torrents par-dessus lesquels il fallait sauter, et les rares voitures envoyaient des gerbes d’eau sale jusqu’à plusieurs mètres.«369 Die Straße wird zum reißenden Gebirgsbach. Dadurch, dass es »à torrents« regnet, erscheint letztlich alles in einer Wassermasse, als Meer. Angereichert wird die Meeresassoziation in der Retrospektive der Situation, indem der Starkregen sich auf die Seefahrt auswirkt: »Rue Popincout, le mardi soir, il pleuvait tellement que cela ressemblait à un cataclysme et, d’ailleurs, dans la Manche et la mer du Nord, des bateaux de pêche avaient été perdus. Cela n’avait-il pas son importance?«370 Mit dem Regen verändert sich der semantische Gehalt der Straßenzüge, aber auch des Regens selbst, indem er in die Metaphorik des Meeres übertragen und entsprechend mit der Schifffahrt assoziiert ist. Substanziell erscheint die explizite Frage nach der Signifikanz, nicht zuletzt zwischen Regen und dem Verschwinden auf See. Blumenberg geht davon aus, der Mensch sei erst in der Metaphorik der Seefahrt in der Lage, Bewegungen des Daseins wahrzunehmen und zu verstehen.371 Für Bureau modulieren extreme Wetterlagen einen psychischen Schiffbruch, einen inneren Untergang angesichts der Übermacht im unendlich erscheinenden Starkregen, dem er nicht entgegenwirken kann. Die Fragilität dieser Wetterperzeption verweist konsequent auf die See als Sphäre des Unberechenbaren, der Orientierungs- und Haltlosigkeit und markiert ein Wetter des ›Bösen‹ bzw. mit einem schlechten Einfluss: »des nuages qui couraient très bas […] la […] couleur malsaine […].«372 Bureau gerät ins Wanken, bisher beherrschte psychische Muster werden liquide und lösen fatale Verhaltensmatrizen aus. Markanterweise ist der Schiffbruch Bureaus ein Schiffbruch mit Zuschauern, denn Gino und seine Frau beobachten die Tat:

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[…] la pluie qui tombait […]. Le meurtrier… Il devait marcher devant nous […] Il [Täter] avançait plus vite que lui [Opfer], comme pour le joindre ou le dépasser… […] L’autre l’a rattrapé… J’ai vu son bras se lever et s’abaisser… Je ne distinguais pas le couteau… Il a frappé trois ou quatre fois et le jeune homme en blouson est tombé en avant sur le trottoir… Le meurtrier a fait quelques pas vers la rue du Chemin-Vert, puis il est revenu en arrière… Il devait nous voir, car nous n’étions plus qu’à une soixantaine de mètres… Il s’est quand même penché et a porté deux ou trois nouveaux coups…373 Die Metapher des Schiffbruchs mit Zuschauer wird zum Mittler, »[s]ie ist ganz allgemein das unabdingbare Mittel, abseits logischer Begriffe existenziellen Erfahrungen Ausdruck und Sinn zu verleihen, wobei sie weniger erklärt als Orientierung schafft«374 . Durch die Erzählung und Bureaus spätere Schilderung erhält Maigret die Position eines Beobachters und als Ermittler gleichsam die Position des Menschen »als Festlandlebewesen«375 . Auf der anderen Seite entwirft sich für ihn die Sphäre einer »Orientierungswidrigkeit«376 . Mit Bureau zeigt sich, wie der Regen die prozessuale fragile Disposition liquidiert und fatale Verhaltensmatrizen kreiert. Somit existiert erneut ein veränderter Tätertypus, mit dem für Maigret ein Verlust der »Seinsgewissheit«, scil. bezüglich seiner etablierten Methode, entsteht. Dieser Moment findet sich wiederholt, wobei auffällt, dass der Infragestellung und der Thematisierung einer Veränderung des Verbrechens, etwa gegenüber Inspektor Janvier,377 eine Wettererwähnung nachgestellt ist oder diese die Aussage einbettet und dergestalt konnexiert: Presque toujours, avait-il [Maigret] souvent répété, c’est en apprenant à connaître la victime qu’on est conduit à son meurtrier. Il avait un soleil pâle. Le ciel était d’un bleu très clair. La température restait de deux ou trois degrés et il gelait dans la plus grande partie de la France […].378 Die Assoziation zur Kälte bahnt eine Rekurrenz auf Radek, mit dem ein neuer Typus des Verbrechers eingeführt wird, der bisher unbekannt und mit einer erstarrten Ermittlungsarbeit nicht mehr fassbar ist, allerdings sind solche Taten im Vergleich zur Majorität der Verbrechen signifikant selten. Bureau ist eine der wenigen Täterfiguren, deren Schicksal nach ihrer Überführung weiterverfolgt wird. Mit ihm wird die Frage nach der Schuld bzw. Schuldfähigkeit lanciert und die Problematik der Justiz angesichts eines exzeptionellen Tatauslösers angedeutet. So heißt es im Nachsatz: Le jury accepta les circonstances atténuantes, mais n’en condamna pas moins Robert Bureau à quinze ans de détention. Après quoi le président prononça […]: – Nous nous rendons compte que ce verdict ne correspond pas tout à fait à la réalité. […] nous ne disposons pas d’établissement où un homme comme Bureau pourrait être soigné efficacement tout en restant sous une stricte surveillance…379 Das Wetter stellt einen Teil der veränderten ›Realität‹ des Tötens dar und wird zum Gegenstand par excellence des psychologischen roman d’atmosphère sur une trame policière.

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Die drei Täter Radek, Moncin und Bureau zeichnen sich jeweils durch die Verbindung zu einer besonderen Gestaltung der Wetterlage aus, die ihrer Persönlichkeit entspricht (Radek), die Tatphasen markiert und spiegelt (Moncin) oder dieses den Täter existentiell beeinflusst und als Agent Provocateur für den Mord fungiert (Bureau). Auffallend ist die Hervorhebung dieser Figuren: Sie verweisen als Einzelfälle wie auch in ihrer Gesamtheit darauf, dass eine Veränderung der Art des Verbrechens durch besondere Wetterlagen markiert wird bzw. – wie im Falle Bureaus – dezidiert ins Zentrum gesetzt werden. In allen drei Fällen besteht fernerhin eine psychische Verbindung über das Wetter zu Maigret: als Alter-Ego Konstellation, bei der es am Ende zu einer ›Austreibung‹ der Kälte kommt, löst – anders als bei Moncin, der geradezu infantil regressiv seine Opfer tötet –, das Wetter bei Maigret kindliche Glücksgefühle aus und er leidet unter der Hitze wie der Täter unter dem Druck, der ihn zu einer neuen Tat treibt. In Maigret et le tueur verbinden Bureau und Maigret die Wetterfühligkeit bzw. eine quasi meteorologische SPS.

5.3 Wetter in Paris Bereits im ersten Satz von La patience de Maigret kumulieren der olfaktorische und auditive Eindruck von Paris, zu dem das Wetter nicht nur die visuelle, sondern auch eine haptische Komponente erzeugt: La journée avait commencé comme un souvenir d’enfance, éblouissante et savoureuse. […] Les fenêtres de l’appartement étaient larges ouvertes, laissant pénétrer les odeurs du dehors, les bruits familiers du boulevard Richard-Lenoir, et l’air, déjà chaud, frémissait; une fine buée, qui filtrait les rayons de soleil, les rendait presque palpables.380 Während Gerüche und Geräusche unkonkrete Eindrücke der Stadt bleiben, wird das Pariser Wetter detailliert und als Impression spezifiziert. Mit den sensuellen Details, die vielfach mit dem Wetter verwoben und durch dieses bedingt sind, sowie mit den Wetterspezifika selbst entsteht, wie Geherin bemerkt, »one of the most physical and sensual, portraits of the city any artist ever produced«381 . Eine erste Spur für die Herausstellung des Wetters im Nexus der Stadt bzw. einer Wetter-Stadt-Relation bietet die von Simenon skizzierte ästhetische Wirkung des Wetters auf Stadtlandschaften, weil meteorologische Phänomene auf die Dimension und Substanzialität der Landschafts- und Stadträume wirken und als wahrnehmungsästhetisches Moment fungieren: J’aime […] le brouillard, probablement parce qu’il déforme assez la réalité pour lui donner une autre dimension et une autre poésie. J’aime la pluie aussi, à peu près pour la même raison, surtout dans les villes, le soir, quand toutes les lumières se reflètent en zigzaguant sur les pavés mouillés […] La neige transfigure le paysage. Le soleil, lui, comme les impressionnistes l’ont si bien compris, le décompose en paillettes de couleur et de lumière […].382

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Das Wirkpotenzial des Wetters auf die Stadt wird im Folgenden ausgehend von einem ausgewogenen Zusammenwirken beider beleuchtet. Danach wird eine Entwicklung der Wetterfunktion auf die Stadt aufgezeigt, die von der Transformation der Stadt durch die Dominanz des Wetters bis zu ihrer Zerstörung, Auflösung und ihrer expressis verbis Liquidation reicht. Hieraus ergeben sich folgende Punkte: • • • •

Das Pariser Wetter in den Maigret-Romanen Die Verbindung bestimmter Wetterlagen mit einzelnen Orten Die Wahrnehmung von Paris unter Einfluss des Wetters Wetter statt Stadt

5.3.1 Das Pariser Wetter in den Maigret-Romanen Die meisten Fälle Maigrets ereignen sich in Paris: 63 der 75 Romane und 18 der 28 Kurzgeschichten haben die Metropole als »cadre principal ou secondaire«383 . Als Polizist der Brigade Mobile lebt und arbeitet Maigret allerdings nicht durchgängig in der Hauptstadt, sondern auch in einigen Städten der Provinz. Des Weiteren stellt er Nachforschungen in Lüttich und Bremen an und wird in New York, Tuscon (Arizona) oder London tätig.384 Paris als Gesamtschau setzt sich über die Reihe, wie Geherin veranschaulicht, wie ein Mosaik durch einzelne Impressionen und Details zusammen: »Each novel adds a small but distinctive bit or two of color, form, and texture to the overall design of the whole. The more Maigrets one reads, the more vividly detailed the mosaic becomes.«385

Diagramm 5: Saisonale Verteilung der Maigret-Fälle, die in Paris spielen

Neben den quantitativen Parametern des Raumes bestimmen meteorologische Phänomene als qualitativer Faktor die Darstellung und Wirkung der Metropole, etwa für die Stadtwahrnehmung Maigrets. Während Blanc für den polar allgemein eine »présence obstinée du brouillard«386 sowie des Regens konstatiert,387 erscheint das Paris Maigrets

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quantitativ betrachtet unter den Eindrücken jeder Wetterlage und jeder Jahreszeit. Für Letztere zeigt Wengers Statistik eine leichte Präferenz für Winter und Frühling: [L]e plus grand pourcentage d’enquêtes menées par Maigret à Paris se passent… en hiver (9 enquêtes sur 12, soit 75 %), […] 8 enquêtes sur 18 (soit 45 %) d’automne se passent ailleurs qu’à Paris. […] Après l’hiver, c’est le printemps qui sera le plus représenté à Paris (18 enquêtes sur 27, soit 66 %) […].388 Jahreszeitliche Eindrücke, Sonnenschein, Regen, Nebel oder Hitze können grundsätzlich als effet de réel fungieren,389 als solche sind einzelne Wetterphänomene an bestimmte Jahreszeiten oder ziselierter an Monate gebunden. Dies bedeutet für die Winter-Ermittlungen »la pluie peut être remplacée par la neige«390 und im Februar spielen die meisten Fälle bei Sonnenschein.391 Mit Blick auf Blanc ist zu ergänzen, dass zwar Wenger keine Auswertung bezüglich des Nebels trifft, doch innerhalb des für für die vorliegende Arbeit ausgewählten Korpus finden sich nur wenige Nebelpassagen in Paris. Für die Frühlingsund Sommerfälle wurde bereits festgestellt, dass in der Majorität (86 % nach Wenger) die Sonne scheint, dies gilt entsprechend auch für die Metropole: »Paris is often bathed in sunshine and he [Simenon] artfully captures the play of light and shadow on the streets and buildings.«392

5.3.2 Die Verbindung bestimmter Wetterlagen mit einzelnen Orten Feste Verbindungen zwischen einzelnen meteorologischen Phänomenen und einem konkreten Ort sind selten, allerdings finden sich Ausnahmen, scil. die Bahnhöfe und das Hotel Majestic. Wenger und Trussel beleuchten das Transportwesen in den Maigrets und stellen die Bahnhöfe als »symbolic places in the Maigret saga«393 heraus, wobei zur Gare de Lyon und zur Gare du Nord relativ feste Wetterverbindungen bestünden. So sei die Gare du Nord das »[f]irst image of an inhostible station, first image also, of a Chief Inspector leading an investigation in the cold of November, and what better place to represent the desolate atmosphere of late fall than this station! It becomes a symbol in itself, and its very name evokes the cold of the wind.«394 Daneben ist die Gare du Nord mit dem alltäglichen Leben der kleinen Leute verbunden,395 so heißt es entsprechend in Les mémoires de Maigret: »La Gare du Nord, elle, la plus froide, la plus affairée de toutes, évoque à mes yeux une lutte âpre et amère pour le pain quotidien.«396 Die Gare de Lyon evoziert bereits für sich den Eindruck von Sommer und Süden. Sie erscheint, wenn »Maigret […] goes to the south of France, to warm places […]. [I]n Simenon’s description […] the Gare de Lyon […] makes him think of throngs leaving and vacations.«397 Die Orte, die Maigret mit dem Zug im Norden (etwa Givet oder Étretat) oder im Süden (etwa Antibes oder Nizza) aufsucht, sind klimatisch bzw. wettertechnisch primär nach einer allgemeinen Zuschreibung einer Nord-Süd-Divergenz gestaltet; so reist Maigret in Les caves du Majestic zwar im Winter an die Côte d’Azur, findet aber keine verschneiten Palmen vor. Neben den Bahnhöfen deutet sich eine Relation zum Majestic als Handlungs- und Tatort an: Erscheint das Luxushotel in einem Fall, ist es kalt in Paris wie in Pietr le Letton oder Les caves du Majestic.

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5.3.3 Die Präsentation von Paris unter Einfluss des Wetters Beeinflusst durch den künstlerischen Einflussbereich erscheint Paris als von der jeweiligen Wetterlage farblich gestaltet oder mit künstlerischem Effekt gezeichnet etwa schraffiert oder in seiner Perspektivität bestimmt: On imagine le carrefour désert dans la nuit, les hachures de pluie, le pavé mouillé, avec de flaques de lumières du réverbère […]398 Maigret […] regarda le ciel […] il était d’un bleu candide, avec des nuages frangés d’or et du soleil qui ruisselait des toits.399 Un soleil pourpre se couchait sur Paris, et la perspective de la Seine enjambée par le Pont-Neuf était barbouillée de rouge, de bleu et d’ocre.400 Ici aussi, on travaillait à la lumière artificielle, comme, aujourd’hui, dans la plupart des bureaux de Paris. Le ciel était de couleur d’acier et, dans les rues, la chaussée si noire qu’elle semblait couverte d’une couche de glace.401 Le soleil frappait en plein le trottoir qui […] paraissait plus large. […] quand ils [Maigret et Mme] étaient sortis, le triomphant soleil d’août avait disparu, remplacé, le long des Boulevards, par une double guirlande de lumières […].402 Der poly- oder monochrome Eindruck der Stadt oder von -ausschnitten entsteht vielfach durch die Grundtönung der eingesetzten Wetterlage.403 Besonders deutlich wird dies bei Regen oder Nebel, der den Raumeindruck dominiert und entsprechend prägt. Mit den Lichtverhältnissen oder Humiditätsereignissen verändert sich primär die visuelle Qualität, die sich wie in Maigret s’amuse auf die Dimensionen des Raumes auswirken kann, je nach Licht und Sichtverhältnissen erscheinen die Straßenzüge etwa eher finster und eng oder hell und weit.404 Ein relevanter Faktor für das Wetter in Paris ist Maigrets Ortswahrnehmung bzw. die Vermittlung durch den Erzähler. Maigret verbindet, wie Wigbers anführt, »die Darstellung der Orte mit Angaben über Tages- oder Jahreszeiten, über das Wetter oder über bestimmte Ereignisse, die sich an dem Ort gerade abspielen«405 . Für die Wahrnehmung des Ortes bedeutet dies, dass Maigret sich an ihm »bekannten Orten nicht mehr bewusst auf alle Einzelheiten, sondern […] auf ihre veränderlichen Merkmale«406 konzentriert, und dies ist – nicht zuletzt bedingt durch Maigrets Wetteraffinität – vielfach die Witterung.407 Neben der künstlerischen Gestaltung wird Paris meteo-perzeptibel, indem durch Maigrets Wahrnehmung bzw. über den Erzähler Orte nicht nur mit dem Wetter verbunden, sondern Teil der Saisonalität und der Naturphänomene werden: Les rues commençaient à sentir le printemps. […] Paris était clair et gai. Comme toujours vers la mi-février, on appréciait davantage les bouffées de printemps que lorsque le printemps était vraiment là, […] [le] fameux marronnier du boulevard Saint-Germain, qui, dans un mois, allait fleurir.408

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Maigret, […] dans la cohue de la rue Saint-Antoine qui vivait sa vie de tous les matins, avec du soleil qui ruisselait d’un ciel clair sur les petites charrettes chargées de fruits et de légumes et sur les éventaires qui encombraient presque toute la largeur du trottoir.409 Il pleuvait encore, ce matin-là; une pluie douce, morne, résignée comme un veuvage. On ne la voyait pas tomber; on ne la sentait pas et pourtant elle couvrit tout de laque froide et il y avait sur la Seine des milliards de petits ronds vivants.410 On était à ce moment-là au coin de la rue Rambuteau, non loin des Halles, dont on sentait la forte odeur. […] A cause du printemps, justement à cause de cet air champagnisé qu’il avait commencé à respirer la veille.411 [L]a fraîcheur de l’air obligeait à fermer la porte des cafés. […] Maigret reçut une bouffée odorante qui demeura pour lui la quintessence même de l’aube parisienne: l’odeur du café crème, des croissants chauds, avec une très légère pointe de rhum […].412 Hierdurch entsteht nicht zuletzt ein verstärkt ganzheitlicher und komplexer Stadteindruck; die Kombination von Wetter und Sinneseindrücken vermittelt den Eindruck eines erspürbaren Ortes. Durch die subjektive bzw. suggestive Vermittlungsqualität kann das Wetter dazu genutzt werden, einen Ort mit einer Wertung zu versehen, da die meteorologische Gestimmtheit sich auf die Stadt resp. Orte überträgt: Maigrets Stimmung, beeinflusst durch den Fall oder auch durch die Wetterlage selbst, wirkt sich auf die Wahrnehmung des Wetters aus, das wiederum die Wahrnehmung eines Ortes beeinflusst. Dies kann als atmosphärische Qualität unterstützend (bspw. Fälle 33, 63) oder irritierend kontrastiv (bspw. Fall 75) angelegt sein: C’était un hôtel de quatrième ordre, le type même de l’hôtel banal qu’on trouve à proximité de toutes les gares. […] Tout cela était gris, d’une propreté douteuse que soulignait encore le petit jour gluant de la pluie.413 Les pavés de la cour étaient luisant de la pluie […]. Aucun logement n’aurait eu l’air gai par ce temps-là. C’était une de ces journées mornes […].414 Le soleil frappait en plein les immeubles du quai de Valmy et c’était un soleil clair, si gai, qu’on pouvait se demander pourquoi ce quai-là avait une réputation sinistre.415 Durch das Wetter entsteht eine sensuelle Perzeptibilität von Paris, eine besondere leibliche Impression. Daneben modulieren Nebel, Regen und Sonnenschein ganz im Sinne Simenons ein Spiel mit den Dimensionen der Stadt, wie ihrer Verzerrung etwa mittels Lichteffekte und Schattenspiele; sie fungieren als Verfremdungseffekt, erschaffen fast surrealistische Kompositionen und irritierende Wetterlandschaften:

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Il tombait de la neige fondue […]. L’enseigne du Picratt’s était une des rares du quartier à être encore allumée et mettait comme des flaques de sang sur le pavé mouillé.416 Paris était toujours aussi fantomatique sous la pluie fine et sale, et les gens dans la rue avaient l’air de s’agiter avec l’espoir de sortir de cette espèce d’aquarium.417 [O]n ne vit plus que le petit feu rouge de l’arrière, que la nuit ne tarda pas à absorber. Un train quelque part, une chenille lumineuse qui s’étira dans le chaos nocturne.418 On sentait qu’elle sortait d’un autre monde, du monde de la nuit, et elle paraissait presque indécente dans la lumière crue d’une journée d’hiver.419 Il ne plut pas de la journée. Tout au moins n’y eut-il pas de pluie visible, mais les pavés restaient mouillés, plus gras à mesure que la foule les piétinait. [.] [V]ers quatre heures de l’après-midi, un peu avant que la nuit tombe, la même brume jaunâtre que le matin était descendue sur Paris, brouillant la lumière des lampadaires et des étalages.420 Le soleil frappait en plein le trottoir qui […] paraissait plus large.421 Tout cela était encore bien flou. […] il regardait le soleil qui […] plongeait lentement […] Il bâtissait […] [u]n monde tout gluant de soleil […].422 La nuit était fraîche. Un brouillard ténu montait des champs, formait comme des vagues s’étirant à un mètre du sol. […] il y avait un bruit grandissant de moteur et de ferraille. Une détonation éclata. C’était Maigret qui venait de tirer […].423 Basal können meteorologische Phänomene ein spannungssteigerndes Potenzial entwerfen, wie in La nuit du carrefour, oder in Verbindung mit Konstituenten der Stadt eine Beunruhigung oder Vorausahnung schaffen wie in Maigret au Picratt’s.

5.4 Wetter statt Stadt Durch diese Wettergestaltung und ihre Wirkung bildet sich eine enge Verschränkung des Wetters mit der Stadt und ihren Konstituenten, aus der eine Durchdringung und Indivisibilität der Parameter Stadt und Wetter resultiert. Dies exemplifiziert sich an Maigret et son mort: Les rues commençaient à sentir le printemps. […] Paris était clair et gai. Comme toujours vers la mi-février, on appréciait davantage les bouffées de printemps que lorsque le printemps était vraiment là, […] [le] fameux marronnier du boulevard Saint-Germain, qui, dans un mois, allait fleurir.424 Markanterweise bleibt das Wetter nicht ›am Himmel‹ sondern erscheint auf einer nächsten Stufe personifiziert ›am Boden‹ in der Stadt. Hierdurch entsteht gleichsam eine eige-

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ne Handlungsebene des Wetters. Durch das Agitationspotenzial des dynamischen Wetters gegenüber der Stadt kann das meist ausgeglichene Verhältnis signifikant kippen, wenn meteorologische Phänomene zum dominanten und zerstörerischen Element werden. Während der Wind in Pietr le Letton einerseits die Disposition der Figur Johanssons projiziert, entfaltet sich andererseits – unabhängig von der Figur – ein dezidiert negatives Potenzial: La tempête redoublait. Les rues étaient parcourues par des tourbillons qui donnaient aux passants des silhouettes d’ivrognes. Une tuile tomba, quelque part, sur le trottoir. Les autobus déferlaient. Les Champs-Elysées étaient transformés en une piste déserte. Des gouttes d’eau commençaient à tomber.425 Wind und Regen zeigen eine zerstörerische Kraft, sie beschädigen oder demolieren Teile der Stadt. Dieses Wetterpotenzial generiert sich nicht nur in den Herbst- und Wintermonaten, sondern auch im Sommer mittels extremer Temperaturen. Die Hitze beginnt die Stadt mürbe zu machen und in ihrer Substanz aufzulösen: »[P]ar un jour très chaude comme aujourd’hui, qui rend le bitume élastique sous les semelles et imprègne Paris d’une odeur de goudron.«426 Sowie: »Le soleil était chaud. Il y avait des heures où l’asphalte du Remblai mollissait sous les semelles et où les pneus d’auto laissaient en creux leur empreinte.«427 Auch Niederschlagsereignisse verändern die Konsistenz von Paris und erinnern fast an die matschigen Gassen der Cité in den Mystères de Paris: »[L]a neige avait tout à fait cesse de tomber, les rues étaient couvertes d’une mince couche de boue noirâtre et glissant.«428 Das Wetter prägt expressis verbis die Stadt und hinterlässt seine Spuren in ihr. Auf einer weiteren Stufe steht, nach der materiellen Zerstörung oder Auflösung der Stadt, die Dependenz der Existenzialität Paris’ von spezifischen Wetterlagen und meteorologischen Phänomenen, denn das Leben (in) der Stadt selbst ist abhängig von den Humiditätsverhältnissen und Temperaturen: Basal wirkt sich das Wetter etwa auf die Stimmung der Pariser und Pariserinnen aus: »Il pleuvait toujours. C’était une journée gluante. La plupart des gens, ce matin-là, étaient de mauvaise humeur.«429 Bei gutem Wetter fast unbemerkt, verdeutlicht sich bei extremeren Wetterlagen, wie sehr das Leben der Stadt beeinflusst ist: So können Wetterlagen Paris beleben, »le ciel rose que le crépuscule ne tardait pas à envahir, la place des Vosges tout peuplée d’une foule alanguie par l’été précoce«430 , sie können aber auch das Leben entziehen. So kommt es in Fall 77, ausgelöst durch den Sommer – »L’été était chaud«431 –, zu einer ›Flucht‹ resp. im übertragenen Sinne zu einer ›Exsanguinierung‹: »[L]es voitures formaient une masse compacte. On annonçait huit trains supplémentaires et la foule […] partout […] évoquait un exode. Tout s’en allait […].«432 Einige meteorologische Phänomene gestalten sich als derart dominant und wirkmächtig, dass sie eine Auflösung und Substitution der Stadt herbeiführen. Potenziell ist dies durch jedes Wetterphänomen erreichbar, in besonderer Qualität fungieren allerdings Humiditätsereignisse wie Regen oder Nebel.433 Sie transformieren die Dimensionen des Raums. So lässt der Nebel wie in Cécile est morte (1938) die Stadt schemenhaft werden und verschwinden:

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Le premier brouillard était une surprise […], surtout que ce n’était pas ce méchant brouillard jaunâtre de certains jours d’hiver, mais une vapeur laiteuse dans laquelle erraient des halos de lumière. […] Maigret s’achemina à pied vers la Police Judicaire, […] quand soudain, quelque gamine jaillissait en courant du brouillard et se heurtait à sa masse sombre. […] Il semblait que tout le Paris matinal […] s’amusait du brouillard […], et il n’y avait guère que les remorqueurs, sur la Seine qu’on ne voyait pas […].434 Von der Präsenz des Nebels geht in Cécile est morte keine Bedrohung oder eine Negativisierung der Stadt aus,435 vielmehr entsteht ein gewisser ›Zauber‹ bzw. die »tableaux météorologique«. Der Nebel verbirgt die Stadt, macht sie unsichtbar und wird alleinig zum erfahrbaren bzw. erspürbaren, präsenten Raum, er wird selbst zur Stadt.436 Ein similäres Potenzial entwickeln verwandte Humiditätsereignisse, hinter denen die Stadt zurückgedrängt wird, schemenhaft wird und verschwindet. In einigen Fällen wie 1, 5, 63, 74 oder 97 geht von der Wetterpräsenz eine Bedrohung und Beklemmung aus, die sich über die Metropole legt. Hier führt das Wetter zu einer Stadt, die nicht mehr solide ist. In extremen Fällen wie etwa in Maigret et le tueur (1969; Fall 97) verändert das Wetter die Topografie und Topologie der Stadt: »La moitié de ses paroles se perdaient dans la tempête. Les caniveaux étaient de vrais torrents par-dessus lesquels il fallait sauter, et les rares voitures envoyaient des gerbes d’eau sale jusqu’à plusieurs mètres.«437 Das Niederschlagsereignis des Starkregens transformiert metaphorisch die Dimension des Raumes und wandelt die Straße in einen reißenden Gebirgsbach. Dieses Wirkpotenzial hängt mit der besonderen Funktions- und Bedeutungszuweisung des Täters Bureau an das Wetter zusammen. Das Potenzial dieser Wetterlagen ist aber gerade abhängig von dieser Täterfigur. Die Aufweichung von Straßen, die Transformation des Stadtraums, die meteorologisch herabgesetzte Haftreibung in La tête d’un homme, mit der die Stadt wortwörtlich keinen Halt mehr bietet, findet sich besonders in Fällen, die einen gesellschaftlichen ›Verfall‹ resp. eine Veränderung des Verbrechens markieren (wie dem Mord an einem kleinen Mädchen, dem Serienmord, dem Wetter selbst als psychischer Trigger und Tatauslöser). In diesen Fällen ist die Superiorität des Wetters Ausdrucksfeld einer besonderen Amalgamierung des Wetters mit der Täterfigur, mit der gerade gesellschaftliche, moralische Fragwürdigkeiten oder psychologische Ansätze konstituiert und sichtbar werden. Diese durch das Wetter evozierte Liquidierung der Stadt korreliert zu einem gewissen Grad mit dem von Blanc propagierten Mord an der Stadt im polar resp. einem elementaren Funktionsverlust der gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Ebene: »La ville dont il parle [le polar] n’est pas urbaine. C’est une ville sans ville. Voilà le meurtre essentiel qui hante le polar.«438 In den Maigret-Romanen lassen sich drei Ebene der Wetter-Stadt-Relation ausmachen: I. Die Stadt wird in Verbindung zum Wetter besonders gestaltet und durch meteorologische Phänomene sowohl ein visueller Raumeindruck (von hell und weit zu düster und eng, sowie künstlerisch, ästhetisch) als auch ein multisensorischer gleichsam leiblicher Eindruck vermittelt.

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Katia Schorn: Mörderische Meteorologie II. Auf einer weiteren Stufe kippt das ausgeglichene Verhältnis und Wetterphänomene beeinflussen das Leben (in) der Stadt und werden zum dominanten oder gar zerstörerischen Element, welches gegen die Stadt wirkt und sie in ihrer Substanz beeinflusst. III. Auf der nächsten Stufe zeigen sich einige Wetterphänomene derart wirkmächtig über die Metropole, dass sie diese in ihrer Topografie und Topologie verändern und in extremis zu ihrer Auflösung führen.

5.5 Zusammenfassung •







Obzwar häufig mit Regen assoziiert, zeigt sich auch für die Maigret-Reihe keine Regendominanz, sondern vielmehr ein mannigfaltiges Wetter. Auch der Eindruck einer besonders hohen Anzahl an Wettererwähnungen, die zu einer starken Präsenz des Wetters führt, konnte statistisch falsifiziert werden. Die Darstellung des Wetters in der Maigret-Reihe ist im Vergleich zu den in den vorherigen Kapiteln behandelten Reihen deutlich ästhetisiert und für eine multisensorische Rezeption gestaltet. So zeichnet sich das Wetter durch die besondere Darstellung als mot matière – wie auch als ästhetisches Element behufs einer künstlerischen und besonders multisensorischen Gestaltung aus. Die simenonsche Gestaltung des Wetters eine jeweils fallspezifische Modulierung von ›Realität‹. Kommissar Maigret ist mit einer außergewöhnlichen Wetteraffinität ausgestattet, durch die meteorologische Phänomene häufig in den Blick geraten und eine auf Details bezogene multisensorische Darstellung befördern. Besonders zu Beginn der Reihe erscheint Maigret mit Charakteristika und Symptomen einer Highly Sensitive Person. Ein Indikator hierfür stellt das Wetter dar bzw. vice versa stellt Sensory Processing Sensitivity einen Erklärungsansatz bereit, warum dem Wetter eine gesteigerte Aufmerksamkeit zukommt. Dies lässt sich in Verbindung zu den einzelnen Phasen der Ermittlung setzen. Das Wetter wird für Maigret auch als Teil seiner Theorie der fissure von Anfang an Teil des deduktiven Prozesses und erhält damit eine adjuvantische Funktion im Sinne des Aktantenmodells. Aufgrund der unterschiedlichen Intensität und Variabilität innerhalb der Reihe, wurden drei Hauptkonnexionen zu Maigret ausgemacht: I. ›Maigrets Wetter‹ – Das Wetter ist unmittelbar mit Maigrets Disposition verbunden. Hierunter kann auch eine eher ›distanzierte Wetterwahrnehmung‹ gesetzt werden, wie sie in einigen Fällen vorkommt (bspw. Monsieur Lundi, L’étoile du Nord, Maigret et son mort). II. ›Wahrnehmungsästhetische Dimension‹ – Das Wetter ist als besonderes ästhetisches Moment konzipiert und hängt mit dem Opfer bzw. dem Motiv oder Thema des Falles zusammen (bspw. Liberty Bar, Mon ami Maigret). III. ›Täter Wetter‹ – Das Wetter ist auf unterschiedliche und in besonderer Weise mit den Täterfiguren verwoben (bspw. Maigret et le tueur).

5 Georges Simenon – Die Kriminalromanreihe mit Commissaire Maigret









Maigrets Haltung gegenüber dem jeweiligen Fall beeinflusst seine Wettersicht bzw. das Wetter seine subjektive Befindlichkeit, sodass sich hier eine Ouroborus-Gestaltung ergibt. Die hiervon ausgehende Wetterapperzeption Maigrets kann sich auf die Ermittlung auswirken oder Teil des deduktiven Prozesses werden, wie in Liberty Bar, indem das Wetter als Indikator für sein Einfühlen in das Opfer fungiert. Bei einigen Täterfiguren lanciert sich über das Wetter eine signifikante Konnexität zu Maigret, nicht nur als Ermittler, sondern mitunter auf sehr persönlicher Ebene. Hervorzuheben ist der Nebel, der auch in dieser Reihe eine Verbindung zu Identitätskonstruktionen aufweist (Pietr le Letton) oder für Maigret bspw. die identitäre Loslösung von einem Opfer (Liberty Bar) markiert. In La tête d’un homme entsteht im Nebel z.B. eine Verwischung der Trennlinie zwischen Charaktermerkmalen, die den Rollen des Ermittlers und Täters inhärent sind, und wirft die Frage nach den aus den jeweiligen Umständen resultierenden Schicksalen angesichts der Alter-Egos auf. Aus meteorologisch-kriminalliterarischer Sicht hervorzuheben ist der Täter Robert Bureau in Maigret et le tueur (1969). Das Wetter ist ursächlich für mindestens zwei Morde, denn gleichsam als extreme Form einer meteorologisch getriggerten psychischen Überreizung löst es das Mordverlangen als ›psychische Krise‹ des Täters aus. Extreme Wetter fungieren für diese Figur als Agent provocateur und als solcher geradezu als Sender im Sinne von Gremias’ Aktantenmodell. Im Rahmen des Kriminalromans bildet diese Meteokonzeption insofern ein avantgardistisches Moment, als dass die Funktion des Wetters als Agent provocateur in späteren Fällen etwa von Magnan (s. 6. Kapitel) aufgegriffen wird oder in deutlich abgeschwächter Form bei Vargas als unterschwelliger influenzierender Faktor auftritt.439 Bei den hier als ›besonders‹ herausgestellten Tätern fungiert das Wetter als Reflektor ihrer Persönlichkeit (Radek), ihres Status während der Tatphasen (Moncin) sowie als influenzierend für ihr Leben, scil. keinen Mord begehen zu wollen (Bureau). Diese Täterfiguren fallen in der Maigret-Reihe auf, da sie jeweils eine bisher ›unbekannte‹ Art des Verbrechers verkörpern. Das Wetter kann, wie im Falle Bureaus, als Auslöser der Tat am Ende des Romans als juristisch besonderer Umstand thematisiert werden. Mit Blick auf die singuläre Stellung der Maigret-Reihe als Subgenre ist markant, dass auch mit einem neuen Tätertypus eine bisher unbekannte ›Art‹ des Verbrechens im Kriminalroman eingeführt wird. Im einzelnen Roman wie über die gesamte Maigret-Reihe entsteht eine sehr spezifische meteo-sensorische Stadtdarstellung und Evokation bezüglich Paris. Hier zeigten sich verschiedene Intensitäten der Wetterwirkung auf die Seine-Metropole. Neben einem harmonischen Zusammenwirken von Wetter und Stadt gibt es Fälle, in denen meteorologische Phänomene deutlich die Hauptstadt dominieren. Einige Wetterlagen wirken sich auf die Substanzialität der Stadt aus, verändern ihre Konsistenz oder entziehen ihr das Leben. In einigen Fällen lösen sie die Stadt auf oder verändern ihre Topografie; bis es gleichsam zu einer durch das Wetter evozierten Liquidierung der Stadt kommt.

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6 Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi [C]rime et commissaire Laviolette ne sont que prétexte pour […] capter quelque soir, quelque matin.1

Während etwa 90 % der französischen Kriminalromane in Paris angesiedelt sind,2 lässt Pierre Magnan3 seinen Commissaire Laviolette in der Provence ermitteln und verlegt den roman noir au vert.4 Hiermit erhebt er die Region um Digne sowie den dort ansässigen Menschenschlag zum Markenzeichen seiner Krimireihe. Eine Besonderheit der Laviolette-Fälle ist aber nicht nur die Liebe des Autors zu seiner Region, sondern insbesondere zum Wetter, auf dessen Präsenz bereits Lebrun hinweist: »Si Magnan n’existait pas, il faudrait l’inventer. Ce romancier discret, amoureux de sa haute Provence, […] fait passer, dans des intrigues criminelles tragiques et fuligineuses, un grand souffle de mistral chargé de senteurs capiteuses.«5 Aber was hier idyllisch anmutet, ist in Wahrheit ein mörderisches Wetter: Es schützt Täter, führt Ermittler in die Irre und lässt Dorflehrer zu Serienmördern werden. Magnan begründet nach Lozzi die französische Variante des Regionalkrimis6 und steht gemeinsam mit Autoren wie Jean Amila oder Jean-Patrick Manchette am Anfang des polar rural,7 polar régionaliste resp. polar provençal. Erste Ansätze des französischen Regionalkrimis finden sich bereits um 1940, was etwa Poisson mit der Rekonstitution regionaler Werte zur Zeit des Vichyregimes verbindet, doch der polar rural entwickelt sich besonders in den letzten Dezennien in Frankreich als »fruit d’une généalogie, longtemps éclipsée par une forme de jacobinisme littéraire«8 . Er zeichnet sich grundlegend durch die Ansiedlung des Falls in einer bestimmten Region, nicht in der Metropole, und die enge Verbindung zu ihrer charakteristischen Landschaft aus.9 Hinzu kommen Faktoren wie die Regionalsprache,10 Kulinarisches, die Geschichte, aktuelle Ereignisse sowie soziale Gegebenheiten. Wegen des Blicks auf die soziale Situation stellt der Regionalkrimi für Jahn die »Fortsetzung des Soziokrimis mit anderen Mitteln«11 dar. Den Anstieg der Bucherscheinungen, d.h. die Popularität des polar rural resp. von regional, kulturell geprägten oder »autochthonen«12 Kriminalromantraditionen führt Vogt auf eine sich verändernde Welt zurück:

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Gerade in der globalisierten Welt, das haben wir inzwischen gelernt, wächst das Bedürfnis nach lokaler Orientierung, oder gar: nach Sicherheit in überschaubaren topographischen, sozialen oder auch kulturellen Räumen […]. Der Kriminalroman kann sich dies leicht zunutze machen, weil er zum einen seit seinen Anfängen mit der Dialektik von Störungen und Wiederherstellung der sozialen Ordnung, von subjektiver Bedrohtheit und dem Versprechen von Sicherheit spielt. Zum anderen […] weil er als […] eine Art Hyper-Genre alle möglichen anderen Genres integrieren kann […]. Und schließlich, weil die Kriminalerzählung seit ihren Anfängen in besonderer Beziehung zur Dimension des Raumes steht […].13 Mit den Fällen Laviolettes (1977–2000)14 nimmt die Region Basses-Alpes einen relevanten Part ein, mit dem Magnan nicht auf bloßes Lokalkolorit abzielt, sondern, wie er in Ma provence d’heureuse rencontre verdeutlicht, auf seine Perspektive und Verständnis der Provence: Sans doute serai-je le dernier à te chanter intacte… puisque tu es célébrée par des auteurs qui ne rêvent que cigales ou galoubets ou bien par d’autres qui ont fait partager au lecteur leur conception particulière de nos mœurs et caractères… et puisque désormais notre civilisation s’est éparpillée sous tant d’apports qui ne sont que surcroît, j’ai voulu murmurer ma propre vérité.15 Magnan beschreibt keine klassische Krimi-Idylle,16 sondern erkundet eine tiefere Schicht der Region, ihre Mystik und Menschen.17 Der Geograf Briwa sieht hierin eine »particular vision of Provence through crystallizing a distinct regional place identity«18 . Durch die Einbindung der Landschaft und der Regionalität sei Magnan zudem ein »place-defining novelist, which means that his works project a sense of what it means to be in Provence to a numerically large and geographically far-flung audience. […] and shape the way that they [the readers] understand a particular place«19 . Wesentlich hierfür sei die Darstellung und Wirkung der Landschaft: Magnan’s rivers and storms are destructive and noisy, and these two characteristics, like his treatment of Provence’s rough ground and flora, serve to create a sense of place which evokes feelings of danger and a recognition of human insignificance.20 Magnan builds […] emotional reactions to Provence […] by describing the landscape in a holistic way, and the harsh physical topography of Provence is inextricably linked to its fierce weather. This helps develop the idea that the landscape is a powerful, untamable entity which consistently challenges and overcomes the Provençaux who live there.21 Im Zuge von Briwas primär geografischer Perspektive wird allerdings der Gattungsbezug, d.h. die jeweilige Mordserie, ausgeklammert.22 Dieser lässt sich jedoch sowohl mit der Perspektive Magnans (»propre vérité«), als auch mit place identity und place defining verbinden. So erscheint auf einer ersten Stufe der Raum des Verbrechens und der Aufklärung als kulturell geprägter Raum und macht das Konzept fruchtbar, das der Ethnologe Geertz als local knowledge bezeichnet und das mit Vogt insofern als Qualitätskriterium für

6 Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi

die Art des Kriminalromans betrachtet werden kann,23 als das »Wissen um bzw. die Einsicht in kultur- oder milieuspezifische, regionale lokale […] Zusammenhänge […]: Topographien und Räumlichkeiten, Traditionen, Mentalitäten, Praktiken usw. […] konstitutiv sein können« für das Motiv, den modus operandi sowie für die Ermittlung.24 Dieses Cluster weisen die Laviolette-Fälle auf. An den Ermittlern Laviolette und Chabrand, einigen Täterfiguren wie Nebenfiguren zeichnet sich die Konstitution einer regionalen Verbundenheit, das Wissen um kulturelle und regionale Zusammenhänge, Gepflogenheiten sowie das Interesse an der Lokalgeschichte ab. Ebenso haben die Aspekte Relevanz für die Aufklärung der Fälle. Es ist etwa Laviolettes25 Wissen um die fillette chaude,26 die gleich im ersten Fall zum Ausschluss eines falschen Verdächtigen führt, das Erkennen eines mourrail incantatoire (Beschwörungsschleiers), das im dritten Fall den Täterkreis einengt, aber es sind auch regionalspezifische Wetterkenntnisse, die in die Überlegungen des Ermittlers einfließen. Einzelne Wetterlagen sind damit als Teil des local knowledge des polar rural kategorisierbar. Doch die Kategorisierung des Wetters als ein Baustein des polar rural und als Teil der Topografie greift zu kurz. Extratextuell gründet sich dies in der ungewöhnlichen Signifikanz, die Magnan den Naturphänomenen gegenüber dem Genre beimisst: »On aura bien compris que crime et commissaire Laviolette ne sont que prétexte pour saisir ou capter quelque soir, quelque matin qui se couche et qui se lève sur la pauvreté désolée de ces terres pathétiques […].«27 Das Genre Kriminalroman als reines Vehikel für die Darstellung von Wetter und Sonnenuntergängen zu wählen, scheint auf den ersten Blick nicht gerade naheliegend. Dies wirft nicht nur die Frage nach einer möglicherweise außergewöhnlichen Darstellung auf, sondern auch die, ob speziell das Wetter mit den Täterfiguren und der Ermittlerfigur verknüpft und in diesem Sinne funktional wird. Verdaguer bemerkt bezüglich der Erzählweise bereits eine Veränderung im Vergleich zum ›klassischen‹ Kriminalroman und führt aus: »Le sang des Atrides (1977), […] se lit comme un polar très conventionnel, mais qui n’emporte pas moins en germe le principe d’une mutation.«28 Zudem hält er für die Reihe fest, ihre Bücher »débordent […] les limites de ce genre qui les accueille, que l’on nommait ›judiciaire‹ au dix-neuvième siècle«29 . Für Verdaguer hängt dies mit einer »assimilation progressive de l’histoire policière au conte«30 zusammen. Aber wäre es in Verbindung mit der Aussage Magnans möglich, dass der Eindruck einer Modifikation aus der Verquickung des besonderen Status des Wetters mit dem Genre resultiert? Denn die Darstellung einzelner Wetterphänomene sprengt, so ließe sich pointiert formulieren, sowohl quantitativ als auch qualitativ die Gattungsgrenze jedes roman judiciaire: Ausgewählte Wetterphänomene sind nicht nur personifiziert, sondern erscheinen als »Figur«:31 So figuriert in Le sang des Atrides der Wind als helfende, väterliche Instanz für den Täter und wird als St. Pancratius identifiziert. Dies ließe sich auf fast paradoxe Weise mit Magnans Bemerkung »j’ai remplacé Dieu par la nature«32 verknüpfen. In Fall drei allerdings gibt es diese Identifikation nicht, vielmehr scheint das Wetter als psychotroper Faktor zu fungieren, der Commissaire Laviolette in eine Art Trancezustand versetzt. Und insgesamt zeigt sich die Relation des Wetters zur detektivischen Instanz in dieser Reihe nicht konstant, denn sie schwankt in Intensität und Apperzeption: Wetter ist mal physikalisches Phänomen, mal als wahrnehmungsästhetisches Moment,

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mal metaphysische Ebene, weist mal eine inhärente Gefühlsmagie auf, erscheint als paranormale Komponente, mal als agierendes Individuum. Auf den ersten Blick wirkt diese Variabilität willkürlich. Doch was prima facie arbiträr erscheint, folgt, so die These, einer meteorologischen Konzeption: Das Wetter hängt in erster Linie mit der besonderen Konzeption der Täterfiguren zusammen und wirkt von diesem Punkt aus als Nexus erstmals auf die Relation der ermittelnden Instanz. Goulven Térénez, Albert Pipeau, Évangeline Pécoul, Cordélie, Alcide Régulus33 : Als Täterfiguren ist ihnen gemein, dass sie alle als Serienmörder bzw. Serienmörderin konzipiert sind. Dies ist insofern bemerkenswert, weil erst »ab Mitte der 80-er Jahre […] die Figur des Serienkillers in den akzeptierten Bereich der mainstream-Literatur«34 gelangt. Als literarische Serientäterfigur35 ist ihnen zudem eine Besonderheit inhärent, die Schwab anschaulich formuliert: Als Kunstfiguren […] sind Serienkiller alles andere als monströs, pathologische Einzelfälle menschlicher Destruktivität. Sie sind auf ihre Art dekonstruktivistische Abziehbilder unserer neuzeitlichen, modernen Existenz. Anhand ihrer Geschichten lassen sich Inhalte vermitteln, die weit über eine individuelle Fallgeschichte hinausgehen und mit deren Hilfe eine Vielzahl philosophischer, soziologischer und auch wahrnehmungsästhetischer Ideen verhandelt werden können.36 Die Taten der Serientäterfiguren verweisen jeweils auf ein spezifisches Themenfeld,37 darunter identitäre Problematiken, physische und psychische Gewalt gegen Frauen, die Korrelation zwischen Aberglauben und Moderne, die Klimatologie.38 Die individuelle Konzeption des Wetters nimmt hier, so scheint es, mit der Disposition und Konzeption der Täterfigur seinen Ausgangspunkt: So agiert bspw. das personifizierte Wetter für den kindlichen Täter Térénez protektiv. Mit dem Wetter hängt das Motiv des Serientäters sowie die damit verbundene Thematik zusammen. Diese Verknüpfung tangiert die anderen Konstituenten des Kriminalromans und wirkt sich auf die Relation zwischen dem Wetter und dem Ermittler aus: I. Im Einzelfall entsteht für Laviolette eine Kohärenz zwischen der Wetterbedeutung und spezifischen Aspekten der Konzeption der Täterfigur, wie in Fall drei die Wetterwirkung und die inszenierte Mordserie. II. Wandeln sich die Apperzeption und Bedeutungszuschreibung des Wetters durch die detektivische Instanz.

Dies geschieht sukzessive, d.h. eine Modifikation der Wetterästhetik Laviolettes wird in einem Fall angelegt und im Folgenden wirksam. Mit der Signifikanz des Wetters und der Verbindung zur Täterfigur steht im Einzelfall nicht mehr die Detektivfigur im Zentrum des Wetters, sondern das Motiv des Serientäters, das mit dem Wetter verquickt ist. Von diesem Ausgangspunkt aus gestaltet sich sodann die meteorologische Faktur. Um der individuellen und sukzessiven Veränderung innerhalb der Krimireihe nachzugehen, werden die ersten fünf Fälle chronologisch nach folgenden wechselwirksamen Punkten beleuchtet:

6 Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi

• •

Disposition der Täterfigur und die Relation des Wetters Laviolette: I. Wetter für die Ermittlung sowie II. das Wetter für Laviolette

6.1 Le sang des Atrides Tandis que le soleil baissait à l’horizon, le saint de glace darda quelques têtes noires de nuages.39 Im ersten Fall Le sang des Atrides40 ereignet sich in Digne eine Mordserie, bei der mehrere attraktive Männer mit jeweils einem Kieselstein getötet werden. Während Laviolette dazu auffordert, man möge ihn über jede neue ›Bekanntschaft‹ informieren, knüpft Untersuchungsrichter Chabrand amouröse Bande und gerät ins Visier des Täters; nur knapp kann er bei einer nächtlichen Verfolgungsjagd dem Mörder entkommen. Als Täter ermittelt Laviolette schlussendlich den Jugendlichen Goulven Térénez, der als Mordwaffe eine Steinschleuder benutzt. Mit Le sang des Atrides ergibt sich ein scheinbarer Widerspruch zur Aussage Magnans, die Laviolette-Fälle seien ein Vorwand, um über Naturphänomene zu schreiben, wenn Chavagné konstatiert: »[P]ourtant la nature est absente, il se passe à Digne, c’est paradoxalement votre [Magnans] livre le plus urbain.«41 Tatsächlich erscheinen Flora, Fauna und Landschaft nicht, doch gerade dies unterstützt die Präsenz und Wirkung des Wetters als prävalentes Element und, wie Magnan festhält: »C’est ce qui dominait à Digne!«42

6.1.1 Der Tathintergrund und das Wetter Der jugendliche Mörder, Goulven Térénez, tötet mindestens vier Menschen mit einer Steinschleuder. Der psychologische Erklärungsansatz für die Mordserie basiert auf der Idee des ›Schocks‹, der ›Urszene‹, wie sie Freud bezeichnet, weil Goulven seine Mutter als Opfer einer Misshandlung oder Überwältigung im sadistischen Sinne sieht.43 Retrospektiv beschreibt Goulvens Schwester gegenüber Laviolette den Moment und dessen Wirkung auf Goulven, als sie zufällig durch einen geheimen Spiegel im Schrank in das Schlafzimmer der Mutter blicken: Ma mère… Et l’autre… […] Goulven n’avait pas encore douze ans… Marie-Aimée […] lui avait posé sa main sur la bouche, mais on l’entendait quand même proférer: ›Je le tuerai! Je le tuerai!‹ […] Lui, le pauvre gosse, il imaginait ma mère avilié méprisée, battue […]44 Auf diesem, nach Freud traumatischen, Erlebnis45 baut das Motiv der Mordserie auf. Das Gesehene entwickelt sich allerdings nicht nach dem Freud’schen Ansatz zeitlich versetzt zu einer späteren Neurose, etwa einer Zwangsstörung, sondern zum unmittelbaren Wunsch der Tötung. Die Morde fungieren jeweils als semiotische Verschiebung des nicht artikulierbaren, nicht verstandenen Erlebnisses46 in einen Gewaltakt, der gleichsam wie ein Spiegel auf den vermeintlichen ›Täter‹ zurückweist. Durch das Gesehene

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und die Intervention seiner Schwester wird Goulven in einen psychischen Grenzbereich gebracht, sie (die Schwester) forciert die Fixierung und metaphorische ›Verwandlung‹ in die Figur des Orest.47 Diese Figur schafft fernerhin eine Verbindung zum verstorbenen Vater (Agamemnon; Alcide Térénez) sowie über die Mordwaffe zum Großvater.48 Markanterweise ist es ein Wetterphänomen, das Goulven dazu anhält, auf dem Dachboden zu stöbern, wo er die Mordwaffe findet: »une fronde qui avait appartenu à mon grandpère […]. Il l’avait trouvée, un jour de pluie […]«49 . Bedeutend sind die Schuhe des Vaters, die Goulven während der Morde trägt, um Irène Térénez zu »rächen«. Goulven nimmt durch diese in pluraler Weise symbolisch die Rolle des Vaters ein. Deutlich wird dies mit den Schuhabdrücken im Schnee, es sind nicht die Goulvens, sondern die von Alcide Térénez.50 Goulven verbindet mit meteorologischen Phänomenen keine tiefere Bedeutung, nutzt aber etwa den Nebel, um sich zu verbergen, oder den Schnee, um mit der Polizei zu spielen. Spezifische Wetterphänomene indes weisen einen besonderen Bezug zu Goulven auf. Durch die Darstellung, die Personifizierung und die Ausgestaltung mit bestimmten Charakterzügen erscheint das Wetter insbesondere an zwei Stellen protektiv. I. Es deutet sich mit der Darstellung des Schnees eine divine und transzendente Vaterfigur an. II. Der Wind am St.-Pancratius-Tag (12. Mai) erscheint als helfende und unterstützende Figur für den jugendlichen Serientäter. Auffallend ist die Verbindung dieser adjuvantischen Wetterphänomene untereinander, da sie entweder einen Aggregatzustand von Wasser aufweisen (Regen, Schnee) oder damit assoziiert werden können, denn St. Pancratius ist einer der Eisheiligen51 .

Die Wetterphänomene haben einen divinen Nexus auf und so ist auch die Aussage Laviolettes als meteorologisches Leitmotiv lesbar: »Le ciel est avec l’assassin!«52 Entsprechend verschleiert das Wetter wiederholt Hinweise, die den Täter unmittelbar enthüllen würden: Wegen des Nebels sehen die Wildschweinjäger den Täter verschwommen,53 ein anderer Zeuge kann ihn nur am Ufer der Bléone nach Steinen suchen hören.

6.1.1.1

Der Schnee

Goulvens Erfolg, nach mehreren Morden nicht von der Polizei gefasst zu werden, verführt ihn in Laviolettes Perspektive dazu, mit den Ermittlern zu spielen: »[L]’élément jeu […] il se met à se montrer en clair-obscur […] Et il nous laisse cette superbe empreinte dont il sait qu’elle ne nous conduira nulle part! […]: l’assassin joue!«54 Dieses Spiel ist nicht das aus einem Gefühl der Überlegenheit resultierende Spiel eines Erwachsenen,55 sondern potenziell das Ausleben der infantilen Seite, verbaliter ein jeu de chache-cache, um nicht zu sagen Mörder und Gendarm, bei dem Goulven Spuren im Schnee hinterlässt und die Ermittler im Zickzack durch Digne lenkt. Dies mag auf eine gute Wetterkenntnis des Täters verweisen, da er einschätzen kann, wann der Schnee fällt und damit die Spuren vernichtet – oder aber Goulven betrachtet dies in seinem kindlichen Leichtsinn indifferent.

6 Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi

Tatsächlich greift der personifizierte Schnee in die Handlung ein und manipuliert die Spurenlage. Damit ermöglicht er die spielerische Fährte, beendet aber kurz darauf die Verfolgung und verhindert, dass Laviolette und Chabrand Goulven zu nahe kommen: [C]e ciel […] s’écroula d’un coup. Il s’écroulait blanc, en silence, mais dans une aveuglante malédiction qui défiait les efforts des hommes. Les flocons étaient gros comme des disques de monnaie du pape. […] Au sol, avec une effarante rapidité, les traces se comblaient. […] Quand les deux hommes atteignirent la cathédrale Saint-Jérôme où elles les avaient conduits, ils virent s’effacer devant eux les derniers vestiges de ces traces, sur les marches immaculées du parvis. […] L’épaisseur de la couche était telle que Gassendi paraissait coiffé d’une tiare papale.56 Der Schnee wird als transzendente Macht gezeichnet. Er ist nicht nur personifiziert, sondern evoziert über die Verortung und das Vokabular eine Assoziation als Gottvater bzw. zum Vater; dies geschieht über die Ähnlichkeit der signifiés und signifiants »pape« – »papa« sowie die Verbindung »pape« (Heiliger) Vater – (Himmlischer) Vater – (irdischer/biologischer) Vater für Goulven. Da der Schnee die Funktion einnimmt, gegen die Ermittler zu arbeiten, entsteht kein friedliches Bild. Mit der Protektion Goulvens einher geht die temporäre ›Verwünschung‹ der Ermittler, die vom Schnee ›geblendet‹ sind und denen die Sicht, die Spur, genommen wird. Der Schnee lässt Laviolette und Chabrand zunächst nichts mehr sehen – nicht mehr als die Abdrücke, die sie in die Irre führen. Hervorzuheben ist bezüglich des Schnees gerade die falsche Identität, die mittels des Schnees entsteht, indem der Sohn die Spuren des Vaters hinterlässt.

6.1.1.2 Der Wind – St. Pancratius Das vierte Opfer Goulvens ist Chevalière Adélaïde de Champclos, eine betagte Dame, die Goulven nicht nur beobachtete, sondern auch mitteilte, ihn als Mörder erkannt zu haben. Vor, während und nach dem Mord an ihr ist das Wetter personifiziert und wird retrospektiv mit St. Pancratius verbunden resp. als dieser identifiziert. Das Wetter weist hierbei einen theodizeeischen Nexus auf, aber auch eine dezidiert ›böse‹ Komponente. Nicht zuletzt, so verdeutlicht die Erzählinstanz mokant, steht hinter dem Verhalten der Wetterlage, der Unterstützung des Täters, ein gewisser Eigennutz: »Mettant son mauvais temps proverbial entre l’assassin et la justice, il s’était cruellement vengé d’avoir été bouté par l’Église hors du calendrier des Postes.«57 Die Wetterlage bringt Gewalt und Unheil nach Digne und präfiguriert phantasmatisch die nächste Bluttat: »Il [le vent] revenait à fond de train. On l’entendait là-haut déchirer ses ailes maléfiques contre les barres des Clues. Il piqua sur Digne de tous les côtés à la fois, soufflant un étrange tumulte […].«58 Der Wind figuriert mit seinen »ailes maléfiques« als dunkler Engel. Die sensuelle Evokation, haptischer (déchirer, barres, piqua) und auditiver (entendait, soufflant) Natur, wird während des Mordes an Adélaïde de Champclos als Verbindung zum Täter aufgebaut und letal wirksam. Markant ist die konstante ›christliche‹ Verbindung, die sich vom Schnee zu St. Pancratius zwar fortsetzt, aber durch die Isotopien eine Verschiebung vom ›guten‹ zum ›bösen‹ Wetter erfährt.

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Zunächst begeht Digne das Fest am 12. Mai bei bestem Sonnenschein.59 Während des Trubels sitzt Mme de Champclos auf einer Café-Terrasse, wo ihr ein an Goulven adressierter Brief zu Boden fällt, in dem sie ihn als »mon cher petit assassin«60 anredet und damit als Täter identifiziert. Bemerkenswert ist, dass in diesem Augenblick das Wetter geradezu umschwingt: Tandis que le soleil baissait à l’horizon, le saint de glace darda quelques têtes noires de nuages […] Il s’abattit d’un seul coup. Un éclair […]. Un tonnerre […], un énorme seau d’eau qui s’abat sur tous […] un seau d’eau inépuisable: au bout d’une minute à peine, les caniveaux regorgeaient.61 Es scheint, als würde das Wetter des Briefes gewahr und seinen Unmut kundtun. Im Gegensatz zum Schnee birgt St. Pancracius’ Wetter ein gewalttätiges Potenzial und attackiert noch vor Goulven Mme de Champclos, als diese sich auf dem Heimweg befindet: »La douairière fut attaquée en traître par ce souffle incongru […].«62 Mit diese Konduite des Windes wird die vom Schnee ausgefüllte beschützende Funktion des Wetters zur Tatgemeinschaft ausgebaut. Sie zeichnet sich zunächst in der Agitationsparallelität von Täter und Wetter ab; so bleiben beide bis zum Mord unsichtbar: »[O]n ne vit pas venir le saint de glace dans ses œuvres.«63 Das Luftphänomen (als solches per se eher unsichtbar) lenkt durch seinen auditiven und physischen Effekt das Opfer ab und verbirgt dergestalt die Präsenz des Täters im Garten. Erst im letzten Moment sieht Mme de Champclos Goulven. Die Verbindung zwischen Wind und Goulven kulminiert schließlich im Tötungsakt. In der Gewalttat vermischen sich das Geräusch des Windes und des Kiesels (Mordwaffe) wie die Bewegung (Steinschleuder) des Täters und der Atem des personifizierten Windes zu einer Einheit: »Le vrombissement tendu de l’arme tourbillonnante se confondit dans le souffle de la tempête.«64 Nach der Tat verschwindet Goulven vom Tatort, doch der Wind bleibt zurück, um die Geheimnisse und Erinnerungen Adélaïde de Champclos’ (metaphorisch) aufzulösen »[L]es mystères un à un se dissolvaient dans le vent.«65 und die Spuren zu verwischen: Hierzu zählt auch der Brief, den der Wind ›gezielt‹ vom Tatort entfernt: [L]e cabas se gonflait sous le vent comme une parachute. Enfin, la force ascendante de la bourrasque le fit basculer et l’arracha brutalement aux liasses de billets et de titres, au milieu de quoi était blottie la lettre à l’assassin.66 […] Le vent s’y reprit à trois fois avant de réussir à lui [lettre] faire franchir la grille.67 Nachdem diese Grenze des Tatortbereichs überwunden ist, wirbelt der Wind den Brief in die Stadt und beginnt mit ihm zu spielen »como lo hace un niño con un balón (ese juego se parece a un dramático partido de rugby) y el autor utiliza los vocablos plonger, rouler, saisir, plaquer, envoyer para describir esa escena«68 . Prima facie zeichnet sich hier ein infantiles Verhalten ab, offenbart aber ein regressives Moment, insofern es als Fußballspiel lesbar ist, das Alcide Térénez nicht mehr mit seinem Sohn austragen kann und das stellvertretend die beschirmende Windfigur spielt: »[L]e vent la dressa sur sa tranche et la fit rouler sur ses quatre angles en une translation complètement absurde, mais parfai-

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tement efficace.«69 Die Translation der Aufgabe des Vaters an den Wind mag aberwitzig erscheinen, erweist sich aber als »parfaitement efficace.« Ferner zeigt sich ein medisanter Humor, denn similär zu Goulvens Spiel mit der Polizei (Schuhabdrücke) spielt der Wind mit den Hinweisen, als er den Brief gegen die Windschutzscheibe eines Polizeiautos weht und so für einen kurzen Moment dem Beamten im wahrsten Sinne des Wortes den Namen des Mörders vor Augen hält: Le vent joueur saisit l’enveloppe voyageuse par le dessous et la plaqua contre le parebrise d’une 504 de la police, le côté portant le nom du destinataire tourné vers l’intérieur. Ce fut l’espace d’un éclair, le temps pour le conducteur d’apercevoir le bout de papier, non celui de lire ce qui était écrit dessus; le vent le confisqua aussitôt […].70 Für wenige Sekunden erfüllt der Brief seine eigentliche Funktion, kann aber nicht als Nachricht, geschweige denn als Spur gelesen werden. Ironischerweise misst Laviolette selbst dem Brief keine Bedeutung bei: »Il freina a mort. Il crut voir une souris. Il avait horreur de les écraser. Mais non, […] c’était un simple bout de papier.«71 Der Brief endet im Rinnstein, wo ihn nicht minder ironisch zahlreiche »patrouilles vigilantes«72 überfahren. In diesem Moment lässt der Wind den Regen zu, um den Brief zu vernichten: »[B]rusquement le vent tomba et la pluie qu’il retenait se mit à danser dans la ville, en longues draperies ondulatoires.«73 Die lange meteorologische Darstellung endet mit dem sarkastischen Erzählkommentar, der das Wetter als Manifestation bzw. von St. Pancratius gesandt identifiziert: On ne peut pas faire un chef-d’œuvre éternel avec une plume d’oie et un encrier d’encre violette Baignol & Farjon, surtout quand saint Pancrace s’en mêle. Mettant son mauvais temps proverbial entre l’assassin et la justice, il s’était cruellement vengé d’avoir été bouté par l’Église hors du calendrier des Postes.74

6.1.2 Das Wetter als Spur für die Ermittlung? Für Laviolette ist das Wetter in seinem ersten Fall noch weitgehend ein Naturphänomen ohne besondere Bedeutung. Einzelne Wetteraspekte sind auf der Seite der Ermittler primär für die Spurenanalyse und Deduktion relevant. Dies mag prima facie an den Gaboriau’schen roman judiciaire erinnern, dies sowie die ›romantische‹ Implikation des Untersuchungsrichters Chabrand an Daburon in L’affaire Lerouge; allerdings wird der Richter durch die Naturphänomene in Le sang des Atrides zum designierten Opfer des Serientäters. Die Bedeutung und die Funktion des Wetters im Ermittlungsprozess werden an vier Ansatzpunkten expliziert: • • • •

Saisonalität als Hinweis auf die Tatwaffe Schnee als Spurenträger Schnee als Spiel des Täters Naturphänomene als Verhaltensmuster des Serientäters

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6.1.2.1 Saisonalität als Hinweis auf die Tatwaffe In der tödlichen Kopfwunde des ersten Opfers werden Rückstände von Quarzsand und im Unfallwagen des zweiten Opfers ein Kieselstein gefunden. Scheinbar bedeutungslose Details. Doch bei einem Spaziergang Chabrands an der Bléone wird das Wetter zum saisonal-olfaktorischen Trigger, der den Quarzsand zum Hinweis erhebt: Il y a les odeurs ordinaires qui enseignent la saison du chamois, celle du génépi, celle des cèpes… Et puis il y a aussi, deux ou trois fois par siècle, une odeur caractéristique de roche délitée […] C’est le Guil qui pousse devant lui deux ou trois mille mètres cubes d’agrégats à peine liquide. […] Alors, ce jour-là, deux ou trois fois par siècle, si on n’a pas bien dans la tête son dictionnaire d’odeurs… […] Il ouvrit un tiroir de son bureau et en sortit un objet […]: un galet de Bléone.75 Angeregt von der Erinnerung an den Geruch des Guil nach Quarzsand erscheint Chabrand der im vermeintlichen Unfallwagen gefundene Kieselstein in einem neuen Kontext, scil. als ein Bestandteil der Tatwaffe: sie besteht aus »un galet de Bléone« und einer Steinschleuder. Markanterweise resultiert aus dieser Beobachtung und Überlegung frühzeitig ein Hinweis auf den Täter, der aber von den Ermittlern nur eingeschränkt zugelassen wird: Der Serientäter ist ein Kind.

6.1.2.2 Schnee als Spurenträger und zur Irreführung Das spurentechnisch bedeutsamste meteorologische Phänomen in Le sang des Atrides ist der Schnee, der ähnlich wie in Monsieur Lecoq als Spurenträger fungiert. Diese Funktion wird allerdings nicht allein reproduziert, sondern als analytisches Element kritisch hinterfragt und schließlich aufgelöst. Als das dritte Opfer, der Philosophielehrer Hospitalier, getötet wird, fallen »cinq centimètres de neige«76 . Der Schnee auf dem Platz von Digne wird gar nicht erst als pittoresk beschrieben; vielmehr steht unmittelbar seine Beschaffenheit und damit seine Funktion als Spurenträger im Vordergrund, denn aufgrund der mangelnden Hinweise auf den Täter setzten die Polizisten ihre Hoffnung in den Schnee: La neige était molle mais compacte, tombée nouvelle d’une heure à peine, sur les vieux tas sales de l’ancienne qui fondait le jour et se figeait la nuit, au bord des voies déblayées. […] Ça doit parler cette fois! Ça doit parler!77 Ähnlich wie bei Gaboriaus Lecoq entsteht durch den Blick auf den Himmel und den nahenden Wettereinsatz Spannung aufgrund der drohenden Zerstörung der Spuren, forciert durch die suggestive Wortwahl: »Au-dessus d’elle [statue de Gassendi] et des lampadaires, un ciel plombé comme une tombe menaçait ruine.«78 Doch bevor es anfängt zu schneien, offenbart der Schnee zwei Hinweise: I. Das Opfer nutzte den Schnee verbaliter als Einschreibefläche, um die Buchstaben »OR« zu schreiben. Die Lösung der Mordserie ist somit als Hinweis auf die Identität des Täters in den Schnee geschrieben, birgt aber selbst eine zweifache Verschlüsselung. Denn die Buchstaben »OR« im Schnee gehorchen nur teilweise

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der Funktionslogik der Schrift; auf dieser Ebene sind sie bereits unvollständiger Teil, d.h. Verweis auf das vollständige Wort, das selbst eine Codierung enthält. Hospitalier schreibt damit selbst eine Art Geschichte, indem er die Ermittlung in eine Richtung weist und mit »OR« nicht zur Aufklärung, sondern zur Verrätselung beiträgt. So wird »OR« von den Ermittlern etwa als die Initialen des Mörders gelesen. Dies ist eine für einen Krimi geradezu klischeehafte Interpretation, die, nachdem »OR« die Ermittler in die Irre geführt hat, Laviolette fast als Metakommentar mokant reflektiert: »Quand nous voyons ›OR‹, comme dans un roman policier de troisième ordre, nous cherchons tout bêtement d’abord s’il s’agit du débout du nom de l’assassin, désigné par sa victime […].«79 Das zweite Problem der Schneebuchstaben offenbart sich damit – neben der nur teilweise erfüllten Schriftfunktion – in ihrem Status als Spur selbst bzw. im Moment des Spurenlesens: in der Ungewissheit ihrer Deutung und Interpretation, die sich auf den fehlenden Referenzrahmen gründet, auf den das Opfer durch sein (Literatur-)Wissen rekurriert und der zugleich Handlungsrahmen der Täter ist. Die Entschlüsselung und Kontextualisierung des Hinweises »OR« des Philosophielehrers gelingt aber erst mit der Identifikation des Serientäters und der Aufdeckung des Bezugs zu Orest. Bis dahin bleibt die Spur im Schnee unentschlüsselbar. II. Der zweite Hinweis ist eine Schuhspur auf dem Sockel des Gassendi-Denkmals: »[C]’était la chaussure de l’assassin imprimée dans la neige vierge et durcie, parfaitement intacte.«80 Ein perfekter, kriminaltechnisch verwertbarer Schuhabdruck, durch den für Chabrand klar ist, der Täter »a commis une erreur. La première! Cette empreinte doit nous conduire jusqu’à lui.«81 Die Abdrücke offerieren scheinbar Rückschlüsse auf die Kleidung (Schuhe Größe 39, Vorkriegsmodell) und Physis (Größe und Genu valgum) des Täters. Während Chabrand ähnlich verfährt wie Tabaret in L’affaire Lerouge, löst sich Laviolette von diesem Ansatz und blickt hinter das Sichtbare der Schneespur: »Voyez-vous, juge, […] j’ai l’impression que cette empreinte, loin de dissiper le mystère, va l’épaissir encore!«82 Obwohl er es mit einem Abdruck in optima forma zu tun hat, ist Laviolette an dieser Stelle bewusst, dass etwas mit dem Abdruck nicht stimmt. Die Kompetenz Laviolettes liegt mithin nicht im eigentlichen Erkennen der Spuren und ihrer Betrachtung als unzweifelhafter Hinweis, sondern in der Infragestellung. Laviolette durchschaut, dass Spuren, die der Täter am Tatort hinterlässt, nicht immer das sein müssen, was sie zu sein scheinen.83 Das Besondere der Spuren im Schnee gründet sich in ihrer Ambivalenz, weil sie zugleich auf eine richtige und eine falsche Fährte weisen. Tatsächlich lassen auch sie sich in ihrer Bedeutung erst mit der Identifizierung des Täters vollständig decodieren: Der Täter ist ein Jugendlicher, der bei den Taten die Schuhe des verstorbenen Vaters trägt. Die Spuren im Schnee lösen einen Teil des Rätsels, insofern sie auf einen Jugendlichen verweisen, vertiefen es aber gleichzeitig, da der originäre Träger (Größe 39, Genu valgum) nicht gefunden werden kann. Der Schnee eröffnet gegen die Ermittler ein Spiel mit den Spuren und den Identitäten. Es ergeben sich Hinweise auf die Identität und Motivik des Täters bzw. der Täter, die aber pointiert ohne die Identität des Täters selbst weder korrekt deutbar noch verständlich sind. Mittels der Schneespur zeigt sich eine Problematik, wie sie Thomas

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für (faktuale) Täterfiguren ausführt: »Die Handlungsmotivationen von Serienmördern resultieren […] aus dem Wechselspiel von psychischen und sozialen Prozessen, aber sie entspringen Bedürfnissen und Vorstellungswelten, die sich aufgrund der Spuren- und Befundlage nicht unmittelbar erschließen lassen.«84 Bei Laviolette verknüpft sich dies auf der fiktionalen und fiktiven Ebene mit dem Spiel des Täters. Die Spuren im Schnee weichen ferner von einer explizit deduktiven Funktion ab, weil ihnen durch die intentionale Nutzung des Täters eine weitere Bedeutungskomponente zukommt: Sie werden nicht unbeabsichtigt, als »erreur«85 , sondern, wie Laviolette vermutet, gezielt hinterlassen. Die Spuren im Schnee beschränken sich nicht nur auf das Denkmal und offenbaren den Weg, den der Täter beim Verlassen des Tatorts gegangen ist, sondern ermöglichen scheinbar eine unmittelbare Verfolgung. Durch Laviolette kommt ein psychologischer Ansatz bezüglich der Abdrücke hinzu, indem er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass der Erfolg, bisher unerkannt zu bleiben, den Täter dazu verleitet, mit den Ermittlern zu spielen. Ein Spiel, für das er immer wieder das Wetter nutzt:86 Jusqu’ici, à mon avis, il lui était parfaitement égal de se faire prendre. Et puis maintenant, il a pris notre mesure. A son grand étonnement, il constate notre impuissance, alors, l’élément jeu qui, jusque-là, ne s’était pas imposé à son esprit, lui apparaît en pleine lumière et il se met à se montrer en clair-obscur […] Et il nous laisse cette superbe empreinte dont il sait qu’elle ne nous conduira nulle part! […] Retenez bien ceci, juge: l’assassin joue!87 Insofern müsste mit dieser Erkenntnis konsequent jede Spur des Täters als ludisches Element infrage gestellt werden. Für die Ermittler werden die Spuren im Schnee zur verbalitären Irreführung: Sie dirigieren Laviolette und Chabrand, die den Mörder zu verfolgen glauben, labyrinthisch durch die Straßen Dignes: De carrefour en placette, de placette en cul-de-sac où, sans raison apparente, elles s’avançaient jusqu’au fond de l’impasse puis en revenaient, elles semblaient n’avoir qu’un but: gagner du temps. […] c’était là le dessein du meurtrier, il avait vu juste. Car le ciel […] s’écroula d’un coup. […] Au sol, avec une effarante rapidité, les traces se comblaient.88 Die Spuren werden vom Schnee vor der Kathedrale Saint-Jérôme verdeckt und verschwinden wie der Täter. Die Auflösung der Spuren im Schnee durch den Schnee kann neben der wörtlichen Irreführung als metaphorischer Verweis zum Täter gelesen werden, auf den die Spuren zu verweisen scheinen, der sich durch sie aber gleichzeitig ›auflöst‹, sowie damit einhergehend als Verbildlichung der Ermittlungen, die durch die Spuren in die Irre und ad nihles geführt werden. Dieses Moment führt für die Ermittler Laviolette und Chabrand gleichsam zu einem Whiteout im deduktiven Prozess.

6.1.2.3 Naturphänomene als Verhaltensmuster des Serientäters Ein fallanalytisch interessanter Aspekt ist der repetitive Versuch, ein Muster im Verhalten des Täters in Abhängigkeit zu den Naturphänomenen zu finden. So wird der Mond-

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schein in der Nacht des zweiten Mordes während der Chrysanthemen-Rallye zunächst als lichttechnisches Faktum von den Ermittlern diskutiert:89 [I]l faisait un clair de lune superbe […]. Non, dit Coquet, ça ne colle pas! […] Parce que, clair de lune ou pas, l’épaisseur des bois des sapins ne permet pas, même à cette saison, de distinguer les lacets de la route. […] Il a fallu quelqu’un qui connaisse nécessairement l’ordre des départs.90 Der Mond hatte zwar keine Auswirkungen auf das Licht am Tatort, doch wird hierdurch die Frage nach einem Muster lanciert, da die ersten beiden Opfer bei Mondschein getötet werden. Dies wird indes durch die Beobachtungen und die Instanz des nous-narrateur der Einwohner dekonstruiert: [C]et assassin informe et sans contours qui distillait ses crimes sans rythme ni raison, à quatre ou six moins de distance […] sans qu’on pût le qualifier […] d’assassin de la pleine, demi ou nouvelle lune, puisqu’il avait commis son dernier forfait, très prudemment, par une nuit complètement bouchée, cet assassin commençait à taper sur les nerfs de tout le monde. On eût aimé plus de ponctualité; un scénario moins décousu; quelque chose de mieux construit enfin…91 Auch wenn der Zusammenhang Mondschein und Täterverhalten auf Ebene der Diegese verworfen wird, so besteht über Mme Térénez doch ein Nexus zwischen Mondschein und Morden. Im Kontext ihrer Aussage im Gespräch mit Chabrand ist zu supponieren, Mme Térénez bitte die Männer jeweils erstmals bei Mondschein zu einem amourösen Treffen, d.h. sie werden in Mondscheinnächten zu designierten Opfern. Ferner zeichnet sich eine Saisonalität (s.u.) ab, die subkonszient von Mme de Térénez ausgeht und auf das Täterverhalten rückwirkt; oder, wie Laviolette es formuliert, »qu’en cette fin d’année si propice aux… collusions de toutes sortes, tout Dignois qui fait une connaissance nouvelle vienne immédiatement me prévenir«92 .

6.1.3 Chabrand im Abendrot Die Relation Laviolettes zum Wetter bleibt in Le sang des Atrides auf einem ›normalen‹ Niveau. An einigen Stellen transzendiert das Wetter die Gefühlslage, die Problematik und Beklemmung Laviolettes und Chabrands, den Serientäter nicht fassen zu können.93 Hier und bei den Beobachtungen von Zeugen, die den Täter im Nebel erahnen, dienen die eher unauffälligen Wetterphänomene dazu, eine atmosphärische Kohärenz zu schaffen. Dieser Ebene ist auch die affektive Wirkung des Wetters auf die Figuren und vice versa die Transzendierung der Ermittlung zuzuordnen: Le commissaire et le juge suivaient le chemin sans joie qui longe la muraille du séminaire. Ils n’étaient fiers ni l’un ni l’autre. L’hiver les maudissait en conscience par une pluie indécise qui tournait à la neige pendant cinq minutes, revenait à la pluie, tombait sur du verglas et de la vieille neige fondante.94

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In Le sang des Atrides indes korrespondiert das Wetter auffallend mit der Gemütsverfassung Chabrands resp. transzendiert es diese. Über ihn wird das von Laviolette aufgeworfene saisonale Moment der ›Bekanntschaften‹ aufgegriffen, wodurch er zum designierten Opfer wird. Dies erfolgt mittels einer in der Laviolette-Reihe wiederkehrenden Wetterfunktion, scil. der Anbahnung von erotischen Beziehungen.95 Für Chabrand ist es insbesondere der Regen, der ihn zum Liebhaber von Mme Térénez macht: Il pleuvait […]. Alors il la vit pour la première fois. Si quelqu’un venait à entrer, elle retirerait sa main. C’était là tout son souci. Mais personne n’entra. Par une gouttière bouchée qui surplombait le seuil de la boutique et déversait des cataractes, le destin avait fait un barrage entre eux et le reste du monde.96 Obwohl Chabrand weiß, dass er ins Fadenkreuz des Täters gerät, fährt er wie erbeten in einer Mondscheinnacht zu Irène Térénez. Das Wissen um seinen möglichen Tod und das Begehren nach Irène finden im Bild der Natur ihren Ausdruck und verflechten Eros und Thanatos: »›On brûlera en enfer tous les deux!‹ C’était tellement agréable de tout provoquer avec l’enfer en perspective comme un soir d’été, le rouge du couchant.«97 Die meteorologisch-monochrome Untermalung wirkt als »lustvoll erregende Wirkung des Rot«98 . Es evoziert den Beischlaf, aber auch die Gefahr des Todes99 und dient damit neben der atmosphärisch affektiven Evokation des weiteren Handlungsverlaufs. Vor dem Hintergrund eines personifizierten divinen Wetters um bzw. für den Täter erscheint Chabrands Gedanke »[o]n brûlera en enfer tous les deux!« besonders markant und verweist auf die dem Fall inhärente tiefere ›Problematik‹ (Wetter und Orest). Wie Magnan für den ersten Fall Laviolettes bezüglich der Natur feststellte, ist es das Wetter »[c]’est ce qui dominait à Digne!«100 oder besser, das Wetter wird dergestalt eingebracht, dass es die Krimihandlung beherrscht. Die zwei hier bedeutenden Wetterphänomene, Schnee und Wind, werden an relevanten Stellen personifiziert dargestellt. Besonders der Wind erscheint als ›Wetter-Figur‹, d.h. erstmals als dezidiert eigenständige Figur; nicht etwa als versteckter narrateur-je. Markanterweise beziehen beide Wetter deutlich Position und agieren auf Seiten des Täters. Ihre beherrschende Wirkung des Wetters zeigt sich an den Stellen, an denen Schnee und Wind als divine bzw. väterliche Figur für den Täter aktiv in das Handlungsgeschehen eingreifen. Im Sinne von Greimas’ Aktantenmodell kommt ihnen damit eine deutliche Adjuvanten-Rolle zu. In diesem Sinne ist das Wetter für die Ermittler eher Opponent, denn aufgrund der Verbindung zum Täter kann die Funktion des Wetters als Spurenträger im Vergleich zum roman judiciaire nicht mehr dieselbe sein. Es erweist sich als ambivalent, wodurch seine deduktive Rationalisierung, wie sie noch bei den Tabaret- und Lecoq-Fällen zu sehen war, infrage gestellt und unterlaufen wird.

6.1.4 Saisonale Konzeption der Reihe Während mit dem Wetter weniger auf die Identifizierung Goulvens mit Orest abgehoben und der Wind nicht als einer von Aeilos’ Winden erkennbar ist, entwirft sich mit Orest bzw. der Orestie als Tragödie eine saisonale Konzeption, die sich von Le sang des Atrides

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ausgehend fortsetzt. Der erste Mord ereignet sich zwar im Frühling, doch erfolgt eine Raffung, nach der das Geschehen und der wesentliche Teil der Handlung in die zweite Jahreshälfte fallen. Dies lässt sich mit der saisonalen Konzeption des Dramas, wie sie Pfister feststellt, verbinden: [D]ie Einbettung in den Zyklus der Jahreszeiten impliziert semantische Konnotationen, wobei sich zum Beispiel archetypische Affinitäten zwischen Tragödie und Herbst und Winter […] beobachten lassen […]. Auch beim Zyklus der Tageszeiten lassen sich archetypische Gattungsaffinitäten feststellen: in der Tragödie erscheint die Nacht, häufig die Mitternacht, als Zeit bedrohlichen Dunkels […].101 Im nächtlichen Kontext erscheint damit der Mondschein als konzeptualisiert, der sich zunächst als Teil des Täterverhaltens andeutet, aber aus dem Verhalten der Mutter resultiert und damit für den Tatverlauf bzw. Handlungsverlauf bestimmend ist. Jahreszeit und Tageszeit korrelieren mit einem elementar-kreatürlichen Rhythmus der Todeserwartung,102 der im Rahmen des Magnan’schen »prétexte«103 Kriminalroman atmosphärische Kohärenz erzeugt, aber auch eine präfigurierende Dramaturgie entwirft: Von Le sang des Atrides aus zeichnet sich eine saisonale Präferenz der Reihe insofern ab, als die meisten Morde und, wie bereits erwähnt, der größte Teil der Handlung insgesamt auf die zweite Jahreshälfte entfallen. Dies wird besonders an den Fällen eins und drei ersichtlich, die zwar im Frühjahr bzw. Sommer beginnen, deren wesentlicher Handlungsteil aber im Herbst und Winter stattfindet. Ferner weisen die Fälle Laviolettes immer wieder Elemente und Figuren der Mythologie oder explizit zum klassischen Drama auf. In gewisser Weise liefert die Saisonalität, neben dem ›Vehikel‹ Kriminalroman, eine zweite architextuelle Verbindung. Hierneben erweist sich die saisonale Konzeption als Zusammenspiel von Region und Effekt der Jahreszeiten. Bereits in Le sang des Atrides konstatiert Laviolette dezidiert: »Digne, ses automnes, ses hivers mortels pour ceux qui manquent de fond.«104 Diese Aussage suggeriert eine perniziöse Zwangsläufigkeit, die sich als immer wieder bedeutsam für die folgenden Fälle erweist.

6.2 Le commissaire dans la truffière [L]’impétrant devra toujours se garder […] il commence avec l’Ange noir […].105 Mehrere Jugendliche verschwinden spurlos. Ihr letzter bekannter Aufenthaltsort: Banon. Ein kleiner Ort, in dessen Eichenwäldern delikate Trüffel gedeihen. Doch die sechs Jugendlichen sind nicht einfach verschwunden und Laviolette bekommt es mit einem Täter zu tun, der seine Opfer exsanguiniert: »[s]aignés comme des porcs!«106 . Das Besondere am Wetter in Le commissaire dans la truffière ist die wahrnehmungsästhetische Idee, der Effekt der Brüchigkeit und des Zweifels an einer rationalisierten Welt, die durch das Zusammenspiel mit dem Serientäter heranreift. Erscheint das Wetter in Fall 1 noch mit einer gewissen devinen Assoziation verknüpft, so wirken Wind und Schnee in Le sang des Atrides geradezu antithetisch als Ange noir, den der Täter mit einem

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mittelalterlichen Ritual aufruft und sich mit ihm verbindet. Diese Zuordnung evoziert eine mephistophelische Wetterfigur, mit der (Agrar-)Wissenschaft und (Kriminal-)Technik, das Ablegen des Glaubens an das Übernatürliche,107 eine ins Wanken geraten romantische Idealisierung des Landes. In einer Zeit, in der man alles zu verstehen glaubt, wird hier mit dem Zweifel gespielt. Zur Verunsicherung trägt der lancierte Gehalt des Wetters bei, indem es sich auf die Technik auswirkt und für den »prétexte«108 -Kriminalroman in der Gegenüberstellung zweier Täterfiguren konzeptualisiert wird: Während der Serientäter Albert Pipeau nach einem mittelalterlichen Ritual handelt, erschlägt Claire Piochet ihren Bruder mit einem Schraubenschlüssel, um allein über die Plastikwarenfabrik der Familie zu verfügen. Piochet kann durch moderne Analysetechniken überführt werden, doch bei Pipeau versagen Technologie und Kriminaltechnik im Nexus des Wetters.

6.2.1 Das Wetter für den Täter: Ange noir oder suggestive Projektion? Albert Pipeau tötet mehrere Jugendliche nach dem »[r]ecette pour avoir profusion de truffes en aspergeant les truffiers de sang d’homme«109 , um seine Trüffelernte zu erhöhen. Pipeaus Empfänglichkeit für das Okkulte wird durch seinen familiären Hintergrund begründet, denn er sei »un des neveux de l’Uillaoude. Il a tété le lait du paranormal dès l’enfance«.110 Dies begünstigt nach Verdaguer »dans la mesure où il est issu d’une famille de sorciers, fait qu’il adopte sans hésiter une logique de comportement qui le pousse à faire intervenir des forces diaboliques«111 . Das Motiv hinter den Taten ist nicht die Beschwörung des Bösen oder der pekuniäre Aspekt, sondern Pipeaus Besessenheit von Francine Morelon. Er hat sich, wie Verdaguer zusammenfasst, […] mis en tête de se faire aimer d[e Francine][.] qui se ne livre à lui que par amour de bijoux, ce qui explique le constant besoin d’argent du séducteur. L’ironie de l’histoire est que cette femme, que l’on sait par ailleurs comme frivole, n’éprouve pour cet homme […] qu’une profonde répulsion.112 Aufgrund dieser Abneigung erstarrt Francine in den Armen Pipeaus, der daraufhin die ›Obsession‹ entwickelt, sie »zum Leben« zu erwecken.113 Diese amour fou und der Hang zum Okkulten wirken letztlich stärker als Pipeaus moralisches Gewissen und seine Religiosität. So entschließt er sich im Herbst zur Ausführung des recette.114 Basal für die Wetter-Konzeption um Pipeau scheint zudem seine Religiosität,115 da das Konzept des Teufels explizit durch das recette getriggert und aufgeladen wird: »[L]’impétrant devra toujours se garder que, ce faisant, il commence avec l’Ange noir.«116 Pipeau glaubt an den Ange noir und eine nicht nur metaphorische Einlassung mit diesem durch das Ritual. Dies verdeutlicht sich besonders in der Reflexion und Forderung nach Schutz bzw. göttlichem Erbarmen: »Il lui semblait que l’église devait le protéger. En lui, la foi de son enfance brûlait encore comme un cierge, à travers son corps perdu pour le monde. Il souffrait de ne plus jamais pouvoir se confesser maintenant…«,117 aber es zeigt sich ebenso in der Angst vor den Konsequenzen des Teufelspakts angesichts des eigenen Todes. Das Ritual selbst stellt eine Form des Teufelspaktes dar;118 die bewusste Einlassung mit dem Bösen und dem Tod. Mit der Durchführung des Rituals werden Naturphänomene für Pipeau rational (agrartechnisch)119 wie paranormal (Ritual) relevant, zum einen

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aufgrund der saisonalen und meteorologischen Dependenz der Trüffelernte: »[Ç]a durerait […] du 15 novembre au 15 février, sauf les interruptions dues aux intempéries.«120 Mit dem recette werden einige der natürlichen Wachstumsbedingungen der Trüffel unterlaufen. Zum anderen ist aufgrund des Zeitpunkts, zu dem die Leichen beseitigt werden und die Bluterde ausgebracht wird,121 sowie wegen der Anzahl der Opfer122 eine Durchführung des Rituals bei Vollmond zu supponieren. Mit dieser Determinierung des Rituals wird das Verhalten Pipeaus als Täter von den Naturphänomenen abhängig. Dies kann als potenzieller Ausgangspunkt einer Verbindung von Wetter, Ange noir und Täter gesetzt werden. Die Relation entwickelt sich gradatim: Zunächst kann sich Pipeau mit dem mourrail incantatoire (dem Beschwörungsschleier) vor dem Ange noir schützen, doch verliert er diesen eines Nachts, es kommt zum ›Übergriff‹; zur ungewollten Einlassung mit dem Teufel. Mit diesem Moment entsteht eine auffallende Veränderung: Das Wetter beunruhigt ihn nicht mehr, es agiert für ihn, und verleiht ihm eine dämonische Präsenz. Ferner hält es ihm die Straßen von Schneewehen frei, wodurch die Beseitigung von unliebsamen Zeugen gelingt. Doch wird er selbst zum Schatten des Bösen, und verschmilzt mit der Nacht. Hiermit einher geht die steigende Angst vor der Verdammnis seiner Seele. Für die Relation Täter, Wetter und Teufel sind prima facie zwei Perspektiven möglich. Basal ist jeweils die Identifikation des Wetters als Ange noir, insbesondere von Nordwind, Schnee und Schneesturm, ausgehend vom Zusammenhang mit dem Ritual: I. Bei den Wetterphänomenen handelt es sich um eine Manifestation des Teufels, den Pipeau mit dem Ritual aufruft. Das Böse ist eine nicht menschliche Macht, die sich in den Wetterphänomenen manifestiert bzw. vermittels der Wetterphänomene agiert. II. Die sich im Laufe der Handlung wandelnde Wahrnehmung von Naturphänomenen resultiert aus der Disposition des Täters. Hier ließe sich die Frage nach einer durch die Stresssituation (Glaube, Morde, Teufelspakt) bedingten Apperzeption des Wetters als Ange noir (später als Dieu, angesichts der Angst vor dem Teufel) als eine Manifestation von Wahnvorstellungen oder Projektionen vorbringen, d.h. Disposition und Situation befördern eine endogene Psychose oder Dissoziation, insofern über den Ange noir die verurteilten bzw. ›bösen‹ persönlichen Charaktereigenschaften verkörpert sowie dunkle Wünsche und Triebe gespiegelt werden. Das Wetter wäre in diesem Sinne Visualisierung, haptische Erfahrung und Ausdruck eines sich sukzessive intensivierenden psychischen Prozesses.

6.2.1.1 Relation Wetter und Täter: Die Evokation des Bösen Punctum saliens ist, dass Pipeau die Wetterphänomene an keiner Stelle als dämonisch oder als Manifestation des Ange noir expliziert. Das Besondere am Wetter in Le commissaire dans la truffière ist der wahrnehmungsästhetische Effekt, der sich aus der Kombination und Reziprozität von Darstellung und Funktion der Motive Serientäter und Wetter ergibt. Albert Pipeau tötet nach dem mittelalterlichen »[r]ecette pour avoir profusion de truffes en aspergeant les truffiers de sang d’homme«.123 Hiermit wirken die Morde irrational, als »histoires de fou«124 , sodass forciert eine Facette des Serientätermotivs

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zum Tragen kommt: Pipeau erscheint als »motivlose[r] Zerstörer«, der »durch sein Tun an der rationalistischen Fassade einer Welt nag[t], die sich […] der Logik, der Moral und dem gradlinigen Fortschritt verschrieben hat«125 . Durch die sukzessive Informationsvergabe (Täter/Ritual), die Anknüpfung des Wetters an entsprechenden Stellen sowie die Darstellung des Wetters selbst entsteht auf der Ebene der Rezeption bzw. des impliziten Lesers oder der impliziten Leserin eine Verknüpfung – damit das beunruhigende Moment. Bestimmte Wetterphänomene werden als Ange noir identifiziert, sukzessive und reziprok intensivieren sie die Motive (dämonisches Wetter, Serientäter, Ritual/Teufelspakt). Mit Le commissaire dans la truffière wird dergestalt nicht nur die Identifikation des Teufels im Nordwind verhandelt, sondern gerade die Erzeugung einer entsprechenden wahrnehmungsästhetischen Idee. Narratologisch und rezeptionsästhetisch wirken hierzu wesentlich drei Faktoren (Erzählinstanz, Figureneben und Faktur [Aufbau des Romans]) zusammen: I. Erzählinstanz: Die suggestive Darstellung des Wetters durch die Erzählinstanz (Personifikation, suggestive Herkunftsverortung der Wetterphänomene und Vergleiche) erweckt sukzessive den Eindruck von dämonischen Mächten und deren Konterpart (den divinen Mächten). II. Figurenebene (Wahrnehmung, kulturelles Wissen und Konnotation, affektive Emotionen):126 Punktuelle Wahrnehmung des Wetters und Außenwahrnehmung des Täters durch die anderen Figuren Claire Piochet, Alyre Morelon und Laviolette. Diese Figuren zeichnen sich im Rahmen des Kriminalromans als signifikant aus, denn Piochet ist selbst eine Mörderin, Morelon ist der Ehemann von Francie und Trüffelsammler, Laviolette ist qua seiner Funktion als Ermittler Adversarius gegen das ›Böse‹. Sie nehmen den Täter in Verbindung mit dem Wetter wahr (Piochet, Laviolette) oder stellen eine Verbindung zwischen mephistophelischem Ritual und Wetter her (Morelon, Laviolette). III. Der spezifische Eindruck einer Verbindung und einer (späteren) Identifikation Pipeaus und des Wetters als Ange noir wird effiziert, wenn die Außenwahrnehmung der Figuren stellvertretend mit der Pipeaus gleichgesetzt wird. Ferner befördern diese die Brüchigkeit und den Eindruck des Paranormalen, indem suggestiv Projektionen wie Reflexionsmomente der Angst – ausgelöst durch die Täterfigur (»histoires de fou«127 ; »motivlose[r] Zerstörer«128 ) – auf das Wetter projiziert werden bzw. mit Effekten auf Objekte und Technik kohärieren. IV. Faktur: Die meteorologische Faktur zeichnet sich durch zwei wesentliche Punkte aus. Zum einen das Changieren der Assoziation des Wetters zwischen vornehmlich ›Bösem‹ und ›Gutem‹. Diese Wetterlagen sind so dargestellt (I. Erzählinstanz), dass sie Einfluss auf die Handlung zu nehmen scheinen, wodurch der Eindruck einer dämonischen vs. divinen Dualität – Kampf Böse gegen Gut – entsteht. Durch die meteorologische Dualität steht Pipeau – und restringiert Laviolette – in einem Spannungsfeld zwischen Ange noir und Dieu; so dass eine deutliche semantische Aufladung des Wetters entsteht. Zum anderen beeinflusst das Wetter die Handlung und lässt entsprechend (Spannungs-)Höhepunkte entstehen. Rezeptionsästhetisch wird erneut folgendes Moment wirksam: »climatic moments, dramatic scenes, and begin-

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nings and endings remain in the memory and decisively shape our sense of a novel as a whole«129 – oder in diesem Fall: das Wetter. Im Folgenden werden diese drei Faktoren an ausgewählten Punkten beleuchtet. Zur besseren Nachvollziehbarkeit wird weitgehend die chronologische Reihenfolge berücksichtigt. Auftakt: Verbindung Landschaft, Wetter und Tod Eine besondere meteorologische Verwobenheit mit der Region wird retrospektiv zu Beginn des Falles konstituiert und eine Verbindung von Wetter, Trüffelhain und Tod geschaffen (I. Erzählinstanz): [V]ers cet amas de bronze liquide qui miroitait sous le vent du soir, en cliquetant comme les lances d’une armée en marche. C’est un gros bosquet de lauriers. Ils avaient gelé en 56. Les uns étaient repartis du pied, les autres sur les branches mortes. Toutes ces repousses […] montent droit au ciel […] agitant les funèbres grelots de leurs fruits nocifs.130 Dergestalt entsteht nicht nur ein latenter unheimlicher Eindruck,131 sondern auf visuelle, haptische und auditive Weise eine explizite Basis der Verquickung von Wetter, Leben und Tod: Das Wetter bringt den Tod in die Landschaft. Im Verlauf der Lektüre assoziiert sich die sensuelle Landschaftsdarstellung – die auditive Evokation des (schauerlichen, giftigen = unheilvollen) Klirrens der Waldarmee – in unmittelbarer Nähe der Trüffelhaine mit dem recette des Grimoire Le Grand Albert: Das recette nimmt seinen Ursprung im Mord an zahlreichen Menschen durch die »Armee« der Grafen in den Trüffelhainen: [S]i merveilleuse taillerie que la corvée de moines qui iceux enterra enfonçait en le sang qui imprégnait la terre comme après la pluie battante. Et se fit l’an venu et dépiéça, profuse et bénédictante récolte de truffes que oncques ne vit.132 Hervorzuheben ist die meteorologische Verbindung zum gewaltsamen Tod und zur Trüffel, die durch den Vergleich »pluie battante« entsteht. Dieser Vergleich erhält im Kontext der Ausführung des Rituals durch Pipeau eine substanzielle Komponente, weil im November wenig Regen gefallen und die Erde staubtrocken ist133 – folglich mit Ausnahme der Parzelle Pipeaus. Ausgehend von den beiden Konstituenten – Geschichte der Region und Wetter – bildet sich die meteorologische Faktur. Außenperspektive: Verquickung Wind und Ange noir durch das Ritual Die Wahrnehmung des Täters von außen (II. Figurenebene) steigert sich sukzessive von der bloßen Irritation durch den Wind und kulminiert im Eindruck der Fusion von Täter und Naturphänomen durch Laviolette. Als Stufe Null der Relation Pipeaus zu Wetter und Ange noir ließe sich das Gewitter setzen, durch das Pipeau in Kontakt mit dem Grimoire kommt, sodass er dieses bei Brèdes entwendet. Der erste Blick von außen auf das Verhalten Pipeaus gegenüber Wetter- bzw. Naturphänomenen erfolgt durch die Mörderin Claire Piochet, die in einer Mondscheinnacht im Wald einen unbekannten

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Mann beobachtet, der eine Leiche fortschafft: »Un seul instant, il se retourna avec vivacité. Ce fut lorsque, poussé par le vent […] le portail rouillé se rabattit légèrement avec un grincement qui parut inquiétant à l’homme […]. Il demeura un long moment retourné à contempler le vide […].«134 Aus ihrer Perspektive lassen sich Pipeaus Erschrecken und der Blick in die Dunkelheit mit der Nervosität eines Mörders erklären, der eine Leiche beseitigt und der aus Furcht vor Entdeckung vor dem Wind erschrickt. Vor dem Hintergrund des Rituals erhält der hier personifizierte Wind, der das Portal bewegt, einen veränderten Sinngehalt als evokative Präsenz des Ange noir. Die Furcht vor diesem bzw. etwas löst Unbehagen aus, lässt Pipeau herumfahren und etwas im Dunkeln Lauerndes ahnen. Intensiviert wird dieser Eindruck dadurch, dass er nicht in den Wald blickt, sondern in die absolute Finsternis, »le vide«. Der Blick ist hier ein gespiegelter, der Blick einer Täterfigur auf die andere. Das Schlüsselmoment der Verbindung Wind – Ange noir zum Täter entsteht, als etwas geschieht, was nicht passieren dürfte: Pipeau verliert beim Ausbringen der Bluterde im Trüffelhain den mourrail incantatoire und damit seinen Schutz vor dem Ange noir. Das Ereignis, das damit verbundene Gefühl und die plötzlich veränderte Wetterwirkung werden über eine Reflektorfigur zugänglich, scil. den Trüffelsammler Alyre Morelon. Über Morelon als ›unbeteiligte‹ Nebenfigur wird der Wind als dämonisch ästhetisiert und eine Verbindung zwischen Wetter, Trüffelhain und nekromantischem Ritual gezogen. Alyre und Trüffelschwein Rosaline gehen durch die Winternacht nach Hause,135 als Rosaline in die Trüffelhaine rennt: Il voyait mal, à la seule clarté de la lune masquée par les feuillages. […] Le vent s’était soudain levé, sans crier gare, sans qu’aucune rumeur lointaine n’ait prévenu de son approche. Sur la houle qui fondait depuis les hauts de Montsalier, Alyre perçut sous les chênes un autre bruit étrange. C’était un cliquetis de clochette […] il vit descendre vers lui, poussés par le vent du nord […] L’autre objet sautant et léger semblait se mouvoir sur un coussin d’air. Alyre le reconnut bien avant d’en distinguer sa nature. Il le reconnut au friselis froid qui se propagea sur son front. […] C’était le ›mourrail incantatoire‹ […] un tulle exorcisé par certaines pratiques et qui devait protéger la ›leveuse de sorts‹ durant certaines séances particulièrement périlleuses. […] les choses cette nuit étaient bien étranges… Il se contentait de le regarder palpiter à ses pieds, au souffle du vent et quand son caprice menaçait de pousser ›le mourrail‹ sur ses chaussures, il reculait précipitamment. Le seau […] contenait […] une matière granuleuse […]. C’était lourd, sableux, un peu visqueux. Quand on prenait cette matière entre le pouce et l’index […] elle s’échauffait. Il semblait à Alyre qu’elle s’animait d’une étrange vie. […] Un malaise indéfinissable lui chavirait le cœur.136 Mit Morelon wird die Steigerung des Unbehagens vor dem Wind zu »Entsetzen« und »Furcht« wahrnehmbar. Das Erleben ist hier an Darstellung und Faktur gebunden: Der Nordwind erscheint mit der Durchführung des Grimoire-Rituals nicht expressis verbis plötzlich in dem Moment, da Pipeau den Schleier verliert. Der Wind wird personifiziert und verfügt über eine unheilige Macht, die sich durch die Impression entfaltet, der Wind könne durch seinen Atem (souffle) leblosen Dingen Leben einhauchen (palpiter). Intensiviert wird dieser Eindruck durch die originäre Bestimmung des Windes als Nordwind, mit dem kulturelle Konnotationen bzw. Assoziationen zum Bösen, zur Bedrohung und zum Verlust der Sicherheit aufgerufen werden. Konstitutiv für diesen

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mephistophelischen Effekt ist das multisensorisch dargestellte Erleben Morelons, der affektive Schauer vor der tatsächlichen Identifikation des Objekts als »malaise indéfinissable« und sein kulturelles Wissen. Das Entsetzen verstärkt sich durch das Wissen um die Schutzfunktion des Schleiers bei »certaines séances particulièrement périlleuses«137 . Morelon ist mithin bewusst, dass jemand gerade ein ebensolches Ritual vollzieht und dunkle Mächte wirken. Das zweite Objekt, das der Wind heranweht, ist ein Eimer, der mit Blut vermischte Erde enthält. Durch das beunruhigende Empfinden des »étrange vie« entsteht eine weitere Assoziation zur Macht des Windes, scil. widernatürlich Leben zu verleihen. Täter: Perfekte Nacht und der Schrecken des Wetterwechsels Für Pipeau erscheint eine Nacht kurz vor Weihnachten zunächst als perfekt dafür, um unbemerkt die Leiche seines letzten Opfers zu beseitigen: »Il semblait que […] ce fût la plus belle nuit du monde. Mais…«138 Aber während das mit dem Ange noir assoziierte Wetter, insbesondere der Wind, sich sukzessive mit Pipeau relationiert, evoziert die Wetterdarstellung an dieser Stelle den himmlischen Konterpart: Kapitel 10139 enthält mit einer Wetterdarstellung (I. Erzählinstanz) von über einer Seite die quantitativ umfassendste Wetterbeschreibung und evoziert durch die Personifikation und Isotopie nicht nur einen meteorologischen Aufruhr der Elemente, sondern den Eindruck, eine Streitmacht fiele in die Region ein: [L]e vent s’abattit sur l’ouest. La neige coulis de Lure, par toutes les tranchées à l’abri, par le bois du Deffens, par la trouée du Calavon, par les falaises du Crau de Bane. […] Elle coulait horizontale, se placardait sur les façades […], occultait le cadran noir de l’horloge. […] La neige ne tenait ni sur les toitures ni sur le sol lorsqu’il était sans obstacle. […] Elle effaçait les chemins […].140 Wie ein Auftakt zum nächsten Akt erscheint sodann das »Alors, la nuit commença.«141 Durch einen an den Westwind gebundenen visuellen Vergleich tritt ein Erzengel auf die Bühne: »au virage de l’église, sous la malédiction rugissante de l’orme de Sully dont les branches battaient follement, comme des ailes d’archange.«142 Die allegorische Erscheinung des »vent [de] l’ouest«143 markiert faktural die erste Opposition zum mit dem Ange noir assoziierten Nordwind. Vom Westwind geht zudem die auditive Impression einer »malédiction rugissante«144 aus, die auf den Serientäter bezogen und als Exsekration lesbar ist. Vor diesem Hintergrund erhält die folgende für Pipeau meteorologisch indizierte Wahrnehmungsstörung eine besondere Qualität. Wind und Schneefall nehmen zu und Pipeau fährt durch einen Schneesturm: La tempête, en torsades blanches, chevauchait la chaussée, se brisait en claquant contre les essuie-glaces […]. L’homme, […] ne reconnaissait pas son pays. Les […] phares […] révélaient des arbres boursouflés de neige […] rehaussait les niveaux, grossissait les bâtiments et les déformait.145

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Der omnipräsente Wind erschafft mit dem Schnee ein Whiteout, eine dimensionale Verzerrung des Raumes.146 Das Zusammenspiel der meteorologischen Phänomene verändert die visuelle, auditive und haptische Wahrnehmung und löst Pipeaus Welt auf. Die Schneeböen löschen die vertraute Landschaft und unterlaufen die geschaffene Ordnung. So scheint sich die Veränderung durch das Wirken der divinen Mächte für Pipeau als Hinweis auf einen Pakt bemerkbar zu machen, denn er spürt eine veränderte Qualität der Naturphänomene und »sentit tout de suite que la nuit n’était plus propice«147 . Die Veränderung von Qualität und Stimmung des Wetters wird als Reaktion auf das Ritual einer eingreifenden ›höheren Macht‹ lesbar. Das Wetter, das Pipeau ›entgegen‹-wirkt, markiert als weiße Barriere symbolisch wie verbaliter ein Ende seines Weges: »Il freina brutalement. Il était parti trop tard! La première congère de la nuit était là, devant lui, […] barrant la route. […] Il ne pouvait risquer le coup.«148 Wetterwechsel in den Laviolette-Fällen gehen mit einer positiven Wendung für die Ermittlung einher, bleiben aber von den Täterfiguren in der Regel unbemerkt. Pipeau indes wird des Wetterwechsels gewahr, der sich dezidiert an seiner Grundstücksgrenze vollzieht und diese (fortsetzend und steigernd zur Schneewehe) semantisch auflädt: Il eut même le privilège de voir changer le temps, sous l’immense fayard qui bornait son domaine et où, soudain, souffla le vent du sud. Sous le rideau de la neige qui se leva d’un coup dévoilant la Grande ourse […]. À la fin, sa main droite lâcha le volant et il la garda obstinément posée sur sa bouche, comme un qui voit brûler sa maison. Il comprenait bien […] que cet énorme bâton que Dieu le Père venait de lui jeter dans les roues annonçait clairement le commencement de la fin.149 Die Wetterinszenierung erinnert an ein Theaterstück. Der Vorhang hebt sich und lenkt den Blick auf die Sterne. Doch offenbaren sich eigentlich nur die Naturphänomene selbst; mit ihnen wird eine transzendente Macht im theologischen Sinne und eine Kommunikationssituation suggeriert. Die Wetterdarstellung verweist aber in effectu autoreferentiell auf die Inszenierungsrhetorik, d.h. die Wetterinszenierung selbst. Panurgisch infrage gestellt wird an dieser Stelle damit gerade eine metaphysische Deutung der Wetterphänomene. Es ist die suggestive, aber nicht gegebene Anwesenheit Dieus, mit der sich die Magnan’sche Aussage »j’ai remplacé Dieu par la nature«150 realisiert und der implizite Autor hervortritt. Mit dem angedeuteten Wechsel zur internen Fokalisierung erkennt Pipeau im Wetter – nach der Avantgarde des Westwindes – Dieu le Père, der sich ihm in den Weg stelle. Pipeau, so mag es nicht wundern, deutet den Wetterwechsel als Zeichen. Mit dem Pakt gibt es keine Rettung mehr und die spätere Hoffnung bzw. die Forderung für seine Seele – »Il lui semblait que l’église devait le protéger. En lui, la foi de son enfance brûlait encore comme un cierge, à travers son corps perdu pour le monde«151 – bleibt ungehört und leer in der Erkenntnis des Fatums: »voit brûler sa maison« als Euphemismus zu »brûlera en enfer«152 . Weniger zölestisch denn psychologisch projiziert sich nach den akkumulierenden Ereignissen der Nacht Pipeaus eigenes Gewissen bzw. sein Schuldempfinden und die Verurteilung seiner eigenen Taten auf ein meteorologisches Geschehen. Markiert das Wetter als dramatische Inszenierung die Peripetie, so stellt

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der Moment des »voir« die Anagnorisis, in der Irrtum und das Verhängnis des eigenen Handelns ersichtlich werden. Faktur: Un soleil radieux […] hurla […] à l’assassin153 Mittels der retrospektiven Ausführung Brèdes’154 erhält das Wetter nicht erst mit der Ausführung des Rituals eine dämonische Qualität, sondern fungiert als Handlungsauslöser. Es ist gleich einer force diabolique ein Gewitter, an einem sonst erfahrungsgemäß sonnigen Tag, durch das Pipeau auf das Grimoire aufmerksam wird und das Gewitter erzähltechnisch damit gleichsam den Serienmord bedingt: »Ce jour-là, il faisait mauvais, orage, presque sombre.«155 Von diesem Moment an legte sich eine ›sinistre‹ Wetterlage über die Gegend: »Banon naviguait sur le désert du vent. Les feuilles mortes arrachées au sous-bois fustigeaient les murs exposés au nord. Le ciel était noir.«156 Der ›divine‹ Wetterumschwung in Kapitel 10 führt zu einer Wetterlage, die als Grundlage für die Ereignisse des 11. Kapitels fungiert, dessen Inhalt ein einziger Hinweis auf den Täter ist – und im Sinne der Faktur den Status quo der hypostatischen Dualität darlegt: »Quand la brume révéla Banon, vers dix heures, un soleil radieux fit rutiler les tuiles.«157 Das Wetter verwebt sich potenziell mit dem Ermittlungsprozess und verdeutlicht auf mokante Weise die Unmöglichkeit der Deutung von scheinbar sinnfälligen Zeichen. Dank des guten Wetters führt Alyre Morelon die Trüffelsau Roseline aus. Diese zerrt an der Leine und da sie Menschen mag, drängt sie zum Bouleplatz, wo Trüffelsau und Serientäter aufeinandertreffen und Roseline den noch unentdeckten Täter expressis verbis identifiziert: »Mais tu as fini, Roseline, de crier à l’assassin?«158 Die vermeintlich leere Phrase der Intensivierung ist hier wörtlich zu nehmen und mit Bedeutung aufgeladen – ein Umstand, den Laviolette aber erst retrospektiv erkennt, denn Roseline »hurla vraiment à l’assassin!«159 Ab diesem Moment wird die Handlung durch die Dualität von ›gutem‹ Wetter mit Sonnenschein und ›bösem‹ Wetter mit Wind, Sturm und Schnee begleitet.160 Hierdurch entsteht der Eindruck, Ermittler- und Täterhandlung wären im Wechselspiel gestaltet. Synthese von Täter und Wetter Die dritte Stufe der Außenwahrnehmung bildet die wahrnehmungsästhetische Verbindung eines Wetterphänomens mit dem Mörder durch Laviolette. Während eines Schneesturms erhält Laviolette einen Anruf von Brèdes, der ihn auf die Spur des Täters bringen könnte. – Markant erscheint der Hinweis, es herrsche »le même type de temps«161 wie in der Nacht der Autofahrt Pipeaus, doch dieser Schneesturm kommt aus dem Norden:162 […] – y a des interférences! Par temps de neige, à Banon, […] on entend tout de partout! […] La présence […] était palpable dans le tumulte houleux de la tempête. […] mille récepteurs fussent décrochés et […] au bout de chacun, un assassin retînt son souffle.163 Diese Interferenz ist fernmeldetechnisch sehr selten, aber denkbar.164 Dennoch scheint gerade hier dem Wetter eine mephistophelische Kraft inhärent zu sein, die die Errungenschaft moderner Kommunikationsmittel zu unterlaufen scheint. Der heulende

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Sturm aus dem Norden weist in diesem Sinne auf eine Präsenz des Ange noir, der dem Täter durch die erzeugten Interferenzen eine auditive Macht verleiht, die Laviolette als perzeptible Omnipräsenz erahnt. Die Trennlinie von Täter und Wetter verwischt. – Ob Pipeau tatsächlich mithört, bleibt unklar, scheint aber wegen des Mordes an Brèdes folgerichtig. Auch der weitere Wettereinsatz wirkt geradezu komplizenhaft: Alle Straßen sind durch Schneewehen blockiert, nur die, die Pipeau zu Brèdes benötigt, bleibt frei. Die unmittelbare Verwischung von Täter, Naturphänomen und Teufel, die suggestive Identifikation des einen mit dem anderen, entsteht nach dem Mord an Brèdes durch Laviolette: Il […] sentit comme un froissement de reptile se faufiler alentour. Quelqu’un observait, quelqu’un supputait. […] une masse sombre se profila […] l’apparition s’effaça. Puis un étrange pas glissa dans le long corridor. Un pas dansant qui faisait fi de l’obscurité et passait rapidement son chemin.165 Pipeau geht nicht einfach durch die Nacht, er gleitet wie ein Reptil, wodurch die Assoziation zum Ange noir sowie eine Verschmelzung evoziert wird. In diesem Moment offenbart sich auch ein verändertes Verhalten Pipeaus gegenüber den Naturphänomenen; er blickt nicht mehr voller Unbehagen in die Nacht (vgl. u.), er ist mit dem mourrail incantatoire, der nicht mehr schützend und nunmehr Symbol ist, selbst schattenhafte Erscheinung und Teil der Nacht. Pipeau erscheint als Serientäter als ›das Böse‹ und die Verwobenheit der Motive Serientäter, Wetter, Ange noir holotisch. Cassante causa cessat effectus Das Ende des Täters und das Ende der Trias Täter-Teufel-Wetter wird durch das personifizierte Wetter eingeleitet (I. Erzählinstanz). Im Rahmen einer theologischen Inszenierungsrhetorik gelingt dem divinen Wind der entscheidende Gegenzug. Dafür setzt er nicht beim Täter oder der detektivischen Instanz an, sondern bewirkt eine Verschiebung der Aktanten, indem er Pipeaus ›Objekt‹ der Begierde beeinflusst: »L’âme de Francine soubresautait entre son amour des bijoux et son amour pour son fils. Elle passa, à écouter le vent, une fort mauvaise nuit. Mais au matin, sa décision était prise.«166 Der Wind beeinflusst meteo-psychotropisch Francine Morelon, die ihm aufmerksam zuhört und erkennt, »que se queda con las joyas regaladas por el asesino […] se vuelve cómplice de varios asesinatos (y que su hijo único puede ser tocado por el escándalo), y toma la firme decisión de renunciar a sus joyas«167 auch in der Hoffnung, nicht als seine Komplizin zu gelten. Francine geht es mithin nicht darum, den Mörder aufzuhalten oder ihn zu verraten. Hierdurch fungiert sie mit Blick auf Greimas’ Aktantenmodell nach der meteorologischen Beeinflussung für Pipeau eher als Opponent denn als Objekt. Die Verschiebung bewirkt die Desillusionierung Pipeaus und führt zur Aufhebung einer meteorologisch-metaphysischen Ebene. Francine Morelon, die Frau, die Pipeau wie keine andere begehrt, für die er tötet und seine Seele ›verkauft‹, bringt den Schmuck zurück und entzieht sich ihm damit vollständig. Als Pipeau den Schmuck findet, reflektiert dieser das Licht und »constellait d’étoiles le balancier de l’horloge.«168 Die Diamanten als Kristallstruktur weisen auf den Schnee und die Wahrnehmungsstörung des Whiteout zurück. Gleichzeitig enthüllen sie die ›Leere‹ der Wetterphänomene. Die Ster-

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ne sind Reflexion eines Prismas und damit eine Illusion. Hiermit lösen sich für Pipeau der Schein, die Projektion von Wunsch und Begierde auf. Auf Ebene der Diegese endet damit auch die meteorologische Transfiguration. Der Schnee ist nur noch Schnee als Mittel zum Zweck: Die Zurückweisung, sein Persönlichkeitsverlust bzw. Ich-Verlust, die Erkenntnis, umsonst getötet, seine Seele geopfert zu haben, und die amour fou wandeln sich zum Wunsch, Francine im Schnee zu Tode zu hetzen:169 Durch die vernichtende Zurückweisung und Ent-Täuschung wandelt sich Francines Bedeutung für Piepau vom Wunsch-Objekt zum Hass-Objekt. Das erklärte Ziel – »Elle mourrait à bout de souffle«170 im Schnee – ist die fatale Rückspiegelung, um das zu erreichen, was er und der durch das Ritual gewonnene Schmuck nie konnten. Für Pipeau löst sich (haptisch) der Wunsch nach Francines Körper auf, weil sich die Diamanten nicht als Zeichen der Treue erweisen, sondern er den ihnen inhärenten Doppelsinn (Francine zu beleben und Mord) fühlt, denn sie strahlen die »froid d’un cadavre«171 aus und legen die Illusion offen: Pipeau »s’approcha sans comprendre et c’est seulement lorsqu’il posa la main sur cette froide clarté que la vérité éclata son esprit«172 . Mit der Desillusion geht die Auflösung der Verbindung Wetter zu Ange noir sowie eine ›Rückstufung‹ der Wetterphänomene einher. Sie wirken nicht mehr auf der Erde, sondern erscheinen begrenzt auf den Himmel als unauffällige Naturphänomene, die dem Geschehen noch atmosphärische Kohärenz, eine gewisse Tristesse, verleihen, indem sie eine Nachzeichnung der Geschichte Alberts und Francines andeuten, darüber hinaus aber indifferent bleiben: La lune balayait Lure. Elle folâtrait avec un nuage rapide qui la roulait dans ses volutes, la vomissait hors de ses enclumes et finalement se détachait de sa course et la laissait régner seule sur le ciel où elle estompait les étoiles.173 Das damit verbundene Ende der meteorologischen Wirkungsästhetik mag auch das nun schnell erfolgende Ende des Romans bedingen. Während Francine Morelon die Nacht überlebt, stirbt Pipeau, nachdem sein 4CV von Piochets Mercedes gerammt wurde: »Le silence s’était fait dans la nuit, sauf le pauvre gémissement d’un homme qui croyait hurler. […] Il crit trois fois […]: Un curé! Je veux un curé!«174 Am Ende steht zwar die Auflösung einer meteorologischen Implikation, was aber bleibt, ist die Schuld, die Angst um seine Seele,175 die Angst vor dem Ange noir.

6.2.2 Laviolette auf Trüffelsuche Im ersten Fall fungierte das Wetter noch als Spurenträger für die Ermittler, auch in Le commissaire dans la truffière wird der Schnee für die Ermittlung funktionalisiert – allerdings nicht mehr von Laviolette. Für ihn verändern sich mit diesem Fall Bedeutung und Funktion dergestalt, dass eine Nutzung als rationaler Spurenträger nach diesem Fall nicht mehr möglich scheint. Dies gründet sich in der veränderten Relation des Wetters zum Commissaire, bzw. vice versa, denn für Laviolette wirken Wetterphänomene als Transformationswetter und stoßen eine sich wandelnde Apperzeption und Haltung an. Dies sowie die veränderte Beziehung zwischen Laviolette und dem Wetter wird in fünf Etappen vom rationalisierten Wetter bis zur Wahrnehmungsveränderung aufgezeigt:

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Das Wetter der Ermittlung Das Wetter um Laviolette Wetterwahrnehmungsänderung Transformationswetter Die Auswirkungen des Transformationswetters auf die Laviolette-Reihe

6.2.2.1 Das Wetter der Ermittlung Nach dem Mord an Brèdes kann das Wetter für die Deduktion genutzt werden: Ähnlich wie in Le sang des Atrides werden Schnee und Eis zum Spurenträger, darüber hinaus werden die Schneewehen für eine geografische Eingrenzung des Täters genutzt. Es sind allerdings die Gendarmen und Kriminalbeamten, nicht Laviolette, die die Schneewehen der Mordnacht kartografieren: Viaud s’avança. […]: hier soir, une heure avant celle du crime, toutes les routes qui mènent à La Magnanerie étaient barrées par les congrès, sauf celle qui retourne sur Banon. […] Mais autour de Banon même […] toutes les routes étaient aussi barrées! […] Ça veut dire que Banon et le théâtre du crime étaient encerclés par les congrès. Donc, termina-t-il, triomphalement, que l’assassin ne pouvait pas venir d’ailleurs que Banon. […] – Sauf! dit Laviolette, s’il s’était planqué sous les cèdres de La Magnanerie avant la formation des congrès! – Dans ce cas, dit vivement le maréchal des logis, il aurait été coincé contre l’une d’elles en s’enfuyant après son forfait!176 Ergänzend zur Eingrenzung des potenziellen Wohnorts auf Banon gibt es Reifenabdrücke, die aufgrund des noch nicht vollständig durchgefrorenen Bodens entstanden und zu einem Renault 4CV gehören. Die Beobachtung eines 4CV nach dem Unfall durch zwei Zeugen scheint dies zu bestätigen. Damit scheint die Identifizierung des Fahrzeugs möglich. Laviolette erkennt dies zwar an, schmälert aber den Enthusiasmus der Gendarmen mit dem Hinweis, das Auto könne gestohlen und nach der Tat unbemerkt zurückgestellt worden sein. Das Vertrauen in wetterinduzierte Ermittlungsergebnisse erscheint damit nach Le sang des Atrides weiter begrenzt und es zeigt sich hier ein Misstrauen gegenüber dem meteorologischen Indizienbeweis. Laviolette relativiert die Erkenntnisse und nutzt sie in Kombination mit dem Grimoire, um den Täterkreis auf fünf Personen einzuschränken. Allerdings ist es der Zufall, scil. ein Hinweis der Wirtin Rosemonde, die das Gespräch Laviolettes mit den Verdächtigen aus der Kartenspielrunde177 im La Rabassière mitbekommt und Laviolette über den Schmuck Francine Morelons auf den Täter Albert Pipeau bringt.

6.2.2.2 Das Wetter um Laviolette In Le commissaire dans la truffière wird die Wetterwahrnehmung Laviolettes als »perception extra-sensorielle«178 vorbereitet. Bemerkenswert ist die Verquickung von Wind und Trüffelhain, die sich um Laviolette unmittelbar mit seinem Eintreffen in Banon zieht: Quand Laviolette […] arriva à Banon […] la place était déserte sous le mistral. Laviolette mesura ce village en trois regards. Le premier se posa sur le cyprès au coin d’un jardin en terrasse, dernier des cent cinquante dont les moines, pour occuper les in-

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tervalles de la prière, avaient orné les glacis au XVIIIe siècle. Le second enregistra les trois immeubles à hublots dont on hésitait à croire s’ils étaient sortis de terre ou s’y étaient simplement posés. […] Laviolette compris tout de suite que ce Banon-là était sans mystère et ne le concernait pas. Mais son troisième regard lui révéla un autre Banon. C’était un vieillard en béret basque qui traversait vers la fontaine, les pieds en équerre contre le mistral.179 Der prismatische Blick auf den Ort,180 in dem die Jugendlichen verschwanden, eröffnet verschiedene Schichten und Wahrheiten: Während die Oberfläche, das Sichtbare und die Geschichte des Ortes prima facie ohne Reiz sind, offenbart der dritte Blick in Verbindung zum Wind ein mystère hinter der Fassade des Sichtbaren. Bezüglich der Faktur verweben sich mystère, Wind und Trüffelhain, d.h. Wetter und Mordserie, indem der Mann, der gegen den Wind ankämpft, dem Ermittler den Weg zum La Rabassière – mithin zum Trüffelhain – weist. Pointiert wird zum mystère des Verschwindens auf die Lösung gewiesen. Die Suche nach den Jugendlichen verknüpft Laviolette als ermittelnde Instanz selbst mit dem Wetter und der von ihm induzierten Atmosphäre in Banon: »Je viens m’imprégner d’une atmosphère. […] Il musarda, nez au vent, autant que le permettait le froid et sifflotant un air gaillard.«181 Konsequent wäre dies die Atmosphäre, die mit der Spezifik des Serientäters entsteht und entsprechend als Wirkung des metonymischen Ortes in der lebensfeindlichen Sphäre des Windes dargestellt wird: »Banon naviguait sur le désert du vent.«182 Aber das sinistre Wetter bzw. die entsprechende Atmosphäre tangiert zunächst Laviolette. Als Laviolette sich zur Kirchenruine der Hippies begibt,183 liegt Nebel über der Landschaft und umhüllt die Ruine. Mittels des dergestalt getriggerten locus horridus, auditiv untermalt durch Getöse und Surren des Windes sowie panoramatisch mit dem Blick auf die wettergeprägte Landschaft, wird ein evokativer Hall des Schauerromans zwar lanciert, aber das unheimliche Moment nicht realisiert, weil Laviolette das Wetter weitgehend ohne emotive Wertung wahrnimmt.184 So ist die Dämmerung in der Kirchenruine für ihn lediglich ein Umstand, der seine Recherche, das Durchsuchen des Müllhaufens, unterbricht: »Un crépuscule précoce envahissait l’Église. Laviolette ne distinguait plus rien. Il croyait bien, du reste, avoir atteint la couche du dépotoir antérieur à l’époque de la première disparition.«185 Der ›Konterpart‹ hingegen, das schöne Wetter, wirkt sich auf die Stimmung und pointiert auf seine Wahrnehmung als Polizist aus. Es ist der Tag nach dem Schneesturm, als Laviolette in Banon zum Bouleplatz geht und »un soleil radieux fit rutiler les tuiles«186 . Sonne und die mit ihr verbundene »air du dimanche«187 erzeugen ein sehr spezifisches Gefühl, denn »ici, il se sentait comme en vacances«188 . Dies führt dazu, dass Laviolette als Ermittler die Reaktion Roselines nicht hinterfragt, obwohl sie ein sehr friedliches Trüffelschwein ist. In diesem Sinne entsteht eine gewisse Ambiguität, insofern das scheinbar gute Wetter gleichsam als Opponent für die Ermittlung wirkt. Auf persönlicher Ebene – similär zu Chabrand im ersten Roman – wird in diesem Fall für Laviolette das Wetter zur Anbahnung einer romantischen Beziehung wirksam: den Schneesturm nehmen er und Rosemonde als Option zur Zweisamkeit wahr.

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6.2.2.3 Wetterwahrnehmungsänderung Die Wahrnehmung des Wetters durch Laviolette geht zunächst nicht über ein ›normales‹ Maß hinaus. Dies verändert sich schleichend mit der Implikation und Kenntnis des Grimoire wie der Verknüpfung zum Serientäter. Da die Bedeutung, die der Tötungsart inhärent ist, erst durch den Hinweis Brèdes ersichtlich wird, qualifiziert sie die Mordserie für Laviolette als »histoires de fou«189 : Ces sortes d’histoire n’arrivent qu’à moi. Les autres, ils ont toujours de bonnes grosses affaires de truands ou de souteneurs avec des ventres troués de balles. Tandis qu’à moi, ce sont toujours des histoires de fou qui me tombent dessus! Saignés comme des porcs! Je te demande un peu!190 Das Unverständnis angesichts der irrationalen Wiederholungsgewalt führt zu Irritationen. Von diesem Punkt aus wird die »rationalistische[] Fassade einer Welt […], die sich […] der Logik, der Moral und dem gradlinigen Fortschritt verschrieben hat«191 , unterlaufen. Dieses Moment wird gradatim mit der Lektüre des Grand Albert verwoben sowie mit zwei meteorologischen Verknüpfungspunkten, ›Fernmeldetechnik‹ und ›Begegnung mit dem Täter‹ Es ist der Anruf von Brèdes, der die Mordserie mit dem Grand Albert kontextualisiert und Laviolette zur Erkenntnis bringt: […] y a des interférences! Par temps de neige […] on entend tout de partout! […] La présence […] était palpable dans le tumulte houleux de la tempête. Il lui semblait que mille récepteurs fussent décrochés et qu’au bout de chacun, un assassin retînt son souffle.192 Hervorzuheben ist, dass die Wahrnehmung hier nicht als interne Fokalisierung erfolgt, sondern als externe Fokalisierung, als Eindruck der Figur durch den Erzähler. Die Darstellung der synästhetischen Wahrnehmung Laviolettes ist in diesem Moment Klimax der Verbindung von Wetter und Täter. Von diesem ›Verknüpfungspunkt‹ von Ermittler und Täter weitet sich die mephistophelische Wetterdarstellung auf Laviolette aus. So kommt es, dass der Commissaire, als er sich auf den Weg zu Brèdes macht, nicht durch ein simples Schneegestöber fährt: La tempête le saisit comme s’il était nu. […] Il faisait déjà une méchante nuit. Pendant qu’il descendait vers Dauban, parmi les griffes molles de la neige qui engorgeait son pare-brise, il se répétait les rudiments […]. C’était d’épais nuages noires arrachés de la dépression majeure centrée sur la Scandinavie que le vent apportait […] en bandeaux profondément déchirés.193 Das personifizierte Wetter ist dämonisch gezeichnet und ›attackiert‹ Laviolette. Markant ist die scheinbar objektive Spezifizierung des Sturms als Folge eines skandinavischen Tiefdruckgebiets, denn mit der Ursprungsverortung zum Norden besteht ein Innuendo zur Mesnie Hellequin.194 Mit diesem Schneesturm verändert sich deutlich das Verhalten Laviolettes als zuvor ruhigen Ermittler, der sich in Angst um Brèdes, wiederum gesteigert durch die Naturgewalten, durch Rezitationen zu beruhigen sucht. Laviolette kämpft sich durch den Schnee und erreicht das Anwesen Brèdes’:

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La tempête dans leur profondeur [cèdres], y mugissait tout son saoul. […] La neige désordonnée déchirait ses draps de fantômes aux génoises à quatre rangées de la magnanerie. […] Alors tout s’éteignit. […] Il ne distinguait même plus le bout de ses chaussures […]. [L]’angoisse s’empara de lui. […] il chercha sa voiture à tâtons. S’il la ratait, fût-ce de cinquante centimètres, il se mettrait à tourner en rond dans cette nuit qui transformait en désert compact la riante campagne. […] La porte du long corridor était béante, la neige y entrait comme chez elle.195 In multisensorischer Weise erzeugen die Wetterphänomene eine bedrohliche Atmosphäre und bewirken eine Evokation des Übernatürlichen, denn erneut beeinflusst das personifizierte Wetter die Technik: Die Lichter erlöschen. Schnee und Nacht transformieren den Landschaftsausschnitt in eine endlose Einöde der Finsternis. Laviolette durchquert nicht mehr einen Ort, sondern die Nacht.196 Durch die räumliche Ausdehnung der Nacht wird Laviolette auf eine archaische, vortechnische Zeit zurückgeworfen und gerät damit in den Bereich des Serientäters. Wetter, mittelalterliches Grimoire, die Angst um Brèdes, die Furcht vor dem Täter selbst akkumulieren und zeigt sich in der affektiv perniziösen Wetterdarstellung – angesichts derer Laviolette fast hilflos erscheint. Die zuvor auditiv erzeugte Präsenz des Täters manifestiert sich visuell durch den Schnee, der ins Haus Brèdes’ eindringt. – So entsteht eine Analogie zwischen Täter und Wetter, die sich in der Laviolette-Reihe häufig bei besonderen Figuren findet: Metonymisch für die Leiblichkeit (oder Seele) des designierten Opfers steht sein Haus, in das Schnee oder Wind eindringen und damit den Tötungsakt präfigurieren: Brèdes stirbt in den Armen Laviolettes, der seinem Freund nicht mehr helfen kann. Mit dem Tod Brèdes kulminiert die Meteo-Ange-noir-Relation des Täters. Laviolette spürt zunächst eine Präsenz und sieht dann eine verschleierte Gestalt: Il [Laviolette] […] sentit comme un froissement de reptile se faufiler alentour. Quelqu’un observait, quelqu’un suppotait. […] une masse sombre se profila […] l’apparition s’effaça. Puis un étrange pas glissa dans le long corridor. Un pas dansant qui faisait fi de l’obscurité et passait rapidement son chemin.197 Non expressis verbis erkennt Laviolette den mourrail incantatoire. Das Objekt, das Wissen um das Grimoire und die Wettersituation befördern die Kontiguität und das Verschmelzen von Täter, Naturphänomen und Ange noir. Der Tod Brèdes ist für Laviolette traumatisch und er weist sich selbst die Schuld zu: »Des grosses larmes coulaient sur ses joues de dur-à-cuire. […] J’ai laissé tuer mon ami […]!«198

6.2.2.4 Transformationswetter Der durch die Tötungsumstände traumatische Tod Brèdes bewirkt, dass das Wetter für Laviolette am nächsten Morgen zum psychologischen Trigger der kurzfristig supprimierten Gefühle wird, der über eine basale Stimmungsinterferenz hinausgeht: »C’est en sortant au grand air du petit matin que le souvenir de son ami mort l’assaillit. Il froissa le papier à cigarette qu’il jeta à terre sans le garnir.«199

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Trauma, atmosphärische Durchdringung sowie die Vermischung von Serientäter, Wetter und Ange noir (also die Personifikation des Bösen) bedingt eine sich wandelnde Sinnzuschreibung und eine veränderte Funktion des Wetters – insbesondere mit Blick auf die folgenden Fälle. Das Wetter wird zum Transformationswetter:200 Transformationswetter wird hier als Wetter, dessen semantischer Gehalt wandelbar ist, definiert. Es kann als motivisches Kondensat betrachtet werden, das per se alles bergen kann und sich über kulturelle, Bedeutungs- wie funktionale Gegensätze und Brüchigkeiten abzeichnet. Im Transformationswetter werden Betrachtungsweisen, Zuschreibungen und Wertungen facettiert, was in diesem Fall die Rationalität infrage stellt und unterläuft, wenn nicht für Laviolette gar außer Kraft setzt. Auf diese Weise setzt es »scheinbar Festes« in Bewegung »und lös[t] Fixiertes auf«201 . Relevant ist, dass diese Wetter »nicht nur Gefühle auslösen, sondern dass mit dem Affektbegriff ebenso prozessuale oder liquide Strömungen und von Bewertungen und Gefühlen geleitete Handlungen und Verhaltensmatrizen evoziert werden«202 . Genau dies erfolgt bzw. verdeutlicht sich mit der veränderten Wetterwahrnehmung Laviolettes, des Wetters und der ihm zugeschriebenen Bedeutung insbesondere ab dem dritten Fall Le secret des Andrônes. Mit dem gewandelten Wettergehalt für Laviolette verändern sich die literarische Funktion sowie der Sinngehalt des Wetters und damit der detektivischen Instanz als Teil des Kriminalromans; so wird etwa die (rationale) Funktion des Wetters als Spurenträger nahezu gänzlich nicht mehr verwendet. Laviolette bleibt ein versierter Ermittler,203 doch erweitert sich die Figurenkonzeption zum einen mit der sich entwickelnden Sehnsucht und dem Faible Laviolettes für alles, was nicht ›normal‹ erscheint.204 Dies gilt auch für den »meurtre poétique«205 . Diese Art des Mords hebt teilweise auf das analytische Rätsel bzw. eine herausfordernde Komplexität sowie auf ein ästhetisches Bedürfnis, d.h. nach einer besonderen Art des Täters bzw. der Täterin, das für Laviolette mit einer ›romantischen‹ Komponente zusammenhängt, ab.206

6.2.2.5 Die Auswirkung des Transformationswetters auf die Laviolette-Reihe Mit dem Transformationswetter erweitert sich die Figurenkonzeption, indem ein scheinbar kontemplativer Charakterzug Laviolettes als Teil seiner Ermittlungsmethode entworfen wird.207 Laviolettes Kollege Viaud lanciert das Moment (»En somme, vous venez vous imprégner d’une atmosphère«208 ), das später durch den Erzählkommentar in Le secret des Andrônes zu einer Facette des Polizisten wird: »La principale qualité policière de Laviolette, c’était de savoir muser le nez au vent.«209 Die Wetterwahrnehmung wird zu einer bedeutenden Qualität Laviolettes und mit ihr geht eine veränderte Art der Ermittlung einher. Grasso beschreibt die Methode Laviolette wie folgt: C’est que l’investigation s’opère ici par une interrogation de l’apparaître, pour une conscience qui sait qu’elle ne peut en aucun cas obtenir de connaissance sur la subjectivité (sur celle du coupable […]) ni sur les choses (circonstances, motif et détail du crime), sans une assise antérieure et indépassable dans son propre dehors, dans le monde.210 Die Brüchigkeit, die mit der Verknüpfung des Wetters und des Serientätermotivs entsteht, führt zu einer Infragestellung des Sichtbaren und zu einer Liquidität; zur subjek-

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tiv geprägten Wetterapperzeption Laviolettes und zur sukzessiven Verbindung mit der Wetterrelation der Täterfiguren. Erschien im ersten Fall das Wetter für Laviolette primär als Umweltphänomen und fungierte, wenn auch bereits gestört, als Spurenträger, verändert sich dies mit der wahrnehmungsästhetischen Konzeption des Wetters in Fall zwei. Das Transformationswetter führt in Fall drei zu einer Illusion, d.h. zu einer gewandelten Wetterapperzeption und -bewertung, die eine Einschätzung des Serienmords bedeutet, die sich für die Ermittlung und für Laviolette pointiert als fatal erweist. Es zeigt sich sohin eine meteorologische Kontiguität, das (rezeptions-)ästhetische Moment manifestiert sich in Le secret des Andrônes auf der Figurenebene. Die perception extra-sensorielle als ›Verzauberung‹ durch das Wetter steigert sich zur Einschätzung einzelner Wetterphänomene als Individuen – konzeptionell als Figuren –, die im Zuge einer Liquidität und aufgelöster Verhaltensmatrizen eine Kommunikation zu Laviolette ›suchen‹. Die meteorologische Kontiguität zeigt sich ferner an den Täterfiguren: Die evozierte Verschmelzung Pipeaus facettiert sich in der Bemächtigung bzw. der Konzeption der Serientäterin Cordélie (Fall: Le secret des Andrônes) als Naturphänomen und einer hierdurch entstehenden weiblichen Handlungsmacht.

6.3 Le secret des Andrônes Comme si l’air qu’il respirait recelait la clé du mystère.211 In Le secret des Andrônes gibt es zwei Fälle: Einer führt in die Vergangenheit (1944), ein zweiter besteht in der Mordserie der Gegenwart des Jahres 1979. In jenem Jahrwerden mehrere Frauen ermordet, indem sie aus einem hohen Fenster, von einem Turm oder Balkon gestürzt werden. Sie alle betreuten Rogeraine Gobert, eine scheinbare Heldin der Résistance in Sisteron, oder sollten sie pflegen. Weil die Täterin, Évangéline Pécoul, um Laviolettes Faible für Geschichte, verschworene Dorfgemeinschaften wie sentimentale Motive weiß und berechtigterweise vermutet, dass Laviolette einen Mord in Sisteron untersuchen würde, greift sie gezielt ein bisher geheim gehaltenes Ereignis aus der Vergangenheit Rogeraine Goberts auf – den Mord an Gilberte Valaury. Pécoul inszeniert eine Mordserie mit romantischem Hintergrund,212 die Gilberte Valaury, die 1944 von Gobert aus einer Lukarne gestoßen wurde, in den Mittelpunkt rückt und ein bestimmtes Täterprofil suggeriert. Die Opfer erscheinen als Stellvertreterinnen Gilberte Valaurys und Laviolette geht entsprechend von einem Mann mit ›romantischem‹ Motiv aus, der Rogeraine zusetzen will.213 Wetter und sommerliche Temperaturen sind als ästhetischer Teil der Intrige kohärent mit der Konzeption des Falls, d.h. mit der Intention der Mörderin. Mit den Naturphänomenen entsteht eine ambiance, die weniger mit der »complexité du personnage«214 der Täterin korrespondiert als vielmehr mit der gewandelten meteorologischen Relation Laviolettes. Als Folge des Transformationswetters kommt es zu einer intensivierten Wetterwahrnehmung und Veränderung der Bedeutungszuschreibung. Außergewöhnlich erscheint hierbei die Verflechtung mit der Inszenierung der Mordserie, denn die

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Haltung zum Wetter wirkt sich auf Laviolettes Ermittlung aus, sodass ein reziproker Effekt von Intrige und Wetter gleich eines red herring entsteht. Damit wird parallel das Moment des »[j]e viens m’imprégner d’une atmosphère«215 fortgeführt. Laviolettes Relation zum Wetter erhält insofern durch den Erzählkommentar »[l]a principale qualité policière de Laviolette, c’était de savoir muser le nez au vent«216 eine ironische wie mokante metanarrativen Touch.

6.3.1 Imago est animi vultus Évangéline Pécoul erscheint namentlich nur an wenigen Stellen. Mit ihrer geplanten Mordserie führt sie Laviolette gezielt in die Irre. Laviolette wiederum fühlt sich zu ihr hingezogen und erkennt in ihr nur durch Zufall die Serientäterin. Für ihn ist sie eine begehrenswerte, aber gefährliche Frau.217 Als Hinweis auf die Inszenierungsrhetorik der Serie zeigt sich die vergleichende Darstellung ihres Gesichts bei einer ihrer ersten Begegnungen: »[O]n voyait dans son visage, comme un signal […] cette étrange bouche carrée de masque grec, soigneusement peinte.«218 Während bei allen anderen Täterfiguren eine gewisse »forme de folie ou de dérèglement«219 besteht, wie Verdaguer formuliert, folgt Pécoul der pragmatisch pekuniären Motivation, das Erbe Rogeraine Goberts zu erhalten. Sie ermordet daher zunächst die Erbin Jeanne. Um von ihrem wahren Motiv abzulenken, begeht sie sodann weitere Morde nach einem inszenatorischen Muster: »cette manière de procéder […] cette obstination à monter le cadavre dans les hauteurs pour le précipiter après lui avoir épinglé une carte de visite [de Gilberte Valaury], procède d’un programme méthodique, bien établi…«220 . Diese Feststellung verweist darauf, dass Pécouls Vorgehen als einer bestimmten Logik folgend, d.h. als organisierte Tat, bewertet wird und nicht als ein »crime de fou«221 . Pécoul misst dem Wetter keine tiefere Signifikanz bei; sie nutzt allerdings die jeweiligen Wetterlagen, um sich zu verbergen, macht ihre Taten jedoch nicht von diesen abhängig.222

6.3.2 Laviolette im Bann des Wetters Die veränderte Wetterwahrnehmung zeigt sich unmittelbar mit der ersten Erwähnung Laviolettes kurz nach dem Mord an Jeanne während der Aufführung von La Tour de Nesle: »Le cri traversa l’espace. […] Le commissaire Laviolette était bon public. Il s’amusait au mélodrame […] Il ne regrettait pas sa soirée. La nuit était envoûtante.«223 Leitmotivisch ist der Effekt der Sommernacht gesetzt, denn nicht nur im Rahmen des Theaterstücks hüllt und stimmt sie Laviolette ein: Die Nacht ist Element der Theaterinszenierung, in dessen Verlauf der Mord an Jeanne (»cri«) eingebaut und damit Teil der Inszenierung selbst wird. Wahrnehmungsästhetisch wirksam assoziieren sich Mord und meteorologisch-atmosphärischer Effekt. Markant ist, dass das hier evozierte Zusammenspiel sich mit dem Leichenfund für Laviolette nicht auflöst, sondern intensiviert: »La soirée était tiède, l’air léger, les feuilles des arbres frémissaient sans bruit. […] Il craignait d’être interpellé, que quelqu’un s’interposât entre lui et le bonheur de cette nuit.«224 Auffallend ist die körperhafte Präsentation der Sommernacht, die der Nähe zu einer Frau (warm, Duft, Kleider rascheln) gleicht und bereits die Faszination Laviolettes von Pécoul anti-

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zipiert. Der Wunsch, den Zauber des Windes und der Sommernacht festzuhalten, wird vor dem Hintergrund der Inszenierung der Täterin gleichsam zum Schlüsselmoment des Wetters, d.h. der inszenierten falschen Fährte, der Laviolette folgt und sich bis zum Ende nicht mehr davon löst. So klärt Laviolette mühevoll die Vergangenheit (1940er-Jahre) auf, pointiert das für die Mordserie (1979) irrelevante Geheimnis, doch die Serientäterin entdeckt er nur durch Zufall. Nur ein Mord ist für Pécoul relevant, wie Laviolette retrospektiv und selbstkritisch erkennt: Je me suis vautré dans cette élégie criminelle alors qu’il s’agissait du meurtre le plus banale, du mobile le plus éculé. […] Jeanne est la seule victime utile. Les deux autres ont servi uniquement de support […] à cette fameuse carte de visite. Ceci dans le dessein que ce jobard de Laviolette s’affermisse bien dans l’idée qu’il s’agit de meurtres destinés à réveiller le remords dans l’âme de Rogeraine, par leur similitude avec celui qu’elle a commis autrefois.225 Zwei Momente relativ zu Beginn des Falles führen zur Verfolgung (falsche Spur) der inszenierten Mordserie: der Regenmantel und ein Sonnenstrahl. I. Der Regenmantel Der Fall (1979) klärt sich durch einen Regenmantel, den Laviolette anzieht, um Évangéline Pécoul zu überraschen. Bei diesem Anblick glaubt sie sich entlarvt und attackiert ihn mit einer Axt. Bedeutung erhält der Regenmantel, weil er als implizite ›Wetterspur‹ am Anfang und am Ende der Ermittlung steht und mit Irreführung und Auflösung verbunden ist. So erinnert sich Laviolette an das Theaterstück: »Oui, poursuivit Laviolette […], je l’ai eu sous mes yeux pendant plus d’une heure! […] Un ciré de facteur… […] Par cette chaleur… Avec son capuchon.«226 Die Hitze, die regenlose Nacht und der Regenmantel passen nicht zusammen und ziehen seine Aufmerksamkeit an. Doch die Irritation führt nicht zu einer Hinterfragung, sondern zu einer metaphysischen Interpretation: »Je croyais n’avoir pas remarqué cette forme en ciré noir […]. Il me semble qu’elle lançait un message dans l’espace et que j’ai refusé de le capter […].«227 Tatsächlich ist diese ›Botschaft‹ letztlich ein Hinweis auf die Täterin. Für Laviolette liegt eine Botschaft des Regenmantels im inhärenten Verweis auf die Vergangenheit, denn »il y a bien longtemps que les facteurs ne portent plus ce genre d’imper«228 . Spannend ist die Ambiguität als ›richtiger‹ (Erbe) und ›falscher‹ (ein älterer Mann) Hinweis auf die Täterfigur. Der Regenmantel wird hierdurch gleichsam Bestandteil der Intrige, da die zweite Interpretation Laviolette veranlasst, Mord aus niederen Beweggründen auszuschließen: »Je pense à un mobile qui ne serait pas sordide. Et alors, là, il va falloir faire preuve d’imagination.«229 Gerade diese imagination – eines poetischen Motivs – führt vom eigentlichen (pekuniären) Motiv fort. D.h. der assoziierte Gehalt des Regenmantels verstärkt die Wirkung der »nuit […] envoûtante«230 . Ferner lanciert der Regenmantel als Verweis auf den Regen und die Vergangenheit eine assoziative Verbindung zum Mord an Gilberte Valaury (1944): Er verbindet über seine Funktion alle Taten 1979 mit der von 1944, denn dieser Mord wird von Gilberts Bruder als auch von Rogeraine Gobert untrennbar mit dem Regen erinnert. Das letzte Opfer,

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Anne, stirbt gleichsam als fakturale Klimax der inszenierten Verweise am gleichen Ort (Lukarne des Hofs) und bei gleichem Wetter (Regen). II. Der Sonnenstrahl Markant an der meteorologischen Faktur ist neben dem Effekt auf Laviolette der Einsatz der Wetterphänomene zur Entwicklung der falschen Fährte resp. als Teil der Irreführung. Ein Beispiel findet sich unmittelbar zu Beginn der Mordermittlung im Fall Jeanne. Nur dank eines Sonnenstrahls, der in der Nähe des Tatorts auf Gilberte Valaurys Visitenkarte fällt, nimmt Laviolette diese wahr: Soudain, un nuage qui défilait devant le soleil modifia un instant les couleurs et le relief apparent du glacis. Quelque chose d’insolite brilla et s’agita sur le troisième corbeau de pierre. […] C’était un carton plat […]. Il lui [Laviolette] parut que ce débris tranchait nettement sur les déchets et les emballages vides.231 Dieser Umstand mutet wie ein Zufall an, kann jedoch auch als meteorologischer Fingerzeig und scheinbare Hilfe betrachtet werden.232 Der Sonnenstrahl wirkt wie ein Theaterspot und fungiert damit als Teil bzw. Auslöser der falschen Fährte. Ohne die Visitenkarte hätte Laviolette der (inszenierten) Spur gar nicht nachgehen können. Doch wegen des Sonnenstrahls sucht Laviolette nach Gilberte Valaury und fixiert sich hierauf. In dieser Funktion wirkt das Wetter als Opponent gegen Laviolette und die Ermittlung.233 In Le sang des Atrides stellte Laviolette bezüglich der Schuhspuren im Schnee noch kritisch ihre mögliche Problematik einer potenziellen Irreführung heraus. Das Problem an der Ermittlung in Le secret des Andrônes ist nicht der Versuch, das Geheimnis um Gilberte Valaury zu klären, sondern der singuläre Fokus. Bei den späteren Opfern hätte sich die Karte auch gefunden; auffallend ist daher, dass sie sich bei Jeanne, dem einzig relevanten Mord, nicht am Körper der Toten befindet, sondern nur bei Opfern, die der Vertuschung dienen. Am Ende von Le secret des Andrônes deutet sich eine erneute Veränderung der meteorologischen Apperzeption Laviolettes an, die zunächst als belanglose Schwäche eingebracht wird, der er kurz erliegt: Tu ne voulais pas qu’on t’oublie… Eh bien, vois-tu, ils t’avaient tous oubliée… Mais, moi, si tu le veux bien, j’ai plusieurs femmes dans ma vie, mortes depuis longtemps auxquelles je pense souvent et que j’imagine vivantes. Alors, toi, si tu veux, je t’ajouterai à mes mortes… Le vent soufflait sur les arbres lourds de neige. Il émettait sourdement le soupir de reproche des choses qui parlent en vain. Laviolette eût la faiblesse de croire que cette voix lui répondait pour elle [Gilberte Valaury].234 Dieses Moment stellt eine Weiterführung des Transformationswetters dar und eröffnet die Anbahnung der »perception extra-sensorielle«235 , wie sie sich in Le tombeau d’Hélios realisiert. Wind und Regen scheinen in Kontakt mit Laviolette zu treten und geben Hinweise.

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6.3.3 Sisteron Während seiner Nachforschungen ist Laviolette immer stärker davon überzeugt, dass die Bewohner Sisterons wissen, wer Gilberte war, aber schweigen, um den Mörder schützen: »[C]’est ici que se trouve la clé du mystère. C’est une histoire entre Sisteronnais. C’est une histoire souterraine.«236 Nach Stacey baut sich die Ermittlung um diesen Eindruck auf: »We see Laviolette build up a romantic picture of the assassin as a local person, someone like himself, who is absorbed in the past […].«237 Dies korrespondiert mit der suggestiv dargestellten Topografie des Dorfes: »Laviolette’s investigation leaves him and the reader convinced that the mystery is rooted in the town and its past«238 , sodass »[w]e are left with the impression that there has been a cover-up, an impression which the architecture of the town confirms […]«239 . Dieser Eindruck und die Wahrnehmung des Ortes durch Laviolette entstehen neben der Architektur Sisterons durch das Wetter. Grundsätzlich kann das Wetter die Wahrnehmung eines Ortes beeinflussen, etwa hinsichtlich seiner wechselnden visuellen Qualität mittels veränderter Licht- und Sichtverhältnisse. Licht und Humiditätsereignisse spielen dementsprechend essenzielle Rollen für die atmosphärische Qualität und Perzeption des Ortes. Die Verknüpfung von Laviolettes verändertem Verhältnis zum Wetter und der Wunsch nach einem poetischen Motiv beeinflussen die Wahrnehmung Sisterons. Der Ort wird durch den Nexus sowohl zum gestimmten Raum als auch zur Projektionsfläche. Das Wetter korrespondiert mit der gedanklichen Richtung Laviolettes und der Entwicklung des Falles, je mehr Laviolette von der (falschen) Geschichte absorbiert wird; es transzendiert nicht, sondern fungiert projektiv forcierend. Angefangen bei »[s]ur Sisteron secrète, seule la nuit était limpide«240 deutet der Kontrast das scheinbare Geheimnis noch an. Schließlich erscheint die Stadt metaphorisch im Nebel der Vergangenheit und des Schweigens, bis sich die Stadt von 1979 auflöst: »Il n’y avait plus de ville. La brume l’avait engloutie.«241 Für Laviolette liegt die Lösung metonymisch teilweise in der Nachtluft von Sisteron, in der Dunkelheit der Vergangenheit der Sisteronniens – dergestalt zeigt sich das Wetter als ambigue, als Teil der Lösung und der Intrige: »[I]l rôdait dans la ville […] comme si l’air qu’il respirait recelait la clé du mystère. Une nuit, même, il se leva et sortit de l’hôtel […];«242 »parmi les énigmes qui truffent le passé de cette ville noble.«243 Die Lösung liegt für Laviolette jedoch nicht allein in der Nacht, pointiert schreibt er dem Wetter eine gewisse ›Komplizenschaft‹ für den Täter zu, die in subtiler Weise de facto auch vorhanden ist: Nebel und personifizierter Wind helfen dem vermeintlichen Täter sich zu verbergen: »Si j’étais […] cet assassin romantique que sans doute j’imagine [!], je me sentirais à l’abris […]. Ce vent lui même me couvrirait.«244 Als Laviolette glaubt, der Fall sei nach dem Tod Rogeraines und des Doktors gelöst, verändert sich wettergesteuert der Eindruck des Dorfes: »Sisteron […] se ratatinait sous la neige.«245 Es entsteht der Eindruck, der Schnee verdecke die Geschichte wieder, nachdem das Geheimnis aufgedeckt wurde. Auf diese Weise deutet sich die Lösung des ›Grundproblems‹ des Mordes 1944 metaphorisch durch das Bild des fallenden Schnees über der Stadt an und effiziert das Bild eines meteorologisch geprägten Abschlusses bzw. einer ›Aussöhnung‹.

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6.3.4 Der böse Sommerduft der Glyzinie und der Mord von 1944 Independent von der Intention Pécouls weist der Fall eine saisonale Konzeption auf, bei der der Sommer und eine Glyzinie das Zentrum bilden. Die Glyzinie im Garten der Goberts wird von Charlot als diabolisch dargestellt, zum einen, weil sie bei den kalten Wintern der Region bereits hätte eingehen müssen, zum anderen ob ihrer sommerlich psychotropen Wirkung; durch die erhöhten Temperaturen entsteht der Duft der Glyzinie und wandelt diese zur Glyzinie »maléfique«:246 C’était au moins de juin. Il faisait torride. […] Il y a plus de cent mètres entre le Glissoir et l’Andrône et pourtant l’air y est barassé par le parfum de la glycine. Cette odeur, elle arrive par effluves […]. L’air était tellement léger […].247 Als Schwaden ist der Duft der Glyzinie olfaktorisch und visuell suggestiv präsentiert, unterstützt wird der luziferische Eindruck durch die sich wie »un serpent«248 umeinander schlingenden Stämme. Die diabolisch-olfaktorische Impression wirkt anregend und suggestiv; so auch an einem Abend 1940: »[O]n était imprudement passé trop près de ta [Rogeraine] glycine. Quand on est emmiellé dans le parfum de cette glycine, tout paraît facile, sans conséquence…«249 Dieser Moment ist der initiale Moment für den Mord an Gilberte Valaury: Rogeraine Gobert hat den Mann, den sie liebt, und Gilberte gesehen: »Vous êtes venu faire l’amour contre ma glycine.«250 Von Eifersucht erfüllt, ermordet sie die (vermeintliche) Rivalin. Pointiert fungiert der von den Temperaturen ausgelöste sommerliche Duft der Glyzinie als Auslöser und Basis für die gesamte Krimihandlung.251 Besonders im Leben Rogeraine Goberts spielt die Glyzinie eine kontinuierliche Rolle, nicht nur bezüglich des Mordes, sondern auch hinsichtlich ihrer Querschnittslähmung und des Selbstmords ihres Mannes, nachdem dieser sie mit einem Kadetten im Sommer unter der Glyzinie in actu überraschte. Die Relation zwischen der Glyzinie und dem Wetter zu Rogeraine zeigt sich, als diese gegenüber dem Doktor (dem Mann, den sie mit Gilberte sah) den Mord gesteht, jedoch meint erkannt zu haben, dass dieser auch nach Gilberte Valaurys Tod in diese verliebt ist und der Mord letztlich umsonst war. In diesem Moment weht der Wind in der Glyzinie und bringt Häme und Malice zum Ausdruck: […] Alors, j’ai accepté Gobert. Alors, il y a eu tout le reste…« Une profonde détresse la [Rogeraine] submergea. […] Elle chercha d’un regard d’enfant perdu cette glycine tout en fête, sous les festons de neige. Il lui sembla qu’un vent narquois l’agitait frileusement. »Ce doit être ça, la vraie punition. Avoir assez vécu pour comprendre enfin que tout ce qu’on a fait, on l’a fait pour rien«.252 Nach den jeweils sommerlichen, dramatischen Höhepunkten in Rogeraine Goberts Leben zeigt sich die Glyzinie zu ihrem Tod schneebedeckt und greift damit eine durch den Zyklus der Jahreszeiten implizierte semantische Konnotation auf.

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6.3.5 Saisonale Faktur der Mordserie Neben der Relation zu Rogeraine Gobert kann eine zweite meteorologische Faktur ausgemacht werden. Für Verdaguer ist »tuer […] un travail d’archéologue, une façon privilégiée de remonter le temps«253 . Die Mordserie 1979 ist (neben Les courriers de la mort) – die mit der genau dies geschieht, denn durch sie deckt Laviolette den Mord von 1944 auf und ruft damit die Résistance und Okkupationszeit in Erinnerung: »Magnan joue […] avec le souvenir historique […]«254 . Die ›Schlüsselmomente‹ zwischen den Zeiten, Ereignissen, Geheimnissen und Inszenierungen sind durch eine meteorologische Faktur verbunden.255 Diese lässt sich wie folgt vereinfacht darstellen: • • • •

Die Liebesakte unter der Glyzinie ereignen sich jeweils im Sommer. Der Mord an Gilberte ereignet sich im Sommer (23.06.1944). Der Mord an Jeanne ereignet sich im Sommer (Juli 1979): Es ist der einzige für Pécoul relevante Mord.256 Alle als Ablenkung, d.h. nicht primär relevanten Morde werden im Herbst begangen und von Humiditätsereignissen begleitet. Die Humiditätsereignisse spiegeln, basierend auf der ihnen inhärenten Einschränkung der Sicht, die Verschleierung der Tat und verweisen so auf ihre Inszenierung; dies kohäriert mit dem Regen während des Mordes an Gilberte. Letztlich wurde sie aufgrund mangelnder ›Sicht‹ ermordet. Der Mord an Jeanne im Sommer sticht mithin kontrapunktisch als nicht zur Inszenierung gehörend heraus.

6.4 Le tombeau d’Hélios En ce six heures du soir de février […] le vent lugubre qui soufflait dans les hauts platanes ne brassait que de la mort.257 Mitten in Herbst und Winter duftet es in Monosque nach Mandelblüten: Fünf Männer werden mit Blausäurekapseln getötet. Ein Champagnerkorken führt Laviolette zum Freundeskreis um den Künstler Hélios und zu einer tontine Mit der tontine drängt sich zunächst ein pekuniäres Motiv auf, doch Hintergrund der Mordserie ist die Liebesbeziehung zwischen Elvire Dardoire und Fabienne Lafaurie, die durch Hélios auf dem Anwesen Bel-Air angebahnt und in Zeichnungen festgehalten wird. Es kommt zum Verrat, als Hélios die Zeichnungen den Ehemännern zeigt und an einer Bronze arbeitet, die die Frauen in actu darstellt. Sein Verrat führt zur physischen und psychischen Gewalt gegen die Frauen durch ihre Ehemänner sowie zur Drohung mit dem Sorgerechtsentzug – Elvire Dardoire flüchtet in den Selbstmord. Die Täterin Cordélie ermordet aus Liebe die Männer, die am Tod und am Leid Elvires und Fabienne schuldig sind. Le tombeau d’Hélios (1980) ist innerhalb der Reihe nicht eindeutig verortbar. Die ungenaue chronologische Anbindung ist bezüglich des Wetters wichtig, weil sich in Le tombeau d’Hélios die in Fall zwei aufgebaute Relation des Wetters fortsetzt und steigert. Der

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Kriminalroman erscheint nach Le secret des Andrônes; (1980) auf Ebene der Diegese wird jedoch ausgeführt, dass Chabrand und Laviolette gerade den Fall Le sang des Atrides gelöst haben. Kurz darauf erwähnt Laviolette wiederum eine Ermittlung in Sisteron, ein Verweis auf Le secret des Andrônes. Laviolette und Chabrand gehen zudem umgekehrt zu Le secret des Andrônes wegen der tontine zeitweilig von einem pekuniären Motiv aus, vice versa liegt indes ein ›romantisches‹ Motiv vor. Wie in Le sang des Atrides besteht auch in Le tombeau d’Hélios eine Verbindung zur griechischen Mythologie, deutlich markiert durch Hélios-Helios, aber auch durch die Identität der Serientäterin als Naturphänomen.258 Dergestalt erscheinen Ursache (Verrat/Kunst) und Mord auf besondere Weise verwoben.

6.4.1 Die Serientäterin als Naturphänomen Cordélie tötet fünf Männer mit Kaliumzyanid. Ihre Motivation gründet weniger auf Eigeninteresse denn auf ›romantischen‹ Beweggründen. Sie mordet, um Fabienne Lafaurie zu schützen und Elvire Dardoire zu rächen: »Tous ils avaient condamné Elvire à mort. Et Fabienne avait aimé Elvire. Et moi j’aimais Fabienne. Je ne voulais pas qu’ils recommencent avec elle.«259 Bei der Durchführung geht Cordélie planvoll vor, sodass sie als organisierte Täterin erscheint. Verdaguer allerdings zählt sie zu den Täterfiguren, bei denen eine »forme de folie ou de dérèglement« vorliege, denn »la jeune empoisonneuse au nom shakespearien porte les marques d’une démence maternelle«260 und rekurriert damit auf die Exklamation von Hermerance, der erschütterten Urgroßmutter, als Cordélie von Laviolette als Mörderin identifiziert wird: »Sa mère est mort aux fous!«261 Die Verbindung zu Cordelia aus King Lear zu Cordélie, auf die Verdaguer vermutlich abhebt, lässt sich am ehesten mit der Funktion der Mutterrolle als Beschützerin ziehen. Bezüglich des Wetters und der Naturphänomene wäre vielmehr Shakespeares Theaterstück The Tempest interessant, da es ein Modell der Verwechslung von himmlischer und irdischer Gewalt bietet.262 Mit Le tombeau d’Hélios entsteht allerdings ein Quiproquo zwischen Cordélie und dem (mythologischem) Naturphänomen selbst. Mit der Relation geht zudem weniger die Frage nach einer psychischen Störung als nach weiblicher Handlungsmacht einher.

6.4.1.1 Quiproquo Das Quiproquo zeigt sich bei der ersten Begegnung Laviolettes mit Cordélie. Cordélie ist die Urenkelin von Hermerance und zunächst eine Nebenfigur. Sie belustigt sich über die Worte Laviolettes und kann nicht aufhören zu lachen. Zwar gibt sie Laviolette einen Hinweis auf Dardoire, doch ist sie in diesem Moment nicht in der Lage, sich zu artikulieren und »pouffait de rire«263 . An dieser Stelle erfolgt der expliziteste Hinweis auf die Figurenkonzeption mit der erneuten Wiederholung von Laviolettes Worten und ihrem eigenen Lachen im Treppenhaus: »Son rire argentin enfin délivré cascadait d’écho en écho […].«264 Die gezeichnete Parallele zwischen Echo, der Nymphe265 aus der Mythologie, und Cordélie ist frappant. Die Identifikation als Nymphe zeigt sich erweitert zur Beschränkung auf einen einzigen Ort in der Verbindung zur Region,266 in der Beziehung zu den Naturphänomenen, allen voran den verschiedenen Winden – dem Mistral, dem Südwind etc., wie insbesondere in der mehrfachen Identifikation von Winden vor den Morden als »montagnière«267 sowie als »vent particulier aux Iscles […] le souffle des montagnes«268 .

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Den Taten ist eine Botschaft inhärent, die metaphorisch durch die Täterin als Postangestellte, das Tragen des PTT-Gürtels sowie bei Chantesprit als vermeintlicher Telegrammbote angedeutet wird269 und eine Spiegelfunktion aufweist: Die physische und psychische Gewalt am weiblichen Körper wirkt auf die männlichen Täter zurück.Mit dem ›Handeln‹ des Wetter und Cordélies entsteht eine leibliche Reflexion,270 in deren Logik »Erfahrbares einzig ›am eigenen Leib‹ erfahrbar ist‹«271 . In diesem Sinne werden die Morde zum destruktiv-produktiven Akt eines Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsprozesses. Vor diesem Hintergrund erhalten die Blausäurekapseln eine symbolisch transformierende Funktion: Originär für die Raubwildjagd bestimmt, dehumanisieren sie die Männer und lassen sie zu Tieren bzw. zu Objekten werden. Nach dem Mord an Armoise enthält Hélios’ scheinbar nur abgewandelte Redewendung in seiner Aussage gegenüber Laviolette damit eine Äquivokation, die auf die Relation des Windes zur Täterin verweist: »Je n’en ai entendu aucune. Il soufflait un mistral à décorner les nymphes […].«272 Cordélie tötet nur des Nachts, dies ist als Opposition zu Hélios-Helios (Nacht vs. Tag, weiblich vs. männlich, Selene vs. Helios) als Agitationsbereich auffallend. 6.4.1.1.1 Helios-Hélios Eine offensichtlichere Verbindung zwischen einer Figur und einem Naturphänomen besteht mit Hélios-Helios. Beide, Cordélie und Hélios, verbindet eine engere Beziehung. Markant ist, dass Cordélie kurz vor ihrem Tod durch einen von der Sonne erzeugten Strahlenkranz um ihren Kopf wie die Verkörperung eines zweiten Helios (Hélios) erscheint, denn der Strahlenkranz ist das Attribut des Helios’ in der antiken griechischen Kunst: »Sa chevelure lui fit un soleil d’or autour du visage. […] Il [Hélios] m’admirait. […] c’est à cause de lui que tout est arrivé.«273 Auf diese Weise verweben sich Ursache, der auslösende Verrat und Kunst mit der Reaktion, der Mordserie und der dieser inhärenten Ästhetik. Diese Verbindung intensiviert sich und erfährt mit Cordélies letzten Worten (auf Laviolettes Frage, was mit Hélios geschah) eine weitere ästhetische Wertung: »[u]n chef-d’œuvre«274 . Die Fertigstellung der großen Bronze und die buchstäbliche Auflösung des Verräters (Hélios wird durch das heiße Metall wortwörtlich aufgelöst), der Abschluss der Mordserie lässt den Höhepunkt beider schöpferischer Arbeiten als »chef-d’œuvre«275 erscheinen und erhebt die Figur der Serientäterin selbst zur »Metapher künstlerischen Schaffens«276 . Nach der Aufklärung der Mordserie zieht Laviolette eine Verbindung zwischen Cordélie, Hélios und Tyche:277 Savez-vous [Chabrand] ce que je crois? […] C’est que le destin a forgé toute cette histoire pour permettre à Hélios d’avoir une morte à la hauteur de son génie […] vous êtes certain qu’il est mort? – Avant son dernier geste […] j’ai demandé à Cordélie: ›Et Sidoine?‹ elle m’a répondu: ›Un chef-d’œuvre‹ […].278 Beide ›Werke‹ bedingen sich reziprok und Hélios’ Bronze wird zur perfekten Performance. Als letzte Verbindung weht ein personifizierter Wind über das Kunstwerk und die Berge, hinter denen die Sonne untergeht: »Un vent dormeur agitait autour de BelAir des hautes branches des arbres; sous leur guirlande noire, le rassurant ensemble de Sigonce se découpait au soleil devant les montagnes.«279

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6.4.1.2 Mörderisches Wetter Die Relation der Winde zu Cordélie entsteht mit dem meteorologischen Einsatz kurz vor dem ersten Mord. Wetterelemente begünstigen die Tat und führen sie letztlich aus, da die Temperaturen die Verbringung des Kaliumzyanids in den Spritztank ermöglichen und sich, ausgehend von der Baumreihe, in der sich Cordélie versteckt,280 ein Südwind erhebt: D’abord, au milieu à peu près de la rangée d’arbres […], le vent, jusque-là nul, s’était mis à la partie. Il soufflait plein sud. De sorte que rabattue vers l’avant du tracteur, la pulvérisation turbulente et mal orientée enveloppait le machiniste [Paterne Lafaurie], ruisselait sur sa figure.281 Der personifizierte Wind mischt sich ein und agiert als Mittäter, wodurch erst die Blausäure als tödlicher Nieselregen auf Lafaurie fällt. Von diesem Moment an begleiten personifizierte Winde die Täterin, wehen ihr voraus und markieren dergestalt das designierte Opfer. Nymphenartig erscheint der Wind aus den Bergen bei Félicien Dardoire anthropomorphisiert: C’était un vent particulier aux Iscles, qui sévissait quand alentour tout était calme. […] c’était le souffle des montagnes […] Peut-être cette lame de fond d’air froid mettaitelle toute la journée pour venir enfin percuter ce bosquet dans la plaine de Monosque, qui tenait captive […] cette vaste ferme triste. Ce vent lugubre, lourd de regrets, parlait de temps qui s’écoule. […] ses habitants […] n’y prenaient pas garde.282 Der personifizierte Wind aus den Bergen steht in enger Relation zu Echo und verdeutlicht, dass der Mord nicht spontan erfolgt, sondern geplant ist (»mettait […] toute la journée«). Das Wetter ruft eine unheimliche Atmosphäre auf, um Dardoire mit Nacht, Mondschein, rauschendem Wind gezielt in Angst zu versetzen.283 Entsprechend fomuliert Cordélie: »Il pouvait être aussi costaud qu’il voulait. […] je l’ai tourné sur le gril une bonne partie de la nuit… Quand je l’ai atteint, il savait pourquoi…«284 Das mit dem Bergwind evozierte ›Vanitasbild‹ gestaltet sich ferner auffallend similär zu Elvire, die von Kummer erfüllt, von Dardoire drangsaliert wird und, in ihrer psychischen Verfassung von Dritten unbeachtet, den Suizid wählte. Die mangelnde Achtsamkeit gegenüber Elvire setzt sich in der mangelnden Aufmerksamkeit gegenüber dem Wind fort, wirkt aber letal auf Dardoire zurück. Bereits in Le sang des Atrides und später in Les courriers de la mort beeinflussen Naturphänomene die Apperzeption des Raumes durch die designierten Opfer. Besonders deutlich zeigt sich dies bei Maître Armoise, für den die Nacht die Landschaft verändert, Furcht auslöst und Verderben (Moros) bringt:285 Soudain, il eut conscience d’être seul […] comme si cette solitude était un piège où il serait tombé. […] Le vent filait sa vitesse de croisière. Il éparpillait l’eau d’une proche fontaine que le notaire n’entendait pas et qui le bénissait d’embruns humide. »Ce n’est pas le mistral, se dit-il, c’est la montagnière, le mistral s’arrête la nuit.« […] Que de fois […] regardant le ciel […] se mettre d’accord sur le temps, qu’il faisait, pour

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que s’allégeât la misère du pauvre monde. Mais le temps qu’il faisait cette nuit ne le rassurait pas. […] il regardait valser les feuilles mortes qui enlisaient ses jambes parmi leurs tourbillons. […] Du jour, tout ce pays lui eût souri. Il en connaissait par cœur le cadastre; il y chassait avec ses camarades. Sa géographie intime lui permettait de savoir que dans telle ferme, telle maison de maître ou telle chambre de bonne, reposaient des cuisses hospitalières sous le rempart des lits conjugaux. Cette vision ne le dérida pas, car c’était la nuit, il était dehors et il était seul.286 Armoise ist mitschuldig am Tod von Elvire und an der Misshandlung Fabiennes; ferner zeichnet sich in seinem Blick eine ›sexualisierte‹ Landschaft ab, über die sich seine Perspektive verdeutlicht. Gerade bei Armoise fällt diese Verbindung zwischen Nyx, Eros und Thanatos wegen des Bezugs zu Elvire und Fabienne (Bel-Air) auf. Die Nacht erzeugt das Gefühl einer Falle, aus der es präfigurierend durch den Wind, der als böses Omen totes Laub aufwirbelt, kein Entkommen gibt. Dezidiert nimmt er – anders als Hélios – den Wind als Bergwind war, ein Bergwind, wie er bei Dardoires Tod wehte.287

6.4.1.3 Cordélies Landschaft Durch das Wetter wird die Landschaft der Region kurz nach Laviolettes Gespräch mit Cordélie in spezifischer Weise zum Handlungsbereich der Serientäterin transformiert. Das Wetter moduliert die Landschaft dergestalt, dass sie der Täterin entspricht und zu ihrem Spielfeld wird: L’adorable jour d’hiver faisait du monde rutilant un jouet pour les hommes. […] Un amandier qui […] faisait […] son caprice d’hiver. Seul de son espèce […] il disait bonjour à tout le monde par toutes ses fleurs qui tremblaient au vent de Lure. […] Il [Laviolette] ralentit, il stoppa même sur le bas-côte pour charmer son regard de cette image: l’amandier abritant dans ses branches tout l’horizon des mots de Lure. Sous cette hauteur de cumulus entassés, de tous côtés cernés par le ciel bleu […].288 Die Transformation der Landschaft durch das Wetter ist insofern spannend, als sie mit der späteren ›Analyse‹ der Täterin bzw. den Morden durch Laviolette kohäriert: »Ce devait être très excitant cette façon d’arrêter la vie comme on arrête une pendule. […] Un homme s’écroule sans faire ouf, intact comme un pantin. Et à dix-sept ans on a tendance à confondre homme et pantin.«289 Für Laviolette ist die Serientäterin jemand, »qui paraissait jouer…«290 und »elle jouait comme les enfants: à cache-tampon«291 . Ihrem ›infantil‹ gezeichneten resp. nymphengleichen Wesen entspricht nach dem Tod Hélios’ sodann das nächtliche Himmelszelt über Laviolette und Chabrand: »Sur le ciel nettoyé comme par une serpillière, les constellations étaient repoussées, devant la nuit, telles qu’on les figure dans les livres d’enfant.«292 – Die Tötungsart der Vergiftung (in welcher Form auch immer) stellt eine tendenziell weibliche Mordmethode dar; die Dehumanisierung, d.h. die Betrachtung als Marionetten, lässt sich ferner mit der möglichen Vertauschung der Handlungsmacht von weiblicher und männlicher Täter-Opfer-Rolle gleichsetzen. Wiederholt transformiert das Wetter die Gegend zu einem Spielfeld Cordélies: Fast ›magisch‹ verwandelt der Regen eine Straße in einen Bach, ein Gewitter oder eine stürmische Nacht schützen sie vor der Identifizierung. In diesem Sinne fungieren die Wet-

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terphänomene nicht nur als Quiproquo zur Täterin, sondern auch als Adjuvanten im Sinne von Greimas’ Aktantenmodell. Hervorzuheben ist mit Blick auf die Identifizierung als Nymphe die Darstellung des Mandelbaumes: »Un amandier qui […] faisait […] son caprice d’hiver. Seul de son espèce […] il disait bonjour à tout le monde par toutes ses fleurs qui tremblaient au vent.«293 Über zwei Momente ergibt sich eine Verbindung zu Cordélie. Zum einen ist dies die Parallele zwischen Blütenblatt und Iris: »[L]a bizarrerie de ces yeux […] éclairés par la lumière de midi. […] iris […] au lieu d’êre rond comme chez le commun des mortels, il formait […] une ellipse verticale.«294 Zum anderen die Verbindung zwischen Baum und Mordmittel: Die im Wind wehenden Blütenblätter sind visuelle Entsprechung der olfaktorischen Impression von Mandel bzw. Marzipan – der Blausäure. Wie der Wind die Blätter trägt, tötet Cordélie und hinterlässt nach der Destruktion der Körper die evokative Impression des Mandelbaums.295 Unmittelbar vor ihrem Selbstmord (mit Blausäure) kulminiert die Verbindung zwischen Wetter (»un soleil d’or autour du visage«296 ) und Mandelbaum in der Identifikation und Absorption sowie der gleichzeitigen Auflösung: »Les prunelles en ellipse de Cordélie s’arrondirent soudainement, comme si pour la première fois, elles découvraient la vrai dimension du monde.«297 Die evokative Verquickung Pipeaus mit dem Ange noir als ›Besessenheit‹ wird mit dem Eindruck einer Trennung des Naturphänomens von Cordélie aufgegriffen und fortgesetzt. Es stellt sich suggestiv die Frage nach dem Erkennen der wahren Dimensionen als Entzauberung von der Nymphe bzw. den Wetterphänomenen angesichts des Todes.

6.4.1.4 Hélios und Bel-Air In diesem Fall besteht eine Verweisstruktur zu Hélios als Figur, Hélios’ Werk und BelAir als Ursprung der Handlung. Der erste Hinweis auf Hélios ergibt sich bereits vor der eigentlichen Lektüre über den Titel Le tombeau d’Hélios. Die Verbindung zur griechischen Gottheit Helios bildet einen stofflichen bzw. hypertextuellen Ausgangspunkt; wie Helios beobachtet auch Hélios und wird zum Verräter einer Liebesgeschichte.298 Zum Ende des Falles wird explizit, dass es sich beim tombeau d’Hélios nicht nur um ein Kunstwerk von kolossalem299 Ausmaß handelt, sondern dass das Kunstwerk in pluraler Weise das selbstgeschaffene Grab Hélios’ wird und Hélios in diesem aufgeht; es entsteht eine Art der perfekten Performance. Den Möglichkeitsraum zur Erschaffung des Kunstwerks bietet Bel-Air mit einem Wind, den Fabienne mit als Ausgangspunkt ihrer Liaison erinnert: »Les marronniers au-delà des fenêtres étaient en désordre sous le vent… […] Il me l’a littéralement amenée.«300 Wie in Le sang des Atrides, Les courriers de la mort und Le secret des Andrônes kommt damit dem Wetter in Le tombeau d’Hélios bezüglich der Liebesgeschichten eine Handlung und Dramaturgie fördernde Funktion zu. Der Wind bringt Unordnung in das Leben der Figuren, denn Wind und Hélios verändern die Figurenkonstellation. Markant ist vor diesem Hintergrund, dass sich am Tatort bzw. bei den Leichen der Ehemänner von Elvire und Fabienne jeweils ein Element findet, das auf Hélios verweist. Dies sind folgende: Mordtat Lafaurie: Beim Mord an Paterne Lafaurie, dem Mann Fabiennes, entsteht der Verweis durch das Mordmittel: »C’était là, derrière, que Léone et Jean-Luc faisaient l’amour. […] ils virent Paterne Lafaurie auréolé de bouillie cuprique qu’irisait le soleil der-

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rière lui. L’ombre propice soudain dissipée les laissait sans défense.«301 Der Strahlenkranz aus Kupfervitriol erinnert an Darstellungen Helios’ mit dem Strahlenkranz, wie etwa auf Münzen. Ferner besteht über den Apfel als Symbol – Lafaurie ist Apfelbauer – ein Innuendo als gemeinhin ›verbotene Frucht‹302 . Die Mordtat Dardoire: Am Tatort verweist etwas subtiler der Park, auf Elvires Refugium: »Le parc, sous la lumière hivernale, se plaignait dans le vent. C’était un forêt vierge où tout s’élançait en anarchie vers le soleil.«303 Hier handelt es sich um ein Naturbild, denn »forêt vierge« evoziert nicht nur das Bild eines Urwalds, sondern ebenso die (weibliche) Unschuld, damit Elvires Sexualität. Diese richtet sich »en anarchie«, somit paradoxal aufbegehrend, nach der Sonne aus. Der klagende Wind gemahnt an die verzweifelte Lage, die sich durch die Liaison und den Verrat ergibt. Mit dem Wind wird ferner ein Kreis zur Erinnerung Fabiennes und zum ersten Treffen auf Bel-Air gezogen. 6.4.1.4.1 Bel-Air und Wind Ab dem zweiten Mord rückt Bel-Air in den Fokus von Laviolettes Aufmerksamkeit. Der sprechende Name Bel-Air bildet einen direkten Konnex zum Wind wie zu Cordélie; erneut sind Ursache und ›Wirkung‹ verwoben. Kontrapunktisch zu den Morden, aber auch zur Stadt Monosque, die im metaphorischen Nebel zurücktritt, wird das Haus als Hélios’ Schaffenszentrum fast durchgängig mit Sonnenschein dargestellt: »Malgré la mort, ce matin de février, Bel-Air gardait sa mine pimpante«304 . Dies verändert sich dezidiert resp. in der Natur der Sache liegend mit dem Tod Hélios’. Das Licht auf Bel-Air und das Gebäude selbst verschwinden förmlich im Regenwetter: »Bel-Air était camouflé derrière la pluie et ils [Laviolette et Chabrand] n’aperçurent qu’au dernier moment le cube blanc sous les marronniers noircis.«305 Durch die konstante Personifikation des Windes in Bel-Air wird der Eindruck erzeugt, dieser wohne dort,306 denn anthropomorphisiert trägt der Wind nicht nur (tote) Blätter oder Schnee herein, sondern blättert durch Zeitungen, bringt Papiere durcheinander oder sorgt für Unordnung. Besonders in Bel-Air verfügt er aber auch über eine eigene Stimme: »Le vent dans la cheminée sifflait parfois son appel singulier.«307 Fabienne schließlich scheint es, als würde der Wind zu ihr sprechen: »Vous ne l’entendez pas? s’exclama-t-elle. Il me semble qu’il me répond. – Personne ne vous répond, dit le juge, c’est le vent dans la cheminée.«308 Mit dem Kurswechsel des Windes, »[le] vent qui giflait […] avait changé de cap«309 , zeigt sich indes ein veränderter Standpunkt des Windes und mit ihm kommt der Tod nach Bel-Air. Insofern Wind und Täterin ›gemeinsam‹ agieren, wendet sich der Wind gleichsam gegen Hélios: »Bel-Air était moins lumineux que d’ordinaire et la froidure des montagnes que portait le vent de Lure faisait luire ses murs baignés de clair de lune.«310 6.4.1.4.2 Tod der Sonne Hélios stirbt im Inneren seines Werkes, symbolisch durch sich und in sich selbst. Dieser Prozess wird durch Naturphänomene begleitet: La fournaise révélée comme une grenade entrouverte fanait l’éclat de la lune, faisait autour de son soleil insoutenable la nuit alentour hermétiquement obscure. Il sem-

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blait que sous la chaleur irradiée qui les rendait étincelantes, les vitres de Bel-Air allaient voler en éclats.311 Die Bronze selbst strahlt einer Sonne gleich Hitze und Licht aus, während sich im glutheißen Metall die metaphorische Sonne auflöst und Künstler und Werk verschmelzen. Mit der Transition der Sonne in das Werk transponieren sich der endliche Körper und seine Geschichte (Hélios, Objekt Elvire [tot] und Fabienne) in beständige Materie: La brume traînante qui hésitait au ras de la Durance gonfla soudaine […]. Elle avait encerclé, à bonne distance, l’emplacement du moule. […] Sur le pays, entièrement invisible, demeurait seul cet îlot de clarté laiteuse, ce cube qui par l’assèchement de ses composantes était maintenant immaculé et qu’isolait une bulle de chaleur palpitante. Et cet étrange halo faisait vibrer dans l’air de l’aube approchante une feuille de marronnier épargnée par les vents de l’hiver et qui tentait maintenant de s’envoler sous le souffle chaud qui s’évaporait autour d’elle. C’était l’unique signe de vie.312 [S]ur le terre-plein, entre marronniers, comme surgi de terre à la faveur de la nuit, brillait le dernier témoignage de Sidoine Hélios. […] – transcendé par le génie d’Hélios […] Ils [les deux corps] comme si cette étreinte se perpétrait dans le ciel. Quand le soleil tourna au midi, tous les traits de ces deux têtes perdues si loin l’une de l’autre s’imprégnèrent d’une douceur indéfinissable qui balançait, au gré des ombres et des reflets, entre la souffrance et le plaisir.313 In scheinbarer Leichtigkeit wenden sich die verschlungenen Körper gen Himmel, sodass es Hélios in seinem Werk in zweifacher Weise gelingt, die Sehnsucht und den Schmerz, aber auch die Dauer der Liebe zu eternisieren. Das scheinbare Ende nach dem Tod Elvires wird durch die Bronze negiert. Während Laviolette und Chabrand in Bel-Air sind, treffen die Metallgießer ein, um die Gussform aufzubrechen. Während Sonne, Wind und Regen als Hinweisgeber fungierten, unterbindet der Schnee die (scheinbare) Aufdeckung des Geheimnisses: […] zébrée par les cordes de neige qui la biffaient horizontalement, ne précisait aucun contour. Ses courbes incertaines fondaient sur le fond noir de la nuit. […] Il [Laviolette] avait la conviction intime qu’une grande partie de la vérité résidait dans cet obscur magma qui sortait du néant devant lui […]. Ça n’était pas qu’il tombât beaucoup de neige, mais c’était la vitesse du vent qui lui imprimait sa hargne. […] Le vent avait accumulé les flocons contre le groupe bronze et on ne distinguait de lui qu’une masse aux contours fondus. […] Enfonçant jusqu’aux chevilles dans la neige, il essayait, à grands revers de gant de balayer celle qui s’était agglutinée sur le bronze, mais la couche avait durci. Elle résistait.314 Nachdem der Regen Laviolette auf eine Spur des Künstlers gebracht hat, ist er überzeugt, die Bronze berge die Lösung des Falles, sodass die dünne Eisschicht als Barriere fungiert. Die Eisschicht weist metaphorisch auf einen Teil von Elvire und Fabienne, der eingefroren und aufgetaut werden musste und nach dem Tod Elvires wieder erstarrt. Eis und

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Frost wahren als Wetterelemente ihr (Fabiennes und Elvires) Geheimnis vor den Blicken der Männer (auch Laviolette und Chabrand). Erst als Fabienne selbst bereit ist, das ›Geheimnis‹ offenzulegen,315 gibt das Wetter die Bronze frei. Doch die Gesichter der umschlungenen Körper sind nicht zu erkennen.

6.4.2 Wetter und Laviolette – von Hinweisen und der perception extra-sensorielle Die Verbindung Laviolettes zum Wetter verändert sich ausgehend von Fall zwei und drei weiter. Für die Ebene der Ermittlung fungiert das Wetter kaum noch als rational greifbare Spur; hingegen verstärkt sich die Relation zur Figur Laviolette: Zum einen ist das Wetter Teil der Stadt- und Landschaftskontemplation316 und Faktor der Gestimmtheit,317 zum anderen vertieft sich die Wetterwahrnehmung und Bedeutungszuschreibung zur perception extra-sensorielle.

6.4.2.1 Das Wetter und die Ermittlung Die Funktion des Wetters als deduktive, rationale Spur ist marginal. Durch die niedrigen Februartemperaturen, so stellen Laviolette und Chabrand fest, bot sich dem Täter die Möglichkeit, den Inhalt des Spritztanks mit Blausäure zu versetzen – schlicht, weil das erste Opfer sich von seinem Traktor entfernte, um seine Arbeiter, die sich wegen der Kälte an einem Feuer wärmten, zurechtzuweisen. Dies ermöglicht eine zeitliche Eingrenzung, durch die man auf einen Mopedfahrer (tatsächlich wird auch hier lange Zeit von einem Mann ausgegangen) aufmerksam wird, der dort zum fraglichen Zeitpunkt gesehen wurde. Die Bestätigung des pekuniären Motivs der tontine erfolgt mittels des ›Kunstgriffs‹ Gewitter: Chabrand befindet sich während eines Gewitters mit einer jungen Dame auf Chantesprit und hört zufällig ein Gespräch zwischen Hélios und Aubert: Der Donner übertönt einige Worte Hélios’, sodass ein entsprechender Hinweis suggeriert wird – der aber nicht gegeben ist.318 Weniger als Spur denn als Verzögerungsstrategie nutzt Laviolette selbst den Regen, als Hélios als Assignatar der tontine und damit als Hauptverdächtiger verhaftet werden soll. Vermeintlich wegen des Regens verschiebt Laviolette die Vollstreckung, um Hélios Zeit zu geben, sein Kunstwerk fertigzustellen. Dieser Wettervorwand erweist sich als irrelevant, da Hélios bereits tot ist.319 Mit dem zweiten Mord wird die Liebesgeschichte Elvires zu einer noch unbekannten Person aufgedeckt, die aber Teil der Tischgesellschaft um den Künstler Sidoine alias Hélios sein muss.320 Über das Wetter werden wiederholt Hinweise erzeugt, die auf Hélios’ Werk und damit implizit auf den Tathintergrund deuten. So etwa ein Sonnenstrahl, der während der Befragung Hélios’ durch Laviolette auf eines der Werke fällt: Laviolette s’était levé et il déambulait lentement d’une statue tronquée à l’autre, subjugué par l’impression de refoulement, par l’aveau de castration que constituait chacune de ces œuvres éternisées dans leur position lubrique. Pourtant, l’une d’elles, que le soleil levant entrant par la porte béante illuminait solitaire, échappait aux contorsions érotiques. […] La sensualité, bien que vivante dans cette pierre, n’éclatait pas comme dans les autres œuvres. Elle était indéfinissable […].321

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Dieser Sonnenstrahl fungiert similär, jedoch vice versa zum Sonnenstrahl im Theater in Le secret des Andrônes; ihm ist ein Hinweischarakter inhärent, der tatsächlich auf den Hintergrund der Mordserie verweist: Qua meteorologischem ›Fingerzeig‹ wird auf die Einzigartigkeit des Modells gedeutet und dieses von allen anderen abgehoben. Bei diesem Modell handelt es sich um eine figürliche Darstellung von Elvire, der verstorbenen Geliebten Fabiennes. Hiermit ergeben sich zwei Dinge: Zum einen rückt der Sonnenstrahl frühzeitig diese Figur in den Fokus. Zum anderen verweist die kleine Bronzefigur auf die große Bronzefigur, an der Hélios arbeitet – und die scheinbar Teil des Verrats ist. Diesen Nexus zwischen Illumination der Bronze, Modell und Implikation Hélios’ kann Laviolette noch nicht bewusst zuordnen, er nimmt ihn aber bereits subkonszient wahr: »Il avait l’intime conviction que quelque mystère traînait sous ces poutres et que faute d’élucider on ne connaîtrait pas le secret de ces crimes.«322

6.4.2.2 Die perception extra-sensorielle Laviolettes Das Wetter in Le tombeau d’Hélios knüpft damit an das Moment des Transformationswetters sowie an die Wahrnehmung des Windes zum Ende von Le secret des Andrônes an. Es entwickelt sich eine spezielle Wahrnehmungsform, die »perception extra-sensorielle«323 , mit der – sukzessive und zunächst in Verbindung mit Objekten oder der Flora –, das Wetter als Individuum und mithin als Akteur resp. Aktant erscheint. Diese Deutung wird durch die entsprechend personifizierte Darstellung der Wetterphänomene unterstützt. In den jeweiligen Momenten steht das Wetter in einem Kommunikationsversuch mit Laviolette, das Wetter versucht, so Laviolettes Eindruck, ihm etwas mitzuteilen. Als erste visuelle Mitteilung kann der Sonnenstrahl in der Galerie Bel-Airs gewertet werden, den Laviolette jedoch noch nicht als solche erkennt. Dies verändert sich nach Laviolettes Gespräch mit Chantesprit, als er das Anwesen verlässt: »[D]ans la houle du vent, le saule […] lui fit […] un grand salut qui lui parut ironique.«324 Der Wind in der Trauerweide evoziert eine Kommentierung des Gesprächs; insofern ließe sich dies zunächst noch als projizierte autoreflexive Interpretation der Aussagen Chantesprits bewerten, d.h. des pointierten Eindrucks, etwas stimme nicht. Eine weiter veränderte Apperzeption des Wetters verdeutlicht sich, als Laviolette zu Maître Chalgrin geht: »Laviolette comprit, au désordre du vent qui giflait […], que février avait changé de cap.«325 Der Commissaire, so zeigt sich hier, weist nun ein tieferes Verständnis für das Wetter und die Saisonalität auf, wobei das eine über das andere sichtbar wird und dergestalt auf eine andere Ebene verweist. Zunächst lässt sich der Wettereindruck oberflächlich auf den Fall beziehen, da mit Chalgrin (nomen est omen) und der tontine eine pekuniäre Ermittlungslinie entsteht.326 Die ›tiefere‹ Ebene gründet sich in der Verbindung zur Täterin als Naturphänomen und der ab dem ersten Mord bestehenden Relation. Die Veränderung des Windes, die Laviolette nicht nur wahrnimmt, sondern »comprit«, ist eine veränderte ›Vorgehensweise‹ resp. Richtung der Täterin: Dardoire, Lafaurie, Armoise sind beseitigt, es bleibt der ›Verräter‹ Hélios, d.h. quasi die Wendung gegen ein anderes Naturphänomen. Das Gespür für die Wetterphänomene bzw. für die Täterin als ebensolches offenbart sich in der personifizierten Darstellung des Windes, der expressis verbis den Tod bringt: »En ce six heures du soir de février […] le vent lugubre qui soufflait dans les hauts platanes ne brassait que de la mort.«327 Es ist hier aber auch

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dezidiert der Wind – und nicht Cordélie –, was wiederum die veränderte Funktion des Wetters aufzeigt. Die Apperzeption eines ›Kommunikationsversuchs‹ des Windes setzt sich nach dem Gespräch mit Chalgrin fort. Dieser erfolgt in besonderer Weise über ein Werk Hélios’, womit metonymisch eine Verbindung besteht: »Le commissaire se tourna vers la statue de ses rêves, doucement énigmatique, porteuse du regret de sa jeunesse: ›Voici ce que tu as manqué‹, disait pour elle, le vent […].«328 Prima facie weist die Aussage auf die entgangene Sinnlichkeit Laviolettes, zumal dieser das Modell der Statue kannte. Bei genauer Betrachtung liegt der Verweischarakter der Aussage näher, da das »Voici ce que tu as manqué« wörtlich auf den Fall bezogen werden kann. Der Wind weist auditiv auf das Objekt, das zu Sehende, hin, scil. auf die Bronze selbst, pars pro toto damit auf die besonderen Bronzen in Bel-Air und ihr Modell. Die Intervention des Windes zeitigt Wirkung, denn Laviolette folgt nicht allein der tontine-Spur, sondern kommt auf zwei Objekte zurück, die tatsächlich Puzzleteile für die Liebesgeschichte sowie ›Hinweis‹ auf die Täterin – und die den Taten inhärente Botschaft – sind, aber noch nicht entschlüsselt werden können: »Tontine tant qu’on voudra, pensa-t-il, mais pourquoi le Traité du Narcisse et pourquoi ce ceinturon?«329 Der letzte meteo-kommunikative Akt erfolgt in Bel Air, wo Laviolette seine Wahrnehmung expressis verbis als perception extra-sensorielle benennt. Er apperzipiert den Regen als Person und das Geräusch damit als intentionale ›Artikulation‹ und vernimmt den fallenden Regen als eine Art Morsecode (•••• •• – •••• •• –). Die lokale Ortung des Regens, d.h. die Quelle der Mitteilung, führt Laviolette schließlich zum Ausgangspunkt der Geschichte bzw. des Falls: C’était sous le martèlement des eaux, le tambourin solitaire d’une gouttière sous les combles que recueillait un seau de fer. Ce tintamarre secondaire se cristallisait dans l’oreille de Laviolette en une phrase rapide qui se répétait à l’infini et qui insistait lourdement. Il se secoua: ›Le diable t’emporte, se dit-il, toi et tes perceptions extrasensorielles… › […] La gouette pianotait son bizarre alphabet morse dans le seau de fer. Laviolette […] se laissa aller dans le fauteuil, derrière le paravent. Quelque chose s’écrasa sous son pied […] il recueillit quelques fragments charbonneux […]. En se redressant, il frôla le paravent et s’aperçut qu’à cette distance, on voyait à travers celui-ci la pièce comme s’il n’existait pas.330 Laviolette deckt mit Hilfe des Regens zwar das Geheimnis Hélios’ auf, aber die Bedeutung bleibt unklar. In diesem Fall klingt folgendes ›meteorologisches Kommunikations‹Problem an: Die Information ist grundsätzlich gebunden an die Ungewissheit des Empfängers über den Inhalt der Nachricht und seine Fähigkeit, diesen Inhalt zu verstehen, sowie an die Ungewissheit des Senders, dass der Empfänger sie verstehen kann. Laviolette nimmt das Verhalten des Wetters als intentional und damit als Kommunikationsakt wahr – und folglich das Wetter als Individuum. Der meteorologische Code, die Nachricht an sich,331 kann aber (quasi ohne Kenntnis der Nachricht selbst) nicht entschlüsselt werden, die Mitteilung bleibt in ihrer Gesamtheit unzugänglich.

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Das Wetter fungiert hier sowohl adjuvantisch für die Täterin als auch leicht restringiert für Laviolette. Vor diesem Hintergrund steigert sich die Verbindung Laviolette und Wetter zum Täter.

6.5 Les courriers de la mort Nolite iudicare ut non iudicemini in quo enim iudicio iudicaveritis iudicabimini et in qua mensura mensi fueritis metietur vobis.332   Comme vous mesurerez il vous sera mesuré.333 Der Mord an Véronique Champourcieux in Barles erweist sich als Auftakt einer ganzen Serie, bei der alle designierten Opfer einen Brief einzig mit dem Vers Matthäus 7,1 erhalten. Versendet hat sie der ehemalige Postzusteller Barlès’ Emile Pencenat, der auf dem Friedhof sein eigenes Grab schaufelt und dort die unfrankierten Briefe entdeckt. Pflichtbewusst postiert er die Briefe und gerät damit selbst in Verdacht. Die Empfängerinnen ahnen, dass sie im Visier des Täters stehen – und warum (der Täter sucht nach einer Trommel). Doch schweigen sie lieber. Zu spät entdeckt Laviolette, dass sich die Morde um ein familiäres Unrecht und einen versteckten Schatz drehen. In diesem Fall entsteht durch Laviolettes Nachforschungen eine besondere Nähe zum Täter; so sehr, dass Chabrand Laviolette vorwirft, den Täter aus persönlicher Befindlichkeit nicht weiter zu suchen, denn »Vous avez empli son âme avec le trop-plein de la vôtre! Et pour tout dire, il vous ressemble comme un frère!«334 Die perception extrasensorielle Laviolettes bleibt bestehen. Für die Wetter-Verbindung zur Täterfigur werden Ansätzen der Geopsychologie resp. Klimatologie eingebaut, die Wetter-Relation geht jedoch weit hierüber hinaus. Die sich steigernden Wetterinszenierungen von Fall zu Fall werden fortgesetzt. Die evozierte Verschmelzung des Wetters mit dem Ange noir in Le commissaire dans la truffière realisierte sich in der Konzeption der Serientäterin Cordélie als Luftphänomen. In gewisser Weise wird in Les courriers de la mort das Quiproquo zum Täter Alcide Régulus aufgegriffen sowie die Handlungsmacht des Wetters ausgebaut. Mit dem Wetter als Figur resp. hier signifikant als Aktant erreicht die WetterDarstellung bzw. Rolle des Wetters im Krimi ihren Höhepunkt.

6.5.1 Geopsychologie und Klimatologie Ein potenzieller Ausgangspunkt des teilweise ›merkwürdigen‹ Verhaltens einiger Figuren gründet sich in der implizierten Einbindung eines zunächst medizinischen Wettereffekts der Geopsychologie bzw. Klimatologie: Medical geographers of the nineteenth century defined »climatology« as the study of meteorological phenomena. It necessitated the study of temperature, air circulation, composition and humidity, winds […] affected the climate of a particular locality. Cli-

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matotherapy was the therapeutic complement of climatology. It was the preventive and curative application of different climates […] »les avantages et les dangers de chaque climat.«335 Ergänzen und konkretisieren lässt sich mit Besancenot zum Wind: »Le vent est une réalité quotidienne de la vie méditerranéenne. Chacun des grands régimes météorologiques […] a, sur l’organisme humain des répercussions physiologiques, neuro-psychiques et pathologiques qui lui sont propres.«336 In der Genrelogik sind es der »danger de chaque climat« sowie insbesondere der Wind der Region, die wirksam werden und deren Basis bereits im ersten Fall geschaffen wurde: »[.] ses automnes, ses hivers mortels pour ceux qui manquent de fond«337 . Dieses Moment manifestiert sich in der expliziten Kopplung Barles’ an eine einzige Jahreszeit und ihrer Gefahr: »La vallée […] n’a qu’une saison: l’automne.«338 Das saisonal fixierte Wetter wird als Auslöser von Spleen und Exzentrik gesetzt: Et le ciel qui glisse sur lui n’est guère plus aimable au cours des mois d’hiver. Cela explique l’amour des passions extraordinaire où parfois aspirent les habitants: se creuser un riche tombeau; […] être avide d’un peu de sang ou d’un peu de mystère; se faire dans ce monde des biens qui périssent […].339 Auffälligerweise stellt die Landschaft hierzu ein meteorologisches Korrelat: Die Topografie wurde nicht nur im Laufe der Jahrhunderte von den Wettereinflüssen geprägt, sondern ist selbst steinerne Manifestation eines meteorologischen Phänomens: »[U]ne succession de tertres ronds arrêtés et bousculés et soudain figés […] ayant été les bords menaçants d’un tourbillon soudain immobilisé par le froid et suspendu dans le temps.«340 Auf diese Weise fungiert die Landschaft als permanenter Verstärker und geopsychischer Verweis auf den Wind bzw. als stetige Präsenz des Windes selbst.341 In einem nächsten Schritt wird im Gespräch Laviolettes mit der Wirtin Grimaude und ihrer Tochter Françoise die psychische Wirkung des Wetters aufgegriffen und als emotional behaftet sowie als psychologisch wirksam herausgestellt: Mais regardez-moi ce pays! […] Écoutez-moi ce vent! Et seule! Tout le temps seule! Seule dans tout ça! Avec toutes ces convoitises autour! […] Pittoresque! Ils disent! Je voudrais les y inviter […]! Seulement trois jours! Non mais! […] Comment voulez-vous qu’un y creuse pas sa tombe?342 Die scheinbare Idylle Barles’ wird durch die Wirkung des Windes entlarvt und aufgelöst. Ohne dies zu benennen, argumentiert Françoise klimatologisch; der Wind befördert nicht nur die Merkwürdigkeiten, Emotionen und intensiviert die Obsessionen, es bleibt vielmehr keine Wahl, als sich ihm zu ergeben. Einen besonderen Stellenwert erhält diese Wetterbewertung Françoises, weil sie die heimliche Geliebte des Täters ist, wodurch eine unterschwellige Verbindung zwischen Täter und Wetter gezogen wird.

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6.5.2 Das Wetter und der Täter Alcide Régulus ist Lehrer in Barles, leidenschaftlicher Briefmarkensammler und Mörder der Nachfahrinnen von Gaétan Melliflores, dem letzten Ausrufer von Digne. Prima facie hat Régulus die pekuniäre Motivation, den Schatz der Melliflores zu finden: eine seltene Briefmarke, die Four Pence Red. Daher stellen sich die Fragen: Ist die Mordserie eine extreme Form des pathogenen Sammelns? Oder steckt eine tiefere Problematik dahinter? Im der Handlung vorausgehenden Sommer stößt Régulus auf die Forschungen seines Amtsvorgängers Martin, der sich aus rechtshistorischem Interesse mit der Genealogie der Melliflores befasste.343 Unter dem Eindruck des Sommers wird etwas scheinbar Festes ins Wanken gebracht, denn die Notizen veranlassen Régulus, sich mit seiner eigenen Herkunft zu befassen und provozieren letztlich die Infragestellung seiner Identität: […] ouvrant par cela ma propre boîte à Pandore […] à partir de là, les valles qui rayonnent autour de la Bléone n’ont plus vu que moi sur mon cyclomoteur et j’ai fini par savoir comme on sait toujours quand précisément il faudrait ignorer344 . Mit seinen Nachforschungen eröffnet sich Régulus, dass er selbst von den Melliflores abstammt.345 Mit seiner Recherche wächst die Überzeugung, ein Brief des exilierten Ururgroßvaters sei mit der Four Pence Red frankiert, und die Suche nach dieser entwickelt sich zur Obsession. 1861 versandt, verfügt die Marke nicht nur über Sammlerwert, sondern einen ideellen, chronotopischen: Sie ermöglicht ein Nachspüren und stellt eine Verbindung zwischen entfernten Orten, Vorfahren und vergangener Zeit dar. Die Marke wird zum Symbol einer (identitären) Leere, die, so scheint es, mit ihrem Besitz ausgefüllt werden kann.346 Régulus schreibt die letzten vier Melliflores an, um die Musik-Trommeln zu erwerben. Doch die Melliflores ignorieren die Briefe und verstärken damit die Identitätsproblematik Régulus’.347 An der ins Wanken geratenen Identität Régulus’ setzt das Wetter an. Auf einer ersten Stufe kann die Klimatologie als Hinweis auf den Wandel zum Mörder gelesen werden, weil durch die Infragestellung der Identität ein manque de fond entsteht, durch den Régulus besonders empfänglich wird.348 Auf einer zweiten Stufe steht die Wirkung des Windes in Verbindung zum Täter: Der Wind erweist sich als Transformationswetter und Agent Provocateur. Für das Zusammenspiel von Wetter und Täter werden folgende Facetten beleuchtet: • • •

Expositorische Verknüpfung: Der Lehrer im Zentrum des Windes Der Initialmoment und das Transformationswetter: Der erste Mord und die Wettermaske Verwischung von Wetter und Täter

6.5.2.1 Expositorische Verknüpfung: Der Lehrer im Zentrum des Windes Expositorisch werden mit den ersten drei Absätzen in Les courriers de la mort Serientäter und Wind untrennbar miteinander verwoben:

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Contre la porte du cimetière de Barles, il y a une boîte aux lettres. […] Dans le courant des années 60 […] l’assassin à la belle écriture utilisa […] cette boîte aux lettres. […] par les jours de tumulte, quand le mistral claque autour du Couar […], ce portillon cliquetait doucement sur ses charnières. Mais […] cette sourdine de girouette […] ne se remarquait pas.349 Mit der Isotopie ›Nachricht‹ (Handschrift, Brief, Briefkasten) entsteht eine Trias aus Täter, Wind und Mitteilung.350 Bezüglich der Exposition lässt sich mit Krings formulieren: »[D]ie an einer späteren Stelle vergebenen Informationen [werden] stets im Licht des schon am Erzählanfang Gesagten gedeutet […].«351 Von hier aus ziehen sich die weiteren Wetterinformationen, Hinweise auf den Täter und die Deutung der Morde – als Mitteilung, d.h. mit einer besonderen Bedeutung für den Täter – durch den Text. Nachzuvollziehen ist dies z.B. anhand der Verbindung des Täters zu besonderen Wetterlagen. So denkt Françoise nach dem ›klimatologischen‹ Gespräch mit Laviolette dezidiert an ihren Liebhaber, den Lehrer. Die zweite deutliche Verknüpfung zu Régulus entsteht mit den Eindrücken Laviolettes während seines ersten Spaziergangs durch Barles. Wie ein establishing-shoot richtet sich der Blick von der allgemeinen Betrachtung des Ortes, dem Eindruck der Landschaft als Wirbelsturm, dem saisonalen Himmel, den ausgelösten Obsessionen auf ein konkretes Wetterphänomen – und den Lehrer: Une odeur suggestive de bogues de marrons en train de se consumer […] montait avec la fumée derrière les grilles de la cour. Tout seul parmi la poussière et le vent, un instituteur d’un autre âge transportait – en triomphe aurait-on dit – une masse grouillante de rats […] qu’il allait sans doute jeter au feu peut-être allumé exprès.352 Durch die sukzessive Fokussierung steht der Lehrer im Zentrum des Wetters allein im Wind. Pointierterweise erscheint der Lehrer kurz vor einem Tötungsakt. Zum einen lässt sich dies mit der vielfach Serientätern zugeschriebenen Tierquälerei assoziieren, zum anderen wird der Akt des Tötens selbst mit dem Gefühl der ›Genugtuung‹ gezeigt. Mit dieser Stelle verweben sich zwei spätere Knotenpunkte: die Verwandlung Régulus’ in einen ›Geist‹ sowie die similäre Präsentation der Lombarde.353 Denn parallel eröffnet sich der Blick auf das, was noch nicht sichtbar bzw. noch nicht konkret ist: Régulus ist nicht mehr nur Lehrer, er ist bereits ein anderer. Mit dem ersten Mord in Verkleidung als Gaétan Melliflores ist ein Teil von ihm bereits Schatten einer anderen Zeit, ein Lehrer, dessen Lektion die designierten Opfer nicht lernen.

6.5.2.2 Der Initialmoment und das Transformationswetter Die Relation zum Wind entsteht in einem für Régulus bedeutenden Moment, den er in seinem Tagebuch festhält, als ihn die Idee zur Four Pence Red ›trifft‹: Et ce fut une nuit, une nuit de grand vent, où j’avais dû me lever pour assurer le volet de la cuisine qui battait contre le mur; ce fut au moment où je me penchai au-dehors, la tête giflée par l’air rébarbatif de cette nuit-là; ce fut à cet instant précis qu’une certitude me frappa l’esprit, qui n’était pas le fait d’un raisonnement: l’oncle

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(c’est à dire mon trisaïeul) avait envoyé ses malédictions à son frère pendant plus d’un an depuis un lieu que le Dr Pardigon appelait Adamastor…354 Hervorzuheben ist, dass mit dem Tagebucheintrag eine interne Fokalisierung entsteht, die Wahrnehmung des Wetters mithin die subjektive Wahrnehmung der Figur ist. Der Wind erscheint anthropomorphisiert, verpasst Régulus gleichsam eine Ohrfeige, die ihn ›aufrüttelt‹. »[C]et instant précis«, erscheint als Initialmoment für das Transformationswetter355 und wandelt den semantischen Gehalt des Wetters für Régulus. Aus zunächst scheinbar pragmatischen Erwägungen wird das Handeln Régulus’ vom Wind abhängig: Zum Kaschieren seiner Anwesenheit auf den Dachböden wählt er Nächte für die Suche nach den Trommeln, in denen ein starker Wind weht. Doch er wird dennoch wahrgenommen, so etwa von Ambroisine: »Il croit ainsi étouffer le bruit qu’il fait. […] Mais je […] les entends toujours […] des souliers à clous […].«356 Neben dieser sich als nur scheinbar pragmatisch erweisenden Funktion zeichnet sich eine Handlungsdependenz ab, die nur prima facie vom Wetter unabhängig ist: das Schreiben der Briefe (Mt. 7,1) an die Melliflores, die Pencenat immer »précisément le lendemain d’un soir où le vent avait ainsi soufflé«357 findet. Das Wetter weicht gradatim Betrachtungen und (Moral-)Vorstellungen des Lehrers auf. Mit der Handlungsverknüpfung (zu allem, was die Melliflores betrifft) eröffnet der Wind eine Prozessualität; er triggert Emotionen, eine identitäre Brüchigkeit sowie von ihm geleitete Handlungen und Verhaltensmatrizen. Régulus hält retrospektiv in seinem Tagebuch fest: »C’est probablement […] pour retarder le plus possible ce que ce vacarme me conseille d’entreprendre […].«358 Der Wind, so verdeutlicht sich, tritt als ›Berater‹ resp. als Agent Provocateur in Erscheinung. Der Wind kann – und dies ist das Besondere am Wetter in Les courriers de la mort – erstmals als Sender im Sinne des Greimas’schen Aktantenmodells gesetzt werden. Dies stellt ein absolutes Novum für den (hier untersuchten) Kriminalroman dar. Deutlich wird dies auch mit dem ersten Mord, dem »Pilot«359 : Da die Suche an den Wind gebunden ist, erscheint es konsequent, dass sich die Tat bei starkem Wind ereignet. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Régulus nur ein designierter Dieb. Markanterweise vollzieht sich in einer Nacht, in der Régulus auf dem Dachboden Ambroisines sucht, ein Wechsel der Windrichtung. Dieser personifizierte Wind ist gewalttätig: Un vent […] qui prenait à rebrousse-poil les feuillages des platanes et les arrachait par poignées; un vent qui giflait la façade à grandes claques […]; un vent qui aidait de son vacarme brutal l’inconnu qui là-haut sortait du grenier […].360 Die Veränderung des Windes draußen entspricht der Verhaltensänderung des Täters im Haus. Fallen Wetterwechsel und Verhaltensänderung Régulus’ zufällig zusammen oder löst der Wind diese aus? Im Sinne der Klimatologie könnte der Wind psychophysisch wirken, die Obsession und Begierde intensivieren, eine plötzlich verstärkte Gereiztheit bedingen, sodass der Wind zum (psychischen) Auslöser eines Affektverbrechens wird. Der Wind ist jedoch bereits Teil der Taterzählung, mit Blick auf die bisher bestehende Verbindung und auf die weiteren Ereignisse ist der Pilot kein Affektverbrechen. Der Wind wirkt nicht nur adjuvantisch, sondern als Trigger bzw. als Sender, der die Tat lanciert.

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Das Zusammenwirken von Wind und Täter verdeutlicht sich in Les courriers de la mort mit dem Fokus auf den designierten Opfern, sie identifizieren den Zusammenhang von Wind und Täter.361 Durch das Erkennen der Verbindung fungieren starke Winde als Angstauslöser und präfigurieren als ›böses Omen‹ den Tod. Für die Opfer steigert sich jeweils mit dem zunehmenden Wind die affektive Wahrnehmung von Angst zu Panik.362 Die mit dem Wind aufgebaute Angst Véroniques (Pilot) kulminiert in der Konfrontation vis-à-vis; sie identifiziert Régulus nicht, spürt aber hinter der Wettermaske den Tod: Cette idée fulgurante la traversait pendant qu’elle fixait en plein visage les traits […] de son agresseur. […] poudrée à frimas […] paraissait avoir fané la neige d’un hiver précédent. Que la mort se présentât sous de si ridicules espèces ne la rendait pas moins présente.363 Régulus erscheint in der Perspektive des ersten Opfers als Teil des Wetters – und aus einer anderen Zeit, was auf die Familiengeschichte der Melliflores verweist. Dieses Zusammenwirken steigert sich kontinuierlich bis zum Quiproquo.

6.5.2.3 Mord – Identität Der Vers Mt. 7,1, den Régulus jeder Erbin zusendet, markiert »die Koordinaten eines Handlungsgefüges, das in seiner Gesamtheit die Taterzählung bildet und die (Selbst-)Konstruktion«364 und Auflösung des Täters widerspiegelt. Die Taten fungieren als semiotische Verschiebung des Identitätsverlusts und des nicht integrierten inneren Destruktionspotenzials, als Verschiebung der Lösung der aufgebauten Fassade, hinter der (wiederum Régulus als) ein Melliflore sichtbar ist.365 Emotionen und identitäre Brüchigkeit Régulus’ kulminieren in der Konfrontation mit Véronique erstmals »in eine nach außen gerichtete Destruktion – am Körper des Opfers«366 . Im Tötungsakt werden die Melliflores »materiell wie semiotisch entkörperlicht, in das Deutungsfeld des Täters überstellt und somit zum semiotischen Doppel des Täters erhoben. Das Opfer wird […] in mehrfacher Hinsicht seiner eigenen körperlichen und psychischen Identität beraubt.«367 Die verschiedenen Tötungsarten Erstechen, Erschlagen, Erdrosseln und der Sturz in die Dunkelheit sind Entsprechungen und Spiegelung des psycho-physischen Erlebens Régulus’; der den Opfern beigebrachte physische Tod korreliert mit den seelischen Wunden und dem Identitätsverlust des Täters.368 Die Tötungsdelikte in ihrer Prozessualität erscheinen ad interim als Spiegelachse der Umkehr der Familienlinien: Régulus löscht wortwörtlich den Teil der Melliflores aus, der zuvor den seinen (metaphorisch) auslöschte. »In der Imagination und am Körper« der Melliflores sucht »der Täter das umzusetzen, was ihm bisher versagt blieb […]. Auf diese Art werden die Leichen der Opfer, die semiotischen Stellvertreter des Täters, zu einer Plattform, über die er sein Destruktionspotential austrägt und sich als Individuum konstruiert.«369 Das Problem Régulus’ gründet sich in der Unmöglichkeit der Selbstrekonstruktion. Einer erneuten Spiegelung gleich, kommt es im Nachklang der ersten Morde zur Impression der Selbstauflösung: »me voir me déjuger, me dissoudre, me détester […] Me voir effacer […].«370 Jeder Mord bringt ihn nicht seinem Ziel näher, sondern perpetuiert die Dekonstruktion seiner Selbst in der Destruktion der Opfer. Mit der Spiegelung der

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Identitätsauflösung entspricht seine Tat die der Melliflores – Matthäus 7,1 wirkt auf beiden Seiten. Der Wind, identitäre Brüchigkeit und Auflösung und neue Verhaltensmatrizen (Mord) bringen Régulus in einen psychischen Grenzbereich. Vordergründig, um seine ›Cousinen‹ zu erschrecken, trägt er das Pionierkostüm Gaétan Melliflores; dieses birgt eine psychische Schutzfunktion, insofern er die ›Identität‹ eines anderen annimmt und sich für die Suche und den Akt des Tötens in eine ›paranormale‹ Gestalt verwandelt. Er wird zum ›Geist‹ Gaétan Melliflores.371 Zu einem gewissen Grad wird das Moment wirksam, das Verdaguer als »mise en scène destinée à faire revivre des ancêtres disparus«372 beschreibt oder wesentlich drastischer als: »Tuer est […] un travail d’archéologue, une façon privilégiée de remonter le temps.«373 Das Besondere ist, dass zwar eine Verbindung zum despektierten Teil seiner Familie Melliflore entsteht,374 aber Régulus sich selbst als Nachtschatten, als ›Brüchigkeit‹ des Wetters sieht. So formuliert er gegenüber seiner Kartenspielrunde: Il y a des certaines choses qui franchissent les âges, qui franchissent la nuit […] De quoi pouvez-vous bien témoigner? […] Enfin, je vous le demande: est-ce bien votre voisin Alartéus que vous avez salué tout à l’heure dans le clair-obscur? Ou bien estce l’ombre de son grand père […]? Êtes-vous bien certain […] que le temps ne dérape pas, parfois sans crier gare?375 Herauszustellen ist das Homonym »temps«, es verweist prima facie auf eine ›Durchlässigkeit‹ der Zeit; mit Blick auf die Verbindung Régulus zum Wetter wird hier jedoch auf eine tiefere Bedeutung für den Täter angespielt. Diese Facettierung von Wetter und Zeit verknüpft sich mit der Unklarheit des ersten Opfers (Véronique), ob auf dem Dachboden »nur« der Wind und nicht auch eine unbekannte Person umherstreift: »Peur à en perdre l’esprit. […] je ne sais si j’ai peur de quelque chose de vraiment naturel […].«376 Der Zweifel nagt an der Realität; konkret stellt sich die Frage nach der Person auf dem Dachboden sowie nach der besonderen Art des Windes und beantwortet diese gleichzeitig. Denn das Wetter muss als unnatürlich entlarvt werden, insofern (extratextuell für Magnan) der Kriminalroman lediglich als »prétexte«377 fungiert, um über das Wetter zu schreiben, das selbst die Kontiguität der Figurenwelt bedingt. Mit der Wettermaske bzw. einer Teilidentität als Wetter und der Vaporisierung verwischt sich die Trennlinie von Täter und Wind. Letal wird die evozierte Kongruenz in der (verwechselnden) Identifizierung des Täters als Wind durch den Morchelsammler: »Il fit du regarde le tour complet de l’horizon de près et de haies humides où ils cheminaient. Il suivit même soupçonneux la traînée du vent sur les folles avoines d’une jachère.«378 Mit der maliziösen Frage der Erzählinstanz wird der Wind suggestiv als Régulus angedeutet, aber das Quiproquo nicht aufgelöst: [À] Barles, tout serait progressivement rentré dans l’ordre si la saison des champignons ne s’était anormalement prolongée. […] rien ne distingue, une fois cuit, l’entolome en bouclier de son cousin livide […]. Une fâcheuse erreur? Ou alors, l’autre soir […] quelqu’un était-il couché parmi ces avoines folles qui un moment parurent remuer?379

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Die Vorgehensweise bei diesem Mord unterscheidet sich deutlich von der Melliflore-Serie: Eine ungewöhnliche, in alias verbis eine unnatürliche Wetterlage ermöglicht den Tod durch Pilzintoxikation.380

6.5.2.4 Die Relation des Wetters zum Täter Auf der Figurenseite entsteht die Prozessualität von Wind und Täter durch eine gewandelte Wetterapperzeption seitens Régulus’ – der Wind erfährt eine funktionale Verschiebung vom ›bloßen‹ Naturphänomen zur Figur und zum Sender. So evoziert die Darstellung des Erzählers zu Beginn des Abschnittes der Tagebucheintragungen das Unbehagen, die Furcht vor dem Wind: »L’échine courbe, l’homme qui écrivait était aux aguets de ce tumulte comme s’il contentait pour lui quelque fatalité.«381 Nicht nur über die Darstellung auf der Rezeptionsebene, sondern auch für die Figur Régulus’ entsteht auf der Ebene der Diegese gradatim eine sich verstärkende Figuration von Windphänomenen; eine Veränderung des Status des Wetters. So tritt der Wind in der Nacht der Ermordung Violaines nicht mehr als ›quelque chose‹, sondern als »quelqu’un« in Erscheinung: Il sursauta. Quelqu’un cognait avec insistance, en bas […] Il écouta. Les coups redoublèrent, s’arrêtèrent, recommencèrent à plusieurs reprises […]. L’homme écouta encore un instant, en retenant son souffle et sans bouger. Mais seule maintenant, le vent sur le Bès sifflait parmi les arbres. L’homme poussa un long soupir et secoua la tête.382 Subtil erscheint das platzierte »quelqu’un«, das den Wind als Figur konstituiert. Régulus hält retrospektiv in seinem Tagebuch fest: »C’est probablement […] pour retarder le plus possible ce que ce vacarme me conseille d’entreprendre […].«383 Der Wind, so verdeutlicht sich, tritt als ›Berater‹ resp. als Agent Provocateur in Erscheinung. Der Wind kann – und dies ist das Besondere am Wetter in Les courriers de la mort – erstmals als Sender im Sinne des Greimas’schen Aktantenmodells gesetzt werden. Dies stellt ein absolutes Novum für den (hier untersuchten) Kriminalroman dar. Immer wieder sucht das Wetter Régulus zu etwas zu bewegen, zu verführen und löst einen Zerfall innerer Gegensätze aus: Il s’efforçait de ne pas entendre le vent au-dehors qui l’invitait à se servir de lui. Il entamait de nouveau la lutte contre cette partie de lui-même qui écartait toutes les objections gênantes pour ne plus laisser miroiter, très loin, au fond d’un tunnel de cauchemar, que l’objet de sa convoitise.384 Unter dem Eindruck des Windes zeigen sich in der Selbstreflexion (Tagebuch) ad interim die Irritation ob des eigenen Handelns und der Versuch einer Rechtfertigung: »[…] j’ai peur. Provoquer la mort est contre tout mon caractère […] contre toute ma philosophie, contre tous les luttes que j’ai soutenues dans ma jeunesse et aussi […] contre ma lâcheté naturelle…«.385 Es folgt der Selbstfreispruch: »Je ne suis pas un assassin.«386 Markant ist der Drehmoment der ›Selbsterkenntnis‹ mit der Eintragung, die nicht mehr in der IchForm notiert wird:

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»Ne tourne pas au pot. La vérité, c’est que le désir de tuer, probablement né d’une révolte atavique et inexprimée chez tes ancêtres, t’a toujours plus ou moins habité. Mais jamais de ta vie, tu ne t’étais trouvé une aussi bonne raison de le faire.«387 Prima facie drängt sich der Eindruck einer Selbstansprache auf, aber hier hinter steht der Wind,388 denn Régulus schreibt »en dépit de lui-même, cédant à un commandement descendu d’il ne savait où«.389 Auf gewisse Weise ermöglicht der Wind Handlungsstärke (»contre ma lâcheté«) und scheinbare Sicherheit. Bezeichnend ist, dass der Wind (fast) durchgängig nicht mehr als Wetterphänomen dargestellt und entsprechend wahrgenommen wird, sondern als eigenständiges ›Wesen‹ bzw. als Person: […] le vent avec allégresse lui souffla dans le dos tout au long du chemin de terre […]. Il fut étonné de ne pas avoir à fournir un coup de pédale dans la rude montée du col, comme si le vent qui le poussait dans les gorges avait tourné avec lui […] comme s’il le portait, comme si l’engin mécanique lui-même était superflu et que l’homme eût aussi bien pu s’en passer, du moment que le vent était avec lui.390 Der Eindruck »que le vent était avec lui« markiert eine »Komplizenschaft«391 . Diese Komplizenschaft bzw. Senderfunktion zeigt sich sodann in der folgenden Darstellung des Wetters: »[L]e vent était trop favorable. Il rendait tout trop aisé. […] le vent trop propice lui apportait déjà la présence de ce vallon où peut-être enfin il espérait inventer le fallacieux orient de sa vie.«392 Mit dem Wind erscheint alles leichter – auch das Töten –, und alles wird möglich; und der Wind als Transformationswetter löst ein Flow-Erleben aus. Das Flow-Erlebnis […] widerfährt […] demjenigen, der sich den auftauchenden und vergehenden Erscheinungen hingeben kann, keine Trennung zwischen sich und der Umwelt, zwischen Stimulus und Reaktion, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verspürt. In solchen Flow-Erlebnissen, […] entsteht Gemütsruhe, bisweilen Verzückung und verändertes Bewusstsein.393 Wie sich mit dem anschließenden Mord zeigt, intensiviert sich mit diesem Moment die Aufhebung der Grenze zwischen Wind und Täter und die Figuration des Windes.

6.5.3 Wetter als Aggressor und Täter Je mehr der Täter im Wetter aufgeht, desto mehr ›Präsenz‹ erhalten Winde. So geht das Flow-Erleben auf der Fahrt zu Violaine mit einer weiteren Transfiguration einher, apodiktisch heißt es: »[E]t il n’y avait, sur tout le site de Barles, que lui [le vent] et l’homme de vivants.«394 Hiervon ausgehend leuchten Stellen auf, in denen Naturphänomene als Täterfiguren gegenüber den Melliflores auftreten. So wird etwa die Nacht subtil als Täterin identifiziert: »[E]lle [Ambroisine] comprit pourquoi celui qui voulait s’en emparer choisissait ces nuits de grand vent, pourquoi Véronique avait été tuée par une nuit pareille.«395 Auch Verhaltensweisen des Mistrals lassen sich mit Täterverhalten zusam-

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menbringen. So agiert er einleitend in einer ›Wohlfühlzone‹ um Barles und attackiert die Landschaft: Le soir, il y eut du mistral dans les clues. C’est rare qu’il vienne jusque-là. Mais quand par hasard il s’y aventure, on l’entend jouer du cor de chasse à travers les gorges du Bès, trop étroites pour sa carrure, et qu’il s’efforce depuis toujours de violenter à coups de rafales.396 Die Lombarde, ein typischer Provence-Wind, aber zeichnet sich durch eine Darstellung als Subjekt und durch eine Charakterisierung aus, die mit dem chronologischen Ablauf einer Tat, wie ihn Thomas für Serientäter referiert, zusammengebracht werden kann. Und dies nicht gegenüber Häusern oder der Landschaft, sondern gegenüber einer Melliflore:397

Abbildung 11: Tatphasen nach Thomas

Die Lombarde weht ausschließlich in Les courriers de la mort, in der Nacht von Violaines Ermordung. Sie verfügt über das detaillierteste Windportrait innerhalb der LavioletteFälle: [D]ans le vallon solitaire, la lombarde se leva. Quand ce vent meugle comme une génisse […] C’est le vent à serrer le cœur. […] Il diffuse des odeurs. Des odeurs proches, des odeurs parfois, qui ne sont même plus de ce temps, mais qu’il tient enfermées dans ses flancs immatériels, de rafale en rafale, de siècle en siècle […]. Tous ces effluves fanés […] la lombarde les ressert […] pour leur donner regret.398

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Die Verbindung zwischen Lombarde und Régulus ist flagrant und zeichnet sich etwa durch die mit ihr assoziierten Düfte sowie die Impression einer Welt oder Erinnerung »d’un autre âge«399 aus. – Vielleicht nimmt es gerade deshalb nicht wunder, dass sich das Wetter Régulus als ausführende Figur ›aussucht‹. – Die Intentionalität der Lombarde, das Auflebenlassen vergangener Erinnerungen »pour leur donner regret« verweist ferner durch die assoziative Doppeldeutigkeit auf die Sehnsucht nach der Vergangenheit sowie auf die Intention des Lehrers, die Melliflores bedauern oder reuen zu lassen (Mt. 7,1-2). Die Lombarde streift umher und zieht zum alten Sägewerk. Die Kontaktierung, als Kongruenz von Wind und Täter, die Identität des einen im anderen, zeigt sich (metonymisch) vor dem Tod Violaines: »Au moment où Violaine avait claqué la portière, le vent qui se levait à l’ouest avait apporté une grande brassée de cris d’enfants qu’une […] école venait de lâcher.«400 Es kommt zum Angriff durch die gewalttätige Lombarde, sie nimmt Violaine den Atem und jagt ihr Todesangst ein: Le souffle de la lombarde la faucha de plein fouet, lui coupa les jambes. […] Elle rama, elle trébucha, elle virevolta, comme si elle avait été une marionnette, au gré du vent qui lui fouettait le visage […]. Sa jupe courte tirant sur ses fesses lui dénudait la haut des cuisses que le vent joueur caressait. – Je vais crever! dit-elle dans son souffle.401 Das Verhalten des Windes entspricht betontermaßen der Annahme von Volaine, Régulus habe ihren Tod inszeniert. »Il veut faire croire à un crime de sadique…«402 Während Violaine im alten Sägewerk um ihr Leben fürchtet, weht auch die Lombarde durch die Hallen: Au-dessus d’elle, dans les entretoises du hanger miaulait le vent. […] Là-haut […] balayant le canal à sec, la lombarde devait aussi s’engouffrer dans la conduite forcée vide qui aboutissait ici, sous les alvéoles de cette turbine. Elle modulait en sourdine par cette embouchure un grave gémissement de douleur.403 Die Lombarde erzeugt eine beängstigende Stimmung bzw. Angst und spielt wie ein Täter mit seinem Opfer, der dessen Namen ruft und langsam durch die Halle schreitet, während Régulus sich nähert: »Il lui sembla qu’au-dehors, sous le vent, un pas se rapprochait.«404 Violaine stirbt nicht wie etwa Ambroisine durch unmittelbare Gewaltanwendung des Täters, sondern durch ein Hindernis in der Luft. Nicht zuletzt durch die alkoholbedingte Wahrnehmungsverzerrung festigt sich der Eindruck, dass es sich um zwei Täter handelt, d.h. die Tatsache, dass der Wind als Täter agiert: Elle venait de prendre conscience qu’elle n’avait pas cessé de voir le personnage en double […]. Elle se prit les pieds dans un obstacle qui la fit basculer. Il restait dix mètres de vise au-dessous d’elle où elle plongea en hurlant. Le bâti d’acier de la turbine tombeau arrêta son corps dans sa parabole. La tête d’un gros boulon s’imprima profondément dans son front. Elle retomba désarticulée entre la gerbe de glaïeuls et le portrait du défunt aux traits indéchiffrables.405

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Durch die Art des Todes entsteht über Violaines Erleben eine Umsetzung des Tatskripts bzw. Tatziels. Régulus manipuliert abschließend den Tatort dahingehend, dass er eine Trophäe mitnimmt (die Trommel) und die Schnur, die zum Sturz geführt hat, entfernt.406 In den Nachtatphasen resp. in der Abkühlungsphase nach dem Mord rückt zunächst das unmittelbare Verhalten Régulus’ in den Fokus, sodann das des Windes. Nach dem Tod Emile Pencenats bspw. verstummt der Wind unmittelbar; als ob eine innere Ruhe, eine Abschwächung der vor und nach dem Mord herrschenden Erregung eingetreten wäre. Nach dem Mord an Ambroisine und Violaine entsteht die Impression einer inneren Ruhe und wiederhergestellten Ordnung, welche die Tatintentionen aufgreift und abschließt: »[A]lors, sur la clairière où le chalet resplendissait de toutes ses lumières comme à la fin d’une fête, il n’y eut plus que la grande rumeur de la lombarde […]. Une pureté native retombait sur ce désert […].«407 Die Beziehung zwischen Régulus und Wetterphänomenen kulminiert bzw. endet im ›Mord‹ an ihm selbst. Régulus selbst hat am Ende Angst vor den Wetterphänomenen; die Angst vor dem Wetter – zunächst als Agent Provocateur – offenbart sich als Präfiguration: »L’échine courbe, l’homme lui écrivait était aux aguets de ce tumulte comme s’il contentait pour lui quelque fatalité.«408 Tatsächlich wird er als einziger Serientäter von einem Naturphänomen getötet, als er die letzte Melliflore-Erbin ermordet, die letzte Trommel an sich gebracht hat und, umtost von einem für den 24. Dezember ungewöhnlichen Gewitter, auf dem Weg zurück nach Barles ist: [L]’éclair. C’étaient quatre racines violettes qui crochetaient en pétillant les redans de la clue où elles s’arc-boutaient, qui rampaient en serpentant le long des deux cheminées où le courant d’air les avait aspirées et qui confluaient en un fil bleu presque transparent auquel le petit homme était suspendu comme une marionnette à ses ficelles.409 Es wird mithin unmittelbar nach dem letzten Mord an einer Melliflore eine außergewöhnliche Wetterlage aufgebaut, mit der der Tod Alcide Régulus’ inszeniert wird. Mit dem Tod Régulus’ ergeben sich zwei Parameter: Markant ist die in diesem Fall immer stärker aufgebaute Darstellung und Präsenz des Windes als I. Figur und II. Täter. Das Wetter fungiert erstmals als Sender im Rahmen von Greimas’Aktantenmodell; mit Blick auf die extratextuelle Bemerkung Magnans, der Kriminalroman sei nur ein »prétexte«410 , kann dem Wetter an dieser Stelle der Status als Empfänger zugeschrieben werden. Als Agent Provocateur hat sich der Wind Régulus zu einem Werkzeug gemacht, das nach dem Mord an der letzten Melliflore nicht mehr benötigt wird. Hiernach richtet sich der Wind gegen den Täter, indem er den Blitz des tobenden Sturms instrumentalisiert, um die Verbindung zu Régulus zu lösen: Dieser ist im Moment seines Todes als Marionette, d.h. als eine von einer ›höheren Instanz‹ gelenkte Figur, manifest. Mit den wetterprovozierten Morden wird Régulus zu einem wahren Melliflore. Insofern muss das eigene Leitmotiv auf ihn zurückwirken; es erscheint wie der Pyrrhussieg einer strafenden Gerechtigkeit, mit der keine folgende Rekonstitution möglich ist, entsprechend der vollständigen Stelle bei Mt. 7,1-2: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet

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werdet. Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden.«411

6.5.4 Laviolettes Wetterbedeutungen und Wetterwahrnehmungen Laviolette ist inzwischen pensioniert und lebt in der Villa Popocatapetel, die im ersten Fall Irène Térénez mit ihrem Sohn Goulven und ihrer Tochter bewohnte. Laviolette und Chabrand sahen sich zuletzt sieben Jahre zuvor. Für Laviolette lassen sich en gros folgende meteorologische Bereiche fassen: • • • • •

Individuelle Wetterbedeutung Wetter und Ermittlung meteorologisches Tatmuster perception extra-sensorielle Wetterdichotomie zum Täter

6.5.4.1 Individuelle Wetterbedeutung Wetter bzw. Wetterwechsel sind auf einer ersten Stufe relativ basal mit Laviolettes Stimmung verknüpft: »le retraité Laviolette goûtait aux plaisirs de l’automne«412 oder wirken sich – als klimatologisches Moment – auf sein Rheuma aus. Spezifisch saisonale sensuelle Eindrücke erzeugen zudem eine Atmosphäre der Geborgenheit und ruhigen Gestimmtheit: »Sur l’air se traînait lentement des parfums de confitures et de coings cuits au four. Rien ne pouvait être plus paisible au monde que Barles en ce soir d’octobre.«413 Die Friedlichkeit Barles’ ist hier bereits durch den Mord gebrochen, gerade dadurch aber ist der Eindruck, die Kontemplation, mit drei Dingen koordiniert: der Lebensphase Laviolettes, der Mordserie sowie der saisonalen Konzeption der Reihe, scil. dem letalen Moment des Herbstes. Für Laviolette verweben sich die Schönheit und Friedlichkeit des Herbstes mit der eigenen Ruhe gegenüber den Wetterphänomenen und: […] l’espoir […] qu’on l’assassinât. […] Il s’était mis à aimer, en vieillissant, les soirs interminables et chaque jour renouvelés qui se peignaient sur le ciel d’automne. Il y assistait sans remuer pied ou patte jusqu’à ce que la dernière goutte de lumière s’éteignît dans les arbres.414 Dieses vanitasartige Bild zeigt exemplarisch die in diesem Fall modulierte existentiellthanatale Meteo-Relation Laviolettes und spiegelt kontrapunktisch die des Täters. Während sich Identität, Gewalt und Tod beim Täter mit dem Wind assoziieren, transzendiert der flüchtige Charakter der Wolken den friedlichen Bezug Laviolettes: »Il n’y avait pas pour lui d’endroit où il aimerait vivre. Il n’y avait que des endroits où il aimerait mourir. Notamment lorsqu’il faisait […] l’un de ces beaux soirs à lumière d’Italie où fleurissent des nuages lilas.«415 Der Täter bringt mit dem Wind den Tod, die versöhnliche Todessehnsucht Laviolettes aber wird nicht erfüllt.

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6.5.4.2 Wetter und Ermittlung Das Wetter erscheint auch in Fall fünf nicht mehr wie in Le sang des Atrides als Spurenträger; allerdings wird über Alcide Régulus ein Moment realisiert, das bereits dort thematisiert wird, scil. ein wetterbedingtes Tatmuster. Der zweite Punkt, der aufgegriffen wird, ist die perception extra-sensorielle. Meteorologisches Tatmuster Sowohl in Gesprächen Laviolettes mit Grimaude und Françoise, aber auch mit Chabrand wird wiederholt die Wirkung spezifischer Wetterlagen auf die Menschen der Region thematisiert. Tatsächlich stellt das Wetter einen Schlüssel zum Verständnis des Tatverhaltens bzw. der Beziehung der Taten untereinander dar. Alle Morde an den Nachkommen der Familie Melliflore sowie an Emile Pencenat begeht der Täter bei starkem Wind; ein Zusammenhang zwischen dem Wind und den Briefen sowie den Morden wird von Emile Pencenat bzw. von den designierten Opfern Ambroisine, Véronique und Violaine als funktional sowie über die Instanz des narrateur-nous der Dorfgemeinschaft als Charakteristikum bemerkt. Das Wetter-Muster, zumindest bei den Morden, müsste dergestalt auch von den Ermittlern erkannt und als Teil des Täterprofils fruchtbar gemacht werden – wird es aber nicht. Geradezu mokant wird hinsichtlich der Ermittlung der Wind von Laviolette beim Wiedersehen mit Chabrand als bemerkenswert thematisiert, aber vom Richter als vernachlässigbarer Konversationsteil zurückgewiesen: »Vous imaginez bien […] que si je suis ici ce soir […] ce n’est pas pour vous parler du vent.«416 Ironischerweise aber sollten die Ermittler gerade über den Wind sprechen. Insofern handelt es sich um einen verdrehten Hinweis, auf den Wind zu achten und das Muster zu bemerken, sowohl bezüglich der Taten als auch bezüglich des aus den Häusern der Opfer jeweils entwendeten Objekts. Über den Wind zu reden birgt – bezogen auf den Täter – das weitere Potenzial, auf die psychische Funktion des Wetters für den Täter zu schließen. Perception extra-sensorielle Die perception extra-sensorielle Laviolettes wird um die Kompetenz, die Nachricht des Wetters zu ›decodieren‹, erweitert: À cet instant une risée de vent froid se leva qui fit les cèdres se chuchoter entre eux. – Chut! commanda Laviolette. Écoutez! – Écouter quoi? dit Chabrand surpris. – Le vent dans les arbres! Il essaye de nous raconter quelque chose! […] Ah! mon pauvre ami… Tant que vous ne tiendrez pas compte ces »fariboles« et de quelques autres, vous ne comprendrez jamais rien aux facéties que ce pays est capable d’engendrer!417 – Une affaire de famille! vociférait Laviolette à voix basse. Une simple affaire de famille! Une grande affaire de famille!418 Der Wind muss an dieser Stelle wie ein Verräter erscheinen, denn in der Les- bzw. Hörart zum Fall ist er nicht nur personifiziert, sondern ein Individuum in Komplizenschaft zu Régulus. Die perception extra-sensorielle erscheint bezüglich der Verbindung Laviolettes als

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»frère«419 zum Täter antithetisch. Denn im Gegensatz zu Chabrand, der die meteorologische Apperzeption als Kinderei abtut, weiß Laviolette um das meteorologische Wirkpotenzial der Region.420 Er erkennt mithin bzw. reflektiert (und dies wäre als Autoreflexion des Wetters zu Fall drei deutbar), was sich für den Täter im Wirkpotenzial konzeptionell erweist, aber nicht als (potenziell) meteorologisch bedingte Wahrnehmungsstörung erkennbar ist. Nebenbei bemerkt zeichnet sich in der hier ausgesparten Textstelle, allerdings nicht über das Wetter, die manifeste Erzählerfigur ab. Die Erzählerfigur offenbart Laviolette über einen Vergleich als »acteur de ce théâtre«421 und sich damit als metteur en scène. Er – bzw. der implizite Autor – ist es mithin möglicherweise, der Laviolette die Lösung einzuflüstern versucht. Als Pointe steckt hier ja bereits die Aufdeckung des (geo-)psychisch wirksamen Wetters, als »fariboles«422 und Agent Provocateur, in Kombination mit dem Hinweis auf die affaire de famille der Melliflores. Obwohl Laviolette vorgibt, sich aus dem Fall herauszuhalten, lässt ihn die ›Poesie‹ des Mordes an Véronique (1. Opfer) nicht los. Dieses Gefühl, den Fall aufklären zu müssen, zeichnet sich vice versa zum Moment des nächtlichen Zaubers in Le secret des Andrônes als ›Störung‹ ab: »[T]out doucement, jour après jour, le fantôme de Véronique s’interposait en transparence entre lui et le beau temps qui persistait si tard dans la saison.«423 Véronique erscheint Laviolette als eine besondere Frau; so nimmt es nicht wunder, dass sie symbolisch in sein Bewusstsein drängt und so zum Objekt seines Interesses am Fall wird. Dies ist nicht nur für die Ermittlungsaufnahme relevant, sondern auch, weil mit ihr ein Novum der Meteo-Relation Laviolettes konzipiert wird und zwar dahingehend, dass Laviolette dem Empfinden des Opfers kurz vor dessen Tod nachspürt. Als meteorologische Basis erscheint hierzu jeweils das gleiche Wetter der Tatnächte in abgemilderter Form: Il se tenait là, debout […] parfaitement immobile, parfaitement seul […] écoutant sous le vent la rumeur des platanes et les claquements des volets. Il était Mlle Véronique Champourcieux cinq minutes avant sa mort.424 La pluie avait cessé. Le dernier quartier de lune jouait de sa lumière sur les arbres figés. L’allée avait perdu sa rébarbative allure. Les cèdres qui disaient tant de choses l’autre soir, sous la tempête, se taisaient maintenant, énigmatique. […] Il était à peine concevable que ce puits innocent […] ait pu servir de guillotine. […] le couvercle de fer était devenu rose sous la lune.425 Dergestalt kommen an den Tatorten die meteorologischen Relationen zusammen – Laviolettes, die der Opfer und die des Täters. Über das Wetter entsteht eine subliminale Verbindung, die Laviolette jeweils auf eine Unstimmigkeit aufmerksam macht, so in Véroniques Fall auf das verschwundene Objekt, das als Ersatz für den Klavierhocker diente.426

6 Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi

6.5.4.3 Wetterdichotomie zum Täter Im Zuge von Laviolettes Nachforschungen, die eine Wiederholung der Ahnenforschung Régulus’ darstellen, entwickelt sich gradatim eine Verbindung zwischen Ermittler und Täter. Dieses Moment stellt Chabrand als gewissermaßen metaphysische Verbindung dar: »Vous avez empli son âme avec le trop-plein de la vôtre! Et pour tout dire, il vous ressemble comme un frère!«427 Diese Verbindung besteht auch über das Moment der perception extra-sensorielle, differiert aber in Erkennen, Wirkung und Bewertung (»fariboles«, die ›Seelenqual‹ vs. die Ruhe der Saisonalität, der Sturm vs. similäre gemilderte Wetterlage am Tatort). Der entscheidende Unterschied offenbart sich durch das markanterweise familiär-tradierte Wetterwissen und den Wetterbezug, der bei Régulus zwangsläufig fehlt – was dergestalt nochmals auf Régulus’ Problematik verweist. Dieser Faktor, die gleichsam antithetische Wetterbewertung (und Wahrnehmung) kulminiert im meteorologischen Showdown. Laviolette verfügt dank seiner Großmutter über ein regionalspezifisches Wetterwissen, das ihn erkennen lässt, dass sich trotz des frühlingshaft anmutenden Wetters etwas Seltenes entwickelt,428 scil. »un orage le 24 décembre!«429 . Obwohl Chabrand den Wetterwechsel nicht bemerkt und die Wetterbeobachtung erneut als nutzlose Wissenschaft abtut, erwidert Laviolette: »Et quand à l’inutilité de ma science, attendez demain pour en rire!«430 Laviolette zeigt sich in seinen Gefühlen und Stimmungen dem Wetter verbunden und empfindet eine natürliche Angst bei Gewitter. Régulus hingegen kann das Wetter nicht richtig ›lesen‹ und verkennt die Gefahr. Während der Wind bisher als Begleiter Régulus’ erschien, zeigt sich die Darstellung des Gewitters just an dieser Stelle auffallend, denn: Il avançait ce vieil homme […]. Il fonçait, accompagné de la foudre […]. Mais quelle sorte de Dieu pouvait-il bien s’être inventé cet homme pour qu’il lui permît un tel calme devant le danger? »La curiosité!« aurait répondu Laviolette […]. Car c’était elle seule que le jetait en avant. […] il était dominé par le besoin de savoir.431 Hier offenbart sich die Differenz der Disposition: Während Laviolette vom Wunsch nach Wissen und Erkenntnis beherrscht ist, ist Régulus von seiner Suche – und vom Wetter besessen.

6.5.4.4 Das Wetter und die Mesnie Hellequin Relativ regionalspezifisch sowie mit der Idee einer paranormalen Macht kombinierbar ist die Konstruktion des Wetters über ein Innuendo als Mesnie Hellequin.432 An zwei narratologisch interessanten Stellen, scil. vor dem ersten Mord und vor dem Tod Régulus’, besteht eine Auffälligkeit: Le soir, il y eut du mistral dans les clues. C’est rare qu’il vienne jusque-là. Mais quand par hasard il s’y aventure, on l’entend jouer du cor de chasse à travers les gorges du Bès, trop étroites pour sa carrure, et qu’il s’efforce depuis toujours de violenter à coups de rafales.433 sowie

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Et si vous [Chabrand] pouviez arrêter le moteur une seconde, vous entendriez le val qui résonne comme un cor de chasse. C’est le vent de la mer. Si mes sens me renseignent bien, nous allons assister à un spectacle assez sublime: un orage le 24 décembre!434 Beiden Fundstellen ist der Klang des Jagdhorns gemein, der vom Wind erzeugt wird. Insbesondere mit dem Hinweis des zweiten Zitats auf das Datum erhält der Wind, der wie ein Jagdhorn klingt, als spectacle sublime einen Verweis auf die Rauhnächte. Gerade die saisonalen starken Winde und wilden Stürme werden in Sagen und Mythen435 regional bzw. erstaunlich überregional mit der Mesnie Hellequin in Verbindung gebracht. Das Motiv der Mesnie Hellequin kann in Les courriers de la mort mit dem Leitmotiv Régulus’, Mat. 7,1, verknüpft und mit der Funktion des Wetters in Einklang gebracht werden.436 Die Mesnie Hellequin hat einen »beängstigenden Charakter […], der sich verstärkt im Bunde mit Naturgewalten zeigt, […] man vermeint sie vor allem während wild-brausenden [sic!] Winterstürmen zu vernehmen […]«. Es kommt gerade »[w]ährend der Rauhnächte […] ihr dämonischer Aspekt zum Tragen«437 . Vor dem Hintergrund der starken Verbindung zwischen Wilder Jagd und Windphänomenen wird der Wind in seiner Funktion als Agent Provocateur und Täter als Manifestation bzw. Ausdruck der Intention und als Verdikt lesbar. Ferner findet sich in einigen Aussagen der Figuren die Vorstellung von dämonischen Kräften wieder, die in der Nacht und mit dem Wind über den Himmel, die Felder und durch die Dörfer strömen und sich Zutritt in die Häuser und Seelen der Menschen zu schaffen suchen; etwa bei Raymonde: »Ma mère, elle me disait: ›Quand tu habites un pays fichu comme celui-là, tu peux pas te permettre de laisser la nuit rentrer chez toi!‹«438 Dies findet sich aber auch dezidiert bei Régulus: Moi qui me suis tant moqué de l’intuition, de la prémonition, moi que tous les phénomènes prétendus parapsychiques ont toujours plongé dans un malaise profond, sinon dans une colère noire, ne voici contraint d’en référer presque à eux seuls, dans la […] seule péripétie de ma vie.439 Der Wind als Verweis auf die Mesnie Hellequin erscheint zu Beginn als Warnung; nach Abschluss der Mordserie, mit Verbleib des letzten Melliflore, wird Régulus im Sturm durch ein Wetterphänomen getötet, damit bestraft und gezwungen, Marionette, also Teil des Heeres zu sein.

6.5.4.5 Tous ces crimes aient été commis pour du vent!440 Mit dem Tod Régulus’ eröffnet sich vor dem Hintergrund des Leitmotivs Mat. 7,1-2 eine zunächst theologische Deutung, insbesondere wird der Blitz religionshistorisch häufig als Götterattribut angesehen. Der Bibelstelle folgend, wird der Tod mit dem Tod bestraft. Hiervon ausgehend stellt sich die Frage nach dem Stellenwert des Wetters und der Handlungsmacht der Figuren, besonders des Täters. Auf der Ebene der Figuren ließe sich zunächst klimatologisch ansetzen und die Verantwortung der Handlung zu einem gewissen Grad abwehren, insofern durch die affektive Wirkung des Windes Artikel 64 des Code Pénal zu gelten hätte: »Il n’y a ni crime ni

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délit lorsque le prévenu était en état de démence au temps de l’action, ou lorsqu’il a été contraint par une force à laquelle il n’a pu résister.«441 Gerade aber mit dem zweiten Teil Artikel 64 steht das Wetter und damit der implizite Autor am Pranger. Erschwerend kommt die Verneinung ›Gottes‹ durch das Zeugnis des Autors Magnan hinzu: »[J]’ai remplacé Dieu par la nature.«442 An die Stelle Gottes tritt also das Wetter bzw. die Macht des Wetters, welches sich als Initiator eines Serienmordes und Mörder der Figur Régulus erweist. Damit realisiert sich in besonderer Art die Vormachtstellung des Wetters gegenüber dem bloßen »prétexte«443 des Verbrechens. Mit diesem Wetter nun identifiziert sich der poète, der implizite Autor selbst. Denn selbstreferentiell gibt er sich als Wetter in der Lombarde zu erkennen, explizit heißt es: »[…] la lombarde. […] C’est un vent qu’un poète a inventé. Lui seul, sans doute, une certaine nuit, fut dehors pour l’identifier«444 . Mit der faktualen Existenz der Lombarde entsteht zum einen eine doppelte Meteo-Ästhetisierung, zum anderen eine Doppelbödigkeit des Wetters für die Figuren. Ferner zeigt sich hierüber die wirkungsästhetische Gemachtheit der Wetterphänomene und ihrer Funktion gegenüber dem Kriminalroman. So fungiert das Wetter nicht als ›Gott‹ aber betritt die Handlungsebene und manipuliert die Narration. Es beeinflusst Régulus im Initiationsmoment und implementiert die für die Handlungslogik der Mordserie entscheidende Gewissheit wie die emotionale und identitäre Brüchigkeit des designierten Täters.445 Während Régulus versucht, sich gegen die Taten zu wehren und besonders die Verantwortung zurückweist (»Je ne suis pas un assassin«), ist es der Wind – der implizite Autor – der seine Feder führt und damit den metaleptisch-maliziösen Eintrag vornimmt und sich damit gleichsam an den Täter wendet: La vérité, c’est que le désir de tuer, probablement né d’une révolte atavique et inexprimée chez tes ancêtres, t’a toujours plus ou moins habité. Mais jamais de ta vie, tu ne t’étais trouvé une aussi bonne raison de le faire.446 Bietet der implizite Autor seiner Figur (Régulus) Einsicht in seine tieferen und wahren Gefühle und Wünsche oder erweckt er die Illusion durch die suggestive Ansprache? Mit dieser Unklarheit aber drängt sich die Frage nach dem ›guten Autor-Gott‹ auf und führt zu einer antithetischen Antwort. Die Figur wurde negativ influenziert, nicht vor der Selbstauflösung bewahrt, sondern zum Mord verführt. Als Lombarde schließlich agiert das Wetter – der implizite Autor – wie ein Mörder und attackiert Violaine. Hier wäre also eher von Mittäterschaft und damit einer unmittelbaren Schuldhaftigkeit des poète gegenüber den Figuren zu sprechen. Zudem kann die Richtigkeit seiner strafenden Gerechtigkeit (Tod durch Blitz) infrage gestellt werden. Cordélie wird am Ende in Le tombeau d’Hélios der wahren Dimension der Welt gewahr, denn aufgrund der angedeuteten Einsicht ist sie in der Lage, sich selbst zu erkennen und letztlich zu verstehen. Dies ist Régulus nicht vergönnt. Seine Figur vaporisiert bis er als »petit homme«, als Marionette, im meteorologischen Schauspiel nicht nur vorgeführt, sondern ›auf offener Bühne‹ ermordet wird. Insofern der Wind ihn erst zum Mörder machte, ist ein Tod im Zuge des Leitmotivs Mt. 7,1-2 nicht gerechtfertigt – und müsste eher den impliziten Autor treffen.

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Tatsächlich wird dieser in gewissem Grad über seine Figur Laviolette als ursächlich für die Mordserie benannt. Doch die Bemerkung seiner eigenen Ermittlerfigur »tous ces crimes aient été commis pour du vent!«447 ist so mokant wie provokant, im Hinblick auf ihren ästhetisch-autoreferentiellen Gehalt so reichhaltig wie leer.

6.6 Zusammenfassung •









Der regionalspezifische Handlungsraum und das regionalspezifische Wetter gewinnen mit Magnan an Bedeutung. Markant ist hierbei die Dominanz des Wetters über den Raum etwa in geografischen Manifestationen. Als ›prétexte‹ für die Gattung Kriminalroman erweist sich in diesen Regionalkrimis das Wetter als Experimentierfeld etwa für die Motivik, die Handlung, die Figuren und die Landschaft. Denn die regionalspezifischen Wetterphänomene wie der Mistral, die Lombarde oder die extreme Hitze sind nicht als Lokalkolorit gesetzt, sondern dienen I. als Verbindung zu den Täterfiguren und mitunter auch als deren Quiproquo, Maske oder Abwehr und liefern II. für die Ermittler sowohl Spuren als auch falsche Fährten. Dies stellt eine deutliche Veränderung zu den Vorgängertexten, in denen das Wetter prinzipaliter pro-deduktive Instanz fungierte, dar. Hierbei steht das Wetter für den deduktiven Prozess nicht durchgängig auf der Seite Laviolettes, vielmehr erweist es sich als ambigue, da es auch die Täterfiguren unterstützt. Entlang der Laviolette-Reihe zeigt sich eine kontinuierliche Veränderung bzw. Entwicklung des Wetters und seiner Wirkungsweisen. Das Wetter ist in den einzelnen Fällen spezifisch konzipiert, und zwar wirkungsästhetisch zur jeweiligen Täterfigur. Von diesem Nexus aus entsteht die sich über den Verlauf der Reihe erstmals von Fall zu Fall verändernde Relation des Ermittlers zum Wetter. Für die detektivische Instanz Laviolette fungiert das Wetter schließlich als Transformationswetter. Es entsteht eine veränderte Wetterapperzeption, eine perception extra-sensuelle sowie Situationen, in denen Laviolette eine Kommunikation seitens des Wetters wahrnimmt. So agiert bspw. das personifizierte Wetter für den kindlichen Täter Térénez protektiv; die Täterin Cordélie erscheint selbst als Transfiguration eines Naturphänomens, wodurch eine weibliche Handlungsmacht entsteht. Verbunden mit der inszenierten Mordserie Pécouls wirken die Naturphänomene auf Laviolette und locken ihn auf die inszenierte falsche Fährte. Neben der basalen deskriptiven bzw. tropologischen Ebene des Wetters, deren literarische Funktion es gemeinhin primär ist, atmosphärische Kohärenz zu erzeugen, hat auch die Landschaft einen Effekt auf den Menschen.448 Auf Ebene der Diegese stellt sich insbesondere mit Fall fünf eher die Frage nach der Wirkung des Wetters und damit einer höheren Funktion. So ist ein Thema in Les courriers de la mort die Klimatologie, mit der literarästhetisch die Idee des Wetters als Agent Provocateur, der die Figur erst zum Töten bewegt, verhandelt wird. Hiermit zeichnet sich ein weiteres Moment ab, denn die Intensität der Relation des Wetters zur Täterfigur scheint sich von Fall zu Fall, von der Unwissenheit der Präsenz einer Wetterfigur im ersten Fall bis zur Wahrnehmung des Wetters als »quelqu’un«. Auf einer ersten Ebene erfolgt mit dem Wetter ein Spiel, indem (scheinbar) literarisierte Wetterkonstellationen früherer Kriminalromane aufgegriffen und auf ver-

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änderte Art in die Deduktion integriert werden und damit die Notwendigkeit einer neuen Aushandlung im kriminalliterarischen Kontext lancieren. So verliert bspw. die visuell gegebene Wetterspur für die Deduktion insofern an Sicherheit, als eine zuverlässige Interpretation durch ihre Doppelbödigkeit aufgelöst wird. Auf einer zweiten Ebene eröffnet das Wetter in der Laviolette-Reihe ein Spiel mit den Wirklichkeitsebenen. So entstehen nicht nur für die Figuren in den einzelnen Fällen verschiedene wahrnehmungsästhetische Dimensionen, etwa als psychotroper oder klimatologischer Faktor. Das Wetter besitzt auf meteorologischer Ebene eine Loslösung von bisher etablierten Mustern. Dabei behält die Reihe eine sozialkritische Tendenz, indem sie aktuelle Themenfelder mit Wetterphänomenen verbindet und den weiblichen Figuren mittels meteorologischer Phänomene Handlungsmacht zuweist. Die Funktion des Wetters wird in der Laviolette-Reihe ambivalent und der extratextuelle Autor Magnan, wie auch der implizite Autor, spielen sowohl mit traditionellen, bislang etablierten motivischen Funktionen des Wetters als auch mit seiner Lesbarkeit für die Rezipienten, insofern das Wetter sich der Rolle als Spur, Indiz oder Hinweis für Ermittler (und Lesende) in der deduktiven Erzählung ein Stück weit entzieht. Das Besondere am Wetter als Figur, speziell an den Winden, ist ihr mitunter aktives Eingreifen in die Handlung. Mit diesem Status agieren sie etwa als ›Vaterfigur‹ bzw. Adjuvant, um den jugendlichen Serienmörder in Le sang des Atrides zu schützen. Die Funktion als Adjuvant zeigte sich bereits in vorhergehenden Kriminalromanreihen. In Les courriers de la mort kommt es allerdings erstmals zu einer für die Textgattung Kriminalroman erstmaligen und bedeutsamen Aktantenverschiebung: Der Wind fungiert nicht nur als Agent Provocateur, sondern als Sender und erscheint zudem als Täter gegenüber den Opfern wie auch dem Serienmörder Régulus. Hierbei wird der Wind nicht nur als Figur dargestellt, sondern auch von den Figuren auf Ebene der Diegese als solche wahrgenommen. Damit verlässt das Wetter definitiv den Motivstatus, sodass die Frage nach einer Veränderung der sekundärmotivlichen Ebene obsolet wird. Wie sich gezeigt hat, muss bezüglich der These, dass das Wetter von der Täterfigur ausgeht, retrospektiv eine Reperspektivierung erfolgen, da das Wetter abhängig von der Täterfigur konzipiert ist. Auf einer dritten Ebene entstehen über das Wetter auf eine je nach Titel und Themenfeld sehr spezifische Art ein signifikanter Einbezug in die Handlung sowie eine Durchbrechung der Ebenen, mit denen der ›prétexte‹ Wetter immer auf subtile, aber auch auf sehr substanzielle Art in den Fokus gesetzt ist. Bereits bei Malets NestorBurma-Reihe fand eine Durchbrechung der Ebenen statt, doch wird dieses Moment in der Laviolette-Reihe sukzessive um ein Vielfaches intensiviert. Exemplarisch tritt im letzten untersuchten Fall der implizite Autor hervor und erweist sich als Teil der Handlungsebene mit Macht über die Figuren, ihre Gemachtheit und Entscheidungskompetenz. Mit dem Wetter entsteht eine Influenzierung der auf semantischer Ebene erzählten Geschichte, die einerseits durch die meteorologischen und gleichsam metatextuellen Ebenen ins Wanken gerät, auf der anderen Seite aber auch das Potenzial bietet,

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die Textinterpretation der impliziten Lesenden suggestiv zu steuern und damit die meteorologische Wirkungsmacht – ebenso wie ihre Gemachtheit – verdeutlicht. Auf diese Weise kann das Wetter für die literaturwissenschaftliche Lektüre ein gewandeltes Textverständnis und verschiedene Interpretationsachsen eröffnen.

7 Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller

Mit Magnan erreichen die Darstellung und die Funktion des Wetters im Kriminalroman einen Kulminationspunkt: Das Wetter erscheint als Figur und entwickelt eine Eigenständigkeit. Allerdings entsteht der Eindruck, dass die Entwicklung mit diesem Autor zu einem Abschluss kommt, wenn Iris Radisch 20061 und Ursula Gaßmann 20172 allgemein den Rückzug des Wetters aus der Gegenwartsliteratur proklamieren: »Als wäre das Wetter mit einem bösen Fluch belegt, vermeiden es die Autoren heutzutage eher.«3 So fänden sich immer wieder ›wetterfreie Zonen‹ und Stimmen, »die das Fehlen des Wetters in der Gegenwartsliteratur bedauern«4 . Dies gilt freilich auch für das Genre Kriminalroman mit Autorinnen und Autoren, die das Wetter äußerst sparsam erwähnen und nur als Dekorelement einsetzen, allenfalls noch, um ein wenig Spannung, wie in Ragons Du bois pour les cercueils, oder unheimliche Stimmung zu erzeugen. Doch es gibt Gegenbeispiele. Im Rahmen eines Ausblicks zu aktuellen Tendenzen werden im Folgenden die Autorin Fred Vargas für den Rompol mit ihrer Reihe um Kommissar Adamsberg betrachtet. Für den Thriller erfolgt exemplarisch eine Betrachtung von Jean-Christophe Grangés Thriller Le passager sowie ein kurzer Seitenblick auf einen Textausschnitt aus Bernard Miniers Glacé.

7.1 Fred Vargas – Ängste und Sommerhitze im Rompol Fred Vargas a inventé un genre romanesque qui n’appartient qu’à elle: le Rompol.5 Den französischen Kriminalroman in der Nachfolge des néo-polar 6 kennzeichnen nach Gohlis »ein literarisch reflektierter Umgang mit Zeitgeschichte, eine phantastisch wuchernde und zugleich kontrollierte Bildsprache, Sarkasmus und tiefere Ironie«7 . Hierbei spiegelt die Entwicklung des Kriminalromans, wie sich bereits bei Malet oder Magnan zeigte, immer auch die gesellschaftlichen und künstlerischen Veränderungen. Mit Blick auf die narrative Struktur und den Aufbau eines Falls bemerken Menegaldo und Petit:

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Le roman policier est obligatoirement une incursion dans une civilisation, dans une société donnée des datées, avec ses modes spécifiques de construction. La présentation à l’universalité de la méthode déductive de Dupin ou de Holmes ne tient pas: elle ne s’applique qu’à une société donnée, dont il faut également connaître les codes pour qu’elle ait la moindre chance de réussite: […] nous évoquerons les nombreuses fois où Holmes se base sur l’apparence et le comportement des personnages pour y trouver bizarreries ou incongruités qui vont faire de l’homme un suspect: il faut vivre dans une société où le code vestimentaire est très strictement établi pour que de telles observations puissent avoir du sens.8 Fred Vargas9 wurde zunächst als feministisches Fräuleinwunder sowie als chérie noire10 betitelt und die französische Kritik bezeichnete ihre Romane als polar poétique – bis sich der von Vargas geprägte eigene Gattungsbegriff des Rompol durchsetzte.11 Mit diesem schafft sie »une œuvre propre à renouveler un genre«12 . Im Wesentlichen ist der Rompol als »[o]bjet essentiellement poétique, il n’est pas noir mais nocturne, c’est-à-dire qu’il plonge le lecteur dans le monde onirique de ces nuits d’enfance où l’on joue à se faire peur […]«13 gekennzeichnet. Vargas (re-)integriert bedrohliche Momente wie Mythen und Legenden und damit auch Motive des Phantastischen wie etwa Werwölfe und Vampire in den Kriminalroman. Einige Fälle wiederum basieren auf individuell konstruierten (Sous les vents de Neptune) oder gruppenspezifisch entstandenen Mythen wie in Quand sort la recluse und mit ihnen assoziierten Ängsten, aus denen es sich zu befreien gilt. Wie Stedman ausführt, geht es Vargas darum zu zeigen, »[w]as historische Spuren – seien sie materieller, kultureller oder auch literarischer Natur […], Ängste, Sagen, Mythen, Manuskripte, Erzählungen, Tagebücher – im Alltagsleben eines Menschen oder einer Familie anrichten können […]«14 . Gemein ist allen Fällen, dass es sie sich (auch hier) um Serientäterfiguren drehen, über die Inhalte vermittelt werden, die über die individuelle Fallgeschichte hinausgehen und auf ein spezifisches mythisches oder kulturelles Themenfeld verweisen.15 Besonders deutlich wird dies durch ein von der Pest ausgelöstes kollektives Angstphänomen, das in Pars vite et reviens tard Paris und Marseille ergreift und verdeutlicht, wie man mit den Ängsten von Menschen spielen kann.16 Um den von der Täterfigur lancierten Mythos gestaltet sich der Aufbau des Romans bzw. der Ermittlung; diese gliedert sich, wie auch Hynynen und Akademi bemerken, in zwei Phasen: »[I]l s’agit d’abord d’identifier et de trouver la légende qui détermine les meurtres avant de poursuivre la quête du meurtrier.«17 Die Mythen sind damit immer an eine Figur gebunden, wodurch, wie Stedman bemerkt, »man selbst unwahrscheinliche Zusammenhänge oder zunächst irrational scheinende Elemente wie Vampirgeschichten oder mordende Werwölfe als folgerichtig [empfindet]. Dies liegt daran, dass Fred Vargas rationale Erklärungen für diese mythischen Elemente anbietet.«18 So wird die Figur des Werwolfs in L’homme à l’envers spätestens aufgelöst, sobald sich der Gebrauch der Kieferknochen eines Polarwolfs zum Anbringen irreführender Spuren an toten Schafen wie menschlichen Opfern herausstellt. Auf diese Weise ist mittels der rationalen Lösung am Schluss die ›Ordnung‹ wiederhergestellt; parallel ergibt sich damit eine Integration des Phantastischen, wobei hierbei zu gelten scheint, was Todorov zum Phantastischen resp. zum fantastique-étrange formuliert:

7 Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller

Des événements qui paraissaient surnaturels tout au long de l’histoire, y reçoivent à la fin une explication rationnelle. Si ces événements ont longtemps conduit le personnage et le lecteur à croire à l’intervention du surnaturel, c’est qu’ils avaient un caractère insolite.19 Aber die Auflösung erfolgt nicht in allen Fällen. In Dans les bois éternels wird die Wirkung eines magischen Tranks zur Erlangung der Unsterblichkeit zwar noch negiert, doch erhält die Täterin das Elixier am Ende durch Adamsberg. In Un lieu incertain realisiert sich die vom Täter verbreitete Legende um den Vampir Peter Plogojowitz, als eine Eiche auf dem Londoner Highgate Cemetery, die nach der Auslöschung von Plogojowitz’ Nachkommenschaft eingehen soll, tatsächlich abstirbt. Auch der Protagonist Adamsberg schürt den Glauben an die Existenz des Vampirs, indem er am Ende die Exclamatio führt: »Où repousseront-elles, Peter?«20 Im Fall L’Armée furieuse, in dem die Sage um das Wilde Heer zentral ist, wird durch Adamsberg die Existenz der Mesnie Hellequin bestätigt: »Cependant deux choses resteront toujours, reprit Adamsberg. Hippo continuera de parler à l’envers. Et l’Armée d’Hellequin continuera de traverser Ordebec.«21 Diese Fälle lösen das übernatürliche Moment somit nicht auf und stellen die Ordnung nicht wieder her, sondern führen mit ihrem Ende zu einer Infragestellung des Rationalen, indem sie die Existenz dieser Phänomene implizieren;22 die Grenze zwischen dem Erklärlichen und dem Unerklärlichen verwischt. In den bisher letzten beiden Fällen wird dies reduziert, denn in Temps glaciaires und Quand sort la recluse treten Einzeltäter bzw. als Gruppe agierende Täterfiguren auf, deren Wirken in der Vergangenheit sich ebenso in die Gegenwart auswirkt wie die um sie aufgebaute Angstdynamik. Mit Fred Vargas kommt es zu einer weiteren Novellierung des Kriminalromans bzw. zu einer Verwischung der Gattungsgrenzen und Hybridisierung, denn obzwar der Kriminalroman »[d]ans sa tendence majeure […] s’inscrit dans la vaste configuration du discours réaliste, avec tous les présupposés propres à ce dernier«23 , zeichne die Autorin eher eine »imaginary version of contemporary France«24 , so Neale.

7.1.1

Nachtmahre

Der Rompol ist als »nocturne«25 nach Guyon mit den Naturphänomenen der Nacht26 assoziiert. Ausgangspunkt des ›Unheimlichen‹ im ersten Fall, L’homme aux cercles bleus, sind blaue Kreise, die nachts in Paris auftauchen und in deren Mitte verbaliter ein objet trouvé liegt.27 Die Kreise des nächtlichen cercleurs erscheinen als »l’absurdité, la faille causale [.] trop angoissantes pour laissées à l’incompréhension, à l’absence de motivation […] [C]es cercles [.] ont […] évoqué, pendant tout le roman, la menace de l’absurde ou l’inquiétude de l’insignifiant.«28 Die Kreise antizipieren bereits ein menschliches Objekt, d.h. eine Leiche. Die Kreise schüren Ängste und Unbehagen, denn durch ihre Erschaffung in der Nacht sowie die fixierte Kopplung an diese wird der cercleur metaphorisch und durch die Transformation des menschlichen Leibes in ein objet trouvé zum Nachtmahr, zum »assassin un peu monstrueux«29 , zu einem »meurtre [.] fantasmagorique«30 . Die Nacht bildet hierzu den Ansatzpunkt, nicht nur über die kulturelle Zuordnung von Tag vs. Nacht zu Gut vs. Böse, sondern als Bereich der Realisation von dunklen Möglichkeiten, Ängsten, als Bereich des Traumzustands und der Kindheitsmonster, wie sie Vargas konturiert:

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[L]a figure fantomatique de la nuit, du sauvage, de ce qu’on ne peut pas contrôler. De la mort donc aussi, de tout ce qui s’occupe à la vision du jour domestiquée par notre esprit et le reste nous échappe et évidemment c’est le grand néant et c’est bien le problème de comment on lutte contre l’ogre des petits en leur racontant des histoires d’ogres et de méchants.31 Markanterweise ist es nicht nur der cercleur, der zum beunruhigenden Moment aufgebaut wird, es ist die Nacht, die sich sukzessive in eine personifizierte Projektionsfläche wandelt. Zunächst erscheint die Nacht als Handlungsraum, wenn es heißt: »[C]’est à la tombée de la nuit que les choses se passent, dans l’océan comme dans la ville.«32 Nach dem ersten Mord verquicken sich die blauen Kreise und die Nacht zu »grotesques rondes nocturnes«33 , mit denen sich nach dem zweiten Mord eine gewisse Macht resp. Bedrohlichkeit über Paris legt34 und die Nacht selbst personifiziert zur Bedrohung wird: »Il parait que la nuit n’est pas seine.«35 Nach dem dritten Leichenfund heißt es: »Du maxillaire de la morte, d’ailleurs, on ne distinguait plus rien. Seul, écœuré, l’agent détourna sa lampe, alerta ses supérieurs et attendit, la main sur son pistolet. Ça faisait longtemps qu’il n’avait pas été aussi impressionné par la nuit.«36 Dergestalt ist es die Nacht, der das Unheimliche und Bedrohliche zugesprochen wird und in der die Grenze zwischen dem Nachvollziehbaren und dem Irritierenden, dem Bekannten und dem Unbekannten verwischt. Diese Zuordnung erfolgt primär durch die direkten Äußerungen der Figuren. Diese auf sprachlicher Ebene intensiv aufgebaute Verbindung zur Nacht erscheint in den folgenden Fällen leicht reduziert; die Taten der Mordserien des (vermeintlichen) Werwolfes, des Vampirjägers, der Mesnie Hellequin etc. ereignen sich zwar des Nachts, doch weisen diese Figuren bzw. Figurengruppen per se eine enge assoziative Verbindung zur Nacht auf. Neben der Sphäre der Nacht realisiert sich in der Faktur der Ermittlung die basale Zuordnung von Tag und Licht mit Verstand und Aufklärung.37 Der binäre Aufbau von Nacht und Tag wird im ersten Fall somit faktural beibehalten.

7.1.2 Sommerhitze Wettertechnisch zeigt sich eine Weiterentwicklung der Romane Vargas’ im Hinblick auf die Konstituenten, die Lahmédi für den néo-polar ausweist: »[L]e froid, l’obscurité et l’insécurité constituent les trois ingrédients basiques de l’alchimie scripturale du néo-polar.«38 Die Dunkelheit39 und Unsicherheit bilden besonders im ersten Fall noch einen wesentlichen Bestandteil. Markanterweise entfällt bei Vargas die von Lahmédi angeführte Kälte weitgehend als ›Basisbestandteil‹. So ist bereits der erste Fall von einer »chaleur de l’été«40 geprägt. Damit verzichtet Vargas auf ein weiteres meteorologisches Phänomen, scil. ein, wie López Martínez anführt, »phénomène des plus évocateurs du roman policier et noir: la pluie«.41 Grundsätzlich variiert die Häufigkeit der Wettererwähnungen in den verschiedenen Fällen. Eine Erhöhung der Wetterdarstellung sowie eine spürbare Steigerung der Intensität erfolgt indes durch die Einbindung von Bildern, Vergleichen oder Metaphern, die etwa zur Charakterisierung des Protagonisten Adamsberg oder zur Veranschaulichung der Situationen genutzt werden. Über die Fälle ist eine saisonale Präferenz der Romane für die Sommermonate zu beobachten,42 d.h. die Verbindung, die in L’homme aux cercles bleus entsteht, setzt sich fort.43

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Insgesamt sind in fünf der bisher neun Romantitel die Fälle im Sommer angelegt44 (Juni, Juli, August), zwei im Herbst (September, Oktober) und zwei im Frühling. Die mit einem Mythos verwobenen Fälle spielen bei Hitze im Sommer, L’homme à l’envers, Un lieu incertain, L’Armée furieuse und als bisher letzter Titel Quand sort la recluse,45 die Fälle, die wie Pars vite et reviens tard auf einem historischen Schreckensmoment sowie auf einem individuellen oder gruppenbegrenzten ›Mythos‹ fußen, können Frühling bzw. Herbst zugeordnet werden. Die saisonale Präferenz bildet damit prima facie einen Kontrast zu den kollektiven Mythen, da diese nicht mit den genannten ›klassischen‹ Phänomenen von Kälte, Gewitter und Regen verbunden sind.46 Exemplifizierend steigert sich die Julihitze im Werwolffall bis zum Showdown und wird nach der Überführung des Täters, d.h. der Lösungspräsentation coram publico, auffallenderweise nicht mehr erwähnt; ferner ist hier das mit dem Mythos des Werwolfs allgemein assoziierte Phänomen des Vollmonds nicht signifikant häufig vorhanden. Auch die Mordserie im Zusammenhang mit der Armée furieuse, die eigentlich mit den winterlichen Rauhnächten assoziiert ist, ereignet sich bei 32 °C im August. Diese Hitze wird über den gesamten Fall aufrechterhalten. En passant löst das Wetter selbst eine Beunruhigung bei der Bevölkerung der Gegend aus, d.h. für die NichtErwählten der Mesnie Hellequin:47 »Il semblait qu’après quinze jours de chaleur sans pluie, les Normands commençaient à s’inquiéter de cette anomalie. Cette affaire de nuages à l’ouest tournait à l’idée fixe.«48 Hierzu entsteht das Gerücht resp. die fixe Idee von Regenwolken im Westen. Das Wetter normalisiert sich markanterweise aber erst nach Aufklärung des Falles, was einen Zusammenhang suggeriert und weshalb ein ›kathartischer Moment‹ entsteht: »Une vague de pluie et de frais rendait la Normandie à son état ordinaire. […] La canicule s’était achevée avec le parcours de tueur, Ordebec éprouvée revenait à ses températures frissonnantes.«49 Der Einsatz der Hitze bzw. des Sommers befördert (ad interim) den suggerierten ›faktischen‹ Anteil des jeweiligen Mythos (wie die Exklamation an den Vampir oder der Verweis auf die Beständigkeit der Mesnie). Der Sommer resp. die Sommerhitze erscheint mit dem angstbesetzten und irrationalen Anteil der Mordserien verwoben. Dergestalt wird nicht die Kälte als evokativer Hall des Schauerlichen genutzt, sondern das Sommerwetter unauffällig mit der Beunruhigung und dem Schrecken verquickt. Während der Tag und der Sonnenschein traditionell wie auch noch in L’homme aux cercles bleus dem Verstand zugeordnet sind, erreicht diese Zuordnung über die Sommerfälle eine gewisse Brüchigkeit und wird mit der (primär mit dem Tag verbundenen) Hitze aufgelöst. Dies wird explizit, wenn der kreuzworträtsellösende Mörder50 in L’Armée furieuse konstatiert: »Avec cette chaleur aussi, ça bout dans les tétes«51 und kurz darauf der negative Stimmungseinfluss der Hitze auf Passanten sowie auf einen Wirt, dessen Laune sich noch zusätzlich verschlechtert, den Gedanken unterstützt. Parallel indes weist dieses Spiel mit dem Wetter eingedenk der eigentlich mit den Motiven beispielsweise des Werwolfs oder der Mesnie verbundenen meteorologischen Phänomene bzw. Saisonalität – Nacht, Vollmond, Winter – auf die rahmende Inszenierung. Die ausdrückliche Präsenz des Sommers und der Hitze entlarvt diese zwar deutlich als Rahmung des Falles, doch dezidiert bewahrheiten die Mythen sich nicht und sind letztlich irrelevant für die Aufdeckung des Täters.

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7.1.3 Adamsberg und das Wetter Mit Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg kreiert Vargas einen anti-flic zum klassischen Ermittler. Während der roman noir durch das Moment des savoir et voir geprägt ist, ist für die Methode Adamsbergs das sentir la vérité der wesentliche Faktor.52 Dieses Erspüren ist Teil des theoretischen Ansatzes,53 nach dem die Täterfiguren eine Form der »cruauté« verströmen würden.54 Eine Facette von Adamsbergs Kompetenz ist mithin das Lesen der »signes annonciateurs du mal«55 , zudem verkörpert er »die absolut gesetzte kriminalistische Intuition«56 . Adamsberg reflektiert, im Vergleich zu anderen Ermittlern wie Laviolette oder Maigret, eher selten das (meteorologische) Wetter und scheint indifferent gegenüber Extremwetterlagen wie der Hitze in L’Armée furieuse, bei der die Passanten in Paris den Schatten suchen und Adamsberg auf der sonnenbeschienenen Straßenseite einen Spaziergang beginnt. Auch als das Wetter in Pars vite et reviens tard und in Un lieu incertain zuweilen für eine Beruhigung sorgt, bleibt der Kommissar physisch vom Wetter meist unbeeinflusst.57 Dafür wird er selbst bzw. sein Charakter über eine Wettermetaphorik, Bilder oder Vergleiche dargestellt und zu einem »pelleteux de nuages«58 aufgebaut. So beschreibt Danglard seinen Kommissar wie folgt: Adamsberg était ouvert à tout vent […] le cerveau à l’air libre […] on aurait pu croire que tout ce qui lui entrait par les oreilles, les yeux ou le nez […] faisait un courant d’air sur ses pensées et que ça les empêchait de prendre corps.59 Die individuelle Wetter-Relation Adamsbergs zeigt sich abhängig vom jeweiligen Fall. Vier Aspekte sollen daher kurz skizziert werden. • • • •

Pelleteux de nuages Sehen im Nebel Wettergespiegelte Emotionen bei Bedrohung und zu Camille Inneres Wetter und der Serientäter Fulgence

7.1.3.1 Pelleteux de nuages In Sous les vents de Neptune etabliert sich über den Quebecer Kollegen, der konstatiert »Tu résous tes affaires en pelletant des nuages«60 , das Bild des »pelleteux de nuages«61 , des Wolkenschauflers, für die Art Adamsbergs, seine Fälle zu lösen, indem er spazieren geht, seinen Gedanken nachhängt, träumt und nicht zuletzt in einem Nebel wandert, in dem nur er klar sieht; und »brisait les nerfs de ceux qui tentaient de circonvenir ce nuage.«62 Diese Wettermetaphorik wirkt sich schließlich auf die Dynamik des Ermittlungsteams aus;63 deutlich wird dies etwa in Dans les bois éternels: Les uns, positivistes, jugeaient qu’Adamsberg faisait trainer les enquêtes, les halant langoureusement dans les brouillards, laissant à sa suite ses adjoints égarés sans feuille de route et sans consignes. Les autres, les pelleteux de nuages […], estimaient que les résultats du commissaire suffisaient à justifier les tangages des enquêtes, quand bien même l’essentiel de la méthode leur échappait.64

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Über die Wettermetaphorik fächert sich dergestalt die Dichotomie zwischen Rationalität und Intuition weiter auf, die zu zwei Lagern innerhalb des Ermittlerteams führt, »dont les membres s’alignent soit du côté d’Adamsberg, incarnation de l’incertitude, et du côté de Danglard, porte-parole du rationalisme«65 . Dieses Moment etabliert sich über die Reihe, so wird die Methodik Danglards gegenüber der Intuition und der Auflösung der Realität bzw. Rationalität Adamsbergs in L’homme à l’envers über die Metaphorik des Windes explizit: »Et pendant que Danglard, avec son esprit aiguisé, triait, classait, serait et extrayait des solutions méthodiques, Adamsberg mêlait les niveaux d’analyse, inversait les étapes, dispersait les cohérences, jouait avec le vent.«66

7.1.3.2 Sehen im Nebel Ein weiterer Aspekt ist Adamsbergs Potenzial, im metaphorischen Nebel sehen zu können: »[…] dit Danglard, […] Bon sang mais dans quelles brumes avez-vous donc perdu la vue? – Je vois très bien dans les brumes, dit Adamsberg […] J’y vois même mieux qu’ailleurs.«67 Das metaphorische Spektrum des Nebels ist mit Blick auf den Schauerroman im Bereich des Unheilvollen zu sehen und geht im Rahmen des Kriminalromans vielfach mit der Verschleierung der Wahrheit – oder der Wirklichkeit – einher, weil er als sichtraubendes Humiditätsereignis das Erkennen restringiert. Adamsberg unterläuft jedoch die mit dem Nebel einhergehende Sichteinschränkung; er wird zum metaphorischen Ereignis des Bereichs des Irrationalen, der Infragestellung des Rationalismus, und signalisiert das Erfühlen der Ereignisse, die mit dem Mythos der Täterfigur verwoben sind. Der Nebel verweist zwar auf poetologischer Ebene auf den Kriminalroman, unterläuft aber das Muster, da Adamsberg im metaphorischen Nebel sieht und den jeweiligen Mythos als Teil der Realität der Täterfiguren anerkennt. Dies spiegelt sich auch in der Charakterisierung Adamsbergs als eine Figur zwischen den Grenzen bzw. an der Grenze zur Realität: »[C]omme si, chez lui [Adamsberg], la limite entre rêve et réel n’était pas très marquée.«68 Über die Wettermetaphorik ist die Ermittlerfigur mithin der Konzeption der Fälle mit ihren kollektiven oder individuellen Mythen angepasst und damit in der Lage, den Täter oder die Täterin aufzudecken.

7.1.3.3 Wettergespiegelte Emotionen bei Bedrohung und zu Camille Adamsberg steht den meteorologischen Naturphänomenen recht unberührt gegenüber. Auffallend ist daher die veränderte Wahrnehmung in hochemotionalen Momenten, wie bei der für Adamsberg lebensbedrohlich erscheinenden Konfrontation mit Zerk, dem vermeintlichen Täter in Un lieu incertain, der seine Opfer in unzählige Einzelteile auflöst: Une voix assez légère et qui gouaillait […]. Le type […] exhiba la crosse du P 38 […]. Pas d’issu […]. En ce jour de juin s’achevait la route. […] Juste ce matin-là alors que la lumière au-dehors découpait joliment chaque brin d’herbe, chaque écorce des troncs, avec une précision exaltante et commune. Hier aussi, la lumière avait fait cela. Mais il le voyait mieux ce matin.69 Im gleichen Fall erfolgt ferner eine der wenigen Reflexionen über das passende Wetter an einem spezifischen Ort, als Adamsberg später mit seinem Sohn Zerk (dem zunächst vermeintlichen Täter) am Strand sitzt:

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La mer plate et le bleu intact du ciel lui semblaient très provocants, mal adaptés à ces dix jours de chaos féroce. Pas adaptés non plus à l’état des choses avec Zerk, turbulence, hébétude, poussant comme des brins d’herbe étourdis sur un tas de décombres. Il aurait fallu une sauvage tempête sur l’océan et puis, ce matin, un ciel brouillé où la ligne d’horizon ne se distingue pas.70 Diese correctio ist insofern interessant, als dass sie auf eine tradierte Wetterparallele der Emotionen verweist, ihre simple Artifizialität aufdeckt und damit ad absurdum führt. Während der Charakter Adamsbergs vielfach mit dem Bild des Windes entfaltet wird, so spiegeln einige Wetterlagen die Emotionen. Besonders deutlich zeichnet sich diesbezüglich eine Verbindung zwischen Gewitter, Wind und Nacht zu Camille, der Frau, der Adamsberg sehr zugetan ist, ab: »Camille avait émergé des horizons lointains […] elle avait commencé, cette dangereuse série de sensations qui étaient venues claquer dans sa tête, souvenirs se soulevant comme des ardoises au vent pendant une tempête […].«71 Was zunächst nur als ein Vergleich erscheint, realisiert sich in L’homme à l’envers als relativ tradiertes emotionales Phänomen, scil. als Gewitter über dem Mercantour, als Camille Adamsberg um Hilfe im Fall der Werwolfmordserie bat. Bei nächtlichem Unwetter denkt Adamsberg an sie, die nun ganz in der Nähe ist: Vers deux heures du matin, une queue d’orage tonna sur la campagne et il se mit à tomber une pluie fine et tenace qui l’obligea à se recroqueviller dans l’habitacle. […] Bien sûr qu’il aimait Camille […]. Entre l’un et l’autre, l’espace du songe absorbait quantité de pulsions. Et puis il y avait ce terrible vent qui le poussait sans cesse, plus loin devant, déracinant parfois son propre tronc. Ce soir, pourtant, il était l’arbre. Il aurait voulu retenir Camille entre ses branches. Mais justement, ce soir, Camille était le vent.72 Markant ist, dass Camille hier selbst im übertragenen Sinne als Wind dargestellt wird – sie ist als solcher flüchtig und nicht greifbar – was später mit dem inneren Wetter Adamsbergs relationiert werden kann. Regen und Wind werden sodann erneut aufgerufen, als beide zusammen im umgebauten Lieferwagen übernachten: Il étendit le bras, posa sa main à plat sur le dos de Camille. »Tu ne m’aimes plus?« demanda-t-il tranquillement. Camille ouvrit les yeux, le regarda dans l’obscurité, puis se rendormit. Au milieu de la nuit, un nouvel orage, plus violent que celui de la nuit précédente, éclata sur Belcourt. La pluie martelait le tout de la bétaillère.73 Das Gewitter ist hier mit der schwierigen Beziehung der beiden Figuren assoziiert, nicht mit dem Mythos des Werwolfs. Die Spiegelung des inneren Tumults ob der Beziehung Adamsbergs zu Camille findet sich auch in Sous les vents de Neptune: Zufällig sieht Adamsberg Camille mit ihrem (wie er später erfährt: gemeinsamen) Sohn in Begleitung von Danglard. Die empfundene Eifersucht verdeutlicht sich in der Wetterspiegelung, als Adamsberg Danglard im Schneesturm sieht: »Danglard […] courbé sous l’averse de neige«.74 Interessant an der Beziehung zu Camille ist ferner, dass sich beide Figuren meist abends oder nachts nahe sind. So sieht Adamsberg Camille in L’homme aux cercles bleus

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oder auch in Sous les vents de Neptune an einem Abend wieder.75 Dies unterstreicht das problematische Verhältnis zueinander, aber auch Camilles Wirkung als traumhaft und fantastisch für Adamsberg, sodass eine dauerhafte Bindung wirklichkeitsfern ist.

7.1.3.4 Inneres Wetter und der Serientäter Fulgence Der vierte Aspekt ist das innere Wetter, das in Sous les vents de Neptune besonders präsent ist. Herausragend ist das Bild des inneren Sturms, das Adamsberg bewegt, Kopfschmerz auslöst und seine Gedanken okkupiert. [L]e mal-être passa sur lui comme une tornade dévaste un champ, prompte, imparable et violente. […] La quatrième rafale s’abattit sur lui près d’une heure plus tard […]. Il plia sous l’attaque, s’appuya au réverbère, se figeant sous le vent de danger. […] en proie à ce désarroi que la tornade laissait dans son sillage, pour la quatrième fois.76 Das innere Wetter ist verwoben mit dem Bild des Serientäters, der mit einem Dreizack mordend symbolisch an Neptun erinnert, der als Gott der Winde und Stürme als recht unberechenbar und zornig gilt.77 Dergestalt treten die inneren Stürme und Winde Adamsbergs in Erscheinung, als er unterbewusst die Zeitungsmeldung von einem Opfer wahrnimmt, das mit drei Stichen – die tatsächlich von einem Dreizack herrühren –, ermordet wurde. Während der Ermittlung scheint Adamsberg immer wieder »[é]garé beaucoup plus loin qu’il n’avait craint. Foutu, perdu, emporté par un vent mauvais«78 . Das metaphorische Wetter des Täters wirkt sich so stark auf das innere Wetter Adamsbergs aus, dass der in diesem Fall erstmals als pelleteux de nuages eingeführte Kommissar sich von seinem inneren Wetter enerviert fühlt. Er hat es satt, diese Kumuluswolken aufzulösen, zu schaufeln und aufzupassen, dass Wolken seine Gedanken nicht verdunkeln: Il se sentait saturé de ces turbulences de nuages, de ces cumulus sombres qui se heurtaient les uns les autres […], sans oublier la foudre, bien entendu. Il fallait dissocier, couper les nuages en petits bouts […].79 Il devait rester attentif, s’efforcer que les nuages plombés de ses pensées ne viennent pas obscurcir le tracé de sa route étroite.80 Im Verlauf des Falles entsteht bei Adamsberg der Eindruck, seit dem Artikel in (innere) Stürme hineingezogen zu sein. Der metaphorische innere Sturm rekurriert somit auf die Präsenz des Serientäters, auf dessen Spur der Kommissar wieder aufmerksam wird, nachdem er ihn zunächst für tot gehalten hatte. Die inneren Stürme sind ferner auf metaphorischer Ebene und als Facette der Deduktion mit dem Täter wie mit (einigen) Opfern assoziiert. Sie bilden die erste Auffälligkeit, die Adamsberg auf die Spur des individuellen Mythos führt: Elisabeth Wind, das zunächst letzte Opfer, steht für einen Spielstein des Winds im Mah-Jongg, eine Konstante, die auch andere Opfer aufweisen. In diesem Zuge führen neben den Wetternamen der Opfer die meteorologisch geprägten Decknamen auf die Spur des Täters Fulgence.81 Neben dem Wind und dem Wetternamen zeigt sich eine Assoziation der Kälte zum Täter. Diese könnte ihren Ursprung in der emotionalen Kälte der Mutter nehmen und

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entsprechend im Nexus des individuell aufgebauten Mythos der Mordserie um das MahJongg-Spiel stehen; so werden niedrige Temperaturen oder Kälte etwa dann evoziert, wenn sich Adamsberg bspw. am Bahnhof des Heimatdorfs des Täters befindet, wo er von der Familienproblematik und dem ersten Mord erfährt. Diese Kälte tangiert Adamsberg insofern, als sie sich unmittelbar zu Beginn des Romans aufbaut und die Inszenierung der Kälte von 1 °C und dem »steifen Wind von der Arktis«82 auf den Handlungsort in Kanada verweist.83 In Quebec wird Adamsberg, der die Spur des Serientäters wieder aufgenommen hat, bei -12 °C von diesem als Mörder einer jungen Frau präsentiert. Auf diese Weise wird Adamsberg, wie Jahre zuvor sein Bruder Raphaël,84 als vermeintlicher Täter persönlich in die Mordserie involviert.85 Das meteorologische Wetter wird in Abkehr vom klassischen Kriminalroman nicht als Spurenträger genutzt. So ist es bspw. in L’Armée furieuse viel zu heiß, als dass der Waldboden Spuren hätte konservieren können. Einzig in Sous les vents de Neptune fungieren die Minustemperaturen der Mordnacht für Adamsberg als Indiz dafür, dass etwas nicht stimmen kann, da Adamsberg, der vermeintlich gegen einen Ast lief und ohnmächtig wurde, bei der Witterung erfroren wäre,86 und nähren Zweifel an der Quebecer Version der Ereignisse.

7.2 Bernard Minier – Ein Seitenblick auf den Märchenwinter im Thriller Glacé Mit Blick auf die ›phantastischen‹ Figuren bei Vargas sei noch ein Seitenblick auf die Reihe um Commandant Servaz von Bernard Minier gestattet.87 In Glacé dreht sich die Ermittlung um den Mörder Hirtmann, der als solcher zu einer albtraumhaften Gestalt aufgebaut wird. Interessant ist, dass diese Gestaltung des Antagonisten mittels Deutung der Wetterwirkung forciert wird. Die folgende Textstelle exemplifiziert dies. Die Ermittlerfiguren begeben sich zur psychiatrischen Einrichtung, in der Hirtmann lebt und die wie ein Hochsicherheitsgefängnis erscheint, aus der dieser später entflieht: Un endroit aussi sinistre par un temps pareil, brrrrr […]. La route sinuait sous un ciel sombre, parmi de grands sapins touffus gantés de blanc. […] Ils dépassèrent une dernière ferme prisonnière du froid – les barrières de ses champs disparaissant presque sous le manteau neigeux […] puis ce fut le règne définitif du silence et de l’hiver. […] Une atmosphère de conte de fées. […] une version moderne et adulte des sinistres contes de fées de son enfance. Car, au fond de cette vallée et de cette forêt blanche […] c’étaient bien des ogres [Hirtmann] qui les attendaient.88 Mit Schnee erscheint der Wald nicht einfach als eine Winterlandschaft, sondern wird in einen Märchenwald verwandelt. Dergestalt ist bereits der schneebedeckte Wald Symbol für das Bedrohliche und Unheimliche. Dies festigt sich mit dem doppelten Verweis auf die »contes de fées« und in der Konkretisierung des in diesem bösen Wald lebenden Märchenwesens, dem »ogre«. Auffallend ist die Spezifizierung der Art, mit der das Wetter den Wald wandelt, womit sich die Art des Märchens verändert, scil. in ein Märchen für Erwachsene. Hierdurch wird nicht einfach nur das Märchenthema aufgegriffen, sondern in der Brutalität eigentlich ins Unvorstellbare gesteigert, zumal Märchen

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per se keine ›friedlichen‹ Geschichten für Kinder sind, sondern gezielt Ängste thematisieren und damit zu den brutalsten Geschichten überhaupt zählen.89 Durch die meteorologische Transformation der Landschaft sowie die Konkretisierung und gesteigerte Brutalisierung eröffnet sich folglich ein erster Blick in die dunkelsten Abgründe des Menschlichen.

7.3 Jean-Christophe Grangé – Nebel und dissoziative Fugue in Le passager Grangés Werke erscheinen wie von einem Psychopathen geschrieben, dem man ein Rasiermesser in die Hand gedrückt hat.90 Jean-Christophe Grangé91 steht als Autor französischer Thriller92 in der Tradition der Série noire Gallimards, die dafür bekannt ist, den französischen Kriminalroman unter Einbeziehung US-amerikanischer Entwicklungen zu erneuern. Allerdings schlagen Grangés Romane, wie Compart anschaulich bemerkt, »ein paar heftige Wunden in den Körper des Noir-Thrillers, die nie mehr heilen werden«93 . Die Thriller basieren, wie Panter anführt, »sur une intrigue haute en couleur, relèvent tous d’une esthétique cinématographique: les récits sont rythmés, scandés par des scènes et tendus vers un dénouement spectaculaire […]«94 – allerdings mit Tendenz zum Unwahrscheinlichen. Dies gründet sich u.a. auf der Auslotung der Grenzen zum Horror-Genre, dem Figureninventar sowie dem Bereich des Wissenschaftsthrillers: »des personnages de Frankenstein modern: la science permet des crimes monstrueux, accomplis par des tueurs aux fantasmes démiurgiques«95 . Im Sinne des roman noir wird ein ›goût de cendre‹ als latent apokalyptisches Moment lanciert, insofern der Zweifel an der gesellschaftlichen und individuellen Sicherheit gebrochen wird.

7.3.1 Le passager – »voyageur sans bagages« Le passager aus dem Jahr 2011 verwebt die Themenkreise Militärdiktatur, Pharmazie und griechische Mythologie mit der Geschichte der Protagonisten Matthias Freire und Anaïs Chatelet sowie der Täterfigur96 oder, wie Panter resümiert: »[L]’histoire de ce roman mêle un tueur transformant ses scènes de crime en tableaux inspirés de personnages mythologique (le Minotaure, Icare, Ouranos) à une série de crimes d’État, fondés sur des expériences médicales.«97 Während Vargas dem Schema des Kriminalromans insofern folgt, als Ermittlerfiguren wie Adamsberg das Verbrechen aufklären und die Leserschaft einen deduktiven Prozess begleitet, der verschiedene Figuren präsentiert, unter denen sich die Täterfigur befindet, so wird in Le passager die Mordserie zwar von einem Serientäter verübt, doch diese Figur gibt primär den Anstoß für die Handlung. Im Mittelpunkt steht Mathias Freire, Psychiater in der Psychiatrischen Anstalt von Bordeaux, der einen Patienten behandelt, der in der Nähe eines Tatortes aufgegriffen wurde und unter Amnesie in Form des Phänomens »voyageur sans bagages« leidet. Im Rahmen der Ermittlungen des von der Minotaurus-Sage inspirierten Mordes trifft die Polizistin Anaïs Chatelet auf Freire.

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Der Textaufbau gestaltet sich sodann zwar oszillierend jeweils mit interner Fokalisierung zwischen Freire und Chatelet, indes bleibt Freire im Fokus. Dieser beginnt seine Ermittlung, nachdem ein Patient vor seinen Augen ermordet wurde, wobei er ins Visier der Täter gerät, bis er schließlich selbst unter Verdacht steht, der Serientäter zu sein. Auf der Flucht erahnt der Psychiater Freire, dass er selbst, wie der ermordete Patient, von einer fugue psychique bzw. dissoziativen Fugue (einem dissoziativen Gedächtnisverlust) betroffen ist und begibt sich auf die, wie sich herausstellt, perpetuierte Suche nach seiner vorherigen Identität und dem Täter. Sukzessive gelangt er durch große Zufälle zu drei weiteren Identitäten, bis er seine ursprüngliche Identität als Psychiater François Kubiela erkennt. Ausgelöst werden die Fugues durch ein Implantat, das eine Substanz freisetzt, die ihn seine jeweilige Identität vergessen lässt. Der Identitäts- und Gedächtnisverlust perpetuiert sich dergestalt und verweist auf den Namen des Experiments, dessen Opfer Freire/Kubiela sowie weitere inzwischen ermordete Personen sind: »Matriochka«. Diesem Prinzip, der Puppe in der Puppe resp. hier der Identität in der Identität, folgt die Textfaktur. Mit der innersten Puppe decken sich die Herkunft und das erste Experiment an Freire/Kubiela als Fötus durch seinen eigenen Vater auf. Während bei Vargas Hinweise auf die Identität der Täterfigur gestreut werden und diese im Verlauf der Romane mehrmalig erscheint, erfolgt in Grangés Le passager die Selbstidentifizierung des mythologisch inspirierten Mörders und Vaters unvermittelt; handelt es sich doch um eine Randfigur, die lediglich einmalig mit Freire und kurz mit Chatelet gesprochen hat. In einem von Orpheus und Eurydike inspirierten Showdown offenbart sich Jean-Pierre Toinin als Erzeuger, der sich als Psychiater an Francyzska Kubiela vergangen und die Morde verübt hat, um seinen Sohn François Kubiela vor dem Konzern Metis zu schützen, der nach Abbruch des Experiments »Matriochka« die Teilnehmer liquidiert. Die drei Morde hat er verübt, um Spuren an den Tatorten zu hinterlassen, die Kubiela als Mörder belasten, um ihn damit in ein Sicherheitsgefängnis zu bringen, wo dieser vor Metis geschützt wäre. Begründet wird der Nexus zur griechischen Mythologie relativ profan, scil. damit, dass dies der Polizei besonders auffällig erscheinen sollte. Ferner enthält jede Sage, auf die der Mörder Bezug nimmt, einen Vater-SohnKonflikt. Die implizite Bedrohung des Vaters durch den Sohn, den Toinin durch die Ermittlungen Kubielas, motiviert durch eine signifikante Häufung von Fällen des »voyageur sans bagages«, empfindet, projiziert er auf sich selbst.98 Die Täterfigur und die Aufklärung der Intrige erscheinen am Ende wie der Theatercoup eines »deus ex machina, ou plutôt [.] un diabolus ex machina.«99 Indes löst der Vater als (ironischerweise) ›unerwarteter Helfer‹ die Intrige zwar für die Leserschaft, nicht aber für den Protagonisten, da Freire/Kubiela eine erneute Fugue erlebt – vermutlich bedingt durch die Stresssituation, die Aufdeckung der Wahrheit und befördert durch die Exposition der Naturgewalten.

7.3.2 Wetter und Identität Während Wetterdarstellungen und ihre Verbindung zu den Figuren in anderen Titeln Grangés weitgehend reduziert erscheinen, zeichnet sich Le passager durch eine hohe, wenn auch schwankende Wetterfrequenz aus, wobei die Wetterbeschreibungen und Selbstreflexionen des Protagonisten Freire besonders am Anfang ausgeprägt gestaltet sind. Ferner wird zum Showdown ein Konglomerat an dramatischem Extremwetter

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aufgerufen, sodass die Relation Wetter und Fugue eine meteorologische Klammer bildet. Die Perpetuierung der dissoziativen Fugue im Rahmen extremen Wetters am Ende gründet sich in deren psychiatrischem Potenzial als Auslöser und deckt ferner die Relation des Wetters als Symptom resp. im Nexus der sechs Identitäten auf. Exemplarisch werden im Folgenden vier Aspekte skizziert: • • • •

Der Nebel am Anfang als Metapher der Fugues Die aufgedeckten Identitäten Freires Der Sturm der Aufklärung Das Wetter für Anaïs Chatelet

7.3.2.1 Der Nebel am Anfang als Metapher der Fugues Die meteorologische Inszenierungsrhetorik beginnt mit dem Nebel der ersten Kapitel, der gleichsam als Symptom der Fugue, der unklaren Identitäten, konzipiert ist. Der Nebel ist, wie in den oben analysierten Texten und Reihen wiederholt nachgewiesen wird, mit der Identität der ermittelnden Instanz bzw. eines Verdächtigen verbunden. Mit Freire wird dieses Konzept weitergeführt: Der Nebel ist eine Metapher für das Individuum in der dissoziativ aufgebauten Identität und der Figuren in der Identitätskrise bzw. der erschaffenen und zu rekonstruierenden dissoziativen Fugues. Denn parallel mit Freires Reflexionen über den Nebel, über Bonfils und die eigene Beunruhigung bekommt der Nebel die Funktion, als Marker den Zweifel an der Identität des Protagonisten und seiner eigenen Existenz zu kennzeichnen. Die autoreflexive Erzählweise festigt die Metapher insofern, als der Nebel die Vergangenheit Freires und eine Existenz fern der Arbeit verhüllt – markant fällt damit die Einführung Freires (wie die von Bonfils), gleichsam der Beginn seiner Existenz, mit dem Beginn der Narration zusammen, sodass beide Figuren (Bonfils und Freire) als Personen ohne Vergangenheit aus dem Nebel geboren werden und sich mit ihnen die Erschaffung zweier Erwachsener ohne vorherige Geschichte, ohne Identität entwirft. So empfängt der Psychiater Freire des Nachts bei Kälte und Nebel den das Phänomen des »voyageur sans bagages« erlebenden Bonfils: Depuis la veille, le brouillard enveloppait Bordeaux. Un brouillard épais, blanchâtre, inexplicable. Il [Freire] releva le col de l’imperméable […]. L’odeur de la brume, chargée d’effluves marins, lui crispa les narines. […] D’ordinaire, ces arbres [des palmiers], souvenirs des Antilles, lui procuraient une bouffée d’optimisme. Pas cette nuit. La chape de froid d’humidité était la plus forte. […] Les flics arrivaient. […] L’amnésique était un colosse. […] Mathias Freire respirait par la bouche, avalant l’air froid et détrempé comme on suce des glaçons. […] Le manque de sommeil, le brouillard, mais surtout ce sentiment d’impuissance, récurrent, face à la folie qui tous les jours multipliait ses visages…100 Markant ist die Wertung des Nebels durch Freire als »inexplicable«, d.h. die Bedeutungsverschiebung und Infragestellung normaler meteorologischer Gegebenheiten. Ferner bildet sich eine negativisierende Qualität sowie die unterschwellige Verknüpfung zur Bemerkung der »folie qui tous les jours multipliait ses visages« heraus, die auf die multiplen Identitäten Bonfils’ und – präfigurativ – Freires abhebt. Explizit wird dies

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in der Bemerkung Freires über den Nexus zwischen seinen Patienten wie Patientinnen und seinem Selbstbild: »[I]l avait voulu s’enfouir ici dans la folie des autres. Pour mieux oublier la sienne.«101 Dieses Moment wird in der Gleichartigkeit des Traums negiert, den Bonfils und Freire haben. Es befördert die Verbindung zwischen den Figuren wie zwischen Wetterphänomenen und Fugue, denn der Text schöpft das metaphorische Potenzial des Wetters und der Parallelität zwischen Freire und Bonfils weiter aus, indem Freire als Psychiater den Sonnenschein des Traums sowie das durch diesen entstehende Weiß und den Blitz für Bonfils als »métaphore de ta perte de mémoire«102 deutet. Elementar ist hierbei auch die farbliche Verschränkung vom Weiß des Nebels mit dem blendenden Weiß. Ausgehend von der dissoziativen Fugue Bonfils, assoziiert sich der Nebel autoreflexiv kontinuierlich mit der Persönlichkeit Freires: [L]e brouillard enveloppait les palmiers et les réverbères de la cour comme les grandes voiles d’un vaisseau fantôme […]. Il lui vint une idée plus étrange. C’était l’esprit vaporeux de l’amnésique, le brouillard de sa mémoire, qui enveloppait le CHS et tout la ville… Bordeaux était sous la coupe de ce passager des brumes…103 Bordeaux hat für Freire keine Bedeutung, es fungiert für ihn lediglich dazu, einen Strich unter seine eigene Vergangenheit in Paris zu ziehen. Diese damit scheinbar »intentionale Flucht«104 aber dekuvriert sich als eigene dissoziative Flucht, sodass Bordeaux auch für Freire in einem metaphorischen Nebel ob seiner Identität steht. Entsprechend löst der Nebel das Gegenständliche um Freire, sein Haus und damit sein neues Leben bzw. seine neu erschaffene Identität gradatim auf: »La rue n’avait plus de contours. Les réverbères lévitaient, en suspens. Tout paraissait léger, immatériel. Le temps qu’il prenne conscience de ce sentiment, il aperçut qu’il s’était perdu.«105 Das persistente Humiditätsereignis kündigt von der Irrealität und Illusion der eigenen Geschichte. Da der metaphorische Lebensweg als Straße – »la rue« – gelesen werden kann, verliert er seine Klarheit, das Haus als ein potenzieller Lebensmittelpunkt verflüchtigt sich und wird ungreifbar, bis Freire die Situation im Nebel als Erkenntnis ob der eigenen Verlorenheit wahrnimmt, die sich mit der Aufdeckung der zuvor gelebten Identitäten konkretisiert.

7.3.2.2 Die aufgedeckten Identitäten Freires Sukzessive entdeckt Freire in umgekehrter Chronologie seine bisherigen Identitäten bzw. wird durch Dritte mit diesen konfrontiert. Mit der hibernalen Anbindung setzt die Februarkälte ein kontinuierliches meteorologisches Phänomen fort und verweist als Folie auf eine vertiefte, fast meteorologisch-chronotopische Qualität, weil sich hierunter die Aufdeckung der verschachtelten Lebensnarrative entwirft, die mit saisonalen Wechseln korrespondieren. Freires/Kubielas Fluchten ziehen sich über etwa ein Jahr, scil. von März 2009 bis März 2010, hin. Hierbei erstreckt sich jede Identität markanterweise nicht über den Zeitraum einer Jahreszeit, sondern immer über den saisonalen Wechsel hinweg, mit dem der Identitätswechsel metaphorisch abgestimmt ist.

7 Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller Bis März 2009

Ursprungsidentität François Kubiela, Psychiater

Frühling/Sommer (März bis September):

Nono, der Fälscher

Sommer/Herbst (September/Oktober):

Narciss, der Künstler in der psychiatrisch-künstlerischen Einrichtung Korto

Herbst/Winter (November/Dezember):

Janus, der Obdachlose in Marseille

Winter (ab Januar 2010):

Mathias Freire, Psychiater

Winter/Frühling (ab März; nach dem Showdown):

Identität X

Tabelle 5: Identitäten und Jahreszeiten Kubielas

In der jeweiligen Identität bleibt etwas von den vorangegangenen präsent, wie die Kunstbeflissenheit Kubielas bei Nono und Narciss. Bemerkenswerterweise bleibt analog auf der meteorologischen Ebene in der Phase des Einlebens in die entdeckten Identitäten ein Wetterphänomen aus der Aufdeckungs- bzw. Übergangsphase erhalten. In der Phase des ersten Zweifelns, scil. auch in einer dissoziativen Fugue zu leben, nachdem Freire, unmittelbar nach der Verfolgung durch die Mörder von Bonfils, als Victor Janus angesprochen und identifiziert wird, erscheint nicht mehr das Humiditätsereignis Nebel, sondern dieser wird durch Regen ersetzt; markant ist, dass auch der Regen auf eine Auflösung verweist: »Et maintenant, cette confusion avec un autre… Le visage collé contre la vitre, il regardait la mer se dissoudre sous la pluie.«106 Mit der Identität Janus’ wird zunächst die Kälte, die in der Identität des Obdachlosen potenziell tödlich sein kann, präsent, doch die körperliche Bedrohung und Lebensgefahr entstehen beim Höhepunkt dieser Phase mit Regen und dem Mistral. Der ›Abschied‹ von der Phase Janus erfolgt unter dem nun vom Mistral gereinigten Himmel und bei Sonnenschein. Der Sonnenschein begleitet Freire bis zur zufälligen Konfrontation mit der nächsten Identität Narciss, während der wiederum Wind und Kälte den Wettereindruck prägen. Bei Nono, mit dem Freire auf die Gruppe Metis und weitere voyageurs sans bagages stößt, scheint zwar die Sonne, aber auffälligerweise erfolgt eine Intensivierung der Kälte zu Frost und Raureif. Insofern erscheint auch der Kern der Intrige, die unethischen Machenschaften von Metis, als metaphorische Kälte in der meteorologischen Präsenz. Nicht ganz passgenau bezüglich der Saisonalität der Fugues ereignen sich die Morde, die sich nach der Festigung der jeweiligen Identität richten. Der Täter agiert mithin weder nach Saisonalität, noch nach, soweit erkennbar, spezifischen Wetterphänomenen:

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Katia Schorn: Mörderische Meteorologie Jahreszeiten

Fugues

Sommer: August 2009:

Uranus

Herbst/Winter: Dezember 2009:

Ikarus

Winter: Februar 2010:

Minotaurus

Winter/Frühling: März 2010:

Mordintention Eurydike

Tabelle 6: Saisonale Zuordnung der Mordserie in Le passager

Eine mögliche Hypothese besteht in der Annahme, dass jede Phase des Einlebens in eine vergangene Identität durch ein meteorologisches Phänomen geprägt ist, das in Bezug zum saisonalen Erleben der jeweiligen Identität steht. Auch eine genauere Analyse der jeweils wirkenden meteorologischen Funktionen wäre denkbar, um weitere Bezüge etwa zum Charakter der Identität oder zum Spannungsaufbau innerhalb der Phasen aufzudecken. In diesem Zuge könnte gefragt werden, ob die Kälte dependent von der sozialen Dichotomie ist, die Freire/Kubiela durchläuft; denn ausgehend von der Identität Kubielas zeigt sich zunächst ein sozialer Abstieg bis zur Identität Freire, die allerdings der ursprünglichen am nächsten ist und einen sozialen Aufstieg markiert, die aber aufgrund der mangelnden zwischenmenschlichen Kontakte gleichzeitig isoliert ist. Ferner fällt bezüglich der Wetterfrequenz auf, dass nach dem Durchleben der Janus-Phase, die für Freire mit dem Mistral lebensbedrohlich wird und direkt von der Bedrohung durch das Wetter in eine von Metis engagierte Schlägertruppe verursachte Lebensbedrohung übergeht, das Wetter bis zum Ende zu Kubiela – umgekehrt zur gesellschaftlichen Position der Identitäten – deutlich an Präsenz verliert und zwar umgekehrt zur gesellschaftlichen Position der Identitäten. Nach relativ bewährtem Muster folgt die Konzeption des Wetters: Etwa mit hoher Frequenz zu Beginn, seiner Metaphorik an den Spannungshöhepunkten, dem Sonnenschein bei Informationen sowie einem explizit anormalen Wetter am Ende. Zu einem gewissen Grad zeigt dies als meteorologischer Spiegel den Konflikt des Dramas bzw. verweist auf den intentionalen Verweis des Tragödienhaften durch den Täter.

7.3.2.3 Der Sturm der Aufklärung Das Finale wird durch eine abnorme Wetterlage eingeleitet, die Freire/Kubiela bemerkt, als Toinin ihn telefonisch kontaktiert und nach Larochelle in einen Bunker beordert, wo er Chatelet, die er als Eurydike bezeichnet, in seiner Gewalt hat. Freire/Kubiela blickt aus dem Fenster und sieht sich mit für den Winter einem absonderlichen Wetter konfrontiert: »La pluie lui cingla au visage. Détail anormal: la chaleur.«107 In der Frequenz knüpft die Wettereinbindung an die des Romananfangs an. Es moduliert sich geradezu eine Untergangsmetaphorik, die durch den unmissverständlichen, bedeutungsschwangeren Wetterbericht explizit wird: »La chaleur est le signal. Vingtcinq degrés en plein hiver sur la Côte basque: ce ne pas le redoux, c’est la fin du monde!«108 Meteorologischer Auslöser ist das Sturmtief Xynthia, das in der Textlogik eine ungewöhnliche Wärme heraufbeschwört, die die metaphorische Sinnzuschreibung des

7 Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller

Bunkers in Larochelle als Hades bzw. Hölle ermöglicht. Ferner unterstreicht der Sturm die Konfrontation Freires/Kubielas mit seinem Vater, dem Serientäter Toinin. Der Text enthält folglich nicht nur das Echo der traditionellen Wetterbeschreibung, sondern auch Reminiszenzen an die Bibel109 und die Mythologie: Wie bereits der Sturm bei Odysseus, so greifen für Freire/Kubiela ebenfalls höhere Mächte ein: »Il ne manquait plus que ça. Les forces célestes s’en mêlent.«110 Mit diesem meteorologischen Dreh wandelt sich eine Facette des Selbstbilds Freires/Kubielas; er sieht sich nicht mehr wie zu Beginn seiner Nachforschungen zu Bonfils wie ein Detektiv im Nebel, sondern fügt sich nunmehr in die Metaphorik Toinins mit seiner mythologischen Affinität: »Il reprit la route dans la peau du héros mythologique qui ne peut échapper à son destin.«111 So verlässt er eine aktive Figurenzuschreibung, die Rolle des Detektivs, und wird zum Bittsteller Orpheus, dessen Scheitern auf der einen oder anderen Ebene damit vorgezeichnet scheint. Der Sturm und die warmen Temperaturen sind indes ein von ›höheren Mächten‹ bzw. vom impliziten Autor deutlich gesetzter dramaturgischer Kunstgriff. Dies wird im ›anormal‹ deutlich ausgewiesen. Tatsächlich bieten die Konfrontation des Sohns mit dem Vater und die Aufklärung der Intrigen unter den stürmischen Bedingungen keine kohärente Lösung. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob die Konfrontation mit dem Vater und mit der (zumindest leicht überbordenden) Absurdität des Erklärungsansatzes und seiner Inszenierung dazu dienen soll, die Widersprüche zu negieren und diesen eine gewisse Plausibilität zu verleihen, die indes gerade durch die meteorologische Aufklärungsszenerie verlorengeht. Die Sonne nach der Flucht aus dem Bunker/Hades unterläuft die philosophische Symbolik des Lichts bzw. der Sonne als Erkenntniserwerb nach der Befreiung aus der Höhle: »Le soleil était là et c’était pire. […] Ce soleil tiède était comme une fièvre, suintant la maladie, […] la mort.«112 Die Sinnstiftung der Aufklärung erscheint als verhöhnte Projektion, wenn Freire/Kubiela angesichts des Sonnenlichts erneut das Gedächtnis sowie seine mühsam rekonstruierten Identitäten verliert und das Matroschka-Modell zum Perpetuum mobile wird.

7.3.2.4 Das Wetter für Anaïs Chatelet Parallel zur Identitätssuche Freires’ fahndet die Polizistin Anaïs Chatelet nach dem Serientäter. Die subjektive Deutung des Nebels als Marker der Unwirklichkeit Freires steht dem Nebel als Faktor der Wirklichkeit durch die Wetterbewertung Anaïs Chatelets gegenüber. Obzwar für sie der Nebel an einigen Stellen im Kontext mit ihrer Vergangenheit erwähnt wird, so ist diese abgesichert und stellt ein Fixum ihrer Identität dar. In diesem Sinne wird der Nebel um Chatelet nicht als ›Symptom‹ der Fugue eingesetzt, sondern fungiert als Marker des Realen. So heißt es am Tatort Minotaurus: »Quand elle aperçut […] les gyrophares tournant dans le brouillard, les flics en ciré de pluie qui passaient comme des spectres brillants, elle comprit que tout était vrai.«113 Für Chatelet als detektivische Instanz symbolisiert der Nebel prima facie die Verbrechensgeschichte des realisierten Mordes, die rekonstruiert werden muss. Dies wird jedoch unterlaufen, weil Chatelet ein nicht abgeschlossenes multiples Verbrechen und mehrere an Freire gebundene, gewissermaßen multiple Lebenserzählungen verfolgen muss, was in der Genrekonsequenz wiederum (unbeabsichtigt?) ihr eigenes Dasein als Ermittlerin infrage stellt.

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Katia Schorn: Mörderische Meteorologie

Insgesamt erscheinen in den Sequenzen um Chatelet weniger Wettererwähnungen. Auffallend ist hierbei indes die Regenpräsenz, mit der der Erzählstrang um die Ermittlerfigur eine Kontiguität, aber gerade auch eine dysphorische Qualität erhält. Sowohl für Chatelet, insbesondere jedoch für Freire/Kubiela, wird das Moment aktiviert, das Lahmédi für den néo-polar aufwirft, scil. die Verbindung zwischen Kälte und Unsicherheit (und Dunkelheit), die auf die Intrige aus Machtspielen, Kommerzialität und Wissenschaftsegozentrik mit ihrer Missachtung ethischer Normen und der Negierung familiärer Werte hinweist.

7.4 Zusammenfassung •









Besonders mit dem ersten Fall von Fred Vargas, L’homme aux cercles bleus, ist die für die Figuren lancierte Beunruhigung mit der Nacht assoziiert. Hierbei wird die Nacht selbst personifiziert und zum bedrohlichen Moment aufgebaut. Mit dieser Assoziation wird der Täter zum Nachtmahr und zu einem gleichsam fantasmagorischen Mörder. Die nachfolgenden Fälle der Figur Adamsberg rekurrieren durch ihre Thematik bzw. Motive prima facie auf mit diesen fixierte Wetterphänomene, etwa auf den Werwolf und den Vollmond oder die Mesnie Hellequin und die Rauhnächte bzw. den Winter, doch werden diese Verbindungen u.a. durch die in den Fällen herrschende Sommerhitze unterlaufen. Nicht die Kälte erscheint als evokativer Hall des Schauerlichen, sondern das Sommerwetter, das mit der Beunruhigung und dem Schrecken, mit dem Angstbesetzten und dem irrationalen Anteil der Mordserien verquickt wird. Zudem verfügen die Wetterlagen selbst, wie in L’Armée furieuse, über das Potential, bei den mit der Region verwobenen Menschen Beunruhigung auszulösen. Mit der Sommerhitze und der saisonalen Präferenz des Sommers löst sich der von Vargas etablierte Rompol deutlich vom néo-polar, der, wie Lahmédi ausführt, eine basale Verbindung zur Kälte aufweist.114 Insofern zeigt sich hier eine deutliche Abkehr. Ferner erscheint bei Vargas kaum das Wetterphänomen des Regens. Im Vergleich zu Ermittlern wie Laviolette reflektiert Adamsberg das Wetter oder einzelne Wetterphänomene eher selten. In lebensbedrohlichen bzw. stark emotionalen Momenten jedoch erfolgt eine intensivierte Wetterwahrnehmung. Allerdings wird seine Figur bzw. sein Charakter über Wettermetaphorik, Bilder und Vergleiche mit dem Wetter verbunden und als pelleteux de nuages gekennzeichnet. Hierbei ist eine seiner Kernkompetenzen die Fähigkeit, im metaphorischen Nebel eines Falles ›sehen‹ zu können. Ganz ähnlich wie in einigen Fällen Maigrets oder Laviolettes entwirft sich in Sous les vents de Neptune über das Wetter eine Verbindung zum Täter, allerdings mit einem bedeutenden Unterschied: Bei Vargas entsteht über die Impression eines inneren Unwetters eine latente Verbindung zum Serientäter Fulgence. Die inneren Stürme sind auf metaphorischer Ebene und als Facette der Deduktion sowohl mit dem Täter als auch mit (einigen) Opfern assoziiert. Sie bilden außerdem eine Auffälligkeit, die Adamsberg auf die Spur des hier herrschenden individuellen Mythos des Täters führt.

7 Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller

















Der Seitenblick zu Minier zeigt exemplarisch, dass auch in Glacé die Wetterdarstellung Bezüge und Assoziationen an Mythen reps. das Märchenhafte im Sinne eines unheimlichen Momentes herstellt. Grangés Le passager zeichnet sich durch eine hohe, wenn auch schwankende Wetterfrequenz aus. Hierbei weist die Konzeption des Wetters ein gewisses Muster auf: eine hohe Frequenz zu Beginn, eine gewisse Metaphorik um die Spannungshöhepunkte, Sonnenschein beim Eingang von Informationen, die bei der Deduktion des ermittelnden Protagonisten hilfreich sind, und explizit anormales Wetter zum Finale. Ebenfalls am Ende des Romans unterläuft der Sonnenschein jedoch die Symbolik von Erkenntnis bzw. Einsicht. Zu einem gewissen Grad kennzeichnet die meteorologische Gesamtschau wie ein Wetterspiegel den Konflikt des Dramas bzw. macht auf die intentionalen Anspielungen des Tragödienhaften durch den Täter aufmerksam. In dem Text hallt ferner nicht nur das Echo der traditionellen Wetterbeschreibung nach, sondern er enthält auch metatextliche Bezüge zur Bibel und, indem er z.B. eine ungewöhnliche Wärme beschreibt, nimmt einen Rekurs auf Jenseitsvorstellungen (Hitze = Hölle) und Mythologie. Die Wetterbeschreibungen und Selbstreflexionen des Protagonisten Freire/Kubiela stehen deutlich in Verbindung zu seiner Disposition, indem der omnipräsente Nebel als Metapher der psychischen Fugue fungiert. In dieser Funktion wird also auch in diesem Roman der Nebel mit der Identität verbunden. Freires/Kubielas psychische bzw. identitäre Fluchten als sogenannter ›Reisender ohne Gepäck‹ erstrecken sich ungefähr über den Verlauf eines Jahres, scil. von März 2009 bis März 2010. Hierbei verläuft jede neu konstituierte Identität nicht über den Zeitraum einer Jahreszeit, sondern über den saisonalen Wechsel hinweg, mit dem der Identitätswechsel jeweils meteo-metaphorisch abgestimmt ist. Für die Protagonistin Chatelet fungiert der Nebel indes als Marker des Realen. Damit steht der Nebel hier nicht in einem gleichsam schematisierten Nexus als Reflektor der Unsicherheit gegenüber dem Verbrechen. Er verweist zwar auf die notwendige Rekonstruktion der Zusammenhänge, modelliert aber eine Konkretheit und unmittelbare Wirklichkeit durch die Protagonisten, sodass sich für beide Figuren eine meteorologische Dichotomie entwirft. Grangé verwendet keine innovative Darstellung bzw. Funktion des Wetters, vielmehr scheint die Funktion des Wetters – im Blick auf die vorherigen Kriminalromane – deutlich reduziert und nachgerade auf eine basale Motivverwendung zurückzufallen. Die Ermittlerfiguren bei Vargas und Grangé reflektieren das meteorologische Wetter eher selten, sodass sich die Frage stellen ließe, ob hier ein gewisser Rückschritt in der Funktionsentwicklung des Wetters im Kriminalroman zu verzeichnen ist.

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8 Im Krimi regnet es nicht immer!

Mit dem Blick auf das Wetter im französischen Kriminalroman der Gegenwart endet die meteorologisch-kriminalliterarische ›Spurensuche‹ von 1843 bis 2018. Für das Genre Kriminalroman scheint eine Betrachtung des Wetters obsolet zu sein, denn: Es regnet immer. Ein Ziel war es daher, die Vielfältigkeit des Wetters im Kriminalroman aufzuzeigen sowie die Veränderungen von Darstellung und Funktion unter Berücksichtigung der Gattungsgeschichte zu skizzieren. Hierbei konnte veranschaulicht werden, dass eine gleichsam motivgeschichtliche Dynamik des Wetters – nicht zuletzt im Sinne Wolpers – im Kriminalroman festzustellen ist und es sich beim kriminalliterarischen Wetter mithin um ein entwicklungs- und anpassungsfähiges Element handelt. Um die Adaptionen und Veränderungen des kriminalliterarischen Wetters zu untersuchen, wurde ein Bogen von den Vorläufern des Kriminalromans bis zu aktuellen Tendenzen über knapp 150 Jahre Kriminalromangeschichte gespannt: • • • •

• •

Eugène Sue: Les Mystères de Paris (1843–1844) – als Vorläufer des Kriminalromans Emile Gaboriau: die Reihe um Tabaret bzw. Lecoq (1866–1868) – steht für den roman policier bzw. roman-problème Léo Malet: Nouveaux Mystères de Paris (1954–1959) – exemplarisch für den roman noir Georges Simenon: die Maigret-Reihe (1929–1972) – bei der die Zuordnung zu einer Kategorie wie dem roman noir umstritten ist und die mitunter als innerhalb des Kriminalromans ›unklassifizierbar‹ betrachtet wird Pierre Magnan: die Laviolette-Reihe (1977–2000) – exemplarisch für den Regionalkrimi, den polar rural bzw. polar régionaliste Fred Vargas (1999–2017): Rompol, ein Seitenblick auf Bernard Minier Glacé (2011) und Jean-Christophe Grangés Le passager (2011) (Thriller) – dieser Ausblick zeigt aktuelle Tendenzen

Die Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels bieten einen Überblick der Ergebnisse hinsichtlich Darstellung und Funktion und sind in ihrer Auswertung bereits reflektiert, insofern sollen sie nachfolgend nicht mehr im Detail wiederholt werden. Abschließend soll daher folgenden Fragen nachgegangen werden:

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Katia Schorn: Mörderische Meteorologie

• • • • • •

Regnet es im Krimi immer? Gibt es Entwicklungstendenzen? Kann eine Verschiebung der Wetterposition im Greimas’schen Aktantenmodell nachgewiesen werden? Hat sich die gewählte Methodik zur Analyse bewährt? Gibt es weitere Forschungsperspektiven? Gibt es einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn?

8.1 Regnet es im Krimi immer? Nein. Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung ist – und dies mag auf den ersten Blick recht profan anmuten – dass es im Kriminalroman nicht immer regnet. Hier konnte eine recht etablierte Annahme der Forschung widerlegt werden. Die Verbindung zwischen Kriminalität und Regen aber kann bis zum Vorläufer des Kriminalromans Les Mystères de Paris nachvollzogen resp. als von diesem ausgehend betrachtet werden. Insbesondere die Eingangsszene dieses Feuilletonromans ist für die Verbindung von Wetter und Kriminalität paradigmatisch; sie zeichnet sich durch eine Übertragung der kriminellen Konnotationen und Assoziationen des kriminell konnotierten Stadtteils auf das Wetter aus. Geradezu modellhaft wird in den Mystères de Paris ein Nexus von Regen und Kriminalität aufgebaut, der bis heute vielfach als charakteristisch für den Kriminalroman und einzelne Subgenres, etwa den roman noir, angenommen wird. Diese scheinbare Gattungs-Prävalenz des Regens konnte in der vorliegenden Studie indes anhand statistischer Auswertungen – zur L’affaire Lerouge (s. Kapitel 3.2.1), zu den Nouveaux Mystères de Paris (s. Kapitel 4.1) und zur Maigret-Reihe (s. Kapitel 5.1) – widerlegt werden. Allerdings wird die in den Mystères de Paris lancierte Relation zwischen Kriminalität und Regen in nachfolgenden Texten immer wieder aufgegriffen. Denn obzwar die Regen- und Wetterfrequenz im ersten französischen Kriminalroman L’affaire Lerouge äußerst gering ist, fungiert der Regen der Mordnacht, wie gezeigt wurde, als Impetus der Handlung (von Mord, falschen Verdächtigen und der Überführung des wahren Täters [s. Kapitel 3.2.1]). Darüber hinaus entsteht mit dem Regen ein besonderes Moment für den Kriminalroman, scil. die Konstruktion der ersten falschen Fährte. Dies ist ein herausragendes Ergebnis der Untersuchung, da gezeigt werden konnte, dass die erste falsche Fährte überhaupt im (französischen) Kriminalroman auf dem Wetter basiert. Auch die Nouveaux Mystères de Paris greifen die Verknüpfung von Regen und Kriminalität als etablierte Assoziation durch den Protagonisten auf, unterlaufen diese Verbindung aber insofern in ihrer Substanzialität, als der Detektiv – wie auch die Leserschaft – hierdurch in die Irre geführt werden (s. Kapitel 4.1.3). Die Verknüpfung Regen und Kriminalität erweist sich damit als ›Produkt‹ einer literarhistorischen Entwicklung. In keiner der untersuchten Reihen, die nach Sue entstanden, zeichnet sich eine Prävalenz des Regens ab. Vielmehr zeigt sich insgesamt eine saisonale Diversität. In einigen Fällen, wie beispielshalber bei den Ermittlern Lecoq (Gaboriau) oder Burma (Malet), bildet sie einen Teil der Reihenfaktur – in Verbindung zur Entwicklung der Figur Lecoq vom jungen Polizisten zum etablierten Agenten der Sûreté (s. Kapitel 3.1.4); in den Nouveaux

8 Im Krimi regnet es nicht immer!

Mystères de Paris zeigt sich für die Figur Burma ein Wandel von Frühlingseuphorie zu einem Frühlingsdefätismus (s. Kapitel 4.5.3), da das Verbrechen hier nicht an den Regen, sondern an Frühlingswetterlagen gebunden ist, zudem ist die saisonale Vielfalt in dieser Reihe Teil eines saisonal-thematischen Musters (s. Kapitel 4.3.3.2). Auffallend ist, dass etwa in den Reihen von Malet, Simenon und Vargas viele Fälle im Frühjahr bzw. Sommer ansetzen, sodass (alldieweil für diese) eher eine Verbindung zwischen Mord und allgemein bzw. archetypisch primär positiv konnotierten Wetterlagen besteht. Während es keine konstante Bindung an den Regen gibt, konnte über die Dezennien hinweg indes eine konstante Verwendung des Wetterphänomens ›Nebel‹ festgestellt werden: bezüglich einer Verschleierung der Wahrheit sowie in Relation zur im Kriminalroman zentral stehenden Identitätsfrage nicht primär zur Täterfiguren, sondern vielmehr (fast) durchgängig zur ermittelnden Instanz. In einigen Kriminalromanen mag Sonnenschein die Aufklärung und im klassischen Sinne die Wiederherstellung der Ordnung in Szene setzen, doch diese Funktion lässt sich ebenso wenig schematisieren. Spätestens mit Malet und der Entwicklung zum roman noir erscheint der Sonnenschein nicht in einem positiven Sinne der Reetablierung der Ordnung, sondern als eine Infragestellung derselben, sodass dieses Wetterphänomen am Ende die Unmöglichkeit einer heilen Welt verdeutlicht und gleichsam einen goût de cendres evoziert. Diese Verkehrung zeigt sich auch für die Figur Freire/Kubiela in Grangés Le passager, denn statt Aufklärung entsteht eine Perpetuierung des ›Rätsels‹.

8.2 Gibt es Entwicklungstendenzen? Ja. Es lassen sich aus allen Hauptkapiteln Veränderung des Wettereinsatzes über die Dezennien hinweg ableiten: Der roman policier zeichnet sich durch eine primär rationalisierte Darstellung und Interpretation des Wetters aus. Dies ist in dem eher psychologisch geprägten Kriminalroman von Simenon anders. Auch die Autorinnen und Autoren der Gegenwart verwenden andere Wetterbezüge als etwa Malet in den 1950er-Jahren oder der Regionalkrimi. Die Autorinnen und Autoren nutzen das Wetter, um neue Schwerpunkte zu setzen und mit ihren Konzepten des Kriminalromans zu verbinden. Insofern zeigte sich in der chronologischen Untersuchung nicht nur eine Anpassung des Einsatzes der Wetterphänomene an die unterschiedlichen Spielarten der Gattung, sondern auch, dass das Wetter selbst (!) für Autoren wie Simenon (mit Dimensions- bzw. realitätsverändernder Funktion) oder Magnan (für den der Kriminalroman sogar lediglich ein Prätext ist, um über das Wetter zu schreiben) Impulse für neue Wege des kriminalliterarischen Schreibens setzt und innovative Formen der Wetterdarstellung und -funktion entstehen. Das Wetter ist von Anfang an kein reines Dekorelement des jeweiligen Falles und steht, so ein wesentliches Ergebnis, in hohem und jeweils sehr individuellem Maße in Verbindung mit der Faktur, den Figuren, dem Raum und der Handlung. Zudem deuten bestimmte Elemente tendenziell immer auch auf den Einfluss der Epoche, der Entstehung des Textes und (marginaler) der Subgattung hin. Sehr pointiert und abstrahiert lässt sich eine Entwicklung von rationalen Wetterdarstellungen und Nutzungen seitens des Detektivs, über eine ästhetisierte Darstellung und psychologisierte Funktion bis hin zu Magnan als Höhepunkt einer Wetterentwicklung

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Katia Schorn: Mörderische Meteorologie

mit dem Wetter als einen personifizierten Aktanten, der selbst als Täter auftritt, nachweisen. Denn die Erzählungen von meteorologischen Phänomenen können, wie die Analyse zeigte, als Aktanten mit anderen Elementen der Narration in Verbindung treten und über sich selbst hinausweisen. In den einzelnen Subgenres geschieht dies durch Autoren und Autorinnen in vielfältiger und komplexer Weise, diese ist aber, so muss betont werden, weder historisch noch personal generalisierbar. Zwar zeigt sich eine gewisse Entwicklungstendenz von indexikalischen und metaphorischen Verweisen zu einem eher psychologischen und besonders ab den 1970er-Jahren auch ludisch-ironischen Einsatz des Wetters bzw. von Wettermotiven, allerdings scheint diese Tendenz im 21. Jahrhundert eher abzuflauen bzw. abzubrechen und ist letztlich in sich auch nicht (immer) konsistent.

8.2.1 Gibt es Darstellungen und Funktionen, die über die Dezennien fortgeführt werden? Ja. Im Folgenden soll unter dem Fokus, wie die Darstellung des Wetters und seine Funktion zusammenspielen, exemplarisch ein ausgewählter Befund der fünf Hauptkapitel aufgezeigt werden. Der Fokus liegt hierbei auf jeweils einer Besonderheit, die in nachfolgenden Kriminalromanen aufgegriffen bzw. fortgesetzt wird.

Kapitel/Autor

Darstellung

Funktion

2. Sue

Historisch-faktualer Bezug

Sozialkritische Dimension

3. Gaboriau

Rationale Darstellung des Wetters für die Ermittlung

Motiv der Wetterspur wird zentral für die Ermittlung

4. Malet

Subjektive Darstellung durch die Perspektive des Ich-Erzählers

Psychotrop und Kommunikation zwischen moi-narrateur und moinarré

5. Simenon

Ästhetische, künstlerisch komplexere Darstellung und sensuelle Einbindung

›Psychologisiert‹: Indikator für die Sensibilität des Ermittlers und Triggerfunktion für den Täter Bureau

6. Magnan

Regional spezifische Darstellung und Personifizierung

Wetterphänomene als Agent Provocateur und Aggressor

7. Vargas

Abkehr von den Wetterdarstellungen des neo-polar

Teil der Erzeugung von Ängsten und Teil der Charakterisierung des Protagonisten

Grangé

Keine innovative Darstellung

Deutliche Reduzierung der Wetterfunktion

Tabelle 7: Exemplarische Darstellungen und Funktionen

8 Im Krimi regnet es nicht immer!

2. Sue: Die Wetterdarstellung bei Sue bietet einen historisch-faktualen Bezug, sodass etwa am Beispiel der Familie Morel die Bedrohung, die in Verbindung zu den Lebensumständen von der Kälte ausgeht, deutlich wird und als Schock-Moment wie als soziale Kritik lesbar ist. Sue begründet damit eine sozialkritische Tendenz, die sich in die Linie des französischen Kriminalromans einschreibt. 3. Gaboriau: In den Romanen um Tabaret und Lecoq wird das Wetter für die Ermittlung im Zuge des Einflusses des zeitgenössischen Positivismus rationalisiert dargestellt und etwa Spuren im Schnee entsprechend funktionalisiert. Zudem wird die Wetterspur bei Tabaret funktional für die Konstruktion der falschen Fährte. Von Gaboriau aus werden sowohl das Motiv der Wetterspur als auch der falschen Fährte Bestandteil des Kriminalromans und zeigen sich nicht nur bei den Klassikern wie Sherlock Holmes, sondern in neu-modulierter bzw. in geradezu torpedierter Form mehr als 100 Jahre später bei Magnans Ermittler Laviolette. 4. Malet: Bei Malets Nestor Burma erfolgt eine subjektive Wetterdarstellung resultierend aus der Perspektive des Ich-Erzählers. Hieraus ergibt sich an einigen Stellen – als surrealistischer Effekt – die Besonderheit einer Kommunikation von moi-narrateuer (erzählendem Ich) und der Figur, dem moi-narrée (erzähltes Ich) über das Wetter, sowie vorausdeutende bzw. fallresümierende Wetter-Exposition. An einigen Stellen zeigt sich eine deutliche psychotrope Wirkung des Wetters auf den Protagonisten, diese Wetterwirkung findet sich in modulierter Form auch bei Simenons Maigret sowie bei Magnans Laviolette. Ein Blick über den Korpus hinaus zeigt, dass die psychotrope Wetterwirkung etwa auch im Kriminalroman Le Lessiveur von Franz-Olivier Giesbert erscheint. 5. Simenon: In den Maigret-Romanen ist das Wetter stärker ästhetisch und künstlerisch komplexer sowie sensueller dargestellt als in den behandelten Vorgänger-Texten. Durch die starke sensuelle Facette und psychologische Prägung der Reihe fungiert das Wetter u.a. als Indikator für die Hochsensibilität Maigrets, d.h. als ›Oberflächenphänomen‹ für die psychische Disposition des Ermittlers, aber auch als Verbindungselement etwa zu den Opfern (Liberty Bar) oder den Tatmotiven (Mon ami Maigret) und erhält hierdurch eine prägende handlungsentscheidende Bedeutung. In der Maigret-Reihe erscheint das Wetter erstmals als psychischer Trigger und de facto als Tatauslöser (Maigret et le tueuer). Dieses Moment wird in der Laviolette-Reihe von Magnan (Les courriers de la mort) weiter ausgebaut. Es findet sich, so ein Seitenblick auf den amerikanischen Kriminalroman, zudem als Teil der Täterpsychologie in Der Sommermörder (bzw. Beneath the Skin so der Originaltitel) (2000) des amerikanische Autorenduos Nicci French. 6. Magnan: Das Wetter ist regionalspezifisch und seine Wirkung als solches herausgestellt. Auffallend in dieser Reihe ist besonders die starke Personifizierung vor allem des Windes. Die Rolle des Wetters verändert sich in Magnans Kriminalromanen maßgeblich, da es als eigenständige Figur erscheint und als Aktant stetig in die Handlung bzw. auf der Figurenebene eingreift. Die Funktion des Wetters wird bei Magnan scheinbar noch ambivalenter und der (implizite) Autor spielt sowohl mit den traditionellen, bisher etablierten motivischen Funktionen des Wetters als auch mit seiner Lesbarkeit für die Rezipienten, insofern er selbst als Wetter in Erscheinung

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tritt und das Wetter dergestalt seiner Rolle als Spur, Indiz für den Ermittler (und Rezipienten) hinsichtlich der deduktiven Narration ein Stück weit entzieht. 7. Vargas: Die Autorin nutzt das Wetter zur Plausibilisierung des jeweiligen aufgebauten Mythos des Täters bzw. der Täter. Es unterstützt, gerade durch die Abkehr von eigentlich mit dem Mythos assoziierten Wetterlagen (wie die Messnie Hallequin und die Rauhnächte), in diesem Sinne die Erzeugung von Ängsten und Befürchtungen. Mit Grangé zeigt sich keine innovative Darstellung bzw. Funktion des Wetters, vielmehr scheint die Funktion des Wetters – im Blick auf die vorherigen Kriminalromane – deutlich reduziert und nachgerade auf eine eigentlich basale Motivverwendung zurückgesetzt. Die Wetterphänomene werden jeweils individuell mit Bedeutung belegt, doch kann jeder Text auf ein gewisses tradiertes meteorologisches Vorwissen bzw. eine scheinbare Genrekonvention, und sei es das Klischee des Dauerregens, rekurrieren. Gerade hierdurch ist ein ludischer Umgang mit den meteorologischen Konventionen sowie eine Innovation von Wetterkonzeptionen und Wettersystemen möglich, die es erlauben, bestehende oder scheinbar fixierte kriminalmeteorologische Schemata zu unterlaufen. Erst mit dem jeweiligen Kontext, wie dem Subgenre, aber auch mit der spezifischen Relation zu den Figuren, zur Handlung, zu den Räumen oder zur Faktur ergeben sich Funktionen und Bedeutungsgehalt. Dies führt in den untersuchten Texten zu einem weiten meteorologischen Darstellungs- und Funktionsspektrum, das weder übergreifend für Autoren und Autorinnen noch für Subgenres oder gar verallgemeinernd für den französischen Kriminalroman schematisiert werden kann.1

8.2.2 Wird das Wetter konstant als Spur bzw. Spurenträger eingesetzt? Ja und nein. Im Zuge der Dezennien und geprägt durch die Epochen verändert sich das für den Kriminalroman zentrale Motiv der Spur – hier die Wetterspur: sie ist ausgehend von der primär rationalen Betrachtung bei Sue und Gaboriau in den nachfolgenden Texten zwar immer wieder Bestandteil der Kriminalromane, verliert aber ihre eindeutige Interpretierbarkeit immer mehr und regt zur Hinterfragung und Reflexion einer potenziellen kriminalliterarischen Mehrdeutigkeit sowohl für die Ermittelnden als auch für die Lesenden an. So etwa in der Laviolette-Reihe, in der die Spuren im Schnee eine Doppelbödigkeit aufweisen (exempl. Kapitel 6.1.1.1 bzw. 6.1.2), da sie nicht mehr wie bei Monsieur Lecoq (s. Kapitel 3.2.2) als ›gesichert‹ und ›sicher deutbar‹ zu betrachten sind. Vielmehr erweisen sie sich als potenzielles Spiel des Täters mit den Ermittlern und als doppelte Irreführung. Gleichzeitig bieten sie durch Laviolette die Möglichkeit kriminalliterarischer Wetter-Reflexionen. Scheinbar tradierte oder auch literarästhetische Konventionen bzw. Konstellationen werden derart immer wieder neu verhandelt, unterlaufen oder hinterfragt. Es zeigt sich bei den untersuchten ikonischen Texten vielfach nicht nur die Wandelbarkeit, sondern eine Reflexion der Wetterspur durch die ermittelnden Figuren, den impliziten Autor oder sie fungieren als Anreiz einer textlichen Reflexion zu einer Deutung für die implizite Leserschaft (s. Kapitel 6.2.1 oder 6.5.4.5).

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Das Wetter als Spurenträger im ›klassischen Sinne‹ erscheint z.B. bei Malet und Simenon fast gar nicht mehr. Hier werden allerdings andere Wetterfunktionen für die Deduktion verwendet. Mit den zeitgenössischen Einflüssen und der Rahmung der jeweiligen Subgenres verändert sich immer wieder die Bedeutung des Wetters für den deduktiven Prozess, so kann in diesem Zuge resümiert werden. Diese Bedeutung reicht von der rationalen Interpretation als Indiz (Gaboriau), über die eher als ein psychologisches Moment, die einen Rückschluss auf das Verhalten der Figuren gestattet (Malet, Simenon), der Einbindung als scheinbares Smalltalkthema, dank dessen wichtige Informationen gewonnen werden können, über ein Bestandteil einer deduktiven Methode und Theorie (Simenon) als welches es eine ›Verbindung‹ zu Opfern, Tätern oder Tathintergründen (Simenon) bietet, bis zu einer perception extra-sensuelle (Magnan), mit der das Wetter eine ganz eigene Bedeutung als Individuum erhält und in Kommunikation mit dem Ermittler tritt.

8.3 Kann eine Verschiebung der Wetterposition nach dem Greimas’schen Aktantenmodell nachgewiesen werden? Ja. Wie sich im Verlauf der Arbeit gezeigt hat, lassen sich einige der Wetterfunktionen nur unzureichend mit der Motivanalyse erfassen. Daher wurde der Ansatz des Aktantenmodells hinzugezogen. Besonders aufschlussreich zeigt sich ein Vergleich der Wetter-Positionen im Aktantenmodell zu Beginn und zum Ende der chronologischen Perspektive zwischen den Romanen Gaboriaus und Magnans. Dieser Vergleich illustriert ein herausragendes Ergebnis der vorliegenden Arbeit, denn es zeigt sich, dass das Wetter nicht nur als Aktant, sondern als Akteur eingeordnet werden und sich seine Position innerhalb des Aktanten-Modells verändern kann. Zu Gaboriaus Roman Monsieur Lecoq: Der zunächst um den designierten Tatort herrschende Nebel sorgt für eine unheimliche Atmosphäre. In diesem Nebel hört der sich auf einem terrain vague befindliche Polizeitrupp einen Schuss aus dem dortigen einsam gelegenen Wirtshaus – ein Mord ist geschehen. Mit der Ermittlung Lecoqs verschiebt sich der Fokus vom Nebel auf den Schnee, der hierbei nicht als Dekorum behufs einer atmosphärischen Stimmung fungiert, sondern rationalisiert wird. Hierdurch verändert sich die Wetterfunktion hin zum Motiv der Spur; parallel kann er im Rahmen des Aktantenmodells als Adjuvant des Ermittlers kategorisiert werden. Diese Funktion als rationalisiertes Wetter und die Adjuventerolle zeigt sich anschaulich an folgendem Zitat: Ce terrain vague, couvert de neige, est comme une immense page blanche où les gens que nous recherchons ont écrit non seulement leurs mouvements et leurs démarches, mais encore leurs secrètes pensées, les espérances et les angoisses qui les agitaient.2 Lecoq betrachtet den Schnee als Spurenträger und als Grundlage für seine analytische Interpretation der Ereignisse – die nachhaltige kriminaltechnische Bedeutung, die diesem Moment der meteorologischen Spurenanalyse beigemessen wird, zeigt sich

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anschaulich auch an der Gestaltung des Titelbildes der Neuauflage von 1948 (vgl. Abb. 5). Eine Problematik mag hier die Trennschärfe zwischen Motiv und Aktant sein – gerade dieses Beispiel aber hebt, in der doppelten Funktion des Wetters, seine Komplexität heraus. Zu Magnan Les courriers de la mort: Im Vergleich zur Rationalisierung des Wetters bei Lecoq fällt in den Laviolette Fällen die starke Personifizierung des Wetters auf. Bemerkenswert ist hierbei, dass das Wetter im Rahmen der Aktantenanalyse in der Perspektive des Täters zwar als Adjuvant fungiert, doch zusätzlich in die Positionen als Subjekt und Sender gesetzt werden kann: Als Agent Provocateur wirkt der Wind auf die Figur Régulus und verführt diesen zum Mord. Aber der Wind tritt auch als Komplize in Erscheinung, scil. als Aggressor gegenüber den Opfern und schließlich wird das Wetter zum Mörder an Régulus. Wie die Analyse zeigte, kann der Wind darüber hinaus in gewisser Weise sogar implizit als Empfänger gesetzt werden. Die Personifizierung des Windes sowie die Identifizierung und als Figur als Agent provocateur demonstriert sich deutlich in folgendem Zitat: »Il [Régulus] sursauta. Quelqu’un [le vent] cognait avec insistance, en bas […] Il écouta. […] Il s’efforçait de ne pas entendre le vent au-dehors qui l’invitait à se servir de lui.«3 Daran zeigt sich anschaulich, dass Wetter nicht als etwas, sondern als jemand dargestellt und auch auf der Ebene der Diegese scil. von der Täterfigur als solcher wahrgenommen wird.

Abbildung 12: Aktantenmodelle zu M. Lecoq sowie Les courriers de la mort

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Die beiden obigen Aktantenmodelle (oben zu Monsieur Lecoq unten zu Les courriers de la mort) stellen die Position des Schnees für Lecoq und die weiteren Aktanten heraus, sowie im darunter befindlichen Modell die verschiedenen Positionen die das Wetter innerhalb des Romans Les courriers de la mort (insgesamt) einnehmen kann. Hierbei verdeutlicht sich mithin, dass das Wetter von der Adjuvantenposition sich nicht nur auf eine andere, sondern auf mehrere andere verschiebt. Die Pfeile sollen dies illustrieren. Entsprechend besetzt der Wind gleich mehrere Positionen im Aktantenmodell. Er fungiert als Adressant, also als Auftraggeber bzw. Auslöser für den Täter sowie als Empfänger, was sich den Täter quasi als manipulierbare ›Spielfigur‹ zunutze macht und instrumentalisiert. Bereits bei Gaboriau erweist sich das Wetter als bedeutendes Element. Mit dem Positionswechsel bei Magnan visualisiert sich der Höhepunkt der Entwicklung der Wetterdarstellung und -funktion, mit der zentralen Stellung des Wetters als personifizierter Aktant und als eigenständiger Akteur innerhalb der Handlung.

8.4 Hat sich die gewählte Methodik zur Analyse bewährt? Ja und nein. Mit dem Nachweis der Wandlungsfähigkeit und Funktionsvariation, dem aufgezeigten Nexus des Wetters zu den Subgenres und dem Einfluss der Epochen nicht zuletzt auf die Ebene des Sekundärmotivs sind zentrale Anliegen der Untersuchung erfüllt. Dergestalt zeigt die vorliegende Studie erste Entwicklungslinien für das Wetter im französischen Kriminalroman auf. Im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum von 1842 bis zur Gegenwart bleiben aber sowohl die Textauswahl als auch das Aufspüren des Wetters in diesem Zeitrahmen notwendigerweise exemplarisch. In diesem Sinne bietet die vorliegende Arbeit einen Ausgangspunkt zur Erweiterung des Korpus und zur Ergänzung, aber auch zur kritischen Begutachtung. Die Ergebnisse sind daher eine Einladung zu weiteren Analysen des Wetters in verschiedenen Spielarten des Kriminalromans, um die Signifikanz meteorologischer Phänomene für das Genre weiter zu eruieren und auszudifferenzieren. Vor dem Hintergrund der Fragestellung hat sich die textimmanente Analyse wie das close reading bewährt. Um das Wetter im Rahmen der hier vorgenommenen ersten ›Spurensuche‹ in den Fokus und sein kriminalliterarisches Potenzial in den Mittelpunkt zu rücken, wurde diese Methode in den jeweiligen Einzelfällen mit kleinen Anleihen etwa an die Psychoanalyse, Intertextualität oder Narratologie ergänzt, um einzelne Aspekte zu verdeutlichen. Ausgangspunkt für die Analyse war ferner, das kriminalliterarische Wetter als Motiv zu setzen, wobei es bislang an wirklich einheitlichen und elaborierten Methoden zu fehlen scheint.4 Mit der über die Dezennien erfahrenen Weiterentwicklung und im Rahmen der Subgenres veranschaulicht sich die Wandlungsfähigkeit des Wettermotivs, insbesondere mit Blick auf das Sekundärmotiv nach Wolpers. Allerdings wird die Klassifizierung als Motiv den meteorologischen Phänomenen in einigen Texten nicht mehr gerecht. Dies ist spätestens dann der Fall, wenn meteorologische Phänomene durchgehend personifiziert dargestellt werden und als Figur – gar als Mörder – agieren. Damit verlassen sie den Motivstatus.

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Um die ästhetische Vielfalt des Wetters in den Blick zu nehmen, entstand gleichsam ein methodisches Vorgehen, das das Wetter im französischen Kriminalroman weder als Decorum zur Plausibilisierung oder Intensivierung – etwa der Raumstruktur – noch primär als literarisches Motiv betrachtet. In diesem Zuge kam zunächst hilfsweise der Ansatz von Greimas’Aktantenmodell hinzu. So wurden in einem close reading die Wetterkonstruktionen als Aktanten analysiert und zu den Konventionen der jeweiligen Subgenres des Kriminalromans in Relation gesetzt. Was daher auf einen ersten Blick als zwar stimmiger, aber heterogener Methodenpluralismus wirken mag, lässt sich in der Perspektive des Aktantiellen theoretisch wie methodologisch plausibilisieren. Dabei zeichnet die vorliegende Arbeit nicht nur eine ›motivgeschichtliche‹ Entwicklung des Wetters über ca. 150 Jahre Kriminalromangeschichte nach, sondern verleiht dem Wetter einen anderen literarästhetischen wie funktionalen Status.

8.5 Gibt es weitere Forschungsperspektiven? Ja. Aufschlussreich könnte eine Vertiefung der angedeuteten intermedialen Wechselwirkungen des Wetters zwischen Roman, Film, aber auch Medien wie dem frühen Hörspiel der 1930er-Jahre sein, um reziproke Beziehungen aufzudecken und die Frage einer Übertragung beispielsweise von Wetter-Sehgewohnheiten durch die Rezipierenden oder potenziellen intermedial beförderten Konstellationen und ihrer entsprechenden Prägung stärker zu verfolgen. Zu denken wäre sodann an die Untersuchung weiterer Subgenres der Kriminalliteratur, aber auch eine Vertiefung der intertextuellen (und im Genette’schen Sinne: architextuellen) Bezüge als Verbindung zwischen den Reihen, Kritik, Parodie oder Abgrenzung ist durchaus be(tr)achtenswert. Ein besonderes Augenmerk mag hierbei der Kinder- und Jugendkrimiliteratur gelten, da hier bereits bestimmte WetterMuster und letztlich auch (scheinbar) tradierte Verbindungen erscheinen und Leseerfahrungen ausgebildet werden. Eine Vertiefung der Analyse einzelner aufgezeigter Wetterfacetten ist zudem durch die Aufnahme weiterer literaturwissenschaftlicher Theorien und Ansätze möglich. Aufgrund der Komplexität meteorologisch-kriminalliterarischer Zusammenhänge bieten sich hierzu für die differenten Einzeltexte verschiedene Zugänge an, wie etwa für die im Rahmen der vorliegenden Studie skizzierte Bedeutungskonstruktion in Magnans Le commissaire dans la truffière mit Ansätzen aus der Rezeptionsästhetik oder im Rahmen einer feministischen Lektüre eine Vertiefung der Frage nach weiblich-meteorologischer Agency in Sues Mystères de Paris oder Magnans Le tombeau d’Hélios. Dies würde allerdings vermutlich eher für die Analyse einzelner Aspekte und Konnexe des Wetters fruchtbar gemacht werden können, sich jedoch bei anderen Titeln oder Reihen – so die Hypothese – als nicht zielführend erweisen. Ein besonderes Interesse könnte im Zusammenhang mit dem französischsprachigen Kriminalroman auf Beziehungen zu oder zwischen Kriminalromantraditionen außerhalb des Hexagons Frankreich liegen.5 Spätestens mit Driss Chraïbi6 oder Yasmina Khadra7 ist der französischsprachige Kriminalroman sowohl geografisch, historisch und epochenspezifisch als auch mit Blick auf eine jeweils autonome Entwicklung nicht mehr auf das Hexagon begrenzbar, sondern fordert zu eigenständigen Untersuchun-

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gen heraus.8 Der frankophone Kriminalroman ist gerade mit Blick auf die Darstellung und Funktionen des Wetters reizvoll, weil er zwar auf französische Kromonalromane des Hexagons Bezug nehmen kann, aber gerade eine meteorologische Umschreibung und Veränderung vornimmt, da er sich notwendigerweise von meteorologischen und allein schon geografisch bedingten Wetterstereotypen lösen muss.9 So ist der Sommer in Chraïbis Une enquête au pays (1981) weniger ein Anlass zur Freude, denn die Julihitze fungiert räumlich wie eine Cloche, die sich über das marokkanische Dorf im Atlasgebirge setzt, in dem zwei Polizisten ihre Ermittlung führen sollen – daraus entspannt sich eine satirische, kritische Darstellung der Lebensbedingungen. Genannt werden kann beispielgebend auch die Relation der Nacht, der Dämmerung und des Nebels in Maryse Condés10 Roman Traversée de la Mangrove (1989); hier lohnt der Blick auf die Erzählweise und Faktur um die sukzessive Konstruktion und Rekonstruktion von Bedeutung, über die das Geheimnis des Toten und dessen Relevanz für die Identität der 19 Erzählenden zusammengefügt wird. Mit Blick auf die klimatischen Veränderungen thematisieren Autorinnen und Autoren nicht erst seit der Jahrtausendwende den Klimawandel, etwa in der Romantrilogie Le Labyrinthe du monde (1974–1988) von Marguerite Yourcenar11 , in der imaginäre resp. utopische Auswege aus der ökologischen Krise skizziert werden, aber vor dem Hintergrund eines notwendigen Paradigmenwechsels die Erwartung eines utopischen Arkadiens präsent bleibt. Eine gewisse zeitkritische Facette findet sich ferner im Kriminalroman Larchmütz 5632 (1999) von Jean-Bernard Pouy12 , der mit Seitenblick auf die BSEErkrankungen der Zeit einen ökologischen Hintergrund hat. Apokalyptisch im Hinblick auf Umwelteinflüsse und Umweltverschmutzung lesbar ist auch Marie Darrieussecqs13 Truismes (1996). Zu hinterfragen wäre daher, wie und ob meteorologische Phänomene als Ausdruck des Klimawandels im Kriminalroman integriert und funktionalisiert werden; zu denken wäre exemplifizierend u.a. etwa an Fragen nach der Signifikanz der geografisch-klimatischen Verortung und des Permafrostbodens in Boréal (2019) von Sonja Delzongle14 . – Diese sowie Condé Romane als Bezug zu literarischen Texten, die zwar nicht als Kriminalromane kategorisiert werden können, sehr wohl aber mit kriminal-literarischen Verfahren – auch mit Blick auf die Wetterkonstruktion zur Rezeptionssteuerung – arbeiten, bezüglich der Wetterdarstellungen zu untersuchen, würde sich lohnen.

8.6 Gibt es einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn? Ja. Ein Ertrag der Arbeit ist die grundsätzliche Neuperspektivierung des Wetters als ein wichtiges kriminalliterarisches Element, das bisher literaturwissenschaftlich wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Und sei es nur in der Erkenntnis, dass dem Wetter nicht in jeder Reihe und nicht in jedem Roman dieselbe narrative Aufmerksamkeit, Darstellung und Funktion zukommt und die Signifikanz des Wetters verschiedene Ebenen tangiert. So kann Wetter nicht nur als Motiv oder motivgeschichtlich betrachtet werden, sondern auch als Aktant – dieser veränderte Ansatz wäre für weitere Forschungen im Bereich des literarischen Wetters fruchtbar. Auch der methodologische bzw. theoretische Zugang ermöglicht methodische Impulse für die Wetteranalyse in literarischen Texten über das Genre Kriminalroman hinaus.

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Mit Blick auf die Entwicklung des Kriminalromans konnte gezeigt werden, dass Wetter durchaus stil- und gattungsbildend ist bzw. einen bisher nicht entdeckten Anteil daran hat. Der Fokus auf das Wetter führt von einer primär auf Figuren oder die Handlung gerichteten Lektüre fort und stellt eine Bereicherung für das Verständnis des französischen Kriminalromans dar. Das Wetter als Phänomen in kriminalliterarischen Texten in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu stellen, kann mithin die Perspektive auf den jeweiligen Text verändern und erweiterte Möglichkeiten der literaturwissenschaftlichen Lektüre bieten. Für die literaturwissenschaftliche Forschung sei daher festgehalten, dass nicht einfach der Blick der Forschenden von einem Textbereich, wie den Figuren oder dem Raum, auf einen anderen ersetzt, sondern sinnvoll erweitert wird. Eine kriminalliterarisch-meteorologische ›Spurensuche‹ lohnt sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, um bisher unentdeckte Relationen, Entwicklungen, Tendenzen und Spezifika des Kriminalromans und seiner Subgenres mit bis dato unerkannten Zusammenhängen zu ermitteln und offenzulegen. Die vorliegende Studie mag Anstoß für eine veränderte Krimilektüre sein. Denn sie zeigt, dass der literaturwissenschaftliche Blick auf das Wetter so spannend sein kann wie ein Krimi selbst.

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— (1992): Gattungsinnovation und Motivstruktur. Bericht über Kolloquien der Kommission für Literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1986 – 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. — (1992): »Zum Verhältnis von Gattungs- und Motivinnovation. Einzelergebnisse und eine Systematik motivwissenschaftlicher Typenbildung«, in: Theodor Wolpers (Hg.): Gattungsinnovation und Motivstruktur. Bericht über Kolloquien der Kommission für Literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1986–1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 172–226. — (2002): Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für Literaturwissenchaftliche Motiv- und Themenforschung 1998–2000. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. — (2002): »Wege der Göttinger Motiv- und Themenforschung«, in: Theodor Wolpers (Hg.): Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für Literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998–2000. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 41–112. Wood, Gillen D’Arcy (2015): Vulkanwinter 1816. Die Welt im Schatten des Tambora. Darmstadt: Theiss. Wörtche, Thomas (2008): Das Mörderische neben dem Leben. Ein Wegbegleiter durch die Welt der Kriminalliteratur. Lengwil-Oberhofen: Libelle. — (2012): »Tod und Kontingenz. Der Kriminalroman als Trutzburg der Sinnhaftigkeit, als Trostbüchlein gar?«, in: Andreas Mauz/Adrian Portmann (Hg.): Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 55–71. — (2015): Penser Polar. Hamburg: Polar Verlag. Deutsche Erstausgabe. — (2016): »Raymond Chandler«, in: Christof Hamann (Hg.): Kindler Kompakt Kriminalliteratur. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 114–118. Žmegač, Viktor (Hg.) (1971): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt a.M.: Athenäum-Verlag. — (1971): »Aspekte des Detektivromans. Statt einer Einleitung«, in: Viktor Žmegač (Hg.): Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt a.M.: Athenäum-Verlag, S. 9–34.

Abbildungen, Diagramme und Tabellen

1.1 Abbildungen Abbildung 1: Aktantenmodell nach Algirdas Julien Greimas; Quelle: Eigene Darstellung Abbildung 2: Schaubild zum Verknüpfungsmuster von Cité und Wetter; Quelle: Eigene Darstellung Abbildung 3: Rue du Temple 17; Quelle: Sue, Eugène: Les mystères de Paris, 19, überarbeitete zeitgenössische Zeichnung Abbildung 4: Faktur der L’affaire Lerouge; Quelle: Eigene Darstellung Abbildung 5: Titelbild zu Monsieur Lecoq (1948); Quelle: Gaboriau, Émile (1948): Monsieur Lecoq. Paris: Fayard Abbildung 6: Die Karte Lecoqs mit Erratum; Quelle: Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 53 Abbildung 7: Die korrekte Karte Lecoqs im Roman Monsieur Lecoq; Quelle: Goulet, Andrea: »Lecoq cartographe: Plan des lieux et terrains vagues dans le roman judicaire«, 40. Abbildung 8: Wetterexposition in Micmac moche au Boul’Mich’; Quelle: Eigene Darstellung Abbildung 9: Vincent van Gogh, Blick auf Auvers mit Kirche; Quelle: htttps://www.vggal lery.com/painting/p_0800.htm Abbildung 10: Vincent van Gogh, Die Sternennacht; Quelle: Schapiro, Meyer: Vincent van Gogh, 95 Abbildung 11: Tatphasen nach Thomas; Quelle: Die Darstellung basiert auf der Tabelle von Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 77 Abbildung 12: Aktantenmodelle zu M. Lecoq sowie Les courriers de la mort

1.2 Diagramme Diagramm 1: Übersicht der NMdP mit Darstellung des Regenanteils; Quelle: Eigene Erhebung Diagramm 2: Verteilung der Maigret-Fälle von Sonne und Regen auf die Jahreszeiten; Quelle: Wenger, Murielle: »Maigret Météo«

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Katia Schorn: Mörderische Meteorologie

Diagramm 3: Verteilung der Maigret-Ermittlungen auf Monate und Jahreszeiten; Quelle: Wenger, Murielle: »Maigret Météo« Diagramm 4: Wetter-Frequenz – Anzahl der Wetterstellen in Bezug zur Seitenanzahl; Quelle: Eigene Erhebung Diagramm 5: Saisonale Verteilung der Maigret-Fälle, die in Paris spielen; Quelle: Wenger, Murielle: »Maigret Météo«

1.3 Tabellen im Text Tabelle 1: Übersicht zum Kriminalroman; Quelle: Gauthier, Nicolas: La ville criminelle, 58 Die Tabelle wurde erweitert auf Basis von Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 126, verweisend auf Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 2–4, sowie Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 44. Der Vollständigkeit halber sind auch Formen des Kriminalromans aufgeführt, die in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden Tabelle 2: Zeitlicher Ablauf der Publikation; Quelle: Gauthier, Nicolas: La ville criminelle, 5 Tabelle 3: Zum dichotomischen Erleben Duresnels; Quelle: Eigene Zusammenstellung Tabelle 4: Einige Funktionen und Darstellungen des Wetters in Simenons Maigret-Romanen; Quelle: Eigene Erhebung Tabelle 5: Identitäten und Jahreszeiten Kubielas; Quelle: Eigene Erhebung Tabelle 6: Saisonale Zuordnung der Mordserie in Le passager; Quelle: Eigene Erhebung Tabelle 7: Exemplarische Darstellungen und Funktionen

1.4 Tabellen im Anhang Tabelle 8: Übersicht der Maigret-Fälle; Quelle: Henry, Gilles: Commissaire Maigret, qui êtes-vous?, 86–89 Tabelle 9: Liste der Nestor Burma Fälle mit Arrondissements und Entstehungsjahr; Quelle: Die Tabelle basiert auf Emanuel, Michelle: From surrealism to less-exquisite cadavers, 179

Anhang

Tabelle 8: Übersicht der Maigret-Fälle

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Tabelle 8: – Fortsetzung: Übersicht der Maigret-Fälle

Anhang Nr.

Arrondissement

Fall

Entstehung

1

1

Le soleil naît derrière le Louvre

Juli 1954

2

2

Des kilomètres des linceuls

Januar 1955

3

3

Fièvre au Marais

Februar 1955

4

6

La nuit de Saint-Germain-des-Prés

Mai 1955

5

14

Les Rats de Montsouris

August 1955

6

10

M’as-tu vu en Cadavre ?

Januar 1956

7

8

Corrida aux Champs-Élysées

Februar 1956

8

16

Pas de bavards à la Muette

Juni 1956

9

13

Brouillard au pont de Tolbiac

Oktober 1956

10

15

Les Eaux troubles de Javel

Februar 1957

11

9

Boulevard... ossements

Mai 1957

12

12

Casse-pipe à la Nation

September 1957

13

5

Micmac moche au Boul’ Mich’

Dezember 1957

14

4

Du rébecca rue des Rosiers

April 1958

15

17

L’Envahissant Cadavre de la plaine Monceau

Februar 1959

Geplant oder unvollständig 7

Trois cent mètre d’agonie

11

La méprise de la Bastille

18

Les neiges de Monmartre

19

La rousse fait ses dents

20

Haine … comme nocturne

Tabelle 9: Liste der Nestor Burma Fälle mit Arrondissements und Entstehungsjahr

385

Anmerkungen

Im Krimi regnet es immer!? 1 2 3 4

5

6

7 8

Cadet, Christiane (1992): »L’écriture de fiction dans les différents parcours de formation, 139. Vgl. hierzu auch Rosemberg, Muriel (2007): »Introduction: Les espaces du roman policier«, 3. Blanc, Jean-Noël (1991): Polarville. Images de la ville dans le roman policier, 73. Beobachtung während der interdisziplinären Tagung »Dialogische Krimianalysen« zwischen Fachdidaktik und Literaturwissenschaft am 15. und 16. Oktober 2015 durch die Verf. Hierbei »greift der Erzähler auf die herrschende Wetterbewertung zurück […] ›schönes‹ Wetter – die Lage ist ausgezeichnet bis hoffnungsvoll, ›schlechtes Wetter‹ – die Lage ist bedenklich bis aussichtslos.« (Delius, Friedrich Christian [2011]: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus. Mit einem Vorwort von Wolf Haas, 72). Gerade im Kriminalroman ist die Lage meist eher desolat und so scheint es, dass »schlechtes Wetter« am geeignetsten dafür ist, keine positive Grundstimmung aufkommen zu lassen. Close room meint eine Beschränkung auf einen mehr oder weniger abgeschlossenen Schauplatz; exemplarisch ein abgelegenes Landhaus, eine Insel, ein Flugzeug oder etwa ein Zug. Hierdurch sind der Figurenkreis und damit die Verdächtigen begrenzt, ferner ist der Täter oder die Täterin Teil dieser Gruppe. Vgl. zum etablierten Terminus des close rooms exemplarisch Egloff, Gerd (1974): Detektivroman und englisches Bürgertum. Konstruktionsschema und Gesellschaftsbild bei Agatha Christie, bes. 37. Vgl. exemplarisch 2.3.6 zu Jacques Ferrand – Tod durch Wind. Exemplarisch seien zum Bereich des Kriminalromans erwähnt: Messac, Régis (1929): Le »detective novel« et l’influence de la pensée scientifique; Lacassin, Francis: Mythologie du roman policier; Reuter, Yves (Hg.) (1989): Le Roman policier et ses personnages; Deleuse, Robert: Les maîtres du roman policier; Dubois, Jacques: Le roman policier ou la modernité; Bremer, Alida: Kriminalistische Dekonstruktion;

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9

10 11 12

13

14 15

Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen; Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman; Krieg, Alexandra: Auf Spurensuche; Spehner, Norbert: Scènes de crimes (berücksichtigt auch Kanada bzw. Québec); Rosemberg, Muriel (2007): »Introduction: Les espaces du roman policier«; Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive; Amougou, Louis Bertin: La mort dans les littératures africaines contemporaines; Menegaldo, Gilles/Petit, Maryse: Manières de noir; Vogt, Jochen: »Modern? Vormodern? Oder Postmodern? Zur Poetik des Kriminalromans und zu seinem Ort im literarischen Feld«; Gradinari, Irina: Genre, Gender und Lustmord; Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln; Perrin, Raymond: Histoire du polar jeunesse; Boltanski, Luc: Rätsel und Komplotte; Peck, Clemens/Sedlmeier, Florian: Kriminalliteratur und Wissensgeschichte; Leyens, Jacques-Philippe: Psycho Polar; Goulet, Andrea: Legacies of the Rue Morgue; Koch, Corinna/Schmitz, Sabine/Lang, Sandra: Dialogische Krimianalysen; Kalt, Daniel: Unheimliche Schönheiten. Exemplarisch für den Bereich des Wetters: die kompendiöse Zusammenstellung von Wetterstellen in der französischen Literatur des Meteorologen Louis Dufour in der Reihe Les écrivains français et la météorologie. Darin wird Le brouillard dans la littérature française (1978) genannt; die Dissertation des Pioniers der literarischen Wetterforschung Friedrich Christian Delius (1971): Der Held und sein Wetter sowie Pérez, Janet/Aycock, Wendell M.: Climate and Literature; Soudière, Martin de la: Au bonheur des saisons; Kutzer, Horst: Wildes Wetter!; Vignes, Carine: Du brouillage à la crise de la représentation; Vasak, Anouchka: Météorologies; Frost, Sabine: Whiteout; Becker, Karin: La pluie et le beau temps dans la littérature française; Weber, André: Wolkenkodierungen bei Hugo, Baudelaire und Maupassant; Mayer, Sylvia/ Mossner, Alexa Weik von: The anticipation of catastrophe; Becker, Karin/Leplatre Olivier: La brume et le brouillard dans la science, la littérature et les arts; Gamper, Michael (2014): »Rätsel der Atmosphäre«; Walter, François: Neiges et glaces; Büttner, Urs/Theilen, Ines: Phänomene der Atmosphäre; Braungart, Georg/Büttner, Urs: Wind und Wetter; Ungelenk, Johannes: Literature and weather. Flückiger, Alex (2005): Lexikon der internationalen Krimiautoren, 8. Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 97. Bspw. Dunker, Michael: Beeinflussung und Steuerung des Lesers in der englischsprachigen Detektiv- und Kriminalliteratur, der im Unterkapitel »Illusionserzeugung durch emotionale Beeinflussung« u.a. auf die Wettergestaltung in Agatha Christies Curtain eingeht; Engel, Patrick (2008): Spannung in verschiedenen Grundtypen der Detektivliteratur, der als Spannungselement kurz den Nebel in Ignatius Arthur Conan Doyles The Hound of the Baskervilles behandelt, sowie Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, die im Unterkapitel zur Kreation von Atmosphäre durch Simenon neben der Topografie, der Seine, der Provinz oder dem Meer in einem Absatz auf das Wetter, bes. den Regen, eingeht (ibid., 97). Brecht, Bertolt (1971): »Über die Popularität des Kriminalromans«, 315f. Der Einsatz von Natur als Untermalung im Hintergrund deutet sich auch bei Wystan Hugh Auden an: »Die Natur sollte bloß der Widerschein ihrer menschlichen Bewohner sein […]« (Auden, Wystan Hugh: »Das verbrecherische Pfarrhaus«, 138). Brecht, Bertolt: »Über die Popularität des Kriminalromans«, 316. Ibid.

Anmerkungen

16 17 18 19

Ibid. Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter, 86. Ibid., 123. Als weitere Einflüsse werden u.a. auch die von François Gayot de Pitaval zusammengestellten Causes célèbres et intéressantes, eine in 20 Bänden 1734–1743 erschienene Sammlung zeitgenössischer Kriminalfälle, betrachtet (vgl. dazu auch: KLL: Pitaval, François Gayot de: Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont décidées) sowie die Entwicklung des Rechtssystems, die Entstehung der Sûreté (1810) und später Scotland Yard (1829), die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der wachsenden Metropolen und einer sich hier entwickelnden neuen Verbrechensstruktur und Methodik einhergehen. Entsprechend wird vielfach die Entwicklung des Kriminalromans auch mit der Entwicklung der Urbanität verknüpft. Zur Relation Kriminalroman und Stadt vgl. etwa Colombi, Matteo: »Der ost- und mitteleuropäische Krimi zwischen Gattung und Region«, 12; Pfeiffer, K. Ludwig: »Mentalität und Medium«; Wachinger, Tobias: »Stadträume/Stadttexte unter der Oberfläche«; Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 66ff.; Reuter, Yves (Hg.) (1997): Le roman policier, 66; Osterwalder, Sonja: Düstere Aufklärung, 18f. 20 Frenzel, Elisabeth: Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, 51. 21 Schärf, Christian: Spannend schreiben, 22. 22 Poe, Edgar Allen (2017): The Mystery of Marie Rogêt (1842). Da dieser Fall sich auf einen extratextuellen Fall bezieht, der nicht gelöst wird, gibt es auch keine gelungene Aufklärung innerhalb der Erzählung. 23 Giudice, Renate: Darstellung und Funktion des Raumes im Romanwerk von Raymond Chandler, 237. 24 Vgl. ibid. 25 Chasles, Clémentine (2014): »Les fonctions du brouillard dans la littérature anglaise au XIXe siècle«. Im gleichen Band erscheint zudem von Charlotte Thimmonnier: »Neiges, buées, et brouillard: l’intériorité révélée«, 313–327. 26 Ibid., 219–221. 27 Vgl. Ravenel, Loïc (2007): Sherlock Holmes au fil du temps, 39. Ein kurzer Verweis auf Holmes findet sich auch in Arnodin, Lionette: »Imaginaires du brouillard«. 28 Kilian, Sven Thorsten: »Rhetorik der Wolken in Niccolò Ammanitis Come Dio comanda«, 455–473. 29 Schönhoff, Judith: »La diabólica invención de la nivola«, 75–85; zu Les Gommes 83f. 30 Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. 31 Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive, 27. Schmidt führt verschiedenste Definitionen von Alewyn über Bloch und Heißenbüttel bis Nusser an, hält diese allerdings für unzureichend. 32 Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordes, 83. 33 Vgl. zur Problematik der Definition des Kriminalroman-Genres exemplarisch: Bremer, Alida: Kriminalistische Dekonstruktion, bes. 54–72; Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 27–36; Kniesche, Thomas W.: Einführung in den Kriminalroman, 7–19; Wörtche, Thomas: Penser Polar, bes. 17–25, 60f. Zu bemerken ist, dass zwischen Kriminalroman und Detektivroman nur im Deutschen unterschieden wird, was großes Diskussionspotenzial birgt. Im

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40 41

Französischen werden beide, sowohl Kriminal- als auch Detektivroman, als roman policier bezeichnet. Einen Definitionsvorschlag, der diese Aspekte nicht berührt, unterbreitet 1947 Narcejac: »Je proposerai […] la définition suivante du roman policier: un roman policier est un récit où le raisonnement crée l’effroi qu’il est chargé d’apaiser.« (Narcejac, Thomas [1947]: Esthétique du roman policier, 77, hier zitiert nach Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 125. Kursivierung im Original). Eingebettet ist diese Diskussion freilich in eine grundlegende Skepsis gegenüber einer definitorischen Arretierung von Genres. Vgl. auch ibid. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 1. Ibid. Damit zeigt sich, dass der Kriminalroman sich durch das Grundmotiv der Jagd in seiner jeweiligen Variation auszeichnet. »[A]ls Grundmerkmale der Kriminalliteratur [dürfen] gelten [.]:[.] [das] Motiv logisch-deduktive Enträtselung und [.] [das] Motiv der Jagd.« (Klein, Alfons: »Motive und Themen in Oscar Wildes Lord Arthur Savile’s Crime«, 79) Der Vollständigkeit halber sind auch einige Formen des Kriminalromans aufgeführt, die in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden. Meteorologische Elemente sind etwa Temperatur, Wind, Luftfeuchtigkeit. Siehe einführend zum Wetter: Häckel, Hans: Meteorologie; Klose, Brigitte/Klose Heinz: Meteorologie; Malberg, Horst: Meteorologie und Klimatologie; Roth, Günther D.: Die BLV Wetterkunde. Obzwar die Nacht nicht zum Wetter gehört, so wird diese – quasi als Gegenpart zum Sonnenschein am Tage – in einigen Fällen der Vollständigkeit halber mit in die Textanalysen eingebunden. Zur Nacht liegen zahlreiche Untersuchungen vor, exemplarisch sei daher nur verwiesen auf: Bronfen, Elisabeth: Tiefer als der Tag gedacht; Nassenstein, Nico/Storch, Anne: Nachtlinguistik. Haas, Wolf: »Die wohltemperierte Literatur«, 6. Einigkeit bezüglich einer Definition des Motivs besteht trotz der langen Tradition nicht. Erstmalig findet sich der Begriff 1765 in der Encyclopédie zur Bezeichnung einer charakteristischen, melodischen Einheit einer musikalischen Komposition. Er erwies sich gleichsam als universell einsetzbar. Allerdings vollzog sich nicht nur eine Übertragung auf andere Disziplinen, sondern auch eine hiermit einhergehende Wandlung der Definitionen. Vgl. Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur, XIV. Einen Überblick bieten zudem Frenzel, Elisabeth: »Rückblick auf zweihundert Jahre literaturwissenschaftliche Motivforschung« und Mölk, Ulrich (1991): »Das Dilemma der literarischen Motivforschung und die europäische Bedeutungsgeschichte von ›Motive‹«. Verwiesen sei ferner auf Souiller, Didier/Troubetzkoy, Vladimir (1997): Littérature comparée, bes. 15f. Den gleichen Ausgangspunkt nehmen etwa Brunel, Pierre/Pichois, Claude/Rousseau, André-Michel: Qu’est-ce que la littérature comparée?, bes. 128, wenn sie sich auf die Arbeiten des russischen Strukturalisten Boris Tomaševskij beziehen. Einige der bekanntesten Definitionen stammen von Frenzel. Nach ihr ist das »Motiv eine kleinere stoffliche Einheit, die zwar noch nicht einen ganzen Plot, eine Fabel, umfaßt, aber doch bereits ein inhaltliches, situationsgemäßes Element und damit einen Handlungsansatz darstellt« (Frenzel, Elisabeth: Stoff-, Motiv- und

Anmerkungen

Symbolforschung, 29). Viele Einzelanalysen gehen von Frenzels Definition aus, was durch notwendige Anpassungen, wie Andermatt ausführt, jeweils zu einer »undurchschaubare[n] Privatterminologie« führt (Andermatt, Michael: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, 20f.). Rickes bietet eine intensive Auseinandersetzung mit Frenzels Motivtheorie und stellt terminologische Problemfälle heraus (Rickes, Joachim: Führerin und Geführter). Verwiesen sei in diesem Kontext auf die Diskussion zum Gewitter in Goethes Werther (Rickes, Joachim: »Das ›Gewittermotiv‹ in Goethes Werther – motivtheoretisch betrachtet«). Frenzel antwortet hierzu in: »Rückblick auf zweihundert Jahre literaturwissenschaftliche Motivforschung«, 38f. In ihrer Publikation Themen und Motive in der Literatur skizzieren Daemmrich und Daemmrich die Begrifflichkeit des Motivs in einem kurzen historischen Abriss und erschließen acht Grundbedingungen für die Herausbildung und Funktion von Motiven: Schein, Stellenwert, Polarstruktur, Spannung, Schematisierung, Themenverflechtung, Gliederung des Textes, Deutungsmuster (ibid. XVIII–XIX). Bereits 1978 stellen sie heraus: »Motive können schematisch-typische oder mythische Züge einer wiederkehrenden menschlichen Situation umfangen, wie etwa der Drachentöter auf den menschlichen Versuch der Bändigung des Chaos deutet.« (Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Wiederholte Spiegelungen, 15) Eine Adaptation oder Umformung – durch den thematisierten kulturellen Wandel – in ein rationales respektive moralisches Geflecht wäre die Figur des great detective. Die in ihrer Gesamtkonzeption mit Zeichen des Übermenschlichen zum modernen »Drachentöter des 19. Jahrhunderts« (Singer, H. zitiert nach Buchloh, Paul G./Becker, Jens P.: Der Detektivroman, 19) wird. Herausgestellt sei der Beitrag Wolpers’ als Mitglied und Herausgeber der Studien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung der Wissenschaftlichen Akademie in Göttingen. Diese wurde 1976 mit dem Ansatz gegründet, die in einigen Bereichen vernachlässigte Motiv- und Themenforschung aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Es erschienen zwischen 1982 und 2002 acht Bände, ferner entstand die Datenbank für literarische Motive, Stoffe und Themen (LiMoST). Die individuelle Ausprägung eines Motivs zeige sich Wolpers zufolge daran, dass Motive erst als bezogene oder aktualisierte Motive literarische Qualität gewännen und etwa in Abhängigkeit ihrer Darbietung verändert erscheinen könnten. Diesbezüglich führt Wolpers wesentliche Aspekte zu Länge, Modi und primären wie sekundären Motiven aus. Der Roman des 19. Jahrhunderts weist aufgrund seiner stark deskriptiven Tendenz eine durchschnittlich längere Erstreckung und stärkere Detaillierung von Motiven auf, während beispielsweise bei Hamsun verstärkt eine signalhafte, gegebenenfalls symbolische Evokation von Motiven vorherrsche (vgl. Wolpers, Theodor: »Zum Verhältnis von Gattungs- und Motivinnovation«, Teil II, 224). Dies hänge nicht nur von Aspekten wie der Erzählperspektive oder dem Sprachstil ab, sondern auch von den Modi, die die innere Wirkungsqualität und Zusammensetzung der Motive und ihrer Kontexte bestimmten (ibid., 205). Der Modus bezeichne die jeweils intendierte Aussage- oder Wirkungsqualität eines Motivs, es subsumiere aber auch »Stimmungswerte und den geistigen Habitus und den Verhaltensstil von Figuren« (Wolpers, Theodor: »Wege der Göttinger Motivund Themenforschung«, 93). Exemplifizierend führt Wolpers das Motiv »Tod« an:

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»selbst der Tod kann gänzlich untragisch dargestellt werden, beispielsweise mit schwarzem Humor, ironisch und ästhetisierend […] satirisch, vulgär oder unter burlesken Begleitumständen wie Erbschleicherei, komischer Testamentseröffnung oder possenhafter Totstellung« (ibid., 92). Ein Punkt, der zu einer Mehrdimensionalität führt, ist die von Wolpers eingebrachte Unterscheidung des Bedeutungsgehalts in primäre sowie sekundäre Motive und die kulturhistorische Perspektive. Primäre Motive seien menschheitstypisch. Sie treten als anthropologische Konstanten immer wieder auf und seien universell verständlich. Wolpers nennt exemplarisch »Reise«, »Haus«, »Gewissensqual« (ibid., 88). Mit der jeweiligen Kulturphase zusammenhängend, kämen in verschiedenen Epochen bestimmte Motive verstärkt vor, andere treten entsprechend zurück, doch kehrten die primären Motive immer wieder (vgl. Wolpers, Theodor: »Zum Verhältnis von Gattungs- und Motivinnovation«, 209). Sekundäre Motive seien zeit- und kulturtypisch, orientierten sich an historischen Erfahrungsund Vorstellungswelten und unterlägen einem schnellen geschichtlichen Wandel (Wolpers, Theodor: »Wege der Göttinger Motiv- und Themenforschung«, 88). Für ihr volles Verständnis setzten sie historisches Wissen voraus oder suchten dieses zu vermitteln (vgl. Wolpers, Theodor: »Zum Verhältnis von Gattungs- und Motivinnovation«, 210). Gerade für die Rezipienten setzen sie so unter Umständen ein hohes Maß an Wissen voraus, das vielfach nicht zu erfüllen ist. Das ist eine Schwierigkeit, auf die auch Daemmrich und Daemmrich in Anlehnung an Curtius in Wiederholte Spiegelungen (1978, 6) hinweisen. Primäre und sekundäre Motive bildeten keine in sich abgeschlossenen Gruppen, sondern seien permeabel. Ferner sei in beiden eine Motivinnovation möglich. Wolpers scheint es angesichts der unterschiedlichen Epochen und der Vielfalt der Motive prinzipiell sinnvoll, von zwei Arten von Motiven zu sprechen. Diese könnten getrennt auftreten, würden aber meist verbunden, sodass sich zeittypische und archetypische Bedeutung durchdringen. Die Verbindung der beiden Motive, gleichsam als zweidimensionale Motiveinheit, führt Wolpers zu der poetologischen Frage nach einer eventuell vertieften Bedeutung und Wirkung (vgl. Wolpers, Theodor: »Wege der Göttinger Motiv- und Themenforschung«, 89). In der Verbindung vermittelt das »Primärmotiv die allgemeine Vorstellung, während die kulturspezifische Konkretisierung, die in differenzierter Literatur ebenso notwendige Variation und Aktualisierung einbringt« (ibid., 106). Wolpers ergänzt, dass nur einfache, stark typisierte Gattungen wie Märchen sich ausschließlich im archetypischen Bereich bewegen könnten, ohne dass es eines Sekundärmotivs bedürfe (ibid.). Abschließend sei noch auf den Aufsatz »Das Dilemma der literarischen Motivforschung« von Mölk hingewiesen. Mölk strebt keine Definition des Motivs an, es geht ihm vielmehr darum, darzulegen, was eigentlich gedacht werde, wenn von literarischen Motiven die Rede sei (ibid., 91). Besonders herausgestellt sei die Feststellung: »Was ein literarisches Motiv ist, entscheidet der Interpret; seine Entscheidung muss plausibel sein […]. Hinsichtlich der Freiheit, die er bei der Bemessung des Bedeutungsvolumens des Begriffs ›Motiv‹ beansprucht (Motiv als semantisches Grundschema des Werkganzen – Motiv als semantisches Schema zum Beispiel einer Szene – Motiv als besondere Darbietung zum Beispiel einer einzelnen Figur), darf er sich auf Goethe berufen.« (Ibid., 101)

Anmerkungen

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Was bei Ansätzen von Elisabeth Frenzel oder Boris Tomaševskij bspw. nicht der Fall ist: So klassifiziert Tomaševskij pointiert Wetter nur als ornamentales Beiwerk, das irrelevant für die Handlung ist. Und bei Frenzel ist Wetter per se kein Motiv, sondern ein kleineres Element mit ornamentalem oder schmückendem Charakter – der sog. Zug. Ein Beispiel für die Kopplung von Wetterelementen an die Handlung und die Steigerung der Spannung ist die plötzliche signifikante Zunahme des Schnees und die Frequenz seiner Erwähnung bei der Verfolgungsjagd in Claude Ragons Du bois pour les cercueils (2010); die Handlung erfährt eine Spannungssteigerung mittels des Schnees und der hierdurch ausgelösten Effekte auf die physische Anspannung und das Bedrohungspotenzial für die Figur. Vgl. exemplarisch Eco, Umberto: »Die Erzählstruktur bei Ian Fleming«. Ursprünglich aus dem anglistischen Kontext und dort etabliert (vgl. einführend zum close reading Hallet, Wolfgang: »Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und Wide Reading«, 293–315), findet der Ansatz sukzessive auch in der romanistischen Forschung seinen Platz. Für den Kriminalroman hat sich dies etwa bereits in der Studie von Bremer als fruchtbar erwiesen (vgl. Bremer, Alida: Kriminalistische Dekonstruktion, bes. 13). Wolpers, Theodor: Motive und Themen in Erzählungen des späten 19. Jahrhunderts; id.: Gattungsinnovation und Motivstruktur; id.: »Zum Verhältnis von Gattungsund Motivinnovation«; »Wege der Göttinger Motiv- und Themenforschung«. Greimas, Algirdas Julien: Strukturale Semantik, 157–175. Greimas selbst ersetzte 1977 das Aktantenmodell (schéma actanciel) durch das schéma narratif canonique (siehe vergleichend zwischen Aktantenmodell und dem CNS exemplarisch: Hébert, Louis: Dispositifs pour l’analyse des textes et des images, Limoges). Dies ist hier jedoch nicht zielführend, weil gerade die für das Wetter interessanten Zuordnungen als Adjuvant oder Opponent nicht mehr verwendet werden. Greimas’ Aktantenmodell unterscheidet Figuren aber auch Abstrakta nach ihrer Funktion für die Handlung. Das Subjekt (Sujet/héros) begehrt ein Objekt (Objet) oder soll dieses erlangen. Die Helfer (Adjuvant) unterstützen den Protagonisten oder die Protagonistin; der Gegner (Opponent) arbeitet gegen diesen/diese. Der Sender ist der Initiator (Emetteur) der Handlung, der Empfänger (Récepteur) kann gleich dem Sender sein und profitiert von der Handlung des Subjektes. Zuweilen wird auch die Quest (Quête) ins Modell einbezogen, abhängig von der individuellen Bestimmung als Aktant.

Eugène Sue – Vom Schauerroman zum Kriminalroman 1 2

Brief Sues, zitiert nach Bozzetto, Roger (1982): »Eugène Sue et le fantastique«, 106. Eugène Sue (1804–1857) wird in eine Chirurgenfamilie geboren, entschließt sich aber nach kurzer Zeit dagegen, ebenfalls diesen Beruf zu ergreifen und wird u.a. Seemann. Er reist, hat einige Liebschaften, verzeichnet Erfolge mit abenteuerlichen Seeromanen und zwischen 1837 und 1840 mit Schauerromanen. Seine politische Haltung verändert sich im Verlauf der Arbeit an den Mystères de Paris und als ›roter‹ Abgeordneter« befasst er sich 1848 mit den Mystères de peuple. Vgl. Ricken,

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Achim: Panorama und Panoramaroman, 93. Bory geht in seiner Biografie zu Sue so weit, die Mystères de Paris mit ihren sozial- und gesellschaftskritischen Ansätzen als (Mit-)Auslöser für die Revolution 1848 zu sehen. Jedenfalls wirft man Sue diesbezüglich »persönlich begangenes Unrecht« (ibid., 93) vor und zwingt ihn 1851 ins Exil. 1857 stirbt er in Annecy, das zu diesem Zeitpunkt zu Savoyen gehört, ohne nochmals in Frankreich gewesen zu sein (vgl. ibid.). Eine ausführliche Biografie findet sich bei Bory, Jean-Louis: Eugène Sue. Die Mystères de Paris (im Folgenden MdP) erscheinen vom 19. Juni 1842 bis zum 15. Oktober 1843 im Journal des Débats und sind eine Sensation: Sie lösen einen »Hype« (Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«) aus und begeistern in Paris sowie in weiten Teilen Europas und den USA. Einen wesentlichen Anteil an ihrem Erfolg hat der starke Nimbus aus Anekdoten- und Mythenbildung, etwa von vermeintlich Tausenden von Leserbriefen oder von Schlägereien in Buchläden beim Erscheinen der Gesamtausgabe, allerdings trägt auch die Herausbildung eines der ersten Fanfictionkulte hierzu bei. Die MdP lösen bereits während der Publikationszeit als Feuilleton in ganz Europa eine neue Welle ähnlicher Romane aus und regen similäre Erzählungen wie The Mysteries of London von George W. M. Reynolds an. Vgl. u.a. Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten, 22ff. sowie Bachleitner, Norbert: Der englische und französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland, 89ff.; Türschmann, Jörg: »Spannung in Zeitungsliteratur«, 230f.; Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 45f.; Weber, Tanja: Kultivierung in Serie, 210f.; vgl. ferner Alewyn, Richard: »Ursprung des Detektivromans«, 356; Kalifa, Dominique: Crime et culture au XIXe siècle, 40f. Hingewiesen sei auf Guise, der sich ausführlich mit den Legenden um Sue und dessen Werk auseinandersetzt: Guise, René: »Les Mystères de Paris, histoire d’un texte: légendes et vérité« sowie Gauthier, Nicolas: La ville criminelle dans les grands cycles romanesques de 1840 à 1860: stratégies narratives et clichés, 59ff. Der Nachhall der MdP ist bis dato ungebrochen: Léo Malet wurde etwa geraten, seine Serie Les Nouveaux Mystères de Paris zu nennen, und vor einigen Jahren (2007) entschied sich der Bastei Lübbe Verlag für die Übersetzung eines Liebesromans Die Geheimnisse von Paris als Titel zu wählen. (Fouchet, Lorraine: Die Geheimnisse von Paris). Im Original trägt der 2005 erschienene Roman den Titel: Nous n’avons pas changé. Eine konkrete Adaption bildet die App Paris Mystère. Ferner finden sich intertextuelle Verweise etwa in Umberto Ecos Il cimitero di Praga. Vgl. Schmitz-Emans, Monika: »Die Abgründe und Monster von Paris in Umberto Ecos Roman ›Il cimitero di Praga‹«, 238. Angemerkt sei, dass je nach Werkausgabe die Aufteilung des Romans variiert: Mahrenholtz und Parisi zählen bspw. 90 Folgen (vgl. Mahrenholtz, Katharina/Parisi, Dawn: Krimi!, 21) Weber wiederum 159 Folgen sowie einen Epilog mit zehn Kapiteln (Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 51). Zu verschiedenen Ausgaben und zur Vollständigkeit derselben siehe Türschmann, Jörg: »Spannung in Zeitungsliteratur«, 230. Jacques Laurent zitiert nach Bourdier, Jean: Histoire du roman policier, 29. Mahrenholtz, Katharina/Parisi, Dawn: Krimi!, 21. Neuschäfer, Hans-Jörg: »Eugène Sue«, 182f. Vgl. Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 66. Olivier-Martin, Yves: »Structures de la fiction policière«, 47.

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Beim Temple handelt es sich um eine Markthalle, in der zu jener Zeit Kleider aber auch Möbel erworben werden konnten. 10 James, Sara: »Detecting Paris«, 309. 11 Weber, Tanja: Kultivierung in Serie, 213. Vgl. zur Orts- bzw. Raumgestaltung auch Klotz, Volker: Die erzählte Stadt, 124. 12 Vgl. Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris in der Tradition von Kriminal- und Parisroman, 186. 13 Kalifa, Dominique: Crime et culture au XIXe siècle, 145. Kalifa verweist ergänzend auf: Kalifa, Dominique: »Crime« sowie Denning, Michael: Mechanic Accents. Kalifas Untersuchungsfokus liegt auf den faits divers und romans criminels des 19. Jahrhunderts. 14 Kalifa, Dominique: Crime et culture au XIXe siècle, 40. 15 Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 107. Die MdP haben vielfach Elemente, die Nusser (48–65) als idealtypisch für den Thriller ausweist. 16 Neuschäfer, Hans-Jörg: »Eugène Sue«, 182f. 17 Als erster früher Thriller gilt Joseph Conrads Heart of Darkness von 1899; der erste Spionagethriller mit James Bond, Casino Royale von Ian Fleming, erscheint 1953. 18 James, Sara: »Detecting Paris«, 308. 19 Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 101ff. 20 Heidenreich, Peter: Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert, 141f. Angemerkt sei, dass in der verwendeten Ausgabe der MdP in der Szene kein Mondlicht vorkommt. 21 Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 202. 22 Binswanger nennt einen Raum gestimmt, insofern er der Raum unserer jeweiligen Stimmung oder Gestimmtheit sei. »Die objektiven Gegebenheiten eines Raumes werden durch die Wirkung des Raumes auf das Subjekt, wie auch durch die vom Subjekt auf den Raum projizierten Erwartungen, Stimmungen und Antizipationen beschränkt oder ergänzt.« Bronfen, Elisabeth: Der literarische Raum, 55f. 23 Böhme, Gernot: »Das Wetter und die Gefühle«, 166. Textstelle im Original kursiv. 24 Mahrenholtz, Katharina/Parisi, Dawn: Krimi!, 21. 25 Neuschäfer schlägt als formale Klassifikation des Feuilletonromans die Mindestzahl von 20 Folgen als Abgrenzung zur Erzählung vor, zumal die Texte ab diesem Umfang dann meist selbstständig im Buchhandel erschienen. Vgl. Neuschäfer, HansJörg/Fritz-El Ahmad, Dorothee/Walter, Klaus-Peter: Der französische Feuilletonroman (hier nach Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten, 10). Eine Geschichte des Feuilletonromans in Frankreich liefert Queffélec, Lise: Le roman-feuilleton français au XIXe siècle. Eine Übersicht sowie eine Betrachtung im europäischen Vergleich bietet Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten. Eine konzise Darstellung findet sich bei Weber, Tanja: Kultivierung in Serie, bes. 189–201. 26 Der Rez-de-chaussée ist der Trennstrich, der Nachrichtenteil und Feuilletonteil voneinander trennt. 27 Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten, 10. Der erste Feuilletonroman stammt von Honoré de Balzac, La vieille fille, und wird ab Oktober 1836 in La Presse publiziert (vgl. Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 48). Sues MdP werden vielfach als »Archetyp« des Feuilletonromans beschrieben. Ferner erfreuten sie sich einer

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größeren Beliebtheit als Texte des heute eher bekannten Schriftstellers Alexandre Dumas (vgl. Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten, 9). Romane, in denen soziale Thesen einen immer breiteren Raum einnahmen, folgten allerdings, und Balzac, Sand und Dumas verdrängten damit Sue sukzessive (vgl. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 93). Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten, 13. Zur Effektivität der Verwischung von Realität und Fiktion sei ergänzend und veranschaulichend angemerkt, dass die Leserschaft mitunter die Orte in Paris aufsuchte, die im Roman erwähnt werden. Wie später Sherlock Holmes oder Maigret werden auch Sues Figuren für real gehalten; es treffen Bittstellungen und Briefe für Gerolstein ein, über Notar Ferrand herrscht in der Notarkammer Entsetzen. Es wird sogar dessen Ausschluss aus selbiger gefordert (vgl. Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten, 89). Bachleitner, Norbert: Fiktive Nachrichten, 13. Bachleitner bezieht sich im ersten Satz auf Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, 99 und auf Gumbrecht, Hans Ulrich: »Fiktion und Nichtfiktion«, 202. Lotman, Juri: Die Struktur literarischer Texte, 305. Zur Relevanz des Anfangs als Spannungstrigger vgl. Fill, Alwin: Das Prinzip Spannung, 9ff. Torgovnik, Marianna): Closure in the Novel, 3f. Siehe einführend zur Bedeutung des Erzählanfang Krings, Constanze: »Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses«, 163–179. Das Lektüreprotokoll eines »inferentiellen Spaziergangs« (Eco) dieser Szene findet sich bei Türschmann, Jörg: »Spannung in Zeitungsliteratur«, 240ff. Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 52. Durch den establishing shot wird eine Übersichtseinstellung gegeben, die etwa den Handlungsort zeigt, ausführlich die Situation etabliert sowie hiernach an die Figuren und ihre Handlungen heranführt (vgl. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, 143, 152). Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37f. James, Sara: »Detecting Paris«, 307. Vgl. zur Stadt bei Sue auch Fornasiero, Jean/ West-Sooby, John: »Aux origines du roman criminel«; Kalifa, Dominique (2004): »Les lieux du crime«. Angemerkt sei, dass James hier nicht zuletzt auf Conrad verweist: Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Der Roman des polnisch-britischen Schriftstellers Conrad von 1899 gilt als ein erster früher Thriller. Implizit lanciert sich mithin eine Verbindung des Vorläufers, der MdP, zum späteren Subgenre des Thrillers, nicht zuletzt über die Gefahr, aber auch die »Dunkelheit«. Kalifa, Dominique: Crime et culture au XIXe siècle, 22. Ibid. Die Bedeutung und Wirkung wird anschaulich, wenn man die kriminelle Konnotation des Ortes weit über Frankreich hinaus bedenkt; so agiert bspw. E. A. Poes Dupin in Paris – und nicht in einer anderen europäischen Metropole. Ein Faktor der kriminellen Bedeutungszuschreibung sind die attaques nocturnes: Sie bilden ein zeitgenössisches literarisches Motiv, das auf einem (wie es scheint) realen Phänomen der Zeit fußt: »La peur des attaques nocturnes témoigné […] ce sentiment d’insécurité après coup.« (Lavergne, Elsa de: La naissance du roman policier français, 174–177). Gerade die Publikationsform der MdP ist diesbezüglich interessant, denn die »journaux n’en entretinrent pas moins le souvenir en multipliant les relations alarmistes qui aboutissent […] à une véritable psychose très éloignée de la réalité.

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[…] Le roman, de cette façon, rejoint la réalité historique […].« (Ibid., 175ff.; De Lavergne bezieht sich hier auf: Kalifa, Dominique: »L’attaque nocturne«). Das Motiv der attaques nocturnes ist assoziativ bereits in der Eingangsszene enthalten und kann im späteren Überfall auf Sarah und Tom MacGregor gefunden werden. Interessanterweise ist eine kontinuierliche Präsenz dieser »Psychose«, nach mehrfachem Abflauen, zwischen 1842 und 1845 festzustellen. (Vgl. Lavergne, Elsa de: La naissance du roman policier français français, 176). Bezüglich des Handlungsortes sei noch angemerkt, dass Franco Moretti davon ausgeht, dass Paris in den MdP mit einer beliebigen anderen größeren Stadt ausgetauscht werden kann (vgl. Moretti, Franco: Atlas des europäischen Romans, 132). Aufgrund des Authentizitätsmerkmals für die zeitgenössische Leserschaft, als bedeutender kultureller räumlicher und konnotativer Trigger sowie als manifester Bestandteil des Settings, bes. in der Eingangsszene, scheint die Austauschbarkeit jedoch fraglich. Hinzu kommt: »[il] faut toutefois rappeler que, en France, la réunion de l’imaginaire gothique et de la cité moderne est popularisée dès 1831 par le roman de Notre-Dame de Paris« (Gauthier, Nicolas: La ville criminelle, 86). Dadurch ergibt sich ein »bestehender« Überschneidungsbereich von historischer und literarischer Perspektive, der die Cité als espace gothique markiert. Lachmann erläutert, dass die Gedächtnisimagination und die dichterische Einbildungskraft schon immer miteinander verwoben waren, weil sie auf identische Bildspender zurückgreifen: »Der Text entwirft […] die Orte, die er imaginiert, Städte oder Landschaften, Häuser, konkrete Architekturen, die die Partizipation an der mnemonischen Kunst (verbergend) suggerieren.« (Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur, 35. Hier zitiert nach Lange, Carsten [2007]: Architekturen der Psyche. Raumdarstellungen in der Literatur der Romantik, 42). Ungeachtet der räumlichen Veränderung »überleben die räumlichen Gedächtnisvorstellungen im Medium der Literatur« (ibid.). Vgl. James, Sara: »Detecting Paris«, 307. Chevalier, Louis: Classes laborieuses et classes dangereuses à Paris pendant la pre mière moitié du XIXe siècle, 27. Zitiert nach James, Sara: »Detecting Paris«, 307. Die beiden strengsten Winter sind die von 1829/30 sowie 1879/1880. Vgl. Rudloff, Hans von: Die Schwankungen und Pendelungen, 303; Viaut, André: Mémorial de la Météorologie Nationale, 131. Vgl. Viaut, A.: Mémorial de la Météorologie Nationale, 131. Rudloff, Hans von: Die Schwankungen und Pendelungen des Klimas, 303. Vgl. Viaut, A.: Mémorial de la Météorologie Nationale, 131. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37. Ganz konkret lag am 13. Dezember 1838 der nächtliche Tiefstwert bei vergleichsweise milden -1,3 °C. Vgl. Nadal, Solenn: »Météo Climat«. Desarthe, Jérémy: Le temps des saisons, 259. Rudloff, Hans von: Die Schwankungen und Pendelungen des Klimas, 139. So werden zwischen 1833 und 1840 von September bis Dezember auffallend gehäuft monatliche Niederschlagsdurchschnittsmengen von um oder über 100 l/m2 erreicht. Klingt beeindruckend viel; es sind für den Dezember 1841 74 l/m2 . Hülk analysiert die Eingangsszene mit Blick auf die Cholera und stellt hierbei die sinnlichen Anknüpfungsmomente heraus. Anzumerken ist ferner, dass die Luft in

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den MdP häufig thematisiert wird und zwar bezüglich der Stadt als negativ und bezüglich des Lands als positiv konnotiert. – Hülk kategorisiert dieses Moment unter dem visuellen Aspekt; durch die Wortwahl, die mehrere Sinne gleichzeitig anspricht (»boue«, »fangeux«, »infect« = visuell, olfaktorisch und haptisch), wird zudem eine Multisensorik erreicht. 1832, wenige Jahre vor Handlungsbeginn, erreicht die Cholera Paris, und mit ca. 19.000 Menschen sterben etwa 2 % der Einwohner. Die Urbanisierung bildet bei der Ausbreitung der Cholera einen wesentlichen Marker, konkret lässt sich innerstädtisch eine dichotomische »Topographie der Cholera« (ibid., 33) erkennen, denn 80 % der Opfer stammen aus den unteren Klassen (ibid.), die in den labyrinthartigen Gassen des bas fond leben. Die sich besonders in diesem Gebiet ausbreitende Epidemie wird als neue Pest wahrgenommen, sodass Schrecken und Angst, die sie auslöst, sich aus einem kulturell und kollektiv gespeicherten Grauen speisten, den Europa noch nicht vergessen hatte. Auch das Schreckensbild und die Auseinandersetzung mit der Cholera halten sich entsprechend lang. Die Beschreibung der Cité in der Eingangsszene der MdP, mit ihrer spezifischen Humidität und Lichtlosigkeit, lässt sich mit der Zeichnung Considérants von der Atmosphäre der Stadt Paris, in der sich die Traumata der Ansteckung verdichten, verbinden (ibid., 56): »Toutes ces fenêtres, toutes ces portes, toutes ces couvertures, sont autant de bouches qui demandent respirer: et au-dessus de tout cela vous pouvez voir, quand le vent ne joue pas, une atmosphère de plomb lourde, grise et bleuâtre, composée de toutes les exhalaisons immondes de la grande sentine. – Cette atmosphère-là, c’est la couronne que porte au front la grande capitale; c’est un immense atelier de putréfaction, où la misère, la peste et les maladies travaillent de concert, où ne pénètrent guère l’air ni le soleil. Paris est un mauvais lieu, où les plantes s’étiolent et périssent […]. Le cholera ne viendra pas à Paris, disait-on ou du moins sa présence sera à peine sensible […]. On parlait bien de la misère des pauvres, mais c’était un sujet de pitié et non de crainte pour les riches, on ne croyait pas à la solidarité du riche et du pauvre; on ne connaissait pas cette affreuse, cette contagieuse pauvreté: le cholera l’a montré dans toute sa nudité.« (Considérant, Victor: Principes du socialisme zitiert nach Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 57.) Considérant sieht die Cholera als Wendepunkt in der Phantasmagorie der »classes dangereuses« sowie als einen Schock, der den oubli zerstört, der von Verdrängung des Todes zu etwas Imaginärem, angstvoller Negation eines Verlustes, Privatisierung des Todes führt (vgl. Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 29ff.). Bezüglich der unteren Schichten ist auf die »Erfahrung des Todes und die Identitätslosigkeit, Entfremdung des Lebens, das auch in Normalzeiten […] in der Namenlosigkeit der Armen- und Krankenhäuser endet« (ibid.) zu verweisen, die zwischen ästhetischer Stilisierung resp. hypertrophem Totenkult der wohlhabenden Schichten schwanken (vgl. hierzu sowie ausführlich zu Tod und Cholera ibid., 18–47; bes. 28–32). Auch die foubourges riches sind nicht vor der Bedrohung durch die Cholera gefeit, die keine Rücksicht auf Stand oder gesellschaftliche Persönlichkeiten nimmt; »les riches sentiront la mort« (ibid., 33). Die Cholera in der Fiktion vollendet »eine Bewegung, die topographisch in die Cité, aus der Cité heraus zu den Barrieren und von den Barrieren zurück in die Cité führt, um von dort nicht gradlinig, unberechenbar auszuströmen. Mit dem Bild der Cholera sichert sie die

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Spuren einer sozialen Angst, die von der panoptischen Überwachung der ›populace‹ über deren exterritorialisierte Bestrafung zur Organisation mittels eines differenzierten, produktiven Diskurses drängt. […] Im Bild der Cholera wird die Wucherung einer ›Wildnis‹ vermittelt, und mit ihr der einstweilig gestundete Prozess ihrer Zähmung mit den Dispositiven einer ›Zivilisation‹, deren Produkt sie ist. In den Sue-Romanen wird dieser Weg nachgezeichnet.« (Ibid., 47) Zur Relevanz des Wetters bezüglich der Cholera sei angemerkt, dass die weltweite Cholera-Epidemie des 18. Jahrhunderts »nahezu zweifelsfrei« (Wood, Gillen D’Arcy: Vulkanwinter 1816, 281) auf die veränderten Wetterbedingungen 1815/1816 zurückgeht und eine längerfristige Folge des Tambora-Ausbruchs ist. Während es in weiten Teilen Europas im Sommer kalt wurde und regnete, fiel in der Folge des Vulkanausbruchs in Indien der Monsun aus. Aufgrund der veränderten klimatischen Gegebenheiten kam es 1816 zu einem Ausbruch der endemischen Seuche, die erstmals den Subkontinent verließ und sich zur Cholera-Pandemie entwickelte. Vgl. ibid.; sowie Behringer, Wolfgang: Kulturgeschichte des Klimas, 218ff. Explizit wird dies in der Charakterisierung der Straßen als »infectes«, bei der das historische Schreckensbild der Choleraepidemie in Paris (1832) und die Furcht vor einer Infektion mitschwingt, die besonders mit der Cité verbunden wurde. Die sekundärmotivische Ebene der Humiditätsereignisse wird hier durch den assoziierten Diskurs beeinflusst, in dem Cholera, Humidität und diesbezügliche Imaginationen zusammentreffen: die Miasmatheorie. Diese wird von Hippokrates im 5. Jh. v. Chr. entwickelt und hält sich bis ins 19. Jh. als eine Erklärungsgrundlage für Krankheiten. Nach diesem Ansatz wird die Übertragung und Ausbreitung von Infektionen mit der Luft sowie üblen Gerüchen und Feuchtigkeit in Relation gebracht. Das Miasma ist gleichsam eine giftige Wolke, die herabsinkt, sich ausbreitet und Menschen mit ihrem Brodem infiziert. Die Humiditätsereignisse sind diesbezüglich negativ-letal besetzt und daher verstärkt in der Lage, einen suggestiven Anklang von Furcht und Schrecken zu evozieren. Durch diese suggestive bzw. assoziative Darstellung beeinflusst das Wetter die Wahrnehmung des Ortes oder, um es mit Hülk zu formulieren: »Anthropomorphisiert, ist die Stadt selbst Schicksals(raum), anheimgefallen einer allseits feindseligen Natur.« (Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 103). Die Abkehr vom Schauerroman geht mit einem veränderten Publikumsgeschmack einher: Conrad stellt fest, dass bereits um 1820 die Gothic Novel ihren Reiz verloren hat (Conrad, Horst: Die literarische Angst, 176). Angemerkt sei, dass es, wie beim Kriminalroman, nicht den Schauerroman, sondern eine weite Fächerung gibt (vgl. Botting, Fred: The Gothic, 1). Ein Text lässt sich als Schauerroman einordnen, »wenn er einen sehr hohen Anteil schaueraffiner Bausteine […] besitzt und wenn diese Bausteine nicht nur auf der textontologischen Ebene zirkulieren […], sondern aus dem textuellen Rahmen auf den Leser überspringen und eine besonders intensive Form von Wirkungsästhetik ausbilden.« (Grizelj, Mario: »Zur Theorie der Literatur oder Der Schauer[roman] als Phantom«, 51f.). Eines dieser Bauelemente ist es, die Handlung »geographisch und/oder historisch von der Realität ihrer zeitgenössischen Leserschaft« zu distanzieren (Frank, Michael C.: »Die Verortung des Schreckens«, 118). Abgesehen von der geografischen

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Distanzierung kommt der spezifischen Kulisse des Schauerromans nach Gerhard Hoffmann eine besondere Tragweite zu, die »für die Zukunft wegweisend« wird (Hoffmann, Gerhard: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, 17). Denn es sei »gerade der Schauerroman, der dem (hermetischen) Raum von Schloß und Kloster als Erlebnisort in Schreckenssituationen und der Natur als Bereich des Sublimen […] eine wichtige Rolle zuweist und damit auch die detaillierte Beschreibung des Raums initiiert« (ibid.). Zu betonen ist allerdings der Realitätsfaktor, denn bspw. weder Radcliffe noch Walpole bemühen sich um geografische Korrektheit. Bezüglich Radcliffe bemerkt Paul van Tieghem: »Sa géografie est fantaisiste.« (Tieghem, Paul van: Le sentiment de la nature dans le préromantisme européen, 176. Zitiert in: Kullmann, Thomas: Vermenschlichte Natur, 159. Eine Verbindung zum Schauerroman findet sich bereits im Titel: Les Mystères de Paris wird vielfach als calque zu den Mysteries of Utranto gesehen. Zudem sei angemerkt, dass die MdP etwa Inventarstrukturen bzw. Figuren, die auch der Schauerroman verwendet, aufweisen. Dies gilt allerdings ebenso für Muster des Feuilletons. Auf einschlägige Werke, die Parallelen zwischen Sues MdP und dem Schauerroman resp. roman noir diskutieren, verweist bereits Heidenreich (Heidenreich, Peter: Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert, bes. 140ff.): Atkinson, Nora: Eugène Sue et le roman-feuilleton, bes. 14, 20ff., 139; Killen, Alice M.: Le roman terrifiant ou roman noir, bes. 106, 204f.; Praz, Mario: Liebe, Tod und Teufel, 92, 111, 115, 170, 175ff.; zudem sei hingewiesen auf Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 20ff.; Eco, Umberto: »Eugène Sue: Sozialismus und Vertröstung«, 66; Grève, Claude de: »Des ›Mystères de Paris‹ d’Eugène Sue aux ›Nouveaux Mystères de Paris‹ de Léo Malet«, 157. Zur kurzen Diskussion, inwiefern Sue Elemente des Schauerromans verwendet oder nicht, sei verwiesen auf Bozetto, Roger: »Eugène Sue et le fantastique«. Bozetto, Roger: »Eugène Sue et le fantastique«, 103. Ibid., 105. Vgl. exemplarisch Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. 76f.; Lavergne, Elsa de: La naissance du roman policier français, 30ff.; Nusser, Peter: Der Kriminalroman; 83; Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 30ff., 159–241. Die Gothic Novel greift mitunter eine düstere mittelalterliche Architektur auf, bevorzugt unterirdische Gänge und Verliese, erzählt von unerklärlichen Verbrechen und unheimlichen Gestalten, z.B. Gespenstern. Vgl. etwa Frenzel, Elisabeth: Vom Inhalt der Literatur, 51. Ein Schritt vom Schauerroman zum Kriminalroman wird u.a. primär im Wegfall des elementaren Bausteins der Panik gesehen, die in den MdP mit der Aufdeckung der Geheimnisse durch Gerolstein ersetzt wird. »Im echten Schauerroman ist die schaudererweckende Macht im ganzen Geschehen spürbar, die Spannung hängt von einer durchweg unerklärlichen, ereignisreichen, wundersamen Handlung ab. Die Ereignisse und Schicksale des Helden, die immer wieder zum Staunen und Furchthaben Anlaß geben, sind in ihrer Gesamtheit Kriterium des Schauerromans.« (Garte, Hansjörg: Kunstform des Schauerromans, hier zitiert nach Conrad, Horst: Die literarische Angst, 15. Kursivierung bei Conrad).

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Schärf, Christian: Spannend schreiben, 22. Schärf bezieht sich hier auf Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter, o. S. Alewyn, Richard: »Ursprung des Detektivromans«, 356. Siehe zur Verbindung von Großstadt und Kriminalroman exemplarisch: Pfeiffer, K. Ludwig: »Mentalität und Medium«; Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya; Nusser, Peter: Der Kriminalroman; Colombi, Matteo: »Der ost- und mitteleuropäische Krimi zwischen Gattung und Region«; Colombi, Matteo: Stadt – Mord – Ordnung; Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel; Blanc, Jean-Noël: Polarville; Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive. Vgl. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 116. Alewyn nennt als Modell, als erste Detektivgeschichte und als Vorläufer zu Sue Hoffmanns Fräulein von Scuderi, das sich als Kriminalnovelle klassifizieren lasse. Streng genommen wird hier jedoch dem Schema der zeitlichen und räumlichen Distanzierung gefolgt, denn der Handlungszeitpunkt fällt in die Zeit des Absolutismus und Paris stellt zur deutschsprachigen Leserschaft eine räumliche Distanzierung dar. Nicht zuletzt, weil Orte, die Schauplatz der Handlung und kriminellen Machenschaften werden, der Leserschaft potenziell zugänglich sind (vgl. Alewyn, Richard: »Ursprung des Detektivromans«, 357). Vgl. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 128. Gerolstein kommt aus dem Fürstentum Gerolstein nach Paris, wo die Haupthandlung stattfindet, und geht wieder zurück in seine Heimat; hier spielt der Epilog. Conrad, Horst: Die literarische Angst, 175. Dies stellt eine Transposition eines Charakteristikums des Schauerromans dar, dessen Eigenheit es nach Heidenreich sei, eine den Normen nicht mehr gehorchende Welt in Szene zu setzen, in der alles möglich sei und »die den Leser durch ihre Fremdartigkeit gleichzeitig fasziniert und abstößt« (Heidenreich, Peter: Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert, 66f.). Heidenreich ergänzt unter Verweis auf Punter, David: The Literature of Terror, 410, dass sich »darauf […] die außerordentliche Wirkung bei den Zeitgenossen« gründe (ibid.). Durch die Aufhebung der Distanz gerät allerdings das subjektive Normgefühl in Bedrängnis, sodass das Kriminelle nur verkraftet werden kann, wenn es als fremd begriffen und damit erneut distanziert wird. Entsprechend werden die Bewohner der Cité bei Sue eingangs auch nicht als soziale Klasse begriffen, sondern als »ethnische Gruppe« (vgl. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 113), d.h. als Fremde in der eigenen Stadt klassifiziert. In gewissem Maße konstruiert Sue damit eine Topografie des Fremden (vgl. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, 102), die durch den Prolog angelegt wird und sich über die eigentlich vertraute Stadt legt. Aus der Zuordnung zum Fremden bzw. einer Relation zum Verdrängten resultiert das potenziell Unheimliche: »So verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche, übergehen lässt. Denn dies Unheimliche ist […] etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist. Die Beziehung auf die Verdrängung erhellt uns jetzt auch die Schellingsche Definition, das Unheimliche sei etwas, das im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.« Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Band XII, 254, hier zitiert nach Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 113).

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Strieder, Cornelia: Melodramatik und Sozialkritik in Werken Eugène Sues, 62. Alewyn, Richard: »Ursprung des Detektivromans«, 356. Marsch, Edgar: Die Kriminalerzählung, 45. Im Schauerroman steht das Labyrinth vornehmlich im Zusammenhang mit dem Versuch zu entfliehen, dem Verlust des Orientierungssinnes, dem Freiheitsverlust, der Bedrohung und Verfolgung; methodisches Handeln scheint nicht möglich zu sein und Empfindungen und Vorstellungen wirken so verändert, dass es fast unmöglich erscheint, einen Ausweg zu finden. Insofern zielt das Motiv hier auf die Anbindung an Angstvorstellungen. Vgl. Klein, Jürgen: Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, 262. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37f. Ibid. Klein, Jürgen: Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, 262. Charakteristischerweise kann sich durch diesen Ort nur jemand bewegen, der hiermit vertraut ist. Der »homme d’une taille athlétique« wird entsprechend verbunden: »[I]l se sentait sur son terrain« Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37f. Die Identifikation mit der Cité als kriminellem »Hort« bleibt im Verlauf des Romans erhalten. So denunziert die Milchfrau auf dem Land Fleur-de-Marie als Kriminelle und als mit den Mördern ihres Mannes bekannt, nur weil sie weiß, dass Fleur-deMarie in der Cité wohnte. Insoweit verweist das Motiv auf eine potenzielle Irritation angesichts der kriminellen Entwicklung der Metropole, die alle gesellschaftlichen Schichten durchzieht; es demaskiert die vordergründige Kulissenhaftigkeit der Figuren (etwa Ferrand) und Orte und verweist auf die Kehrseite der Stadt. Die Konzeption des Labyrinths in der Eingangsszene bildet zunächst einen Bezug zur Unmöglichkeit des Verstehens, zur unbekannten Welt des Verbrechens und knüpft damit für die Leserschaft an die im Prolog ausgewiesene Forschungsreise an. Vgl. Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 140 sowie hier verweisend auf Dubois, Jacques: Le roman policier ou la modernité, 20. Vgl. Trautwein, Wolfgang: Erlesene Angst, 35. Die Charakterisierung des Ortes als »lugubre« kann äquivok im schauerromantischen oder kriminellen Bezugsrahmen erscheinen. Heidenreich, Peter: Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert, 142. Der Handlungsort beschränkt sich im Schauerroman bzw. der Gothic Novel nicht nur auf Schlösser und Klöster, es findet sich gleichermaßen die durch die Protagonisten als erhaben empfundene Landschaft, etwa in Radcliffes Mysteries of Udolpho, dem Modell vieler späterer Gothic Novels, oder in Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein. Zur Landschafts- und Wettergestaltung in den Mysteries of Udolpho von Ann Radcliffe siehe: Kullmann, Thomas: Vermenschlichte Natur, bes. 100–168. Einen starken Einfluss auf die Genese Frankensteins hatte bekanntermaßen die widrige Witterung während des Aufenthalts der Autorin am Genfer See 1816 während des sogenannten »Jahrs ohne Sommer« – zusammen mit Polidori, Byron (dessen Leibarzt er war) und Percy Bysshe Shelley; die Geschichten von Mary Shelley, John Polidori und Byrons Gedichten entstanden im literarischen Wettstreit,

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weil sie wegen des Dauerregens selten das gemietete Anwesen verließen. Frayling sieht in Frankenstein eine neue Blüte des Schauerromans und die »Geburtsstunde des modernen Schreckens« (Frayling, Christopher: Alpträume, 13. Kursivierung im Original). Radcliffe verwende im Roman exzessiv Beschreibungen atmosphärisch gestimmter Landschaften und etabliere damit nicht zuletzt eine enge Verbindung von Landschafts- und Wetterdarstellungen, die die Atmosphäre einer unheimlichen Kulisse formten. Die Inszenierung des Wetters als atmosphärische Kulisse resultiere hierbei aus dem Ansatz, die meteorologischen Elemente zur Unterstreichung und Intensivierung von Befindlichkeiten und Seelenzuständen der Figuren zu nutzen, sowie aus dem Bedürfnis, psychische Dispositionen darzulegen. Vgl. Gelfert, Hans-Dieter: Wie interpretiert man einen Roman?, 52f. Das Wetter bestimmt hierbei vielfach den Ort, der in seiner Wirkung von diesem beeinflusst wird: So bedarf etwa das Schloss, um einen Topos des Schauerromans auszubilden, der Verwebung mit einer gewissen Düsternis oder mit heraufziehenden Nebelbänken, sodass sich eine spezifische und sonderbare Stimmung ergibt. Der meteorologische Fundus bietet zudem das Potenzial, Oppositionen anzulegen, starke Effekte zu liefern sowie eine unmittelbar affektive Spannung hervorzurufen. Zur Szenerie des Schauerromans siehe exemplarisch: Klein, Jürgen: Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, 258–269. 79 Klein, Jürgen: Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, 258. Der »Schauerbereich ›Unwetter‹« gründet sich in der literarischen Tradition, wobei die Gothic Novel einen festen Zusammenhang zwischen Unwetter und folgendem Schauergeschehen prägte, sodass die Naturphänomene eine »unbestimmte Schauerantizipation« stimulierten. Auslöser seien hierbei: jagende Wolken, Nebel, Wind, Wolkenbruch, Sturm, Orkan, Gewitter und deren Ankündigung durch dunkle Wolkenwände. Vgl. Trautwein, Wolfgang: Erlesene Angst, 37. Mit Eco ließe sich ergänzen, dass die Naturphänomene in der Eingangsszene prima facie als Trigger für einen »gewohnten ästhetischen Schauder« fungieren (vgl. Eco, Umberto: »Eugène Sue: Sozialismus und Vertröstung«, 66. Zur Verwendung des locus communis bei Sue vgl. ibid.). 80 Vgl. Schärf, Christian: Spannend schreiben, 22. 81 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37f. 82 Ibid. 83 Vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 152. 84 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37f. 85 Ibid. 86 Vgl. zur Binärstruktur der Ebenen topologischer, topografischer und semantischer Räume Lotman, Juri: Die Struktur literarischer Texte, 311ff. sowie zusammenfassend Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 156–160. 87 Das Helle und das Dunkle haben hier nicht nur einen physikalischen Gehalt, sondern verweisen auf ihre immanente Symbolik (vgl. Klein, Jürgen: Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, 260). Der Wettereinsatz weicht vom klassischen Schauerroman dahingehend ab, dass zunächst kein positiv gestimmter Raum für die Figur angelegt wird, wie bspw. bei Radcliffe.

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Winteranfang ist am 21. Dezember. Die Wirksamkeit dieses mensualen Triggers zeigt sich bei Türschmann, Jörg: »Spannung in Zeitungsliteratur«, 240: Hier wird der Abend als »Winterabend« interpretiert. Ferner markiert der 13. des Monats das weitere Geschehen als Unheil verkündend. Angemerkt sei daher, dass der 13.12.1838 ein Donnerstag, kein Freitag, war. Der Freitag der 13 im Dezember ist erst ein Jahr später und der Todestag von Fleur-de-Marie. Über das Assoziationsfeld der Kälte, die per se mit der Empfindung des Fröstelns und Schauderns verbunden ist, und des Datums formt sich eine sensuelle Verbindung zu Unbehagen und Beunruhigung. Dieses und alle folgenden Zitate: Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37f. Die Dunkelheit knüpft zudem an den Schauerroman an: Der Abend steigert sich vom Betreten bis zum Zentrum des Labyrinths zur Nacht, sodass die Gestaltung der Lichtverhältnisse im Sinne der ›Dunkelheit als Privation‹ die Wirkung des Ortes beeinflusst; die Dunkelheit verwandelt den Stadtraum in etwas Unlesbares und Undurchdringliches und steht damit in Verbindung zum Motiv des Labyrinths. Als Motiv des Schauerromans steht die Nacht ferner in Verbindung zu dämonischen Mächten. Siehe zur Dunkelheit als Privation Trautwein, Wolfgang: Erlesene Angst, 30. Was nebenbei bemerkt auch den Begriff der Ville lumière begründete. Das möglicherweise restliche Tageslicht wird zur Dunkelheit. Einzige Lichtquelle sind die flackernden Laternen, sie lassen die Nacht allumfassend und bedrohlich erscheinen. Bei der dritten Erwähnung der Tageszeit wird die Nacht in facto als eine finstere definiert und die »Dunkelheit als Privation« aufgebaut; die Laternen haben gerade so viel Licht gespendet, um einen Blick auf die abominable Umgebung zu gestatten und sie in ein unheimliches Zwielicht zu rücken. Die Laternen in Paris werden zur damaligen Zeit bereits mit Öl bzw. Gas betrieben, sodass hier keine Flamme flackern oder erlöschen kann, doch schwanken die Laternen im Wind, wodurch ein ähnlicher visueller Effekt entsteht. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37f. Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 103. Vgl. zu Bedeutungen des Nordens exemplarisch Richter, Dieter: Der Süden, 17ff.; eine ausführliche und differenzierte Betrachtung des Nordens findet sich bei Kochanek, Piotr: Die Vorstellung vom Norden und der Eurozentrismus, bes. 34ff.; 221ff., 446ff. Hingewiesen sei bes. auf Henningsen, Bernd: Der Norden: Eine Erfindung. Klein hebt die Verwendung von Farben hervor (Klein, Jürgen: Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, 258–269). In der Eingangsszene wirkt die Formel »eau noirâtre« durch die Schwärze nicht nur schauerlich, es entsteht ebenso ein Degout, der den ganzen Boden und damit das Areal betrifft. Der Chourineur verpasst Fleur-de-Marie einen heftigen Faustschlag, doch kann sie sich selbstbewusst zur Wehr setzen. Ihr Angreifer lässt jedoch nicht von ihr ab. Durch das Eingreifen von Gerolstein bleibt offen, ob Fleur-de-Marie sich eigenständig aus der Lage hätte befreien können und damit dem Konzept der Jungfer in Nöten (maiden in flight) noch entsprochen hätte. Die Verbindung von Figur und Wind wird hier angelegt. Vom Chourineur heißt es, er sei im ganzen Viertel gefürchtet, in gewisser Weise beherrscht er, wie das Wetter, den Ort. Angemerkt sei zudem, dass der »Schlag im Dunkeln« charakteristisch für

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die Gewalttaten in den MdP ist: Sie werden nicht ›gezeigt‹ (ausgenommen ist hier der Mordanschlag an Sarah MacGregor). Der Wahrnehmungsvorgang wird von den meteorologischen Motiven gesteuert (gleichsam als Signalfolge, vgl. Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur, XVIII). Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 37f. In Kapitel 2.2 wird die hier entworfene Relation in der Fortführung der MdP aufgegriffen. Vgl. zum Motiv exemplarisch: Wolpers, Theodor: »Wege der Göttinger Motiv- und Themenforschung«, 88f.; 106; ders.: »Zum Verhältnis von Gattungs- und Motivinnovation«, 209f. Blanc, Jean-Noël: Polarville, 72. Keunen, Bart: »Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität«, 29–53. Lahmédi, Moez: »Représentation de l’espace urbain dans la série Malaussène de Daniel Pennac«, 5. Eco, Umberto: »Eugène Sue: Sozialismus und Vertröstung«, 65. Ibid. Eine Zusammenfassung zum Grundmuster der MdP aus den Perspektiven Ecos, Borys, Klotz’, Streiders und Neuschäfers bietet Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 109ff. Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 14. Fleur-de-Marie thematisiert Jahreszeiten sowie Wetterlagen und schlägt in ihrer Erzählung explizit einen Bogen von ihrem Schicksalswinter, in dem sie als vermeintlich vagabundierendes Mädchen aufgegriffen wurde und ins Gefängnis kam, und dem Wetter im Dezember 1838. Zusätzlich verweist sie auf den Pont Neuf und stellt damit eine räumliche Verortung ihrer Erlebnisse sowie eine direkte Verbindung zur Eingangsszene her. Bezogen auf die verwendete Ausgabe. Der Chourineur ist es an dieser Stelle, der sich vor dem Regen schützend in einen Durchgang gestellt und den Plan belauscht hatte, hierdurch kann er diesmal als Retter gegenüber Gerolstein fungieren. Die Wiederholung des vor dem Regen Schutz suchenden positiven Charakters (Murph), der dann als Helfer auftritt, ist zumindest bemerkenswert. Abgesehen vom Publikationsumstand (Feuilletonroman), dass der gleiche Sachverhalt erneut erzählt werden kann. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 120. Diese Grenze ist nebenbei bemerkt in Bezug zur Malaussène-Serie von Daniel Pennac interessant. Vgl. Lahmédi, Moez: »Représentation de l’espace urbain dans la série Malaussène de Daniel Pennac«. Kurzgefasst lässt sich Gerolstein (zum Schein) auf kriminelle Pläne von Duresnel ein, wird von diesem hintergangen und in ein Kellergewölbe gestoßen. Gerolstein wird vom Chourineur gerettet und beschließt, Duresnel in einer Art Tribunal zu verhören und für dessen Taten zu bestrafen. Die Beleuchtung des Salons greift hierbei die Opposition von Hell (Gut; Aufklärung, Justiz) und Dunkel (Böse; Verbrechen) aus der Anfangsszene auf. Die Justiz spiegelt sich in dem von Gerolstein arrangierten Tribunal und sorgt im Sinne des Kriminalromans für Verhör, Geständnis und Aufklärung. – Eine omnipotente Privatperson ermächtigt sich hier, Gerechtigkeit

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(Selbstjustiz) zu schaffen. Dies findet sich in der Struktur des späteren Thrillers wieder. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 153. Die Wahl der Blendung als Strafe ist interessant. Erinnert doch die Fokussierung auf die Augen (der Verbrecher) an die Geschichte Der Sandmann (1816) von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Angemerkt sei, dass Hoffmann in Frankreich ziemlich en vogue war. Während des »Tribunals« zeigt sich, dass Gerolstein parallel für Mme Germain nach ihrem Sohn, François Germain, sucht. Duresnel resümiert die Geschichte von Germain, wobei sich herausstellt, dass es sich bei diesem um den gemeinsamen Sohn Duresnels und Mme Germains handelt. Germain, ehrenhaft und anständig, wollte nicht in die kriminellen Machenschaften seines Vaters und von dessen Komplizen hineingezogen werden und floh vor diesem. – Wäre die Strafe als Ende gesetzt worden, so wäre es möglich gewesen, einen konkreten Aufenthaltsort zu benennen, an dem Gerolstein auf François trifft, was keine weitere Handlung nach sich zieht. Es ist möglich, den »sanften Wind« in Cœur-Saignant auch dahingehend zu deuten, dass Gerolstein nichts Ernsthaftes passieren wird, weil der Wind auf die Gegenwart des Chourineurs verweist. War der Chourineur bei tobendem Wind aggressiv, so fungiert er an dieser Stelle (bei leichtem Wind) als Adjuvant des Helden. Betrachtet man die ersten 24 Kapitel als Einheit, schließt sich hierin der Kreis des gewalttätigen, aggressiven Chourineurs zum helfenden Chourineur. Der »Führer« in die metaphorische Unterwelt wird Retter aus der Unterwelt (für Gerolstein). – Die Darstellung der psychischen Disposition des Chourineurs kann richtungweisend zum Thriller gelesen werden. Anhand seiner Lebensgeschichte ist die psychische Entwicklung eines guten Schlachtergesellen zum Mörder, die durch seine für ihn traumatisierende Arbeit provoziert wird, nachvollziehbar. Es sind die Umstände, die seine psychische Entwicklung in einer entscheidenden Phase beeinflussen und ihn zunächst auf die lustbetonte Körperlichkeit des Tötens in Kombination mit der Farbe Rot prägen und die dann als gleichsam affektiver Stimulus, als konditionierter Effekt, fungieren. An den Ausführungen des Chourinerurs zu seiner Tätigkeit als Metzger verdeutlicht sich nicht zuletzt die sexuelle Komponente, die mit dem Töten verbunden wird. Zunächst ekelte er sich vor dem Töten, doch in der Pubertät wandelte sich seine Persönlichkeit und er empfand Raserei und Leidenschaft für seine Arbeit. Er hebt in seiner Erzählung zudem hervor, dass er seine Arbeit halb nackt verrichtete. Strieder schreibt zum Chourineur: »Der zerstörerische Trieb des Chourineurs hat eindeutig sexuellen Charakter, auch wenn er sich nicht gegenüber dem ›entsprechenden‹ Objekt äußert.« (Strieder, Cornelia: Melodramatik und Sozialkritik in Werken Eugène Sues, 189). Allerdings kann sein Übergriff auf Fleur-de-Marie auch in einem entsprechenden Kontext gesehen werden; als Prostituierte ist gerade sie ein ›leichtes Opfer‹. Weiterführend sei angemerkt, dass ein Blick auf die Verbindung von Licht und Schatten sowie die Reisethematik im Hinblick auf die psychische Disposition, d.h. Entwicklung in der Pubertät, Trauma und Vergangenheitsbewältigung, fruchtbar sein könnte. Auffallend ist zudem, dass der Chourineur und Fleur-de-Marie von Gerolstein neue Namen und Identitäten zugewiesen bekommen; dies hilft beiden allerdings

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nicht, ihre Vergangenheit abzulegen. Mit Blick auf die Disposition des Chourineurs sei angemerkt, dass sich Aspekte wiederfinden, die auch Stephan Harbort aufwirft (vgl. Harbort, Stephan: Das Hannibal-Syndrom). Als gutes Beispiel hat der Chourineur seine Strafe verbüßt; der Erfolg der Läuterung ist überzeichnet deutlich, denn er ist nicht mehr imstande, seinen Beruf als Metzger auszuüben. An ihm veranschaulicht sich im Übrigen der interessante Gedanke, dass Diebstahl ein gravierenderes Verbrechen darstellt als Mord. Dies mag daher rühren, dass, wie Hülk formuliert, der Besserungswunsch des Chourineurs in den Augen der Leserschaft durch den Respekt vor dem Eigentum glaubwürdiger erscheine (Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 71f.). Er wäre quasi ein Mörder mit gutem Kern. Anzumerken ist diesbezüglich, dass er von den anderen Figuren akzeptiert wird, weil er seine Strafe verbüßt hat. Die gesellschaftliche Problematik, die sich vordergründig für ihn ergibt, resultiert, so scheint es, aus der Tatsache, dass er ein Häftling war, nicht daraus, ein Mörder zu sein. Nach Ricken dient die Figur des Chourineurs dazu, zu verdeutlichen, dass »es viele ›gute‹ Verbrecher gibt, die moralische ›Instinkte‹ besitzen, die nur durch ihre momentane Lage unterdrückt werden« (Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 148). Das Figurenpanorama und ihr Beziehungsgeflecht werden immens erweitert, wobei nicht alle Handlungsstränge weiterverfolgt werden, und somit nur kurze Episoden bilden, sodass bspw. jeweils eine Facette der Mittel- resp. Armenschicht dargestellt werden kann, wie etwa die Krankenhausszene mit den Erzählungen der Bettnachbarinnen. Die individuelle Relation der Figuren zum Wetter zeichnet sich in der Folge auch an den Kriminellen ab. So beeinflusst etwa die Dichotomie von Winterkälte und Wärme auf dem sog. Mustergut den Läuterungsprozess Duresnels nach dessen Blendung. Auch die Bestrafung und der sich hieraus entwickelnde Wahn Ferrands werden mit dem Wetter wirksam. Vgl. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, Kapitel: La punition, La nuit, Le rêve, Bicêtre, Le maître d’école sowie Kapitel: Luxurieux point ne seras…, Le guichet, Furens amoris, Les visions. Kalifa, Dominique: Crime et culture au XIXe siècle, 22. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 115. Ricken geht davon aus, dass diese Verschiebung sich nach und nach ergibt. M.E. ist diese Raumveränderung ebenso mit den Veränderungen ab Le Départ verbunden. Ausführlich mit den Pariser Straßen setzt sich Stephen Knight auseinander: Knight, Stephen Thomas: The mysteries of the cities, bes. 40ff. Resümierend sei auf Ricken verwiesen, der ausführt, dass die Orte meist isoliert erschienen, Straßenszenen, die auf den Boulevards von Paris spielten, eher die Ausnahme seien; sie beschränkten sich auf einige Kurzeinstellungen, wie etwa der Spaziergang von Gerolstein und Rigolette, oder die Nennung von Toponymen (vgl. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 115). Vgl. Strieder, Cornelia: Melodramatik und Sozialkritik in Werken Eugène Sues, 62f. Vgl. hierzu auch Klotz, Volker: Die erzählte Stadt, 127ff. Dies gilt freilich insbesondere für die Verbrechen, die sich im zweiten Teil (ab Le Départ) entwickeln. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Haus unmittelbar am Anfang des zweiten Teils präsentiert wird.

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125 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 229. Der metaphorische Schlüssel zur Aufklärung der Verbrechen ist quasi das Haus als Verbindungselement. 126 Nicht zuletzt da die ›Oberen‹ sich für ihre Machenschaften der ›Unteren‹ bedienen, bspw. engagiert Ferrand für seine Morde die Martials oder Polidori, und der Auftrag zur Ermordung Fleur-de-Maries kommt ursprünglich von Sarah MacGregor. Zur Spiegelachse und zur Verbindung der Oberwelt mit der Unterwelt vgl. Strieder, Cornelia: Melodramatik und Sozialkritik in Werken Eugène Sues, 62f. 127 Zur Diskussion der Ambiguität der Rigolette vgl. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 163f., 184. Während die Pipelets einen bescheidenen Luxus pflegen und dem Bürgertum angehören, wobei Mme Pipelet sich stetig ihre soziale Stellung über den Morels bestätigen muss, entspricht die Rigolette der »Grisette« (die junge Arbeiterin), einer Personengruppe, die in der Julimonarchie in Frankreich entstand (vgl. ibid., 185). 128 Die Figur des bösen Abbé weist Reminiszenzen zu entsprechenden Figuren des Schauerromans auf. Angemerkt sei, dass die Figur »Abbé Polidori« den gleichen Namen trägt wie der Autor des ersten Vampir-Romans (John W.) Polidori (vgl. Endnote 77). Der Vampyr erschien 1816. 129 Etwa im Kontext der Erfahrung Louise Morels anhand von Gerolsteins Ausführungen zur Bestrafung der Frauen und der absurden ›Unschuld‹ der Männer bei entsprechenden Gerichtsverhandlungen. 130 Seine wesentliche Funktion ist die Prüfung der Ehre Mme d’Harvilles, denn nachdem sich Gerolstein ihrer angenommen hat, scheint seine Figur uninteressant geworden zu sein. 131 Ein Thema in den MdP ist die Verführung. Diese Thematik steht vielfach in einer Verbindung zu ›klimatischen‹ Gegebenheiten. Garten und untere Etage St. Remys und Roberts werden im Wandel der Jahreszeiten unter dem Fokus der Verführung und Wirkung auf Damen präsentiert. St. Remys Haus ist zu diesem Zweck eingerichtet. Auch er steht in monetärer Verbindung zu Ferrand. An St. Remy wird die Erschleichung finanzieller Mittel illustriert. Auch St. Remy lebt nach dem Prinzip des Anscheins; als dieser offenbar wird, flieht er aus Paris. Hierzu gehört allerdings auch die Wetterperspektive D’Harvilles. 132 Zum Wintergarten vgl. James, Sara: »Detecting Paris«, 308; Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 192. 133 Zur sozialen Stellung der Pipelets vgl. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 194f. Auffallend ist, dass in den MdP von drei oder vier Stockwerken die Rede ist und die Portiersloge als Erdgeschoss damit ausgeklammert wird. 134 Der Name fließt in den franz. Sprachgebrauch ein. 135 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 497. 136 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, Bd. 1, Kap. 8. 137 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 619. 138 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1107. 139 Ibid., 1112. 140 Ibid., 201. 141 Ibid., 201. 142 Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 113.

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143 Neuschäfer, Hans-Jörg: Populärromane im 19. Jahrhundert, 180 zitiert nach Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 232. 144 Eine Facette der französischen Ausprägung des Kriminalromans bietet die sozialkritische Komponente, die ab einem gewissen Zeitpunkt in den Roman einfließt (vgl. Fornasiero, Jean/West-Sooby, John: »Aux origines du roman criminel«). Nach Sue wird ferner, so Klotz, die Erwähnung urbaner Verelendung, krimineller und/oder sozialer Aspekte fester Bestandteil der Paris- resp. der Großstadtliteratur (vgl. Klotz, Volker: Die erzählte Stadt, 131). 145 Dies ist mit den hier dargestellten Wetter-Enden und der Zweiteilung ab La Punition/Le Départ vereinbar. 146 Rammacher, Wolfgang: Anhang »Sommer Mitteltemperatur-Anomalien«. 147 Bezogen auf den Messzeitraum (1801–1851) und dessen Temperaturdurchschnitt nimmt der Sommer 1842 den dritten von zehn Plätzen ein (vgl. Rudloff, Hans von: Die Schwankungen und Pendelungen des Klimas, 301). 148 Bezüglich des Wintergartens sei verwiesen auf: James, Sara: »Detecting Paris«, 308. 149 Der Umgang (sans gêne) mit Temperatur und Saisonalität der oberen Schicht zeichnet sich zum Beispiel auch in der Darstellung und im Wandel der Jahreszeiten im Garten und am Haus von St. Remy ab; die saisonalen und klimatischen Gegebenheiten können von diesem eingesetzt werden, um einen sinnlichen Stimulus zu lenken, der auf die Damen, die St. Remy zu verführen sucht, betörend wirkt. 150 Bezüglich des Temperaturempfindens sei zur Veranschaulichung ergänzend angemerkt, dass ein Winter mit negativen Temperaturabweichungen von durchschnittlich 1 C gefühlsmäßig bereits als kühl und ein solcher mit positiven Abweichungen von 1 C bereits als warm empfunden wird (vgl. Rudloff, Hans von: Die Schwankungen und Pendelungen des Klimas, 141). Die Erinnerung an spezifische meteorologische Phänomene wird besonders verbunden mit der individuellen Bedeutung, die ihnen beigemessen wird, sowie in großem Maße mit der subjektiven Wahrnehmung und Sensibilität des Einzelnen. Perzeption und Apperzeption der Temperatur und der Niederschläge sind historisch bedingt abhängig von den Lebensverhältnissen und damit letztlich der gesellschaftlichen Klassenzugehörigkeit. Die unmittelbarste Bedrohung für Leib und Leben durch die Kälte ist vornehmlich für die ärmeren Schichten gegeben. Auffallend ist, dass die Darstellung der Dachkammer über similäre olfaktorische und visuelle Elemente (etwa Unrat und minderwertige Fleischreste) eine Verbindung zur Eingangsszene aufweist. 151 Klotz, Volker: Die erzählte Stadt, 125. 152 Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 93. 153 Ibid., 232f. Ausführlich zur Biografie Sues, zur veränderten politischen Haltung: Bory, Jean Louis: Eugène Sue. Zur kritischen Perspektive auf die Sozialkritik Sues sei exemplarisch verwiesen auf Marx, Karl: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik sowie Eco, Umberto: »Eugène Sue: Sozialismus und Vertröstung«. 154 Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 58. Hülk bezieht sich hinsichtlich des ideologischen Apparats auf Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, o. S. 155 Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 57. (Kursivierung durch Verf.)

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156 Neuschäfer, Hans-Jörg: »Eugène Sue«, 181. Dass die explizite Darstellung der durchdringenden Kälte und Bedrängnis die Perspektive Sues widerspiegeln, zeigt sich nach Neuschäfer im diesbezüglichen Autorenkommentar. 157 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 394. 158 Ibid., 404. 159 Ibid., 413. 160 Vgl. zum Leitmotivcharakter auch Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman. 161 Diese Verbindung von Kälte, Frieren und Tod wird bezüglich der Gründung der Armenbank wieder aufgegriffen (Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1015). 162 Nach diesen dramatischen Szenen erscheinen die Morels erst am Ende der MdP wieder, was den Verweis bzw. ihren Nutzen für die intendierte sozialkritische Funktion erhärtet. 163 Gründe hierfür sind die Arbeits- und Lebensbedingungen, der Tod Adèles sowie die Ereignisse um seine Tochter Louise, das Eintreffen der Polizei und die Verhaftung. 164 Bezüglich eines potenziellen Zusammenhangs zwischen Wetter und Suizid sei auf die Dissertation von Liese, Lutz: Suizid und Wetter – gibt es einen Zusammenhang? verwiesen. 165 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 550. 166 Vgl. hierzu exemplarisch Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 233. 167 D’Harville wird als Nebenfigur in den MdP relativ viel Raum eingeräumt (bes. in den Kapiteln Le marquis d’Harville, Réflexions, Projets d’avenir, Déjeuner de garçons). D’Harvilles Sensitivität mag besonders mit seiner Epilepsie zusammenhängen. – Die Tragweite verdeutlicht sich vor dem Hintergrund des medizinischen Kenntnisstands zu Beginn bzw. in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hinzu kommt seine Empfindsamkeit, die mit seiner Erkrankung und den diesbezüglichen Erfahrungen zusammenhängen könnte – nicht zuletzt die Vorurteile seiner Frau und später Gerolsteins. Er wird hinsichtlich seiner psychischen Disposition fast durchgängig als eher melancholische Figur gezeichnet. Auffallend ist die beständige Parallelisierung seiner Emotionen zum meteorologischen, physiologischen und emotionalen Frost. In der Nacht, in der D’Harville beschließt, seine Frau zu töten, breitet sich der Nachtfrost in seinen Räumlichkeiten aus und seine Lippen erscheinen vor Kälte blau verfärbt (physisch). Der Frost spiegelt seinen Schmerz und seine Ängste wider (psychisch). Die Kälte entspricht einem inneren Frost, der innere Frost wiederum seinem Schmerz. Bezeichnenderweise formuliert er, dass sein Wohlstand nur der Rahmen hierfür sei, da er erkennt, dass diese oberflächliche Illusion mit Leben, mit positiven Emotionen, gefüllt werden muss. Doch D’Harville erlebt das Verhalten seiner Frau als »froideur […] qui changeait sa vie en un long supplice« (Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 550). Die emotionale Sehnsucht wird für ihn nicht erfüllt, vielmehr wird in seinem Erleben die metaphorische Kälte eine seelische; ein emotionales Vakuum. Dieses wird durch den (vermeintlichen) Verlust seiner Frau an einen anderen Mann sowie in der resultierenden Zurückweisung und Verlassenheit verstärkt. Seine Frustration wandelt sich zwar leicht, doch seine Tristesse bleibt bestehen. Es kommt zum Selbstmordentschluss, da ihm seine Zukunft wie eine metaphorische Eiseskälte erscheint: »L’avenir lui pesait, lourd, sombre, glacé.« (Ibid.) In diesem Bild wird die Relation zwischen Figur und Winter fortgeführt.

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Auch während des von D’Harville organisierten Déjeuner de garçons (um seinen Selbstmord zu verschleiern) fällt auffallend mehrfach der Verweis auf den Winter. Der Wohlstand ermöglicht es D’Harville, im Gegensatz zu Mme Morel, sich seiner Melancholie, Verzweiflung und Seelenpein auf andere Art hinzugeben (vgl. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 549f.). Vgl. Spasova, Zornitsa: »The effect of weather and its changes on emotional state – individual characteristics that make us vulnerable«. Die Gothic Novel greift mitunter eine düstere mittelalterliche Architektur auf, bevorzugt unterirdische Gänge und Verliese, erzählt von unerklärlichen Verbrechen und unheimlichen Gestalten wie Gespenstern und Vampiren – eine aktualisierte Form des Vampirs wäre in den MdP etwa Ferrand. Zur Modernisierung des Figureninventars und zur Wirkung auf den Kriminalroman vgl. Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, bes. 295ff. Garte, Hansjörg: Kunstform des Schauerromans zitiert nach Conrad, Horst: Die literarische Angst, 15 (Kursivierung bei Conrad). Diesbezüglich ist die Divergenz zu den MdP evident: Mord, Gewalt und Entführung sind Themen bzw. Motive des Schauerromans, doch zielt dessen Konzeption vor allem auf die Erzeugung von Angst und Panik sowie deren kontinuierliche Aufrechterhaltung. Vgl. Strieder, Cornelia: Melodramatik und Sozialkritik in Werken Eugène Sues, 46. Vgl. auch Weber, Tanja: Kultivierung in Serie, 209. Das Verbrechen findet in der Nacht statt. – Louise erzählt Gerolstein das Geschehen im Hause Ferrands: Sie wird zunächst von Ferrand bedrängt, kann jedoch einem Übergriff entgehen. Als sie neben Ferrand im Bett erwacht, kann sie sich an nichts erinnern und nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte. Hierdurch ist die Nacht ihres Missbrauchs für Louise bis zur Aufklärung durch Gerolstein ein Geheimnis (vgl. auch Weber, Tanja: Kultivierung in Serie, 209). Die Erzählung der Ereignisse erfolgt durch Louise Morel und wird in der ersten Person dargelegt. Erwähnt sei dies, weil sich im Schauerroman meist eine weibliche Erzählstimme findet. Über die Erzählinstanz intendiert der Schauerroman Unmittelbarkeit und eine Identifikation der Leserschaft mit der Hauptfigur, welche die »Identifikation mit der puren Angst« ist (vgl. Conrad, Horst: Die literarische Angst, 51ff.). Im Gegensatz zur Panik ist bei Sue einer der Master criminals (Maître d’école oder Notar Ferrand) immer latent präsent; das Motiv der Bedrohung wird damit auf eine andere Ebene verschoben: Durch die Verbindung, die diese Figuren dank ihrer kriminellen Machenschaften zu allen anderen haben, schwingt ihre Gegenwart in vielen Biografien und Ereignissen mit. Diese Komponente ersetzt hier in gewissem Grad die Form der Schauerangst mit der Angst vor der Kriminalität. Hierüber werden die Vektoren des Schauerromans, das Schreckliche und das Böse, als Bestandteil des gesellschaftlichen Panoramas verortet und Kriminalität in persona gesetzt (vgl. auch Conrad, Horst: Die literarische Angst). Vgl. zur Relation Schauerroman und Detektivgeschichte und zum Vakuum der Erklärung: Conrad, Horst: Die literarische Angst, 151. Insofern zeigt sich ein Anklang an den späteren Thriller. Exemplarisch sei auch auf Polidoris Giftflasche verwiesen.

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177 Die Insel der Martials liegt außerhalb der Stadt in der Nähe des Pont d’Asnière. Die Schrottsammlerfamilie bildet eine eigene Verbrechergruppe, die von Gerolstein weitestgehend unbeachtet bleibt. Sie sind allerdings indirekt Opponenten, weil sie für Ferrand den Auftragsmord an Fleur-de-Marie annehmen. Hierüber und über La Louve berühren sich die Geschichten der Martials und Gerolsteins. 178 Die Martials bspw. verfügen über eine permanente Relation zur Feuchtigkeit, diese ergibt sich aus ihrem Wohnort auf der Seine-Insel. Die Treppe zu Polidoris Wohnung in der Rue du Temple ist explizit »sombre« und »humide« (Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 223). Eine Verbindung zur Humidität zeigt sich beim Notar etwa in der von ihm intendierten Außendarstellung seines Hauses; die Stufen, die zu seiner Tür führen, sind »moussues, verdâtre« (ibid., 497), ferner hat Ferrands »sanctus sanctorum« (ibid., 507, Kursivierung im Original) einen »carrelage jaunâtre, humide et glacial« (ibid., 507). 179 Moretti liest die Bezugsorte von Ferrand, Sarah MacGregor, Gerolstein und Mme Pipelet in der Rue du Temple (weil sie Gerolstein den Aufenthaltsort Fleur-de-Maries mitteilt) als Koordinatenpunkte der Familiengeschichte Fleur-de-Maries (vgl. Moretti, Franco: Atlas des europäischen Romans, 132). Nimmt man die nördlich gelegene Insel der Martials, das Haus Ferrands im Norden der Stadt in der Rue Sentier, das Haus Sarah MacGregors (bemerkenswerterweise ist sie die einzige Hauptfigur und Verbrecherin, die, außer in der Eingangsszene, ohne Wetter dargestellt wird) im Süden in der Rue Cassini, das Haus in der Rue du Temple mit der Wohnung Polidoris im Osten, im Zentrum die Cité, die im ersten Teil den Kernpunkt des Verbrechens stellt und mit der Duresnel verbunden erscheint, so legt sich ein Pentagramm des Beziehungsgeflechts der Kräfte des Bösen über einen Teil der Stadt, in dessen Zentrum Gerolsteins Haus in der Allée des Veuves liegt. (Vgl. bezüglich der Verortung auch ibid.) Dieses kriminelle Netzwerk tangiert sowohl Gerolsteins Vergangenheit als auch Gegenwart und Zukunft. Die Familienbeziehungen Gerolsteins sind wesentlich an die Rue Plumet gebunden. Die beiden Hauptgegner auf familiärer Ebene, Gerolstein und seine Sarah MacGregor, finden sich somit deutlich distanziert von den anderen Orten südlich der Seine, aber in relativer Nähe zueinander. Während einer der ersten Frühlingstage gestehen sich hier Gerolstein und Mme d’Harville ihre Liebe und verloben sich. Die Familienzusammenführung Gerolsteins mit seiner Tochter ereignet sich ebenso in der Rue Plumet. Auffällig ist, dass der Mordanschlag an Sarah MacGregor und ihr Tod in der Rue Cassini ohne Wettererwähnung stattfinden. Ihr kommt eine Sonderstellung zu, durch ihre Gemütswandlungen und ihre Ehe mit Gerolstein lässt sie sich nicht mehr eindeutig dem negativen Pol zuordnen und nimmt mit ihrem Tod ferner eine positive Schlüsselrolle für das weitere Leben der Protagonisten ein. 180 Vgl. Heidenreich, Peter: Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert, 141. Wie Ricken zieht auch Heidenreich bezüglich der Schauplätze eine Verbindung zwischen der Atmosphäre der Anfangsszene, der Schenke Bras-Rouges sowie dem Haus des Notars Ferrand (ibid., 142). 181 Die Familie Martial (nomen est omen) tangiert der von ihr begangene Mord in keiner Weise; ebenso zeigen sich ihre Mitglieder gegenüber François nicht emotional oder mitfühlend.

Anmerkungen

182 Hier ist allerdings die Frage zu stellen, inwiefern die Rezeption des Schauerlichen eingeschränkt ist, zumal es sich primär um den Läuterungsprozess und moralischen Wandel Duresnels zum ›Guten‹ handelt. Diesbezüglich ließe sich die Frage aufwerfen, ob die Rezeption des schauerlichen resp. unheimlichen Aspekts eingeschränkt oder gedämpft ist, da eine Identifikation mit der bzw. den kriminellen Figuren nicht intendiert ist. 183 Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 202. 184 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 440. 185 James, Sara: »Detecting Paris«, 309. 186 Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen, 163. 187 Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans, 4. 188 Die Darstellung der Ereignisse erfolgt über die Erzählung Louise Morels gegenüber Gerolstein. Die Ordnung ist hier achronologisch: Zeitlich liegt das Geschehen vor dem Kältetod Adèles, es wird aber danach erzählt. 189 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 489. 190 An dieser Stelle sei Daniel Chartier für den Hinweis auf eine basal mütterliche Funktion des Schnees gedankt. 191 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 492. 192 Später bei Ferrand fungiert der Schnee als Erinnerungsverstärker und Verbindung zwischen den Szenen. 193 Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 184. 194 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 282f. 195 Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 216. Ricken sieht in der Begeisterung ob des Landlebens eine mangelnde sozialkritische Reflexion Sues (ibid., 215f.). 196 Landschaft und Hof evozieren Geborgenheit und lassen den Winter auf dem Land zauberhaft erscheinen. Bouqueval wirkt klein, friedlich und überschaubar. In seiner Anlage erinnert es bereits an die pseudoidyllischen Dörfer und Landstriche etwa der Kriminalromane Agatha Christies. 197 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 282 (Kursivierung durch Verf.). 198 Eine ähnliche Dichotomie ergibt sich bspw. ebenso im Kapitel Le bateau bezüglich der Insel der Martials. 199 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 283. 200 Fleu-de-Marie (Goualeuse) ist die Tochter Sarah MacGregors und Gerolsteins. Sarah MacGregor hat Gerolstein vorgetäuscht, das gemeinsame Kind sei tot. Tatsächlich kam Fleur-de-Marie zu Chouette, wo sie eine unglückliche Kindheit verbrachte. MacGregor setzt nun, Jahre später, Duresnel und Chouette darauf an, ihre Tochter zu entführen und zu töten. 201 Das Moment der hibernalen Insekurität in Bezug zum Erleben des gestimmten Raums durch die Figuren Fleur-de-Marie und Duresnel wird in 2.3.4 und 2.3.5 figurenbezogen weiter ausgeführt. 202 Einen erneuten Kälteeinbruch gibt es in Gerolstein in Relation zu Fleur-de-Maries Gefühlsdisposition und zu ihrem Tod. Das »sad end« (Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 60) wird mithin durch Kälte als Begleiter des Todes positiver Figuren arrangiert. Fleur-de-Marie verstirbt im Januar 1840. Hervorzuheben ist, dass der

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Sommer in Gerolstein nur eine sehr kurze Episode (Liebe zu Henri) darstellt und die Kälte (im Kloster) schließlich in den Fokus rückt. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1107. Vgl. Lahmédi, Moez: »Représentation de l’espace urbain dans la série Malaussène de Daniel Pennac«, 5. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 126. Ricken führt dies jedoch nicht mit Blick auf den Kriminalroman weiter aus. – Strenggenommen müsste eingeschränkt werden, dass Graf Gerolstein sich von der Polizei distanziert und nicht zuletzt außerhalb eines zur damaligen Zeit mehr oder minder vorhandenen polizeilichen Rahmens agiert und etwa bei den Verhaftungsszenen der Morels in Opposition zur Polizei geht. Ein wesentlicher Faktor ist die von Gerolstein ausgehende Selbstjustiz. Als Vorläuferfigur weist er tendenziell in Richtung des sich ausbildenden Konzepts des Privatermittlers. – Eine Neuerung bezüglich der Gegenspieler sieht Ricken darin, dass das Gute nicht mehr nur ›Opfer‹ des Bösen sei (wie im englischen Roman des 18. Jahrhunderts), sondern aktiv handle (vgl. ibid., 132). Angenot formuliert für den Helden des Feuilletonromans, dass bereits dieser ein Entzifferer sei, dessen Aufgabe darin bestehe, eine (geheimnisvolle) Vergangenheit aufzudecken. Ferner verweist Angenot auf eine progressiv-regressive Struktur, die auf der Dualität von sozialem Schein und moralischer Wahrheit fuße (vgl. Angenot, Marc: »Roman und Ideologie: Les Mystères de Paris«, o.S., zitiert nach Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 109). Die Basis der Figur findet sich mithin im Rahmen der Entwicklung des Schauerromans zum Kriminalroman. Heißenbüttel, Helmut (1971): »Spielregeln des Detektivromans«, 356ff., zitiert nach Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive, 46f. Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive, 44 f; Stowasser, Josef M./Petschenig, Michael/Skutsch, Franz, Stowasser, Lemma detegere. Vgl. zum Abenteuer-Motiv mit Anlehnung an Hülk: Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 128. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 126. Vgl. zur Disposition Gerolsteins Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 92ff. Vgl. Schweeger-Exili, E.: Der Vater-Sohn-Konflikt in den »Mystères de Paris« von Eugène Sue, 120, zitiert nach Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 130. Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 97. – Gerolstein richtet, doch die Strafe erfolgt wiederum über eine ausführende Figur, bei Duresnel ist dies der Arzt, bei Ferrand Cecily etc. Ibid., 96. Der Preis für die Frauen in Gerolsteins Leben ist damit hoch: Sarah MacGregor muss sterben, um den Weg für die standesgemäße Mme d’Harville freizumachen (deren Mann sich umbrachte), Fleur-de-Marie stirbt in Gerolstein, letztlich weil sie die Schuldgefühle aus ihrer Vergangenheit (Prostitution) nicht überwinden kann, und Mme d’Harville bleibt jedwede sexuelle Erfüllung verwehrt (vgl. hierzu auch Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 130). Pointiert zieht sich damit die Problematik, die Gerolstein auf die Frauen in seinem Leben projiziert, durch den gesamten Roman. Die Relation der Identitätsproblematik hinsichtlich des Vaters (Gerolsteins) und Sohnes (Gerolstein) bzw. des Vaters (Gerolstein) und der Tochter

Anmerkungen

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(Fleur-de-Marie) ist insofern entsprechend, wobei Letztere in effectu in einem meteorologisch determinierten Exitus kulminiert, anders als bei Gerolstein. Im Gegenzug kann allerdings gefragt werden, was gewesen wäre, wenn Sarah MacGregor das gemeinsame Kind nicht verschwiegen hätte. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 131ff. Vgl. hierzu auch die Verbindung von Chourineur und Wind (s. 2.3.3). Verwiesen sei an dieser Stelle auf Clausen, Jens Jürgen: Vom Verlust des Selbst in der Fremde. Vgl. diesbezüglich zum Motiv des Nebels auch Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur, 265. Durch den Nebel entsteht zudem eine Verbindung zum Haus Gerolsteins, das von Finette und Tortillard ausgeraubt werden soll und in der Nacht von Nebel umgeben ist. Nebel und Haus stehen metonymisch für Gerolsteins psychischen Zustand. Im Haus Gerolsteins findet später das Verhör Duresnels statt. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 202. Diese Szene ist eine der Gewaltszenen, die nach Ricken »beim Leser elementare Ängste und Beklemmungen wachrufen« (Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 125, in Anlehnung an Klotz, Volker: Abenteuer-Romane, 52). Ricken nennt zwei Gewaltszenen, nämlich die im Verlies und die, als Gerolsteins Wagen gegen Ende der Paris-Handlung bedrängt wird. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 138–141 (Kapitel Le Caveau). Neuschäfer, Hans-Jörg: »Eugène Sue«, 182f. Zur historischen Bedeutung der Seine im Kontext des Todes und von auf Sue folgenden Kriminalromanen siehe: Fornasiero, Jean/West-Sooby, John: »Aux origines du roman criminel«. Der Gebrauch des Wetters in der Funktion des Mordwerkzeugs geht hier Thrillern, wie Franck Thilliez’ Deuils de miel, voraus. In chronotopischer Perspektive wird der Nebel zur Grenze der Ausrichtung von Vergangenheit auf Zukünftiges und Veränderung. Interessanterweise trifft dies in der Nachfolge auch auf Figuren anderer Kriminalromane zu. Während für einige Figuren strenge Verbindungen zu meteorologischen Phänomenen gehalten werden, kann Gerolstein als Protagonist bei allen Wetterlagen erscheinen. Wie für alle anderen Figuren wird aber auch sein Glück in Paris (d.h. nicht in Gerolstein) an den Frühling gebunden: An einem der ersten frühlingshaften Tage gestehen sich Gerolstein und Clémence d’Harville ihre Liebe und verloben sich. Zu dieser Jahreszeit erkennt er zudem, dass Fleur-de-Marie seine tot geglaubte Tochter ist. Es ließe sich mit meteorologisch transzendentem Bezug auch formulieren: Der Nebel hat sich aufgelöst und steht damit symbolisch für die Aufkla(e)rung. Hinsichtlich des räumlich-meteorologischen Aspekts kann bezüglich Gerolstein folgendes festgehalten werden: Gerolsteins Stadtvilla liegt analog zum Cœur-Saignant im Nebel und zeigt sich mit der Figur verbunden (diese Beziehung ist allerdings nicht so ausgeprägt wie bei Ferrand). Die Wetterlage am Haus entspricht Gerolsteins Entwicklung als detektivischer Instanz am anderen Ort. Während Gerolstein im Verlies Opfer der Kriminellen geworden ist, wird dieses Haus Ziel des Raubzugs der

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Gruppe um den Maître d’école. Zur Bestrafung Duresnels hat sich der (metaphorische) Nebel gelichtet und es regnet. Ab diesem Moment wird das Haus auch als Ort der Informationsgabe genutzt, etwa bezüglich der Geschichte von David und Cecily oder der Vergangenheit Gerolsteins (hier bleibt das Wetter unerwähnt und damit neutral); d.h. Informationen, die für die folgende Handlung relevant sind, werden an diesem Ort eingebracht. In philosophischer Perspektive ließe sich fast auf Platons Höhlengleichnis (= Keller) verweisen, sodass der Weg der Anamnese (aus dem Keller) zu einer veränderten Sicht (Aufklärung/Licht) führt. Diese subtilere und reflektiertere Vorgehensweise zeichnet sich bereits ab, als Gerolstein die Brosche Fleur-de-Maries bei Finette erkennt bzw. erahnt, dass es sich um dasselbe Stück handelt. Wie dies in einem Schauerroman der Fall wäre (vgl. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 132). Der Name in der deutschen Übersetzung »Koberin« ist hier bezeichnend. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 359. Für Eco ist das Auf und Ab im Leben Fleurde-Maries eine Abfolge von Theatercoups (vgl. hierzu Eco, Umberto: »Eugène Sue: Sozialismus und Vertröstung«, 68). Eine Zusammenfassung verschiedener Interpretationen zu Fleur-de-Marie bietet Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 139–145. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 84. Die Opposition von guter Landluft und ungesunder Stadtluft findet sich in den Mystères de Paris wiederholt und auffallend häufig. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 104. Kursivierung durch Verf. Ibid., 89f. Dies spiegelt sich in der zeitgenössischen Illustration wider. Siehe bspw. Sue, Eugène (2008): Die Geheimnisse von Paris, 96. Entscheidend ist hier, dass es sich bei Bouqueval um ein Muster-Gut handelt, d.h. um einen gelebten Idealzustand. Allerdings aufgrund des Figureneinflusses etwa Abbé Laports. Zu fragen wäre insofern, ob sich Fleur-de-Maries Wunschtraum mithilfe anderer Figuren, die eine psychische Überwindung unterstützt hätten und ein Abschließen mit der Vergangenheit bejaht hätten, möglich gewesen wäre. Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 108. Ibid. »Fleurs Beschützer ist auch ein Todesengel, der das Gute tut und das Böse schafft.« (Ibid.) Gerolstein errettet Fleur-de-Marie aus ihrem Schicksal in der Cité, doch er kann sie nicht vor den kriminellen Einflüssen und ihrer Erinnerung schützen. Gerolstein reißt Fleur-de-Marie zweimal aus ihrem Leben, einmal, indem er sie auf dem Gut unterbringt, das zweite Mal, als er in ihr seine Tochter erkennt und sie mit nach Gerolstein nimmt. Er ändert ihren Namen und versucht damit auch (erfolglos), ihre Identität zu verändern und sie von ihrer Erinnerung zu befreien. Ibid., 108. Etwa für La Louve und ihre Vorstellung von einem besseren Leben, Frieden für Mont-Saint-Jean oder Liebe für Henri. Vgl. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 577.

Anmerkungen

245 Nachdem Fleur-de-Marie von Gerolstein nach Bouqueval gebracht wurde, wo sie sich fernab der Cité einem Wunschleben hingeben kann, sind es fatalerweise die für Fleur-de-Marie bedeutenden Figuren Abbé Laport und Mme Germain, die ihre Hoffnung zerstören, nicht nur die Vergangenheit zu überwinden, sondern die damit einhergehende ›Schuldigkeit‹; relativ alttestamentarisch ist eine Vergebung der ›Sünden‹ in ihrer Perspektive unmöglich. (Von Laport wird ihr eingeredet, dass ihr ›Fall‹ ihre eigene Schuld sei. Bemerkenswert ist, dass die Morde des Chourineurs als gesühnt erklärt werden können, die durch Dritte erzwungene Prostitution Fleur-de-Maries aber nicht. Sie muss in ihrer ›Schuldigkeit‹ verharren und an ihr zu Grunde gehen. Diese Einstellung ist insofern stark auffällig, da ansonsten eine zuweilen recht ›feministische‹ Haltung angelegt wird.) Dies implementiert die Identitätsproblematik Fleur-de-Maries. Die Utopie des Landes wird aufgelöst und als solche erkennbar. 246 Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 85. 247 Ibid. 248 Kurz vor dem Verlassen der Stadt wird der Chourineur ermordet – der geläuterte Mörder stirbt, um Gerolsteins Leben zu beschützen – und Fleur-de-Marie wird bezeichnenderweise während seines Ablebens mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Die Grenze von Paris wird damit gewissermaßen letal markiert. Die neue Identität des Chourineurs als Besitzer eines Metzgerladens stellt sich als nicht realisierbar heraus. Ferner bilden zunächst die Landesgrenze sowie kurz vor seinem Ableben die Stadtgrenze eine unüberwindbare Barriere. 249 Mit der Namensänderung geht der (erfolglose) Versuch einher, ihre Identität zu verändern und sie von ihrer Erinnerung zu befreien. Gerolstein zielt (analog) auf eine Verdrängung oder Überwindung der Probleme seiner Tochter mittels einer veränderten Lebenssituation, durch die aber der Schuldkomplex nicht gelöst werden kann. 250 Die letzten Kapitel des Epilogs La profession und Le 13 janvier – chapitre dernier befassen sich mit dem Ende Fleur-de-Maries. 251 Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 60. 252 Nach Weber stellt der Tod Fleur-de-Maries »ein letztes Spiel mit den Lesererwartungen« dar (Weber, Tanja: »Un-/endliche Geheimnisse«, 60). 253 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 282f. 254 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 297f. Interessanterweise findet sich ein rötlicher Schein auch bei der Darstellung der Insel der Martials; hier in Form einer Lampe. 255 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 299f. Gliederung durch Verf. 256 Ibid., 300. 257 Die alttestamentarisch behaftete Haltung Abbé Laports forciert dies. 258 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 300. 259 Ibid. 260 Die Lebensgeschichten Fleur-de-Maries und des Chourineurs sind im Übrigen die einzigen, die in den Mystères de Paris von Geburt/Kindheit bis zum Tod evolviert werden. 261 Sonnenuntergang, Einfärbung und Verdunkelung des Himmels etc.

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262 Die Verbrecher Duresnel, Finette und Tortillard sind bereit, Fleur-de-Marie abzufangen und in ihre Gewalt zu bringen, diese nähert sich mit dem Abbé der Stelle, die den Entführern für eine Überwältigung besonders geeignet erscheint. 263 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 784ff. 264 Ibid., 359ff. 265 Ibid., 784. 266 Fleur-de-Marie war zuvor im Gefängnis. Ihre Freilassung wurde durch Ferrand mit dem Ziel erwirkt, sie (zusammen mit Mme Séraphine) von den Martials ermorden zu lassen. Mme Séraphine holt Fleur-de-Marie aus Saint-Lazare und suggeriert ihr, ihre Freunde (Gerolstein, Mme Germain etc.) würden sie erwarten, um ihre Freilassung zu feiern, sodass Fleur-de-Marie ihr folgt, obwohl sie bemerkt, dass der Weg nicht nach Bouqueval führt. Der Mordanschlag scheint zu gelingen und Fleur-deMarie droht zu ertrinken. Sie wird jedoch von La Louve gerettet. Mme Sérpahines Leiche treibt kurz darauf am Ufer. 267 »Justement on a cassé la glace ce matin« (Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 354); »Le galop des chevaux ébranla quelque temps encore la terre durcie par la gelée.« (Ibid., 361) 268 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1120. 269 Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 150. 270 Strieder, Cornelia: Melodramatik und Sozialkritik in Werken Eugène Sues, 113; vgl. auch Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 151. 271 Marx, Karl: Die heilige Familie, 187. 272 Vgl. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, Kapitel Le rêve. 273 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 297. 274 Die meteorologische Kälte transzendiert und intensiviert damit zugleich die zwischenmenschliche Kälte (verwiesen sei hier auch auf die Verbindung D’Harvilles zur Kälte und seiner Disposition im Sinne des Wettersystems der MdP). Duresnel ist in diesem Moment gezwungen, sein Aggressionspotenzial zu unterdrücken, um voller Furcht seine Gefährten milde zu stimmen. Das Aggressionspotenzial erwächst schließlich aus Wut, Überforderung und Verzweiflung ob der durch die Blendung hervorgerufenen Situation. 275 Beide Figuren weisen durch ihre psychisch-moralische Disposition schlussendlich eine Ambivalenz auf. Pointiert können sie aus verschiedenen Gründen, sei es das eigene Schuldgefühl oder eine tatsächliche Schuld, nicht absolut einem Pol zugeschrieben werden. Eine (weitere) Verbindung besteht zwischen Duresnel und Fleurde-Marie hinsichtlich ihrer ›verborgenen‹ Identität. Beide Identitäten werden letztlich von Gerolstein aufgedeckt. Maître d’école = Anselm Duresnel, Ehemann von Mme Georges, Vater von François Germain; Fleur-de-Marie = Prinzessin Amélie, verstoßene Tochter Sarah MacGregors (und Gerolsteins), ehemalige Prostituierte. An letzterem Fakt zerbricht eine Freundschaft auf dem Land. 276 Vgl. etwa Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 297f. 277 Ibid., 305. 278 Ibid., 304. 279 Ibid.

Anmerkungen

280 Sein Vorwand gegenüber Finette Gervais ist, das Bauernhaus auszurauben. Tortillard begleitet ihn und mimt den angeblichen Sohn. Die klirrende Kälte draußen gilt den Bewohnern als Grund für das Verhalten der Hunde, die den verbrecherischen Charakter Tortillards und Duresnels zu spüren scheinen. Auf diese Weise wird die Kälte auch im Haus immer wieder evoziert und bleibt Duresnel präsent. 281 Eine similäre Deutungssicht ergibt sich dezidierterweise auch für Fleur-de-Marie auf dem Land. 282 Trotz der Bestrafung durch Gerolstein verändert sich sein Charakter scheinbar nicht. Dies zeigt sich etwa, als er in seinem Zimmer auf Bouqueval, wo er und Tortillard für die Nacht aufgenommen werden und Duresnel den Mordplan an seiner Frau Mme Germain fasst. Tortillard quält und drangsaliert Duresnel auch hier unbemerkt von allen anderen weiter. Der Mordplan stellt einen der letzten Augenblicke von Duresnels krimineller Energie dar, zeigt aber mittelbar die Überforderung mit der Situation. Die Tat wäre eine Auslöschung der Vergangenheit, aber keine Befreiung aus der Jetzt-Situation, insbesondere aus der Relation zu Finette Grevais. 283 Deutungen des Traums finden sich in der Sekundärliteratur zu den MdP etwa bei Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden. 284 Nebenbei sei angemerkt, dass die Erzählung A Christmas Carol von Charles Dickens 1843 erschien. 285 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 334. 286 Ibid. 287 Bicêtre war ein Hospital bzw. Asyl für Menschen mit psychischer Erkrankung. 288 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1120. 289 Vgl. ibid., 1114ff. 290 Was Ferrand und Duresnel in ihrer Gewalt eint und gleichzeitig unterscheidet, sind die Sexualverbrechen Ferrands. Denn hier übt Ferrand direkte Gewalt aus, seine Morde hingegen lässt er begehen, seine Diebstähle sind Betrügerei und Irreführungen, keine Überfälle. Am Ende eint beide der (kurze) Moment, in dem sie sich aufgrund ihrer Vaterschaft berührt zeigen. Auf der Ebene von Heuchelei, Erotik und Tod entspricht Ferrand tendenziell Abbé Polidori. In gewisser Weise inkorporiert Ferrand Elemente zweier Verbrechertypen, die in den MdP vor seinem eigenen Erscheinen auftraten und eine Verbindung zu Gerolstein und seiner Identitätsproblematik (Sarah MacGregor, Fleur-de-Marie, Auflehnung gegen den Vater) aufweisen. 291 Vgl. auch Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 137. Ricken führt, verweisend auf Klotz, aus, dass »in Jacques Ferrand die Charaktermaske der Bourgeois gelüftet« werde (ibid.). 292 Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 142. 293 Dupuy, Josée Le roman policier, 125, zitiert nach Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 142. 294 So etwa an den Fermonts, an M. Morel, ferner steht er in Verbindung zu MacGregor sowie zu Polidori mit Mordaufträgen u.a. 295 Da die Strafe nach Gerolsteins Verständnis den Täter mit seinen Taten konfrontieren soll, drängt sich der Gedanke auf, dass Ferrand primär für seine Sexualverbrechen bestraft wird und nicht für sein Fehlverhalten als Notar oder Auftraggeber

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von Tötungsdelikten. Die Bestrafung durch Cecily ist aufgrund ihrer eigenen Geschichte (Missbrauch) und der daraus entstehenden Motivation interessant. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 497. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 171. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 497. Dies kann er in seiner Funktion als Notar (Kanzlei) halbwegs verbergen. Ibid., 507. Kursivierung im Original. Ibid., 507. Vgl. Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 146. Bspw. an Mme Séraphine, die als Mitwisserin (u.a. am Verbrechen an Louise Morel) beseitigt werden muss. Ricken betrachtet die Anlage des Hauses zudem als eine »hermetische Abriegelung« (Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 171), um es und Ferrand vor den Blicken anderer zu schützen und seine ehrbare Fassade aufrecht zu erhalten. Cecilys Präsenz im Haus führt zu einer Veränderung Ferrands, die er zwar selbst bemerkt und die ihn beunruhigt – zumal sein öffentliches Bild ins Wanken gerät –, aber das Begehren erschüttert ihn in seinen Grundfesten und beginnt, andere Facetten seiner Persönlichkeit, nicht zuletzt den Selbsterhaltungstrieb, zu verdrängen. D.h. die Täuschung der anderen, von der seine Existenz abhängt und die implizit mit seiner Selbsterhaltung verknüpft ist, bröckelt wie sein Haus. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 177. Spannenderweise zieht Ricken eine Verbindung zur Naturdarstellung der Eingangsszene in der Cité (vgl. ibid., 177). Durch die damit assoziative Verbindung könnte auch die aufgeworfene Relation zwischen Wetter und Kriminalität aufgegriffen und gefestigt werden. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 202. Zu ergänzen ist, dass sich eine gewisse erotische Komponente zuweilen auch für den Schauerroman findet. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 876. Ricken, Achim: Panorama und Panoramaroman, 178. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 868. Interessanterweise sind es in erster Linie, von Polidori abgesehen, Frauen (bspw. Séraphine, Sarah MacGregor), die sterben und von denen er nichts mehr zu befürchten hat. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 883. Im eingefügten Metakommentar (Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 870) wird Cecily als Vampirin identifiziert, die ihren Opfern Geld und Blut aussaugt. Damit stellt sie ein weibliches Pendant zu Ferrand (kriminelle Gestalt) dar und vertauscht gewissermaßen die Opfer-Täter-Rolle. Aus der Gesamtsituation manifestiert sich damit die Überlegenheit Cecilys. Eco befasst sich u.a. mit der Figur Cecilys als Vampirin (vgl. Eco, Umberto: »Eugène Sue: Sozialismus und Vertröstung«). Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 878. Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 149. Ibid., 165. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 882. Ibid., 884.

Anmerkungen

320 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 886. Der Dampf ist gleichsam Resultat seines kühlen Verstandes, den er zuvor im Regen draußen noch wiederzuerlangen hoffte und der von der Hitze der Leidenschaft drinnen vaporisiert wurde. 321 Etwa gegenüber Mme de Lucenay (Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 531). 322 Zur Verbindung Wahn und Wolke vgl. auch Weber, André: Wolkenkodierungen bei Hugo, Baudelaire und Maupassant. 323 Insofern besteht eine gewisse Antiparallele zu Gerolsteins identitärer Entwicklung. Interessant ist die Verflechtung von Nebel bzw. Wolke und Wind im Nexus einer Metapher des Wahns, im Sinne des absoluten Begehrens insofern, als Foucault ab Mitte des 19. Jahrhunderts einen »Wandel in der imaginären Landschaft des Wahns […] erkennt und als ›retour à l’air de la folie‹ bezeichnet. Nach Foucault hat sich die Imagination des Wahnsinns in dieser Zeit von dem Element des Wassers gelöst und sich mit dem der Luft […] verbunden.« (Weber, André: Wolkenkodierungen bei Hugo, Baudelaire und Maupassant, 299) 324 Insofern besteht eine metaphorische Verbindung zur Strafe Duresnels. 325 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 886. Siehe auch die verdeckte Tatsache in: »C’est à en perdre la tête!« (Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 884). 326 In einem letzten Aufbegehren seiner Selbsterhaltung zögert er jeweils, bevor er seine Verbrechen gesteht und bevor er die Beweise gegen ihn aus den Händen gibt. 327 Durch die Art der Überführung und Strafe kommt die Verquickung der Komponenten Eros und Thanatos in die MdP. Dies ist nicht nur intratextuell interessant, sondern insofern hervorzuheben, als nach Reuter Eros und Thanatos mitunter die zentralen Themen des Kriminalromans sind (Reuter, Yves [1997]: Le roman policier, 104). Ferner sei angemerkt, dass Hülk in Ferrand die Allegorie einer bürgerlichen Identitätsproblematik sieht, den widersprüchlichen Antagonismus zwischen Kalkül und Wahnsinn (Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 153f.). Hülk beleuchtet Ferrand und seine Psyche zudem unter dem Fokus des Blickes (ibid., 146–176). 328 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 889. 329 Ibid. In »La pluie avait cessé« zeigt sich zudem eine Parallele zu Duresnel und hierüber eine Abgrenzung von der Überführung zu Einsicht und Strafe. 330 Ibid. 331 Ibid. 332 Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 170. 333 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 889. 334 Mit dem Erlangen der belastenden Dokumente ist die Strafe Gerolsteins für Ferrand noch nicht abgeschlossen. Denn dieser nutzt sie, um Ferrand zu zwingen, sein Amt, sein Vermögen und das Haus in der Rue du Temple zur Gründung einer Armenbank einzusetzen; Ferrand wird mithin dazu gebracht, das zu tun, was er vorgab zu tun. Diese Strafe bedeutet für Ferrand allerdings parallel eine letzte Entziehung seines Intellekts (Amt als Notar) und seines Vermögens, d.h. er verliert seine Sicherheit (Erspartes, finanzieller Ruin, Enteignung). Auffallend ist, dass bei der Projektierung und Gründung der Armenbank das Bild des Arbeiters und seiner Familie bei Winternacht und Kälte evoziert wird. Damit wird hier die Strafe Ferrands mit dem Leid der Familie Morel, insbesondere dem von Louise Morel, verknüpft.

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335 Gegenüber dem Pfarrer lobt Polidori Ferrand in höchstem Maße, was dieser nur schwerlich ertragen kann. Polidori wird zu Ferrands Aufsicht bestellt. Er leistet damit einen Teil seiner von Gerolstein auferlegten Strafe ab. In diesen Szenen bleibt das Wetter unerwähnt. 336 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1041. 337 Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 165. 338 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1042f. 339 Ibid., 1044. 340 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 878. 341 Ibid., 1045. 342 Dies tritt auch ein und betrifft dezidierter die Sinne, die Cecily angesprochen hatte: Ohren und Augen. Ferrand quält in der Folge die Helligkeit und Polidori ist gezwungen, die Lampen zu löschen. Hier wird eine Parallele zur Nacht mit Cecily deutlich: Sie gab vor, das helle Licht einer Lampe nicht mehr ertragen zu können, und entzog Ferrand ihre Nähe, um die Begierde nur heftiger zu entfachen. 343 Polidori versucht, ihn daran zu hindern, in den Sturm zu gehen, und wird von Ferrand mit Cecilys vergiftetem Dolch erstochen. Die Umstände dieser Tötung, d.h. mittels des Dolches, sind ebenfalls symbolisch lesbar. 344 Die Dunkelheit steht auch im Kontext des Übergriffs auf Louise. Ferrand verfolgt sie durch die Zimmer seines Hauses, bis sie die Lichter löschen und ihm zunächst in der Dunkelheit entkommen kann. Hülk sieht dies im Kontext der Macht des Blickes (vgl. Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden, 159f.). Zur Bedeutung des Blickes in den MdP: ibid., 146–176. 345 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1049. 346 Ibid. 347 Gewissermaßen eine Parallele zur Blendung Duresnels, die von Gerolstein ausgeht. 348 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, 1050. 349 Angemerkt sei, dass durch diese Verbindung, die den Tod des Notars herbeiführt, über das Wetter eine Kritik an den unabsehbaren Folgen der ausgeübten Selbstjustiz aufgeworfen werden könnte. 350 Auf eine Verbindung zwischen Drama und Kriminalroman weist bereits Dorothy Sayers hin. 351 Blanc, Jean-Noël: Polarville. 73.

Émile Gaboriau – Der Beginn des französischen Kriminalromans 1 2

Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 283. Émile Gaboriau (1832–1873) ist zunächst Sekretär des Schriftstellers Paul Féval und widmet sich schließlich dem Journalismus. Im Zuge seiner Recherchearbeit für eine Reportage trifft er den ehemaligen Inspektor der Sûreté Tirabot, genannt Tirauclair, mit dem er Freundschaft schließt; hierdurch fällt die Entscheidung, einen ›Kriminalroman‹ in der Art E. A. Poes zu schreiben (vgl. Benvenuti, Stefano/Rizzoni, Gianni/Lebrun, Michel: Le roman criminel, 20). Eine ausführlichere

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Biografie findet sich bei Roger Bonniot: Émile Gaboriau ou la naissance du roman policier. André Gide. Zitiert nach dem Cover zu L’affaire Lerouge. Vgl. Benvenuti, Stefano/Rizzoni, Gianni/Lebrun, Michel: Le roman criminel, 22. Doyle, Arthur Conan: Memories and Adventure hier zitiert o. S. nach Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 154. Der Einfluss von Doyles Werk sowohl auf die anglo-amerikanische als auch auf die französische Kriminalliteratur ist bedeutend (siehe etwa den als Gegenfigur entwickelten Arsène Lupin von Maurice Leblanc mit Titeln wie Arsène Lupin contre Herlock Sholmès [1908]). Indem sich Agatha Christie später an Doyle orientiert, setzt sie eine Entwicklung fort, die von Gaboriau ausgeht. Zu Sherlock Holmes erschien eine Vielzahl an Forschungsarbeiten; nur exemplarisch sei daher verwiesen auf Ravenel, Loïc (1994): Les aventures géographiques de Sherlock Holmes, der sich in »Les climats de l’œuvre« (233–250) auch mit dem Wettereinsatz befasst. 2007 veröffentlichte der Autor Sherlock Holmes au fil du temps. Der Roman Gaboriaus zielt weniger auf den für das Feuilleton mitunter noch vorherrschenden Schrecken ab, wie in den etwa zur gleichen Zeit entstehenden englischen Titeln von Wilkie Collins The woman in white (1860) oder The moonstone (1868). Wie Schulz-Buschhaus bemerkt, beabsichtigen diese eine »Intensität des Verängstigungseffekts, welche die fast identische Technik des ›suspense‹ in den Romanen der […] Franzosen Boileau-Narcejac vorwegnimmt.« (Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans, 22). Verwiesen sei an dieser Stelle auf das Kapitel »Natur und Mensch in der viktorianischen Literatur« mit einem Unterkapitel zu The woman in white in: Kullmann, Thomas: Vermenschlichte Natur, 406–420. Der Titel der Originalausgabe lautet Le dossier No 113, die verwendete Ausgabe von 2003 trägt den Titel Dossier 113. In diesem Roman ist die eigentliche Ermittlung ausgesprochen kurz; erst auf den letzten ca. 40 Seiten tritt Lecoq überhaupt auf. Da Lecoq hier nicht im Vordergrund steht, wird dieser Titel nicht in die Untersuchung einbezogen. Hingewiesen sei bezüglich des Aspektes des Seriellen auf Sándor, Kálai (2016): »Pratiques sérielles dans le roman judicaire.« Entsprechend wird auch an einigen Stellen das Bild Gévrols als unfähiger Polizist gezeichnet, besonders durch die Kommentare Tabarets. Vgl. zum zeitgenössischen Bild der Polizei exemplarisch Schulze-Witzenrath, Elisabeth: »Emile Gaboriau und die Entstehung des roman policier«, 177f. Lecoqs Werdegang erinnert in L’affaire Lerouge an die Biografie Eugène François Vidocqs, der zunächst selbst als Krimineller und Spion agierte und 1810 die Sûreté gründete; entsprechend wird Lecoq als ehemaliger Krimineller eingeführt, der auf die Seite des Gesetzes getreten ist. In den Fällen, die Lecoq als Hauptfigur etablieren, wird jedoch seine Biografie verändert: Lecoq hat nun einen bürgerlichen Hintergrund als Sohn einer wohlhabenden Familie, studierte zunächst Jura und musste, als seine Eltern verstarben und er mittellos zurückblieb, eine Stelle als Gehilfe des Astronomen Moser ausfüllen. Als gelangweiltes Genie erdachte er sich hier die kühnsten Verbrechen und Pläne, sodass der Gelehrte ihn schließlich

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vor die Wahl zwischen einer Karriere als Verbrecher oder einer als Polizist stellte. Die Veränderung nimmt Lecoq den kriminellen Hintergrund und lässt ihn von Anfang an als integer erscheinen. Seine kriminelle Energie und sein Einfühlen in das Denken des Verbrechers werden so in den positiven Bereich des Intellekts und der Eingebungskraft verlagert. 12 Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 84. Der Terminus roman judiciaire hat sich nicht gehalten. Die Werke Gaboriaus werden heute als roman à énigme klassifiziert. 13 Hinsichtlich der Figurenentwicklung sei ergänzt, dass Lecoq bzw. Tabaret durch ihre Fehlbarkeit dem »Ideal des ›mittleren Helden‹ erheblich näher als ihr literarischer Vorgänger« kommen (Schulze-Witzenrath, Elisabeth: »Emile Gaboriau und die Entstehung des roman policier«, 162). Sie weisen eine »Entmystifizierung des positiven Helden« (ibid.) auf, die mit der »Institutionalisierung ihrer Tätigkeit korreliert« (ibid.) und damit eine entsprechende Entwicklung des französischen Kriminalromans anlegt. Schulze-Witzenrath weist eine unmittelbare Anknüpfung der Romane Gaboriaus und ihrer Aufklärungsarbeit zu Poe zurück. Dem stehe ein Mangel an Theorie und Methodenbewusstsein entgegen, aber auch »die auffällige Bezugnahme auf die zeitgenössische französische Strafverfolgung, die unverkennbar der Authentifizierung dient« (Schulze-Witzenrath, Elisabeth: »Emile Gaboriau und die Entstehung des roman policier«, 173). Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf Brahmi, Fatima: »L’apparence du héros policier.« 14 Schwarz sieht in dieser Konzeption eine Möglichkeit der Identifikation für die Leserschaft, wodurch sich der große Erfolg der Romane begründe (vgl. Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 154). 15 Tabaret in L’affaire Lerouge und Lecoq durch seine Liebe zu Nina in Le dossier No 113. 16 Obzwar Gaboriau vielfach als Begründer des roman policier gilt, so ist mit Fernandez anzumerken, dass »peu d’études lui ont été consacrés. La plus importante est […] de Roger Bonniot, Emile Gaboriau ou la naissance du roman policier. Il s’agit d’un ouvrage […] basé sur la biographie de l’auteur et sur des résumés des œuvres. Une thèse américaine […] [Curry, Nancy Ellen [1970]: The life and works of Emile Gaboriau] reste […] générale, parfois inexacte […]. Mis à part ces deux ouvrages et quelques articles, Emile Gaboriau est, dans le pire des cas omis, dans le meilleur des cas brièvement coté entre Edgar Allan Poe et Conan Doyle dans les ouvrages consacrés à l’histoire du roman policier.« (Fernandez, Virginie: Les espaces narratifs dans les romans policiers d’Émile Gaboriau, 10f.) Fernandez befasst sich mit der Darstellung des Raums in ausgewählten Werken Gaboriaus. 17 Benvenuti, Stefano/Rizzoni, Gianni/Lebrun, Michel: Le roman criminel, 22. 18 In Anlehnung an und Erweiterung von Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 153. Die beiden ersten Romane Gaboriaus, L’affaire Lerouge und Monsieur Lecoq, ereignen sich zudem um die Fastnacht herum, wodurch versteckt bereits der ludische Charakter des Kriminalromans angedeutet wird, dessen Einsatz der Tod ist. 19 Vgl. Fernandez, Virginie: Les espaces narratifs dans les romans policiers d’Émile Gaboriau, 11. 20 Ibid., 5.

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Gift ist in der Romanreihe häufiger die Mordmethode der Wahl, der Nachweis wird in zwei Fällen durch Lecoq thematisiert. Martin, E. P. (1973): »Entwicklung und Bedeutung naturwissenschaftlicher Kriminaltechnik«, 40. Schulze-Witzenrath, Elisabeth: »Emile Gaboriau und die Entstehung des roman policier«, 173. Fernandez, Virginie: Les espaces narratifs dans les romans policiers d’Émile Gaboriau, 5. Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf, 39. Messac, Régis: Le »detective novel« et l’influence de la pensée scientifique, 520. Hier zitiert nach Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 151. Depken, Friedrich (1914): Sherlock Holmes, Raffles und ihre Vorbilder, 19. Auch Doyle greift etwa in A Study in Scarlet hierauf zurück (vgl. ibid.). Am deutlichsten und umfangreichsten ist dieser Einschub in den Fällen Lecoqs. In L’affaire Lerouge ist sie hingegen am stärksten mit der eigentlichen Ermittlungsgeschichte verbunden. Vanoncini, André: Le roman policier, 26. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf Tilleuil, Jean-Louis (2005): »Enquête sociocritique sur L’affaire Lerouge (1866), d’Emile Gaboriau.« Chastaing, Maxime: »Sur les traces anglo-saxonnes de Gaboriau«, 80. Ibid. Vgl. Bonniot, Roger: Émile Gaboriau ou la naissance du roman policier, 140. Hühn, Peter: »Der Detektiv als Leser. Narrativität und Lesekonzepte im Detektivroman«, 239. Kursivierung im Original. Vgl. hierzu Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 193. Hühn, Peter: »Der Detektiv als Leser«, 240. Nach Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 193. Auf die Doppelstruktur weist bereits 1966 Tzvetan Todorov hin; der Rätselroman (roman-problème) hat nach Todorow eine Doppelstruktur, die sich aus zwei Geschichten zusammensetzt, scil. die des Verbrechens (histoire du crime) und die seiner Untersuchung (histoire de l’enquête); vgl. Torodov, Tzvetan: »Typologie des Kriminalromans«, 209f. Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 194. Vgl. ibid. Dethloff, Uwe: Literatur und Natur – Literatur und Utopie. Beiträge zur Landschaftsdarstellung und zum utopischen Denken in der französischen Literatur, 60. Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 124. Bonniot, Roger: Émile Gaboriau ou la naissance du roman policier, 359. Gaboriau, Émile (2003): Dossier 113, 57. Bell, David F.: »Reading Corpses: Interpretative Violence«, 92. Gaboriau versucht, möglichst realistische Romane mit abenteuerlicher, melodramatischer Handlung, mit einem starken Akzent auf dem Geheimnis zu schreiben und greift hierzu etwa für L’affaire Lerouge auf faktuale Ereignisse zurück (vgl. Bonniot, Roger: Émile Gaboriau ou la naissance du roman policier). Auch hier spielt damit die Publikationsform Feuilleton eine Rolle hinsichtlich der Verweisfunktion (siehe hierzu die Ausführun-

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gen zu Sue im 2. Kapitel). Holzmann untersucht die Gewaltdarstellung und -wahrnehmung im Krimi und führt zu L’affaire Lerouge aus, dass zwar die Grausamkeit des Mordes und die Leiche aus zwei Perspektiven dargestellt, die hiermit verbundene dramatische Spannung indes unmittelbar getilgt wird, sobald der Fokus auf der Analyse des Tatorts liegt (vgl. Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen, 253). Auch hier ist wie in L’affaire Lerouge mithin die Wahl des Tatorts historisch interessant, weil das sog. terrain vague zu dieser Zeit mit Kriminalität und Delinquenz konnotiert war (vgl. Goulet, Andrea: »Lecoq cartographe«, 45f.). Streng genommen in der Nacht vom 28. Februar. Von Beginn an ist es evident, dass Madeleine Prosper immer noch liebt. Gaboriau, Émile: Dossier 113, 163–173. Innerhalb der Analepse kommt es zum Wandel von externer zu interner Analepse. Die zur Trennung gezwungene Liebesgeschichte von Prosper und Madeleine, die Ermittlung Lecoqs in der Verkleidung Verdurets, das falsche Spiel Raouls und Louis’, die Liebes- und Mordgeschichte der Analepse. Gaboriau, Émile: Dossier 113, 168. Vgl. Bonniot, Roger: Émile Gaboriau ou la naissance du roman policier, 173 sowie 192. Les esclaves de Paris ist der letzte Fall Lecoqs, der inzwischen hoher Polizeibeamter ist. Der Roman schließt ebenso einen Kreis, denn er beginnt an einem 8. Februar, in einem besonders strengen Winter; eine Parallele zum ersten Fall Lecoqs als junger Ermittler in Monsieur Lecoq. Les esclaves de Paris ist im Übrigen der einzige Fall, der über eine genaue Temperaturangabe verfügt: »9 degrés 3 dixième au-dessous de zéro« (Gaboriau, Émile Les esclaves de Paris, 5). Dieses Detail der genauen Temperaturangabe wird später Doyles Dr. Watson übernehmen. Vgl. zu Spuren am Tatort auch Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, bes. 189, 197. Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 89. Ibid., 99. Kadane, Joseph B. (2009): »Bayesian Thought in Early Modern Detective Stories«, 239. Kadane mit Verweis auf Lindley, Dennis V.: Making Decisions, 104. Besonders deutlich wird dieser Ansatz, aber auch die genannte Problematik in L’affaire Lerouge. Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 184. In relativ ähnlicher Form findet sich dieses Schema aus Mord – Tatort und Tatortuntersuchung mit ersten Hypothesen – Clues, falsche Fährten – falscher Verdächtiger – Entlastung des falschen Verdächtigen – Überraschende Lösung am Ende mit der Überführung des wahren Täters später in den Sherlock-Holmes-Geschichten wieder. So weist Viktor Šklovskij auf die Ähnlichkeiten in den Holmes-Geschichten hin und auf ihre Gleichförmigkeit, die aus einer festen Abfolge als Grundschema resultiert: Der Klient legt Holmes ein Problem vor – die Indizien werden gesichtet – Holmes und Watson begeben sich zum Tatort – eine falsche Lösung wird angeboten – die richtige Lösung wird ermittelt – Analyse des Falls durch Holmes (siehe ausführlich: Šklovskij, Viktor: »Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle«, 76–94). Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 20.

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Ibid., 20. Ibid., 32 (Kursivierung durch Verf.). Die Schlussfolgerung Tabarets klingt zunächst wie Zauberei, doch erklärt er im Anschluss den Weg der Deduktion von den Spuren zur Schlussfolgerung. Durch diese Fähigkeit und die Tatsache, dass Tabaret dies als Leichtigkeit herausstellt, wird seine Genialität erhöht, nicht zuletzt, weil er Gévrol auch verbal diskreditiert. 61 Bonniot, Roger: Émile Gaboriau ou la naissance du roman policier, 141. 62 Wie bei Eugène Sue ist es mithin ein Haus, über das eine Verbindung zwischen Ermittler, Täter und Opfer hergestellt wird. Interessant ist zudem, dass Tabaret beim Essen auf den richtigen Gedanken kommt; Nahrungsaufnahme und erfolgreicher gedanklicher Prozess laufen hier parallel. 63 Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 20. 64 Depken, Friedrich: Sherlock Holmes, Raffles und ihre Vorbilder, 16. 65 Vgl. ibid. 66 Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 201. 67 Es ist die Weigerung, sein Alibi zu konkretisieren, die Tabaret an Albert de Commerin als Täter zweifeln lässt. Aber Richter Daburon, von Tabaret auf die Fährte Albert de Commerins gebracht, lässt sich von Tabaret nicht mehr umstimmen. 68 Um die Ehre Mlle d’Arlanges mit diesem heimlichen Treffen nicht in Gefahr zu bringen, verzichtete Albert aus altruistischen Motiven darauf, sie als Zeugin anzugeben (vgl. hierzu Depken, Friedrich: Sherlock Holmes, Raffles und ihre Vorbilder, 17. 69 Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 273. 70 Vgl. ibid., 296. 71 In den Fällen mit Lecoq als Protagonist wird die Rivalität des Schülers Tabarets mit Gévrol fortgeführt. Die Figur Gévrols als Ermittler in L’affaire Lerouge scheint bisher von der Forschung unterschätzt worden zu sein. Ein Image der Unfähigkeit der Polizei, wie sie in vielen späteren Kriminalromanen (so auch bei Holmes) aufgebaut wird, zeichnet sich erst mit der Figur Monsieur Lecoq ab, was aber prinzipaliter daraus resultiert, dass Gévrol hier als Kontrastfigur zum Genie Lecoqs fungiert. 72 Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 193 73 Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 197. 74 Alewyn, Richard (1971): »Anatomie des Detektivromans«, 389. 75 Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 197. 76 Vgl. Bonniot, Roger: Émile Gaboriau ou la naissance du roman policier, 200. 77 Vgl. zum terrain vague Broich, Jacqueline Maria/Ritter, Daniel: Die Stadtbrache als »terrain vague«, bes. 50ff., sowie ergänzend konzise zum polar Blanc, Jean-Noël: Polarville, 65. 78 Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 5ff. 79 Ibid., 5. 80 Kalifa, Dominique: Crime et culture au XIXe siècle, 19. Hinzu kommt, dass der Begriff des terrain vague »apparaissait aux XIXe siècle avec une fréquence remarquable dans les gazettes, les faits divers ou les romans consacrés au crime« (Goulet, Andrea: »Lecoq cartographe«, 45). Damit ist wie in L’affaire Lerouge die Wahl des Tatorts historisch interessant, weil das sog. terrain vague zeitgenössisch mit Kriminalität konnotiert war (Vgl. Goulet, Andrea: »Lecoq cartographe«, 45f.).

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Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 8. Ibid., 6. Ibid., 7. Ibid., 8. Ibid. Ibid. Dadurch, dass der Leserschaft der Blick verborgen bleibt und so kein Blick auf die eigentliche Szene ermöglicht wird, werden unheimliches Moment und Spannung potenziert. Vgl. Schulze-Witzenrath, Elisabeth: »Emile Gaboriau und die Entstehung des roman policier«, 160. D.h. der Schrecken wird wie in L’affaire Lerouge mit Betreten des Tatorts aufgelöst. Wobei er sich zunächst mit der Unfähigkeit seiner Kollegen konfrontiert sieht: »Peine perdue! Il n’y restait que très peu de neige, et tant de personnes avaient passé et piétiné qu’on ne discernait rien. Quelle déception après un si long espoir! Lecoq pleurait presque de rage.« (Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 28). Ibid., 33. Ibid. (Kursivierung durch Verf.). Möglicherweise entsteht hier mit der Arbeitsweise Lecoqs das Bild des Detektivs, der akribisch den Boden nach Spuren absucht und zu für die anderen Figuren (und die Leserschaft) überraschenden und genialen Schlussfolgerungen gelangt. Später werden Leroux’ Larsan (Le mystère de la chambre jaune) und Doyles Sherlock Holmes ähnlich agieren, und besonders Holmes wird dieses Bild des ermittelnden Detektivs festigen. Angemerkt sei, dass der Vergleich (Schnee als weiße Seite, Verhalten als écrire) etwa bei Holmes in The Beryl Coronet wieder erscheint. Vgl. zu Schnee und Eis als Metapher und Motiv: Frost, Sabine: Whiteout, 31. Ibid., 41. Hennig, Matthias: Das andere Labyrinth, 42. Vgl. Hühn, Peter: »Der Detektiv als Leser«, 239. Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 201. Die Analepsen erlauben an den Berührungspunkten mit der Basiserzählung zwar eine mehrfache Perspektive, jedoch ist dieser Teil der Ereignisse für die Leserschaft nicht nachzulesen, sondern existiert nur als Spur im Schnee. Das Vermögen des Spurenlesens wird so besonders herausgehoben und ist ein Teil der Geschichte. Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 35. Letztlich allerdings nicht durch Lecoq, sondern durch Tabaret. Dies ist fast schon ein Coup de théâtre, der aber historische Ursachen haben mag. Die Figur des Père Absinth, der durchaus über kriminaltechnische Kenntnisse verfügt und demzufolge es sogar zur Ausbildung der Polizisten gehört, Spuren im Schnee zu sichern, fungiert an dieser Stelle wie bei der Interpretation der Schneespuren (3.2.2.2) als eine Vorform der späteren Watson-Figur Doyles. Er ist die Mittlerinstanz, dem Lecoq seine Schneeanalyse erläutert, und die Kontrastfolie, durch die das Potenzial und die Genialität Lecoqs hervortreten. Angemerkt sei zudem, dass hier mit erstmalig eine Karte in einen Kriminalroman beigefügt ist. Ein Novum, welches später auch Autoren wir Gaston Leroux oder auch Agatha Christie verwenden.

Anmerkungen

100 Einen Einblick in das literarisierte Phänomen Whiteout bietet Frost, Sabine: Whiteout. 101 Frost, Sabine: Whiteout, 313. 102 Siehe 3.3.2 Lecoq – Nebel und Nacht. 103 Hühn, Peter: »Der Detektiv als Leser«, 239. 104 Vgl. Kalifa, Dominique: »Enquête judiciaire, littérature et imaginaire social au XIXe siècle«, 248, nach Goulet, Andrea: »Lecoq cartographe«, 43. 105 Entsprechende Abbildungen finden sich bspw. in den bekannten Christie-Romanen Evil under the sun oder The Mysterious Affair at Styles. Goulet und andere Interpretierende analysieren bezüglich der Karte Lecoqs die Spuren auf dem terrain vague, das als räumliche Konstruktion in den Fokus gesetzt wird. Dieser Ansatz soll nicht in Abrede gestellt werden, da er für die Analyse des Kriminalromans von ausgesprochener Relevanz ist. Es geht an dieser Stelle lediglich um einen anderen Schwerpunkt. Siehe ausführlich zur Karte Lecoqs: Goulet, Andrea: »Lecoq cartographe« bzw. Goulet, Andrea: »Gaboriau’s ›Vague Terrain‹ and the Spatial Imaginary of the Roman Policier«. 106 Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 8. 107 Ibid., 111f. 108 Ibid., 112. 109 Nur 47 Seiten später. 110 Ibid., 387f. 111 Matt, Peter von: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 81f. 112 Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 313ff. 113 Vgl. hierzu auch: Schulz-Buschhaus, Ulrich: »Roman policier et roman social chez Emile Gaboriau«, 7. 114 Wobei die Ernsthaftigkeit des Entschlusses bei Hector Comte de Trémorel fragwürdig ist und eher wie ein Spiel erscheint. 115 Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 223, auch 237. 116 Ibid., 225. 117 Ibid., 226. 118 Ibid. 119 Ibid., 239. Nicht unerwähnt bleiben sollte der Humor Sauvresys, der in seinem Gespräch mit Hector durchscheint und als »mauvaise grâce« (ibid.) ein fast juvenalisches Licht auf den späteren Selbstmordplan Sauvresys wirft. 120 Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 288. 121 Mauprévoir liegt in der Region Nouvelle-Aquitaine. Das Toponym erscheint allerdings aufgrund des sprechenden Namens im situativen Kontext besonders gesetzt. 122 Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 301. 123 Ibid., 305. 124 Ibid., 225. Trémorel wird am Ende erschossen. 125 Ibid., 305. 126 Ibid., 368. 127 Schulze-Witzenrath, Elisabeth: »Emile Gaboriau und die Entstehung des roman policier«, 164. 128 Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 135.

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129 Vgl. Reuter, Yves: Le roman policier, 21. 130 Vanoncini, André: Le roman policier, 92. 131 Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 136. Hier findet sich ein guter Überblick über den roman à suspense (ibid., 134–138). 132 Wobei das sonnenbedingte Spurenlesen, d.h. die Absence in Orcival, auf die Spitze getrieben wird. 133 Gaboriau, Émile: Dossier 113, 142. 134 Ibid., 283. 135 Erst fast sechs Monate später gelingt es Lecoq, die doppelte Identität von Mai zu lüften. Intertextuell ist diese Zeitspanne im Übrigen interessant, da sich später Sherlock Holmes hierüber amüsiert, weil er, seiner Meinung nach, hierfür nur 24 Stunden gebraucht hätte. 136 Auch die geplante Verhaftung des Comte de Trémorel ist für die Nacht angesetzt. Dies ist insofern interessant, als bspw. die Verhaftung des unschuldigen Albert zu Tagesanbruch erfolgt. Auch die Verhaftung der unschuldigen Männer in Orcival erfolgt bei Tage. Die Schuldigen werden nicht verhaftet; sie begehen Selbstmord (L’affaire Lerouge, Monsieur Lecoq), man lässt sie entkommen (Dossier 113) oder der psychische Druck wird zu groß, sodass sie in Phrenesie (Dossier 113, Le crime d’Orcival) verfallen. Der einzige Täter, der vor Gericht gebracht wird, findet sich in Monsieur Lecoq, doch hier wird das Verfahren wegen legitimer Notwehr eingestellt. 137 Genette, Gérard: »Le jour, la nuit«, 151. 138 Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 324. 139 In diesem Zuge verweisen Tag und Nacht auf die Beziehungen der Männer zu den Frauen: a) De Commerin – Mme Gerdy; b) Noël Gerdy – Juliette, die Noël ins Verderben stürzt (und wegen der Claudine Lerouge sterben muss); c) Daburon – D’Arlange, die Daburon das Herz bricht und unglücklich macht; d) Tabaret – Mme Gerdy, sie wird diskreditiert, er wendet sich von ihr ab. 140 Fernandez, Virginie: Les espaces narratifs dans les romans policiers d’Émile Gaboriau, 55. Fernandez bezieht sich eigentlich auf die Straßen von Paris. 141 Den Motiven liegen Probleme individuell-psychologischer Art zugrunde und die Täterfiguren weisen eine gewisse Identitätsproblematik auf, wie sie auch später charakteristisch werden wird. Hinzu kommen die klassischen Motive wie Liebe, Eifersucht, Machtstreben und Geld. 142 Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 122. 143 Ibid., 121. 144 Ibid., 122. 145 Interessant ist das, was bleibt, scil. eine nahezu psychosomatische Reaktion, denn Daburon wird über längere Zeit krank. 146 Bronfen, Elisabeth: Tiefer als der Tag gedacht, 171. 147 Aufgrund der nächtlichen errance (mit mörderischer Absicht) entsteht zwischen Daburon und de Commerin eine kurze Verbindung bzw. – in der Perspektive Daburons – eine Parallele. Albert de Commerin nennt als Alibi für die Mordzeit einen nächtlichen Spaziergang, eine errance, da er an diesem Tag die Wahrheit über seine Identität erfahren habe und entsprechend aufgewühlt war. Wegen der Parallele des

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gefühlten Identitätsverlusts neigt Daburon am Abend des Verhörs dazu, De Commerin zu glauben. Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 95. Ibid., 95. An diesem »wie er glaubte« deutet sich bereits als leiser Erzählkommentar eine Fährte an. Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 95. Ibid. Dies geschieht erst fast 200 Seiten später, nach einem Hinweis Gévrols, der den Mann der Witwe Lerouge ausfindig machen konnte. Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 324. Und im Rahmen des Regens, womit sich die Relation Sues (siehe Kapitel 2) quasi wiederfindet. Gaboriau, Émile: L’affaire Lerouge, 336. Über eine interne Fokalisierung werden in der Nacht der Flucht die Ereignisse um die Ermordung Claudine Lerouges konzise resümiert. Diese sind im Grunde eine Folge der pekuniären Situation Noëls, der, von Juliette verführt, zwischen Schein und Sein oszillierte. Ironie der Geschichte: Juliette Chaffour gibt sämtliches Geld aus und verliert die Wohnung, die ihr Gerdy ermöglichte. Weder der Verlust seiner Liebe noch sein Tod scheint sie zu berühren. Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 160. Besonders in Le crime d’Orcival zeichnet sich ferner der subtile und fast sardonische Humor Lecoqs ab. Lecoq verfügt darüber hinaus bereits in seinem ersten Fall über eine leichte Selbstverliebtheit mit prätentiösem Snobismus, die er nie wirklich loswird. Ein Tadel von Seiten des Richters treibt Lecoq etwa die Tränen in die Augen. Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 146. Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur, 267. Der Nebel und das rote Licht rekurrieren auf die Darstellung des Poivrière. Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 185. Ibid., 188. Nicht zuletzt aufgrund der Namenswahl ist der Ausschluss eines Verdächtigen über meteorologische Spuren in diesem Fall intratextuell amüsant. Als Gepäckstück ist der Koffer hier symbolisch hinsichtlich der Täuschung und der Identität Mais interessant. Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 154. Ibid., 155. Ibid., 198. Lecoq wird Zeuge, wie Mai zu einer bestimmten Uhrzeit eine chiffrierte Botschaft durchs Fenster erhält, ein Ereignis, dass es Lecoq sowohl erlaubt, sein kryptologisches Genie unter Beweis zu stellen, als auch weitere Hinweise über Mai zu erhalten. Gerade dadurch, dass Mai das Spiel durchschaut – Lecoq hatte versucht, diesem eine von ihm verfasste Nachricht zukommen zu lassen –, erweist Mai sich als scharfsinnig, sodass die Genialität Lecoqs durch die Lösung am Ende erhöht werden kann. Doch zunächst bekommt man Mai nicht zu fassen und die Monate vergehen.

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Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 225. Ibid., 242. Auch an dieser Stelle erscheint das rote Licht gleichsam symptomatisch. Der Nebel scheint ferner prädestiniert für ein neues Verbrechen Mais, denn Lecoq vermutet kurz in Mai einen Einbrecher, der, gerade aus dem Gefängnis entkommen, einen Verbündeten sucht, sich mit diesem im Schutz des Nebels der Rue de la Chaise nähert und mit dessen Hilfe über eine Mauer klettert. Des Komplizen können die Ermittler habhaft werden und so erfahren sie am nächsten Tag, dass sie durch Zufall Joseph Couturier, einen seit drei Monaten vergebens gesuchten Verbrecher, dingfest gemacht haben. Bezeichnenderweise geschieht dies kontrastiv zum Nebel und zur Nacht bei »grand jour« (Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 256.) Die Situation erinnert ein wenig an die Trick-Mauer in E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi. Gaboriau, Émile: Monsieur Lecoq, 146. Ibid. Vgl. ibid., 259. Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 190f. Ibid., 192. Robelot entzieht sich einer Bestrafung, indem er sich in dieser Nacht noch erhängt. Auch in Le dossier No 113 erscheint Lecoq in Verkleidung. Er begründet dies stets damit, dass er sich so vor Kriminellen, die ihm nach dem Leben trachten, schützen könne, da bis auf wenige Personen niemand wisse, wie er wirklich aussehe. Lecoq ermittelt mithin quasi »verdeckt«. Dies ist interessant, da auch Sues Gerolstein (s. Kapitel 2) sein Abenteuer als deduktive Instanz zunächst inkognito durchführt. Vgl. hierzu auch Schulz-Buschhaus, Ulrich: »Roman policier et roman social chez Emile Gaboriau«. Lecoq bedeutet dem Richter, dass ihm der Mord und die Umstände des Todes von Mme de Trémorel klar seien, ihm jedoch ebenso bewusst sei, dass der Richter ihm etwas verheimlicht. Der anbrechende Tag setzt dezidierterweise hier ein, um einen kontrastierenden Effekt zwischen den nächtlichen Morden, wie sie die Ausführungen Lecoqs und das Manuskript des verstorbenen Sauvresy konzipieren, und der Aufklärung zu kreieren. Nebel, Mordrätsel und Vergangenheit lichten sich: »Le jour était venu. Dans les allées du jardin, les merles effrontés couraient en sifflant.« (Gaboriau, Émile: Le crime d’Orcival, 202) Ibid., 114.

Léo Malet – Der Auftakt zum französischen roman noir 1 2 3

Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 114. Eine Auflistung der Fälle mit Arrondissement-Zuordnung findet sich im Anhang. Léo Malet (1909–1996) stammt aus Montpellier, wo sich heute der Fonds Léo Malet befindet. 1925 verschlägt es ihn nach Paris, wo er unter anderem als Chansonnier, Büroangestellter und Zeitungsausrufer arbeitet und zwischenzeitlich als Vagabund lebt. 1941 beginnt Malet, Kriminalromane zu schreiben. Für seine mehr als 50 Romane wurde er u.a. mit dem Grand Prix du Club des Détectives ausgezeichnet.

Anmerkungen

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Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 30. Siehe zur Orientierung im Bereich der hard-boiled novel Dulout, Stéphanie: Le roman policier, bes. 24–31; Kniesche, Thomas W.: Einführung in den Kriminalroman, 67–71; Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 48ff. sowie Suerbaum, Ulrich: Krimi, 127–160 und zum roman noir: Spehner, Norbert: Scènes de crimes, bes. 8–10. 6 Magritte zitiert nach Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive, 621. 7 Lebrun, Michel zitiert nach Schweighauser, Jean-Paul: »Malet Léo«, 267. 8 Wild, Gerhard: »Léo Malet«, 124. 9 Léo Malet zitiert nach Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 25. 10 Vgl. Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 24f. 11 Vgl. zur Figur Métals auch Pinçonnat, Crystel: »Maigret contre Metal: Georges Simenon et Léo Malet face à la tradition américaine du roman noir«. 12 Léo Malet zitiert nach Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 25. 13 Alfu: Léo Malet, 22. 14 Léo Malet zitiert nach Alfu: Léo Malet, 22, und Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 26. 15 Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 30. 16 Léo Malet: La vache enragée, 195f. Hier zitiert nach Vallerin, Gilles Gudin de/ Bouchard, Gladys: Léo Malet revient au bercail, 111 (Kursivierung durch Verf.). 17 Ein Freund Malets. Vgl. Grève, Claude de: »Des ›Mystères de Paris‹ d’Eugène Sue aux ›Nouveaux Mystères de Paris‹ de Léo Malet«, 151. De Grève vergleicht die MdP und die NMdP. 18 Vgl. auch Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 27. 19 Vgl. Schulman, Peter (2000): »Paris en jeu de l’oie: les fantômes de Nestor Burma«. Schulman befasst sich mit dem Aspekt der voyage in der Serie. Hingewiesen sei ferner auf den Artikel von Dittrich, Dankwart: »Un crime par arrondissement«, 117–128. 20 Der Surrealismus entsteht in Frankreich und ist als Bewegung besonders zwischen 1920 und 1940 aktiv. Den Surrealisten geht es kurz gefasst darum, beeinflusst unter anderem durch die Psychoanalyse Freuds, das Unbewusste zu erschließen. Der Surrealismus zielt »auf die Einbeziehung von Traum, Zufall, Wunderbarem in das Leben, was die Aufhebung der herrschenden Gegensätze von bewusst/unbewusst, rational/irrational, wirklich/imaginär, Handeln/Denken, Leben/Kunst bedeutet« (Grimm, Jürgen/Zimmermann, Margarete: »Dada und Surrealismus«, 334). 21 Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 27. 22 Vgl. ibid., 58. In den Nouveaux Mystères de Paris finden sich nicht nur direkte Anspielungen auf den Surrealismus, sondern auch vielfach die Einfügung von Meldungen aus den faits divers, die scheinbar nichts mit dem aktuellen Fall zu tun haben oder bspw. Abschnitte, die im Stil des stream of consciousness gehalten sind. Es finden sich aber auch Elemente, die das Wunderbare durchscheinen lassen, den anti-bourgeoisen Humor und den Widerstand gegen die Modernisierung von Paris. (Vgl. u.a. Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 139ff.; Goulet, Andrea: »Le soleil naît derrière le Louvre«, 147. Für Léo Malet stellt die Arbeit als Kriminalromanschriftsteller einen Bruch mit seinem bisherigen literarischen Schaffen im Kontext des Surrealismus dar, denn: »On est surréaliste, ou on écrit des romans policiers:

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les deux me paraissent incompatibles.« (Léo Malet zitiert nach Rohlff, Sabine). Der Bezug zum Surrealismus in den Texten Malets wird jedoch kontinuierlich herausgestellt. Vgl. hierzu etwa: Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 138ff.; Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers; hingewiesen sei zudem auf: Walz, Robin: Pulp Surrealism, 122f.) Vgl. etwa Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers. Lits, Marc: Le roman policier, 56. Abweichend zu Sues Held Gerolstein vermeidet Burma Selbstjustiz und fühlt sich der Polizei verpflichtet. Dennoch hält er zuweilen Teile seiner Ermittlungsergebnisse gegenüber Faroux zurück. Mit Wörtche ist anzumerken, dass es primär die geistige Haltung ist, die den Terminus »hard-boiled novel« hat entstehen lassen: »Die Moral des Detektivs muss […] nicht mehr die offizielle Moral von Recht und Gesetz sein, die in der Welt des Philip Marlowe [Chandlers Figur] keine allgemeinverbindlichen Größen sind. Diese geistige Haltung des Detektivs, nicht die Anzahl der Leichen oder die dargestellte Gewalt, führte zu dem Terminus ›hard boiled novel‹.« (Wörtche, Thomas: »Raymond Chandler«, 115) Durch die Perspektive des Erzählers ergibt sich ein deutlich männlicher Blick, der jedoch nicht (wie zuweilen im hard-boiled) ins Vulgäre abgleitet. Burma übernimmt zudem nicht die »genußvolle Gewalt gegen Frauen« des amerikanischen hard-boiled-Modells (Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 95). Allerdings zieht sich die Misogynie auch durch die NMdP. Eine Ausnahme zur Haupterzählstimme sind die Berichte von Hélène Chatelain, die Burma dann ins Feld schickt, wenn ihm als Mann bestimmte Bereiche verwehrt sind, d.h. es gibt Räume, die für die Detektivfigur nur mittelbar zugänglich sind. Diese Berichte (in M’as-tu vu en cadavre? und Boulevard… ossements) erfolgen aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin. Nach Rohlff stellen sie eine extrem weibliche Perspektive als Kontrast zu Burmas extrem männlicher dar (vgl. Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 60. Rohlff befasst sich ebenso mit der Erzählstrategie; siehe ibid., 58–71, bes. 65). Rohlff ist zwar zuzustimmen, dass dies einen »amüsanten Blick von außen auf den eigentlichen Erzähler« (ibid., 61) wirft, allerdings wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass Hélène Chatelains Ausführungen u.a. durch einen männlich sexualisierten Blick auf ihren (eigenen) Körper, wie auch auf den anderer Frauen, geprägt sind. Es entsteht mithin keine veritable Gegenperspektive, sondern Hélène Chatelain bestätigt die Sicht des Protagonisten. Scaggs, John: Crime fiction, 69. Hierbei ist mit Blick auf die umfangreiche Arbeit Guidices zu Chandler anzumerken, dass Nacht, Nebel oder Regen nicht par force die prägenden Umweltbedingungen des hard-boiled stellen. Renate Guidice befasst sich in Darstellung und Funktion des Raumes im Romanwerk von Raymond Chandler primär mit dem Raum und betrachtet in diesem Zuge auch das Wetter. Flückiger, Alex: Lexikon der internationalen Krimiautoren, 8. Blanc, Jean-Noël: Polarville, 72. Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 31. Keunen, Bart: »Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität«, 38. Ibid. Keunen bezieht sich auf Blanc (Polarville) und geht in der Übertragbarkeit des Wetters davon aus, dass es »die Ausdruckswahrnehmung doch auf dieselbe Art und

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Weise« ansprechen und somit auch auf die von ihm untersuchten Fälle von Heinichen und Krajewski bzw. auf die Kriminalliteratur bezogen werden kann. Ibid., 38. Ibid. Ibid., 49. Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 73. Blanc, Jean-Noël: Polarville, 72f. Blanc führt im betreffenden Abschnitt insbesondere exemplarische Textstellen von Georges Simenon, Horace McCoy und Alain Demouzon sowie Beispiele anderer anglophoner Autoren wie Chandler, Burnett, Trinian, Goodis, Valin, Lutz und Cook auf. Zu den anglophonen Autoren kann sich mit Ausnahme von Chandler hier nicht weiter geäußert werden, bei ihnen stellt nach Blanc der Regen ein regelmäßiges Element dar. Bei Chandler allerdings soll mit Verweis auf Giudice angemerkt werden, dass der Regen nicht signifikant hervortritt (vgl. Giudice, Renate: Darstellung und Funktion des Raumes im Romanwerk von Raymond Chandler). Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 180. Blanc, Jean-Noël: Polarville, 73ff. Blanc, Jean-Noël: Polarville, 78 (Kursivierung im Original). Die Relation von Regen und Stadt wird weiter unten thematisiert. Dieser Teil der Handlung spielt demnach nicht mehr im 9. Pariser Arrondissement. Malet, Léo: Boulevard… ossements, 100. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 120. Nicht aber zwischen den Taten. Benoit wurde aufgrund einer Verwechslung getötet. Damit wird für Burma etwas Verborgenes sichtbar, das nicht im ursächlichen Nexus zum Mord steht. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 7. Kurzfassung des Falles nach Alfu: »Engagé pour retrouver la fille de la riche Mme Ailot, Burma découvre que celle-ci a été autrefois la maîtresse d’un truand devenu collabo, dont les anciens complices tentent, par l’intermédiaire du fils, André, de retrouver un trésor de guerre. […] Mais il est à noter que l’atmosphère de luxe du XVIe arrondissement ne lui [Burma] convient visiblement pas.« (Alfu: Léo Malet, 138f.) Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 44. Ibid., 45. Vgl. zur Wetterbewertung Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter, 72. Zugegeben: Moralisch mag Bénech vielleicht kein Unschuldslamm sein, doch ist er am Diebstahl unschuldig und vielmehr eine der Spielfiguren von Mme Ailot, die ihn wie ihre Nichte als Bauernopfer für ihre Pläne einsetzt. Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 119. Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 31. Eine mögliche These zur Erklärung für die angenommene Regendominanz ist eine mediale Übertragung, die von der Einflusssphäre des film noir ausgeht bzw. die metaphorische Bildsprache aus Licht und Schatten auf regennassem Asphalt aufnimmt. Dies geschieht etwa in der Tradition Renoirs als Wegbereiter des film

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noir, der, wie Holzmann darlegt, eine »klaustrophobische und obskure Osmose aus Licht und Nebel, Nacht und Regen herausfiltert«. Gerhold, Hans: Kino der Blicke, 38. Hier zitiert nach Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen, 214. Über das Wetter im Text könnte sich eine ästhetische Erfahrung legen, wie sie das Medium des Films vermittelt – und damit visuell besonders präsent erscheint. Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 44–51. Rohlff verweist vor diesem Hintergrund auf die ironischen Bezüge zu den Auftritten der Klientel bei Doyles Holmes. Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 47. Ibid. Vgl. ibid., 50f. Ibid., 48. Ibid., 48f. Ibid., 49. Angemerkt sei, dass Brouillard au pont de Tolbiac mit Regen beginnt. Der Nebel kommt erst im 13. Arrondissement. Die erste Erwähnung von Naturphänomenen in Fièvre au Marais ist: »[M]auvais temps. Printemps pourri! La pluie, poussée par le vent […].« (Ibid., 9) Eine Ausnahme stellt Des kilomètres de linceuls dar. Hier findet sich die erste Wettererwähnung erst in Kapitel zwei, es ist aber auch der Fall, bei dem das Wetter am seltensten Erwähnung findet. Die unmittelbare Einbindung des Wetters fand sich bereits bei Gaboriau sowie mittels der Figur Dr. Watsons in den Holmes-Romanen von Doyle. Malet, Léo: Boulevard… ossements, 9. Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 11. Ibid., 11f. Torgovnik, Marianna: Closure in the Novel, 3f. Ergänzend sei hier die Wetterexposition zu Pas de bavards à la Muette zitiert: »Le printemps, cette année-là un peu à la bourre sur l’horaire, attaquait à tout berzingue dans l’intention de rattraper le temps perdu; les arbres ne s’étaient jamais vêtus de vert aussi brusquement, et les oiseaux emplissaient le bois de Boulogne de leurs piaillements joyeux. Pourtant, ce ne fut ensuite que sang et pourriture.« (Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 9) Die hier suggestiv aufgebaute euphorische Stimmung und Hast des Frühlings wird durch den letzten Satz nachgerade torpediert und durch den Erzähler als »Schall und Rauch«, als inexistent bzw. nicht-real entlarvt. Ist man mit dem Fall vertraut, so kann das meteorologische Bild entschlüsselt und auf die inhaltliche Ebene geführt werden. Die meteorologische Einstimmung wird zur Präfiguration der Fallentwicklung und sät erste Zweifel an der Integrität der prima facie lauter erscheinenden Figuren, wie Mme Ailot. Zudem beinhaltet die meteorologische Präsentation eine Zusammenstellung der Motive Mme Ailots, eine Referenz an die vermeintliche Mordszene an Bénech (das Kleid der Nichte, die nicht zuletzt versucht, verlorene Zeit zu gewinnen) sowie den Verweis auf Drogen, den »Diebstahl« und die nur vorgetäuschte Familienidylle. (Vgl. zur Motivfunktion »Schaltelement« Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur, XVIII.)

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Vgl. zum Motiv des Vampirs auch Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 78. 68 Dies bezieht sich auf die Hauptfigur in dem US-amerikanischen Film The most dangerous game (französischer Titel: La chasse du comte Zaroff, deutscher Titel: Graf Zaroff – Genie des Bösen) von Irving Pichel und Ernest B. Schoedsack (1932). 69 Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 11. 70 S. 4.4.3. 71 Bergougnoux wird von der Figur Zaroff inspiriert, damit wird Bergougnoux’ Ende präfiguriert. Das Nicht-Zeigen des Films lässt den Eindruck entstehen, Bergougnoux wolle dieses Ende, d.h. letztlich das Scheitern, nicht wahrhaben bzw. abwenden. 72 Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 178. 73 Wild, Gerhard: »Léo Malet«, 124. 74 Sodass Burma bspw. auch ohne Auftraggeber oder nach dem Tod eines Klienten ermittelt, um die Hintergründe aufzudecken. 75 Klein, Alfons: »Motive und Themen in Oscar Wildes Lord Arthur Savile’s Crime«, 79. 76 Vgl. Wild, Gerhard: »Léo Malet«, 124. 77 Malet, Léo: Micmac moche au Boul’Mich’, 11. 78 Vgl. zum »sparsam und subtil platzierten informants« des Wetters am Anfang Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 48. 79 Vgl. hierzu auch Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 52. 80 Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 219. 81 Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 261. 82 Malet, Léo: Micmac moche au Boul’Mich’, 237. 83 Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 77. 84 Gleichsam als frohe Botschaft im Sinne des Weihnachtsfestes. 85 Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 55. 86 Ansatzweise noch in M’as-tu vus en cadavre?, auf den auch Rohlff verweist; hier ist jedoch das dominierende Wetterphänomen der Nebel, mit dem der Roman auch abschließt. 87 Siehe 4.5.4. 88 Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 201. 89 Ibid. 90 Zur Sonne am Ende eines Burma-Falles sei auch auf den meteorologischen Abschluss in Les rats de Montsouris verwiesen. Dem geht ein Actionmoment, ein Showdown zwischen Täter(n) und Detektiv im Wasserspeicher Montsouris voraus: Burmas Leben wird durch die Täter unmittelbar bedroht. Als Burma entkommt und sich an die Oberfläche rettet, trifft ihn die Sonne wie ein Keulenschlag. Sie hat nichts Idyllisches an sich, markiert aber umso deutlicher den Kontrast zur Dunkelheit sowie die kontrastive Kälte des unterirdischen Wasserspeichers und referiert in aller physischen Deutlichkeit auf das Überleben der detektivischen Instanz. Auch hier enthält die Sonne ein kathartisches Moment für den Detektiv, ganz im Sinne eines Sich-befreiens von seelischer und physischer Anspannung, in der sich Burma des (Über-)Lebens nur zu deutlich bewusstwird. 91 Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen, 229.

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Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 182. Gumbrecht, Hans-Ulrich: »Surrealismus als Stimmung«, 26. Gumbrecht bezieht sich auf den Ausspruch Toni Morrisons »a touch like from inside« (ibid.). Nach Gumbrecht kann dieser »touch like from inside« ohne die materielle Berührung von außen, in diesem Falle des Wetters, nicht entstehen. Gerade diese »›Energie‹ des Surrealismus […] möchte ich als Stimmung auffassen […]« (ibid.). Vgl. auch Gumbrecht, Hans-Ulrich: Stimmungen lesen, 12. Hier führt Gumbrecht ergänzend aus, »dass Stimmungen als leichteste Berührung unseres Körpers durch die materielle Umwelt auch und eigentlich immer auf unsere Psyche wirken – ohne dass wir diesen Wirkungszusammenhang zu erklären (oder im Alltag zu kontrollieren) vermöchten« (ibid.). Léo Malet: La vache enragée, 195f. Hier zitiert nach: Vallerin, Gilles Gudin de/ Bouchard, Gladys: Léo Malet revient au bercail, 111. Der erste Roman spielt entsprechend im ersten Arrondissement, doch wird die numerische Abfolge bald aufgegeben. Durch verschiedene Umstände (etwa durch die Frustration Malets angesichts des sich schnell verändernden Paris’) wird die Reihe nicht abgeschlossen, d.h. einige Arrondissements (7., 11., 18.) bleiben weiße Flecken auf der Karte von Burmas Detektei Fiat Lux. Dahinter steht wiederum der Gegensatz zum klassischen englischen Rätselkrimi. Vgl. zur Darstellung des Raums im amerikanischen Großstadtkriminalroman Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, 95ff., hier 95. Vgl. auch Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 145. – Die Modi Operandi reichen von der Steinigung über Attentate in der Achterbahn und Verbrennen im Schmelzofen bis zum Ertränken im Weintank oder zum kunstvollen Arrangement der Leiche. Allerdings überwiegen im Gros der Fälle die klassischen Mordmethoden Erstechen, Erschießen, Vergiften. Das topografische Schema bedingt, dass die Kriminalität theoretisch beunruhigender erscheint als in den MdP, da sie überall existent ist und keinen Einzelfall innerhalb bestimmter sozialer Gruppen darstellt. Das ›ungute Gefühl‹ wird dadurch verstärkt, dass der ›Sieg‹ der ›Guten‹ über die ›Bösen‹ durch das perpetuelle Moment der Reihe fragwürdig erscheint, da eine Wiederherstellung der Ordnung am Ende eines einzelnen Falls von vornherein ausgeschlossen ist, solange die Reihe fortgesetzt wird. Nach Lotman lässt sich eine Erzählung in der Regel in zwei komplementäre Räume aufteilen, die von einer impermeablen Grenze getrennt sind. Die komplementäre Opposition der Teilräume entfaltet sich auf drei Ebenen: Topografisch (z.B. Himmel vs. Hölle), topologisch (bspw. oben vs. unten) und semantisch (etwa gut vs. böse). Die räumliche Ordnung wird damit auch zu einem Ordnungsprinzip für eigentlich nicht-räumliche Charakteristika, da etwa soziale oder moralische Modelle auf die Teilräume projiziert werden können und damit dem Raum auch eine moralische Ausdifferenzierung zugeordnet werden kann. Jedem semantischen Feld ist zudem eine Figur oder eine Gruppe von Figuren eingegliedert, die so auch zu einem jeweiligen Teilraum gehört. Die impermeable Grenze der Teilräume kann von einer für die Handlung tragenden Figur, der Held der Geschichte, übertreten werden. Das Modell Lotmans ist hier in besonderer Weise interessant, weil es durch die Zuschreibung von semantischen Strukturen möglich ist, zentrale Oppositionen im Text auf-

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zeigen, die über die reine Topografie hinausgehen. Ein spezifischer Raum ist damit nicht absolut, sondern er erscheint immer im Verhältnis zu einem anderen Raumfeld, damit ist der Raum mehr als ein reiner Hintergrund für die Handlung der Figur. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, 311ff. Eine räumliche Besonderheit weist der Fall Boulevard… ossements auf. Hier ist die Boutique, in der die Dessous-Modenschau stattfindet, Burma als Mann nicht zugänglich, sodass er seine Sekretärin Hélène auf Mission schicken muss. Eine andere räumliche »Unzugänglichkeit« findet sich in Du rébecca rue des Rosiers. Hier kann Burma zwar das Arrondissement betreten, doch wird ihm zunächst von den Bewohnern eine ablehnende Haltung entgegengebracht, sodass ihm auf der Interaktionsebene der Zugang verweigert wird. Im Gegensatz zu Burma, über den im Verlauf der Serie Hintergrundinformationen gewonnen werden können, bleiben die Adjuvanten und Freunde (Zavatter, Covet, Faroux, Hélène Chatelain) weitgehend stereotype bzw. flache Charaktere. Vgl. zu den Nebenfiguren Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 115ff., und zum Verhältnis von Privatdetektiv und Polizist bspw. Smith, Steve: »Between Detachement and Desire«, 125–136. Vgl. hierzu auch Goulet, Andrea: »Le soleil naît derrière le Louvre«. Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 125. Emanuel zitiert: Vilar, Jean-François: »Les pas perdus de Nestor Burma« aus Le Monde (01.08.1986), 9.« Ausnahmen bilden etwa der Wasserspeicher von Montsouris, der zum Schauplatz des Showdown wird, oder das Café Flore. Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 160. Dabei fällt auf, dass viele einen thanatalen Bezug aufweisen, der möglicherweise im Gattungsrahmen begründet ist. Im Prinzip bilden Burmas Ermittlungen einen einzigen langen Monolog mit surrealistischen Implikationen, der das Kernthema der NMdP, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, doppelt. Die Verbrechen haben häufig einen kausalen (oft kriminellen) Ausgangpunkt in der Vergangenheit der Figuren und weisen eine Verbindung zur Aufarbeitung des Krieges oder seiner Folgen auf, wodurch diese, da subjektiv geprägt, individualisiert werden und das Schicksal des Einzelnen herausstellen. Persönliche Implikationen Burmas finden sich diesbezüglich in Fällen wie Des kilomètres de linceuls, Les rats de Montsouris, Les eaux troubles de Javel sowie besonders in Brouillard au pont de Tolbiac, dem einzigen Fall, in dem sich Burma mit seiner Vergangenheit bei den Anarchisten und Vegetaliern auseinandersetzt. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 107. Die meteorologische Station im Parc Montsouris gibt es seit 1872. Eine weitere Stelle findet sich in Hélène Chatelains Bericht in Boulevard… ossements: »Il faut dire aussi que l’après-midi est orageux, lourd et moite comme un aprèsmidi d’été. Nous ne sommes qu’au printemps, mais depuis leurs saletés de guerres les saisons sont détraquées.« (Malet, Léo: Boulevard… ossements, 79). »[…] par un beau soleil, je m’éveillai […] complètement d’attaque« (Malet, Léo: Des kilomètres de linceuls, 114). Ibid.

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Hier exempl. Malet, Léo: L’envahissant cadavre de la plaine Monceau, 126. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 19. Malet, Léo: M’as-tu vu en cadavre?, 184. Malet, Léo: Fièvre au Marais, 117. Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 180. Ibid., 179–181. Rohlff zitiert zum Nebel ausschließlich Stellen aus Brouillard au pont de Tolbiac. 116 Léo Malet: La vache enragée, 195f. Hier zitiert nach Vallerin, Gilles Gudin de/ Bouchard, Gladys: Léo Malet revient au bercail, 111 (Kursivierung durch Verf.). 117 Beispielsweise wird in Fièvre au Marais (4. Arr.) ein Opfer in einem Brennofen verbrannt oder in Le soleil naît derrière le Louvre (1. Arr.) spielt der Diebstahl eines RaffaelGemäldes aus dem Louvre eine Rolle. 118 Ein interessantes Beispiel ist Les eaux troubles de Javel. Hier wird der räumliche Bereich durch Burma auf die Rue de la Saïda im 15. Arr. konzentriert und mit dem Dezemberregen, also dem Wetter, verbunden. Obwohl die Sonne sich über Paris zeigt, bleibt für diese Gegend nichts übrig. Durch das Wetter und Burmas Apperzeption desselben erscheint auch das im Fokus stehende Haus in einer bestimmten Art und Weise: Ohne nähere Beschreibung wirkt es durch die enge Verbindung zum Wind, die saisonale Anbindung und den hiervon ausgehenden Eindruck von Trostlosigkeit und Grau deprimierend und entmutigend. Diese Wirkung überträgt sich auf das Schicksal der Bewohner und bes. auf Mme Demessy. Durch die meteorologische Bewertung, die Verknüpfung zum Haus und zum ganzen Fall entsteht eine verbitterte und düstere Atmosphäre. In Pas de bavards à la Muette manifestiert sich das Zusammenspiel von Wetter, Thema und Stadt besonders über ein Paris-Topos, den Eiffelturm. Die meteorologisch-lokale Wirkung bzw. der Blick für das Zusammenspiel verändert sich, je weiter Burma in den Fall hineingezogen wird. Auffallend wird die Verbindung zum Eiffelturm, da es sich um ein Stadtelement handelt, das in den NMdP eher selten erscheint und daher per se ins Auge springt. Wahrzeichen von Paris werden nicht zum Schauplatz des Geschehens, sondern eher aus der Distanz wahrgenommen. Sie erscheinen dabei immer auch in Verbindung mit Naturphänomenen wie in Corrida aux Champs-Élysées oder Le soleil naît derrière le Louvre. Das Quartier, in dem die Ailots wohnen, mutet zu Beginn des Romans beschaulich an, obwohl die Villa der Ailots durch einen Wolkenkratzer im Hintergrund erdrückt zu werden scheint (Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 9). Der Eindruck der Villa wird wie ein surrealistisches Bild angelegt und verweist dadurch auf den Umstand, dass hinter der scheinbar so geschmackvollen Fassade etwas anderes ist. Bei der Erkundung durch Burma wirkt das Areal beinahe ländlich und der Eiffelturm in der Ferne ist in das idyllische Bild integriert: »Toute grise, […] mais d’une extraordinaire netteté, vraiment sous un éclairage idéal, la tour Eiffel se découpait sur un ciel sans nuage. Et dans les arbres […] des oiseaux chantaient« (ibid., 34). Wenn auch prima facie idyllisch, scheint eine Irritation durch und verweist auf die Figurenkonstellation. Das, was Burma bei Mme Ailot gezeigt bekommen hat, ist von herausragender Sauberkeit gewesen, d.h. fast schon zu sauber, zu ideal – und es wird sich im weiteren Verlauf als zurechtgeschnitten erweisen. Auch das Moment des scheinbaren faire chanter findet sich bereits in der Impression des Stadtausschnitts. Auffallend ist

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die sukzessive Veränderung (vgl. bspw. ibid., 49) der Präsentation des Eiffelturms zu einem metaphorisch über dem Quartier stehenden Mordinstrument: »[…] la tour Eiffel, qui surgissait tel un poignard dirigé vers le ciel« (ibid., 202). – Der Eiffelturm ist ab 1889 eines der markantesten Merkmale der Paris-Topografie und »Raumsymbol einer optimistischen, fortschrittsgläubigen bürgerlichen Gesellschaft«, sodass er poetisch als phare fungiert (Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 178). Als solcher steht er über der Stadt und so ist ihm eine wegweisende und beschützende Funktion inhärent. In den NMdP wird diese Bedeutung indes qua Auflösung »pervertiert« (ibid., 179). Gerade die Pervertierung der schutzgebenden Funktion findet sich in der Verkehrung bzw. der Auflösung der Familienfunktion deutlich an der Familie Ailot, insbesondere durch die Täterin Mme Ailot, wieder. Das sich verändernde Bild von Wetter und Eiffelturm entwickelt sich mit dem Fall, bis Burma am Ende die Wahrheit aufdeckt. Nebel findet sich nur in Brouillard au pont de Tolbiac als ein Hauptwetterphänomen, daneben vereinzelt in Le soleil naît derrière le Louvre und Du rébecca rue des Rosiers. Das Wetter beeinflusst auch die Wahrnehmung von Innenräumen. Als Burma bspw. in Micmac moche au Boul’Mich’ in Faroux’ Büro wartet, erzeugt die Humidität draußen einen spezifischen und intensivierten olfaktorischen Eindruck des Polizeireviers. »[…] par un beau soleil, je m’éveillai […] complètement d’attaque« (Malet, Léo: Des kilomètres de linceuls, 114). Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 55. Ibid., 99. Räumlich interessant ist, dass die Agentur an der Grenze zweier Arrondissements liegt, also im strukturalen Aufbau der Reihe einen intermediären Ort besetzt. Malet, Léo: Fièvre au Marais, 172. Malet, Léo: Boulevard… ossements, 9. Malet, Léo: Fièvre au Marais, 130. Diesbezüglich ist anzumerken, dass die Reihe der NMdP nicht abgeschlossen wurde. Eine Ausnahme ist Des kilomètres de linceuls. Pas de bavards à la Muette spielt wiederum im Frühling, sodass die Sommerfälle von zwei Frühlingsfällen meteorologisch umklammert werden. Malet, Léo: M’as-tu vu en cadavre?, 35. Fièvre au Marais impliziert durch den Titel eine gewisse Hitze; im weitesten Sinne kann der Fall dem künstlerischen Bereich (Kunsthandwerk) zugeordnet werden. Der Regenanteil liegt bei 0 Prozent. Die Kurzfassung des Falls lautet nach Alfu: »Nestor Burma se retrouve dans l’univers des trafiquants de drogue en fréquentant des gens de cinéma, dont le producteur Henri Laumier qui aurait voulu acheter un procédé de prise de vues révolutionnaire avec l’argent obtenu grâce à un stock de drogue récupéré accidentellement. Toutefois les truands ne lui laissent pas la vie, même si Burma réussit à les faire arrêter. Nestor Burma […] revient ici en plein cœur du 7e Art, dans l’arrondissement des producteurs (le VIIIe ).« (Alfu: Léo Malet, 138) Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, 15f. Kursivierung im Original.

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135 Vgl. ibid., 15. 136 In der Verbindung erscheint die Übersetzung in die Sprache der nunmehr »verlorenen« Schauspielerin nicht zuletzt als intertextueller Verweis auf Poes Nevermore und eine damit assoziierbare Dysphorie. 137 Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, 28f. 138 Eine weiterführende Betrachtung des Leichenfundortes dieses Falles findet sich in 4.4.3.2 139 Im Frühlingsfall Pas de bavards à la Muette erscheinen sie während des »Spaziergangs« mit Bénech, der Figur, die innerhalb der Burma-Reihe dezidiert mit dem Regen verbunden ist. Die Ungewöhnlichkeit der Verbindung zwischen dem sich spiegelnden Licht der Laternen und dem Frühling wird expressis verbis indiziert. 140 Malet, Léo: M’as-tu vu en cadavre?, 107. 141 Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 44. 142 Ibid., 45. 143 Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, 28f. 144 Es sei die »peinture pointilliste de Paris [qui] a fait dire à Gilles Costaz de Léo Malet qu’il était le ›Léon-Paul Fargue du roman policier‹« (Alfu: Léo Malet, 52). 145 Malet, Léo: Boulevard… ossements, 151. Was hier erlebt wird, ist nicht die Stadt, sondern die Wirkung der Jahreszeit in der bzw. auf die Stadt. Denn auch hier steht der fast erhabene Moment im Kontext von Burmas Fall, der Blick aus dem Fenster erlaubt scil. auch einen Blick auf das einbeinige Skelett im Nachbarhaus. Die Wahrnehmung von Wetter und von Stadt ist vielfach ambivalent und hinter der Schönheit des Moments steht etwas anderes, sodass gerade aus der surrealistischen Wahrnehmung des Wetters ein Gefühl der Doppeldeutigkeit, des Dahinter, perzeptibel wird. 146 Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 172. Gleiche Beobachtungen und Funktionen bzw. Bedeutungszuschreibungen finden sich zum polar (verallgemeinert) bei Blanc, Jean-Noel: Polarville. Rohlff verweist zur Stadt wie Blanc in Polarville auf bevorzugte Räume des roman noir bspw. das terrain vague. Dies ist jedoch m.E. entgegen der Feststellung Rohlffs in den NMdP nicht (nur) die Verkehrung der Stadt in ihr Gegenteil und ein Bild der Leere und wilden Vegetation (ibid.), sondern stellt gerade in individueller Aneignung bspw. in L’envahissant cadavre de la plaine Monceau einen potenziellen Schutzraum, einen Ort der Sicherheit und Leidenschaft, den Ort eines anderen Lebens dar. 147 Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 111. 148 Malet, Léo: Des kilomètres de linceuls, 168. 149 Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 12. 150 Malet, Léo: Des kilomètres de linceuls, 168. 151 Ibid., 137. 152 Léo Malet zitiert nach Alfu: Léo Malet, 22, und Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 26. 153 Alfu: Léo Malet, 71. 154 Ibid. 155 Bzw. mit dem Verschwinden Burmas in der Nacht, nachdem er Zeuge dieser Bestrafung wurde.

Anmerkungen

156 Burma, der in diesem Fall die Bestrafung resp. Selbstjustiz durch Steinigung zulässt, ist am Ende nur Beobachter und verschwindet schattengleich in der Nacht: »Je démarre et m’enfonce dans la nuit.« (Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 261). 157 Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 228. 158 Für die anderen Burma-Romane mag Alfus Feststellung durchaus zutreffen. Für die NMdP tut sie dies nicht. Alfu bezieht sich zwar auf alle Werke Malets, führt aber gerade einmal zwei Textstellen aus den Nouveaux Mystères de Paris an. Als Ersatz für die Nacht nennt Alfu den Regen zur Erzeugung einer »atmosphère nocturne« (Alfu: Léo Malet, 71). Der aber ja in den NMdP auch nicht so häufig erscheint. 159 Vgl. Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 12. 160 Bezieht man Wetterphänomene, die eine Verdunklung der Umwelt herbeiführen, wie Nebel oder Regen, mit ein, trifft dies auf insgesamt acht und damit auf mehr als die Hälfte der NMdP zu. 161 Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 196. 162 In Pas de bavards à la Muette hebt der Hotelier dieses Moment der belebten Nächte sogar hervor. (Vgl. ibid., 44f.) 163 So sind bspw. die Sommerfälle zwar saisonal und thematisch verbunden, verfügen jedoch jeweils über eine individuelle meteorologische Faktur. 164 Siehe auch 4.3.1. 165 Alfu: Léo Malet, 59. 166 Ein Beispiel hierfür wäre Pas de bavards à la Muette. 167 Exemplifizierend in Malet, Léo: Fièvre au Marais: 98. 168 Zusammenfassung des Falles nach Alfu: »Nestor Burma, à la suite d’un attentat perpétré dans l’enceinte de la Foire du Trône, découvre qu’une jeune fille qui doit hériter d’un négoce de vin, est menacée par une bande à la recherche d’un magot d’or volé quelques années plus tôt avec la complicité de son père. La jeune fille, apprenant que sa mère n’est pas étrangère à la mort de son père, finit par se suicider, tandis que Burma touche la forte prime de l’assurance. La Foire du Trône et les entrepôts de bercy – aujourd’hui disparus, – sont les principaux lieux de ce XIIe arrondissement où sévit le crime. Toujours aussi doué pour dénouer les écheveaux les mieux embrouillés, Burma joue une fois de plus les détectives virtuoses. Mais il ne peut réparer l’irréparable et sauver les gens de leur destin.« (Alfu: Léo Malet, 140). 169 Malet, Léo: Casse-pipe à la Nation, 191. 170 Malet distanziert in Les rats de Montsouris Burma dezidiert vom Spurenlesen des roman à énigme, wenn er ihn konstatieren lässt: »Je ne suis pas Sherlock Holmes.« (Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 110). 171 Malet, Léo: Casse-pipe à la Nation, 190. 172 Ibid., 192. 173 Ibid., 208. Mme Parmantier resümiert hier auch einen für die NMdP interessanten naturphänomenologischen Nexus: Die »interessanten« Ereignisse werden vielfach in die Nachtstunden verlegt. So ereignen sich einige der Morde nachts, während die Informationseinholungen für die Aufklärung oft, aber betonterweise nicht immer, am Tag stattfinden, die Konfrontation mit den Tätern wiederum eher in den Abendstunden, resp. nachts. Im Sinne des Burma’schen Firmenmottos Fiat Lux enden die

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Fälle in der Majorität bei Tag oder Tagesanbruch; exemplifizierend sei hier auf La nuit de Saint-Germain-des-Prés verwiesen oder auch auf Les rats de Montsouris. Dies ist aber kein Grundprinzip innerhalb der NMdP. So gestaltet sich der Aufbau auch hier fallspezifisch individuell, wie am Beispiel Micmac moche au Boul’Mich’ hinsichtlich der Schwarz-Weiß-Entwicklung vom Anfang zum Ende angemerkt wurde. Nichtsdestotrotz schreibt auch Burma der Nacht eine besondere erkenntnisrelevante Bedeutung zu, wenn er konstatiert, man lerne vor allem nachts dazu oder die Nacht wisse Rat. In Pas de bavards à la Muette wird dies wie dargestellt genutzt, führt aber den Detektiv zunächst auf eine falsche Fährte. In Pas de bavards à la Muette schließt Burma bspw. von den Farben des Anzugs eines Mannes – viel zu hell für diese Jahreszeit – auf dessen gute finanzielle Verhältnisse. Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive, 620. Angemerkt sei, dass die Nutzung des Zwillingsmotivs einer der sog. Regeln des Detektivromans von S. S. van Dine widerspricht. Dem Literatur- und Kunstkritiker Willard Huntington Wright, (1888–1939), der unter dem Pseudonym S. S. van Dine 1926 den ersten Kriminalroman um den Privatdetektiv Philo Vance veröffentlichte, war es ein Anliegen, das Niveau des Genres Krimi zu erhöhen. Zu diesem Zweck entwickelte er 20 Regeln, die er 1928 publizierte. Deren letzte Regel lautet: »20. And (to give my Credo an even score of items) I herewith list a few of the devices which no self-respecting detective story writer will now avail himself of. They have been employed too often, and are familiar to all true lovers of literary crime. To use them is a confession of the author’s ineptitude and lack of originality. […] (f) The final pinning of the crime on a twin, or a relative who looks exactly like the suspected, but innocent, person. […].« (Van Dine, S. S.: Twenty rules for writing detective stories) Später wurden die 20 Regeln aufgrund ihrer teilweisen Redundanz auf zehn zusammengefasst. Malet, Léo: Le soleil naît derrière le Louvre, 21. Ibid., 203. Das veränderte Verhalten resultiert aus der Tatsache, dass es sich um den anderen Zwilling handelt. Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, 119. Ibid., 155. Ein weiteres Bsp. findet sich etwa in Les rats de Montsouris: Hier erkennt Burma, dass die Hitze Madame Courtenay davon abhält, die blutbefleckte Kleidung zu verbrennen, die er in der Folge dann finden kann. Ein weiteres Beispiel findet sich in L’envahissant cadavre de la plaine Monceau. Malet, Léo: M’as-tu vu en cadavre?, 149. Ibid., 167. Ibid., 204, 210. Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 60. Siehe dies. zur ausführlichen Darstellung des surrealistischen Einflusses in den NMdP. Malet, Léo: Boulevard… ossements, 160. Malet, Léo: Le soleil naît derrière le Louvre, 61. Vgl. auch Bambach-Horst, Eva: »Surrealismus«, 341. Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 66. Malet, Léo: M’as-tu vu en cadavre?, 109f.

Anmerkungen

191 Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 103. Als traumhaftes Erleben lacht Burma hier quasi über sich selbst. 192 Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 71. 193 Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 102. 194 Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 165. 195 Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 174. 196 Freilich untersucht auch Burma die Tatorte etwa in La nuit de Saint-Germain-des-Prés oder nachträglich in Pas de bavards à la Muette. 197 Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 74. 198 Alfu: Léo Malet, 92. 199 Ibid., 59. 200 Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 120. 201 Vgl. zum Raum des klassischen englischen Rätselkrimis, der als prototypisch betrachtet wird, exemplarisch: Egloff, Gerd: Detektivroman und englisches Bürgertum. Konstruktionsschema und Gesellschaftsbild bei Agatha Christie; Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, bes. 88–95; Nusser, Peter: Der Kriminalroman, bes. 45ff. Spannend ist das vereinzelte Erscheinen bzw. die Wiederkehr der scheinbaren Idylle in den Raumgestaltungen etwa bei Chandler. Vgl. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, 96. Dadurch, dass der hard-boiled sowohl Raumkonzepte des roman à énigme aufweist als auch zur atmosphärischen Einstimmung auf die meteorologischen Elemente des Schauerromans zurückgreift (vgl. hierzu Giudice, Renate: Darstellung und Funktion des Raumes im Romanwerk von Raymond Chandler, 68f.), entsteht für den roman noir eine potenzierte Rahmung. 202 Malet, Léo: L’envahissant cadavre de la plaine Monceau, 5. 203 Ibid., 9. 204 Malet, Léo: Fièvre au Marais, 9ff. 205 Vgl. zur Ortswahrnehmung von Chandlers Marlow: Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, 98. 206 Grebstein formuliert, so Nusser, neben der genannten »Gelassenheit gegenüber dem Tod« zwei weitere Kriterien für die Helden des hard-boiled, zum einen »die physische Kraft und ein eiserner Wille, der auch körperliche Schmerzen ertragen hilft; dann die Kontrolle über die eigenen Affekte, speziell in der Situation der Berufsausübung, wodurch sich die Helden auf humane Weise von ihren Gegenspielern abheben […]« (Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 119). 207 Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 7ff. 208 Diese Relation wird in einigen Fällen über die bloße Integration hinaus funktional und Facette der metameteorologischen Deduktion etwa in Pas de bavards à la Muette, Corrida aux Champs-Élysées oder in Brouillard au pont de Tolbiac, wo sich die Verweisfunktion des Nebels an Tat-/Leichenfundorten auf ein Ereignis bzw. Verbrechen in der Vergangenheit findet, scil. bei der Leiche Ballins (1956) und den Raubüberfall 1936. 209 Giudice, Renate: Darstellung und Funktion des Raumes im Romanwerk von Raymond Chandler, 88f. Die Befunde zum Wetter erfolgen bei Guidice unter dem Fokus der Raumgestaltung. Farewell, My Lovely ist der zweite von sieben Romanen. 210 Torgovnik, Marianna: Closure in the Novel, 3f.

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Malet, Léo: Les rats de Montsouris,12. Ibid., 13. Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 25. Ibid., 28f. Statt eines Blitzes als Wettermotiv aus dem Katalog des Schauerromans fungiert das flackernde rote Licht des Hotels als Effekt des »Unguten« bzw. »Schauderlichen« und entwirft eine ähnlich irritierende Qualität. Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 29. Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 78. Emanuel führt als Beispiel das Vampir-Bild in den Malet-Romanen an. Menninghaus, Winfried: »Scobel: Ekel und Horror«. Der Moment des Ekels findet sich bspw. auch bei der Leiche Bramos in Du rébecca rue des Rosiers, hier allerdings ist das herrschende Wetterphänomen in diesem Moment der Regen, wodurch eine andere Qualität entsteht. Diese intensive Wahrnehmung und Darstellung, über mind. vier Sinne, findet sich prinzipaliter in den Sommerfällen. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 49f. Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadaveres, 78. Emanuel bezieht sich insbesondere auf das Vampir-Bild. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 42. Generell zeigt sich das Wetter den weiblichen Figuren eher zugetan; in der Regel müssen sie nicht durch den Regen gehen oder Hélène Chatelain muss weniger unter dem heißen Wetter leiden als ihr Chef Burma. So scheint sie etwa nicht zu schwitzen. Als Hortense Demessy weint, greift der Himmel ihre Traurigkeit und Verzweiflung auf und es regnet in Strömen. Ein beliebtes Bild, das in zahlreichen Fällen der Reihe erscheint, ist zudem das des Windes, der durch die Haare einer Frau streicht und so ihre Schönheit hervorhebt. Auch das Wetter um Hélène Chatelain in Fall 6 zeichnet sich durch schöne und sonnige Wetterlagen aus. Bereits am Anfang kann sie während des letzten sommerlichen Moments mit Burma einen Spaziergang machen, in ihrer Erzählung scheint die Sonne und weckt Assoziationen an Kastanienblätter, während sich der restliche Roman (in der Perspektive Burmas) deutlich herbstlich geprägt zeigt. Starck-Ottkowitz, Eva: Leonora Carrington, 39. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 111. Deutlich zeigt sich dies etwa auch an der weiblichen Leiche in der Badewanne in Casse-pipe à la Nation, die Burma zufolge Spuren eines Overkills aufweist. Trotz aller potenziell slasherartig exponierbaren Blutigkeit bleibt der Blick fast gezielt distanziert und wird nicht wie bei Ferrand auf die Wunde(n) gerichtet. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 112f. Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 173f. Hierbei erinnert die Inszenierung ihres toten Körpers an Schwitters surrealistische absurd-hintersinnige Kompositionen aus Gerümpel und Mülleimern. Vgl. Hess, Walter: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, 174. Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, 42. Ibid., 43.

Anmerkungen

232 Markant erscheint hier die Hervorhebung des Windes als »tiède«; im Kontext des weiteren Verlaufs ließe sich dies als Hinweis darauf deuten, dass Lucie Ponceau noch lebt und noch nicht tot ist. 233 Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, 47. 234 Zur Schönheit der weiblichen Leiche: Bronfen, Elisabeth: »Nachwort«, in: Die schöne Leiche, 376–429. 235 Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, 61. 236 Ibid., 78f. 237 Siehe ausführlich zur Figur Burmas und seiner Biografie auch Baudou, Jacques: Les nombreuses vies de Nestor Burma. 238 Alfu: Léo Malet, 100f. 239 Ibid., 90. 240 Léo Malet: Brouillard au pont de Tolbiac, XI. 241 Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 101. Diese exemplarische Darstellung des Wetters durch Burma ist nach Alfu »parfaitement symbolique de l’état d’esprit de son auteur, de son fatalisme et surtout de sa résignation […].« (Alfu: Léo Malet, 91). 242 Giudice, Renate: Darstellung und Funktion des Raumes im Romanwerk von Raymond Chandler, 263f. 243 Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 173. 244 Malet, Léo: Boulevard… ossements, 31f. 245 Malet, Léo: L’envahissant cadavre de la plaine Monceau, 189. 246 Dieser Schlag auf den Kopf wird im ersten Fall der NMdP gleichsam metanarrativ als Teil des Ermittlungsprozesses definiert. Malet, Léo: Le soleil naît derrière le Louvre, 183. 247 Wild, Gerhard: »Léo Malet«, 124. 248 S. u. den Abschnitt Wetter und Deduktion. 249 Malet, Léo: M’as-tu vu en cadavre?, 109f. 250 Malet, Léo: Des kilomètres de linceuls, 99. 251 Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 65. 252 Vgl. ibid., 61. Variabel gestaltet sich die Erzähldistanz von aufgehobener Distanz zu völliger Entfremdung. 253 Spitzer, Leo: »Zum Stil Marcel Prousts«, 478, zitiert nach Lahn, Silke/Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse, 82. 254 Ausgenommen von der chronologischen Ordnung sind ferner Prolepsen, die als düstere Vorahnungen daherkommen, wie in der meteorologischen Exposition in Pas de bavards à la Muette, die sich decodiert als gesichert erweisen. 255 Vgl. zur Erzählzeit in den einzelnen Romanen Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, 62f. 256 Bspw. in Pas de bavards à la Muette oder Brouillard au pont de Tolbiac. In diesem 9. Fall ist der Nebel zudem einmal so dicht, dass er dem moi-narré Schutz bietet, allerdings ist er wiederum während der Verfolgungsjagd nur so dicht, dass zwar eine spannungssteigernde Atmosphäre entsteht, aber der von Burma Verfolgte sich nicht im Nebel verstecken kann. 257 Zudem nimmt der Erzähler an einigen Stellen unbeteiligte Figuren in den Blick, die keine Fallimplikation aufweisen, sich also als Projektionsfläche für Kommentare

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des Protagonisten anbieten. Über sie wird, mit ironischem Unterton, die Relevanz des Wetters herausgestellt. Bspw. ex negativo in Du rébecca rue des Rosiers über einen Jungen mit »une jovialité de mauvais aloi. […] Le genre dédaignard des conditions atmosphériques.« (Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 149) Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 88 (Kursivierung durch Verf.). Nestor ist in der griech. Mythologie König von Pylos, Sohn des Neleus und der Chloris. »Nestors kluger, wenn auch phrasenreicher Rat wurde von den anderen griechischen Anführern geschätzt. Er war einer der wenigen Befehlshaber, die eine sichere Heimfahrt hatten und ihren Thron ohne Widerstand wieder einnehmen konnten.« (Tripp, Edward: Reclams Lexikon der antiken Mythologie, 363). Interessanterweise stellt sich Burma als recht plauderhafter Erzähler heraus und auch ihm ist stets eine sichere Rückkehr vergönnt. Zudem ist es vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass ihm eine Sekretärin namens Hélène zur Seite gestellt ist. Zur Namenswahl führt Malet an: »Choix heureux que celui de Nestor. J’ai appris plus tard que ce mot venait du grec: ›noir‹ (honni soit…), ou ›celui qui se souvient‹ (excellent pour un détective).« Malet zitiert nach Lacassin, Francis: Sous le Masque de Léo Malet, 145. Schulman, Peter: »Paris en jeu de l’oie: les fantômes de Nestor Burma«, 1159. Malet zitiert nach Lacassin, Francis: Sous le Masque de Léo Malet, 145. Hierzu zählt auch, dass Burma in einigen Fällen unter Pseudonym, d.h. anderer Identität, erscheint, etwa als M. Dalors oder Destournelles. Malet, Léo: L’envahissant cadavre de la plaine Monceau, 122. Wie Burma erst langsam herausfindet, ist Mme Courtenay die Frau, mit der er zu Beginn im Haus seines Kameraden Ferrand auf der Treppe zusammenstößt. Nach diesem Zusammenstoß ist Burma blutbeschmiert und findet die Leiche Ferrands mit aufgeschlitzter Kehle. Hieraufhin versucht Burma, die Frau zu finden und mit ihr zu sprechen. Doch dazu kommt es nie: Burma spricht immer wieder mit M. Courtenay, doch Mme ist für Burma bis zum Schluss nie greifbar; über Marie Courtenay wird letztlich eine parallele Geschichte erzählt, die mit den Ratten von Montsouris nur in einem sekundären Kontext steht. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 101 (Kursivierung durch Verf.). Torgovnik, Marianna: Closure in the Novel, 3f. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 110. Malet, Léo: Micmac moche au Boul’Mich’, 118. Malet, Léo: Des kilomètres de linceuls, 114. Malet, Léo: Micmac moche au Boul’Mich’, 58. Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 28. Die Wirkung der Hitze führt auch dazu, dass in den Sommerfällen die Bedrohlichkeit bzw. das Unbehagen, das von einzelnen Figuren ausgeht, deutlicher körperlich spürbar wird. Als Burma erkennt, mit wem er es als Auftraggeber in Les rats de Montsouris zu tun hat, läuft es ihm trotz der starken Hitze kalt den Rücken hinunter: »J’avais senti un frisson me parcourir l’échine. Le bureau ou j’étais, les arbres du parc Montsouris qu’on apercevait par la fenêtre ouverte, tout s’était débiné.« (Malet, Léo: Les rats de Montsouris, 29. [Im Original kursiv gestellt]). Die Wirkung der Person überlagert hier den sensuellen Eindruck der Hitze.

Anmerkungen

272 Zyklisch wiederkehrend spielt hier, wie in die Abneigung gegenüber bestimmten Monaten hinein, dass Burma am 7. März, vor Frühlingsbeginn, Geburtstag hat. Vgl. Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 100. 273 Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 256. 274 Malet, Léo: Boulevard… ossements, 23. 275 Malet, Léo: Du rébecca rue des Rosiers, 100. 276 Diese Ausflüge werden als Ellipsen präsentiert, damit aber nie dargestellt. 277 Malet, Léo: Boulevard… ossements, 151. 278 Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 84. 279 Malet, Léo: Boulevard… ossements, 50. 280 Als der Fall gelöst ist und Burma die Täterin mit ihren Taten konfrontiert, steht die letzte Wettererwähnung erneut in Verbindung zum Park und ist von einer ergreifenden Traurigkeit: »Un papillon entra par la baie, fit un tour dans la pièce et regagna le parc ensoleillé.« (Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, 180). Es entsteht der Eindruck, dass der Schmetterling symbolisch für Lucie Ponceau steht, die sich von der Welt entfernt. Am Ende will Burma niemanden mehr sehen und kann sich nur noch abwenden. 281 Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, 119. 282 Malet, Léo: L’envahissant cadavre de la plaine Monceau, 6. 283 Ibid., 43. 284 Tatsächlich stagniert der Fall über den Frühling und Sommer hinweg. 285 Ibid., 46. 286 Ibid., 126. 287 Ibid., 123. 288 Phoebus, der Leuchtende, ist ein Beiname des griechischen Gottes Apollon. Er betont seinen Aspekt als Licht- und Sonnengott. 289 Ibid., 191. 290 Ibid., 247. 291 Malet, Léo: La nuit de Saint-Germain-des-Prés, 33. 292 Bspw. Schnee, Eis und Winter in der Retrospektion in Brouillard au pont de Tolbiac. 293 Malet, Léo: M’as-tu vu en cadavre?, 88. Dies ist bspw. auch in Brouillard au pont de Tolbiac der Fall. 294 Malet, Léo: M’as-tu vu en cadavre?, 88. 295 Siehe unten. 296 Was wiederum mit dem amerikanischen Westernhelden zusammenhängt. 297 Alfu: Léo Malet, 92. 298 Dieser Roman gehört nicht zu den NMdP. 299 Ibid. 300 Die beiden Frauen in den NMdP stehen in Verbindung zum jeweiligen Fall, sind (jeweils mehr oder weniger) in diesen verwickelt und werden (ebenfalls jeweils mehr oder weniger) deswegen ermordet. 301 Vgl. hierzu auch Goulet, Andrea: »Le soleil naît derrière le Louvre«. 302 Malet, Léo: Le soleil naît derrière le Louvre, 149. 303 Goulet, Andrea: »Le soleil naît derrière le Louvre«, 156. 304 Hier zitiert nach ibid., 152.

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Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 45. Malet, Léo: Le soleil naît derrière le Louvre, 153. Ibid. Ibid., 216. Vgl. zum Tempusgebrauch (Titel vs. Text) des »naître« Goulet, Andrea: »Le soleil naît derrière le Louvre », 156. Zusammenfassung des Falles nach Alfu: »Appelé par l’un d’entre eux, Burma découvre que l’agression du garçon de recette Daniel, perpétrée avant guerre, était le fait de plusieurs anciens compagnons du Foyer végétalien. L’un d’eux a été trahi par les autres, et les ayant récemment retrouvés, a voulu se venger. Parallèlement, le détective ne pourra sauver la jeune gitane Bélita, victime des siens. Ce roman est le titre phare de la série car il présente un Burma plus Malet que jamais, se remémorant ses premières années parisiennes dans les milieux anarchiste du XIIIe arrondissement. Mais comme l’a dit l’auteur lui-même: on a voulu voir dans ces pages beaucoup plus de choses qu’il n’en avait mises.« (Alfu: Léo Malet, 139). S. 4.1.2 sowie 4.3.5. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 12. Ibid., 52. Wobei diese Wetterdarstellung bereits auf die Figuren bezogen werden kann und dementsprechend einen metaphorischen Charakter aufweist. Ähnlich wie in den MdP markiert auch hier der Nebel einen multiplen Grenzübertritt, der in Verbindung zur Identität des Protagonisten steht. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 55. Emanuel, Michelle: From Surrealism to Less-Exquisite Cadavers, 78. Smith, Steve: »Between Detachment and Desire«, 129. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 67. Da es auch bezüglich anderer Arrondissements öfter heißt, Burma habe sie längere Zeit nicht betreten, fällt dies in Fall 9 besonders auf. Bridgeman, Teresa: »Paris-Polar in the Fog«, 67. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, 186. Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya, 121. Befördert wird dieser Eindruck durch die Kleidung, die Winterjacke, die kuschelig wie eine Bettdecke erscheint, und die wasserabweisenden Schuhe, die ihn sozusagen vom Boden abheben. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 67. Ibid. Unter diesem Eindruck hält sich der Nebel, bis Burma Benoits Haus erreicht, das aus dem Nebel hervorzutreten und ihm zuzuzwinkern scheint: »Perçant la légère brume en suspension dans l’atmosphère, une lumière clignotait à une fenêtre de l’étage.« (Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 69). Suggestiv im Zentrum des Viertels verortet, im tiefsten Punkt des Nebels, findet Burma Bélita hier wieder und versucht, Hinweise über Benoits Leben seit der Vegetalierzeit und besonders über die Umstände seines Todes zu erhalten. Im Haus Benoits wird Burma durch den Gestank welker Chrysanthemen aus seinen Gedanken und seinem quasi-traumwandlerischen Zustand gerissen und in die Szene der Züchtigung Bélitas durch Dolores katapultiert. – Das Motiv des Blumenmädchens ist interessant, weil es intertextuell eine Verbindung zu Fleur-de-Marie zieht. – Burma befreit Bélita von Dolores und diese zieht sich zurück. Als Burma und Bélita allein im Haus sind, tritt

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dieser »à la fenêtre, jetai un coup d’œil à l’extérieur. Le brouillard s’était épaissi. Il enveloppait le triste passage dans son coton perfide.« (Ibid., 77). In Burmas meteorologischer Apperzeption erscheint der Nebel personifiziert und agiert bewusst, nämlich hinterhältig und tückisch. Dies deutete sich allerdings durch den Brief von Lenantais an Burma bereits an. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 88. Ibid., 89. Ibid., 92. Ibid., 93. Smith, Steve: »Between Detachment and Desire«, 131. Smith formuliert dies bezüglich des Erzählerwechsels in einem der ersten Kapitel. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 96. Ibid., 97f. Smith, Steve: »Between Detachment and Desire«, 133. Starck-Ottkowitz, Eva: Leonora Carrington, 39. Hinreichend hierfür ist ihr Wiedererscheinen im Nebel, die Inkorporation des Nebels und die sich bereits hier ereignende (Atem-)Verbindung zum Nebel und über diesen zu Burma. Wie der Nebel als Moment der Aussöhnung mit der Vergangenheit verschwindet, muss Bélita am Ende sterben. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 99. Bridgeman, Teresa: »Paris-Polar in the Fog«, 70. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 118. Ibid., 121. Der Wind wird auf wenigen Seiten im elften Kapitel zum wichtigsten Wetterphänomen. Ibid., 168. Ibid., 169. Ibid., 174. Ibid., 181. Ibid., 186. Spätestens mit Ballin fällt auf, dass die Namen der für Burma relevanten Figuren mit einem »B« beginnen. Dies wirft die Frage auf, inwiefern sich in ihrer Wahrnehmung durch Burma als Erzähler nicht immer auch eine Projektion oder Externalisierung von Persönlichkeitsanteilen findet. Betontermaßen wird Ballin ermordet, weil er für Burma gehalten wird, Benoit, weil er sich an Burma wendet, Bélita, weil sie eine Beziehung mit Burma hat. Alle wiederum stehen im Nexus zu Burmas Vergangenheit. Smith verweist u.a. für den Aufbau des Plots auf den Motivkomplex von »guilt« und »betrayal«. Smith, Steve: »Between Detachment and Desire«, 131. Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, 134. Die Reihe ist bei Soho Press (New York) erschienen. Murder in the Marais von 1998 ist der erste Band.

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Georges Simenon – Die Kriminalromanreihe mit Commissaire Maigret 1 2

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Simenon, Georges: Le chien jaune, 131. Mit der Figur Maigret erscheinen 75 Romane und 28 Kurzgeschichten. Einen Überblick bietet: Forest, Jean: Les archives de Maigret; eine primär humorvolle Aufstellung anlässlich der deutschen Neuauflage findet sich bei Spreckelsen, Tilman: Der Maigret-Marathon. Die Jahresangaben und die Nummerierung der einzelnen Fälle folgen der Aufstellung von Henry, Gilles: Commissaire Maigret, qui êtesvous?, 186–189. Georges Simenon (1903–1989) ist mit mehr als 400 Romanen einer der produktivsten Romanautoren des 20. Jahrhunderts. Der französischsprachige Belgier verfasst unter 25 verschiedenen Pseudonymen (vgl. Geeraert, Nicole: Georges Simenon, 125) zwischen 1921 und 1934 eine Fülle an Groschenromanen und Kriminalgeschichten, die ihn als »littérature purement alimentaire« (Bourdier, Jean: Histoire du roman policier, 181) über Wasser hielten; diese Zeit betrachtet er später als seine Lehrjahre des schriftstellerischen Handwerks. 1929 startet er mit Aufträgen für Kurzgeschichten u.a. für die Zeitschrift Detective an Bord der »Ostrogath« eine Schiffsreise. In Wilhelmshaven wird er aufgrund eines Telegrammkontakts zur Detective der Spionage verdächtigt und ›gebeten‹, den Hafen zu verlassen. Die »Ostrogath« steuert zurück nach Delfzijl (Niederlande), wo sie wegen eines Lecks bleibt. Rückblickend ein Glücksfall: Vor dem geistigen Auge Simeons erscheint die Figur Maigrets und es entsteht der erste Fall Pietr le Letton. – Soweit die Legende. Denn tatsächlich finden sich erste Spuren der Figur Maigrets bereits in Train de nuit sowie in La maison de l’inquiétude. Geplant war mit dem Verlag Fayard zunächst nur eine kurze Reihe Maigret-Romane, die dank eines gelungenen Werbecoups ein Erfolg wird (vgl. Bresler, Fenton: Georges Simenon, 128ff.). Simenon schickt Maigret in den 1930er-Jahren in Pension, denn er widmet sich lieber dem von ihm so bezeichneten roman dur. Das sind Romane, die den ›homme nu‹ zeigen, das Seelenleben eines meist männlichen Protagonisten in einer Krisensituation; sie enden für die Figur meist tödlich oder in Einsamkeit. Fast wie bei Doyle scheint eine Trennung von der Figur aber unmöglich. Zunächst verfasst Simenon daher einige Kurzgeschichten, bis er die Maigrets als Entspannung zu den romans dur entdeckt. Die Maigrets, die erstmals nicht mehr unter Pseudonym erscheinen und damit gleichsam aus dem Groschenheftschreiber Georges Sim den Romancier Georges Simenon schaffen, schließen nach 40 Jahren das Simenon’sche Werk: Maigret et Monsieur Charles (1972) ist der letzte Roman, den Simenon schreibt. Der erste Fall mit Léo Malets Figur Nestor Burma, 120, Rue de la Gare, erscheint 1943 und die NMdP zwischen 1954–1959; sie laufen also teilweise parallel zu den Maigrets, enden aber früher. Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 33. Simenon verleiht dem Genre weit über Frankreich hinaus Popularität und wird wegweisend für psychologische Verbrechensromane etwa von Patricia Highsmith, Friedrich Glauser oder Boileau/ Narcejac. Vgl. hierzu Kniesche, Thomas W.: Einführung in den Kriminalroman, 107; Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, 114. Simenon, Georges: Le prix d’un homme, Kindle, Position 30–40.

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Mit Arsène Lupin steht ein Meisterdieb als Gegenfigur zu Doyles Detektiv Sherlock Holmes (1891–1927), besonders deutlich wird dies mit Arsène Lupin contre Herlock Sholmès. Die Geschichten Lupins sind eine Mischung aus Parodie, Abenteuer- und Schauerroman sowie Elementen der Zukunftsspekulation wie bei Jules Verne, wobei allerdings auch kriminalistische Elemente vorhanden sind, wie das des looked-room mystery. In L’Aiguille creuse (1909) wird das Wetter u.a. atmosphärisches (unheimliches) Element sowie als Teil des Zugangsrätsels zum Versteck geraubter Kunstwerke eingesetzt. Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf den Artikel von Bussi, Michel: »L’étrange voyage!«, 7–23. Eine der bekanntesten locked-room mysteriess findet sich in Le mystère de la chambre jaune (1907) von Gaston Leroux. Im Gegensatz zu Leblanc legt Leroux »Wert auf die Rätselkomponente, die in der Folge das ausschlaggebende Merkmal des Genres wird« (Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 38). Ein Teil hiervon sind die Fußspuren um den Teich, die abhängig vom Wetter sind. Das Wetter unterstreicht das Moment des Rätselhaften und wird zudem als schauerliches bzw. fantastisches Element in der nächtlichen Galerie genutzt. Hier, im »übernatürlichen« Moment dieses Ortes, zeigt sich der gewandelte Nutzen des Schauermoments des Wetters. Die Elemente werden zur Spurensicherung beschrieben oder als Teil des Rätsels und der anschließenden Aufdeckung sowie als Aspekt der Demaskierung Larsans genutzt. Dies verweist auf die Herkunft aus dem Schauerroman und parallel auf eine bewusste Entfernung davon. Vgl. zum Aspekt des Phantastischen in Le mystère de la chambre jaune exemplarisch auch Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 161–171, 242ff. Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 38. Vgl. ibid. Asholt, Wolfgang: »Von der Ära Mitterand bis zur Gegenwart«, 416. Asholt verweist hier insbesondere auf die Romane von Leroux sowie Allain und Souvestre (ibid.). Hier sei auf den Artikel von Pinçonnant, Crystel: »Maigret contre Metal: Georges Simenon et Léo Malet face à la tradition américaine du roman noir« hingewiesen; der Schwerpunkt liegt zur Maigret Reihe auf Maigret à New York. Vgl. Bresler, Fenton: Georges Simenon, 178, sowie Asholt, Wolfgang: »Von der Ära Mitterand bis zur Gegenwart«, 416. Bresler erweckt den Eindruck, als sei Simenon der einzige Autor von Kriminalromanen auf dem europäischen Kontinent und unterstreicht dessen Position mit einem Zitat aus La nouvelle revue des jeunes: »Wir sollten unbedingt Monsieur Simenons Verdienste preisen und dem Manne huldigen, der auf geistvolle Weise wahrhaft französische Charaktere in ein Genre eingeführt hat, in dem seit dem Krieg die Angelsachsen die größten Erfolge verbuchen konnten!« (Bresler, Fenton: Georges Simenon, 178) Zu den Veränderungen gehört auch, dass Maigret der erste Polizeibeamte mit Equipe ist, der tatsächlich als solcher dargestellt wird, aber auch der erste Ermittler mit Ehefrau. Krieg, Alexandra: Auf Spurensuche, 49f. Asholt, Wolfgang: »Von der Ära Mitterand bis zur Gegenwart«, 416. Schulz-Buschhaus sieht ihren gattungsgeschichtlichen Wert als »Kriminalromane, in welchen dem alten Gattungsschema weitere bisher ungenutzte Möglichkeiten der Wirklichkeitsdarstellung und Wirklichkeitserforschung erschlossen werden« (Schulz-

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Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans, 157). Die Maigrets sind allerdings kein Spiegel der Realität in historischer, sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht. Vgl. auch Krabbe Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 70, unter Verweis auf Moshel, Ahron: »Georges Simenon und das Verstehen«. Krabbe geht ausführlich auf die Zeitbilder Simenons ein (vgl. ibid., 70ff.); kleine Veränderungen, Anpassungen oder Anspielungen finden sich wenige, darunter die NS-Zeit in Jeumont, 51 minutes d’arrêt! (1936), die Einführung von Fernsehgewohnheiten Maigrets oder die Anschaffung eines eigenen Autos – das aber nur Mme Maigret fährt – sowie Kritik an der Justiz und am sich verändernden Polizeiwesen (etwa in Maigret et le tueur). Wie Asholt festhält, vermitteln sich der Leserschaft »gesellschaftskritische Einsichten« (Asholt, Wolfgang: »Von der Ära Mitterand bis zur Gegenwart«, 417). Mit Quack kann ergänzend hervorgehoben werden, dass es Simenon nicht um die historische Zeit ging, sondern um »die natürliche Zeit des Menschen in seinen verschiedenen Stadien, um die kosmische Zeit des Wechsels der Jahreszeiten und der Abfolge von Tag und Nacht, der ›Rhythmus des Lebens‹« (Quack, Josef: Die Grenzen des Menschlichen, 28). 16 Grella, George: »Simenon and Maigret«, 34. Zitiert nach Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, 51. (Mindestens) Eine Ausnahme gibt es allerdings: Monsieur Gallet, décédé. Hier wird mit ausgefeilter Technik gemordet. 17 Vgl. Žmegač, Victor: »Aspekte des Detektivromans«, 19ff. 18 Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 33. 19 Becker, Lucille Frackman: Georges Simenon, 36f. Unter Verweis auf Simenon, Georges: Quand j’étais vieux, 331, und Les Demoiselles de Concarneau, 345. 20 Hingewiesen sei an dieser Stelle auf: Freund, Susanne: Der Topos des profanen Erlösers. 21 Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 33. Siehe zur Entwicklung des »Mender of Destinies«: Becker, Lucille F.: Georges Simenon, 37f. 22 Mit Maigrets sind hier wie im Folgenden die Maigret-Romane gemeint. 23 Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, 49. 24 Boyer, Régis: Le chien jaune de Georges Simenon, 11. Die Veränderungen der Konzeption führten von Anfang an zu der Frage, ob es sich bei den Maigrets überhaupt um Kriminalromane handelt. Bereits der Verleger Fayard meinte zu den ersten Manuskripten Simenons, die Maigrets seien »gar kein richtiger Kriminalroman, denn sie böten kaum ein mathematisches Problem, das vom Publikum gelöst werden müsse. Es gebe auch keine, salopp ausgedrückt, strahlenden Helden und Spitzbuben, die sie bekämpften. Es fehle zudem eine Liebesgeschichte und von einem Happy-End könne gar keine Rede sein.« (Bresler, Fenton: Georges Simenon, 141). Innovationen haben es zuweilen schwer. Tatsächlich aber wird die Frage, ob die Maigrets nun Kriminalromane sind oder eben nicht, bis heute diskutiert. Boileau und Narcejac halten 1964 fest, Simenon »kann man […] nicht zu den Detektivromanautoren rechnen. Lediglich dank eines Missverständnisses gilt Maigret als einer der größten Detektive« (Boileau, Pierre/Narcejac, Thomas: Der Detektivroman, 126). 1978 allerdings schreibt Boileau rückblickend über die ersten Maigrets wie Monsieur Gallet, décédé: »Es hatte sich ganz entschieden etwas im Kriminalroman geändert. […] daß sicher der Tag kommen würde, an dem sich der Autor nicht

Anmerkungen

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mehr an die Grenzen einer Gattung halten würde, deren Strukturen er aufgelockert hatte.« (Boileau, Pierre: »Etwas hat sich geändert im Kriminalroman«, 130f.) Dulout sieht (wiederum fast 20 Jahre später) mit den Maigrets die Begründung einer neuen Subgattung: »Inventur du roman policier psychologique […] Simenon donne au genre une dimension littéraire dont certains le croyaient privé. Son œuvre demeure inclassable« (Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 33). Auch Symons sieht das psychologische Moment als besonders bedeutend, denn wegen der zentralen Stellung des Verbrechens sowie der psychologischen Dimensionen der Figuren seien die Maigrets Kriminalromane (vgl. Symons, Julian: Am Anfang war der Mord, 147f.). Mit der Wendung zu einem roman policier psychologique verbunden ist nach Becker eine veränderte Auseinandersetzung mit den Themen des 20. Jahrhunderts – Schuld und Unschuld, Fremdheit (alienation) und Einsamkeit (vgl. Becker, Lucille F.: Georges Simeon, 35). Eine ausführlichere Zusammenfassung der Diskussion findet sich bei Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 39–44. Aktuellere Auseinandersetzungen sind bei Mercier, Paul: Maigret: mode d’emploi?, bes. 21ff.; bei Wörtche, Thomas: Das Mörderische neben dem Leben. Ein Wegbereiter durch die Welt der Kriminalliteratur, 59ff. und bei Wenger, Murielle/ Trussel, Stephen: Maigret’s World, bes. 165f., enthalten. Boyer, Régis: Le chien jaune de Georges Simenon, 7. Mit Pietr le Letton erscheint nicht ex nihilo ein neuartiger Ermittler in Reinform, und gerade die ersten Maigrets weisen noch Züge der ›Vorgängermodelle‹ auf. Mit Blick auf die Chronologie innerhalb der Reihe und die Entwicklung Maigrets bilden die Fälle von 1929–1933 (hiernach sollte die Maigret-Reihe eigentlich enden; vgl. etwa Bresler, Fenton: Georges Simenon, 128ff.; Geeraert, Nicole: Georges Simenon, 58) eine relative Einheit mit einem Maigret von 45 Jahren bis zu Ermittlungen nach der Pensionierung. In dieser Phase vollziehen sich sowohl privat als auch in der Art der Fallkonzeption Veränderungen. So weist Pietr le Letton zwei Pole auf, zum einen Gewalt, Aggression, die psychische, aber auch physische ›Härte‹ Maigrets, die an die Detektive des hard-boiled erinnern (Maigret wird angeschossen, Torrence getötet). In Un crime en Hollande ist er nicht mehr muskulös, sondern »gros« (Simenon, Georges: Un crime en Hollande, 458). Die sich abzeichnende Wandlung der Physiognomie geht einher mit der sich verändernden Konzeption als ruhiger und empathischer Beobachter. Während der Fall selbst wenig bedeutend ist, erweitert L’affaire Saint-Fiacre mit Rekurs auf Maigrets Kindheit und Jugend das Bild des Kommissars und rundet die Figurenkonzeption weiter ab. Hierzu trägt auch Mme Maigret bei, die bereits in Pietr le Letton kurz auftritt und später die private Facette verstärkt. Zu den privaten Aspekten zählen auch die Besuche von Mme Maigrets Schwester oder Urlaube. So ermittelt Maigret in Au rendez-vous des Terre-Neuvas wie später immer wieder im Urlaub. Die Familie wird verschiedentlich eingebunden, so wird bspw. Maigrets Neffe Daniel ebenfalls Polizist (vgl. Maigret et l’inspecteur Malgracieux). In L’Écluse N°1 wird die Tochter der Maigrets erwähnt, die früh verstorben ist. In Maigret, der den Abschluss der geplanten Reihe bei Fayard bilden sollte, ist Maigret seit zwei Jahren in Pension, kommt aber für seinen Neffen Philippe, der als inspecteur der PJ eines Verbrechens verdächtigt wird, von Meung-sur-Loire nach Paris. Das Häuschen in Meung-surLoire erwirbt er 1960 im Alter von 53 Jahren in Maigret aux Assises. Die erste Phase

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(1929–1938) enthält bereits relevante Aspekte des Lebens der Maigrets. Die nachfolgenden Fälle ergänzen die Facetten Maigrets durch neue Details, wie Gewohnheiten, die mitunter als »schon immer dagewesen« präsentiert werden. Während das Prinzip des Einfühlens substanzieller wird, zeigen sich Augenblicke, die ihn wenig selbstsicher erscheinen lassen, wie in Mon ami Maigret. An anderer Stelle sagt Maigret von sich selbst, er werde alt, wenn er für die Lösung eines Falles in seinen Augen viel zu lange braucht. Die in den ersten Maigrets enthaltene Chronologie verliert sich zwangsläufig, wenn Maigret wieder im Polizeidienst tätig ist oder wahlweise erneut im Ruhestand ermittelt. 1938, in L’Étoile du Nord, steht Maigret 48 Stunden vor seiner Pensionierung. In Maigret se fâche (1947) ist er bereits seit zwei Jahren in Pension. Im letzten Fall Maigret et Monsieur Charles von 1972 bleiben wiederum zwei Jahre bis zum Ruhestand. Die meisten Fälle stehen achronologisch zu den ersten 19, können allerdings nicht zwischengeordnet werden, da Maigret als Figur zwar immer weiter an Feinheiten gewinnt, seine Ansichten und Vorgehensweisen sich aber verändern oder technische Neuerungen einbezogen werden. Geherin, David: Scene of the Crime, 14. Symons, Julian: »Simenon und sein Maigret«, 123f. Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 97. Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. Simenon, Georges: »La Main dans la Main« zitiert nach Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 89f. Simenon, Georges: Le prix d’un homme, Kindle Position 30–40. (Kursivierung durch Verf.). Simenon, Georges: Le chien jaune, 131. Simenon, Georges: Liberty Bar, 18. Aufgrund des Umfangs der Maigret-Reihe erfasst das Untersuchungskorpus nicht alle Titel, sondern wurde begrenzt. Der Auswahl liegt die Berücksichtigung von Romanen bzw. Kurzgeschichten aus den verschiedenen Dezennien der Publikation zugrunde, wodurch ein Querschnitt möglich ist. Berücksichtigt sind hierbei Titel, die auf Basis von Vorarbeiten (bes. die unveröffentlichte BA-Thesis der Verfasserin zu Maigret) ›im Verdacht‹ stehen, eine besondere Wetterkonzeption aufzuweisen, oder Verbrechenstypen darstellen, die von der Majorität abweichen wie der Serientäter Moncin. Zurückgegriffen wurde zudem auf die Arbeit von Jean Forest, der eine schematisierte Zusammenfassung aller Romane bietet, wobei sich insbesondere die Kategorie ›Saison‹ als hilfreich erwies, unter der Jahreszeit oder Monat gelistet sind. (Forest, Jean: Les archives Maigret.) Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. S. o.; 5; Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 97. Blanc, Jean-Noël: Polarville, 73. Blanc befasst sich mit dem Schwerpunkt der Stadt im Polar und berücksichtigt neben Maigret-Romanen auch Werke u.a. von Malet, Demouzon und Chandler. Geherin, David: Scene of the Crime, 14. Symons, Julian: »Simenon und sein Maigret«, 123f. Simenon, Georges: Le prix d’un homme, Kindle Position 39.

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Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. Wenger berücksichtigt nur die Romane, nicht die Kurzgeschichten. Eine ähnliche Auswertung mit dem Fokus auf »The seasons of the cases« findet sich 2017 in Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 171–173. Unklar bleibt bei Wenger allerdings, was mit genereller Tendenz gemeint ist, d.h. ob dies bspw. 50 oder 80 % aller Wetterstellen in einem Roman entspricht. Diagramm aus Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. Tatsächlich gibt es bei genauer Betrachtung keine signifikante Verschiebung vom Herbst zum Frühling verbunden mit den drei Publikationsphasen, wie ein weiteres Diagramm Wengers suggerieren könnte. Siehe Wenger, Murielle: »Maigret Météo«, Diagramm »Saison par cycle«. Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 171f. Eigene Erhebung unter Hinzuziehung von Forest, Jean: Les archives Maigret. Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 172. Gerhold, Hans: Kino der Blicke, 38, zitiert nach Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen, 214. Hingewiesen sei zudem auf Dehée, Yannick: »Les mythes policiers du cinéma français des années 1930 aux années 1990«. Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen, 200 (Kursivierung durch Verf.). Mit Holzmann kann hier als Referenz hingewiesen werden auf: Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke, 106. Vgl. Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen, 201. Holzmann verweist hier auch auf Citron, Pierre: La poésie de Paris dans la littérature française de Rousseau à Baudelaire, 435. Vgl. Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen, 201. Ibid., 200. Ibid. Ibid., 201. Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 26f. Simenon, Georges: Le chien jaune, 47. Diese Reflexionen oder Verweise zum Film wie später zum Fernsehen finden sich in einigen Maigrets. In den 1980er-Jahren werden die Maigrets als Serie für das Farbfernsehen adaptiert, die das Paris der 1950er-Jahre rekonstituiert und die Maigret-»Erfahrung« prägt, wie Alavoine ausführt: »Le phénomène télévision a [.] complètement bouleversé les rapports qui existaient entre littérature […] et cinéma: Maigret est devenu pour beaucoup de téléspectateurs un héros de série […]. La télévision a fait oublier les romans qui ne sont guère lus que par des ›connaisseurs‹ pas très jeunes…« (Alavoine, Bernard: Les enquêtes de Maigret, 63) Dieser Bekanntheitsgrad aus vorausgehenden Filmproduktionen wird in einigen Romanen aufgegriffen und Maigret beispielsweise in einem Fall von einem Taxifahrer mit einem bekannten Schauspieler verwechselt. Blanc, Jean-Noël: Polarville, 73. Ravenel, Loïc: Sherlock Holmes au fil du temps, 36. Freeling, Nicholas zitiert nach Geherin, David: Scene of the Crime, 13. Vgl. zur Regen-Assoziation dieser Titel exemplarisch Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 97f.; Boyer, Régis: Le chien jaune de Georges Simenon. Siehe einführend zur Bedeutung des Erzählanfang Krings, Constanze: »Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses«, 163–179.

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Simenon, Georges: L’affaire Saint-Fiacre. Vgl. Vanoncini, André: Simenon et l’affaire Maigret, 85, sowie verweisend auf Piantino, Laurence: »A l’ombre du commissaire«, 16. Vgl. auch Alavoine, Bernard: Les enquêtes de Maigret de Georges Simenon, 58. Krechel, Hans-Ludwig: Strukturen des Vokabulars in den Maigret-Romanen Georges Simenons, 85. Dabei ist anzumerken, dass Wetterausdrücke grundsätzlich zum sprachlichen Basisvokabular gehören. Bajomée, Danielle: Simenon, hier zitiert nach Meyer-Bolzinger, Dominique: »Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret«, 44. Simenon zitiert nach Bresler, Fenton: Georges Simenon, 13. Le Monde 1965, hier zitiert nach: Alavoine, Bernard: Les enquêtes de Maigret de Georges Simenon, 56. Alavoine skizziert zudem eine Entwicklung der (allgemeinen) Verwendung der mots matière; in späteren Maigrets sei es zunehmend schwieriger, diese zu identifizieren und Simenon »épurera progressivement la description […]« (ibid., 58). Zudem schreibt Simenon in Le romancier in: L’Age du roman: »Pensez que […] tout mon effort, toute mon ambition a tendu à n’employer que des mots matières […]. Des mots, si vous voulez qui aient le poids de la matière, des mots qui aient trois dimensions, comme une table, une maison, un verre d’eau […].« hier zitiert nach: Alavoine, Bernard: Les enquêtes de Maigret de Georges Simenon, 56. Vanoncini, André: Simenon et l’affaire Maigret, 85. Vgl. Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter, 72. »J’aime […] le brouillard, probablement parce qu’il déforme assez la réalité pour lui donner une autre dimension et une autre poésie. […] La neige transfigure le paysage. Le soleil, lui comme les impressionnistes l’ont bien compris, le décompose en paillettes de couleur et de lumière.« Simenon, Georges: Le prix d’un homme, Kindle Position 30–41 (Kursivierung durch Verf.). Simenon, Georges: Quand j’étais vieux, Kindle Position 4326–4335. Simenon zitiert nach Garis, Leslie zitiert nach Geherin, David: Scene of the Crime, 13. Bambach-Horst, Eva et al.: Moderne Kunst, 155. Der Impressionismus, der etwa zwischen 1860 und 1870 in Frankreich entsteht, sucht eine das Hauptmotiv betonende Hell-Dunkel-Malerei zu überwinden – konträr zur späteren Inszenierungsästhetik von Licht und Schatten im Film –, ab etwa 1870 verwenden die Impressionisten vorrangig helle und kräftige Farbtöne. Le romancier in: L’Age du roman und Le Monde 1965, zitiert nach: Alavoine, Bernard: Les enquêtes de Maigret de Georges Simenon, 56. Alavoine skizziert zudem eine Entwicklung der (allgemeinen) Verwendung der mots matière; in späteren Maigrets sei es zunehmend schwieriger, diese zu identifizieren und Simenon »épurera progressivement la description […]« (ibid., 58). Simenon, Georges: Le prix d’un homme, Kindle Position 32–42. Simenon, Georges: Maigret et le corps sans tête, 802. Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 991. Simenon, Georges: La Guinguette à deux sous, 277. Simenon, Georges: Félicie est là, 1062.

Anmerkungen

80 Simenon, Georges: Liberty Bar, 70. Durch die indirekte Ansprache erhöht sich hier die Wetterrezeption. 81 Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 45. 82 Eine Zusammenstellung von Textstellen zum Bereich sensuelle Wahrnehmung bietet auch Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. 83 Vgl. Simenon zitiert nach Bresler, Fenton: Georges Simenon, 13. 84 Simenon, Georges: Le pendu de Saint-Pholien, 476. 85 Boyer, Régis: Le chien jaune de Georges Simenon, 7. 86 Dubois, Jacques: Les romanciers du réel, 327, hier zitiert nach Meyer-Bolzinger, Dominique: »Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret«, 44. 87 Meyer-Bolzinger, Dominique: »Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret«, 43. 88 Bajomée, Danielle: Simenon, 105, hier zitiert nach Meyer-Bolzinger, Dominique: »Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret«, 44. 89 Alavoine, Bernard: Les enquêtes de Maigret de Georges Simenon, 14. 90 Krabbe, Silvia: Der Kriminalroman in Frankreich und Spanien, 97. 91 Simenon, Georges: Un Noël de Maigret, 8ff. 92 Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 90. 93 Ibid., 140 (Hervorhebung durch Verf.). 94 Ibid., 159. 95 Ibid., 19, 27. 96 Ibid., 56. 97 So heißt es zu Maigret: »[I]l lui semblait que cette affaire ne pouvait sortir du cadre de Montmartre, où tous les événements s’étaient.« 98 Ibid., 175. 99 Vgl. ibid., 181f. 100 Siehe einführend zur Bedeutung des Erzählanfang Krings, Constanze: »Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses«, 163–179. 101 Torgovnik, Marianna: Closure in the Novel, 3f. 102 Vgl. zur Bedeutung des Romananfangs exemplarisch Krings, Constanze: »Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses«, 163 ff; Torgovnik, Marianna: Closure in the Novel; Rabinowitz, Peter: »Reading Beginnings and Endings«. Hingewiesen sei ergänzend auf die von Mercier determinierten wiederkehrenden Standardelemente der Romananfänge: »Quand le roman s’ouvre sur l’évocation d’un décor urbain, d’un lieu familier, d’une saison, sur les caprices d’une météo ou sur les douleurs d’une préretraite, il s’agit d’abord d’opposer une durée qui s’écoule et qui se répète au temps de l’effraction de cette durée: l’événement qui rompt la monotonie routinière.« (Mercier, Paul: Maigret: mode d’emploi?, 28f.) sowie auf die Feststellung Vanoncinis: »Grace […] aux cycles journaliers et saisonniers, aux gradations presque imperceptibles de l’évolution météorologique et au déroulement stéréotypique des automatismes quotidiens, Simenon réussit à donner une extraordinaire plasticité à des passages apparemment vides de toute fonctionnalité narrative […].« (Vanoncini, André: Simenon et l’affaire Maigret, 46). Die Plastizität für das Wetter kann mit seiner Bedeutung bspw. für die Atmosphäre des Falles angeschlossen werden.

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103 Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 7. Die Schattenhaftigkeit, die von Bonvoisin ausgeht, korrespondiert mit der Parallelwelt des Picratts, wie sie in der Lichtreflexion im Spiegel deutlich wird: »Il faisait sombre à l’intérieur […] Seules les bouteilles, au bar qui se trouvait près de la porte restée ouverte, recevaient quelques reflets de la lumière du jour.« (Ibid., 33.) Die Spiegelung des Sonnenlichts im am Tag leeren Picratt entfaltet die Separation und gleichzeitige Interdependenz zwischen den ›Welten‹. 104 Simenon, Georges: Maigret et les témoins récalcitrants, 460. 105 Simenon, Georges: Maigret et la jeune morte, 486. 106 Ibid., 488–492. 107 Vgl. zu Le chien jaune insbesondere: Boyer, Régis: Le chien jaune de Georges Simenon. 108 Simenon, Georges: Le chien jaune, 7f. (Kursivierung durch Verf.) 109 Alavoine, Bernard: Les enquêtes de Maigret de Georges Simenon, 57 (Kursivierung im Original). 110 Simenon, Georges: Le chien jaune, 17. 111 Ibid., 131 112 Ibid. 113 Ibid., 7. 114 Parallel liegen in diesem Fall die Wetterfaktur der Ermittlung von Wind und Regen als Marker des Unklaren und der Beginn der Ermittlung zum Sonnenschein der Aufklärung. So kündigen sich der Wendepunkt und die Erkenntnis Maigrets, der feststellt, »c’est tout le nœd du drame…« (Simenon, Georges: Le chien jaune, 104), über den Wetterwechsel an, scil. als »une tache de soleil [.] naissait au loin sur la mer« (ibid., 103). Maximal kontrastiv zum Wetter der Exposition markiert der Sonnenschein die Entdeckung von Emmas Muschelkästchen und die Bedeutung, die Maigret diesem beimisst. (Vgl. ibid., 145. Vgl. auch Boyer, Régis: Le chien jaune de Georges Simenon, 65. Das Muschelkästchen ist eine Erinnerung an Le Glérec, mit dem Emma verlobt ist.) Hiermit verändert sich auch die Wetteratmosphäre und die Gestimmtheit Maigrets: »Sa promenade […] accrut sa bonne humeur. […] [I]l nota que l’atmosphère, par la magie du soleil, […] avait une allégresse de 14 Juillet.« (Simenon, Georges: Le chien jaune, 153) 115 Bedner, Jules: »Simenon et Maigret«, 121. Bedner zitiert aus Un échec de Maigret, 157. 116 Ibid. 117 Ibid. 118 Simenon, Georges: Maigret s’amuse, 10. 119 Ibid., 27f. 120 Ibid., 81. 121 Simenon, Georges: Monsieur Lundi, 80. 122 Simenon, Georges: Stan le tueur, 286. 123 Ibid., 285. 124 Ibid., 309. 125 Ibid. 126 Ibid., 317. 127 Ibid., 318.

Anmerkungen

128 Eine ausführliche Betrachtung des Wetters in La tête d’un homme und Maigret tend un piège findet sich aufgrund der Besonderheit der Täterfiguren in Abschnitt 5.2.4 (La tête d’un homme 5.2.4.1; Maigret tend un piège 5.2.4.2). 129 Eine ausführliche Betrachtung des Wetters in Pietr le Letton findet sich in 5.2.3.4 als Teil der Methode und Theorie Maigrets. 130 Simenon, Georges: Les caves du Majestic, 431. 131 Dies wäre insofern hervorzuheben, als der Fall demnach in Dunkelheit, konträr zum Schema der Aufklärung des roman policier, dem »combat contre l’obscurité« (Bedner, Jules: »Simenon et Maigret«, 121) spielt. 132 Simenon, Georges: Maigret et son mort, 10, 17, 19. 133 Diese Gewalt und Bedrohung gehen von einer Bande aus, die die Landbevölkerung quält und tötet. Insofern besteht eine Assoziation zum Fall Stan le tueur. 134 Simenon, Georges: Maigret et son mort, 12. 135 Ibid., 17. 136 Ibid., 22 (Kursivierung durch Verf.). 137 Ibid., 25. 138 Eine ähnliche Dreier-Struktur weist der vorausgehende Fall Les vacances de Maigret (1947) auf. Hier erscheinen Opfer (Hélène Goudrou), designiertes Opfer (Lucille, wird in der Nacht getötet) und am Ende der Täter (Dr. Bellamy) jeweils in Verknüpfung oder physisch zu bzw. in einem Rechteck aus Sonnenschein. 139 Ibid., 150. 140 Ibid., 193. 141 Simenon, Georges: Le témoignage de l’enfant de chœur, 713. Dies ist auch ein Beispieltext, den Meyer-Bolzinger wählt. 142 Meyer-Bolzinger, Dominique: »Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret«, 52. 143 Der klassische Kriminalroman kreist nach Todorov um ein Geheimnis (Mord) und setzt sich aus zwei Geschichten zusammen: 1. die der Ermittlung, die meist chronologisch erzählt wird, und 2. die des Verbrechens, die sukzessive achronologisch aufgedeckt wird. Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique. 144 Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, 116. 145 Simenon, Georges: Maigret en meublé, 505. 146 Hier ließe sich noch anmerken, dass die sicheren Bereiche innen, die gefährlichen im Außenraum liegen. Die Gefahr geht hier allerdings von innen aus. 147 Georges Simenon zitiert nach dem Cover von Lacassin, Francis: Simenon et la vraie naissance de Maigret. 148 Dass Maigret ausgerechnet im Quartier Saint-Georges (9. Arr.) seine Arbeit aufnimmt, ist sicher kein Zufall und ein semantischer Bezug zu Simenon. Das als Motto gewählte Zitat erweist sich als augenzwinkerndes Bonmot. 149 Sim ist das Pseudonym, unter dem Simenon vor den Maigrets publizierte. 150 Vgl. zur Biografie von Maigret bes. Simenon, Georges: Les mémoires de Maigret sowie Baudou, Jacques: Les nombreuses vies de Maigret, bes. 5–117; die Zusammenstellung von Forest, Jean: Les archives Maigret. Hingewiesen sei zudem auf Lacassin, Francis: Simenon et la vraie naissance de Maigret. 151 Wörtche, Thomas: Das Mörderische neben dem Leben, 65.

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152 Übergriffe auf Verdächtige oder Schuldige nehmen im Verlauf der Reihe ab und zeigen sich nur noch vereinzelt etwa in Mon ami Maigret, wo sie auch Maigret selbst kritisch bewertet. 153 Stürickow, Regina: Kommissar Gennat ermittelt, 14. 154 Simenon, Georges: Maigret et le corps sans tête, Kapitel 3. In den Maigrets liegt der Fokus auf dem Verhör, das, gleichsam entsprechend zu Gennat, eine Möglichkeit zur Aussprache für die Täterfigur offeriert. Eine Eigenschaft Maigrets wird hierbei in den Mittelpunkt gesetzt: »Les capacités d’écoute du commissaire, qui agit en grand psychologue, guideront sa façon de susciter les confidences.« (Mercier, Paul: Maigret: mode d’emploi, 48) Maigret ist aufmerksam gegenüber Ausdrucksweisen, Betonungen, Mimik, Gestik, Stimmungen oder Emotionen der Verhörten und erreicht Vertrautheit mit seinem Gegenüber. Markant für Maigret ist, dass er spätestens ab diesem Punkt zuweilen nicht mehr als Polizist agiert, sondern als »raccommodeur de destinées«. Das Elementare für Maigret ist nicht die Bestrafung des Täters, sondern das Zurechtrücken von Schicksalen. Maigret ist darauf bedacht, »die Beweggründe […] zu prüfen«, und agiert als »Hüter der Gerechtigkeit« (Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel?, 46). Es geht nicht darum, »aggressives Machtstreben« ungesühnt zu lassen – dies zeigt sich in den vielen Fällen, wo der Täter vor Gericht gestellt wird – sondern eher um den »Schutz […] der Schwachen« (ibid., 47). Was Maigret in dieser Phase auszeichnet, ist, so lässt sich mit Aron anführen, »die Tendenz über die verschiedenen Auswirkungen einer Idee nachzudenken« (ibid., vgl. auch 187). Dies findet sich in für einen Polizisten eigentlich bedenklicher Form, denn Maigret neigt zur Selbstjustiz bzw. hebelt die Justiz zuweilen aus. So ermöglicht er im ersten Fall Pietr/Hans den Freitod; die Täterin bzw. der Täter in Le pendu de Saint-Pholien sowie in Chez les Flamands bleiben unbestraft, weil sie in Maigrets Augen bereits genug gelitten haben; so auch Jaja in Liberty Bar. Seine Frage ist stets, wem die Wahrheit etwas bringt; in Le pendu de Saint-Pholien würde sie die Familien zerbrechen und den kleinen Kindern die Väter entziehen, in Monsieur Gallet, décédé würde die Versicherung nicht zahlen und Mme Gallet, die nun endlich auch wieder von ihrer Familie akzeptiert wird, mittellos dastehen. 155 Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 33. Siehe zur Entwicklung des »Mender of Destinies«: Becker, Lucille F.: Georges Simenon, 37f. 156 Zunächst dominieren in Pietr le Letton Gewalt und Aggression, die psychische aber auch physische ›Härte‹ Maigrets, die an die Detektive des hard-boiled erinnern (Maigret wird angeschossen, Torrence getötet): »Des muscles durs se dessinaient sous le veston, déformaient vite ses pantalons les plus neufs.« (Simenon, Georges: Pietr le Letton, 17) Im sechsten Fall werden seine Hände schließlich als »grosses pattes« mit »gros doigts« (Simenon, Georges: Le chien jaune, 167, 240, 247) beschrieben, bis er in Un crime en Hollande als »gros« porträtiert wird (Simenon, Georges: Un crime en Hollande, 458). Die sich abzeichnende Wandlung der Physiognomie geht ferner einher mit der sich verändernden Konzeption als ruhiger und empathischer Beobachter. 157 Simenon, Georges: Le chien jaune, 146. Nichtsdestotrotz kommen immer wieder Kollegen aus England, wie in Le chien jaune oder in Mon ami Maigret, um genau diese Methode zu studieren. Angemerkt sei, dass Maigret die sich entwickelnde Forensik oder Kriminaltechnik nicht ablehnt, sondern sich dieser zuweilen bedient, auch

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wenn sie nicht mehr hervorgehoben wird; etwa in Pietr le Letton, Le chien jaune oder Maigret tend un piège. In Pietr le Letton findet sich beispielsweise die Bertillonage, die sich ab 1882 etablierte (vgl. ibid., 49). Die ›Bertillonage‹ oder ›Anthropometrie‹ ist ein System zur Wiedererkennung von Verbrechern anhand ihrer Körpermaße, die sich unter anderem auf die Vermessung des rechten Ohres bezieht. Simenon, Georges: Pietr le Letton, 49 (Kursivierung im Original). Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 33. Mit dem Einfühlen in die Umgebung wird das Unvertraute und die mitunter in späteren Fällen erscheinende Verunsicherung thematisiert; diese entstehen bspw. aufgrund der unbekannten Orte, der gesellschaftlichen ›Diskrepanz‹ oder der Figurenkonstellationen. Simenon, Georges: Les mémoires de Maigret, 175. Simenon, Georges: Les caves du Majestic, 461. Damit nimmt er eine gesonderte Position ein, der er sich bewusst ist; zumal er sich gelegentlich sogar darüber wundert, dass es ihm noch gestattet wird, bestimmte Gänge zu unternehmen oder Spuren selbst zu verfolgen. In anderen Fällen, wie in Maigret tend un piège, sind es die Inspektoren, die Details, wie etwa den Knopf, verfolgen. Der Knopf, den Marthe Jusserand dem Täter entwendet, wird zum Indiz und zum Ausgangspunkt einer akribischen Recherche der Kriminalpolizei, die zum Täter führt. Simenon, Georges: Maigret hésite, 45. Dulout, Stéphanie: Le roman policier, 33. Vgl. Simenon, Georges: Pietr le Letton, 58, 62. Kniesche bemerkt zur Parisdarstellung: »Dieses Paris ist das des Baron Haussmann, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts das moderne Stadtbild von Paris mit seinen Prachtstraßen entworfen hatte, es ist das Paris der Helligkeit und des von Schutzmännern überwachten geregelten Lebens. Dass sowohl das andere, das vormoderne, dunkle, fremdartige Paris und das seit dem 19. Jahrhundert modernisierte Paris noch nebeneinander existieren, macht das Erstaunen Maigrets aus.« (Kniesche, Thomas W.: Einführung in den Kriminalroman, 110). Hingewiesen sei einführend zur Thematik »Identität« auf: Jörissen, Benjamin/ Zirfas, Jörg: Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Simenon, Georges: Pietr le Letton, 9. Ibid., 10. Ibid., 15. Ibid., 55. Mit dem Humiditätsereignis entsteht eine suggestive, vermeintlich psychologische Eindeutigkeit (die das Wetter ja per se nicht hergeben würde), die sonst umständlich erläutert werden müsste. Vgl. hierzu auch Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter. Ibid., 57. Simenon, Georges: Pietr le Letton, 47f. Ibid., 50f. (Kursivierung durch Verf.; »portrait parlé« ist auch im Original kursiv). Ibid., 55. Simenon, Georges: Pietr le Letton, 109–113. Ibid., 129ff. Ibid., 134.

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178 Vgl. Tabelle 4: Einige Funktionen und Darstellungen des Wetters in Simenons Maigret-Romanen. Vgl. ferner auch Wenger, Murielle: »Maigret Météo«, Liste unter Punkt 8. 179 Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 89f. 180 Simenon, Georges: Liberty Bar, 70. Durch die indirekte Ansprache erhöht sich hier die Wetterrezeption. 181 Simenon, Georges: Maigret se fâche, 84. 182 Ibid., 140. 183 Simenon, Georges: La Guinguette à deux sous, 277. 184 Simenon, Georges: Maigret à l’école, 334. 185 Simenon, Georges: L’inspecteur Cadavre, 1187. 186 Simenon, Georges: Le voleur de Maigret, 970. 187 Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 173. 188 Soudière, Martin de la (1999): Au bonheur des saisons, 340. 189 Becker, Karin/Leplatre, Olivier: »Introduction«, 34. 190 Simenon, Georges: Maigret et son mort, 222. 191 Simenon, Georges: Liberty Bar, 12. 192 Erste Ansätze zur SPS finden sich bereits bei Jung, der sich mit dem Phänomen der Sensibilität befasst. Besonders thematisiert wurde SPS von der Psychologin Aron im Standardwerk zum Thema: The Highly Sensitive Person – How To Thrive When The World Overwhelms You von 1996. In deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel: Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel?. 193 Mercier, Paul: Maigret: mode d’emploi?, 21–57. 194 Vgl. 5.2.1; 5.2.2. 195 Mercier, Paul: Maigret: mode d’emploi?, 28f. 196 Simenon, Georges: La pipe de Maigret, 161f. 197 Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel?, 27. (HSM = Hochsensible Menschen) 198 Simenon, Georges: Maigret et le voleur paresseux, Kapitel 5. 199 Simenon, Georges: Félicie est là, 955. 200 Simenon, Georges: Maigret et la Grande Perche, 618. 201 Simenon, Georges: Maigret et la jeune morte, 488–492. 202 Simenon, Georges: L’Inspecteur Cadavre, 1191. Siehe zur Veränderung der Wahrnehmung durch den Einfluss der Wetterphänomene auch den Abschnitt zu Liberty Bar und Mon ami Maigret. 203 Simenon, Georges: Maigret et les braves gens, 1218. 204 Simenon, Georges: Maigret et Monsieur Charles, 7. 205 Vgl. bezüglich dieser SPS-Charakteristik Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel?, 22. 206 Simenon, Georges: Le Charretier de ›La Providence‹, 169–171. 207 Ibid. 172. 208 Simenon, Georges: La tête d’un homme, Kapitel 5. 209 Vgl. Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel?, 34. 210 Simenon, Georges: La tête d’un homme, 72f. 211 Simenon, Georges: Les caves du Majestic, 431f.

Anmerkungen

212 Ibid., 438. In Mon ami Maigret ist es sodann die Hitze, die Maigret an den Fall in der Liberty Bar erinnert (vgl. Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 102). 213 Der Konsum alkoholischer Getränke ist charakteristisch für Maigret und zieht sich durch die Reihe. Zuweilen zeichnet sich in der Literatur der Eindruck eines Schemas nach dem Motto »Ein Fall – eine Alkoholsorte« ab (vgl. auch Wenger, Murielle/ Trussel, Stephen: Maigret’s World, 45ff.). Gilles konstatiert etwa: »On le taquine au Quai pour une manie. S’il commence une enquête au calvados, par exemple, c’est au calvados qu’il la poursuit, de sorte qu’il y a des enquêtes au whisky, à la bière et au vin rouge.« (Henry, Gilles: Commissaire Maigret, qui êtes-vous?, 64). Gilles nennt leider keine konkrete Textstelle, in den Maigret-Romanen findet sich die »Alkohol-Theorie« aber etwa in Maigret se trompe (1953), hier heißt es: »et il commanda un marc, […], bien que ce ne fût pas l’heure d’un alcool sec, simplement parce que c’est ce qu’il avait bu la veille. On le taquinait. Quai des Orfèvres, sur cette manie. S’il commençait une enquête au calvados qu’il la continuait, de sorte qu’il avait des enquêtes à la bière, des enquêtes au vin rouge, il en avait même eu au whisky.« (Simenon, Georges: Maigret se trompe, 160) Ähnlich in Maigret et l’homme du banc (1952): »Par la même occasion, puisqu’il avait commencé sa journée par un calvados, il en but un autre au comptoir.« (Simenon, Georges: Maigret et l’homme du banc, 46) oder in Maigret à Vichy (1967): »Si je commence une enquête au vouvray, par exemple, parce que je me trouve dans un bistrot dont c’est la spécialité, j’ai tendance à la continuer au vouvray…« (Simenon, Georges: Maigret à Vichy, 1136). Bemerkenswert ist allerdings, dass dies auf (fast) keinen, insbesondere der späteren, Fälle tatsächlich zutrifft, wie etwa eine Auszählung der alkoholischen Getränke zeigt – oder bereits die Getränkepalette aus Liberty Bar. (Vgl. hierzu die Auswertung zum Alkohol in der BA-Thesis der Verf.) Bei Maigret Alkoholismus etwa nach ICD-10 oder DSM-III-R (vgl. Soyka, Michael: Die Alkoholkrankheit, 8ff.) zu »diagnostizieren«, erweist sich auf Grund der zu geringen Informationsdichte bezüglich bestimmter Kontrollfragen als schwierig. Nach dem CAGE-Test wäre Maigret jedoch durchaus als »problem drinker« einzustufen (ibid., 43). 214 Vgl. Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel?, 29. Aron führt ferner die Einnahme von Beruhigungstabletten an. 215 Simenon, Georges: Maigret et la vieille dame, 332f. 216 Vgl. zur folgenden Liste: Spreckelsen, Tilman: Der Maigret-Marathon, 44, sowie die Tabelle zum Alkoholkonsum in den einzelnen Fällen in der unveröffentlichten BA-Arbeit der Autorin: Facetten Maigrets im Kriminalroman von Georges Simenon. 217 Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 45. Hier findet sich auch eine Zusammenstellung einiger von Maigret bevorzugter Getränke (ibid., 45–57). Wenige Getränke lassen sich einzelnen Jahreszeiten oder Wetterlagen zuordnen; doch greift Maigret nach der Listung von Wenger und Trussel bei (See-)Nebel (Le port des brumes), Herbstregen (Maigret et l’homme du banc, Maigret se trompe, Maigret et les témoins récalcitrants, Maigret et le fantôme) oder Frost (Les scrupules de Maigret, Maigret et le voleur paresseux, Maigret et le client du samedi) tendenziell zu Rum bzw. Grog (ibid., 52f.). Hingewiesen sei zum Thema Alkohol auf: Mercier, Paul: La botte secrète de Maigret.

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218 Simenon, Georges: Les caves du Majestic, 456. 219 Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 1079. 220 Simenon, Georges: Maigret et le voleur paresseux, Kapitel 5, hier zitiert nach Mercier, Paul: Maigret: mode d’emploi?, 31. Kursivierung im Original. 221 Mercier, Paul: Maigret: mode d’emploi?, 31. 222 Vgl. bezüglich dieser SPS Charakteristik Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel? u.a. 27, 37, 103. 223 Simenon, Georges: Maigret et la jeune morte, 577f. 224 Simenon, Georges: La première enquête de Maigret, 167. 225 Simenon, Georges: Maigret et l’affaire Nahour, 87f. 226 Vgl. hierzu bezogen auf SPS Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel? u.a. 104. 227 Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 72. 228 Simenon, Georges: Maigret s’amuse, 127. Kursivierung im Original. 229 Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel?, 31. 230 Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 123f. 231 Ibid., 174. 232 Ibid., 177. 233 Simenon, Georges: Pietr le Letton, 109–113. 234 Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 1100. 235 Siehe ibid. 236 Simenon, Georges: Les vacances de Maigret, 96. 237 Becker vergleicht Maigret mit Berson, hierüber entsteht die Verbindung zur Erinnerung (vgl. Becker, Lucille F.: Georges Simenon, 36f.). 238 Simenon, Georges: Maigret et la Grande Perche, 618. 239 Simenon, Georges: La première enquête de Maigret, 105. 240 Der Wahrnehmung und intensiven Erinnerung lässt sich mit Mercier eine weitere Funktion hinzufügen, scil. bezüglich der Simenon’schen Atmosphäre: »Absorber les perceptions, c’est les enregistrer machinalement dans une mémoire sensorielle et les amalgamer à des traces déjà stockées, les comparer à des images du passé, avec leur coloration affective et leur capacité à recréer… une atmosphère.« (Mercier, Paul: Maigret: mode d’emploi?, 29). Siehe zu Wahrnehmung und Gedächtnis exemplarisch Linz, Erika/Fehrmann, Gisela: »Die Spur der Spur«. 241 Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 991. 242 Simenon, Georges: Un Noël de Maigret, 8ff. 243 Simenon, Georges: Maigret et l’inspecteur Malgracieux, 796. 244 Ibid., 797. 245 Ein Mann, nicht Stéphanie Polintskaïa aus Stan le tueur (Fall 32). 246 Hier zitiert nach Forest, Jean: Les archives Maigret, 149. 247 Am Beispiel von Pietr le Letton deute sich dies bereits bezüglich der Theorie der fissure an. 248 Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 173 249 Simenon, Georges: Les caves du Majestic, 505. 250 Simenon, Georges: Les vacances de Maigret, 65. 251 Simenon, Georges: Le prix d’un homme, Kindle, Position 30–40.

Anmerkungen

252 Diese Gestaltung hängt auch mit dem Entstehen der Atmosphäre der Maigret-Romane zusammen (5.1.4.3), die sowohl von Maigret wie auch durch den Erzähler sowie durch die Verwischung der Fokalisierung entsteht. 253 Simenon, Georges: Maigret s’amuse, 27. Bodard war ein Kollege Maigrets der, nach falschen Anschuldigungen und einer folglich stressigen Zeit, auf den Treppen am Quai des Orfèvres tot zusammenbrach (vgl. ibid., 27f.). 254 Das oben stehende Zitat findet sich bereits zum Abschnitt zur Atmosphäre. Hieran verdeutlicht sich gut die multiple/plurale Funktion, die das Wetter einnehmen kann. 255 Simenon, Georges: Un Noël de Maigret, 8ff. 256 Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 90. 257 Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 140 (Hervorhebung durch Verf.). 258 Ibid., 159. 259 Simenon, Georges: Le prix d’un homme, Kindle, Position 30–40. 260 Auch wenn Maigret jedes Wetter mag, finden sich Fälle, die er nur aufgrund des Wetters annimmt. So ist in Mademoiselle Berthe et son amant die Aussicht auf Frühling in Paris ein guter Grund, das nebelige Meung-sur-Loire zu verlassen. 261 Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 18ff. 262 Ibid., 31. 263 Vgl. hierzu exemplarisch Hellpach, Willy (1977): Geopsyche, 13ff. 264 Vgl. Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 18. 265 Vgl. exemplarisch: ibid., 187. 266 Vgl. ibid., 26. 267 Ibid., 29. 268 Ibid., 30f. 269 Ibid., 52. Die Parameter Sonnenschein und Temperaturen effizieren eine leibliche Wirkung, mit der zunächst das für Paris angemessene Schwarz der Bekleidung als für Porquerolle als farblich ungeeignet thematisiert wird. Vgl. ibid., 29. 270 Ibid., 72f. 271 Ibid., 89. 272 Ibid. 273 Vgl. Forest, Jean: Les archives Maigret, 157. 274 Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 92. 275 Ibid., 169. 276 Ibid., 93. 277 Vgl. ibid., 89, 169. 278 Ibid., 119. 279 Ibid., 99, 121, 153, 169. 280 Ibid., 98f. 281 Ibid., 121–124. 282 Ibid., 152f. 283 Ibid., 160f. (Kursivierung im Original). 284 Ibid., 173. 285 Ibid., 174. 286 Ibid., 177f.

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287 Vgl. »Vincent van Gogh. Briefe an seinen Bruder« in: Hess, Walter: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, 38. 288 Ibid., 202. 289 Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 125. 290 Ibid., 205. 291 Ibid., 218. 292 Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 133. 293 Forest, Jean: Les archives Maigret, 71. 294 Simenon, Georges: Liberty Bar, 99. Kursivierung durch Verf. 295 Roth formuliert in diesem Sinne: »Wahrnehmungen sind immer nur Hypothesen über die Umwelt« (Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 86; hier zitiert nach Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur, 124.). 296 Simenon, Georges: Liberty Bar, hier exempl. 98. 297 Ibid., 12. 298 Ibid., 70. 299 Auch hier findet sich mithin das Doppelgänger-Motiv, das die Qualität der Verbindung zwischen Brown und Maigret mit befördert. 300 Ibid., 18. 301 Ibid., 30. 302 Ibid., 34–38. 303 Ibid., 48. 304 Ibid., 128. 305 Angemerkt sei, dass das durch das Humiditätsereignis markierte Heraustreten später in Fall 57 als Eintreten in eine eigene Welt genutzt wird. Ferner erinnert sich Maigret in Fall 57 an den Fall Brown, vgl. Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 102. 306 Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, 50–53. 307 Ibid., 52. 308 Fallois, Bernard de: Simenon, 126, hier zitiert nach Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, 54. 309 Thoorens, Léon (1959): Qui êtes-vous Georges Simenon, 97, hier zitiert nach Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, 54. 310 Simenon, Georges: Maigret et le marchand de vin, 107. 311 Simenon, Georges: Maigret et le tueur, 449. Dies bildet quasi das Pendant zur Aussage über Oscar Chabut in Simenon, Georges: Maigret et le marchand de vin, 36. 312 Vgl. Simenon, Georges: Les vacances de Maigret, 54. 313 Simenon, Georges: La tête d’un homme, 74. Die Betonung des Blicks zieht sich durch den Roman. Sie entwirft im Blick des einen auf den anderen eine Verbindung, erinnert aber auch an Hoffmanns Der Sandmann und trägt dergestalt zum Moment des Unheimlichen bei. 314 Simenon, Georges: La tête d’un homme, 164–171. 315 Radek erscheint als ein Grenzüberschreiter, weil er einerseits aus der inneren Destruktivität heraus tötet und manipuliert, andererseits aus Lust am »Spiel«, ohne dass die Figuren um ihn herum erahnen, was ihn antreibt, welche Fäden er zieht. De facto beobachtet er und zielt auf eine einseitige, manipulative Kommunikation, sodass seine »Spielfiguren« (wie Crosby) nicht wissen, wer er ist. Gleichzeitig weist

Anmerkungen

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Radeks Biografie – begabter Medizinstudent, Medizin als Dienst am Menschen vs. die Entscheidung zum mehrfachen Mord, gegen das Leben des Einzelnen – auf einer abstrakteren Ebene auf die Binarität von Vernunft und dem, was sich scheinbar der Rationalität entzieht. Da Maigret von der Unschuld des bereits verurteilten Hurtins überzeugt ist, beginnt hier die zweite Ermittlung im selben Fall. Vgl. ibid., Kapitel 9 und 10. Ibid., 60. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf den Titel von Fromm, Erich: Die Pathologie der Normalität. Ibid., 78–81. Vgl. ibid., 154ff. Simenon, Georges: La tête d’un homme, 154. Ibid., 156. Ibid., 186f. Ibid., 187. Ibid. Becker, Lucille F.: Georges Simenon, 43. Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 1091. Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, 57. Ibid., 57. Ibid. Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 91. Auch wenn hier die Verbindung zwischen realen und fiktiven Tätern interessant ist, so sei nachdrücklich auf die Divergenz und Inkompatibilität von Figuren zu realen Tätern bzw. Täterinnen hingewiesen. Vgl. ibid. Ibid. In Le fou de Bergerac (1932) ermordet Samuel Meyer zwei Frauen, ein drittes Opfer entkommt, das designierte vierte Opfer ist Maigret. Die Ermittlung spielt im März und dauert etwa zwei Wochen (vgl. auch Forest, Jean: Les archives Maigret, 67ff.). Vgl. Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 981. Ibid., 971. Diese Begrenzung spiegelt ein geografisches Verhaltensmuster wider, das an geografisches Profiling erinnert. Basierend auf der Annahme, dass Tatorte bei der Verübung von Straftaten und der Wohnort des Täters zumeist in einem nicht zufälligen Verhältnis zueinanderstehen, ermöglicht geografisches Profiling ausgehend von den Tatorten einen Inferenzschluss auf den wahrscheinlichen Wohnort des Täters (vgl. Mokros, Andreas: »Facetten des Verbrechens«, 204). Bei Moncin ist dies die Wohnung der Mutter, d.h. sein Wohnort als Kind und junger Mann bis zu seiner Ehe. Beim geografischen Profiling wird ferner davon ausgegangen, dass sich um die unmittelbare Umgebung des Wohnorts des Täters eine Pufferzone legt, in der die Wahrscheinlichkeit für eine Straftat besonders gering ist (ibid.). Außerhalb der Pufferzone bildet sich die sogenannte Wohlfühlzone, in der die Wahrscheinlichkeit für eine Tat signifikant hoch ist, diese Wahrscheinlichkeit nimmt innerhalb dieser Zone mit steigender Distanz vom Wohnort ab. Über die Begrenzung des Tat-

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gebiets zeigt sich für Moncin eine Vertrautheit mit dem Gebiet, aber es ist ferner gerade das Gebiet seiner Kindheit, sodass dem Areal eine weitere psychische Komponente (Infantilisierung etc.) zugesprochen werden kann. Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 981. Wiederholung bspw. 1008. Bronfen, Elisabeth: Tiefer als der Tag gedacht, 171. Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 1011. Ibid., 959. Ibid., 1032f. Simenon, Georges: Maigret et le tueur, 449. Ibid., 979. Ibid., 979. Ibid., 986. Vgl. ibid., Verhör. Ibid., 991. Ibid., 1015. Ibid., 1032f. Ibid., 1072. Forest, Jean: Les archives Maigret, 200. Simenon, Georges: Maigret tend un piège, 1079. Ibid., 1086. Simenon, Georges: Le chien jaune, 131. Simenon, Georges: Mon ami Maigret, 31. Vgl. als Überblick zur Klimatologie: Woloshyn, Tania Anne: »La Côte d’Azur.« Anzumerken ist, dass die Hochzeit der Klimatologie und die des Impressionismus und Postimpressionismus zeitlich in etwa kongruent sind. Ministère de la Justice: Code pénal (ancien), Artikel 64.Um Artikel 64 baut sich auch Maigret hésite (Fall 95) auf, der kurz vor Maigret et le tueur (Fall 97) entsteht. Vgl. zu Maigret hésite auch Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, 55. Korrespondenz Simenons mit Krechel, Brief vom 22. November 1977. Der Brief findet sich im Anhang zu Krechel, Hans-Ludwig: Strukturen des Vokabulars in den Maigret-Romanen Georges Simenons. Simenon, Georges: Maigret et le tueur, 474f. Vgl. ibid., 467. Vgl. ibid., 473. Krechel, Hans-Ludwig: Strukturen des Vokabulars in den Maigret-Romanen Georges Simenons, 86. Simenon, Georges: Maigret et le tueur, 449 (Hervorhebung durch Verf.). Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 89f. Dies zeigt sich in der Darstellung von Wetterlagen bzw. ihrer Wahrnehmung von »les gens« etwa in Maigret au Picratt’s (vgl. Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 56). Simenon, Georges: Maigret et le tueur, 449 (Hervorhebung durch Verf.). Ibid. Ibid., 324.

Anmerkungen

370 Ibid., 447. 371 Vgl. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer, 9. 372 Simenon, Georges: Maigret et le tueur, 341. Vgl. zur Wolke auch Weber, André: Wolkenkodierungen bei Hugo, Baudelaire und Maupassant. 373 Ibid., 346f. 374 Feldbusch, Thorsten: Zwischen Land und Meer, 35. 375 Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer, 10. 376 Ibid. 377 Simenon, Georges: Maigret et le tueur, 430. 378 Ibid., 393. 379 Ibid., 476. 380 Simenon, Georges: La patience de Maigret, 679. 381 Geherin, David: Scene of the Crime, 14. 382 Simenon, Georges: Le prix d’un homme, Kindle Position 30–41. 383 Lemoine, Michel: Paris chez Simenon, 7, zitiert nach Meyer-Bolzinger, Dominique: »Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret«, 45. Die Räume bzw. Orte in den Maigret-Romanen wurden vielfach untersucht, exemplarisch sei verwiesen auf: Carly, Michel: Maigret. Traversées de Paris; Geherin, David: Scene of the Crime, 9–19; Lemoine, Michel: »Les lieux de Maigret«, 95–109; Lysøe, Éric: »Maigret ou le passage de la ligne«, 293–315; Modenesi, Marco: »Rues, ruelles, impasses et boulevards: Maigret et l’espace parisien«, 179 sowie Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, 114–120. 384 Paris, Antibes, Porquerolle oder andere Orte sind nicht als unübersichtlicher Makrokosmos Schauplatz der Handlung, sondern werden meist auf spezifische Areale begrenzt, die – neben Maigrets Wohnung oder dem Quai des Orfèvres – das Zentrum der Ermittlung bilden und in der Regel ein spezifisches Milieu oder eine bestimmte Subkultur aufweisen (vgl. zum Milieu und dessen Exploration durch Maigret Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, bes. 67 f, 83ff.). Auf diese Weise zeichnet sich die Raumgestaltung, anders als in den hard-boiled novels, durch einen begrenzten, aber nicht hermetisch geschlossenen Bereich wie in den klassischen Rätselkrimis aus. Ferner, so Wigbers, seien in den hard-boiled novels die Großstädte »umfassend beherrscht […] von Gewalt und Verbrechen«, während Simenons Paris weit »›geordneter‹ [erscheint]. […] [E]s existiert kein dem hard-boiled Krimi vergleichbares dichtes Netz krimineller Organisationen und das Verbrechen wird kaum institutionell gestützt.« (Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, 115). Organisierte Verbrecherbanden finden sich etwa in Stan le tueur oder Maigret et son mort, Maigret au Picratt’s, Pietr le Letton. Sie weisen aber nicht die umfassende Machtstruktur auf wie in den hard-boiled novels. In seltenen Fällen wird die Verhaftung des Täters durch dessen Beziehungen verhindert. Trotz der Serienkonzeption bleibt das Verbrechen ein Einzelphänomen, meist als Resultat einer individuellen, problematischen Relation von Täter und Opfer. Allerdings geraten einzelne Stadtareale oder Arrondissements wiederholt als Schauplätze des Verbrechens in den Fokus. Dies liegt vermutlich weniger an einer faktual statistischen Häufung oder Assoziation als vielmehr daran, dass viele Maigret-Romane nicht in Paris, sondern in den USA oder der Schweiz entstehen und vornehmlich die Gefilde herangezo-

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gen werden, die »l’écrivain connaît pour y avoir vécu, d’où ces deux pôles de l’espace parisien du commissaire: Montmartre (9e et 18e arrondissement) et le quartier des Ternes jusqu’aux Champs-Élysées (8e arrondissement)« (Meyer-Bolzinger, Dominique: »Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret«, 47). Ungeachtet der geografischen Präferenz des Schauplatzes bzw. Settings wird in La colère de Maigret (1962) eine Verbrechensgeografie aufgeworfen, nach der sich etwa die Tötungsart gleichsam soziologisch signifikant für ein Quartier oder eine Gesellschaftsschicht erweist: »Chaque quartier de Paris, chaque classe social a pour ainsi dire sa façon de tuer, comme, aussi, son mode de suicide. Il existe des rues où on se jette par la fenêtre, d’autres où l’on s’asphyxie au charbon de bois, d’autres encore où on absorbe des barbituriques. On connaît les quartiers à coup de couteau, ceux où l’on se sert d’une matraque et ceux, comme Montmartre, où dominent les armes à feu.« (Simenon, Georges: La colère de Maigret, 290f.). Malets Nouveaux Mystères de Paris (1954–1959) zeichnen eine Verbindung von Arrondissement und Verbrechen wie der Tötungsart nach. Grundlegend hierfür ist die Gestaltung der Reihe, da ein Fall jeweils in einem Arrondissement spielt. Von Paris als Topos geht bereits eine eigene Vorstellung, ein eigenes Imaginaire, ein eigenes Flair aus. Die Situierung in der Stadt verankert die Handlung in einer realen Geografie und fungiert als kognitiver Trigger, der potenziell ein geografisches und kulturelles Hintergrundwissen resp. individuelle Vorstellungen weckt, zumal »all conceptions of place are inherently and inescapably subjective« (Kennedy, J. Gerald: Imagining Paris, zitiert nach Geherin, David: Scene of the Crime, 13). Konkrete Straßennamen oder Toponyme wie die Champs-Élysées, der Boulevard Richard-Lenoir, der Quai des Orfèvres mit der PJ bewirken die Evokation »faktualer« Orte. Mit Meyer-Bolzinger kann resümiert werden: »Ce qui fait l’espace urbain des Maigrets, en effet, n’est rien d’autre qu’une liste de toponyms, Marco Modenesi […] insiste à juste titre sur leur usage métonymique, où la simple citation d’un nom suffit à l’évocation d’un lieu. Ainsi, les noms des rues parisiennes augmentent l’effet de réel.« (Meyer-Bolzinger, Dominique: »Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret«, 48). Hinzu kommen viele Orte, die nicht existieren, wie die Brasserie Dauphine, bekanntester der »lieux fantômes« (ibid.) des Paris’ Maigrets. Aufgrund der Konzeption des Verbrechens ist Paris indes nicht die Stadt der Touristen, weniger die der Bohemiens oder die Stadt der Mode (vgl. auch Geherin, David: Scene of the Crime, 15), insofern erfolgt selten ein Blick etwa auf den Eiffelturm oder Notre-Dame. Vielmehr ist Paris porträtiert als »a city of ordinary people engaged in the daily business of working, eating, drinking, and simply living in the beautiful city« (ibid., 15f.). Der Eindruck der Stadt resp. des Areals des Verbrechens baut sich charakteristisch für den Kriminalroman nicht baedeckerartig auf, sondern durch die Erwähnung von Einzelheiten, wie die Kähne auf der Seine, einzelne Autos, Menschen auf den Straßen, konkrete Personen, die Maigret beobachtet, etwa Handwerker, Postboten oder Gemüsehändler, oder notable Details der Stadtgeografie: »La façade, entre l’échoppe d’un cordonnier et une blanchisserie où l’on voyait travailler des repasseuses, était si étroite que la plupart des gens devaient passer sans soupçonner qu’il y avait là un bar.« (Simenon, Georges: Maigret et la jeune morte, 316.) 385 Geherin, David: Scene of the Crime, 11f.

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Blanc, Jean-Noël: Polarville, 72. Ibid., 73. Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. Vanoncini weist die Funktion des Wetters als Realitätseffekt für die Romane Simenons zurück (vgl. Vanoncini, André: Simenon et l’affaire Maigret, bes. 45). Wenger, Murielle: »Maigret Météo«. Vgl. ibid. Geherin, David: Scene of the Crime, 14. Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 155. Ibid. Die Gare du Nord erscheint gleich im ersten Maigret-Fall Pietr le Letton und wird gleichsam zum lokal symbolischen Ausgangspunkt, zum Symbol für das Novemberwetter, das als Spiegel der Psyche von Hans nach dem Mord an Pietr weite Teile des Romans prägt. Vgl. auch ibid. Simenon, Georges: Les mémoires de Maigret, 127. Wenger, Murielle/Trussel, Stephen: Maigret’s World, 156. Simenon, Georges: Maigret et l’inspecteur Malgracieux, 797. Simenon, Georges: Maigret et la jeune morte, 559. Simenon, Georges: L’Écluse No 1, 199. Simenon, Georges: Maigret et le voleur paresseux, 1023. Simenon, Georges: Maigret s’amuse, 63. Vgl. zur Grundtönung Böhme, Gernot: »Das Wetter und die Gefühle«, 165. Der durch das Wetter geschaffene Eindruck der Stadtparameter hängt mit der Wirkung der jeweils evozierten Polychromie oder Monochromie zusammen, zumal bei hellen Farben wahrnehmungspsychologisch tendenziell der Eindruck von Leichtigkeit und Weite entsteht, bei dunkleren Farben bspw. Objekte subjektiv schwerer, dichter oder Stadtausschnitte beengter erscheinen. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, 116. Ibid., 117. Vgl. zur Darstellung von Paris mit sensuellen Eindrücken auch Geherin, David: Scene of the Crime, 14. Simenon, Georges: Maigret et son mort, 17ff. Simenon, Georges: Stan le tueur, 285. Simenon, Georges: Cécile est morte, 773. Simenon, Georges: Le voleur de Maigret, 970. Simenon, Georges: Cécile est morte, 676. Simenon, Georges: L’Étoile du Nord, 329. Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 26f. Simenon, Georges: Maigret et le corps sans tête, 807. Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 7. Ibid., 56. Simenon, Georges: La nuit du carrefour, 49. Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 20. Simenon, Georges: Maigret et l’homme du banc, 1086. Simenon, Georges: Maigret s’amuse, 63.

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Ibid., 18. Simenon, Georges: La nuit du carrefour, 118f. Simenon, Georges: Maigret et son mort, 17ff. (Kursivierung durch Verf.). Simenon, Georges: Pietr le Letton, 15. Simenon, Georges: Maigret et la Grande Perche, 618. Simenon, Georges: Les vacances de Maigret, 18. Simenon, Georges: Maigret au Picratt’s, 140. Ibid., 17f. Simenon, Georges: L’amoureux de Mme Maigret, 161. Simenon, Georges: Maigret s’amuse, 10. Ibid. Der Nebel erhält etwa in den Fällen 1, 17, 35, 40, 57, 97 eine topografische, topologische und semantische Funktionskomponente, indem er Grenzen zu verschiedenen Lebenswelten, Vergangenheiten oder psychische Dispositionen markiert. Zuweilen wird Nebel ferner zur Erzeugung von »Spannung und Erregung« genutzt. In Fall 7 versinnbildlicht er etwa zunächst die Undurchsichtigkeit des Falls zu einem frühen Zeitpunkt und signalisiert durch seine spätere häufige Erwähnung einen Zusammenhang zwischen dem Toten und dem expressis verbis wie ein (Damen-)Schal wirkenden Nebel um das Haus der Andersens. Simenon, Georges: Cécile est morte, 675f. Auf dieses Potenzial verweist Blanc, der unter einer allgemeinen angenommenen Vormachtstellung von Humiditätsereignissen im polar konstatiert: »Le brouillard dessine une ville fuyante et inquiétante.« (Blanc, Jean-Noël: Polarville, 73). Vgl. hierzu auch den Abschnitt zum kinematografischen Wetterfaktor. Simenon, Georges: Maigret et le tueur, 324. Blanc, Jean-Noël: Polarville, 78. (Kursivierung im Original). Vgl. Vargas, Fred: L’Armée furieuse.

Pierre Magnan – Der französische Regionalkrimi 1 2 3

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Magnan im Interview mit Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 13. Vgl. Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive, 616. Pierre Magnan (1922–2012) wird in Monosque (Basses-Alpes) geboren und bleibt sein Leben lang der Region verbunden. 1946 verfasst er unter dem Einfluss des Krieges sein erstes Werk L’aube insolite. Bereits darin spielt das Wetter eine entscheidende Rolle: Eine Aurora borealis ermöglicht es zwei Männern, den Deutschen zu entkommen. Während weitere Schreibversuche zunächst erfolglos bleiben, erscheint 1977 Le sang des Atrides, der erste Fall mit Commissaire Laviolette, der 1978 den Prix du Quai des Orfèvres erhält. Magnan selbst ist stark durch Jean Giono und dessen naturverbundene Texte beeinflusst. Vgl. Séry, Macha: »Le roman noir se met au vert«. Lebrun, Michel, zitiert nach Schweighauser, Jean-Paul: »Magnan Pierre«, 267. Vgl. Lozzi, Nicolas: Les nombreuses vies du polar provençal, 7. Vgl. Einführend zum polar rural bzw. Regionalkrimi exemplarisch: Erdmann, Eva: »Hauptsache regional«;

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Jahn, Reinhard (2009): »Was ist ein Regionalkrimi?«; Le Gal, René: »Polar de terroir. L’enracinement des affaires criminelles dans la spécificité des territoires«; Lehmann, Christine: »Doch die Idylle trügt«; Mecklenburg, Norbert: Erzählte Provinz; Mounier, Frédéric: »Territoires«; Seibert, Kristina: Schöner Ort – schöner Mord?; Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, bes. 171–154, 204–216. Obwohl Magnan nach Lozzi den französischen Regionalkrimi gleichsam begründet, finden sich eher wenige Studien etwa zu den Laviolette-Fällen; besonders erwähnt seien die Arbeit Pierre Verdaguers aus dem Jahr 1999, der Magnan und Pennac vergleicht: La séduction policière; die Thesis des Geografen Robert Briwa: Experiencing Provence in the regional imagery of Peter Mayle and Pierre Magnan sowie der Artikel von Elsa Grasso: »Phénoménologie du roman policier: l’enigme et la chair du monde chez Pierre Magnan«. In ihrer Arbeit Sensaciones. El viento y los olores en la obra literaria de Pierre Magnan von 2004 nimmt Yolanda Jover Silvestre zwar den Wind in den Blick, klammert aber den Aspekt Kriminalroman aus. Vgl. zum Terminus des polar rural: Séry, Macha: »Le roman noir se met au vert«. Ibid. Vgl. Poisson, Philippe: »33 – Portrait du jour: Christophe Matho, créateur de la Maison Marivole«. Zur Regionalsprache bei Magnan sei hingewiesen auf die Theses von Gradeler, Linda Diane: »Provençalismes et régionalismes dans quelques romans contemporains (1970–2000)«. Jahn, Reinhard: »Was ist ein Regionalkrimi?«. Vgl. exemplarisch zum Soziokrimi: Brönnimann, Jürg: Der Soziokrimi: Ein neues Genre oder ein soziologisches Experiment?. Vogt, Jochen: »Krimi – international«, 3. Ibid., 4. I. Le sang des Atrides (1977), II. Le commissaire dans la truffière (1978), III. Le secret des Andrônes (1980), IV. Le tombeau d’Hélios (1980), V. Les courriers de la mort (1986). Insgesamt erscheinen sieben Romane um Laviolette sowie ein Band mit Kurzgeschichten. Die vorliegende Untersuchung befasst sich primär mit den ersten fünf Titeln der Reihe. Gründe hierfür sind der zeitliche Bruch sowie die Unterschiede der Konzeption zum über zehn Jahre später erscheinenden Fall Le parme convient à Laviolette (2000). Dieser präsentiert neben dem Mordfall Rückblicke Laviolettes und schildert, was aus den Figuren von »damals«, d.h. aus den Fällen eins bis fünf, wurde. In Elégie pour Laviolette (2000) fungiert Laviolette als Ich-Erzähler. Ebenso ausgeschlossen werden die Kurzgeschichten in dem Sammelband Les enquêtes de commissaire Laviolette, die 1991 erschienen. Magnan, Pierre (2005): Ma Provence d’heureuse rencontre, 7. Das Setting greift prima facie das Raummodell der Kriminalromane des Golden Age, wie etwa Christies, auf, in denen das Land als scheinbar idyllischer Hintergrund für den Mord fungiert. Da es sich bei den Laviolette-Romanen um eine Serie handelt, kann die potenzielle Idylle nicht permanent durch eine fast jährliche Mordserie entzaubert werden. Von vornherein stellen die Morde für die Dorfbewohner keine Zerstörung ihrer ländlichen Idylle dar, die scheinbar frei von allem Bösen ist, sondern sie bereichern ihr Leben um einen spannungsvollen Reiz. Die Bewohner selbst

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erscheinen in einigen Fällen durch einen nous-narrateur, mit dem den Vermutungen zur Einkreisung des Täters angedeutet werden, gekennzeichnet. 17 Hierzu gehört bspw. der Humor, der sich durch die Reihe zieht. So wird in Le sang des Atrides konstatiert: »Pourtant, l’assassin y [l’enterrement] était probablement. C’est l’usage en provence.« (Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 28). 18 Briwa, Robert: »Time and Place Identity in Pierre Magnan’s Provence«, 125. 19 Ibid., 126. »[P]lace-defining novelists produce works marked by critical acclaim, local popularity within the regions and places they are writing about, and/or a geographically far-flung and numerically large audience.« (Shortridge, James: »The Concept of the Place-defining Novel in American Popular Culture« zitiert nach Briwa, Robert: »Time and Place Identity in Pierre Magnan’s Provence«, 123). 20 Briwa, Robert: Experiencing Provence in the regional imagery of Peter Mayle and Pierre Magnan, 96. 21 Ibid., 91. 22 Bezüglich der geografischen Perspektive ist zu ergänzen, dass die Landschaft der Provence und das Wetter eine reziproke Beziehung aufweisen. So entsteht durch die Topografie etwa der Mistral, der sich wiederum auf die Landschaft auswirkt. Sie ist anemogen, sichtbar etwa an den Windflüchtern. 23 Vgl. zum Aspekt des local knowledge im Kriminalroman Vogt, Jochen: »Krimi – international«, 5. Vogt bezieht sich primär auf Kriminalromane, die sich im Zuge der Globalisierung wieder dem Lokalen bzw. Regionalen zuwenden. Er hebt hervor, dass unter dem Aspekt des local knowledge »gerade der neuere Kriminalroman in seiner geographischen und kulturellen Vielfalt für eine ›ethnographische‹ Lektüre fruchtbar gemacht werden« könnte. (Ibid.) 24 Ibid. 25 Laviolette stammt aus der Haute-Provence, war Polizist in Paris und wurde nach Digne strafversetzt, seine größte Sorge: Digne wieder verlassen zu müssen. Er ist die ermittelnde Hauptfigur und arbeitet bis auf Fall zwei und drei mit Untersuchungsrichter Chabrand zusammen, der als Alter Ego Laviolettes gesehen werden kann (vgl. zur Beziehung Richter und Kommissar auch Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 40). 26 Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 78. Eine »fillette chaude« ist eine Korbflasche mit Schwarzgebranntem. 27 Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 13. 28 Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 46. 29 Ibid., 26. Vgl. zur Problematik einer Einordnung auch Grasso, Elsa: »Phénoménologie du roman policier: l’énigme et la chair du monde chez Pierre Magnan«, bes. 152ff. 30 Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 46. 31 Basal hierfür ist die Personifizierung von Wetterphänomenen über längere Passagen sowie ihre Konzeption mit individuellen Charakterzügen, Emotionen oder der Darstellung einer eigenen Vergangenheit. 32 Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 13. 33 Der quantitative und qualitative Fokus, der in der Narration auf die Täterfigur gelegt wird, ist unterschiedlich stark ausgeprägt; so bleibt etwa Goulven bis zu seiner

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Identifizierung unerwähnt und der Tathintergrund wird nur durch seine Schwester aufgedeckt; Alcide Régulus’ innere Auseinandersetzung mit seiner Identität, dem Unbehagen und der Entwicklung zum Mörder sind durch seine Tagebucheinträge in der Ich-Perspektive geschildert. Schwab, Angelica: Serienkiller in Wirklichkeit und Film, 66. Schwab bietet einen Überblick zum Serientäter in der Literatur, bes. 60–66. Vgl. ibid. zum Serientäter in der hard-boiled novel. Ferner sei verwiesen auf Juhnke, Karl: Das Erzählmotiv des Serienmörders im Spielfilm, bes. 5–19. Blickt man aus kriminologischer Sicht auf Täter, so erscheint nach Harbort der Serientäter als die schillerndste Persönlichkeit und die Serientötung als das wohl irritierendste Gewaltphänomen. Harbort definiert Serientäter wie folgt: »Der voll oder vermindert schuldfähige Täter […] begeht alleinverantwortlich oder gemeinschaftlich […] mindestens drei vollendete und von einem neuen feindseligen Tatentschluß gekennzeichnete vorsätzliche Tötungsdelikte […].« (Harbort, Stephan [1999]: »Kriminologie des Serienmörders«, Teil 1,4. Original in Fettdruck). Hinzu kommt das Kriterium der Gleichartigkeit (vgl. ibid., 5), die sich auf die Subsumtion bzw. Qualifikation der Taten bezieht. Vgl. zur Problematik der Abgrenzung zwischen Serienmord und multiplen Tötungsdelikten bspw. Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, bes. 60ff. Vgl. zur Serientäterfigur in Kriminologie, Kulturwissenschaft und Literatur exemplarisch: Robertz, Frank J./Thomas, Alexandra: Serienmord. Schwab, Angelica: Serienkiller in Wirklichkeit und Film, 47f. (Kursivierung im Original). Bezüglich des Wetters ist anzumerken, dass sich über dieses vielfach Hinweise auf die Täterfiguren finden und Zusammenhänge zwischen Figuren, Ereignissen und Naturphänomenen geschaffen werden, die als Puzzleteil zur Lösung gelesen werden können. Interessant ist, dass die Romane nach Verdaguer zwar repräsentativ für die 1980erJahre seien und »peuvent se lire comme des révélateurs culturels (au sens anthropologique du terme) de cette même période«, aber bezüglich der »composantes socioculturelles […] frappent par leur inactualité« (Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 34). Freilich suggeriert das in der Laviolette-Reihe aufgebaute Zeit-RaumGefüge aus der Zeit gefallene Provinzdörfer, deren historischer Fond für die Ermittlung relevant wird, doch bestehen auch subtil-kritische Indizien zur Gegenwart. Betrachtet man exemplarisch einige Aspekte wie die Kritik an gesellschaftlichen Missständen und Systemen, soziokulturelle Faktoren, Homosexualität, Gewalt gegen Frauen etc. oder auch die umweltrelevanten Themenkreise wie biologische oder konventionelle Landwirtschaft, Imkerei, die Bedrohung des provenzalischen Lammes durch das britische im Zuge der Globalisierung etc., so sind dies doch höchst aktuelle Felder, die immer wieder zur Sprache gebracht werden. Angemerkt sei ferner, dass das Motiv der Biene bzw. Imkerei als Facette des Landlebens sich in den Laviolette-Fällen häufiger findet. In Le parme convient à Laviolette wird ein Bienenvolk, bedingt durch die Wetterlage, sogar zum Mordinstrument. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 153.

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Der Titel des Romans spielt auf eine (bluttriefende) griechische Sage an: Atreus, der Sohn des Pelops und der Hippodameia, ermordet u.a. die Söhne seines Bruders Thyestes, die er ihm zum Essen vorsetzt. Dieser verflucht ihn und seine Nachkommen, die sog. Atriden, bis zur 5. Generation dazu, zu Mördern an den eigenen Familienmitgliedern zu werden, was sich bereits bei Atreus Sohn, Agamemnon. und seinem Enkel Orest bewahrheiten wird. Mit den Blutsbanden der Atriden vererbt sich die Verdammung zum Mord. Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 15. Ibid., 15. Vgl. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 240ff. Vgl. zu kindlichen Traumata in Täterbiografien Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 80ff. Vgl. ibid., 91. Vgl. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 242. In die Rolle des Orest wird Goulven von seiner Schwester gedrängt, die ihn so nicht mehr vom Mord an Hospitalier, in den sie sich verliebt, abhalten kann. Sie führt aus: »[J]’ai affermi Goulven dans le rôle d’Oreste. Je l’ai fait approuver, aider, encourager, par les dieux de la Grèce. Je lui ai fait apprendre tous les rôles: ceux d’Eschyle, d’Euripide, de Sophocle et de tous les Modernes.« (Ibid.) Der geneigten Leserschaft erschließt sich sodann die Anspielung des Titels sowie der Bezug zu Freud. Goulvens Orest weicht aber insofern von der ›Vorlage‹ ab, als er seine Mutter nicht tötet. Laviolette verbindet nach den Ausführungen der Schwester den psychologischen und mythologisch-dramatischen Fond: »[J]’avais toujours imaginé que la vengeance d’Agamemnon n’était pas le seul mobile d’Oreste! En vérité, il n’y a pas que le soleil et la mort qui ne se puissent regarder en face. Voir sa propre mère…« (Ibid., 240) Als ›kultureller‹ Gegenstand, so wird Laviolette die Steinschleuder schließlich ansehen, eröffnet sie eine Verbindung zu den Vorfahren aus der Bretagne. Verdaguer sieht in den Morden der Magnan’schen Täterfiguren, dass eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit gezogen wird, außerdem die Resurrektion der Vorfahren: »On sait aussi que la valeur sacrificielle et hiératique du meurtre implique une mise en scène destinée à faire revivre des ancêtres disparus.« (Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 80f.). Dieses Moment grundsätzlich als Motivation für alle Täterfiguren, so etwa auch für Évangéline Pécoul oder Cordélie, anzunehmen, ist aber problematisch. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 241. Als Bestandteil des Mordes als »façon privilégiée de remonter le temps« scheint das »costume à valeur hiératique« (Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 80f.) zu haben. Psychologisch ließe sich diese als eine Art »Schutzmantel« für die Täterfigur interpretieren. Hierbei handelt es sich (außer in Fall fünf) nicht um eine vollständige Verkleidung. Die Gegenstände sind aber nicht unabdingbar, um die Morde zu begehen. Die Zeit der Eisheiligen wird auch als Maifröste bezeichnet. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 116.

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Sodass sich ein Anhaltspunkt auf die Größe ergibt, woraufhin alle ›kleineren‹ Männer in Verdacht geraten. Ibid., 133. Goulven erhebt sich allerdings, indem er von der erhöhten Position auf dem Denkmal aus tötet, sowohl räumlich als auch metaphorisch über Hospitalier und die Ermittler. Ibid., 115f. (Kursivierung durch Verf.). Bemerkenswerterweise setzt der Schneefall ein, als sich die Ermittler vor der Kathedrale befinden. Ibid., 163. Der St.-Pancratius-Tag ist der 12. Mai, ein nicht mehr gebotener Gedenktag im Allgemeinen Römischen Kalender bzw. ein Gedenktag der Klasse III. Kontextbezogen ist zudem hervorzuheben, dass Pancratius Patron der Kinder ist. Es sei ferner der calendrier des Postes hervorgehoben. Hierüber sowie in Kombination mit der Darstellung und dem komplizenhaften Verhalten des Windes wird von Goulven eine Verbindung zum Täter in Les courriers de la mort gezogen, der ebenso in besonderer Relation zum Wind steht. Hier erhält Laviolette einen entscheidenden Hinweis über den »calendrier des Postes«. Auffallend ist zudem, dass Goulvens Vater wie Régulus (Täter Fall fünf) Alcide hieß. Ibid., 155f. Vgl. ibid., 150. Ibid., 147. Ibid., 153f. Ibid., 155f. Ibid., 154. Ibid., 159. Ibid., 159. Ibid., 159. Ibid., 161. Jover Silvestre, Yolanda: Sensaciones, 18. Allerdings stimmt die Feststellung »Ese carta hubiera podido salvar la vida de varios personajes« (ibid.) nicht, da Goulven nach dem Mord an Mme de Champclos niemanden mehr tötet; er wählt nach der Verfolgungsjagd mit Chabrand den Freitod. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 161. Ibid. Hier wird nach Stacey auch mit den Leseerwartungen gespielt. Vgl. Fußnote in Stacey, Sue: »Pierre Magnan: Crime and Complicity in ›la France profonde‹«, 143. Ibid., 162. Ibid., 163. Die Polizei zerstört hier gewissermaßen selbst den Hinweis auf den Täter. Ibid., 163. Ibid., 163. Es sei auch hier auf den auffälligen Verweis auf den calendrier des Postes hingewiesen. Hierüber sowie in Kombination mit der Darstellung und dem komplizenhaften Verhalten des Windes wird von Goulven eine Verbindung zum Täter in Les courriers de la mort lanciert, der in besonderer Relation zum Wind steht. An dieser Stelle erhält Laviolette einen entscheidenden Hinweis über den calendrier des Postes. Ibid., 31. Ibid., 107f. Ibid., 108.

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Ibid., 109. Vgl. zum Orakelcharakter von Naturphänomenen exempl. Planka, Sabine: Orakel und Wahrsagetechniken im Film, bes. 395–401. Ibid., 145. Ibid., 114. Ibid., 114. Ibid., 114. Laviolette und Chabrand müssen dennoch dieser Spur nachgehen. Dies führt u.a. dazu, dass nun alle Kinder mit Genu valgum zu Verdächtigen werden. Durch den Hinweis der beiden Wildschweinjäger, die den Täter im Nebel gesehen haben und so ›nur‹ seine Größe angeben können, fiel der Verdacht zunächst auf alle kleinwüchsigen Männer. Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 53, unter Verweis auf Ressler, Robert K./ Burgess Ann W./Douglas, John E.: Sexual Homicide, 69f. sowie Turvey, Brent E.: Criminal Profiling, 169–182. Laviolette kommt schließlich von einer anderen Seite auf Goulven, indem er über die Mordwaffe eine kulturelle Relation zu einem bretonischen Täter sieht und dies mit dem Familiennamen Térénez in Verbindung bringt. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 114. Die Wildschweinjäger können ihn wegen des Nebels nicht identifizieren und auch der Musiker kann ihn wegen des Nebels an der Bléone nur hören. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 133. Ibid., 115. Die Sichtbarkeit des Mondscheins ist ein Indikator für klaren oder Wolkenarmen Nachthimmel: d.h. der Mondschein ist ein Wetterindikator. Ibid., 27. Ibid., 127. Ibid., 103. Das Wetter verweist ferner auf die Fallfaktur (Vgl. exemplarisch ibid., 87f., 182, 187, 220). Ibid., 138. In Les courriers de la mort führt ebenfalls ein Regenschauer zu einem erotischen Abendeuer. In Le parme convient à Laviolette ist es eine laue Sommernacht, die Laviolette verzaubert und mit »Lemda« zusammenbringt. Ibid., 207ff. Ibid., 211. Interessant ist zudem die semantische Binär-Opposition, die aus der Wirkung der Landschaft auf Chabrand und dem personifizierten Wetter für Goulven entsteht. Hellpach, Willy: Geopsyche, 172. Rot = Blut. Vgl. hierzu auch: Hellpach, Willy: Geopsyche, 172. Ibid., 15. Pfister, Manfred: Das Drama, 368. In Anlehnung an ibid, 368. Naudin, Flore/Chavagné, Pierre Pour saluer Magnan. Entretiens, 13. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 24f. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 244. Ibid., 151.

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Vgl. z.B. ibid., 55. Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 13. Ibid., 243. Ibid., 245. Die Uillaoude ist eine ältere Dame, von der es heißt, sie habe Beschwörungen und okkulte Rituale durchgeführt und verfüge über entsprechende Kräfte. Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 89. Ibid., 92. Vgl. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 241f. Im Nexus der Mythologie steht hier die Geschichte von Pygmalion dahinter, der sich in eine Statur verliebt und diese zum Leben erwecken möchte. D.h. einige Monate nach der Lektüre des Grimoire. Vgl. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, Kapitel 23. Ibid., 244. Insofern verweist das Ritual selbst auf eine multiple Grenzüberschreitung, die mit den Morden vollzogen wird. Ibid., 228. Besonders deutlich wird dies kurz vor seinem Tod, indem die Furcht vor der Verdammnis in seinen letzten Worten spürbar wird. Dies wird durch die Ausführungen im Recette explizit: »[L]’impétrant devra toujours se garder que, ce faisant, il commence avec l’Ange noir et devra endurant son ouvrage se garder d’icelui quelque artifice approprié…« (Ibid., 244) Auch wenn Pipeaus Methode freilich nicht gutzuheißen ist, so scheint doch die Düngemethode agrobiologisch nicht einmal abwegig, zumal Blut Pflanzennährstoffe wie etwa Kalium und Phosphate enthält. Ibid., 17 (vgl. zudem 14). Bemerkenswert ist, dass dieser Aussage unmittelbar der Hinweis auf Francine und ihre Vorliebe für Schmuck folgt. Vgl. ibid., 32ff. Ibid., 20. Ibid., 243. Ibid., 150f. Schwab, Angelica: Serienkiller in Wirklichkeit und Film, 63. In der Tötung der Hippies liegt eine gewisse Pointe, wenn man ihre Kapitalismuskritik und die finanzielle Tatmotivation einbezieht. Dies stellt eine Erweiterung zum ersten Fall dar. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 150. Schwab, Angelica: Serienkiller in Wirklichkeit und Film, 63. Torgovnik, Marianna: Closure in the Novel, 3f. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 13. Hierüber entsteht zudem eine suggestive Rekurrenz auf die Motive des Schauerromans bzw. des phantastischen Kriminalromans, die mit der Beschwörungsthematik kohäriert und dabei von Anfang an eine ›unheimliche‹ Atmosphäre evoziert. In ähnlicher Weise fungiert der Mondschein bei Claire Piochet. Ibid., 234f. Vgl. »Roseline trottait dans la poussière de ce novembre sec.« (Ibid., 14) Ibid., 35. Alyre und Rosaline waren beim Künstler Lewinkow, mit dem Alyre über die Verschwundenen (d.h. die bisherigen Opfer Pipeaus) sowie dessen Kunstinstallation

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sprach: an einer Eiche (in textiler Form) Aufgehängte, deren blutrote Zungen teilweise bis auf die Erde reichten. Durch die textliche Nähe wird für den Krimiplot ein Konnex zum nachfolgenden Geschehen im Trüffelhain angelegt. Ibid., 43–45. Ibid. Ibid., 89. Wobei »mais« bereits die sich entwickelnde Problematik präfiguriert. Das 10. Kapitel ist als Simulepse von vier Handlungssträngen aufgebaut, von denen zwei in einem tödlichen Unfall zusammenlaufen; ein weiterer fokussiert einen nicht näher genannten Fahrer, der retrospektiv als Albert Pipeau identifiziert werden kann. Der vierte fokussiert die zweite Täterin Claire im Hotel; ihr Blick in den Schneesturm ist bezüglich der Erinnerung an ihren Bruder interessant, dessen Gesicht sie im Schneeschleier zu sehen glaubt, und wegen ihres Eindrucks, sich in eine soricière manövriert zu haben (ibid., 88). Hiermit entsteht eine latente Verbindung zwischen den Tätern; so fühlt sich Pipeau »coincé comme un rat« (ibid., 95). Ibid., 86. Ibid., 89. Ibid., 91 (Kursivierung durch Verf.). Die Identifizierung des Baumes als orme de Sully ist hervorzuheben, weil gerade in Südfrankreich die Ulme als Baum der Gerechtigkeit gilt, unter dem weltliches Recht gesprochen und Gottes Wort verkündet wurde. Die Ulme steht allgemein für Macht. Ibid., 86. Ibid. Ibid., 91f. Vgl. zum Phänomen des Whiteout in der Literatur Frost, Sabine: Whiteout. Ibid., 95. Ibid., 92. Praktisch bedeutet die Schneewehe die notwendige anderweitige Beseitigung der Leiche an einem anderen Ort. Die Straßen sind blockiert und wegen eines Unfalls verharrt Pipeau in der Remise des (nomen est omen) Hôtel des Franches, um nicht entdeckt und erkannt zu werden. Indem er die Leiche in der Gefriertruhe deponiert, beschleunigt er allerdings die Entdeckung der Mordserie. Durch den Schneesturm wird er in der Remise in einer Dunkelheit festgesetzt, die zuvor am Friedhof und im Trüffelhain mit der Präsenz des Ange noir assoziiert wurde. Die Situation, die unterschwellig wirkende Furcht und die Gefahr der Entdeckung befördern potenziell die psychische Belastung. Der Eindruck des Unbehagens intensiviert die affektive Wirkung der folgenden Szene: Pipeau fährt aus der Remise in die Böen (vgl. ibid., 97), vorbei am »épave pendue haut et court dans le berceau de la dépanneuse et que le vent balançait« (ibid.). Das Bild festigt die Verwobenheit von Tod und Wind; der Tod liegt in den Händen, in der Macht des Windes. Das vom Wind geschaukelte Autoskelett erweist sich als mehr denn als memento mori, denn es nimmt sehr konkret den Tod Pipeaus vorweg. Ibid., 97f. Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 13. Ibid., 228. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 211. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 99ff.

Anmerkungen

154 Es ist der Tag des alljährlichen Treffens für die Kriegsveteranen von Banon, das Brèdes auf seinem Anwesen, einer ehemaligen Seidenraupenzucht, ausrichtet. Durch die Beschreibung als Schloss bildet es – nicht zuletzt in Kombination mit dem Gewitter – eine Anspielung auf den schauerromantischen locus horridus und erweckt einen entsprechenden evokativen Hall. Der scheinbar nebensächliche Wetterumstand begründet, warum die Gesellschaft im Hause bleibt und die Aufmerksamkeit auf das Grimoire gelenkt wird, aus dem Brèdes den Anwesenden vorliest. (Ibid., 108) Während die meisten Anwesenden die Geschichten als Aberglauben abtun, erkennt Pipeau das Potenzial und entwendet das Buch. – Eben wegen des Verschwindens des Buches bittet Brèdes Laviolette um Hilfe. Eine Ironie weisen die letzten Worte Brèdes’ nach dem Gespräch über das Buch mit Laviolette auf: »[J]e vis très bien sans ce livre!« (ibid., 110), da Brèdes gerade wegen des Buches stirbt. Durch die ablehnende Haltung der Haushälterin Brèdes’ »C’est de la sorcellerie, disait-elle. Vous devriez le jeter au feu!« (ibid., 108) wird das Buch selbst als ›böse‹ herausgestellt. Vgl. ergänzend zur Thematik der »sorcellerie« bei Magnan: Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 78f. 155 Ibid., 107. 156 Ibid., 71. 157 Ibid., 99. Der Nebel zieht sich aus Banon zurück und erstmals herrscht mit dem Sonnenschein »l’air du dimanche« (ibid.) und eine fast idyllische Atmosphäre. Die Bewohner versammeln sich zum Boulespiel, bei dem auch Pipeau anwesend ist (Pipeau wird nicht beim Namen genannt, ist jedoch einfach zu identifizieren); so wird sein Blick immer wieder von der Remise angezogen. 158 Ibid., 100. 159 Ibid., 101 (Kursivierung durch Verf.). Sie identifiziert den Mann, der sie in den Trüffelhainen mit Steinen bewarf, als sie das Ritual zu stören drohte. 160 So herrscht ein klarer Himmel, als Laviolette bei Brèdes vom Grimoire erfährt, und dank des schönen Wetters kommen Besucherströme nach Banon, sodass man im Franches mehr Eistorte braucht und Georgette die Leiche in der Kühltruhe der Remise entdeckt. Es weht wiederum »le vent des couvents morts […] et la rumeur anachronique de la ville moderne sonnait ici, sans importance réelle […] et le ciel s’était assombri« (ibid., 178), als das zweite Exemplar des Grimoire gefunden wird und zwei verschiedene Zeiten aufeinanderprallen. Nach dem Fund des zweiten Grimoire konfrontiert Laviolette die Kartenspielrunde der Trüffelhainbesitzer, denen Pipeau angehört, mit seiner Erkenntnis, einer von ihnen sei der Täter (Kapitel 21). Das Wetter wird an dieser Stelle zum Ausdruck des Remis, »car le temps ondulait entre le fouet de la neige et celui de la pluie, tantôt fondant, tantôt glacé« (ibid., 197). Interessant ist, dass die einzige Antwort, die Laviolette erhält »fut […] celle du vent qui clapotait sous la porte« (ibid., 201). Unter der repetitiven Erwähnung des Windes, der um das La Rabassière weht, entsteht der Eindruck, als flüstere dieser den Kartenspielern ein, zu schweigen (vgl. ibid., 204, 205, 206, 208): Obwohl sie sich fürchten, gibt keiner Hinweise, die zur Identifizierung des Serientäters führen. Doch dieser Einfluss des Windes ist nur von kurzer Dauer. Später lässt der Wind den Lorbeerwald erzittern, als Morelon und Roseline die Gruft mit den Leichen finden (ibid., 132). Als die Polizei die Gruft untersucht, ist es eine mond- und sternenlose Nacht, in der

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nur wenige Schneeflocken fallen und die primär eine atmosphärische Kohärenz erzeugen. Amüsanterweise schmilzt der Schnee gleich zweimal und transzendiert die neuen Erkenntnisse für Laviolette. Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 164. Ibid. Vgl. zu dieser Stelle auch den nachfolgenden Abschnitt zu Laviolette. Ibid., 162f. Den Ausführungen des Fernmeldetechnikers Dipl.-Ing. Gerhard Harbrecht folgend ist dies besonders bei Regen oder Schnee (Feuchtigkeit), bei beschädigten Leitungen, Verteilern oder bei fehlerhafter Installation, Alterung oder Schäden durch Schrotkugeln (Jagdbetrieb) möglich. Gespräch am 1. Dezember 2019. Ibid., 167f. Ibid., 211. Jover Silvestre, Yolanda: Sensaciones, 23. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 229. Symbolisch rekurriert dies auf die kristalline Struktur des Schnees und steht analog zu den Diamanten, sodass sich ein Kreis schließt. Ibid., 231. Ibid., 230. Damit sind es die mit dem Ritual gewonnenen Diamanten und nicht Francine die für ihn im übertragenen Sinne »représentait pour lui un danger mortel« (Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 230). Ibid., 230. Ibid., 231. Ibid., 235. Ibid., 228. Ibid., 180f. Vgl. ibid., 204. Hinzu kommt noch die Bemerkung, der Täter müsse über den Schlüssel zur Grabstätte verfügen. Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 225. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 47. Eine Betrachtung dieser Textstelle unter geografischer sowie kultureller Perspektive findet sich bei Briwa, Robert: Experiencing Provence in the regional imagery of Peter Mayle and Pierre Magnan, 127. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 70f. Ibid., 71. Hierhin führt eine Spur der verschwundenen Jugendlichen. Einzig der Blick auf die kleinen Friedhöfe, die sichtbar werden, als der Nebel den Blick auf die Landschaft freigibt, berührt ihn und mutet sublim an. Metaphorisch bzw. präfigurierend verweist dies darauf, dass Laviolette hier am falschen Ort sucht, denn der Nebel gibt den Blick auf den späteren Leichenfundort frei: »Alors, il [brouillard] dévoilait le pays sous soixante kilomètres de lumière sans source: jusqu’au vallon des Taupins, jusqu’au Chastelar de Lardiers, jusqu’aux jupes du Ventoux qui guardait soigneusement la tête hors de portée des imaginations. Les bois de Carniol, les forêts d’Albion étaient trouées d’espaces bien paignés, imitant des clairières, sauf qu’ils étaient trop nets, trop symétriques. Ces visions anodines

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suffisaient pour frissonner une âme sensible comme l’était celle de Laviolette.« (Ibid., 75). Ibid., 80. Ibid., 99. Ibid., 99. Ibid., 101. Ibid., 150f. Ibid. Diese saisonale Relation (Trüffelernte) und Dependenz der Taten für das Ritual und das Ausbluten sind zunächst unbemerkt und bilden erst eine Spur, sobald der spezifische Hintergrund hierzu aufgedeckt ist. Schwab, Angelica: Serienkiller in Wirklichkeit und Film, 63. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 162f. Ibid., 164. Vgl. zur Mesnie Hellequin exempl. Henkler, Sven: Das Wilde Heer. Intratextuell interessant ist dies dahingehend, dass sich ein Hinweis auf die Mesnie auch in Fall fünf findet. Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 165f. Angemerkt sei, dass die Nacht kein Wetterphänomen darstellt, hier aber zwecks Vollständigkeit mitberücksichtigt wird. Ibid., 167f. Ibid., 170, 174. Ibid., 172. Die Definition erfolgt in Anlehnung an die Definition des Transformationsraums bei Stillmark. (Stillmark, Hans-Christian: »Transformationsräume im Werk Wolfgang Hilbigs«, 320) Ibid. Ibid. Dies zeigt sich etwa in Les courriers de la mort: Die Polizisten haben den Tatort des ersten Mordes bereits untersucht, doch stößt der inzwischen pensionierte Laviolette als einziger auf das Problem des Klavierhockers und den Brief. Bemerkenswert ist, dass die meisten Fälle Laviolettes durch Zufall gelöst werden. Siehe zur Methode Laviolettes auch Grasso, Elsa: »Phénoménologie du roman policier: l’énigme et la chair du monde chez Pierre Magnan«, 156ff. Vgl. Exemplarisch Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 79. Vgl. zum »meurtre poétique« auch Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 40, 80ff. Bsp.: »Un révolver! grogna Laviolette avec dégout. Ces armes vulgaires avaient le don de banaliser à ses yeux. – Attendez au moins avant de dédaigner! bougonna Chabrand. […] – Ça! dit-il. – Un revolver de manchon! s’exclama Laviolette. Voici qui est déjà plus poétique!« (Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 81). Das Begehren einer poetischen Mordkomponente wird bereits im ersten Fall thematisiert, allerdings bezüglich Chabrands, der befürchtet, »qu’on lui transformât son beau crime en un meurtre banal, vulgaire et sans poésie« (Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 56), während dieses Moment für Laviolette noch reduziert ist.

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207 Gewohnheiten, wie zunächst um ein verdächtiges Haus herumzugehen oder in einem Ort als erstes den Friedhof aufzusuchen, werden erst nach und nach eingeführt und als etabliertes Vorgehen präsentiert. 208 Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 70. 209 Magnan, Pierre: Le secret des Andrônes, 130. 210 Grasso, Elsa: »Phénoménologie du roman policier: l’énigme et la chair du monde chez Pierre Magnan«, 157. Bemerkenswert bleibt indes der Umstand, dass die meisten Fälle Laviolettes durch ein zufälliges Moment gelöst werden. 211 Pierre Magnan: Le secret des Andrônes, 126. 212 Vgl. hierzu auch Stacey, Sue: »Pierre Magnan: Crime and Complicity in ›la France profonde‹«, 145. 213 Abschließend vergiftet Pécoul Rogeraine und den Mann, den diese liebt(e) – den vermeintlichen Täter –, um einen erweiterten Selbstmord zu inszenieren. 214 Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 15. 215 Magnan, Pierre: Le commissaire dans la truffière, 70f. 216 Magnan, Pierre: Le secret des Andrônes, 130. 217 Vgl. ibid., 146ff. 218 Ibid., 144. 219 Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 89. Pécoul ist übrigens die einzige Serientäterfigur, die verhaftet wird und nicht stirbt oder sich das Leben nimmt. 220 Magnan, Pierre: Le secret des Andrônes, 118. 221 Ibid. 222 Sie bleibt in der Dunkelheit und im Wind am Tour de Nesle unerkannt (ibid., 26f.), beim Mord an Raymonde nutzt sie Nacht und Wind, durch die man unbemerkt durch Sisteron laufen kann, wie Laviolette konstatiert: »Si j’étais […] cet assassin […] je me sentirais à l’abris […]. Ce vent lui même me couvrirait.« (Ibid., 155) Außerdem nutzt sie den Nebel: »[C]e soir-là le coton de brume les étouffait.« (Ibid., 127) Vor dem Mord an Anna begründet der Regen das Tragen eines Regenmantels, sodass sie unerkannt bleibt und zudem der Eindruck suggeriert wird, sie sei ein Mann (vgl. ibid., Kapitel 9). Ein ähnlicher Eindruck entsteht während des Mordes an Raymonde, durch die Schritte bedingt glaubt Rogeraine, es handle sich um einen Mann. 223 Ibid., 12f. 224 Ibid., 51. Hiervon ausgehend vergleicht Laviolette gegenüber Viaud die Wahrnehmung potenziell ermittlungsrelevanter Details mit der Flüchtigkeit von Naturphänomenen wie einer Sternschnuppe. 225 Ibid., 274f. 226 Ibid., 62. 227 Ibid., 63. 228 Ibid., 63. Als Objekt stellt er einen Hinweis auf den familiären Hintergrund der Täterin dar, er ist jedoch für die Aufklärung nicht entscheidend. 229 Ibid., 64. 230 Ibid., 13. 231 Ibid., 66.

Anmerkungen

232 In Les courriers de la mort weist ebenfalls ein Sonnenstrahl Laviolette auf den Postkalender in der Ruine sowie in der Kapelle hin. In diesem Fall lenkt der Sonnenstrahl allerdings die Ermittlung in die richtige Richtung. 233 Es stellt damit aber parallel gerade den Ausgangspunkt für die Einbeziehung der Zeit der Okkupation dar. 234 Magnan, Pierre: Le secret des Andrônes, 277. 235 Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 225. 236 Pierre Magnan: Le secret des Andrônes, 115f. 237 Stacey, Sue: »Pierre Magnan: Crime and Complicity in ›la France profonde‹«, 145. 238 Ibid. 239 Ibid. 240 Pierre Magnan: Le secret des Andrônes, 49. 241 Ibid., 89. 242 Ibid., 126. 243 Ibid., 155. 244 Ibid. 245 Ibid., 264. 246 Der Duft der Glyzinie kann als Teil der Magnan’schen smellscape betrachtet werden. Vgl. Zur smellscape exemplarisch Briwa, Robert: Experiencing Provence in the regional imagery of Peter Mayle and Pierre Magnan, 95. 247 Magnan, Pierre: Le secret des Andrônes, 162. 248 Ibid., 166. Insofern besteht hier auch eine Verbindung zu Fall 2. 249 Ibid., 253. 250 Ibid., 252. 251 Zudem bleibt unklar, ob der Duft der Glyzinie »maléfique« auch für Pécoul zum Impuls und sie »emmiellé dans le parfum de cette glycine« zur inszenierten Mordserie verleitet wird. 252 Ibid., 255. 253 Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 81. 254 Ibid., 80. 255 Bezüglich der meteorologischen Faktur sei ergänzt, dass ein Schneesturm zunächst die Lösung der falschen Fährte blockiert; der Weg zum Kloster scheint nicht zielführend und ist Laviolette nur mit einem Helikopter zugänglich: »L’hélico […] faisait du slalom parmi les volutes de la brume, les sournoises giboulées de neige qui tentaient de le saisir en traître dans leur soudaine obscurité et les turbulences du vent.« (Ibid., 230) Meteo-metaphorisch betrachtet, begibt Laviolette sich, indem er den Schnee überwindet, weiter in die Vergangenheit – auf die falsche Fährte –, auch wenn er, wie sich andeutet, die Lösung des Falles 1944 erhält: »[S]ous les rayons obliques du couchant, une forêt se tenait l’arme au pied, tronc contre tronc.« (Ibid., 231) Die Lösung im Zusammenhang mit der Résistance wird über die zusammenhaltende Armee der einzelnen Bäume angedeutet, doch die untergehende Sonne weist auf die Irrelevanz der Erhellung der Vergangenheit. Der meteorologisch sinnfällige Einsatz verdeutlicht sich zusätzlich im Angelpunkt der Aufklärung. Diesbezüglich lässt sich mit Stacey ergänzen: »There is a fairly heavy irony in the fact that Laviolette is only able to discover the background of the wartime crime by obtaining permission to

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talk to the brother of the 1944 victim, who has become a monk sworn to silence […].« (Stacey, Sue: »Pierre Magnan: Crime and Complicity in ›la France profonde‹«, 146). Jeanne stirbt beim Schein der Theatersonne (Scheinwerfer), alle anderen Opfer sterben bei Nacht im Regen oder Nebel. Die Sonne scheint erst in Gilbertes Elternhaus, bei ihrem Grab, dem dortigen Auffinden der Leiche Annas und am Ende metaphorisch, präfigurierend für die Lösung des Falles (1979), als Spiegelung auf den Türen außerhalb Sisterons, d.h. unmittelbar bevor Laviolette die Täterin erkennt. Letztlich verharrt Laviolette bis zu seiner eigenen existenziellen Bedrohung in der inszenatorischen bzw. poetischen Wirkung der »bonheur de cette nuit« und das Wetter erscheint als Teil eines im pluralen Sinne son-et-lumière. Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 187. Laviolette und Chabrand folgen der Spur des Champagnerkorkens zu einem Sterne-Restaurant, wo die Tischgesellschaft der Galet des Aures speiste und wo sie den Hinweis auf Le traité du Narcisse erhalten. Über den Namen der Tischgesellschaft entsteht eine Assoziation zu Goulven. Beide jugendliche Täterfiguren verbindet zudem das Töten aus der Distanz. Ibid., 274. Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 89. Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 275. Vgl. zu Shakespeares The Tempest exemplarisch Ungelenk, Johannes: Literature and weather, bes. 17–146. Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 90. Ibid., 91 (Kursivierung durch Verf.). Bei einer Nymphe handelt es sich um eine weibliche Gottheit, die etwa in einem bestimmten Naturphänomen, Ort oder Platz wohnt; bspw. die Oreaden als Bergnymphen oder Dryaden als Eichennymphen. Die Wortbedeutung von ›Nymphe‹ ist ›junge Frau›, was der 17-jährigen Cordélie entspricht. Echo als Luftphänomen legt die Verbindung zum Wind nahe, der Wind aus den Bergen in Fall vier konkretisiert dies; Echos Stimme ist nach ihrem Ende in den Bergen zu vernehmen. Über Le Traité du Narcisse wird zudem eine Verbindung zu den beiden Leserinnen (Elvire und Fabienne) sowie zur Geschichte von Echo und Narciss evoziert: Wie Echo ist Cordélie von kummervoller Liebe erfüllt und ›vergeht‹ am Ende. Vgl. zu Echo und Nymphe Tripp, Edward: Reclams Lexikon der antiken Mythologie sowie Ovid: Metamorphosen. Dies wird notwendig im Rahmen des Regionalkrimis. Laviolette trifft allerdings nur in der Wohnung Hermerance auf Cordélie. Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 119f. Ibid., 51f. Auffallend ist, dass auch hier die Täterin immer wieder als Mann erscheint (bspw. Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 163). Dass der Vater einen Gürtel trägt, geschieht aus praktischen Erwägungen heraus (vgl. ibid., 272f.). Hingewiesen sei aber auf die Vorliebe der Täterfiguren für Postpelerinen, Postschuhe, Postgürtel, Briefe, Briefmarken etc. in der gesamten Laviolette-Reihe. Siehe unten sowie Abschnitt 6.4.1.4 Hélios und Bel-Air zu den Opfern Lafaurie und Dardoire.

Anmerkungen

271 Wißmann, Torsten: Raum zur Identitätskonstruktion des Eigenen, 124 (Kursivierung im Original). 272 Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 125. 273 Ibid., 267ff. Eine Verbindung zum Ort des Verrats entsteht über das Kleid: »[V]êtu d’une robe chinoise noir et Laviolette reconnut sur la soie les dessins somptueux qui ornait le paravent dans la chambre de Sidoine Hélios.« (Ibid., 269) 274 Ibid., 279. 275 Ibid. 276 Schwab, Angelica: Serienkiller in Wirklichkeit und Film, 63. 277 Tyche ist die Göttin des Zufalls. Sie wurde oft als örtliche Beschützerin des Glücks einer Stadt verehrt (vgl. Tripp, Edward: Reclams Lexikon der antiken Mythologie, 535f.). 278 Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 279. 279 Ibid., 280. 280 Vgl. auch ibid., 272. 281 Ibid., 11. 282 Ibid., 51f. 283 Zudem taucht ein Kreideschriftzug plötzlich an einer Tafel im Weinkeller auf und verschwindet ebenso plötzlich. 284 Ibid., 273. Es liegt nahe, dass er seine Frau in den Selbstmord drängte. 285 Obzwar die Nacht nicht zu den Wetterphänomenen gehört, wird sie an dieser Stelle der Vollständigkeit halber – nicht zuletzt als Opposition zu Helios – berücksichtigt. 286 Ibid., 119f. Entsprechende Stellen finden sich etwa in Le sang des Atrides, 158, oder in Les courriers de la mort, 350. Auffallend ist, dass bei mehreren Opfern, die die Veränderung eines vertrauten Ortes durch das Wetter erleben, Erinnerungen an sexuelle Abenteuer wachgerufen werden (bspw. Mme de Champclos). 287 Auch hierüber wird wieder ein Verweis auf Echo lanciert. 288 Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 94f. 289 Ibid., 277f. 290 Ibid., 278. 291 Ibid., 278. 292 Ibid., 235. 293 Ibid., 95f. 294 Ibid., 264. 295 Vgl. auch »Cordélie a fait tout ça en jouant« (ibid., 277), wobei hier nicht nur der ludische Charakter, sondern auch die Leichtigkeit der Handlung evoziert wird. 296 Ibid., 267ff. 297 Ibid., 275. 298 Hierzu passt die Geschichte von Echo und Narziss, wobei der Verweis mit Le Traité du Narcisse entsteht. 299 Die Größe des Kunstwerks legt eine Verbindung zum Koloss von Rhodos nahe, der eine Statue des Gottes Helios war. 300 Ibid., 242–246. Der Wind weht auch an dem Abend, an dem Le Traité du Narcisse ins Spiel kommt. 301 Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 13.

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302 Bemerkenswert ist in diesem Kontext die mögliche Assoziation zur Sommerapfelsorte, die 1930 gezüchtet wurde und den Namen ›Helios‹ trägt, die entsprechend auf Hélios weist. Ferner kann die Situation des Liebesaktes der Tochter mit dem Biobauernsohn mit der ›verbotenen‹ Beziehung von Fabienne und Elvire in Relation gesetzt werden. 303 Ibid., 71. 304 Magnan, Pierre: Le tombeau d’Hélios, 123. 305 Ibid., 219. 306 Vor dem Hintergrund der Anspielungen an die griechische Mythologie ist dies ein potenzieller Verweis auf Aeolos. 307 Ibid., 114. 308 Ibid., 241. 309 Ibid., 86. Vgl. auch 6.4.2.2. 310 Ibid., 206. 311 Ibid., 210. 312 Ibid., 212. Hingewiesen sei auf die Parallele des Abkühlungsprozesses von Bronze und Serientäterin sowie auf die Similarität zur Glyzinie, insofern sich Schnee auf die Bronze legt; parallel zum Mord an Brèdes dringt Schnee in Bel-Air resp. in Hélios’ Haus ein. 313 Ibid., 278f. 314 Ibid., 230ff. 315 Hélios schuf die Bronze, inspiriert vom Liebesakt von Fabienne und Elvire, den er beobachtete. 316 Vgl. ibid., bspw. 34 f, 40, 71, 80, 95 ff, 278ff. 317 Vgl. ibid., bspw. 95 ff, 184. 318 Vgl. ibid., 153. 319 Vgl. ibid., 219. 320 In diesem Fall ist es die Wirtin, die einen entscheidenden Hinweis zurückhält, der (vielleicht) weitere Morde hätte verhindern können (vgl. ibid., Kapitel 7). In Fall zwei ist dies Alyre Morelon. 321 Ibid., 130 (Kursivierung durch Verf.). 322 Ibid., 131. 323 Ibid., 225. 324 Ibid., 147. 325 Ibid., 186. 326 Vgl. ibid., 195. Chagrin weist bewusst und dezidiert auf Hélios als Profiteur der tontine hin, weil er selbst (Chagrin) gerne der Künstler in Monosque wäre. 327 Ibid., 187. 328 Ibid., 195. 329 Ibid., 195. 330 Ibid., 225f. (Kursivierung durch Verf.). 331 Und damit auch die ›Botschaft‹ hinter der Mordserie, insofern Cordélie selbst ein Luftphänomen ist.

Anmerkungen

332 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. Matthäus 7,1-2. 333 Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 87. 334 Ibid., 345. 335 Woloshyn, Tania Anne: »La Côte d’Azur«, 389. Eine Klimageografie, die Wirkung bestimmter Klimata auf den Charakter der jeweiligen Bevölkerung findet sich bereits bei Hippokrates und Rousseau. 336 Besancenot, Jean-Pierre: »Vents et santé en façade méditerranéenne de l’Europe«, 194 (Kursivierung im Original). 337 Magnan, Pierre: Le sang des Atrides, 24f. (Kursivierung durch Verf.). Insofern nimmt es nicht Wunder, dass die meisten Morde in den Laviolette-Fällen in den Herbst- und Wintermonaten begangen werden, siehe zur saisonalen Konzeption der Reihe (6.1.2.1). 338 Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 99. 339 Ibid., 104. 340 Ibid., 103f. 341 Vgl. zu Landschaft und Täter bspw. ibid., 279. Régulus greift den Gedanken Françoises (s.u., ibid., 124) auf. 342 Ibid., 124. 343 Die Melliflores erscheinen als Negation einer friedlichen Familienkonstellation. An ihnen spiegeln sich allgemeine Krisenerscheinungen, sie sind Ausdruck gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen, der Übermachtstellung des Besitzes und sich hierauf gründendem gegenseitigen Misstrauen und Missgunst. 344 Ibid., 271 (Kursivierung im Original). 345 Es offenbart sich so ein über Generationen repetiertes Familientrauma: Seine beiden Eltern waren, wie er, Findelkinder. Dies geht bis zu einem im 19. Jahrhundert vertriebenen Melliflore zurück und ist Teil eines in der Region einst verbreiteten Verfahrens. Die Vertreibung erweiterte sich in dieser Generation auf die Freundin des Melliflore und ihr gemeinsames ungeborenes Kind: Sie wird aus ihrem Dorf verbannt und findet Zuflucht in einer Kirche. Dies ist die Kirche, in der Régulus die Inschrift Matthäus 7,1 bemerkt, die zum »Leitmotiv« wird: »Jusque-là, les Melliflores s’étaient contentés de spolier les cadets de leurs bien; à partir de celui-là, il les ont aussi spoliés de leur nom.« (Ibid., 390 [Kursivierung im Original]). Der Name kann als der erste Verweis auf die Identität eines Menschen und als Teil seines Selbstwertgefühls betrachtet werden.) Traumatisch wirkt für Régulus das Auslöschen der Identität durch die Verweigerung des Familiennamens. Das Umherfahren in der Landschaft auf den ›Spuren‹ der vertriebenen Melliflore-Vorfahren mit seinem Moped gleicht in der Folge auch einer Spurensuche nach sich selbst. 346 Die Briefmarke ist zudem Artefakt der Verstoßenen, denn der Brief, der versandt wurde, ist voller Wut auf den Empfänger. Damit ist sie als Teil des Briefes Symbol des Unrechts und der Zurückweisung über die Generationen hinweg. In ihr amalgamieren sich die Emotionen der Vorfahren und die Régulus’. 347 Vor dem familiären Hintergrund erhält die Nichtbeachtung eine implizite Festigung der Identitätsproblematik: »Si peu que je leur demandais: à peine un souve-

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nir.« Mit der verschobenen Bedeutung der Trommeln als Erinnerung werden auch sie Symbol eines repetierenden, multiplen Refus und der ›Versagung‹ der Identität als Melliflore. Auf diese Weise entsteht zunächst eine gewisse Kohärenz zwischen den Wetterphänomenen und dem Mord, der sich in der Chronologie des Falles zu diesem Zeitpunkt bereits ereignet hat. Der Wind, der Régulus beeinflusst, wird nicht spezifiziert. Verwiesen sei jedoch auf Hellpach (Hellpach, Willy: Geopsyche, 13ff.), der einige psychophysische Wirkungen verschiedener Winde aufführt. Hierbei sind die durch den Wind provozierte »verzweifelte Seelenverfassung«, die gesteigerte Gereiztheit und Aggressivität sowie »sozialpsychologisch« der Wind als strafmildernder Faktor für Affektverbrechen oder eifersüchtige Gewalttaten hervorzuheben. Auch die Justiz ließ zur Zeit Napoleons mildernde Umstände für Kapitalverbrechen walten und sah von der Todesstrafe ab, wenn der Mistral an mehr als drei Tagen vor der Tat wehte. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 11. Hervorgehoben sei die enthaltene Metapher der »belle écriture«, der Handschrift des Täters. Der Begriff zeitigt (heute), wie »Ressler und Douglas kulturell definierte Deutungsschemata« nutzten, um das »theoretische […] Konzept des Profilings für Laien« anschaulich zu machen (Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 72). Hier besteht eine auffallende Ähnlichkeit zu Fall 4. Krings, Constanze: »Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses«, 163. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 104 (Kursivierung durch Verf.). Vgl. zum »Geist« 6.5.2.3 Mord – Identität sowie zur Lombarde 6.5.3 Wetter als Aggressor und Täter. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 392. Wobei der Wind zunächst eine Verbindung von Familie – Unrecht – Hass und der Gewissheit der Existenz der Four Pence Red schafft. Ibid., 53ff. Ambroisine ist die zweite aus der Familie, bei der Régulus auf dem Dachboden sucht. Sie wird auch das zweite Mordopfer. Ibid., 207. Ibid., 270. Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 52. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 67. Die Verbindung von Unheimlichem, Täter und Wind wird durch die ersten Opfer Véronqiue und Ambroisine expliziert. Ferner ist ihnen das vordergründige Motiv, die Suche nach den Trommeln, bewusst, sodass sie die Verbindung zwischen Mt. 7,1 und der Familiengeschichte ziehen können. Pointiert bedeutet dies, dass sie die »Identität« des Täters als ein »verstoßener« Melliflore ahnen. Die Präsenz des einen mit dem anderen, Wind und Suchender, auf den Dachböden erreicht das, was Régulus allein nicht bewirkt: Mit dem Wind entsteht ihre Angst. Geschürt wird diese noch durch die Bäume, die als Resonanzkörper fungieren (und damit auf die Trommel verweisen): »Je [Ambroisine] les entends vos [Véronique] platanes. Mais à côté de mes cèdres, c’est de l’opérette! – Ils font pourtant ce soir un bien étrange vacarme… La preuve: il choisit le temps où le vent les [cèdres] berce. Il croit ainsi étouffer le bruit qu’il fait. […] Mais je sais qu’il est là, qu’il me gouette, qu’il attend. […]

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Je les entends toujours […] des souliers à clous […]. Comme si vous ignoriez que la plupart des horreurs dont le monde est truffé n’étaient pas capables de chausser des godillots à clous, histoire de nous endormir!« (Ibid., 53ff.). Rezeptionsästhetisch erfüllt der Wind in den Bäumen zusätzlich die Funktion, die Briwa wie folgt fasst: »use of sound to imply a landscape […] an underemphasized topic within literary geography« und trägt dazu bei »to help contribute to a sense of place […] in keeping with Tuan’s idea that a sense of place is built out of the interplay of sensory experiences of a locality and human values and interpretations imposed on that locality« (Briwa, Robert: »Time and Place Identity in Pierre Magnan’s Provence«, 95). Briwa bezieht sich auf: Tuan, Yi-Fu: Space and Place: The Perspective of Experience. Hierzu werden verschiedene Baumarten genutzt. Je nach Art entsteht ein spezifischer Klang, so auch durch die Platane, eine der häufigsten Bäume Südfrankreichs, zu der Silvestre anmerkt: »Como los seres humanos, están échevelés y parlens, como los animales s’ébrouent así pues tienen vida propria y vida pública, sin ellos los pueblos estarían dormidos.« (Jover Silvestre, Yolanda: Sensaciones, 57). Bei Silvestre findet sich eine Übersicht zu den genutzten Bäumen (ibid., 55–62). Im Gegensatz hierzu haben die Zedern »mala reputación […]« (ibid.). Diese Differenzierung findet sich im Gespräch zwischen Ambroisine und Violette wieder und wird durch einen Erzählkommentar kurz vor dem Tod Ambroisines aufgegriffen (vgl. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 133: »Si les platanes, sous le vent, jouent d’un tumulte allègre et désordonné qui distille l’espoir, les cèdres en revanche couvrent les hommes de leur vindicte hostile. Ils les chassent, ils en exorcisent le monde, à grands gestes lents de leur branches fantomales«), aber die Konnotation und Art des Klangs steigert nur die furchterregende Wirkung des Windes und hat keinen Einfluss auf das Schicksal der Figuren, beide Frauen werden ermordet. Die Differenzierung nach einem dendrologischen Faktor charakterisiert allerdings zum einen die sorgfältige Erzählweise, zum anderen verdeutlicht sich die Unausweichlichkeit des Windes. Vgl. exemplarisch ibid., 59f. Ibid., 69. Kursivierung durch Verf. Vgl. auch zu am Tat-/Fundort hinterlassenen Zeichen des Täters Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 79ff., hier 91. Im Original Fettdruck und tw. kursiv. Vgl. zum Thema Identität exemplarisch: Jörissen, Benjamin/Zirfas Jörg: Schlüsselwerke der Identitätsforschung. »Mes aumônes, mes charités, mes justices, mes indulgences pour les fautes d’autrui, mes équanimités, ne furent jamais accordées que d’abord du bout des dents et ensuite par discipline.« (Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 275. Vgl. ferner ibid., Kapitel 11 und 15). Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 91. Interessant ist auch für das Folgende, dass Régulus bei jeder Erbin hofft, sie möge ihm ihre Trommel aushändigen und nicht mit ihrem Leben verteidigen. Ibid., 96. Vgl. auch ibid., 82. Ibid., 82. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 275. Und letztlich zu einem Lehrer aus einer anderen Zeit.

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Verdaguer, Pierre: La séduction policière, 80f. Ibid., 81. Vgl. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 275. Ibid., 235 (Kursivierung durch Verf.). Dies kohäriert mit der Temporalität der Lombarde. Vgl. zur Lombarde auch 6.5.3. Ibid., 53 (Kursivierung im Original). Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 13. Ibid., 228. Der Morchelsammler hat etwas beobachtet, was er nicht hätte sehen sollen, und sucht hinter das Geheimnis des Lehrers zu kommen. Fondère sieht jemanden als Pionier verkleidet durch den Ort gehen und beobachtet mit dem Fernglas des Kapitäns den Lehrer, weil er versucht, hinter das Geheimnis zu kommen, das er durch den von Régulus stets getragenen Schlüssel vermutet. Es ist der Schlüssel zum Wandschrank mit den Papieren von Martin und Régulus’ Tagebüchern. Ibid., 231. Darüber hinaus besteht durch die Vergiftung, wie auch durch den Mord an Pencenat – d.h. von Zeugen –, nicht wie bei den Melliflore-Frauen eine physische Nähe des Täters zum Opfer. Ibid., 270. Ibid., 273. Ibid., 270. Ibid., 277. Ibid., 275. Ibid., 274. Ibid., 277f. Oder der implizite Autor, der seine Figur quasi zur »Einsicht« bringt. Ibid., 277. Ibid., 279f. Zudem löst es den Gefühlsnexus (Familie – Unrecht – Hass – Four Pence Red, bröselige Identität) nicht auf, vermittelt aber die Hoffnung auf Linderung und ein Gefühl der Akzeptanz aus. Ibid., 280f. Clausen, Jens-Jürgen: Vom Verlust des Selbst in der Fremde. Eine Studie über das Reisen – anhand autobiographischer Texte, 58 (Kursivierung durch Verf.). Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 278. Ibid., 153. Als ein durch das Wetter herbeigeführter Tod ist von hier ausgehend auch der Fondères lesbar (ibid., 230f.). Ibid., 20. In Übernahme der Tabelle von: Thomas, Alexandra: Der Täter als Erzähler, 77f. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 298f. Ibid., 104. Ibid., 289. Mit dem Wind kommt der Lehrer. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 303. Ibid., 306. Der Wind weht durch die Unterwäsche Violaines, die zum Trocknen an der Leine hängt und die Régulus entfernt. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 310.

Anmerkungen

404 Ibid., 311. 405 Ibid., 314. 406 Umgekehrt zu Fall 1 räumt nicht der Wind den Tatort für den Täter auf, sondern pointiert erfolgt dies quasi vice versa. 407 Ibid., 315. 408 Ibid., 270. 409 Ibid., 373. 410 Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 13. 411 Matthäus 7,1-2. 412 Ibid., 158. 413 Ibid., 104. 414 Ibid., 71. Dass es sich hierbei nicht um den bloßen Humor der Erzählinstanz handelt, zeigt sich in Le parme convient à Laviolette, in dem Laviolette Alyre Morelon (Le commissaire dans la truffière) bittet, ihn zu erschießen. 415 Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 110. 416 Ibid., 76. 417 Ibid., 178f. (Kursivierung durch Verf.). 418 Ibid., 179 (Kursivierung im Original). 419 Ibid., 336. 420 Dies wird nebenbei bemerkt auch in Les secrets de Laviolette explizit thematisiert. 421 Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 179. 422 Ibid. 423 Ibid., 97. 424 Ibid., 83. 425 Ibid., 170. 426 Sukzessive entdeckt Laviolette am zweiten Tatort, dass nicht nur ein Objekt und ein Postkalender verschwunden sind, sondern auch die Uniform Melliflores und das Portrait eines Mannes im Pavillon, der ihm aufgrund seiner Familienähnlichkeit zu Régulus bekannt vorkommt, den er aber noch nicht zuordnen kann. 427 Ibid., 345. 428 Ibid., 345–349. 429 Ibid., 349. 430 Ibid., 349. 431 Ibid., 371f. 432 Die Mesnie Hellequin meint mythologisch die Wilde Jagd. Magans Bezugnahme auf die griechische Mythologie, wie sie in Le sang des Atrides und Le tombeau d’Hélios zum Ausdruck kommt, erlaubt weitere Assoziationen mit der Mesnie Hellequin: Die Wilde Jagd, die zu sehen den Tod bedeuten kann, erinnert an antike Mythen wie die Aktaion-Sage oder den Zug der Bacchanten. Brachte in der griechisch-römischen Göttersage nach Ovid (Metamorphosen 3,138-252) dem Jäger Aktaion die Beobachtung der (Jagd-)Göttin Artemis (römisch Diana) beim Bad den Tod, da sie ihn zur Strafe in einen Hirsch verwandelt, – woraufhin er von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird –, so ist es das mythische, feiernde Gefolge des (Wein-)Gottes Dionysos (röm. Bacchus), denen man besser nicht begegnen sollte. Denn betrunken und vom Weingott in Raserei versetzt, tötet, zerreißt und isst der feiernde Zug, bestehend aus Mä-

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naden und Satyrn, alles, was ihm begegnet. (Vgl. zu dieser Verbindung auch Matsumura, Kazuo: Mythical Thinkings, 208.) Stützt man sich auf diese Sagenerzählungen, so ist der gemeinsame Nenner die tödliche Gefahr durch Beobachtung von etwas Ungeheuerlichem, die jeder Tatzeuge ausgesetzt ist. Ibid., 20. Ibid., 349. D.h. hier entsprechend als local knowledge konzipiert. Laviolette teilt Chabrand nach dieser Wetterbeobachtung mit, dass er diese Einschätzungen dank seiner Mutter habe, die aus der Gegend stammte; wie seine Großmutter, die bezüglich des Beschwörungsschleiers in Le commissaire dans la truffière durch ihr weitergegebenes Wissen eine Rolle spielt. Auch hier war der Verweis um das Wissen lokaler Bräuche und Sagen bedeutsam. Régulus richtet die, die Schuld auf sich geladen haben, kann jedoch sein eigenes Schicksal nicht verhindern, da er selbst Schuld auf sich legt. Durch den Blitzschlag wird auch er gerichtet. Stegelmeier, Nadine: Rauhnächte, 145. Vgl zur Mesnie Hellequin auch: Henkler, Sven: Das Wilde Heer. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 126. Ibid., 273. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 396. Code pénal (ancien), Artikel 64. Naudin, Flore/Chavagné, Pierre: Pour saluer Magnan, 13. Ibid. Ibid., 298. Als Agent Provocateur und metteur en scène werden die Handlungen seiner Mörderfigur vom Wind, d.h. von ihm selbst, dependent und lassen die Täterfigur parallel auf eine Selbstrekonstruktion oder Selbstfindung hoffen. Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 277f. Ibid., 396. Briwa, Robert: Time and Place Identity in Pierre Magnan’s Provence«.

Aktuelle Tendenzen – Wettertrends in Rompol und Thriller 1 2 3 4 5 6

Radisch, Iris (2006): »Die Literatur und ihr Wetter. Ein anderer Klimawandel«. Gaßmann, Ursula: »Wollte Gott, ich wäre ein Platzregen!«, 3. Ibid. Ibid. Guyon, Jeanne (2020): »Fred Vargas«. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand die Série Noire bzw. der roman noir, zu dessen Begründern Léo Malet zählt. Nach dieser Zeit kommt es zu einer Diversifizierung und Ausdifferenzierung von Subgattungen des Kriminalromans mit jeweils eigener Themenkonvention, Figurenensemble, Milieu und Gestaltung des récits. Zu den klassischen Subkategorien des Kriminalromans, dem roman à énigme, dem roman noir und dem roman à suspense, wie sie Todorov benennt, entstehen neue Variationen

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(vgl. Hynynen, Andrea/Akademi, Åbo [2012]: »Intuition, déduction et superstition – les ›rompols‹ de Fred Vargas«, 362), etwa der roman historique oder verstärkt der roman régional. Gegen Ende der 1960er-Jahre, Anfang der 1970er-Jahre kommt der Terminus polar auf, der vom roman policier und dem Begriff populaire abgeleitet wurde. (Vgl. Gohlis, Tobias: »Polar – Neo Polar – Post Polar, 25.) Obzwar es zwischenzeitlich zu einem Rückgang kommt, experimentieren Autoren wie Alain Robbe-Grillet, bspw. in Les Gommes (1953), mit dem Kriminalroman im Rahmen des nouveau roman. Der polar, später auch néo-polar, stellt eine Weiterentwicklung des roman noir dar, und zwar als sozialkritische und politisch radikalisierte Form, sodass in den frühen 1980er-Jahren einige »writers begin to use the genre to criticise social injustice and political corruption as well as to challenge received ideas about France’s history, particularly regarding the 2nd World War« (Neale, Sue: »Contemporary French crime fiction – a search for the hidden with particular reference to Sous les vents de Neptune by Fred Vargas«, 5). Zu diesen Autoren und Autorinnen gehört auch Didier Daeninckx. Als Leitfigur, quasi als ›père polar‹, betrachtet Gohlis Jean-Patrick Manchette (1942–1995); er bietet eine konzise Einführung (vgl. Gohlis, Tobias: »Polar – Neo Polar – Post Polar«, 26ff., Zitat 25). Gohlis, Tobias: »Polar – Neo Polar – Post Polar«, 29. Hingewiesen sei an dieser Stelle zur Geschichte im französischen Kriminalroman auf Müller, Elfriede/Ruoff, Alexander: Histoire noir. Menegaldo, Gilles/Petit Maryse: »Présentation et problématiques«, 9. Fred Vargas ist das Pseudonym der Historikerin und Archäozoologin Frédérique Audoin-Rouzeau (*1957). Ihre Kriminalromane wurden bisher in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet u.a. mit dem Prix Sang d’encre des lycéens für den Titel L’homme à l’envers (1999), dem Prix des Libraires für Pars vite et reviens tard (2002), dem Ripper Award für das Gesamtwerk (2012), dem CWA International Dagger für L’Armée furieuse (2013) sowie dem spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis für Literatur (2018). Zu Fred Vargas sei exemplarisch auf folgende Beiträge und Monografien hingewiesen: Chen, Chen: Le roman policier de Fred Vargas; Poole, Sara: »Rompols not of the Bailey: Fred Vargas and the polar as mini-proto-mythe«; López Martínez, Marina: »Plaisir des mots et polars au féminin: de L’éloge de la phobie de Brigitte Aubert au ›Rompol‹ de Fred Vargas«; Hynynen, Andrea: »Death and immortality in Fred Vargas’s Crime Fiction«; Goulet, Andrea: Legacies of the Rue Morgue, bes. 139–156. Gohlis, Tobias: »Polar – Neo Polar – Post Polar«, 31. Um den Protagonisten Adamsberg sind bisher folgende Titel erschienen: 1. L’homme aux cercles bleus (1991), 2. L’homme à l’envers (1999), 3. Pars vite et reviens tard (2002), 4. Sous les vents de Neptune (2004), 5. Dans les bois éternels (2006), 6. Un lieu incertain (2008), 7. L’Armée furieuse (2011), 8. Temps glaciaires (2015), 9. Quand sort la recluse (2017) sowie der Roman-Comic Les quatre fleuves mit Illustrationen von Edmond Baudoin (2000), die Kurzgeschichten Coule la Seine. Nouvelles policières: Salut et liberté, La nuit des brutes, Cinq francs pièces (2002) und die Graphic Novel Le marchand d’éponges mit Edmond Baudoin (2011). Der vorläufig letzte Band der Adamsberg-Serie, Sur la Dalle, erschien 2023 nach Abschluss der Promotion und konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden.

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Gaspari, Séverine: »Fred Vargas: une archézoologue en terrain littéraire«, 41, zitiert nach Boisvert, Jayne R.: »Introducing Fred Vargas: Commissioner Adamsberg, the Anti-flic as Interpreter of Signs«, 827. 13 Guyon, Jeanne: »Fred Vargas«. 14 Stedman, Gesa: »Skurrile Rompols – die poetische Welt der Fred Vargas«, 177. In diesem Sinne weisen die Täterfiguren vielfach einen Glauben an das Übernatürliche resp. Irrationale auf, auch wenn mitunter hinter dem Mythos eher ›klassische‹ Motive stehen, etwa Rache, Familiendramen oder identitäre Problematiken wie Hybris gepaart mit pekuniärer Motivation. 15 Vgl. zur Figur des Serientäters im Roman Angelica Schwab: Serienkiller in Wirklichkeit und Film, hier bes. 47. 16 Vgl. hierzu auch Stedman, Gesa: »Skurrile Rompols – die poetische Welt der Fred Vargas«, 177. 17 Hynynen, Andrea/Akademi, Åbo: »Intuition, déduction et suspense«, 362. Dies gilt allerdings z.T. nur bedingt, so ist in Sous les vents de Neptune Adamsberg der Täter bekannt. Erst im Verlauf des Falls erkennt er indes den Spielcharakter und den damit individuell konstruierten Mythos der Morde, die auf eine Familienproblematik und eine überdominante Mutter zurückgehen. Bezüglich des Aufbaus der Romane sei ergänzend angemerkt, dass in einigen Fällen zu Beginn ein Mord verübt wird, der schnell geklärt oder in anderen Fällen parallel zum Serienmord gelöst wird; in L’Armée furieuse bspw. findet sich beides. Ferner wird damit der erste Mord der Serientäterfigur nicht direkt an den Anfang gesetzt, sodass hier zum einen vom klassischen Kriminalroman mit der Leiche als Handlungsauslöser abgewichen wird, zum anderen wird hierdurch, wie bes. in L’homme aux cercles bleus oder L’homme à l’envers, der Mythos vorbereitet, bis der erste Mord gleichsam als Zwangsläufigkeit eine erste Spannungsklimax bildet. Eine weitere Komponente des Mythos und damit des Aufbaus der Romane ist ein Trauma in der Kindheit oder frühen Jugend, welches alle Serientäterfiguren erlebt haben und welches in je differenter Form und Enge im Nexus mit dem jeweiligen Mythos steht und entsprechend aufgedeckt werden muss. 18 Ibid., 179. 19 Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique, 49f. Eine Einführung zum Thema des Phantastischen bietet Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, bes. 72–123. 20 Vargas, Fred: Un lieu incertain, 381. 21 Vargas, Fred: L’Armée furieuse, 415. 22 Gattungsgeschichtlich knüpft die Einbindung des Phantastischen bzw. des surnaturel an Tendenzen des roman-problème an, die Sagen und Legenden einbeziehen, meist jedoch eine rationale Lösung bieten, wie Jean Rays Les illustres fils du Zodiaque. In einigen Fällen bieten sie, wie Schwarz konkludiert, zwar eine rationale, d.h. bspw. technische resp. wissenschaftliche Explikation, die Lösung mutet jedoch letztlich selbst »nicht minder phantastisch an« (Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 197); so etwa in Le lit du diable von Jean Ray. 23 Dubois, Jacques: Le roman policier ou la modernité, 122. 24 Neale, Sue: »Contemporary French crime fiction«, 8.

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Gonon, Laetitia: »Mythes et démystification dans le roman policier de Fred Vargas«, 130. Obzwar die Nacht kein Wetterphänomen ist, wird sie hier zur Gattungspoetik Vargas’ gehörend berücksichtigt. Der potenziell künstlerische und ästhetische Aspekt wird überlagert, indem sich Kommissar Adamsberg dafür interessiert und dem cercleur ein beunruhigendes Fluidum zuordnet. Forciert wird dies, so lässt sich mit Gonon sagen, durch den »aspect incongru et énigmatique de cet acte de cerclage en même temps que l’absence de liens entre les objets cerclé« (Gonon, Laetitia: »Mythes et démystification dans le roman policier de Fred Vargas«, 130). Hinzu kommt die Frage von Adamsbergs Mitarbeiter Danglard: »Pourqoui des si grands cercles pour de si petites choses?« (Vargas, Fred: L’homme aux cercles bleus, 41). Gonon, Laetitia: »Mythes et démystification dans le roman policier de Fred Vargas«, 131. Ibid., 65. Ibid., 198. Fred Vargas im Interview mit Véronique Desnain, zitiert nach Neale, Sue: »Contemporary French crime fiction«, 8. Vargas, Fred: L’homme aux cercles bleus, 36. Ibid., 88. Vgl. ibid., 143. Ibid., 147. Ibid., 148. So erkennt Adamsberg im Licht der Sonne, auf einer Caféterrasse sitzend, die Bedeutung des Geruchs, der vom Täter ausgeht und den verschiedenen Zeugen mal mit Äpfeln, mal mit Fruchtalkohol verbinden, als Kindheitsgeruch. Damit frischt sich die Assoziation zu den Kindheitsängsten und dem »monstre« auf. – Der elementare Lösungsteil erfolgt ebenso tagsüber, bei Sonnenschein, indes nicht in der Stadt, sondern im Wald bei Montagris, in einem etwas schattigen Bereich. Hier finden die Ermittler die erste Leiche (Clémence Valmont), deren Identität der Täter als Tarnung und falsche Fährte angenommen hat. Lahmédi, Moez: »Représentation de l’espace urbain dans la série Malaussène de Daniel Pennac«, 5. Wobei für Malaussène anzumerken ist, dass nicht alle Romane sich durch eine winterliche Eiseskälte auszeichnen. So ist in La petite marchande de Prose der Sonnenschein ein wesentlicher Faktor des meteorologischen Aufbaus, interessant scheint mithin auch für diese Reihe, ob bzw. inwiefern Wetter und Saisonalität mit Plot und Figuren verwoben sind. Eine Abkehr dieser »Basis-Elemente« findet sich auch in der Marseille-Trilogie von Jean-Claude Izzo. Bereits aus klimageografischen Gründen weicht das Wetter hier vielfach von der Formel der Kälte ab. Mit Blick auf den Erzähldiskurs der néo-polars der 1970er- wie 1980er-Jahre und auf den hiervon veränderten Erzähldiskurs in den néo-polars von Izzo sei auf Ruffing hingewiesen: Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln, bes. 303–350. Vgl. zur Schwarz-Weiß-Gestaltung der Stadt im polar auch Blanc, Jean-Noël: Polarville, 51f. Vargas, Fred: L’homme aux cercles bleus, 201. Vgl. bspw. auch ibid., 192, 206.

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López Martínez, Marina: »La ville de pierre de Fred Vargas«, 319. Eine ›Ausnahme‹ bildet der retrospektiv als verregnet erwähnte Sommer in Pars vite et reviens tard; der Fall selbst spielt im September. Bis zum Erscheinen des Titels Quand sort la recluse von 2017. Wobei der Sommer für den cercleur den entscheidenden Vorteil bietet, dass es eher trocken bleibt und die Kreise nicht fortgeregnet werden. Nach den sog. meteorologischen Jahreszeiten beginnt der Sommer am 1. Juni, der Herbst am 1. September. Quand sort la recluse thematisiert sowohl das Phänomen der Einsiedlerin sowie der weiblichen gewaltbesetzten Gefangenschaft und Isolation als auch einen gruppendynamischen Angstmythos der Einsiedlerspinnenbande: Das Erscheinen der Einsiedlerspinne selbst (Angstthematik Arachnophobie) ist dezidiert mit der ungewöhnlichen Hitze des Jahres und dem sich wandelnden Klima verbunden. Für das Subgenre des phantastischen Kriminalromans sei angemerkt, dass diesen, so Schwarz, die Elemente des Unheimlichen, der Aufbau archaischer Ängste (und damit auch Kinderängste), übernatürlicher Schrecken und die durch ›gotische‹ Elemente erzeugte Atmosphäre des Unheimlichen« kennzeichnen (vgl. Schwarz, Ellen: Der phantastische Kriminalroman, 341, Zitat ibid.). Charakteristisch für die Wetteratmosphäre sind bspw. Nebel, dunkle Wolkenfelder oder Gewitter. Die Gothic Novel prägte einen festen Zusammenhang zwischen Unwetter und folgendem Schauergeschehen, sodass die Naturphänomene eine »unbestimmte Schauerantizipation« auslösen. Auslöser sind hierbei: jagende Wolken, Nebel, Wind, Wolkenbruch, Sturm, Orkan, Gewitter und deren Ankündigung durch dunkle Wolkenwände (vgl. Trautwein, Wolfgang: Erlesene Angst, 37). Parallel hat Adamsberg das metaphorische Bild eines Sturms vor Augen, der über Ordebec schwebt und als solcher auf die Mesnie in ihrer Konnotation mit Winden und Stürmen rekurriert. Vargas, Fred: L’Armée furieuse, 352. Ibid., erster Satz 433, zweiter 437. So ist es im übertragenen Sinne auch Lina, die mit ihrem Bericht über das Heer ein metaphorisches Gewitter über Ordebec auslöst. Dieser Täter ermordete seine Frau, es ist nicht der Serienmörder aus Ordebec. In L’Armée furieuse findet parallel zum Serienmord auch die zweite, etwas größere Ermittlung in Paris statt, bei der es gilt, zwei hochrangige Persönlichkeiten des Mordes an ihrem Vater zu überführen. Diese ist faktural weniger mit Tag und Nacht verwoben als mit den 36 °C, die Paris beherrschen und die nicht zuletzt den ermittlungsbedingten Druck spiegeln; die Anspannung löst sich hier parallel meteorologisch und deduktiv: »Finalement tout a explosé hier, le ciel et l’enquête.« (Vargas, Fred: L’Armée furieuse, 387) Wie bei anderen zuvor betrachteten Kriminalromanen erfolgt auch hier die Wetterfaktur im Nexus zum jeweiligen Fall. Vargas, Fred: L’Armée furieuse, 9. Vgl. hierzu auch Hynynen, Andrea/Akademi, Åbo: »Intuition, déduction et superstition«, 365. Ein methodischer Ansatz ist das Gespräch mit den Verdächtigen, die das Gefühl überkommt, einer »envie diffuse qui vous prenait de lui [Adamsberg] raconter quelque chose […] comme ça, par mégarde pourrait-on dire. Comme ça pour par-

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ler à Adamsberg.« (Vargas, Fred: L’homme aux cercles bleus, 18). Hier zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit zu Maigret, die sich bspw. auch in Adamsbergs bes. im ersten Fall ausgesprochenen »Je ne sais pas« realisiert, eine Formulierung, die charakteristisch für Simenons Ermittler ist. So formuliert Adamsberg gegenüber Danglard im ersten Fall: »Je savais depuis longtemps que quelque chose n’allait pas chez lui, et c’était ça qu’il avait, la cruauté. Je vous assure qu’il avait un visage normal, qu’il n’avait pas les ailes du nez tirées. C’était au contraire un beau garçon, mais il suait la cruauté. Ne m’en demandez pas plus, je ne sais rien d’autre, sauf qu’ […] il a écrasé une grande-mère sous un horloge.« (Vargas, Fred: L’homme aux cercles bleus, 19). Vargas, Fred: Pars vite et reviens tard, 134f. Gohlis, Tobias: »Polar – Neo Polar – Post Polar«, 31. Adamsberg bildet mit Danglard, dem ein geradezu enzyklopädisches Wissen eingeschrieben ist, die Umkehr oder gar Parodie des klassischen Ermittlerpaares à la Holmes und Watson. Während Adamsberg eher der Intuition folgt, ungewöhnliche Wege geht und zuweilen nicht erklären kann, warum er eine bestimmte Fährte verfolgt, präferiert Danglard ein methodisches und logisches Vorgehen. Vgl. zur Parodie Hynynen, Andrea/ Akademi, Åbo: »Intuition, déduction et superstition«, 366; vgl. zum Aspekt der Semiotik bei Adamsberg Boisvert, Jayne R.: »Introducing Fred Vargas: Commissioner Adamsberg, the Anti-flic as Interpreter of Signs«, bes. 829. Während bspw. Holmes nach größtmöglicher Exaktheit strebt, trägt Adamsberg zwei Uhren. Das könnte ebenso auf eine hohe Präzision deuten, doch zeigt keine der beiden Uhren die richtige Zeit an, sondern beide weisen zusammen auf einen Mittelwert, auf eine ungefähre Zeit. Während andere Figuren vom Wetter physisch beeinflusst werden – so trägt Noël durch die plötzlich einsetzende Kälte in Sous les vents de Neptune eine Muskelverspannung davon –, erfährt Danglard in L’homme aux cercles bleus eine physische und psychische Stärkung durch die Sonnenwärme. Erstmals in: Vargas, Fred: Sous les vents de Neptune, bspw. 168, 171. Vargas, Fred: L’homme aux cercles bleus, 56. Vargas, Fred: Sous les vents de Neptune, 168. Ibid., 171. Hierbei handelt es sich um québécoise; Adamsberg wird mithin durch ein außereuropäisches Lokalkolorit in seiner meteorologischen Besonderheit charakterisiert. Ibid., 16. Adamsbergs metaphorische Wetterwirkung auf andere ›ermittelnde‹ Figuren findet sich auch in anderen Fällen, so bringt er in L’homme à l’envers gleichsam Wind in die Verfolgung und die Suche der Gruppe um Camille. Vargas, Fred: Dans les bois éternels, 49. Hynynen, Andrea/Akademi, Åbo: »Intuition, déduction et superstition«, 367. Der »kleinere« Fall, der sich meist zu Beginn des Romans findet, ist weniger intuitiv als durch das Lesen von Hinweisen gelöst und weist fast eine Deduktion à la Holmes auf. Vargas, Fred: L’homme à l’envers, 101. Vargas, Fred: Quand sort la recluse, 80.

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Vargas, Fred: Sous les vents de Neptune, 211. Vargas, Fred: Un lieu incertain, 178. Ibid., 359. Eine Bewertung findet nicht nur in diesen beiden emotionalen Momenten statt, sondern auch am Ende von Un lieu incertain am Justizpalast, als Adamsberg und Danglard Mordant abfangen sowie über Kiseljevo, den Ursprungsort des Vampirmythos im gleichen Roman. 71 Vargas, Fred: L’homme aux cercles bleus, 128. 72 Vargas, Fred: L’homme à l’envers, 256f. 73 Ibid., 263. 74 Vargas, Fred: Sous les vents de Neptune, 165. 75 Die Ausnahme ist logischerweise L’homme à l’envers. 76 Vargas, Fred: Sous les vents de Neptune, 23ff. 77 Neptun war der wichtigste römische Meeresgott, die griechische Entsprechung ist der Gott Poseidon. 78 Vargas, Fred: Sous les vents de Neptune, 75. 79 Ibid., 195. 80 Ibid., 334. 81 In diesem Nexus ist bezeichnend, dass im Sarg Fulgences Sand gefunden wird, da Blitzeinschläge Sand zu Glas werden lassen können. Es ist deshalb bezeichnend, weil »fulgur« der lat. Ausdruck für Blitz ist. 82 Vargas, Fred: Sous les vents de Neptune, 9. 83 Ähnlich erfolgt dies in Temps glaciaires. Der Kern der Mordserie nimmt seinen gruppendynamischen Ausgangspunkt auf einer kleinen isländischen Insel, die, vom mythischen Wesen Afturganga beherrscht, eine Gruppe Touristen in Nebel und Kälte festsetzt. Um zu überleben, tötet ein Mann zwei Personen der Gruppe und präsentiert ihr Fleisch als angebliches Robbenfleisch – was jedoch schnell entlarvt wird. Dieser Täter bedroht und ermordet Jahre später, nachdem eines der Gruppenmitglieder aufgedeckt hat, was wirklich geschehen ist, die übrigen Gruppenmitglieder. 84 Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch Raphaëls Freundin mit dem Wind in Verbindung gebracht wird, so wie Camille für Adamsberg mit Naturphänomenen. 85 Auf gewisse Weise erfolgt diese persönliche Implikation auch im Fall Un lieu incertain. 86 Ein similäres Moment findet sich in Un lieu incertain, während des Sommers bleibt es in der (vermeintlichen) Vampirgruft so kalt, dass dem hier vom Täter eingesperrten Adamsberg ebenso der Kältetod droht – ein Spannungshöhepunkt. 87 Bernard Minier (*1960) arbeitete zunächst als Zollbeamter und schrieb in seiner Freizeit erste Kurzgeschichten. Erst mit 50 verfasste er seinen Kriminalromanen Glacé für den er mit zahlreichen Preisen, unter anderem dem Prix Polar (2011), ausgezeichnet wurde. Sein Debutroman um den Commandanten Martin Servaz wurde in über 20 Sprachen übersetzt, verfilmt und erschien als BD. Der Toulouser Polizisten Servaz ermittelt bisher in folgenden Fällen: Glacé (2011), Le Cercle (2012), N’éteins pas la lumière (2014), Nuit (2017), Sœurs (2018), La Vallée (2020), La Chasse (2021) und Un œil dans la nuit (2023).

Anmerkungen

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Minier, Bernard: Glacé, 248ff. Die Reihe um Commandant Martin Servaz umfasst bisher: Glacé (2011), Le cercle (2012), N’éteins pas la lumière (2014), Nuit (2017), Sœurs (2018), La Vallée (2020). Man denke nur an abgeschlagene Füße, verbrannte Frauen, ausgesetzte Kinder, Kannibalismus etc. Compart, Martin (2018): »Archäologie des Bösen: Jean-Christophe Grangé.« Jean-Christophe Grangé (*1961) studierte Literaturwissenschaften, bevor er als Werbetexter und Journalist arbeitete und schließlich zum Kriminalroman kam. Unter anderem erschienen: Le Vol des cigognes (1994), Les Rivières pourpres (1998), L’Empire des loups (2003), Kaïken (2012), La terre des Morts (2018). Grangés Romane sind in mehr als zehn Sprachen übersetzt und zahlreiche Titel verfilmt, so 2014 als Fernsehserie auch Le Passager. Der Thriller zeichnet sich prinzipaliter durch Actionelemente und besondere Spannung aus. So definiert Allard den Thriller als »le roman noir, dont le but réel, malgré la présence d’un élément énigmatique, est d’exciter les nerfs du lecteur par la violence des scènes, la cruauté des protagonistes, la révolte sociale, la délinquance etc.« (Allard, Yvon: »Le roman policier«, zitiert nach Spehner, Norbert: Scènes de crimes, 53). Spannung bildet das wesentliche Merkmal, was durch den Begriff page turner deutlich wird. Als früher Vorläufer des Thrillers wird mitunter Homers Odyssee angesetzt; als einer der ersten tatsächlichen Thriller erschien aber 1899 Joseph Conrads Heart of Darkness. Der Thriller als ein Subgenre des Kriminalromans übernimmt aus der sog. pulp fiction bzw. dime novel – zwischen den beiden Weltkriegen produzierte Massenliteratur auf preiswertem Papier (pulp) – die Intensivierung wie Beschleunigung der Handlung, etwa indem die Suche nach dem Täter entfällt, weil dieser von Anfang an oder recht bald bekannt ist. In diesem Zuge rückt die Frage nach der Tatentwicklung und/oder der Psyche der Täterfigur, ggf. mit Beleuchtung des Vorlebens, der Kindheit, zeithistorischer Umstände etc., in den Vordergrund, wodurch die Psychologisierung der Figuren einen größeren Part einnimmt. Der Thriller verändert die Komponenten des klassischen Kriminalromans: Die detektivische Instanz wird durch eine kriminelle ersetzt, die Ermittlungsarbeit primär durch die actionreiche Handlung, statt des close room finden sich Metropolen, bei denen die Handlungsorte wie Straßenfluchten, Tiefgaragen, Kanalsysteme quasi als unterirdisches Labyrinth fungieren, an den locus horridus anknüpfen und vielfach eine Relation zu den Figuren aufweisen – aus der Bewegung durch die Metropole bzw. mit den Metropolen resultiert eine Dynamik, die auf die Offenheit des Thrillers verweist. Während sich der klassische Kriminalroman zudem durch die Geheimnis- und Rätselspannung, folglich quasi durch einen Mangel an Informationen, auszeichnet und primär ein intellektuelles Phänomen darstellt, dominiert im Thriller die Zukunfts- und Angstspannung, nach dem Prinzip der Wechselhaftigkeit von spes und metus, dem »Wechsel von Glück zum Unglück oder vom Unglück zum Glück« (Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, 150). Vgl. bes. Kniesche, Thomas W.: Einführung in den Kriminalroman, bes. 71–76 sowie exemplarisch zum Thriller Spehner, Norbert: Scènes de crimes, bes. 53–87; Nusser, Peter: Der Kriminalroman, bes. 48–65 sowie 106–110. Der französische Thriller, so Panter, gründet sich »sur un récit complexe, ils [les thrillers] mêlent différentes in-

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trigues, souvent portées par plusieurs personnages principaux« (Panter, Marie: »Le thriller à l’américaine«, 109). Ein Strukturmerkmal des Thrillers ist die chronologische Erzählweise, bei Grangé verweben sich hierbei im Rahmen des Plots zwei narrative Stränge, wie mit Panter kurzgefasst werden kann: »celui de l’enquête, au présent, mais destiné à remonter le cours du temps pour élucider le crime; celui du crime, qui se poursuit dans le présent et ›coïncide avec l’action‹, de sorte que ›la prospection se substitue à la rétrospection‹« (ibid. Panter zitiert Todorov, Tzvetan : »Typologie du roman policier«, 60; hingewiesen sei auf Todorov, Tzvetan: Poétique de la prose, 14). Der Thriller selbst weist verschiedene Subgattungen auf, wie den Spionageroman, den Politikthriller oder den Wissenschaftsthriller. In Letzterem zeichnet sich eine Wissenschaftsdisziplin als relevant ab, wie bei Grangés Le Passager der Bereich von Medizin und Pharmakologie; in diesem Subgenre gibt es ferner viele Genreüberschneidungen zum Horror. Compart, Martin: »Archäologie des Bösen«. Panter, Marie: »Le thriller à l’américaine«, 107. Ibid., 112 (Kursivierung im Original). Themen, die sich durch die Titel Grangés ziehen, sind die chilenische Militärdiktatur, Pharmazie oder der Kolonialismus in Schwarzafrika (vgl. Compart, Martin: »Archäologie des Bösen«) sowie die griechische Mythologie. Dies wäre in der Genregeschichte des Thrillers also ein Rückbezug auf dessen quasi antiken Ursprung. Panter, Marie: »Le thriller à l’américaine«, 112. Dergestalt verweist der Name von Freires Patienten Bonfils auf das, was Freire/ Kubiela für Toinin ist und gleichzeitig nicht sein kann. Panter, Marie: »Le thriller à l’américaine«, 112. Grangé, Jean-Christophe: Le Passager, 14–17 (Kursivierung durch Verf.). Ibid., 21 (Kursivierung im Original). Ibid., 33. Ibid., 43f. In Paris führte Freire, so glaubt er jedenfalls, eine intime Beziehung zu einer ehemaligen Patientin, die sich nach einer gemeinsamen Nacht in ihrem Zimmer in der Psychiatrie mit seinem Gürtel erhängte. Ibid., 47. Ibid., 225. Ibid., 928. Fast erinnert die Szene an den Wind in Magnans Les courriers de la mort. Ibid., 931. »Les commentateurs lui paraissaient s’exprimer comme des évangélistes annonçant l’Apocalypse.« (Ibid., 931). Ibid., 930. Ibid., 932. Ibid., 976. Ibid., 49. Vgl. Endnote 37. Lahmédi, Moez: »Représentation de l’espace urbain dans la série Malaussène de Daniel Pennac«, 5.

Anmerkungen

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Kullmann gelingt es, aus den Befunden für die Landschaft und das Wetter im englischen Roman zum Zeitabschnitt von Radcliffe und Hardy eine Kategorisierung und Schematisierung zu erstellen (vgl. Kullmann, Thomas: Vermenschlichte Natur, 467ff.). Teile dieser Aspekte gelten sicherlich für den Kriminalroman ebenso wie für andere Genres oder Gattungen. Gaboriau, Emil: Monsieur Lecoq, 33. (Kursivierung durch Verf.) Magnan, Pierre: Les courriers de la mort, 273. In diesem Sinne erfüllen meteorologische Phänomene beispielsweise die von Daemmrich und Daemmrich aufgeführten Grundbedingungen für die Herausbildung und Funktion von Motiven. Diese sind Schein, Stellenwert, Polarstruktur, Spannung, Schematisierung, Themenverflechtung, Gliederung des Textes, Deutungsmuster (vgl. Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur, XVIIIf.). In der Diskussion darüber, ob Wetter überhaupt ein Motiv ist, kann dies für das kriminalliterarische Wetter im untersuchten Korpus bejaht werden. Hingewiesen sei hier auf die Aufsatzsammlung von Pérez, Janet/Aycock, Wendell M. (Hg.): Climate and Literature. Reflections of environment und besonders auf: Jordan, Jack: »Climate and Identity in the Literature of the French Antilles«, S. 115–121. Von Driss Chraïbi (1929–2007) sind um Inspektor Ali(ibrahim) erschienen: Une enquête au pays (1981), L’inspecteur Ali (1991), Une place au soleil (1993), L’inspecteur Ali à Trinity College (1995), L’inspecteur Ali et la CIA (1996) und L’homme qui venait du passé (2004). Von Mohamed Moulessehoul (*1955) alias Yasmina Khadra seien exemplarisch genannt: die Algier-Trilogie mit Morituri (1997), Double blanc (1997) und L’automne des chimères (1998) sowie L’attentat (2005) und Le sel de tous les oublis (2020). Bereits mit den Vorläufern des Kriminalromans, den Mystères de Paris, erscheinen zudem Alteritätsfiguren als relevant und sind Teil des erfolgreichen deduktiven Überführungsprozesses. Hingewiesen sei diesbezüglich exemplarisch auf die Lektüre- und Schreiberfahrung im Zusammenhang mit Sonne und Schnee der Autorin Chimamanda Adichie in »The danger of a single story«. Maryse Condé (*1937) schreibt eigentlich keine Kriminalliteratur. Marguerite Yourcenar (1903–1987) ist keine Krimiautorin. Jean-Bernard Pouy (*1946) an Larchmütz 5632, so Gohlis, sind »Elemente auffällig, die den [.] französischen Kriminalroman nach dem Neo-Polar [.] kennzeichnen: ein literarisch reflektierter Umgang mit Zeitgeschichte eine phantastisch wuchernde und zugleich kontrollierte Bildsprache, Sarkasmus und tiefere Ironie.« Gohlis, Tobias: »Polar – Neo Polar – Post Polar«, 29. Marie Darrieussecqs (*1969) schreibt bisher keine Kriminalromane. Von Sonja Delzongle (*1967) erschienen u.a. die Kriminalromane La Journée d’un sniper (2007), Quand la neige danse (2017) sowie L’Homme de la plaine du Nord (2020).

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