Micha 9783170254381, 9783170254398, 9783170254404, 9783170254411, 3170254383

Wesentliche Teile der Michaschrift sind wahrscheinlich im Kontext eines Mehr- oder Zwölfprophetenbuches entstanden und k

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German Pages 270 Year 2020

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Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhalt
Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber
Vorwort des Autors
Einleitung in den Kommentar
Hermeneutische Vorüberlegungen
Synchrone Analyse
Textgrundlage
Die Michaschrift im Zwölfprophetenbuch
Die Gliederung der Michaschrift und ihr inhaltlicher Duktus
Diachrone Analyse
Zur Entstehung der Michaschrift
Stufe 1: Ausgangspunkt der Michaschrift: Das Städtegedicht
Stufe 2: Die Entstehung der Michaschrift im Kontext eines Mehrprophetenbuches
Stufe 3: Die Michaschrift zwischen der Jona- und Nahumschrift
Zur Person und zum geschichtlichen Hintergrund Michas und der Michaschrift
Synthese
Theologische Schwerpunkte
Rezeptionen der Michaschrift im Neuen Testament
Mi 1,1-7: Das Kommen JHWHs zum Gericht
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 1,8f.: Die Trauer des Propheten
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 1,10-16: Unheil über die Städte des Hügellandes und Aufruf zur Klage
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Synthese zu Mi 1
Mi 2,1-5: Die Machenschaften der Oberschicht und die Folgen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 2,6-11: Prophetischer Widerstand gegen Micha
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 2,12f.: Künftiges Heil
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Synthese zu Mi 2
Mi 3,1-4: Wie Kannibalen - die Machenschaften der Oberschicht
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 3,5-8: Die falschen Propheten und der wahre Prophet JHWHs
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 3,9-12: Korruption in Zion und ihre Folgen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Synthese zu Mi 3
Mi 4,1-5: Zions endgültige Bestimmung
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 4,6-8: Die Sammlung der Zerstreuten und das Königtum JHWHs und Zions
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 4,9-14: Die Not der Jetztzeit und die Zukunft
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Synthese zu Mi 4
Mi 5,1-5: Ein künftiger Herrscher in Israel
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 5,6-8: Der Rest Jakobs inmitten der Völker und die Vernichtung der Gegner Israels
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 5,9-13: Die Reinigung Israels von allem JHWH-Feindlichen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 5,14: Das Gericht JHWHs über die ungehorsamen Nationen
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Synthese zu Mi 5
Mi 6,1-8: Die Erwartungen JHWHs an sein Volk
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 6,9-16: Das tatsächliche Handeln Jerusalems und seiner Bewohnerschaft
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Synthese zu Mi 6
Mi 7,1-7: Klage und Vertrauen des Propheten
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Mi 7,8-20: Die Zuversicht Zions und seine Erneuerung
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
Synchrone Analyse
Kontextbezogenheit
Textinterne Aussagegestalt
Einzelauslegung
Diachrone Analyse
Synthese zu Mi 7
Verzeichnisse
Abkürzungen
Literatur
Textausgaben
Hilfsmittel
Neuere Kommentare zu Micha
Monographien
Aufsätze
Register
Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl)
Sonstige Quellen (in Auswahl)
Verzeichnis hebräischer Wörter
Schlagwortverzeichnis
Editionsplan
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Micha
 9783170254381, 9783170254398, 9783170254404, 9783170254411, 3170254383

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Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament (IEKAT) Herausgegeben von: Walter Dietrich, David M. Carr, Adele Berlin, Erhard Blum, Irmtraud Fischer, Shimon Gesundheit, Walter Groß, Gary Knoppers (†), Bernard M. Levinson, Ed Noort, Helmut Utzschneider und Beate Ego (apokryphe/deuterokanonische Schriften)

Umschlagabbildungen: Oben: Teil einer viergliedrigen Bildleiste auf dem Schwarzen Obelisken Salmanassars III. (859–824 v. u. Z.), welche die Huldigung des israelitischen Königs Jehu (845–817 v. u. Z.; 2 Kön 9f.) vor dem assyrischen Großkönig darstellt. Der Vasall hat sich vor dem Oberherrn zu Boden geworfen. Hinter diesem stehen königliche Bedienstete, hinter Jehu assyrische Offiziere sowie, auf den weiteren Teilbildern, dreizehn israelitische Lastträger, die schweren und kostbaren Tribut darbringen. © Z. Radovan/BibleLandPictures.com Unten links: Eines von zehn Reliefbildern an den Bronzetüren, die das Ostportal (die sog. Paradiespforte) des Baptisteriums San Giovanni in Florenz bilden, geschaffen 1424–1452 von Lorenzo Ghiberti (um 1378–1455): Ausschnitt aus der Darstellung ‚Adam und Eva‘; im Mittelpunkt steht die Erschaffung Evas: „Und Gott der HERR baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und brachte sie zu ihm.“ (Gen 2,22) Fotografiert von George Reader. Unten rechts: Detail der von Benno Elkan (1877–1960) geschaffenen Menora vor der Knesset in Jerusalem: Esra liest dem versammelten Volk das Gesetz Moses vor (Neh 8). Die Menora aus Bronze entstand 1956 in London und wurde im selben Jahr von den Briten als Geschenk an den Staat Israel übergeben. Dargestellt sind in insgesamt 29 Reliefs Themen aus der Hebräischen Bibel und aus der Geschichte des jüdischen Volkes.

Burkard M. Zapff

Micha

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2020 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-025438-1 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-025439-8 epub: ISBN 978-3-17-025440-4 mobi: ISBN 978-3-17-025441-1 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Meiner Mutter

Inhalt .................

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Vorwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung in den Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Hermeneutische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Michaschrift im Zwölfprophetenbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gliederung der Michaschrift und ihr inhaltlicher Duktus . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Entstehung der Michaschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Person und zum geschichtlichen Hintergrund Michas und der Michaschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologische Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptionen der Michaschrift im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . .

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

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15 17 17 18 20 22 22

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24 26 26 27

Mi 1,1–7: Das Kommen JHWHs zum Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 43

Mi 1,8f.: Die Trauer des Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 50

Mi 1,10–16: Unheil über die Städte des Hügellandes und Aufruf zur Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese zu Mi 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 62 63

Mi 2,1–5: Die Machenschaften der Oberschicht und die Folgen . . . . . . .

65

Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 76

Mi 2,6–11: Prophetischer Widerstand gegen Micha . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 93

Mi 2,12f.: Künftiges Heil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

8

Inhalt

Synthese zu Mi 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Mi 3,1–4: Wie Kannibalen – die Machenschaften der Oberschicht . . . . . 103 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Mi 3,5–8: Die falschen Propheten und der wahre Prophet JHWHs . . . . . . 111 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Mi 3,9–12: Korruption in Zion und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Synthese zu Mi 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Mi 4,1–5: Zions endgültige Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Mi 4,6–8: Die Sammlung der Zerstreuten und das Königtum JHWHs und Zions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Mi 4,9–14: Die Not der Jetztzeit und die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Synthese zu Mi 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Mi 5,1–5: Ein künftiger Herrscher in Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Mi 5,6–8: Der Rest Jakobs inmitten der Völker und die Vernichtung der Gegner Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Mi 5,9–13: Die Reinigung Israels von allem JHWH-Feindlichen . . . . . . . . 178 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Mi 5,14: Das Gericht JHWHs über die ungehorsamen Nationen . . . . . . . . 186 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

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Inhalt

Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Synthese zu Mi 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Mi 6,1–8: Die Erwartungen JHWHs an sein Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Mi 6,9–16: Das tatsächliche Handeln Jerusalems und seiner Bewohnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Synthese zu Mi 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Mi 7,1–7: Klage und Vertrauen des Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Mi 7,8–20: Die Zuversicht Zions und seine Erneuerung . . . . . . . . . . . . . 232 Synchrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Diachrone Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Synthese zu Mi 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) Sonstige Quellen (in Auswahl) . . . . Verzeichnis hebräischer Wörter . . . Schlagwortverzeichnis . . . . . . . . . .

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Editionsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber Der Internationale Exegetische Kommentar zum Alten Testament (IEKAT) möchte einem breiten internationalen Publikum – Fachleuten, Theologen und interessierten Laien – eine multiperspektivische Interpretation der Bücher des Alten Testaments bieten. Damit will IEKAT einer Tendenz in der gegenwärtigen exegetischen Forschung entgegenwirken: dass verschiedene Diskursgemeinschaften ihre je eigenen Zugänge zur Bibel pflegen, sich aber gegenseitig nur noch partiell wahrnehmen. IEKAT möchte eine Kommentarreihe von internationalem Rang, in ökumenischer Weite und auf der Höhe der Zeit sein. Der internationale Charakter kommt schon darin zum Ausdruck, dass alle Kommentarbände kurz nacheinander in englischer und deutscher Sprache erscheinen. Zudem wirken im Kreis der Herausgeber und Autorinnen Fachleute unterschiedlicher exegetischer Prägung aus Nordamerika, Europa und Israel zusammen. (Manche Bände werden übrigens nicht von einzelnen Autoren, sondern von Teams erarbeitet, die in sich bereits multiple methodische Zugänge zu dem betreffenden biblischen Buch verkörpern.) Die ökumenische Dimension zeigt sich erstens darin, dass unter den Herausgeberinnen und Autoren Personen christlicher wie jüdischer Herkunft sind, und dies wiederum in vielfältiger religiöser und konfessioneller Ausrichtung. Zweitens werden bewusst nicht nur die Bücher der Hebräischen Bibel, sondern die des griechischen Kanons (also unter Einschluss der sog. „deuterokanonischen“ oder „apokryphen“ Schriften) ausgelegt. Auf der Höhe der Zeit will die Reihe insbesondere darin sein, dass sie zwei große exegetische Strömungen zusammenführt, die oft als schwer oder gar nicht vereinbar gelten. Sie werden gern als „synchron“ und „diachron“ bezeichnet. Forschungsgeschichtlich waren diachrone Arbeitsweisen eher in Europa, synchrone eher in Nordamerika und Israel beheimatet. In neuerer Zeit trifft diese Einteilung immer weniger zu, weil intensive synchrone wie diachrone Forschungen hier wie dort und in verschiedensten Zusammenhängen und Kombinationen betrieben werden. Diese Entwicklung weiterführend werden in IEKAT beide Ansätze engstens miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Da die genannte Begrifflichkeit nicht überall gleich verwendet wird, scheint es angebracht, ihren Gebrauch in IEKAT zu klären. Wir verstehen als „synchron“ solche exegetischen Schritte, die sich mit dem Text auf einer bestimmten Stufe seiner Entstehung befassen, insbesondere auf seiner Endstufe. Dazu gehören nicht-historische, narratologische, leserorientierte oder andere literarische Zugänge ebenso wie die durchaus historisch interessierte Untersuchung bestimmter Textstufen. Im Unterschied dazu wird als „diachron“ die Bemühung um Einsicht in das Werden eines Textes über die Zeiten bezeichnet. Dazu gehört das Studium unterschiedlicher Textzeugen, sofern sie über Vorstufen des Textes Auskunft geben, vor allem aber das Achten auf Hinweise im Text auf seine schrittweise Ausformung wie auch die Frage, ob und wie er im Gespräch steht mit älteren biblischen wie außerbiblischen Texten, Motiven, Traditionen, Themen usw. Die diachrone Fragestellung gilt somit

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Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

dem, was man die geschichtliche „Tiefendimension“ eines Textes nennen könnte: Wie war sein Weg durch die Zeiten bis hin zu seiner jetzigen Form, inwiefern ist er Teil einer breiteren Traditions-, Motiv- oder Kompositionsgeschichte? Synchrone Analyse konzentriert sich auf eine bestimmte Station (oder Stationen) dieses Weges, besonders auf die letzte(n), kanonisch gewordene(n) Textgestalt(en). Nach unserer Überzeugung sind beide Fragehinsichten unentbehrlich für eine Textinterpretation „auf der Höhe der Zeit“. Natürlich verlangt jedes biblische Buch nach gesonderter Betrachtung und hat jede Autorin, jeder Autor und jedes Autorenteam eigene Vorstellungen davon, wie die beiden Herangehensweisen im konkreten Fall zu verbinden sind. Darüber wird in den Einführungen zu den einzelnen Bänden Auskunft gegeben. Überdies wird von Buch zu Buch, von Text zu Text zu entscheiden sein, wie weitere, im Konzept von IEKAT vorgesehene hermeneutische Perspektiven zur Anwendung kommen: namentlich die genderkritische, die sozialgeschichtliche, die befreiungstheologische und die wirkungsgeschichtliche. Das Ergebnis, so hoffen und erwarten wir, wird eine Kommentarreihe sein, in der sich verschiedene exegetische Diskurse und Methoden zu einer innovativen und intensiven Interpretation der Schriften des Alten Testaments verbinden. Die Herausgeberinnen und Herausgeber Im Herbst 2012

Vorwort des Autors Es gehört wohl zu den anspruchsvollsten, aber zugleich auch schönsten Aufgaben eines Exegeten, einen Kommentar zu schreiben. Im Hinblick auf die Michaschrift kam für mich noch der Umstand hinzu, dass ich mich nach knapp 25 Jahren noch einmal mit diesem so wichtigen Teil des Zwölfprophetenbuches auseinandersetzen durfte, dem ich bereits meine Habilitationsschrift gewidmet hatte. Nachdem sich in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine neue Sichtweise des Zwölfprophetenbuches und seiner Entstehung entwickelte hatte, bot sich dabei die Chance, diese Perspektive auch in die Kommentierung der Michaschrift einfließen zu lassen. So gebührt in erster Linie mein Dank Helmut Utzschneider, der – selbst als Autor eines wichtigen Michakommentars – die Aufnahme meiner Kommentierung in die Reihe IEKAT ermöglicht hat. Ihm verdanke ich darüber hinaus manche weiterführenden Hinweise. Ein Dank sei auch dem Lektoratsassistenten des Kohlhammer-Verlages, Herrn Florian Specker, für seine sehr angenehme und hilfreiche Begleitung bei der Erstellung des druckfertigen Manuskriptes ausgesprochen. Ein Dank geht auch an die Mitarbeiterinnen an meinem Lehrstuhl, an meine Assistentin Frau Christine Schütz und an die beiden wissenschaftlichen Hilfskräfte, Frau Angelika Nieslbeck und Frau Josephine Kain, für die mühsame Arbeit des Korrekturlesens. Widmen möchte ich diese Arbeit in Dankbarkeit meiner Mutter und meinem verstorbenen Vater, die mir bereits von Kindesbeinen an die Freude an Gott und der Heiligen Schrift vermittelt haben. Eichstätt, im Frühjahr 2020

Einleitung in den Kommentar Hermeneutische Vorüberlegungen „Das Wort JHWHs, welches an Micha, den Moreschiter erging in den Tagen von Jotam, Rolle der ÜberAchas und Hiskija, den Königen von Juda, das er schaute über Samaria und Jerusalem“ schrift – unter dieser Überschrift findet sich die Michaschrift mit ihren sieben Kapiteln in ihrer hebräischen Version im heutigen Zwölfprophetenbuch. Damit scheint Name, Herkunft, Zeit des Auftretens und nicht zuletzt Bezugsobjekt der Prophetie des Micha klar zu sein. Die Überschrift leistet dabei das, was man wohl auch in modernen Sammelwerken – und das Zwölfprophetenbuch ist ein großes Sammelwerk unterschiedlicher prophetischer Schriften – von einer Überschrift erwartet: Sie grenzt das Folgende von den anderen Schriften ab und gibt Autor und Thema an.1 Tatsächlich hat man in weiten Teilen der Exegese die Angaben dieser Überschrift überwiegend biographisch verstanden, indem man in der Michaschrift – zumindest in weiten Teilen – Worte eben jenes Propheten Micha suchte, den man entsprechend der dort getätigten zeitlichen Angaben im 8. Jh. v. Chr. verortete. Da wir über das letzte Drittel dieses Jahrhunderts nicht nur aus innerbiblischen, sondern auch aus altorientalischen Quellen verhältnismäßig gut informiert sind, lag es nahe, Micha und seine Prophetie mit den Ereignissen dieser Zeit – zu nennen ist hier vor allem die Expansion des neuassyrischen Reiches in die Levante im Rahmen verschiedener Feldzüge (z. B. die Kampagne des assyrischen Großkönigs Sanheribs um 701 v. Chr.) – in Verbindung zu bringen. Tatsächlich scheinen sich verschiedene Aussagen Michas auf eine größere militärische Bedrohung zu beziehen (vor allem Mi 1,8–16*).2 Die zahlreichen sozialkritischen Äußerungen der Michaschrift, die z.T. auffällige Ähnlichkeiten mit denen der beiden Nordreichspropheten Hosea und Amos, aber auch mit denen des Südreichpropheten Jesaja haben – der noch dazu zeitlich beinahe deckungsgleich mit Micha verortet wird –, legen es überdies nahe, aus der Michaschrift Rückschlüsse auf die sozialen Verhältnisse im Südreich im letzten Drittel des 8. Jh. v. Chr. zu ziehen3 und Micha als eine Art jüngeren Kollegen oder gar Schüler Jesajas zu betrachten. Seine Herkunft vom Lande – Morescha Gat liegt im südwestlichen Hügelland Judas – gaben zu umfangreicheren biographischen Spekulationen Anlass, wonach sich Micha etwa als eine Art Dorfältester4 für die Anliegen der durch eine raffgierige Oberschicht ausgebeuteten, vormals freien Bauernschaft einsetzte. Der Micha des 8. Jh. wurde so, durchaus analog zu seinen Nordreichskollegen Amos und Hosea, zusammen mit dem Südreichspropheten Jesaja zu dem sozialkritischen Propheten des Südreiches im 8. Jh. v. Chr. und damit zu einer Stimme JHWHs, die sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzte. Was man nun dem historischen Micha tatsächlich an Worten in der Michaschrift zuweisen kann, wurde in der Forschung jedoch zu einer mehr und mehr umstrittenen Frage, wie übri1 2 3 4

Zur Fragestellung ausführlich: ZAPFF, Rückschlüsse; ZAPFF, Micah Similar to Isaiah. Dieses Städtegedicht steht entsprechend CORZILIUS, Rätsel, 145, wahrscheinlich mit jenem Feldzug des Sanherib in Zusammenhang. So etwa ALBERTZ, Religionsgeschichte, 257–261. WOLFF, Micha, XV.

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Entsprechungen zu Hosea, Amos und Jesaja

Einleitung in den Kommentar

gens in ähnlicher Weise in den anderen prophetischen Büchern und Schriften, die mit Prophetengestalten des 8. Jh. v. Chr. in Zusammenhang gebracht wurden. Starken Einfluss, zumindest in der deutschsprachigen Forschung, bekam die Position Bernhard Stades, der den zweiten Teil der Michaschrift (Mi 4–7) gänzlich dem Propheten des 8. Jh. v. Chr. absprach,5 im Unterschied zu weiten Teilen der angelsächsischen Exegese, die auch diesen Teil für den Propheten des 8. Jh. v. Chr. zu retten suchte und sucht.6 Eine Zwischenposition nehmen jene Exegeten ein, die zumindest Mi 6–7 einer anonymen Prophetengestalt, einem „Deuteromicha“ zuschreiben wollen, der ursprünglich im Nordreich beheimatet war und dessen Prophetie später mit der des Südreichpropheten Micha aus dem 8. Jh. v. Chr. verbunden wurde. Das grundsätzliche Problem einer solchen Interpretation der Michaschrift besteht in der Wertung der Überschrift, die fast selbstverständlich als eine verlässliche historische Information betrachtet wurde und wird. Dabei fällt nun auf, dass die Überschrift nicht nur die Michaschrift als eigene Größe im Zwölfprophetenbuch abgrenzt, insofern sie das Folgende eben einem Propheten namens Micha aus Moreschet zuschreibt, sondern zugleich diese Worte in einen Bezugszusammenhang mit anderen Schriften des Zwölfprophetenbuches, insbesondere Hosea und Amos, setzt7 und auch in dieser Hinsicht die Rolle erfüllt, die einer Überschrift in einem Sammelwerk zukommt. Demnach ist Micha sowohl ein jüngerer Zeitgenosse des Nordreichpropheten Hosea wie auch, zumindest chronologisch betrachtet, Nachfolger des Amos. Gleichzeitig stimmt die Zeit seines Auftretens fast gänzlich mit der Jesajas in Jes 1,1 überein, sodass Micha zudem ein direkter, wenn auch etwas jüngerer, Zeitgenosse des Jesaja ist. Die Königsreihe weist zudem dtr. Kolorit auf und scheint sich an der Königsreihe des Deuteronomistischen Geschichtswerks zu orientieren. Da außerdem die Verkündigung des Micha – wie die des Hosea und Zephanja – als „Wort JHWHs“ charakterisiert wird, ergibt sich noch eine weitere Gemeinsamkeit. D. h. die Überschrift der Michaschrift grenzt nicht nur ab, sondern verbindet zugleich, sodass ein Verständnis der Überschrift als rein biographische Information zu eng ist, zumal es sich allem Anschein nach um eine, zumindest in der heutigen Form, recht späte Überschrift handelt. Daraus ergibt sich die Frage, ob sich diese hier implizierte zeitliche Entsprechung zwischen Micha, Amos und Hosea möglicherweise auch in inhaltlicher Hinsicht in der Botschaft der Michaschrift niederschlägt; was wiederum die Frage aufwirft, ob nicht Teile der Michaschrift ein Echo auf die Verkündigung des Hosea und Amos sind, sodass man sie mit Recht als Ausdruck des einen Wortes JHWHs hinein in eine bestimmte Zeit und Situation bezeichnen kann. Dieser Linie sucht der vorliegende Kommentar zu folgen, insofern er auf Entsprechungen und Parallelen achtet, welche die Michaschrift mit der vorausgehenden Hosea- und Amosschrift verbinden. Dabei fußt diese Interpretation zum erheblichen Teil auf Beobachtungen neuerer Studien zur Entstehung des Zwölfprophetenbuches, die hier in neuer Weise fruchtbar gemacht werden.8 Wiederum ausgehend von der Überschrift werden dabei auch Entsprechungen zu Jesaja in den Blick genommen. Grund5 6 7 8

STADE, Bemerkungen, 164f. Zum Beispiel WALTKE, Micah, 8–13. Ausführlich wurde in jüngerer Zeit dieses Phänomen durch Schart, Entstehung, 42–46, beschrieben. Als Beispiel seien hier die Studien von NOGALSKI, Precursors; ZAPFF, Studien; SCHART, Entstehung; WÖHRLE, Sammlungen; CORZILIUS, Rätsel, genannt.

Textgrundlage

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sätzlich ist es natürlich denkbar, dass die Ähnlichkeit und Verwandtschaft michanischer Verkündigung in der biographischen Nähe des Propheten Micha zu Jesaja ihre Gründe hat, sollten sich jedoch Entsprechungen ergeben, die gleichzeitig Beziehungen zu jesajanischer, hoseanischer und amosischer Verkündigung zeigen, ist die Frage zu stellen, ob hier nicht eine bewusste Aufnahme in Form von Schriftgelehrsamkeit vorliegt, um Micha in die beschriebene Entsprechung zu den drei Propheten zu setzen. Hinzu kommt, dass es in der michanischen Verkündigung Texte gibt, die nur dem verständlich sind, der zuvor Hosea und Amos gelesen hat. In diesen Fällen stellt sich sowieso die Frage, ob die einschlägigen Texte jemals in einer von einem Mehrprophetenbuch unabhängigen Michaschrift existierten. Ausgehend von diesem Ansatz stellt sich umgekehrt die Frage, welche Texte innerhalb der Michaschrift ohne den genannten Bezugszusammenhang existieren und damit möglicherweise tatsächlich einem Propheten Micha des 8. Jh. v. Chr. zugewiesen werden können. Gegenüber einem primär biographisch vorgehenden Ansatz, der bemüht ist, jeden Text in der Michaschrift nach Möglichkeit für den Propheten des 8. Jh. v. Chr. zu „retten“ (warum eigentlich?), um daraus wiederum die damalige politische und soziale Situation abzuleiten, verfährt dieser Kommentar umgekehrt. Nur für die Texte, die nicht in einer Beziehung zu Hosea, Amos und Jesaja stehen und überdies kein exilisches oder nachexilisches Kolorit zeigen, wird erwogen, inwieweit sie möglicherweise dem Propheten des 8. Jh. v. Chr. zugeschrieben werden können. Viele mögen dieses Vorgehen für hyperkritisch halten, es kommt hier jedoch nur ein Prinzip zur Anwendung, welches sich bereits im Hinblick auf andere prophetische Bücher, wie Jesaja oder Amos, bewährt hat.9 Wie sich zeigen wird, bedeutet dies in keiner Weise eine Nivellierung des Anspruches der Botschaft der Michaschrift. Im Gegenteil, es entspricht eher der bereits im Alten Testament zu beobachtenden Tendenz, die prophetische Botschaft nicht so sehr zu individualisieren, sondern vielmehr als eine Größe zu betrachten, die dann ihre Krönung in der neutestamentlichen Rede von der (einen) Botschaft aller Propheten findet (vgl. Lk 24,25).10

Synchrone Analyse Textgrundlage Die Grundlage der in diesem Kommentar vorgelegten Interpretation der Michaschrift ist der masoretische Text des Codex Leningradensis. Dieser liegt in kritisch aufbereiteter Form in der Ausgabe der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) vor und neuerdings mit einem erweiterten kritischen Apparat in dem zum Zwölfprophe9 Vgl. z. B. BECKER, Jesaja. 10 Es handelt sich hier übrigens um eine Tendenz, die ihre ganz eigene Fokussierung in der koranischen Überlieferung findet, wonach sämtliche Propheten bis Mohammed im Grunde nur die eine Botschaft von der Einheit und Einzigkeit Gottes verkünden und ihre Funktion darin besteht, „Menschen wieder auf den Weg der Rechtleitung zu weisen“, BÖTTRICH, EGO, EISSLER, Elia, 147.

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Einleitung in den Kommentar

tenbuch erschienenen Faszikel der Biblia Hebraica Quinta (BHQ). Dieser Text wurde lediglich dann „verbessert“, wenn dies aufgrund einer offensichtlichen Textverderbnis oder einer im Gesamtzusammenhang eher unwahrscheinlichen masoretischen Vokalisation notwendig erschien. Neben dem von den Masoreten überlieferten und interpretierten hebräischen Berücksichtigung der Text wurde als weitere Textgrundlage die griechische Übersetzung der MichaSeptuaginta schrift in Gestalt der Septuaginta (G) herangezogen. Dabei bezieht sich die Kommentierung gewöhnlich auf die von Rahlfs mit einem kritischen Apparat versehene Textausgabe. Der griechische Text wird hierbei nicht dazu herangezogen, um eine mögliche Textverderbnis des hebräischen Textes zu „verbessern“, sondern als eigenständige Größe, die in ihrer Übersetzung zugleich eine Interpretation mit der Setzung eigener Akzente und Schwerpunkte bietet. Zugleich wurde neben eigenen Interpretationen vor allem auf den von Utzschneider verfassten Kommentar zur deutschen Übersetzung von G in Septuaginta Deutsch zurückgegriffen.11 Die Berücksichtigung und Wertschätzung von G als eigenständiger Überlieferung und Interpretation des Alten Testaments entspricht nicht nur der neueren Forschung, sondern ist zugleich ein ökumenisches Desiderat, wird doch in verschiedenen Kirchen (auch) G ein kanonischer Rang zugewiesen.12 Ähnliches gilt grundsätzlich auch für die syrische Bibel, die Peshitta (S). Hier wurde der vom Codex Ambrosianus bezeugte Text herangezogen, der für das Zwölfprophetenbuch in einem kritischen, vom Peshitta-Institut Leiden herausgegebenen Faszikel vorliegt. Angesichts der räumlichen Begrenzung dieses Kommentars wurden jedoch nur besonders erwähnenswerte Abweichungen vom hebräischen bzw. griechischen Text berücksichtigt.

Die Michaschrift im Zwölfprophetenbuch Die Tatsache, dass bereits in der ersten innerbiblischen Bezeugung (Sir 49,10) die Zwölf Propheten als eine geschlossene Größe mit einer gemeinsamen Botschaft betrachtet werden13 und sich diese Überzeugung auch in den antiken Textfragmenten niederschlägt, die die Zwölf auf einer Rolle und nicht als voneinander getrennte Bücher überliefern, spricht dafür, dass auch die Michaschrift nicht lediglich als singuläre Größe, sondern im Kontext mit den anderen Schriften des Dode11 UTZSCHNEIDER, Michaias. 12 Vgl. die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. in der Aula Magna der Regensburger Universität, am Dienstag, 12. September 2006: „Heute wissen wir, daß die in Alexandrien entstandene griechische Übersetzung des Alten Testamentes – die Septuaginta – mehr als eine bloße (vielleicht sogar wenig positiv zu beurteilende) Übersetzung des hebräischen Textes, nämlich ein selbständiger Textzeuge und ein wichtiger Schritt der Offenbarungsgeschichte ist, […]“. (www.vatican.va/holy father/ benedikt XVi/index it.htm: discorsi 2006, September: viaggio Apostolica a München, Altötting e Regensburg: Incontro con in rappresentanti della scienza nell‘ Aula Magna dell‘ Università di Regensburg. Seite aufgerufen am 5.8.2019. 13 „Ferner die Zwölf Propheten: Ihre Gebeine mögen von ihrer Stätte emporsprossen. Sie brachten Heilung für Jakobs Volk und halfen ihm durch zuverlässige Hoffnung“ (EÜ 1980).

Die Michaschrift im Zwölfprophetenbuch

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kapropheton verstanden werden wollte und sollte. Allerdings ergibt sich hier die Problematik, dass sich die Anordnung der Schriften in der hebräischen Bibel von der durch G bezeugten deutlich unterscheidet. Folgt die Michaschrift in der masoretischen Tradition auf die Jonaschrift, so findet sie sich in G direkt nach der Hosea- und der Amosschrift. Die masoretische Anordnung, die die Michaschrift nach der Jonaschrift einordnet, dürfte dabei mindestens zwei Gründe haben: So erwähnt 2 Kön 14,25 einen Jona, Sohn des Amittai, mit dem jener Prophet in der Jonaschrift, entsprechend Jona 1,1, identifiziert wird. Dieser Jona wiederum trat nach Auskunft des Zweiten Königsbuches zur Zeit Amazjas, des Königs von Juda auf, also während des ersten Drittels des 8. Jh. v. Chr., wohingegen Micha aus Moreschet entsprechend der Chronologie in Mi 1,1 erheblich später, nämlich nach 756 v. Chr. seine Prophetie verkündigte. Außerdem scheint die Michaschrift in der heutigen Anordnung eine Art Vermittlungsrolle zwischen der Jonaschrift mit ihrer völkerfreundlichen Tendenz – Umkehr und Verschonung Ninives – und der Nahumschrift mit ihren harschen Gerichtsworten gegen Ninive zu spielen. Offenbar dient Ninive hier als eine Art Paradigma für die grundsätzliche Alternative, vor der die Völker stehen. Tatsächlich unterscheidet die Michaschrift zwischen Völkern, die hören (Mi 1,2), und Völkern, die nicht hören und deshalb dem Gericht verfallen sind (Mi 5,14). Dabei hat die Einordnung der Michaschrift zwischen diesen beiden Schriften auch ihre redaktionsgeschichtlich nachweisbaren Spuren in Mi 1,2 und Mi 7,8–20 hinterlassen (s. u.). Die davon abweichende Anordnung der Michaschrift im Dodekapropheton von G, nämlich an dritter Stelle nach Hosea und Amos, scheint ebenfalls mehrere Gründe zu haben. Zum einen legt sich die Positionierung aufgrund des Umfangs der Michaschrift nahe, welche nach Hosea und Amos (abgesehen von der Sacharajaschrift) die umfangreichste prophetische Schrift im Zwölfprophetenbuch darstellt. Zum anderen weist die mit einer Chronologie versehene Überschrift der Michaschrift Micha als direkten Nachfolger des Amos aus, was nicht zuletzt, wie zu zeigen sein wird, sein Echo auch in weiten Teilen der Botschaft des Micha findet, die eigentlich nur dem verständlich ist, der zuvor Hosea und Amos gelesen hat. Möglicherweise spiegelt sich hier überhaupt eine ursprüngliche Anordnung der Schriftenfolge im entstehenden Zwölfprophetenbuch wider. Dass die Jonaschrift in der Anordnung von G erst nach Micha (und Joël) folgt, mag wiederum der Chronologie der Königsbücher geschuldet sein. So erwähnt 1 Kön 22,8 einen Micha ben Jimla, der zur Zeit des israelitischen Königs Ahab und des judäischen Königs Joschafat auftrat. Diesen aber scheint die griechische Fassung der Michaschrift mit jenem Propheten Micha aus Moreschet des 8. Jh. v. Chr. in Zusammenhang zu bringen, der folglich vor Jona ben Amittai wirkte. Dass es diese Verwechslung gab, darauf weist 1 Kön 22,28 selbst hin, wo sich der Höraufruf an die Völker aus Mi 1,2 im Mund des Micha ben Jimla findet. Außerdem scheint Mi 2,11G durch die Erwähnung eines Geistes, der Lüge erstehen lässt, auf 1 Kön 22,22 anzuspielen (s. u.). Schließlich und endlich steht die Jonaschrift auch der in G folgenden Nahumschrift aufgrund des Themas „Ninive“ nahe, sodass sich eine Parallelisierung beider Schriften nahelegte, vielleicht mit dem Ziel, jene sehr völkerfreundliche Sicht der Jonaschrift, veranschaulicht anhand der Verschonung Ninives, durch das dann doch erfolgte Gericht JHWHs über Ninive zu relativieren. Sei es nun in der Anordnung der hebräischen oder der griechischen Bibel, in jedem Fall führt die Michaschrift jenes in Hosea und Amos hereingebrochene Ge-

Stellung der Michaschrift im Zwölfprophetenbuch

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Einleitung in den Kommentar

richt über das Nordreich weiter, welches nun auch das Südreich erreicht und nach der Zerstörung der Nordreichsheiligtümer mit der Verwüstung des Zions endet (Mi 3,12). Dieser steht jedoch mit Mi 4,1–3 eine Erneuerung des Zions gegenüber, der nicht nur das wichtige einstige Nordreichsheiligtum Bet-El ersetzt, sondern auch zum neuen Sinai wird, von dem Weisung auch für die Völkerwelt ausgeht (s. u.). Die Michaschrift bildet so im Zwölfprophetenbuch sowohl einen vorläufigen Endpunkt des Gerichtsdramas JHWHs mit seinem Volk, als auch einen Wendepunkt und Neubeginn des Heilshandelns JHWHs, das gleichzeitig der Völkerwelt offensteht. Die folgenden Schriften sind denn auch unter dieser theologischen Prämisse zu lesen und zu verstehen, wenn sie sich entweder mit dem finalen Völkergericht (Nahum, Habakuk, Zefanja) oder der Erneuerung der JHWH-Gemeinde in Jerusalem (Haggai, Sacharja, Maleachi) sowie dem von dort ausgehenden Heil beschäftigen. Insofern bildet die Michaschrift eine Art Mitte und Knotenpunkt im Dodekapropheton.

Die Gliederung der Michaschrift und ihr inhaltlicher Duktus Gliederung der Michaschrift nach formalen Kriterien

Gliederung der Michaschrift nach inhaltlichen Kriterien

Ein Überblick zur Michaschrift lässt verschiedene Marker erkennen, die als Anhaltspunkte einer Gliederung dienen können.14 Dazu zählt der Höraufruf an die Völker in Mi 1,2, der ein Pendant in Mi 5,14 in der Erwähnung der Völker findet, die nicht gehorchen. Nachdem in Mi 6,1 ein weiterer Höraufruf, diesmal jedoch ohne konkreten Adressaten erfolgt, könnte man dementsprechend die Michaschrift in zwei Abschnitte einteilen: 1. Mi 1,2–5,14 und 2. Mi 6,1–7,20. Inhaltlich geht es in beiden Teilen um Verfehlungen, Gericht und Erneuerung Zions, die sich mit einem unterschiedlichen Geschick der Völker – Gericht durch oder Umkehr zu JHWH – verbinden. Eine weitere Gliederung ergibt sich, wenn man die Höraufrufe in Mi 3,1 (und 3,9) miteinbezieht. Dann lässt sich die Michaschrift in drei Teile untergliedern: 1. Mi 1,2–2,13; 2. Mi 3,1-5,14 und 3. Mi 6,1–7,20. Berücksichtigt man vor allem die inhaltliche Ebene, so ergeben sich weitere Möglichkeiten die Michaschrift zu gliedern. So fällt auf, dass sich jeweils an Gerichtsworte Heilsworte anschließen. Somit ergibt sich eine Dreiteilung der Michaschrift: 1. Mi 1,2 – 2,11 Unheil / Mi 2,12f. Heil; 2. Mi 3,1–12 Unheil / Mi 4,1 – 5,14 Heil und Mi 6,1–16; 7,1-7 Unheil / Mi 7,8-20 Heil. Auch die mehrfach (3x) anklingende Restvorstellung könnte ein Gliederungsmerkmal sein. So ist in Mi 2,12; Mi 4,6 und Mi 7,18 vom „Rest“ die Rede, der sich als Keimzelle künftigen Heils erweist. Schließlich könnte man auch den auffälligen Wechsel in Mi 3,12 zu Mi 4,1 von der Verwüstung des Zion zu seiner Erhebung als Mittelpunkt der Welt als zentrale Scheidelinie in der Michaschrift (wie überhaupt im Zwölfprophetenbuch, vgl. die Notierung der Masoreten am Ende von Mi 3,12) verstehen, und zwar im Sinne eines Übergangs vom Unheil zu endgültigem Heil. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten, die Michaschrift zu gliedern, weisen darauf hin, dass sie wohl nicht in einem Guss entstanden ist, sondern an ihrer Formung verschiedene Hände beteiligt waren. Dabei müssen sich bestimmte Glie14 Ausführlich hat sich mit dieser Fragestellung in jüngerer Zeit CUFFEY, Coherence, beschäftigt.

Die Gliederung der Michaschrift und ihr inhaltlicher Duktus

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derungen, wie z. B. die Abfolge von Unheil und Heil und jene Rahmung, durch den Aufruf der Völker nicht notwendiger Weise ausschließen, sondern können verschiedene Aspekte, z. B. die Heilsperspektive Zion/Israels und das damit verbundene, jedoch differenzierte Schicksal der Völker zum Ausdruck bringen. Vom inhaltlichen Duktus her ergibt sich etwa folgende Linie. Inhaltlicher Mi 1,2-16 schildern eine Theophanie JHWHs, die entsprechend der Überschrift Duktus in Mi 1,1 Samaria betrifft, dabei jedoch auch auf Juda und Jerusalem überzugreifen droht (vgl. Mi 1,9.12). Mi 2,1–11 benennt in einem ersten Durchgang das dafür verantwortliche sündhafte Treiben der Oberschicht, die sich nicht nur am Besitz der ihnen ausgelieferten Landbevölkerung vergreift, sondern sich jegliche prophetische Kritik an ihrem Treiben verbietet und auf die scheinbar bedingungslose Heilszusage JHWHs vertraut. Solche Heilspropheten jedoch werden von Micha als Verführer des Volkes bezeichnet, welches sich obendrein offensichtlich gerne verführen lässt. Die erste Heilsverheißung in Mi 2,12f. knüpft an das als Ankündigung der Exilierung verstandene Drohwort in Mi 2,10 an und verheißt einem Rest die Heimkehr unter Rückgriff auf das einstige Heilshandeln JHWHs im Kontext des Exodus. Mi 3,1–12 verschärft die Anklagen des Propheten und das daraus resultierende Gericht JHWHs. Die Übeltäter aus Mi 2 nehmen nun den von ihnen Ausgebeuteten nicht nur ihr Eigentum, sondern auch die Existenz. Propheten reden dem Volk nicht nur nach dem Mund, sondern nutzen ihr Prophetenamt zur Selbstbereicherung bzw. zum Schaden derer, die ihnen nicht zu Willen sind. Das Gerichtshandeln JHWHs setzt zunächst bei diesen Falschpropheten an, von denen sich Micha dezidiert als wahrer JHWH-Prophet absetzt. Das völlig korrupte Handeln der Oberschicht Judas, das Zion entweiht, führt zur Verwüstung des Zionberges. Stellt Mi 2,12f. dem als Androhung des Exils verstandenen Drohwort in Mi 2,10 eine Heilsweissagung gegenüber, so Mi 4,1–4 der Verwüstung des Zions in Mi 3,12 die Erhebung des Zions als Zentrum der Völkerwelt. An sie schließt sich in Mi 4,6–8 ebenfalls eine Heilsverheißung hinsichtlich einer Sammlung und Restituierung des Restes Jakobs sowie des dauerhaften Königtums JHWHs an. Dieser steht in Mi 4,9–14 zunächst die notvolle Gegenwart Zions gegenüber, welches vor allem unter der Abwesenheit eines Königs bzw. der Königsherrschaft und der Bedrängnis durch die Völker leidet. Mi 5 verbindet die Rückkehr der Königsherrschaft in verschiedenen Formen (Erneuerung des individuellen Königtums in Mi 5,1–3, Königtum des Restes Jakobs inmitten der Völker in Mi 5,6f.) mit einem finalen Reinigungsgericht Zions in Mi 5,9-13 und dem Gericht über die nicht hörbereiten Völker in Mi 5,14. Mi 6 konfrontiert JHWHs Heilstaten in der Vergangenheit (Mi 6,1–5) mit Israels Fehlverhalten (Mi 6,9–16) und formuliert JHWHs Erwartungen an jeden einzelnen, in Israel und den Völkern (Mi 6,6–8). In Mi 7,1–17 schließlich bildet das vom Propheten angesichts des allgemeinen gesellschaftlichen Chaos beispielhaft zum Ausdruck gebrachte Vertrauen auf JHWH den Ausgangspunkt. Dessen Übernahme durch Zion, welches zugleich seine Schuld eingesteht, führt zum Untergang seiner Feindin bzw. die Bekehrung der Völker zu JHWH. Die Michaschrift endet in Mi 7,18–20 in einem hymnischen Abschluss, der die Treue und die Vergebungsbereitschaft JHWHs betont und somit das Drama der Michaschrift zu einem guten Ende führt.

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Einleitung in den Kommentar

Tatsächlich gibt es in der neueren Forschung Tendenzen, dramatische Elemente in der Michaschrift aufzuzeigen.15 Dabei sollte man nach dem bisher Gesagten die Michaschrift nicht als eine singuläre Größe betrachten, sondern sowohl als vorläufigen Abschluss und Höhepunkt der vorausgehenden Hosea- und Amosschrift verstehen, als auch als prägende Durchgangsstation zu den folgenden Schriften im Zwölfprophetenbuch. So handelt es sich insgesamt – buchübergreifend betrachtet – bei der Michaschrift um einen wichtigen Teil des großen Dramas um Zion, Israel und die Völker.16

Diachrone Analyse Zur Entstehung der Michaschrift Ein Durchgang durch die Michaschrift offenbart eine ganze Reihe von Brüchen und inhaltlichen Ungereimtheiten. Ein klassisches Beispiel dafür ist Mi 2,12f., das in der Forschungsgeschichte, aber auch in der Interpretation von G ganz unterschiedlich verstanden wurde und wird. So schwanken die Interpretationen zwischen einem Heilswort aus dem Mund Michas oder, in Absetzung zu seiner vorausgehenden Drohbotschaft in Mi 2,8–10, einem Heilswort aus dem Mund seiner Gegner, die dem Volk entsprechend Mi 3,11 nach dem Munde reden, oder aber, nun in Fortführung der Gerichtsverkündigung Michas, als Drohwort. Je nach Auffassung kann man deshalb in Mi 2,12f. entweder einen integralen Bestandteil der ursprünglichen Botschaft des Propheten sehen oder aber eine spätere Ergänzung. Auch die aufgewiesenen unterschiedlichen Möglichkeiten, die Michaschrift zu gliedern, weisen auf eine Literaturgeschichte des Buches hin, die wohl über mehrere Stationen verlief. Da in den einzelnen Abschnitten dieses Kommentars eine differenzierte Literar- und Redaktionskritik vorgenommen wird, genügt es hier, die Grundzüge der Entstehung der Michaschrift nachzuzeichnen. Eine wichtige Erkenntnis in der Forschungsgeschichte ist die Einsicht, dass die Michaschrift eine Reihe von Texten enthält, die aufgrund ihrer Motivik und Semantik Züge aufweisen, die sie mit exilischen und nachexilischen Texten verbindet. Aufgrund solcher Beobachtungen meinte Stade, dass authentische Texte, die dem Propheten Micha des 8. Jh. v. Chr. zugeschrieben werden können, ausschließlich in Mi 1–3 anzutreffen sind (s. o.). Eine Begründung dieser Sicht scheint Mi 3,12 zu liefern, wo Micha fraglos als Gerichtsprophet charakterisiert wird und was durch Jeremia als vorgeblich authentisches Zitat in Jer 26,18 zitiert wird. Bei Mi 4 und 5 handelt es sich demgegenüber um exilisch-nachexilische Ergänzungen, die in Korrespondenz zu Texten des Jesajabuches stehen. Mi 6–7 schließlich wurden als eine eigenständige, möglicherweise ursprünglich von der Michaschrift unabhängige Größe betrachtet, 15 Vgl. insbesondere den Michakommentar von UTZSCHNEIDER bzw. seine Monographie, Michas Reise. 16 Ausführlicher, vgl. ZAPFF, Theological Center.

Zur Entstehung der Michaschrift

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die gelegentlich einem aus dem Nordreich stammenden „Deutero-Micha“ zugeschrieben wurde. Bei genauer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass Mi 1–3 in großen Teilen bereits die Lektüre der Hosea- und der Amosschrift voraussetzen. Zudem ist die Trennung zwischen Mi 3,12 und Mi 4,1–3 nicht so radikal, wie man zunächst vielleicht meinen möchte. Rückgriffe auf Hosea und Amos finden sich auch in Mi 4/ 5 und in Mi 6/7. Umgekehrt findet sich jesajanische Theologie nicht nur in Mi 4 und 5, sondern auch in Mi 1–3 und Mi 7. In Mi 1–3 verbinden sie sich zudem unlöslich mit Rückgriffen auf Hosea und Amos. Schließlich weisen, wie bereits gesagt, Mi 1 und Mi 7 eine Reihe von Korrespondenzen mit der vorausgehenden Jonaschrift und der nachfolgenden Nahumschrift auf. Einzig Mi 1,8.10–16* bildet eine sehr eigenständige Größe in der Michaschrift und zeigt keinerlei Kontakte mit den oder Kenntnis der genannten Schriften. Nimmt man nun diese Kontakte als Grundlage eines redaktionsgeschichtlichen Modells, dann ergibt sich etwa folgende Linie.

Stufe 1: Ausgangspunkt der Michaschrift: Das Städtegedicht Ausgangspunkt der Michaschrift scheinen einzelne Worte des Micha gewesen zu sein. Diese liegen vor allem in dem Städtegedicht Mi 1,8.10–16* vor, welches offenbar eine assyrische Attacke auf Städte des Hügellandes beschreibt und ihr Ziel in Jerusalem findet. Entfernte formale und inhaltliche Ähnlichkeit besteht dabei allenfalls mit Jes 10,28–34. Außerdem scheinen einige sozialkritische Worte, insbesondere in Mi 2 und 3, auf den Propheten des 8. Jh. v. Chr. zurückzugehen, die aber in ihrer heutigen Form entweder völlig in ihren Kontext eingearbeitet und mit Bezügen zu Hosea und Amos ergänzt und/oder mit ähnlichen Worten des Jesaja verbunden wurden. Diese wenigen Fragmente geben zur Annahme Anlass, dass es eine Michaschrift im eigentlichen Sinn des Wortes aus der Zeit des 8. Jh. v. Chr. nicht gab, sondern neben dem Städtegedicht lediglich einige mehr oder weniger kurze Sentenzen des historischen Micha überliefert wurden.

Stufe 2: Die Entstehung der Michaschrift im Kontext eines Mehrprophetenbuches Eine Michaschrift als Grundlage der heutigen Michaschrift entstand m. E. von vornherein im Kontext der Hosea- und Amosschrift mit dem Ziel, jene Gerichtsbotschaft auch auf das Südreich zu übertragen, es aber nicht dabei zu belassen, sondern zugleich eine Heilsperspektive für den Zion zu entfalten. Gleichzeitig wird Micha, ausgehend von seiner Datierung ins 8. Jh. v. Chr., als zeitgenössischer Kollege Jesajas wahrgenommen und stilisiert. Das wiederum bedeutet, dass niemals eine Michaschrift ohne Mi 4,1–3.4 und dem damit über Jes 2,2–5.6f. in Zusammenhang stehenden Text Mi 5,9–13 existierte. Da Mi 6,1–16 ebenfalls jenen Bezug zu Hosea und Amos und die Übernahme von Sünden des Nordreiches im Südreich entsprechend Mi 1,9 bezeugt, gehören wohl auch diese Kapitel zum ursprünglichen Bestand jener Michaschrift. Diese hatte ursprünglich wohl folgenden Umfang: Mi 1,1.3–16*; 2,1–11*; 3,1–12; 4–5*; 6,1–16.

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Einleitung in den Kommentar

Eine singuläre Bearbeitung in Mi 4,8; 5,1–3 widmet sich in Anknüpfung an Mi 4,4 dem Thema „Königtum“ und erwartet dabei eine menschliche Gestalt, die als Vikar der Königsherrschaft JHWHs fungiert.

Stufe 3: Die Michaschrift zwischen der Jona- und Nahumschrift Eine weitere umfassende Fortschreibung bezieht die Michaschrift auf die Jonaund Nahumschrift, spricht von der Rückkehr der Diaspora und beschreibt das künftige Verhältnis zu den Völkern in Königsterminologie, sodass nun der Rest Jakobs in kollektiver Form den Platz jenes Herrschers in Mi 5,1 einnimmt (vgl. Mi 5,6f.). Ein Gericht über die Völker, die nicht gehorchen in Mi 5,14 verbindet sich dabei mit einer Bekehrung der Völker und dem Untergang der Feindin Zions. Damit wiederum ist das Thema der folgenden Nahumschrift vorbereitet, während die Thematik der Jonaschrift nicht nur in der Bekehrung der Völker in Mi 7,17, sondern auch im Versenken der Sünden des Restes Jakobs in den Tiefen des Meeres anstelle des Propheten ihr Ziel findet. Zu dieser Fortschreibungsschicht zählen Mi 1,2; Mi 2,12f.; Mi 4,6f.; Mi 4,9–13*; Mi 5,6f.8.14 und Mi 7,1–20. Die drei hier in aller Kürze skizzierten Stufen schließen selbstverständlich punktuelle Ergänzungen und Fortschreibungen der Michaschrift nicht aus.

Zur Person und zum geschichtlichen Hintergrund Michas und der Michaschrift Zunächst ist eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Propheten Micha des 8. Jh. v. Chr., auf den entsprechend der Überschrift die Michaschrift zurückgeführt wird, und der Gestalt und Verkündigung des Propheten, wie sie sich aus den Texten der heutigen kanonischen Michaschrift ergibt, vorzunehmen. Diese ist, wie gezeigt, das Ergebnis eines längeren Fortschreibungs- und Interpretationsprozesses, der im Grunde sein Ende erst mit der Vollendung des Zwölfprophetenbuches und seiner Kanonisierung in der hebräischen Bibel gefunden, ja sogar noch eine Fortsetzung in den antiken Übersetzungen der Septuaginta und Peshitta erfahren hat. Beide kann man nicht einfach als Übersetzungen im modernen Sinn verstehen, sondern sie verbinden den Übersetzungsprozess mit ihrer je eigenen interpretatorischen Sichtweise. Insofern lassen die verschiedenen Gestalten der Michaschrift nur sehr bedingt Rückschlüsse auf die Verkündigung jenes Propheten Micha des 8. Jh. v. Chr. zu. Der dort angegebene Zeitraum der Verkündigung des Micha umfasst ungefähr Zeitraum der Verkündigung die Zeit zwischen 744 und 696 v. Chr., also beinahe fünfzig Jahre. Da überdies diese des Micha Angabe aus theologischen Gründen mit dem Verkündigungszeitraum des Amos korreliert und außerdem u. a. aufgrund ihrer Anlehnung an dtr. Chronologie und Formulierungen wohl eher spät entstanden ist, ist ihr nur wenig historische Tragfähigkeit zuzuschreiben. Sie lässt allenfalls die Aussage zu, dass ein Prophet Micha irgendwann im letzten Drittel des 8. Jh. v. Chr. aufgetreten ist, und dass dieser Prophet aus dem südwestlichen, dem judäischen Gebirge vorgelagerten Hügelland stammt, welches durch die zweitgrößte judäische Festungsstadt Lachisch dominiert wurde. Die Nähe zur Küstenebene und der dort verlaufenden wichtigen Mili-

Zur Person und zum geschichtlichen Hintergrund Michas und der Michaschrift

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tär- und Handelsstraße zwischen Ägypten und dem Zweistromland brachten es mit sich, dass diese Gegend von der damaligen Expansion des assyrischen Reiches erheblich früher und umfangreicher tangiert wurde als Jerusalem, die in größerer Abgeschiedenheit gelegene Königshauptstadt des Südreiches Juda. So scheint die Städteliste in Mi 1,9–16* auf eine militärische Aktion Assurs Politische Situhinzudeuten, die sich gegen den Südreichkönig Hiskija richtete, der nach Auskunft ation sowohl biblischer wie zeitgenössischer Quellen (vgl. Sanherib-Prisma) eine Lösung aus dem offenbar bereits von seinem Vorgänger Ahas eingegangenen Vasallenverhältnis des assyrischen Königs anstrebte (vgl. 2 Kön 16,7). In diesem Zusammenhang wurden offensichtlich eine Reihe südjudäischer Städte und Ortschaften, nicht zuletzt Lachisch, in erhebliche Mitleidenschaft gezogen. Dabei mündete dieser Feldzug in die Belagerung Jerusalems, dem aus historisch nicht mehr sicher zu rekonstruierenden Umständen eine Eroberung erspart blieb (vgl. 2 Kön 18,13 – 19,37). Wieweit bereits Micha selbst mit einer Bedrohung Jerusalems rechnete oder nur die aktuelle assyrische Aktion beschreibt und diese später unter dem Eindruck der Ereignisse bis in die babylonische Zeit hinein ergänzt wurde, bleibt offen. Darüber hinaus scheint sich der Micha des 8. Jh. v. Chr. als sozialkritischer Sozialkritik Prophet profiliert zu haben, indem er die soziale Schieflage im Südreich kritisierte, bei der offensichtlich die vormals freie Landbevölkerung durch die Machenschaften einer skrupellosen Oberschicht in Verelendung und Schuldsklaverei getrieben wurde. Auch hier scheinen die Texte Ergänzungen und Neuinterpretationen erfahren zu haben, die ihre Aktualität auch für spätere Zeiten und geänderte Situationen bis in die nachexilische Zeit hinein sicherte. Dies gilt nicht zuletzt hinsichtlich der theologischen Aufarbeitung der Eroberung und Zerstörung Jerusalems im Rahmen der babylonischen Expansion und der anschließenden Exilierung erheblicher Teile der Oberschicht Judas und Jerusalems 586 v. Chr. Hier werden nun die vorexilischen Propheten als Künder von JHWHs Gericht verstanden, welches die ungerechten Verhältnisse im Nord- und Südreich provoziert habe. Die nur sehr fragmentarisch erhaltene Verkündigung des vorexilischen Micha wird dabei eingebunden in ein umfangreiches Gerichtsgeschehen, das den Untergang Samarias und die Verwüstung Zions reflektierte. Letztere jedoch wird zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Erneuerung, die ausgehend von der Heilsverkündigung Deuterojesajas in der persischen Zeit erwartet wurde. So dürften große Teile der heutigen Michaschrift in dieser Zeit komponiert worden sein. Den Abschluss bildete eine Ergänzung, die wohl bereits in die hellenistische Zeit hineinreicht und dabei insbesondere das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern reflektiert. Micha wird nun zum Künder einer Scheidung in der Völkerwelt, bei der den Völkern, die gehorchen, Heil, den ungehorsamen hingegen Untergang angedroht wird. Hier scheint die Prophetie des Micha an andere prophetische Schriften des entstehenden Zwölfprophetenbuches, insbesondere an Sacharja, angenähert worden zu sein. Dies könnte nicht zuletzt im Rahmen der Endredaktionen des Zwölfprophetenbuches geschehen sein, die dabei Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Prozessen im Jesajabuch aufweisen (vgl. Mi 7 und Jes 12,1–6). So spiegelt die Michaschrift eine theologiegeschichtliche Entwicklung wider, die ihren Ausgangspunkt in prophetischen Worten eines historisch nur schwer fassbaren Propheten des 8. Jh. v. Chr. hatte und sich im Rahmen der Entwicklung des Zwölfprophetenbuches bis in die hellenistische Zeit erstreckte. Dabei verliert die prophetische Einzelgestalt immer mehr an Eigenprofil und wird Künder des einen Wortes JHWHs

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Einleitung in den Kommentar

in eine bestimmte Zeit hinein. Tatsächlich tritt in dieser Weise die Michaschrift eine „Reise in die Zeit“ an, die sich wohl ziemlich von Anfang an als eine Art „Gesellschaftsreise“ eines Mehr- und später eines Zwölfprophetenbuches gestaltete.

Synthese Theologische Schwerpunkte

Sozialkritik

Theologische Aufarbeitung der Zerstörung Jerusalems und des Exils Zion als zentrales Heiligtum und neuer Sinai

Heil und Unheil für die Völker

Folgende theologische Themen spielen in der Michaschrift eine herausragende Rolle. Wie die Hosea- und Amosschrift weist auch die Michaschrift eine ganze Reihe sozialkritischer Texte auf. Im Fokus der Kritik stehen Angehörige der Oberschicht, die die vormals freie Landbevölkerung ausbeuten, sich deren Äcker und ihren Besitz aneignen und ihre Familien aus ihren Häusern vertreiben. Als Hintergrund lässt sich hier wohl das antike Schuldrecht erkennen, das im Falle einer Überschuldung einen Zugriff auf Besitz, Person und Angehörige des Schuldners gewährte. Die Michaschrift veranschaulicht auf diese Weise, dass die sozialen Vergehen der Oberschicht, die insbesondere die Amosschrift im Hinblick auf die Verhältnisse des Nordreiches kritisiert, nun auch das Südreich erreicht hat, wofür überdies Jesaja ein zweiter Zeuge ist. Wie in der Amosschrift, so dienen auch hier die sozialen Vergehen als Begründung für den Verlust des Landes, der Exilierung und schließlich Zerstörung des Heiligtums, welches nicht mehr länger als Tempel JHWHs dient. JHWH erweist sich somit als ein Gott, der unbedingte Gerechtigkeit fordert und dessen Verehrung nicht von der Schaffung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse getrennt werden kann. Ein weiterer theologischer Schwerpunkt liegt in der in der Michaschrift entfalteten Zionstheologie. Sie zeigt, dass die hier tätigen Theologen in den Traditionen des Südreiches beheimatet sind. Gegenüber den Nordreichsheiligtümern, die offenbar als illegitim angesehen werden, erlebt der Zion durch das Gericht hindurch eine Reinigung, die ihn nicht nur das ehemalige Nordreichsheiligtum Bet-El ersetzen lässt und zum neuen Sinai macht, sondern gleichzeitig zum Mittelpunkt der Welt, zu dem die Völker wallfahrten. Ohne Zweifel wird dadurch JHWH nicht nur zum einzigen Gott Israels, sondern auch der Völkerwelt, sodass sich hier – zumindest zwischen den Zeilen – monotheistisches Gedankengut niederschlägt. Sämtliche Feinde des Zions und damit des Gottes Israels müssen untergehen, wer sich hingegen am Zion orientiert, wird der Segnungen des Gottes Israels zuteil. Mit der Zionstheologie verbindet sich eine Völkertheologie, die nicht nur das Verhältnis der Völker zu Israel, sondern auch das künftige Geschick der Völker reflektiert. Dieses entscheidet sich an ihrer Haltung dem Zion gegenüber. Gleichzeitig wird der Rest Jakobs inmitten der Völker seine Königsherrschaft zum Heiloder Unheil der Völker ausüben. Beide Aspekte stellen somit – im Zentrum des Zwölfprophetenbuches angesiedelt – eine zentrale Aussage dar. Tatsächlich spielen

Theologische Schwerpunkte

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beide Themen, oft unlösbar miteinander verknüpft, eine wichtige Rolle in den folgenden Schriften des Zwölfprophetenbuches. Mit dem Völkerthema verbindet sich außerdem eine Art Universalisierung und Individualisierung ethischen Handelns, wenn sich viele Völker an der vom Zion ausgehenden Weisung JHWHs orientieren bzw. in Mi 6,8 die seitens Gottes von allen und jedem erwartete Lebenshaltung formuliert wird. Schließlich spielt in der Michaschrift das Thema „Königtum“ eine wichtige Rolle. Dieses wird interessanterweise nicht in einer ganz bestimmten Weise definiert, sondern changiert zwischen dem Königtum JHWHs, dem Königtum Zions, der Erweckung einer individuellen Königsgestalt in Anklang an die David- und Salomotradition und schließlich dem Rest Jakobs, der mit königlichen Attributen versehen wird. Im Unterschied zu älteren Traditionen scheint damit die Konzeption des Königtums nicht in Alternativen, sondern komplementär gedacht: Das Königtum JHWHs – und daran anteilhabend das Zions – ist Ausdruck universaler Herrschaft, das Königtum des von JHWH Erweckten dient der Befreiung und dem Schutz Israels, das Königtum Israels wiederum kann sich zum Wohl und Wehe der Völker auswirken.

Rezeptionen der Michaschrift im Neuen Testament Im Neuen Testament liegen an 21 Textstellen Bezugnahmen auf die Michaschrift vor.17 In der Mehrzahl handelt es sich dabei um Anspielungen, bei denen ein Teil, wie im Fall von Joh 7,42, den michanischen Bezugstext Mi 5,1 weitgehend seinem ursprünglichen Sinn entsprechend aufgreift, zum Großteil jedoch dienen die michanischen Texte lediglich als sprachlicher Raum, in dem formuliert wird (so etwa im Magnifikat Lk 1,74 unter Bezug auf Mi 4,10). An drei bzw. vier neutestamentlichen Stellen finden sich allerdings direkte Zitate aus der Michaschrift: Mt 10,(21).35f.; Lk 12,53 (Mi 7,6) und Mt 2,6 (Mi 5,1). Dabei wird lediglich in dem zuletzt genannten Text das Zitat ausdrücklich „dem Propheten“ διὰ τοῦ προφήτου zugeschrieben, ohne diesen jedoch direkt beim Namen zu nennen. Auch hier zeigt sich wiederum jene bereits erwähnte Tendenz, alttestamentliche Prophetie ein Stück weit zu entindividualisieren und als eine Botschaft zu verstehen. Mit der Aufnahme dieses Zitates wird in der Geburt Christi die Erfüllung dieser prophetischen Verheißung gesehen, wenngleich sich im Munde der sie zitierenden Schriftgelehrten keine Erfüllungsformel findet. Dies deutet auf eine antijüdische Spitze hin: „Die jüdischen Schriftgelehrten erkennen, daß es um den erwarteten messianischen Hirten des Gottesvolkes Israel geht, ziehen aber daraus keine Konsequenzen,…“.18 Während in der jüdischen Rezeption die Spaltungen, von denen Mi 7,6 spricht auf die Zeit vor dem Kommen des Messias bezogen wurden, werden sie in Mt 10,35f. „mit dem Kommen Christi verbunden: Gerade die Sendung Christi wird 17 So entsprechend dem Verzeichnis „Loci citati vel allegati“ in NESTLE-ALAND, 768. 18 LUZ, Mt 1–7, 119.

Ethische Individualisierung und Universalisierung Königtum in Israel

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Einleitung in den Kommentar

die Schrecken der Endzeit bringen“.19 Im Unterschied zu Matthäus, der das Michazitat wörtlich übernimmt, lässt sich Lk 12,53 davon lediglich inspirieren, insofern sich hier die Alten und die Jungen wechselseitig gegeneinander erheben, und ordnet diese Auseinandersetzung den Plagen der letzten Zeit zu. Damit aber wird hier ein Topos aufgenommen, der sich auch in der jüdischen Apokalyptik findet. Die Aufnahme dieses Topos durch Jesus und die christlichen Gemeinden wiederum erklärt Bovon mit dem Bruch, den die durch seine Botschaft bewirkte Etablierung einer neuen Gemeinschaft hinsichtlich der persönlichen, kultischen und patriotischen Vergangenheit bewirkte.20 Er fand seine Fortsetzung in den ersten christlichen Textzeugnissen, die ein Echo auf die Entzweiung der Familien enthalten. Auffällig ist in jedem Fall, dass die Sozialkritik Michas, die einen erheblichen Teil seiner Schrift durchzieht, keine neutestamentliche Rezeption gefunden hat. Gerade diese aber dürfte wohl für einen modernen Leser der Michaschrift deren entscheidende Botschaft bilden, welche angesichts der vielfältigen, zum Teil systemisch gewordenen ausbeuterischen Strukturen unserer Welt und die damit einhergehende Marginalisierung eines großen Teils der Weltbevölkerung nichts von ihrer Aktualität verloren hat. In Fortführung der neutestamentlichen Rezeption wird bei den Kirchenvätern die Michaschrift vor allem als eine christliche Schrift wahrgenommen und dementsprechend interpretiert.21

19 LUZ, Mt 8–17, 138. 20 BOVON, Lukas, 355. 21 Vgl. RIEMER, Patristic Interpretation.

Mi 1,1–7: Das Kommen JHWHs zum Gericht 1,1 Das Wort JHWHs, welches an Micha, den Moreschiten erginga, in den Tagen von Jotam, Ahaz und Hiskija, den Königen von Juda, dasb er schaute über Samaria und Jerusalem. 2 Hört ihr Völker, ihre Gesamtheita! Höre aufmerksam zu, Erde, und was sie erfüllt! Und es sei der Herr JHWH gegen euchb Zeuge, der Herr von seinem heiligen Tempelc her. 3 Denn siehe: JHWH zieht aus von seinem Ort und er steigt hinab und tritt auf die Höhen der Erde, 4 und es zerschmelzen die Bergea unter ihm, und die Täler spalten sicha, wie Wachs vor dem Feuer, wie Wasser hingegossen am Abhang. 5 Wegen des Verbrechens Jakobs (geschieht) all dieses, und wegen der Sünden des Hauses Israels. Wera ist das Verbrechen Jakobs? Ist es nicht Samaria? Und wer sind die Höhen Judasb? Ist es nicht Jerusalem? 6 Und ich werde Samaria zu Trümmern des Feldes machen, für Weinbergspflanzungena, und ich werde seine Steine zu Tal stürzen, und seine Fundamente entblößen. 7 Und alle seine Götzenbilder werden zerschlagena, und alle seine Geschenke werden im Feuer verbrannta und alle seine Götterbilder werde ich zur Öde machen, denn mit Hurenlohn sammelteb sie (scil. Samaria), und zu Hurenlohn werden sie zurückkehren.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1a G nimmt Mi 1,1 den Überschriftscharakter, indem sie den Vers in einen narrativen Kontext einbindet: „Und es erging…“ καὶ ἐγένετο; vgl. Jona 1,1G. 1b Der Bezugszusammenhang der zweiten Relativpartikel ‫ אשׁר‬hängt vom Verständnis des folgenden „schauen“ ab. G versteht die Wurzel absolut und bezieht sie auf die vorher genannten Könige: „über die er schaute bezüglich Samaria und Jerusalem“. Die Vergleichsstelle Jes 2,1 legt jedoch ein Verständnis nahe, das sich auf ein vorausgehendes Objekt „Wort“ bezieht (vgl. V).

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Mi 1,1–7

2a Die Anrede der Völker steht in Spannung zu „ihre Gesamtheit“ (S: „eure Gesamtheit“, vgl. dagegen 2 Chr 18,27). Möglicherweise liegt ein „stylistic device“1 vor, mit dem Ziel, einerseits die Völker anzusprechen, andererseits zugleich den Blick auf den eigentlichen Adressaten zu lenken. Mit diesen sind nämlich jene gemeint, die in der Jerusalemer Gemeinde das Wort hören, sodass dann über die Völker gesprochen wird. 2b Wenn G mit „bei euch“ ἐν ὑμῖν übersetzt, so gibt JHWH seinem Zeugnis eine universale Hörerschaft. Num 5,13, Dtn 19,16 und Spr 24,28 zeigen hingegen, dass ‫ עד‬in einer Konstruktion mit ‫ ב‬im Sinne eines Zeugnisses „gegen“ jemanden zu verstehen ist.2 2c „Heiligen Tempel“ gibt G mit „heiligen Haus“ (ἐξ) οἴκου ἁγίου wieder und stellt damit einen Bezugszusammenhang zu Mi 4,2G her.3 4a G übersetzt in V. 4aα „(die Berge) werden erschüttert“ σαλευθήσεται und in V. 4aβ „(die Täler) schmelzen“ τακήσονται, sodass die beiden Bilder in V. 4b Explikationen von V. 4aβ sind. 5a Auffällig ist die Verwendung der Fragepartikel „Wer“, welche die beiden Städte als personale Größen erscheinen lässt (dagegen 1QpMi/S: „Was?“). 5b G übersetzt „Haus Judas“ οἴκου Ιουδα und stellt damit eine Entsprechung zu „Haus Israel“ in V. 5aβ her. 6a Die verbreitete Übersetzung „zur Pflanzung eines Weinbergs“ scheint nicht sinnvoll, da Weinberge im Alten Testament durchwegs positiv konnotiert sind. Besser ist es wohl, die Präposition ‫ ל‬als Angabe des Zweckes zu verstehen, i.S. von „für Weinbergspflanzungen“.4 G übersetzt mit „Lagerhaus für Früchte des Feldes“ εἰς ὀπωροφυλάκιον ἀγρου (vgl. S) und verwendet damit denselben Begriff, mit dem auch das geschundene Zion in Jes 1,8G und in Mi 3,12G bezeichnet wird.5 7a Die passivischen Formen in V. 7aα.β gibt G aktivisch wieder: „sie zerschlagen“ / „sie verbrennen sie“. Dabei ist als Subjekt wohl an die Samaritaner zu denken, die sich ihrer Götzenbilder entledigen. Vielleicht wird hier ein Bezug zu Mi 4,3 hergestellt6 („Umschmieden“ der Schwerter zu Pflugscharen). 7b T/S vermeiden den Subjektwechsel und setzen ‫צוּ‬ „wurden sie gesammelt“ voraus.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Das Eröffnungskapitel der Michaschrift ist inhaltlich von der Ankündigung eines JHWH-Gerichtes geprägt, das zunächst Samaria betrifft, dann aber auch Jerusalem bzw. Städte und Ortschaften des Hügellandes Judas erreicht. Zwar ist in den – entsprechend der masoretischen Anordnung im Zwölfprophetenbuch – der Michaschrift vorausgehenden Schriften des Zwölfprophetenbuches bereits da und dort neben der Ankündigung eines JHWH-Gerichtes über das Nordreich und seine Metropole Samaria auch von einem Gericht über Juda die Rede (vgl. z. B. Am 2,4–5), 1 2 3 4 5 6

NOGALSKI, Precursors, 129. So in jüngerer Zeit wieder KESSLER, Micha, 85. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2365. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2366; DERS. Micha, 35. So UTZSCHNEIDER, Michaias, 2366. So UTZSCHNEIDER, Michaias, 2366.

Synchrone Analyse

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doch findet sich einzig in der Michaschrift eine ausdrückliche Verbindung beider Thematiken, die schließlich in einen ausführlichen Schuldaufweis und ein Gericht über Zion und seine Bewohner einmündet (Mi 3,12). Man könnte demnach vermuten, dass im heutigen Kontext des (hebräischen) Dodekapropheton die Michaschrift das bereits in Hosea und Amos behandelte Samaria-Thema aufnimmt und nun mit der Zions-Thematik verbindet, sodass das Gericht JHWHs über das Nordreich seine Fortsetzung in einem Gerichtsgeschehen über das Südreich und seine Metropole Zion findet. Diese Verbindung der Samariamit der Zions-Thematik spiegelt auch die Überschrift der Michaschrift wider (vgl. Mi 1,1). Gerade diese Überschrift steht außerdem in enger formaler und inhaltlicher Korrespondenz zu den Überschriften der Hosea-, Amos- und Zefanjaschrift und knüpft an deren Chronologie an, insofern sie einen Zeitraum des Auftretens Michas im Anschluss an das Wirken des Amos und parallel zum Wirken Hoseas beschreibt, sodass sich auch von daher die Frage stellt, ob die Michaschrift in ihrer heutigen Form nicht im Kontext, genauer im Duktus, der drei genannten Schriften gelesen werden will und soll. Weiterhin steht die Michaschrift durch die Zionsthematik (vgl. vor allem Mi 4/ Jes 2) in enger Korrespondenz zum Jesajabuch, was wiederum durch formale und inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den Überschriften der Michaschrift und des Jesajabuches unterstrichen wird (vgl. Mi 1,1; Jes 1,1 / 2,1). So erscheint Micha entsprechend der Chronologien beider Bücher als jüngerer Zeitgenosse Jesajas. Außerdem fallen inhaltliche Verbindungslinien (z. B. die Prozess-, Sünden-, Gerichtsthematik) zwischen Mi 1 und Jes 1 auf, aber auch die prophetische Zeichenhandlung Michas in V. 8 sticht hervor, die er offenbar in Analogie zu Jesaja in Jes 20,2 vollzieht, sodass sich der Prophet nicht nur aufgrund einer ähnlichen Verkündigung, sondern auch einer analogen Zeichenhandlung als eine Art „zweiter Jesaja“ erweist. Schließlich ergeht das JHWH-Gericht in Gestalt einer eindrücklich beschriebenen JHWH-Theophanie, die durch ihre Auswirkungen auf die Natur quasi universale Züge annimmt. Insofern das Gericht über Samaria und Jerusalem somit auch die Völkerwelt betrifft, stellt sich die Frage, ob nicht die Michaschrift durch Mi 1 auch auf die – vor allem in der vorausgehenden Jonaschrift – anklingende Völkergerichtsthematik Bezug nimmt (vgl. Mi 1,2). Dafür spricht nicht zuletzt die Stichwortverbindung „zu deinem heiligen Tempel“ (Jona 2,5) bzw. „von seinem heiligen Tempel“ (Mi 1,2), sodass die in Mi 1 beschriebene Theophanie JHWHs wie eine Antwort auf Jonas flehentliches Gebet erscheint. Zusammen mit der Rahmung Mi 1,2 und 5,14, welche eine alternative Verhaltensweise der Völker beschreibt, sucht die Michaschrift offensichtlich das in der Jonaschrift formulierte Problem, welches Verhalten der Völker angesichts des sie bedrohenden Gerichtes JHWHs angemessen ist, zu beantworten. In Mi 1 klingen eine Reihe von Stichworten und Motiven an, die im Verlauf der Michaschrift wieder aufgenommen werden. Dazu gehört z. B. „Höhen“ (Mi 1,3), die in Parallele zur „Sünde Jakobs“ offenbar als Ausweis der Sünde Judas verstanden werden (Mi 1,5), sodass schließlich in Mi 3,12 der Zionsberg selbst zur überwachsenen „Höhe“ wird. Ebenso werden die Stichworte „Trümmer“ und „Feld“, die die Zerstörung Samarias in Mi 1,6 kennzeichnen, in der Beschreibung der Verwüstung des Zions in Mi 3,12 wieder aufgegriffen. Auch darin spiegelt sich der oben beschriebene Übergang vom Gericht über Samaria zu dem über Jerusalem. Setzt man die Berechtigung einer solchen synchronen Lesung der Michaschrift im heutigen Kontext des Zwölfprophetenbuches voraus, dann spiegelt sich in der Micha-

Verbindung des Geschicks Samarias und Jerusalems

Entsprechungen zum Jesajabuch

JHWHTheophanie

32

Mi 1,1–7

schrift die Fortsetzung des universalen Gerichtes JHWHs wider, von dem nach Samaria und dem Nordreich Israel auch der Zion nicht verschont bleibt. Allerdings hat der Zion, wie vor allem der zweite Teil der Michaschrift (Mi 4–7) dokumentiert, im Unterschied zu Samaria noch eine große Zukunft vor sich, sodass das Gericht über den Zion letztendlich lediglich zu einem Reinigungsgericht wird. Dieses Gericht verbindet sich mit einer Völkerperspektive, die gleich am Beginn des Kapitels anklingt (Mi 1,2) und die Völker vor die Entscheidung stellt, zu hören und sich dieses Gericht zu Herzen zu nehmen, oder als Verstockte („die nicht hörten“) einem endgültigen Gerichtsschlag zum Opfer zu fallen (vgl. Mi 5,14). Dabei scheint dieses Verständnis der Michaschrift bereits von der Perspektive der Jona- und Nahumschrift geprägt zu sein, zu der, wie noch zu zeigen sein wird, verschiedene Stichwortbeziehungen am Beginn und am Ende der Michaschrift bestehen. Positioniert im heutigen Zentrum des Zwölfprophetenbuches bildet die Michaschrift eine Art „Wasserscheide“, wo sich der grundlegende Umschwung von Gericht zu Heil sowohl für den Zion wie für die Völkerwelt vollzieht.

Textinterne Aussagegestalt Abwärtsbewe- Mi 1,1 gibt treffend das Thema von Mi 1 an, insofern in V. 1c die beiden Städte gung Samaria und Jerusalem genannt werden, die im Rahmen der Begründung der un-

heilvollen Theophanie JHWHs in V. 5 ausdrücklich Erwähnung finden. V 2 eröffnet ein Gerichtsgeschehen und setzt dabei die Anwesenheit von Völkern voraus. Damit aber wird eine universale Perspektive eröffnet, die über den Horizont der Michaschrift hinausreicht (s. o.). Die Theophanie JHWHs in Vv. 3f. beschreibt eine Abwärtsbewegung, die ihre Fortsetzung in der Zerstörung Samarias in V. 6 findet, dessen Steine ins Tal geworfen werden (vgl. V. 6b). Insofern rahmen beide Abschnitte Vv. 3f. und Vv. 6f. den Schuldaufweis Samarias und Jerusalems in V. 5. Die beschriebene Abwärtsbewegung findet ihre Fortsetzung in Mi 1,12, demzufolge „Böses zum Tor Jerusalem“ herabkam. V. 5b, in dem es um die Schuld Jerusalems geht, findet – analog dem Verhältnis von V. 5a zum Gericht über Samaria in Vv. 6f. – seine Entsprechung in V. 9, in dem es um die Bedrohung Jerusalems durch das Unheil geht, welches bereits über Samaria hereingebrochen ist.

Einzelauslegung V. 1: Die Über- Mi 1,1 besteht aus einer Genitivverbindung, die durch zwei Relativsätze expliziert schrift wird. Der erste Relativsatz, der den Rezipienten des Wortes JHWHs nennt, wird

durch eine Zeitangabe „in den Tagen“ ergänzt, wohingegen der zweite Relativsatz das ergangene Wort als „Schauung“ des Propheten definiert und dessen Inhalt näher umschreibt. Dabei fällt im zweiten Relativsatz ein Subjektwechsel auf (von „Wort JHWH“ zu „Micha“), sodass nun der Prophet vom passiven Empfänger zum aktiven „Seher“ des Wortes JHWHs wird. Eine Verbindung der Wortereignisformel (V. 1aα), die den Akzent auf den göttlichen Ursprung der prophetischen Botschaft legt,7 und der durch ‫„ חזה‬schauen“ betonten aktiven Beteiligung des Propheten am Offenbarungsempfang8 findet

7 8

WALTKE, Micah, 37. Vgl. ECK, Jesaja 1, 78, spricht vom Propheten als „aktiv handelnde[m] Subjekt“.

Synchrone Analyse

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sich ansonsten in keiner anderen Überschrift prophetischer Bücher.9 Der Subjektwechsel innerhalb der Überschrift und die damit in Verbindung stehenden unterschiedlichen Konzeptionen von Prophetie legen für eine Reihe von Exegeten eine literarkritische Lösung nahe, wonach eine ursprüngliche Überschrift Erweiterungen erfahren habe.10 Unstrittig ist die inzwischen fast konsensuell vertretene Auffassung, dass die Wortereignisformel (Mi 1,1aα), verbunden mit einer Königschronologie (Mi 1,1bα), mit den vergleichbaren Überschriften in Hos 1,1, Am 1,1 und Zef 1,1 in Korrespondenz steht und dementsprechend die Michaschrift nach Auffassung der dafür verantwortlichen Autoren/Redaktoren offenbar in einem größeren Kontext gelesen werden soll (s. o.).11 Weniger im Blick ist dabei, dass die Königschronologie in Mi 1,1 auch eine Parallele in Jes 1,1 hat. Dabei ist der einzige inhaltliche Unterschied, dass die Jesajaüberschrift vor dem judäischen König Jotam noch Usija erwähnt, sodass das prophetische Auftreten Jesajas folglich bereits etwas früher als das des Micha datiert wird, wiewohl ansonsten das Wirken beider Propheten zeitlich deckungsgleich ist. Auffällig ist dabei, dass sich in der Überschrift in Jes 1,1 auch jenes Konzept von Mi 1,1bβ wiederfindet, wonach der Prophet als „Schauender“ an der göttlichen Offenbarung aktiv beteiligt ist. Die Verbindung dieses „Schauens“ mit dem „Wort JHWHs“ verweist außerdem auf Jes 2,1, jene Überschrift, die die Völkerwallfahrt einleitet, welche wiederum in Mi 4,1–3 eine Dublette hat. Außerdem steht in Mi 1,1 das Objekt der Schauung ähnlich wie in Jes 2,1 am Ende der Überschrift (vgl. Mi 1,1bβ/ Jes 2,1b). D. h. die Überschrift der Michaschrift weist sowohl Korrespondenzen zu einem Überschriftensystem im Zwölfprophetenbuch wie zu den die ersten beiden Kapitel des Jesajabuches einleitenden Überschriften (Jes 1,1; 2,1) auf, die sich im Fall der Königschronologie sogar auf beide Seiten – Jesaja und verschiedene Schriften im Zwölfprophetenbuch – beziehen. Im Fall der Wortereignisformel war dabei der Bezug zu Hosea, (Amos, dort sind es „Worte des Amos“) und Zefanja leitend und im Fall des Konzeptes der prophetischen Schau und der davon betroffenen Städte waren die beiden Jesajaüberschriften Orientierungsgrößen. Durch die singularische Verwendung von „Wort JHWHs“ in der so genannten „Wortereignisformel“ wird die von JHWH herkommende Botschaft als eine geschlossene Größe verstanden, wie wohl der Prophet in verschiedenen Situationen das Wort ergreift. Die verschiedenen einzelnen Wortereignisse werden somit als ein inhaltlicher, literarischer und theologischer Zusammenhang verstanden.12 Insofern auch in anderen prophetischen Überschriften des Zwölfprophetenbuches sowie in Jes 2,113 vom „Wort JHWHs“ die Rede ist, handelt es sich um die eine, damit auch widerspruchsfreie Botschaft JHWHs, die an unterschiedliche Prophetengestalten in unterschiedliche Situationen hinein ergeht. Dadurch, dass das Wort JHWHs, 9 RENAUD, Michée, 6. 10 Z. B. RENAUD, Michée, 8, s. u. 11 SCHART, Entstehung, 41f., ordnet denn auch die vier Bücher einem sogenannten DKorpus zu, das eine Vorform des heutigen Zwölfprophetenbuches gebildet habe. 12 UTZSCHNEIDER, Micha, 30. 13 Jes 2,1 determiniert ‫ דבר‬durch den Artikel und unterstreicht damit noch einmal das Gesagte: Die Überschrift bezieht sich offensichtlich nur auf ein Wort JHWHs, nämlich die folgende Völkerwallfahrt.

Korrespondenzen zu Hosea, Amos und Jesaja

Wortereignisformel

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Mi 1,1–7

vermittelt durch die Persönlichkeit des Propheten, in eine bestimmte Zeit hineingesprochen wird, gewinnt es den Charakter einer die Geschichte Israels bestimmenden Größe. Der Name des Propheten (vgl. Jer 26,18, dort als ‫יה‬‫י‬), der in verschiedenen VariaName des Propheten tionen im Alten Testament belegt ist, ist wohl als Kurzform14 eines ‫( מיכיהו‬vgl. Ri 17,1.4; 1 Kön 22,8) im Sinne einer rhetorischen Frage, wie sie gerne in Hymnen verwendet wird, „Wer ist wie JHWH?“ zu verstehen. Auf diesen Namen nimmt nicht zuletzt Mi 7,18 („Wer ist Gott wie du“ ‫מוֹ‬ ‫ל‬‫י־‬) Bezug. In 1 Kön 22,28 wird durch die Zitation von Mi 1,2aα der Prophet irrtümlicherweise mit dem unter dem Nordreichskönig Joschafat wirkenden Micha ben Jimla identifiziert. Die Herkunftsangabe15 (vgl. dagegen G) lässt Micha als Landjudäer aus dem im südlichen Hügelland liegenden Ort Moreschet Gat („Besitz von Gat“) erscheinen, der heute mit tel goded gleichgesetzt wird.16 Bereits in der Spätbronzezeit als kleine Siedlung belegt (vgl. die Amarnakorrespondenz EA 335,14–17, dort als mu-uch-ra-asch-ti bezeichnet),17 wurde er in der Eisenzeit II wieder besiedelt. Da Micha als Landjudäer in der Königsstadt Jerusalem nicht bekannt war, legte es sich nahe, ihn von seinem Herkunftsort und nicht mittels seines Vaternamens zu identifizieren. Im historischen Micha einen Ortsältesten zu sehen,18 ist zwar gut möglich, bleibt aber letztlich spekulativ. Die Königsreihe stimmt – bezüglich der Südreichskönige – mit der in Hos 1,1 und Jes 1,1 überein, wobei in beiden der Zeitraum noch den Vorgänger Jotams Usija umfasst. Dass die Liste mit Hiskija endet, sodass sich ein „prophetenloser“ Zeitraum zu dem ebenfalls mit einer Königschronologie datierten Propheten Zefanja auftut (vgl. Zef 1,1), mag mit der äußerst negativen Beurteilung des Nachfolgers Hiskijas, König Manasse in 2 Kön 21,11 zusammenhängen. Unter dessen Regentschaft nämlich fanden entsprechend der in Grundzügen wohl aus dem 1. Jh. v. Chr. stammenden apokryphen Schrift „Himmelfahrt des Jesaja“, sowohl Micha (2,16) wie Jesaja (5,1) den Tod. Insgesamt ergibt sich aufgrund der Datierung eine recht lange Wirkungszeit von etwa 739–699 v. Chr., die vor allem dem Anliegen des Überschriftensystems entspricht, die im Dodekapropheton durch eine Königschronologie datierten Propheten in ein Korrespondenz- bzw. Sukzessivverhältnis zu setzen und damit als Begleiter der Geschichte Israels in der letzten Hälfte des 8. und im 7. Jh. v. Chr. zu verstehen. Mit der Wurzel ‫„ חזה‬schauen“, die im Zwölfprophetenbuch nur in Am 1,1 und Mi 1,1 verwendet wird, ist offenbar eine bestimmte Charakterisierung des Propheten bzw. seiner Botschaft angezielt. Analog zu Am 1,1 (vgl. Am 7/8)19 scheint damit auf eine spätere Vision in der prophetischen Botschaft verwiesen zu werden. Entsprechend Jes 2,1 bezieht sich das „Schauen“ des Michas allem Anschein nach auf jene Völkerwallfahrt in Mi 4,1–3, die – vom Jesajabuch herkommend – als „Vision“ charakterisiert wird. Somit tritt Micha nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in Parallele zu Jesaja und verkündigt somit (fast) zur selben Zeit dieselbe Botschaft, um sozusagen als zweiter Zeuge das prophetische Zeugnis des Jesaja zu bestätigen. Die Nennung der Hauptstädte der beiden Reiche Israel und Juda macht Micha zu einem Propheten, der an die Drohbotschaft Hoseas und Amos gegen das Nordreich anknüpft, um nun das Wort 14 15 16 17 18 19

WOLFF, Micha, 4. Vgl. auch Jer 26,18. KEEL, Orte 2, 849. KEEL, Orte 2, 851. WOLFF, Micha, XV. JEREMIAS, Erdbeben, 186.

Synchrone Analyse

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JHWHs auch dem Südreich zu verkünden. Die Nennung Jerusalems in einem Atemzug mit Samaria liegt zunächst auf der Sinnlinie von 2 Kön 21,13, wonach JHWH an Jerusalem die „Messschnur Samarias“ und die „Waage des Hauses Ahab“ (vgl. Mi 6,16!) anlegen will, also das Gericht auch Jerusalem nicht verschont. Zugleich erinnert „über Jerusalem“ jedoch auch an Jes 2,1, wo im Rahmen der Völkerwallfahrt das endzeitliche Heil für Jerusalem verkündet wird. Bereits hier klingt also jene Ambivalenz der Verkündigung des Propheten bezüglich Jerusalems an, die die Michaschrift durchzieht. Die Wurzel ‫ קשׁב‬in V. 2aβ bezeichnet ein aufmerksames Hinhören und stellt V. 2: Höraufruf damit eine Steigerung gegenüber dem in V. 2aα verwendeten ‫„ שׁמﬠ‬Hören“ dar. an die Völker Ähnliches scheint hinsichtlich des Adressaten „Erde und was sie erfüllt“ zu gelten. Offensichtlich tritt nun über den menschlichen Bereich hinaus die gesamte Erde samt ihrer Ausstattung als Adressat in den Blick,20 wie es ähnlich in Mi 6,2 durch die Größen „Berge“ und „Hügel“ geschieht, wenn dort zumindest die „Hügel“ zu hörbereiten Adressaten werden sollen. Tatsächlich betrifft die im Folgenden geschilderte Theophanie nicht allein Menschen, sondern auch die Grundkonstituenten der Erde („Höhen“ V. 3b, „Berge“ V. 4aα, „Täler“ V. 4aβ). Auffällig ist die Entsprechung zu Jes 34,1. Dies deutet darauf hin, dass Mi 1,2 in einem ähnlichen geistigen Umfeld entstanden, bzw. in bewusste Korrespondenz zu Jesaja gesetzt worden ist. Nur in V. 2bα findet sich die Rede vom „Herrn JHWH“, welche wohl angesichts der universalen Hörerschaft als Identifikation JHWHs mit dem Herrn schlechthin zu verstehen ist. Dies bestätigt der Nachsatz, in dem „Herr“ als Appellativ JHWHs fungiert. Wie wohl G von einer Zeugenschaft inmitten der Völker ausgeht, bezeichnet die hebräische Formulierung eine Zeugenschaft gegen die Völker.21 Ausgangspunkt sind also die Vergehen der Völker, die JHWH wie ein Zeuge in einem Gerichtsverfahren aufdeckt, um damit die Verurteilung und Bestrafung der Völker einzuleiten, vgl. Zef 3,8. So gelesen, dient demnach der folgende Schuldaufweis Israels und Judas in Mi 1–3 indirekt auch als Beleg der Vergehen der Völker. Dann aber vollzieht sich hier die umgekehrte Abfolge wie in Am 1 und 2, insofern dort zunächst die Vergehen der Völker (Am 1,3 – 2,3) und dann die Vergehen Judas und Israels (Am 2,4-16) benannt und geahndet werden.22 Der Partikel (‫„ מ)ן‬von“ in V. 2bβ deutet auf ein Kommen JHWHs von seinem Tempel her hin. Etwas Vergleichbares findet sich in Am 1,2: „(JHWH) vom Zion her [‫יּ ֣וֹן‬] (brüllt er)“. Dies deutet darauf hin, dass auch in Mi 1,2 – wie G unterstreicht – primär an das Zionsheiligtum zu denken ist, was natürlich nicht die Annahme ausschließt, dass hier zugleich auch der himmlische Palast JHWHs im Blick ist. Die von zahlreichen Kommentatoren vertretene alternative Festlegung auf ein himmlisches23 oder irdisches Heiligtum hingegen dürfte altorientalischem Denken eher fremd sein.24 20 RENAUD, Michée, 28: „En effet, il s’agit, en Michée 1,2 des peuples et des habitants de la terre est non des éléments proprement cosmique.“ 21 So bereits WILLIS, Micah I 2, 378. 22 Gegen WILLIS, Micah I 2, 379. 23 STADE, Streiflichter, 163; WOLFF, Micha, 24. 24 So bereits MAYS, Micah, 41, der meint, dass durch die Nebeneinanderstellung von Vv. 2 und 3 der Jerusalemer Tempel und der himmlische Palast in eine „functional identity“ gesetzt würden; neuerdings auch wieder UTZSCHNEIDER, Micha, 32: „Irdischer und himmlischer Bereich sind dabei nicht zu trennen, sondern gehen ineinander über“, vgl. auch HILLERS, Micah, 19f.

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Mi 1,1–7

Beziehung zu Durch „von seinem heiligen Tempel“ ‫ֽשׁוֹ‬ ‫ ֥ל‬‫י‬ entsteht eine Stichwortbeziehung Jona zu Jona 2,5b.8b. Dabei fällt die Entsprechung der beiden Präpositionen ‫„ אל‬hin“

(so Jona) und [‫„ מ]ן‬von“ auf. Synchron gelesen, ergibt sich ein dialogisches Geschehen, sodass das Auftreten JHWHs als Zeuge von seinem Tempel her als Antwort auf das Gebet Jonas zu seinem Tempel hin verstanden werden kann (vgl. die Verknüpfung zwischen Jona 2,4 und Mi 7,19).25 In dieser Weise gerahmt, liest sich die Michaschrift somit als Erhörung des Gebets des Jona: Die Völker werden entsprechend der Hoffnung des Jona zur Rechenschaft gezogen (vgl. Jona 4), Jona selbst wird gerettet und statt seiner werden die Sünden Israels ins Meer geworfen. Eine abweichende Interpretation in G Durch die Wiedergabe „vom Tempel“ ‫ל‬‫י‬ durch „vom Haus“ ἐξ οἴκου zielt G offensichtlich auf die Stärkung eines Zusammenhangs mit Mi 4,1. Dann entspricht dem Kommen JHWHs als Zeugen inmitten (so G) der Völker die Wallfahrt der Völker zum Zion, dem Wohnort JHWHs.26 Es ist dann möglicherweise bereits hier an eine Art „Mission“ der Völker durch die Verkündigung der Tora seitens JHWHs gedacht.

Vv. 3–4: Die Theophanie JHWHs und ihre Wirkung Inhaltliche und formale Struktur

Inhaltlich sind die Vv. 3 und 4 eng miteinander verknüpft, insofern sie eine Theophanie JHWHs (V. 3) und deren Wirkung auf die in Form eines Merismus dargestellte Ganzheit der irdischen Wirklichkeit beschreiben (V. 4). Dabei bildet die Wurzel ‫ירד‬ „herabsteigen“ in V. 3b eine Art Inklusion mit ‫ד‬‫מוֹ‬ „am Abhang“ (wörtl. eigentlich „am Herabsteigenden“) in V. 4bβ. Damit findet das Herabsteigen JHWHs seine Fortsetzung im Herabgießen des Wassers am Abhang. V. 4 weist eine klare Struktur auf. So sprechen beide Versteile von gegensätzlichen Wirklichkeiten: V. 4aα „Berge“ – V. 4aβ „Täler“; V. 4bα „Feuer“ – V. 4bβ „Wasser“. Gleichzeitig korrespondiert V. 4aα mit V. 4bα, insofern beide Wirklichkeiten „Berge“ und „Wachs“ in Konfrontation („unter ihm“, „vor“) mit einer anderen Wirklichkeit, „JHWH“ und „Feuer“, eine Veränderung erleiden. Ähnliches gilt für V. 4aβ und V. 4bβ: Dem Aufbrechen der Täler entspricht das den Abhang hinabgegossene Wasser, welches bekanntlich tiefe Einschnitte im Erdboden hinterlässt. Somit ergibt sich eine geschlossene Struktur:27 a-b-a’-b’. Die in Vv. 3f. beschriebene JHWH-Theophanie beinhaltet zwei grundlegende Elemente: das Kommen JHWHs und seine Wirkung.28 An den Beginn der Michaschrift gestellt, erfüllt sie eine zentrale hermeneutische Funktion.29 Alles Folgende steht unter dem Vorzeichen des direkten Eingreifens JHWHs, sei es, dass dieser geschehenes Unrecht nicht übersieht, sei es, dass das hereinbrechende Unheil als Ahndung seitens JHWHs interpretiert wird. Tatsächlich sind Vv. 3f. in verschiedener

25 Vgl. Jona 2,4: „Du hast mich in die Tiefe geworfen, in das Herz des Meeres“ ‫י‬‫י‬‫ַתּ‬ ‫ים‬ ‫ב‬ ‫ה‬‫צוּ‬ / Mi 7,19: „Du wirfst all unsere Sünden in die Tiefe des Meeres hinab“ ‫ים‬ ‫ב‬ ‫ה‬‫צוּ‬ ‫י‬‫י‬‫ַתּ‬ 26 Mit UTZSCHNEIDER, Michaias, 2365. 27 Diese spricht gegen eine nachträgliche Einfügung von ‫ירד‬, um eine Angleichung an Am 4,13 zu bewirken, wie sie etwa WOLFF, Micha, 10, JEREMIAS folgend erwägt. 28 JEREMIAS, Theophanie, 151. 29 So mit Recht MAYS, Micha, 42: „By announcing the coming of YHWH when the crisis was imminent Micah would have clothed the events with a theological significance of overwhelming magnitude, turning political and military strategems unto theological drama“.

Synchrone Analyse

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Weise mit dem Folgenden verknüpft, was sich anhand der Interpretation einzelner Begriffe bzw. Formulierungen noch zeigen wird. Innerhalb des Zwölfprophetenbuches findet sich auch in Am 1,2 eine Art Theophanie, allerdings nicht in Form eines direkten Kommens JHWHs, sondern lediglich in einer phonetischen Äußerung („Brüllen vom Zion“), die – vergleichbar mit dem Kommen JHWHs in Mi 1,4 – Auswirkungen auf die natürlichen Gegebenheiten hat („Verwelken“, „Verdorren“). Wie in Mi 1,4 werden auch dort bewohnte Gegenden („Auen der Hirten“) und Höhen der Erde („Gipfel des Karmels“) getroffen. Beide Male spielt dabei auch Feuer eine Rolle (vgl. Am 1,4 und Mi 1,4). Synchron gelesen ergibt sich dabei eine Klimax. So steigt in Mi 1,3 JHWH selbst herab, und die Wirkung seines Herabsteigens betrifft nun die gesamte Erde. Von Amos aus gelesen, findet sich demnach am Beginn der Michaschrift der Höhepunkt der Gegenwart JHWHs und zwar im Sinne eines umfassenden Gerichtsgeschehens. Traditionsgeschichtlich weist die JHWH-Theophanie in den Bereich eines erhofften Kommens JHWHs zum Kampf gegen feindliche Völker.30 Dieser Erwartung scheinen die Wirkungen der Theophanie zunächst auch zu entsprechen. Insofern im Folgenden (Vv. 5ff.) jedoch als erstes Samaria und Jerusalem betroffen sind, liegt eine Art Verfremdungseffekt vor, wie ihn auch bereits die Amosschrift kennt. Auch dort fokussiert sich das zunächst die Nachbarvölker Israels betreffende JHWH-Gericht schließlich auf Juda und Israel (vgl. Am 2,4–16).31 Die einführende Formel „denn siehe“ in V. 3aα stellt die Verbindung zu V. 2 her.32 Gleichzeitig ist sie offensichtlich nicht isoliert zu lesen, sondern scheint im Zusammenhang mit der Schlussphrase in V. 3bβ zu stehen („tritt auf die Höhen der Erde“), rahmen doch beide auch Am 4,13. Das Verhältnis beider Texte könnte so im Sinne einer Konkretisierung der im Amostext beschriebenen universalen, kosmologischen und geschichtlichen Macht JHWHs bestehen, nun jedoch nicht im Sinne eines erschaffenden, sondern vernichtenden Handelns. Die in V. 2aα verwendete Wurzel ‫ יצא‬dient u. a. als militärischer term. techn. für „in den Kampf ausziehen, ausrücken“ (z. B. Ri 4,14);33 es geht hier also um ein kriegerisches Geschehen, dessen Adressaten sowohl traditionsgeschichtlich, wie auch vom heutigen Kontext her, zunächst die Völker sind. Die Formulierung „von seinem Ort aus“ ist hier anscheinend bewusst unbestimmt gefasst, um als Gegensatz zur sichtbaren, konkreten Welt zu dienen, in die JHWH im Folgenden eintritt.34 Die Wurzel ‫„ ירד‬herabsteigen“ ist Bestandteil der Theophaniebeschreibung (vgl. Jes 31,4). Mit ihr verbindet sich die Vorstellung einer Distanzüberwindung zwischen Gott und Welt, die durch die Initiative Gottes zustande kommt. Dies impliziert zugleich die Vorstellung einer absoluten Weltüberlegenheit Gottes, der seine Präsenz souverän, zugleich aber auch unwiderstehlich gewährt. Wie in V. 4bβ (s. o.), so setzt sich die Abwärtsbewegung in V. 6bα (Hinabstürzen der Steine Samarias ins Tal) und V. 12b (Herabsteigen des Unheils von 30 JEREMIAS, Theophanie, 159; WOLFF, Micha, 24 mit Verweis auf Ri 5,4ff.; Ps 18,8ff.; Jes 26,20f. 31 Vgl. MAYS, Micah, 43, der als Beispiel für diesen Verfremdungseffekt das Motiv des Tages JHWH in Am 5,18–20 anführt. 32 WOLFF, Micha, 10. 33 PREUß, Art. ‫א‬ jāșāʾ: ThWAT III, 799; WALTKE, Micah, 47. 34 Zur Diskussion GAMBERONI, Art. ‫ מקום‬māqôm: ThWAT IV, 1124.

Korrespondenz zu Am 1,2

V. 3

Korrespondenz zu Am 4,13

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V. 4: Wirkungen der Theophanie JHWHs

Mi 1,1–7

JHWH auf das Tor Jerusalems) fort, sodass das Ziel der Theophanie JHWHs letztendlich das Gericht über Jerusalem ist. Die Schlussphrase in V. 3bβ steht in einem Bezugszusammenhang mit Am 4,13. Bildet sie dort den Abschluss verschiedener schöpfungstheologischer Aussagen, um als allgemeiner Ausdruck der Souveränität JHWHs zu dienen, so wird diese Souveränität nun an einem konkreten Punkt der Geschichte aktualisiert, insofern JHWH zum finalen Gerichtshandeln erscheint. In diesem neuen Kontext gewinnen verschiedene hier verwendete Lexeme ein über ihren Wortsinn hinausreichendes Bedeutungsspektrum. „Treten“ beinhaltet auch das zerstörerische „Niedertreten“.35 Tatsächlich erleiden die Berge im Folgenden durch die Konfrontation mit JHWH ihre Vernichtung. „Höhen“ bildet im vorliegenden Kontext eine Variation zu den in V. 4aα genannten „Bergen“, spielen aber zugleich ein Thema von V. 5 ein, insofern damit auch „Kulthöhen“ bezeichnet werden können, die nach dtn./dtr. Verständnis Symbole illegitimen Kultes sind (vgl. z. B. Dtn 12,2; 2 Kön 12,4). Sind die „Höhen der Erde“ von der Theophanie JHWHs betroffen, so sind es naturgemäß auch die Kulthöhen Judas,36 die V. 5c offensichtlich als Inbegriff der Sünde Judas betrachtet (s. u.). Zudem wird ein Bogen zu Mi 3,12b gespannt,37 wo dem Tempelberg das Schicksal einer bewaldeten „Höhe“ zugedacht ist. Die Wirkungen der Theophanie JHWHs gehören zu einem festen formalen und inhaltlichen Aspekt der Gattung Theophanie (vgl. z. B. Ri 5,4f.; Hab 3,6). Gegenüber Am 1,2, in dem nur ein relativ geringer Teil des Landes („Weiden der Hirten“; „Gipfel des Karmel“) von dem wie ein heißer Wüstenwind hereinbrechenden Brüllens JHWHs betroffen ist, ist seiner Präsenz in V. 4 die ganze Erde ausgesetzt. Die Berge als stabilster Teil der Schöpfung38 verlieren ihre Form, sodass ein Zusammenbruch des gesamten Kosmos droht. Das Bild symbolisiert damit die unwiderstehliche Macht39 JHWHs, dem sogar die Berge, die im Alten Orient häufig als Sitz von Gottheiten betrachtet werden, weichen müssen. Durch die Entsprechung von V. 4aα zu V. 4bα (s. o.), welche unter Rückgriff auf die Metaphorik von Ps 97,5 noch verstärkt wird („Berge schmelzen“ „wie Wachs“ „vor“), wird eine Parallelisierung von „unter ihm (JHWH)“ und „vor dem Feuer“ bewirkt. Tatsächlich entspricht das Feuer als Begleiterscheinung des Auftretens JHWHs traditioneller Theophaniemetaphorik (vgl. z. B. Ex 19,18). Dabei kann sich mit „Feuer“ gleichzeitig die Vorstellung des vernichtenden göttlichen Zorns (vgl. Ps 97,3) verbinden (vgl. Am 1,4.7.10!). In dieser Funktion weist es voraus auf V. 7aβ, da dort die „Weihegeschenke“ Samarias im Feuer verbrannt werden.40 Außerdem wird durch dieses Stichwort offensichtlich wiederum auf Amos Bezug genommen, insofern sich das Gericht JHWHs gegen die Nachbarvölker in der Zerstörung durch Feuer manifestiert (vgl. z. B. Am 1,4). Mit den „Tälern“ wird der besiedelte Teil der Erde umschrieben.41 35 So bereits JEREMIAS, Micha, 134. 36 NOGALSKI, Precursors, 135, spricht hier von einem Bedeutungswandel von V. 3 zu V. 5. Es scheint aber wohl eher so, dass bereits in V. 3 – sozusagen auf einer zweiten Ebene – (auch) an Kulthöhen gedacht ist. 37 So NOGALSKI, Precursors, 134. 38 So bereits WOLFF, Micha, 25. 39 JEREMIAS, Theophanie,152. 40 WOLFF, Micha, 15. 41 WOLFF, Micha, 25.

Synchrone Analyse

39

So handelt es sich dabei entsprechend Ps 65,14 um Landschaften, in denen Ackerbau und Viehzucht betrieben wird.42 Leitend dürften dabei die geographischen Verhältnisse des judäischen Berglandes gewesen sein, in dem vorwiegend die Täler besiedelt wurden. Ein den Abhang hinabgeschüttetes Wasser entfaltet, wie man es bei starken Regenfällen besonders in den tief eingeschnittenen Trockentälern der Wüste Judas beobachten kann, oft eine zerstörende, alles mitreißende Wirkung (vgl. Sir 40,13f.). V. 5b und V. 5c entsprechen sich durch jeweils mit identischen Partikeln eingeleitete Fragen: „Wer?“ und „Ist es nicht?“. Durch das Stichwort „Verbrechen“ bezieht sich V. 5bα auf V. 5aα, während V. 5cα durch die Pluralform „Höhen“ eine bewusste Assoziation zu „Sünden“ in V. 5aβ herstellt. Dies allerdings wird mit der inhaltlichen Unausgewogenheit bezahlt, dass Jerusalem als singularische Größe im Folgesatz mit „Höhen“ identifiziert wird. Trotz weitgehender formaler Entsprechung zu V. 5b fällt V. 5c aus dem Rahmen, erwartet man doch anstelle von „Juda“ entsprechend der Beziehung von V. 5bα zu V. 5aα ein „Haus Israel“. Tatsächlich unterbricht V. 5c auch inhaltlich den Zusammenhang zwischen V. 5a.b und V. 6, die sich beide „Samaria“ widmen. In geschickter Weise wird hier jedoch eine Verbindung zwischen Samaria und Jerusalem hinsichtlich des beiden Städten drohenden Gerichts vorgenommen,43 wie sie nicht nur bereits die Überschrift anklingen lässt, sondern sich auch in der Anlage des ganzen ersten Kapitels findet (vgl. Vv. 6f. und 9). Für die Identifikation des Sprechers ergeben sich zwei Möglichkeiten. So könnte es sich bei V. 5 um eine Fortsetzung der Beschreibung der Theophanie in Vv. 3f. und somit um Prophetenrede handeln. Da jedoch in V. 6 JHWH ausdrücklich das Wort ergreift, könnte V. 5 bereits Vorspann dieser Gottesrede sein.44 Eine sichere Entscheidung ist hier nicht möglich, doch könnte für letzteres Verständnis die Verknüpfung von V. 6 mit dem Vorausgehenden durch „und“ sprechen, die dem Ganzen den abrupten Übergang nimmt. Die Verbindung von „Verbrechen“ (sing. oder pl.) und „Sünden“ in V. 5a findet sich innerhalb des Zwölfprophetenbuches vor allem in der Michaschrift (vgl. Mi 1,13; 3,8; 6,7; 7,18f.). Auffällig ist dabei Mi 7,18f., da dort das Begriffspaar „Verbrechen“ (sing.) und „Sünden“ (pl.) mit dem dritten alttestamentlichen Schuldbegriff „Vergehen“ ‫וֹן‬ verbunden ist, sodass sich auch hier eine Art Rahmung um die Michaschrift ergibt:45 Der in Mi 1,5 den Anlass für JHWHs Gericht bildenden Schuld stellt Mi 7,18f. deren Vergebung gegenüber. „Verbrechen“, wörtl. „Rechtsbruch“ (vgl. Jes 1,2), impliziert die Vorstellung eines unheilbaren Bruches mit Gott und fungiert als Oberbegriff für verschiedene Delikte.46 Dies deutet auch die in V. 5aβ folgende pluralische Formulierung an, die mit „Sünden“ Einzelverfehlungen im Blick hat und damit „Vergehen“ expliziert. Das Paar „Jakob“ und „Haus Israel“ findet sich nochmals in Mi 3,1, wo es allerdings 42 BEYSE, Art. ‫ עמק‬ʿemæq: ThWAT VI, 224. 43 So bereits NOGALSKI, Precursors, 136: „1:5 provides the rationale for the judgment against Samaria, also serving as precursors to the threat against Jerusalem“, vgl. auch WALTKE, Micah, 51: „In any case, we need an accusation against Judah here to warrant the lament threatening the judgment of Judah in 1:8–16 in this unified chapter.“ 44 So UTZSCHNEIDER, Micha, 35. 45 Vgl. ZAPFF, Studien, 203. 46 SEEBASS, Art. ‫ע‬‫ ׇפּ‬pāšaʿ: ThWAT VI, 799.

V. 5: Die Begründung der zerstörerischen Wirkung der Theophanie JHWHs

Verbindung zwischen Samaria und Jerusalem

40

Mi 1,1–7

Juda bezeichnet. Hier bezieht es sich zunächst auf das Nordreich, erst durch V. 5c wird eine entsprechende Ausweitung auch auf das Südreich Juda vorgenommen, insofern Juda in Parallele zu „Haus Israel“ tritt (noch verstärkt in G). Von V. 5c her gelesen wird damit das ursprünglich eigentlich das Nordreich bezeichnende „Haus Israel“ nun mit Juda identifiziert. „Jakob“ als Name des Stammvaters des Gottesvolkes ist als kollektive Persönlichkeit gleichzusetzen mit seinen Nachkommen. Dies wird nicht zuletzt durch die Formulierung „Haus Israel“ deutlich, bei der „Haus“ die Familie des als pater familias charakterisierten Israel (Name Jakobs entsprechend Gen 32,29) bezeichnet. „All dies“ stellt den Zusammenhang mit der in Vv. 3.4 beschriebenen Theophanie her und weist gleichzeitig auf die in V. 6 geschilderte Zerstörung Samarias voraus.47 Durch die ungewöhnliche Fragepartikel „Wer“ in V. 5bα wird der Rechtsbruch personalisiert: Samaria wird zum Inbegriff des Verbrechens. Tatsächlich werden Städte im Alten Testament häufig wie Personen angesprochen und behandelt (vgl. Jes 47,1; 52,1). Gegründet von König Omri (vgl. 1 Kön 16,24) als endgültige Hauptstadt des Nordreiches hat diese negative Qualifikation Samarias vor allem in der Hoseaschrift ihren Anhaltspunkt, wo sich verschiedentlich bereits die Identifikation von Samaria mit Schuld und Sünde andeutet (vgl. Hos 7,1; 10,5; 14,1). In der Amosschrift wird Samaria zudem mit schwersten sozialen Verfehlungen in Verbindung gebracht (vgl. Am 3,9f.). Demnach setzt die Gerichtsankündigung den bereits geschehenen Schuldaufweis Samarias direkt voraus. Auch in V. 5c findet sich eine Personalisierung, diesmal der Kulthöhen mit Jerusalem. Diese merkwürdige Konstruktion findet ihre Erklärung in der bereits erwähnten Verbindung von „Kulthöhen“ mit den in V. 5aβ genannten „Sünden“. Indirekt wird damit auch Jerusalem – ähnlich wie Samaria – zum Inbegriff der Sünde. Durch den Begriff „Höhen“ – gemeint sind Höhenheiligtümer – wird zum einen ein Rückbezug zu V. 3b hergestellt48 – auch sie zählen zu den Höhen, auf die JHWH tritt49 bzw. niedertritt –, zum anderen wird die Vorstellung einer Verfehlung evoziert, insofern bereits in Hos 10,8 die „Höhen“ mit kultischem Fehlverhalten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei sind die durch den Gesamtzusammenhang als Sünden qualifizierten Kulthöhen Judas wohl vor allem vor dem Hintergrund der dtr. Forderung nach Kultzentralisation (vgl. Dtn 12,4–7) zu lesen, die Israel neben der einzig legitimen Kultstätte weitere Orte kultischer Verehrung verbietet und solche als Nachahmung des Götzenkultes der Völker wertet (vgl. 1 Kön 14,23). Durch die Identifikation von Jerusalem mit Kulthöhen wird somit was dort praktiziert wird, als illegitim und damit JHWH-feindlich qualifiziert. Dies ist vor dem Hintergrund der Kultzentralisationsforderung in Dtn 12, die ja allem Anschein nach an Jerusalem und insbesondere den Tempel als Kultort denkt, zunächst erstaunlich und weckt die Frage nach dem Sinn einer solchen Gleichsetzung. Tatsächlich wird in den Folgekapiteln Mi 2/3 anhand der sozialen Verfehlungen der Oberschicht Jerusalems deutlich, dass auch der scheinbar legitime Kultort Jerusalem wegen des Verhaltens seiner Bewohner zur widergöttlichen Stätte geworden ist. Wie nun die Kulthöhen entsprechend der Forderung des Deuteronomiums zu vernichten sind (vgl. Dtn 12,2!), so wird es Jerusalem ergehen (vgl. Mi 3,12). 47 JEREMIAS, Micha, 134. 48 JEREMIAS, Micha, 134. 49 WOLFF, Micha, 15.

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41

Das Handeln JHWHs in V. 6 folgt einem chronologischen Duktus: 1. Zerstörung Samarias zur Trümmerstätte (V. 6aα), 2. Hinabstürzen seiner Steine ins Tal (V. 6bα), 3. Aufdecken der Fundamente, die somit ungeschützt dem weiteren Erosionsprozess ausgesetzt sind (V. 6bβ). Sprecher des durch V. 5 begründeten Drohwortes ist JHWH.50 Die Zerstörung Samarias setzt damit die zerstörende Macht seiner Theophanie51 fort, mit dem Unterschied, dass die Zerstörung der Berge und Täler natürliche Folge seiner Theophanie, die Zerstörung Samarias hingegen Folge seines zielgerichteten Handelns ist. Wenn der zuvor in seiner zerstörenden Macht erscheinende JHWH nun ausdrücklich selbst die Initiative ergreift, ist höchste Gefahr angesagt. Dieser durch die direkte Rede erzeugte „Effekt“ dürfte auch der Grund für die sehr unvermittelt einsetzende Gottesrede sein. Die Auflösung Samarias zu Trümmern entspricht dem in V. 4aα geschilderten Zerschmelzen der Berge, insofern „Trümmer“ die komplette Zerstörung einer Stadt assoziieren (vgl. Ps 79,1). Durch die Verwandlung der Stadt in „Trümmer des Feldes“ in V. 6aβ wird außerdem der natürliche Zusammenhang zwischen Stadt und Feld nachhaltig gestört, insofern das Feld die Nahrungsgrundlage der Stadt bildet. Die Ordnung gerät ins Wanken. Schließlich zeigt dieses Bild die Nutzlosigkeit des künftigen Gelände Samarias an, hindern doch Steine massiv die Bestellung des Feldes. Durch das Stichwort „Trümmer“ und „Feld“ wird zudem ein Bezugszusammenhang zu Mi 3,12 hergestellt:52 Samaria und Zion wird dasselbe Geschick zuteil. Die Nutzlosigkeit der Trümmer des Feldes wird jedoch durch den Nachsatz V. 6aγ relativiert, insofern sie für die Pflanzungen eines Weinberges gut sind. Gedacht ist hier offensichtlich an die Errichtung einer Mauer aus Feldsteinen, die den Weinberg vor wilden Tieren schützt (vgl. Jes 5,1.7). Tatsächlich wird in Mi 7,11 unter Bezugnahme auf Jes 5,5 die Wiedererrichtung einer solchen, aus losen aufgeschichteten Feldsteinen errichteten Mauer53 (‫ך‬‫ֵד‬) für Zion verheißen. Da außerdem V. 6aγ durch das Stichwort „Weinberg“ ‫ם‬ mit Jes 5,7 – dort wird das Haus Israel als „Weinberg“ bezeichnet – und durch „Pflanzung“ ‫ מטע‬mit Jes 60,21 – dort werden die Trauernden Zions zur Pflanzung JHWHs – bzw. „pflanzen“ ‫ נטע‬in Jes 5,7 verbunden ist, könnte im Hintergrund des Bildes Zion/Jerusalem stehen. Demnach würde Jerusalem vom Untergang Samarias profitieren, insofern dieses das Material für die in Mi 7,11 aufgebaute Mauer liefert. Wenn nun die Steine einem anderen Zweck zugeführt werden, ist an Wiederaufbau nicht zu denken. Im Hintergrund stehen hier möglicherweise Auseinandersetzungen um die Vorrangstellung Jerusalems im Bergland, wie sie sich etwa auch in Neh 4,1ff. niederschlagen, was zusammen mit der schichtenspezifischen Einordnung des Versteils für eine Entstehung in spätpersischer bzw. frühhellenistischer 50 WALTKE, Micah, 51. 51 Vgl. NOGALSKI, Precursors, 136, der auf den Zusammenhang zwischen der in Mi 1,4 beschriebenen Theophanie und dem Handeln JHWHs an Samaria verweist: „The images in 1:6f take up those of 1:4 and apply them to the destruction of Samaria. The ‚lowlands‘ of 1:4 corresponds to the ‚valley‘ of 1:6. Both verses mention ‚fire’ as an element of destruction. Finally, the verbal roots ‫( נגר‬pour down) also plays a role in both descriptions.“ 52 So bereits MAYS, Micah, 47. 53 So die Semantik von ‫ גדר‬entsprechend HAL I, 173.

V. 6: Die Vernichtung des sündigen Samaria

Zusammenhang mit Mi 3,12

Bezug zum „Weinbergslied“ Jes 5,1–7?

42

V. 7: Die Vernichtung der Götzenbilder Samarias

Götzenbildthematik

Mi 1,1–7

Zeit spricht (s. u.). Im Unterschied zur Verwendung in V. 6aγ werden die Steine Samarias entsprechend V. 6bα ins Tal gestürzt. Ein Wiederaufbau Samariens wird fast unmöglich, wenn seine Steine mühsam wieder aus dem Tal heraufgeschafft werden müssten. Die Beschreibung verrät zugleich die Kenntnis der topographischen Verhältnisse von Samaria, welches sich, durch Täler von seiner gebirgigen Umgebung getrennt, als veritabler Hügel erhebt. Die Aufdeckung der Fundamente in V. 6bβ, die damit schutzlos der Erosion ausgesetzt sind, vollendet das Zerstörungswerk. Gegenüber Zion (vgl. Mi 3,12) ist damit die Zerstörung Samarias deutlich radikaler. „Entblößen“ ‫ גלה‬beinhaltet zugleich den Gedanken der Schändung54 (Lev 18,6-19; Hos 2,12) und verweist damit auf den Folgevers, indem das Handeln Samarias mit dem einer Hure verglichen wird.55 V. 7a besteht aus drei Verbalsätzen mit zwei passivischen und einer aktivischen jiqtol-Form. Dem für die Zukunft erwarteten Erdulden der Götzenbilder („werden zerbrochen“, „werden verbrannt“) steht ein aktives Handeln JHWHs („Ich werde machen“) gegenüber, der sich damit als wirkmächtiger Gott erweist. Durch „im Feuer“ wird zudem auf ein Stichwort der Theophaniebeschreibung in V. 4b zurückverwiesen, sodass bereits hier im Hintergrund JHWH als eigentlich Wirkender erscheint. Demgegenüber besteht V. 7b aus zwei Verbalsätzen, von denen der erste aktivisch formuliert und dabei als Subjekt Samaria voraussetzt, während der zweite als Subjekt einer intransitiven Verbform auf die in V. 7a genannten Götzenbilder bzw. Weihegeschenke verweist. Hinter deren „Rückkehr“ zu „Hurenlohn“ wird damit wiederum das Wirken JHWHs erkennbar. Damit aber konterkariert das künftige Handeln JHWHs die einstige sammelnde Tätigkeit Samarias. Durch das Stichwort der zur Vernichtung bestimmten „Götzenbilder“ ergibt sich eine Beziehung zu Mi 5,12, da dort JHWH dasselbe für die Götzenbilder Jerusalems ankündigt, sodass wiederum eine Parallele zwischen dem Geschick Samarias und dem Jerusalems hergestellt wird. Innerhalb des Zwölfprophetenbuches verweist die Götzenbildthematik vor allem auf die Hoseaschrift (vgl. Hos 4,17; 8,4; 13,2 und 14,9). Bei einem „Götzenbild“ ‫ פסל‬handelt es sich um eine plastisch gearbeitete Darstellung, bei der über einen geschnitzten Holzkern Gold- oder Silberblech gezogen wurde. Die pluralische Form bezieht sich „immer auf Götterbilder fremder Religionen“ i. S. von „Fremdgötterbildern“.56 So beinhaltet der Begriff eine abwertende Konnotation und verweist damit auf den Abfall Samarias von JHWH. Eine „Zerschlagung“, wobei als Subjekt – gegen G – an plündernde Soldaten – etwa im Rahmen der Eroberung Samarias durch Sargon II. 722 v. Chr. – zu denken ist, deutet auf eine Art „Verschrottung“ der aus wertvollem Metall bestehenden Götzenbilder für anderweitige Verwendung. Die ungenannten Subjekte werden dabei durch die JHWH-Rede in V. 7aγ zu Helfern JHWHs. Entsprechend dem übrigen Gebrauch im Alten Testament klingt bei „seine Geschenke“ ‫י‬ die Konnotation des Lohnes an eine Dirne mit an (vgl. Dtn 23,19; Hos 9,1), mit dem sie dann in V. 7b auch ausdrücklich identifiziert werden. Insofern diese „Geschenke“ offenbar den zuvor genannten Götzen dargebracht werden, wird damit der Abfall Israels mit Unzucht in Verbindung gebracht und damit ein Thema aufgegriffen, das ausführlich in der Hoseaschrift behandelt 54 So bereits WOLFF, Micha, 26. 55 WOLFF, Micha, 26. 56 DOHMEN, Art. ‫ פסל‬psl: ThWAT VI, 691.

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wird. Das Verbrennen im Feuer – die passivische Form bezeichnet den Übergang vom Handeln der Agenten JHWHs in V. 7aα hin zum Handeln JHWHs selbst in V. 7aγ – entspricht der Vorschrift in Dtn 7,5.25, der Samaria selbst hätte längst folgen müssen. Dieses Verbrennen verweist dabei auf ein kriegerisches Geschehen (vgl. Am 1,4), aber auch auf die vorausgehende Theophanie JHWHs und charakterisiert damit die Vernichtung als Folge des Gerichtshandeln JHWHs. ‫ עצב‬ist ein weiterer Oberbegriff für die Bilder fremder Götter. Auch mit ihm verbindet sich eine grundlegende Abwertung, insofern die mit den Bildern identifizierten fremden Götter dem nicht in Bildern auszudrückenden JHWH gegenüberstehen.57 Zudem klingt der Begriff an die hebr. Wurzel ‫ עצב‬II „kränken“ (pi.) an, sodass die Götzenbilder als Gestalt gewordene Kränkungen JHWHs verstanden werden können.58 Auch hier verweist der Begriff auf Hos 8,4 und 13,2, insofern dort die Produktion solcher Götzenbilder scharf verurteilt wird. Da das Alte Testament nicht zwischen Bild und dargestellter Gottheit unterscheidet,59 zeigt sich in ihrer, durch JHWH direkt vollzogenen Vernichtung, die Macht JHWHs gegenüber anderen Göttern bzw. deren Ohnmacht (vgl. Jes 41,28f.). Die merkwürdige Formulierung, wonach JHWH die Götzenbilder zur „Öde“ zurückführen wird (als Schicksal eines Landes oder einer Stadt, vgl. z. B. Jer 9,10; 10,22; 12,10), erklärt sich wohl damit, dass die vermeintlichen Schutzgötter Samarias dasselbe Schicksal wie die Stadt erleiden sollen. V. 7bα charakterisiert Samaria ausdrücklich als Dirne, die sich mit ihrem Dirnenlohn (als Fachterminus vgl. Dtn 23,19) eine Sammlung von Götzenbildern anlegte. Entsprechend der Hoseaschrift, die hier als notwendiger Wissenshintergrund vorausgesetzt wird, stammt der „Dirnenlohn“ Samarias aus Gottesdiensten (Hos 2,7), Handel (Hos 12,9) und Politik (Hos 14,4), wodurch es sich von seinem legitimen Ehemann JHWH abgewandt habe. Die von JHWH bewirkte Rückkehr der Götzenbilder zu Dirnenlohn bezieht sich wohl auf das wertvolle Material – Silber und Gold – aus dem diese gefertigt sind. Dieses muss Samaria offensichtlich als Tribut an seine Feinde ausliefern.

Diachrone Analyse Ausgehend von einer synchronen Wahrnehmung von Mi 1,1–7 in seinem heutigen Verhältnis zur Michaschrift und zu Hosea, Amos und Jesaja ergeben sich folgende Schlussfolgerungen für die Redaktionsgeschichte von Mi 1,1–7. Der nicht nur in der Überschrift, sondern auch anderweitig in der Michaschrift feststellbare „Doppelbezug“ sowohl zu Hosea und Amos wie zu Jesaja (vgl. z. B. Mi 2,6.11) spricht gegen eine literarkritische Scheidung innerhalb der Überschrift in Mi 1,1. Für die redaktionsgeschichtliche Beurteilung der Michaüberschrift ist zudem ihre Beziehung in die Michaschrift hinein relevant. Da „Samaria“ nur in Mi 1,6 bzw. den damit in inhaltlichem Zusammenhang stehenden Versen Erwähnung findet, muss 57 GRAUPNER, Art. ‫ב‬ ʿāșāḇ: ThWAT VI, 302. 58 GRAUPNER, Art. ‫ב‬ ʿāșāḇ: ThWAT VI, 303. 59 GRAUPNER, Art. ‫ב‬ ʿāșāḇ: ThWAT VI, 303.

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Mi 1,1–7

zumindest dieser Vers im Rahmen der Abfassung der Michaüberschrift vorgelegen haben bzw. eingefügt worden sein. Aufgrund der auffälligen Beziehung zu Jes 2,1 ist außerdem anzunehmen, dass die Michaüberschrift durch „über Jerusalem“ auf die Völkerwallfahrt in Mi 4,1–3 vorverweisen will, deren Dublette ja auch durch die vergleichbare Überschrift in Jes 2,1 eingeleitet wird.60 Zudem ist aufgrund seiner Aussagetendenz damit zu rechnen, dass Mi 1,1bβ bereits Texte in der Michaschrift voraussetzt bzw. diese Texte mit dieser Überschrift eingefügt wurden, die Micha in die Nähe des Propheten Jesaja rücken. Ausgehend von der Überschrift in Mi 1,1 ist zunächst damit zu rechnen, dass Mi 1,1–7 sowohl im Hinblick auf die Michaschrift wie auf vorausgehende Schriften im Zwölfprophetenbuch, namentlich Hosea und Amos, eine Bearbeitung erfahren hat. Dabei reicht die Perspektive des Samaria und Jerusalem betreffenden Gerichts mindestens bis Mi 3,12. Die Überschrift aber hat aufgrund ihrer analogen Gestaltung zu Jes 2,1 und der dort folgenden Völkerwallfahrt offensichtlich ebenfalls bereits die Völkerwallfahrt Mi 4,1–3 im Blick. Sollte Mi 1,1 literarkritisch einheitlich sein, wofür Verschiedenes spricht (s. o.), dann ist anzunehmen, dass diese Überschrift einerseits im Zusammenhang mit der Einbindung der Michaschrift in den Duktus eines Mehrprophetenbuches, andererseits im Rahmen einer Verbindung von Samaria und Zion und der Weiterführung des künftigen Geschicks Zions in Mi 4,1–3 in Anlehnung an das Jesajabuch eingefügt wurde. So ist damit zu rechnen, dass Mi 1,1 in seiner heutigen Gestalt niemals eine eigenständige Michaschrift eingeleitet hat, sondern für das Verständnis der Michaschrift als Fortsetzung des Duktus Hosea-Amos erst verfasst wurde. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, dass die auffälligen inhaltlichen Analogien der Michaschrift zum Jesajabuch, insbesondere die starke Zionsorientierung (und die Parallelisierung Michas mit Jesaja in V. 8aβ, s. u.) erst in diesem Zusammenhang in die Michaschrift eingetragen wurden. Daraus wiederum ergibt sich, dass Mi 1,1.3–7.(8aβ.9, s. u.) eine nachträgliche Ergänzung bildet. Die literarische Einheitlichkeit der genannten Verse ergibt sich zum einen aus ihren Rückbezügen auf Hosea und Amos, sodass sie ohne diese beiden Schriften nicht wirklich verständlich sind (s. o.), zum anderen durch die in ihnen festzustellende Abwärtsbewegung (s. o.). Dabei scheint diese Ergänzung ein möglicherweise bereits auf Micha zurückgehendes Wort in Mi 1,8aα.b.10–16* aufgegriffen zu haben (s. u.). Die Beziehung von Mi 1,2 zur Jonaschrift, die sich auch noch einmal am Ende der Michaschrift in Mi 7,19 (vgl. Jona 2,4) nachweisen lässt, gibt außerdem zur Vermutung Anlass, dass die Universalisierung bzw. Völkergerichtsthematik erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Michaschrift eingetragen wurde. Ziel dieser Ergänzung war es offensichtlich, die Erneuerung des Zions mit der Frage nach dem künftigen Geschick der Völker zu verbinden. Dies wiederum wird durch die beiden, die Michaschrift in der masoretischen Anordnung des Zwölfprophetenbuches rahmende Jona- und Nahumschrift, alternativ anhand des Geschicks Ninives dargestellt. Der Aufruf der Völker in V. 2 durch den hier als Sprecher vorauszusetzenden Propheten öffnet eine universale Perspektive, die die gesamte 60 Den Zusammenhang des zweiten Relativsatzes der Michaschrift mit Jes 2,1 hat bereits RENAUD erkannt, Michée, 6: „On ne peut échapper à l’impression que c’est la même main qui a placé ce même oracle à ses places respectives, a donc contribué à l’édition des deux livres.“

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bewohnte Erde im Blick hat. Damit wiederum wird bereits am Beginn der Michaschrift deutlich, dass alles, was im Folgenden gesagt wird, und mag es sich zunächst auch nur auf Israel oder Juda beziehen, dennoch universale Bedeutung hat: „Was in Israel geschieht, geht alle Welt an“.61 V. 6aγ fällt sowohl formal wie inhaltlich aus dem Rahmen, worauf nicht zuletzt die syntaktische Verbesserung in G und S hinweist, die aus dem Satzteil ein weiteres Objekt macht. Entsprechend der Struktur von V. 6bβ erwartet man außerdem eine weitere Verbform. Die beiden Präpositionen ‫ ל‬legen zudem eine ähnliche Bedeutung nahe („zu“), welche aber inhaltliche Schwierigkeiten macht. Dies könnte darauf hinweisen, dass es sich hier um eine Erweiterung oder Glossierung handelt. Dabei scheint ein Bezug zum Weinbergslied Jes 5,7 beabsichtigt zu sein, ähnlich wie er sich noch einmal in Mi 7,11 findet, sodass beide Verse auf dieselbe redaktionelle Ebene zu setzen sind und, da Mi 7,11 integraler Bestandteil von Mi 7,8-20 ist (s. u.), zu dieser Fortschreibung der Michaschrift gehört (siehe Einleitung). Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 1

61 WOLFF, Micha, 24.

Mi 1,8f.: Die Trauer des Propheten 1,8 Deswegen will icha die Totenklage anstimmen und heulen, icha will barfuß und nackt gehen, icha will eine Totenklage erheben wie die Wüstenhundeb, und eine Trauer wie die Schakaleb. 9 Denn unheilbar ist ihre Wundea, denn bis nach Juda ist sie hineingekommen, die Heimsuchungb bis ans Tor meines Volkes, bis nach Jerusalem.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 8a G übersetzt mit Verbformen der 3. Pers. sing. (κόψεται; θρηνήσει; πορεύσεται; ποιήσεται) und denkt als Subjekt an Samaria (vgl. die fem. Adjektive ἀνυπόδετος und γυμνή,1 ähnlich S/T), das auf den Gerichtsschlag JHWHs reagiert. Die direkte Rede in MT wurde offensichtlich als inhaltlicher und formaler Bruch empfunden.2 8b Die Übersetzung der beiden Tiergattungen durch G mit „Drachen“ δρακόντων und „Töchter von Sirenen“ θυγατέρων σειρήνων „entrückt die Tiermetaphorik des hebr. Textes… weiter ins Fabelhaft-Mythische“.3 9a MT „ihre Wunden“ ‫י‬‫כּוֹ‬ in V. 9aα entspricht nicht den Singularformen „unheilbar“ ‫ה‬‫נוּ‬ bzw. „kam hinein“ ‫ה‬. So legt sich eine Textänderung von ‫י‬‫כּוֹ‬ zu ‫ׇכׇּתהּ‬ nahe (vgl. G/S/T). 9b In V. 9bα irritiert die Verbform“ ‫ַגע‬ „er reichte“ (3. Pers. masc. sing.) gegenüber der vorausgehenden Verbform ‫ה‬ „sie kam“ (3. Pers. fem. sing.). Utzschneider und Waltke möchten die masc. Form auf JHWH beziehen, so werde deutlich, dass hinter dem Geschehen JHWH selbst wirkt. Unter Beibehaltung des hebräischen Konsonantentextes wäre zu erwägen, die zweite Verbform ‫ַגע‬ als Nomen zu vokalisieren: ‫ַגע‬ „Heimsuchung“.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Die Klage des Propheten in V. 8, die sowohl Reaktion auf den Untergang Samarias wie vor allem Antizipation des Jerusalem bedrohenden Unheils ist, verbindet das in Vv. 5–7 beschriebene Gericht über Samaria mit Juda und Jerusalem. Die an das 1 2 3

UTZSCHNEIDER, Michaias, 2366. HILLERS, Micah, 22. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2366.

Synchrone Analyse

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Verhalten von wilden Tieren erinnernden Trauerriten des Propheten wiederum stehen in Verbindung zur Aufforderung einer ungenannten Adressatin in V. 16, die bereits vom Propheten vollzogene Trauer ebenfalls in Entsprechung zu einem Tier (Geier) nachzuahmen, ja bis zum Äußersten zu treiben.

Textinterne Aussagegestalt Die in V. 8 beschriebenen Klage- und Trauerriten des Propheten finden ihre Begründung vor allem in V. 9, der von einer Bedrohung Judas und den Toren Jerusalems spricht.

Einzelauslegung Durch das an V. 7 anknüpfende „deshalb“ kündigt der Sprecher in V. 8aα zunächst in Form eines Merismus zwei akustische Äußerungen als Ausdruck seiner tiefen Klage an, die in V. 8aβ in eine Symbolhandlung mündet, die damit als Teil eines Totenklageritus zu verstehen ist. V. 8bα greift einen zentralen Begriff aus V. 8aα auf („Totenklage erheben“) und veranschaulicht ihn mittels einer Tiermetaphorik; dies geschieht offensichtlich mit dem Ziel, die Dramatik der Symbolhandlung zu erhöhen.4 Abhängig von der Verbform in V. 8bα („erheben“, wörtl. „machen“) folgt in V. 8bβ parallel zu „Totenklage“ in V. 8bα ein weiteres, inhaltlich entsprechendes Objekt „Trauer“, das wiederum durch eine Tiermetaphorik expliziert wird. Der Vergleich mit Wesen, die sich durch bestimmte akustische Äußerungen auszeichnen, rückt somit entsprechend V. 8aα den akustischen Aspekt des Geschehens in den Mittelpunkt. In der heutigen Struktur des Verses sind damit zwei akustische Äußerungen um eine Symbolhandlung „gehen“ angeordnet. „Deswegen“ bezieht sich zunächst auf die in V. 6 geschilderte Zerstörung Samarias, dann aber wohl auch auf das noch ausstehende, aber drohende Unheil über Jerusalem5 in V. 9. Zur Abfolge zwischen angekündigter Zerstörung und Klage des Propheten vgl. Jer 8,23 und Jes 22,4.6 Dabei unterstreicht die direkte Rede die Authentizität der Botschaft und die unmittelbare Betroffenheit des Propheten. „Totenklage erheben“ ist der Fachterminus für die nach dem Tod eines Menschen veranstaltete Trauerfeier, die sich vor allem durch das Schlagen auf die Brust und das Ausstoßen von kurzen Lauten „Ho-Ho!“ und dem Klageruf des „Hoj!“ „Wehe“ auszeichnet.7 Selten ist die Verbindung von „Totenklage anstimmen“ mit „heulen“ (vgl. Jer 4,8). Das Verb ist wohl nicht zuletzt auch deshalb gewählt, um zu den in V. 8b folgenden Tiervergleichen, in denen es ausdrücklich um akustische Äußerungen geht, überzuleiten. Die beabsichtigte symbolische Geste in V. 8aβ gehört – abgesehen vielleicht vom 4 5

6 7

MAYS, Micah, 55. Die Frage, ob „wegen diesem“ rückverweisend oder vorverweisend zu verstehen sei, wurde kontrovers diskutiert; RENAUD, Michée, 47–50, kann jedoch nachweisen, dass sich die Phrase in allen Belegstellen auf das Vorausgehende bezieht, so neuerdings auch WALTKE, Micha, 64. HILLERS, Micah, 23. SCHARBERT, Art. ‫ד‬‫ ׇס‬sāp̱aḏ: ThWAT V, 904.

V. 8: Die Klage und eine symbolische Handlung des Propheten

48

„jesajanisches“ Verhalten Michas?

V. 9: Die Begründung der Klage des Propheten

Mi 1,8f.

Barfußgehen8 – nicht zu den üblichen Trauerriten. So liegt auf ihrem bizarren Charakter ein besonderes Augenmerk. Ihre Sinnhaftigkeit erschließt sich von Jes 20,2ff. her,9 insofern dort eine ähnliche Handlung des Propheten als Veranschaulichung der baldigen schmählichen Niederlage zweier Völker dient, auf die Juda als potenzielle oder tatsächliche Verbündete in seinem Widerstand gegen Assur besonders vertraut hatte. Das Verhalten des (literarischen) Micha will demnach offensichtlich in ähnlicher Weise das Geschick Samariens, dessen Fundamente entblößt werden (vgl. V. 6bβ), aber auch das der Einwohnerschaft von Zaan (V. 11) veranschaulichen,10 die in beschämender Nacktheit ins Exil geführt werden.11 Tatsächlich zeigen altorientalische Bilddarstellungen (z. B. die Eroberung Lachischs, Südwestpalast des Sanherib, Britisches Museum) die Exilierung nackter Gefangener. Zudem unterstreicht V. 8aβ die Entsprechung Michas zu Jesaja, die bereits die Überschrift insinuiert. Die beiden in V. 8b genannten Tiere gehören – versehen mit halbdämonischen Zügen – zur menschlichen Gegenwelt und veranschaulichen verschiedentlich die Zerstörung und Verlassenheit vorher dicht besiedelter Orte nach einem vernichtenden Gerichtsschlag (vgl. z. B. Jes 13,21f.; 34,14f.). Der Prophet nimmt demnach auch hier – sozusagen stellvertretend – die Rolle dieser Tiere ein, um die Verlassenheit und das über Samaria vollzogene Gerichtsgeschehen durch JHWH zu bezeugen. Die zuerst genannten ‫ים‬‫ ַתּ‬werden gewöhnlich mit Goldschakalen (canis aureus)12 identifiziert, allerdings ist eine genaue zoologische Bestimmung nicht möglich.13 Das Heulen der Schakale interpretiert der Prophet als Klagegeschrei ähnlich wie die Lautäußerungen der in V. 8bβ genannten „Strauße“ (struthio camelus),14 bei welchen die Männchen bei der Balz oder bei Rangstreitigkeiten dumpfe Laute (ein tiefes Bububuuu huu)15 von sich geben. Nach V. 8aα („wegen diesem“) bildet V. 9 eine weitere Begründung für die Klage des Propheten. Nicht allein wegen Samaria – so der durch V. 8aα hergestellte Rückbezug –, sondern noch mehr wegen Juda und Jerusalem, welche von der Wunde Samariens infiziert sind, stimmt er seine Klage an. Es zeichnet sich so ein Weg ab, der von Samaria bis Jerusalem reicht und damit der heutigen Anlage von Mi 1 entspricht. Von seiner Grundbedeutung her verweist ‫י‬‫כּוֹ‬ auf Schläge, die Samaria – sei es von JHWH (vgl. V. 6), sei es von einem menschlichen Agens (vgl. V. 7) – erlitten hat (vgl. Jer 14,17f., in welchen ein kriegerisches Geschehen im Hintergrund steht).16 „Unheilbar“ macht die Ausweglosigkeit der Situation deutlich: „[D]ie Geschichte JHWHs mit Samaria ist zu Ende“17 (vgl. Am 8,2). Insofern besteht durchaus Anlass zur Trauer, denn auch das Nordreich und seine Bevölke-

8 Darauf rekurriert vor allem KESSLER, Micha, 93, der sowohl im Barfuß- wie Nacktgehen ausschließlich Trauerriten sehen will. 9 HARDMEIER, Texttheorie, 358; HILLERS, Micah, 23. 10 JEREMIAS, Micha, 138. 11 WOLFF, Micha, 28. 12 FREVEL, Art. ‫* ַתּן‬tan: ThWAT VIII, 703. 13 FREVEL, Art. ‫* ַתּן‬tan: ThWAT VIII, 704. 14 HAL II, 402. 15 So zumindest die einschlägige Auskunft bei Wikipedia, Artikel „Afrikanischer Strauß“. 16 Vgl. MAYS, Micah, 55. Er verweist außerdem auf Jer 19,8; 30,12; Nah 3,19. 17 KESSLER, Micha, 93.

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49

rung sind ursprünglicher Teil des Gottesvolkes. Man vergleiche dabei die inhaltlichen Berührungen mit Jes 1,5f., in welchen eine ähnliche Situation wie in Mi 1,9 vorliegt: Juda ist verwüstet und das Unheil steht vor den Toren Jerusalems. Die Verbindung zwischen Juda und Jerusalem in V. 9aβ.b verweist auf V. 5 als dessen Voraussetzung zurück, wenn dort der Schuldaufweis geleistet wird. Historischer Hintergrund ist wohl der assyrische bzw. babylonische Angriff auf das Südreich, der in assyrischer Zeit mit der Verwüstung Judas und der Belagerung Jerusalems, in babylonischer Zeit mit dessen Eroberung 586 v. Chr. endete. Die perfektische Formulierung „ist gekommen“ ‫ה‬ erinnert an Am 8,218 und setzt das Unheil als präsentisch voraus. Das Bild von der sich ausbreitenden Krankheit könnte an Hos 5,12f. anknüpfen.19 Bei der Bezeichnung Judas und Jerusalems als „mein Volk“ handelt es sich um eine Formulierung, die sich in der Michaschrift mehrfach findet (vgl. Mi 2,8.9; 3,3,20 wobei als Bezugsgröße des Suffixes sowohl Micha wie JHWH fungieren kann). Hier spielt offensichtlich der Aspekt des Mitleidens des Propheten mit dem Schicksal seines Volkes eine gewisse Rolle,21 woraus jedoch keine biographischen Folgerungen gezogen werden können, zumal es sich wahrscheinlich um einen nachträglich eingefügten Vers handelt (s. u.). In jedem Fall wird gegenüber der eher distanzierten Rede über Samaria eine judäische Perspektive eingenommen. Das Tor als wichtigster Bestandteil der Befestigung einer antiken Stadt und der Ort, an dem Gericht gesprochen wird, steht als pars pro toto für die Gesamtheit der Stadt (vgl. Jes 14,31).22 Tatsächlich wird „Tor meines Volkes“ in V. 9bβ durch Jerusalem expliziert. Die Formulierung assoziiert eine massive Bedrohungssituation, wie sie in der Belagerung Jerusalems durch Sanherib 701 v. Chr. bzw. der babylonischen Belagerung und Zerstörung 586 v. Chr. Realität wurde.23 Juda/Jerusalem droht demnach dasselbe Schicksal wie Samaria, allerdings „reicht“ die Wunde eben nur bis zum Tor Jerusalems und ist noch nicht in Jerusalem selbst eingedrungen.24 Tatsächlich zeigt sich im Fortgang der Michaschrift, dass zwar Zion zerstört wird, es jedoch wieder einen Neuanfang mit JHWH gibt (vgl. Mi 4), die „Wunde“ also nicht „unheilbar“ war und ist. Schließlich ergibt sich durch das Stichwort „Tor“ eine Verbindung zu V. 12b.25 Während es sich in V. 9 um eine Verletzung handelt, die ein unbestimmtes Subjekt Juda und Jerusalem zugefügt hat, spricht V. 12b ausdrücklich von einem göttlichen Wirken.26 Diese Abfolge wiederum trifft sich mit derjenigen in V. 7, da dort ebenfalls zunächst ein anonymes Agieren geschildert wird, bevor das Unheil auf JHWH selbst zurückgeführt wird.

18 19 20 21 22 23 24 25 26

SCHART, Entstehung, 182. SCHART, Entstehung, 182. JEREMIAS, Micha, 138. So MAYS, Micah, 55, vgl. die entsprechende Formulierung z. B. in Klgl 2,11; 3,48. So bezeichnet Boas in Rut 3,11 die entscheidungsfähigen, freien Bürger Betlehems als „das ganze Tor meines Volkes“, vgl. MAYS, Micah, 55. MAYS, Micah, 55. Vgl. NOGALSKI, Precursors, 137; KESSLER, Micha, 94. JEREMIAS, Micha, 138. JEREMIAS, Micha, 138.

50

Mi 1,8f.

Diachrone Analyse Bei einer näheren Betrachtung von V. 8 fällt auf, dass der Versteil 8aβ weder syntaktisch noch inhaltlich mit dem Rest des Verses verbunden ist. Während die akustischen Äußerungen des Sprechers in V. 8aα durch Tiermetaphorik in V. 8b expliziert werden, geschieht dies im Fall der Zeichenhandlung nicht. Zudem bricht V. 8aβ die Zweierstruktur des Verses (Totenklage anstimmen/heulen; Totenklage/ Trauer; Wüstenhunde/Schakale) auf. Außerdem entspricht die vom Propheten ausgeführte Zeichenhandlung – vor allem seine Nacktheit – nicht den üblichen Trauerbräuchen.27 Des Weiteren wird gerade durch diese Zeichenhandlung eine Verbindung zwischen dem Geschick Samarias (Motiv der Nacktheit, vgl. die Entblößung der Fundamente in Samaria in V. 6bβ) und dem auf Jerusalem zulaufenden Unheil hergestellt. Dies könnte auf eine spätere Ergänzung des Versteils hindeuten, zumal durch die Zeichenhandlung eine direkte Entsprechung zu einer eben solchen des Propheten Jesaja besteht (vgl. Jes 20,2). Diesbezüglich wäre auch zu überlegen, ob es sich nicht auch vielleicht bei der einführenden Phrase „deswegen“ um eine nachträgliche Ergänzung handelt, die eine Verbindung mit dem Vorausgehenden herstellt. So wären redaktionsgeschichtlich in V. 8 zwei Stufen zu unterscheiden: 1. V. 8aα.b als ursprüngliche Einleitung von Vv. 10–16* mit gleichzeitiger Entsprechung (und damit Rahmung) zu V. 16 (Tiermetaphorik) und 2. V. 8 unter Ergänzung von V. 8aβ mit V. 9 als Bindeglied zwischen Vv. 1–7 und 10–16.28 V. 9 setzt durch „ihre Wunde(n)“ bereits das Gericht über Samaria voraus, welches nun auch auf Juda und Jerusalem übergreift. Somit leitet V. 9 vom Gericht über Samaria zu dem über Juda bzw. Jerusalem über. Damit aber steht der Vers im Zusammenhang mit der heutigen Komposition von Mi 1,1–7 und dessen Verbindung mit der Hosea- und Amosschrift bei gleichzeitiger Bezugnahme auf bereits vorliegende Texte in der Michaschrift und dürfte damit redaktioneller Art sein.29 Dies belegen schließlich auch inhaltliche Bezüge zu Hosea und Amos sowie wie zum Jesajabuch (s. o.). Entstehungsgeschichtlich ist damit V. 8aα.b auf dieselbe Ebene wie Vv. 10–16* zu setzen (s. u.) und damit ins 8. Jh. v. Chr. zu datieren, während V. 8aβ.b.9 zusammen mit Mi 1,1.3–7 (s. o.) in persischer Zeit verfasst wurde. Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 1

27 So bereits WOLFF, Micha, 27. 28 So neuerdings wieder WALTKE, Micah, 64. 29 So bereits SCHART, Entstehung, 181.

Mi 1,10–16: Unheil über die Städte des Hügellandes und Aufruf zur Klage 1,10 In Gat verkündet nicht, ein Weinen weint nicht! In Bet (Haus) für Afra (Staub), wälzte ich mich im Staub. 11 Geh für euch einher, Einwohnerschaft von Schapira! Nacktheitb ist Schande: Nicht geht hinaus die Einwohnerschaft von Zaanan. Totenklage von BetHaEsæl: ̣ Er nimmt von euch seinen Standortc. 12 Jaa, schwachb für Gutes ist die Einwohnerschaft von Marotc Ja, es kam herab Unheil von JHWH für das Tor Jerusalems. 13 Bindea den Wagen an das Gespann Bewohnerschaftb von Lachisch! Der Anfang der Sünde ist sie für die Tochter Zion, denn in ihr wurden die Verbrechen Israels gefunden. 14 Darum gib eine Entlassungsgabea wegen Moreschetb Gath, die Häuser von Akziba sind zum Trug für die Könige Israels. 15 Wiedera lasse ich den, der in Besitz nimmtb zu dir kommen, Bewohnerschaftc von Mareschad. Bis nach Adullam bringt man die Herrlichkeit Israelse. 16 Scher dir eine Glatze und schneide (das Haar) ab wegen der Kinder deiner Wonne, mache weit deine Glatzea wie ein Geier, denn sie sind in Gefangenschaft gegangen, weg von dir.

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Mi 1,10–16

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 10a G übersetzt in V. 10aα „(Ihr in Gat) tut nicht groß!“ μὴ μεγαλύνεσθε, setzt also ein ‫ תגדלו‬voraus.1 Bereits in V. 10aβ nennt G mit ἐν Ακιμ einen zweiten Ort. Vermutlich hat sie ‫כוֹ‬ als Ortsnamen mit Präposition ‫ ב‬verstanden (vgl. BHS ‫בּוֹן‬, EÜ: „in Akko“). Andererseits wird in den folgenden Halbversen jeweils nur ein Ort genannt, sodass dies auch für V. 10a anzunehmen ist.2 10b In 10b weicht G weitgehend vom masoretischen Text ab: „Baut nicht aus einem Haus Lachhaftes. Mit Erde bestreut euer Lachhaftes“ μὴ ἀνοικοδομεῖτε ἐξ οἴκου κατὰ γέλωτα γῆν καταπάσασθε κατὰ γέλωτα ὑμῶν. 11a G übersetzt mit „die (ihre Städte) schön bewohnen“ κατοικοῦσα καλῶς und gibt den Ortsnamen ‫יר‬ adverbial wieder. 11b „Nacktheit“ ‫ה‬ liest G als ‫„ עיריה‬ihre (3. Pers. fem. Sing.) Städte“ τὰς πόλεις αὐτῆς. G verbindet V. 11b mit V. 11c: „die Einwohnerschaft von Senan geht nicht hinaus, um zu betrauern ihr Nachbarhaus. Sie wird von euch einen schmerzhaften Schlag erhalten.“ οὐκ ἐξῆλθεν κατοικοῦσα Σεννααν κόψασθαι οἶκον ἐχόμενον αὐτῆς λήμψεται ἐξ ὑμῶν πληγὴν ὀδύνης. G kennt auch hier offensichtlich sämtliche Lexemata des hebr. Textes mit Ausnahme von „seinem Standort“. „Betrauern“ zeigt Kenntnis von ‫ד‬, mit „Nachbarhaus“ übersetzt G ‫ל‬ ‫ית‬ und denkt dabei, ähnlich wie bei ‫יר‬ in V. 11a, nicht an einen Eigennamen, sondern an das Adjektiv ‫ אצל‬mit der Bedeutung „neben“.3 11c Es stellt sich die Frage, worauf sich das Suffix in ‫תוֹ‬ bezieht. Man könnte dabei an JHWH, aber auch BetHaEṣæl denken. 12a Anstelle von ‫„ כי‬denn“/„Ja“ setzt G ein ‫„ מי‬wer“ voraus. 12b Leitet man ‫ה‬ von „krank, schwach sein“ ab, kongruiert die 3. Pers. sing. masc. nicht mit der femininen Form „Einwohnerschaft“. Eine Herleitung von ‫ חיל‬hingegen, so offenbar MT, ergibt den nur schwer verständlichen Sinn „sie kreiste zum Guten“. Häufig wird mit σ‘ (ἤλπισεν, „es hoffte [auf Gutes…]“) eine Verlesung eines ursprünglichen ‫ה‬ vermutet:4 „Ja, es hoffte die Einwohnerschaft von Merot auf Gutes; ja, es kam herab Böses…“ 12c G versteht den Eigennamen des Ortes als Nomen (Ableitung von ‫ה‬ „Bitterkeit/ Gram“), wörtl.: „Wer begann zum Guten (zu wirken) für die Einwohnerschaft der Gram?“ τίς ἤρξατο εἰς ἀγαθὰ κατοικούσῃ ὀδύνας, viell. im Sinn einer rhetorischen Frage: „wer tat der Einwohnerschaft der Gram Gutes?“ 13a ‫ רתם‬ist Hapax legomenon.5 Es wird gewöhnlich mit irtm in KTU 1.2 IV 3 in Zusammenhang gebracht, dessen Bedeutung allerdings ebenfalls unsicher ist.6 Man vermutet eine Bedeutung im Sinn von „anbinden“. Aufgrund des fem. Subjektes „Bewohnerschaft“ wird vorgeschlagen, anstelle von ‫ם‬ (imp.) ein ‫ֺתם‬ (inf. abs.) zu lesen.7 Diese Deutung bestätigt sich von S her (jedoch Indikativ): „Es schirrte an…“. G übersetzt hier mit ψόφος „Geräusch“ (von Wagen und Reitern), vgl. Joël 2,5. Dabei liest sie V. 13a wohl noch im Zusammenhang mit der in V. 12 geschilderten Bedrohung Jerusalems: „[D]ie militärischen Geräusche vor Jerusalem sind Apposition zu dem ‚Unheil‘, das vom Herrn kommt“.8 Möglicherweise hat sie den Text von Jes 22,7 her verstanden, wo ausdrücklich

1 2 3 4 5 6 7 8

UTZSCHNEIDER, Michaias, 2367; dem folgt HILLERS, Micah, 25. So bereits BUDDE, Rätsel, 95. HAL I, 79. So z. B. WOLFF, Micha, 13. HAL IV, 1212. HAL IV, 1212. RUDOLPH, Micha, 36. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2368.

Synchrone Analyse

13b 14a 14b 14c

15a 15b 15c 15d 15e

16a

53

von feindlichen Wagen (ἁρμάτων) und Reitern (ἱππεῖς) vor den Toren Jerusalems (τὰς πύλας σου) die Rede ist.9 Dabei zieht G „Bewohnerschaft Lachisch“ als Subjekt bereits zum nächsten Satz: „Die Bewohnerschaft von Lachisch ist der Anführer (ἀρχηγὸς) der Sünde…“. G fasst ‫ים‬‫לּוּ‬ als Pluralform auf und übersetzt mit ἐξαποστελλομένους „Gesandte“ (vgl. T), wobei sie den Eigennamen ‫ת‬‫ מוֹ‬mit κληρονομίας „Erbteile (von Gath)“ übersetzt (vgl. S) und zum Ziel der Gesandtschaft macht: „Deshalb gib Gesandte zu den Erbteilen von Gath“ διὰ τοῦτο δώσεις ἐξαποστελλομένους ἕως κληρονομίας Γεθ. G übersetzt auch hier den Eigennamen Akziba und ordnet ihn adjektivisch den Häusern als Apposition zu Gath zu: „(zu) nutzlosen Häusern“ οἴκους ματαίους. Damit jedoch geht das im hebräischen Text intendierte Wortspiel zwischen dem Ortsnamen Akziba und „zum Trug“ leʼakzāb verloren. G fasst das hebr. ‫ד‬ „wieder“ entsprechend V. 15b als ‫ד‬ „bis“ ἕως auf, um das vorausgehende Gerichtswort zu begrenzen: „bis (ich zu dir Erben bringe)“. G mit „Erben“ τοὺς κληρονόμους (vgl. S) lässt an eine Wiederbesiedlung durch heimkehrende Israeliten denken. G fügt „Lachisch“ ein, während sie Marescha mit „Erbe“ κληρονομία übersetzt und zum folgenden Versteil zieht: „Das Erbe kommt nach Adullam“ κληρονομία ἕως Οδολλαμ ἥξει, wobei „die Herrlichkeit“ dabei ein weiteres Subjekt zu „kommt“ bildet. Offensichtlich unter Eindruck der beiden folgenden Imperative fem. sing. in V. 16a und der dort fehlenden Adressatin, spricht G von der „(Herrlichkeit) der Tochter Israels“ τῆς θυγατρὸς Ισραηλ, die damit assoziativ zur Adressatin des folgenden Verses wird. G übersetzt „deine Witwenschaft“ τὴν χηρείαν σου. Vermutlich hat G dabei Texte wie Jes 54,4 im Blick, wo von der Witwenschaft Zions (τῆς χηρείας σου) die Rede ist; dies zerstört allerdings die anschließende Metaphorik.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Vv. 8 und 16, die beide die Trauerthematik (einmal hinsichtlich des Propheten s. o., einmal hinsichtlich Jerusalems) einspielen, rahmen den Abschnitt Vv. 10-15, der das Schicksal verschiedener Städte des judäischen Hügellandes – offensichtlich angesichts eines Angriffs einer fremden Macht – beschreibt, und veranschaulichen damit das Bedrohliche und Todbringende dieser Situation. Entsprechend V 13 trat in ihnen, insbesondere der wichtigsten Metropole Lachisch, erstmalig die Sünde der Tochter Zions zutage, deren Folgen sich nun auf Jerusalem ausbreiten. Vv. 10–15 sind somit Explikation von V. 9, wo von einem Übergreifen der Wunde Samariens auf Juda und Jerusalem die Rede ist. 9

Vgl. Jes 22,7 (LXX): „… deine vorzüglichen Täler werden sich mit Wagen füllen und Reiter werden deine Tore blockieren“; ausführlicher ZAPFF, Micha zu Jesaja, 554.

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Mi 1,10–16

Textinterne Aussagegestalt Vv. 10–15 handeln von Städten des judäischen Hügellandes, die alle unter massiven Angriffen und Verheerungen leiden. Zentrum des Städtegedichtes scheint dabei V. 12 zu bilden, der sich zumindest in V. 12b (vermutlich aber auch in V. 12a, s. u.) auf Jerusalem bezieht, um das sich durch den Verlust der Tochterstädte die Schlinge des Unheils immer enger zieht.

Einzelauslegung Vv. 10f.: Unheil über Städte des Hügellandes

Ohne Zweifel liegt in V. 10aα ein Wortspiel zwischen dem Ortsnamen Gat und dem Aufruf „verkündigt nicht“ (al-taggīd) vor. Dabei nimmt der Text offensichtlich Bezug auf 2 Sam 1,20, nämlich die Totenklage Davids über Saul und Jonathan, an deren Niederlage sich die in Gat ansässigen Philister (vgl. Am 6,2: „Gat der Philister“) als Feinde Israels nicht erfreuen sollen. Als Teil der philistäischen Pentapolis (tell e-sāfī)10 gehörte Gat zu einem der Machtzentren der Philister. Demnach wird in V. 10aα offensichtlich eine ähnlich verheerende Niederlage vorausgesetzt. Dabei spielen aufgrund des sprichwortartigen Charakters die tatsächlichen politischen Verhältnisse keine Rolle.11 Dass hier eine Anspielung auf einen Tiefpunkt im Leben Davids vorliegt, zeigt sich auch darin, dass diese Formulierung ein Pendant in V. 15b hat, insofern durch die Nennung eines Ortes namens Adullam an eine weitere Krise im Leben Davids erinnert wird12 (s. u.). Damit aber bilden Vv. 10aα und 15b eine inhaltliche Klammer,13 die zusammen mit jener in Vv. 8 und 16 (s. o.) eine doppelte Rahmung um die wohl ursprüngliche Einheit Vv. 8*.10–16 ergeben. An diesen Aufruf „verkündigt nicht“ scheint nun die ebenfalls verneinte Aufforderung in V. 10aβ anzuknüpfen.14 Die figura etymologica „(k)ein Weinen weinen“ drückt übergroßen Schmerz (vgl. z. B. Klgl 1,2) aus. Dabei ist nicht an einen „stillen“ Schmerz oder ein leises verhaltenes Weinen zu denken, sondern an eine lautstarke Äußerung, wie sie auch heute noch bei Trauerzügen im Orient zu beobachten ist. Dieses Weinen aber würden die zuvor mit Gat assoziierten Philister als Feinde und direkte Nachbarn Israels schadenfroh hören. Insofern hat V. 10a die Funktion einer Art Überschrift, die sich als Adressaten an Juda und vor allem Jerusalem wendet15 und das Folgende entsprechend 2 Sam 1,19ff. als Klage über 10 SCHMITT, Moreschet Gat, 158.164. 11 WALTKE, Micah, 70. 12 WALTKE, Micah, 70. Dies spricht an dieser Stelle dafür, dass die masoretische Textform tatsächlich den Ursprungstext repräsentiert! 13 RENAUD, Michée, 37; so jüngst auch wieder WALTKE, Micah, 70. 14 Die Wiedergabe des Verses im Sinne eines Versuchs, die Trauer zu stillen, wie dies etwa die NEUE ZÜRICHER („Ihr müsst nicht weinen!“) und die ELBERFELDER-Übersetzung („Weint doch nicht!“) insinuieren, beachtet m. E. zu wenig den kontextuellen Zusammenhang. 15 Den besonderen Charakter von V. 10 hat WALTKE, Micha, 70, herausgestellt, wenn er schreibt, dass das Wortspiel mit Gat hier eine andere Funktion als in den übrigen Versen hat. Es geht hier nicht darum, den baldigen Untergang Gats anzukündigen, sondern Michas Klage mit der Davids über den Untergang Sauls und Jonathans zu verbinden.

Synchrone Analyse

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den Untergang wichtiger Städte im judäischen Hügelland charakterisiert. Demgegenüber ist das Wälzen im Staub (zur Wendung vgl. Jer 6,26; Ez 27,30) in V. 10b ein stummer und doch eindringlicher Gestus der Trauer, den der Prophet wiederum zeichenhaft für Juda und Jerusalem vollzieht. Die Prophetenrede verbindet dabei V. 10b mit V. 8 und führt die dortige Klage des Propheten nun in Form eines ausdrücklichen Trauerritus fort. Dieses prophetische Zeichen ist dabei eingebunden in ein Wortspiel mit dem Namen eines Ortes namens Bet-le-Afra. Diese Stadt wird zu einem „Staubhaus“, d. h. zu einem Haus der Trauer. Die Identität von Betle-Afra ist bis heute ungeklärt („vielleicht eṭ-ṭaijibe auf dem Weg von bēt ǧibrīn nach Hebron“16); möglicherweise liegt hier auch die bewusste Veränderung eines Ortsnamens vor, um diesem einen negativen Klang zu geben. In hitpalāšti „ich wälzte mich“ klingt der Volksname „Philister“ mit an, welche ja die Bewohner des in V. 10aα genannten Gat sind.17 Der textkritisch schwierige V. 11 (s. o.) weist folgende Gliederung auf, die für V. 11 sein Verständnis leitend ist: Einer imperativischen Aufforderung an die Einwohnerschaft von Schapir in V. 11a schließt sich in V. 11bα eine Genitivverbindung (so MT) an oder ein Nominalsatz, dem in V. 11bβ.γ ein Verbalsatz folgt. Ähnlich wie in V. 11b ist die Sequenz in V. 11c und d. Einer Genitivverbindung (oder einem Nominalsatz) folgt ein Verbalsatz. Dieser Befund spricht dafür, in beiden Fällen die jeweiligen Satzteile als Aussageeinheit zu verstehen. Dann ergibt sich sozusagen stenogrammartig eine Beschreibung der Situation (Genitivverbindung bzw. Nominalsatz) und der sich daraus ergebenden Folge (V. 11bβ.γ) bzw. der diese Situation verursachende Grund (V. 11d). Auffällig ist das Fehlen der sonst in Vv. 10–15 häufigen Assonanzen in V. 11a und 11c.d.18 Dafür liegt eine solche und zwar gleich doppelt in V. 11b vor und unterstreicht in diesem Fall die Zusammengehörigkeit von Genitivverbindung (oder Nominalsatz) und Verbalsatz: bošæt/jōšæbæt und jāṣāh/ṣaʿanān. In V. 11aα scheint eine Exilierung der Bevölkerung im Blick zu sein,19 wie sie nach der Eroberung einer Stadt häufig üblich war. Besonders die assyrische Kriegsmethodik praktizierte die Exilierung – zumindest der Oberschicht –, um damit den Widerstandswillen der Bevölkerung zu brechen bzw. durch eine Zerstreuung der Bevölkerung auf verschiedene Reichsteile eine Assimilierung im neuen Umfeld zu erreichen. „Einwohnerschaft“ in V. 11aβ erscheint in Mi 1,11-15 fünfmal, ist also eine Art Leitwort des Kapitels. Die feminine Form entspricht dabei der Vorstellung einer Stadt als weiblicher Größe. Dabei wird die Einwohnerschaft immer mit dem Namen eines Ortes verbunden, der bisweilen bekannt, gelegentlich aber auch eine Verballhornung ist, sodass man nicht immer erkennen kann, welche Stadt oder Ortschaft sich dahinter verbirgt. Schapir klingt an das aramäische ‫יר‬ an, was so viel wie „schön“ bedeutet („Schönau“).20 Der Name selbst mag eine bewusste Verballhornung eines Ortes namens Schawafir sein, der östlich von Aschkalon lag. Mit der Exilierung der Bevölkerung verliert der Ort seinen schönen 16 ELLIGER, Heimat, 147f. 17 KESSLER, Micha, 98. 18 In der Kommentarliteratur wird verschiedentlich versucht, eine solche durch Emendationen herzustellen, vgl. MAYS, Micah, 49; WALTKE, Micah, 73: šȏpār yāʿăbi(y)rû lāk „blase für dich das Widderhorn“. 19 WOLFF, Micha, 29. 20 WOLFF, Micha, 9.

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V. 12: Unheil über Jerusalem Identifikation von Mārōt

Mi 1,10–16

Charakter. Gleichzeitig wird der Name durch die nächste Aussage in V. 11bα kontrastiert. Wie die altorientalische Ikonographie belegt, wurden Gefangene aus eroberten Städten häufig nackt weggeführt. Nacktheit aber galt dem Orientalen nicht als schön (im Unterschied zur griechischen Kultur!), sondern als zutiefst beschämend und entwürdigend. Den Bewohnern droht damit das Schicksal, das – im heutigen Kontext – der Prophet in V. 8aβ bereits zeichenhaft abgebildet hat. Die Gefahr, entblößt weggeführt zu werden, hindert nun die Einwohnerschaft von Zaanan, das zu tun, was im Namen ihres Ortes anklingt: „herauszugehen“ (jāṣāh: „Ausbach“).21 Bei „herausgehen“ ist dabei an das Ausziehen eines Heeres in den Kampf22 zu denken, welches offenbar keinen Erfolg mehr verspricht. Dies deutet zugleich auf eine Belagerungssituation hin, in der man in der Ummauerung Schutz suchte. Auch hier scheint eine Verballhornung vorgenommen worden zu sein. Der eigentliche Ortsname ist möglicherweise Senan, ein Ort, der entsprechend Jos 15,37 im Hügelland liegt,23 also in einer ähnlichen Gegend wie die zuvor genannte Stadt Schawafir. Das Stichwort „Totenklage“ in V. 11c beschreibt wiederum stenogrammartig die Situation. Offensichtlich wird um die hier genannte Stadt Totenklage gehalten, weil es im Rahmen einer Katastrophe (wohl: Eroberung) viele Tote gegeben hat bzw. die Stadt überhaupt aufgehört hat zu existieren. Der Name Bet-haEṣæl, wörtl. „Haus der Seite“ oder „Nebenhaus“ („Seitingen“,24 vgl. G) weist auf eine benachbarte Stadt hin, sodass das Unheil den Adressaten des Propheten sozusagen vor der Haustür steht. Denkbar ist auch, dass ha-Eṣæl lautmalerisch an hebr. ʾezal (‫„ )אזל‬weggehen“/ „schwinden“ erinnern soll, sodass sich eine inhaltliche Entsprechung zu „er nahm weg“ ergeben würde. In V. 11d scheint es um eine Wegnahme dessen zu gehen, was den mit „euch“ angesprochenen Adressaten existenziell wichtig ist. Bezieht sich das Suffix 3. Pers. sing. auf JHWH, dann geht es hier offenbar um etwas, das die Präsenz Gottes verbürgte (Tempel als „Standort“ JHWHs?). Alternativ ist an die Unterstützung seitens JHWHs zu denken oder – sollte sich das Suffix auf Bet-Eṣæl beziehen – die von dort aus geleistete Unterstützung. V. 12 besteht aus zwei parallel aufgebauten Verbalsätzen, die jeweils in die Benennung einer Örtlichkeit münden. Dabei ergibt sich ein Gegenüber zwischen „(schwach sein) zum Guten“ und dem „Bösen/Unheil“.25 Somit ist das Verhältnis zwischen beiden Versteilen wohl im Sinne einer Konsequenz zu verstehen: Die Schwäche zum Guten hat als Folge das Herabkommen des Bösen von JHWH her. Von daher stellt sich die Frage nach der Beziehung von „Mārōt“ und „Jerusalem“. Für die Annahme, dass es sich jeweils um denselben Ort handelt, spricht die zwischen V. 12aβ und V. 12bα bestehende Assonanz zwischen mārōt und jārad. Jene Verbwurzel aber bezeichnet in V. 12b ein Unheilsgeschehen, das Jerusalem betrifft, während sich die entsprechenden Verbwurzeln in Vv. 10–15 immer auf den Ort beziehen, dem Unheil droht. Mārōt wird sonst nirgendwo genannt26 und ist durch seinen Anklang an „Bitterkeit“ ‫ה‬‫ ֺמ‬bzw. „sich widerspenstig benehmen“ ‫( מרה‬vgl. Esra 4,12,wo Jerusalem mittels der aramäischen Wurzel ‫ מרד‬ausdrücklich als auf21 22 23 24 25 26

WOLFF, Micha, 9. KESSLER, Micha, 106. WOLFF, Micha, 30. WOLFF, Micha, 9. MAYS, Micah, 57. WOLFF, Micha, 30.

Synchrone Analyse

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rührerisch charakterisiert wird!) offenbar als Symbolname in Entsprechung zum vorher genannten „schwach zum Guten“ zu verstehen. Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass hier zunächst verhüllend von Jerusalem gesprochen wird, bis sich die Identität der Stadt in V. 12b klärt. Im Gegenüber von „schwach zum Guten“ in V. 12aα zu „Unheil von JHWH“ in V. 12bα ist „Gutes“ im sittlich-moralischen Sinn, „Böses“/„Unheil“ hingegen als malum physicum zu interpretieren. Damit aber wird eine Art des von JHWH in Kraft gesetzten Tun-Ergehen-Zusammenhangs erkennbar. Außerdem klingt hier bereits ein Thema an, das in Mi 3,2 ausdrücklich formuliert und entfaltet wird. Je nachdem von welcher Wurzel man Mārōt ableitet (s. o.) könnte man bei „Bitternis“ einen Hinweis auf das im folgenden Vers beschriebene, von JHWH kommende Unheil sehen, bei „Widerspenstigkeit“ einen weiteren Aufweis für die Berechtigung des hereinbrechenden Unheils. Mit der Erwähnung des „Unheils“ in V. 12bα fällt ein Stichwort, das in der Gerichtsrede Michas in Mi 2,1.3 und 3,2 als Themenangabe wieder aufgegriffen wird.27 Zudem könnte ein Rückbezug zu Am 9,4 beabsichtigt sein, sodass nun hier an Jerusalem geschieht, was dort Amos Israel androhte. Zu V. 12bβ vgl. V. 9. Auch in V. 13 besteht eine Assonanz, und zwar einmal zwischen lāræḫæš/jōšæbæt (æ-Laut) und lāræḫæš/lākīš (la-Laut und Schluss-š). Unter „Wagen“ in V. 13aα kann sowohl der gewöhnliche zweirädrige Wagen, der zum Transport von Personen und Gütern verwendet wurde, als auch ein Streitwagen verstanden werden. Ist hier der gewöhnliche Wagen gemeint, so dient die Aufforderung dazu, sich für eine Flucht oder den Gang in die Deportation vorzubereiten.28 Handelt es sich jedoch um den Streitwagen, geht es darum, einer drohenden militärischen Gefahr zu begegnen. Letztere Deutung ergibt sich von V. 13b sowie Mi 5,9b her. Wird in Mi 5,9b die Vernichtung von Pferden und Streitwagen angekündigt, so werden in Jes 2,7b.8 Streitwagen und Pferde in einem Atemzug mit Götzendienst genannt. Dabei handelt es sich um eine Tendenz, die sich auch in V. 13b niederschlägt, da dort Lachisch mit Sünde und Vergehen in Zusammenhang gebracht wird. Geht man davon aus, dass es sich bei V. 13b um eine sekundäre Ergänzung handelt (s. u.), so ergibt sich von dorther eine Bedeutungsverschiebung in V. 13a vom gewöhnlichen Wagen hin zum Streitwagen. Dieser war normalerweise mit zwei (Lenker und Bogenschütze) oder auch drei (zusätzlich noch ein Schildträger) Mann besetzt29 und diente als eine Art Wunderwaffe für den Fernkampf. Als vorwiegende Waffe der Feinde Israels hat der Streitwagen im Alten Testament zusammen mit Pferden gewöhnlich einen sehr schlechten Ruf (vgl. Ex 14,23ff., Ri 4,15), galten doch beide als teures Militärgerät und gleichzeitig Repräsentationsobjekte der Könige Israels als Zeichen widergöttlichen Hochmutes (vgl. 1 Sam 8,11). Ausgehend von dieser Interpretation handelt es sich in der heutigen Form von V. 13 um einen mehr oder weniger ironischen Aufruf an Lachisch, sich seiner militärischen Möglichkeiten zu bedienen, wiewohl diese letztlich umsonst sind. Zum Anschirren der Pferde diente das Nackenjoch, wobei mittels eines Halsgurtes zwei oder vier Pferde in das Joch gespannt wurden.30 27 JEREMIAS, Micha, 141. 28 Zu Letzterem vgl. WOLFF, Micha, 31; vgl. dazu auch die Darstellung auf dem Relief der Eroberung von Lachisch aus dem Südwestpalast des Sanherib; zu Ersterem vgl. MAYS, Micah, 58. 29 GALLING, Reallexikon, 253. 30 GALLING, Reallexikon, 253.

V. 13: Lachisch als Ursprungsort der Sünde Zions

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Lachisch, mächtige Festung im Hügelland

Mi 1,10–16

Wie in den vorausgehenden Versen wird auch hier die Bevölkerung einer Stadt zu einer Reaktion angesichts einer kriegerischen Bedrohung aufgerufen. Bei Lachisch handelt es sich wohl um den heutigen tell ed-Duwer / Tell Lachisch, einer Stadt im Hügelland Judäas, etwa 8 km von Michas Heimat Moreschet Gat entfernt. Die Bedeutung des Namens ergibt sich möglicherweise aus der Entsprechung zum arab. lakisch „widerspenstig“.31 Durch die oben beschriebene Assonanz wird er nun jedoch im Sinne von „Spannburg“ oder „Wagenburg“ interpretiert.32 Seit der Hyksoszeit besiedelt, wurde Lachisch, strategisch günstig an einer der Zugangstrassen ins judäische Gebirge gelegen, um das Jahr 900 v. Chr. zur mächtigsten Festung des Königreiches Juda gegen Südwesten, also dem Philisterland, hin ausgebaut (vgl. 2 Chr 11,9).33 Lange Zeit diente es als Garnisonsstadt, möglicherweise mit einem Streitwagencorps versehen, bis es schließlich im Jahr 701 v. Chr. im Rahmen eines Feldzuges des assyrischen Großkönigs Sanherib gegen Hiskija zerstört wurde. Von der Belagerung und Eroberung der Stadt legen die Reliefs aus dem Süd-West-Palast des Sanherib in Ninive (heute: Britisches Museum) beredt Zeugnis ab. In V. 13b folgt eine theologische Begründung der augenscheinlichen Bedrohung der Stadt, die Lachisch entweder als „Anfang“ i. S. eines zeitlichen Beginns oder als „Spitze“ i.S. von Höhepunkt der „Verfehlung“ für die Tochter Zion qualifiziert. Dass ausgerechnet mit Lachisch Verfehlung und Sünde in Zusammenhang gebracht werden, mag durch das Stichwort „Wagen“ bedingt sein, der zusammen mit den Pferden nun als militärisches Gerät interpretiert wird und damit grundsätzlich negativ konnotiert ist.34 Dabei könnte diese Wertung von Hos 10,13ff.; 14,4 geleitet sein, insofern dort vom verfehlten Vertrauen Israels auf militärische Macht gesprochen wird.35 Allerdings wird dort nirgends ausdrücklich militärische Rüstung mit den Begriffen „Sünde“ und „Verbrechen“ qualifiziert, sodass hier offensichtlich noch andere Vergehen im Blick sind (s. u.). „Sünde“ weist zusammen mit „Verbrechen“ nach V. 5 zurück (dort in umgekehrter Reihenfolge und Vertauschung von Plural und Singular), da dort beide Termini ebenfalls mit Jakob/Israel in Zusammenhang gebracht werden. Wird dort Samaria mit den „Verbrechen“ Israels identifiziert, so zeigt sich nun Lachisch davon infiziert. Damit wiederum bestätigt sich die Aussage von V. 9, wonach die unheilbare Wunde Israels bis nach Juda und von da aus nach Jerusalem reicht. Tatsächlich zeichnet dies auch den Zug des Heeres Sanheribs von Lachisch nach Jerusalem nach (vgl. 2 Kön 18,17). Die Bezeichnung „Tochter Zion“ - im Sinn einer Personalisierung der Stadt Jerusalem und seiner Bevölkerung36 - weist auf eine Entstehung des Versteils in nachexilischer Zeit hin (vgl. Mi 4,8.10.13; Klgl 2,1.4, s. u.). Traditionsgeschichtlich könnte hinter dieser Formulierung ein Verständnis der Stadt als Tochter einer Stadtgöttin stehen. Die Wortwahl „wurden gefunden“ in V. 13bβ lässt an ein Überprüfungsgeschehen seitens JHWHs denken, das den Sachverhalt der Verbrechen konstatiert. Um was es sich dabei konkret handelt, wird nur im Kontext der Michaschrift bzw. des Zwölfprophetenbuches deutlich. So lässt die negative Qualifizie31 32 33 34 35 36

KEEL, Orte 2, 881. UTZSCHNEIDER, Micha, 46. UTZSCHNEIDER, Micha, 46. KESSLER, Micha, 108. WOLFF, Micha, 32. OTTO, Art. ‫יּוֹן‬ ṣijjôn: ThWAT VI, 1010.

Synchrone Analyse

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rung von Streitwagen in Mi 5,9b und in Jes 2,7b37 an militärische Rüstung i.S. eines widergöttlichen Hochmutes oder gar Götzendienstes denken. Insofern der Leser, von Am 2,6 und 3,14 her kommend, von „Verbrechen Israels“ weiß, die jeweils mit sozialen Vergehen in Zusammenhang stehen, kommen auch solche in Frage. Adressatin des Imperativs in V. 14aα ist das zuvor genannte Lachisch. Damit V. 14: Die unterscheidet sich der Vers deutlich von den vorhergehenden Versen,38 wird doch Folgen für diesmal nicht die „Bewohnerschaft“ einer Ortschaft genannt und direkt angespro- Lachisch chen (vgl. z. B. V. 11.13), sondern bezüglich eines Ortes eine Beziehung zur vorhergenannten Stadt hergestellt. ‫ים‬‫לּוּ‬ bezeichnet die Gabe, die ein Mann seiner aus der Ehe entlassenen Frau (Ex 18,2) oder ein Vater als Brautgeschenk seiner Tochter (vgl. 1 Kön 9,16) mitgibt. Dieses Bild wird auf Lachisch, die nahegelegene Königsstadt, und das in einem Abhängigkeitsverhältnis dazu stehende Moreschet Gat übertragen. Tatsächlich kann man mit der Stadt das Nomen „Erwerb“/„Besitz“39 (‫ה‬‫)מוֹ‬ bzw. „Brautgeschenk“40 (‫ה‬) assoziieren, bzw. eine gedankliche Beziehung zu „Verlobte“/„Braut“ (‫ת‬) herstellen.41 Diese „Tochterstadt“ hat Lachisch nun an einen fremden Eroberer abzugeben und dabei mit einer Entlassungsgabe oder einem Brautgeschenk zu versehen. Möglicherweise ist damit ein Hinweis auf die Eroberung und Plünderung von Lachisch seitens der Assyrer (701 v. Chr.) verbunden, die gleichzeitig Moreschet Gat in Besitz nahmen. Die Stadt selbst ist wohl mit tell goded zu identifizieren und war die Heimat Michas (vgl. Mi 1,1; Jer 26,18). Im letzten Drittel des 8. Jh. v. Chr. bildete Moreschet Gat „mit Aseka, Marescha und Lachisch zusammen eines der Bollwerke Judas gegen die in der Küstenebene operierenden Assyrer“.42 Archäologisch wurde dort u. a. eine Besiedelung in EZ II festgestellt. Königliche Aktivitäten, etwa durch Anlegen von Vorräten für die dort stationierte Garnison, belegen 37 Krughenkel mit lmlk-Stempel („dem König [gehörend]“ bzw. „für den König [bestimmt]“).43 Der in V. 14b genannte Ort Akziba ist möglicherweise mit einem Ort namens Kezib zu identifizieren – wahrscheinlich der heutige tell elbeḍa44 nordöstlich von Lachisch –, der in Gen 38,5 in Zusammenhang mit einem Mann aus Adullam (vgl. Mi 1,15) genannt wird. In Jos 15,44 ist von einem ‫יב‬ in einem Atemzug mit Marescha die Rede. Es muss sich also auch hier um eine Nachbarstadt von Lachisch am Rande des judäischen Hügellandes gehandelt haben. Diese Stadt, offensichtlich ebenfalls eine Grenzfestung, wird mit „Trug“ ʾakzab (hebr. ‫אכזב‬ von ‫ )כזב‬in Verbindung gebracht, etwa i.S. von „Trughausen“. Es geht hier also um die militärische Unzuverlässigkeit jener Stadt. Dass dabei die Enttäuschten die „Könige von Israel“ sind, erstaunt. Möglicherweise handelt es sich darum, dass für das dem Untergang geweihte Nordreich vom Südreich und seinen Befestigungen nichts zu erwarten ist. Dementsprechend müsste das Wort aus einer Situation noch vor der Vernichtung des Nordreiches 722 v. Chr. stammen. Alternativ, und aufgrund der Entsprechung zwischen „Königen Israels“ in V. 14b und „Herrlichkeit Israels“ in 37 38 39 40 41 42 43 44

KESSLER, Micha, 108. So KESSLER, Micha, 108. Vgl. T: ‫י‬‫מ‬ und V: haereditatem. HAL II, 532. RUDOLPH, Micha, 48. KEEL, Orte 2, 851. KEEL, Orte 2, 851. KEEL, Orte 2, 847.

60

V. 15: Eine Umkehrung der einstigen Landnahme

Mi 1,10–16

V. 15b wahrscheinlicher, könnte sich „Israel“ auf das nach der Zerstörung des Nordreiches verbliebene Restvolk in Juda beziehen, sodass dann unter den „Königen Israel“ die Könige Judas (Ahas oder Hiskija) zu verstehen wären.45 V. 15a ist nun ausdrücklich JHWH-Rede, die sich – ähnlich wie der Imperativ in V. 13a – an die Bewohnerschaft einer Ortschaft richtet. Dabei findet sich in V. 15a ein Wortspiel zwischen „Erben“ hajoreš und Marescha und in V. 15b zwischen ʾad „bis nach“ und Adullam.46 Inhaltlich scheint sich gegenüber V. 14 eine Klimax der Geschehnisse anzudeuten, die sich vom Verlust einer Ortschaft (V. 14a) zur dauernden Inbesitznahme eines Ortes seitens eines neuen Herrschers (V. 15a) und der Enttäuschung der Könige (V. 14b) Israels zum Verlust der Herrlichkeit Israels (V. 15b) steigert. „In Besitz nehmen“ oder „erben“ beinhaltet die Vorstellung einer Eroberung bzw. einer sich an siegreiche, kriegerische Handlungen anschließenden juristischen Inbesitznahme.47 Als von JHWH initiiertes Geschehen findet sich die Wurzel ‫ ירשׁ‬im Rahmen der Landnahmeerzählungen, so z. B. bei der Eroberung der Stadt Ai in Jos 8,7 (hi.). Es ereignet sich hier demnach eine durch JHWH bewirkte Umkehrung der einstigen Landnahme, insofern auch diesmal JHWH Landgeber ist, allerdings nicht zum Schaden der Völker Kanaans, sondern dem Israels! Eine abweichende Interpretation in G G hingegen interpretiert die Wurzel entsprechend ihrem traditionellen Gebrauch (s. o.) und rechnet mit einer erneuten Inbesitznahme des Landes durch das exilierte Israel, sodass V. 15 zum Heilswort wird.

Bei Marescha (hebr. ‫ה‬‫א‬ Langform für ‫ה‬) – „Ort auf der Kuppe“48 –, dem heutigen tel sandaḥanna,49 handelt es sich um ein judäisches Landstädtchen, das eine Straße, „die von der Küstenebene auf den Gebirgsrücken hinaufführte“,50 dominierte. In Jos 15,44 wird es zusammen mit Achsib genannt (vgl. V. 14b). Im Rahmen der judäischen Verteidigungsanstrengungen wurde wohl auch dieser Ort befestigt,51 wovon 17 dort gefundene lmlk-Stempel zeugen,52 die auf eine Proviantierung einer dortigen militärischen Einheit verweisen. Mit „bis nach“ greift V. 15bβ ein wichtiges Stichwort aus der Prophetenklage in V. 9 auf.53 Adullam – wahrscheinlich: „abgeschlossener Ort“ (von akk. edēlu?)54 – lag ebenfalls im judäischen Hügelland, nordöstlich von Lachisch, und wird gewöhnlich mit cḫirbeth es-sēḥ maḏkūr identifiziert.55 Bereits in Jos 12,15 als Stadt eines kaananäischen Königs erwähnt, wurden die „Höhlen von Adullam“ in 1 Sam 22,1 zum Zufluchtsort Davids, wohin er sich mit einer Schar Outlaws auf der Flucht vor Saul zurückzog. Somit steht Adullam für 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

RUDOLPH, Micha, 48. MAYS, Micah, 59. LOHFINK, Art. ‫שׁ‬ jāraš: ThWAT III, 958f. HAL II, 596. RUDOLPH, Micha, 48; zur Identifikation, Geschichte und Erforschung des Ortes ausführlich LUX, Micah I:8–16, 182–190. KEEL, Orte 2, 855. Angeblich bereits durch Rehabeam, vgl. 2 Chr 11,8. KEEL, Orte 2, 858 (s. o.). JEREMIAs, Micha, 143. HAL III, 748. WOLFF, Micha, 33; zur Identifikation, Geschichte und Erforschung des Ortes, vgl. LUX, Micah I:8–16, 190–202.

Synchrone Analyse

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den Tiefpunkt des Lebens Davids schlechthin, da dort zunächst jede Hoffnung auf das Königtum zu zerbrechen schien. Offensichtlich wird nun auf diese Episode angespielt, sodass mit dem Bringen der „Herrlichkeit Israels“ nach Adullam der Niedergang des Königtums Israels und Judas, vor allem der davidischen Dynastie, quasi sprichwörtlich zum Ausdruck gebracht wird.56 Zugleich wird ein Rückbezug zu V. 10 hergestellt, insofern ebenfalls Rekurs auf ein katastrophales Ereignis der frühen Königszeit Bezug genommen wird57 und damit ein Rahmen um Vv. 10–15 gelegt. „Herrlichkeit Israels“ ist dabei eine Art Oberbegriff für die Macht, den Reichtum und die Ehre58 des Gottesvolkes (vgl. Jes 10,3; 17,3f.). Somit werden in V. 15 zwei wichtige Gaben bzw. Institutionen Israels anhand der beiden Schefelastädte Marescha und Adullam in Frage gestellt: der Besitz des Landes und der Bestand des Königtums. Dass dies im Rahmen einer direkten JHWH-Rede geschieht, ist wohl als ausdrückliche Revozierung der Verheißungen JHWHs zu verstehen.59 Die beiden Imperative fem. sing. in V. 16aα legen zusammen mit „deiner Won- V. 16: Aufruf ne“ (ePP 2. Pers. fem. sing.) als Adressatin eine weibliche Größe nahe. Entspre- zur Trauer chend dem Kontext kann es sich dabei nur um eine Stadt oder eine Ortschaft handeln.60 Anders hingegen G, die durch τῆς θυγατρὸς Ισραηλ „der Tochter Israel“ in V. 15bfin diese als Adressatin der Imperative in V. 16 einführt.61 Zwei Städte kommen dafür in Frage: Zum einen Lachisch, das bereits in Vv. 13a/14a direkt angesprochen wurde (‫י‬), zum anderen Jerusalem (so etwa die Deutung der EÜ).62 Im letzteren Fall würde sich eine Beziehung zu V. 9 ergeben, in dem von einer Wunde die Rede ist, die bis nach Jerusalem reicht. Dementsprechend wäre die Aufforderung, Trauerriten zu vollziehen, als diesbezügliche Reaktion Jerusalems zu verstehen. Die Trauerriten wären damit eine Art Fortsetzung und Übernahme der Trauerriten des Propheten in V. 8. Für eine solche Verbindung könnte auch die Analogie in der Verwendung von Tiermetaphorik63 sprechen. Allerdings

56 57 58 59 60

61 62

63

WOLFF, Micha, 33; KEEL, Orte 2, 848. WALTKE, Micah, 85; KESSLER, Micha, 109. MAYS, Micah, 59. Diese ist deswegen durchaus am Platz! Gegen RUDOLPH, Micha, 37, Anm. 15, der meint, JHWH-Rede sei hier nicht am Platz. KESSLER denkt an eine „kollektive Wiederaufnahme der vielfach genannten ‚Bewohnerschaft‘ einzelner Orte“ oder „das Kollektiv der Bewohnerschaft von Juda“, Micha, 110; so bereits WOLFF, Micha, 34. Eine vergleichbare imperativische Aufforderung ergeht jedoch im gesamten näheren Kontext nur an Lachisch und weist damit auf eine einzelne Stadt hin. WALTKE, Micah, 85. So bereits MAYS, Micah, 60; JEREMIAS, Micha, 144, interpretiert den Vers folgendermaßen: Da nun Jerusalem seiner es vor einem Angriff bewahrenden Festungsstädte beraubt sei, ist sein eigener Fall nur eine Frage der Zeit. Die Nichterwähnung Zions sucht Jeremias damit zu erklären, „dass der Leser auf diese Weise genötigt werden soll, den doppelten fem. Imp. von V. 16a mit den doppelten fem. Imp.en von 4,10 und 4,13 in Zusammenhang zu bringen, wo die ‚Tochter Zion‘ nun feierlich angeredet wird, ihr Unglück aber mit ihrem endzeitlichen Heil verbunden wird.“ Dass es sich bei den „Kindern der Wonne“ um die Töchterstädte Zions handelt (so MAYS, ebenda), ist eher unwahrscheinlich, werden doch diese sonst klar als weibliche Größen herausgestellt, vgl. V. 14. So bereits die Beobachtung von WOLFF, Micha, 34.

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Mi 1,10–16

wird als Grund der Trauerriten eben nicht jene in V. 9 erwähnte Wunde, sondern die Exilierung der Kinder genannt. Dies würde eher für Lachisch sprechen, hinsichtlich dessen bereits in V. 14 im Zusammenhang mit einer imperativischen Aufforderung von einer verwandtschaftlichen Beziehung zu einer (Tochter-)stadt die Rede war. Tatsächlich ergibt sich hier ein inhaltlicher Duktus in etwa dieser Abfolge: V. 13: Aufforderung zur Flucht aus Lachisch, Vv. 14f.: Abgabe der Nachbarstädte von Lachisch und seiner Macht, V. 16: Exilierung der Bevölkerung von Lachisch. Vermutlich ist die Lösung des Problems der Identität der Adressatin in der Entstehungsgeschichte von Mi 1 zu suchen. Aufgrund der aufgewiesenen Beziehung zu Vv. 13a/14a dürfte es in V. 16a ursprünglich um Lachisch gehen. Erst durch die nachträgliche Einfügung von V. 8aβ.9 (und 13b) (s. u.) bildet V. 16 zusammen mit V. 8aβ und V. 9 (Jerusalembezug) einen Rahmen um Vv. 8–16,64 sodass nun Zion zur Adressatin in V. 16 wird. Beim Scheren einer Glatze (als Rund- oder Stirnglatze)65 bzw. dem Abschneiden (der Haare) handelt es sich um einen Trauerbrauch, der entsprechend Dtn 14,1 für Tote (Ijob 1,20) oder angesichts der Verwüstung eines Landes oder einer Stadt vollzogen wurde. Solche Riten dienten als Ausdruck der Umkehr und Selbstdemütigung, um Gott milde zu stimmen.66 „Kinder“ (wörtl. Söhne) in V. 16aβ macht deutlich, dass es sich hier nicht um „Tochterstädte“ von Lachisch bzw. Jerusalem handeln kann, sondern um dessen Bevölkerung (vgl. Jes 54,1). Dass Kinder Inbegriff der Lebenserfüllung, des Lebensglücks und der Zukunftshoffnung und nicht zuletzt eigentlicher Inhalt damaliger weiblicher „Selbstverwirklichung“ waren, belegt eindrücklich z. B. 1 Sam 1,11. In V. 16bα geht es um eine Intensivierung des Trauerritus,67 indem entsprechend Mi 1,8 ein weiterer Tiervergleich in Gestalt der eigenartigen Kahlheit (Kopf und Hals) des Geiers herangezogen wird. Vermutlich handelt es sich um den Gänsegeier „mit fast 3 m Flügelspannweite und fahlbraunem Gefieder“.68 Die hebr. Wurzel ‫„ גלה‬in Gefangenschaft gehen“ lässt an ein Exilierungsgeschehen denken (vgl. Am 1,5; 5,5; 6,7). Bezieht sich das Wort, wie zu vermuten ist, ursprünglich auf Lachisch, so ist der Hintergrund die Eroberung dieser starken Festungsstadt und die Exilierung seiner Bevölkerung, die auf dem Relief des Süd-West-Palastes Sanheribs im Britischen Museum eindrucksvoll dargestellt ist. Im heutigen Bezugszusammenhang von V. 16 hingegen geht es hier wohl um die Eroberung Jerusalems und der Exilierung von Teilen seiner Bevölkerung 586 v. Chr.

Diachrone Analyse Das Städtegedicht in Mi 1,10–16* dürfte den Grundbestand von Mi 1,1–16 bilden. Dieses beschreibt einen assyrischen Vorstoß ins Hügelland Judäas - wahrscheinlich 64 65 66 67 68

METZNER, Micha, 64: „…, beide (Verse) fungieren praktisch als Klammer.“ BOTTERWECK, Art. ‫ַלּח‬ gillaḥ: ThWAT II, 10. BOTTERWECK, Art. ‫ַלּח‬ gillaḥ: ThWAT II, 12. WOLFF, Micha, 34. KRONHOLN, Art. ‫ר‬ næšær: ThWAT V, 683.

Synthese zu Mi 1

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im Zusammenhang mit der Eroberung von Lachisch durch Sanherib 701 v. Chr. -, der sich in der unmittelbaren Umgebung des Heimatortes Michas vollzog. Ein Bezug zu Jerusalem wurde wohl erst durch die Einfügungen von Mi 1,12 und 13b hergestellt, die auf dieselbe redaktionelle Ebene wie Micha 1,1.3–7.8aβ.9 zu setzen sind (s. o.). V. 12b setzt dabei bereits die in V 3 beschriebene und sich in V 4 bzw. V 6 fortsetzende Abwärtsbewegung voraus, die zunächst nur Samaria betrifft, in V 9 aber bis an das Tor des Volkes JHWHs bzw. Jerusalems reicht und ihr Ziel in V. 12b findet, indem nun das Unheil auch auf das Tor Jerusalems von JHWH herabkam. Die gleichzeitige durch den Ortsnamen „Marot“, in dem man einen Anklang an „widerspenstig sein“ hören kann, bewirkte Assoziation zu Jes 1,20 spricht dafür, dass V. 12 insgesamt69 zusammen mit den genannten Versen eingefügt wurde.70 Ziel dieser Einfügung ist es offensichtlich, das Fortschreiten des Samaria betreffenden Gerichts festzustellen, welches nun auch Jerusalem erfasst hat. Der Vers steht damit redaktionsgeschichtlich in Zusammenhang mit jener Fortschreibung in Mi 1,3–9*, die die Michaschrift mit der vorausgehenden Gerichtsverkündigung Hoseas und Amos verknüpft (s. o.). Die oben beschriebenen Verbindungslinien von V. 13b in die Michaschrift und darüber hinaus sowie semantische Besonderheiten, wie etwa die Rede von der „Tochter Zion“, lassen V 13b als nachträgliche Ergänzung erkennen, die insbesondere mit V. 9 und V. 5 in Beziehung steht und daher derselben redaktionellen Bearbeitung zuzuweisen ist (s. o.). Es ergibt sich somit folgende redaktionsgeschichtliche Abfolge: Eine wohl aus einer Bedrohungssituation Judas (Sanheribfeldzug) stammende Städteliste71 in Mi 1,8.10–16*, die sich mit dem Namen eines Propheten Micha verbindet, wurde durch eine wohl aus nachexilischer Zeit stammende Bearbeitung mit den entstehenden Hosea- und Amosschriften verbunden, um das Gericht über Samaria (und das Nordreich) bis nach Jerusalem weiterzuführen (Mi 1,1.3– 7.8aβ.12.13b).

Synthese zu Mi 1 Das Eingangskapitel der Michaschrift verbindet diese in verschiedener Weise mit ihrem heutigen Kontext im Zwölfprophetenbuch. Ausgehend von einem Kernbestand, der sich wohl auf die Verkündigung des historischen Propheten Micha im letzten Drittel des 8. Jh. v. Chr. zurückführen lässt, wird dieser in einen Textzusammenhang integriert, der das in der Hosea- und Amosschrift über das Nordreich hereinbrechende Gericht nun auch auf Zion ausdehnt. Dabei „schleicht“ sich das 69 Aufgrund der Assonanz zwischen Marot (V. 12a) und jarad (V. 12b) sowie des Gegenübers von „Gut“ (V. 12a) und „Böse“ (V. 12b) ist es eher unwahrscheinlich, lediglich V. 12b als Ergänzung zu sehen, gegen SCHART, Entstehung, 182. 70 Ähnlich bereits SCHART, Entstehung, 183. 71 Jüngst hat auch CORZILIUS, Rätsel, 151, das „Schefela-Städte-Gedicht“, allerdings nur im Umfang von Mi 1,11–15*, als „Kristallisationskern von Mi 1“ bezeichnet und es ebenfalls aus dem 8. Jh. v. Chr. zu verstehen gesucht.

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Mi 1,10–16

Unheil ausgehend von Samaria über die Städte des Hügellandes namentlich deren Hauptmetropole Lachisch bis nach Jerusalem, dessen Bevölkerung schließlich ebenfalls exiliert wird. Damit wird ein Gesamtbild entworfen, welches ein umfassendes Gericht JHWHs zeichnet, von dem Nord- und Südreich Israels gleichermaßen betroffen sind. Genannt werden zugleich die Gründe dieses Gerichts, die hinsichtlich Samarias in heterodoxen Kulten bestehen, deren Ausweis die Kulthöhen sind. Zu diesen zählt auch der Zion, allerdings nicht aufgrund verfehlten Kultes, sondern vielmehr vor allem aufgrund sozialer Missstände. Diese entfalten dann im Besonderen die beiden Folgekapitel Mi 2 und Mi 3. Mi 1 ist also Ankündigung jenes entsprechend Hosea und Amos zunächst über Israel und nun gleichermaßen über Juda ergangenen Gerichtes JHWHs, dessen Verwirklichung wohl in den Ereignissen von 586 v. Chr. gesehen wurde. Das Kapitel ist demnach in seiner heutigen Form ein vaticinium ex eventu, ein in das 8. Jh. datierte Prophetenwort, das als theologische Aufarbeitung jedoch erst in nachexilischer Zeit komponiert wurde und zwar wohl im Zusammenhang eines Mehrprophetenbuches. Der (literarische) Micha dieser Komposition erweist sich somit als Zeitgenosse des Hosea und Nachfolger des Amos und zugleich als Zeitgenosse Jesajas mit einer ähnlichen Botschaft wie diese beiden Propheten, nun jedoch für das Südreich. Es findet sich damit bereits hier die Tendenz einer Vereinheitlichung der Prophetie, wie sie sich auch anderweitig in der hebräischen Bibel widerspiegelt (ausdrücklich dann in Lk 24,27). Mehr und mehr tritt dabei der individuelle Charakter des jeweiligen Propheten zurück, sodass Propheten nurmehr als Sprachrohre der einen Botschaft JHWHs in unterschiedlichen Zeiten fungieren. Diese Tendenz bestätigt sich dann vor allem auch in den folgenden Kapiteln der Michaschrift (s. u.). Eine redaktionelle Erweiterung erfuhr Mi 1 durch kurze Ergänzungen, die das Gerichtsgeschehen nun in einen universalen Zusammenhang stellen. Das Gericht über Israel betrifft jetzt auch die Völker, die hier vor eine grundlegende Entscheidung gestellt werden, zu hören, sich das Gericht zu Herzen zu nehmen oder sich diesem zu verschließen. Welche Folgen dies für die Völker hat, entwickeln dann Mi 4–7, für das somit Mi 1 ebenfalls als Exposition dient. Diese Ergänzung ist dabei wohl im Zusammenhang mit der Einfügung der Jona- und Nahumschrift in das werdende Zwölfprophetenbuch zu sehen. Theologisch gewichtig daran ist, dass das Handeln JHWHs an Israel nun universale Bedeutung gewinnt und dabei auch die Völkerwelt vor eine grundlegende Entscheidung für oder gegen JHWH gestellt wird. Das Zwölfprophetenbuch erfährt damit an zentraler Stelle eine theologische Weitung, wie sie sowohl im letzten Teil des Jesajabuches wie am Ende des Zwölfprophetenbuches festzustellen ist. Dies wiederum verweist bereits in die frühhellenistische Zeit und damit in die Zeit, in der das Zwölfprophetenbuch seine endredaktionelle Bearbeitung erfuhr. Für diese Datierung spricht nicht zuletzt die kurze Einfügung in Mi 1,6aβ, die zusammen mit Mi 7,11 einen Gegensatz zwischen Jerusalem und Samaria entwickelt, bei dem Jerusalem auf Kosten Samarias profitiert und damit wahrscheinlich Zeugnis vom Kampf beider Städte um die Vorherrschaft im judäisch-samaritanischen Gebirge im 3. Jh. v. Chr. gibt. Diese dreistufige Entstehung von Mi 1 im Kontext des werdenden Zwölfprophetenbuches legt damit – ausgehend von der Aufarbeitung der exilischen Ereignisse – den Grundstein für das Selbstverständnis Zions als durch das Gericht JHWHs geheiligte Stadt inmitten der Völkerwelt.

Mi 2,1–5: Die Machenschaften der Oberschicht und die Folgen 2,1 Wehea: Die Unrecht ersinnenb und die Täterbc von Bösem auf ihren Lagern. Beim Licht des Morgens werden sie es ausführen, denn es stehtd in ihrer Hand. 2 Und sie begehrena Felder und raubenb (sie) und Häuser und nehmen (sie) wegc, und sie bedrückenc einen Mann und sein Haus und einen Menschen und sein Erbteil. 3 Darum, so hat JHWH gesprochen, „Siehe, ich ersinne wider diese Sippe Böses, sodass ihr von dort eure Hälse nicht entfernen, und nicht erhaben gehen werdet, denn eine böse Zeit ist es.“ 4 An jenem Tag erhebt man gegen euch ein Spottlied und man wehklagt eine klägliche Wehklagea. Man sagt: „Verheert, ja verheert sind wir.“ Den Anteil meines Volkes wird man eintauschenb Wiec wird man mich entfernen! Zur Vergeltung/dem Abtrünnigend wird man unsere Felder verteilen. 5 Darum wirst dua keinen haben, der die Schnur wirft beim Losen in der Versammlung JHWHs.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1a Anstelle des Weherufs ‫ הוי‬in V. 1aα setzt G mit ἐγένοντο offensichtlich ein ‫„ היו‬sie waren“ und damit eine Metathesis von ‫ י‬und ‫ ו‬voraus. Damit wiederum wird zum einen der Weheruf getilgt, zum anderen „die präteritale Zeitstufe des letzten Satzes von Mi 1,16 (…) nach 2,1f.“1 eingetragen. „Sinnsubjekte der LXX-Fassung von Mi 2,1ff sind somit die judäischen Städte und deren Bewohner, insbesondere Lachisch.“2 1b Die Partizipialformen, die in MT das Sinnen und Tun der Beklagten quasi wie eine Eigenschaft beschreiben, werden in G zu einem vergangenen Geschehen: „sie waren Planende von beschwerlichen (Dingen) und böse (Dinge) Tuende“ ἐγένοντο λογιζόμενοι κόπους καὶ ἐργαζόμενοι κακὰ. 1c Inhaltliche Probleme bereitet die partizipiale Konstruktion „die Böses tun“ ‫ע‬ ‫י‬‫וּ‬, da sie in scheinbarem Gegensatz zu der in V. 1bα beschriebenen Ausführung beim „Licht 1 2

UTZSCHNEIDER, Augenhöhe, 158. UTZSCHNEIDER, Augenhöhe, 158.

66

1d

2a 2b 2c 4a

4b 4c 4d 5a

Mi 2,1–5 des Morgens“ steht. So schlägt BHS vor, ein Nomen ‫ל‬‫ ו‬/ ‫י‬‫ֳע‬‫ ו‬zu lesen,3 das dann als zweites Objekt neben ‫ן‬ fungiert: „(den Ersinnenden von Unrecht) und böser Tat (oder: Taten des Bösen)“. In V. 1bβ hat G wohl die geprägte Wendung in der hebräischen Vorlage nicht mehr verstanden und liest anstelle von ‫שׁ‬ ein ‫ֺש ְאוּ‬ „sie erheben“, ergänzt ein ‫ ל‬und bezieht ‫ל‬ auf Gott: „denn sie erhoben nicht zu Gott ihrer Hände“ οὐκ ἦραν πρὸς τὸν θεὸν τὰς χεῖρας αὐτῶν (vgl. S). G spricht auch hier von Vergangenem:4 ἐπεθύμουν. Außerdem ergänzt sie in V. 2aα ein Objekt „(und beraubten) Waise“5 (καὶ διήρπαζον) ὀρφανοὺς. In V. 2aβ und 2bα vertauscht G die Verben: „und sie unterdrückten Häuser und plünderten einen Mann und sein Haus“ καὶ οἴκους κατεδυνάστευον καὶ διήρπαζον ἄνδρα καὶ τὸν οἶκον αὐτου.6 Die Bedeutung von ‫ה‬ ist unklar.7 Dabei scheint es sich um ein Derivat der zuvor bereits zweimal verwendeten Wurzel ‫„ נהה‬wehklagen“ zu handeln.8 Möglicherweise liegt eine Nebenform zu ‫י‬ „Wehklage“ vor, sodass die Genitivverbindung im Sinne eines Superlativs zu verstehen ist:9 „klägliche Wehklage“. G übersetzt stattdessen ἐν μέλει „in einem Stück (Musikstück?)“,10 hat also wohl ‫ נתח‬gelesen.11 Die Verbform in V. 4bβ „wird man eintauschen“ gibt G passivisch wieder: „(der Anteil meines Volkes) wird vermessen“ κατεμετρήθη (wohl ‫ד‬ anstelle von ‫יר‬) und ergänzt „mit der Schnur“ ἐν σχοινίῳ (vgl. S). In V. 4cα weicht G deutlich vom hebräischen Text ab: „Und da ist keiner, der ihn/es daran hinderte“ καὶ οὐκ ἦν ὁ κωλύσων αὐτὸν (wohl: ‫)ואין משׁיב לו‬. ‫ב‬‫שׁוֹ‬ kann als Infinitiv pil. „zur Vergeltung“ oder als Adjektiv „dem Abtrünnigen“ verstanden werden. G liest einen in Abhängigkeit von V. 4cα stehenden Infinitiv: „zurückzukehren“ τοῦ ἀποστρέψαι. Die Anrede in 2. Pers. sing. masc.  erklärt BHS12 als Haplographie eines ursprünglichen ‫„ לכם משׁליך‬werdet ihr (keinen) haben, der (die Schnur) wirft“.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Mit V. 1 beginnt ein neuer thematischer Abschnitt. Durch die Interjektion „Wehe“, die zur Gattung des Leichenliedes zählt (s. u.), wird jedoch auch hier die vorausge3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

So bereits RUDOLPH, Micha, 51, Anm.1. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2369. Möglicherweise geschieht dies unter Bezug auf Ijob 24,9, so WALTKE, Micah, 95. Nach SMITH, Micah, 54, wurde diese Vertauschung von G bewusst vorgenommen, um eine direkte Wiederholung von διήρπαζον zu vermeiden. Häufig wird es als Dittographie betrachtet und gestrichen, so etwa RENAUD, Michée, 68. HAL III, 638. So RUDOLPH, Micha, 52. LXX.D: „Lied“. So UTZSCHNEIDER, Michaias, 2369. Vgl. auch RUDOLPH, Micha, 53.

Synchrone Analyse

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hende Trauerthematik aufgenommen, sodass sich der Abschnitt an den vom Propheten in Mi 1,16 geforderten Trauerritus anschließt.13 Aufgrund der pluralischen Formulierung könnte man deshalb in den Beklagten jene in Mi 1,16 genannten deportierten Kinder sehen, die nun näher spezifiziert werden. Gleichzeitig werden die bisher im Verborgenen gebliebenen Gründe für deren „Fortgehen“ entfaltet. Dafür, dass es hier um die Kinder Jerusalems geht, spricht nicht zuletzt, dass der Abschnitt durch das Stichwort „Böses“ (V. 3), welches JHWH gegen „diese Sippe“ ersinnt, mit Mi 1,12b verknüpft ist, wo von JHWH „Böses“ i.S. von „Unheil“ auf die Tore Jerusalems herabkam. Den Grund dafür entfalten dann die Vv. 1-3.14 Über den näheren Kontext hinaus lassen sich auch hier auffällige Beziehungen in das Zwölfprophetenbuch und das Jesajabuch feststellen. So erinnert das „Begehren von Feldern“ und das „Rauben von Häusern“ in V. 2 an Jes 5,8, zumal der Vorwurf auch dort in die Form eines Weherufes gekleidet ist: „Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht, und Feld an Feld fügt…“. Die Schlussformulierung in V. 3dβ „denn es ist eine böse Zeit“ findet sich bereits in Am 5,13b und zwar ebenfalls in Zusammenhang mit den unheilvollen Taten der Reichen.

Textinterne Aussagegestalt Mi 2,1–5 lässt sich folgendermaßen gliedern: Vv. 1–2 sind als Weheruf gestaltet, an den sich in V. 3 ein Drohwort anschließt. Es richtet sich gegen die Oberschicht Jerusalems, die sich skrupellos das Eigentum der vormals unabhängigen Kleinbauern aneignet. Eine Rahmung um diese drei Verse wird durch die Wortverbindung „Unrecht“/„Böses ersinnen“ ‫ן‬‫י־‬ (V. 1) bzw. ‫ה‬ […] ‫ב‬ (V. 3) erreicht. V. 4 zitiert in merkwürdiger Ambivalenz ein Spottlied über die in V. 3 Bestraften, das sich zu einer allgemeinen Wehklage ausweitet, in die zunächst der Prophet (vgl. Mi 1,8) und schließlich das ganze Volk einstimmen. In V. 5 weitet sich der Blick auf die Zukunft. Einer mit „Du“ bezeichneten Gruppe – vermutlich jene in Vv. 1–3 Gescholtenen, die in V. 3 als „diese Sippe“ singularisch zusammengefasst werden – wird die Zuteilung von Land auch künftig verwehrt bleiben. Ausgehend von einem Gerichtswort über die verbrecherische Oberschicht Judas (Vv. 1–3) wird deutlich, dass sich die Folgen nicht auf diese begrenzen lassen, sondern ganz Israel in den Sog des von der Oberschicht verursachten gesellschaftlichen Chaos mit hineingezogen wird. Das Rauben der Felder und Häuser seitens ruchloser Angehöriger der Oberschicht führt zum Verteilen der Felder Israels an Fremde (V. 4). Demgegenüber deutet sich in V. 5 eine künftige Neuverteilung des Landes an, von der allerdings ein Teil Israels, offensichtlich jene in V. 3 vom Unheil JHWH betroffene Sippe, ausgeschlossen bleibt. So leiden zwar alle unter dem üblen Handeln der Oberschicht, nur diese jedoch wird dauerhaft bestraft.

13 So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 55. 14 So bereits KESSLER, Micha, 118: „Was dort noch rätselhaft bleiben mußte, warum nämlich Unheil von Gott herabfährt (so V. 12b, Anm. v. mir), erfährt jetzt eine erste Erhellung. Die Mächtigen tun Böses (‫)רע‬, sie machen damit die Zeit zur bösen Zeit (‫)עת רעה‬, deshalb trifft sie Unheil (‫ )רעה‬von Gott.“

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Mi 2,1–5

Einzelauslegung Vv. 1f.: Weheruf gegen die skrupellose Oberschicht Jerusalems V. 1: Leichenlied

Mittels des V. 1 einleitenden „Wehrufes“ wurde der Verstorbene im Rahmen eines Leichenliedes betrauert. Dabei stellt das „Wehe“ keine Bedrohung des Genannten dar, sondern ist vielmehr äußerer Ausdruck des Schmerzes und der Trauer angesichts der durch den Tod eines nahestehenden Menschen dramatisch veränderten Situation. So verband sich dieses „Wehe“ nicht zuletzt mit der Bezeichnung des Verstorbenen, z. B. in Form des Verwandtschaftsgrades,15 vgl. 1 Kön 13,30. An dessen Stelle sind nun in V. 1 die beiden Partizipialkonstruktionen getreten, die die vermeintlich zu Betrauernden als durchtriebene Bösewichte charakterisieren, deren Planen und Handeln auf Unrecht zielt. Insofern beabsichtigt der in der Rolle eines Trauernden stilisierte Prophet einen doppelten Verfremdungseffekt. Zum einen richtet sich seine Klage offensichtlich auf noch sehr lebendige Menschen, wenn diese am Morgen – im Unterschied zu Toten auf ihrer Bahre (!) – ohne Verzögerung von ihrem Bett aufspringen, um Böses zu tun. Dabei ist jedoch ihr Verhalten derart verwerflich, dass sie sich vor dem Hintergrund des weisheitlichen Grundsatzes von der Entsprechung von Tat und Folge (sog. „Tun-Ergehen-Zusammenhang“) bereits im Bereich des Todes befinden, sodass mit ihrem sicheren Ableben in Kürze zu rechnen ist.16 Zum anderen – und das ist der zweite, meistens nicht beachtete Verfremdungseffekt – besteht angesichts der Charakterisierung der Beklagten eigentlich überhaupt kein Grund zur Trauer, denn der Tod solch abgrundtief böser Menschen ist eigentlich eher ein Grund zur Freude: Man beklagt den Tod eines nahen Angehörigen, aber nicht den einer Person, die Unrecht ersinnt. Insofern finden sich in der Klage des Propheten durchaus ironische Züge, die entfernt an das hämische Spottlied über den Sturz des Tyrannen in Jes 14,4ff. erinnern.17 Die Partizipialverbindung „Ersinnende von Unrecht“ ist gegenüber den „Tätern von Bösem“18 singulär. In beiden Fällen handelt es sich um Menschen, denen das Ersinnen bzw. Tun von Unrecht gleichsam zur Wesenseigenschaft geworden ist.19 In den Partizipialkonstruktionen liegt deshalb trotz semantischer Entsprechung ein deutlicher Unterschied zu Ps 36,5, wo es zu einer der Untaten des Frevlers gehört, Unrecht auf seinem Lager zu ersinnen und zwar im Sinne eines aktuellen Tuns. „Ersinnen“ beinhaltet „die Vorstellung des technisch-rational kalkulierenden Rechnens“,20 ‫„ און‬Unrecht“ die durch den Übeltäter zum Schaden anderer ausgeübte Täuschung. Nicht zuletzt spielt dabei der Machtmissbrauch eine gewichtige Rolle.21 So wird bereits anhand der Semantik deutlich, dass es sich bei den Beklagten um höhergestellte Persönlichkeiten handeln muss, die ihre 15 UTZSCHNEIDER, Micha, 55: „In V. 1 ist diese Struktur insofern vorhanden, als an den Trauerruf ‚Wehe!‘ zwei Personenbezeichnungen anschließen, die die ‚Verstorbenen‘ bezeichnen und charakterisieren“. 16 Vgl. UTZSCHNEIDER, Micha, 56: „Diese Verfremdung, durch die Lebendige wie Tote beklagt und angeklagt werden, stellt das keimhaft Tödliche des Handelns der Übeltäter vor Augen: Indem sie so handeln, sind sie so gut wie tot.“ 17 Möglicherweise hat diese Ähnlichkeit auch die Einfügung von Vv. 4f. und deren Charakterisierung als Spottlied motiviert. 18 Vgl. z. B. Ps 5,6; 6,9; zur Verbindung von ‫ פעל‬und ‫ און‬vgl. Ps 119,3; Ijob 34,32. 19 Vgl. eine ähnliche Konstruktion in Mi 3,2a! 20 SEYBOLD, Art. ‫ב‬‫ ׇח‬ḥāšaḇ: ThWAT III, 247. 21 BERNHARDT, Art. ‫ן‬, ‫ן‬ ‫י‬: ThWAT I, 155.

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Stellung skrupellos zum Nachteil anderer ausnutzen. Wie „tun“ die Vollendung von „ersinnen“ in die konkrete Umsetzung hinein ist, so scheint „Böses“ eine gegenüber „Unrecht“ stärkere ethische Wertung zu beinhalten. Vor dem Hintergrund der Partizipialkonstruktionen ist dann die Ortsangabe „auf ihren Betten“ nicht, wie meistens vertreten, als konkreter Ort des Ersinnens und des Tuns zu verstehen, sondern lediglich als ein durch die Nacht erzwungener bequemer Ruheort (vgl. Am 3,12) der so Bezeichneten, von dem sie sich am Morgen erheben, um beim ersten Licht aktiv zu werden. Der zwischen V. 1a und V. 1b bestehende Kontrast ist also der zwischen einer durch die Nacht zur Untätigkeit verdammten Ruhe der Genannten und der beim ersten Morgenlicht vollzogenen Aktualisierung ihrer Wesenseigenschaft. Unter ‫ בקר‬ist der Tagesanbruch zu verstehen, „also der Moment, wo nicht mehr die Finsternis herrscht und auch nicht die Dämmerung […], sondern das Licht.“22 Da der Morgen die mit chaotischen Konnotationen verbundene Nacht beendet,23 ist der Zeitpunkt des Morgens nicht zuletzt Inbegriff der Etablierung des Kosmos (vgl. Gen 1,3; Ijob 38,12f.). Insofern die „Täter von Bösem“ nun gerade zu diesem Zeitpunkt ihr böses Werk tun, verstoßen sie in massiver Weise gegen die von JHWH grundgelegte Schöpfungsordnung.24 In der mittels einer geprägten Formulierung ausgeführten Begründung25 in V. 1bβ lässt die Formulierung „zur Macht“ ‫ל‬ („es steht [in ihrer Hand]“) die Assoziation „zu Gott“ ‫ל‬ zu, sodass die Vorstellung mitschwingt, jene Übeltäter würden sich in ihrem Tun Gott gleichstellen (vgl. Jes 14,13f.). Demnach ist „den Tätern ihre Macht einzige Norm des Handelns“ 26. Dies wiederum führt die durch die Zeitangabe in V. 1bα bedingte Aussage fort, wonach die Täter sich wie Chaosgottheiten im altorientalischen Umfeld als Störer der Schöpfungsordnung gerieren. Eine abweichende Interpretation in G Nach G werden die Genannten nicht nur als durch und durch Verderbliches Ersinnende und Böses Tuende beschrieben, sondern auch als Menschen, die sich überheblich zu keiner Gottesverehrung bereitfinden.

Der Verbform „und sie begehren“ im ersten Teils von V. 2aα, die wohl auch im V. 2 ersten Teil von V. 2aβ vorausgesetzt wird („und [sie begehren] Häuser“), entsprechen zwei Verbformen, die das „begehren“ jeweils in die Tat einmünden lassen. Insofern entspricht V. 2a strukturell und inhaltlich der Abfolge der beiden Partizipialformen in V. 1a, wo ebenfalls einer intentionalen Haltung „Ersinnenden von Unrecht“ eine Umsetzung in die Tat „Täter von Bösem“ folgt. Während es sich jedoch in V. 1a um quasi Eigenschaften der dort Beklagten handelt, werden diese durch die finiten Verbformen nun aktualisiert.27 Dabei werden die beiden Objekte 22 BERGMANN/RINGGREN/BARTH, Art. ‫ר‬: ThWAT I, 748. 23 Vgl. z. B. Ps 104,20f., wo die Nacht als Herrschaftsbereich der der chaotischen Gegenwelt zugewiesenen wilden Tiere betrachtet wird, während der Mensch am Morgen seine den Kosmos etablierende Arbeit aufnimmt. 24 Dagegen Ps 104,23; vgl. KESSLER, Micha, 115: „Wenn nun in Mi 2,1 die Übeltäter ‚beim Morgenlicht‘ ihre Pläne ausführen, dann setzen sie damit die göttliche Ordnung der Welt außer Kraft […]. Die Gewalttäter setzen sich an die Stelle Gottes.“ 25 Vgl. Gen 31,29; Dtn 28,32; Spr 3,27; Neh 5,5. 26 Vgl. JEREMIAS, Micha, 148. 27 Vgl. MAYS, Micah, 63: „Verse 2 moves from a general characterization of conduct to a specific stipulation of deeds.“

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„Felder“ und „Häuser“ als Merismus, der den Besitz eines Mannes als Ganzes umschreibt (vgl. die auffällige Entsprechung zu Jes 5,8!), einer je eigenen Behandlung unterworfen: „Felder“ werden „geraubt“, „Häuser“ werden „weggenommen“. V. 2b weist eine ähnliche Konstruktion auf, insofern auch hier die Verbform „und sie bedrücken“ sich auf zwei Objekte bzw. Objektpaare bezieht. Gegenüber der eher allgemeinen Aussage in V. 2a findet jedoch hier eine Fokussierung statt: Während es in V. 2a um das grundsätzliche Begehren von Häusern und Feldern geht, das in das „Rauben“ und „Nehmen“ einmündet, wird in V. 2b die ad personam gerichtete Machenschaft geschildert, um dieses Ziel zu erreichen. Dementsprechend werden die in V. 2a genannten pluralischen Objekte des Begehrens in singularischer Form, in umgekehrter Reihenfolge28 und in sprachlicher Variation aufgenommen: „sein Haus“ / „sein Erbbesitz“.29 Es wird dadurch klar, dass dem Begehren der Reichen Einzelne zum Opfer fallen: Jeden kann es treffen. „Begehren“ meint „das aktuelle, von der Emotion getriebenes begehrendes Verhalten oder Handeln“.30 Dabei zielt dieses Verhalten auf eine Inbesitznahme hin (vgl. Jos 7,21a), was durch die jeweiligen zweiten Satzteile in V. 2aα und 2aβ deutlich wird. Es wird hier also nicht lediglich eine grundsätzliche Neigung nach Mehrung des eigenen Besitzes verurteilt, sondern ein Verhalten, das ausdrücklich beabsichtigt ist und dazu alle Hebel in Bewegung setzt, das Objekt der Begierde in Besitz zu bekommen (vgl. Ex 20,17). „Felder“, wohl als Überbegriff für Weinberge und Äcker, bezeichnen dabei den Besitzanteil, den jede israelitische Familie am Land hat (vgl. Jos 15-19) und damit die eigentliche Existenzgrundlage der bäuerlichen Familien.31 Entsprechend altisraelitischem Bodenrecht war Land in Israel grundsätzlich unveräußerlich (vgl. 1 Kön 21,3) und konnte allenfalls als Pfand für Kredite dienen. „Felder“ zu „begehren“ heißt demnach die herkömmliche Verteilung des Landes, das eigentlich JHWH gehört und auf dem Israel nur als eine Art Pächter lebt (Lev 25,23), aufzulösen und damit in den Kompetenzbereich JHWHs einzugreifen bzw. sich selbst den Besitz des Landes anzumaßen und sich damit im Grunde Gott gleichzustellen (vgl. V. 1bβ!). Daran wiederum knüpft auch „rauben“ an, bei dessen hebräischer Wurzel ‫ גזל‬der Gedanke eines gewaltsamen Entreißens eines Objektes eines rechtmäßigen Eigentümers mitschwingt, womit ebenfalls die vorgegebene Ordnung gestört wird (vgl. V. 1b).32 Dass es dabei nicht beim Entreißen der Felder bleibt, wird aus Mi 3,2 deutlich, wo den Armen sogar die Haut heruntergerissen wird und sie damit vernichtet werden. Bei „Häuser“ geht es um das, was man vielleicht als „Hausstand“ bezeichnen könnte (vgl. Ex 20,17b). Bisweilen wird auch die Familie selbst als „Haus“ eines Menschen bezeichnet. Tatsächlich ist damit zu rechnen, dass in existenziellen Notlagen einzelne Familienmitglieder versklavt werden mussten und dadurch direkt in den Bestand eines Hauses, d. h. die Integri28 JEREMIAS, Micha, 148. 29 Denkbar wäre allerdings auch, dass sich „Erbbesitz“ im Sinne einer Variation auf das vorausgehende „sein Haus“ bezieht, was ich allerdings angesichts der weitgehenden Entsprechung von V. 2a und V. 2b, wobei V. 2a von zwei verschiedenen Objekten ausgeht, für eher unwahrscheinlich halte. 30 WALLIS, Art. ‫ד‬‫ ׇח‬ḥāmaḏ: ThWAT II, 1022. 31 WALTKE, Micah, 95: „śādôt (fields) represent a man’s livelihood and so freedom.“ 32 So bereits KESSLER, Micha, 116: „Es stellt die göttliche Ordnung der Gesellschaft in Frage.“

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tät einer Familie eingegriffen wurde. „Und nehmen weg“ steht in Entsprechung zu „rauben“ in V. 2aα. Die Grundbedeutung von ‫ נשׂא‬ist eigentlich „hochheben“, welches hier eine „semantische Ausdehnung“ erfahren hat33 (vgl. Ri 21,23; 1 Kön 15,22). „Bedrücken“ bezeichnet eine grundsätzlich negativ bewertete Handlung (vgl. Am 3,9),34 bei der es um Erpressung und Ausbeutung geht. Zu denken ist etwa an die Anwendung des harten antiken Pfandrechtes seitens eines Wohlhabenden, um sich bei der Verschuldung eines Bauern dessen Besitz (Haus und Erbteil) auf Dauer anzueignen. ‫ גבר‬bezeichnet gewöhnlich den erwachsenen, verheiratete Mann,35 also jemanden, der einer Familie vorsteht. „Erbteil“ ist ein geprägter Terminus, der einen dauernden Besitzanteil, vor allem an Boden bezeichnet, den ein Israelit im Erbgang durch seine Vorväter überliefert bekam.36 Vor dem Hintergrund von V. 4 könnte hinter der Verwendung des Begriffs bereits die im Deuteronomium explizit formulierte Vorstellung stehen, dass das Erbteil der jedem freien Israeliten von JHWH gewährte Anteil am Verheißungsland ist (vgl. Dtn 6,10.18.23). Wird ihm dieser genommen, verliert er nicht nur seine existenzielle Grundlage, sondern auch den Anteil an dem seitens JHWH Israel übergebenen Heilsgut des Landes und damit alle seine Rechte als freier Israelit.37 Damit aber ist auch der erpresserische Versuch, jemandem seinen Erbteil zu nehmen, ein massiver Eingriff in die von JHWH begründete Heilsordnung.38 Auf das Scheltwort in Vv. 1f., das die Verbrechen einer zunächst nicht direkt angesprochenen, weil entsprechend des Klagerufes eigentlich bereits toten Adressatenschaft (!) benennt,39 folgt ein Drohwort, das durch die Konjunktion „deshalb“ auf das Vorausgehende im Sinne einer Folgerung bezogen ist.40 Eingeleitet wird das Drohwort in V. 3a durch die Botenspruchformel, die es als JHWH-Rede markiert und ihm einen besonderen Nachdruck verleiht. V. 3b benennt das konkrete Vorgehen JHWHs gegen eine, ebenfalls in 3. Pers. sing. gehaltene Adressatenschaft. Dabei ist V. 3b durch das Stichwort „ersinnen“ – wiederum in partizipialer Form41 – mit V. 1aα verbunden, während „Böses“ ein Stichwort aus V. 1aβ aufgreift. Durch die formale Identität wird einerseits deutlich, dass JHWH das in V. 1 beschriebene Verhalten mit gleicher Münze heimzahlt, zum anderen bezieht sich V. 3b durch die Aufnahme von zwei Stichworten aus V. 1aα und 1aβ offenbar auf die im gesamten Vers beschriebenen Verhaltensweisen. Möglicherweise soll in ʿal hamišpāḫāh „gegen (diese) Sippe“ ʿal miškebotām „auf ihren Betten“ in Mi 2,1aβ anklingen.42 Schließlich rahmt das Stichwort „Böses“ V. 3b / „böse“ 33 34 35 36 37 38

39 40 41 42

FREEMAN/ WILLOUGHBY/ FABRY, Art. ‫ ׇנׇשׂא‬nāśāʾ: ThWAT V, 631. Vgl. z. B. Dtn 24,14. KOSMALA, Art. ‫ר‬ּ ‫ֶג‬: ThWAT I, 914. Vgl. THAT II, 56. So MAYS, Micah, 64. So MCKANE, Micah 2, 9: „It appears that the foundations of a society are being shaken, that its structure is disintegrating, that nuclear institutions on which its stability depends, homesteads, families, fields, little communities rooted in the soil, are being swept away by robbery with violence.“ Vgl. auch Spr 14,31; 28,3. Dies dürfte auch der Grund für die von vielen bemängelte, angebliche Inkongruenz zwischen der 3. Pers. sing. in V. 3b und der 2. Pers. pl. in V. 3c.d sein. MAYS, Micah, 64. So bereits WALTKE, Micah, 97: „is deliberately parallel to ḥšb in 2:1“. RUDOLPH, Micha, 54, Anm.7.

V. 3: Ein Drohwort gegen die Oberschicht

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V. 3dβ den ganzen Vers, dessen Zentrum in V. 3c und V. 3dα die Folgen jenes zuvor genannten Ersinnens JHWHs beschreibt. V. 3c spricht nun die bisher nur in dritter Person (pl. bzw. sing.) beschriebene Adressatenschaft direkt an.43 V. 3dα beschreibt die weitere, aus V. 3c resultierende Folgerung. V. 3dβ schließlich bildet die Begründung für die zuvor beschriebenen Lebensminderungen der Adressatenschaft JHWHs, scheint aber syntaktisch nicht recht an das Vorausgehende angeschlossen zu sein (s. u.). Innerhalb der Michaschrift ergreift JHWH nach seiner in Mi 1 beschriebenen Theophanie hier zum ersten Mal ausdrücklich das Wort – gekennzeichnet durch die Botenspruchformel – und kündigt ein direktes Einschreiten gegen die zuvor hinsichtlich ihrer Haltung und Handlung beschriebenen Mächtigen an. Das bereits in V. 1aα verwendete „ersinnen“ bezeichnet wie dort ein kalkuliertes Vorgehen. Auch JHWH wird nun zu einem „Ersinnenden von Bösem“. Hintergrund dürfte der klassische Tun-Ergehen-Zusammenhang als Fundament der Weltordnung sein, zu dessen Garanten und Vollstrecker hier JHWH wird. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist damit nicht lediglich ein abstraktes Prinzip, sondern direkte Leitlinie des Handelns JHWHs, insofern er ihn in Kraft setzt. „Sippe“ bezeichnet grundsätzlich „eine ethnische oder engere menschliche Gemeinschaft“,44 die durch Verwandtschaftsstrukturen verbunden ist. Dabei scheinen im vorliegenden Fall jene zuvor beschriebenen verbrecherischen Verhaltensweisen das eigentliche Bindeglied zu sein,45 sodass nicht an das Volk als Ganzes46 zu denken ist, welches Micha ansonsten mit „mein Volk“ (vgl. Mi 3,3) bezeichnet. Durch das folgende „diese“ wird diese Abgrenzung nur noch unterstrichen, insofern damit ein pejorativer Sinn einfließt: etwa diese „Sippschaft“;47 auch wenn durch ‫ רעה‬eine Stichwortverbindung zu V. 1aβ hergestellt wird, so liegt hier doch eine Bedeutungsverschiebung vor. Den Tätern von Bösem, wobei hier in erster Linie an moralisch verwerfliche Taten zu denken ist, vergilt JHWH mit Bösem, i.S. von Unheil. Die in V. 2b verwendete Metapher, wonach die nun direkt Angesprochenen ihren Hals nicht von dort – gemeint ist wohl das über sie hereingebrochene Unheil – herausziehen werden, erinnert zunächst an ein Joch48 (vgl. Dtn 28,48), das auf dem Hals lastet und nicht abgeworfen werden kann,49 bezeichnet zugleich aber auch die Demütigung (Hals als Symbol des Stolzes, vgl. Hld 1,10; Ri 5,30), die die von JHWHs Gericht Betroffenen erdulden müssen. Auf eine dadurch bedingte gebückte Haltung weist V. 3dα hin: Die Schuldigen werden dasselbe Gefühl der Hilflosigkeit erdulden, das sie

43 Dieser Wechsel wird oft als abrupt empfunden. KESSLER, Micha, 113, hingegen verweist auf verschiedene Übergänge von der 3. zur 2. Person „im alten Michatext“ (z. B. 3,1–4). 44 ZOBEL, Art. ‫ׇפׇּחה‬ mišpāḥāh: ThWAT V, 87. 45 So jüngst auch wieder WÖHRLE, Sammlungen, 147: „‫ משׁפחה‬ist in diesem Zusammenhang keineswegs generalisierend, da hier doch deutlich die Angeredeten im Blick sind.“ 46 MAYS, Micah, 64; neuerdings wieder SCHART, Entstehung, 183, und WALTKE, Micah, 97; nach VERMEYLEN, Isaїe, 579, handelt es sich hier um einen deuteronomisch geprägten Einschub. 47 So RUDOLPH, Micha, 54; eine Beurteilung als nachträgliche Glosse, so bereits Smith, Micah, 58, wird dadurch eher unwahrscheinlich. 48 RUDOLPH, Micha, 54; möglicherweise lässt sich daraus auf eine durch einen Feind bedingte Versklavung schließen (vgl. z. B. Jes 9,3; 10,27; 47,6), MAYS, Micah, 64. 49 HAUSMANN, Art. ‫ ׇוּאר‬ ṣawwāʾr: ThWAT VI, 929.

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anderen zufügten.50 Auffällig ist, dass die formelhafte Feststellung in V. 3dβ noch einmal in Am 5,13b erscheint und zwar ebenfalls im Rahmen eines Scheltwortes gegen die Umtriebe der Reichen. „Böse Zeit“ bezieht sich dort auf die Situation, die dadurch entsteht. Möglicherweise liegt damit in V. 3dβ ein schriftgelehrter Rückbezug auf Am 5,13b vor,51 insofern JHWH die dort durch menschliches Fehlverhalten bewirkte „böse Zeit“ nun ebenfalls mit einer „bösen Zeit“ vergilt, sodass nicht nur ein Tun-Ergehen-Zusammenhang zwischen V. 1 und V. 3, sondern auch zwischen Am 5,13b und Mi 2,3 hergestellt wird.52 Innerhalb der Michaschrift könnte zudem ein Zusammenhang mit Mi 1,12b beabsichtigt sein.53 V. 4a kündigt das Anstimmen eines Spottliedes und das Klagen einer bitteren V. 4: Eine Klage an, die sich gegen die in V. 3 genannten Adressaten des Gerichtes JHWHs bittere Klage richtet. Da die Adressaten offenbar dieselben wie in V. 3d sind und auch kein Sprecherwechsel erkennbar ist, dürfte es sich auch hier um JHWH-Rede handeln.54 V. 4bα ist Zitat jenes in V. 4aβ angekündigten Spottliedes bzw. der Klage, insofern hier eine pluralische Größe „wir“ von einer kompletten Vernichtung spricht. Da auch in V. 4cβ jene pluralische Größe spricht („unsere Felder“), scheint auch dieser Teil zum Spottlied / zur Klage zu gehören. Beide Teile der Klage klammern dabei einen Kern in V. 4bβ und 4cα ein, wo eine Einzelperson, wahrscheinlich der Prophet, spricht („meines Volkes“; „mich“). Dies ist wohl zunächst so zu verstehen, dass sich dieser mit den Klagenden verbindet, vgl. Mi 1,8. Inhaltlich stehen V. 4bβ und V. 4cβ miteinander in Korrespondenz (Stichworte: „Anteil“ und „verteilen“), insofern es zunächst um den Anteil Israels an dem Erdboden geht, so V. 4bβ, der in Gestalt von Feldern nicht an Israel, sondern offensichtlich an Fremde verteilt wird, so V. 4cβ. Dabei klagt zunächst der Prophet, dann das Volk über diesen Vorgang. Stehen beide Stichen dergestalt in Korrespondenz, so dürfte dies auch für V. 4bα und V. 4cα gelten. Beide beziehen sich dann auf dieselbe desolate Situation. Gegenüber V. 4bβ und V. 4cβ klagt hier jedoch zunächst das Volk, dann der Prophet. Durch die einleitende Formel „an jenem Tag“ setzt sich V. 4 formal vom Vorausgehenden als eigener Abschnitt ab. Andererseits nimmt die Formel insofern darauf Bezug, als es sich bei „jenem Tag“ um eben jene „böse Zeit“ ‫ה‬ ‫ת‬ handelt,55 an dem sich das in V. 3 geschilderte Handeln JHWHs an den in V. 3c in der 2. Pers. pl. masc. angesprochenen Adressaten (vgl. V. 4aα) vollzieht. Unter einem ‫ל‬ ist zunächst ohne weitere Differenzierung ein Sprichwort zu verstehen.56 Wenn ein solches über bzw. gegen jemanden angestimmt wird, insofern er mit seinem Geschick sozusagen „sprichwörtlich“ geworden ist, handelt es sich um eine Strafe. Dabei gewinnt ‫ל‬ die nähere Bedeutung „Spottlied“57 (vgl.

50 MAYS, Micah, 64. 51 MAYS, Micah, 65, spricht von einem „redactional comment on one of Amos‘ oracle“; Am 5,13b wird gewöhnlich als spätere Ergänzung betrachtet, vgl. WOLFF, Amos, 293f.; JEREMIAS, Amos, 70, denkt an einen „spätere[n] Leser nach dem Exil“. 52 So neuerdings WALTKE, Micah, 99. 53 KESSLER, Micha, 118. 54 So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 57; RENAUD, Michée, 68, hält den Propheten für den Sprecher. 55 MAYS, Micah, 65. 56 BEYSE, ‫ל‬‫ ׇמ‬māšal: ThWAT V, 72. 57 BEYSE, ‫ל‬‫ ׇמ‬māšal: ThWAT V, 72.

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die ähnliche Konstruktion in Jes 14,4). V. 4aβ führt das bereits in Mi 1,8.16 und 2,1 angeklungene Thema der Klage weiter (vgl. Am 5,6, wonach es sich bei ‫ נהי‬um eine Totenklage58 handelt). Insofern passt dies zu den in V. 3 angesprochenen Adressaten, die durch das ebenfalls der Gattung der Totenklage zugehörige „Wehe“ in Mi 2,1 als so gut wie tot betrachtet werden. Die dort durch den Propheten angestimmte Totenklage wird nun durch eine kollektive Größe fortgeführt (vgl. die Abfolge Mi 1,8.16!). Außerdem verbinden sich bereits in Mi 2,1 mit der Verwendung des „Wehe“ implizit spöttische Züge, da ja zum Trauern anlässlich des Todes der „Täter von Böse“ keinerlei Anlass besteht. Dennoch irritiert zunächst die hier nun vorgenommene Verbindung zwischen Spottlied und Klage, wenngleich eine solche auch in Jes 14,4ff. vorliegt, wo es um den Tod eines Gewaltherrschers (!) geht (allerdings ohne ‫)נהי‬. Dementsprechend würde man hier ebenfalls ein „Ach, wie seid ihr vernichtet“ oder Ähnliches erwarten. Hingegen passt der in V. 4b.c zitierte Ausruf: „verheert, ja verheert sind wir“ zur Klage einer Trauergemeinde,59 die nicht nur sozusagen als berufsmäßige Klagende fungiert, sondern deren Situation aufgrund des Todes von nahen Angehörigen ebenfalls desolat geworden ist.60 Ihr schließt sich in der 1. Pers. sing. der Prophet selbst an,61 der sich ja bereits in Mi 1,8 ausdrücklich als Trauernden geriert. Die Lösung scheint nun darin zu liegen, dass das hier sprechende Kollektiv sowohl im Namen der vernichteten „Täter von Bösem“ – dann im Stil berufsmäßig Klagender mit spöttischen Untertönen – als auch im eigenen Namen spricht. Die Vernichtung der ersteren ist Grund zum Spott, die Tatsache, dass von ihrer Vernichtung offenbar das ganze Volk betroffen ist (vgl. V. 4bβ), hingegen Anlass zur Klage. Es findet hier also ein Übergang von der Bestrafung der „Täter von Bösem“ hin zu Juda statt, das ebenfalls unter dieser Bestrafung leidet.62 „Verheert“ (vgl. Jer 9,18b) verweist meist auf militärische Aktionen und damit auf eine Invasion von fremden Völkern – etwa Assur oder Babel –, die als Strafe für das üble Treiben der Oberschicht das ganze Volk getroffen hat. Die Verheerung beschreibt nicht nur die allgemeine Verwüstung des Landes, sondern beinhaltet auch die Plünderung (vgl. Am 3,10; Hos 7,13; 9,6; 10,2; Obd 5.63 Hintergrund von V4bβ ist dabei allem Anschein nach ein Wegnehmen des Landes, etwa durch Eroberung. „Anteil“ ist ein bodenrechtlicher Begriff, der den Anteil jedes einzelnen Israeliten an dem Land JHWHs bezeichnet, ähnlich wie in V. 2b. Wie der einzelne, so hat ganz Israel seinen Anteil am Kulturland. Diesen zu verlieren, heißt, die Existenzgrundlage zu verlieren. Wird in V. 2b einzelnen durch die Oberschicht ihr Erbteil genommen, so wirkt sich dies nun auf Israel als Ganzes aus, indem ihm sein Anteil genommen wird und es wieder in den Status eines landlosen Volkes zurückkehrt. Während MT hier von einem Tausch (für was eigentlich?) spricht, scheint die Version von G dem 58 59 60 61

MAYS, Micah, 65, verweist auf Am 5,16; Jer 9,17–19. UTZSCHNEIDER, Micha, 58, spricht vom ganzen Volk. RUDOLPH, Micha, 54, denkt an die bisher entrechtete und gequälte Bevölkerung. Gegen MAYS, Micah, 65, der die Auffassung vertritt, die erste Person werde deshalb verwendet, weil JHWH selbst die Klage zitiere; ähnlich UTZSCHNEIDER, Micha, 58, der meint, „dass hier „ein Klagelied Gottes in das Klagelied der dem Gericht ausgesetzten Menschen hinein verwoben ist.“ 62 Vgl. dazu auch JEREMIAS, Micha, 151. 63 WOLFF, Micha, 50.

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Kontext besser angepasst zu sein, wenn dort von „messen“ die Rede ist, was den Gedanken der Zuteilung des Landes (an Fremde) beinhaltet. V. 4cα hat dabei offensichtlich die Entfernung aus dem Land (in Form einer Exilierung?) vor Augen. V. 4cβ greift das Stichwort „Felder“ ‫דוֹת‬ aus V. 2a auf. Demnach führt das unrechtmäßige Begehren der Felder seitens der Oberschicht zu einem Chaos, das schließlich die Verteilung der Felder des Volkes zur Folge hat. ‫ב‬‫שׁוֹ‬ könnte die „Vergeltung“ bezeichnen, i.S. einer Bestrafung für das Begehren fremder Felder, die nun das ganze Volk trifft. Denkbar wäre jedoch auch, dass es um die Übergabe des Landes seitens JHWHs (vgl. die unpersönliche Formulierung) an Abtrünnige, d. h. Menschen, die nicht zum Gottesvolk gehören, geht. In seinem heutigen Kontext beschreibt V. 4 demnach die Folgen, die das Strafgericht JHWHs nicht nur für die „Ersinnenden von Unrecht“ und „Täter von Bösem“, sondern für das ganze Volk hat. Theologisch ist hier noch nicht die Individualhaftung im Blick. Gericht, verursacht durch einige Schuldige, betrifft das ganze Volk.64 Entsprechend V. 4b.c scheint als historischer Hintergrund das Exil im Blick zu sein.65 Auffällig sind die Beziehungen zu Mi 1,8.16 sowie zu Jeremia. Bei V. 5 handelt es sich um einen Kausalsatz, bei dem die direkte Anrede V. 5: Eine Strafeinen Neuansatz nach der zitierten Klage signalisiert. Entsprechend dem Kontext ankündigung handelt es sich immer noch um JHWH-Rede.66 Unklar ist, worauf sich die Begründungspartikel „darum“ bezieht. Zusammen mit V. 3a könnte sie als Strafansage aufgrund des Schuldaufweises in Mi 2,1f. dienen. mašelīk „einer, der wirft“ könnte in Form einer Assonanz auf māšāl „Spottlied“ in V. 4a Bezug nehmen, um so eine Art Rahmen um V. 4b.c zu formen. Bezieht sich V. 3 auf die direkte Bestrafung der „Täter von Bösem“ und V. 4 auf die daraus resultierende Klage, so nimmt V. 5 die Zukunft nach der Bestrafung in den Blick. Sollte es sich bei „dir“ nicht um die Verschreibung eines ursprünglichen „euch“ handeln, so bezieht sich die singularische Form allem Anschein nach auf jene ebenfalls singularische „Sippe“ in V. 3b, der ein künftiger Landanteil versagt bleibt.67 Die Begrifflichkeit im zweiten Teil von V. 5 verweist insbesondere durch die Formulierung „mit dem Los“ bzw. „beim Los(en)“ auf die einstige Verteilung des Verheißungslandes nach der Eroberung durch Josua. Ähnlich wie in Jes 43,14–21 die Rückkehr aus Babel ins Verheißungsland in den Farben des Exodus geschildert wird, so erwartet V. 5 in diesem Zusammenhang eine erneute Verteilung des Landes entsprechend dem einstigen Verteilungsgeschehen nach dem Feldzug Josuas. Demgegenüber wird die Sippe der „Täter von Bösem“ nach dem in V. 4 beschriebenen Verlust des Landes seitens Israels auf Dauer von einem künftigen Landbesitz ausgeschlossen. Die zunächst auf den Verlust des Landes im Exil bezogene Bestrafung verlängert sich zu einer „ewigen“ Bestrafung. „Einer, der die Schnur wirft“ verweist auf einen Vermessungsvorgang des Landes mittels einer Messschnur (vgl. Am 7,17; Sach 2,5; Ps 64 METZNER, Micha, 69, spricht mit Recht von einer Ausweitung der auf die Reichen fallenden Strafe auf die ganze JHWH-Gemeinde. 65 So VERMEYLEN, Isaїe, 580. 66 So auch UTZSCHNEIDER, Micha, 58. 67 UTZSCHNEIDER, Micha, 59, will hier nicht nur „die unmittelbar anwesend gedachten Hörer, also die Großgrundbesitzer oder das Volk von Jerusalem“ als Adressaten sehen, sondern „Zion/Jerusalem als eine Körperschaft ‚in der Gemeinde YHWHs‘“. Demnach gingen bei einer künftigen Landverteilung Jerusalem und seine Herrenschicht leer aus.

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78,55). „Durch“ bzw. „beim Los“68 erinnert an die Verlosung des Landes durch den Priester Eleazar und durch Josua (Num 33,54 bzw. Jos 14,2; 17,14). Dabei geht der Instrumentalis „mit dem Los“ „fließend“ in eine Situationsangabe „beim Losverfahren“69 über. Einen solchen Josua oder Eleazar entsprechenden Priester, der ihnen künftig den Anteil am Verheißungsland geben wird, wird die Sippe der „Täter von Bösem“ nicht haben. „Versammlung JHWHs“ bezeichnet in Dtn 23,2–9 die Gemeinde Israels, die kultisch geprägt ist. In Num 16,3 hingegen scheint die Wortverbindung eher ein technischer Begriff für Israel als Ganzes zu sein. Setzt man für V. 5 eine exilisch-nachexilische Entstehung voraus,70 so handelt es sich hier um eine Begrifflichkeit für die nichtstaatlich verfasste Größe Israel. Dass dabei ein „feierlicher“71 Unterton mitschwingt, unterstreicht die gesamte Aussage und verdeutlicht den Ausschluss solcher Leute aus Israel; denn nur dem, der Anteil am Verheißungsland hat, werden die damit verbundenen Rechte und Segnungen JHWHs zuteil. Ob sich, wie Kessler meint, hier perserzeitliche Konflikte um das Land widerspiegeln, wonach Rückgabeansprüche seitens der Gola-Heimkehrer abgewiesen werden sollen,72 bleibt spekulativ. In jedem Fall zeigt sich hier die starke Hoffnung auf künftige Gerechtigkeit im neuen Israel.

Diachrone Analyse Die obige synchrone Analyse von Mi 2,1–5 zeigt, dass sich auch hier jene bereits für die Komposition von Mi 1 charakteristische Bezugnahmen zu vorausgehenden Schriften des Zwölfprophetenbuches wie zum Buch Jesaja finden. Dies deutet darauf hin, dass sich auch die heutige Gestalt von Mi 2,1–5 der dort aufgewiesenen redaktionellen Bearbeitung verdankt. Vv. 4f. tragen durch das Thema „Verteilung der Felder“ exilisches Kolorit73 und setzen aufgrund des Stichwortes „Felder“ bereits Mi 2,1–3 voraus.74 Es verbleibt also Mi 2,1–3*, wobei es sich bei V. 3dβ um eine spätere Ergänzung handelt, die ebenfalls eine bereits über die Michaschrift hinausreichende Perspektive zeigt. Ausgangpunkt dürften sozialkritische Worte des Micha gewesen sein, deren Kern wohl in Micha 2,1–375 zu finden ist. Diese setzen sich mit der im Juda des 8. Jh. v. Chr. offensichtlich grassierenden Praxis 68 69 70 71 72 73

Nach MAYS, Micah, 66, eine Glossierung. KESSLER, Micha, 122. JEREMIAS, Micha, 150. So in Anlehnung an RUDOLPH, Micha, 55. KESSLER, Micha, 123. Vgl. KESSLER, Micha, 120, der davon spricht, dass Vv. 4f. den alten Michatext „fortschreiben“; ähnlich bereits MAYS, Micah, 62, der hier von einer Interpretation der alten michanischen Prophetie spricht, die vor dem Hintergrund der babylonischen Eroberung Judas im 6. Jh. verfasst wurde. 74 MAYS, Micha, 61; METZNER, Micha, 69. 75 KESSLER, Micha, 113.119, wobei er allerdings V. 3dβ ebenfalls dem ursprünglichen Bestand zurechnet. KESSLER spricht vom „Kern“ der Anklage Michas „gegen die ökonomisch Mächtigen der Zeit und ihre Praktiken“.

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des „Bauernlegens“ und der Anhäufung von Land- und Immobilienbesitz in den Händen einiger weniger Angehöriger der Oberschicht auseinander. Diese Verse wurden in exilisch-nachexilischer Zeit durch die Einfügung von Vv. 4f. unter Rückbezug zur Amosschrift gestaltet. Insbesondere durch die Ergänzung in V. 3dβ wird die Gerichtsverkündigung des Micha gegen die reiche Oberschicht der des Amos (vgl. Am 5,13) angenähert.76 Dabei ist zu vermuten, dass dies im Kontext mit jener bereits in Mi 1 zu beobachtenden, schriftenübergreifenden Redaktion geschah, die die Michaschrift bzw. Worte Michas in den Zusammenhang eines Mehrprophetenbuches einfügte. Dafür könnte schließlich auch der von Kessler beobachtete Bezugszusammenhang mit Mi 1,12b sprechen – Stichwort ‫– רעה‬, da auch letzterer Halbvers eine spätere redaktionelle Ergänzung darstellt (s. o.). Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 2

76 So SCHART, Entstehung, 184. Schart vermutet mit Recht, dass beide Verse von derselben Hand eingefügt wurden.

Mi 2,6–11: Prophetischer Widerstand gegen Micha 2,6 „Prophezeita nicht“, prophezeiena sie. Nicht sollen sie dieses prophezeiena: „Er wird die Schmähungen nicht wegnehmenb“. 7 Ist das sagbara hinsichtlich des Hauses Jakobs? „Ist etwa JHWH ungeduldig gewordenb? Oder sind dies seine Tatenc? Tun etwa meine Worted nicht gut mit dem, der als rechtschaffener Mensch gehte?“ 8 Doch gestern mein Volka erhebt es sich zum Feind; vom Oberkleid weg zieht ihr den Mantelb aus von denen, die sorglos vorüberziehen, die der Auseinandersetzung abhold sindc. 9 Die Frauena meines Volkes vertreibt ihr aus dem Haus ihres Behagens, von ihren Kindernb nehmt ihrc meine Pracht für immerd. 10 Stehta auf und gehta, denn dies ist kein Ruheplatz. Wegen Unreinheitb vernichtest duc, und die Vernichtung ist schlimm. 11 Wenn docha ein Mann mit dem Wind ginge und Trug lügeb: „Ich werde für dich fließen lassenc (prophezeien) Wein und Rauschtrank“. Das wäre dann ein Prophet (wörtl. „Fließenlasser“)d dieses Volkes.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6a „Prophezeit“ / „prophezeien“ (wörtl. „lasst [nicht] träufeln“ / „lassen [sie] träufeln“) interpretiert G als „Weinen“ und übersetzt: „weint keine Tränen, noch sollen sie über dieses Tränen vergießen“, μὴ κλαίετε δάκρυσιν μηδὲ δακρυέτωσαν ἐπὶ τούτοις. 6b Probleme bereitet die Form ‫ג‬ ‫א‬, die als ni. einer Wurzel ‫ סוג‬mit intransitiver Bedeutung „er wird nicht weichen“ interpretiert wird. Das Subjekt ‫מּוֹת‬ „Beschämungen“ kongruiert jedoch weder vom Genus noch vom Numerus mit der Verbform, sodass man eine singularische Form ‫מּוּת‬ „Beschämung“1 vokalisieren müsste. Alternativ wird ‫ג‬ 1

KESSLER, Micha, 126.

Mi 2,6–11

7a 7b 7c

7d

7e

8a

2 3 4 5 6 7 8 9

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als Sonderform für ‫ֹשּי ִג‬ „er (wohl: die Schmach) wird nicht einholen“ (vgl. S) unter Ergänzung eines Objektes „uns“ verstanden.2 Möglich wäre schließlich die Annahme einer kausativen Form ‫)י(ג‬ der Wurzel ‫„ סוג‬denn er wird/soll (die Schmach) nicht fortschaffen“ (vgl. G: οὐ γὰρ ἀπώσεται ὀνείδη). Aufgrund der nur geringfügig veränderten Vokalisation wird dieser Lösung der Vorzug gegeben. ‫מוּר‬ ist wohl als Part. pass. mit Fragepartikel zu verstehen:3 „wird gesagt (hinsichtlich des Hauses Jakob)?“ G: „Der spricht (ὁ λέγων, hebr. ‫ר‬‫אוֹ‬): (Das Haus Jakob…)“. G, S interpretieren ‫ר‬‫ ֲה‬als kausative Form mit der Bedeutung „ungeduldig (zornig) machen“ (‫ר‬) „Das Haus Jakobs hat den Geist des Herrn erzürnt“, οἶκος Ιακωβ παρώργισεν πνεῦμα κυρίου. Dementsprechend bringt G die Taten mit dem Haus Jakobs in Verbindung: „Wenn dies seine (scil. des Hauses Jakobs) Taten sind, sind dann nicht seine (JHWHs) Worte mit ihm angemessen?“, εἰ ταῦτα τὰ ἐπιτηδεύματα αὐτοῦ ἐστιν οὐχ οἱ λόγοι αὐτοῦ εἰσιν καλοὶ μετ᾽ αὐτοῦ; G setzt ein ‫„ דבריו‬seine Worte“ voraus, trennt zugleich das ‫ ה‬von ‫ר‬ und verbindet es als Suffix 3. Pers. masc. sing. mit der vorausgehenden Präposition ‫ם‬ zu ‫( עמה‬aram.) „mit ihm“.4 Entsprechend MT ergreift in „meine Worte“ ‫י‬ Gott selbst das Wort (vgl. S, V), sodass die Gegner des Propheten ihre Position mit einer direkten Gottesrede unterstreichen.5 Diese Version scheint sich auch durch einen schriftgelehrten Rückbezug auf die Jakobstradition, wo sich eine ähnliche direkte Rede JHWHs an den Patriarchen findet, begründen zu lassen (s. u.). Auch in V. 7bβ weicht G deutlich von MT ab, insofern sie die Verbform „der… geht“ ‫ הוֹ‬ebenfalls als 3. Pers. masc. pl. mit dem Subjekt „seine Worte“ verbindet und dabei das nach Abtrennung des ‫ ה‬verbleibende ‫ ישׁר‬adverbial versteht: „und sind sie (seine Worte) nicht genau eingetroffen?“ ὀρθοὶ πεπόρευνται; Die Wortverbindung ‫י‬ ‫מוּל‬ wird, da in MT ein Objekt fehlt, häufig als Verlesung eines ‫מּי‬ ‫אֶתּם‬ „Ihr aber gegen (bzw. für)6 mein Volk“ verstanden.7 Dies wiederum hätte zur Folge auch das folgende ‫ם‬‫קוֹ‬ „sie stehen auf“ (3. Pers. pl. pil. mit intr. Sinn,8 vgl. Sir 11,9) als 2. Pers. masc. pl. 9 ‫קוּמוּ‬ oder Part. masc. pl. ‫ים‬ wiedergeben zu müssen: „Ihr aber steht (feindlich) auf (gegen mein Volk).“ Damit wäre hier nicht Israel als Ganzes, sondern lediglich die reiche Oberschicht angeklagt. Dafür scheint V. 8b zu sprechen, wo das Gegenüber des Sprechers nun ausdrücklich in der 2. Pers. masc. pl. angesprochen wird. Außerdem ist in V. 9 von den Frauen „meines Volkes“ die Rede, sodass auch hier ein verbrecherisches Handeln einer Gruppe an Mitgliedern „meines Volkes“ geschildert wird. Gegen diese Lösung spricht Folgendes: 1. Sämtliche alte Übersetzungen verstehen „mein Volk“ als Subjekt der Verbform ‫ם‬‫קוֹ‬. 2. In MT besteht ein Zusammenhang mit V. 7, wo sich die Gegner des Propheten auf die unbedingten Verheißungen Gottes gegenüber dem Stammvater Jakob berufen und sich damit in Sicherheit wähnen. Dem tritt V. 8a entgegen, indem nun das vermeintliche Volk-GottesSein (das Suffix 1. Pers. sing. bezieht sich wohl auf JHWH) als ein vergangener Zustand Vgl. z. B. ELBERFELDER Übersetzung. Zuletzt KESSLER, Micha, 127, Textanmerkung zu 7. Daraus leitet eine Reihe von Kommentatoren eine Änderung des hebräischen Textes in ‫„ עם עמה ישראל‬mit seinem Volk Israel“ ab, vgl. RENAUD, Michée, 115. Gegen METZNER, Micha, 29, die hier den Beginn der Erwiderung des Micha sehen möchte und deshalb eine direkte Prophetenrede annimmt. So OBERFORCHER, Micha, 49. Vgl. BHS; MAYS, Micha, 67: „But you! against my people you arise as enemy“; UTZSCHNEIDER, Micha, 61: „Aber gegen mein Volk verhält er sich doch wie ein Feind!“ Vgl. GESENIUS, 708, erste Spalte. WOLFF, Micha, 40.

80

8b 8c 9a

9b 9c 9d 10a 10b

10c 11a

10 11 12 13 14

15 16 17 18 19 20

Mi 2,6–11 beschrieben wird. Während MT einen Gegensatz zwischen dem gestrigen und heutigen Verhalten Israels beschreibt, spricht G von einem vergangenen Verhalten: „(Schon) früher hat sich mein Volk als Feind erhoben“, καὶ ἔμπροσθεν ὁ λαός μου εἰς ἔχθραν ἀντέστη. Anstelle von ‫ר‬ „Pracht“ ist entsprechend ‫ה‬‫„ ַשׂ‬Obergewand“ wohl ‫ת‬ „Mantel“ zu lesen (durch Haplographie des ‫)ת‬.10 Die Wiedergabe mit „Haut“ τὴν δορὰν in G (vgl. S) ist wohl von Mi 3,3 beeinflusst. Die Wortverbindung ‫ה‬ ‫י‬‫ שׁוּ‬ist in einem ähnlichen Sinn wie ‫ע‬ ‫י‬ („die sich von der Sünde bekehren“)11 als eine Haltung, die einer Sache abhold ist, zu verstehen.12 G mit „Führer“ ἡγούμενοι, setzt wohl ein ‫י‬‫י‬ voraus13 und macht durch die Einfügung eines διὰ τοῦτο „wegen diesem“ aus V. 9 ein Drohwort, das sich gegen die führende Schicht des Volkes richtet. Dabei liest G ‫שׁוּן‬ „vertreibt ihr“ als ni. ‫שׁוּ‬‫ָגּ‬: „Wegen diesem werden die Führer aus ihren luxuriösen Häusern vertrieben“ διὰ τοῦτο ἡγούμενοι λαοῦ μου ἀπορριφήσονται ἐκ τῶν οἰκιῶν τρυφῆς αὐτῶν. ‫י‬ ֽ ‫ל‬ „von ihren Kindern“ übersetzt G mit „wegen ihrer schlechten Taten“ διὰ τὰ πονηρὰ ἐπιτηδεύματα αὐτῶν, setzt also ein ‫ם‬‫ילוֹ‬ voraus. Dabei scheint G von Hos 9,15 her geleitet zu sein.14 Dies würde auch erklären, wieso G am Ende von V. 9bα gegenüber MT „werden sie hinausgetrieben“ ἐξώσθησαν ergänzt. Für die Übersetzung von V. 9bβ in G „nähert euch den ewigen Bergen“ ἐγγίσατε ὄρεσιν αἰωνίοις könnte man eine bewusste Verlesung von ‫ם‬‫עוֹ‬ ‫י‬‫„ ֲה‬meine Pracht für immer“ zu ‫ הררי עולם‬annehmen.15 Vielleicht steht im Hintergrund Am 4,3. Die Imperative in V. 10aα übersetzt G singularisch: „steh auf und geh“ ἀνάστηθι καὶ πορεύου. Entsprechend dem Kontext wird damit entweder jeder einzelne der in V. 9 genannten Führer oder Israel als Ganzes aufgefordert. ‫ה‬ in V. 10bα ist entweder ein Inf. qal „Unreinsein“16 oder eine Nebenform des Nomens ‫ה‬‫„ ֻט‬Zustand kultischer Unreinheit“.17 Inhaltlich scheint sich das Nomen nur schwer in den Kontext einzufügen. Der Vorschlag von BHS, ‫ה‬‫אוּ‬ „eine Kleinigkeit“ zu lesen, bleibt hypothetisch, zumal MT durch G, S und V bestätigt wird. Möglicherweise liegt ein Rückbezug zu Am 7,17 vor,18 wo dem Priester Amazja seitens des Propheten der Tod in „einem unreinen Land“ ‫ה‬ ‫ה‬‫ל־‬ angedroht wird. Damit aber würde der Vers vor dem Hintergrund der exilischen Situation neu interpretiert, wonach wegen einer Verunreinigung (des Landes) Israel ins Exil musste.19 In V. 10bβ bezieht MT die 2. Pers. masc. sing. offensichtlich auf JHWH, während G hier passivisch formuliert: „ihr wurdet schrecklich vernichtet“ διεφθάρητε φθορᾷ. ‫ לוּ‬ist als Wunschpartikel mit Partizip in 2 Sam 18,12 und Ps 81,14 belegt.20 Die Partizipialform , statt der BHS eine finite Verform lesen will, ist daher zusammen mit der RUDOLPH, Micha, 58; METZNER, Micha, 30. Vgl. GESENIUS, 810, zweite Spalte. Anders UTZSCHNEIDER, Micha, 65, der „Rückkehrer aus dem Kampf“ übersetzt. WOLFF, Micha, 41. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der „überlieferte Michatext“, wie WOLFF, Micha, 41, meint, tatsächlich „schlecht leserlich und fehlerhaft für Übersetzer und Abschreiber“ war, oder ob hier nicht eine bewusste Änderung und Interpretation aus theologischen Gründen heraus erfolgte. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2370. Vgl. HAL II, 359. HAL II, 360. Die Form findet sich nur an diesen beiden Stellen im Zwölfprophetenbuch! VERMEYLEN, Isaїe, 581. HAL II, 496.

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Partikel ‫„ לוּ‬acceptable Hebrew“.21 Mur liest stattdessen ein ‫„ לא‬nicht (geht ein Mann)“, wonach sich MT als Haplographie des ‫ א‬eines ‫ לוא אישׁ‬erklären könnte. Einen ähnlichen Text scheint auch G „(obwohl) keiner verfolgte“ οὐδενὸς διώκοντος vorauszusetzen. Sie verbindet dabei V. 11a mit V. 10bβ und liest anstelle von ‫ץ‬ „schlimm“ möglicherweise das ansonsten nicht belegte ho. einer Wurzel ‫„ רוץ‬laufen“, die im hi. auch die Bedeutung „zum Laufen bringen“ = „forttreiben“ annehmen kann ‫ׇתּם‬‫הוּ‬: „Ihr wurdet fortgetrieben“ κατεδιώχθητε.22 11b Unklar ist der syntaktische Bezug von ‫„ רוח‬Wind“/„Geist“. Entsprechend MT wäre er zusammen mit ‫ר‬ Objekt von ‫ב‬: „Wind und Trug lügt er“.23 Problematisch daran ist, dass  dabei recht unverbunden dasteht. Sinnvoller erscheint dagegen ein syntaktischer Zusammenhang von ‫ רוּ‬mit ‫ך‬: „einer, der mit dem Wind (bzw. mit dem Geist) geht“ (vgl. S). Anders G: „Ein Geist richtete Lüge auf“ πνεῦμα ἔστησεν ψεῦδος. Hintergrund ist Eine abweiallem Anschein nach 1 Kön 22,22, in dem von einem „Lügengeist“ die Rede ist, der im chende InterMund der Falschpropheten ist, die zu Gegnern des Micha ben Jimla (!) werden: ἔσομαι pretation in G πνεῦμα ψευδὲς (‫ר‬ ‫ רוּ‬‫י‬‫ׇה‬!). Tatsächlich geht es an beiden Stellen jeweils um verführerische Falschprophetie, als welche G offensichtlich die folgende Verheißung betrachtet, ohne allerdings einen Gegensatz zwischen Micha und den Falschpropheten ausdrücklich zu thematisieren, vgl. Mi 2,6G und Mi 3,8G. 11c Zitiert MT aufgrund der 1. Pers. sing. in V. 11b das Wort des zuvor genannten Mannes, so liest G hier eine 3. Pers. sing. ἐστάλαξέν24 und versteht die „Lüge“ als Subjekt der Verbform: „Sie ist dir in Wein und Rauschtrank getropft“ ἐστάλαξέν σοι εἰς οἶνον καὶ μέθυσμα. 11d In V. 11c setzt G anstelle der Partizipialform ‫ִטּיף‬ „einer, der fließen lässt“ (Part. sing. hi.) ein mit der Präposition ‫ מן‬verbundenes Nomen ‫„ נטף‬Tropfen“ voraus: „aus dem Tropfen (dieses Volkes)“, und verbindet die Formulierung mit dem folgenden V. 12 (vgl. S).

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Auffällig ist eine weitere inhaltliche Beziehung zur Amosschrift, die sich auch durch Stichwortbeziehungen untermauern lässt. So zitiert Amos den Priester Amazja, der ihm das Prophezeien in Bet-El untersagen will mit derselben Aufforderung, mit der auch die Gegner Micha und anderen Propheten die prophetische Rede verbieten wollen: „prophezeie nicht“/ „prophezeit nicht“ ‫ לא תטיף‬/ ‫לא יטפו‬. Die pluralische Form in Mi 2,6 erklärt sich am besten, wenn die Gegner des Micha Korresponnicht nur gegen Micha, sondern überhaupt gegen eine bestimmte JHWH-Prophetie, denz zu Amos verkörpert durch Propheten wie Hosea, Amos und Micha, opponieren. So tritt Micha, 7,12 wie es Amazja von Amos fordert (Am 7,12), als dessen zeitlicher Nachfolger (s. o.) 21 22 23 24

WALTKE, Micah, 122. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2370. In dieser Weise etwa die NEUE ZÜRCHER Übersetzung. Möglicherweise hat G ‫ אטף‬als Aramaismus, und zwar einer 3. Pers. masc. sing. aphel der auch im Aramäischen belegten Wurzel ‫ף‬ aufgefasst: ‫ף‬‫ט‬.

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Mi 2,6–11

tatsächlich im Südreich auf. Entsprechend der Darstellung trifft er aber dort auf denselben Widerstand wie Amos im Nordreich. Geht das Nordreich aufgrund der Verweigerung gegenüber der prophetischen Botschaft unter, so gilt dies nicht weniger für das Südreich. Dieser Zusammenhang zwischen beiden Propheten scheint nicht zuletzt durch die in Vv. 4f. vorausgehende Ankündigung der Verteilung des Ackerlandes (vgl. die Stichwortverbindung ‫ק‬ ‫ל‬ in Am 7,17 und ‫ק‬ und ‫ל‬ in Mi 2,4f.) unterstrichen zu werden. Ähnlich wie Amos nach Meinung des Priesters Amazja gegen grundlegende Traditionen verstößt, insofern er Aufruhr gegen Jerobeam predigt und die Verbannung Israels aus dem Land ankündigt (vgl. Am 7,11), so verletzt Micha nach Meinung seiner Gegner grundlegende Glaubensüberzeugungen Israels, indem er statt eines gütigen Gottes einen Gerichtsgott verkündet und die Heilsverheißungen für Israel revoziert (vgl. Mi 2,6). Auffällig ist schließlich die Positionierung dieser Auseinandersetzung in der Michaschrift. In Am 7,10–17 unterbricht die Auseinandersetzung zwischen Amazja und Amos den Visionszyklus des Propheten. Ist in den ersten drei Visionen eine Umkehr noch möglich, so ist nach dieser Szene das Gericht nicht mehr aufzuhalten. Ähnliches scheint auch für die Positionierung des Verbotes der prophetischen Rede an Micha und seine ihm vorausgehenden Prophetenkollegen zu gelten. Denn in Mi 3 werden vergleichbar Am 8 zunächst die ruchlose Oberschicht und dann – allerdings in umgekehrter Reihenfolge wie in Amos (Am 7,17) – die Priester bestraft. Und ähnlich wie in Am 9,1, wo das Heiligtum (des Nordreiches) vernichtet wird, findet das Gericht auch in Mi 3,12 sein Ziel in der Verwüstung des Zions, dem Heiligtum des Südreiches. Schließlich scheint in V. 11 ein Bezugszusammenhang mit Jesaja hergestellt zu Korrrespondenz zu Jes werden. So erinnert die Kritik an die Verkündigung von „Wein“ und „Rauschtrank“ 28,15 an Jes 28,7f. Außerdem ist in Jes 28,15 ebenfalls von „Trug“ und „Lüge“ die Rede, womit auch dort das Problem der Falschprophetie thematisiert wird. Umgekehrt findet sich in Jes 5,8.11.22 das Thema übermäßiger Alkoholgenuss im Zusammenhang mit der Anhäufung von Häusern und Feldern (vgl. Mi 2,2). Tatsächlich klingen in Mi 2,11 beide Seiten an: die Wein und Rauschtrank prophezeienden Propheten und die Adressaten („dieses Volk“), die offensichtlich süchtig sind nach Wein und Rauschtrank. Schließlich weist auch die wohl pejorativ zu verstehende Wendung „dieses Volk (da)“ jesajanisches Kolorit auf, vgl. z. B. Jes 28,11.14 (!). So bildet Mi 2 die Begründung für das bereits in Mi 1 angekündigte Übergreifen des Gerichts von Samaria auf Jerusalem. Zugleich werden auch hier Verbindungen zu vorausgehenden Schriften des Zwölfprophetenbuches, in erster Linie der Amosschrift hergestellt. Micha erweist sich somit als würdiger Nachfolger des Amos, nur eben diesmal als Prophet für das Südreich. Schließlich tritt auch hier wiederum die Entsprechung der Prophetie des Micha zu der Jesajas in den Blick. Auch aus seinem Mund kommen Vorwürfe bezüglich der ungerechten Anhäufung von Häusern und Feldern im Besitz der Oberschicht sowie des Alkoholmissbrauchs, der das klare Denken vernebelt. Damit wird, entsprechend der Überschrift, Micha als Zeitgenosse und Begleiter Jesajas stilisiert, der seinem Volk dieselbe Botschaft zu verkünden hat.

Textinterne Aussagegestalt V. 6 bildet zusammen mit V. 11 durch das Stichwort „prophezeien“ ‫( נטף‬wörtl. „fließen lassen“) einen Rahmen um den Abschnitt Vv. 6–11. V. 6 zitiert das Verbot

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einer Gruppe, die offensichtlich mit Angehörigen der Oberschicht und gegnerischen Propheten identisch ist, welche nicht nur das prophetische Reden als solches, sondern auch einen gewissen Inhalt prophetischen Redens verbieten will. Eine vermeintliche theologische Begründung für dieses Verbot liefert der folgende V. 7. Dem steht in Vv. 8–10 ein Vorwurf JHWHs an das Volk bzw. seine führende Schicht gegenüber, die sich an den Schwächsten der Gesellschaft vergreifen. Der Aufforderung der Gegner des Propheten in V. 6, nicht Unheil zu prophezeien, korrespondiert in V. 11 eine bissige Polemik des Propheten, der jene Art von Prophetie charakterisiert, die dem Volk willkommen wäre. Die scheinbar gegen die Glaubenstradition Israels gerichtete Unheilsprophetie (V. 7) einer prophetischen Gruppe, zu der Micha zählt, wird mit der feindseligen Haltung Israels gegen die Schwächsten in seiner Mitte begründet (Vv. 8–10). Auf das Verbot der Prophetie in V. 6 seitens der Gegner des Propheten antwortet dieser in V. 11. Diese Antwort beinhaltet eine ätzenden Polemik gegen ein Volk, das von einem Propheten vor allem die Erfüllung von Gelüsten nach Alkohol und Rausch erwartet. Eine abweichende Interpretation von G Im Unterschied zum masoretischen Text bietet G etwa folgende Gliederung des Kapitels, bei der insbesondere die Interpretation von Vv. 6–8 eine wichtige Rolle spielt: Wie in MT richten sich auch die Vv. 1–3 gegen die reiche Oberschicht und begründen die in Mi 1,16 beschriebene Exilierung. Vv. 4f. prophezeit wiederum in Entsprechung zu MT die künftige Klage über den Verlust des Landes. In Vv. 6–8 hingegen geht es nicht um Widerstand gegen die Prophetie Michas, sondern um die Berechtigung des zuvor beschriebenen Gerichts, insofern aufgefordert wird, darüber nicht zu klagen. Dabei versteht G die hebräische Wurzel ‫„ נטף‬fließen lassen“/ „prophezeien“ als „(Tränen) fließen lassen“ i.S. von „weinen“. Vv. 9–11a bezieht sich dann auf die Vertreibung der Anführer Israels aufgrund deren Verderbnis. Das Heilswort in Vv. 12f. wiederum wird in Abgrenzung zur Aussage des vorausgehenden Abschnittes durch V. 11b unter Anlehnung an 1 Kön 22,22 offenbar als Falschprophetie interpretiert.

Einzelauslegung V. 6aα besteht aus einem Vetitiv, der durch „prophezeien sie“ als Zitat kenntlich V. 6: Keine gemacht wird und dem in V. 6aβ ein weiteres Verbot korrespondiert. Fasst man Drohbotschaft! V. 6b als Gerichtswort auf, wonach JHWH die Beschämung nicht wegnehmen wird, so ist der Halbvers als Explikation jener in V. 6aβ untersagten Prophetie zu verstehen. Demzufolge würde der Vers durch Zitate verschiedener Gruppen gekennzeichnet:25 Im ersten Teil verbietet die eine Gruppe das Prophezeien, der zweite Teil bezeichnet einen bestimmten Inhalt der Prophetie der anderen Gruppe. Die hier für prophetisches Reden verwendete Wurzel ‫( נטף‬hi.) ist verhältnismäßig selten in dieser Bedeutung belegt. Wörtlich bedeutet sie eigentlich „träufeln“ (qal, vgl. Ri 5,4; Ps 68,9; Joël 4,18; Hld 4,11; Spr 5,3). Gegen die Annahme, diese Wurzel beschreibe ursprünglich ein ekstatisches Geifern,26 sprechen jedoch Am 7,16 und Ez 21,2.7, wo sie als Synonym zum häufigeren ‫ נבא‬verwendet und kein 25 So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 61. 26 METZNER, Micha, 188; WALTKE, Micah, 111.

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ekstatischer Zusammenhang erkennbar wird. Durch die doppelte Verwendung, wobei die, die ein prophetisches Reden verbieten wollen, selbst wie Propheten auftreten, soll offensichtlich von vornherein das Widersprüchliche ihres Tuns zum Ausdruck gebracht werden. Was sie anderen verbieten wollen, tun sie selbst. Die Wahl dieser besonderen Wurzel dürfte jedoch vor allem zwei Gründe haben. Im Kontext des Zwölfprophetenbuches fällt auf, dass ähnlich wie in Am 7,16 (‫ִטּיף‬ ‫א‬) auch hier Propheten unter Verwendung derselben Wurzel das Wort verboten wird. Insofern erleiden Amos und Micha ein ähnliches Schicksal.27 Dabei ist bemerkenswert, dass Micha – im Unterschied zu Amos – nicht lediglich im Singular, sondern im Plural (‫ל־ַתִּטּפוּ‬) angesprochen wird. Dies hat man meistens so interpretiert, dass Micha lediglich Teil einer Prophetengruppe oder Sprecher28 einer Schar von Sympathisanten29 war. Möglich wäre jedoch auch, dass diese pluralische Anrede im Zusammenhang mit Am 7,16 zu lesen ist.30 Dann nämlich bezieht sie sich – schriftenübergreifend – auf beide, vielleicht sogar unter Einbeziehung von Hosea (vgl. etwa Hos 9,7f.) auf alle drei Propheten. Es würde damit von den Sprechern nicht nur Michas Botschaft, sondern auch die vorausgehende Botschaft des Amos (und Hosea) abgelehnt. Die Formulierung ist dann weder ein wörtliches noch ein historisches Zitat der Gegner des Micha, sondern zeugt von einem Bewusstsein über die Zusammengehörigkeit der beiden prophetischen Schriften, die hinsichtlich ihrer Sozialkritik und der Ankündigung des Gerichtes übereinstimmen und sich gegenseitig bezeugen.31 Die Ablehnung des Propheten wäre dann als Teil einer eigenen Prophetentheologie in Amos und Micha zu lesen, die das Gericht über Israel und Juda nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Ablehnung des prophetischen Mahnrufes sieht.32 Der zweite Grund ihrer Verwendung dürfte darin liegen, dass die Wurzel noch einmal in V. 11b in Form einer Inklusion erscheint,33 wo es um einen (Falsch-)Propheten geht, der Wein und Rauschtrank prophezeit. Die Gegner werden hier demnach nicht nur hinsichtlich ihres Widerstandes gegen die Prophetie Michas (und Amos und Hoseas) charakterisiert, sondern zugleich wird ihre eigene Prophetie als Verführung (vgl. Mi 3,5) verworfen. Damit erschließt 27 Ein weiterer „Gesinnungsgenosse“ Michas ist, wie RUDOLPH, Micha, 60, mit Recht feststellt, Jesaja. Beachte auch die Beobachtung von RENAUD, Michée, 110. 28 So KESSLER, Micha, 130. 29 JEREMIAS, Micha, 151. 30 Bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 62, hat diesen Bezug beobachtet, jedoch ausgeweitet auf die Vielzahl der Propheten im Alten Testament, „die um ihrer Botschaft willen die Gefahr eines gewaltsamen Endes auf sich nahmen.“ Dies ist zwar grundsätzlich richtig, die Semantik spricht jedoch für einen bewussten Zusammenhang mit Am 7,16, was auch einen Widerhall in der Einbettung jener Verbote im Kontext der beiden Schriften findet, die wiederum ähnlich ist. 31 Bereits VERMEYLEN, Isaїe, 580, will Mi 2,6–11 demselben Milieu wie Am 7,16 zuweisen, das seiner Meinung nach einem deuteronomistischen Redaktor des Buches zuzuweisen ist. 32 Vgl. SCHART, Entstehung, 159, der einer von ihm in Am 2,13–16 ausgemachten D-Redaktion folgende Prophetentheologie zuschreibt: „Vielmehr gehört zu Israel als Gottesvolk, daß Jahwe immer wieder Propheten aufstehen läßt, die Israel auf seine Situation vor Gott drastisch hinweisen. Erst wo Propheten abgewiesen oder gar mundtot gemacht werden, schreitet Jahwe strafend ein.“ 33 MAYS, Micah, 67.

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sich auch, wer Subjekt jenes „prophezeien sie“ ist. Demnach handelt es sich offensichtlich sowohl um gegnerische Prophetengruppen als auch, entsprechend Vv. 8–10, um jene Mächtigen, deren Tun bereits die Vv. 1–3 kritisierten.34 Sie repräsentieren das politisch-religiöse Establishment.35 V. 6aβ scheint auf den Inhalt der Prophetie abzuzielen, wobei das ‫ ל‬hier wohl als nota obiecti zu verstehen ist. „Dieses“ bezieht sich dabei wohl vor allem auf das folgende Zitat in V. 6b, nicht auf die in Vv. 1–3 vorausgehende Prophetie.36 Inhaltlich geht es offensichtlich um eine Unheilsprophetie, die künftige dauerhafte Schmach ankündigt, vgl. dazu Jer 23,40 (!). Unter „Schmach“ ist dabei wohl eine militärische Niederlage oder Demütigung Judas37 zu verstehen, wie sie Mi 1,2–16 ankündigt, die jedoch nicht vorübergehend, sondern dauerhaft ist. Eine abweichende Interpretation in G G assoziiert ausgehend von der hebräischen Wurzel ‫( נטף‬hi. wörtl. „fließen lassen“) ein klagendes Weinen, bei dem Tränen vergossen werden, und knüpft damit an V. 4G38 an. Das Verbot des Weinens will dessen Nutzlosigkeit angesichts des sicheren und gerechtfertigten Gerichtes unterstreichen.

MT besteht in V. 7 aus vier rhetorischen Fragen, von denen die ersten drei in V. 7: Was man V. 7a.b als Antwort jeweils ein „Nein“ implizieren, die vierte in V. 7c hingegen ein in Israel (nicht) „Ja“. Während es in der ersten Frage offensichtlich um eine Infragestellung der sagen darf Drohbotschaft des Propheten geht, werden dieser in den drei folgenden rhetorischen Fragen grundlegende Aussagen über Wesen (so V. 7bα), Handeln (so V. 7bβ) und Reden JHWHs (so V. 7c)39 gegenübergestellt. Dabei trifft V. 7b Aussagen über JHWH, die in V. 7cα offensichtlich im Sinn einer Klimax in eine JHWH-Rede einmünden, sodass JHWH abschließend mit seiner ganzen Autorität zu Wort kommt.40 Als Sprecher ist an den (literarischen) Micha zu denken,41 der Argumente und Worte seiner Gegner zitiert,42 die in V. 6, ebenfalls als Propheten charakterisiert, nun ihre Heilsbotschaft seiner Drohbotschaft entgegenstellen. Auch wenn V. 7c den Eindruck erweckt, hier argumentiere bereits Micha selbst,43 so fügt sich die Gottesrede aufgrund ihres Rückbezugs zur Jakobstradition (s. u.) in die Gesamtargumentation der Gegner des Micha ein. Eine abweichende Interpretation in G Deutlich anders ist die Abfolge und Aussageintention in G. So wird entsprechend der Einführung in V. 7a („Der da spricht“ ὁ λέγων) das Folgende als Prophetenrede und zwar als die des Micha verstanden: V. 7bα ist dann Feststellung eines Vergehens des Hauses Jakobs („es hat erzürnt“), woraus V. 7bβ und V. 7c in Form einer rhetorischen 34 35 36 37 38 39 40

MAYS, Micah, 69. WALTKE, Micah, 111. Gegen KESSLER, Micha, 129. UTZSCHNEIDER, Micha, 62. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2369. Vgl. WALTKE, Micah, 115. KESSLER, Micha, 131: „Auf dem Höhepunkt dessen, was ihnen in den Mund gelegt wird, berufen sie (scil. die Gegner des Micha, Anm. v. mir) sich nicht mehr nur auf ihre theologischen Meinungen, sondern auf Gottes Wort selbst.“ 41 Wohl auch in V. 7bβ gegen WOLFF, Micha, 52. 42 WOLFF, Micha, 51. 43 So METZNER, Micha, 29; ähnlich auch OBERFORCHER, Micha, 49.

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Mi 2,6–11 Frage die entsprechenden Schlussfolgerungen bezüglich der Worte JHWHs und ihres Eintreffens zieht.

Anknüpfend an die in V. 6b zitierten Rede des Propheten geht es in V. 7 nun offensichtlich um die von den Gegnern des Micha aufgeworfene Frage, ob solches bezüglich des Hauses Jakob überhaupt gesagt werden darf. Die Form der rhetorischen Frage ist dabei ein beliebtes Stilmittel weisheitlicher Auseinandersetzung (vgl. z. B. Ijob 38,12.16f.). Sie will insbesondere das Selbstverständliche der eigenen Position unterstreichen. Dieses wiederum ergibt sich aus der Bezeichnung Israels, und zwar sowohl des Nordreiches wie des Südreiches, als „Haus Jakob“. Diese Terminologie ist hier offensichtlich bewusst gewählt, um an die einstige Verheißung JHWHs an den Stammvater Jakob zu erinnern (vgl. Gen 28,13f.; 32,30). „In ihm zeichnet sich die Erwählung Israels schon im Voraus ab“ 44 und „er ist Inbegriff der Treue Gottes zu seinem Volk“45 – ein Gedanke, den das direkte JHWH-Zitat in V. 7cα nochmals unterstreicht (s. u.). Von daher ist es nach Meinung der Gegner des Micha eigentlich ein Widerspruch in sich, dem „Haus Jakob“, also der Familie und Nachkommenschaft Jakobs, im Namen JHWHs Unheil zu verkünden.46 Tatsächlich findet sich die Bezeichnung „Haus Jakobs“ in der Mehrheit ihrer Belege in Zusammenhängen prophetischer Heilsverkündigung (vgl. Jes 2,5; 8,17; 14,1; 29,22; Ez 20,5). Eine Ausnahme bildet jedoch Am 3,13 (und Mi 1,5), wo die Bezeichnung „Haus Jakob“ im Kontext der Ahndung seiner Verbrechen vom Propheten verwendet wird. Von Amos her gelesen erübrigt sich demnach die von den Gegnern Michas aufgeworfene Frage: In ähnlicher Weise hat schon einmal ein anderer Prophet über das „Haus Jakob“ gesprochen, sodass die Prophetie des Micha von dessen Verkündigung her bestätigt wird. Die Frage nach der möglichen Ungeduld JHWHs bzw. der Kurzatmigkeit JHWHs – wörtl. eigentlich: „ist der Geist JHWHs zu kurz?“ (vgl. Spr 14,2947 und Ijob 21,4) – steht in Gegensatz zu grundsätzlichen Charakterisierungen JHWHs, wie sie etwa die sog. Gnadenformel in Ex 34,6 und deren Rezeptionen in Ps 103,8, 145,8, Joël 2,13, Nah 1,3 und Jona 4,2 bezeugen.48 „Seine Taten“ sind im Sinne einer subsummierenden Begrifflichkeit (vgl. Ps 77,12 und 78,7) auf JHWHs Gnadenerweise in der Geschichte Israels – wohl vor allem im Hinblick auf das Exodusgeschehen – zu beziehen (in Verbindung mit Langmut in Ps 103,7b.8). Entsprechend ihrer, auf unbedingtes Heil fixierten Theologie passt eine Drohbotschaft in der von Micha verkündeten Weise in keiner Hinsicht in das Gottesbild der Gegner des Micha, die dabei meinen, sich auf die Überlieferungen und Glaubensüberzeugungen Israels beziehen zu können.49 Am Ende der Michaschrift wird tatsächlich in Mi 7,18f. wiederum auf Ex 34,6f. Bezug genommen, nun jedoch im Rahmen einer Begrenzung des Gerichts vor dem Hintergrund einer künftigen Heilszeit. Es erweist sich so die Wahrheit von Ex 34,6f., die jedoch entgegen der Meinung der Gegner des Micha ein Gerichtshandeln JHWHs nicht grund44 45 46 47 48 49

ZOBEL, Art. ‫ק)וֹ(ב‬ jaʿaqo(ô)ḇ: ThWAT III, 773. ZOBEL, Art. ‫ק)וֹ(ב‬ jaʿaqo(ô)ḇ: ThWAT III, 773. Vgl. MAYS, Micah, 70; UTZSCHNEIDER, Micha, 63, spricht von einem „Würdenamen“. Vgl. MAYS, Micah, 70. Vgl. WOLFF, Micha, 51; MAYS, Micah, 70. Vgl. UTZSCHNEIDER, Micha, 63: „Die Position der Gegner basiert auf einer nationalen ‘Heilstheologie’, die auf Gottes nie versiegendes Wohlwollen gegenüber Jakob/Israel vertraut.“

Synchrone Analyse

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sätzlich ausschließt. V. 7cα scheint durch die ungewöhnliche Formulierung „gut tun mit“50 auf die Jakobsverheißung in Gen 32,10.13 anzuspielen. An die Stelle von JHWHs direktem Handeln tritt nun jedoch sein durch den Propheten vermitteltes Wort, das gleichsam aus sich selbst heraus für den Empfänger in positiver Weise wirkmächtig ist. Hinter der Formulierung „als Rechtschaffener gehen“ steht das Bild eines Menschen, der seinen geraden Weg geht, ohne davon abzuweichen. Im übertragenen Sinn bezeichnet es einen „ethisch ausgerichteten“51 und entsprechend handelnden Menschen. Dass einem solchen Verhalten JHWHs Wohlwollen gewiss ist bzw. im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhanges positive Rückwirkungen für den Betroffenen hat, ist eine in der Weisheit verbreitete Überzeugung (vgl. Spr 2,7.21; 11,3.6.11).52 Daraus lässt sich folgern, dass die Opponenten des Micha sich für rechtschaffen halten, insofern sie dies möglicherweise im Umkehrschluss aus ihrem Wohlergehen und wirtschaftlichen Erfolg folgern (zum Reichtum als Ausweis der Segnung durch JHWH, vgl. Ijob 1,1f.). V. 8 in seiner hebräischen Fassung lässt etwa folgende Gliederung erkennen: So stehen sich V. 8aα mit „mein Volk“ und V. 8aβ mit „zum Feind“ inhaltlich kontrastierend gegenüber. Ebenso ergibt sich durch die Zeitangabe „gestern“ in V. 8aα und der präsentischen bzw. futurischen Verbform „es erhebt sich“ V. 8aβ ein Kontrast zwischen einem vergangenen und einem präsentischen bzw. künftigen Verhalten. V. 8b und V. 8c bestehen aus jeweils zwei miteinander in Korrespondenz stehenden Teilsätzen, wobei V. 8b offensichtlich den Raub des Mantels von einem darunter getragenen Gewand, V. 8c hingegen die Beraubten selbst schildert. Durch die Partitivpartikel (‫ מ)ן‬in V. 8bα „vom“ (‫מּוּל‬) und V. 8cα „von denen, die […] vorüberziehen“ (‫ים‬) entsprechen sich auch diese beiden Versteile, und sind zugleich von „ihr zieht aus“ abhängig. Schließlich wird der gesamte Vers durch die inhaltliche Gegenüberstellung von „zum Feind“ in V. 8aβ und „die sorglos vorüberziehen“ bzw. „die sich vom Krieg abwenden“ in V. 8c gerahmt. Der inhaltliche Gegensatz, der V. 8a prägt, findet also sein Echo im gesamten Vers. Eine abweichende Interpretation in G Demgegenüber bietet G (s. o. „Text“) einen Geschichtsrückblick, der offensichtlich die verheerenden Folgen der wiederholten Aufsässigkeit Israels im Blick hat (vgl. z. B. die dtr. geprägte Geschichtstheologie im Richterbuch, z. B. Ri 4,1; 6,1 usw.) und dabei allem Anschein nach auf das Exil anspielen will.

Aufgrund von „mein Volk“ ist V. 8 wohl Gottesrede, was sich auch von V. 9 her bestätigt, wo von „meiner (JHWHs) Pracht“ gesprochen wird, worunter wohl das prachtvolle Land (Israel) zu verstehen ist. Dann aber ist Vv. 8f. Antwort JHWHs auf die zuvor von den Gegnern Michas zum Ausdruck gebrachte Heilsgewissheit, sodass sich nun JHWH selbst in die Auseinandersetzung einmischt. In der Formulierung „Mein (JHWHs) Volk“ klingt wohl ein Bezug zur Bundesformel an, in der sich JHWH als Gott Israels bezeichnet, demzufolge Israel Volk JHWHs ist (vgl. Dtn 26,18). Dies wiederum gründet in der in V. 7 formulierten Tatsache, dass Israel das „Haus 50 Dies unterscheidet die Formulierung von anderen kausativen Formen von ‫יטב‬, wie sie sich z. B. in Dtn 8,16 und 28,63 finden, woraus etwa VERMEYLEN, Isaїe, 583, eine deuteronomisch beeinflusste Bearbeitung des Verses ableiten möchte. 51 MAYER/SCHÖKEL/RINGGREN, Art. ‫ר‬ jāšar: ThWAT III, 1065. 52 MAYS, Micah, 70.

V. 8: Israel ist zum Feind JHWHs geworden!

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V. 9: Vertreibung in die Ungeborgenheit

Mi 2,6–11

Jakob“ ist, sich also die Verheißungen an den Stammvater auf Israel übertragen. Doch ist dies die Sicht von gestern, weil sich Israel nun als „Feind“ erhebt, wobei das Objekt der Feindschaft zunächst allem Anschein nach bewusst offenbleibt. So könnte man aufgrund von „mein Volk“ an JHWH selbst denken. Tatsächlich kann sich ein schriftgelehrter Leser an Hos 7,15 erinnert fühlen, wo davon die Rede ist, dass die Repräsentanten Israels „Böses“ gegen JHWH planen. Ohne Zweifel ist aber auch bereits hier das im Folgenden geschilderte feindliche Verhalten gegenüber Schwächeren im Blick. Damit aber wendet sich dieses Verhalten Menschen gegenüber auch gegen JHWH selbst und entzieht damit Israel seine Stellung als Volk JHWHs. V. 8b denkt offenbar an einen brutalen Kleiderraub, wofür nicht zuletzt die Wurzel ‫ פשׁט‬spricht, die im pi. (hier hi.) ein Ausplündern von Erschlagenen im Krieg bedeutet.53 Tatsächlich stellte der hier genannte Mantel ‫ר‬ (wohl für ‫ת‬, s. o.), der von den Kleidern herabgerissen wird, einen nicht unerheblichen Wert dar. Dies gilt sowohl hinsichtlich seiner praktischen Bedeutung, insofern er den letzten Schutz des Menschen vor Hitze und Kälte bildete, aber auch seines materiellen Wertes. So konnte der Mantel als Pfandgabe genommen werden (vgl. Dtn 24,13; Ex 22,24–26; Am 2,8; Ijob 22,6; vgl. auch das Ostrakon aus Yavnē Yām).54 Dies wiederum fügt sich mühelos in den weiteren Duktus von Vv. 9f. ein, wo es um die erbarmungslose Umsetzung des Pfandrechtes geht. Es handelt sich also hier nicht um einen gewöhnlichen Straßenraub,55 sondern um das Nehmen von Pfändern, da sich die Betroffenen aufgrund wirtschaftlicher Not verschulden mussten. Durch die hier verwendete, dem Bereich des Krieges entnommene Sprache wird jedoch das eigentlich legitime Pfandnehmen zu einem Ausplündern, das an die Ausplünderung von Kriegsgefangenen erinnert, denen die Kleider zur Demütigung ihrer Person geraubt werden.56 Indem sie sich wie Feinde gebärden, führen die Beklagten sozusagen Krieg im eigenen Land.57 V. 8c charakterisiert die Beraubten in bewusstem Gegensatz zum kriegerischen Gehabe der Adressaten des JHWH-Wortes, denn ‫ח‬ bezeichnet die Sorglosigkeit der Überfallenen, die mit nichts Bösem rechnen. Eine solche Sorglosigkeit auszunutzen ist ein massiver Verstoß gegen Treu und Glauben (vgl. Spr 3,29).58 V. 8cβ unterstreicht die Friedfertigkeit der Beraubten, die jeglicher Auseinandersetzung abgeneigt sind. Aufgrund von „mein Volk“ und „meine Pracht“ handelt es sich wohl auch bei V. 9 um eine Gottesrede.59 Dabei ist diese in ihrer hebräischen Fassung als synthetischer Parallelismus membrorum aufgebaut. Auf ein Objekt („Frauen meines Volkes“/ „von ihren Kindern“) folgt jeweils ein Verb in 2. Pers. masc. pl. („vertreibt ihr“/ „nehmt ihr“), an das sich jeweils ein weiteres Objekt anschließt („aus dem Haus ihres Behagens“/ „meine Pracht“). Insofern es sich sowohl bei den ersten beiden Objekten wie bei den Verbformen um inhaltlich kongruierende Größen handelt, ist dies auch für die zweiten Objekte anzunehmen. Dies ist nicht 53 HAL III, 921. 54 RENZ/RÖLLIG, Epigraphik I, 315–329. 55 So bereits SMITH, Micah, 62; neuerdings wieder KESSLER, Micha, 132; anders hingegen RUDOLPH, Micha, 61. 56 KESSLER, Micha, 132. 57 UTZSCHNEIDER, Micha. 66. 58 JEPSEN, Art. ‫ח‬‫ׇב‬: ThWAT I, 611. 59 So auch WALTKE, Micah, 119f.

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zuletzt für die Bedeutung des recht unbestimmten „meine Pracht“ wichtig. Aufgrund der Korrespondenzen müsste es sich dabei um eine Größe handeln, die in irgendeiner Beziehung zu „Haus der Wonne“ steht, also eine örtliche Größe. Auch in V. 9aα geht es offensichtlich um ein Pfändungsgeschehen, welches in der Fortsetzung von V. 8 kriegerische Züge annimmt.60 Nach den wertvollen Mänteln, Symbol des Schutzes außerhalb des Hauses, geht es nun um den eigentlichen Ort der Geborgenheit. Nachdem offensichtlich bereits der pater familias in Schuldknechtschaft geraten ist und seinen Besitz verpfänden musste,61 nehmen nun die Gläubiger offiziell das Haus in Besitz (vgl. V. 2b) und vertreiben die noch darin wohnenden Angehörigen. Das hier verwendete Verb ‫ גרשׁ‬verweist u. a. auf die Landnahme Israels, bei der JHWH die im Verheißungsland siedelnden Völker vertrieben hat, um Israel das Land zu geben (vgl. Jos 24,18; Ri 2,3; 6,9). Demnach würden hier die raffgierigen Großgrundbesitzer als eine Art Anti-JHWH charakterisiert, die nun an den Frauen des Gottesvolkes so handeln, wie einst JHWH zugunsten seines Volkes an den Fremdvölkern handelte, und damit die Landgabe, zumindest im konkreten Einzelfall, rückgängig machen. Auch die Bezeichnung „Haus ihrer Wonne“ könnte in diese Richtung weisen, ist doch etwa in Ps 37,11 davon die Rede, dass die Armen das Land besitzen werden und ihre „Wonne“ haben an der Fülle des Heils. „Haus“ bezeichnet dabei den Ort, durch den jeder die Geborgenheit und Rechtssicherheit der Familie genießt. V. 9b bezieht sich auf die nachfolgenden Generationen („ihren Kindern“), wobei hier vom Wort (II ‫„ עול‬säugen“) her eher an Kleinkinder zu denken ist. Dass es sich dabei nicht lediglich um die direkten Nachkommen der Frauen, also nicht nur um ihre Kinder, sondern auch um ihre Kindeskinder handelt, wird durch die Formulierung „für immer“ unterstrichen. ‫ הדר‬ist zunächst einmal etwas, das JHWH zukommt, i.S. von Gottes Pracht (vgl. Ps 96,6; 104,1; 111,3; Ijob 40,10). Es kann aber auch gelegentlich von der Pracht einer Stadt oder eines Landes gesprochen werden (vgl. Jes 5,14; Ez 27,10 und Dan 11,20). Hier fließen nun beide Aspekte zusammen, insofern es sich entsprechend der Parallelstellung von Feldern und Häusern in V. 2a bei „meiner Pracht“ offenbar um die größere Einheit handelt, in der die Häuser der Frauen angesiedelt sind.62 Diese wird sowohl als prachtvoll als auch als Inbegriff der Pracht JHWHs charakterisiert. In Frage kommt damit letztlich nur das Verheißungsland.63 Sein eigentlicher stolzer Besitzer ist JHWH, es wird als überaus herrlich beschrieben, und jeder einzelne Israelit hat daran Anteil. Mit dem Verjagen aus den Häusern aber wird den Betroffenen und ihren Nachkommen der Anteil am Verheißungsland genommen und zwar für immer, obwohl doch eigentlich Israel der Besitz des Landes „für immer“ zugesagt ist.64 Die Beklagten eignen 60 WALTKE, Micah, 119, sieht außerdem die Reihenfolge V. 8: Männer, V. 9: Frauen und Kinder. 61 So deutet auch KESSLER, Micha, 132f., die auffällige Abwesenheit der Männer. Möglicherweise hätten sich diese aber auch angesichts der hoffnungslosen Überschuldung bereits davongemacht. Anders meint RUDOLPH, Micha, 61, dass es sich bei den Frauen um Witwen handelt, wofür es jedoch keinerlei weitere Hinweise gibt. 62 Vgl. RENAUD, Michée, 96. 63 WALTKE, Micah, 120, spricht mit Recht von einer „metonymy for the rich physical benefits that I AM gave his children in the sworn land“; vgl. auch METZNER. Micha, 32. 64 WALTKE, Micah, 120.

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V. 10: Zitat der skrupellosen Oberschicht oder eine Aufforderung, ins Exil zu gehen

Mi 2,6–11

sich damit etwas an, was im Eigentlichen JHWH gehört,65 sodass ihr Handeln nicht lediglich ein profaner, etwa durch das Pfandrecht gedeckter Akt ist, sondern einen massiven Eingriff in das Eigentum des Grundherren JHWHs und sein Recht darüber zu verfügen darstellt.66 V. 10a ist ursprünglich wahrscheinlich ein Zitat der in V. 9 angesprochenen Adressaten,67 während V. 10b eine Art Zusammenfassung und Verurteilung der in Vv. 8–10a geschilderten Pfandpraxis seitens JHWHs (oder des Propheten) ist, wobei hier möglicherweise ursprünglich von der Pfändung wegen einer Kleinigkeit (vgl. Am 2,6) die Rede war, die hier als „Vernichtung“ gekennzeichnet wird und dabei das „Du“ kollektiv verstanden wurde. Da V. 9 bereits JHWH-Rede war, dürfte dann eine solche auch hier anzunehmen sein.68 In der heutigen masoretischen Interpretation (insbesondere der Rede von „Unreinheit“) hingegen scheint es so, als ob V. 10a als Aufforderung eines unbekannten Subjekts (JHWH? der Prophet?) zu verstehen ist, ins Exil zu gehen, während in V. 10b eine direkter Anrede an JHWH vorliegt, dessen Handeln aufgrund der Verunreinigung des Landes geschildert wird. Ähnlich sieht dies G. Demnach ist V. 10a eine Aufforderung an die in V. 9 genannten Anführer des Volkes bzw. das Volk, welche das Los der Vertreibung (wohl ins Exil) „wegen der Unreinheit“ erleiden und denen die völlige Vernichtung angedroht wird. „Steht auf und geht“ in V. 10a ist eine Aufforderung, nicht nur die Position des bequemen Sitzens (vgl. Mi 4,4) bzw. Wohnens im Haus (siehe V. 9a) aufzugeben, sondern auch den Ort selbst zu verlassen und sich damit der Ungeborgenheit auszusetzen (vgl. das Herabreißen des Mantels in V. 8b). Die Tatsache, dass es sich dabei um Imperative masc. pl. handelt, zeigt, dass als Adressatenkreis nicht nur die in V. 9 genannten Frauen, sondern auch deren Kinder im Blick sind.69 Möglicherweise wurden aber auch die Pluralformen vor dem Hintergrund der heutigen Aussage von V. 10b geändert, sodass nun nicht allein die Frauen, sondern das ganze Volk Adressaten der Aufforderung sind, ins Exil zu gehen. Tatsächlich gibt G die pluralischen Imperative singularisch wieder („Steh auf…“) und scheint entsprechend ihrer Wiedergabe von V. 9 das ganze Volk oder jeden einzelnen der Führenden im Blick zu haben, dessen Exilierung sie ankündigt. Grundsätzlich gilt das Haus als Ort der Ruhe, wo Frauen Geborgenheit bei ihrem Gatten finden (vgl. Rut 1,9).70 Somit wird den Frauen (und ihren Kindern) ein wesentlicher Teil ihrer existentiellen Grundlage und Sicherheit genommen. Angesichts der Beobachtung, dass mit dem Haus die Betroffenen auch ihres Anteils am Verheißungsland JHWHs verlustig gehen (vgl. V. 9b), scheint hier auch die Vorstellung mit hineinzuspielen, dass den Frauen damit zugleich die Ruhe genommen wird, die zum Gut des Verheißungslandes gehört (Jos 21,44) und die JHWH seinem Volk zugesagt hat (vgl. z. B. 1 Kön 8,56).71 Demgegenüber wird später in Mi 4,4 in der künftigen Heilszeit jeder wieder sein Erbteil genießen können, ohne von irgendjemand „aufgeschreckt“ zu werden. „Unrein-

65 66 67 68

So schreibt JEREMIAS, Micha, 154 mit Recht: „Gott [ist] als Geber auf den Plan gerufen.“ Ähnlich auch UTZSCHNEIDER, Micha, 66. RUDOLPH, Micha, 61; WOLFF, Micha, 54. Dies spricht m. E. auch gegen die These von METZNER, Micha, 33, die V. 10b als Aufforderung an JHWH lesen will. 69 So bereits KESSLER, Micha, 134. 70 So bereits KESSLER, Micha, 134. 71 Vgl. WOLFF, Micha, 54.

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heit“ bezeichnet gewöhnlich kultische Unreinheit,72 wird hier jedoch auf das Verhalten der Oberschicht bzw. des ganzen Volkes bezogen, wie es ja auch die Interpretation von G nahelegt, wenn sie die „Unreinheit“ als Grund der Vertreibung und anschließenden Vernichtung der Führer des Volkes betrachtet. „Unreinheit“ hätte dann eher den Sinn wie in Ez 14,11, wo Israel sich durch Sünden unrein macht.73 Eine solche „Unreinheit“ wiederum hindert die Beziehung zu Gott, was bereits V. 8 festgestellt hat, wenn Israel nun nicht mehr Gottes Volk, sondern dessen Feind ist. Die singularische Formulierung „vernichtest du und die Vernichtung ist schlimm“ würde sich dann auf JHWH beziehen, der die Vertreibung wegen der Verunreinigung des Landes durchführt. Die Aufforderungen in V. 10a wären dann von V. 10b her im Sinn einer Exilierung des ganzen Volkes zu verstehen (s. o.). Durch das Stichwort „Unreinheit“ wiederum würde ein Rückbezug zu Am 7,17 hergestellt, wo seitens des Propheten ein Unheilswort an den Priester Amazja ergeht, er werde auf unreinem Land sterben. Ähnlich wie dort hätte auch hier die Ablehnung des Propheten in V. 6 die Verbannung aus dem Land zur Folge. Dies deutet darauf hin, dass V. 10b wohl im Rahmen der redaktionellen Bearbeitung von Mi 2 im Hinblick auf Am 7,10–17 textlich verändert wurde. Die Tatsache, dass ‫ חבל‬je nach Vokalisierung sowohl „verderben“ als auch „pfänden“ bezeichnen kann, scheint sich die masoretische Vokalisation insofern zunutze zu machen, als sie das ursprünglich wohl als Pfändungsgeschehen kritisierte Handeln der Oberschicht nun zu einem Vernichtungshandeln JHWHs macht. V. 11a charakterisiert einen Mann, dessen Worte V. 11b zitiert und der entsprechend dem Urteil in V. 11c ein (geeigneter) Prophet (wörtl. „Fließenlasser“) „dieses Volkes“ ist. Da kein Sprecherwechsel erkennbar ist, ist auch hier an JHWH oder den Propheten als Sprecher zu denken. In der hebräischen Fassung ist der Vers durch Assonanzen bzw. Stichworte geprägt. So weist ‫ִטּף‬ „ich lasse fließen“ in V. 11bα auf ‫ִטּיף‬ „Fließenlasser“ in V. 11c voraus, während welašekār „und Rauschtrank“ in V. 11bβ an wāšæqær „und Trug“ in V. 11aβ anklingen.74 Eine abweichende Gliederung und Interpretation in G G hingegen weist eine davon deutlich abweichende Gliederung auf. V. 11aα ist Beschreibung des vollzogenen Gerichtes, das sich in einer Flucht ohne erkennbare Ursache manifestiert, V. 11aβ und b spricht von einem Geist, der Lüge aufrichtet, und V. 11c ist ein Heilswort für Israel, das eine Sammlung aus dem Tropfen des Volkes, wohl im Sinne eines Restes ankündigt und seine Fortsetzung in V. 12 findet. In welchem Verhältnis dabei die Lügenprophetie zu diesem anschließenden Heilswort steht, ist nicht recht ersichtlich. LXX.D etwa meint, dass das Heilswort in Vv. 12f. den Inhalt der Lügenprophetie bildet,75 eine Interpretation, die auch neuere Exegeten aufgreifen (s. u.).

72 KESSLER, Micha, 134, will „Unreinheit“ auf sexuelle Schändung von Frauen beziehen (entspr. Gen 34,5.13.27). Diese Schändung wiederum wird ihnen in den Augen ihrer Schänder als Schande angerechnet. 73 UTZSCHNEIDER, Micha, 67, schreibt mit Recht: „Die Grenze zwischen kultischer und ethischer Unreinheit ist nicht scharf und soll auch nicht scharf gezogen werden“; als Beispiele nennt er Ez 36,17; Jer 2,7; Sach 3,4. 74 WOLFF, Micha, 54f. 75 „Ein Geist richtete Lüge auf. Sie tropfte dir in Wein und Rauschtrank: Es wird geschehen: Aus dem Tropfen dieses Volkes […]“

Bezug zu Amos 7,10–17

V. 11: Ein populistischer Prophet

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Mi 2,6–11

Die Partikel „wenn doch“ in V. 11aα vermittelt den Eindruck eines sehnlichen Wunsches (vgl. z. B. Gen 17,18; Ijob 6,2). Da der ersehnte Mann jedoch wenig wünschenswerte Eigenschaften zeigt, gewinnt die Aussage sarkastische Untertöne.76 ‫ רוּ‬ dürfte zusammen mit ‫ב‬ ‫ר‬ „und Trug lügt er“ zwei Handlungen des Mannes beschreiben, die in einem inhaltlichen Verhältnis zueinander stehen. Dabei könnte man zunächst an ein „Gehen mit dem Wind“ (so die Deutung von S:  ) denken, worunter wohl eine unstete und wenig verlässliche Haltung zu verstehen ist, die vielleicht eine Orientierung an der gerade aktuell gültigen Meinung impliziert (i.S. von „Das Fähnlein nach dem Wind hängen“). Diese Haltung würde „und Trug lügt er“ bestätigen bzw. überbieten. Da ‫ רוח‬auch die Bedeutung „Geist“ annehmen kann, könnte auch eine sarkastische Beschreibung des (Falsch-)Propheten impliziert sein, wurde doch gelegentlich ein Prophet auch als „Mann des Geistes“ (‫ )אישׁ הרוח‬bezeichnet (vgl. Hos 9,7): „wenn doch einer im Geist käme…“. Vermutlich ist diese hintersinnige Doppeldeutung sogar beabsichtigt. Folgt man jedoch der Interpretation von MT, die ‫ הלך‬und ‫ רוח‬graphisch trennt, wird ‫ רוּ‬zum Objekt von ‫ב‬: „Wind und Trug lügt er“77 (s. o.). Bei „Wind“ geht es dann um „leere Worte“ (vgl. Ijob 6,26; 16,3).78 In jedem Fall handelt es sich hier um einen Gegensatz zum wahren Propheten, der sich in Mi 3,8 ebenfalls in direkter Rede (vgl. V. 11b!) als ein vom Geist JHWHs (‫ה‬‫ה‬ ‫ת־רוּ‬) Erfüllter präsentiert. Dem unbestimmten „Wind“ bzw. „Geist“ steht der aus dem Geist JHWHs redende Prophet gegenüber, der Jakob und Israel seine Sünden verkündet, wie es der (literarische) Micha in den vorausgehenden Versen praktiziert hat. Die Deutung des Textes durch G (s. o.): „ihr wurdet verfolgt, (obwohl) niemand folgte“ orientiert sich inhaltlich hingegen an den Strafandrohungen für Gesetzesverletzung in Lev 26,17.36G. „Und Trug lügt er“ dürfte – sofern beide Handlungen in einem Bezugszusammenhang stehen – gegenüber der ersten Phrase eine Steigerung sein. Der Falschprophet orientiert sich nicht nur danach, woher der Wind weht, sondern spricht bewusst die Unwahrheit, was durch die Kombination von „Trug“ und „lügen“ zu einer kaum mehr zu übertreffenden Unzuverlässigkeit führt. In V. 11b wird die bereits in V. 6 für die Beschreibung der Prophetie verwendete ungewöhnliche Wurzel „fließen (lassen)“ (‫ )נטף‬wieder aufgegriffen und zugleich sarkastisch verfremdet. Der Prophet macht als „Fließenlasser“ seinem Namen alle Ehre, indem er anstelle von wahren prophetischen Worten „Wein und Rauschtrank“ fließen lässt. ‫ן‬ bezeichnet den fertigen Wein, ‫ר‬ „Rauschtrank“ hingegen „wahrscheinlich eine Art Bier“.79 Wiewohl das Alte Testament grundsätzlich ein positives Verhältnis zu Wein und berauschenden Getränken hat (vgl. z. B. Ps 104,15), so gibt es doch auch gerade in weisheitlichen Sentenzen Mahnungen vor übermäßigem Weingenuss (vgl. z. B. Spr 23,29f.). Auffällig ist die Berührung mit der prophetischen Kritik in Jes 28,7f.,80 wo ebenfalls in polemischer Weise Propheten mit Weingenuss in Verbindung gebracht werden, der sie unfähig zu einem klaren Urteil macht. So finden sich auch dort die beiden Stichworte „Trug“ und „Lüge“, vgl. Jes 28,15, womit der Falschprophet seine Adressaten „benebelt“. Im Hintergrund stehen möglicherweise altorientalische Praktiken, wonach Prophetie unter Alkoholeinfluss stattfand. V. 11c schließlich 76 77 78 79 80

UTZSCHNEIDER, Micha, 68. So fasst etwa KESSLER, Micha, 126, den Text auf. So WOLFF, Micha, 54. DOMMERSHAUSEN, Art. ‫ן‬ jajin: ThWAT III, 617. Vgl. UTZSCHNEIDER, Micha, 68.

Diachrone Analyse

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charakterisiert diesen Mann, der über Wein und Bier prophezeit, in sarkastischer Weise81 als angemessenen „Fließenlasser“ („Prophet“) dieses Volkes. Die abfällige Bezeichnung Israels als „dieses Volk (da)“ bringt die Distanz, die zwischen JHWH und seinem Volk besteht und von der bereits in V. 8 die Rede war, zum Ausdruck. Als abwertende Bezeichnung aber findet sie sich vor allem in der Prophetie Jesajas (vgl. Jes 6,10; 8,6.11.12; 9,15; 28,11.14) und Jeremias (Jer 6,19.21; 7,16.33; 8,5; 11,14), sodass man von einer für beide Propheten spezifischen Begrifflichkeit sprechen kann. In Jer 28,15 verbindet sie sich zudem ebenfalls mit dem Vertrauen auf Falschpropheten.

Diachrone Analyse Eine diachrone Analyse des Abschnittes Mi 2,6–11 sollte als erstes jene Beziehungen in den Blick nehmen, die einen über die Michaschrift hinausreichenden literarischen Horizont vor Augen haben und damit dem Propheten des 8. Jh. v. Chr. abgesprochen werden können. Betroffen sind davon insbesondere die Vv. 6 und 11, die – verbunden durch das Stichwort ‫ – נטף‬um die Vv. 8–10 einen Rahmen legen.82 Zu V. 6 sind wohl auch noch die Vv. 7.8a zu rechnen, die das ganze Haus Jakob im Blick haben, während es sich bei Vv. 8b-10 – inhaltlich ähnlich wie in Vv. 1–3 – zunächst nur um Anklagen gegen Angehörige der Oberschicht handelt. Dabei setzt V. 6 „über dieses“ allem Anschein nach bereits Mi 2,1–3 voraus.83 Demnach könnte man sich, mit einigen Unsicherheiten belastet, die Entstehung von Mi 2,6–11 etwa folgendermaßen vorstellen: Den Kern bilden die sozialkritischen Worte 2,8b-10*, die wohl dem Propheten des 8. Jh. v. Chr. zugeschrieben werden können. Sie wurden durch Vv. 6–8b.1184 zu einer Auseinandersetzung zwischen Micha und den gegnerischen Propheten nach dem Vorbild der Auseinandersetzung zwischen Amos und dem Priester Amazja in Am 7,10–1785 bzw. der zwischen Jesaja und seinen prophetischen und priesterlichen Gegnern in Jes 28,7–15 gestaltet.86 Hintergrund könnten möglicherweise ähnliche Phänomene im Jeremia81 82 83 84

MAYS, Micah, 72, spricht von „Sarkasmus und Bitterkeit“. KESSLER, Micha, 128. KESSLER, Micha, 129. So bereits METZNER, Micha, 117, die zudem auf die unterschiedliche Stoßrichtung der Kritik gegen die Propheten in Vv. 6–7a.11 und Mi 3,5–7 hinweist. Während es sich in Vv. 6–7a.11 um ein Wort gegen Heilsprophetie handelt, richtet sich in Mi 3,5–7 die Kritik gegen jegliches Prophezeien um Geld. 85 Möglicherweise ist hier auch an Hos 9,7f. zu denken, vgl. MAYS, Micah, 67; immerhin fällt ja auf, dass der Prophet „Anfeindung“ im Haus seines Gottes ‫יו‬ ‫ית‬ erleidet. Auch Amos bekommt es mit dem Widerstand des Amazja in Bet El ‫ל‬‫ית־‬ zu tun! 86 Insofern hat JEREMIAS, Micha, 147, Recht, wenn er gegen die These Wolffs von einer „Auftrittsskizze“ der Schüler des Propheten von einer „Quintessenz wiederholter Auseinandersetzungen“ spricht. Doch bewegen sich diese nicht auf der Ebene des historischen Micha, sondern des Micha im Kontext eines Mehrprophetenbuches!

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Mi 2,6–11

buch sein (vgl. Jer 28). Auch dort geht es ja um das Problem von Heils- und Unheilsprophetie. Dabei wurde wohl auch V. 10b in seine heutige, im masoretischen Text anzutreffende Gestalt verwandelt, offensichtlich mit dem Ziel, eine weitere Beziehung zu Am 7,17 herzustellen. Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 2

Mi 2,12f.: Künftiges Heil

2,12 Ich werde dich, ganz Jakob, gewiss sammeln, ich werde den Rest Israels gewiss zusammenbringena, Zusammen werde ich sie wie Kleinvieh nach Bosrab legen, wie eine Herde inmitten seiner Trift, und sie werden tosenc aufgrund von Menschen. 13 Es zoga der Durchbrecherb vor ihnen hinauf, sie breiteten sich ausa und durchschrittena das Tor und gingena durch es hinaus, vor ihnen her schritta ihr König hindurch: nämlichc JHWH an ihrer Spitzed.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 12a Anstelle des „ich werde gewiss zusammenbringen“ setzt G offensichtlich eine Verbform ‫ל‬ voraus: „ich werde gewiss empfangen“ ἐκδεχόμενος ἐκδέξομαι, vgl. Nah 3,18. 12b ‫ה‬ ‫אן‬ interpretiert G als ‫ׇצׇרה‬ ‫אן‬ „wie eine Herde in Bedrängnis“ ὡς πρόβατα ἐν θλίψει. Unter Berücksichtigung der parallelen Struktur von V. 12a sowie V (in ovili), T (‫א‬‫ט‬) wäre zu überlegen, ob es sich bei ‫ בצרה‬nicht um eine Ortsangabe ‫ה‬ „in den Pferch“ entsprechend „inmitten seiner Trift“ ‫רוֹ‬ ‫תוֹ‬ handelt.1 12c ‫ה‬‫י‬, welches möglicherweise ein hi. der Wurzel ‫„ הום‬sie werden in Verwirrung bringen“ (?) ist,2 wird gewöhnlich als ‫ה‬‫י‬‫ ֶתּ‬einer Wurzel ‫ המה‬gelesen (Metathesis von ‫מ‬ und ‫„ )י‬sie werden tosen“.3 G: „sie springen vor den Menschen davon“ ἐξαλοῦνται ἐξ ἀνθρώπων geht von einer Flucht aus, wobei im Hintergrund mòglicherweise das Exodusgeschehen steht. 13a Probleme machen die qatal- bzw. wajjiqtol-Formen, da sie einem auf die Zukunft gerichteten prophetischen Wort zu widersprechen scheinen.4 Bleibt man bei MT, dann handelt es sich in jedem Fall um ein V. 12 vorausliegendes Geschehen. 13b G nimmt ‫צוּ‬ „sie brachen durch / breiteten sich aus“ als Prädikat von V. 13a und liest anstelle von ‫ץ‬ ‫ה‬ „der Durchbrecher zog hinauf“ ein ‫ץ‬ ‫ל‬ „(sie brachen) durch die Bresche“ διὰ τῆς διακοπῆς. Damit löst G zugleich das Problem, dass ‫צו‬ recht unverbunden zum Vorausgehenden steht. 13c Das waw ist wohl explikativ zu verstehen. 13d In V. 13b schließlich paraphrasiert G „und der Herr wird/soll sie führen“ ἡγήσεται αὐτῶν und trägt dadurch eine auf die Zukunft gerichtete Aussage ein.

1 2 3 4

Im Unterschied zu der früher von mir vertretenen These, vgl. ZAPFF, Studien, 22f. HAL, I, 232.241. HAL, I, 240. Meistens werden hier textkritische Eingriffe vorgenommen. Im Fall von ‫ה‬ „er stieg hinauf“ in Anlehnung an s‘ und V (ascendet) als ‫ה‬.

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Mi 2,6–11

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Vv. 12f. knüpft an die Ankündigung der Vertreibung und Exilierung in Mi 1,16 und Mi 2,9f. an und kündigt für die Zukunft die Sammlung eines Restes und dessen Rückkehr zum Zion und in das Verheißungsland an. Durch die Verwendung des Begriffes „Rest“ wird offensichtlich gedanklich auf V 5 zurückgegriffen, wo einem Teil Israels der künftige Anteil am Besitz des Landes verwehrt bleibt; außerdem scheint gleichzeitig die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern in Vv. 8–10 im Blick zu sein. Die Rückführung durch JHWH bezieht sich dann offenbar vor allem auf die in Vv. 9f. zu Opfern der Vertreibung Gewordenen. Damit erweist sich JHWH gegenüber dem in Mi 3 beschriebenen ruchlosen Treiben der „Häupter Jakobs“ als wahres Haupt Israels.

Textinterne Aussagegestalt In V. 12 kündigt JHWH die Sammlung eines offenbar dem Gericht entkommenen Restes an, dessen Ziel in V. 13 mittels eines heilsgeschichtlichen Rückblicks des Propheten konkretisiert wird. Dabei tritt der an der Spitze seines Volkes voranschreitende JHWH in Gegensatz zu den ruchlosen Häuptern Jakobs, von denen dann im folgenden Kapitel Mi 3 die Rede ist.5

Einzelauslegung V. 12: Die Sammlung des Restes Israels

Die Auslegung von V. 12 geht davon aus, dass es sich dabei um ein Heilswort handelt. Dies entspricht einer weit verbreiteten Interpretation,6 ist aber nicht ohne Widerspruch geblieben.7 So meint etwa Wöhrle, dass Mi 2,12f. als Heilswort verstanden an seiner heutigen Stelle wie ein Fremdkörper wirkt.8 V. 12 nimmt jedoch durchaus auf vorausgehende Aussagen Bezug, die von Vertreibung und Exilierung sprechen. Zu berücksichtigen ist außerdem die enge sprachliche Verbindung von Mi 2,12 mit Mi 4,6 (s. u.). Letzterer Vers ist eindeutig als Heilswort qualifiziert.9 Jedoch auch ein Verständnis von Mi 2,12 als Heilswort lässt unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten zu. Einen bereits mehrfach beschrittenen Weg10 schlägt auch Utzschneider in jüngerer Zeit wieder ein. Er meint, dass es sich hier um die Äußerung eines der prophetischen Widersacher des Micha handelt, von denen in 5 JEREMIAS, Micha, 147, spricht hier mit Recht von einem „Brückentext“, der schon stärker auf Kap.3 bezogen sei. 6 Zum Beispiel RUDOLPH, Micha, 63; KESSLER, Micha, 138; WALTKE, Micah, 132; JEREMIAS, Micha, 154. 7 Vgl. die Zusammenstellung früher Kommentatoren wie z. B. Ephraim der Syrer, Theodoret, Johannes Calvin und Hugo Grotius, die Mi 2,12f. als Unheilswort interpretieren; WALTKE, Micah, 138. 8 WÖHRLE, Sammlungen, 149. 9 Vgl. WALTKE, Micah, 139. 10 So z. B. VAN DER WOUDE, Dispute, 257.

Synchrone Analyse

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V. 11 die Rede war. Entgegen der michanischen Erwartung eines katastrophalen Gerichtsgeschehens würde der hier sprechende Prophet nicht nur die Sammlung des Restes dieser Katastrophe, sondern zugleich eine Wiedervereinigung der Reste des Nordreiches mit Juda ankündigen, um die Gerichtstheophanie des Proömiums, die sich auf Israel und Juda, Samaria und Jerusalem erstreckt (vgl. 1,5), außer Kraft zu setzen. Gegen diese These hat jedoch bereits Kessler auf den durch die Inklusion mittels ‫ נטף‬hergestellten klaren Abschluss der Einheit Vv. 6–11 hingewiesen: „Wäre V. 12f. Zitat der Gegner, müßte dies nach dem deutlichen Abschluß in V. 11 kenntlich gemacht werden.“11 Hinzu kommt, dass das bereits erwähnte prophetische Wort in Mi 4,6f., welches mit Mi 2,12 in Korrespondenz steht, im Buchganzen eindeutig als – wahres – Wort JHWHs verstanden wird. Auch wenn es sich, wie hier vertreten wird, bei Mi 2,12f. um eine heilsprophetische Fortschreibung handelt, so ist diese doch nicht im Gesamt der Michaschrift als Antithese zu den vorausgehenden Worten JHWHs bzw. Michas zu verstehen, sondern trägt unter Anerkennung eines Gerichtsgeschehens einen neuen und weiteren Aspekt in die Michaschrift ein, der seine Fortsetzung in Mi 4,6f. findet. Die mit Nachdruck12 angekündigte Sammlung Jakobs bzw. des Restes Israels setzt entsprechend der üblichen Verwendung der Wurzel ‫„ קבץ‬zusammenbringen“ im Alten Testament die Situation einer Exilierung voraus, wobei in erster Linie wohl an das babylonische Exil, möglicherweise aber auch an eine allgemeine Diasporasituation zu denken ist.13 In Verbindung mit der Herdenmetaphorik findet sich die Verwendung der hebräischen Wurzel auch in Jes 40,11; Jer 23,3; 31,8.10; Ez 34,13 und Mi 4,6, wohingegen der gleichzeitige Gebrauch beider Wurzeln ‫אסף‬ „sammeln“ und ‫„ קבץ‬zusammenbringen“ nur noch in Mi 4,6 und Jes 11,12 belegt ist. Auch dies spricht für eine enge literarische Verbindung von Mi 2,12 mit Mi 4,6f. Letzterer Text scheint dabei als inhaltliche Fortsetzung gedacht zu sein, insofern dort das Königtum JHWHs und die Zionsthematik als Ziel der Sammlung im Blick ist. So klingt hier neben der Linie eines unerbittlichen Gerichtes, das in die Zerstörung des Zions mündet, zugleich eine Hoffnungsperspektive an, die dieses Gericht zu einem Reinigungsgericht macht.14 Letzteres zeigt vor allem die kontextuelle Einfügung von V. 12. So scheint der Vers auf die in Mi 1,16 angekündigte Exilierung und die in Mi 2,9f. (ursprünglich, s. o.) geschilderte Vertreibung der Frauen und Kinder seitens einer gewissenlosen Oberschicht zu antworten,15 die der schriftgelehrte Redaktor von Mi 2,12 – geleitet durch die masoretische Interpretation von V. 10b – auf die babylonischen Exilierung hin interpretiert hat. „Ganz Jakob“ als Objekt der Sammlung ist im Unterschied zu V. 7 nun positiv besetzt und damit von den Beklagten in Mi 2,7f. abzugrenzen, die dort noch fraglos einen repräsentativen Teil Jakobs bilden. 11 KESSLER, Micha, 137. 12 Zur grammatikalischen Struktur vgl. G/K § 113n. 13 MAYS, Micah, 75: „It presupposes the scattering of Judah’s population through flight and deportation.“ 14 JEREMIAS, Micha, 155, weist darauf hin, dass „das harte Wort Michas über die Zerstörung des Tempels aufgrund der Schuld der Jerusalemer (Kap. 3) von Worten gerahmt [wird], die schon auf das Ende des Exils blicken und auf das Königtum Jahwes, das dann in aller Evidenz erkennbar sein wird.“ 15 JEREMIAS, Micha, 154.

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Mi 2,6–11

Restvorstel- Diese Differenzierung scheint durch die in Parallele zu „Jakob“ stehende Bezeichlung nung „Rest Israels“ bestätigt zu werden, wird doch damit allem Anschein nach

V. 13: Rückblick auf die Heilstaten JHWHs als Hoffnungsperspektive

dem Ausfall eines Teils Israels, nämlich der korrupten Oberschicht, angezeigt, sodass nach dem Gerichtshandeln Gottes nur mehr ein „Rest“ verbleibt.16 Tatsächlich verbindet sich mit der Erwähnung eines Restes ursprünglich vor allem die Vorstellung, dass dadurch die Schwere der erfahrenen Katastrophe dokumentiert wird.17 Hier jedoch ist er Ausgangpunkt einer Erneuerung Israels. Durch das Stichwort „Rest“ wiederum scheint einerseits ein Bezug zu Mi 4,7 und andererseits zu 5,6f. und 7,18 zu bestehen, wo der Rest Jakobs nicht zuletzt im Hinblick auf das Verhältnis Israels zu den Völkern reflektiert wird. Ähnlich wie hier wird der Begriff auch in Mi 7,14 und – wahrscheinlich – in Mi 4,6 mit der Herdenmetaphorik verbunden. Gleichzeitig steht das positive Handeln JHWHs an Jakob in Antithese zum Handeln der Häupter Jakobs, das in Mi 3 beschrieben wird. „Dort erscheinen ‫ יעקב‬und das Haus ‫ בית ישׂראל‬weniger als Objekt der Anklage JHWHs, sondern eher als Opfer der Machenschaften seiner ‚Ältesten‘ und ‚Häupter‘ (Mi 3,1), sodass ein wirkungsvoller Kontrast zum heilvollen Wirken Jahwes an seinem Volk hergestellt wird, […]“.18 In V. 12b geht es um das weitere Verfahren JHWHs mit den Gesammelten. Sollte hier mit MT „Bosra“ zu lesen sein, dann geht es offensichtlich um einen Ort, an dem JHWH den Rest seines Volkes versammelt. Bei Bosra handelt es sich um die Hauptstadt Edoms, welches entsprechend Num 20,14–21 einst Israel bei seinem Auszug aus Ägypten den Durchzug durch sein Land verwehrte. „Vor diesem Hintergrund könnte die Erwähnung Bozras als Sammelpunkt des Restes Israels bei einem neuen Exodus aus den Diasporagebieten die Aussage implizieren, daß der machtvollen künftigen Befreiungstat Jahwes keinerlei Hindernisse mehr in den Weg gelegt werden, ja Bozra und Edom vielmehr gleichsam zur Wiege des von Jahwe neu gesammelten Israels werden“.19 Sollte hier jedoch in Entsprechung zu „Trift“ in V. 12bβ anstelle von „Bosra“ „in einen Pferch“ zu lesen sein, dann geht es darum, dass der als fürsorglicher Hirte gezeichnete JHWH sein Volk in einem sicheren Pferch verwahrt. Die Interpretation von V. 12bβfin leidet unter der unsicheren textlichen Situation. Die oben vertretene Übersetzung lässt einen Anklang an die einst ergangene Mehrungsverheißung an Abraham in Gen 17,4f. vermuten, sodass mit der Sammlung und Rückkehr des Restes Israels aus der Diaspora auch eine Mehrung des Volkes entsprechend der einstigen Verheißung an Abraham verbunden ist. Tatsächlich findet sich eine solche Vorstellung verschiedentlich im Zusammenhang einer Rückkehr aus dem Exil (vgl. Jes 49,19ff.; 54,3; Jer 23,3; 31,8; Sach 10,10).20 Anders als in V. 12 handelt es sich in V. 13 um Prophetenrede. Aufgrund des jeweils singularischen Subjektes („Durchbrecher“/ „ihr König“) und der entsprechenden Verbform („zog hinauf“/ „schritt hindurch“) sowie dem Stichwort „vor ihnen her“ stehen V. 13aα und V. 13bα in einem engen Korrespondenzverhältnis. Inhaltlich vollzieht sich eine schrittweise Identifikation: Der zunächst anonyme „Durchbrecher“ wird in V. 13bα als „ihr König“ identifiziert. In V. 13bβ schließlich

16 17 18 19 20

Vgl. KESSLER, Micha, 139. CLEMENTS, Art. ‫ר‬‫ ׇשׁ‬šāʾar: ThWAT VII, 939; KESSLER, Micha, 139. ZAPFF, Studien, 28. ZAPFF, Studien, 31. MENDECKI, Exodus, 97.

Synchrone Analyse

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erfolgt die endgültige Klärung, um wen es sich hier handelt: JHWH. Aus „vor ihnen“ wird nun ein „an ihrer Spitze“, sodass hier nicht nur eine Steigerung hinsichtlich der Klärung der Identität des Subjektes, sondern auch seines Verhältnisses zu der hier genannten pluralischen Größe festzustellen ist. V. 13aβ schließlich schildert die vom „Durchbrecher“ und „ihrem König“ gerahmte Handlung jener Gruppe, auf die sich „ihr König“ bezieht. Mittels der Stichworte „ausbreiten“ („durchbrechen“) und „durchschritten“ sind sie mit dem Handeln des Durchbrechers/Königs verbunden. Zum einen ahmen sie dessen Handlung nach („ausbreiten“ [durchbrechen]), zum anderen identifiziert sich „ihr König“ mit ihnen („schritt hindurch“). Wie bereits im Rahmen der Textkritik deutlich wurde, bereitet bei der Interpretation des Verses die Zeitstufe besondere Probleme. Die verwendeten qatalbzw. wajjiqtol-Formen weisen nämlich auf ein vergangenes Geschehen hin, während zahlreiche Ausleger hier, ähnlich wie in V. 12, ein künftiges Geschehen sehen wollen.21 Dabei ist noch einmal umstritten, um was es sich dabei handelt. Ein Teil von Exegeten will den Vers als Ankündigung eines Auszugs der Exilierten unter Führung JHWHs aus Babel verstehen (vgl. z. B. Jes 43,16ff.) und den in V. 12 genannten Pferch mit Babel gleichsetzen. Dabei meinen viele Parallelen zu Jes 40ff. feststellen zu können.22 Andere, wie Mays, sehen nicht nur in V. 12, sondern auch in V. 13 ein Unheilswort, demzufolge JHWH die Mauern Jerusalems durchbricht und sein Volk ins Exil führt. Jedoch denkt auch er an ein künftiges Geschehen.23 Eine angemessene Interpretation kommt jedoch nicht am Wechsel der Zeitstufen vorbei, der auffälligerweise zugleich mit einem Sprecherwechsel zwischen V. 12 und 13 einhergeht (V. 12: JHWH; V. 13: Prophet). Möglicherweise stehen beide sogar in einem inneren Zusammenhang, insofern hier der Prophet angesichts der in V. 12 vorausgehenden Verheißungen JHWHs sozusagen zur Untermauerung auf bereits vollzogene Heilstaten JHWHs verweist.24 Tatsächlich deutet zunächst einmal die

21 So z. B. MAYS, Micah, 73: „The ‚breaker‘ shall go up…“; demgegenüber spricht JEREMIAS, Micha, 155, von einer Betonung der „punktuellen Einmaligkeit des Aktes der Befreiung“, „der den Absichten Gottes in V.12 zeitlich vorausliegt“, und auch KESSLER, Micha, 141, geht von der künftigen Verheißung in V. 12 aus, der das in V. 13 Beschriebene vorausgegangen ist. Dennoch entgeht man auch hier nicht der Schlussfolgerung, dass in der Perspektive des Sprechers damit auch V. 13 in der Zukunft liegt, dies aber nirgendswo angezeigt ist; neuerdings plädiert auch wieder WALTKE, Micah, 136, mit ähnlichen Argumenten wie Jeremias für ein futurisches Verständnis. 22 So z. B. WOLFF, Micha, 56; UTZSCHNEIDER, Micha, 70. 23 Mit Hilfe einiger textkritischer und literarkritischer Ergriffe versucht auch WÖHRLE, Sammlungen, 150, dem bisher angeblich nur „unzureichend“ erklärten Text, einen angemessenen Sinn zu geben. Demnach geht das Hinausziehen des „Durchbrechers“ zeitlich dem Hinausgehen des Volkes voran (Wöhrle vokalisiert das Hinausgehen des Volkes als Imperfekt, 151). So bezieht sich das Durchbrechen auf die Aktivität eines Feindes (Wöhrle liest folgerichtig anstelle der pluralischen Form ‫צוּ‬ eine singularische Form), das Hinausziehen des Volkes hingegen auf seine Exilierung. Damit alles passt, muss natürlich auch die Rede von JHWH, der an der Spitze geht, nachträgliche Ergänzung sein (152). Wenn man sich jedoch durch solche Eingriffe den Text entsprechend zurechtlegen muss, sind auch die bisherigen Erklärungsversuche, die mit weniger Eingriffen in den Text zurechtkommen, mit Sicherheit nicht einfach als „unzureichend“ abzuqualifizieren. 24 Vgl. bereits WOLFF, Micha, 56, der mit Recht schreibt: „Es ist, als würde die Ich-Rede Jahwes (V.12) kommentiert“.

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Exodusreminiszenz

Mehrungsverheißung

Mi 2,6–11

in V. 13 verwandte Semantik auf bestimmte vorgegebene Traditionsbereiche, die offenbar in schriftgelehrter Manier durch Aufgreifen bestimmter Lexeme aktualisiert werden. So ist ‫ עלה‬ein wichtiger term. techn. für das „Hinaufziehen“ Israels von Ägypten ins Land Kanaan (vgl. Ex 13,18; Num 20,19 und Jes 11,16), findet aber auch im kultischen Kontext der Wallfahrt nach Jerusalem (vgl. Mi 4,2 und Ps 122,4) Verwendung. Von daher legt es sich aufgrund der Zeitstufe nahe, V. 13 als eine Reminiszenz an den einstigen Auszug aus Ägypten zu verstehen,25 der als solcher eine Hoffnungsbasis für zukünftige Ereignisse darstellt, nämlich den Auszug aus Babel. Wenn dabei JHWH als „Durchbrecher“ ‫ פרץ‬gekennzeichnet wird, so ist hier – wohl ähnlich wie in 2 Sam 5,20 – an ein Durchbrechen des durch feindliche Mächte Israel in den Weg gelegten Widerstandes zu denken.26 „Vor ihnen“ ist wiederum im Kontext des Exodusgeschehens und der Wüstenwanderung belegt (vgl. Ex 13,21; Num 10,33; 14,14), wo JHWH sein Volk anführt. In V. 13bβ wird noch einmal die Wurzel ‫ פרץ‬verwendet, diesmal allerdings sind als Subjekte der pluralischen Form allem Anschein nach jene in V. 12 genannten Größen „Jakob“ und „Rest Israels“ im Blick. Insofern sich ‫ פרץ‬nun auf menschliche Subjekte bezieht und auch ohne Objekt gebraucht wird, legt sich die übertragene Bedeutung „sich ausbreiten“, „sich vermehren“ nahe, wie sie z. B. in Ijob 1,10 und 1 Chr 4,38 belegt ist.27 Tatsächlich findet sich die Wurzel mit dieser Bedeutung auch in der Jakobsverheißung in Gen 28,14, in deren Einlösung in Ex 1,12 und in Jes 54,4, einem in nachexilischer Zeit entstandenen Text. So deutet einiges darauf hin, dass hier an die Mehrungsverheißung JHWHs an den Stammvater Israels, Jakob, angeknüpft wird, zumal bereits V. 12bβ offenbar einen Bezug zur Mehrungsverheißung Gottes an Abraham herstellte (s. o.). Damit aber dient auch hier eine Reminiszenz an die früheren Heilstaten JHWHs als Hoffnungsgrundlage für die zu erwartende künftige Rettungstat JHWHs. Beim „Durchschreiten des Tores“ denken viele Ausleger ebenfalls an Babel bzw. dessen Tore, unter Anspielung auf den Namen „Babel“28 (Akk. bab-ili: „Gottes Tor“). Dann aber müsste man eher ein gewaltsames Aufbrechen des Tores erwarten, während es sich hier um ein völlig friedliches Durchschreiten des Tores handelt. Ausgehend vom Stichwort „Tor“ dürfte jedoch eher eine Verbindung zu zwei anderen vorausgehenden Texten der Michaschrift beabsichtigt sein, wo „Tor“ im Zusammenhang mit Jerusalem und zwar im Kontext eines Unheilgeschehens genannt wird (vgl. Mi 1,9.12).29 Möglicherweise geht es hier nun ebenfalls um eine Reminiszenz an ein vergangenes Ereignis als Grundlage künftiger Heilstaten JHWHs. So könnte hier daran erinnert werden, dass Israel nach dem Exodusgeschehen durch das Tor in Jerusalem einzie25 Als Reminiszenz auf ein vergangenes Geschehen will auch METZNER, Micha, 129, den Vers verstehen. Allerdings meint sie, dass es sich dabei um ein Unheilsgeschehen handelt, näher hin eine erste Deportation. Damit wäre V. 13 eine Umdeutung eines Heilswortes (von Falschpropheten?) in V. 12. Ich denke jedoch, dass dieser Annahme die verwendete Semantik mit dem dadurch transportierten traditionsgeschichtlichen Hintergrund nicht entspricht. 26 So auch WALTKE, Micah, 136f., unter Aufnahme einer These von WILLIS, Structure, 204. 27 ZAPFF, Studien, 34. 28 UTZSCHNEIDER, Micha, 71. 29 ZAPFF, Studien, 35; so auch METZNER, Micha, 125.

Diachrone Analyse

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hen konnte, wird doch auch in Ex 15,17 der Zion („Berg deines Erbteils“) als eigentliches Ziel des Exodus erkennbar. Insofern würde bereits hier in verdeckter Weise Zionstheologie anklingen, die dann in Mi 4,6f. entfaltet wird, wo der in Mi 2,13 einst „hindurchgezogene“ und als „König“ bezeichnete JHWH seine Königsherrschaft „für immer und ewig“ entfaltet. Probleme bereitet schließlich das „Hinausgehen durch es (scil. das Tor)“. Es ist auffälligerweise die einzige Handlung, die nur das Volk, nicht hingegen JHWH vollzieht und für die er auch nicht das Vorbild gibt. Möglicherweise steht diese Formulierung in Zusammenhang mit 2 Kön 19,31 und Jes 37,32. Dort ist davon die Rede, dass ein Rest nach der Belagerung Jerusalems durch Sanherib aus der Stadt hinausgehen wird (‫א‬ ‫ ִם‬‫ירוּ‬ ‫ית‬). Damit impliziert diese Formulierung auf der einen Seite Freiheit und auf der anderen Seite die Wiederinbesitznahme des umliegenden Landes. Tatsächlich findet sich eine ähnliche Vorstellung bereits in Obd 17–20, wo die künftige Inbesitznahme des Landes durch das Haus Jakob geschildert wird. Auch damit scheint ein Rückblick auf die Geschichte als Paradigma künftiger Heilsereignisse zu dienen. Wenn hingegen JHWH die Stadt nicht verlässt, entspricht dies Mi 4,6, wo JHWH für immer auf dem Berg Zion König sein wird. Das Durchschreiten des Königs „vor ihnen“ erinnert wiederum an das Exodusgeschehen,30 in dem JHWH Israel voran zog (Ex 13,21). So gehört es nach 1 Sam 8,20 zu den Aufgaben eines Königs, seinem Volk voranzugehen, was dort im Zusammenhang der frevelhaften Forderung des Volkes nach einem menschlichen König formuliert wird, doch letztlich nur für JHWH angemessen ist. Tatsächlich wird der Königstitel in der Michaschrift, i.S. des Königs Israels ausschließlich für JHWH verwendet. Das Durchschreiten des Tores (Jerusalems, s. o.) durch den König JHWH deutet auf seine Königsherrschaft auf dem Zion hin. So sind die Titulatur JHWHs als König und seine Herrschaft auf dem Zion eng miteinander verbunden,31 wie wiederum Mi 4,6f. ausdrücklich belegt. Die „Spitzenaussage“ des Verses „JHWH an ihrer Spitze“ erklärt sich wohl aufgrund eines Stichwortzusammenhangs mit Mi 3,1, wo von den Häuptern Jakobs (‫י‬‫א‬ ‫ב‬) die Rede ist. Damit dürfte eine Kontrastierung angezielt sein. Während die, denen die Verantwortung zur Leitung des Volkes oblag, jämmerlich versagt haben (Mi 3,1–12), hat sich JHWH im Exodusgeschehen, in der Landnahme und beim Sanheribsturm bereits als eigentliches Haupt seines Volkes erwiesen. Dies ist Grund genug, auch für die Zukunft von JHWH Heil zu erwarten.32

Diachrone Analyse Vv. 12f. ist gegenüber dem Abschnitt Mi 2,6–11 eine nochmals spätere Ergänzung, was nicht zuletzt die enge sprachliche und inhaltliche Beziehung zu Mi 4,6f. zeigt. Diese Verse stammen vermutlich von einer späten Überarbeitung der Michaschrift 30 Überhaupt spielt das Exodusgeschehen – insbesondere das Schilfmeerlied Ex 15,1–21 – als Hintergrund des späteren Heilshandeln JHWHs auch in Mi 7, mit dem Mi 2,12f. wohl auf einer redaktionellen Ebene steht, eine wichtige Rolle, s. u. 31 SEYBOLD/FABRY, Art.  mælæḵ: ThWAT IV, 949.952. 32 Vgl. meine Ausführungen in ZAPFF, Studien, 37f.

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Mi 2,6–11

im Zusammenhang mit der Einfügung der Jonaschrift (siehe Einleitung). Gleichzeitig setzen beide Verse bereits das in Vv. 8–10 anklingende Thema der Exilierung und Vertreibung voraus.

Synthese zu Mi 2 Mi 2 ist in seiner heutigen Gestalt nur verständlich, wenn es vor dem Hintergrund des entstehenden Zwölfprophetenbuches und des Jesajabuches gelesen wird. Sozialkritische Worte des Micha werden verknüpft mit der Problematik der Akzeptanz eines JHWH-Propheten und dem Phänomen der Falschpropheten, die durch ihre unbegründete Heilsprophetie Israel verführen. Es wird somit eine Problematik entfaltet, die sowohl in der Amoschrift wie im Buch Jeremia anzutreffen ist. Prophetische Verkündigung und prophetisches Schicksal werden somit am Beispiel des Micha vereinheitlicht. Micha wird nicht nur hinsichtlich seiner Botschaft und seiner Ablehnung seitens der Oberschicht zum Nachfolger des Amos, sondern erleidet auch einen ähnlichen Widerspruch wie Jeremia, der sich ja umgekehrt auch selbst auf ein Wort des Micha beruft (s. u.). Gleichzeitig tritt die Botschaft des Micha in Parallele zu der Jesajas, insofern Bezüge zum Jesajabuch hinsichtlich zentraler Themen Mi 2 rahmen. So betrachtet geht es, wiewohl in Mi 2 Spuren der Verkündigung des historischen Propheten zu finden sind, hier nicht um eine Darstellung der Worte des historischen Micha, sondern um die Stilisierung einer prophetischen Gestalt, in der sich wesentliche Züge alttestamentlicher Prophetie wiederfinden. Mi 2 ist daher ein gutes Beispiel des theologischen Verständnisses alttestamentlicher Prophetie, das von der individuellen Gestalt des Propheten zu einer allgemeinen Aussage darüber gelangt, was echte JHWH-Propheten verkündigen. Im Zusammenhang mit den vorausgehenden Schriften Hosea und Amos gibt Mi 2 dabei den wesentlichen Grund für die in Mi 3 hereinbrechende Katastrophe an. Die späten heilsgeschichtlichen Fortschreibungen in Mi 2,12f. wiederum zeigen, dass in aller Dunkelheit der Schuld Israels und der durch diese ausgelöste Vernichtung JHWH dennoch zu seinen Verheißungen steht. Diese sind die Grundlage eines Neuanfangs, aber verunmöglichen nicht, wie die Gegner des Propheten meinen, von vorneherein jegliches Gerichtshandeln JHWHs.

Mi 3,1–4: Wie Kannibalen – die Machenschaften der Oberschicht 3,1 Doch ich habe gesagta: Hört doch ihr Häupter Jakobsb und ihr Machthaberc des Hauses Israel: Liegt es nicht an euch, das Recht zu kennen? 2 Die das Gute hassen und das Böse liebena, die die Haut von ihnen herunterreißen und ihr Fleisch von ihrem Gebein. 3 Und wenna sie das Fleisch meines Volkes gegessen und die Haut von ihnenb abgezogen und ihr Gebein zerschlagen und (sie) zerteilt haben wiec im Kochtopf und wie Fleisch im Topf, 4 dann werden sie zu JHWH schreien, doch er wird ihnen nicht antworten und er wird sein Gesicht vor ihnen zu jener Zeit verbergen, weil sie ihre Taten böse gemacht habena.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1a Während MT eine 1. Pers. sing. vokalisiert, übersetzt G mit einer 3. Pers. sing.: „und er wird sagen“ καὶ ἐρεῖ; S: „und er sagte“. 1b In V. 1bα ergänzen G und S offenbar in Entsprechung zu V. 9 „Haus (Jakobs)“ οἴκου Ιακωβ. Anstelle von „Machthaber“ übersetzt G in V. 1bβ mit „die Übriggebliebenen“ οἱ κατάλοιποι, offensichtlich unter Bezug auf V. 12aβ: „die Übriggebliebenen Israels“ καταλοίπους τοῦ Ισραηλ. Wie BHQ vermutet,1 könnte G dabei das hebr. ‫י‬‫י‬‫ וּ‬von der hebr. Wurzel ‫„ קצה‬abschneiden“ bzw. als Nomen „Ende“ abgeleitet haben. 2a G mit „die (das Böse) suchen“ ζητοῦντες verstärkt das aktive Tun der Adressaten, was sich auch in den folgenden Aktionen zeigt. Dabei scheint G von Am 5,14a geleitet zu sein, in welchem zum gegenteiligen Verhalten aufgefordert wird: „Sucht das Gute und nicht das Schlechte!“ ἐκζητήσατε τὸ καλὸν καὶ μὴ τὸ πονηρόν. Die Botschaft des Amos zeigt also auch entsprechend der Deutung von G an den „Übriggebliebenen“ keine Wirkung. 3a Auf die Ähnlichkeit mit der Konstruktion in V. 5c hat bereits Vermeylen hingewiesen.2 3b In V. 3aβ fügt G offenbar zur Verdeutlichung ein ἀπὸ τῶν ὀστέων αὐτῶν „(und ihre Haut) von ihren Knochen (abgezogen haben)“ ein. 3c Anstelle „wie (im Kochtopf)“ ‫ר‬ in V. 3bα setzt G mit „wie Fleisch“ ὡς σάρκας offensichtlich ein ‫ר‬ voraus, was eine gute Entsprechung zu ‫ר‬ in V. 3bβ bilden würde. 4a In V. 4bβ ergänzt G „gegen sie“ ἐπ᾽ αὐτούς, sodass sich das schlechte Handeln der Oberschicht ausdrücklich gegen die in V. 2 genannten Opfer richtet. 1 2

BHQ, 71. VERMEYLEN, Isaїe, 586.

104

Mi 3,1–4

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Gegenüber der vorausgehenden Beschreibung der Falschprophetie in Mi 2,11, an die Mi 3,1 wohl ursprünglich direkt anknüpfte (s. u.), meldet sich in Mi 3,1 nun der (literarische) Micha mit seiner wahren Prophetie zu Wort. Aber auch gegenüber dem wohl nachträglich eingefügten (s. u.) Abschnitt Mi 2,12f. setzt sich Mi 3,1 kontrastierend ab, insofern dem in Mi 2,13bβ an der Spitze (‫ם‬‫א‬) seines Volkes einherschreitenden JHWH die schlechten Häupter Jakobs (‫ב‬ ‫י‬‫א‬) gegenübergestellt werden. Deren in Mi 3,2b mittels der bereits in Mi 2,2a verwendeten Wurzel ‫(„ גזל‬herunter)reißen“ beschriebene Vergehen steigern sich noch, insofern sie nun ihren Opfern nicht nur den Besitz „entreißen“, sondern auch das Fleisch von den Knochen „reißen“. Damit beinhaltet Mi 3,1–4 gegenüber Mi 2 eine weitere Steigerung und Kulminierung der Vergehen:3 Die das Eigentum der kleinen Leute raubende Oberschicht, allen voran die Führenden des Volkes, nimmt ihren Opfern nun auch die physische Existenz. Die schriftgelehrten Bezüge zu Hosea und Amos (s. u.) zeigen dabei, dass auch die Häupter des verbliebenen Südreiches Juda, die nun Jakob repräsentieren, in keiner Weise besser sind als die einstige Oberschicht des Nordreiches. Für sie ist das Volk nur noch ein „gefundenes Fressen“.

Textinterne Aussagegestalt Durch die Höraufrufe in V. 1 und V. 5 lässt sich Mi 3,1–4 als eigener Abschnitt abgrenzen. Inhaltlich handelt Mi 3,1–4 von den Vergehen der Häupter des Volkes. Dabei wird zunächst deren allgemeine Haltung (V. 2a) charakterisiert, die sich dann in einem quasi kannibalischen Handeln an JHWHs Volk konkretisiert (V. 2b.3). V. 4 schildert die Bestrafung der Täter: Entsprechend ihrem Tun verschließt sich JHWH ihrem notvollen Schreien.

Einzelauslegung V. 3: Die Aufgabe der Führenden Israels

Die 1. Pers. sing., die MT in V. 1aα vokalisiert, charakterisiert das Folgende als direkte Rede des Micha. Wahrscheinlich soll dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass Micha gegen die vorherige Beschreibung der Falschpropheten und der von ihnen verkündeten Prophetie („Wein und Rauschtrank“) in V. 11 nun seine eigene Prophetie stellt,4 so wie er sich auch in Mi 3,8 als mit dem Geist JHWHs 3 4

Bereits WÖHRLE, Sammlungen, 155, stellt mit Recht fest, dass sich die Abfolge beider Kapitel ähnelt, insofern jeweils einem Abschnitt mit Sozialkritik ein Abschnitt zur Prophetie folgt: 2,1–5 / 2,6–11; 3,1–4 / 3,5–8; 3,10 / 11. CORZILIUS, Rätsel, 234, stellt mit Recht heraus, dass die Redeeinleitung „das Ich Michas betont in den Vordergrund“ stellt, sodass „[a]uf diese Weise […] die Profilierung des Formats Michas fortgeführt [wird], die im Rahmen der Debatte durch die Abgrenzung der michatypischen Weissager von ihrer Opposition begonnen worden war.“

Synchrone Analyse

105

erfüllt präsentiert.5 Von daher ist das ‫ ו‬im adversativen Sinn zu verstehen („doch“).6 Formal erinnert dies an Am 7,14, wo sich der Prophet ebenfalls in einem Dialog – und zwar mit dem Priester Amazja – befindet.7 Die dadurch mit V. 11 hergestellte Verbindung spricht außerdem dafür, dass ‫ר‬ „doch ich habe gesagt“ auf dieselbe redaktionelle Ebene wie die Komposition von Mi 2,6–11 zu setzen ist.8 Eine abweichende Interpretation in G G, die anscheinend Mi 2,11c.12f. als Inhalt der in V. 11a.b beschriebenen Lügenprophetie versteht, setzt dem, ebenfalls in Form der 3. Pers. sing., die Rede des (wahren) Propheten entgegen, womit sich die Abweichung von MT erklärt.

Der Höraufruf wendet sich nach der prophetischen Kritik an der gewissenlosen Höraufrufe Oberschicht in Mi 2 nun direkt an die führenden Kreise Israels (vgl. V. 9). Die auffällige Tatsache, dass Höraufrufe auch in der Hosea- und Amosschrift eine wichtige Rolle spielen (vgl. Hos 4,1; 5,1; Am 3,1; 4,1; 5,1; 8,4), könnte ein Hinweis darauf sein, dass in Mi 3,1.9 in direktem Rückbezug formuliert worden ist.9 Dies könnte auch die Verstärkung der beiden Imperative mittels ‫„( נא‬doch“) erklären, um diese als besonders dringlich erscheinen zu lassen, da nun die prophetische Kritik in den Untergang Zions mündet.10 „Häupter Jakobs“ bezeichnet wohl ursprünglich die Häuptlinge der einzelnen Stämme.11 In jedem Fall verbindet sich mit dem Titel die Verantwortung für das Gemeinwohl, zumal in „Häupter“ auch die Assoziation „Beste“ anklingt. Der Parallelbegriff ‫ין‬‫ ׇק‬bezeichnet den „Machthaber“, der, von den Bürgern eingesetzt, sowohl militärische wie zivile (Kultus, Rechtsleben) Leitungsaufgaben (vgl. z. B. Ri 11,11)12 einnehmen kann.13 Sollte V. 1 aus dem 8. Jh. v. Chr. stammen, so könnte man mit Kessler „an den König und seinen Beamtenapparat“ denken.14 Während in Mi 1,5 „Haus Israel“ und „Jakob“ allem Anschein nach das Nordreich bezeichnen, sind hier aufgrund des Zionbezuges in V. 10 mit großer Wahrscheinlichkeit, ähnlich wie in Mi 2,6b, die Führenden Judas im Blick. „Jakob“ und „Haus Israel“ sind also nach der Vernichtung Samarias (vgl. Mi 1,6) als Bezeichnungen auf das Südreich übergegangen.15

5 JEREMIAS, Micha, 160: „Insbesondere aber weist das ‚Ich‘ des Propheten vorweg auf V. 8, wo Micha sein eigenes Prophetenverständnis darlegt […]“. 6 WOLFF, Micha, 65. 7 So bereits die interessante Beobachtung von MAYS, Micah, 78. 8 Als redaktionellen Einschub betrachtet es bereits WILLIS, Note, 54: „In my opinion, ‚And I said‘ may well be the redactor’s way of indicating his own arrangement of the ‚Mican‘ oracles which had been handed down to him“; WÖHRLE, Sammlungen, 153, sieht darin eine „Tendenz der Erstherausgeber“, die „aus vorgegebenen Prophetenworten ein Buch gestalteten, das insgesamt vom Gegenüber der angeklagten Gruppen und der Person des Propheten, die sich positiv von diesen unterscheidet, geprägt ist.“ 9 So eine von SCHART, Entstehung, 188, erwogene Möglichkeit, die ihre Entsprechung in anderen, bereits dargelegten Beziehungen von Mi 2 zu Hosea und Amos findet. 10 SCHART, Entstehung, 186. 11 WOLFF, Micha, 67. 12 WOLFF, Micha, 67. 13 NIELSEN, Art. ‫ין‬‫ ׇק‬qāṣîn: ThWAT VII, 94. 14 KESSLER, Micha, 148. 15 JEREMIAS, Micha, 160.

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Mi 3,1–4 Eine abweichende Interpretation in G Wenn G mit „die Übriggebliebenen“ übersetzt, knüpft sie damit offensichtlich an die Restvorstellung in Mi 2,12aβ an (τοὺς καταλοίπους τοῦ Ισραηλ), wie sich auch sonst οἱ κατάλοιποι auf einen Rest bezieht (vgl. Am 6,9; Zef 2,9). Entgegen der dortigen Heilsprophetie, die als Falschprophetie gebrandmarkt wird, wird nun dieser Rest an seine soziale Verantwortung erinnert. Ob damit zusammen mit der Jerusalemer Oberschicht auch Diasporajuden angesprochen werden,16 lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. In jedem Fall setzt diese Anrede in G eine Hörerschaft nach der Katastrophe des Exils voraus.

V. 2: Die abgrundtiefe Bosheit der Führenden Israels Korrespondenz zu Am 5,15a

Den Führenden obliegt entsprechend V. 1c die Aufgabe, das Recht zu kennen. Hier wird offensichtlich auf eine Formulierung in Hos 5,1b angespielt,17 wenn dort ebenfalls die Verantwortlichen des Hauses Israels – hier noch identisch mit dem Nordreich – mittels eines Höraufrufs (s. o.) angesprochen werden. Damit aber wird eine weitere Parallelisierung der Vergehen des Nordreiches mit denen des Südreiches vollzogen.18 Das singularische mit Artikel versehene ‫ֽפּט‬ kann das Recht im Sinne eines allgemeinen Prinzips bezeichnen, also „das, was recht und billig ist“.19 Alternativ dazu könnte hier auch mit „Urteil“ übersetzt werden, wie es etwa G (τὸ κρίμα) tut, und zwar im Sinne „liegt es nicht an euch das Urteil zu kennen?“, welches ein solches im Anschluss geschilderte Verhalten nach sich zieht. Die Aussage würde damit auf das über die schuldige Führungsschicht hereinbrechende Gericht entsprechend des (von JHWH) ergangenen Urteils bezogen werden. „Kennen“ ‫ ידע‬impliziert eine innige Vertrautheit, die auch das Fühlen und Wollen bestimmt,20 welche sich aus der Führungsposition der Angeredeten fast von selbst ergeben sollte. Die rhetorische Frage, die als Antwort ein „Ja“ fordert, unterstreicht formal diese Selbstverständlichkeit. Ähnlich wie in Mi 2,1 werden auch in V. 2 die Adressaten durch die Partizipialformen mit grundsätzlichen Haltungen bzw. Handlungsweisen in Verbindung gebracht,21 die ihnen wie Eigenschaften anhaften. Dabei verhalten sie sich genau umgekehrt, als es Am 5,15a in weisheitlicher Manier fordert:22 „Hasst das Böse und liebt das Gute“. Durch die beiden einander entgegengesetzten Verhaltensweisen „hassen“ und „lieben“ in Verbindung mit dem Gegensatzpaar „Böses“ und „Gutes“ will ein solcher Satz vor eine eindeutige Entscheidung stellen. Diese aber verkehren die Adressaten in V. 2a törichterweise in ihr Gegenteil. Insofern es sich bei „Gut“ und „Böse“ nicht lediglich um abstrakte ethische Prinzipien handelt, sondern um das, was dem Menschen förderlich bzw. schädlich ist, sind die Haltung und das Handeln der Adressaten des Propheten widersinnig, denn „wer sich so über tragende Ordnungsstrukturen hinwegsetzt,

16 17 18 19

So UTZSCHNEIDER, Michaias, 2371. JEREMIAS, Micha, 160. JEREMIAS, Micha, 160. Vgl. WOLFF, Micha, 68, der von der „das ganze Leben umgreifenden Rechtsordnung Altisraels“ spricht. 20 RUDOLPH, Micha, 70. 21 WOLFF, Micha, 68. 22 WOLFF, Micha, 69, verweist darauf, dass die Antithese von „gut“ und „böse“ sowie die von „lieben“ und „hassen“ in weisheitlichen Texten verbreitet ist (vgl. Spr 1,22; 9,8; 12,1; 13,24; 14,22; 28,5.6).

Synchrone Analyse

107

ist in Gefahr, seine eigenen Lebensmöglichkeiten zu zerstören.“.23 Durch „Böses“ besteht zudem ein Stichwortbezug zu Mi 2,1.24 Ist dort lediglich von „denen, die Böses tun“ die Rede, wird die Aussage hier gesteigert: die Angehörigen der Oberschicht sind richtiggehend verliebt in das Böse. Durch die faktische Umkehrung der Forderung in Am 5,15a fließt die in Mi 2,6 formulierte Ablehnung der Propheten nun auch in die Haltung und Handlung der Führenden Judas ein.25 Sie nehmen sich weder die Mahnung des Amos noch die des Micha zu Herzen. Mit ‫(„ גזל‬herunter)reißen“ greift V. 2bα ein Stichwort aus Mi 2,2 auf. Bezieht es sich dort auf Felder und damit den Besitz, den die skrupellose Oberschicht den vormals freien Bauern raubt, so treten nun die Unterdrückten selbst in den Blick. Mit ihnen springen die Gewaltherrscher um wie mit Schlachtvieh und zerlegen sie wie Kannibalen. Das Bild bringt wohl zum Ausdruck, dass ihnen die letzte Menschenwürde geraubt wird, indem sie bis zum Letzten ausgebeutet werden. Sind sie in V. 2bα noch als Menschen im Blick, so geht es in V. 2bβ um das Fleisch, das von dem nicht mehr verwertbaren Gebein abgetrennt wird. V. 3a bildet einen dreigliedrigen Verbalsatz, dessen erste beide Glieder die zwei in V. 2b genannten Objekte „Fleisch“ und „Haut“ in Form eines Chiasmus aufgreifen. Dies und die Zeitstufe, die gegenüber V. 2b eine abgeschlossene Handlung beschreibt, sprechen dagegen, V. 3a aufgrund einer vermeintlichen Wiederholung von V. 2b als nachträgliche Glosse auszuscheiden.26 V. 3aγ mit der Erwähnung der Gebeine entspricht ihrer Schlussstellung in V. 2bβ, geht aber inhaltlich darüber hinaus, insofern es nun um deren endgültige, ebenfalls in der Vergangenheit liegende Vernichtung geht. Daran inhaltlich anknüpfend behandelt V. 3b das weitere Schicksal der Betroffenen (bzw. G: „ihres Fleisches“), die wie für den Kochtopf zerteilt wurden. Dabei fällt auf, dass nun die Ebene der Realität verlassen und in Form eines Vergleichs formuliert wird („wie im Kochtopf“, „wie Fleisch“). Insofern V. 3 gegenüber V. 2b ein abgeschlossenes Geschehen schildert, bildet er zugleich die Voraussetzung des in V. 4 geschilderten künftigen Verhaltens JHWHs. „Mein Volk“ (vgl. Mi 2,9) trägt eine Differenzierung zwischen dem Handeln der Oberschicht und ihren Opfern ein. Zum einen kommt hier ein Stück Mitleid des Propheten mit den Betroffenen zum Ausdruck, zum anderen gehören die Führenden des Volkes aufgrund ihres Verhaltens offenbar nicht mehr zum Volk, das sich als Gottesvolk verstehen darf. Es geht um radikale Ausbeutung und Vernichtung. Das Fleisch der Armen – Fleisch ist Inbegriff der Existenz eines Menschen – fressen sie wie Raubtiere und vernichten sie damit. V. 3aβ scheint zunächst V. 2bα lediglich in Variation aufzugreifen und bereitet inhaltlich insofern Probleme, als er eigentlich zu spät kommt.27 Wovon soll man die Haut abziehen, wenn das 23 OBERFORCHER, Micha, 59. 24 KESSLER, Micha, 149, sieht in dieser Beziehung auch den „Grund, weshalb die Masoreten in 3,2 das Ketib ‫ רעה‬wie in 2,1 als ‫ רע‬lesen lassen“. 25 Vgl. CORZILIUS, Rätsel, 309: „Durch die Zitation wird die Anklage gegen das Nordreich auf den judäischen Süden übertragen“. 26 Vgl. etwa BHS. 27 So bereits VERMEYLEN, Isaїe, 585; dies etwa führt MAYS, Micha, 77, zu einer Umstellung der Verse, in der Reihenfolge Vv. 3.2b. Dabei will Mays V. 2 zusammen mit V. 4 als Voraussage der Bestrafung verstehen, die auf die Schuldigen fällt.

V. 3,3f.: Das verbrecherische Handeln der Oberschicht und seine Konsequenzen

108

Mi 3,1–4

Fleisch bereits gegessen ist (V. 3aα)? Da es sich jedoch um ein vergangenes abgeschlossenes Geschehen handelt (vgl. die qatal- bzw. w-x-qatal-Formen), spielt hier die Abfolge der einzelnen Schritte keine besondere Rolle, vielmehr steht im Vordergrund die oben beschriebene chiastische Struktur bzw. die jeweilige Schlussstellung von „Gebeinen“. Dabei geht es vor allem um das Ergebnis des in V. 2b beschriebenen Handelns der Oberschicht. Der folgende V. 3aγ schildert ein endgültiges Vernichtungsgeschehen: Die Opfer der Oberschicht werden sprichwörtlich in ihre Einzelteile zerlegt. Das Zerbrechen der Gebeine könnte dabei mit der Intention verbunden sein, den Betroffenen die letzte Existenz zu nehmen (ähnlich Am 2,1). Dass es hier nicht um ein reales Schlachtungsgeschehen oder Kannibalismus geht, macht V. 3b deutlich, der auf die Vergleichsebene wechselt. Bei „zerteilt“ mag zwar im Hintergrund noch das Geschehen einer Zerstückelung des Fleisches stehen, gebrochen durch den Vergleich bezieht sich die Formulierung aber möglicherweise auf ein Zerstreuungsgeschehen, welches den Betroffenen jegliche Heimat raubt (vgl. Mi 2,10). Das Ganze wird mit dem Ausbreiten des Fleisches in einem Topf verglichen. Entsprechend dem inhaltlichen Zusammenhang handelt es sich bei den SchreiV. 4 enden in V. 4a um diejenigen, die in V. 3 das Fleisch „meines Volkes“ gegessen und es derart brutal behandelt haben. So verstanden bezieht sich „dann“ ‫ז‬ nicht auf ein zunächst unbestimmtes Ereignis der Zukunft, das sich erst im „Schlussvers des Kapitels“28 enthüllt, sondern eben auf jene brutalen Schlächter, von denen V. 3 spricht29 und die offensichtlich das Verbrecherische ihres Tuns nicht erkennen. Sie, die unbarmherzig jegliches Geschrei durch ihr mörderisches Tun zum Verstummen bringen und taub sind gegenüber jeglicher Not, schreien nun selbst zu JHWH. Dabei ist „zu JHWH schreien“ ein Ausdruck äußerster Not, der oft im Zusammenhang mit einer Bedrängnis durch Feinde verwendet wird (vgl. vor allem Ri 3,9.15; 6,6f.; 10,10.14). Reagiert JHWH gewöhnlich unverzüglich auf das Schreien seines Volkes,30 indem er hilfreich einschreitet, so antwortet er hier nicht einmal (vgl. Jer 11,11). „Antworten“ ist dabei im Sinne einer Erhörung des Schreiens zu verstehen. Diese Verweigerung JHWHs wiederum führt in den Untergang (vgl. 1 Sam 28,6). Durch das Stichwort „nicht antworten“ wird gleichzeitig eine Verbindung zum folgenden Abschnitt hergestellt, in welchem die Propheten keine Antwort Gottes erhalten.31 Damit bildet dieser Vers eine Art Brücke zwischen beiden Abschnitten. Das Schweigen JHWHs steigert sich zudem in eine ausdrücklich negativ qualifizierte Handlung: dem Verbergen seines Gesichts (Dtn 31,17; 32,20). Wird die Hinwendung des Angesichts gewöhnlich als hilfreiche Zuwendung JHWHs verstanden (vgl. die feststehende Formulierung „das Angesicht leuchten lassen“ in Ps 31,17; 80,4.8.20; 119,135), so ist das Verbergen des Angesichts gleichzusetzen mit dem Entzug seiner Gegenwart (vgl. Jes 64,6; Ps 27,9). Wie in Jer 33,5 wird dies mit den bösen Taten der Betroffenen begründet, womit zugleich ein Stichwort aus Mi 2,1a aufgegriffen wird. Die zeitliche Bestimmung scheint auf die in Mi 2,3b 28 So KESSLER, Micha, 150; neuerdings auch wieder CORZILIUS, Rätsel, 255. 29 So bereits MAYS, Micah, 80, wenngleich er eine Umstellung der Verse vornimmt. 30 JEREMIAS, Micha, 161, verweist hier auf den zwischenmenschlichen Bereich, indem „jeder Vollbürger, der den ‚Schrei‘ einer Person minderen Rechts hört, zur (Rechts-)Hilfe verpflichtet“ ist. 31 So CORZILIUS, Rätsel, 214.

Diachrone Analyse

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angekündigte Gerichtszeit zurückzuverweisen. Auch hier steht wohl im Hintergrund das Exilsgeschehen.32

Diachrone Analyse Die synchrone Analyse zeigt, dass Mi 3,1–4 nicht nur vor dem Hintergrund von Mi 1 und 2, sondern offensichtlich auch im Zusammenhang mit der vorausgehenden Hosea- und Amosschrift zu lesen und zu verstehen ist. Damit stellt sich die Frage nach der Entstehung von Mi 3,1–4. Sollte hier ein älteres, auf den historischen Micha zurückgehendes Wort im Hintergrund stehen, so hat dies in jedem Fall eine deutliche Bearbeitung erfahren, die es in die heutige Komposition der Michaschrift eingliedert. Dafür sprechen folgende Beobachtungen: Das von MT als direkte Rede des Propheten verstandene ‫ר‬ „ich aber sagte“ (s. o.) lässt das Folgende als Antwort des Propheten auf das Geschwätz der zuvor geschilderten Lügenpropheten erscheinen. Damit aber setzt Mi 3,1a die Komposition von Mi 2,6–11 voraus, die wiederum in Entsprechung zu Am 7, also in Bezug zur vorausgehenden Amosschrift, formuliert ist (siehe Auslegung zu Mi 2,6.11). Spricht V. 1b von „Jakob“ und dem „Haus Israel“, so setzt es den in Mi 1,6 geschilderten Untergang Samarias und des Nordreiches voraus, dessen Titel nun auf das verbleibende Südreich übergegangen ist. Die Pflicht der Führenden Judas, von der in V. 1c gesprochen wird, hat als Hintergrund offenbar Hos 5,1b. Ähnliches gilt für V. 2a, der die Predigt des Propheten Amos in Am 5,15a voraussetzt, die sich jedoch auch die Führer Judas nicht zu Herzen nehmen. Die durch das Stichwort „herunterreißen“ ‫ גזל‬hergestellte Beziehung zu Mi 2,2a führt die dortige Aussage fort und verstärkt sie. Da das Objekt „von ihnen“ unbestimmt bleibt, ist außerdem anzunehmen, dass der Vers ursprünglich in einem engeren Zusammenhang mit vorausgehenden Beschreibungen der Untaten der Oberschicht stand (z. B. Mi 2,8ff.). Ähnlich wie durch das Stichwort „herunterreißen“ wird auch durch „abziehen“ ‫פשׁט‬, ebenfalls mit der Intention einer Verstärkung, ein Rückbezug zu Mi 2,8 hergestellt. V. 3b verlässt durch den gebrochenen Vergleich („wie im Kochtopf“ und „wie Fleisch im Topf“) ein Stück weit das Schlachtungsbild und greift mit ‫„ פרשׂ‬ausbreiten“/ „verteilen“ ein Lexem auf, das den Gedanken der Zerstreuung einträgt und damit möglicherweise auf Mi 2,10 zurückverweist. V. 4 schließlich weist Formulierungen auf, die sich auch im Deuteronomium und bei Jeremia finden, (s. o.). Aus diesen Beobachtungen lässt sich folgende Redaktionsgeschichte erschließen: Ein Grundbestand, der möglicherweise auf den historischen Micha zurückgeht, könnte sich in V. 2b und vielleicht auch einer früheren Form von V. 3 finden, wofür etwa die Rede von „meinem Volk“ sprechen könnte (vgl. Mi 2,9). Ähnlich wie in Mi 2 würde dann auch hier eine sozialkritische Äußerung des Propheten zu Vergehen vorliegen, die die in Mi 2,2.8b-10 geschilderten noch übertreffen. Das Vorgehen der Oberschicht gleicht einem Schlachtungsvorgang an den Armen. V. 3, 32 VERMEYLEN, Isaїe, 586f.: „La conséquence décisive des agissements des chefs d’Israël n’est autre que la prise de Jérusalem par Nebuchodonosor.“

110

Mi 3,1–4

der das Thema von V. 2b aufgreift, steht in seiner heutigen Form syntaktisch in engem Zusammenhang mit V. 4, der die Konsequenzen des Verhaltens der Häupter Jakobs nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang schildert, die, selbst taub gegenüber den Opfern ihres Handelns, ebenfalls kein Gehör bei JHWH finden. Vv. 1.2a und 3f. sind demnach Ergänzungen, die dieses Wort des Micha, ähnlich wie in Mi 1 und 2 in einen größeren Zusammenhang stellen, der bereits die Lektüre der Hosea- und Amosschrift voraussetzt. Vv. 1–4 wird nun zur Entgegnung des Propheten auf die Lügenpropheten in Anlehnung an Am 7 vor dem Hintergrund des Exilgeschehens. Die verweigerte Antwort JHWHs in V. 4 scheint sich dabei an Am 8,12 zu orientieren. Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 3

Mi 3,5–8: Die falschen Propheten und der wahre Prophet JHWHs 3,5 So hat JHWH über die Propheten gesprochen, die mein Volk zum Taumeln bringen: „Beißen sie (etwas) mit ihren Zähnen, so rufen siea: Frieden! Wenn es (scil. mein Volk) aber nicht ihrem Mund entsprechend gibt, dann heiligen sie gegen es den Krieg. 6 Darum: Nacht sei es für euch ohne Schauung! Und es wird dunkela für euch ohne Wahrsagen, und es wird untergehen die Sonne über den Propheten, sodass sich über ihnen der Tag verfinstert. 7 Und die Sehera werden zuschanden und die Wahrsager werden sich schämenb und sie werden alle ihren Lippenbart verhüllenc, denn es gibt keine Antwort Gottes.“ 8 Ich aber bin erfüllta von Kraft durch den Geist JHWHsb und von Recht und Stärke, um Jakob sein Verbrechen zu verkünden und Israel seine Sünde.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 5a In V. 5bβ ergänzt G: „(so rufen sie) auf es/ihn (Frieden)“ ἐπ᾽ αὐτὸν, offenbar in Entsprechung zu „auf es/ihn den Krieg“ ἐπ᾽ αὐτὸν πόλεμον in V. 5cβ. 6a Anstelle einer Verbform „und es wird dunkel“ ‫ה‬ liest G in Entsprechung zu „Nacht“ ein Nomen: „und Dunkelheit“ καὶ σκοτία entspr. ‫ה‬. Dies scheint der Parallelismus membrorum nahezulegen.1 Es stellt sich jedoch die Frage, ob V. 6aα und V. 6aβ wirklich synonym zu verstehen sind (s. u.). 7a G expliziert die hebräische Bezeichnung „Seher“, indem sie mit „die Träume sehen“ ὁρῶντες τὰ ἐνύπνια übersetzt (vgl. S). 7b V. 7aβ „und […] werden sich schämen“ ‫רוּ‬ gibt G mit „und sie werden lächerlich“ καταγελασθήσονται wieder. 7c In V. 7b weicht G deutlich von MT ab: „und alle werden schlecht gegeneinander reden; deshalb ist niemand da, der auf sie hört.“ Anstelle von ‫„ עטה‬verhüllen“ setzt G wohl eine hebr. Wurzel ‫„ עיט‬schreiend herfallen über“ voraus. Dabei hat die Abweichung vor allem inhaltliche Gründe (s. u.).

1

So bereits WOLFF, Micha, 61; JEREMIAS, Micha, 157.

112

Mi 3,5–8

8a In V. 8a weicht G deutlich von MT ab. So übersetzt G das adversative „aber“ mit „außer, dass“ und versteht das intransitive „ich bin erfüllt“ als transitive Form „ich (sie) erfülle“ ἐμπλήσω mit dem Subjekt Gott, sodass sich ein doppeltes Objekt ergibt: „sie“ (scil. die zuvor genannten Seher, entspr. LXX.D zu ergänzen)2 und „mit Stärke“. 8b ‫ה‬‫ה‬ ‫ת־רוּ‬ „durch den Geist JHWHs“ interpretiert G als „im Geist des Herrn“ ἐν πνεύματι κυρίου und ‫ה‬‫בוּ‬‫ט וּ‬ als weitere Genitive: „(im Geist des Herrn) und des Rechtes und der Stärke“ κρίματος καὶ δυναστείας.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Werden in Mi 3,1–4 die Vergehen der Oberschicht weitergeführt und radikalisiert, so wird in Mi 3,5–8 der sich bereits in Mi 2,6.11 andeutende Gegensatz zwischen Micha und den Falschpropheten expliziert. Dabei greift Mi 3,5 mit „verführen“ / „taumeln lassen“ ‫ים‬ auf das in Mi 2,11 entfaltete Motiv des Falschpropheten, der dem Volk „Wein“ und „Rauschtrank“ verkündet, zurück. Mi 3,5–8 kann somit als Fortführung und Intensivierung der Thematik von Mi 2,6.11 betrachtet werden. Wie die Oberschicht in V. 4a von JHWH keine Antwort auf ihr Geschrei erhält, so verlieren auch die Falschpropheten ihren Kontakt zu Gott, vgl. V. 7b (Stichwort: „antworten“ ‫ ענה‬/ „Antwort“ ‫)מענה‬ Auch Mi 3,5–8 greift dabei perspektivisch über die Michaschrift hinaus. Ist Micha bereits in Mi 2,6 – ähnlich wie seinem Prophetenkollegen Amos im Nordreich – die Prophetie untersagt worden, so profiliert er sich in Mi 3,8 nun in vergleichbarer Weise wie Amos. Auch er ist ein Prophet, der nicht mit Blick auf Brot- oder Gelderwerb prophezeit, sondern um Israels Vergehen aufzudecken.

Textinterne Aussagegestalt Mi 3,5–7 charakterisiert das Fehlverhalten der Falschpropheten und ihre Bestrafung. Dabei wird die bereits in Mi 2,6.11 angeklungene Thematik der Falschprophetie weiter vertieft. Die in Widerspruch zu Micha (und Amos) stehenden Falschpropheten setzen sich ins Unrecht, indem sie für ihre verführerische Prophetie auch noch Unterhalt und Geld verlangen, vgl. V. 5b.c und dies, ähnlich wie die Oberschicht in V. 4, mit einem Verlust ihrer Gottesbeziehung bezahlen müssen. In Absetzung davon entfaltet in V. 8 Micha sein eigenes Selbstverständnis (ähnlich wie im Verhältnis von Mi 2,11 und 3,1), und zwar nicht nur in Kontrast zu den Falschpropheten, sondern auch zu den in Vv. 1–3 angeklagten Häuptern Jakobs (vgl. das Stichwort „Recht“ ‫ט‬ in V. 1b und V. 8a). Micha handelt nicht im Geist der Lüge, um sein Volk zu betören (vgl. Mi 2,11), sondern im Geist JHWHs, um das Verbrechen und die Sünde des Volkes aufzudecken. 2

Anders die LXX Brenton, die hier reflexiv übersetzt: „I will strengthen myself“.

Synchrone Analyse

113

Einzelauslegung Durch die Botenspruchformel (nur noch in Mi 2,3a) wird V. 5 unter Absetzung von V. 4 als JHWH-Rede charakterisiert. Sie tritt damit in Kontrast zu dem in V. 4 angekündigten Schweigen JHWHs.3 Demnach gibt es doch ein Sprechen Gottes, aber nur durch von ihm gesandte Propheten und in Form eines Unheilswortes gegen Falschpropheten, die nun als eine geschlossene Gruppe, nämlich als „die Propheten“ bezeichnet werden. In Entsprechung zu Mi 2,6 geht es dabei offensichtlich um Gegner Michas. Die pluralische Formulierung weist darauf hin, dass es sich bei diesen, ähnlich wie bei Jeremia, wohl um eine Art Berufspropheten handelt, die am Königshof – als Berater des Königs (vgl. 1 Kön 22,6) – oder am Tempel tätig waren, um Menschen in persönlichen Fragen oder Notlagen den Willen JHWHs zu verkünden. Das Lexem „verführen“ ‫ תעה‬kann auch mit „zum Taumeln bringen“ übersetzt werden.4 Damit aber stellt es einen Rückbezug zu Mi 2,11b her (vgl. Jes 28,7),5 wo es um Propheten geht, die dem Volk „Wein und Bier“ verkünden. Die Formulierung begegnet auch in Jer 23,13.32 in Zusammenhang mit (Falsch)propheten. Diesen wird dort in einer fast identischen Diktion von JHWH vorgeworfen „mein Volk Israel“ zu „verführen“. Wird in Jer 23 ausdrücklich der Inhalt der Verführung benannt, insofern es offensichtlich um durch Träume gewonnene Heilsprophetie geht, setzt Mi 3,5 wahrscheinlich Mi 2,6-11 voraus, da es dort ebenfalls um Botschaften geht, die das Heil Israels beschwören. Wie Jeremia, so steht also auch der (literarische) Micha in Mi 3 einer solchen geschlossenen Gruppe von Propheten gegenüber, die mit ihren Lügen Israel verführen. V. 5b charakterisiert diese Propheten als Leute, die ihre Heilsverkündigung nach Bezahlung bzw. Erfüllung ihrer Wünsche geben. Auch hier scheint ein Bezug zu Jeremia im Blick zu sein, werden doch in Jer 6,14 die prophetischen Gegner Jeremias als Leute charakterisiert, die Heil (‫ )שלום‬verkünden, obwohl es ein solches nicht gibt. Ein Unterschied scheint allerdings darin zu bestehen, dass es hier ausschließlich um den von den Propheten angezielten eigenen Vorteil geht. Dabei ist das Bild durchaus sarkastisch zu verstehen, denn mit vollem Mund (wörtl. „sie beißen mit den Zähnen“)6 kann man nur sehr undeutlich „Schalom“ rufen! „Schalom“ meint dabei nicht lediglich „Frieden“, sondern zugleich Wohlergehen, Wohlstand und Glück.7 Dieser Ruf ergeht dabei zunächst recht unspezifisch. Anders ist dies in V. 5c. Dort wird ein konkreter Fall geschildert, in dem sich jemand bzw. das Volk weigert, nach dem Mund des Propheten, gemeint ist wohl: entsprechend dem, was der Mund will, zu geben. Dies kann man auf zweifache Weise verstehen. Entweder entsprechend dem vorausgehenden Halbvers, wonach es darum geht, dem Propheten etwas in den Mund zu legen, also ihn ausreichend zu versorgen, 3 4 5 6

7

Vgl. WOLFF, Micha, 71. HAL IV, 1626. So bereits WOLFF, Micha, 72. WOLFF, Micha, 72, weist darauf hin, dass das Lexem ‫„ נשׁך‬beißen“ vor allem für den Biss der Schlange verwendet wird und fragt: „Soll die Tödlichkeit ihres Bisses anklingen?“ Diesen Gedanken greift SCHART, Entstehung, 188f., auf und fragt, ob das „Bild der zubeißenden Schlange sich an die Unheilsverkündigung des Amos (Am 5,19; 9,3) anschließen wollte“ […] „Die drastische Ausdrucksweise macht deutlich, welche todbringende Gefahr Mi von den Propheten ausgehen sieht“. So jüngst auch wieder CORZILIUS, Rätsel, 245. Vgl. MAYS, Micah, 83.

V. 5: Die Verführung durch Falschpropheten

Entsprechung zu Mi 2,6

114

Berührungen mit Am 7,14 und Jeremia V. 6: Unheil über die Falschpropheten!

Mi 3,5–8

damit „Schalom“ hervorgeht, oder aber – im übertragenen Sinn – entsprechend seinem Mund zu handeln,8 also seinen Wünschen nachzukommen. Gegen einen solchen wird nun in aller Klarheit – da sich nichts im Mund der Propheten befindet – ein heiliger Krieg entflammt und der Betreffende damit als ein im Namen JHWHs unbedingt zu vernichtender Gegner des Gottesvolkes gebrandmarkt. V. 5cβ verwendet dabei eine in Jer 6,4 (und Joël 4,9) zu findende Formulierung, die offensichtlich auf die alte Tradition des von JHWH zugunsten seines Volkes geführten Heiligen Krieges zurückgreift, welcher das Recht Israels durchsetzt. Insofern diese Institution nun verwendet wird, um einem Unschuldigen im Namen JHWHs Unrecht zu tun, ist dies Blasphemie. Micha stehen also Propheten gegenüber, die offensichtlich von ihrer Tätigkeit leben (vgl. Am 7,14!). Mag dies eine Notwendigkeit gewesen sein ( zur Selbstverständlichkeit der Entlohnung von Propheten vgl. 1 Sam 9,7–10; 1 Kön 14,3; 2 Kön 4,8; 5,15; 8,9),9 so ergab sich daraus doch zugleich die Gefahr, Prophetie nach Gefälligkeit und Kassenlage zu geben und damit das Wort Gottes zu verfälschen. Hinzu kommt, dass das prophetische Wort im allgemeinen Bewusstsein offensichtlich als mit eigener Macht begabt betrachtet wurde, sodass jemand, der ein Unheilswort erhielt, dies durchaus als persönliche Gefährdung betrachten musste.10 Beide Beispiele zeigen außerdem, dass Propheten hier nicht einfach nur als Sprachrohr JHWHs verstanden wurden, sondern ihre prophetische Botschaft durchaus ein Stück weit zum Nutzen und zum Schaden des Adressaten steuern konnten und damit der Möglichkeit eines Missbrauchs Tür und Tor geöffnet war.11 Sie entsprechen damit dem Urteil, das Dtn 18,20 im Hinblick auf die Falschpropheten formuliert: „Doch ein Prophet, der sich anmaßt, in meinem Namen ein Wort zu verkünden, dessen Verkündigung ich ihm nicht aufgetragen habe, […] ein solcher Prophet soll sterben.“.12 Die zahlreichen Berührungen mit Jeremia und die inhaltliche Entsprechung eines Kontrastes zwischen Berufspropheten und Micha, die wiederum an Am 7,14 erinnert, deutet darauf hin, dass es sich auch bei V. 5 um eine Stilisierung handelt, die die Gestalt des (literarischen) Micha an die des Jeremia heranrückt.13 In V. 6 kündigt der Prophet das über diese Propheten hereinbrechende Unheil an. Damit wird aus dem in V. 5 vorausgehenden Scheltwort ein Drohwort. Entsprechend V. 6a besteht das Unheil im Entzug der für das prophetische Wirken so notwendigen Schauung (vgl. Ez 13,16) und des Wahrsagens. Ist dabei die Nacht im Alten Testament üblicher Zeitpunkt der Schauung (vgl. dazu den feststehenden Ausdruck „Nachtgesicht“ ‫ חזיון לילה‬z. B. in Ijob 4,13; 20,8; 33,15), und zwar im Sinn des Empfanges eines Gotteswortes14 (vgl. V. 7bβ), so verliert die Nacht für die Propheten diesen Charakter als Offenbarungsquelle. Der mit der Schauung korres-

8 9 10 11

Vgl. z. B. Gen 45,21. Vgl. KESSLER, Micha, 155. Vgl. MAYS, Micah, 83. Vgl. JEREMIAS, Micha, 162: „Andererseits ist Prophetie für Israel etwas höchst Gefährdetes und Korrumpierbares, weil alle Gottesworte durch die menschlichen Eigenarten des prophetischen Mittlers mitgeprägt sind. 12 So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 78. 13 Vgl. die Beobachtungen von VERMEYLEN, Isaїe, 588, und seine Schlussfolgerung: „Quoi qu’il en soit, les vv.5–7 reflètent une problematique postérieure au VIIIe siècle: […]“. 14 JEPSEN, Art. ‫ ׇח ׇזה‬ḥāzāh: ThWAT II, 825ff., wobei der Empfang dieses Gotteswortes, wie in klassischer Form Jes 6 zeigt, im Rahmen einer Vision erfolgen kann.

Synchrone Analyse

115

pondierende Begriff ist das Wahrsagen. Er beinhaltet vor allem den aktiven Part des Propheten,15 und zwar zum einen in der mittels verschiedener Techniken vollzogenen Orakelbefragung,16 zum anderen wohl auch in der Verkündigung des zuvor geschauten Wortes. Beide finden nicht in der Nacht, sondern bei Tag statt. So endet der Tag („es wird dunkel“) ohne Orakelbefragung und prophetische Verkündigung: Jene vorher als so redselig beschriebenen Propheten müssen folglich verstummen. Der in V. 6b angekündigte Sonnenuntergang und die Verfinsterung des Tages sind Gerichtsmetaphern (vgl. Am 8,9),17 gilt doch die Dunkelheit als Raum des Chaos und der gottfeindlichen Mächte. Dabei schwingt bei „Verfinsterung“ zugleich der Aspekt der Traurigkeit und Trauer mit. Da sie nun selbst vom Unheil betroffen sind, sind sie nicht mehr in der Lage Wegweisung zu geben.18 Die in V. 5a und V. 6b als „Propheten“ bezeichnete Gruppe wird in V. 7a differenziert in „Seher“, also Propheten, die in nächtlichen Visionen Gottesworte erhalten, und „Wahrsager“, die durch mantische Praktiken ihre Erkenntnisse erhalten. Sie werden beide sich schämen müssen,19 d. h. ihr im Alten Israel wichtiges Image in der Bevölkerung verlieren.20 Die Verhüllung des Schnurrbartes ist Ausdruck der Trauer (zur Formulierung vgl. Ez 24,17.22; Lev 13,45).21 Man schnitt dabei den Vollbart und verhüllte die Oberlippe.22 Corzilius deutet diesen Klageritus weiter aus: „Wer nämlich den Lippenbart bedeckt, muss zugleich seinen Mund (‫ה‬) verhüllen, jenes Organ also, das den Propheten zur Ausrichtung ihrer Gottesworte dient und nach V. 5bβ mit den Korruptionsvorwürfen in Verbindung steht.“.23 V. 7bβ ist durch das Stichwort „Antwort“ ‫ה‬ mit V. 4 verknüpft, insofern den brutalen Angehörigen der Oberschicht eine Erhörung ihres Schreiens seitens JHWHs versagt bleibt. Nun trifft dieses Schweigen Gottes – bei „Antwort Gottes“ dürfte es sich um Fachterminologie handeln24 – auch diejenigen, die die

15 Vgl. JEREMIAS, Micha, 163: sie „stehen exemplarisch für jegliche Art des Gotteskontaktes, der vom Propheten ausgeht und daher eine Antwort Gottes‘“ erwartet. 16 Zu deren unterschiedlicher Wertung vgl. Dtn 18,10.14. 17 So jetzt auch CORZILIUS, Rätsel, 248. 18 Vgl. WOLFF, Micha, 74. 19 Auffälligerweise wird diese Ankündigung in Sach 13,4 wieder aufgegriffen, um damit das Ende jeglicher Prophetie zu verkündigen, vgl. HILLERS, Micah, 46. 20 Vgl. WALTKE, Micah, 164: „Prophets had social weight because God gave them supernatural revelations; when they failed to answer their quest for such revelations, social disgrace ensued.“ 21 ELLIGER, Levitikus, 185, meint, dass hinter der Verhüllung des unteren Teils des Gesichtes die uralte Furcht vor bösen Geistern im Hintergrund stehen könnte, die durch die Atemwege eindringen könnten, und somit eine antike Form unseres heutigen Mundschutzes darstelle! 22 GALLING, Reallexikon, 129f. 23 CORZILIUS, Rätsel, 249; ähnlich bereits WOLFF, Micha, 74: „Für Micha mag die Gebärde auch besagen, daß diese Propheten schlechthin nichts mehr zu sagen haben“. 24 WOLFF, Micha, 74; CORZILIUS, Rätsel, 249, stellt darüber hinaus die Frage, ob durch „die Wahl des Gattungsbegriffs statt des Eigennamens“ möglicherweise „die Verborgenheit JHWHs“ unterstrichen werden soll; ähnlich bereits KESSLER, Micha, 156, nach ihm wird hier der „Kontakt zur Sphäre des Göttlichen abgeschnitten“; nach WALTKE, Micah, 165, könnte dahinter auch die Absicht Michas stehen, es zu vermeiden, die Aktionen jener unheiligen Propheten mit dem heiligen Namen in Verbindung zu bringen.

V. 7: Die Beschämung der Seher und Wahrsager

116

Mi 3,5–8

Befragung Gottes zu ihrem Beruf gemacht haben, sodass sie ihre Daseinsberechtigung verlieren. Da Propheten eine wichtige Stütze des staatlichen und politischen Lebens waren (vgl. 1 Kön 22,5ff.), gerät dadurch die ganze Ordnung des Staates in Schieflage.25 So ist in Klgl 2,9 das Ausbleiben der Antwort Gottes „Zeichen extremer Not“26 und durch den Abbruch der Beziehung seitens Gottes letztlich Einbruch der Sphäre des Todes.27 Möglicherweise soll hier zugleich ein Bezug zu Am 8,12b hergestellt werden, wo Ähnliches als Folge der Zurückweisung des Propheten Amos angekündigt wird. Eine abweichende Interpretation in G In der G-Version von V. 7b spiegelt sich offenbar die im hellenistischen Judentum zunehmende Skepsis gegenüber Sehern und Wahrsagern wider, deren Auftreten sie lächerlich und deren Widersprüche sie unglaubwürdig machen. Möglicherweise steht im Hintergrund Num 12,1-8, wenn dort erstmalig der Gegensatz zwischen Propheten, die ihre Offenbarungen durch Gesichte und Träume erhalten und Mose, der in direktem Kontakt mit JHWH steht, entfaltet wird.28 In Sir 34,1–8 mündet dies dann in die Gegenüberstellung von in die Irre leitenden Träumen und der Wahrheit des Gesetzes des Moses. V. 8: „Ich aber“ Der Gruppe von Falschpropheten stellt sich (der literarische) Micha29 in V. 8aα – – Der wahre ähnlich wie im Übergang von Mi 2,11 zu 3,1a – pointiert als Einzelner gegenüber JHWH-Prophet (‫י‬ ‫ם‬‫אוּ‬), ohne deren Bezeichnung als „Propheten“, „Seher“ und „Mantiker“ für

sich selbst in Anspruch zu nehmen. Darin ähnelt er der Selbstdarstellung des Amos in Am 7,14 (vgl. dort die Häufung des Personalpronomen ‫י‬ „ich“).30 Die drei Größen, mit denen sich Micha erfüllt sieht und die zunächst einmal profaner Art sind,31 werden mittels der Formulierung „durch den Geist JHWHs“32 in einen religiösen Horizont gestellt. Michas Prophetie wurzelt damit in einer Initiative Gottes, die ihn zu einem Handeln, genauer zu einer Verkündigung, bewegt (vgl. Am 7,15). In dieser Fülle steht er der „Leere“ seiner Gegner gegenüber.33 Auffällig ist die Ähnlichkeit mit Jes 61,1. Auch dort spricht eine prophetische Größe in 1. Pers. sing., es ist von einer Geistbegabung („Geist JHWHs des Herrn“) die Rede und es wird eine damit verbundene Aufgabe geschildert (jeweils mit Infinitiv). Möglicherweise liegt auch hier eine Angleichung Michas an den wohl hinter Jes

25 26 27 28 29

30

31 32 33

WOLFF, Micha, 75. UTZSCHNEIDER, Micha, 79. Vgl. JEREMIAS, Micha, 163. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2372. Auch wenn verschiedentlich hier eine autobiographische Beschreibung des Selbstverständnisses Michas vermutet wird, so spricht die Verbindung von Mi 3,8 mit der Thematik der Falschprophetie in 2,6.11 und 3,5–7, die wiederum in enger Beziehung zu Am 7,14ff. steht, doch für eine erheblich spätere Entstehung (s. u.). So bereits MAYS, Micah, 85. Er meint darüber hinaus, dass hier die Grundelemente der Berufungserzählungen anderer Gerichtspropheten erscheinen, was er nicht zuletzt an der Rede in der 1. Pers. und der Berufung durch JHWH festmacht (vgl. Jes 6; Jer 1,4–10; Ez 1–2). Dies mag tatsächlich traditionsgeschichtlich im Hintergrund stehen, entscheidend ist hier aber m. E. der Bezugszusammenhang mit Amos. So bereits OBERFORCHER, Micha, 74. Diese Phrase wird häufig als spätere Ergänzung betrachtet (s. u.). WOLFF, Micha, 75.

Synchrone Analyse

117

61,1 stehenden (literarischen) Jesaja vor34 (vgl. Mi 1,8).35 Die Ausstattung wiederum unterscheidet ihn von den in V. 5 beschriebenen Propheten, die sich sozusagen selbst beauftragen, um ihren Broterwerb zu sichern. Mit „Geist JHWHs“ wird damit zugleich ein Stichwort aufgegriffen, das bereits in V. 7 verwendet wurde, dort allerdings um die Langmut JHWHs zum Ausdruck zu bringen. Diese Langmut wäre jedoch angesichts von Schuld und Sünde verfehlt. Der „Geist (eigentl. Windhauch) JHWHs“ steht dabei in Kontrast zum unstetigen „mit dem Wind gehen“ der Falschpropheten in Mi 2,11. Auch „Kraft und Stärke“ sind als Paar Größen, die Gott zugeschrieben werden, sodass der Prophet hier insgesamt an göttlichen Eigenschaften partizipiert (vgl. 1 Chr 29,12; 2 Chr 20,6). Während es den Häuptern Jakobs an Erkenntnis des Rechtes fehlt (V. 1b) bzw. sie das Recht verdrehen (V. 9b),36 ist Micha von Recht erfüllt, worunter wohl in erster Linie ein Wissen um das, was Gültigkeit für das gesellschaftliche Miteinander haben soll, zu verstehen ist. V. 8b beschreibt den Inhalt der Verkündigung, die sich nicht nach der Entlohnung oder dem, was gerne gehört wird (vgl. Mi 2,11) richtet. Dabei greift der Prophet zwei Begriffe auf, die bereits in Mi 1,5a mit Jakob und dem Haus Israel in Verbindung gebracht und als Grund für die Theophanie JHWHs genannt wurden: Verbrechen und Sünde.37 Wurde dort noch das Verbrechen Jakobs mit Samaria identifiziert, so nun mit Jerusalem und seinen Häuptern. Gegenüber seinen Gegnern, die sich vor allem an Einzelne – positiv wie negativ – wenden, geht es Micha um das ganze Volk, für dessen Verbrechen vor allem einzelne Gruppen stehen, die schließlich den Untergang aller bewirken (vgl. Mi 3,12a). Prophetisches Handeln wird dabei auf die Aufdeckung von Unrecht reduziert, eine Vorstellung, die sich auch in Jes 58,1 findet, insofern dort der anonyme Prophet (entsprechend der Überschrift in Jes 1,1: Jesaja) zu einer ähnlichen Verkündigung aufgerufen wird. Meint Mays, dass es sich bei dem Jesajatext um ein nachexilisches Echo auf Mi 3,8 handle,38 so könnte hier auch eine direkte Abhängigkeit von oder Verbindung mit dem Jesajatext vorliegen, zumal auch für Mi 3,8 eine nachexilische Entstehung wahrscheinlich ist. Er spiegelt dann – zusammen mit Jes 58,1 – ein zur damaligen Zeit vertretenes Prophetenbild wider. Erneut würden dadurch der (literarische) Micha und Jesaja hinsichtlich ihrer Verkündigung aneinander angenähert, sodass sich auch hier die bereits für Mi 2,11 und 3,5 beobachtete inhaltliche Beziehung über die Hosea- und Amosschrift hinaus auf Jesaja bestätigt. Eine abweichende Interpretation in G Die griechische Version spricht nicht von einem Gegenüber des Propheten zu den zuvor genannten Sehern und Mantikern, sondern davon, dass Letztere nur dann Akzeptanz finden, wenn Gott sie selbst mit seinem Geist erfüllt, um als Verkünder der Sünde und 34 Denkbar wäre dabei, dass „Geist JHWHs“ eine nachträgliche Ergänzung darstellt (so etwa JEREMIAS, Micha, 164, Anm. 149), um diese Beziehung herzustellen bzw. zu unterstreichen. 35 Auf die Verbindung beider Verse, die ein „besonderes Interesse an der Person des Propheten“ zeigen, weist bereits WÖHRLE, Sammlungen, 154 hin, wobei er allerdings beide Verse der Micha-Grundschrift zuweist. 36 Vgl. MAYS, Micah, 85. 37 So bereits WÖHRLE, Sammlungen, 154. 38 MAYS, Micah, 85.

118

Mi 3,5–8 Verfehlung Israels zu fungieren. Prophetisches Handeln wird also auch hier auf die Aufdeckung von Unrecht reduziert. Dies erinnert entfernt an Sir 31,6 (vgl. in SirG dieselbe Einführung mit ἐὰν μὴ!), indem den Träumen als Offenbarungsmedium nur dann eine Relevanz zugewiesen wird, wenn sie vom Höchsten zur Prüfung (ἐν ἐπισκοπῇ) gesandt sind.

Diachrone Analyse Für die diachrone Analyse von Mi 3,5–8 sind folgende Beobachtungen bedeutsam. So knüpft V. 5 durch die Ankündigung einer Gottesrede mittels der Botenspruchformel kontrastiv an V. 4 an (dieser spricht in V. 4aβ von der verweigerten Antwort Gottes) und setzt damit diesen Vers möglicherweise bereits voraus. Dabei ist V. 5 durch jeremianische Sprache geprägt und weist insbesondere thematische Rückbezüge zu Mi 2,11 und – ähnlich wie dieser – zu Jes 28,7 auf, scheint also mit Mi 2,11 und der damit in Zusammenhang stehenden Auseinandersetzung mit gegnerischen Propheten in Mi 2,6 auf einer literarischen Ebene zu stehen. Gegen die neuerdings von Corzilius vertretene These,39 dass es sich bei Mi 3,5–7 insgesamt um einen späteren Einschub handle, der Mi 3,1–4 und 3,9–12 trenne, sprechen die gemeinsamen Rückbezüge aller drei Textbereiche auf Amos und Hosea mit dem Ziel einer Angleichung der Prophetie und Person des Micha an die des Amos. Für Vv. 5–8 ist hier vor allem die Bezugnahme auf Am 8, insbesondere V. 9 (Motiv des Sonnenuntergangs und der Finsternis während des Tages) und V. 12 (Motiv der vergeblichen Suche nach einem Wort JHWHs) zu nennen. Auch die entschiedene Gegenüberstellung und Charakterisierung des Micha in Mi 3,840 gegenüber den Falschpropheten zeigt auffallende Ähnlichkeit mit der Auseinandersetzung des Amos in Am 7,14 mit dem Priester Amazja und den im Hintergrund stehenden Propheten, die in Mi 3,5 als ‫ נביאים‬bezeichnet werden, von denen sich Amos jedoch absetzt (‫י‬ ‫ביא‬‫א־‬, „Ich bin kein Prophet“, vgl. auch die pointierte Herausstellung der Person des Propheten mittels des Personalpronomens) und deren Titel auch für Micha nicht verwendet wird.41 Die in Mi 3,5–7 beschriebene „Entamtung“ der Propheten steht zudem in einem engen Zusammenhang mit Mi 4,1–3, indem nun JHWH deren Funktion in seiner vom Zion ausgehenden Tora übernimmt. Diese aber wird auch in Mi 3,9–12 vorbereitet (vgl. V. 11). Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Mi 3,5–8 redaktionsgeschichtlich auf dieselbe 39 CORZILIUS, Rätsel, 250. 40 Die literarischen Verbindungen, die durchgängig zwischen Mi 2,6.11; 3,5–8 und Am 7/ 8 bestehen, sprechen m. E. dagegen, V. 8 als nachträgliche Ergänzung zu Mi 3,5–7 zu sehen, wie es CORZILIUS, Rätsel, 242, vertritt. 41 In jüngster Zeit weist auch CORZILIUS, Rätsel, 233, auf diesen Zusammenhang hin: „Während Am 7 allerdings noch eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Amos und Amazja zur Darstellung bringt und einen Konflikt des Propheten mit dem institutionellen Priestertum spiegelt, weitet Mi 2 diesen zu einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs aus, indem das Haus Jakob (V. 7a) aufgerufen und in die Debatte involviert wird. Die Debatte in Mi 2 entwickelt den Topos aus Am 7 inhaltlich weiter und verbindet damit einen theologisch grundsätzlichen Diskurs.“

Diachrone Analyse

119

Ebene wie die oben beschriebene Komposition von Mi 2,6–11 zu setzen ist, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine Angleichung des Propheten Michas an Amos anstrebt und damit wohl nachexilisch zu datieren ist, im Sinne einer Aufarbeitung der exilischen Katastrophe mit Ausblick auf eine neue Zeit. Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 3

Mi 3,9–12: Korruption in Zion und ihre Folgen 3,9 Hört doch dies, ihr Häupter des Hauses Jakob und ihr Machthabera des Hauses Israel, die das Recht verabscheuen und alles Gerade werden sie verdrehen. 10 Man erbauta Zion mit Bluttaten und Jerusalem mit Verkehrtheitb. 11 Seine Häupter richten um Bestechung, und seine Priester geben Weisunga um Lohn, und seine Propheten wahrsagen um Silbergeld und auf JHWH stützen sie sich: Ist nicht JHWH in unserer Mitte? Nicht wird Böses über uns kommen. 12 Darum wird Zion euretwegen alsa Feld gepflügt, und Jerusalem wird zur Trümmerstätteb und der Berg des Hauses zu Waldeshöhenc.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 9a Wie in V. 1 übersetzt auch hier G ‫י‬‫י‬‫„ וּ‬ihr Machthaber“ mit „die Übriggebliebenen“ οἱ κατάλοιποι und führt somit auch hier eine Restvorstellung ein. 10a Anstelle der singularischen Partizipialform übersetzt G (vgl. S, T, V) pluralisch: „die erbauen“ οἱ οἰκοδομοῦντες und schafft damit eine Angleichung an die pluralischen Verbformen in V. 11. 10b In V. 10b übersetzt G die singularische Form ‫ה‬ „mit Verkehrtheit“ in Anlehnung an ‫ים‬ „mit Bluttaten“ ebenfalls pluralisch: „mit Taten des Unrechts“ ἐν ἀδικίαις. 11a Das hebr. ‫(„ יוֹרוּ‬seine Priester) geben Weisung“ gibt G lediglich mit „antworten“ ἀπεκρίνοντο wieder und verwischt damit den Bezugszusammenhang zu der von derselben Wurzel gebildeten „Weisung“ ‫ה‬‫ תוֹ‬in Mi 4,2d. 12a Durch die Vergleichspartikel „wie“ ὡς (vgl. LXX.D) schwächt G die Aussage des hebr. Textes offenbar etwas ab: „Zion wird wie ein Feld gepflügt“. 12b Anstelle von „Trümmerstätte“ verwendet G den bereits in Mi 1,6 in Zusammenhang mit der Vernichtung Samarias aus Jes 1,8 entliehenen Begriff ὀπωροφυλάκιον „Lagerhaus für Früchte“ und gleicht damit einerseits durch den Rückbezug das Schicksal Jerusalems dem Samarias an und stellt andererseits eine Parallelisierung zwischen Jes 1,6G und Mi 3,12G her. Der griechische Paralleltext in Jer 33,18G vollzieht diese Änderung allerdings nicht mit, sondern übersetzt entsprechend dem hebr. Text „Trümmerhaufen“. 12c BHS (vgl. auch HAL) schlägt vor, anstelle der pluralischen Form ‫ר‬ ‫מוֹת‬ „Waldeshöhen“ ein ‫ר‬ ‫ת‬ „Waldeshöhe“ (sing.) zu lesen. Dagegen spricht jedoch der mit der pluralischen Form offensichtlich angezielte Rückbezug auf Mi 1,5c. Anstelle von „Waldeshöhen“ spricht G von „Waldgehölz“ (ὡς ἄλσος δρυμοῦ, vgl. S, T) und verwischt damit den Bezugszusammenhang zu Mi 1,5c.

Synchrone Analyse

121

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Im Duktus der Michaschrift bildet Mi 3 einen ersten (negativen) Höhepunkt und vorläufigen Abschluss. Die Zerstörung, die Samaria bereits in Mi 1,6f. aufgrund seiner in der Hosea- und Amosschrift beschriebenen Vergehen ereilte, läuft nun direkt auf Zion/Jerusalem zu. Die Gründe dafür geben Mi 2 und 3 an, wobei Mi 3,9–12 – ähnlich wie Am 8/9 – als eine Art Zusammenfassung die Folgen der Vergehen der Oberschicht und der Ablehnung des Propheten schildert. Wie bereits ihre Propheten, so sind auch alle anderen führenden Gruppen in Israel korrumpiert, pervertieren ihr Amt und ihre eigentliche Aufgabe wegen Geld und Geschenke. Dieses die Ordnung in Israel störende und zerstörende Handeln – und nicht die direkte Initiative JHWHs (vgl. dagegen Mi 1,6!) – führt zur Verwüstung Zions. Dabei ist auffälliger Weise von einer ausdrücklichen Zerstörung des Zion, insbesondere seines Tempels nicht die Rede. Der von Wald überwucherte Tempelberg kann vielmehr im Unterschied zu Samaria, dessen Steine ins Tal gestürzt werden (vgl. Mi 1,6b), wieder in den Bereich des Kosmos zurückkehren. Nach hinten wird die im Anschluss in Mi 4,1–3 geschilderte Völkerwallfahrt mittels einer Reihe von Stichwortverbindungen in Mi 3,9–12 vorbereitet (s. u.). Dabei löst JHWH durch seine Weisung (‫( )תורה‬vgl. Mi 4,2d) die korrupten Häupter, lehrenden Priester (‫ )יורו‬und Propheten seines Volkes ab. So wird der einst verwaiste Tempelberg von neuem zum Ort des nun auf die ganze Welt ausstrahlenden Wortes und der Weisung JHWHs. Darin zeigt sich zum einen die Analogie, zum anderen auch der deutliche Unterschied zur Zerstörung des Heiligtums des Nordreiches in Am 9,1ff. Somit steht am Ende von Mi 3 der Leser sprichwörtlich vor einem Trümmerhaufen, nämlich vor dem Resultat der Vergehen der Oberschicht des Nord- wie des Südreiches. Sie münden ein in den Untergang, wobei im Fall des Südreiches noch Hoffnung auf ein Wiedererstehen besteht. Daran wiederum knüpft Mi 4 an.

Textinterne Aussagegestalt Der dritte Abschnitt Mi 3,9–12 bildet eine Art Zusammenfassung und Höhepunkt, insofern hier nicht Einzeltaten und Haltungen, sondern in Vv. 9b-11a.bα das verwerfliche Handeln dreier Gruppen „Häupter, Priester und Propheten“ in allgemeiner Form beschrieben wird, von denen das Verhalten zweier, nämlich der „Häupter“ und „Propheten“ in Mi 3,1–7 bereits ausführlicher geschildert wurde. Diese Beschreibung mündet ein in das Zitat der selbstsicheren Aussage jener Gruppen in V. 11bβ.c, wonach aufgrund der Gegenwart JHWHs kein Unheil zu befürchten sei. V. 10 und V. 12 bilden dabei durch das Wortpaar Zion/Jerusalem einen Rahmen: Dem Erbauen Zions/Jerusalems mit Bluttaten und Unrecht entspricht die Rückkehr Zions/Jerusalems zum Feld und zu einer chaotischen Trümmerwüste sowie des Tempelberges zu einem Teil der menschenfeindlichen Gegenwelt. Der Aussage „Ist nicht JHWH in unserer Mitte?“ in V. 11cα wiederum steht die Formulierung vom „Berg des Hauses“ in V. 12bβ gegenüber, welche impliziert, dass jenes Haus, also der Tempel, offensichtlich bereits von JHWH verlassen wurde (vgl. dazu die Formulierung in Mi 4,1aβ: „Berg des Hauses JHWHs“).

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Mi 3,9–12

Einzelauslegung V. 9: Höraufruf an die verbrecherischen Häupter Jakobs

V. 10: Die Entweihung Zion-Jerusalems

Der Höraufruf in V. 9a leitet den dritten Abschnitt in Mi 3 ein, der wohl eine Art Höhepunkt des ganzen Kapitels ist,1 und richtet sich dabei – wie der erste Abschnitt in Vv. 1–4 – wiederum an die bereits in V. 1 genannten Häupter Jakobs und die Machthaber des Hauses Israels. Dabei wird nun ausdrücklich in terminologischer Angleichung auch vom „Haus Jakobs“ gesprochen. „Dies“ bezieht sich wohl in erster Linie auf die sich aus dem verkehrten Handeln ergebenden Konsequenzen, die V. 12 schildert.2 V. 9b charakterisiert die Adressaten sowohl hinsichtlich ihres gegenwärtigen („die das Recht verabscheuen“) wie ihres künftigen Tuns („und alles Gerade werden sie verdrehen“), sodass gegenüber V. 2 ein weiterer Aspekt anklingt. Das verheerende Handeln bezieht sich nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf das in der Zukunft liegende Tun, sodass keine Hoffnung auf eine Änderung der Situation besteht. V. 9bα scheint dabei den Vorwurf in V. 1b und 2a fortzuführen. Statt das Recht zu kennen, „verabscheuen“ die Verantwortlichen Israels das Recht. Die Wurzel ‫תעב‬, die eine ähnliche, vielleicht sogar noch stärkere Ablehnung als „hassen“ (vgl. V. 2aα) beinhaltet, findet sich – als einziger Beleg im Zwölfprophetenbuch – nochmals in Am 5,10b. Dort wird sie in einem ähnlichen, nämlich forensischen, Kontext verwendet. Da bereits Mi 3,2a allem Anschein nach auf Am 5,15a zurückgreift, so ist wohl auch in V. 9b mit einer Beeinflussung durch Amos zu rechnen.3 Die in Amos geschilderten erschreckenden Zustände im Rechtswesen haben damit auch auf die Verantwortlichen in Juda übergegriffen. Zudem bestätigt sich die bereits im Verhältnis von Mi 2 und 3 beobachtete Tendenz der Verstärkung: Das Nicht-Kennen des Rechts geht in eine ausdrückliche Abscheu über. Spricht V. 9bα von einer grundlegenden Haltung der führenden Kreise, so geht diese in V. 9bβ in eine aktive Handlung über: Aus der verheerenden Haltung wird ein zerstörerisches Tun. Bei „Verdrehen“ steht im Hintergrund das Bild eines „unebenen Geländes“ oder, wie in Jes 59,8, das Einschlagen eines krummen Weges, der ins Abseits führt. Umgekehrt evoziert „das Gerade“ das Bild einer Ebene oder eines geradeaus zum Ziel führenden Weges (vgl. Spr 4,11). Insofern tritt das Handeln der Oberschicht nicht nur in Gegensatz zu dem in Mi 2,7 beschriebenen Ideal, sondern wird zu einem chaotischen, im Grunde selbstzerstörerischen Tun, das die natürliche Ordnung auf den Kopf stellt und folglich im Untergang enden muss. Die in V. 9b den Häuptern Jakobs und Israel vorgeworfene Pervertierung des Rechts findet in V. 10 eine Fokussierung hinsichtlich Zions und Jerusalems. Erstmalig erscheint dabei dieses Wortpaar in der Michaschrift, während „Zion“ bzw. „Jerusalem“ als einzelne Größen bereits mehrfach genannt wurden. Dieses Wortpaar zusammen mit dem Vorwurf, die Stadt mit Bluttaten und Verkehrtheit zu erbauen, bildet einen wirkungsvollen Kontrast zu der in Mi 4,1–3 beschriebenen Völkerwallfahrt zum Haus JHWHs, wenn Zion/Jerusalem zum Ausgangspunkt der „Weisung“ 1 2 3

So mit Recht WÖHRLE, Sammlungen, 154. JEREMIAS, Micha, 165. Auf diesen Zusammenhang macht auch CORZILIUS, Rätsel, 326, aufmerksam und stellt eine Weiterentwicklung fest: „Während sich die Abscheu der Beklagten nach Am 5,10 noch auf die Personen richtet, die die Pflege des Rechts (berufsmäßig) verantworten, sind sie es nach Mi 3,9b selbst, die das Recht verabscheuen.“

Synchrone Analyse

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und des „Wortes JHWHs“ wird und somit zu seiner eigentlichen Funktion zurückgeführt wird, die durch das Treiben der korrupten Oberschicht des Volkes pervertiert wurde. Von daher ist anzunehmen, dass Mi 3,10 und Mi 4,2d in ihrer Kontrastierung gleichursprünglich sind (s. u.). Die Formulierung von V. 10 zeigt enge Entsprechungen zu Hab 2,12. Dies erklärt auch die singularische Partizipialform, die von dort offensichtlich übernommen wurden,4 da sie im Kontext der Wehrufe von Hab 2,9.12.15.19 angemessen ist, hier jedoch als kollektiver Singular verstanden werden muss5 und, wie Corzilius mit Recht vermerkt, im heutigen Kontext „eine generelle Aussage über das politische System Judas“ trifft.6 Findet sich in Hab 2,12 eine grundlegende Aussage hinsichtlich des Völkerfeindes (dort ist ganz allgemein von „Stadt“ ‫יר‬ und „Ortschaft“ ‫ה‬ die Rede), so verhält sich die Oberschicht Jerusalems dementsprechend ihrer eigenen Stadt gegenüber7 und unterscheidet sich damit in keiner Weise von dem ruchlosen Völkervernichter in der Habakukschrift, der vermutlich mit Babel zu identifizieren ist.8 Bei „bauen“ ist wohl nicht oder nicht nur an ein konkretes Tun zu denken, etwa in dem Sinn, dass die Paläste der Reichen durch gnadenlosen Frondienst erbaut werden, sondern es geht hier eher im metaphorischen Sinn um ein grundsätzlich von Unrechtshandlungen durchdrungenes Gemeinwesen. Dafür spricht die nicht auf Einzelpersonen spezifizierte sing. Partizipialform und „auch der allgemein gehaltene Parallelbegriff, Unredlichkeit“,9 sowie der assoziative Rückbezug auf Mi 2,2b.310 durch die Verwendung des Begriffs „mit Bluttaten“ ‫ים‬. In diesem klingt die Vorstellung eines Vergießens von Blut an, das zur unrechtmäßigen Tötung wird und damit zu den schwersten Verbrechen zählt. Gedacht ist dabei aber nicht nur an unrechtmäßige Tötung, sondern auch soziale Vergehen, die Menschen in ihrer Existenz vernichten. Berücksichtigt man außerdem, dass es Zion, die Heilige Stadt ist (vgl. Ps 48,3), die hier mit „Bluttaten“ erbaut wird, dann schwingt dabei die Vorstellung eines ungeheuren Frevels mit: Dies „ist geradezu der Inbegriff widergöttlichen Handelns“.11 Ist bei „Bluttaten“ vor allem das konkrete Tun im Blick, so bei „Verkehrtheit“ ‫ה‬ mehr das Urteil über dieses Tun:12 es ist „Verkehrtheit“ im Sinne von Unrecht. Die so handeln, schaufeln sich entsprechend Spr 22,8 ihr eigenes Grab, denn „wer Unrecht sät, erntet Unheil.“ Das heißt: das Erbauen Zions/Jerusalems 4 RENAUD, Michée, 140, spricht vorsichtig von „influence de Hab 2,12“. 5 Dies spricht gegen den Versuch, das Part. sing. als literarkritisch verwertbares Indiz zu verwenden, wie dies mit vielen Vorgängern jüngst auch wieder CORZILIUS, Rätsel, 320, versucht. 6 CORZILIUS, Rätsel, 327. 7 So bereits RUDOLPH, Micha, 73; viele denken dabei an die Bautätigkeiten Hiskijas (z. B. der Bau des Shiloah-Tunnels) im 8. Jh. v. Chr.; KESSLER, Micha, 165, etwas differenzierter: „Es ist durchaus an konkrete Bautätigkeit gedacht, aber diese wird zum Symbol für Aufbau insgesamt.“; gerade hier zeigt sich, welche Einflüsse auf die Interpretation von Mi 3 die Annahme einer Entstehung im 8. Jh. hat. 8 CORZILIUS, Rätsel, 324, spricht davon, dass V. 10 den Schuldaufweis „radikalisiert“ und „ihn bis ins Extrem der Blutschuld hinein“ steigert. 9 JEREMIAS, Micha, 165. 10 So auch CORZILIUS, Rätsel, 328. 11 KESSLER, Micha, 165; so bereits HILLERS, Micah, 48, der gleichzeitig darauf hinweist, dass Bauen im heiligen Zion nur auf göttliche Anweisung geschehen kann. 12 SCHREINER, Art. ‫ל‬‫ ׇע‬ʿāwæl: ThWAT V, 1137.

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V. 11: Eine Zusammenfassung des korrupten Verhaltens der führenden Gruppen Jerusalems

Mi 3,9–12

mit Unrecht muss zu dessen Verwüstung führen: vgl. V. 12, wo das Wortpaar Zion/ Jerusalem wieder erscheint. Nachdem in Mi 3 zunächst die Vergehen einzelner Gruppen des Volkes benannt wurden, wird in V. 11 in Form einer Zusammenfassung13 das korrupte Verhalten sämtlicher Gruppen der führenden Kreise Israels geschildert. Allesamt führen sie ihre Tätigkeiten um Bezahlung aus und pervertieren damit ihren eigentlichen Auftrag. Durch Stichwortverbindungen wird dabei einerseits ein Rückbezug zum vorausgehenden hergestellt, zugleich aber auf das Folgende, insbesondere die Völkerwallfahrt und das mit dem Zion verbundene Handeln JHWHs vorverwiesen.14 JHWH tritt damit an die Stelle jener Gruppen und macht sie somit überflüssig. Aufgabe der in V. 11aα genannten Häupter (Jerusalems) wäre die Entscheidung vor Gericht, die sich an das Recht hält (vgl. Mi 3,1cβ). Stattdessen lassen sie sich bestechen, ein Vergehen, das nicht nur in Ex 23,8 und Dtn 16,19 ausdrücklich verboten, sondern auch in Jes 1,23 und 5,23 gerügt wird. Dem korrupten Richten der Häupter (‫י‬‫א‬) Zions/Jerusalems tritt in Mi 4,3aα JHWH gegenüber, der „auf dem Gipfel der Berge“ (Mi 4,1bα ‫ים‬ ‫אשׁ‬) zwischen den Völkern richten wird. „Priester“ (Zions/Jerusalems) finden nur in V. 11aβ Erwähnung.15 Dabei scheint es sich zusammen mit den folgenden Propheten um ein festes Wortpaar zu handeln, das vor allem in Jeremia, und zwar in ähnlichen Kontexten – falsche Lehre, Lügenprophetie – erscheint (vgl. Jer 5,31; 6,13f.; 8,10f.). Aufgabe der Priester ist die priesterliche Weisung, worunter insbesondere Hinweise bezüglich der kultisch angemessenen Darbringung von Opfern zu verstehen sind (vgl. Hag 2,11f.). Doch auch diese Lehre ist hier pervertiert, da sie um Bezahlung oder um einen materiellen Gegenwert erfolgt („Lohn“ ‫יר‬ kann beides bezeichnen).16 Der hier anklingende Vorwurf ist zunächst erstaunlich, da den Priestern grundsätzlich Anteile am Opfertier zustanden (vgl. z. B. Lev 2,3.10; 6,9f.). Vermutlich aber geht es hier darum, dass in Analogie zu den Häuptern und Propheten auch hier die Bezahlung 13 WÖHRLE, Sammlungen, 154. 14 So bereits NIELSEN, Oral Tradition, 92: „The thought forces itself upon us that these passages cannot even have originated independently of each another“. Nielsen nennt im Einzelnen: „The ploughing of Zion and the exaltation of Zion; Zion as a jungle sanctuary and Zion exalted above the hills; Zion built in violence and bloodshed and Zion as the place from which YHWH’s word and teaching goes forth, from which the nations shall be judged; Zion shall become heaps and the nations shall come to Zion with peaceful intentions.“ 15 Dies ist etwa für CORZILIUS, Rätsel, 322, ein Grund den Vers als sekundäre Ergänzung zu betrachten. Tatsächlich bildet dieser Vers durch das Stichwort „lehren“ eine deutliche Verbindung zu Mi 4,1–3, was mich zu einer ähnlichen Schlussfolgerung neigen ließ, vgl. ZAPFF, Studien, 69f. Allerdings durchzieht die Tendenz eines Gegensatzes zwischen Mi 4,1–3 und V. 11 den gesamten Text Mi 3,9–12, sodass m. E. mehr dafür spricht, V. 11 als integrativen Bestandteil des Abschnittes zu betrachten. Zudem wird die hier vorliegende Verbindung zwischen politischer („Häupter“) und religiöser („Priester“/ „Propheten“) Ebene auch in V. 12 wieder konkret, wenn dort Zion als religiös konnotierte Größe und Jerusalem als politische Größe verwüstet werden. 16 Lipiński, Art. ‫יר‬ meḥîr: ThWAT IV, 809; vgl. auch den Opfertarif von Marseille (K 69 completed from K 74 and C 3917), wo sich neben konkreten Geldzahlungen auch Hinweise auf Teile des Opfertieres finden, die dem Priester zustehen.

Synchrone Analyse

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die Integrität der Lehre verletzte: „[D]ann hört die priesterliche Tora auf, ‚Tora Gottes‘ (vgl. Hos 4,6) zu sein“.17 Durch das Stichwort „lehren“ ‫ יוֹרוּ‬wird ein Zusammenhang mit Mi 4,2d herge- Zusammenstellt, sodass dem pervertierten priesterlichen Lehren die Lehre JHWHs vom Zion aus hang mit Mi gegenübergestellt wird. Auch hier tritt damit JHWH an die Stelle der Priester, die ih- 4,2 rem Amt nicht gerecht geworden sind. Da die Priester ansonsten nirgends in der Michaschrift erscheinen, ist damit zu rechnen, dass Mi 3,11aβ vor dem Hintergrund von Mi 4,2dα formuliert wurde. Die dritte, bereits in Mi 3,5ff. ausführlich behandelte Gruppe, sind in V. 11bα die Propheten. Wie in Mi 3,5b18 wird ihnen auch hier eine Prophetie vorgeworfen, die sich nach dem Entgelt und damit nicht nach der Wahrheit richtet, wobei nun ausdrücklich in Analogie zum Entgelt der Häupter und Priester „Silbergeld“ genannt wird. Der hier verwendete Fachterminus ‫מוּ‬ „sie wahrsagen“ weist auf Mi 3,6 zurück – dort als Nomen –, womit in erster Linie das aktive Tun des Propheten u. a. im Sinne bestimmter Orakeltechniken und die Weitergabe des dadurch gewonnenen Orakelspruches bezeichnet wird.19 Ihrem verwerflichen Handeln zum Trotz verlassen sich entsprechend V. 11bβ die genannten Gruppen auf JHWH, womit sie zwar eine grundsätzlich richtige Haltung einnehmen, diese aber pervertieren, insofern dies keine Konsequenzen für ihr Handeln hat. Die Formulierung „sich auf JHWH verlassen“ findet sich dabei überwiegend in verhältnismäßig späten Texten (vgl. Jes 10,20; 2 Chr 13,18; 14,10; 16,7), was wiederum Rückschlüsse auf die Datierung von Mi 3,11 zulässt (s. u.). V. 11c zitiert, vergleichbar Mi 2,6f.,20 die vom Propheten kritisierten führenden Kreise Israels. Ähnlich wie in Mi 2,7c – auch dort in Form einer rhetorischen Frage – spiegelt sich in ihren Worten die Überzeugung eines unbedingten heilvollen Handeln JHWHs wider.21 Dabei steht hier möglicherweise Ex 34,9 – ähnlich wie Ex 34,6 im Fall von Mi 2,7c (s. o.) – im Hintergrund, wenn Moses das Mitziehen JHWHs in der Mitte Israels erbittet.22 Dass JHWHs Gegenwart innerhalb Israels jedoch nicht automatisch Heil – etwa im Sieg über Feinde – gewährleistet, macht Am 5,14b deutlich. Vor diesem Hintergrund ist dann wohl auch dieses scheinbar so fromme Bekenntnis der Führenden Israels in V. 11c zu lesen. Da sie – im Unterschied zur Aufforderung des Amos – „das Gute hassen und das Böse lieben“ (Mi 3,2a), ist ihre Hoffnung hinfällig.23 Die Einbindung des Verses in den Kontext prophetischer Worte über den Zion deutet außerdem darauf hin, dass hier eine einseitige Zionstheologie angegriffen wird, wie sie etwa Ps 46,6 und 48,4 vertreten, wonach die Gegenwart JHWHs den Bestand des Zions gewährleistet.24 Auf das Stichwort „in unserer Mitte“ ‫נוּ‬, mit dem die führenden Kreise die selbstverständliche Gegenwart JHWHs behaupten, scheint später Mi 5,9.12.13 mit  „aus deiner Mitte“ zurückzugreifen, insofern hier von einem Reinigungsge17 18 19 20 21 22 23 24

KESSLER, Micha, 165. MAYS, Micah, 89. Siehe oben V. 6aβ. CORZILIUS, Rätsel, 329, verweist als mögliche weitere Bezugsstelle auf Am 5,14b, insofern dort Amos seine Adressaten mit den Worten zitiert, JHWH sei bei ihnen. So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 81; neuerdings auch wieder CORZILIUS, Rätsel, 323. Ausführlich zu diesem Motiv mit vielen Stellenbelegen vgl. MAYS, Micah, 90. SCHART, Entstehung, 189, verweist außerdem auf Am 5,17 und 7,8.10, da dort das Einherschreiten JHWHs inmitten Israels zu dessen Unheil ist. UTZSCHNEIDER, Micha, 81.

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Mi 3,9–12

richt Israels gesprochen wird. Es wird dort deutlich, dass anstelle von JHWH alles Mögliche JHWH-Feindliche in Israel Platz gegriffen hat. Die mit der Gegenwart JHWHs verbundene Hoffnung kommt in V. 11cβ zum Ausdruck: Unheil soll dadurch abgewendet werden. Jedoch weist gerade diese Formulierung auf Mi 1,12b zurück, da dort ausdrücklich die Rede davon ist, dass das Unheil (‫ע‬) von JHWH auf die Tore Jerusalems herabkommt25 (vgl. auch Mi 2,3b). JHWH wird somit nicht zum Behüter vor Unheil, sondern vielmehr zum Verursacher, weil er, wie in Mi 2,1a.3b beschrieben, gegen die Böses-Tuenden selbst Böses ersinnt. V. 12aβ.b wird in fast wörtlicher Form in Jer 26,18 zitiert. Dabei weist das Zitat V. 12: Die Verwüstung zugleich Kenntnis von Mi 1,1 auf, wenn dort Micha nicht nur als „Moraschiter“ bedes Zion zeichnet wird, sondern seine Verkündigung auch in die „Tage des Hiskija, des Königs von Juda“ verlegt wird.26 Setzt aber das Zitat in Jeremia bereits die verhältnismäßig späte Überschrift der Michaschrift voraus (s. o.), so lässt sich daraus schließen, dass das Jeremiazitat nochmals später ist und somit über die Michaschrift hinaus keinerlei Aussagen über eine Verkündigung des historischen Micha zulässt.27 Dabei bezeugt die Michaschrift möglicherweise einen Reflex auf ein ursprüngliches Wort des Micha, welches jedoch in seiner heutigen Form in den aus späterer Zeit stammenden Kontext von Mi 3 bzw. der Michaschrift insgesamt eingearbeitet und dabei verändert wurde (s. u.). In V. 12aα spricht Micha die in V. 11 differenziert aufgeführten Gruppen nun als Ganzes in Form eines Drohwortes an. Die Präposition „euretwegen“ im Sinne einer Vergeltung für gute, vor allem aber schlechte Taten, ist besonders häufig in dtn./dtr. und jeremianischen Sprache belegt, vgl. Dtn 1,37; 15,10; 1 Kön 14,16; Jer 11,17; 15,4. Wie in V. 10 findet sich auch in Vv. 12aβ.bα das Wortpaar „Zion“/„Jerusalem“, sodass das dort beschriebene unrechtmäßige Erbauen „Zions“/„Jerusalems“ im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhanges sein Pendant in seiner Verwüstung findet.28 Dabei ist auffällig, dass von einem direkten zerstörerischen Handeln JHWHs nicht gesprochen wird. Nicht JHWH also verwüstet sein Heiligtum, sondern das verderbliche Handeln der korrupten Oberschicht.29 Mit „Feld“ ‫ה‬ greift V. 12aβ ein Stichwort aus Mi 1,6 auf, wo das zerstörte Samaria zu „Trümmern des Feldes“ wird. „Feld“ steht wohl auch hier als Gegensatz zur Stadt, die Inbegriff des Kosmos ist. D. h. Zion wird in den Bereich der chaotischen Gegenwelt zurückfallen.30 Wiewohl „pflü25 Auf diesen Zusammenhang weist bereits KESSLER, Micha, 166, hin. 26 Zur Interpretation in Jer 26,18, vgl. RENAUD, Michée, 143. Renaud weist vor allem auf die Botenspruchformel hin, die die Prophetie des Micha ausdrücklich als JHWH-Wort charakterisiert, was dem prophetischen Wort eine unbestreitbare Autorität verleiht. Dabei wird offenbar die Vorstellung, dass es sich um ein von Micha empfangenes und weitergegebenes Wort JHWHs handelt, ebenfalls der Überschrift der Michaschrift, insbesondere aber Mi 1,1aα, entnommen und für die Autorität der Prophetie Jeremias fruchtbar gemacht. 27 Dass dieses Wort als Einzelnes unabhängig von der Michaschrift aufgeschrieben und dort aufgegriffen wird, so offenbar die Auffassung von METZNER, Micha, 109, halte ich aufgrund der in Jer 26,18 offensichtlichen Kenntnis der Überschrift der Michaschrift für ausgeschlossen. 28 KESSLER, Micha, 166. 29 UTZSCHNEIDER, Micha, 82: „Nicht die Bedrohung von außen, durch eine der orientalischen Großmächte, bringt den Staat, die Insignien seiner Religion oder gar YHWH selbst zu Fall, sondern die Rechtlosigkeit im Innern.“ 30 So ähnlich auch UTZSCHNEIDEr, Micha, 83.

Diachrone Analyse

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gen“ gewöhnlich eigentlich einen Vorgang der Kultivierung bezeichnet, so steht doch hier eher die Konnotation eines zerstörerischen bedrängenden Tuns (vgl. Ps 129,3), i.S. eines das Feld in Furchen zerschneidenden Vorgangs im Vordergrund (wörtl. „Zion wird als Feld zerschnitten“). Diese Deutung wird durch die folgende Ankündigung unterstrichen, die davon spricht, dass Jerusalem zur Trümmerstätte wird und damit wiederum ein Stichwort aus Mi 1,6 aufgreift, womit das Schicksal Jerusalems dem Samarias ähnelt. Die Verbindung von „Trümmern“ mit „Jerusalem“ findet sich auch in dem wohl aus exilischer Zeit stammenden Klagepsalm Ps 79,1. Geht es in V. 12aβ.bα um Zion/Jerusalem, so fokussiert der letzte Stichos mit der Erwähnung des „Berges des Hauses“ auf den Tempelberg. Die Formulierung steht im Zusammenhang mit Mi 4,1aβ, indem im Kontext Zusammender dort beschriebenen Völkerwallfahrt ebenfalls von einem „Berg des Hauses“ hang mit Mi gesprochen, das „Haus“ dort allerdings als „Haus JHWHs“ näher qualifiziert wird. 4,1 Dieser auffällige Unterschied scheint beabsichtigt, insofern damit angedeutet wird, dass der in V. 12bβ lediglich als „Haus“ bezeichnete Tempel nicht mehr Tempel JHWHs ist,31 vielmehr von ihm verlassen wurde (vgl. Ez 10,18ff.) und so zur bewaldeten Höhe werden konnte. Von einer ausdrücklichen Zerstörung des Tempels ist allerdings auch hier nicht die Rede, lediglich von einer Umwandlung des Tempelberges zu bewaldeten Höhen. Mit der Erwähnung der (Waldes-)„Höhen“ ‫מוֹת‬ wird der Bogen zurück zu Mi 1,5 geschlagen, wenn dort Jerusalem als die „(Kult-)Höhen Judas“ bezeichnet werden.32 Diese fallen nun endgültig dem Gericht anheim, insofern sie als bewaldete Höhen dem Bereich des Kosmos entzogen werden und der chaotischen Gegenwelt verfallen. Wälder waren von wilden Tieren besiedelt und wurden oft als mehr oder weniger unzugängliche Orte betrachtet.33 So schaurig dieses Bild auch erscheint,34 gerade die Stichwort- und Motivverbindungen zum folgenden Abschnitt zeigen, dass Mi 3 wohl niemals ohne seine Fortsetzung in Mi 4,1–3 existierte und damit zwar eine Art Höhepunkt und Abschluss eines Dramas, jedoch nicht dessen letztes Wort ist.

Diachrone Analyse Der Abschnitt Mi 3,9–12 erweist sich aufgrund seiner Geschlossenheit als literarische Einheit. Dieser ist durch den Höraufruf in V. 9 zugleich mit demjenigen in 31 So bereits RENAUD, Michée, 141: „Elle ‚déscralise’ ce lieu saint auréolé de tant de gloire: le Temple, sanctuaire de la présence divine, devient une simple résidence par rapport à laquelle Dieu garde toute sa liberté“. Ein vergleichbares Phänomen findet sich möglicherweise in Am 2,8. Dort wird vom Heiligtum, an dem Israel seinen Kult vollzieht, sehr distanziert als „Haus ihres Gottes“ gesprochen. Es handelt sich also gar nicht mehr um ein Heiligtum JHWHs! 32 JEREMIAS, Micha, 167. 33 Vgl. MULDER, Art. ‫ר‬ jaʿar: ThWAT III, 783f. 34 Dass Mi 3,12, wie KESSLER, Micha, 168, meint, ein „geradezu idyllische[s] Bild“ zeichnet, halte ich angesichts der mit dem hier verwendeten Lexem verbundenen Konnotationen als eine eher einem modernen Gefühl entspringende Naturromantik.

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Mi 3,9–12

V. 1 und durch die genannten Gruppen „Häupter“ und „Propheten“ mit Vv. 1 und 5 verknüpft. Textintern bildet V. 10 zusammen mit V. 12 durch das Stichwort Zion/Jerusalem einen Rahmen, der inhaltlich im Duktus des Tun-Ergehen-Zusammenhangs gestaltet ist. Dafür, dass beide Verse auch mit V. 11 auf einer redaktionellen Stufe stehen, spricht, dass sie durch Stichworte bzw. ähnliche Motive mit der Völkerwallfahrt in Mi 4,1–3 verknüpft sind, diese also vorbereiten (s. o.). Gleichzeitig stehen sie durch die Themen „Rechtsprechung“ und „um Bezahlung lehrende Propheten“ mit Mi 3,1b bzw. V. 5a in Zusammenhang. Die in V. 11 genannten „Priester“ scheinen zwar zunächst isoliert zu sein, da von einer Kritik an Priestern bisher nicht die Rede war, bilden aber durch die Erwähnung des religiösen Zentrums Zion und ihrer lehrenden Funktion eine wichtige Voraussetzung; zum einen für die Verwüstung eben dieses religiösen Zentrums Zion und des Hauses JHWHs in Mi 3,12, zum anderen zu der dazu in Kontrast tretenden, vom Zion ausgehenden Lehre JHWHs in Mi 4,3. Außerdem ist die in V. 11c zitierte Aussage der führenden Kreise Zions eng mit der Mi 3,9–12 durchziehenden Frage um die Bedeutung des Zion verbunden. Mit dem Begriff „Zion“ scheint sich nämlich von vornherein ein sakrales Verständnis zu verbinden, sodass der Vorwurf Michas in V. 10a einen ungeheuren Frevel aufdeckt. Gleichzeitig wird das Zitat seiner Gegner in V. 11c vor dem Hintergrund einer Sakralität Zions verständlich,35 ebenso wie die Aussage der Führenden des Volkes vor dem Hintergrund von Am 5,14b (s. o.). Gleichzeitig weist dieser Abschnitt Rückbezüge zu Mi 1 auf (z. B. das Kommen des „Unheils“ über Jerusalem, vgl. V. 11c und Mi 1,12b sowie die Erwähnung der „Höhen“ in V. 12b entsprechend Mi 1,5c). Mit der folgenden Völkerwallfahrt in Mi 4,1–3 ist V. 12b insbesondere durch das Stichwort „Berg des Hauses“ verknüpft (vgl. Mi 4,1), wobei auffälligerweise in V. 12bβ im Unterschied zu Mi 4,1aβ der Gottesname fehlt, was offensichtlich beabsichtigt ist (s. o.). Insbesondere die Beziehungen zu Mi 1,5f. sprechen dafür, dass auch dieser Abschnitt mit der Bearbeitung in Mi 3,1–8 auf dieselbe redaktionelle Ebene gehört, der auch ein erheblicher Teil von Mi 1 und 2 zugewiesen wurde. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es sich bei Mi 3 von vornherein um eine Komposition im Kontext von Mi 1 und 2 handelt, welche wiederum bereits einen Grundbestand der Hosea- und Amosschrift voraussetzen. Dem lagen möglicherweise einzelne Worte zugrunde, die tatsächlich dem historischen Micha zugeschrieben werden können (V. 12?). Die Komposition selbst dürfte aufgrund ihres starken Bezugs zur Völkerwallfahrt in Mi 4,1–3 jedoch erst aus exilisch-nachexilischer Zeit stammen.

Synthese zu Mi 3 Es ergibt sich daraus der Schluss, dass Mi 3 in seiner heutigen Gestalt weitgehend erst im Rahmen der Komposition der Michaschrift entstanden ist. Dabei kommt 35 Dies spricht gegen die von einer Reihe neuerer Exegeten erwogene Beurteilung von V. 11 als späterer Ergänzung, so z. B. VERMEYLEN, Isaїe, 592; METZNER, Micha, 113.

Synthese zu Mi 3

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diesem Text eine Art Brückenfunktion zu. Zum einen schließt er die Ankündigung des Kommens JHWHs zum Gericht in Mi 1 ab, insofern die Untaten der führenden Schicht Judas dazu führen, dass Zion/Jerusalem zur unbewohnten Höhe wird, zum anderen führt er die bereits in Mi 2 anklingende Parallelisierung Michas zu Amos fort: Micha wird somit zum „Amos des Südreiches“.36 Auffällig ist, dass JHWH den Zion nicht eigenhändig zerstört, sondern dies Folge des verfehlten Handelns der Oberschicht Judas ist. Es stellt sich daher die Frage, in welcher Weise sich die in Mi 1 geschilderte Theophanie JHWHs für den Zion auswirkt. Darauf wiederum scheint Mi 4/5 eine Antwort zu geben. Tatsächlich bereitet Mi 3 die Völkerwallfahrt zum Zion in Mi 4,1–3 vor. Die korrupten Häupter Zions, seine Priester und Propheten werden durch JHWHs Wirken vom Zion aus ersetzt. Aufgrund der sprachlichen Gestalt und der engen Verbindung von Mi 3 und 4,1–3 spricht dies für eine in weiten Zügen exilisch-nachexilische Entstehung von Mi 3.37 Offensichtlich soll damit zum einen eine theologische Erklärung der Verwüstung des Zions in den Ereignissen von 586 v. Chr. gegeben werden, zum anderen wird eine Zukunftsperspektive jenseits des Gerichtes entfaltet, in der die unfähigen Gruppen der Oberschicht durch JHWHs direktes Handeln und Wirken ersetzt werden. Allem Anschein nach spiegelt sich hier ein Stück Oppositionsliteratur wider, die in Kontrast zu etablierten Gruppen des nachexilischen Jerusalems stehen.

36 Vgl. meinen gleichlautenden Artikel, ZAPFF, Amos. 37 So auch UTZSCHNEIDER, Micha, 84.

Mi 4,1–5: Zions endgültige Bestimmung 4,1 Und es wird seina am Ende der Tageb: es wird sein der Berg des Hauses JHWHsc gegründetd auf dem Gipfele der Berge und erhoben ist er über den Hügeln, und es werden zu ihm hinauf Nationenf strömen. 2 Viele Völker werden sich auf den Weg machen und sagen: Machen wir uns auf den Weg und ziehen wir hinauf zum Berg JHWHs unda zum Haus des Gottes Jakobs, und er lehre unsb von seinen Wegen, und wir wollen gehen auf seinen Pfaden, denn vom Zion geht Weisungc hervor und das Wort JHWHs von Jerusalem. 3 Und er wird zwischen vielen Nationena richten und für mächtige Völkerb bis in die Fernec Schiedsrichter sein, und sie werden in Stücke schlagen ihre Schwerter zu Pflugscharen, und ihre Speere zu Winzermessern. Nicht wird ein Volk gegen ein anderes Volk das Schwert erheben und nicht werden sie weiterhin den Krieg lernen. 4 Und sie werden sitzena: jeder unter seiner Rebe und unter seinem Feigenbaum und keiner schreckt (ihn) auf. Ja, der Mund JHWH Zebaots hat gesprochen. 5 Denn alle Nationen gehen, jeder im Namen seines Gottesa, doch wir gehen im Namen JHWHs, unseres Gottes, für immer und ewig.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1a G ergänzt den Text, insofern sie in V. 1aβ ein ἐμφανὲς einfügt und bereits das erste hebräische ‫ה‬ als Hilfsverb versteht, sodass V. 1aα zu einem vollständigen Satz wird: „Und (in den letzten Tagen) wird sichtbar sein (der Berg…)“ καὶ ἔσται… ἐμφανὲς. 1b „Am Ende der Tage“ übersetzt G mit „in den letzten Tagen“ ἐπ᾽ ἐσχάτων τῶν ἡμερῶν. 1c G: „Berg des Herrn“ τὸ ὄρος τοῦ κυρίου. 1d In Jes 2,2 steht „gegründet“ ‫כוֹן‬ bereits am Beginn von V. 2aβ (entspr. Mi 4,1aβ). Die Positionierung in der Michafassung führt zu einer stärkeren Parallelisierung von V. 1aα

Synchrone Analyse

1e 1f 2a 2b 2c 3a

3b 3c

4a 5a

131

und V. 1aβ („und es wird sein“/ „es wird sein“)1 sowie V. 1bα und V. 1bβ („gegründet“/ „und erhoben“). Aus der singularischen Form „Gipfel“ macht G entsprechend „Berge“ einen Plural „Gipfeln“ τὰς κορυφὰς. Wenn in V. 1c anstelle von „alle Völker“ ‫ם‬‫גּוֹ‬‫ל־‬ (Jes 2,2) lediglich von „Nationen“ ‫ים‬ spricht, ist dies wohl eine absichtliche Änderung mit dem Ziel einer Reduzierung des Kreises der Wallfahrenden (s. u.). Gegenüber Jes 2,3bα und β findet sich in Mi 4,2b zwischen den beiden Satzteilen eine Kopula „und“. Damit gleicht sie die Satzstruktur den benachbarten Sätzen an. G weicht in markanter Weise vom hebräischen Text ab. So ist in V. 2c nicht JHWH Subjekt der Belehrung, sondern offensichtlich der zuvor genannte „Berg des Herrn“ und das „Haus des Gottes Jakobs“: „sie mögen uns zeigen“ δείξουσιν ἡμῖν. Anstelle von „Weisung“ geht nach G vom Zion das „Gesetz“ aus: ἐκ Σιων ἐξελεύσεται νόμος (vgl. S). Gegenüber der Jesajafassung, die in Jes 2,4aα von „den Völkern“ ‫ם‬‫גּוֹ‬ spricht, womit entsprechend V. 2bβ offensichtlich alle Völker zu verstehen sind, spricht die Michafassung in V. 3aα analog zu V. 2a (‫ים‬ ‫ם‬‫ )גּוֹ‬lediglich von „vielen Nationen“ ‫ים‬ ‫ים‬, nimmt also auch hier eine Einschränkung vor. Während sich die Rolle des Schiedsrichters JHWH in Jes 2,4aβ auf „viele Nationen“ ‫ים‬ ‫ים‬ bezieht, ist in Mi 4,3aβ von „mächtigen Völkern“ ‫ים‬‫ֻצ‬ ‫ם‬‫ גוֹ‬die Rede und wird außerdem um „bis in die Ferne“ ‫חוֹק‬‫ד־‬ ergänzt. Neben inhaltlichen Gründen (s. u.) scheinen für die Varianten vor allem formale Gründe verantwortlich zu sein. So geht es in Mi 4,3a offensichtlich darum, der Wortverbindung „viele Nationen“ ‫ים‬ ‫ים‬ mit „mächtigen Völkern“ ‫ים‬‫ֻצ‬ ‫ם‬‫ גוֹ‬eine Entsprechung gegenüberzustellen. Außerdem wird im Textduktus eine Steigerung angezielt: So werden aus „Nationen“ in Mi 4,1c „viele Nationen“ in Mi 4,3aα und aus „vielen Völkern“ in Mi 4,2aα „mächtige Völker“ in Mi 4,3aβ. „Sie werden sitzen“ gibt G mit „sie werden rasten“ ἀναπαύσεται wieder. „Im Namen seines Gottes“ ‫יו‬ ‫ם‬ übersetzt G mit „jeder seinen Weg“ ἕκαστος τὴν ὁδὸν αὐτοῦ offensichtlich in Entsprechung zu V. 2, wo ebenfalls von „seinem Weg“ τὴν ὁδὸν αὐτοῦ (scil. JHWHs) im Singular gesprochen wird. Damit aber wird der Gegensatz zwischen der Jetztzeit, in der die Völker noch auf ihren eigenen Wegen gehen und der Zukunft, in welcher sie sich den Weg JHWHs zeigen lassen, stärker herausgestellt.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Das vierte Kapitel der Michaschrift setzt sich durch die zeitliche Angabe in Mi 4,1 „Und es wird sein am Ende der Tage“ hinsichtlich der zeitlichen Ebene dezidiert vom vorausgehenden Kapitel Mi 3 ab, insofern es über die in Mi 3,12 beschriebenen Ereignisse hinausblickt auf das, was nach den Tagen des Gerichtes kommt. Gegenüber der Verwüstung des Zion in Mi 3,12 wird nun Jerusalem im Rahmen der Völkerwallfahrt in Mi 4,1–3 eine zentrale Rolle spielen, insofern es dort wieder 1

Insofern ist die abwertende Charakterisierung als „blasses Hilfsverb“, MAIER, Völkerwallfahrt, 110, unzutreffend.

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Mi 4,1–5

ein Haus des Gottes JHWH gibt. Dabei werden in Mi 4,1–3 zentrale Stichworte aufgegriffen, die bereits im Rahmen der Schilderung des Verhaltens der Oberschicht in Mi 3,11 verwendet wurden. So wird ihrem korrupten Verhalten die vom Zion ausgehende Tora entgegengestellt, die zum allgemeinen Völkerfrieden führt. Außerdem scheint auch hier eine Perspektive auf, die über die Michaschrift insbesondere an eine wesentliche Aussage der Amosschrift anknüpft. So tritt der Zion Mi 4,2 an die Stelle der in Am 5,5 zerstörten Heiligtümer des Nordreiches, insbesondere Bet-El, und fungiert zugleich als der neue Sinai, von dem die Tora JHWHs ausgeht. Damit aber bildet Mi 4 nicht nur nach Mi 1–3 den zentralen Wendepunkt in der Michaschrift, sondern auch im Duktus der Hosea- und Amosschrift, der von der Zerstörung der Heiligtümer des Nordreiches und seiner Hauptstadt Samaria zur Verwüstung des Zions aufgrund der Ungerechtigkeit seiner Oberschicht reicht.

Textinterne Aussagegestalt Die Erhöhung des Zions als Wohnort JHWHs und als Ort eines gerechten Gerichts führt zu einer allgemeinen Wallfahrt der Völker und der universalen Herrschaft des Zionsgottes in Mi 4,1–3. Den daraus resultierenden Frieden schildert V. 4. Insofern hier offensichtlich ein Zitat aus 1 Kön 5,5 aufgenommen wird, das sich dort auf die Königsherrschaft Salomos bezieht, geht es allem Anschein nach um die Auswirkungen der Königsherrschaft JHWHs. Damit aber weist der Vers auf Mi 4,7b voraus, in dem ausdrücklich die künftige Königsherrschaft JHWHs angekündigt wird. Durch das Stichwort „gehen“ mit der vorausgehenden Völkerwallfahrt verknüpft, beschreibt V. 5 gegenüber dieser Zukunftsvision den gegenwärtigen Zustand, in welchem die Völker noch im Namen ihres je eigenen Gottes gehen, Israel hingegen bereits im Namen JHWHs geht.

Einzelauslegung Vv. 1–3: Völker Durch den Neueinsatz und die Wendung „am Ende der Tage“ wechselt Mi 4,1 ziehen zum gegenüber Mi 3 auf eine andere Zeitebene.2 Dabei hat die Formulierung ‫ית‬ Zion ‫ים‬ schlicht die Bedeutung „am Ende der Tage“, wobei nicht entsprechend dem

deutschen Sprachgebrauch das Ende der Weltzeit gemeint ist,3 sondern vielmehr das Ende jener in Mi 3 beschriebenen Gerichtszeit. Es handelt sich hier demnach um ein Geschehen, das im Raum der Geschichte angesiedelt ist. Eine abweichende Interpretation in G Anders ist dies in G (vgl. S), die ausdrücklich davon spricht, was „in den letzten Tagen“ ἐπ᾽ ἐσχάτων τῶν ἡμερῶν – gemeint ist wohl: in den letzten Tagen der Weltgeschichte – geschehen wird. Damit aber wird das Folgende zu einem ausgesprochen eschatologischen Geschehen.

2 3

MAIER, Völkerwallfahrt, 107, spricht davon, dass sich die Wendung „an den meisten Parallelstellen auf eine Epoche bezieht, die sich grundlegend von der gegenwärtigen unterscheidet.“ So mit vielen anderen KESSLER, Micha, 183.

Synchrone Analyse

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Genannt wird der bereits in Mi 3,12 erwähnte „Berg des Hauses“, wobei ‫ בית‬entsprechend alttestamentlichem und altorientalischem Sprachgebrauch das Wohnhaus Gottes und damit den Tempel bezeichnen kann. Im Unterschied zu Mi 3,12 wird der Tempel ausdrücklich mit JHWH verbunden. Der dort leere Tempel ist nun vom Gott Israels wieder in Besitz genommen worden. V. 1b greift auf das im Alten Orient verbreitete Motiv des Götterberges zurück, das bereits in der traditionellen Zionstheologie eine Rolle gespielt hat (vgl. die vielleicht bereits vorexilischen Pss 46 und 48).4 Dieser symbolisiert die Festigkeit des Kosmos gegenüber den ihn bedrohenden chaotischen Mächten (vgl. Ps 46,3–6). Der Zionsberg wird zum unerschütterlichen Ort der Gegenwart Gottes. Damit wiederum steht er einerseits im Gegensatz zu den Bergen, die in Mi 1,4 angesichts der Theophanie JHWHs zerfließen,5 andererseits zu den ruchlosen Machenschaften der Oberschicht in Mi 3,9–12, die den Zion in den Zugriffsbereich des Chaos bringen (s. o.). Die hier verwendete Wurzel ‫„( כון‬feststehen“, pil.) die sich im profanen Gebrauch auf die Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse – z. B. die Errichtung einer Stadt – bezieht,6 wird im ni. häufig auch für die Vorbereitung eines Menschen auf kultische Handlungen gebraucht.7 Im vorliegenden Fall wohl als passivum divinum („gegründet“) impliziert diese Wurzel, dass ein Ort, in diesem Fall der Zionsberg, zum kultischen Zentrum – hier der Welt – bereitet wird. „Auf dem Gipfel der Berge“ kann sich dabei entsprechend dem Nachsatz auf die Höhe des Zionsberges beziehen, der entgegen den tatsächlichen topographischen Gegebenheiten – der Zionsberg wird vom Ölberg deutlich an Höhe (etwa 100 m) übertroffen – alle anderen Berge überragen wird. Dies aber ist, will man nicht eine wunderbare Naturveränderung annehmen, wohl eher im übertragenen Sinn zu verstehen. Der Zionsberg ist an der Spitze der anderen Berge i.S. des ersten aller Berge und stellt damit alle anderen Berge, die beanspruchen, Gottesberge zu sein (z. B. der Zaphon, der alte Götterberg bei Ugarit), in den Schatten. Er ist somit der Ort der Gottesbegegnung und überragt diesbezüglich alle anderen Hügel (V. 1bβ) (vgl. dazu Hos 13,1: dort bezieht sich dieselbe Formulierung auf die überragende Macht Efraims). Der Zustandsbeschreibung, die den Zionsberg als von JHWH bereiteten Kultort charakterisiert, folgt in V. 1c die Beschreibung einer Völkerwallfahrt. Dieses Motiv ist ebenfalls im Alten Orient verbreitet. Seinen Ausgangspunkt hatte es wohl in der Tributgabe, die von Vasallen dem Pharao oder den Großkönigen der Reiche des Zweistromlandes gebracht wurden als Ausdruck ihrer Macht und weltbeherrschenden Stellung. Im Alten Testament tritt es in Gegensatz zum Völkerkampfmotiv, bei dem Völker in feindlicher Absicht gegen den Zion ziehen (vgl. Ps 48,5). JHWH wird damit zum Weltenherrscher, den die Völker aufsuchen. Hintergrund könnte die in der Perserzeit verbreitete Vorstellung eines summus deus sein, in dessen Rolle nun JHWH eintritt. Dass es sich im Unterschied zu Jes 2,2 lediglich um „Nationen“ handelt, wenngleich diese im Folgesatz als „viele Völker“ charakterisiert werden, dürfte von Mi 5,14 her zu verstehen sein. Dort ist von „Völker“ die Rede, die „nicht 4 5 6 7

Dies ist allerdings heftig umstritten, vgl. WANKE, Zionstheologie; dagegen HOSSFELD/ ZENGER, Psalmen, 285, die hinsichtlich Ps 46 als Entstehungszeit für die „(spät-)vorexilische Zeit“ plädieren; ähnlich zu Ps 48, vgl. 295. UTZSCHNEIDER, Micha, 88. KOCH, Art. ‫ כוּן‬kûn: ThWAT IV, 101. KOCH, Art. ‫ כוּן‬kûn: ThWAT IV, 102.

Gottesberg Völkerwallfahrt Völkerkampfmotiv Paradiesesgarten

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Mi 4,1–5

gehorchten“. Dementsprechend würde hier bereits vorab eine Einschränkung vorliegen. Es sind zwar viele Völker, die zum Zion wallfahrten, aber eben nicht alle. Die Verbindung der Wurzel „strömen“ ‫ נהר‬mit dem Subjekt „Nationen“ bzw. „Völker“ findet sich neben Jes 2,2 nochmals in Jer 51,44.8 Dort „strömen“ die Völker nicht mehr zu Bel, der Gottheit des zerstörten Babels: Zion übernimmt demzufolge die einstige Rolle der Welthauptstadt Babel (vgl. einen ähnlichen Gegensatz in Jes 47/52!) als religiöses Zentrum. Dabei bringen die Völker nicht wie im Fall von Babel ihren Tribut dar, sondern empfangen das „richtende und schlichtende Wort JHWHs“.9 Dies wiederum könnte Ausdruck einer Distanz zur „offiziellen“ Politik sein, die in der Perserzeit auf Kooperation ausgelegt war.10 Dabei assoziiert „strömen“ zugleich die Vorstellung eines Flusses. Tatsächlich wird die Gottesstadt häufig entsprechend des Paradiesesgartens mit einer durch einen Fluss bewässerten Landschaft in Zusammenhang gebracht (vgl. Ps 46,5; Ez 47,1–7; Sach 14,8).11 Dieses Bild könnte nun auch hier assoziativ aufgenommen worden sein, eine Vorstellung, die jedoch G nicht mehr erkennen lässt, wenn dort die Völker zum Zion „eilen“. Die in V. 1 genannten Völker werden in V. 2a näher bestimmt: es sind „viele VölV. 2 Bet-El ker“ (s. o.). In V. 2b werden die beiden Stichworte „zu ihm hinauf“ ‫יו‬ (V. 1c) und „sie machen sich auf den Weg“ ‫כוּ‬ (V. 2aα) in der Rede der Völker in umgekehrter Reihenfolge wieder aufgenommen: „Machen wir uns auf den Weg und ziehen wir hinauf“ ‫ה‬ ‫כוּ‬. Das „Hinaufziehen“ bezieht sich auf die Topographie Jerusalems, da man tatsächlich aus der Davidstadt zum Tempelberg, der die Stadt um ungefähr 100 m überragt, hinaufsteigen muss. Es beinhaltet aber auch die Anerkenntnis der Völker, dass es sich beim Zion entsprechend V. 4b um den eigentlichen, über alle anderen möglichen Gottesberge und Hügel erhabenen Gottesberg handelt.12 Die in Num 10,33 auch für den Sinai verwendete Bezeichnung „Berg JHWHs“ charakterisiert nun den Zion ausdrücklich als „Gottesberg“, den JHWH zu eigen genommen hat. Die Verwüstung Zions und der verlassene Tempel JHWHs in Mi 3,12 münden demnach in eine dauernde Inbesitznahme dieses Berges durch JHWH ein. Mit der Näherbestimmung des Tempels als „Haus des Gottes Jakobs“ wird eine Gottesbezeichnung aufgegriffen, die auch anderweitig in der Zionstradition beheimatet ist, wie sie sich vor allem in den Zionspsalmen widerspiegelt (vgl. Ps 20,2f.; 46,8.12; 76,7 und 84,9). Dabei überrascht die Zuordnung JHWHs zu Jakob.13 Offensichtlich liegt dabei ein Rekurs auf die Jakobstradition, insbesondere auf Gen 28,10–22 vor, da dort der Gott Abrahams und Isaaks auch zum Gott des Stammvaters Israels, nämlich Jakobs, wird (vgl. Gen 28,15).14 Der Ort 8 9 10 11 12

Vgl. MAIER, Völkerwallfahrt, 115. MAIER, Völkerwallfahrt, 116. KESSLER, Micha, 182. So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 88. MAIER, Völkerwallfahrt, 120, bei ‫ עלה‬+ ‫ הר‬handelt es sich um einen Ausdruck, „mit dem in der Bibel gewöhnlich die Besteigung jenes Berges zum Ausdruck gebracht [wird], die zum Ziel eine Begegnung mit Jahwe hat.“ 13 Innermichanisch erklärt etwa UTZSCHNEIDER, Micha, 89, die Bezeichnung damit, dass „[d]as Bild des künftigen Zion impliziert, dass Jakobs/Israels Verhältnis zum Recht selbst erneuert ist.“ 14 Die von MAIER, Völkerwallfahrt, 120, angeführte Erklärung, dass damit die Völker anerkennen, dass JHWH „durch ein Verhältnis gegenseitiger Zugehörigkeit an dieses Volk (scil. Israel, Anm. v. mir) gebunden ist“ ergibt sich m. E. bereits durch die Gottesbezeichnung JHWH.

Synchrone Analyse

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aber, an dem der Traum Jakobs lokalisiert wird, wird dort als „Haus Gottes“ ‫ים‬ ‫ית‬ (vgl. Vv. 17.22) bezeichnet, womit die Erzählung zu einer Art Kultätiologie des späteren Nordreichsheiligtums Bet-El wird. Setzt man nun die in Amos geschilderte Zerstörung des oder der Heiligtümer des Nordreiches voraus (vgl. Am 5,5), so beerbt hier der Zion jenes einstige Heiligtum des Nordens und wird zum neuen Bet-El, zum neuen „Haus des Gottes Jakobs“! Diese Übertragung eines heiligen Ortes auf einen anderen legt sich nicht zuletzt deshalb nahe, weil etwas Ähnliches auch in V. 2d geschieht (s. u.). In V. 2c wird JHWH zum Lehrer der Völker. So stammt die Wurzel ‫„ ירה‬lehren“/ „unterweisen“ aus dem weisheitlichen Umfeld, in welchem ein Vater seinen Sohn in die rechte Lebenskunst einführt.15 Indem die Völker ähnlich wie der Beter in Ps 27,11 und 86,11 von JHWH über seine Wege belehrt werden möchten, drücken sie ihr tiefes Vertrauen auf JHWH als den Lehrer eines gelungenen Lebens aus. Gleichzeitig tritt JHWH in Gegensatz zu den korrupten Priestern in Mi 3,11 auf, die um Bezahlung lehren.16 Sind in V. 2cα die Völker Empfangende und JHWH Handelnder, so werden sie (durch den Subjektwechsel) in V. 2cβ zu aktiv Handelnden, indem sie – belehrt durch JHWH – ihr künftiges Gehen auf den Pfaden JHWHs (zur Parallele „Weg“ / „Pfad JHWHs“, vgl. Ps 25,4) versichern. Eine abweichende Interpretation in G Auffällig ist die Variante von G. Hier ist nicht der zuvor genannte κυρίος „Herr“ der Lehrende, sondern der „Berg des Herrn“ und das „Haus des Gottes Jakobs“ zeigen den Weg (s. o.). D. h. es ist hier offensichtlich die Institution des Tempels und seines Personals als Institution der Lehre und Wegweisung im Blick. Möglicherweise erschien dem Übersetzer eine direkte Belehrung der Völker durch JHWH zu anthropomorph und der Transzendenz JHWHs zu wenig angemessen.

V. 2d identifiziert den Ort, an dem Belehrung durch JHWH zu erhalten ist: Es ist der Zion. Dabei umschließt das gleichsinnige Wortpaar „Zion“/„Jerusalem“ ein zweites Wortpaar, das demnach wohl ebenfalls nicht zwei unterschiedliche, sondern mehr oder weniger identische Größen beschreibt: die „Weisung“ und das „Wort JHWHs“.17 Demnach bezieht sich die „Weisung“, die im Alten Testament ein recht breites Bedeutungsspektrum umfassen kann,18 nicht auf die am Sinai offenbarte Mosetora im Sinne eines Gesetzeskorpus,19 wenngleich sich diese Assoziation aufgrund der Verbindung mit einem Berg, dem Zion, der hier die Rolle des Sinai einnimmt,20 zunächst nahezulegen scheint.21 Tatsächlich hat dies die G so verstanden, wenn sie Tora mit νόμος „Gesetz“ wiedergibt, womit sie auch sonst 15 16 17 18 19

WAGNER, Art. ‫ ׇרה‬III jārāh: ThWAT III, 921. UTZSCHNEIDER, Micha, 89. So MAIER, Völkerwallfahrt, 127. Vgl. GARCÍA LÓPEZ, Art. ‫ תּוׇֹרה‬tôrāh: ThWAT VIII, 631. So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 90, der meint, dass es hier in erster Linie um „die mündliche Tora, um Unterweisung durch Menschen für Menschen, vielleicht auch um das Beispiel [der] gelebte[n] Tora“ geht. 20 FISCHER, Tora, 122f., meint, dass für Israel der Zion jener Berg sei, an dem die am Gottesberg Sinai ausschließlich für Israel gegebene Tora aktualisiert wird. So sei für die Völker der Zion der Berg der Offenbarung. 21 Eine Abtrennung vom Zionsberg liegt wohl in Jes 51,4 vor, insofern die Formulierung des Hervorgehens der Tora aus Jes 2,3 aufgegriffen, nun aber mit JHWH direkt verbunden wird, vgl. ZAPFF, Jes 40–55, 313.

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Mi 4,1–5

Tora übersetzt.22 Auffällig ist hingegen, dass „Wort JHWHs“ im Kontext mit dem Berg der Gesetzesgabe vor allem in Dtn 5,5 und 22 (dort im Plural) verwendet wird, also im Rahmen der Verkündigung des Dekalogs. Möglicherweise geht es hier um die Verkündigung des Dekalogs als allgemeine sittliche Orientierung für die Völker. Dafür könnte auch sprechen, dass in Jes 56,2 die Einhaltung des Sabbats (wohl im Sinne einer pars pro toto)23 als die conditio des positiven Verhältnisses von Nichtisraeliten zu JHWH genannt wird. Indem „Tora“ vom „Zion hinausgeht“ ergibt sich somit gegenüber dem Strömen der Völker zum Zion eine Art Gegenbewegung. Dabei sind offensichtlich Assoziationen zum Paradiesgarten, der ebenfalls zur Motivik des Tempelberges gehört, beabsichtigt, geht doch auch von dort ein Strom aus, der die Erde bewässert und ihr Fruchtbarkeit verleiht24 (vgl. Ez 47). Das richtende Handeln JHWHs steht dem korrupten Richten der „Häupter“ JerusaV. 3 lems/Zions in Mi 3,11 gegenüber. „Richten“ meint hier wohl die Recht schaffende Entscheidung angesichts eines Konfliktes zwischen zwei Parteien, um dadurch Frieden zu schaffen. Parallel dazu wird JHWH in der Rolle eines Schiedsrichters gezeichnet, der einen Rechtsspruch trifft und damit das Verfahren zu einem Ausgang führt. Dabei kann die Entscheidung durchaus auch strafenden Charakter haben. Im Hintergrund scheint dabei Dtn 17,8–11 zu stehen, sodass „dessen Anweisungen für das sakrale Gerichtsverfahren […] auf die internationale Ebene übertragen“ werden.25 Indem sich dieses richtende Handeln JHWHs ausdrücklich auch auf „mächtige Nationen“ bezieht, wird deutlich, dass sich diesem keine Gewalt entziehen kann. Dabei weitet sich dieses Handeln JHWHs über den Bereich des Zions hin aus, indem es sich nicht nur auf einen Rechtsspruch begrenzt, den man seitens der Gottheit im Tempel einholt, sondern aktiv auch die Völker miteinbezieht, die nicht zum Zion gewallfahrtet sind. Dem entspricht wiederum jene Einschränkung in V. 2a, die gegenüber der Jesajafassung nur von „vielen“, jedoch nicht allen Völkern spricht, die zum Zion wallfahrten. Damit wird das Handeln JHWHs zu einem universalen Völkergericht (vgl. Mi 5,14 in neuer Interpretation, s. u.). V. 3b beschreibt die Wirkung jenes Gerichtes JHWHs. Da kein Grund mehr besteht, das Recht mit Gewalt durchzusetzen, geschieht eine allgemeine Entwaffnung.26 Die wertvollen Ressourcen,27 die Kriegsvorbereitungen in Anspruch nehmen, werden für die landwirtschaftliche Produktion verwendet: für Pflugscharen und Winzermesser. Dabei ist auffällig, dass hier offensichtlich eine Umkehrung eines Motivs der traditionellen Zionstheologie vorgenommen wird: Diese kennt die Abwehr eines Völkersturms, bei dem JHWH die Waffen auf dem Zion zerbricht28 (vgl. auch Ps 22 23 24 25 26

Vgl. GARCÍA LÓPEZ, Art. ‫ תּוׇֹרה‬tôrāh: ThWAT VIII, 634. Vgl. ZAPFF, Jesaja 56–66, 356. So mit UTZSCHNEIDER, Micha, 89; vgl. dazu auch Sir 24,23–34! MAIER, Völkerwallfahrt, 125. NIELSEN, Oral Tradition, 86, meint, dass mit den Worten der Ausrottung sämtlicher militärischer Gewalt in Mi 5,10f. die Beschreibung in Mi 4,3f. korrespondiere. Die Entwaffnung Israels seitens JHWHs würde somit ihre Fortsetzung in der Entwaffnung der Völker finden. 27 Sehr schön bringt dies KESSLER, Micha, 185f., zum Ausdruck: „Die Vision von der Umschmiedung dieser Waffen in landwirtschaftliche Geräte ist also mehr als das Bild einer Idylle; es geht um die Frage, wofür die Schätze dieser Welt da sind: zum Töten und Erobern oder zum Ernähren und zur Erleichterung der Arbeit“. 28 Diese auffällige Rede vom „Zerbrechen“ bzw. „in Stücke schlagen“ der Schwerter zu Pflugscharen passt eigentlich nicht ganz zum Bild, und wird deshalb häufig mit „umschmieden“ wiedergegeben, vgl. EÜ.

Synchrone Analyse

137

46,10; 76,4). Hier jedoch führen allein seine Tora und sein Wort zum Frieden: Ein gewalttätiges Gottesbild wird durch eine den Frieden herstellende Wort-Gottes-Theologie ersetzt.29 Entscheidend ist dabei, dass der Friede nicht menschlicher Aktion entspringt, sondern Folge des richtenden Handelns JHWHs ist: Die von JHWH verfügte Gerechtigkeit schafft Frieden (vgl. Jes 32,17). Da es keine Kriegswaffen mehr gibt, können sie entsprechend V. 3c auch nicht mehr gegeneinander in Stellung gebracht werden, ebenso ist ein Lernen des Kriegshandwerkes ohne Waffen sinnlos.30 Ähnlich wie die in den vorhergehenden Versen geschilderte Aktion der Völker (V. 3b) in ein Nichthandeln (V. 3c) einmündet, so beschreibt auch V. 4a ein Handeln bzw. einen Zustand, den jedes einzelne unter den Völkern annimmt und dem ebenfalls die Nichtexistenz eines Handelnden in V. 4afin entspricht. Dabei bildet das „Sitzen“ einen wirkungsvollen Gegensatz zu dem in V. 3cα erwähnten „Erheben“ (des Schwertes). Während Vv. 1–3 jeweils eine Entsprechung in der Version der Völkerwallfahrt des Jesajabuches haben, so fehlt diese in V. 4. Eine Beziehung gibt es allerdings zu 1 Kön 5,5, da sich dort die Formulierung von V. 4a fast wörtlich (ohne: „und keiner schreckt [ihn] auf“) findet. Bezieht sie sich dort auf Israel und Juda während der Herrschaft Salomos, so wird nun dieser Friede unter der gerechten Herrschaft JHWHs allen Völkern zuteil. Tatsächlich spricht V. 7 davon, dass JHWH auf dem Zion König sein wird. Ähnlich wie die Häupter Jerusalems durch den Zion ersetzt werden, so tritt nun an die Stelle des menschlichen Königs JHWH selbst. „Weinstock“ und „Feigenbaum“ gelten „schon um 2300a […] als typisch für Palästina“.31 Beide erscheinen häufig als Paar (16x im Alten Testament) und sind in Israel die obsttragenden Gewächse schlechthin und damit Inbegriff eines kultivierten Landes, das von der Verheerung des Krieges verschont bleibt. Das „Sitzen unter dem Weinstock“ erklärt sich daraus, dass im Süden Weinstöcke oft als Rankengewächse über eine Pergola hochgezogen wurden (und werden), sodass man darunter sitzen konnte (und kann). Im Kontext des Zwölfprophetenbuches bildet diese Verheißung eine Art Pendant zu den vorausgehenden Ankündigungen der Verwüstung des Landes, von der besonders diese beiden Kulturpflanzen, die im Fall des Weinstocks einen hohen Pflegeaufwand erfordern, betroffen waren (vgl. Hos 2,14, Joël 1,7.12). Dass niemand mehr die Ruhe stören wird, scheint auf vorherige Aussagen von der Verbannung in Mi 1,16 und der Vertreibung in Mi 2,9 sowie auf die brutale Unterdrückung in Mi 3,2f. zurückzuverweisen,32 die nun ein Ende haben. Die abschließende Botenformel dient dem Anliegen, „die Prophetie zu autorisieren als ein Wort, das JHWH mit eigenem Mund gesprochen hat“.33 Die Tatsache, dass sie ausschließlich im Buch Jesaja erscheint und noch dazu in verhältnismäßig späten Texten, weist auf eine weitere Abhängigkeit der michanischen Prophetie von Jesaja hin. Im Gesamt des Buches wird damit am Ende der Tage des Gerichtes „das ‚Gottesschweigen‘ am Zion (vgl. 3,6) aufgehoben […]“.34

29 30 31 32 33 34

Vgl. MAIER, Völkerwallfahrt, 131. KESSLER, Micha, 186. KEEL, Orte 1, 74. KESSLER, Micha, 180. GARCÍA LÓPEZ, Art. ‫ה‬ pæh, ThWAT VI, 531. UTZSCHNEIDER, Micha, 86.

V. 4: Die Folgen der Königsherrschaft JHWHs

Weinstock und Feigenbaum

138 V. 5: Das gegenwärtige Verhalten Israels und die Völker

Mi 4,1–5

V. 5 ist durch eine Reihe von Stichworten mit der vorausgehenden Völkerwallfahrt zum Zion verknüpft: „Nationen“, „gehen“, „Gott“. Dabei ist der Unterschied markant. So sprechen Vv. 2a und 3a von „vielen“ Völkern bzw. Nationen, während V. 5 die Gesamtheit der Völkerwelt im Blick hat: „alle Nationen“. Dies ist insofern auffällig, als auch die Parallelversion in Jes 2,2 von „allen Völkern“ spricht. Dies deutet darauf hin, dass die Michaversion der Völkerwallfahrt den Kreis der Völker, die zum Zion wallfahrten, etwas enger zieht. Es sind beileibe nicht alle Völker, die zum Zion ziehen, alle hingegen verhalten sich entsprechend V. 5a, der offenbar den Zustand der Gegenwart umschreibt. Dabei scheinen Jes 2,5 und V. 5 nicht völlig unabhängig voneinander entstanden zu sein, finden sich doch beide Male die Formulierungen „wir (wollen) gehen“ und „im (Namen bzw. Licht) JHWHs“. Allerdings ist die Aussage deutlich unterschiedlich. Jes 2,5 greift die Selbstaufforderung der Völker aus V. 3bα „machen wir uns auf den Weg“ und V. 3cβ „wir wollen gehen“ auf, die sich nun das Haus Jakob zu eigen machen soll, um nicht nur wie die Völker auf dem „Weg JHWHs“, sondern im „Licht JHWHs“ zu gehen. Offensichtlich kann Israel damit den endzeitlichen Zug der Völker im Hier und Heute präfigurieren. Mi 4,5 hingegen rechnet bereits mit einem Gehen der hier sprechenden Gruppe im Namen JHWHs und beendet damit definitiv die vorher beschriebene Unheilszeit aufgrund des Gerichtes. „Im Namen gehen“ bedeutet dabei, das eigene Leben JHWH entsprechend zu führen und sich von ihm allein bestimmen zu lassen.35 Dies tun die Völker vorerst auch, jedoch jeweils im Hinblick auf ihre eigenen Götter. Eine abweichende Interpretation in G Durch die Änderung von „im Namen seines Gottes“ zu „jeder seinen Weg“ verstärkt G den Gegensatz zwischen gegenwärtigem und künftigem Verhalten der Völker, die einst auf dem Weg JHWHs gehen werden. Zugleich wird die Haltung der Völker zu einem rein innerweltlichen Verhalten. Götter, in deren Namen sie gehen könnten, existieren offensichtlich nach der streng monotheistischen Auffassung von G nicht.

Die Abschlussformel in V. 5bγ ist Gebetssprache, vgl. 19,44; 145,1f.21.

Diachrone Analyse Ältester Bestandteil des Abschnittes Mi 4,1–5 dürfte der Völkerwallfahrtstext in Mi 4,1–3 sein, der aus dem Jesajabuch übernommen und aufgrund der beschriebenen inhaltlichen Zusammenhänge zusammen mit Mi 3,9–12 in die entstehende Michaschrift kam, um den Abschluss eines Duktus zu bilden, auf den bereits die Überschrift der Michaschrift verweist.36 Die bereits in der Beziehung zwischen Mi 1,6 und 3,12 anklingende Differenzierung zwischen den Heiligtümern des Nordreiches unterstreicht diese Verbindung. Letztere sind komplett zerstört, der verwüstete 35 FABRY, Art. ‫ם‬ šem: ThWAT VIII, 157. 36 Diese enge Verbindung mit Mi 3,9–12, und zwar auch, aber nicht nur mit V. 11, spricht entgegen meiner früheren Sicht dafür, dass Mi 3,9–12 und Mi 4,1–3 gleichzeitig Teil der Michaschrift wurden.

Diachrone Analyse

139

und von JHWH verlassenene Zion jedoch besitzt die Potentialität einer Erneuerung und wird nun zum Gottesberg und zum neuen Bet-El. Zu ihm gehört wohl auch V. 4, während V. 5 nach der abschließenden Formulierung „Der Mund JHWH Zebaots hat gesprochen“ in V. 4 als nachgetragen erscheint. Hier dürfte es sich um eine späte Ergänzung handeln, die realistisch den vorläufigen „Ist“-Zustand beschreibt und damit indirekt die in Vv. 1–4 beschriebenen Ereignisse in die ferne, eschatologische Zeit verweist, gleichzeitig aber die Treue Israels zu JHWH für alle Zeiten unterstreicht. Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 4

Mi 4,6–8: Die Sammlung der Zerstreuten und das Königtum JHWHs und Zions 4,6 An jenem Tag, Spruch JHWHs, werde ich das Hinkendea sammelnb, und das Versprengte will ich zusammenführen und das, dem ich Unheil zugefügt habe. 7 Und ich mache das Hinkende zum Rest und das weit Entferntea zum mächtigen Volk, und König wird JHWH über sie sein auf dem Berg Zion von nun an bis in Ewigkeit. 8 Und du Herdenturm, Hügel (Ofel?)a der Tochter Zion, zu dir wird kommen und eintreten die frühere Herrschaft, das Königtumb für die Tochter Jerusalem.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6a Das „Hinkende“ gibt G mit „das Zerbrochene“ τὴν συντετριμμένην wieder. 6b Im Unterschied zu MT verwendet G in V. 6bβ kein dem „ich sammle“ συνάξω in V. 6bα entsprechendes Synonym, sondern spricht von einer Wiederaufnahme εἰσδέξομαι des Vertriebenen ἐξωσμένην und derer, die „ich (scil. JHWH) zurückgewiesen habe“ ἀπωσάμην.1 Insofern nun G in V. 6bα und bβ Israel mit zwei passivischen Größen identifiziert und entsprechend V. 6bγ wie in MT JHWH selbst als Verursacher des Zustandes Israels erscheint, erreicht G eine stärkere innere Geschlossenheit. Es geht dann insgesamt um eine Umkehrung des von JHWH selbst bewirkten Unheilszustandes, wobei „das Zerbrochene“ eine militärische Niederlage impliziert.2 7a „Das weit Entfernte“ gibt G mit „das Zurückgewiesene“ τὴν ἀπωσμένην wieder und greift damit neben dem für „Hinkenden“ in V. 6bα übersetzten „das Zerbrochene“ (τὴν συντετριμμένην, vgl. 7aα) ein weiteres Lexem aus V. 6 auf, womit sie die Entsprechungen zwischen Vv. 6 und 7 gegenüber MT verstärkt. 8a Die Bedeutung von ‫ל‬ ist nicht ganz klar. Im Zusammenhang mit Zion handelt es sich wohl um einen Stadtteil Jerusalems, der im Zusammenhang mit dem Tempelbezirk steht.3 Deshalb wäre es möglich, hier einen Eigennamen „Ofel“ zu vermuten oder aber mit der Grundbedeutung „Hügel“/„Buckel“ zu übersetzen (s. o.). G gibt V. 8aβ mit πύργος ποιμνίου αὐχμώδης „ausgetrockneter“/„verödeter Herdenturm“ wieder; dabei 1 2 3

UTZSCHNEIDER, Michaias, 2373, sieht darin eine theologische Abschwächung. Zur Semantik von τὴν συντετριμμένην ausführlich SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 148. Vgl. HAL III, 815.

Synchrone Analyse

141

scheint G ein Wortspiel mit dem Namen Zion zu verbinden, indem sie die Wurzel ‫„ ׅצ ה‬trocken“ assoziiert. S liest hier „Dunkelheit der Tochter Zion“ (vgl. V: „dunkler Herdenturm“) und setzt damit offensichtlich anstelle von ‫ל‬ „Hügel“ ein ‫ל‬ „Dunkelheit“ voraus. T übersetzt mit „(du aber) Messias Israels“ und ist dabei allem Anschein nach von Mi 5,3 beeinflusst, wo das Hervorgehen eines Herrschers aus Betlehem angekündigt wird. Im Hintergrund dürfte dabei Gen 35,21 stehen, da dort der „Herdenturm“ entsprechend Gen 35,20 in der Nähe von Betlehem lokalisiert wird. Eine ähnliche Tradition findet sich im Targum Jeruschalmi, der an die Notiz über Jakobs Zeltplatz beim „Herdenturm“ die Verheißung anfügt: „[v]on wo aus der Messiaskönig sich am Ende der Tage offenbaren wird.“4 8b In V. 8c ergänzt G ein ἐκ Βαβυλῶνος „von Babylon“. Die Ergänzung scheint von V. 10 beeinflusst zu sein, wo davon die Rede ist, dass Zion nach Babel ziehen muss.5 Nun wird sozusagen die Gegenrichtung eingeschlagen (vgl. auch Jes 47/52!).

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Mittels des formelhaften „an jenem Tag“ knüpft Mi 4,6 an Mi 4,1 („am Ende der Tage“) an, bewegt sich also auf derselben Zeitstufe und entwickelt eine weitere Zukunftsperspektive. Nun fokussiert sich der Blick auf das künftige Schicksal der Versprengten Israels, näherhin seiner Diaspora. Spricht die Völkerwallfahrt von der Herrschaft JHWHs über „mächtige Völker“ V. 3aβ, so geht es hier nun um die Sammlung Israels und die erneute Erfüllung der einstigen Verheißung JHWHs an die Erzväter, sie zu einem „mächtigen Volk“ zu machen. Dies wiederum verbindet sich mit dem Antritt seiner Königsherrschaft in V. 7b bzw. der Rückkehr der Königsherrschaft nach Zion, wovon V. 8 spricht. Vom folgenden Abschnitt Vv. 9–14 setzt sich Vv. 6f.8 durch die Zeitstufe ab, die im Folgevers durch „Jetzt“ in die gegenwärtige Situation zurückführt. Über den näheren Kontext hinaus steht Vv. 6f. insbesondere mit Mi 2,12f. durch die Thematiken bzw. Stichworte „Sammlung“, „Rest“ und „Königtum“ JHWHs in Korrespondenz, sodass sich die beiden Abschnitte Vv. 6f. und V. 8 wie eine Fortsetzung von Mi 2,12f. lesen. Diese wiederum scheint eine weitere Fortsetzung in Mi 5,6f. zu haben, wo es in der der Königsideologie entnommenen Diktion um die Rolle geht, die der Rest Jakobs inmitten der Völker spielen wird.

Textinterne Aussagegestalt V. 6 spricht von einem Handeln JHWHs, das eine Sammlung derer ankündigt, die entsprechend V. 6bγ durch das Gericht JHWHs gegangen sind. V. 7a beschreibt ein weiteres Handeln JHWHs, welches das Wesen und die Situation der Gesammelten grundlegend zu deren Heil verändert. Dieses Handeln JHWHs wiederum mündet in 4 5

KEEL, Orte 2, 641, zit. nach GINSBURGER, Targum, 66. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2373.

142

Mi 4,6–8

V. 7b ein in seine Königsherrschaft auf dem Zion über jenen zum mächtigen Volk gewordenen Rest. Die Rückkehr der Königsherrschaft nach Zion/Jerusalem ist auch Inhalt der Verheißung des folgenden V. 8. Hier wird nun die Königsherrschaft JHWHs mit der Zions/Jerusalems verbunden, insofern diese nun selbst wieder Trägerin der Königherrschaft wird und ihr damit wieder ihre alte Würde verliehen wird. Damit wiederum liefern Vv. 7b und 8 das Stichwort für Mi 4,9, in dem es um die (vermeintliche) Abwesenheit eines Königs in der Jetztzeit geht.

Einzelauslegung Die einführende Zeitangabe „an jenem Tag“ in V. 6 bezieht sich wahrscheinlich auf jene in V. 1, die auf ein Ereignis „am Ende der Tage (des Gerichtes)“ verweist.6 Gleichzeitig weist die Zeitangabe auf die in Mi 5,9 beschriebenen Ereignisse voraus, sodass sich eine Art Gleichzeitigkeit der jeweiligen Ereignisse ergibt. Insofern das Folgende bis auf V. 7b als direkte JHWH-Rede gekennzeichnet wird,7 liegt auf ihm gegenüber der vorausgehenden Prophetenrede ein besonderes Gewicht. Das Wortpaar ‫„ אסף‬sammeln“ und ‫„ קבץ‬zusammenführen“ weist auf Mi 2,12 zurück8 und bezieht sich, wie dort, auf ein Sammlungsgeschehen bezüglich der Diaspora.9 Die Bezeichnung als „Hinkendes“10 will wohl einen schriftgelehrten Verweis Jakobsreminiszenz auf Gen 32,32 herstellen, wo Jakob nach seinem Kampf mit Gott als hinkend () beschrieben wird. Damit soll offensichtlich die Identifikation der Diaspora mit dem Stammvater Jakob herausgestellt werden, der zudem selbst im Exil bei seinem Onkel Laban im Zweistromland war und bei seiner Rückkehr am Jabbok im Ostjordanland (vgl. den Hinweis auf Bosra in Mi 2,12) dieses Charakteristikum erhielt.11 Gleichzeitig scheint diese Bezeichnung auf die Verletzung durch das Gericht JHWHs hinzudeuten, die Jakob/Israel erlitten hat und durch die es zugleich geläutert wurde.12 „Versprengtes“ greift auf die Hirtenmetaphorik in Mi 2,12 zurück (vgl. die Entsprechung zu Ez 34,16) und bezeichnet die durch das Gerichtshandeln JHWHs zerstreuten Israeliten, steht also für die Diaspora (vgl. Jes 11,12; 27,13; 56,8; Jer 8,3; 16,15; 23,2). Dies wiederum weist den Text eindeutig als „nachexilisch“ aus. Wenn sich JHWH damit als Hirt seines Volkes charakterisiert, greift er auf eine Selbstbezeichnung altorientalischer Herrscher zurück, die sich gerne als Hirten

Vv. 6f.: Die Sammlung und Erneuerung der Nachkommen Jakobs

6 7 8 9

ZAPFF, Studien, 54; SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 146. Vgl. die Entsprechung zu Mi 2,12f.; so KESSLER, Micha, 192. ZAPFF, Studien, 54; KESSLER, Micha, 192. Wenn UTZSCHNEIDER, Micha, 96, aufgrund der Femininform als Subjekt hier an Jerusalem bzw. die Tochter Zion denkt, wird dies m. E. den damit verbundenen Konnotationen nicht gerecht. Außerdem kann die Femininform auch als „Zusammenfassung einer größeren Zahl von Personen“ verwendet werden, so G/K § 122s, u.a. mit Verweis auf Mi 4,6f. 10 Dieses Lexem findet sich nochmals in Zef 3,19. Dabei scheint die Abhängigkeit auf Seiten der Zefanjastelle zu liegen. So stellt diese eine Art schriftgelehrtes Mischzitat dar, das nicht nur Mi 4,6 kennt, sondern auch auf Ez 34,22 (‫י‬‫הוֹ‬ „und ich werde retten [meine Herde]“) und Dtn 26,19 (‫ם‬‫ה וּ‬ „zum Lob und zum Ruhm“) Bezug nimmt. 11 ZAPFF, Studien, 55f. 12 UTZSCHNEIDEr, Micha, 96.

Synchrone Analyse

143

ihres Volkes darstellten.13 Tatsächlich ist dann auch in V. 7b vom Königtum JHWHs die Rede. Die hier in Gestalt einer Verbform aufgegriffene Wurzel „Böses tun“ ‫רעע‬ (hi.) greift auf Mi 1,12;14 2,3 und 3,4 zurück und macht dadurch deutlich, dass das vollzogene Gericht JHWHs (vgl. dazu die Verwendung dieser Formulierung in Jos 24,20; Jer 25,6.29; 31,28 und Sach 8,14) Folge der bösen Taten Israels war, nun aber in der Vergangenheit liegt. V. 7 spricht von einer weiteren Handlung JHWHs, bei der sich eine grundlegende Wandlung vollzieht. Bezeugt der von einem Volk übriggebliebene „Rest“ lediglich dessen vollständige Niederlage in einem Kriegsgeschehen, so ist er hier als Ausgangspunkt einer Erneuerung des Volkes ins Positive hinein gewendet (vgl. Jes 11,11).15 Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit Gen 45,7, wo im Vorfeld des Exodusgeschehens Joseph gegenüber seinen Brüdern davon spricht, dass ihn JHWH vor ihnen hergesandt habe, um ihnen im Land einen „Rest“ zu erhalten. „Wie damals Gott für Israel einen Rest in Ägypten übriggelassen hat, um diesen in die Freiheit zu führen, so wird es auch jetzt bei der Sammlung der Versprengten Israels sein.“.16 Dieser Bezug zur Vorgeschichte des Exodusgeschehens liegt insofern nahe, als ähnlich wie durch „Hinkendes“ ‫ה‬ in V. 6bα und „ausbreiten“ ‫צוּ‬ in Mi 2,13aα auch durch „mächtiges Volk“ ‫צוּם‬ ‫ גוֹי‬ein Bezug zur Vätertradition bzw. zur Vorgeschichte des Exodusgeschehens hergestellt wird (vgl. Gen 12,2; 18,18; Ex 1,9; in ähnlicher Weise wird die Vorstellung in Jes 60,22 aufgegriffen). Durch „mächtiges Volk“ ergibt sich zugleich ein Rückbezug zu Mi 4,3aβ, wo von „mächtigen Völkern“ die Rede ist, die JHWH zurechtweisen wird. Israel findet also wieder seinen Platz in der Völkerwelt, im Kreis mächtiger Völker.17 In diesem neuen Heilshandeln JHWHs erfüllen sich aufs Neue seine Verheißungen an die Väter. V. 7bα bildet die Fortsetzung und den Abschluss von JHWHs Zug an der Spitze seines Volkes in Mi 2,13b. Wird bereits dort ein Bezug zum einstigen Exodusgeschehen hergestellt, so findet es hier vergleichbar mit Ex 15,18 sein Ziel in der Königsherrschaft JHWHs auf dem Zion (vgl. Jes 24,23).18 Traditionsgeschichtlich hat die Rede vom Königtum JHWHs ihren Anhalt in den JHWH-Königspsalmen (z. B. Ps 96; 98), aber auch in der (exilischen) Verkündigung DeuteroJesajas (vgl. Jes 52,7). Dabei kontrastiert die Königsherrschaft JHWHs den früheren Anspruch der führenden Schicht in Jerusalem19 und setzt damit die bereits in Mi 4,1–3 und Mi 3,11 angetroffene Gegenüberstellung des ruchlosen Verhaltens der Oberschicht mit dem segensreichen Wirken JHWHs fort. Die liturgische Schlussformel in V. 7bβ hat dabei eine zweifache Funktion: zum einen macht sie deutlich, dass entgegen einem menschlichen Königtum, bei dem der Nachfolger den Vorgänger ersetzt, JHWHs Königsherrschaft dauerhaft sein wird,20 zum anderen unterstreicht sie die

13 WALTKE, Micah, 226. 14 KESSLER, Micha, 193. 15 Vgl. insbesondere die Parallelstellung zu „mächtigem Volk“; vgl. KESSLER, Micha, 193: „Nachdem JHWH aufgehört hat, ‚Unheil zu bringen‘, ist die Zugehörigkeit zum ‚Rest‘ nicht mehr nur Ausdruck davon, überlebt zu haben, sondern eine besondere Auszeichnung.“ 16 ZAPFF, Studien, 57. 17 MAYS, Micah, 101. 18 ZAPFF, Studien, 63; KESSLER, Micha, 195. 19 SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 150. 20 SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 151.

V. 7 Restvorstellung Exodusreminiszenz

144

V. 8: Die Rückkehr der Königsherrschaft nach Zion Jakobsreminiszenz

Mi 4,6–8

Verbindung zu Ex 15,18, wo die Ankündigung der dauerhaften Königsherrschaft JHWHs mit einer ähnlichen Formel unterstrichen wird. „Von nun an“ bezieht sich dabei auf die mit „jenem Tag“ in V. 6aα umschriebene Zeitebene. Für das künftige Heilshandeln JHWHs dient also auch hier das Paradigma von Vätererzählung und Exodus als Hintergrundfolie. Die Ortsbezeichnung Migdal Eder in V. 8a, die man mit „Herdenturm“ übersetzen kann, scheint aus Gen 35,21 zu stammen, wo als eine der Wegstationen des aus dem Zweistromland heimkehrenden Jakob ein „Migdal Eder“ genannt wird. Unter einem „Herdenturm“ versteht man dabei einen Turm, „von welchem aus die Hirten ihre Herden überwachen können und worin sich diese abends versammeln“.21 Beispiele solcher „Herdentürme“ sind noch heute bei Betlehem zu finden.22 Die durch die Parallelstellung bewirkte Identifikation des „Ofel der Tochter Zion“ mit dem „Herdenturm“ scheint V. 8a – ähnlich wie in Mi 4,2.6 – auch hier einen bewussten Bezug zur Jakobserzählung herzustellen.23 Da in Gen 35,19f. Jakob seine Frau Rahel „an der Straße nach Efrata, das jetzt Betlehem heißt“24 begrub und dann sein Zelt „jenseits von Migdal-Eder“25 aufschlug (Gen 35,21), lag es nun nahe, dieses hier mit Zion/Jerusalem zu identifizieren. Zion/Jerusalem ist damit eigentlicher Zielpunkt der zurückkehrenden Diaspora, die mit Jakob/Israel identifiziert wird. Dazu eignete sich nicht zuletzt auch die Bezeichnung „Herdenturm“, wird doch die zurückkehrende Diaspora in Vv. 6f. im Bild einer Herde gezeichnet, sodass sie in Zion einen sicheren Zufluchtsort findet.26 Für diese Deutung spricht der „Turm“ als ein Befestigungswerk27 eher, als die von vielen Kommentatoren, ausgehend von der Interpretation von G, vermutete Anspielung auf eine Verwüstung Zions (vgl. Jes 1,8).28 Zudem spricht für diese Bedeutung auch die Parallelstellung von „Turm“ und „Ofel“. Letzterer bezeichnet wohl den Nordteil des Südosthügels, auf dem das älteste Jerusalem lag und der die Verbindung zum Tempelplatz bildete, wo entsprechend Neh 3,26f. die Tempeldiener wohnten. Dabei scheint es sich beim Ofel um eine Art Befestigung, möglicherweise eine Akropolis,29 gehandelt zu haben (vgl. etwa auch die Mescha-Stele, wo für das moabitische Qericho ein ummauerter Ofel, wohl im Sinne einer Akropolis, genannt wird),30 wenn etwa 2 Chr 27,3 und 33,14 den Ofel mit Fortifikationsmaßnahmen in Verbindung bringen, sodass auch hier der Aspekt des Schutzes und der Geborgenheit 21 KEEL, Orte 2, 641. 22 KEEL, Orte 2, 641. 23 So auch UTZSCHNEIDER, Micha, 101: „Dass das Michabuch in den Rahmenauftritten unsrer Szene erst Migdal-Eder/Herdenturm (4,8) und dann Betlehem-Efrata (5,1) anspricht, ohne dabei diese Episode der Jakobserzählung mit vor Augen gehabt zu haben, ist schwer vorstellbar.“ 24 EÜ. 25 EÜ. 26 So auch die Interpretation der EÜ, die vom „schützenden Turm“ spricht; vgl. auch WALTKE, Micah, 234: „that Mount Zion, […], will become a tower guaranteeing its security and survival as it did in David’s epoch.“ 27 Vgl. die Deutung von ‫ַדּל‬ „Turm“ durch WALTKE, Micah, 230: „a locative mem with the root gdl ‚to be great, powerful,‘ […]“. 28 So z. B. UTZSCHNEIDER, Micha, 101; SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 151. 29 So UTZSCHNEIDER, Micha, 101. 30 GASS, Moabiter, 9, Z.22.

Synchrone Analyse

145

anklingt. Die Bezeichnung „Tochter Zion“ – bisweilen in Variation zu „Tochter Jerusalem“ (vgl. 2 Kön 19,21; Jes 37,22; Klgl 2,13; Zef 3,14; Sach 9,9) – ist eine besonders bei Jesaja und in den Klageliedern anzutreffende Personifikation der Stadt aus exilisch-nachexilischer Zeit. Sie verbindet V. 8 mit Vv. 10 und 13, wo die „Tochter Zion“ zum agierenden Subjekt wird. Die Kontexte, in denen sich diese Bezeichnung findet, lassen entweder eine Bedrohungs- und Gefährdungssituation (Jes 1,8; 52,2) oder aber – wie hier – eine oft mit Jubel (vgl. Zef 3,14; Sach 9,9) verbundene Erneuerung Zions erkennen.31 Bei der Verheißung des Kommens der „früheren Herrschaft“ geht es, wie die sonstige Verwendung des seltenen Begriffs „Herrschaft“ ‫ה‬ zeigt, entweder um die Herrschaft JHWHs32 (so Ps 103,22; 145,13) oder um eine von ihm verliehenen Herrschaft (vgl. Gen 1,16; Jes 22,21). Hintergrund ist wohl die einstige davidische Herrschaft, die Jerusalem zur Königshauptstadt machte. Hier scheint es nun vor allem um die Königsherrschaft der „Tochter Jerusalems“ zu gehen, die damit selber zur Königin wird.33 In dieser Hinsicht scheint auch G den Text verstanden zu haben, wenn sie von einem Übergang der Königsherrschaft „von Babylon“ auf die Tochter Jerusalem spricht. Im Hintergrund stehen dabei möglicherweise Jes 47,1 und 52,1, sodass auch hier G den Michatext vor dem Hintergrund der Jesajaprophetie gelesen und verstanden hat. In jedem Fall bildet die Erwähnung der Königsherrschaft in Mi 4,8 eine Brücke34 zwischen der Ankündigung der künftigen Königsherrschaft JHWHs in V. 7 und der königslosen Zeit in V. 9 sowie der Bedrängnisse Zions, in denen es sich dank der Hilfe JHWHs als siegreich erweist. Christliche Rezeption Rezeptionsgeschichtlich bemerkenswert ist, dass die Verbindung von „Herdenturm“ und „Betlehem“ in Gen 35,20f. bei gleichzeitiger Verheißung der Rückkehr der Königsherrschaft nach Zion in Mi 4,8 in der christlichen Tradition mit dem „Ort der Hirten“ bei Betlehem in Zusammenhang gebracht wird, „wo einerseits die Schar der Engel bei der Geburt des Herrn lobsang und andererseits Jakob sein Kleinvieh weidete und so dem Ort seinen Namen gab – oder (was der tieferen Wahrheit entspricht) es wurde durch einen prophetischen Spruch schon damals das zukünftige Geheimnis (ergänze: die Verkündigung an die Hirten) aufgezeigt“.35

31 Vgl. WALTKE, Micah, 235, unter Bezug auf E. R. Follis. 32 SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 151. 33 Gegen KESSLER, Micha, 200, der hier eine Wiederkehr irdischer Herrschaft sehen will, vgl. auch WOLFF, Micha, 86, der von der Wiederkehr der davidischen Herrschaft spricht; ähnlich auch meine Argumentation in ZAPFF, Studien, 78; richtig daran ist aus heutiger Sicht, dass dies eine Konkretisierung der Königsherrschaft JHWHs ist; UTZSCHNEIDER, Micha, 102, schreibt mit Recht: „Dabei ist v. a. die Formulierung ‚Königtum für die Tochter Jerusalem‘ auffällig, da die Wortverbindung ‚Königtum für‘ sonst auf Personen (vgl. 2. Chr 1,11; Esr. 1,2) oder Familien (vgl. 1. Kön. 12,26), nicht aber auf Städte und ihre Bewohner bezogen ist. Vielleicht solle hier die allzu enge Assoziation mit dem Namen David vermieden werden.“ 34 So mit Recht KESSLER, Micha, 200. 35 Hieronymus, Hebr Quaest ad Gen 35,21; CChr 72,43f., zit. nach KEEL, Orte 2, 642; vgl. auch die Interpretation des Targ. Jeruschalmi I zu Gen 35,21, der an Jakobs Zeltplatz die Verheißung anschließt: „von wo aus der Messiaskönig sich am Ende der Tage offenbaren wird,“ (zit. n. GINSBURGER Targum, 66).

146

Mi 4,6–8

Diachrone Analyse Vv. 6f., eingeleitet durch die Formel „an jenem Tag“, setzt sich von Mi 4,1–5 ab und steht durch die Restvorstellung, und die Gedanken der Rückführung der Diaspora sowie der Königsherrschaft JHWHs in engem Zusammenhang mit Mi 2,12f., das ebenfalls als Ergänzung zu betrachten ist (s. o.). Die Rede vom „mächtigen Volk“ in V. 7aβ, zu dem das „weit Entfernte“ wird, greift wohl bewusst ein Stichwort aus Mi 4,3aβ auf, sodass ein Gegenbild zum Handeln JHWHs an den „mächtigen Völkern bis in die Ferne“ entsteht. Auf V. 4, der sich mit einem Zitat aus 1 Kön 5,5 auf die Folgen des richtenden Handelns JHWHs für die Völkerwelt bezieht, nimmt wiederum V. 7b Bezug, wo es explizit um die Königsherrschaft JHWHs auf dem Zion geht. Auch V. 8 nimmt, obwohl durch die liturgische Abschlussformel in V. 7bβ getrennt, den Gedanken des Königtums auf und ist durch „und/aber du“ mit Mi 5,1 eng verbunden. Gleichzeitig ergibt sich durch den Bezug zur Jakobstradition (Gen 35,21) eine Berührung mit Mi 4,6 (Gen 32,32). Es scheint, als werde hier die Rückkehr Jakobs ins Verheißungsland im Hinblick auf die Diaspora nachvollzogen (vgl. Mi 2,12!). Aus diesen Beobachtungen, insbesondere der Beziehung zu Mi 2,12f. (und Mi 5,6f.) ergibt sich, dass es sich bei Mi 4,6f. um eine redaktionelle Fortschreibung im Rahmen einer übergreifenden Bearbeitung der Michaschrift handelt. Die Vorstellung eines Restes und dessen Restitution setzt die Existenz einer jüdischen Diaspora voraus, zusammen mit den deutlichen schriftgelehrten Bezügen legt sich eine Entstehung in spätpersischer oder frühhellenistischer Zeit nahe. Eine mögliche Datierung ist auch von der diachronen Analyse von Vv. 9–14 her vorzunehmen (siehe „Einleitung“ und unten „diachrone Analyse“). Die redaktionsgeschichtliche Zuordnung von V. 8 ist unsicher. Sie ist insbesondere vom redaktionskritischen Befund von Mi 5,1–3 her zu beurteilen (s. u.). Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 4

Mi 4,9–14: Die Not der Jetztzeit und die Zukunft 4,9 Und nun, warum schreist du ein Geschreia? Ist kein König bei dir oder ist dein Beraterb zugrunde gegangen, dass dich Wehen erfassen wie eine Gebärende? 10 Kreiße und bricha aus, Tochter Zion, wie eine Gebärende. Denn nun ziehst du hinaus aus der Stadt und wohnst auf dem Feld, und du kommst nach Babel, dort wirst du gerettetb. Dort wird dich JHWH erlösen aus der Hand deiner Feinde. 11 Und nun haben sich gegen dich viele Völker versammelt, die sagen: Entweiht soll sie seina und an Zion werden sich unsere Augen weidenb. 12 Doch sie kennen nicht die Gedankena JHWHs, und verstehen nicht seinen Ratschlussa, dass er sie versammelt hat wie Halme (auf ) der Dreschtenne. 13 Steh auf und dreschea, Tochter Zion, denn ich werde deine Hörner aus Eisen machen und deine Hufe aus Bronze, und du wirst viele Völker zermalmen; und ich werde für JHWH ihren Gewinn bannenb und ihr Vermögen für den Herrn der ganzen Erde. 14 Jetzt bringe dir Schnittwunden beia, „Bandentochter“b: Bedrängnis stellte man gegen uns auf, mit dem Stock schlugen sie auf die Wange, den Richter Israelsc.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 9a „Schreist du ein Geschrei“ übersetzt G mit „lernst du das Böse kennen“ ἔγνως κακά hat also ‫י‬‫י‬ von der Wurzel ‫„ ידע‬erkennen“ abgeleitet (Änderung von ‫ ר‬zu ‫ד‬, vermutl. ‫ ;תדעי‬S: „tust du“) und  II „Geschrei“ als ‫ ׇרע‬I „Böses“/ „Unheil“ gelesen (vgl. S). 9b „Dein Berater“ ‫ יוֹ‬versteht G sächlich oder als Institution als „dein Rat“ ἡ βουλή σου (‫)עצתך‬. 10a Unsicher ist die Übersetzung von ‫י‬. Gewöhnlich wird es – defektiv geschrieben – von der Wurzel ‫ גוח‬oder ‫ גיח‬abgeleitet, mit der Bedeutung „hervorbrechen“, wobei HAL

148

10b 11a

11b

12a 13a 13b 14a

1 2 3 4

5 6 7

Mi 4,9–14 an eine Verschreibung von ‫י‬ „brüllen“ denkt.1 Angesichts der Tatsache, dass auch der Kausativstamm belegt ist, ist eine transitive Bedeutung des Grundstammes i. S. von „press (das Kind) nach draußen“2 eher unwahrscheinlich. G übersetzt in V. 10aα mit „sei wie ein Mann (so auch S) und nahe dich“ ἀνδρίζου καὶ ἔγγιζε. Letztere Verbform könnte sich aus der Verlesung von ‫י‬ zu ‫„ וגעי‬berühren“ (Wurzel: ‫ )נגע‬erklären lassen.3 Anstelle der Passivform „wirst du gerettet“ übersetzt G in Entsprechung zu „erlöst dich“ auch hier aktivisch mit dem Subjekt JHWH: „rettet dich (der Herr, dein Gott)“ ῥύσεταί σε. „Entweiht soll sie sein“ ‫ף‬‫ ֶתּ‬wird meistens auf Zion bezogen (vgl. S). Alternativ schlägt Wagenaar vor, beide Verben gleichzuordnen und vom selben Subjekt, nämlich „unsere Augen“ abhängig sein zu lassen: „Ruchlos ist (sind) unser(e) Auge(n) und (sie) weide(n) sich an Zion“.4 G hingegen übersetzt mit „wir wollen jubeln“ ἐπιχαρούμεθα und vermeidet damit den schroffen Subjektwechsel zwischen „Zion“ und den „Augen“ der Völker. Diese Änderung beruht aber wohl nicht auf einer anderen Textvorlage,5 sondern dient dazu, den Kontrast zwischen der gegenwärtigen Situation und der Zukunft und damit zwischen Zion und den Völkern zu verstärken: Dem leidenden Zion stehen die jubelnden Völker gegenüber, in deren Hand sich entsprechend V. 10 Zion befindet. Doch schließlich wird Zion zur Triumphierenden (vgl. V. 13) und die Völker werden die Opfer Zions. Die singularische Verbform „und es soll sich weiden“ ‫ז‬ schließlich lässt eigentlich ein singularisches Subjekt erwarten. Möglicherweise werden jedoch „unsere Augen“ als kollektiver Singular verstanden6 (vgl. S: „Unser Auge…“; G: ἐπόψονται ἐπὶ Σιων οἱ ὀφθαλμοὶ ἡμῶν: „Unsere Augen werden auf Zion schauen“). G übersetzt die beiden Objekte in V. 12aβ und bα jeweils als Singularformen („Gedanke“ τὸν λογισμὸν / „Ratschluss“ τὴν βουλὴν) und gleicht sie damit einander an (vgl. S). G fügt in V. 13aα ein Objekt „(drisch) sie“ αὐτούς ein (vgl. S). Anstelle der 1. Pers. sing. „und ich werde bannen“ ‫י‬ liest G in Fortsetzung zur Anrede an Zion „du wirst weihen“ ἀναθήσεις (vgl. V, S: „ihr werdet weihen“). G fasst den Imperativ fem. sing. ‫י‬ „bringe dir Schnittwunden bei“ als ein im passivischen Sinn zu verstehendes hitp. einer Wurzel ‫„ גדר‬einmauern“ auf, liest ‫דוּד‬‫ת־‬ offensichtlich als ‫ ׇגֵּדר‬ ἐν φραγμῷ „in einem Wall“ – und zeigt damit Kenntnis vom Wortspiel in MT – nimmt nochmals ‫ת‬ als θυγάτηρ auf und ergänzt (so Codex Alexandrinus) – möglicherweise unter Einfluss von Mi 5,1 – ein Εφραιμ. So kommt sie zu einer Übersetzung, bei der der Vordersatz inhaltlich dem Nachsatz entspricht: „jetzt wird eingemauert die Tochter Efraim in einem Wall“ νῦν ἐμφραχθήσεται θυγάτηρ Εφραιμ ἐν φραγμῷ. Durch „Tochter Efraim“7 wird dabei die Belagerung als ein Kriegsgeschehen gegen das Nordreich gedeutet. Damit wiederum wird das machtvolle Handeln der im Vordersatz genannten Tochter Zion mit dem Untergang des Nordreiches und seiner Hauptstadt Samaria kontrastiert.

HAL I, 181. So WAGENAAR, Oordeel, 61f. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2373. KESSLER, Micha, 209, und UTZSCHNEIDER, Micha, 105: „Schamlos sollen unsere Augen auf Zion schauen“; das Faktum, dass Zion erst vom Ende des Halbsatzes als Subjekt erkennbar wird, mag mit der formalen Ähnlichkeit mit V. 10 zusammenhängen. Auch dort wird die „Tochter Zion“, wie bereits WOLFF, Micha, 112, beobachtet hat, erst mit dem imperativischen Übergang zum zweiten Teil des Spruches genannt. So vermutet WALTKE, Micah, 251, eine mögliche Lesart mśmḥ. So auch WALTKE, Micah, 252. Vgl. Duodecim prophetae, edit. ZIEGLER.

Synchrone Analyse

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14b Aufgrund des Anklangs an die Wurzel ‫„ גדד‬ritzen“ möchte BHS die seltsame Wortverbindung ‫דוּד‬‫ת־‬ „Bandentochter“ (vgl. S) als einen Infinitiv ‫גּוֵֹדד‬ ‫ת‬ „Tochter des Sicheinritzens“, Michel8 hingegen als ‫„ בת גדדת‬Tochter der Ritzungen“ lesen. Von dem Wortspiel hitgodedi und bat gedūd auf dieselbe Semantik von ‫י‬ und ‫דוּד‬ zu schließen,9 ist, wiewohl dies auch G tut, angesichts der im selben Vers (V. 14b) vorliegenden Assonanz zweier weiterer Lexeme unterschiedlicher Semantik – bašēvæt „mit dem Stock“ und šophēt „Richter“ – nicht zwingend. 14c In V. 14bβ liest G „Richter Israels“ ‫ל‬ ‫ט‬ als „die Stämme Israels“ τὰς φυλὰς τοῦ Ισραηλ (hebr. ‫ל‬‫י ׅישׂ‬‫)ׅשׁ‬. Damit bleibt durchgängig das Thema der Belagerung leitend, dessen Objekt ein Kollektivum ist.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Gegenüber Vv. 1–8 setzt sich Vv. 9–14 durch die Zeitebene ab. Sprechen die Vv. 1–8 in verschiedener Weise von der heilvollen Zukunft Zions und des Restes Jakobs, so nehmen die Vv. 9–14 die notvolle Gegenwart in den Blick. In ähnlicher Weise findet sich ein Gegensatz zwischen V. 14 und Mi 5,1. Spricht V. 14 von der Demütigung des Richters Israels, so stellt Mi 5,1 diesem das Hervorgehen eines Herrschers aus Betlehem gegenüber, der nicht nur Israel beherrschen wird, sondern zugleich „groß“ sein wird bis an die Enden der Erde (Mi 5,3). Überdies sind die Vv. 9–14 durch verschiedene Stichworte und Motive kontrastiv mit dem näheren und weiteren Kontext verknüpft. So greift V. 9b das Königsmotiv aus V. 7b.8 auf (Fehlen des Königs / Anwesenheit eines Königs bzw. der Königsherrschaft), die vielen Völker, die sich gegen Zion versammeln (V. 11a) bilden einen Gegensatz zur künftigen friedlichen Völkerwallfahrt zum Zion (vgl. Mi 4,2a) und die in V. 11b geäußerte Absicht der Völker, sich an Zion zu weiden, findet eine Entsprechung in der Erwartung Zions in Mi 7,10c, dass sein Auge sich an seiner gedemütigten Feindin weiden wird. Auch durch den Vergleich Zions mit einer Gebärenden in V. 9c.10a scheint ein Bezugszusammenhang beabsichtigt, steht ihm doch jene Gebärende in Mi 5,2a gegenüber, durch deren Geburt sich eine neue Zeit des Heiles ankündigt.

Textinterne Aussagegestalt Vv. 9–14 lässt sich in drei Abschnitte Vv. 9–10, Vv. 11–13 und V. 14 unterteilen, die durch die Zeitangabe „jetzt“ bzw. „und jetzt“ miteinander verknüpft sind. Damit wird auf die gegenwärtige Situation Bezug genommen, die gegenüber den Ankündigungen in Vv. 1–8 von der (vermeintlichen) Abwesenheit eines Königs, von Exilie8

9

MICHEL, Streifschar, 196–198; die von VARGON, Gedud, 557–564, vertretene Ansicht, es handle sich bei gedūd um einen Ortsnamen, ist eher unwahrscheinlich, da nicht klar zu ersehen ist, warum im vorliegenden Zusammenhang ausgerechnet dieser Ort zur Trauer aufgerufen wird. KESSLER, Micha, 222.

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Mi 4,9–14

rung, dem Spott und der Bedrohung seitens der Völker, sowie Belagerung und Erniedrigung des „Richters Israels“ geprägt ist. Dass diese Gegenwart nicht ultima ratio, sondern lediglich eine Durchgangsstation zum endgültigen Heil ist (Vv. 1–8), das von JHWH kommt und dabei alle Ereignisse – auch die notvolle Bedrängnis – nach dem wunderbaren Plan JHWHs verlaufen, machen insbesondere die Vv. 12f. deutlich. Mi 4 endet in V. 14 mit einer tiefen Erniedrigung Zions, die in der Demütigung seines Richters ihren sprichwörtlich handgreiflichen Ausdruck findet.

Einzelauslegung Vv. 9–14: Die Durch „nun“ wird in V. 9a zeitlich die durch „an jenem Tag“ in V. 6 charakterisierte bedrängende künftige Zeit verlassen und der Blick auf die notvolle Gegenwart gelenkt. Die AnreGegenwart de in 2. Pers. fem. sing. setzt ein weibliches Gegenüber voraus, das von V. 8 her

mit der Tochter Zion/Jerusalem zu identifizieren ist. Die fig. etym. „schreist du ein Geschrei“ ( ‫י‬‫י‬) im Sinne von „schreist du laut“ scheint durch die ähnliche Wurzel einen Bezug zu V. 6b herstellen zu wollen, wo von dem „Bösen“ gesprochen wird, das JHWH zugefügt hat (‫י‬‫)ֲה‬. Diesen Zusammenhang verstärkt G, wenn sie hier mit „lernst du das Böse kennen“ übersetzt, und damit den Eintritt des Gerichtes JHWHs an Zion konstatiert. Den Grund für das Geschrei sucht V. 9b in der Abwesenheit des Königs und des Beraters. Durch das Stichwort „König“ wird dabei auf die Vv. 7b und 8 Bezug genommen, wo die künftige Königsherrschaft JHWHs und die Rückkehr des Königtums nach Zion verheißen wird. In der hier beschriebenen Gegenwart jedoch scheint sich die Situation anders darzustellen. König und Berater sind im Alten Testament häufig Hoffnungsträger für die Bewältigung gefahrvoller Situationen (vgl. 1 Sam 8,19 und Spr 11,14; 15,22 und 24,6). Beides kann sich dabei sowohl auf eine menschliche Gestalt wie auch auf JHWH selbst beziehen, dessen Abwesenheit die Tochter Zion beklagt. Dabei wird nicht recht deutlich, wie die Frage zu verstehen ist. So könnte man sie als grundsätzliche Infragestellung der Berechtigung der Klage Zions verstehen, i.S. von „ist (etwa) kein König bei dir…?“ Sollte sich die Frage auf eine menschliche Gestalt beziehen, dann klingt hier die Nutzlosigkeit des Königs an, auf den man fatalerweise seine Hoffnung setzt.10 Darauf jedoch, dass es sich bei dem vermeintlich fehlenden König um JHWH handelt,11 könnte nicht zuletzt die Stichwortverbindung mit V. 7b (beide Male ) verweisen, wo von JHWHs Königsherrschaft die Rede ist (vgl. auch Mi 2,13). Dann wäre die Aussage: JHWH ist doch, wenn auch verborgen, als König und Berater bei dir, es besteht also zu einer solchen Reaktion kein Grund. Zugleich würde hier die rhetorische Frage der Oberschicht in Mi 3,11c aufgenommen und im Gegensatz zu dort in der neuen gefahrvollen Situation als Faktum vermerkt12 (vgl. auch Jer 8,19). Dass JHWH selbst auch als Berater fungieren kann, machen etwa Jes 5,19; 19,17; 28,29 und Jer 10 So etwa die Interpretation von JEREMIAS, Micha, 180, der den Text vor dem Hintergrund von Hos 13,10 und 10,3 zu verstehen sucht; MAYS, Micah, 105. 11 So bereits WOLFF, Micha, 111. CORZILIUS, Rätsel, 369f., möchte V. 9 als Verbindungsvers zwischen der Ankündigung der Königsherrschaft JHWHs in Mi 2,13 und der neuen davidischen Herrschaft in Mi 5,1 sehen. 12 WOLFF, Micha, 111.

Synchrone Analyse

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32,19 deutlich.13 Das laute Geschrei Zions verbindet sich in V. 9c mit dem Bild einer Gebärenden, die von Wehen erfasst wird, was dieses Geschrei als notvolles und nicht, wie Jeremias meint, als Triumphgeschrei14 – wenn auch in ironischer Form15 – charakterisiert. Als sprichwortartige Metapher dient dieser Vergleich häufig zum Ausdruck einer gefahrvollen, ja lebensgefährlichen Situation (vgl. Ps 48,7; Jes 13,8; Jer 6,24; 49,24 [im Hinblick auf Damaskus]; 50,43), konnte doch die Geburt eines Kindes durchaus das eigene Leben kosten (vgl. Gen 35,17f.). Durch das Stichwort „wie eine Gebärende“ (‫ה‬‫יּוֹ‬) stellt V. 9c zugleich eine Verbindung zum folgenden V. 10 her, wo die gefahrvolle Situation, in der Zion steht, gegenüber V. 9 konkretisiert wird, sowie zu Mi 5,2, wo die Gebärende für einen Neuanfang steht. Durch den Vergleich mit einer kreißenden Gebärenden ist V. 10 mit V. 9 ver- V. 10 knüpft. Ist in V. 9 Zion mehr oder weniger passives Objekt des Kreißens („Wehen erfassen dich“), so wird es hier als Subjekt zum Kreißen aufgefordert (ähnlich in Jer 6,24b), was auf einen Geburtsvorgang verweist. Zion wird damit offensichtlich aufgefordert, sich auf die notvolle Situation einzulassen,16 also zum Subjekt und nicht lediglich zum Objekt der Geschehnisse zu werden. Ähnliches zeigen auch die Folgesätze, wo Zion jeweils ebenfalls Subjekt der Handlung ist.17 Vergleichbar dem „Kreißen“ zielen sie, trotz ihres zunächst bedrohlichen Inhalts, auf ein positives Ende:18 „Der Höhepunkt des Schmerzes ist der keimhafte Beginn neuen Heils.“19 Beschrieben wird eine Exilierung, bei der merkwürdigerweise Zion selbst die Stadt verlässt,20 um nach Babel zu gehen. Dabei hat sich der Begriff „Zion“ offenbar gelöst von einer konkreten Örtlichkeit und bezeichnet nun die personalisierte Größe einer Gemeinde. Das Verlassen der Stadt und das Wohnen auf dem Feld (in Anklang und gleichzeitigem Gegensatz zu Jer 6,25a) bezeichnen dabei nicht nur die Entvölkerung Jerusalems, sondern wohl auch die in Mi 3,12 angekündigte Rückkehr Zions in den Bereich der lebensfeindlichen Gegenwelt21 (vgl. das Stichwort „Feld“).22 Für diese steht als Höhepunkt Babel, das bereits in Deuterojesaja den Gegenbegriff zu Zion bildet (vgl. Jes 47,1/52,1f.). Die mit der Wurzel ‫ נצל‬in V. 10cβ angekündigte Errettung verweist auf die Exodustradition (vgl. Ex 3,8; 5,23; 18,10a). Die damit verbundene Vorstellung beinhaltet ein Herausreißen aus einer bedrängenden Situation. Die zweite hier verwendete Wurzel ‫„ גאל‬erlösen“ stammt aus dem familienrechtlichen Bereich, wonach ein Verwandter seinen in Schuldknechtschaft gefallenen Angehörigen auszulösen hatte (vgl. Lev 25,47–49). Mit 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

WOLFF, Micha, 111. Dagegen etwa Ri 7,21. JEREMIAS, Micha, 180. MAYS, Micah, 105, deutet dies: „to recognize her torment as judgment“. Psychologisch betrachtet ist dies der erste Schritt zur Überwindung der bedrängenden Situation. Dass Zion „gezwungen wird“, vgl. RUDOLPH, Micha, 86, die Stadt zu verlassen, ist zwar anzunehmen, wird aber nirgends ausdrücklich gesagt. Vgl. MAYS, Micah, 106. UTZSCHNEIDER, Micha, 104. Meistens wird dies dagegen auf die Bevölkerung bezogen, die Jerusalem verlassen muss, vgl. UTZSCHNEIDER, Micha, 104. MAYS, Micah, 105f.: „To have to dwell in open country symbolizes and enacts the dissolution of her relation to all which Zion represents.“ WALTKE, Micah, 243.

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Mi 4,9–14

dem Subjekt JHWH findet sie sich besonders häufig in Deutero-Jesaja, wo sie beinahe so etwas wie zu einem Titel JHWHs wird (vgl. Jes 43,1; 44,22f.; 48,20), der die Exilierten befreit. JHWH rückt damit in die Rolle eines engen Angehörigen Zions, der durch seinen solidarischen Einsatz diesem einen Neuanfang gewährt. Die Konkretisierung des Erlösungsvorgangs mit „aus der Hand deiner Feinde“ findet sich in ähnlicher Form in Jer 31,11. Hier bezeichnet sie die ausweglose und lebensgefährliche Situation, in die Zion geraten ist, steht doch „Hand“ als Metapher für Gewalt- und Machtausübung. Die starke Metaphorik und sprachliche Verwurzelung von V. 10 in einer Begrifflichkeit, die in Deutero-Jesaja und den Exoduserzählungen beheimatet ist,23 sowie die offensichtliche Bezugnahme auf jeremianische Texte24 sprechen dafür, dass hier als Hintergrund nicht mehr die exilische Zeit in Frage kommt. Vielmehr scheint es sich hier um die Beschreibung einer Bedrängnis zu handeln, bei der Zion in die Hände fremder Herrscher gefallen ist und seine endgültige Befreiung ersehnt. Eine abweichende Interpretation in G Gegenüber MT scheint G die Metaphorik der Gebärenden und ihr lautes Schreien abmildern zu wollen, wenn sie anstelle des Letzteren den im Alten Testament vor entscheidenden Situationen (z. B. Landnahme, Schlachten; vgl. Dtn 31,6.7.23; Jos 1,6.7.9.18) anzutreffende Aufruf „sei wie ein Mann!“ ἀνδρίζου aufgreift. „Sich nähern“ ist dann wohl im Sinne: „tritt herzu“ zu verstehen. Zion soll sich tapfer der im Folgenden beschriebenen Situation stellen.25 Die bereits im hebräischen Text zum Ausdruck kommende Aktivität Zions hinsichtlich seines Schicksals wird hier also noch verstärkt. Dabei darf Zion auf JHWHs Hilfe vertrauen. Auch hier verstärkt G die Aussage des hebräischen Textes, insofern durch die aktivische Form, die G bereits V. 10cβ setzt, klargestellt ist, dass JHWH eigentliches und ausschließliches Subjekt des Rettungsgeschehens ist. V. 11 Die Zeitangabe „und nun“ stellt V. 11 auf dieselbe Zeitebene26 wie V. 9 (10) und Völkersturm V. 14 und schildert damit eine Notzeit, die als gegenwärtig erfahren wird sowie

„inhaltlich einen Rückschritt hinter die Situationen der Zionsweissagung von Mi 4,1–5“27 markiert. Die Versammlung der Völker steht häufig im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines Angriffs (vgl. Jes 13,4; Joël 4,11), was durch die Präposition „gegen“ ‫ על‬unterstrichen wird.28 Im Hintergrund scheint hier die Vorstellung des sogenannten Völkersturms gegen den Zion zu stehen, in dem sich die Bedrohung des Gottesberges als Inbegriff des Kosmos durch die chaotischen Mächte in den geschichtlichen Bereich abbildet (vgl. Ps 46,7; 48,4–7; 76,3–7; vgl. auch Sach 12,3; 14,1–3). Dank des Eingreifens JHWHs bleibt dieser Aufruhr der widergöttliche Mächte symbolisierenden Völker jedoch erfolglos. Ein möglicher historischer An-

23 Umgekehrt KESSLER, Micha, 207; er meint, dass der Gebrauch in Mi 4,10 als „Vorstufe des deuterojesajanischen Gebrauchs“ anzusehen ist. 24 Detailliert bei RENAUD, Michée, 205–207.215f. 25 Vgl. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2373: „Um den Weg ins Exil anzutreten, bedarf es der Stärke und der Entschlossenheit im Schmerz.“ 26 So bereits WOLFF, Micha, 112. 27 UTZSCHNEIDER, Micha, 106. 28 Gegen KESSLER, Micha, 210, der hier keinen Angriff der Völker sehen will; er meint. „die Völker kommen ‚nur‘, um sich daran [scil. dem Elend Zions, Anm. v. mir] zu ergötzen.“

Synchrone Analyse

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haltspunkt dieser Vorstellung mag die erfolglose Belagerung Jerusalems durch den assyrischen Großkönig Sanherib 701 v. Chr. gewesen sein, die der Stadt trotz der späteren Zerstörung durch die Babylonier das Odium der Unverletzbarkeit als Gottesberg verlieh. Durch das Stichwort „viele Völker“ wird dabei ein Gegenbild zu V. 2 entworfen,29 wo eine friedliche Wallfahrt „vieler Völker“ zum Zion „am Ende der Tage“ erwartet wird. D. h. die Gegenwart ist von einer akuten Bedrohung des Zions durch die Völker geprägt. Damit aber weist Mi 4 zwei unterschiedliche Zeitebenen auf: eine gegenwärtige, die von Bedrängnis geprägt ist, und eine in ferner Zukunft, wo Zion Mittelpunkt einer friedlichen Hinwendung der Welt sein wird. Das Zitat in V. 11b, wiederum in Entsprechung zu V. 2b,30 unterstreicht die feindliche Gesinnung der Völker. ‫ף‬‫„ ֶתּ‬es soll entweiht sein“ deutet auf ein Handeln, bei dem ein „Zustand sakraler Verbundenheit mit der Gottheit willentlich beseitigt wird“.31 Das bedeutet, es geht hier darum, Zion den Charakter einer Gottesstadt zu nehmen, von der aus JHWH seine Herrschaft ausübt,32 wiederum in Gegensatz zu V. 2b, wo die Völker den besonderen Charakter Zions als Wohnort Gottes anerkennen.33 „Entweihen“ beinhaltet dabei das Vergießen unschuldigen Blutes und das Opfern fremden Göttern (vgl. Ps 106,38). Damit aber wollen nun die Völker das vollenden, was bereits die korrupte Oberschicht in Mi 3,9–12 durch ihr Handeln anfänglich bewirkt hat, wo durch Blutvergießen und Unrecht das „Haus des Berges“ zu einem JHWH-fernen Ort geworden ist. Das Zitat der Völker in V. 11bβ meint vom Kontext her ein Schauen der Zerstörung und Entweihung Zions mit Befriedigung (vgl. Klgl 2,16). Hintergrund ist das im Orient stark entwickelte Scham- und Ehrgefühl, das nun auch auf Zion übertragen wird, welches einer entehrten Frau gleicht. Die Formulierung wird in ähnlicher Form in Mi 7,10c aufgenommen, wo es nun Zion ist, welches ebenfalls in direkter Rede davon spricht, dass sich sein Auge an seiner Feindin weidet. Demnach geschieht auch hier eine Umkehrung der Verhältnisse zwischen Zion und seinen Feinden, wie sie sich bereits in Vv. 11–13 andeutet. Hintergrund des Sich-Weidens am Schicksal Zions scheint dabei Obd 12f. zu sein, wo Edom dazu aufgefordert wird, sich nicht an der Not Jakobs zu weiden. Das Motiv wird nun im Kontext der Völkerthematik in Mi 4/5 universalisiert. Die Verbindung von „Gedanken“ (pl.) und „Plan“ (sing.) JHWHs in V. 12aβ.bα V. 12 findet sich als Paar nur noch in Ps 33,11 (dort in umgekehrter Reihenfolge). Dabei JHWHs Plan ist „Plan“ offensichtlich die umfassendere Größe, die die verschiedenen vorausgehenden Überlegungen zielgerichtet zusammenfasst.34 Der Anthropomorphismus lässt damit JHWH als einen klugen Herrscher erscheinen,35 der in der Lage ist, Geschichte zu lenken und zu bestimmen. Das dahinterstehende theologische Kon29 30 31 32 33

CORZILIUS, Rätsel, 364. CORZILIUS, Rätsel, 364. SEYBOLD, Art. ‫ף‬‫ ׇח‬ḥānep: ThWAT III, 42. MAYS, Micah, 109. Vgl. UTZSCHNEIDER, Micha, 107, der die Absicht der Völker sinngemäß zusammenfasst: „Wir wollen die Niederlage des Gottes am Ort seiner Wohnung und Verehrung besichtigen!“ 34 KESSLER, Micha, 212: „Die Vielzahl der Handlungen JHWHs ist keine Abfolge von Zufälligkeiten, sondern sie folgt einem ‚Plan‘“. 35 MAYS, Micah, 110.

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Mi 4,9–14

zept findet sich sowohl terminologisch wie auch inhaltlich im Jesajabuch.36 So ist dort verschiedentlich vom Plan JHWHs die Rede, der sich gegen Israel, aber auch gegen die ganze Erde richtet (vgl. Jes 5,19; 14,26; 19,17; 28,29). Im Unterschied zu den Plänen der Völker (vgl. Ps 33,10f.) eignet ihm dabei unbedingte Durchsetzungskraft, sodass er nicht durch menschliches Tun vereitelt werden kann.37 Dies wird besonders im Gegenüber der im Zitat der Völker in V. 11b offenkundig werdenden Absicht auf der einen und dem Plan JHWHs auf der anderen Seite deutlich, der sich als eigentlicher Herr der Geschichte erweist. Dass Menschen, und damit auch die Völker, keinen Einblick in Gottes Gedanken haben, weil diese jegliche menschliche Fassungskraft übersteigen, beschreibt nachdrücklich die Metaphorik in Jes 55,8f. (vgl. auch Jes 40,14). Wenn von den Völkern in zweifacher Verneinung ein „nicht kennen“ und „nicht verstehen“ ausgesagt wird, so ist darunter nicht nur ein fehlendes intellektuelles Erkennen zu verstehen, sondern auch eine fehlende Beziehung zu diesem Gott und seinem Handeln, die für die Völker eine andere Haltung nahelegen würde, wie sie etwa in Mi 4,1–3 zum Ausdruck kommt. Das einem üblichen Vorgang im Rahmen der Ernte entnommene Bild dient dabei als Gerichtsbild. So werden nach der Ernte die vollen Garben auf die Tenne, d. h. einen dem Wind ausgesetzten Platz gelegt, dort gedroschen und anschließend geworfelt. Dabei werden die leichten Bestandteile der Spreu durch den Wind davongetragen und die festeren Bestandteile in Gestalt der Körner fallen zur Erde. Möglicherweise soll durch dieses Bild eine Assoziation zu Jerusalem und insbesondere dem Tempelberg hergestellt werden, wird doch dieser Ort in 2 Sam 24,24 als „Tenne“ ‫ן‬ des Arauna bezeichnet. Die mit dem Bild verbundene Aussage bezieht sich aufgrund des Kontextes wohl vor allem auf die Machtlosigkeit der Völker, die Gottes Handeln ausgeliefert sind. Durch die beiden hinsichtlich ihres semantischen Gehalts synonymen Verbformen „sie haben sich versammelt“ ‫פוּ‬ (V. 11aα) und „er hat sie versammelt“ ‫ם‬ (V. 12bβ) wird menschliches Handeln in Korrespondenz zum göttlichen Wirken gesetzt.38 Das scheinbar selbstbestimmte „Sammeln“ der Völker gegen Zion ist letztlich durch JHWH bewirkt, der das eigentliche Agens des Sammelns ist. Menschliches Handeln kann demnach entsprechend der göttlichen Intention nutzbar gemacht werden, ohne dass Menschen selbst das göttliche Handeln erkennen. Ist Zion in V. 11b den höhnischen und verächtlichen Blicken der Völker ausgeliefert, so sind nun die Völker selbst hilflos wie Garben auf der Tenne (vgl. Sach 12,6, wo es in einem anderen Bild um eine ähnliche Aussage geht). Die Aufforderung in V. 13aα an Zion zum „Aufstehen“ kündigt die Wende der V. 13 Not an (vgl. dazu Jes 51,17; 52,2; 60,1). Zion verlässt damit die Passivität, in der es zum Opfer fremder Mächte geworden ist. Wenn Zion im Bild eines dreschenden Rindes, oder wohl besser Kuh (vgl. den Imp. fem. sing.), gezeichnet wird, so knüpft dies an die Metapher der Tenne in V. 12b an. „Dreschen“ ‫דושׁ‬, was auch „niedertreten“ bedeuten kann, wird häufig als Vernichtungsmetapher gegenüber Feinden verwendet (vgl. Hab 3,12; Jes 41,15). Dies kann Zion jedoch nur, weil es von JHWH dementsprechend ausgerüstet wird und dieser die bereits von Natur aus potentiell 36 RENAUD, Michée, 212. 37 WALTKE, Micah, 253, verweist mit Recht auf Mi 2,1.3, wo sich ein ähnlicher Gegensatz zwischen dem Planen der Oberschicht und dem Planen JHWHs findet. 38 Vgl. UTZSCHNEIDER, Micha, 107.

Synchrone Analyse

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gefährlichen Teile eines Rindes in Materialien verwandelt, die für Kriegswaffen verwendet werden (Eisen, Bronze). Zion wird sozusagen von Kopf bis Fuß zum Kampf gerüstet. Dabei verlässt V. 13bα das Bild des Dreschens, denn dazu sind eiserne Hörner nicht nötig. V. 13bβ greift das Stichwort „viele Nationen“ (diesmal ‫ים‬ ‫ים‬) aus V. 11aβ wieder auf. Das „Dreschen“ der Tochter Zion führt zum Zermalmen der Völker (vgl. 2 Sam 22,43), etwas, das entsprechend Jes 28,28 über den normalen Dreschvorgang hinausgeht, wo zwar die Spreu verweht wird, jedoch die Körner übrigbleiben. Es geht hier also um die vollkommene Vernichtung der feindlichen Völker und damit eine radikale Verkehrung der Ausgangssituation in V. 11a. In V. 13c wechselt MT in die direkte Rede. An eine gewonnene Schlacht schloss sich zur damaligen Zeit die Plünderung an, ein Akt, der sich mit höchster Freude verband (vgl. Jes 9,2). Hier allerdings handelt es sich um einen Heiligen Krieg, der durch das Eingreifen JHWHs gewonnen wurde. Demnach steht der erbeutete Besitz JHWH zu, dem er „gebannt“ wird. Gemeint ist damit die Vernichtung des Beutegutes (vgl. Jos 7). Eine ähnliche Praxis ist aus dem Umfeld Israels bekannt, wo sich der moabitische König Mescha auf einer aus dem 9. Jh. v. Chr. stammenden Siegessäule rühmt, die Bewohnerschaft von Nebo getötet zu haben, weil er die Stadt dem Gott der Moabiter, Kemosch, geweiht habe.39 Indem Zion entsprechend MT direkt zitiert wird, tut es ausdrücklich seine Absicht kund, im Unterschied zu dem Vergehen Achans in Jos 7,1 JHWH das zu geben, was ihm zusteht. Dass V. 13 vor dem Hintergrund der Theorie des Heiligen Krieges formuliert ist, macht auch die Bezeichnung JHWHs als „Herr der ganzen Erde“ deutlich, die in Jos 3,11.13 im Symbol der Lade mit dem Israel siegreich voranziehenden JHWH verbunden ist. Indem Zion über die Völker siegreich ist, bestätigt sich diese Bezeichnung. Bei „ihren Gewinn“ ‫ם‬ klingt möglicherweise ein pejorativer Akzent an, im Sinne von: „ungerechter Gewinn“. Demgegenüber bezeichnet ‫ם‬‫י‬ neutral die Macht, Kraft oder auch das Vermögen (vgl. Zef 1,13) der Völker. V. 14 knüpft durch ‫„ עתה‬jetzt“ an die Zeitstufe von Vv. 9.(10)11(-13) an. Aller V. 14 Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich dabei um eine spätere Ergänzung, die den Vers mit den beiden vorausgehenden Versen verbinden will und somit von einer weiteren aktuellen Bedrohung Zions spricht. Insbesondere scheint dabei V. 14aβ – entsprechend dem Kontext – als Belagerung seitens der in V. 11 genannten fremden Völker verstanden worden zu sein (vgl. auch die pluralische Verbform „sie schlugen“ ‫כּוּ‬ in V. 14bα).40 Zudem entspricht nun die Aufforderung zur Selbstverwundung in V. 14aα dem klagenden Geschrei der Tochter Zion in V. 9. Tatsächlich ist eine Selbstverwundung häufig Ausdruck der Trauer41 (vgl. Dtn 14,1; Jer 16,6; 41,5, wo eine Selbstverwundung im Zusammenhang mit dem Scheren einer Stirnglatze als kanaanäischer Brauch angesichts des Todes eines Menschen genannt wird). Die mit der Selbstverwundung verbundene Intention ist es, als Zeichen der Selbstminderung – Blut ist Inbegriff des Lebens – die Gottheit gnädig zu stimmen, um ihre wohlwollende Zuwendung zu erreichen (vgl. Hos 7,14). Was jedoch die heutige, durch den Kontext nahegelegte Interpretation von V. 14 auf der literarischen Ebene von Vv. 11–13 problematisch macht, ist, dass der Trauerritus nach 39 Vgl. GASS, Moabiter, 9. 40 Vgl. WÖHRLE, Sammlungen, 161: „Doch ohne 4,11–13 fehlt, was bislang noch nicht gesehen wurde, der Anschluß für das pluralische Verb ‫ יכו‬in 4,14.“ 41 KESSLER, Micha, 221.

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Mi 4,9–14

der Ankündigung des siegreichen Handelns Zions in V. 13 eigentlich zu spät kommt. Dies gilt auch dann, wenn V. 14 ursprünglich direkt auf Vv. 9f. gefolgt sein sollte.42 Auch unter dieser Annahme steht die Belagerung Zions nach der in V. 10 erwähnten Exilierung Zions im chronologischen Duktus an der falschen Stelle, selbst wenn sie sich durch „jetzt“ auf derselben zeitlichen Ebene befindet. Dabei ist allerdings gleichzeitig zu bedenken, dass die Position von V. 14 auch mit Mi 5,1 in Zusammenhang zu sehen ist, um eine klare Kontrastierung zur Erweckung des Herrschers aus Betlehem zu bilden. Zu einem möglichen Lösungsvorschlag siehe unten: „Diachrone Analyse“. Eine abweichende Interpretation in G Diese Inkongruenz zwischen Vv. 9–13 und V. 14 wiederum mag für die Übersetzung von G entsprechend der Version des Codex Alexandrinus leitend gewesen sein. Diese hat nicht die Tochter Zion, sondern die Tochter Efraim als bedrohtes Subjekt im Blick, sodass sich ein Gegensatz zwischen dem über seine Feinde triumphierenden Zion und dem dem Untergang geweihten Efraim ergibt.

Diachrone Analyse

Ein Versuch zur Darstellung der Interpretationsgeschichte von V. 14 Micha ben Jimla

Die zeitlichen Angaben in Vv. 9.(10.)11.14 „jetzt“ bzw. „jetzt aber“ scheinen, vielleicht ausgehend von Vv. 9f., nachträglich die drei Abschnitte Vv. 9f.; 11–13 und 14 miteinander zu verknüpfen. Unter ihnen dürfte V. 14 der älteste Bestandteil sein, jedoch mit einem möglicherweise ursprünglich anderen Verständnis, als es sich aus der heutigen kontextuellen Einbindung des Verses in der Abfolge des masoretischen Textes ergibt. Hier ist bei der merkwürdigen Bezeichnung Zions als „Tochter der Kriegsschar“ (vgl. Wolff: „Streifschar“), besser wohl „Bandentochter“, anzusetzen. Tatsächlich wird ‫דוּד‬ an verschiedenen Belegstellen der hebräischen Bibel im pejorativen Sinn43 verwendet (z. B. in 1 Sam 30,8 als „Räuberbande“; vgl. auch Jer 18,22). So spricht Hos 7,1, wo es um die Vergehen Efraims geht, von plündernden Räuberbanden,44 die ihr Unwesen in Israel treiben. In dieser Hinsicht hat auch noch S den Text verstanden, wenn hier der „Tochter von harten Räubern“ ( ) angekündigt wird, selbst unter eine Räuberbande zu geraten ( ). Demnach scheint es sich bei „Bandentochter“ ursprünglich um eine negative Bezeichnung Zions zu handeln,45 möglicherweise in Anschluss an die in Mi 2/3 geschilderten Vergehen, wo in Mi 3,8 von räuberischen Vergehen der Mächtigen im Volk gesprochen wird. Auch zum Vollzug von Trauerriten wird Zion/Jerusalem bereits in Mi 1,16 aufgerufen, als Zeichen dafür, dass nun das Gericht gekommen ist. Der 42 JEREMIAS, Micha, 183. 43 Demgegenüber denkt WOLFF, Micha, 115, an die „Streifschar“, die unter König Zidkija nach 2 Kön 25,4 aus der belagerten Stadt ausbrach. 44 Vgl. auch SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 162. 45 MAYS, Micah, 114, denkt eher an babylonische Streifscharen, sodass „Tochter der Streifscharen“ ein Volk charakterisiert, dessen Identität ihm durch sein Leben unter einem Angriff gegeben wird.

Diachrone Analyse

157

Aufruf zur Selbstverletzung könnte dabei ein Rekurs auf Mi 3,10 sein, wonach Zion mit Blut erbaut ist und deshalb „bluten“ muss. Im Fall von V. 14aβ stellt sich die Frage, ob hier wirklich, wie meistens angenommen, ursprünglich ein Belagerungsgeschehen im Blick ist, wie etwa der heutige Kontext nahelegt, sodass in V. 14aβ die davon betroffene Bevölkerung der „Bandentochter“ zitiert wird.46 ‫ מצוֹר‬abgeleitet von der Wurzel ‫„ צור‬einschnüren“, kann zwar durchaus die Belagerung bezeichnen (vgl. Dtn 20,20; Ez 4,2),47 aber eben auch ganz allgemein eine Bedrängnis.48 In jedem Fall ist davon der prophetische Sprecher, also Micha, betroffen, wenn er sich aufgrund der Rede in der 1. Pers. pl. als Teil einer Gruppe versteht49 (vgl. Mi 4,5b). Geht man nun davon aus, dass die in V. 14aα angesprochene „Bandentochter“ ursprünglich negativ konnotiert war, dann ist es wohl unwahrscheinlich, dass sich die in V. 14aβ sprechende Gruppe (und damit Micha) mit dieser identifiziert, wie meistens angenommen wird. Eher scheint es so zu sein, dass es der Prophet und andere Propheten sind, die unter den Anfeindungen der „Bandentochter“ zu leiden haben. Dies aber spiegelt wiederum das in Mi 2,6.8 beschriebene Handeln der Gegner Michas (und der seiner Vorgänger Hosea und Amos) wider, sodass Zion wegen dieser Anfeindung und seiner Bandenmentalität (vgl. Mi 3,10), die notwendigerweise das Gericht JHWHs nach sich zieht, zur Trauer aufgerufen wird. Dass es hier ursprünglich um eine Anfeindung des Propheten geht, darauf deutet insbesondere auch V. 14b hin. Zunächst einmal steht die „Bandentochter“ im Gegensatz zum im Alten Testament durchweg positiv beleumdeten „Richter Israels“. Es geht hier also ursprünglich nicht um eine bedrohliche Situation, die sich zunächst gegen die „Bandentochter“ und dann deren König – hier als Richter bezeichnet – wenden würde. Vielmehr sind die eigentlichen Objekte der Bedrohung die sprechende Gruppe in V. 14aβ und der „Richter Israels“ in V. 14bβ. Die Bedrängnis, die letzterer erfährt, besteht im Schlagen auf die Wange, was durch den Stock als Waffe noch verstärkt wird50 (vgl. das Wortspiel zwischen „Richter“ šofēt und „Stock“ šēvæt), ist doch bereits das Schlagen auf die Wange (gewöhnlich mit der Hand) ein Ausdruck tiefster Erniedrigung (vgl. Jes 50,6; Klgl 3,30). Es dient unter anderem dazu, jemanden mundtot zu machen (extrem in Ps 3,8; vgl. auch Joh 18,22). Möglicherweise ist daher die Formulierung vor dem Hintergrund von 1 Kön 22,24 (2 Chr 18,23) zu lesen, wo ein gegnerischer Prophet namens Zidkija Micha ben Jimla (!) auf die Wange schlägt, um diesen zum Verstummen zu bringen (ebenfalls im prophetischen Kontext in Jes 50,6): vgl. die fast wörtliche Entsprechung: ‫י‬‫ֶלּ‬‫ל־‬ ‫הוּ‬‫י‬‫ת־‬ ‫ה‬. Dieser Bezugszusammenhang ist auch deshalb nicht unwahrscheinlich, weil bereits das Gegenüber JHWH-Prophet – falsche Propheten (in Vielzahl) in Micha 2,6.11 eine auffällige Parallele in 1 Kön 22,6.14 hat. Micha der Moraschiter würde alsodasselbe Schicksal teilen wie sein Namenskollege Micha ben Jimla. Damit aber würde V. 14 an die Situation in Mi 2,6 anknüpfen, und es sich bei dem „Richter Israels“ um den Propheten Micha 46 KESSLER, Micha, 222, bringt den Vers mit der Belagerung der Stadt durch die Babylonier, 588–586. v. Chr., in Zusammenhang; so bereits WOLFF, Micha, 114. 47 So die übliche Interpretation, vgl. z. B. SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 162, mit Verweis auf Ps 31,21; Ez 4,2. 48 HAL II, 589. 49 So bereits JEREMIAS, Micha, 183. 50 WOLFF, Micha, 115.

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Mi 4,9–14

selbst handeln,51 von dem Mi 3,8 sagt, er sei mit Recht (‫ט‬) erfüllt, um Israel seine Sünden zu verkünden. Im Kontext der vorausgehenden, nachträglich eingefügten Verse (insbesondere Vv. 11–13) wurde jedoch V. 14 offensichtlich später als weitere Gefährdung Zions (bzw. Efraims, so G) verstanden, die den Vv. 9.11 durch das vorangestellte „jetzt“ präsentisch beigeordnet wurde. Ursprünglich hingegen bildete V. 14 wohl die Fortsetzung der Völkerwallfahrt und schilderte unter Anknüpfung an Mi 2/3 in Kontrast zu dieser die Bedrängnisse der Jetztzeit, die ihren Grund in den sozialen Vergehen und der Widerständigkeit Zions gegen die prophetische Botschaft hat. Die heutige kontextuelle Einbindung des Verses hingegen lässt den ursprünglichen Sinn der Verwendung dieses Titels „Bandentochter“ für Zion nicht mehr erkennen, sodass es nun vor diesem Hintergrund zu einem neutralen Titel verblasste (so MT, Wolff: „Streifschar“) und es damit um die Bedrohung Zions und seines Richters ging. Die Deutung als Belagerungsgeschehen, welches nach Vv. 13 eigentlich zu spät kommt,52 dürfte erst durch die Einfügung von Vv. 11–13 und seine heutige Positionierung auf den Vers übertragen worden sein. Die Ankündigung der Exilierung Zions nach Babel in Vv. 9–10 ist aufgrund Vv. 9–10 ihrer sprachlichen Eigenart wohl ebenfalls eine nachexilische Ergänzung,53 die das Geschehene aufarbeitet und in eine geschichtstheologische Abfolge einfügt. Bei Vv. 11–13 hingegen handelt es sich aufgrund des Völkerkampfmotivs um Vv. 11–13 die späteste Fortschreibung, die ein Geschehen vergleichbar Sach 14 im Blick hat, welches sowohl einen Völkerkampf gegen Zion als auch eine Völkerwallfahrt zum Zion zeitlich versetzt in verschiedenen Phasen kennt. Mit ihr im Zusammenhang dürfte die zeitliche Differenzierung stehen, die Mi 4 (und 5, siehe unten) in seiner heutigen Gestalt einen Geschehensablauf aufprägte. So ergibt sich etwa folgende Redaktionsgeschichte von Mi 4: Gegenüber der in Mi 4,1–3 entfalteten Zukunftsperspektive schloss sich ursprünglich in Mi 4,14 die Aufforderung an Zion an, aufgrund des ruchlosen Agierens der Oberschicht Buß- und Klageriten zu vollziehen (vgl. V. 14), welche dann durch Mi 4,9f. ergänzt wurde. Zeitlich dürfte diese Konzeption bereits der Perserzeit54 angehören, wofür insbesondere die universale Sicht Zions, aber auch die Zerstörung Samarias und die Ablösung der Nordreichsheiligtümer durch den Zion spricht (siehe oben zu Mi 4,2), worin sich möglicherweise nachexilische Auseinandersetzungen zwischen Jerusalem und Samaria widerspiegeln. Die Ergänzungen in Mi 4,11–13 liegen wohl 51 Gewöhnlich bezieht man den Richter unter Voraussetzung der Situation von 586 v. Chr. auf den König, so KESSLER, Micha, 222. 52 Vgl. KESSLER, Micha, 196, der in Entsprechung zu MAYS versucht, die ungewöhnliche Abfolge folgendermaßen zu erklären: „Damit soll keine streng chronologische Abfolge beschrieben werden, denn die in 4,14 erwähnte Belagerung und Erniedrigung des Königs gehen dem Verlassen der Stadt (V. 10) und dem Spott der Völker (V. 11) voraus […]. Vielmehr geht es um die Zusammenschau eines einzigen Schreckensgeschehens, das Belagerung der Stadt und ihr zwangsweises Verlassen, Demütigung und Beseitigung des Königtums und den Hohn der Völker umfaßt.“ G hingegen hat offenbar eine größere Sensibilität für diese Problematik, wenn sie V. 14 auf die Belagerung einer anderen Stadt, bzw. Volkes, nämlich Efraim, bezieht! 53 Vgl. JEREMIAS, Micha, 168. 54 Damit datiere ich die Verse entgegen meiner früheren Darstellung etwas später, vgl. ZAPFF, Studien, 84; mit JEREMIAS, Micha, 169.

Synthese zu Mi 4

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mit Mi 4,6f. auf einer Ebene und dürften im Rahmen einer übergreifenden Bearbeitung der Michaschrift in Mi 4 Eingang gefunden haben (siehe Einleitung), insofern hier ein alternatives Verhalten der Völker, zeitlich gestaffelt gegenüber Zion/Jerusalem bei gleichzeitiger Rückkehr der Diaspora und Erneuerung der Königsherrschaft Zions geschildert wird. Die Ähnlichkeit mit Sach 14 spricht für eine eher späte Entstehung am Ende der Perserzeit oder bereits am Beginn der frühhellenistischen Epoche.55

Synthese zu Mi 4 Die heutige Konzeption von Mi 4 ist einerseits, ausgehend von der Erneuerung des Zions und der Völkerwallfahrt, wohl als Zielpunkt des in Hosea, Amos und Micha entfalteten Gerichtsgeschehens JHWHs gegen das Nord- und Südreich zu lesen und andererseits als ein endzeitliches Geschehen, bei dem entsprechend der Rahmung der Michaschrift durch die Bücher Jona und Nahum auch die Völker involviert sind, die bereits Mi 1,2 zum Hören aufgerufen hat. Wie Zion durch Gericht zum Heil kommt, so stehen die Völker vor derselben Entscheidung, wofür die Bücher Jona (Umkehr Ninives) und Nahum (Vernichtung Ninives) paradigmatisch sind. Nachdem ihr Aufbegehren gegen den Zion durch JHWH vereitelt wurde, bleibt ihnen die Möglichkeit, zum Zion friedlich zu wallfahrten, um dort den Segnungen der von JHWH geschenkten Tora teilhaftig zu werden. So wird das endzeitliche Geschick Zions eng mit dem der Völker verknüpft und deren Heil oder Unheil entscheidet sich an ihrer Haltung gegenüber Zion. Diese Konzeption steht dabei nicht nur mit der Entstehung der Michaschrift, sondern auch mit der Entstehung wesentlicher Teile des Zwölfprophetenbuches in Zusammenhang.

55 JEREMIAS, Micha, 169; ZAPFF, Studien, 280–293.

Mi 5,1–5: Ein künftiger Herrscher in Israel 5,1 „Und du Betlehema, Efrata, (zu) kleinb, um bei den Tausenden Judas zu sein. Aus dir geht mir (einer) hervor, um Herrscher in Israel zu sein.“ Und sein ‚Hervorgehen‘ ist von Vorzeit her, von vergangenen Tagen. 2 Darum gibt er sie hin bis zu der Zeit, da die Gebärende geboren hata, und der Rest seiner Brüderb umkehren wird zu den Söhnen Israels. 3 Und er wird auftretena und weidenb in der Kraft JHWHs, in der Hoheit des Namens JHWHs, seines Gottesc, sodass sie sich lagern werden, denn jetzt wird er groß sein, bis an die Enden der Erde. 4 Und dieser wird der Friede seina. Assur, wenn es in unserb Land eindringt, und wenn es unsereb Palästec betritt, dann werden wir gegen es sieben Hirten aufstellend und acht fürstliche Menschene. 5 Und sie werden das Land Assur mit dem Schwert weiden und das Land Nimrod mit dem gezücktem Dolcha; und er wird vor Assur retten, wenn es in unserb Land kommt und wenn es unserb Gebiet betritt.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1a G ergänzt nach Betlehem „Haus (Efratas)“ οἶκος. Möglicherweise geschieht dies in Anklang an das hebräische bēt „Haus“ in Betlehem, um den Ortsnamen weiter zu explizieren. 1b „(Zu) klein, um […] zu sein“ gibt G mit „du bist die kleinste, (um zu sein)“ ὀλιγοστὸς (εἶ) wieder. 2a „Da die Gebärende geboren hat“ teilt G in zwei Sätze auf: „bis zur Zeit der Gebärenden. Sie wird gebären und […]“ und interpretiert ‫ה‬ im futurischen Sinn: „Sie wird gebären“ τέξεται (entspr. ‫ד‬). Damit verstärkt sie den Bezugszusammenhang zu Jes 7,14, aus dem sie das „Schlüsselwort“ zitiert.1

1

UTZSCHNEIDER, Michaias, 2374.

Mi 5,1–5

161

2b G bezieht das Possessivsuffix in ‫יו‬ „(der Rest) seiner Brüder“ auf die „Söhne Israels“: „(die Übriggebliebenen) ihrer Brüder“ τῶν ἀδελφῶν αὐτῶν. 3a G fügt zwischen „auftreten“ und „weiden“ ein „und er wird sehen“ ὄψεται (entspr. ‫ה‬‫ׇר‬) ein. Rudolph meint, dass damit G ‫ עמד‬i.S. von „dastehen“ deutet: „Bild des Hirten, der als Wächter dasteht und seine Herde überschaut“.2 3b In Ergänzung zu „weiden“ fügt G ein Objekt „seine Herde“ τὸ ποίμνιον αὐτοῦ ein. 3c Anstelle von „seines Gottes“ übersetzt G mit „ihres Gottes“ τοῦ θεοῦ αὐτῶν, versteht damit das ePP 3. Pers. sing. kollektiv und bezieht es auf die im Vordersatz genannten „Söhne Israels“. 4a Die verschiedenen Möglichkeiten, den hebräischen Satz in V. 4a zu verstehen, spiegeln die alten Übersetzungen wider. V: „Und dieser (scil. der in V. 3 genannte Herrscher) wird der Friede sein“ Et erit iste pax. Demnach ist V. 4a eine Art Unterschrift zum Vorausgehenden.3 S hingegen versteht den Vers offensichtlich als eine Zusammenfassung des durch den Amtsantritt des Herrschers in V. 3 bewirkten Zustandes:4 „Und es . G hingegen bezieht V. 4a auf das Folgende, indem sie wird Friede sein“ V. 4a als Vorspann des Satzes in V. 4b versteht: „Und dies wird der Friede sein, wenn Assur […]“ καὶ ἔσται αὕτη εἰρήνη ὅταν Ἀσσύριος.5 Für die hier vertretene Deutung, die V folgt, sprechen inhaltliche Gründe, insofern der Herrscher offensichtlich als eine Art neuer Salomo gesehen wird, auf dessen Herrschaft V. 3b anspielt (s. u.).6 4b In V. 4b ersetzt G die Personalsuffixe 1. Pers. pl. in MT durch Possessivpronomen 2. Pers. pl., z. B. in „euer Land“ τὴν γῆν ὑμῶν. 4c G liest außerdem anstelle von „unseren Palästen“ ‫ינּוּ‬ „euer Gebiet“ τὴν χώραν ὑμῶν und setzt dabei möglicherweise ein ‫ם‬ voraus (Wechsel von ‫ ר‬nach ‫)ד‬. So kreiert G einen synonymen Parallelismus membrorum und gleicht zugleich V. 4a inhaltlich an V. 5bβ.γ an. 4d In V. 4c liest G anstelle einer 1. Pers. pl. im Kausativstamm „werden wir aufstellen“ eine 3. Pers. masc. pl. im hofal: „werden erweckt werden“ ἐπεγερθήσοντα, setzt also wohl ein ‫מוּן‬ voraus. Als Agens erscheint damit JHWH selbst, sodass die Spannung zwischen der von JHWH initiierten Erweckung des Herrschers aus Betlehem und jener sieben Hirten, die entsprechend MT eine hier sprechende Gruppe aufstellt, gemindert wird. 4e „Fürstliche Menschen“ ‫ם‬ ‫י‬‫י‬ übersetzt G mit δήγματα ἀνθρώπων „Bisse von Menschen“ und setzt dabei allem Anschein nach ein ‫ נשׁכי‬voraus.7 Sollte es sich hier um einen genitivus obiectivus handeln, könnte man mit „Menschenbeißer“ übersetzen und käme zur Vorstellung eines dämonischen Wesens, was wiederum zur Initiative JHWHs passen würde. 5a MT ‫י‬ „in seinen Toren“ ergibt in Parallelstellung zu „mit dem Schwert“ keinen Sinn und wird gewöhnlich als Verlesung eines ‫ה‬‫י‬ „mit dem gezückten Dolch“ be-

2 3 4 5 6

7

RUDOLPH, Micha, 91. So JEREMIAS, Micha, 186; UTZSCHNEIDER, Micha, 117; MAYS, Micah, 118; WALTKE, Micah, 286. So die Alternativlösung nach JEREMIAS, Micha,186. So etwa KESSLER, Micha, 230. Insofern fällt auch die Argumentation Kesslers, wonach V. 4a „einen merkwürdigen Nachklapp“ darstellt, weil er außerhalb der Inklusion zwischen V. 1 „klein […]“ und V. 3 „groß […]“ stehe. Dass er gleichzeitig außerhalb der Inklusion zwischen V. 4b und 5b steht und damit als eine Art Brückenvers und zugleich Überschrift zwischen beiden Abschnitten fungiert, ist ihm keine Bemerkung wert, vgl. KESSLER, Micha, S.232f. Vgl. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2375.

162

Mi 5,1–5

trachtet8 (Metathesis von ‫ י‬und ‫)ח‬. G übersetzt mit „(und das Land Nimrod) in seiner Grube“ ἐν τῇ τάφρῳ αὐτῆς, setzt also ein ‫ בפחתה‬voraus9 (Metathesis von ‫ ח‬und ‫)ת‬. 5b In V. 5b ersetzt G entsprechend V. 4b die Personalsuffixe 1. Pers. pl. durch Suffixe in der 2. Pers. masc. pl.: „euer Land“ und „euer Gebiet“.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Mi 5,1–5 ist – wie Mi 5 insgesamt (s. u.) – in verschiedener Weise eng mit Mi 4 verknüpft, sodass beide Kapitel auf der Endtextebene der Michaschrift letztlich nicht ohne Berücksichtigung des jeweils anderen adäquat zu verstehen sind. So antwortet die Ankündigung eines Herrschers aus Betlehem in V. 1 offenbar auf die in Mi 4,14 beschriebene Demütigung des Richters Israels. Im Hintergrund scheint dabei die Geschichtskonzeption des „Deuteronomistischen Geschichtswerks“ zu stehen, wonach auf die Zeit der Richter mit einer häufigen Demütigung Israels die Zeit des Königtums, insbesondere des aus Betlehem stammenden David folgte, der Israel von seinen Feinden befreite (vgl. Vv. 3.5b). Dabei hat V. 1 vor allem Mi 4,8 im Blick (beide Male Eröffnung mit ‫„ ואתה‬du aber“), wo es um die Rückkehr der Königsherrschaft geht und dabei Betlehem („Herdenturm“, vgl. Gen 35,21) eine wichtige Rolle spielt. Das Motiv der Gebärenden in V. 2aβ, nun als Symbol der hereinbrechenden Heilszeit, nimmt ein Stichwort aus Mi 4,9c.10a auf. Dort wird das leidende Zion mit einer Gebärenden verglichen. Die positiven Folgen der Völkerwallfahrt und des universalen Friedens aus Mi 4,4 werden in den Vv. 3b.4a aufgegriffen (Stichwort: „und sie werden sich lagern“/„und sie werden sitzen“ ‫בוּ‬). Dabei werden diese Folgen auf das Königtum des Herrschers aus Betlehem übertragen: Mit ihm verwirklicht sich diese Heilszeit. Durch „von vergangenen Tagen“ ‫ם‬‫י עוֹ‬‫י‬ scheint ein über die Michaschrift hinausreichender Rückbezug zu Amos 9,11 (‫ם‬‫י עוֹ‬‫י‬) hergestellt zu werden, wo ebenfalls auf das einstige davidische Königtum verwiesen wird.

Textinterne Aussagegestalt Die Vv. 1.3 kündigen das Kommen einer Herrschergestalt an, die messianische Züge trägt und eine Reihe von Attributen aufweist, die aus der israelitischen Königsideologie stammen. Die Friedensherrschaft, die sich in seiner Person manifestiert (V. 4a), findet ihren konkreten Ausdruck in der Rettung vor Assur (V. 5b). Zwischen den Vv. 4a und 5b ist demgegenüber die Aussage einer Gruppe eingeschoben, die der Bedrohung durch Assur sieben Hirten und menschliche Fürsten entgegenstellen will, welche ihrerseits zu Unterdrückern Assurs werden. Die inhaltliche Beziehung zwischen Vv. 3b.4a und Vv. 4b-5a bleibt jedoch unklar. Mögli8 9

BHS. Vgl. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2375.

Synchrone Analyse

163

cherweise handelt es sich bei letzterem Abschnitt um eine, der magischen Sprache und Denken des altorientalischen Umfeldes entlehnten Formel zur Abwehr von Gefahren (s. u.).

Einzelauslegung V. 1 setzt in verschiedener Hinsicht seinen Kontext voraus. So ist dieser Vers durch „du aber“ ‫ה‬ mit Mi 4,8 verknüpft, zumal das dort genannte „Migdal Eder“ die nächste Station Jakobs in Gen 35,21 ist, nachdem er zuvor an der Straße nach „Efrata, das jetzt Betlehem heißt“, seine Frau Rachel begraben hat.10 Wie in V. 8, so geht auch hier die Anrede in die 3. Pers. sing. über.11 Die in V. 8 ergangene Ankündigung des „Kommens“ und „Hineingehens“ des Königtums zur Tochter Zion hat nun eine Konkretisierung im „Herausgehen“ des Herrschers aus Betlehem,12 sodass beide Verse den heutigen Textzusammenhang Mi 4,8–5,1 rahmen. Schließlich setzt V. 1 offensichtlich Mi 4,14 voraus. Der demütigenden Erniedrigung des Richters Israels steht nun die Erwartung eines künftigen Herrschers aus Betlehem gegenüber.13 Dahinter könnte folgender Erzählduktus stehen: Der Richterzeit mit dem schmählichen Untergang des Hauses Sauls (1 Sam 31) folgt das Hervorgehen eines neuen Herrschers in der Gestalt Davids aus Betlehem (vgl. 1 Sam 16,4). Zugleich wird dem durch die Anrede „Bandentochter“ negativ qualifizierten Jerusalem das kleine Betlehem als unbedeutender, jedoch auch unbescholtener Ort gegenübergestellt, aus dem JHWH unter Rückgriff auf die von Gottes Handeln qualitativ geprägte Vorzeit etwas Neues kommen lässt. „Betlehem Efrata“ (als Doppelname nur hier belegt) ist vor allem mit der Jakobs- (Gen 35,19; 48,7) und der Davidtradition (vgl. 1 Sam 17,15; 20,28) verbunden. Auf erstere nimmt bereits Mi 4,8 Bezug, sodass hier offensichtlich eine Bezugnahme auf beide Traditionen stattfindet.14 Die Stadt, in deren Nähe Jakob Rachel begrub und aus der David stammt, wird nun wiederum zum Ausgangspunkt einer neuen Zukunft. „Bet-Lehem“, wörtl. „Haus des Brotes“,15 wird möglicherweise bereits in der Amarna-Korrespondenz erwähnt und ist die Heimatstadt Davids. Der Beiname „Efrata“ bedeutet „die Fruchtbare“ und leitet sich wohl von der Sippe der Efratiter ab, die in der Nähe von Betlehem siedelten (vgl. 1 Sam 17,12).16 Vielleicht ist dieser Beiname auch symbolisch zu verstehen, sodass das fruchtbare Betlehem Israel einen neuen Herrscher gebiert, zumal die für „hervorgehen“ verwendete Wurzel ‫ יצא‬auch die Bedeutung „geboren werden“ (Ijob 1,21) annehmen 10 11 12 13

So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 111. KESSLER, Micha, 223. UTZSCHNEIDER, Micha, 111. Demnach wird das waw meistens adversativ übersetzt, vgl. MAYS, Micah, 111.115; WALTKE, 265. 14 Dies könnte nicht zuletzt der immer wieder beobachtete Zusammenhang mit Jer 30,18–22 implizieren, insofern es um eine Wendung des Geschicks der Zelte Jakobs geht. 15 Auf der Amarnatafel 290,12–18 wird eine Stadt in der Nähe Jerusalems namens bet nin.ib erwähnt, was „Haus (der Göttin) Lachamu“ heißen soll. Lachamu ist eine akkadische Göttin, bekannt aus dem Schöpfungshymnus Enuma Elisch. KEEL, Orte 2, 613f. erwägt dementsprechend als weitere Bedeutungsmöglichkeit „Haus des Kampfes“. 16 KEEL, Orte 2, 614, spricht von einer „kalebitische(n) Sippe“.

Vv. 1–3: Die Erweckung des Herrschers aus Betlehem

Betlehem

164

Mi 5,1–5

kann.17 Der in V. 1aβ entwickelte Gegensatz zwischen „klein“ i.S. von unbedeutend und den „Tausenden“ Judas, könnte als Anspielung auf die Erwählung Davids zu verstehen sein, der ja auch als der „kleine“ (‫ )קטן‬verbunden mit der Konnotation „unbedeutend“ unter seinen Brüdern bezeichnet wird.18 Dafür könnte auch die Formulierung „unter den Tausenden Judas“ sprechen, bei denen sich nach 1 Sam 23,23 auch David aufhält. „Tausende“ ist eine aus der militärischen Sprache stammende Bezeichnung, sodass in ihr die militärische Schwäche Betlehems mitschwingt, die ja auch den Hirtenjungen David im Kampf gegen den Riesen Goliat charakterisiert.19 Wie im Fall von David kontrastiert das Klein-sein Betlehems die Bedeutung des aus ihr Hervorgehenden. Dass das Kleine, Unbedeutende durch Gottes Wirken Karriere macht, ist ein häufiges biblisches Motiv.20 Dieses verbindet V. 1 wiederum mit Mi 4,7.21 Wenn JHWH davon spricht, dass der künftige Herrscher „mir“ hervorgehen wird, so deutet dies auf den direkten JHWH-Willen hinsichtlich seiner Erwählung hin22 und charakterisiert den ganzen Vers als direkte JHWH-Rede, welche diesem eine besondere Autorität verleiht. „Um zu sein“ ‫יוֹת‬ greift wohl auf die Natansverheißung in 2 Sam 7,8 zurück.23 Die Bezeichnung „Herrscher in Israel“ wiederum stammt wohl aus 2 Chr 7,18 (vgl. aber auch Jer 30,21),24 insofern sich im Rahmen einer nächtlichen Vision JHWHs an Salomo ein Zitat der göttlichen Verheißung an David findet, dass es ihm nie an einem „Herrscher in Israel“ fehlen solle. Diese wird hier somit eingelöst und verhilft dem Betreffenden zu einer Bedeutung über die Grenzen Judas hinaus, entsprechend der früheren Herrschaft Davids. Dabei ist hier möglicherweise bewusst die Titulatur „Herrscher“ gewählt, um den Betreffenden nicht in Konkurrenz zum Königtum JHWHs in Mi 4,7 treten zu lassen.25 Unter Aufgreifen der Wurzel ‫„ יצא‬hervorgehen“ wird der Ursprung des künftigen Herrschers bereits in der Frühzeit Israels (vgl. Mi 7,14), als einer „der Gegenwart qualitativ überlegene[n] mythische[n] Urzeit“26 verankert, wobei wohl an die davidische Zeit, vgl. Neh 12,46 und Am 9,11 (‫ם‬‫י עוֹ‬‫י‬), zu denken ist. Insofern scheint gerade mit letzterer Stelle ein Bezugszusammenhang zu bestehen, sodass die dortige Verheißung nun schriftenübergreifend konkretisiert wird. Auch in dieser Hinsicht erweist sich der (literarische) Micha als Nachfolger des Amos (vgl. Mi 1,1). Von einem „Hervorgehen“ ‫ )!( יצא‬eines künftigen Herrschers aus der Wurzel Isais spricht auch Jes 11,1, sodass hier wohl etwas Vergleichbares im Blick ist, wenngleich er nicht direkt mit David (bzw. dessen Vater), sondern lediglich 17 WOLFF, Micha, 116. CORZILIUS, Rätsel, 382, möchte überdies einen Bezugszusammenhang mit Mi 4,2b erkennen: „Während die Stadt Jerusalem in Mi 4,10* die Tochter Zion und Betlehem in Mi 4,14–5,4a* den neuen David hervorbringt, geht aus Zion nach Mi 4,1–3 die Torah JHWHs hervor.“ 18 MAYS, Micah, 116; WALTKE, Micah, 268. 19 UTZSCHNEIDEr, Micha, 112. 20 JEREMIAS, Micha, 186, verweist auf Mose, der nicht reden kann, Jeremia, der sich als zu jung bezeichnet, Saul, der aus einem besonders kleinen Stamm kommt oder Israel, das unter den Völkern das kleinste ist (vgl. Dtn 7,7). 21 Vgl. RENAUD, Michée, 241, der auf die auffällige Entsprechung zu Jes 60,22 verweist! 22 WOLFF, Micha, 117. 23 WALTKE, Micah, 273: ‫ל‬‫ל־‬ ‫י‬‫ל־‬ ‫ִגיד‬ ‫יוֹת‬ֽ  24 RENAUD, Michée, 240. 25 Dies vermutet bereits WOLFF, Micha, 117. 26 KESSLER, Micha, 225.

Synchrone Analyse

165

mit dessen Geburtsort in Zusammenhang gebracht wird.27 Letzteres könnte sich mit der Implikation verbinden, den neuen Herrscher zwar mit dem Geburtsort Davids als Ursprung des Königtums, jedoch nicht mehr mit der davidischen Linie als solche zu verknüpfen,28 die vielleicht zur Zeit der Entstehung jenes Textes überhaupt nicht mehr existierte. Rezeption im Neuen Testament Prominent ist Mi 5,1 durch seine Rezeption im NT geworden, insbesondere in Mt 2,6, wo Mi 5,1.3 recht frei zitiert und damit in Form eines Erfüllungszitates die Geburt Jesu in Betlehem mit der Herrscherankündigung des Micha in Verbindung gebracht wird.

Der Begründungspartikel „darum“ in V. 2aα stellt den Anschluss an die vorherige V. 2 Ankündigung des Kommens eines künftigen Herrschers über Israel her und bildet deren Erläuterung.29 Die Zeit bis zu dessen Geburt, auf die sich wohl V. 2aβ.bα bezieht,30 wird als Zeit der Preisgabe, aber auch der Rückkehr des Restes geschildert und knüpft damit offensichtlich an die Beschreibung einer bedrängenden Situation in Mi 4,14 an. Demnach sind unter „sie“ wohl die Jerusalemer oder die im Folgesatz genannten „Söhne Israels“ zu verstehen.31 Dabei scheint die Formulierung „bis zur Zeit“ ‫ת‬‫ד־‬ auch auf die Zeitangabe „jetzt“ ‫ה‬ in Mi 4,9.11.14 anzuspielen,32 welche die notvolle Zeit Jerusalems charakterisiert. Ihr steht damit eine spätere Zeit gegenüber, die durch die Geburt eines Herrschers das Heil bringt. Dabei dient V. 2 dem Zweck, die Heilsverzögerung zu erklären und zugleich festzustellen, dass diese notvolle Zeit begrenzt ist.33 Die merkwürdige Formulierung „darum gibt er sie“, die wohl mit Recht mit Bezug zu Jes einem „hin“ oder „preis“ ergänzt wird,34 erinnert formal35 an die Eröffnung der 7,14? Immanuel-Verheißung in Jes 7,14: „Darum wird der Herr […] geben“ ‫י‬ ‫ן‬ ‫ן‬. Vor diesem Hintergrund36 erschließt sich auch das Subjekt:37 Es ist JHWH. Diese Beziehung verstärkt sich noch durch die folgende fig. etym. „eine Gebärende hat geboren“, die einen Gebärvorgang – und zwar den des künftigen Herrschers – im Blick hat, vgl. dazu Jes 7,14: „Siehe, die junge Frau ist schwanger und wird einen 27 Einen engeren Zusammenhang sieht WOLFF, Micha, 116: „Es ist, als werde die Anschauung von Jes 11,1 aufgegriffen und weitergeführt: der Baum ist gefällt, aber aus dem Wurzelstumpf (Isai, Davids Vater) sprießt ein neuer Trieb“. 28 Jüngst wieder SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 167: „I think it is also quite possible that Micah implies a ‚starting over‘: go back to Betlehem and find another line […]“. 29 UTZSCHNEIDER, Micha, 112. 30 Deshalb ist die Aussage des Verses wohl so zu verstehen, wie sie bereits WILLIS, Micah IV, 535–537, verstanden wissen wollte: „Deshalb gibt er sie (nur noch) hin, bis […]“. 31 UTZSCHNEIDER, Micha, 112. 32 RENAUD, Michée, 246. 33 RENAUD, Michée, 247. 34 In Analogie zu 2 Sam 5,19 oder 1 Kön 22,6 i.S. von „jemand in die Hand des Feindes geben“. 35 Natürlich nicht inhaltlich, wie KESSLER, Micha, 225, all denen unterstellt, die hier einen Bezug sehen möchten; so bereits WOLFF, Micha, 117; er spricht von einer „midraschartigen Aufnahme“. 36 Dies erklärt auch der scheinbar fehlende Bezug, vgl. KESSLER, Micha, 225. 37 Dass dies nicht der Herrscher aus V. 1 sein kann, ergibt sich aus inhaltlichen Gründen, vgl. WALTKE, Micah, 278.

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Mi 5,1–5

Sohn gebären.“ Daraus ergibt sich der Schluss, dass V. 2 vor dem Hintergrund von Jes 7,14 formuliert wurde und damit auch hier eine Angleichung der Prophetie des Micha an die des Jesaja vorliegt.38 Beide haben entsprechend dieser Interpretation somit einen künftigen Herrscher für Israel angekündigt.39 G hat auch hier den Zusammenhang verstärkt, indem sie beide Male dieselbe futurische Verbform verwendet: τέξεται. Gleichzeitig besteht wohl auch ein Rückbezug zu Mi 4,10, wenn dort das von Not bedrängte Zion mit einer Gebärenden verglichen wird.40 Nun jedoch handelt es sich hier nicht lediglich um einen Vergleich (‫ה‬‫)כּיּוֹ‬, sondern es ist ein reales Geburtsgeschehen im Blick, insofern ist die Gebärende in Mi 5,2 wohl nicht, wie oft vertreten wird,41 mit Zion identisch. Vielmehr gilt: Das notvolle Kreißen der Tochter Zion wie eine Gebärende hat ein Ende, wenn eine Gebärende (den künftigen Herrscher) gebiert.42 Auch V. 2b scheint von jesajanischem Gedankengut geprägt zu sein. So findet sich die Vorstellung von der Umkehr oder Rückkehr eines Restes auch in Jes 10,21f. „ein Rest wird umkehren“ ‫שׁוּב‬ ‫ר‬, wenngleich mit anderer Sinngebung, insofern dort JHWH Ziel der Umkehr ist. Hingegen ist die Heimkehr der Versprengten Israels ein häufiges Thema in späteren Texten des Jesajabuches (vgl. Jes 27,12f.; 43,5). Einen ausdrücklichen Zusammenhang zwischen dem neuerstehenden Herrscher (aus der Wurzel Davids) und der Rückkehr des Restes „seines Volkes“ findet sich in Jes 11,10f. In V. 2bα wird die Restvorstellung durch „seine Brüder“, also wohl die des künftigen Herrschers, näher expliziert. Unter „Brüder“43 sind wahrscheinlich vor allem die Angehörigen Judas zu verstehen, die nun aus dem Exil, von dem in Mi 4,10 die Rede gewesen ist, zurückkehren.44 Eine abweichende Interpretation in G G versteht die Aussage, dass hier von „seine[n] (scil. des Herrschers) Brüdern“ die Rede ist dahingehend, dass sie das Personalsuffix pluralisch interpretiert und auf die in V. 2aα Genannten bezieht, die JHWH zunächst (preis)gibt.

Im Unterschied zu Mi 2,12; 4,6f. und 5,6f. sowie Jes 10,21f. ist allerdings mit der Verwendung des Nomens ‫ר‬ keine besondere theologische Qualifikation des Restes verbunden.45 Hier wird lediglich festgestellt, dass die Herrschaft des neuen Herrschers nicht nur zum Ende der Notzeit Zions, sondern auch zu einer Rückkehr 38 Dieser Bezug bedeutet nicht, dass in Jes 7,14 tatsächlich die Geburt eines Herrscherkindes angekündigt wird, Mi 5,2 scheint diesen Text lediglich so zu interpretieren. 39 UTZSCHNEIDER, Micha, 113, spricht hier mit Recht von einer „Assoziationskette“, zu der wohl auch Jes 9,5f. zu zählen ist. 40 Diesen feinen Unterschied, den bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 112, benennt, übergeht MAYS, Micah, 116, wenn unter der Hand die Bildebene verlassen und Zion zur Gebärenden wird; KESSLER, Micha, 226, sieht zwar den Unterschied, sucht ihn aber dergestalt zu bewältigen, dass in 4,9f. die Not Zions lediglich mit der einer Gebärenden verglichen wird, während nun das Gebären Zions selbst in den Blick kommt. 41 Zum Beispiel METZNER, Micha, 148. 42 Vgl. dazu RENAUD, Michée, 248: „Il est difficile de ne pas faire un rapprochement avec Mi 5,2, resitué dans le cadre de 5,1.3, où la Yôlédāh doit enfanter le môšhél.“ 43 KESSLER, Micha, 226, verweist mit Recht auf den im deuteronomischen Königsgesetz entwickelten Gedanken, wonach König und Volk „Brüder“ seien, vgl. Dtn 17,15. 44 So bereits KESSLER, Micha, 226. 45 HAUSMANN, Rest, 179.

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der Exilierten bzw. überhaupt der Diaspora führen wird. Insgesamt erweckt der Vers den Eindruck einer späteren schriftgelehrten Ergänzung,46 die unter Bezug auf Jesaja und Mi 4,10 verfasst wurde, jedoch gleichzeitig eigene Akzente setzt.47 Aufgrund der Formulierung „JHWH seines Gottes“ in V. 3aβ ist als Subjekt der V. 3 beiden Verbformen in V. 3a der in V. 1 beschriebene künftige Herrscher aus Betlehem zu verstehen. Somit knüpft V. 3a direkt an V. 1 an und beschreibt nun die Ausübung seiner Herrschaft. „Auftreten“ wird verschiedentlich für den Beginn einer königlichen Herrschaft oder eines Amtes48 verwendet (vgl. Dan 11,3.7.21). Die Hirtenmetaphorik ist im Alten Orient als Bild der Herrschaftsausübung verbreitet.49 Inneralttestamentlich knüpft V. 3aα dabei insbesondere an die Verheißung eines künftigen Herrschers in den Spuren Davids an (vgl. 2 Sam 5,2; Ez 34,23 und 37,24). Entsprechend der Charakterisierung des davidischen Königtums in 2 Sam 5,2 und 7,8 ist der König wie ein Hirte beauftragt, die Herde für ihren Besitzer zu weiden und vor allen Gefahren zu behüten. Dies bringen insbesondere die beiden folgenden Präpositionalverbindungen zum Ausdruck. Als „Vikar“ JHWHs ist der König mit der Kraft Gottes (vgl. Ex 15,13) ausgestattet, die es ihm ermöglicht, Gefahren von seinem, im Bild einer Herde gezeichneten Volk, abzuwehren. Nicht zuletzt findet sich deshalb mehrfach in Gebeten für den König die Bitte, JHWH möge ihn mit Kraft ausstatten (vgl. Ps 21,2.14; 1 Sam 2,10). Dies wird nun für den künftigen Herrscher als feste Tatsache ausgesagt, insofern ihm die Kraft Gottes wie ein Hirtenwerkzeug (z. B. Stock) zur Verfügung steht. Auch die „Hoheit“ ist Ausdruck der Macht JHWHs, die die Feinde in Schranken hält (vgl. Ex 15,7). Dabei steht der Name für die wirkmächtige Präsenz JHWHs und zugleich für die Tatsache, dass der Herrscher mit seiner ganzen Person von JHWH in Anspruch genommen ist, er gleichsam JHWH gehört. „[S]eines Gottes“ stellt die enge Verbindung zwischen dem künftigen Herrscher und JHWH heraus. Dabei klingen priesterliche Konnotationen an, wird doch dieselbe Formulierung („im Namen JHWHs seines Gottes“) in Dtn 18,7 für den Dienst des Leviten verwendet, wie überhaupt Königtum und Priestertum traditionell eng miteinander verbunden sind, sodass der König im Alten Orient der eigentliche Priester ist (vgl. 1 Kön 8,14; Ps 110,4).50 Gleichzeitig scheint ein Rückbezug zu Mi 4,5 beabsichtigt, insofern sich eine pluralische Größe dazu bekennt, „im Namen JHWHs unseres Gottes“ zu gehen. Somit entspricht der künftige Herrscher in der Ausübung seines Hirtenamtes jenem Bekenntnis seines Volkes. V. 3bαinit. schildert die Folgen der Regierung des Herrschers unter Anknüpfung an Mi 4,4a „sie werden sich lagern“ ‫בוּ‬.51 Vermutlich soll durch dieses Schlüsselwort der ganze Bezugstext eingespielt werden,52 sodass „sich lagern“ als Ausdruck der von Feinden ungestörten Ruhe zu verstehen ist. Damit aber klingt auch hier ein Motiv der Königsideologie – konkretisiert in Salomo, vgl. 1 Kön 5,5 46 47 48 49 50 51 52

So bereits WOLFF, Micha, 117. RENAUD, Michée, 250, spricht mit Recht von „de façon quelque peu midrashique“. KESSLER, Micha, 227. KESSLER, Micha, 227. Vgl. KEEL, Bildsymbolik, 248–258. So bereits RENAUD, Michée, 272. Dies spricht dafür, dass Mi 4,4a mindestens gleichursprünglich mit Mi 5,3b ist; gegen JEREMIAS, Micha, 186.

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Vv. 4f.: Der Inbegriff des Friedens und die Züchtigung Assurs

Mi 5,1–5

– an, da sich die Königsherrschaft mit sicherem Wohnen verbindet (vgl. 2 Sam 7,10f.; Jer 23,5f.; Ez 34,25.27).53 Auf diese Weise wird die vom Zion ausgehende Frieden stiftende Königsherrschaft JHWHs in Mi 4,4 mit der künftigen Regierung seines Herrschers in Zusammenhang gebracht: Der Herrscher erweist sich als wahrer Vikar JHWHs, und die Bekehrung der Völker durch JHWHs Wirken ist Voraussetzung der Friedensherrschaft des irdischen Königs.54 „Denn jetzt“ ‫ה‬‫י־‬ greift stichwortartig auf die Zeitangaben in Mi 4,9.10 und 14 zurück, versetzt diese jedoch in die Zukunft, sodass das künftige „sich lagern“ und die Größe des Herrschers gleichzeitig sind. Die Bedeutung des Herrschers „bis an die Enden der Erde“ entspricht ebenfalls verbreiteter Vorstellungen des Königs als Vikar Gottes, der seiner Friedensherrschaft weltweit Durchsetzungskraft verleiht (vgl. Ps 72,8 und Sach 9,10). So erstreckt sich der gesamte Duktus in Mi 4,14–5,3 von der Erniedrigung des Richters, über die Geburt des künftigen Herrschers aus (dem kleinen) Betlehem bis zu seiner Größe und universalen Herrschaft;55 die Macht des künftigen Herrschers steht dabei in engem Zusammenhang mit JHWHs Regierung vom Zion aus (vgl. Mi 4,6f.8). Entsprechend MT, der V. 4a auf den zuvor beschriebenen Herrscher bezieht, ist dieser der personifizierte Friede und damit Inbegriff der hier zum Ausdruck kommenden Friedenssehnsucht. Das hebräische Wort šālōm beinhaltet die Vorstellung eines Zustandes vollkommenen Heils, der nicht nur äußeren Frieden, sondern auch leibliches und geistiges Wohlergehen umschreibt. Damit wiederum wird auch hier auf eine Begrifflichkeit zurückgegriffen, die der traditionellen Königsideologie entliehen ist. So ist nach Ps 72,3.7, welcher der Autorenschaft des Salomo zugeschrieben wird (vgl. V. 1 ‫ה‬), šālōm die Folge der Herrschaft des Königs. Insofern der König nun selbst Inbegriff des Friedens ist, übertrifft er die dortige Aussage sogar noch. Möglicherweise steht dabei im Hintergrund tatsächlich das Bild König Salomos, dessen Name programmatisch für seine Friedensherrschaft steht, sodass der neue Herrscher eine Art Salomo revidivus ist, wenngleich dieser nicht aus Betlehem stammte. So betrachtet verbindet sich V. 4a mit V. 3b, in welchem vermutlich ebenfalls auf die salomonische Friedensherrschaft Bezug genommen wird (s. o.). Mit dem in V. 4b betont an der Spitze des Satzes stehenden Wort „Assur“ bricht in das Bild des universalen Friedens die grausame Realität einer das Gottesvolk bedrohenden Welt, war doch die erbarmungslose Kriegsmaschinerie dieser den Vorderen Orient im 8. und 7. Jh. v. Chr. mit Feldzügen und Kriegen überziehenden Großmacht gefürchtet.56 Angesichts der Tatsache, dass es sich in V. 4 um einen relativ späten Text handelt, dürfte es sich bei „Assur“ um eine Umschreibung jeglicher übermächtiger feindlicher Bedrohung handeln57 (zur Verwendung 53 So bereits KESSLER, Micha, 227. 54 Einen Zusammenhang zwischen beiden Versen sieht bereits METZNER, Micha, 149, wobei sie „und sie werden sitzen“ ohne Angabe von Gründen als spätere Angleichung an Mi 4,4 bezeichnet, „um den Anbruch der Heilszeit mit dem friedlichen Zug der Völker gen Zion und dem friedlichen Miteinander der Menschen bei der Ankunft des neuen Herrschers zu identifizieren.“ 55 Vgl. KESSLER, Micha, 228. 56 WALTKE, Micah, 287, spricht mit Recht von „a metonymy for Assyria’s invading armies“. 57 RENAUD, Michée, 251.

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als Deckname fremder Eroberer vgl. Klgl 5,6; Esra 6,22; Sach 10,10f.; Mi 7,12; Nah 3,18),58 wobei im Hintergrund möglicherweise bereits das seleukidische Reich steht.59 Tatsächlich sind von ihm militärische Aggressionen in Palästina bekannt, ohne dass diese eine Konkretisierung auf die historische Situation des Wortes erlauben. Die folgenden Aussagen in V. 4b scheinen eine Steigerung zu beinhalten.60 So findet das Eindringen ins Land seine Fortsetzung im Betreten der Zentren seiner Macht, nämlich der Paläste. Darunter versteht man festgemauerte Häuser des Königs (vgl. 1 Kön 16,18; 2 Kön 15,25) und der Vornehmen (vgl. Am 6,8), die durchaus auch festungsartigen Charakter i.S. von Wohntürmen haben können. Dabei verbindet sich mit dem Betreten, das auch den Aspekt des Niedertretens besitzt, der Anspruch einer Machtausübung.61 V. 4c beschreibt die Gegenaktion der hier sprechenden Gruppe, zu erkennen an dem im feindlichen Sinn zu verstehenden „gegen“ ‫על‬. Die sprechende Gruppe ist wohl mit der in Mi 4,14 gleichzusetzen, die sich ebenfalls einer Anfeindung ausgesetzt sieht. Durch die Abfolge der Zahlen „sieben“ und „acht“ liegen Anklänge an den gestaffelten Zahlenspruch vor, der im weisheitlichen Bereich beheimatet ist. „Sieben“ bezeichnet die Heiligkeit und Vollzahl,62 wobei unter „Hirten“, wohl in Anklang an V. 2, Könige zu verstehen sind. Dafür spricht nicht zuletzt die Parallelstellung mit „acht fürstlichen Menschen“. Die Zahl „acht“ symbolisiert gegenüber der „sieben“ die Vollendung.63 Möglicherweise stehen im Hintergrund die acht Söhne, die Isai, der Vater Davids gezeugt hat, sodass auch hier auf David und seine Familie angespielt würde. Die Rede von „fürstlichen Menschen“ könnte in betonter Antithese „zu himmlischen Wesen wie die Völkerengel oder die Engelfürsten im Danielbuch (vgl. Dan 10,13ff.)“64 stehen. Um was es hier nun genau geht, ist in der Forschung umstritten. Eine neuere Deutung meint, dass es sich aufgrund der Zahlenparallele („sieben“/„acht“), die sich auch in ugaritischen Beschwörungstexten und anderen altorientalischen magischen Praktiken findet, um eine in militärische Kategorien umformulierte Geisterbeschwörung65 handelt, durch die sich Juda vor einem assyrischen Angriff zu schützen sucht. Eine andere Deutung will die sieben Hirten mit den Makkabäern identifizieren66 und daraus einen Hinweis auf die Datierung des Verses ableiten. Letzteres hat angesichts der wohl eher späten zeitlichen Abfassung des Verses eine gewisse Plausibilität. Eine abweichende Interpretation in G Das von G als passivische Form interpretierte ‫נוּ‬‫ֲה‬ „werden wir […] aufstellen“ als ἐπεγερθήσονται „werden aufgestellt werden“ deutet auf ein passivum divinum hin, sodass auch hier Gott eigentlich Handelnder bleibt. Damit aber wird die Spannung zwischen der Erweckung des Herrschers aus Betlehem und jener sieben Hirten, die ent-

58 59 60 61 62 63 64 65 66

WOLFF, Micha, 119. HILLERS, Micah, 69. So mit WALTKE, Micah, 288. KESSLER, Micha, 235. WALTKE, Micah, 290. MAYS, Micah, 120, hingegen spricht von einer „indefinite number“, von vielen. UTZSCHNEIDER, Micha, 118. CATHCART, Semitic Incantations, 44–48. RUDOLPH, Micha, 99: „Dieses stolze Wort stammt am ehesten aus dem Lager der Makkabäer […] nach ihrem großen Erfolg gegenüber den Syrern […]“; JEREMIAS, Micha, 187.

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Mi 5,1–5 sprechend MT von der hier sprechenden Gruppe aufgestellt werden, beseitigt. Gott allein ist und bleibt Handelnder.

V. 5 V. 5 knüpft durch das Verb „weiden“ (‫עוּ‬) an die „Hirten“ (‫ים‬) in V. 4c an und

leitet daraus deren Tätigkeit ab, wobei die deutsche Übersetzung mit „weiden“ eigentlich zu kurz greift. So beinhaltet die Tätigkeit eines Hirten zum einen den Zusammenhalt der Herde und die rechte Leitung zu Weideplätzen und Wasserquellen, zum anderen die Abwehr von Gefährdungen. Übliches Werkzeug des Hirten ist der Stab, der zur Disziplinierung der Herde ebenso eingesetzt wird wie zur Abwehr wilder Tiere. „Schwert“ assoziiert daher eine verschärfte Situation und setzt offenbar eine rebellische Herde voraus, welche sich mit „Land Assur“ als Erzfeind Israels naturgemäß verbinden lässt. Es ist also hier an ein gewaltsames Vorgehen der Hirten gegen die Herde über das übliche Maß hinaus zu denken. „Land Nimrod“ steht in direkter Parallele zu „Land Assur“ und scheint damit als analoge Bezeichnung verstanden zu werden, die vielleicht „Assur“ in seiner Gefährlichkeit konkretisiert. Tatsächlich wird Nimrud als Nachkomme Hams, des Sohnes Noachs, in der Völkerliste Gen 10,8–12 erwähnt. Dort zeichnet er sich nicht nur als großer Jäger – womöglich vor dem Hintergrund zahlreicher Jagdszenen assyrischer Könige –, sondern auch als Städtegründer aus (Gen 10,11f.), eine Eigenart, die assyrischen Königen auch andernorts zugeschrieben wird (vgl. Jes 14,21). „Gezücktem Dolch“, sofern die Konjektur zutreffend ist, bildet eine Steigerung zu „Schwert“ und deutet auf die Wachsamkeit und Kampfbereitschaft der Hirten hin. Eine abweichende Interpretation in G Die Änderung von G „in seiner Grube“ verbindet sich offensichtlich mit der Vorstellung, dass der Jäger Nimrud sich in seiner eigenen Jagdgrube verfängt (vgl. Spr 26,27).67

V. 5b knüpft durch die Singularform an V. 3 an, sodass als Subjekt an den dort genannten Herrscher zu denken ist. Dies nährt die Vermutung, dass V. 5b ursprünglich die direkte Fortsetzung von V. 4a bildete und somit die Vv. 4b.5a eine nachträgliche Ergänzung sind (s. u.). ‫ נצל‬im hi. mit der Bedeutung „retten“, wörtl. „herausreißen“, findet sich vor allem mit dem Subjekt JHWH und gehört zur Terminologie des Exodusgeschehens (vgl. Ex 3,8 und 6,6). Insofern liegt es nahe, als Subjekt an den Herrscher aus den Vv. 3f. zu denken, der mit der Kraft JHWHs seine Hirtentätigkeit ausübt. „Assur“ nimmt dabei dieselbe drohende Rolle ein wie Ägypten in Ex 3,8. Der das Eindringen Assurs mit dessen Herrschaftsanspruch (betreten, i.S. von niedertreten) beschreibende V. 5bβ.γ dürfte die Vorlage von V. 4b gewesen sein, sodass sich in der heutigen Form eine Inklusion durch die Vv. 4b und 5b ergibt.

Diachrone Analyse Die Vv. 1–3 setzen inhaltlich nicht nur Mi 4,14, sondern auch Mi 4,4.8 voraus. Sie deuten das nach Zion zurückkehrende Königtum (Mi 4,8) auf eine konkrete könig67 So bereits RUDOLPH, Micha, 92.

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liche Gestalt hin, künden ein Ende der in Mi 4,14 beschriebenen Notzeit an und verstehen den in Mi 4,4 beschriebenen universalen Frieden als durch den Herrscher aus Betlehem bewirkt. Damit aber dürfte es sich um eine Fortschreibung der sich bereits in der Michaschrift befindlichen Völkerwallfahrt handeln, die u. U. im Zusammenhang mit Sach 9,9f. eingefügt wurde, um eine „vorweggenommene Lesehilfe“ für diesen Text zu bilden.68 Zu Vv. 1–3 sind auch die V. 4a und 5b zu zählen, für die aufgrund der singularischen Formen als Subjekt der auch in V. 3a vorausgesetzte künftige Herrscher anzunehmen ist. Stammt die Einfügung des Textes der Völkerwallfahrt aus nachexilisch-persischer Zeit, so gilt dies folglich auch für diesen Abschnitt. Die Vv 4b-5a dürften eine nochmals spätere Ergänzung sein, die das Rettungshandeln des Herrschers mit einer der Magie entnommenen Formel verbindet. Möglicherweise stammen diese Verse erst aus makkabäischen Zeiten und sind dann der jüngste Bestandteil von Mi 5. Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 5

68 JEREMIAS, Micha, 194, wobei ich allerdings den Zusammenhang zwischen Mi 5,1–3.9–13 und Sach 9,9ff. erst durch die Einfügung von Mi 5,1–3.4a.5b gegeben sehe.

Mi 5,6–8: Der Rest Jakobs inmitten der Völker und die Vernichtung der Gegner Israels 6 Und der Rest Jakobs wird inmittena vieler Völker sein wie Tau von JHWHb, wie Regengüsse auf die Saatc, der auf keinen Menschen wartet, und nicht auf Menschenkinder harrt. 7 Und der Rest Jakobs wird bei den Nationen, inmitten vieler Völker sein, wie ein Löwe bei den Tieren des Waldes, wie ein Junglöwe bei den Herden des Kleinviehs, der, wenn er durchzieht, zertritt und reißta und niemand rettet. 8 Deine Hand sei erhobena gegen deine Bedränger, und alle deine Feinde werden ausgetilgt.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 6a In V. 6aβ ergänzt G ein „bei den Nationen (inmitten vieler Völker)“ ἐν τοῖς ἔθνεσιν entsprechend V. 7a. 6b In V. 6bα ergänzt G „von JHWH“ durch „(herab)gefallen (vom Herrn)“ πίπτουσα. 6c Mit der Übersetzung „wie Lämmer (auf dem Gras)“ ὡς ἄρνες1 setzt G in V. 6bβ (nach ‫ל‬ „wie Tau“ in V. 6bα) ein ‫ כטלאים‬voraus. 6d Die hebräische Verbform ‫ֶוּה‬ „(der) […] wartet“ in V. 6cα leitet G von ‫ קוה‬II mit der Bedeutung „sammeln“ ab, tilgt gleichzeitig die nota obiecti ‫ ל‬in ‫ישׁ‬ und kommt zur Übersetzung „so sammelt niemand“ ὅπως μὴ συναχθῇ μηδεὶς. 7a G übersetzt in V. 7cα mit „und aussondernd trägt er weg“ καὶ διαστείλας ἁρπάσῃ, setzt also anstelle von ‫ס‬ „und er tritt nieder“ möglicherweise die Wurzel ‫„ מסר‬wegschaffen“ (doppelte Metathesis) voraus. 8a Das intransitive ‫ם‬ „sei erhoben“ geben zahlreiche Handschriften als Indikativ wieder: „du wirst deine Hand erheben“ ‫תרוּם‬. G übersetzt stattdessen: „werde erhoben“ ὑψωθήσεται.

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UTZSCHNEIDER, Michaias, 2375, erwägt eine innergriechische Verlesung von ῥανίδες.

Synchrone Analyse

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Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Vv. 6f. greifen das Stichwort „Rest (Jakobs)“ (‫ב‬) ‫ית‬ aus Mi 4,6f. (‫ית‬) auf und führen den dortigen Gedankengang weiter: Nach der Sammlung des „Hinkenden“ (Bezug auf Jakob) sowie des „Versprengten“ und dessen Restituierung zum „Rest“ und „mächtigen Volk“ bedenken Vv. 6f. dessen Rolle inmitten „vieler Völker“. Insofern bei der Charakterisierung des Restes Jakobs und seiner Stellung inmitten der Völker Terminologie aus der Königsideologie verwendet wird (s. u.), besteht ein inhaltlicher Rückbezug zu den Vv. 1–3.4a.5b, wo es ja um das Wirken eines künftigen Herrschers, wenn auch mit individuellen Zügen versehen, geht. V. 8 ist mit den folgenden Vv. 9b-13 durch das Stichwort ‫„ כרת‬austilgen“ verbunden. Wird es in V. 8 passivisch, wohl im Sinne eines passivum divinum verwendet, so ist ab V. 9b JHWH ausdrücklich selbst Subjekt.

Textinterne Aussagegestalt Die Vv. 6f. wenden den Blick auf den Rest Jakobs. Dieser rückt offensichtlich in die Rolle eines kollektiven Königtums ein, insofern ihm durchaus gegensätzliche Charakteristika des Königtums zugeschrieben werden: „Tau“/„Regengüsse“ (vgl. Ps 72,6; 110,3; Spr 19,12) und „Löwe“ (vgl. Spr 19,12; 20,2). Indem Vv. 6 und 7 weitgehend parallel aufgebaut sind (Rest Jakobs inmitten der Völker – metaphorische Vergleiche – Näherbestimmung der Bilder durch einen Relativsatz), wird eine Differenzierung der Stellung des Restes Jakobs inmitten der Völker erkennbar, wobei sich beide Male die Herrschergewalt dieses Restes Jakobs manifestiert und damit ein inhaltlicher Rückbezug zu Vv. 3.5b hergestellt wird. So ist Israel inmitten „vieler Völker“ wie Tau und Regengüsse und ebenfalls inmitten „vieler Völker“ wie ein reißender Löwe. In Anknüpfung an V. 7 fordert V. 8 – wahrscheinlich (s. u.) – den Rest Jakobs dazu auf, seine Hand zu erheben, damit die Bedränger Israels (durch JHWH) vernichtet werden. Was in V. 7 angekündigt wird, kann demnach entsprechend V. 8 nur durch JHWHs Initiative Wirklichkeit werden.

Einzelauslegung Durch ‫ה‬ „und (er) wird sein“ wird V. 6a mit V. 4a verknüpft und auf dieselbe zeitliche Ebene, nämlich die Zukunft, gestellt. Das Stichwort „Rest (Jakobs)“ verbindet V. 6a mit anderen Texten in der Michaschrift, vor allem mit Mi 2,12; 4,7 und 7,18. Bezieht sich „Rest“ ursprünglich auf die Vorstellung eines Überbleibsels, das die komplette Niederlage einer Schlacht bezeugt, so wird die Restvorstellung in exilisch-nachexilischer Zeit zur entscheidenden Grundlage eines Neuanfangs. Durch die Verbindung mit „Jakob“ besteht ein enger inhaltlicher Zusammenhang mit Mi 4,7, wo das gesammelte „Hinkende“ als Bild für Jakob (vgl. Gen 32,32) von JHWH zum Rest gemacht wird. Damit aber „könnte die einmalige Benennung ‚Rest Jakobs‘ durchaus bewusst an den Erzvater als Empfänger der Segensverheißung

Vv. 6f.: Der Rest Jakobs inmitten der Völker Restvorstellung Königsideologie

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Mi 5,6–8

erinnern wollen.“2 Hier nun geht es, nachdem in Mi 4,7 Israel zum Rest geworden ist, um die Rolle dieses Restes inmitten der Völker, also die Funktion, die Israel nach seiner Sammlung haben wird.3 Die Formulierung „inmitten vieler Völker“ findet sich nur hier und in V. 7, mit dem V. 6 in einem engen Zusammenhang steht. Sowohl von Mi 2,12f. und Mi 4,6f. her als auch vor dem Hintergrund von Mi 4,1–3 gelesen, bedeutet „inmitten der Völker“ wohl, dass sich „der Rest Jakobs […] bereits am Zion, eben inmitten der Völker befindet, der nach Mi 4,1–5 nicht nur topographisch, sondern auch von seiner Bedeutung her den Mittelpunkt der Erde bildet“.4 „Viele Völker“ hingegen ist eine Art Leitbegriff, der sich in verschiedener Form in Mi 4 findet. Hier werden „viele Völker“ unterschiedlich wahrgenommen: einmal als zum Zion Wallfahrende, zwischen denen JHWH richtet (Mi 4,3) sowie auch als gegen den Zion aufbegehrende Völker, die von Zion „zermalmt“ werden (Mi 4,13). Jene unterschiedliche Perspektive der Völker scheint nun auch Mi 5,6f. zugrunde zu liegen. Dabei wird das Handeln JHWHs gegenüber den Völkern in Mi 4,3 durch die segensreiche Funktion ergänzt, die der „Rest Jakobs“ für die Völker haben wird.5 Die in V. 6b verwendete Metaphorik ist grundsätzlich positiv konnotiert. So sind die in Palästina z.T. erheblichen Taufälle im Sommerhalbjahr (vgl. Ri 6,38) oft die einzigen Niederschläge, die dem ausgetrockneten Land Erquickung spenden (vgl. Hos 14,6; Dtn 33,28; 2 Sam 1,21; 1 Kön 17,1). Auch das Bild von den Regengüssen auf die grüne Saat ist ausschließlich mit positiven Konnotationen verbunden (vgl. Dtn 32,2). Auffällig ist, dass sowohl „Tau“ wie „Regengüsse“ auch in der Königsideologie eine Rolle spielen (vgl. Spr 19,12;6 Ps 72,6; 110,3). Da nirgends sonst ein Mensch oder eine menschliche Größe mit Tau oder Regen verglichen wird, lässt sich daraus ableiten, dass der Rest Jakobs hier als Ganzes in die Rolle und Funktion des Königs einrückt. Damit aber entsteht eine gewisse Spannung gegenüber den Vv. 3f., insofern der künftige Herrscher eine Einzelpersönlichkeit bezeichnet. Man könnte die Spannung aber dergestalt auflösen, dass das, was der Herrscher für Israel (vgl. den Bezug von Vv. 3f. auf Ps 72, s. o.), Jakob für die Völker sein wird. Das Bild des Taus als Symbol einer Heilsgabe findet sich auch in Gen 27,27–29, wo im selben Zusammenhang die Völkerthematik eine Rolle 2 3 4 5

6

WOLFF, Micha, 128. ZAPFF, Studien, 100; ähnlich WALTKE, Micah, 306: „The mention of ‚remnant‘ links the oracle with 4:6–7 and assumes that the formerly lame and scattered remnant has been transformed into a mighty nation.“ ZAPFF, Studien, 101, unter Verweis auf RENAUD, Michée, 261. WOLFF, Micha, 129, wendet sich gegen eine solche Deutung. Nach ihm geht es hier nicht um eine Rolle, die Israel gegenüber den Völkern hat, sondern um das künftige Dasein eines Restes Jakobs im Raum der Geschichte, welches ein Wunder sei, das nur von JHWH her verstanden werden kann. Gegen diese Deutung spricht jedoch, dass in der Auslegung von Wolff die Formulierung „auf den Pflanzen“ keine Interpretation erfährt, die in V. 6b die Entsprechung zu den Völkern bildet. Wenn LUKER, Doom and Hope, 297, das Bild des Taus in Mi 5,6 nach 2 Sam 17,12 als feindliches Bild verstehen möchte, stellt sich die Frage, inwiefern das Bild des Taus im Kontext mit dem in V. 6bβ genannten ‚Regen‘ auf „grüne[m] Gras‘ eine solche feindliche Konnotation annehmen kann“, ZAPFF, Studien, 90. So etwa JEREMIAS, Tau, 223; auffällig ist, dass sich hier beide Bilder, Löwe und Tau, ebenfalls in einem Vergleich finden und für ein gegensätzliches Verhalten des Königs stehen (!).

Synchrone Analyse

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spielt. So wird nicht zuletzt derjenige verflucht, der Jakob verflucht und derjenige gesegnet, der Jakob segnet. Angesichts der starken Rückbezüge auf Jakob, insbesondere der Übertragung von ursprünglichen Heilsverheißungen Gottes an Jakob auf den Rest Israels in Mi 2,13 (Mehrungsverheißung) und Mi 4,6 (Identifikation Israels mit dem Schicksal Jakobs), spricht einiges dafür, dass auch im vorliegenden Fall die beiden alternativen Rollen, die der „Rest Jakobs“ für die Völker spielt, davon geprägt sind.7 V. 6c drückt dabei die Unabhängigkeit von Tau und Regen von menschlicher Beeinflussung aus. Die singularische Form – man erwartet nach „Regengüsse“ eigentlich eine Pluralform – der beiden Verben lässt als Subjekt nicht nur an den Tau, sondern auch an den „Rest Jakobs“ denken, zumal die Vorstellung, dass Tau oder Regengüsse „hoffen“ und „harren“ doch etwas gezwungen erscheint. So ist die Aussage wohl auch so zu verstehen, dass der „Rest Jakobs“ auf niemanden hofft, in dem Sinn, dass er auf niemanden sein Vertrauen setzt als auf JHWH allein,8 wie überhaupt die beiden Wurzeln „warten“ ‫ קוה‬und „harren“ ‫ יחל‬mit menschlichem Objekt selten sind und wenn, dann Menschen als Objekte des Vertrauens versagen (vgl. Ps 69,21). Dahinter steht wohl die Mahnung an Israel, die Änderung seiner Situation nicht von menschlichem und politischem Kalkül, sondern von JHWH her zu erhoffen.9 Eine abweichende Interpretation in G Hinter der Interpretation von V. 6bβ in G steht wohl die Vorstellung einer in Sicherheit weidenden Herde (vgl. Jes 40,11). Möglicherweise ist diese Interpretation von V. 7 her beeinflusst, insofern dort ja von Herden von Kleinvieh die Rede ist.10

V. 7a unterscheidet sich von V. 6a lediglich durch die Hinzufügung „bei den Natio- V. 7 nen“. Dies mag dadurch bedingt sein, dass sich mit „Nationen“ ‫ גוים‬häufig für Israel bedrohliche Konnotationen verbinden, wenn etwa Israel unter die Nationen zerstreut ist und dabei in Gefahr steht, seine Identität zu verlieren.11 Nun jedoch wird Israel selbst zur Bedrohung für die Nationen. Diese negative Qualifikation von „Nationen“ findet ihre weitere Bestätigung von V. 14 her, wo es „Nationen“ sind, die nicht gehorchen und damit dem Gericht verfallen. Die anschließende Formulierung „inmitten vieler Völker“ hingegen, die V. 6aβ entspricht, führt den Gedanken fort: Wird dort Israel für „viele Völker“ zum Segen, so wird es hier für viele (andere) Völker zur Gefahr. Ein Vergleich mit Löwen und Junglöwen (als Paar auch in Am 3,4; Nah 2,12f.; als Vergleich in Ps 17,12) ist Ausdruck der zerstörerischen Macht und des Schreckens, galt doch der – im 13. Jh. in Palästina ausgerottete – Löwe als Inbegriff chaotischer Wildheit. Zudem dient der Löwe als Bild Israels in Num 23,24; 24,9; Gen 49,9f. (im letzteren Fall allerdings nur Juda). Während die zwei Bezeichnungen des Löwen lediglich der Variation dienen, so scheint durch „Tieren des Waldes“ und „Herden des Kleinviehs“, die als Merismus aufzufassen sind,12 eine unterschiedliche Aussage angezielt zu sein. Sind die Tiere des Waldes Wildtiere, sodass der Löwe hier als das mächtigste und bedeutendste dieser Tiere 7 8 9 10 11 12

So ZAPFF, Studien, 102, in Anlehnung an RENAUD, Michée, 261. UTZSCHNEIDEr, Micha, 121. ZAPFF, Studien, 103. WALTKE, Micah, 309. ZAPFF, Studien, 97. ZAPFF, Studien, 103.

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V. 8: Die Vernichtung der Gegner Israels

Mi 5,6–8

erscheint,13 - gemeint ist dann, dass Israel unter mächtigen Nationen noch mächtiger ist -,14 so ist beim Bild des Löwen unter den Kleinviehherden vor allem dessen zerstörerische Stärke im Blick. Demnach bezieht sich der Folgesatz wohl in erster Linie auf V. 7bβ. V. 7c schildert das Einbrechen eines Löwen in eine Herde, der seine Beute zunächst mit seinen Tatzen niedertritt und anschließend zerreißt. Die abschließende Phrase „und niemand rettet“ ist sprichwörtlich und bezeichnet ein unabänderliches Verhängnis. Zusammen mit der Löwenmetaphorik findet sie sich in Ps 7,3 und Hos 5,14 (vgl. auch Ps 50,22). Dort wird JHWH für Ephraim zum Löwen, dem niemand seinen Fang entreißen kann. Zudem scheint ein Rückbezug zu V. 5b zu bestehen. Ist es dort der künftige Herrscher, der vor Assur rettet, so kann niemand die Völker vor dem Rest Jakobs retten.15 V. 8 setzt sich durch die direkte Anrede von den beiden vorhergehenden Versen ab. Als mögliches angesprochenes Subjekt kommt entweder der zuvor genannte „Rest Israels“ in V. 5 oder JHWH selbst in Frage. Für JHWH16 spräche die inhaltliche Nähe zu Jes 26,11 (vgl. auch Ps 89,14). So würde hier am Ende der Kette von Verheißungen in den Vv. 6f. eine Bitte an JHWH stehen, diese nun umzusetzen. Dabei werden die Feinde Zions (vgl. Mi 4,10) zu den Feinden JHWHs17 (vgl. Dtn 32,41; Jes 1,24; 59,18; Jer 46,10; Nah 1,2, insofern JHWH dort ebenfalls von seinen Feinden spricht). Die Vv. 9b-13 wären dann als Erfüllung der in V. 8 an JHWH gerichteten Bitte um Vernichtung der Feinde Israels zu verstehen.18 Gegen diese Deutung spricht jedoch die passivische Form in V. 8b,19 die man wohl als passivum divinum aufzufassen hat, im Unterschied zu den oben aufgelisteten Textbelegen, in denen JHWH immer direkt an seinen Feinden handelt. Wäre JHWH Subjekt in V. 8a, so wäre dementsprechend wohl damit zu rechnen, dass er auch in V. 8b aktiv Handelnder wäre.20 Somit legt sich hier eher die zweite Möglichkeit nahe, wonach es der Rest Jakobs ist,21 der hier (wohl vom Propheten) aufgefordert wird, seine Hand gegen seine Feinde zu erheben, sodass diese durch JHWHs Handeln zugrunde gehen.22 Auch dafür lassen sich alttestamentliche Vergleichsstellen anführen, insbesondere die Aufforderung JHWHs an Mose in Ex 14,16b, die Hand gegen das Meer zu strecken, um es zu spalten23 oder auch Ex 17,11, wo Mose seine Hand im Kampf Israels gegen Amalek erhoben hält.24 Es würde hier also nach dem Rückbezug auf den Stammvater Israels, Jakob, nun ein weiterer vorliegen, diesmal auf den geistigen Vater Israels: Mose. Der sich daraus scheinbar ergebende Wider13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

WOLFF, Micha, 129. WALTKE, Micah, 311. WOLFF, Micha, 130. So eine Vielzahl an Exegeten, z. B. RUDOLPH, Micha, 102; WOLFF, Micha, 130; JEREMIAS, Micha, 190; RENAUD, Michée, 259; UTZSCHNEIDER, Micha, 122; WALTKE, Micah, 313; in dieser Interpretationslinie wird der Vers meistens als Gebet verstanden. RINGGREN, Art. ‫ר‬ II ṣar: ThWAT VI, 1125. Vgl. ZAPFF, Studien, 116. ZAPFF, Studien, 117. Man erwartet dann eher ein ‫תכרת‬. MAYS, Micah, 123: „Verse 9 could be a prayer to God, but the context makes Israel the expected addressee.“ PANNEL, Messiah, 141.

Diachrone Analyse

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spruch zu V. 7, in welchem es der Rest Jakobs ist, der selbst wie ein Löwe unter den Völkern wütet, ist nicht unüberwindlich, wenn man etwa Mi 4,11–13 betrachtet, wo Israel nur Werkzeug der von JHWH beschlossenen und initiierten Vernichtung der Feinde ist.25 Zugleich würde auch hier V. 8 die folgenden Vv. 9–13 vorbereiten (zu den Interpretationsmöglichkeiten s. u.). Auf Letzteres verweist vor allem „werden ausgetilgt“ ‫תוּ‬, womit ein zentrales Leitwort aus Mi 5,9–13 aufgegriffen wird.

Diachrone Analyse Bei den Vv. 6f. dürfte es sich um einen relativ späten Bestandteil von Mi 5 handeln, insofern er offensichtlich bereits Mi 5,1–3.4a.5b voraussetzt, die dortige Königsvorstellung nun aber kollektiviert. Außerdem steht er nicht nur mit anderen, ebenfalls späten Texten der Michaschrift in Zusammenhang (vor allem Mi 1,2; 2,12f.; 4,6f.), sondern scheint aufgrund seiner differenzierenden Sicht der Völker eine über die Michaschrift auf die Jona- und Nahumschrift hinausreichende Perspektive zu haben. So leistet die Michaschrift entsprechend dieser redaktionellen Fortschreibung u. a. eine Art Vermittlungsfunktion zwischen beiden Schriften (siehe Einleitung). Insofern V. 8 die Verknüpfung zwischen den Vv. 6f. und den Vv. 9–13 herstellt, dürfte es sich auch bei diesem Vers um eine spätere redaktionelle Ergänzung handeln, die eine weitere Ausdeutung des Reinigungsgerichtes vornimmt. Entsprechend der schichtenspezifischen Einordnung der mit den Vv. 6f.8 auf einer redaktionellen Ebene stehenden Abschnitte bzw. Verse der Michaschrift ist auch für diese Verse eine wohl erst in hellenistischer Zeit anzusetzende Datierung anzunehmen. Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 5

25 ZAPFF, Studien, 117f.

Mi 5,9–13: Die Reinigung Israels von allem JHWH-Feindlichen 9 „Und es wird sein an jenem Tag“, Spruch JHWHs, „da tilge ich deine Pferde aus deiner Mitte aus, und ich vernichte deine Wagen. 10 Und ich werde die Städte deines Landes austilgen, und alle deine Festungen niederreißen. 11 Und ich werde die Zaubermittela aus deinen Händen austilgen, und die Wahrsager werden für dichb nicht mehr da sein. 12 Und ich werde deine Götzenbilder austilgen und deine Mazzeben aus deiner Mitte. Und du wirst dich nicht mehr niederwerfen zum Werk deiner Hände. 13 Und ich werde deine Ascherena aus deiner Mitte ausreißen, und deine Städteb werde ich ausrotten.“

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 11a „Zaubermittel“ übersetzt G mit τὰ φάρμακά σου „deine Heilmittel“ setzt also ein ‫כשׁפיך‬ voraus. 11b „für dich“  gibt MT als 2. Pers. fem. sing. wieder, im Unterschied etwa zu Vv. 9 und 10, in welchen die Suffixe als 2. Pers. masc. sing jeweils einen männlichen Adressaten bezeichnen. Offensichtlich ist hier nun tatsächlich Zion/Jerusalem im Blick. G übersetzt mit „werden nicht mehr bei dir sein“ οὐκ ἔσονται ἐν σοί. 13a „Deine Ascheren“ ‫י‬‫י‬ gibt G mit τὰ ἄλση σου wieder, was man mit „deine (scil. einer Gottheit geweihten) Haine“ übersetzen kann (vgl. V, S). Dies ist wohl eine Deutung der Ascheren, die mit Bäumen in Verbindung steht. 13b Um eine Entsprechung zu „Ascheren“ herzustellen, schlägt BHS vor, anstelle von ‫יך‬ „deine Städte“ ein ‫בּיך‬ bzw. ‫ריך‬ „deine Götzenbilder“ zu lesen (dagegen jedoch G: τὰς πόλεις σου, vgl. V, S).

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Die Vv. 9–13 knüpfen in verschiedener Weise an die vorausgehenden Kapitel Mi 1–3 an. Durch die Zeitangabe „und es wird geschehen an jenem Tag“ ‫הוּא‬‫יּוֹם־‬ ‫ה‬ stellt

Synchrone Analyse

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V. 9a den folgenden Abschnitt zunächst auf dieselbe Zeitebene wie Mi 4,6f. und damit auch auf die der Vv. 6f., insofern letztere die inhaltliche Fortführung von Mi 4,6f. sind (s. o.). Mit den Vv. 6f. sind die Vv. 9b.12.13 außerdem durch das Stichwort „inmitten“ ‫בקרב‬/ „aus deiner Mitte“ ‫ מקרבך‬verknüpft. Geht es in den Vv. 6f. um die Frage, welche Rolle der Rest Jakobs inmitten vieler Völker spielt, so befassen sich die Vv. 9b-13 mit dem, was inmitten Israels ist, und offensichtlich Israel schadet, nämlich Größen, die dem uneingeschränkten Vertrauen auf JHWH im Wege stehen. Es liegt also eine Art konzentrischer Gedankengang vor: der Rest Jakobs inmitten der Völker und das, was inmitten des Restes Jakobs ist, aber nicht sein soll. Die Ausrottung dieser JHWH-feindlichen Größen greift dabei inhaltlich, z.T. aber auch durch Stichwortverbindungen, auf frühere Aussagen und Ankündigungen der Michaschrift zurück: „Pferde“ und „Wagen“ (Mi 1,13); „Städte“ und „Festungen“ (Mi 1,6.10–15); „Zaubermittel“ und „Wahrsager“ (Mi 3,6f.); „Götzenbilder“ und „Mazzeben“ (Mi 1,7). Offensichtlich wird dabei all das, was in Mi 1–3 JHWH in einzelnen, ausgewählten Fällen vernichtet hat, nun einem umfassenden Reinigungsgericht unterworfen. Gleichzeitig greifen die Vv. 9bα.12aβ.13aα mit „aus deiner Mitte“  ein Stichwort aus Mi 3,11c auf: „in unserer Mitte“ ‫נוּ‬. Entgegen der dort zitierten Meinung der korrupten Oberschicht in Zion, JHWH befinde sich in ihrer – Zions – Mitte, sind vielmehr alle möglichen konkreten und geistigen Größen in „deiner“ – wohl des Restes Jakobs – Mitte, auf die dieser sein Vertrauen setzt. Dabei fällt auf, dass die Vv. 9b-13 eine Reihe von Stichwortverbindungen bzw. inhaltlichen Entsprechungen mit Jes 2,6–8 aufweisen („Pferde“/„Wagen“; „Wahrsager“; „Götzen“/„Götterbilder“; „Niederfallen zum Werk der Hände“). Das stereotype „voll ist sein Land“ in Jes 2,(6b).7.8a ersetzt dabei V. 9b durch „ich tilge aus“ (Vv. 9b.10.11.12) und „aus deiner Mitte“ Vv. 9bα.12aβ.13aα. Die dennoch bestehenden sprachlichen und inhaltlichen Unterschiede zu Jes 2,6–8 lassen sich dabei mehrheitlich durch den inhaltlichen Rückbezug von Vv. 9–13 auf Mi 1–3 erklären (s. o.). Außerdem scheinen die Vv. 9b-13 einen Rückbezug u. a. zu Hos 14,4 herzustellen, wo sich Israel ausdrücklich vom falschen Vertrauen auf Assur, Pferde und vor allem selbstgemachte Götter distanziert. Was dort als Vorsatz formuliert wird, wird nun durch JHWHs Handeln Wirklichkeit.

Textinterne Aussagegestalt Die Vv. 9b-13 beschreiben in direkter JHWH-Rede ein Reinigungsgericht. Dabei kann dieses von seinem Kontext her unterschiedlich verstanden werden. Als Adressat legt sich zunächst der „Rest Jakobs“ nahe, von dem ja bereits in Vv. 6f. die Rede war und welcher wahrscheinlich in V. 8 in 2. Pers. masc. sing. angesprochen wird. Dann aber wird aus seiner Mitte alles JHWH-Feindliche entfernt.1 Die genannten Größen können dementsprechend von V. 8b her als „Feinde“ Israels verstanden werden. Es gäbe demnach nicht nur äußere Feinde (so Vv. 4f.7), sondern auch innere Feinde Israels, die ihm zum Verderben werden und die JHWH auszurotten hätte.2 1 2

Zum Beispiel JEREMIAS, Micha, 192. Zum Beispiel METZNER, Micha, 155; in ähnlicher Weise ist wohl auch die in Dtn 7,1–6 angeordnete Ausrottung der vermeintlichen kanaanäischen Völker zu verstehen, geht es doch hier wohl nicht um die Anleitung zum Völkermord, sondern um die Ausrottung alles Kanaanäischen aus Israel.

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Mi 5,9–13

Die zweite Möglichkeit wäre, V. 8 als Voraussetzung für das folgende Reinigungsgericht zu verstehen. Dann ermöglicht die Vernichtung der auswärtigen Feinde Israels, dass aus der Mitte Israels alle Sicherheiten (Waffen, Festungen, Zaubereien, Götzenbilder) entfernt werden können, die es davon abhalten, sein Vertrauen allein auf JHWH zu setzen. Liest man die Vv. 9b-13 jeweils im Sinne eines Reinigungsgerichtes am Rest Jakobs zusammen mit der Erweckung eines endzeitlichen Herrschers, dann legt sich, wie bereits häufig beobachtet wurde, vom Gesamtduktus des Kapitels her eine Analogie zu Sach 9,9f. nahe. Auch dort folgt dem Kommen des endzeitlichen Königs eine Reinigung Efraims und Israels. Eine dritte Interpretationsmöglichkeit besteht darin, dass es sich bei den Adressaten von Vv. 9b-13 im heutigen Kontext um die Völker handelt, die einem Gericht unterzogen werden.3 Diese Alternative ergibt sich dann, wenn man V. 8 im Zusammenhang mit dem wohl nachträglich eingefügten V. 14 (s. u.) liest. Dann nämlich ist das Dazwischenstehende die Umsetzung der Ausrottung und des Vollzugs des Gerichtes JHWHs an den Völkern, „die nicht gehorchten“. Diese Deutung erfordert es allerdings, einen Wechsel zwischen dem Adressaten in V. 8 („Du“) und dem in Vv. 9ff. implizierten („deine Pferde“ usw.) anzunehmen, der jedoch nirgendwo angezeigt ist. Daher ist diese Interpretationsmöglichkeit eher unwahrscheinlich.

Einzelauslegung Vv. 9f.: Reinigung von falschen äußeren Sicherheiten

Die einleitende Zeitangabe, verknüpft mit der JHWH-Spruchformel, verbindet V. 9a mit Mi 4,6,4 aber auch – zumindest inhaltlich – mit Mi 4,1. Offensichtlich handelt es sich um denselben künftigen Zeitpunkt, zu dem JHWH auf verschiedene Weise am Zion, an dem Rest Jakobs und an jenem zunächst nicht eindeutig zu identifizierenden Adressaten in Mi 5,9–13 handeln wird. Um wen handelt es sich hier? Bezüglich des Kontextes, bei dem sich entsprechend V. 8 das „Austilgen“ auf die Gegner Israels bezieht, könnten sich auch die Handlungen JHWHs in den Vv. 9–13 gegen diese richten.5 Allerdings setzt eine solche Annahme einen Wechsel des jeweiligen Adressaten in den Vv. 8 und 9 voraus, der aber nirgends angezeigt ist. Außerdem wäre es merkwürdig, wenn die pluralischen Gegner in V. 8 plötzlich in der singularischen Du-Form angesprochen würden. So ist hier wohl am ehesten an den Rest Jakobs oder an Zion zu denken, aus dessen Mitte JHWH alles entfernen wird, was sich zwischen ihn und sein Volk stellt. In jedem Fall bezeichnet ‫י‬ „und ich tilge aus“ ein radikales Reinigungsgericht JHWHs. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund verweist in erster Linie auf den Gebrauch der „Bannformel“, mittels derer Menschen, die schwere sakralrechtliche Vergehen begangen haben (vgl. Lev 17,14), aus der Kultgemeinde Israels „ausgemerzt“ werden.6 Insofern ist 3 4 5 6

So etwa NOGALSKI, Precursors, 125, Anm. 8: „This passage was originally directed against Judah, but later expanded against ‘the nations which have not obeyed’“; ähnlich meine eigene frühere Positionierung, ZAPFF, Studien, 120. JEREMIAS, Micha, 191. So etwa RENAUD, Michée, 265; ZAPFF, Studien, 119. JEREMIAS, Micha, 192; UTZSCHNEIDER, Micha, 124; ausführlich ZIMMERLI, prophetische Rede, bes. 8–20.

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die vorliegende Verwendung ungewöhnlich, denn hier wird niemand aus der Gemeinde „herausgeschnitten“, sondern es wird vielmehr dasjenige entfernt, was die Gemeinde verunreinigt (vgl. Lev 26,30; Zef 1,4). Die beiden Stichworte „Pferde“ und „Wagen“ weisen auf Jes 2,7 zurück, wo beklagt wird, dass „dein Land“ – gemeint ist Israel – voll von Pferden und Wagen ist. Auch von daher bestätigt sich die oben vorgenommene Identifikation des Adressaten als Rest Jakobs, Israels oder Zions. Offensichtlich sind also Pferde und Wagen ein Anstoß in den Augen JHWHs. Dies wiederum verweist auf Mi 1,13, insofern die Streitwagen von Lachisch tatsächlich als „Anfang der Sünde Zions“ betrachtet werden.7 Wie Dtn 17,16 zeigt, hatten Pferde (und Wagen) ein recht schlechtes Image im Alten Testament, galten sie doch als Ausdruck übermäßiger Prunksucht des Königs. Tatsächlich lassen sich altorientalische Herrscher in der Ikonographie sehr häufig mit Ross und Wagen als Veranschaulichung ihrer vermeintlich unüberwindlichen Macht darstellen. Ausdrücklich sehen etwa Jes 30,15 und 31,1 (vgl. auch Hos 14,4) im Reiten auf Pferden einen Abfall von JHWH, insofern diese in Gegensatz zu einer vom Propheten empfohlenen Haltung der „Stille“ und des „Vertrauens“ (auf JHWH) stehen. D. h. „Rosse“ und „Wagen“ sind auch hier wohl Symbole einer fehlgeleiteten Rüstungspolitik, die an die Stelle des Vertrauens auf JHWH tritt und sich somit zwischen Israel und seinen Gott schiebt.8 Dafür spricht auch, dass das Stichwort „aus deiner Mitte“ V. 9 mit Mi 3,11 verbindet, wo die korrupte Oberschicht selbstsicher behauptet, JHWH sei in ihrer Mitte: ‫נוּ‬ ‫ה‬‫ה‬. Damit dies jedoch zutreffend ist, muss JHWH zuvor alles, was seiner Gegenwart entgegensteht, aus Israel beseitigen.9 Was hier geschildert wird, ist also weniger ein Akt der Zerstörung als einer „der Läuterung und zielt damit letztlich auf Frieden“.10 Damit aber ergibt sich eine inhaltliche Ähnlichkeit zum Motiv in Mi 4,3b, wenn dort JHWH Waffen zerbricht, sodass dies wiederum die Zugehörigkeit zu Mi 4,1–3 unterstreicht.11 V. 10 setzt erneut mit dem leitwortartigen „ich werde austilgen“ ein (s. o.). V. 10 Nachdem die mobilen Streitkräfte, die vor allem dem Angriff dienen,12 vernichtet sind, wendet sich JHWH gegen Städte und Festungen, die defensiven Schutz gewähren.13 „Städte“ bilden das Rückgrat des Landes, sind aber gelegentlich auch Orte der Fremdgötterverehrung (vgl. Jer 2,15; siehe Vv. 11f.). Die bedeutendsten dieser widergöttlichen Städte, nämlich Samaria und Jerusalem sind bereits in Mi 1,6 und 3,12 zerstört bzw. verwüstet worden.14 Durch die Parallelsetzung mit „Festungen“ werden die Städte außerdem zum Inbegriff menschlichen Sicherheitsstrebens, das, ähnlich wie militärisches Gerät, JHWH entgegensteht,15 und somit zu Symbolen überzogener menschlicher Selbstsicherheit (vgl. Hos 8,14).16 Demgegenüber offenbart sich JHWHs Macht gerade in der Eroberung uneinnehmbar geglaubter Festun7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

KESSLER, Micha, 248. KESSLER, Micha, 250. KESSLER, Micha, 249. KESSLER, Micha, 248. So bereits BACH, Bogen, 1971, 24f. WALTKE, Micah, 332. WALTKE, Micah, 332. KESSLER, Micha, 248. OTTO, Art. ‫יר‬ ʿȋr: ThWAT VI, 70. KESSLER, Micha, 250.

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Vv. 11f.: Vernichtung von JHWHfeindlichen Orientierungsgrößen

V. 12: Götzenbilder

Mi 5,9–13

gen.17 „Niederreißen“ meint eine komplette Zerstörung. In Bezug auf Städte und Befestigungen verwendet es 2 Kön 3,25, Jes 14,17 und Klgl 2,2. Gerade letzterer Text, wo es um die Zerstörung der Städte Judas geht, lässt vermuten, dass auch Mi 5,10 das Geschehen des Exils vor Augen hat. Nachdem falsche äußere Sicherheiten von JHWH beseitigt und die Städte und Festungen gefallen sind, wendet sich in V. 11 JHWH nun gegen das, worauf sein Adressat Zion/Jerusalem in geistiger Hinsicht sein Vertrauen setzt. Genannt werden „Zaubermittel“. Gemeint sind offenbar magische Praktiken (vgl. 2 Kön 9,22; Jes 47,9.12), mit denen man versuchte, auf den Gang der Dinge Einfluss zu nehmen. Sie werden im Alten Testament zwar grundsätzlich abgelehnt (vgl. z. B. Dtn 18,10; Mal 3,5), waren aber, wie gerade ihre Verbote zeigen, offensichtlich weit verbreitet. Da sie „aus deinen Händen“ vertilgt werden, könnte es sich dabei um bestimmte Werkzeuge oder Instrumente handeln, mit denen Zauberei betrieben wurde. Möglicherweise dienen sie ähnlich wie Rosse, Wagen und Befestigungen dem Zweck, Unheil abzuwenden (vgl. Jes 28,15), sind aber gegen JHWHs Wirken machtlos. Israel kann sich daran also sprichwörtlich nicht mehr festhalten. Die Wahrsager, die durch alle möglichen Praktiken Einblicke in die Zukunft und den Willen der Götter sowie in die Deutung von Naturphänomen zu gewinnen suchten (vgl. Dtn 18,10.14), sind ebenfalls grundsätzlich negativ als Inbegriff der Abwendung von JHWH beleumdet (vgl. auch Jes 2,6; 57,3; Jer 27,9). Auch sie werden für Israel nicht mehr zur Verfügung stehen und damit nicht als vermeintliche Sicherheit dienen können. Selbst wenn sich die Begrifflichkeit unterscheidet18 (allerdings werden in Dtn 18,10 „einer, der Zauberei treibt“ ‫ מכשׁף‬und „Weissager“ ‫ מעונן‬in einem Atemzug mit „Visionär“ ‫ קסם‬genannt, es handelt sich also um vergleichbare Größen), so könnte doch Mi 3,6f. im Blick sein,19 sodass nun jeglichem Versuch, jenseits eines von JHWH beauftragten Propheten Einsicht in die Zukunft zu erlangen, der Boden entzogen würde. Insofern würden hier sämtliche, bereits in Mi 1–3 thematisierten, gegen JHWH gerichteten Praktiken endgültig aus Israel ausgerottet. Nachdem alle äußeren Sicherheiten bzw. Praktiken und Personen, die Sicherheit gewährleisten sollten, von JHWH ausgetilgt sind, erreicht sein Gerichtshandeln in V. 12 das Zentrum und „Allerheiligste“ des Landes, in welchem die Götzenbilder stehen, auf die sich Israel statt auf JHWH verlässt. Genannt werden zunächst die Götzenbilder, wörtl. eigentlich „deine Schnitzbilder“ ‫י‬‫י‬. Da der JHWH-Kult – zumindest entsprechend alttestamentlicher Darstellung – bildlos war, sind darunter grundsätzlich Fremdgötterbilder zu verstehen, sodass hier nicht nur ein Vorgehen JHWHs gegen konkrete Götzenbilder, sondern auch gegen fremde Götter im Blick ist. Die Zerstörung nimmt damit Israel die Möglichkeit, bei anderen Göttern außer JHWH Sicherheit zu suchen. Ähnlich wie bei der Vernichtung der Städte scheint auch hier eine Fortführung des in Mi 1,720 beschriebenen Gerichts an Samaria im Blick zu sein, wo bereits von der Zerschlagung seiner Götzenbilder gesprochen wurde. Nun betrifft das Reinigungsgericht die Götzenbilder Judas. Unter „Götzenbild“ ist ein aus Stein, Holz oder Metall gefertigtes Bildnis zu verste17 HAAG, Art. ‫ׇצר‬ miḇṣār: ThWAT IV, 640. 18 Dies könnte seinen Grund in der Abhängigkeit von Jes 2,6 und der dort verwendeten Begrifflichkeit haben. 19 Hinweis bei WALTKE, Micah, 323. 20 Auf diese Stelle verweist auch SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 183.

Synchrone Analyse

183

hen, das handwerkliche Kunst voraussetzte, worauf das von der Wurzel ‫„ פסל‬behauen“/„schnitzen“ abgeleitete Nomen verweist. Unter einer „Mazzebe“ ist ein aufgerichteter Stein zu verstehen, der entweder einen Gedenkstein oder aufgrund der Parallele zu „Götzenbilder“ ein kultisches Objekt darstellt. Als kultisches Objekt – entweder als Repräsentant der Gottheit oder des Beters – wird sie in Dtn 16,22 und Lev 26,1 abgelehnt. „Aus deiner Mitte“ bildet zusammen mit V. 9bα eine Art Rahmung um den ganzen Abschnitt und verweist gleichzeitig auf Mi 3,11 zurück. Statt, wie dort von der Oberschicht behauptet, bei JHWH, sucht Israel Sicherheit bei fremden Götzen und bei verbotenen Kultobjekten. V. 12b greift eine Formulierung aus Jes 2,8b auf: „Zum Werk ihrer Hände werfen sie sich nieder“ ‫ווּ‬‫ַתּ‬ ‫יו‬ ‫ה‬. „Und du wirst dich nicht niederwerfen“ ‫ה‬‫ַתּ‬‫א־‬ erinnert dabei an den Vetitiv in Ex 20,5 / Dtn 5,9, sich nicht vor fremden Göttern niederzuwerfen: ‫ה‬‫ַתּ‬‫א־‬. „Werk deiner Hände“ ist eine Formulierung, die u. a. in Kontexten des Schöpfungshandelns JHWHs verankert ist (Ps 8,7; 102,26; 138,8; 143,5). Sich vor dem eigenen Geschöpf niederzuwerfen, wäre daher ein Widerspruch in sich. Götzenbilder als „Werk der Hände“ zu bezeichnen, ist dtn./dtr. Sprachgebrauch (vgl. Dtn 4,28; 27,15; 2 Kön 19,18; 22,17). Zugleich spiegelt sich hier Götzenbildpolemik wieder, wie sie ihren literarischen Niederschlag in Texten wie Jes 44,15–18 findet, wonach von der Machart und dem Material des Götzenbildes auf das von ihm Dargestellte und dessen Machtlosigkeit zurückgeschlossen wird, auch wenn dies wohl nicht der mit Götzenbildern verbundenen Theologie(n) im Alten Orient entspricht. Auffälligerweise greift V. 13a nicht das die bisherigen Verse des Abschnittes prägende Leitwort „austilgen“ ‫ כרת‬auf. Zudem wird das bereits in V. 10aα abgehandelte Thema der Zerstörung der Städte nochmals aufgenommen. Nachdem außerdem in V. 12b die Folge der Vernichtung der Götzenbilder beschrieben worden ist, wirkt auch die Ankündigung der Ausrottung der Ascheren nachgetragen. Schließlich lässt der Vers den bisherigen inhaltlichen Bezug des Nachsatzes zum Thema des Vordersatzes vermissen. Dies spricht entweder dafür, dass es sich bei V. 13 um einen Nachtrag handelt21 oder aber – wohl wahrscheinlicher – um eine Art Zusammenfassung, zumal die bereits behandelten Themen „Zerstörung eines religiösen Gegenstandes“ und „Zerstörung der Städte“ in umgekehrter Reihenfolge aufgegriffen werden.22 Unter „Ascheren“ versteht man „einen Kultbaum oder einen bearbeiteten Kultpfahl“,23 der als „Emblem einer kanaanäischen Göttin“24 fungierte, die den Namen „Aschera“ trug. Dieser Baumkult, wiewohl er wohl ursprünglich Teil der JHWH-Verehrung war,25 wird besonders in der dtn./dtr. Literatur als Abfall von JHWH zu fremden Göttern heftig bekämpft (vgl. z. B. Dtn 21 22 23 24

So JEREMIAS, Micha, 191, in Entsprechung zu WOLFF, Micha, 132. KESSLER, Micha, 245. GALLING, Reallexikon, 12. GALLING, Reallexikon, 13; ursprünglich „als Gattin Els, des Vaters der Götter“, hat „Aschera die Funktion als Göttermutter und Fruchtbarkeitsgöttin inne“. „Im 1. Jt. erscheint Aschera neben Baal“, RENZ/ RÖLLIG, Epigraphik II/1, 92. 25 RENZ/ RÖLLIG, Epigraphik II/1, 91: „Aschera repräsentiert somit inschr. als die Jahwe zugeordnete Parhedra die weibliche Erscheinungsform der Gottheit, es handelt sich im Grunde um zwei Erscheinungsformen derselben Gottheit, vgl. pun. tnt pn bʿl „Tinnit, Angesicht Baals“ […] als weibliche Seite, Repräsentantin Baals“.

V. 13: Eine Zusammenfassung des reinigenden Handelns JHWHs

184

Mi 5,9–13

7,5 [hier finden sich alle genannten Größen: Götzenbilder, Mazzeben und Ascheren]; 12,3; Ri 3,7; 1 Kön 14,15.23; 15,13). Zu der Vorstellung eines heiligen Baumes passt auch die Wurzel ‫נתשׁ‬, die ursprünglich das „Herausreißen [von Pflanzen]“ bezeichnet.26 Eine abweichende Interpretation von G Die Übersetzung von G mit „deine (heiligen) Haine“ τὰ ἄλση σου scheint einen bewussten Zusammenhang zu Mi 3,12G herstellen zu wollen, da dort von einem „verwilderten Hain“ die Rede ist (ἄλσος δρυμοῦ).27 Nun wird auch noch dieser letzte Rest widergöttlichen Handelns vernichtet.

Diachrone Analyse Die Vv. 9b-13 weisen eine Reihe von Stichwortverbindungen mit Jes 2,6–8 auf (s. o.). Zudem ist auffällig, dass dieser Text im Jesajabuch direkt nach der dortigen Version der Völkerwallfahrt in Jes 2,1–5 folgt. Insofern ist anzunehmen, dass beide nicht getrennt voneinander ihren Weg in die Michaschrift gefunden haben, wofür außerdem die Verbindungslinien zwischen Mi 3,11f. und Mi 4,1f. auf der einen Seite (s. o.) und zwischen Mi 3,11 und Mi 5,9bα.12aβ und 13aα auf der anderen Seite sprechen (s. o.). Das Verhältnis zwischen Jes 2,6–8 und Mi 5,9–13 wird in der Forschung unterschiedlich gedeutet. Vermeylen etwa meint, dass es sich hier ursprünglich um einen Text handelte, dessen erster Teil im Jesajabuch und dessen zweiter in der Michaschrift aufgenommen wurde.28 Dafür könnte zunächst sprechen, dass die Zustände in Israel, die Jesaja beklagt, in Micha von JHWH durch ein Reinigungsgericht beseitigt werden. Andererseits sind die Vv. 9b-13, wie in der synchronen Analyse gezeigt, auf verschiedene Weise mit den vorausgehenden Kapiteln der Michaschrift verknüpft. Dementsprechend kommt man hier wohl nicht um die Annahme herum, dass die Vv. 9b-13 im Rahmen der Einfügung des Völkerwallfahrtstextes in Mi 4,1–3 für ihren heutigen Ort in der Michaschrift erst verfasst wurden29 – freilich vor dem Hintergrund und in Bezugnahme auf Jes 2,6–8.30 Letzteres mag auch erklären, wieso die direkten semantischen Beziehungen zur Michaschrift nicht besonders stark ausgeprägt sind, abgesehen von dem wichtigen Stichwort „aus deiner Mitte“, das Mi 5,9bα.12aβ.13aα mit Mi 3,11 verknüpft. Ist aber Mi 4,1–3 mit Mi 3,9–12 gleichzeitig in die Michaschrift eingefügt worden (s. o.), so dürfte dies auch für die Vv. 9b-13 gelten. Dafür könnten schließlich auch die Verbindungslinien sprechen, die einerseits zwischen den Vv. 9b-13 und Jes 2,6–8 26 27 28 29 30

HAL III, 696. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2375. VERMEYLEN, Isaїe, 139f. KESSLER, Micha, 249. Dafür, dass Mi 5,9–13 hier der nehmende Teil ist, spricht seine gegenüber Jes 2,6–8 wesentlich geschlossenere innere Struktur entsprechend der inhaltlichen Abfolge: 1. Vernichtung der Offensivwaffen, V. 9; 2. Vernichtung der Defensivwaffen, V. 10; 3. Vernichtung der Zaubereien, V. 11; 4. Vernichtung der Götzen, V. 12; 5. Zusammenfassung, V. 13.

Diachrone Analyse

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(also im Hinblick auf Jesaja), andererseits aber auch mit Hos 14,4 (also im Hinblick auf Hosea) bestehen, ein Charakteristikum, das bereits bei einer Reihe von anderen Michatexten beobachtet wurde. So dürften die Vv. 9b-13 den ursprünglichen Bestand von Mi 5 bilden, der sich möglicherweise einst – ähnlich wie im Jesajabuch – direkt an den Text der Völkerwallfahrt anschloss, dem vielleicht noch Mi 4,14 mit der oben beschriebenen ursprünglichen Interpretation vorausging. Wie Mi 4,1–4 dürfte daher auch dieser Text aus persischer Zeit stammen und steht im Zusammenhang mit der in dieser Zeit nach dem Ende des Gerichtes JHWHs über Israel erwarteten Erneuerung Zions. Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 5

Mi 5,14: Das Gericht JHWHs über die ungehorsamen Nationen 14 „Und ich werde im Zorn und in Erregung Rache üben an den Nationen, diea nicht gehorchten.“

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 14a Das Relativpronomen ‫ר‬ „die“ fasst G als Kausalpartikel auf; „dafür, dass (sie nicht gehorchen)“ ἀνθ᾽ ὧν.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit V. 14 weist nach Mi 1,2 zurück. Den dort zum Hören aufgerufenen Völkern stehen hier die Völker gegenüber, die diesem Aufruf nicht gefolgt waren, die nicht gehorcht hatten (‫עוּ‬ ‫א‬ ‫ר‬) und damit dem Zorn und der Rache JHWHs verfallen sind. Vom nachfolgenden Kapitel Mi 6 ist Mi 5 nicht nur durch diesen Rückbezug von V. 14 auf Mi 1,2 abgegrenzt, wodurch die erste Großeinheit der Michaschrift gerahmt wird, sondern auch durch den Höraufruf in Mi 6,1, der sich nun wieder direkt an Israel wendet (s. u.). Bezüglich der Zeitebene nimmt die Ankündigung in Mi 5 im Gegensatz zu den mit „jetzt“ ‫ עתה‬auf die gegenwärtige Zeit bezogenen Situationsbeschreibungen in Mi 4,9.11 und 14 eine auf die Zukunft gerichtete Perspektive ein. Es ergibt sich somit in Mi 4/5 eine mindestens auf zwei Zeitstufen stehende Abfolge zwischen notvoller gegenwärtiger und heilvoller künftiger Zeit, die zugleich mit einer differenzierten Völkerperspektive verbunden wird. In jedem Fall steht die hinsichtlich der Völker vorgenommene Differenzierung in V. 14, in welchem von Völkern die Rede ist, die nicht gehorchten, in einem Zusammenhang mit den Vv. 6f., in denen es ebenfalls verschiedene Völker gibt, die ein unterschiedliches Schicksal erleiden. Für ein solches Verständnis könnte auch die heutige Rahmung von Mi 4/5 durch Mi 4,1–3 und 5,14 sprechen. Demnach scheint Mi 4,1–3 das Schicksal der Völker zu spiegeln, die „gehorchen“, Mi 5,14 hingegen das derjenigen Völker, „die nicht gehorchten“. Damit wird zugleich verdeutlicht, was Gehorsam meint, nämlich zum Zion zu ziehen und sich von JHWH belehren zu lassen.

Synchrone Analyse

187

Textinterne Aussagegestalt V. 14a kündigt das Zorngericht JHWHs an, dessen Begründung in V. 14b im Ungehorsam der Völker gesehen wird, womit indirekt auch eine Alternative aufgezeigt wird, nämlich die zu gehorchen.

Einzelauslegung Inhaltlich ist V. 14 mit V. 8 durch das dort indirekt, hier nun direkt angekündigte V. 14 Gericht JHWHs über die Völker verknüpft. Durch „die nicht gehorchten“ ‫א‬ ‫ר‬ ‫עוּ‬ ist V. 14 zugleich mit Mi 1,2 verbunden, wo die Völker zum Hören aufgefordert werden (‫ים‬ ‫עוּ‬). Gegenüber den Vv. 9–13 kommt durch das in V. 14 angekündigte Völkergericht nicht nur zum Ausdruck, dass nicht allein das sich von JHWH durch alle möglichen Selbstsicherheiten abwendende Israel/Jerusalem dem Gericht verfällt, welches im Endeffekt jedoch nur ein Reinigungsgericht ist, sondern auch die ungehorsamen Völker. Möglicherweise ist damit auch verknüpft, „dass Gott ein aller militärischer Selbstsicherungen beraubtes Israel (Vv. 9f) nicht als Opfer feindlichen Völkern preisgibt, sondern selber alle Völker, die seine und Israels Feinde […] bleiben, vernichtet“.1 „Und ich werde […] üben“ ‫י‬‫י‬, wörtl. „machen“, schließt formal an die w-qatal Formen aus den Vv. 9–13 an und führt das dortige Geschehen weiter. ‫„ נקם‬Rache“ meint ein Geschehen, das die verletzte Rechtsordnung wiederherstellt und daher von den Gerächten als Befreiung und Grund zur Freude erfahren wird. Die anthropomorphe Rede vom Handeln JHWHs „im Zorn und in Erregung“ ist auch in Dtn 29,27 belegt, wo sie sich im Rahmen eines Gerichtshandelns JHWHs an Israel findet. „Zorn“ und „Erregung“ sind dabei Ausdruck des gerechtfertigten Handelns JHWHs aufgrund der Untaten der Völker, die offenbar in der Weigerung zu gehorchen bestehen. Was aber beinhaltet dies? Zunächst verbindet das Stichwort „Völker“ V. 14 mit Mi 4,2 und 11, wo sich jeweils ein unterschiedliches Verhalten der Völker gegenüber dem Zion und damit auch Gott zeigt. Bei den Völkern, die nicht gehorchen, scheint es sich, ausgehend vom heutigen Zusammenhang, um Völker zu handeln, die sich dem Aufruf in Mi 1,2 zu hören verschließen, sich das Gericht JHWHs an Samaria und Zion nicht zu Herzen nehmen, nach wie vor ihrem Götzenkult anhängen, damit JHWH nicht anerkennen und deshalb nicht entsprechend Mi 4,3 zum Zion ziehen, um sich von JHWH unterweisen zu lassen. Ganz im Gegenteil verhalten sie sich feindlich gegenüber dem Zion und suchen, ihn zu entweihen (Mi 4,11). Sie verfallen nun dem endgültigen Gericht. Das Stichwort ‫נקם‬ weist dabei außerdem auf Nah 1,2 voraus, wo JHWH als rächender Gott beschrieben wird, der sein Gericht an Ninive vollzieht.

1

JEREMIAS, Micha, 194.

188

Mi 5,14

Diachrone Analyse Die in der synchronen Analyse aufgezeigten inhaltlichen und sprachlichen Verbindungen von V. 14 mit Mi 1,2; 5,6f.8.9a sprechen dafür, dass dieser Vers zur selben redaktionellen Bearbeitung der Michaschrift zu rechnen ist. Diese verbindet die Völkerperspektive der Michaschrift mit Jona und Nahum2 und interpretiert zugleich das künftige Königtum in Israel in neuer Weise, nämlich kollektiv. Diese Bearbeitung stellt in Mi 5 nach Mi 5,9b-13 und 5,1–3,4a.5 (möglicherweise in makkabäischer Zeit durch Mi 5,4b-5a ergänzt) die jüngste redaktionelle Schicht dar.

Synthese zu Mi 5 Nach der in Mi 4 beschriebenen endzeitlichen Völkerwallfahrt zum Zion und den Bedrängnissen Israels in der Jetzt-Zeit ergänzt Mi 5 weitere fehlende Aspekte. Der Erniedrigung der nun auf die Richterzeit bezogenen Demütigung des Richters Israels (ursprünglich: der literarische Micha, s. o.) in Mi 4,14 steht in Mi 5,1–3 die Zeit des künftigen Herrschers gegenüber, welcher in den Farben der Herrschaft Davids und Salomos gezeichnet wird. Durch diese Gestalt wird zugleich ein weiterer Bezug zu messianisch gedeuteten Erwartungen des Jesajabuches hergestellt. Bezieht sich diese Hoffnung zunächst auf einen Einzelnen, so wird sie in einer weiteren Fortschreibung in Vv. 6f. kollektiv auf den Rest Jakobs übertragen. Dessen königliche Stellung inmitten der Völkerwelt wird reflektiert, wobei sich diese sowohl segensreich wie vernichtend auswirken kann. Diese Stellung inmitten der Völkerwelt wiederum verbindet sich mit einem durch JHWH durchgeführten Reinigungsgeschehen in Fortführung von Mi 3,11. Dieses ist offensichtlich die Voraussetzung jener königlichen Funktion des Restes Jakobs inmitten der Völkerwelt und verknüpft sich mit einem Gericht über jene feindlichen Völker, die nicht gehorchen. Im Gesamtduktus von Mi 4/5 bezieht sich dieser Ungehorsam offenbar auf die Weigerung jener Völker, zum Zion als dem neuen Sinai JHWHs zu wallfahrten, um dort Orientierung und Sicherheit zu finden. Vor dem Hintergrund des Schicksals Ninives in der Jona- und Nahumschrift als Paradigma für das mögliche künftige Schicksal der Völker wird Mi 5 zusammen mit Mi 4 mehr und mehr zu einem entscheidenden Kapitel, zu einer Art „Wasserscheide“, nicht nur in der Michaschrift, sondern überhaupt im werdenden Zwölfprophetenbuch. Die Völker haben demnach ihr Schicksal selbst in der Hand, welches sich an ihrem Verhalten dem Zion und damit JHWH gegenüber entscheidet. Möglicher geschichtlicher Hintergrund dieser Konzeption dürfte bereits die beginnende hellenistische Zeit sein. Durch das Auftretens einer königlichen Gestalt und dem anschließenden Reinigungsgeschehen an Israel in Mi 5,1–3.4a.5b.9a-13 werden die Ereignisse in Sach 9,9f. präfiguriert. In ähnlicher Weise wird auch in Mi 4/5 insgesamt das in Sach 14 beschriebene endzeitliche Geschehen vorweggenommen, welches zu einer Scheidung innerhalb der Völkerwelt führt. 2

ZAPFF, Studien, 123.

Synthese zu Mi 5

189

Das Gesamtthema von Mi 5 ist demnach (in Zusammenhang mit Mi 4) die Erneuerung Israels durch die Herrschaft seines endzeitlichen Königs. Dieser wird anschließend in den Vv. 6f. mit dem Rest Jakobs selbst identifiziert, der inmitten der Völker zu deren Wohl wie zu deren Vernichtung wirkt. Im Rahmen des heutigen Dodekapropheton gelesen, spiegelt Mi 4/5 zugleich die zwischen Jona und Nahum bestehende Alternative des künftigen Geschicks Ninives, als eine Art Paradigma der Völkerwelt, in ihrer je unterschiedlichen Haltung zu Israel und JHWH wider.3 Aufgrund der Beziehungen zwischen einzelnen Texten in Mi 4 und 5 lässt sich mit Renaud etwa folgende konzentrische Struktur der beiden Kapitel vertreten, die auf einen bewussten Kompositionswillen auf der Endtextebene verweist, jedoch ihren Ausgangspunkt möglicherweise bereits auf früheren redaktionellen Ebenen hat: A: Mi 4,1–4; B: Mi 4,6f.; C: Mi 4,8–14; C‘: Mi 5,1–5; B‘: Mi 5,6f.; A‘: Mi 5,9-14.4

3 4

ZAPFF, Studien, 273–276. RENAUD, Michée, 276–282; die von METZNER, Micha, 81f., monierte angeblich fehlende Entsprechung zwischen Mi 4,1–4 und Mi 5,8–14, erklärt sich vor dem Hintergrund von Jes 2,2–4 und Jes 2,6–8.

Mi 6,1–8: Die Erwartungen JHWHs an sein Volk 6,1 Hört doch dasa, was JHWH sprichtb. Erhebe einen Streit mitc den Bergen, und die Hügel sollen deine Stimme hören. 2 Hört ihr Bergea den Streit JHWHs und die Beständigenb, die Fundamente der Erde. Denn ein Streit JHWHs mit seinem Volk ist es, und mit Israel setzt er sich auseinanderc. 3 „Mein Volk, was habe ich dir getana und (mit) was habe ich dich ermüdet? Antworte mir! 4 Fürwahr! Ich habe dich hinaufgehen lassen vom Land Ägypten und vom Sklavenhaus habe ich dich ausgelöst. Und ich habe vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. 5 Mein Volk, bedenke doch, was Balak, der König von Moab, plante, und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete von Schittima bis Gilgal, damit du die Heilstatenb JHWHs erkennstc.“ 6 „Mit was soll ich hintretena vor JHWH, mich beugenb zum Gott der Höhe? Soll ich (etwa) vor ihn hintreten mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern? 7 Wird JHWH etwa Gefallen haben an Tausenden Widdern an Zehntausenden Flüssen von Öl? Soll ich geben meinen Erstgeborenen für mein Verbrechena die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Personb?“ 8 „Man verkündetea dir Mensch, was gut ist und was JHWH von dir sucht: nichts anderes als Recht zu tun und Treue zu lieben und achtsam zu gehenb mit deinem Gottc.“

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1a G ergänzt nach der nota obiecti ‫ את‬ein ‫ דבר יהוה‬und übersetzt: „(Hört doch) das Wort des Herrn“ λόγον κυρίου. 1b ‫ר‬ ‫ה‬‫ה‬ versteht G als eigenständigen Satz und Einleitung des Folgenden und vokalisiert ein Perfekt: „der Herr sprach“ κύριος εἶπεν. 1c Umstritten ist die Übersetzung der Präposition ‫את‬. Sie kann entweder als „mit“ übersetzt werden, also „erhebe einen Streit mit den Bergen“ (vgl. S:  ) oder im lokalen

Mi 6,1–8

2a 2b 2c 3a

5a 5b 5c 6a 6b 7a 7b

8a

8b

8c

1

2 3 4 5

191

Sinn (z. B. Gen 20,16; Jes 30,8) „erhebe einen Streit bei den Bergen“.1 G scheint eher erstere Bedeutung vorauszusetzen, wenn sie mit πρὸς τὰ ὄρη „zu“/ „gegen die Berge“ übersetzt (vgl. V: adversum montes). „Ihr Berge“ übersetzt Codex Vaticanus mit λαοί „Völker“ und stellt damit einen Zusammenhang mit Mi 1,2 und 5,14 sowie Mi 7,162 her. Anstelle von ‫ים‬ „und die Beständigen“ setzt BHS ein ursprüngliches ‫ינוּ‬ „und hört hin“ voraus.3 G übersetzt mit „ihr Abgründe“ αἱ φάραγγες (vgl. S). Das reflexive hitp. „setzt er sich auseinander“ versteht G passivisch „wird erforscht werden“ διελεγχθήσεται, i.S. einer Untersuchung, wobei diese durchaus den Aspekt der Zurechtweisung haben kann (vgl. S). G ergänzt nach V. 3aα „oder womit habe ich dich betrübt“ ἢ τί ἐλύπησά σε,4 wobei sie die drei Möglichkeiten als Alternativen („oder“) einander gegenüberstellt. Dabei scheint die Reihe auf eine Steigerung hinauszulaufen: „tun“ – „betrüben“ – „Schwierigkeiten bereiten“. „Schittim“ übersetzt G mit ἀπὸ τῶν σχοίνων „von den Binsen“. Utzschneider vermutet darin eine Anspielung auf Joël 3,18, wo vom Binsental als Zielort der lebensspendenden Tempelquelle gesprochen wird.5 Anstelle des Plurals „Heilstaten“ übersetzt G singularisch mit „die Gerechtigkeit“ ἡ δικαιοσύνη (vgl. S). Anstelle von ‫ת‬‫„ ַדּ‬du erkennst“ übersetzt G passivisch „(damit) erkannt wird“ γνωσθῇ. G übersetzt „hintreten“ mit „fassen“ καταλάβω („den Herrn fassen“) und „beugen“ mit „sich anklammern“ ἀντιλήμψομαι („mich an meinen Gott, den Höchsten anklammern“). V. 6b gibt G dementsprechend mit: „Soll ich ihn fassen mit…?“ wieder. „Mein Verbrechen“ übersetzt G mit „Gottlosigkeit“ ἀσεβείας, lässt also das Suffix unübersetzt. Wörtl. „meiner Seele“; V. 7b übersetzt S: „wenn ich meinen Erstgeborenen gäbe, wäre es Schuld für mich, und (wenn ich) die Früchte meines Leibes (gäbe), wären sie Sünde meiner Seele“, interpretiert den Vers also im Sinne des Verbotes von Kinderopfern (vgl. Dtn 18,10). Das hi. von ‫„( נגד‬er verkündete“) in V. 8aα gibt G als passivum wieder und interpretiert V. 8a als Fragesatz: „Ist dir nicht verkündet worden…?“ εἰ ἀνηγγέλη σοι; V und S übersetzen mit 1. Pers. sing., sodass der Prophet spricht: „ich werde verkündigen“ bzw. „ich verkündete dir“. Die Semantik des Inf. abs. im Kausativstamm  ist umstritten, da auch die Etymologie nicht klar ist. Entsprechend HAL werden folgende Bedeutungen angesetzt: a) „rein sein“, b) „behutsam, sorgfältig“, „einsichtig, bedachtsam“; „achtsam“, wobei HAL eine Bedeutung im Sinne von b) präferiert. G übersetzt mit ἕτοιμον εἶναι „bereit zu sein (mit dem Herrn, deinem Gott zu gehen)“ (vgl. S.); V: „ängstlich besorgt“, i.S. von sorgfältig (sollicitus); T „demütig“/„fromm“ (‫)צניע‬. In V. 8bγ ergänzt G vor „deinem Gott“ ein (mit) „dem Herrn“ μετὰ κυρίου, hat hier also wohl den Gottesnamen gelesen (vgl. S). S interpretiert die Präposition „mit“ im Sinne einer Nachfolge „hinter (deinem Gott zu gehen)“  . So neuerdings auch wieder WALTKE, Micah, 345, mit der Begründung, dass die Formulierung „einen Streit gegen jemanden erheben“, gewöhnlich nur im Zusammenhang mit Personen verwendet wird; allerdings werden die Berge häufig als Metapher für eine personale Größe, z. B. die Völker, gesehen. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2375. Vgl. BHS; WOLFF, Micha, 137. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2375, weist daraufhin, dass auch in Mi 4,10 und 5,3 „ein hebr. Verbum […] durch zwei griech. wiedergegeben“ wird. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2376.

192

Mi 6,1–8

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Ein mit Nachdruck versehener Höraufruf „Höre doch!“ ‫א‬‫עוּ־‬ eröffnet in Mi 6,1 einen neuen Abschnitt. Dabei greift ‫א‬‫עוּ־‬ – nun positiv gewendet – das Stichwort auf, mit dem Mi 5,14 endet, insofern dort von Völkern gesprochen wird, die nicht hörten (‫עוּ‬ ‫א‬ ‫ר‬). Gleichzeitig bezieht sich der Höraufruf durch seine nachdrückliche Form auf Mi 3,1 und 9. Dort werden allerdings die Adressaten des Höraufrufes identifiziert: Es sind die Häupter und Ältesten Jakobs. Demgegenüber weitet sich hier der Adressatenkreis und soll dabei über die schriftinternen Adressaten hinaus möglicherweise auch die Leser der Michaschrift mit einzubeziehen. Wenn in V. 1b von „Bergen“ die Rede ist, die nun offensichtlich als Streitgegner JHWHs fungieren,6 so wird damit ein Stichwort aus Mi 1,4 aufgenommen, wo ebenfalls zunächst die Berge von einem Handeln JHWHs betroffen sind. Ähnlich wie dort, so mündet das Geschehen auch hier in eine Auseinandersetzung JHWHs mit seinem Volk (vgl. Mi 6,2a und Mi 1,5–7). Dabei treten die Berge zurück und werden, indem sie zum Hören aufgerufen werden, lediglich zu Zeugen des Streites JHWHs (V. 2a). Damit aber wird ein Motiv aufgenommen, das sich in ähnlicher Weise in Jes 1,2 findet, wo Größen der Schöpfung (dort: „Himmel“ und „Erde“) zu Zeugen der Auseinandersetzung JHWHs mit seinem Volk werden. Die Rede vom „Streit JHWHs“ ‫ה‬‫ה‬ ‫יב‬ bzw. ‫ה‬‫יה‬ ‫יב‬ mit seinem Volk weist auf (Rechts)streit JHWHs Hos 4,1 zurück, wo von einem „Streit JHWHs“ ‫ה‬‫יה‬ ‫יב‬ mit den „Bewohnern des Landes“ die Rede ist. Demnach bezeugt auch Micha diesen Rechtsstreit, weitet ihn nun aber auf ganz Israel aus, insofern dieses nicht mit den Bewohnern des Nordreiches gleichgesetzt wird, sondern aufgrund der Parallelstellung von „mein Volk“ und „Israel“ in V. 3a offensichtlich das gesamte Gottesvolk umfasst. Der im Rahmen der Auseinandersetzung von JHWH angeführte Rückverweis auf sein Heilshandeln an Israel durch die Hinaufführung aus Ägypten in V. 4aα nimmt eine fast wörtliche Formulierung aus Am 2,10a; 3,1b; 9,7b auf, die dort ebenfalls mit einem, diesem Heilshandeln JHWHs nicht angemessenen Verhalten Israels konfrontiert wird. Micha macht sich so, zumindest auf synchroner Ebene gelesen, die Worte Hoseas und Amos zu eigen. Dies gilt nicht zuletzt für die Frage nach der Angemessenheit eines Opfers für JHWH, die Mi 6,6–8 behandelt. So wird auch in Am 5,22 die Darbringung von Brandopfern ‫לוֹת‬ als etwas charakterisiert, woran JHWH kein Gefallen hat: ‫א‬ ‫ה‬. Ähnlich werden in Am 4,4 verschiedene Opferarten genannt, die zwar Israel liebt, die das Gerichtshandeln JHWHs jedoch nicht abwenden können. Vergleichbares findet sich schließlich auch in Jes 1,11, wo überdies verschiedene Opfer bzw. Opfertiere genannt werden, die auch in Mi 6,6b.7 eine Rolle spielen. Vor dem Hintergrund der Verkündigung beider Propheten, insbesondere der des Amos, müsste der Fragesteller in Vv. 6f. eigentlich bereits die negative Antwort wissen. Dies wiederum scheinen die in rhetorischer Form formulierten Fragen zum Ausdruck bringen zu wollen (beachte die Fragepartikel ‫ ה‬i.S. von „etwa“).7 Die Stichworte „meine Sünde“ ‫י‬ und „Schuld (meiner Person)“ (‫י‬) ‫את‬ in V. 7 weisen auf Mi 3,8 zurück. Die 6 7

Zur Problematik der Übersetzung der Präposition ‫ את‬siehe die Textanmerkung zu V. 1. G/K § 150d.

Synchrone Analyse

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dortige Verkündigung des Propheten an Jakob und Israel greift damit der Sprecher auf und erklärt sie für berechtigt. Wenn V. 8 davon spricht, dass „man“8 bereits verkündigt hat, was gut ist und was JHWH erwartet, so tritt dies in Kontrast zum Handeln der Oberschicht in Mi 3,2a, von denen der Prophet sagt, dass sie das Gute hassen und das Böse lieben. Zugleich aber bezieht sich dieser Vers auf Am 5,14f. Dort fordert der Prophet auf, das Gute und nicht das Böse zu suchen. Mi 6,8 greift – synchron gelesen – also zwei Stichworte aus Mi 3,2a („Gutes“ ‫ טוב‬/ „lieben“ ‫)אהב‬ und zwei aus Am 5,14 („Gutes“ ‫ טוב‬/ „suchen“ ‫ )דרש‬auf. In Umkehrung dessen, was die Oberschicht tut, und in Entsprechung dessen, was Israel eigentlich aufgetragen ist, beschreibt Mi 6,8, was JHWH „sucht“, nämlich das „Gute“ und die Treue zu „lieben“. „Recht“ ‫ משׁפט‬wiederum ist ein zentraler Begriff in der Verkündigung Michas, insofern Mi 3,1 es als Aufgabe der Häupter Israels betrachtet, das Recht zu kennen, diese es aber entsprechend Mi 3,9 verabscheuen. Zudem wird mit „Recht“ ein Begriff aufgegriffen, der auch in der Verkündigung des Amos eine wichtige Rolle spielt (vgl. Am 5,7.15.24). „Treue“ ‫ חסד‬hingegen ist ein Begriff der Prophetie des Hosea, der dort ebenfalls in Alternative zur Opferpraxis erscheint (Hos 4,1; 6,6). In Hos 12,7 mündet zudem – ähnlich wie in Mi 6,8 – das Bewahren von „Treue“ und „Recht“ in eine positive Haltung („hoffe“) gegenüber „deinem Gott“ ‫י‬. D. h. vor dem Hintergrund dieser Korrespondenzen zur hoseanischen und amosischen Prophetie wird Micha hinsichtlich seiner Verkündigung wiederum eng mit der Verkündigung Hoseas und Amos’ verbunden. Dabei zeigt die allem Anschein nach an eine größere Adressatenschaft gerichtete Anrede in Mi 6,1 und Mi 6,8 („Mensch“!), dass Mi 6,1–8 über die Mahnung des Propheten bezüglich einer konkreten Größe „Häupter des Volkes“ bzw. „Israel“ hinaus eine allgemeingültige und universale Aussage treffen will. In diese Richtung weist auch Mi 6,8bγ. So erinnert „achtsam gehen mit deinem Gott“ an den Wunsch der Völker in Mi 4,2c, auf den Wegen JHWHs gehen zu wollen (‫יו‬ ‫ה‬). Jene dort von den Völkern ersehnte Weisung JHWHs wird nun eingelöst, wobei das Forum tatsächlich universal ist. Damit aber wird zugleich die Aussage in Mi 4,5 weitergeführt, wo noch jeder „im Namen seines Gottes“ (‫יו‬ ‫ם‬) und nur Israel im Namen JHWHs geht.9 Synchron gelesen bündelt Mi 6,1–8 zentrale Aussagen der Prophetie des Hosea, Amos und Micha10 und stellt damit Micha in einen Zusammenhang mit den vorausgehenden prophetischen Schriften: Micha ist auch in inhaltlicher Hinsicht entsprechend Mi 1,1 (s. o.) Zeitgenosse des Hosea und Nachfolger des Amos. Was ebenfalls bereits mehrfach beobachtet wurde, ist die Tatsache, dass Mi 6,1–8 verschiedene inhaltliche und sprachliche Anklänge zu den Abschlussreden im Deuteronomistischen Geschichtswerk aufweist. Hier ist vor allem 1 Sam 1211 8 9 10

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Bündelung zentraler Aussagen aus Hosea, Amos und Micha Anklänge an Abschlussreden im deuteronomistischen GeschichtsZur Übersetzung s. o. Vgl. SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 197: „Finally, I stress the association of ‘walking’ with werk God in Mic 6:8 and walking with God in peace in 4:5.“ So bereits SCHART, Entstehung, 197: „Es zeigt sich, daß die Formulierungen in Mi 6,8 wichtige Zentralbegriffe nicht nur aus Mi, sondern auch aus Am und Hos aufnehmen, um so etwas wie eine Summe prophetischer Sicht dessen, was Jahwes Wille ist, zu formulieren“; JEREMIAS, Micha, 199. Auf diese Beziehung weist bereits VERMEYLEN, Isaїe, 597, hin; jüngst wieder JOOSTEN, Farewell, der bei seiner Fokussierung auf 1 Sam 12 jedoch den zugleich bestehenden Bezug zu Jos 24 nicht beachtet.

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Mi 6,1–8

(V. 3 „antwortet mir“ ‫י‬ ‫נוּ‬, vgl. Mi 6,3; V. 6 „er führte eure Väter aus dem Land Ägypten hinauf“, ‫ם‬ ‫ץ‬ ‫ם‬‫י‬‫ת־‬ ‫ה‬, vgl. Mi 6,4; V. 7 „alle Heilstaten JHWHs“ ‫ה‬‫ה‬ ‫קוֹת‬‫ל־‬ ‫ת‬, vgl. Mi 6,5b; V. 8 „und er sandte Mose und Aaron“ ‫ח‬ ‫ן‬‫ֲה‬‫ת־‬ ‫ה‬‫ת־‬ ‫ה‬‫ה‬, vgl. Mi 6,4b), aber auch Jos 24 (V. 5 „und ich sandte (!) den Mose und den Aaron ‫ן‬‫ֲה‬‫ת־‬ ‫ ֤ה‬‫ת־‬ ‫ח‬, vgl. Mi 6,4b; Anspielung auf die Balak-/Bileamepisode in Vv. 9f., vgl. Mi 6,5a) zu nennen.12 Die Intention dieser Rückbezüge scheint darin zu bestehen, JHWH in der Gestalt Samuels darzustellen,13 aber nicht um damit das definitive Ende der Beziehung des Nordreiches Israels aufzuzeigen,14 sondern um eine Parallele zu den Mahnungen zu schaffen, die Samuel an das Gottesvolk am Ende seiner Wirksamkeit richtet. Damit aber geht es auch hier um das letzte Wort JHWHs an sein Volk. Auffällig ist in der Rede des Samuel die Verbindung seiner Ermahnungen mit dem Königtum (vgl. 1 Sam 12,12.13.14), an deren Ende die Möglichkeit des Untergangs Israels zusammen mit seinen Königen steht (1 Sam 12,25). Darauf wiederum scheint Mi 6,16 mit der Erwähnung der beiden schlimmsten Nordreichskönige Omri und Ahab Bezug zu nehmen, an denen sich Jerusalem/Juda orientierte, was seinen Untergang herbeiführt.

Textinterne Aussagegestalt Mi 6,1–8 setzt ein mit zwei Höraufrufen. Der erste in V. 1a wendet sich an eine nicht näher bestimmte Adressatenschaft und fordert ein zunächst unbekanntes Gegenüber dazu auf, einen Streit zu erheben, der sich gegen die Berge richtet. Der zweite Höraufruf in V. 2a dagegen richtet sich direkt an die Berge und die Grundfesten der Erde. Im Folgesatz V. 2b werden Subjekt („JHWH“) und Objekt („Israel“) des Streites ausdrücklich benannt. Der innere Duktus beider Verse verläuft demnach vom zunächst Unbestimmten zum Konkreten. Formal meinen viele Exegeten – vor allem in V. 2 – ein sogenanntes „rib-pattern“ zu finden,15 mit dem im Alten Testament mehrfach eine rechtliche Auseinandersetzung JHWHs mit seinem Volk vor Zeugen beschrieben wird. Elemente dieses „pattern“ seien folgende fünf Elemente: 1. Aufruf an kosmische Größen; 2. Fragen; 3. Aufzählung der Gunsterweise; 4. Ablehnung ritueller Gegenleistungen; 5. Positive Forderung, die an die Bundesverpflichtung erinnert. Dabei sei der Sitz im Leben der Kult gewesen. Allerdings geben Vertreter dieser These zu, dass die Durchführung dieses „rib-pattern“ sehr unterschiedlich ist, sodass sich die Frage stellt, ob man hier wirklich von einer festen Form sprechen kann.16 V. 2 ist durch „sein Volk“ mit V. 3a „mein Volk“ verknüpft. Dadurch wiederum wird klar, dass V. 2 Prophetenrede, V. 3 hingegen JHWH-Rede ist. Die Vv. 3–5 gliedern sich durch die Anrede „mein Volk“ in zwei Teile: Vv. 3f. und V. 5. Dabei 12 JEREMIAS, Micha, 199. 13 JOOSTEN, Farewell, 456: „The author of Mic 6, however, appears to do the reverse, presenting YHWH in the image of Samuel.“ 14 JOOSTEN, Farewell, 456. 15 VERMEYLEN, Isaїe, 597; neuerdings wieder SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 189f., der hier allerdings eine Modifikation des pattern sieht: „Micah calls his piece a disputation, but the argument turns into an appeal for reconciliation“. 16 Zur Kritik vgl. ECK, Jes 1, 93–118.

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bestehen die Vv. 3f. aus einer Frage (V. 3) mit einem durch eine Interjektion („fürwahr“) betont hervorgehobenen Rückblick auf das Heilshandeln JHWHs in der Geschichte Israels (V. 4), der sich in drei Teile gliedert, die jeweils durch „und“ ‫ו‬ miteinander verknüpft sind. Hierbei beziehen sich die ersten beiden auf dasselbe Geschehen („Auszug“), während das dritte die anschließende Wanderung durch die Wüste in den Blick nimmt. JHWH ist dabei direktes Agens („ich habe herausgeführt“ usw.). V. 5 knüpft durch die ebenfalls zweimalige Verwendung des Fragepronomens „was“ ‫ מה‬und durch die Anrede „mein Volk“ ‫ עמי‬an V. 3 an. Der Aufbau des zweiten geschichtlichen Rückblicks ist ebenfalls dreigliedrig. Auch hier beziehen sich die ersten beiden Glieder auf dasselbe Geschehen (Konfrontation mit dem Moabiterkönig Balak), während das dritte die anschließende Wanderung in den Blick nimmt. Im Unterschied zu V. 4 ist hier allerdings von einem direkten Wirken JHWHs nicht die Rede. Nur wer die biblische Erzählung kennt, kann den Rückbezug verstehen. V. 5bβ schließlich bringt in einer Art Zusammenfassung den Zweck der zuvor beschriebenen Episoden ins Wort: Beides sind Heilstaten JHWHs. Somit zeigt sich, dass sich JHWH sowohl in seinem direkten wie indirekten Wirken erschließt. Vv. 6–8 bilden den zweiten Abschnitt. Insofern hier nun nicht mehr JHWH, sondern eine andere Person spricht, scheint sie die in V. 3b geforderte Antwort zu geben. Allerdings fällt diese völlig anders aus als erwartet. Die hier redende einzelne Gestalt, in der der Prophet stellvertretend oder im Namen von anderen spricht, kann dabei sowohl individuell wie kollektiv verstanden werden. Allerdings legt die Formulierung „Schuld meiner Person“ eher ein individuelles Verständnis nahe. Durch das Fragepronomen „womit“ ‫ במה‬wird wiederum der Rückbezug zum Vorhergehenden hergestellt. V. 6a ist dabei eine grundsätzliche Frage, die Vv. 6b.7a.b durch drei Fragen zu beantworten suchen. Eindeutig als rhetorische Fragen gekennzeichnet, die ihre implizierte (negative) Antwort bereits in sich tragen, gehen sie von vornherein in die Irre und bieten keine Lösung der grundsätzlichen Frage in V. 6a. Inhaltlich ist dabei eine Steigerung der Opfer bis zur höchstmöglichen Opferform, nämlich der Hingabe der eigenen Kinder, zu erkennen. V. 7b verdeutlicht dabei, wozu diese Opfer dienen, und zeigt, dass es sich hierbei nicht um einen normalen Opferkult handelt, sondern um die grundsätzliche Bereinigung des Verhältnisses zu Gott. Auch in V. 8 spricht der Prophet, verlässt nun jedoch die Rolle des Fragenden und schlüpft in die Rolle eines am Heiligtum amtenden Priesters, der dem Opfernden Hinweise auf die JHWH-gefällige Darbringung des Opfers gibt. Entsprechend der unbestimmten Anrede in V. 1 weitet die Anrede „Mensch“ die Adressatenschaft zum einen auf jeden möglichen Menschen aus,17 zum anderen tritt gleichzeitig der einzelne Mensch als Angesprochener in den Fokus. Dies wiederum nimmt auf die sehr individuelle Formulierung „Schuld meiner Person“ in V. 7b Bezug. Die Aufforderung „demütig“/„achtsam“18 mit deinem Gott zu gehen, wäre dabei die entsprechende Antwort auf den in Vv. 4–5 entfalteten heilsgeschichtlichen Rückblick, der ja nichts anderes als ein Mitgehen Gottes mit seinem Volk beschreibt. 17 Vgl. PRIOTTO, Culto autentico, 24: „L’orizzonte tuttavia è più ampio, come già indicava il contesto di 5,14; infatti al termnine Dio interpellerà semplicemente l’uomo (v. 8), conferendo così alle proprie parole una portata universale.“ Vgl. auch ZAPFF, Micha 6,1–8. 18 Zur Übersetzung, siehe Textanmerkung zu V. 8.

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Mi 6,1–8

Einzelauslegung Vv. 1f.: Aufruf Die Ergänzung von G „(Hört) das Wort des Herrn“ dient wohl einer Verstärkung zum Streit mit des Zusammenhanges mit Hos 4,1, wo es ebenfalls um einen Streit JHWHs geht JHWH (siehe V. 2b), um so Mi 6,1 noch stärker als dessen Fortsetzung zu verstehen. Dies

zeigt, dass G übergreifende Beziehungen herstellt und bereits in ihrer Übersetzung exegetisch tätig ist. In V. 1b stellt sich die Frage nach dem Sprecher. Entsprechend der Einleitung in V. 1a könnte es sich dabei um JHWH handeln, der den Propheten auffordert, in seinem Namen den Streit anzukündigen. Es könnte sich aber hier auch um den Propheten handeln, der JHWH auffordert, einen Streit zu erheben.19 In diesem Fall würde die angekündigte JHWH-Rede erst mit V. 3 einsetzen. Diese Lösung scheint eher der Struktur von Vv. 1f. zu entsprechen, die eine Struktur von Vv. 1f. formale und inhaltliche Konkretisierung erkennen lässt, und zwar sowohl hinsichtlich derer, an die der Höraufruf gerichtet ist: Höraufruf allgemein (V. 1a) – Höraufruf an Berge/Hügel/Fundamente der Erde (V. 2a), als auch hinsichtlich der Art des Streites: Streit (V. 1b) – Streit JHWHs (V. 2b) und schließlich bezüglich der Adressaten: Streit mit den Bergen (V. 1bα) – Streit mit Israel (V. 2bα). V. 1 „Streit“ ‫ ריב‬bezeichnet von der Semantik her lediglich eine Auseinandersetzung, ohne daraus nähere Angaben auf die Umstände ableiten zu können. Sind zunächst Berge die Streitgegner JHWHs, dann findet sich hier ein ähnlicher Duktus wie in Mi 1,4, wo vom Kommen JHWHs ebenfalls zunächst die Berge insgesamt und dann die Höhen Judas, insbesondere Jerusalem, betroffen sind. Eine metaphorische Deutung erweist sich vor diesem Hintergrund als unnötig.20 Der Streit JHWHs mit seinem Volk wird damit in einen universalen Kontext gestellt, da er, wie sich in V. 8 zeigen wird, universale Bedeutung hat (vgl. dazu auch Mi 4/5). Die zweite mögliche, aber aufgrund der aufgewiesenen Struktur eher unwahrscheinliche Übersetzung im lokalen Sinn „bei den Bergen“, macht bereits in V. 1bα die Berge zu Zeugen des Streites JHWHs mit seinem Volk (vgl. V. 2b). Spätestens in V. 1bβ ist dies hinsichtlich der Hügel der Fall, die lediglich zum Hören aufgefordert werden. Zeugen sind nach Waltke in derselben Weise zu verstehen, wie ein Gedenkstein als Zeuge des Bundes zwischen Völkern dient (vgl. Gen 31,43–50).21 Durch das Lexem ‫„ ריב‬Streit“ wird ein Begriff aus Hos 4,1 aufgegriffen, der dort in einem ähnlichen Zusammenhang – Rechtsstreit JHWHs mit seinem Volk – erscheint. Größen der Schöpfung als Zeugen einer Rede finden sich z. B. auch in Jes 1,2, wo allerdings der Prophet Himmel und Erde zum Hören auffordert. „Berge“ und „Hügel“ dürften nicht zuletzt deshalb gewählt worden sein, weil sie als Orte der fehlgeleiteten Kulte dienten, vgl. Hos 4,13, und damit sowohl Objekt des Gerichtes JHWHs wie Kronzeugen des Abfalls Israels sind. Die Rückbezüge auf die Prophetie Hoseas zeigen, dass sich der dortige Rechtsstreit JHWHs mit Israel bis in die Michaschrift hinein verlängert und vom Fehlverhalten Israels die Grundfesten der Schöpfung (Berge und Hügel) betroffen sind. 19 Diese Lösung vertritt KESSLER, Micha, 261f.; UTZSCHNEIDER, Micha, 130, mit Verweis auf Ps 3,8; 7,7; 9,20; 10,12. 20 Eine solche Lösung vertritt z. B. WRIGHT, Lawsuit, 48: „Must we not interpret such passages in the light of the Divine Assembly, the members of which constitute this host of heaven and of earth?“; WÖHRLE, Sammlungen, 17, möchte jüngst wieder in den Bergen die Völker sehen, von denen in Mi 5,14 die Rede war. 21 Vgl. WALTKE, Micah, 376.

Synchrone Analyse

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Wie V. 1b, so ist auch V. 2 Prophetenrede, welche nun die Berge zum Hören aufruft. Sind in V. 1b „Berge“ Kontrahenten im Streit und die Hügel Zeugen, so führt V. 2a letzteres fort. Hier nun werden die „Berge“ und die „Fundamente der Erde“ ausdrücklich zu Adressaten des Höraufrufes und wandeln sich damit zu Zeugen des Streites. Letzterer wiederum wird durch die Genitivkonstruktion ausdrücklich als Streit JHWHs identifiziert. V. 2b benennt nach den Bergen in V. 1bα als zweites Gegenüber des Streites JHWHs sein Volk. „Berge“ und „Fundamente der Erde“ sind die stabilsten Gegebenheiten der Schöpfung und stehen „als die oberen und unteren Grenzgrößen“22 des Kosmos für den Bestand der Welt und ihre Ordnung. Darauf weist die vor den „Fundamenten der Erde“ stehende Erläuterung „die Beständigen“ in besonderer Weise hin. Insofern sind beide Größen besonders geeignet, um das durch die Schuld Israels in Unordnung geratene Verhältnis JHWHs zu seinem Volk objektiv zu bezeugen. Die Formulierung „denn ein Streit JHWHs mit (seinem Volk)“ findet sich wörtlich in Hos 4,1, wo es um eine Auseinandersetzung JHWHs mit den Bewohnern des Nordreiches Israels geht, die im Vordersatz als „Söhne Israels“ bezeichnet werden. Offensichtlich geht es nun darum, diese Auseinandersetzung unter neuem Vorzeichen nochmals aufzugreifen.23 ‫„ יכח‬auseinandersetzen“ (hier im hitp.) impliziert im hi. auch die Vorstellung einer strafenden Zurechtweisung. Es geht hier also nicht einfach um einen Streit zweier auf gleicher Ebene stehender Kontrahenten. G unterstreicht dabei vor allem den Aspekt der mit einer Zurechtweisung verbundenen Untersuchung des Verhaltens Israels. In V. 3 ergreift nun ausdrücklich JHWH das Wort und richtet es direkt an Israel. Die Pronomen „was“ kennzeichnen den Vers als zwei Fragen, die durch die beiden suffigierten Formen „mein Volk“ ‫י‬ und „mir“ ‫י‬ gerahmt sind. Die Bezeichnung „mein Volk“, die bei Micha sowohl in prophetischer Rede (vgl. Mi 1,9) wie in JHWHRede vorkommt,24 beschreibt hier die enge Beziehung zwischen JHWH und seinem Volk, die charakteristisch für das Selbstverständnis Israels geworden ist (vgl. etwa die zweiseitige Bundesformel in Dtn 26,18).25 „Was habe ich dir getan?“ beinhaltet den Vorwurf eines Unschuldigen gegenüber einer unrechtmäßigen Behandlung (vgl. Num 22,28; 1 Sam 20,1) und erwartet eine Rechtfertigung.26 Die zweite Frage beinhaltet den Vorwurf eines möglicherweise ermüdenden Handelns Gottes (vgl. die Assonanz zwischen hælʼētikā „ich habe dich ermüdet“ und hæʽælitikā „ich habe dich heraufgeführt“ in V. 4aα),27 das den Charakter einer Belästigung bekommt, wie sie bisweilen unter Menschen vorkommt (vgl. Jes 7,13). Die theoretische Möglichkeit einer solchen „Ermüdung“ des Menschen durch Gott schildert Jes 43,22–24, wo es um aufwendige kultische Handlungen geht28 (dort allerdings wird nicht ‫לאה‬, sondern das sinnverwandte ‫ יגע‬verwendet; vgl. jedoch Jes 16,12). So scheint bereits hier anzuklingen, was dann die Vv. 6f. entfalten, nämlich die Ablehnung aufwendiger Opferhandlungen durch Gott.29 Möglicherweise steckt dahinter 22 23 24 25 26 27 28 29

WOLFF, Micha, 147. Vgl. SCHART, Entstehung, 191. KESSLER, Micha, 260. Vgl. MAYS, Micah, 133. UTZSCHNEIDEr, Micha, 132. Vgl. KESSLER, Micha, 264; WALTKE, Micah, 378. Vgl. JEREMIAS, Micha, 200f. So bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 133.

V. 2

Vv. 3–5: Das Heilshandeln JHWHs an seinem Volk

198

Mi 6,1–8

auch eine Stück Ironie, was dann in den folgenden Versen entfaltet wird: Sind die Heilstaten an Israel ein ermüdendes Geschäft, oder ist es nicht vielmehr Israel, das JHWH durch seine Sünden ermüdet (vgl. V. 7; Jes 1,14; 7,13; 43,24f.)? JHWHs Aufforderung „Antworte mir!“ auch im Sinne von „Rede gegen mich!“ (vgl. 2 Sam 1,16), beinhaltet die Erwartung einer Gegenrede und lässt dabei die Situation des Streites erkennen, die letztendlich der Rechtfertigung des Fragenden dient (vgl. 1 Sam 12,3). Erkennbar wird dabei allerdings nicht, was Israel eigentlich vorgeworfen wird. Allem Anschein nach geht es dabei offensichtlich um ein den im Folgenden geschilderten Taten JHWHs nicht angemessenes Verhalten. Durch das einleitende ‫כי‬, das als Begründungspartikel „denn“ (so G) oder als V. 4 Exodusremi- Interjektion aufgefasst werden kann („fürwahr“), schließt V. 4 an den Vordersatz niszenz an. In beiden Fällen ist der Vers ironisch aufzufassen, insofern auf den zuvor erwähnten indirekten Vorwurf Israels, JHWH hätte es „ermüdet“, nun die Begründung oder die durch einen Ausruf verstärkte Aussage folgt. Diese besteht darin, dass offenbar das Befreiungsgeschehen, welches Israel der harten, und damit ermüdenden Arbeit in Ägypten („‫ה‬ bezeichnet die Mühsale, die Israel in Ägypten […] erfuhr [Ex 18,8 …]“)30 entrissen hat, für Israel ermüdend war. Die Aussage besteht im Einzelnen aus drei Verbalsätzen. Dabei bilden die ersten beiden einen synthetischen Parallelismus membrorum, bei dem die beiden Verben „hinaufführen“ und „befreien“ und die beiden Ortsangaben „aus dem Land Ägypten“ und „dem Sklavenhaus“ miteinander korrelieren. Davon unabhängig ist V. 4b, der offensichtlich die anschließende Wüstenwanderung im Blick hat. Die Formulierung in V. 4aα entspricht fast wörtlich Am 2,10; 3,1 und 9,7.31 Dies ist umso auffälliger, da der Exodus normalerweise mit dem Kausativstamm der Wurzel „herausführen“ ‫יצא‬ und nicht mit dem hi. von ‫„ עלה‬hinaufführen“ beschrieben wird. Außerdem stehen alle drei Textstellen, ähnlich wie V. 4, in Kontexten einer Auseinandersetzung JHWHs mit Israel bzw. Anklagen gegen Israel, bei denen JHWH auf seine Heilstaten zugunsten Israels verweist. Dies deutet auf eine literarische Abhängigkeit. Insgesamt handelt es sich bei der Rede von der Heraufführung bzw. Herausführung aus dem Land Ägypten um formelhafte Sprache, die zwar auch in dtn./dtr. Literatur erscheint,32 aber nicht ausschließlich. In jedem Fall geschieht hier ein Rückgriff auf das zentrale Bekenntnis Israels zu seinem Gott, welches an der Wurzel des Gottesvolkes steht. Dieses Geschehen möglicherweise als Belästigung zu empfinden, wie es tatsächlich in einigen Episoden der Wüstenwanderung geschieht (vgl. z. B. Ex 16,2f.; Num 11,4f.; 14,1–4), würde Israel seine Identität rauben. „Hinaufführen“ entspricht den topographischen Verhältnissen, insofern man von Ägypten via Küstenebene nach Jerusalem und ins judäische Gebirge „hinaufsteigt“. Im Unterschied zur „Herausführung“ steht hier jedoch auch das Ziel, nämlich der Einzug ins Verheißungsland im Hintergrund.33 Auch V. 4aβ verwendet geprägte Sprache. So findet sich die Rede vom „Sklavenhaus“ als Charakterisierung Ägyptens vor allem in dtn./dtr. Texten (vgl. Dtn 5,6; 6,12; 7,8; 8,14; 13,6.11; Jos 24,17). Es verweist auf die Unterdrückung, die Israel entsprechend der Beschreibung in Ex 1,8–14 erdulden musste. „Auslösen“ bezeichnet ursprünglich eine juristisch geprägte Lö30 31 32 33

WOLFF, Micha, 148. So bereits VERMEYLEN, Isaїe, 596, der diese Verse einer dtr. Redaktion zuweisen will. VERMEYLEN, Isaїe, 596. UTZSCHNEIDER, Micha, 133.

Synchrone Analyse

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sung aus einer Verpflichtung, etwa mittels einer Geldzahlung, die dann mit dem Subjekt Gott – ähnlich wie in Dtn 7,8 und 13,6 – zu einem Akt der Befreiung Israels aus Ägypten wird. So beschreibt V. 4a in umgekehrter Reihenfolge die zwei wesentlichen Aspekte des Exodus: Führung ins Verheißungsland als Land der Freiheit – Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten. Aufgrund der Erwähnung der drei Namen Mose, Aaron und Mirijam bezieht sich V. 4b wiederum auf das befreiende Handeln JHWHs. Die Sendung Moses und Aarons nimmt dabei wohl auf Ex 4,13 Bezug, wo Mose JHWH darum bittet, an seiner Stelle jemand anderen zum Pharao zu senden (‫ח‬‫ד־‬ ‫א‬‫ח־‬) und ihm daraufhin sein Bruder Aaron zur Seite gestellt wird. Beide symbolisieren damit den erfolgreichen Kampf gegen den Pharao und die dadurch bewirkte Befreiung Israels. In ähnlicher Form ist in 1 Sam 12,6.8 vom Auftreten Moses und Aarons die Rede.34 Das „vor dir“ bezieht sich auf die Herausführung des Volkes aus Ägypten. Mit dem Namen „Mirjam“ wird wohl an das Schilfmeerereignis erinnert. Tatsächlich erzählt Ex 15,20, dass nach dem Untergang der Ägypter Mirjam singend und tanzend vor den israelitischen Frauen herauszieht. Gelegentlich werden alle drei Namen auch als Symbolgestalten für spätere zentrale Institutionen Israels im Land verstanden: Mose für das Gesetz, Aaron für den Kult und Mirjam für die Prophetie.35 V. 5a besteht aus einem intensivierten Imperativ mit zwei, jeweils durch einen V. 5 Verbalsatz explizierten, Pronominalobjekten „was“ ‫מה‬. V. 5bα ist abhängig vom Imperativ in V. 5aα und bildet ein kurzes Itinerar, das wohl verschiedene Ereignisse auf diesem Weg implizieren soll. V. 5bβ verweist mittels einer Konjunktion, verbunden mit einem Infinitiv auf daraus zu ziehende Konsequenzen. Die Anrede „mein Volk“ greift ebenso wie das Pronomen „was“ auf V. 3aα zurück. Wie dort impliziert auch hier die Anrede, dass JHWH unverbrüchlich an seiner Bundeszusage festhält, die Israel zu seinem Volk macht. Die Aufforderung „Gedenke doch“ findet sich überwiegend in alttestamentlicher Gebetssprache, die JHWH gegenüber dem sich ihm unterwerfenden Beter gnädig stimmen soll (vgl. 2 Kön 20,3; Neh 1,8; Jes 38,3; Ijob 10,9). Indem nun aber JHWH spricht, werden hier sozusagen die Rollen vertauscht. In quasi demütiger Haltung will er das Herz seines Volkes erweichen.36 „Gedenken“ bedeutet sich der Relevanz des Vergangenen für die Gegenwart bewusst zu werden.37 Durch das Aufgreifen des Fragepronomens „was“ wird der Frage an Israel in V. 3aα bezüglich eines möglichen fehlerhaften Verhaltens JHWHs das gegenübergestellt, was der Moabiterkönig Balak gegen Israel plante. Weil JHWH hier an Israel handelte ( ‫י‬‫י‬), blieb es bei der bösen Planung Balaks. Bezug genommen wird dabei auf Num 22,6, wo Balak den Seher Bileam dazu auffordert, das von Ägypten heraufziehende Volk zu verfluchen, um es anschließend schlagen und aus seinem Land vertreiben zu können. Nachdem Gott Bileam in Num 22,12 untersagte, dem Ansinnen Balaks zu folgen, antwortet dieser (‫ם‬ ‫ן‬) mit dem Hinweis, nur das sagen und tun zu können, was ihm JHWH befehlen wird (vgl. Num 22,18; 23,26). Auf letzteres nimmt V. 5aβ Bezug. Auch hier wird durch „antworten“ 34 LESCOW, Micha 6–7, 185. 35 KESSLER, Micha, 264f. Targum Jonathan erwähnt, dass Mirjam die Lehrerin allein der Frauen war, während Mose der Lehrer des Gesetzes und Aaron der Lehrer der Sühne war. Hinweis bei DEMPSTER, Micah, 157, Anm. 268. 36 Ähnlich bereits UTZSCHNEIDER, Micha, 133f. 37 Vgl. WALTKE, Micah, 383.

200

Mi 6,1–8

nicht nur Num 22,18 eingespielt, sondern zugleich ein Stichwort aus V. 3aβ aufgegriffen („Antworte mir!“). Obwohl JHWH Bileam bewegte, zugunsten seines Volkes zu antworten und es schließlich zu segnen, bleibt Israel eine entsprechende (dankbare) Antwort JHWH gegenüber schuldig. Nach dem Auszug/Hinaufzug und der Wüstenwanderung steht damit die Episode um Balak und Bileam für den ersten Kontakt Israels mit dem Kulturland und die sich hier ergebenden Hindernisse, die wiederum Gott beseitigte. Mit „planen“ greift V. 5aα ein Stichwort aus jesajanischer Geschichtstheologie auf, wonach JHWH das Planen der Völker vereitelt, hingegen sein eigener Plan Bestand hat (vgl. Jes 8,10; 14,27). „Von Schittim bis Gilgal“ beschreibt die letzte Episode des Auszugs-/Einzugsgeschehens, nämlich die in Form eines zweiten Exodus (vgl. V. 4!) geschilderte wunderbare Überschreitung des Jordans durch Israel (Jos 3,14–17). Schittim liegt auf jordanischer Seite gegenüber von Jericho nördlich des Toten Meeres und wird gewöhnlich mit tell el-ḥammām gleichgesetzt.38 Gilgal bezeichnet einen nördlich von Jericho gelegenen Ort, an dem sich wohl ein israelitisches Heiligtum befand, das als Vergegenwärtigung der Landnahme diente.39 Als erste Station im Verheißungsland bezeichnete es den Ort, an dem Israel, durch die Beschneidung von der ägyptischen Schande gereinigt, zum Volk des Verheißungslandes wird (Jos 5,2–12). Als Symbol des Einzugs ins Verheißungsland, dem Land der Freiheit, schließt diese Reminiszenz das mit der Führung aus mit dem Sklavenhaus Ägypten begonnene Heilshandeln JHWHs an Israel sinnvoll ab.40 Die als Konsequenz genannte Erkenntnis41 der Heilstaten JHWHs findet sich mehrfach im Zusammenhang mit Fremdvölkern, die anhand der Taten JHWHs ihn (Ez 38,16), seine Stärke (Jos 4,24) und Einzigkeit (1 Kön 8,60) erkennen sollen. Dies wird nun auf Israel übertragen (vgl. V. 3), dem diese Erkenntnis offensichtlich versagt bleibt. Mit diesem Geschichtsrückblick auf zentrale Heilsereignisse seiner Geschichte knüpft Mi 6,3–5 gedanklich an dtr. Literatur an, wo solche Geschichtsrückblicke häufig am Ende einer wichtigen Episode stehen (vgl. Jos 24,2–13 und 1 Sam 12,6ff.). In der pluralischen Form ‫קוֹת‬ klingt das Lexem ‫„ צדקה‬Gerechtigkeit“ an. Damit wird impliziert, dass JHWH seinen Verheißungen an Israel in diesen Taten gerecht geworden ist.42 Eine abweichende Interpretation in G Die passivische Übersetzung durch G hat offensichtlich einen weiteren Horizont im Blick. Nun geht es nicht mehr allein um die Erkenntnis Israels, sondern offensichtlich auch die der Völkerwelt. Vv. 6–8: Was V. 6 besteht aus zwei Fragesätzen, wobei die beiden Verbalsätze in V. 6a von der ist JHWH ange- Fragepartikel „mit was“ ‫ במה‬abhängig sind, während die beiden Präpositionalvermessen? bindungen in V. 6b „mit Brandopfern“/ „mit einjährigen Kälbern“ mit der Verform

„hintreten“ verknüpft sind. Im Unterschied zu V. 6a, bei dem es sich um eine echte Frage handelt, ist die Frage in V. 6b durch das vorangestellte ‫( ה‬i.S. von „etwa“) als rhetorische Frage gekennzeichnet, die eine (negative) Antwort bereits

38 39 40 41

WOLFF, Micha, 150. KEEL, Orte 2, 523. PRIOTTO, Culto autentico, 26. Der von KESSLER, Micha, 260, in Rekurs auf SCHART behauptete Rückbezug auf das Erkennen in Mi 3,1 ergibt sich nur auf sprachlicher, aber nicht inhaltlicher Ebene. 42 Vgl. KESSLER, Micha, 266.

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impliziert. Beide Versteile sind durch das Stichwort „hintreten“ miteinander verbunden, sodass V. 6b die Frage in V. 6aα wiederum durch eine Frage zu beantworten sucht, welche die Präpositionalverbindung „mit was“ in „mit (Brandopfern bzw. einjährigen Kälbern)“ aufgreift. Während in V. 6aα und 6aβ „JHWH“ und „Gott der Höhe“ wohl synonym aufzufassen sind, beschreiben „Brandopfer“ und „einjährige Kälber“ möglicherweise unterschiedliche Opferarten. Nach der Aufzählung der zurückliegenden Heilstaten JHWHs meldet sich in V. 6 allem Anschein nach das in V. 3 angesprochene Volk zu Wort, und zwar in Gestalt einer singularischen Größe. Eigentlicher Sprecher ist jedoch der Prophet, der sozusagen in die Rolle des Volkes schlüpft, dies aber bereits mit einer kritischen Haltung tut.43 Die Frage erinnert dabei formal an Fragen, wie sie der am Heiligtum Opfernde an den Priester stellte, um von diesem eine priesterliche Weisung bezüglich der rechten Weise der Darbringung und Durchführung des Opfers zu erhalten44 (vgl. Hag 2,11). Allerdings geschieht dies hier in Form einer prophetischen Imitation.45 Anklänge an die sogenannte Torliturgie, in der die Voraussetzungen, um überhaupt den Tempelbezirk zu betreten, genannt werden (z. B. Ps 24,3f.), spielen allenfalls am Rande eine Rolle.46 Das Wortpaar „hintreten“ und „sich beugen“ bezeichnet einen Bewegungsablauf, ausgehend vom Betreten des Heiligtums bis zum demütigen Niederwerfen vor dem Kultbild. Sie erinnert dabei an das Verhalten eines Vasallen, der seinen reichen Tribut dem Vasallenherrn bringt.47 Dafür spricht auch, dass „Hintreten“ zusammen mit einem Objekt gewöhnlich nicht in kultischen Zusammenhängen verwendet wird und dabei eine Handlung bezeichnet, die einem anderen gegenüber Wohlwollen und Gastfreundschaft zum Ausdruck bringt (vgl. z. B. Dtn 23,5; Neh 13,2) oder aber jemanden zum Wohlwollen bewegen will. Möglichweise kommt darin eine grundsätzlich falsche Opferhaltung zum Ausdruck, die meint, Gott durch Geschenke und ein möglichst demütiges Verhalten zugunsten des eigenen Wohles bewegen zu müssen.48 Ähnliches scheint für „sich beugen“ zu gelten, welches in bewusstem Kontrast zum „Gott der Höhe“ steht. Es bezeichnet, wie Jes 58,5 erkennen lässt, zusammen mit dem Anlegen des Sacks eine Selbstminderung, die die Gottheit wohlgesonnen stimmen soll.49 Die Bezeichnung des im Vordersatz genannten JHWH als „Gott der Höhe“ ist zwar als solche singulär, doch wird gerade in jesajanischer Theologie JHWHs Wohnsitz in der Höhe gesucht (vgl. Jes 33,5) bzw. er selbst mit „Höhe“ (vgl. Jes 57,15b wohl in Anklang an Jes 6,1; 40,26) in Verbindung gebracht und in Ps 92,9 als „Hoher“ oder „in der Höhe“50 wohnend bezeich-

43 Bei der Deutung von LESCOW, Micha 6–7, 188, als eine „ironisch-polemische Glossierung“ handelt es sich wohl um eine Überinterpretation. 44 LESCOW, Micha 6–7, 188; UTZSCHNEIDEr, Micha, 135. 45 RENAUD, Michée, 309. 46 So bereits WOLFF, Micha, 141; LESCOW, Micha 6–7, 189. 47 Vgl. KEEL, Bildsymbolik, 282, Abb. 408. 48 Ähnlich KESSLER, Micha, 267. 49 LESCOW, Micha 6–7, 189, will unter Bezugnahme auf Jes 58,5 hier sogar eine Ironisierung erkennen. Ob diese allerdings bereits in Jes 58,5 vorliegt, ist fraglich, wird doch das „Beugen des Hauptes“ mit dem üblichen Trauerritus des Anlegens des Sacks in Parallele gesetzt, wobei letzteres keinerlei ironische Tendenz erkennen lässt. 50 So die NEUE ZÜRCHER Übersetzung.

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net. Tatsächlich wird auch der Zionsberg, der Wohnsitz JHWHs als Abbild des Götterberges, als „höchster der Berge“ charakterisiert (Mi 4,1). Möglicherweise geht es auch hier um ein falsches Gottesverständnis, insofern durch die Bezeichnung JHWHs als „Gott der Höhe“ ein sehr distanziertes Verständnis Gottes zum Vorschein kommt, welches in deutlichem Gegensatz zur Bezeichnung JHWHs als „deinem Gott“ in V. 8 steht, der am Lebensweg eines Menschen Anteil haben will. Unter den möglichen Opfergaben werden in V. 6bα zunächst „Brandopfer“ Opferarten genannt. Diese Opfer zählen zu den wertvollsten, da „das ganze Tier verbrannt wird und weder für den Opferherren noch für den Priester irgendwelche Teile [abgesehen vom Fell, Anm. v. mir] zurückbleiben“.51 Es geht hier also um eine sehr aufwändige Opferpraxis, die im folgenden Vers noch verstärkt wird. Utzschneider meint, dass es sich hier nicht um eine ins Groteske übertriebene Menge handelt,52 die ein Einzelner unmöglich darbringen kann, sondern dass das „ich“ eher kollektiv zu verstehen sei und sich auf Israel als Ganzes beziehe.53 Dann aber wird hier ein großzügiger, aber nicht übertriebener Opferbetrieb geschildert. Dies mag für V. 6 zutreffen, V. 7 hingegen scheint durch „Frucht meines Leibes“ und „meine Sünde“ tatsächlich ein Individuum im Blick zu haben, sodass hier eine Art Übergang vom Kollektiv zum Individuum vorliegt. Von „einjährigen Jungrindern“, die entsprechend V. 6bβ ebenfalls offensichtlich als Opfermaterie dienen, ist in den alttestamentlichen Opfervorschriften mit einer Ausnahme (Lev 9,3) nicht die Rede. Stattdessen werden häufig einjährige Lämmer (‫ים‬ ‫ה‬‫י־‬) im Zusammenhang mit einem Brandopfer oder Heilsopfer genannt. Gegenüber dem Lamm scheint sich mit dem „Kalb“, welches bisweilen als „Mastkalb“ (‫ק‬‫ֶגל־‬ 1 Sam 28,24) bezeichnet wird, eine nochmalige Qualitätssteigerung zu verbinden. Es geht also auch hier um „das Beste vom Besten“. Eine abweichende Interpretation in G Die Abweichungen in der Übersetzung von G geben dem Opferbetrieb eine ganz eigene Akzentuierung. Demnach geht es hier vor allem darum, sich der Zuneigung und des Schutzes JHWHs durch Opfer zu versichern. V. 7 V. 7 besteht wiederum aus zwei rhetorischen Fragen. Das Subjekt der ersten ist

JHWH, das der zweiten der prophetische Sprecher. Ansonsten sind die beiden Sätze weitgehend parallel aufgebaut, insofern sich die Verbform auf jeweils zwei inhaltlich einander ergänzende bzw. entsprechende Objekte bezieht. ‫„ רצה‬Gefallen haben“ mit dem Subjekt JHWH ist zwar nicht ausschließlich, aber doch überwiegend in kultischen Zusammenhängen zu finden54 und dient dabei insbesondere als term. techn. der Annahme des Opfers durch JHWH. Letztere wiederum ist entscheidend für die gelingende Beziehung zwischen JHWH und seinem Volk bzw. dem einzelnen Opfernden (vgl. Lev 1,4; 7,18; 19,7; 22,23.25.27). Die Frage, die wiederum an die Frage des Opfernden an den im Heiligtum amtenden Priester erinnert, impliziert vor dem Hintergrund der eindeutigen Aussage JHWHs in Am 5,22 – als rhetorische Frage gelesen (‫ה‬‫„ ֲה‬hat er etwa Gefallen?“)55 – und der Polemik gegen Opfer in 51 52 53 54 55

KELLERMANN, Art. ‫ׇלה‬ / ‫ ע ֺוׇלה‬ʿolāh/ʿȏlāh: ThWAT VI, 108. So eine weitverbreitete Deutung, vgl. KESSLER, Micha, 268. UTZSCHNEIDER, Micha, 136. BARSTAD, Art. ‫ ׇרׇצה‬rāṣāh: ThWAT VII, 643. Auf diese Deutung weist auch die Fragepartikel ‫ ה‬hin, vgl. G/K, 496, 2d.

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Am 4,4f.56 ein klares „Nein“. Die Opferbemühungen laufen demnach – wie in V. 6 – ins Leere. Handelte es sich bereits bei den in V. 6b genannten Opferarten um hochqualitative Opfer, so tritt nun die Quantität in den Blick, die über alles Maß hinaus gesteigert wird. Genannt werden als Opfergaben zunächst Widder. Tatsächlich ist der Widder ein beliebtes Opfertier, wie etwa Gen 22,13 zeigt, wo JHWH an diesem Opfer offensichtlich durchaus Gefallen hat. Die Formulierung „Tausende von Widdern“ könnte an das anlässlich der Thronbesteigung Salomos dargebrachte Opfer anspielen (vgl. 1 Chr 29,21). Selbst Opfer in diesem Ausmaß sind JHWH nicht wohlgefällig. Die Steigerung von „Tausend“ zu „Zehntausend“ als Inbegriff der absoluten Steigerung ist eine gebräuchliche Wendung (vgl. Dtn 32,30; 33,17; 1 Sam 18,7). Auch Öl spielt im kultischen Zusammenhang, insbesondere beim Speiseopfer, der minḥāh eine wichtige Rolle, jedoch niemals in diesem phantastischen Ausmaß.57 Allerdings relativiert sich auch dies, wenn man das „Ich“ mit Utzschneider kollektiv versteht und sämtliche am Heiligtum innerhalb eines Jahres dargebrachte Opfer im Blick hat58 (siehe jedoch oben). V. 7b schließlich nennt die absolute Steigerung jeglicher Opferpraxis, die Darbrin- Kinderopfer gung des Erstgeborenen. „Geben“ gehört dabei zur ältesten Sakralsprache um ein Opfer an die Gottheit zu beschreiben (vgl. Ex 22,28b.29).59 Im Hintergrund mag wohl auch hier Gen 22,2 stehen, wo allerdings das Kinderopfer durch ein Tieropfer ersetzt ist und damit deutlich wird, dass Gott keine Kinderopfer annimmt. Mag die Praxis des Kinderopfers in extremen Notsituationen tatsächlich in Israel geübt worden sein, so ist die bereits hier anklingende Ablehnung dieser Art von Opfer durch JHWH vor allem im dtn./dtr. geprägten Schrifttum eindeutig und wird dort als typisch kanaanäisch mit Entschiedenheit abgelehnt (vgl. Dtn 18,10). Dass zunächst der „Erstgeborene“ genannt wird, geschieht vor dem Hintergrund der Forderung JHWHs, wonach ihm alle erstgeborenen Israeliten gehören, diese jedoch im Unterschied zu den erstgeborenen Tieren durch ein Tieropfer ausgelöst werden müssen (vgl. Ex 13,2.13). Dtn./dtr. ist die Rede von der „Frucht meines/ deines Leibes“ (vgl. Dtn 7,13; 28,4.53). Sie dient offenbar einer Verstärkung hinsichtlich der Intimität und Personalität.60 Es handelt sich demnach um etwas, das sozusagen aus dem Innersten des Menschen kommt. Durch beide vor dem Hintergrund der entsprechenden Anweisungen in der Tora unerlaubten Überlegungen wird zugleich die grundsätzlich falsche Haltung des Fragestellers entlarvt und, da letztere in einem Atemzug mit verschiedenen Opfern genannt werden, eigentlich jeglicher Opferkult als ungeeignet abgetan, um Sünden zu sühnen. Das Stichwort „Sünde“ ‫ פשׁע‬schlägt einen Bogen zum Beginn der Michaschrift in Mi 1,5–7.61 Enger ist jedoch aufgrund des suffigierten Wortpaars „mein Verbrechen“ und „Sünde meiner Person“ die Verbindung mit Mi 3,8, wo der Prophet sein Amt darin sieht, Jakob „sein Verbrechen“ und Israel „seine Sünde“ zu verkünden. „Meiner Per56 Vgl. VERMEYLEN, Isaїe, 598, der dabei außerdem einen Bezugszusammenhang mit V. 5b sieht, wo wie in Am 4,4 Gilgal erwähnt wird. 57 Häufig wird dies im Sinne einer absurden Übersteigerung verstanden, WALTKE, Micah, 389. 58 Zur Berechnung vgl. UTZSCHNEIDER, Micha, 137. 59 Lipiński, Son, 97. 60 DEMPSTER, Micah, 156. 61 NOGALSKI, Precursors, 142.

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son“ dient wiederum dazu, die Schuld stärker auf das Individuum zu beziehen.62 Demnach hat das hier sprechende Israel seine Sünde erkannt63 und damit die Botschaft des Propheten grundsätzlich akzeptiert, es erwägt nur – zitiert durch den Propheten – die falschen Mittel, um diese Sünde zu überwinden. V. 8 lehnt sich wiederum formal an die priesterliche Tora an, mit der ein am HeiV. 8 ligtum amtierender Priester den bezüglich der Angemessenheit und Wohlgefälligkeit seines Opfers fragenden Beter eine Auskunft erteilt. V. 8a besteht aus einem Verbalsatz „er verkündete“, wobei die Verbform sich auf zwei Objektpronomina bezieht („was“), die zum einen nominal („gut ist“), zum anderen verbal („JHWH von dir erwartet“) entfaltet werden. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch in Dtn 10,12f.64 Was gut ist bzw. JHWH erwartet, wird in V. 8b in Form eines aus drei Infinitiven bestehenden dreigliedrigen Satzes expliziert. Der inhaltliche Duktus der Auskunft setzt beim Tun an, findet seine Fortsetzung in einer die Gefühlswelt umfassenden Haltung und mündet ein in das Beschreiten des Lebensweges zusammen mit Gott. Die 3. Pers. masc. sing. in V. 8aα ist entweder unpersönlich zu verstehen („man verkündete dir“) oder bezieht sich auf den bzw. einen Propheten65 („er verkündete dir“, vgl. die Interpretation von V, S, die jeweils eine prophetische Rede voraussetzen). Tatsächlich findet sich ein Infinitiv (hi.) der Wurzel ‫ נגד‬in Mi 3,8, wo „verkündigen“ zur entscheidenden Tätigkeit des Propheten gezählt wird.66 Die Anonymität (vgl. Mi 2,6!) scheint bewusst einen weiteren Rahmen abzustecken und sich nicht allein auf die Verkündigung Michas, sondern ganz allgemein die prophetische Verkündigung zu beziehen.67 Deshalb ist das Subjekt wohl am ehesten mit „man“68 zu übersetzen. Das Perfekt deutet außerdem darauf hin, dass es sich dabei um etwas handelt, das Israel bereits verkündet wurde, also bekannt sein müsste.69 Dies jedoch findet sich nicht in der Michaschrift selbst, insofern sich Mi 2f. hauptsächlich auf Anklagen beschränkt, wo den Häuptern Israels vorgeworfen wird, das Gute zu hassen und das Böse zu lieben (Mi 3,2a unter Bezug und Umkehrung von Am 5,15a). Positiv ist vom „Guten“ auch in Am 5,14f. die Rede. Es handelt sich jedoch auch dort bereits um eine Größe, die den Adressaten eigentlich bekannt sein müsste. Unter „Gutem“ ist dabei nicht allein das ethisch Gute, sondern durchaus utilitaristisch auch das, „was für den Menschen gut ist, was ihm, seinem mitmenschlichen Zusammenleben und seinem Verhältnis zu Gott förderlich ist“,70 zu verstehen. Dass dies auch in Am 5,14f. JHWH von Israel erwartet, machen dort die beiden Imperative deutlich. Somit wird hier die bereits in Amos anzutreffende Forderung JHWHs aufgegriffen, nochmals expliziert und auch in dieser Weise Micha 62 63 64 65 66 67

DEMPSTER, Micah, 156. KESSLER, Micha, 259. VERMEYLEN, Isaїe, 598. Natürlich steht dahinter JHWH, in dessen Namen der Prophet spricht. Auf den Rückbezug weist bereits KESSLER, Micha, 260, hin. SCHART, Entstehung, 197: „Inhalt und Form von Mi 6,8 lassen es deshalb als durchaus möglich erscheinen, daß bei der Vermittlungsinstanz der theologischen Summe in Mi 6,8 an Propheten, vielleicht sogar konkret an Hosea, Amos und Micha gedacht ist.“ 68 Vgl. G/K § 144,3; WOLFF, Micha, 153, deutet die Anonymität des Vermittlers in der Weise, dass „dem Prediger mehr am Inhalt als am Sprecher liegt“. 69 So bereits NOGALSKI, Precursors, 143: „These connections within the Deuteronomistic frame of chapter six provide solid evidence that Mic 6:1ff is a redaction text whose literary horizon reaches backward, not only to Mi 1–3, but to the works of Hosea and Amos as well.“ 70 KESSLER, Micha, 269.

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zum Nachfolger des Amos stilisiert. Allerdings ändert sich gegenüber Am 5,15a der Adressatenkreis. „Mensch“ als Gattungsbegriff beinhaltet einerseits eine grundsätzliche Weitung über Israel hinaus – auf jeden Menschen71 – und zugleich eine Individualisierung, indem nun das einzelne Subjekt in den Blick tritt (vgl. auch die Formulierung „von dir“ in V. 8aβ). Offensichtlich sind also hier nicht nur Israel, sondern grundsätzlich auch Menschen aus den Völkern im Blick, insofern es sich hier um allgemein ethische Grundsätze und nicht nur – wie im Opferkult – um propria Israels (vgl. etwa Dtn 10,12f., wo Israel direkt angesprochen wird!) handelt. Auch ‫„ דרשׁ‬suchen“ mit dem Subjekt JHWH findet sich in kultischen Zusammenhängen (so vor allem Ez 20,40), wo JHWH auf dem Zion bestimmte Abgaben und das Erstlingsopfer (!) mit all den heiligen Gaben vom Haus Israel fordert. Insofern setzt sich hier die Form der priesterlichen Tora fort. Allerdings zeigt der Folgesatz, dass es – im Gegensatz zu Vv. 6f. – nicht um Opfer, sondern um ein ethisches Verhalten geht, das hier nun offensichtlich die Qualität eines Opfers annimmt (zur Rezeption vgl. Sir 35,3!). V. 8b ist durch drei Stichworte mit Hos 12,7 verbunden:72 ‫ט‬‫שׁ‬ „Recht“ , ‫ד‬ „Treue“, ‫י‬‫ֺל‬ „dein Gott“.73 Dafür, dass es sich hier um eine bewusst angelegte Beziehung handelt, spricht, dass diese drei Begriffe zusammen nur in diesen beiden Texten erscheinen. Damit mündet, ähnlich wie in Hosea, das gebotene rechte ethische Verhalten in ein entsprechendes Verhalten gegenüber Gott ein. Ethisches Tun gewinnt beide Male theologische Qualität. Innermichanisch tritt das hier gebotene Verhalten gleichzeitig in Gegensatz zur Haltung der führenden Kreise Jerusalems in Mi 3,9, die das Recht verabscheuen. Damit wird also auch hier ein zentraler Begriff aus Mi 1–3 aufgegriffen.74 „Recht“ bezeichnet hier wohl in erster Linie das kodifizierte Recht, also eine Richtschnur, die das Leben in Staat und Gesellschaft regelt. Es zu tun (vgl. die identische Formulierung in Spr 21,15) bedeutet, diese Richtschnur in die alltägliche Lebenspraxis einfließen zu lassen, nicht also nach „Gesetzeslücken“ um des eigenen Vorteils willen zu suchen. „Treue“, vielleicht besser mit „Gemeinschaftstreue“ zu übersetzen, kann ein zwischenmenschliches Verhältnis oder das Verhältnis des Menschen zu Gott beschreiben.75 Gemeint ist damit ein solidarisches Verhalten, das sich jenseits all dessen bewegt, was man in Gesetzen festschreiben kann und doch für den Erhalt einer Beziehung unbedingt notwendig ist.76 Gemeinschaftstreue zu „lieben“, beinhaltet, zu ihr ein quasi emotionales Verhältnis aufzubauen, das nicht allein im Kognitiven verbleibt, sondern die ganze Person umfasst.77 Dabei tritt „Treue lieben“ in Gegensatz zu „das Böse lieben“ in Mi 3,2.78 Das Stichwort „gehen“ scheint das Anliegen der Völker von Mi 4,2 im Blick zu haben, wo es darum geht, sich belehren zu lassen und auf den Wegen Gottes zu gehen.79 Im skizzierten ethischen Handeln ver-

71 72 73 74 75 76 77 78 79

DEMPSTER, Micah, 159. UTZSCHNEIDER, Micha, 140. NOGALSKI, Precursors, 143, Anm. 66. KESSLER, Micha, 260. UTZSCHNEIDER, Micha, 140f. WALTKE, Micah, 393, gibt dafür die Begriffe „faithfulness, love, mercy, grace, kindness“ an. WALTKE, Micah, 392: „It gives to the expression a note of cordiality“. SCHART, Entstehung, 195. Einen Bezug zu Mi 4,1–4 stellt bereits KESSLER, Micha, 270, her: „‚Der Mensch‘ weiß nur, ‚was gut ist‘, wenn er mit ‚den Völkern‘ zum Zion zieht und sich von dort Weisung holt (Mi 4,1–4).“

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wirklicht sich dieses Anliegen. Gegenüber der sehr distanzierten Rede vom „Gott der Höhe“ in V. 6aβ wird hier nun ein sehr persönliches Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen beschrieben. Gott das von ihm Erwartete zu geben, mündet ein in ein Gehen des Lebensweges mit Gott, womit Gott zum persönlichen Schutzgott wird. Darin wiederum spiegelt sich die einstige Erwartung des am Tempel Opfernden, sodass damit die vom Propheten gewählte Form der priesterlichen Tora sinnvoll an ihr Ziel kommt.80

Diachrone Analyse Auch Mi 6,1–8 wurde in der Forschungsgeschichte verschiedentlich einer literarkritischen Analyse unterzogen. Zwei Indizien für eine literarkritische Scheidung wurden dabei immer wieder angeführt. So fällt der doppelte Höraufruf in V. 1a und 2a auf, der sich an verschiedene Adressaten richtet (V. 1a: unbestimmt; V. 2a: Berge / Fundamente der Erde). Während in V. 1b die Berge allem Anschein nach Streitgegner sind, so fungieren sie in V. 2a offensichtlich als Zeugen des Streites JHWHs mit seinem Volk. Hinzu kommt, dass in V. 1b nicht recht klar ist, wer hier eigentlich spricht. Von V. 1a her könnte man an eine JHWH-Rede denken, die sich an den Propheten richtet, von V. 2a jedoch an eine Prophetenrede, die sich an JHWH richtet. Ausgehend von diesen beiden Beobachtungen herrscht in der Forschung große Übereinstimmung, dass es sich bei V. 1 um eine nachträgliche Ergänzung handelt.81 Diese wird gerne in Zusammenhang mit Mi 5,14 gesehen, wo es um Völker geht, die nicht hören. V. 1 wäre damit als redaktioneller Brückenvers zu betrachten. Vor diesem Hintergrund könnte es sich auch in Mi 6,1 um eine Auseinandersetzung JHWHs mit den Völkern handeln, insofern die in V. 1b genannten Berge und Hügel als „Chiffre für die Völker dienen“,82 was eine abweichende griechische Lesart zu bestätigen scheint (s. o.). Andererseits zeigte die bereits auf synchroner Ebene betrachtete inhaltliche Struktur, dass der Duktus von Vv. 1f. auf eine Konkretisierung hinausläuft: vom Streit eines Unbekannten mit den Bergen zum Streit JHWHs mit seinem Volk. Zudem findet sich in Mi 1 eine ähnliche Abfolge, nämlich eine Theophanie JHWHs, von der zunächst die Berge und dann Samaria und Jerusalem betroffen sind.83 Außerdem schließt die Universalisierung der Forderung JHWHs in V. 8 mit der Anrede „Mensch“ einen 80 81 82 83

UTZSCHNEIDER, Micha, 135. So jüngst wieder WÖHRLE, Sammlungen, 172. JEREMIAS, Micha, 199. Tatsächlich stellt SMITH-CHRISTOPER, Micah, 189, in jüngster Zeit unter der Annahme, hier spreche der Prophet des 8. Jh., einen Bezug der hier genannten „Berge“ zu Jerusalem her: „Thus it is absolutely possible that Micah’s argument is directed ‚against the mountains’ (by which we mean Jerusalem): the hills would likely be within his sight!“ und weiter, 190: „What seems clear, however, is that the opening of Mic 6 is intended to take up the trial that was called into session at the beginning of the book. If it is a later editor, it is certainly done with style, literally suggesting that the trial of Judah’s leaders by Micah continues!“

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Bogen zu V. 1, wenn dort der Höraufruf im Unterschied zu Mi 3,1.9 nun offensichtlich an eine erheblich weitere Adressatenschaft ergeht. Ein zweiter Punkt betrifft das Verhältnis der beiden Abschnitte Vv. 3–5 und Vv. 6–8. Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich differieren beide erheblich. Geht es in Vv. 3–5 um eine Art Verteidigungsrede JHWHs, so in Vv. 6–7 um die im Stil einer Anfrage eines am Heiligtum Opfernden an den dort amtierenden Priester gehaltene prophetische Äußerung bezüglich eines angemessenen Opfers, worauf in V. 8 eine grundsätzliche Antwort erfolgt. Dabei entspricht dies nicht der entsprechend V. 3b von JHWH erwarteten Antwort. Dennoch sind beide Abschnitte in verschiedener Weise miteinander verknüpft, was wiederum dafür spricht, dass sie literarisch aus einem Guss sind.84 Zu nennen ist hier das Fragepronomen „was“ ‫מה‬, welches in Gestalt eines Leitwortes beide Abschnitte durchzieht, weiterhin die Rückbezüge auf die Prophetie des Amos, Hosea und Jesaja sowie auf die dtr. Abschlussreden in Jos 24 und 1 Sam 12. Was ergibt sich aus diesen Beobachtungen für die redaktionsgeschichtliche Beurteilung von Mi 6,1–8? Immer wieder wird in der Forschung auf die starke Prägung von Mi 6 durch nordisraelitische Traditionen, wie etwa das Exodusmotiv oder amosische und hoseanische Prophetie hingewiesen, sodass manche hier ein Relikt nordisraelitischer Prophetie vermuten,85 die sie (zusammen mit Mi 6,9–16; Mi 7) gelegentlich einem „Deuteromicha“ zuschreiben.86 Nun weisen jüngere Studien zur Michaschrift darauf hin, dass auch Mi 1–3 starke Korrespondenzen zur Hosea- und Amosschrift aufweist,87 ein Sachverhalt, den auch die durch die Überschrift der Michaschrift verliehene Hermeneutik unterstreicht (s. o.). Dabei zeigt sich in Mi 6,1–8, dass dieser Abschnitt zunächst einmal wesentliche Aussagen der Michaschrift aufgreift und weiterführt. Dies gilt sowohl hinsichtlich der in V. 7 zum Ausdruck kommenden Anerkennung von Schuld und Sünde, wie auch der Ausweitung der Adressatenschaft, die bereits durch die Völkerwallfahrt in Mi 4,1–3 impliziert ist. Nicht mit Opfern vielfältiger Art ist JHWH gnädig zu stimmen, sondern mit entsprechendem ethischem Handeln, das damit auch den Völkern offensteht. Als weiteres fällt auf, dass Mi 6,1–8 nicht nur an wesentliche Aussagen der Prophetie des Hosea und Amos anknüpft und diese weiterführt, sondern diese auch voraussetzt (vgl. V. 8!), ein Phänomen, das sich auch in Mi 1–3 und in Mi 4,2b beobachten ließ. Diese Indizien aber sprechen dafür, dass Mi 6,1–8 auf dieselbe literarische Ebene zu setzen ist wie jene Texte in Mi 1–3 und 4–5, denen wir vielleicht überhaupt erst die heutige Michaschrift zu verdanken haben. Die Tatsache, dass hier außerdem bereits wesentliche Texte des Alten Testamentes vorliegen und dabei insbesondere auf den Erzählzusammenhang des Pentateuchs

84 Gegen WÖHRLE, Sammlungen, 174. 85 So bereits VAN DER WOUDE, Deutero-Micha, 365–378; jüngst auch wieder JOOSTEN, Farewell, 457: „There are good reasons to think that Mic 6,1–8 is a northern text, written not by Micah the Morasthite, but by an unknown prophet hailing from the Kingdom of Israel.“ 86 So etwa VAN DER WOUDE. 87 Zum Beispiel ZAPFF, Micha zu Jesaja, 541–547; ZAPFF, Amos, 147–152; CORZILIUS, Rätsel, 188.

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und zentrale Abschlusstexte des dtr. Gesichtswerkes Bezug genommen wird, spricht für eine nachexilische Entstehung dieses Textes.88 Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 6

88 So etwa auch LESCOW, Micha 6–7, 193: „erste Hälfte des 5. Jh.“; JEREMIAS, Micha, 199: „(früh-)nachexilische[r] Zeit.“

Mi 6,9–16: Das tatsächliche Handeln Jerusalems und seiner Bewohnerschaft 9 Die Stimme JHWHs rufta der Stadt zu – und die Furchtb deines Namensc (bedeutet) Rettungd – „Hörte, Stamm und wer ihn bestimmt! 10 Gibt esa noch im Haus des Ungerechtenb Schätze des Unrechts, das geschrumpfte Efac, das verwünschted?“ 11 Werde ich etwa rein dastehena bei der ungerechten Waage und bei dem Beutel mit betrügerischen (Gewichts)steinen? 12 „Soa sind ihre Reichenb voll von Gewalttatc, und ihre Bewohner sprechen Lüge, und ihre Zunge ist Trugd in ihrem Mund. 13 Und auch ich selbst schlagea dich unheilbar, mit Verwüstungb wegen deiner Sünden. 14 Du wirst essen, aber nicht satt werden, und dein Schmutza (bleibt) in deiner Mitte. Und du wirst fortschaffenb, doch nicht retten und was du rettest, übergebe ichc dem Schwert. 15 Du wirst säen, aber nicht erntena. Du wirst Oliven treten, aber dich nicht mit Öl salben und Trauben (wirst du treten), aber keinen Weinb trinkenc. 16 Und du hast die Ordnungen Omris beachteta und alles Tun des Hauses Ahabs, und ihr seid in ihren Ratschlägen gegangen, damit ich dich dem Entsetzen preisgebe und seine Bewohner zum Gezischel. Und die Schande meines Volkesb werdet ihr tragen.“

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 9a Die aktivische Verbform „ruft […] zu“ übersetzt G passivisch: „(Die Stimme des Herrn) wird verkündet werden“ ἐπικληθήσεται. „Stimme“ φωνὴ kann dabei auch „das durch diese Stimme hervorgebrachte, gebietende Wort“1 i. S. von „Befehl“ bezeichnen. 9b Die im masoretischen Text als 3. Pers. masc. sing. Impf. vokalisierte Form ‫ה‬ („[und dein Name] wird [Rettung] sehen“) leitet G von ‫„ ירא‬fürchten“ ab und übersetzt partizipial „die (seinen Namen) fürchten (rettet er)“ φοβουμένους (vgl. S). Dies deutet darauf hin, dass ‫ יראה‬als ‫ה‬ „Furcht“ zu vokalisieren ist.

1

JEREMIAS, Micha, 199.

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Mi 6,9–16

9c Insofern G (vgl. S) V. 9aβ als Verbalsatz mit Subjekt JHWH versteht, ändert sie das ePP 2. Pers. masc. sing. „deines Namens“ in die 3. Pers. masc. sing. „seinen Namen“ τὸ ὄνομα αὐτου. 9d Das Nomen ‫ה‬‫„ תוּ‬Rettung“ gibt G verbal wieder: „er wird retten“ σώσει, setzt also wohl ein ‫י‬‫ יוֹ‬voraus. 9e Den pluralischen Höraufruf gibt G singularisch wieder (vgl. S) und bezieht ihn auf den „Stock“ bzw. „Stamm“ („Höre [Stamm]“ ἄκουε), während der pluralische Höraufruf der hebräischen Fassung sich an ein pluralisches Subjekt, bestehend aus dem „Stamm“ und „wer ihn bestimmt“, richtet. Im Unterschied zu G (vgl. S) „und wer wird die Stadt ordnen?“2 τίς κοσμήσει πόλιν ist deshalb V. 9bβ in MT nicht als Fragesatz zu übersetzen. Dabei ergänzt G das Objekt „Stadt“, insofern sie das in V. 10aαinit. folgende ‫עוד‬ offensichtlich als ‫„ עיר‬Stadt“ πόλιν gelesen hat. Insgesamt dienen die Änderungen in G dazu, den Text strukturell und inhaltlich verständlicher zu machen. 10a ‫שׁ‬ „gibt es?“ leitet G von ‫שׁ‬ „Feuer“ ab (vgl. S, V) und ergänzt eine Verbform θησαυρίζων, sodass sie zu folgender Übersetzung kommt „Speichern Feuer und das Haus eines Ungerechten etwa ungerechte Schätze?“ μὴ πῦρ καὶ οἶκος ἀνόμου θησαυρίζων θησαυροὺς ἀνόμους; meistens wird – entsprechend der durch eine Verbform eingeleiteten Frage in V. 11aα – auch hier eine Verbform rekonstruiert, und zwar in Ableitung von ‫„ נשׁה‬vergessen“ ein ‫„ האשׁה‬kann ich vergessen“, die zu ‫ האשׁ‬verkürzt worden ist.3 10b „Haus des Ungerechten“ ‫ע‬ ‫ית‬ wird gelegentlich als ‫ע‬ ‫ת‬ „ungerechtes Bat“ vokalisiert,4 um ein Pendant zu dem im Folgesatz genannten geschrumpften Efa zu erhalten, werden doch beide Maßeinheiten häufig in einem Atemzug genannt. 10c V. 10b übersetzt G: „und das Unrecht mit Hochmut“? καὶ μετὰ ὕβρεως ἀδικία. Offensichtlich hat G anstelle von ‫זוֹן‬ „geschrumpft“ ‫„ ָזדוֹן‬Vermessenheit“ gelesen (Verlesung von ‫ ר‬nach ‫ ד‬und Metathesis von ‫ ד‬und ‫)ז‬. 10d Aus ‫ה‬‫עוּ‬ „verwünscht“ hat G dabei wahrscheinlich ein ‫ עון‬herausgelesen, welches sie auch andernorts mit ἀδικία übersetzt. 11a Der G-Stamm ‫ה‬ in MT „werde ich etwa rein dastehen“ wird gewöhnlich als pi. vokalisiert ‫ה‬ „werde ich etwa gerecht sprechen“5 (vgl. V: iustificabo), sodass auch hier JHWH-Rede entsprechend V. 10 vorläge. G ändert die Form in eine passivische Formulierung, vokalisiert ‫ע‬ „Unrecht“ als ‫ע‬ „Ungerechter“ und damit als personales Subjekt des Satzes: „wie wird der Ungerechte gerechtfertigt beim Waagebalken“? εἰ δικαιωθήσεται ἐν ζυγῷ ἄνομος. 12a Das syntaktisch nicht einfach6 aufzulösende ‫ר‬ bezieht G auf die in den beiden vorausgehenden Versen kritisierten falschen Maßwerkzeuge: „mit diesen“ ἐξ ὧν und 12b versteht ‫י‬‫י‬ als „ihr Reichtum“, setzt also ein ‫ עשׁרם‬voraus. 12c Dabei interpretiert G ‫ חמס‬als Qualifikation des Reichtums: „mit diesen füllten sie ihren ungerechten Reichtum an“ ἐξ ὧν τὸν πλοῦτον αὐτῶν ἀσεβείας ἔπλησαν. 12d In V. 12b leitet G ‫ה‬ „Trug“ von ‫„ רום‬sich erheben“ ab und liest ‫ה‬ „erhebt sich“: „Ihre Zunge erhebt sich in ihrem Mund“ ἡ γλῶσσα αὐτῶν ὑψώθη ἐν τῷ στόματι αὐτῶν, denkt also an hochmütiges Reden (vgl. V. 10). 13a Die hebräische Wortverbindung ‫כּוֹ‬ ‫י‬‫י‬ ‫י‬, wörtl. „ich habe krank gemacht, dich zu schlagen“ aufgrund des Kontextes wohl als performatives Perfekt zu verstehen, gibt G mit „ich werde beginnen“ ἄρξομαι wieder, setzt also ein hi. der Wurzel ‫ חלל‬voraus: ‫י‬‫לּוֹ‬ (vgl. V, S). 2 3 4 5 6

G leitet dabei ‫ יעדה‬von der hebräischen Wurzel ‫ עדה‬II „schmücken“ ab, so UTZSCHNEIDER, Michaias, 2376. WOLFF, Micha, 160; KESSLER, Micha, 274. Zum Beispiel WOLFF, Micha, 160. HAL I, 258. EINHEITSÜBERSETZUNG: „Ja“; ELBERFELDER: „wo“, NEUE ZÜRCHER: „Da“.

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13b Den Inf. abs. ‫ם‬ „Verwüsten“ gibt G (und S) als eigenen Verbalsatz ἀφανιῶ σε „ich werde dich zerstören“ wieder, V hingegen als Nomen in Abhängigkeit von „schlagen“: „ Und ich beginne dich daher mit Verderben zu schlagen“ Et ego ergo coepi percutere te perditione. 14a Für  schlägt HAL in Ableitung vom arab. wasḫ die Bedeutung „dein Schmutz“ bzw. „Kot“ vor.7 G setzt wohl eine Metathesis8 von ‫ ח‬und ‫ שׁ‬voraus und übersetzt σκοτάσει () „und es wird dunkel (in dir) sein“ σκοτάσει ἐν σοὶ; S übersetzt mit „Durchfall“, ähnlich T mit „Plage“, V mit „Demütigung“. 14b ‫ג‬ „und du wirst fortschaffen“ gibt G mit „er wird sich abwenden“ ἐκνεύσει wieder und bezieht dies offensichtlich auf JHWH,9 sodass G ‫יט‬ ‫א‬ als Folge der Abwendung JHWHs versteht und mit „und du wirst nicht gerettet werden“ καὶ οὐ μὴ διασωθῇς übersetzt. 14c Dieses Verständnis bedingt wohl auch die passivische Übersetzung der JHWH-Rede ‫ב‬ ‫ן‬ „werde ich dem Schwert übergeben“ in G: „(und die, wenn sie gerettet werden), werden dem Schwert übergeben“ εἰς ῥομφαίαν παραδοθήσονται. 15a ‫צוֹר‬ ‫א‬ „aber (du wirst) nicht ernten“ gibt G mit „und du wirst nicht mähen“ οὐ μὴ ἀμήσῃς wieder. 15b V. 15bβ verkürzt G gegenüber der hebräischen Fassung, insofern sie das Objekt zu „trinken“ bereits in den Vordersatz vorzieht: „und Wein (wirst du pressen), doch nicht trinken“ καὶ οἶνον καὶ οὐ μὴ πίητε (vgl. S). 15c Am Ende von V. 15bβ fügt G noch einen weiteren Satz hinzu:10 „Und es werden abgeschafft werden die Ordnungen meines Volkes“ καὶ ἀφανισθήσεται νόμιμα λαοῦ μου. Diese Lesart könnte sich einer Verlesung des in V. 16aα folgenden ‫ר‬‫ַתּ‬ „du hast beachtet“ zu ‫„ ישׁתמד‬es wird abgeschafft“ (Wurzel ‫ שמד‬oder ‫ )שמם‬und ‫„ עמי‬mein Volk“ aus ‫י‬ „Omri“ verdanken.11 16a ‫ר‬‫ַתּ‬ (hitp.) ist möglicherweise im passivischen Sinn zu verstehen: „es werden beachtet (die Weisungen Omris)“12 unter Inkaufnahme einer Inkongruenz mit dem pluralischen Subjekt. So ändert man gewöhnlich in ‫ֺמר‬ „und du hast beachtet“ eine Lesart, die von G ἐφύλαξας (V, S) bestätigt wird. 16b Anstelle von „meines Volkes“ ‫י‬ übersetzt G mit „(die Verachtung) der Völker“ λαῶν, setzt also wohl ein ‫ עמים‬voraus.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Der zweite Abschnitt von Mi 6 findet sich in Vv 9–16. V. 9 bildet einen neuen Auftakt, insofern V. 9a eine Rede der Stimme JHWHs ankündigt, welche mit einem Höraufruf in V. 9c einsetzt. Die Strafandrohung in V. 16 hingegen bildet den Ab7 8 9 10

HAL II, 426. WOLFF, Micha, 161. Anders in LXX-Deutsch, die hier mit „man wird sich abwenden“ übersetzt. Entsprechend der Göttinger LXX-Ausgabe ersetzt diese Ergänzung Mi 6,16aα, während RAHLFS zusätzlich eine eigene Übersetzung von Mi 6,16aα bietet. 11 UTZSCHNEIDER, Michaias, 2377. 12 So KESSLER, Micha, 273.

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Mi 6,9–16

schluss des Abschnittes, demgegenüber sich in Mi 7,1 eine andere Stimme zu Wort meldet. Handelt es sich in Vv. 1–8 um eine Auseinandersetzung zwischen JHWH und seinem Volk, so liegt in Vv. 9–16 eine Gerichtsandrohung gegen eine anonyme Stadt und deren Bewohner vor, unter denen die Reichen als eigene Adressaten in V. 12 angesprochen werden, deren Untaten auf die Stadt abfärben. Auch wenn sich Mi 6,1–8 und Mi 6,9–16 hinsichtlich ihrer Thematik deutlich unterscheiden, so bestehen doch zwischen ihnen verschiedene semantische und formale Beziehungen:13 Beide werden durch einen Höraufruf eingeleitet, der sich in Mi 6,1 an einen anonymen Adressaten wendet, in Mi 6,9 hingegen an den „Stamm“ und „wer ihn bestimmt“. Die Verse 8 und 16 bilden einen Gegensatz, insofern V. 8 dazu auffordert, „achtsam mit deinem Gott zu gehen“ ‫ת‬, in V. 16 hingegen davon die Rede ist, dass die Angesprochene in „ihren (scil. Omris und Ahabs) Ratschlägen“ gegangen seien ‫כוּ‬‫תּ‬. Statt das Recht „zu tun“ ‫שׂוֹת‬ (V. 8), wird einem „Du“ vorgeworfen, jede „Tat“ ‫ה‬ des Hauses Ahabs beachtet zu haben (V. 16). Möglichweise ist dabei sogar eine Assonanz zwischen we-ahabat „und (Treue) lieben“ (V. 8) und dem Namen des nordisraelitischen Königs „Aḫab“ (V. 16) angezielt. Außerdem kontrastieren die in V. 8 geforderten „Recht“ ‫ט‬ und „Treue“ ‫ד‬ die „Ungerechten“ bzw. das „Unrecht“ ‫ע‬/‫ע‬, welche leitwortartig die Vv. 10 und 11 durchziehen.14 Auch zwischen V. 7 und V. 9 scheint ein Kontrast beabsichtigt zu sein, wenn dem vermeintlichen Gefallen JHWHs an Tausenden Widdern das geschrumpfte Efa gegenübergestellt wird ‫ים‬‫י‬ ‫י‬ ‫ה‬‫ה‬ ‫ה‬‫ ֲה‬/ ‫זוֹן‬ ‫ת‬‫י‬ und dabei im „geschrumpften“ rāzōn Efa das „hat er etwa Gefallen“ hajirsæh (Nomen: ‫ רצון‬rāṣôn „Gefallen“) anklingt. Dem Bemühen, mit überreichen und fetten (vgl. 7aβ) Opfern seine Sünden zu überwinden wird somit die Magerkeit an Gerechtigkeit gegenübergestellt.15 Wenn Mi 6,1–8 verschiedene Bezugnahmen auf die Abschiedsrede Samuels in 1 Sam 12 zeigt, so scheint dies zumindest für V. 16 in ähnlicher Weise zu gelten, wird doch dort der Untergang der Angesprochenen in den Spuren der genannten Nordreichskönige angekündigt (vgl. 1 Sam 12,25, s. o.). Auch formal zeigen sich Entsprechungen. So findet sich hier ein Wechsel von Aussagen mit einem kollektiven und einem individuellen Horizont. Individuelle Verschuldung und Vergehen einer sozialen Schicht und des ganzen Volkes durchdringen sich. Werden in Vv. 6f. Fragen des Opfernden zitiert, die in Form von rhetorischen Fragen als Antwort jeweils ein „Nein“ erwarten lassen, stellt in Vv. 10f. (entsprechend der vorgeschlagenen Verbesserung, s. u.) JHWH selbst solche rhetorischen Fragen bezüglich eines möglichen Vergessens und einer anschließenden Rechtfertigung angesichts der beschriebenen Vergehen. Auch diese lassen als Antwort jeweils ein „Nein“ erwarten. Schließlich weist der Passus Vv. 9–16 – ähnlich wie Mi 6,1–8 – eine Reihe von Rückbezügen zur Prophetie des Amos und Hosea auf. Zu nennen sind hier insbesondere Am 8,5 (Fälschung der Gewichte, betrügerische Waage), vgl. V. 11, 13 So jüngst WALTKE, Micah, 406: „The two prophecies of 6,1–8 and 9–16 are linked by the contrast between what I AM requires und what the people in fact do“. 14 WESSELS, Cheating, 408, spricht von „transgressions“, die Vv. 10–12 durchziehen. 15 HILLERS, Micah, 81: „At a less superficial level, there is a connection between the extravagance in ritual rejected in 6:7–8 and the accumulation of unjust wealth which is the theme of vv 9–11.“.

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Am 3,10 (Aufhäufen von Gewalttat als Schätze), vgl. Vv. 10.12 und Fortführung der Vergeblichkeitsflüche aus Hos 4,10 und Am 5,11b.12, vgl. V 14f. Zwar handelt es sich entsprechend V. 9 um eine anonyme Stadt, die vom Gericht JHWHs betroffen ist, der nähere Kontext, insbesondere Mi 3,9–12, das eine ähnliche Aussagetendenz aufweist (Verknüpfung der Verwüstung des Zion mit der Zerstörung Samarias, s. o.), legt jedoch eine Identifikation mit Zion/Jerusalem nahe. Dann aber werden die in Hosea und Amos gerügten Vergehen der Oberschicht und der Bewohnerschaft Samarias nun auf Jerusalem übertragen, sodass das angedrohte Gericht JHWHs an der Stadt gerechtfertigt ist und es gleich Samaria von Vergeblichkeitsflüchen betroffen wird, die entsprechend Dtn 28,38–40, Strafe für den Bundesbruch sind.

Textinterne Aussagegestalt Ähnlich wie Mi 6,1–8 lassen die Vv. 9–16 eine klare Gliederung erkennen. Einem Höraufruf in V. 9 – unterbrochen durch eine Gebetsäußerung – folgt in Vv. 10–12 ein Schuldaufweis. V. 13 bildet eine Gerichtsankündigung, die in Vv. 14f. in Vergeblichkeitsflüche einmündet. Mit V. 16a folgt ein weiterer Schuldaufweis, an den sich in V. 16b wiederum eine Gerichtsankündigung anschließt.16 Dabei korrespondieren V. 9 und V. 12, insofern sich die beiden Suffixe 3. Pers. fem. sing. in V. 12 „ihre“ (Reichen und Bewohner) auf die in V. 9 genannte Stadt beziehen und damit einen Rahmen um die Vv. 10f. bilden. Vv. 13–15 spricht ein „Du“ an und stellt damit die Beziehung zu V. 8 her. Insofern handelt es sich hier um das ganze Volk und – möglicherweise wie in V. 8 – um den Menschen als solchen.17 V. 16b verbindet dann die beiden Abschnitte Vv. 9–12 und Vv. 13–15, insofern es aus Vv. 13–15 jenes „Du“ aufgreift und aus V. 12 „ihre Bewohnerschaft“.

Einzelauslegung V. 9aα dient als Einführung einer direkten JHWH-Rede. V. 9aβ fällt aus dem inhaltli- Vv. 9–12: Ein chen Duktus heraus, insofern der Stichos nicht zur JHWH-Rede zählt, sondern es Schuldaufweis sich wohl um eine Parenthese handelt, die JHWH in Form eines Gebetes direkt anspricht.18 V. 9b ist dann die in V. 9aα eingeführte JHWH-Rede. Eine abweichende Struktur in G Die Struktur der G-Fassung unterscheidet sich hier deutlich. So besteht V. 9a aus zwei Verbalsätzen mit wechselndem Subjekt („Stimme des Herrn“/„er“) und Objekt („Stadt“/ „die seinen Namen fürchten“). V. 9b beinhaltet in G einen Höraufruf an den Stamm und eine Frage: „Der Befehl des Herrn soll in der Stadt verkündet werden und er rettet die, die seinen Namen fürchten. Höre Stamm und wer wird die Stadt ordnen?“

16 Vgl. JEREMIAS, Micha, 207, der von „Anklage“ und „Strafankündigung“ spricht. 17 UTZSCHNEIDER, Micha, 148. 18 UTZSCHNEIDER, Micha, 144, meint, dass es sich hier um eine „betende Reflexion des Propheten für die Hörerinnen und Hörer außerhalb der Szene“ handelt.

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Mi 6,9–16

‫ה‬‫ה‬ ‫ קוֹל‬kann in zweifacher Hinsicht verstanden werden: Entweder als Genitiv, insofern es sich um die „Stimme JHWHs“ handelt, die dann Subjekt der Verbform „rufen“ ist, oder aber als Interjektion im Sinne eines Aufmerksamkeitsrufes „Horcht!“,19 sodass JHWH Subjekt der folgenden Verbform wäre. Die übrigen alttestamentlichen Belege von ‫ה‬‫ה‬ ‫ קוֹל‬verstehen die Wortverbindung immer als Genitiv (z. B. Ps 29,3), was wohl auch hier anzunehmen ist20 (vgl. G). Verband sich ursprünglich mit „Stimme“ die Vorstellung eines Donners im Kontext einer göttlichen Theophanie, so findet sich „Stimme JHWHs“ häufig „in Kontexten, die vom richtenden Eingreifen Gottes in der nahen oder fernen Zukunft sprechen“21 (vgl. Jes 66,6).22 Letzteres gilt auch hier, sodass die Erwähnung der Stimme Gottes bereits die Tendenz des Folgenden vorzeichnet. Die angesprochene Stadt bleibt anonym. Entsprechend dem Kontext scheint hier Jerusalem im Blick zu sein,23 sodass sich nach dem Volk in V. 5 nun der Blick auf die Stadt und ihre Bewohner fokussiert. Bei V. 9aβ handelt es sich um eine Glosse.24 Möglicherweise bezieht die VokaliEine Glossierung in V. 9aβ sierung von MT „deinen Namen“ auf JHWH, sodass der Name JHWHs für die Präsenz Gottes steht, dessen Handeln gelingen wird.25 Die oben vorgeschlagene Alternativlesung in Anlehnung an G sagt dann demjenigen, der sich JHWH in ausschließlicher Verehrung zuwendet, Rettung zu (vgl. Sir 40,26b). Bei ‫ה‬‫„ תוּ‬Rettung“ handelt es sich um einen in der Weisheit „beliebten, vieldeutigen Begriff“, der das umschreibt, „‚was das Dasein fördert‘“.26 Möglicherweise soll dem Leser bedeutet werden, wodurch er sich vor einem solchen Gerichtssturm, wie anschließend beschrieben, bewahren könnte:27 Wer sich demnach an JHWH hält, der muss die folgenden Drohungen nicht fürchten. Mit V. 9bα setzt die angekündigte JHWH-Rede ein. Sie richtet sich an eine menschliche Gruppe, die als „Stamm“ ‫ֶטּה‬ bezeichnet wird. Handelt es sich bei der Stadt um Jerusalem, so geht es hier wohl um Juda.28 V. 9bβ bezieht sich in seiner hebräischen Fassung wahrscheinlich auf die führende Schicht Judas, die den Stamm Juda bestimmt29 (vgl. EÜ sehr frei: „Bürger und Räte“). Hingegen dient der in G als Frage verstandene V. 9bβ offensichtlich dem Zweck, bereits hier das im

19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

So etwa EINHEITSÜBERSETZUNG, ELBERFELDER und NEUE ZÜRCHER. WOLFF, Micha, 164. KEDAR-KOPFSTEIN, Art. ‫ קוֹל‬qȏl: ThWAT VI, 1250. SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 199. WOLFF, Micha, 163; KESSLER, Micha, 277, weist mit Recht daraufhin, dass ja bereits in Mi 1,2–7 vom endgültigen Ende Samarias gesprochen wurde; neuerdings auch wieder WESSELS, Cheating, 408. So für viele andere WÖHRLE, Sammlungen, 175. Vielleicht analog zu einer anderen Präsenzweise JHWHs in seinem Wort, vgl. Jes 55,11; KESSLER, Micha, 273, bezieht das Gelingen recht frei auf den, der den Namen sieht: „Doch Gelingen hat, wer deinen Namen sieht“. HAL, IV, 1579; vgl. Spr 2,7. UTZSCHNEIDER, Micha, 144; eine ähnliche reflektierende Formulierung findet sich in Am 5,13, vgl. MAYS, Micah, 146. So auch UTZSCHNEIDER, Micha, 145. WESSELS, Cheating, 409, und WOLFF, Micha, 165, denken hier, letzterer entsprechend Jeremia, an die „Männer von Juda und Bewohner von Jerusalem.“

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Folgenden beschriebene Chaos anklingen zu lassen, i.S. von „wer schafft Ordnung?“ (implizierte Antwort: niemand). Unter Berücksichtigung des Kontextes geht es in V. 10 wahrscheinlich um V. 10 einen Schuldaufweis, der sich auf unrechtmäßig erworbene Besitztümer bezieht. Mit „Ungerechten“ ‫ רשׁע‬klingt dabei eine Wurzel an, die auch den folgenden V. 11 prägt. Dabei erinnern die ungerechten Schätze an den Vorwurf gegen die Oberschicht in Am 3,10. Tatsächlich ist dort davon die Rede, dass diese in ihren Palästen Gewalttat und Verwüstung aufhäufen (‫ים‬‫אוֹ‬), womit aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Raffsucht der Reichen Bezug genommen wird. Der gegen Samaria gerichtete Vorwurf würde somit auch auf Jerusalem übertragen. Auch der Vorwurf eines gefälschten Efas – worunter man ein Hohlmaß von etwa 40 Liter versteht – findet sich bereits in Am 8,5, wo davon die Rede, ist, dass die Oberschicht das Efa „kleiner macht“. Welche Verfahren man dabei anwandte, bleibt offen. Zu denken ist vielleicht an eine von der Norm abweichende Größe eines Tongefäßes oder dass dieses, von außen nicht erkennbar, bereits zum Teil mit minderwertigem Material gefüllt war. Die Charakterisierung dieses geschrumpften Maßes als „verwünscht“ ‫ה‬‫עוּ‬ in der Rede JHWHs verweist auf den göttlichen Zorn ‫זעם‬, den ein solches Handeln auslöst. Eine abweichende Interpretation in G Ausgehend von der Metapher des Feuers interpretiert G den Text in der Weise, dass weder das „Haus einer Ungerechten“ noch „Unrecht mit Hochmut“ in der Lage sind, ungerechte Schätze zu speichern, nach dem Sprichwort: „ungerechtes Gut gedeihet nicht“.

Zur JHWH-Rede, die von V. 9 her vorausgesetzt ist, passt die Vokalisierung von MT in V. 11 nur schlecht. Insofern entspricht die von V angenommene abweichende Vokalisierung, die einen Kausativstamm voraussetzt (s. o.), dem Gesamtduktus des Abschnittes besser. Die Version von MT hingegen könnte kontextuell bedingt sein, insofern ja auch in Mi 6,6f. Fragen eines Einzelnen zitiert werden, die auf ein angemessenes Verhalten gegenüber Gott zielen, aber jeweils eine verneinende Antwort implizieren. Die Wurzel ‫ זכה‬hat sowohl rituell-religiöse Bedeutung i.S. von „rein sein“, wie auch rechtliche i.S. von „nicht schuldig sein“.30 Hier geht es offensichtlich um eine Rechtfertigung durch JHWH, der eine solche – angesichts der im Heiligkeitsgesetz Lev 19,36 ausdrücklich verbotenen falschen Waage – nicht vollziehen kann. Unter ‫( מאזנים‬im Dual) versteht man eine aus zwei Waagschalen bestehende Waage (Standwaage oder Handwaage), für die zum Abwiegen einer Ware oder von Silberstücken als Zahlungsmittel geeichte Gewichte benötigt wurden, von denen im Nachsatz die Rede ist. Diese wurden offensichtlich in einem Beutel aufbewahrt (Spr 16,11) und gehörten zur funktionierenden Waage notwendigerweise dazu. Die hier getrennt verwendeten Nomen „Waage“ ‫ מאזנים‬und „Hinterlist“ ‫ מרמה‬bilden in Spr 11,1, Hos 12,831 und Am 8,5 einen idiomatischen Ausdruck: „betrügerische Waage“. „Ungerechte Waage“ hingegen tritt in Gegensatz zu der in Spr 16,11 erwähnten „gerechten Waage“ ‫ט‬ ‫י‬‫א‬ und zeigt, dass es hier um grundsätzlich falsches Handeln geht, auf das bereits die Schätze des Ungerechten ‫ע‬ ‫רוֹת‬ in V. 10aα verweisen. V. 11 greift damit eine offensichtlich 30 NEGOIȚĂ-RINGGREN, Art. ‫ה‬‫ ׇז‬zāḵāh, ‫ זכך‬zkk: ThWAT II, 570f. 31 SCHART, Entstehung, 199.

V. 11 Korrespondenz zu Am 8,5

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Mi 6,9–16

verbreitete Unsitte an, nämlich sich durch eine manipulierte Waage und falsche Waagsteine Vorteile zu verschaffen. Verwiesen wird dabei gewöhnlich auf die Ächtung solcher Fälschungen bereits im altbabylonischen Codex Hamurapi: „Wenn ein Kaufmann Getreide oder Geld auf Zinsen gibt und wenn er es auf Zinsen gibt, das Geld mit zu kleinem Gewichtsstein bzw. das Getreide mit zu kleinem Meßgefäß hingibt, bei der Rücknahme das Geld mit (zu großem) Gewichtsstein bzw. das Getreide (mit zu großem Meßgefäß) zurücknimmt, so geht (der Kaufmann) all dessen, (was er gegeben hat) verlustig“.32 Gewogen wurden also sowohl Naturalien als auch Silber. Der zitierte Fall zeigt, dass es dabei nicht nur um gewöhnlichen Handel, sondern auch um Darlehen gehen kann, bei denen der Schuldner mehr zurückzahlen muss, als er geliehen bekam. Kessler meint, dass damit bewusst der Versuch unternommen wurde, die Schuldner „in Personalhaftung zu bekommen und sie somit zu Schuldsklaven zu machen“.33 Dabei fällt auf, dass bereits Am 8,5 von einer „betrügerischen Waage“ spricht, die dort im Kontext der Versklavung von Armen erwähnt wird. Offensichtlich wird diese Kritik hier wieder aufgegriffen, um auch in dieser Hinsicht die Prophetie des Micha inhaltlich an die des Amos anzugleichen34 und ihn so wiederum als Nachfolger des Amos für das Südreich erscheinen zu lassen, dessen Oberschicht ähnliche Verbrechen angelastet werden, wie einst der des Nordreiches (vgl. auch Hos 12,8). Eine abweichende Interpretation in G Die Fassung von G fokussiert vor allem auf die ethische Haltung des mit der Waage Wägenden. Offensichtlich kann sich G keine „ungerechte Waage“ vorstellen, wohl jedoch jemanden, der mit gefälschten Gewichtssteinen an der Waage tätig ist und sich dadurch als Ungerechter erweist. V. 12 Die erste Anklage in V. 12aα erinnert an Gen 6,11.13, in denen ebenfalls Gewalttat

als Grund für das Hereinbrechen der Sintflut genannt wird.35 Während es sich dort um die Erde handelt, die von Gewalttat erfüllt ist, so wird dieser Zustand hier personalisiert, insofern die Reichen wie Gefäße von Gewalttat erfüllt sind. Wie in Hos 12,9, wo Efraim im Anschluss an die Erwähnung des Gebrauchs einer falschen Waage (‫ה‬ ‫י‬‫א‬) von seinem Reichtum spricht, so wird auch hier der Reichtum mit den zuvor geschilderten Manipulationen in Zusammenhang gebracht. Zudem besteht ein Stichwortzusammenhang mit Am 3,10, wo das Anhäufen der Schätze in den Palästen Samarias mit Gewalttat (‫ )חמס‬verbunden wird.36 Darunter sind alle Versuche zu verstehen, sich durch Unterdrückung, teils begleitet von nackter Gewalt,37 gegenüber Wehrlosen Vorteile zu verschaffen. Dabei ist Reichtum noch nicht als solcher negativ konnotiert, sondern lediglich durch die Art, wie er erworben wurde. Durch das Suffix 3. Pers. fem. sing. „ihre“ als Reiche einer Stadt charakterisiert, ist wohl auch hier wiederum wie in V. 9aα an Jerusalem zu denken. Demnach werden auch hier Anklagen, die sich in Hosea und Amos gegen die Oberschicht Samarias wenden, nun auf die Jerusalems übertragen. Dem

32 33 34 35 36 37

TUAT I, 54, § 73+e P. KESSLER, Micha, 279. So bereits SCHART, Entstehung, 199. DEMPSTER, Micah, 169. Vgl. UTZSCHNEIDER, Micha, 147. WOLFF, Micah, 169.

Synchrone Analyse

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Tun, das in einer vollständigen Perversion seinen Grund hat, folgt das Reden. Dabei zeigt V. 12aβ auffällige sprachliche Parallelen zu Jes 59,3. Nicht nur, dass auch dort der Vorwurf erhoben wird, „Lüge zu reden“, sondern dass dies zugleich mit einer Aktivität der Lippen und der Zunge in Zusammenhang gebracht wird. Ähnlich wie in Jes 59,3 könnte es sich dabei um ein korruptes Verhalten bei Prozessen handeln, wo es aufgrund des dort praktizierten Zeugenrechtes auf die wahrheitsgetreue Aussage der Zeugen in besonderer Weise ankam38 (vgl. Dtn 5,20). Die Verbindung von „Zunge“ und „Trug“ ist ebenfalls mehrfach belegt (vgl. Ps 120,2f.; Ijob 27,4), dabei findet sich die „falsche Zunge“ ‫ה‬ ‫שׁוֹן‬ nur noch in Ps 120,2f. Mittels der Identifikation des Organs der Zunge mit Falschheit als pars pro toto eines Menschen wird jegliche Äußerung solcher Menschen als nicht vertrauenswürdig abqualifiziert. Nach dem Schuldaufweis in den Vv. 9–12 spricht JHWH von seinem strafenden Handeln. Die Betonung durch das Personalpronomen „ich“ ‫י‬ verweist darauf, dass die im vorausgehenden Abschnitt beschriebenen Verbrechen offensichtlich nicht durch menschliche Gerichtsbarkeit gesühnt wurden, sodass JHWH selbst eingreifen muss.39 Die masoretische Version, in der JHWH von einem „unheilbaren Schlagen“ spricht, könnte dabei auf Mi 1,9 zurückverweisen,40 sodass der einst Samaria verwüstende Schlag nun auf Jerusalem übergegriffen hat, nachdem bereits dort der unheilbare Schlag gefährlich nahe bis an die Tore Jerusalems heranreichte.41 Dass JHWH dabei Subjekt des Gerichtsschlages ist, findet sich mehrfach in der Amosschrift (vgl. Am 3,15; 4,9; 6,11). Folge des Gerichtsschlages ist das hier im Kausativstamm stehende ‫שׁמם‬. Es beinhaltet sowohl hinsichtlich der betroffenen Stadt den Zustand der Zerstörung i.S. von „verödet, menschenleer“, wie – hinsichtlich eines menschlichen Objektes – die Bedeutung „verstören, aus der Fassung bringen.“ Inhaltlich erinnert es an Mi 3,12,42 womit wohl auf die Exilserfahrung angespielt wird.43 „Wegen deiner Sünden“ greift ebenfalls ein Stichwort aus dem Beginn der Michaschrift auf (vgl. Mi 1,5), wo es um die Sünden Israels ging, die dort die Ahndung durch JHWH herbeigeführt haben.44 Nachdem Mi 1,13 vom Übergreifen der Sünde auf Zion gesprochen hat, und diese Sünde in Mi 3,8 Israel verkündigt wurde, wird sie nun bestraft. Dem mittels eines Personalpronomens „ich“ betonten Subjekt („JHWH“) in V. 13a, steht in V. 14a ebenfalls betont (‫ה‬ „du“) das vom Gericht JHWH betroffene Subjekt gegenüber. Formal liegt ein erster Nichtigkeitsfluch vor, der seine Fortsetzungen in V. 14b und V. 15 findet. Damit wird eine altorientalische Fluchform45

38 So bereits KESSLER, Micha, 280. 39 Nach WALTKE, Micah, 400, dient ‫ וגם‬i.S. von „und (ich) selbst“ als „the clausal conjunctive“, die die Verurteilung in Vv. 13–15 mit der Anklage in Vv. 10–12 verbindet. 40 KESSLER, Micha, 280. 41 UTZSCHNEIDER, Micha, 149. 42 SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 203. 43 JEREMIAS, Micha, 210. 44 JEREMIAS, Micha, 210. 45 Ein markantes Beispiel sind die Verträge des Königs Bar-Ga’ayah von Ktk mit König Mati-II von Arpad auf den Stelen von Sefire aus der Zeit des 8. Jh. v. Chr., bei dem die Verpflichtungen im Fall ihrer Nichterfüllung mit Nichtigkeitsflüchen bedroht sind, vgl. vor allem Sefire I A, 21–24.

Vv. 13–16: Das strafende Handeln JHWHs

V. 14 Nichtigkeitsfluch

218

Mi 6,9–16

aufgegriffen, „in der eine sinnvolle Handlung mit der Sinnlosigkeit ihres Ergebnisses konfrontiert wird“.46 Solche Fluchformeln „verursachen die Vergeblichkeit wichtiger menschlicher Aktionen, die das Leben fördern sollten“.47 Tatsächlich entspricht es dem normalen Sachverhalt zu essen und satt zu werden, was in dtn./ dtr. Literatur als Ausdruck der Segnung seitens JHWHs verstanden wird (vgl. Dtn 6,11; 8,10.12; 11,15; 14,29; 26,12). Hingegen zählt nach Lev 26,26 der Umstand zu essen und nicht satt zu werden als Teil des Gerichtshandelns JHWHs. Insbesondere scheint ein Zusammenhang mit Hos 4,10 zu bestehen, wo über die Bevölkerung des Nordreiches ein ähnliches Gerichtswort seitens JHWHs ergeht (vgl. auch die Zustandsbeschreibung in Hag 1,6a). Demnach setzt auch in dieser Hinsicht Micha die Gerichtsankündigung Hoseas im Hinblick auf Jerusalem fort. Die folgende, nur mit Unsicherheit zu übersetzende Phrase schildert in jedem Fall eine Folgerung aus dem zuvor beschriebenen Umstand. Möglicherweise knüpft dabei ‫ך‬ „in deiner Mitte“ stichwortartig an Mi 5,9.12.13 („aus deiner Mitte“) und Mi 3,11c an, wo eine Reinigung Jerusalems für die Zukunft angesagt wird. In der Gegenwart des Gerichtes hingegen bleibt inmitten Jerusalems nur Schmutz und Kot (vgl. mit einem ähnlichen Bild Jes 4,4), vielleicht bedingt durch eine Durchfallerkrankung, die jeglichen Versuch satt zu werden konterkariert. „Schmutz“ bezieht sich dabei möglicherweise im metaphorischen Sinn auch auf die in Vv. 10–12 beschriebenen Untaten. Auch wenn hier der Versuch unternommen wird, durch Betrug reich zu werden, so bleibt letztlich nur die Schuld als Schmutz haften. In eine ähnliche Richtung weist auch V. 14b. Alle Versuche, in diesem Gerichtsgeschehen etwas auf die Seite zu bringen und so vor dem Zugriff zu retten, bleiben ebenso fruchtlos. „Dem Schwert übergeben“ ist gewöhnlich eine Formulierung, die sich auf ein Strafhandeln an Menschen bezieht,48 meint in diesem Zusammenhang aber grundsätzlich die Auslieferung an einen Feind (zur Formulierung vgl. Jer 15,9; ähnlich Jes 65,12; Jer 25,31), dem die angehäuften Schätze zum Opfer fallen. Eine abweichende Interpretation in G Diese inhaltliche Problematik in der hebräischen Fassung scheint der Grund für die abweichende Übersetzung von V. 14b in G zu sein. Hier nämlich ist nicht von dem vergeblichen Versuch, irgendwelche betrügerisch angehäufte Schätze zu retten, die Rede, sondern davon, dass weder die angesprochene Adressatin (Jerusalem), noch Teile von deren Bevölkerung im hereinbrechenden Gerichtsgeschehen gerettet werden. Insofern es hier um eine Vernichtung von Menschen geht, scheint G den Horizont auf die Eroberung Jerusalems zu weiten. Die passivische Form lässt außerdem JHWH als eigentlichen Verursacher eher in den Hintergrund treten. V. 15 V. 15 setzt die Reihe der paarweisen Verbalsätze und Nichtigkeitsflüche fort. Wie-

derum liegt mittels des Personalpronomens „du“ ‫ה‬ auf dem Handeln des Adressaten ein besonderes Gewicht, das im Kontrast zum Handeln JHWHs in V. 13a steht. Wie in V. 14a beschreibt die Reihe ein Bemühen, dem kein Erfolg beschieden ist. Die Reihung erinnert dabei an die Nichtigkeitsflüche in Dtn 28,38–40, wo sich ebenfalls das Dreierpaar Saat/Olive, Öl/Wein findet. Insbesondere sind die beiden Formulierungen „aber du salbst dich nicht mit Öl“ ‫ן‬ ‫סוּ‬‫א־‬ und „aber du wirst 46 JEREMIAS, Micha, 210. 47 WOLFF, Micha, 162. 48 Deshalb sieht etwa VERMEYLEN, Isaїe, 599, darin eine spätere Ergänzung.

Synchrone Analyse

219

keinen Wein trinken“ ‫ן‬‫ֶתּה־‬ ‫א‬ auch dort fast wörtlich belegt. Treffen in Dtn 28,15 die Flüche all jene, die nicht auf die Stimme JHWHs hören, so gilt dies wohl auch in diesem Zusammenhang.49 Demnach ziehen die zuvor geschilderten Vergehen jenen geschilderten Misserfolg im landwirtschaftlichen Bemühen nach sich. Während im Referenztext die Aussaat wenigstens eine, wenn auch geringe, Ernte einbringt, ist hier der Misserfolg radikal: Den vormaligen Betrügern fehlen sämtliche zentralen und hochgeschätzten Güter des Verheißungslandes. Eine abweichende Interpretation in G Entsprechend der Ergänzung in G betrifft der Mangel auch die geistige Ebene: Das Volk wird seiner angestammten Gesetze beraubt. Letzteres ist „das beherrschende Thema der Makkabäerbücher, die die ‚Hellenisierung‘ Jerusalems durch den Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes vor allem als Raub an den angestammten […] Gesetzen Jerusalems und als zwangsweise Einführung des seleukidischen Rechts verstehen und darstellen (1 Makk 1,44–51 […])“.50 Möglicherweise stehen solche Erfahrungen hinter dem Text von G, sodass das Strafgericht JHWHs auf die Zeit des Übersetzers hin aktualisiert wird.

Die singularische Anrede „Du“ in V. 16 schließt sich an die vorausgehenden Verse V. 16 an, sodass es sich hier um denselben Adressaten, also Jerusalem oder das als Kollektiv verstandene Juda handelt. Der Vorwurf bezieht sich auf die Vorgaben zweier Nordreichskönige, die nicht nur aufeinander folgten, sondern entsprechend der dtr. Beurteilung schlimmere Vergehen begingen als all ihre Vorgänger (vgl. 1 Kön 16,25.30)51 und daher eine Art „Duo infernale“ bilden. Dabei ist auffällig, dass neben der Beurteilung Omris – außer der Gründung Samarias (1 Kön 16,24)52 – nur sehr wenig konkrete Taten berichtet werden. Offensichtlich ist es dieser Zusammenhang mit Samaria, das aufgrund seiner Sünde vernichtet wurde (vgl. Mi 1,6), welcher die Erwähnung Omris motivierte, zeigt sich doch Jerusalem geneigt, dessen Vergehen zu übernehmen. „Ordnungen“ ‫קּוֹת‬, vielleicht auch mit „Praktiken“53 zu übersetzen, dürfte deshalb als eine grundsätzlich von den Satzungen JHWHs ‫ים‬ (vgl. Dtn 4,5.8.14) abweichende Lebensweise zu verstehen sein, die sich vor allem in sozialen Missständen (vgl. Amos), aber auch im Götzendienst (vgl. Hosea, rezipiert in Mi 1,5ff.) zeigte. Anders ist dies beim Haus Ahab, dessen negative Beurteilung anhand zahlreicher Untaten (Heirat der phönizischen Prinzessin Isebel, Errichtung eines Baalstempels in Samaria und Tötung des Nabot, um sich dessen Weinberg anzueignen)54 entfaltet wird. „Haus Ahab“ und dessen Untaten stehen dabei sprichwörtlich für die Vergehen des Nordreiches (vgl. 2 Kön 8,18.27). Der hier formulierte Vorwurf findet eine Entsprechung in 2 Kön 21,13, wo JHWH durch seine Propheten (!) ankündigt, an Jerusalem die „Messchnur Samarias und die Waage des Hauses Ahabs anlegen“ zu wollen und „Jerusalem aus(zu)wischen, wie man eine Schüssel auswischt und umdreht“. „Ratschläge“ greift ein Stichwort aus Hos 11,6 auf, wo die Vernichtung der Städte des Nordreiches auf die „Pläne“ ihrer Bewohner zurückgeführt wird. „Gehen“ steht in Gegensatz zu der in Mi 6,8 formulierten Weisung, nämlich „den Weg mit deinem Gott“ 49 50 51 52 53 54

WOLFF, Micha, 171. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2377. WOLFF, Micha, 172. KESSLER, Micha, 282. Vgl. HILLERS, Micah, 82, mit Verweis auf 1 Kön 3,3. Darauf weist mit Recht jüngst wieder SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 205, hin.

220

Mi 6,9–16

zu gehen.55 „Damit ich“ ist ironisch zu verstehen (vgl. Hos 8,4):56 Natürlich zielen Jerusalems Verbrechen nicht auf ein JHWH-Gericht. Die Gerichtsdrohung in V. 16b greift geprägte Sprache auf und scheint insbesondere von Jer 25,18 beeinflusst zu sein (vgl. aber auch Jer 19,8; 25,9; 29,18), wo Jerusalem und die Städte Judas (!) zur „Wüste“ ‫ה‬ und zum „Zischeln“ ‫ה‬ gemacht werden ‫ם‬ ‫ת‬. „Ihre Bewohnerschaft“ greift ein Stichwort aus Mi 6,12 auf. Die dort beschriebene Schuld der Bewohner Jerusalems wird nun geahndet. „Zischeln“ ist ein Abwehrritus57 angesichts des Grauens, welche eine zerstörte Stadt beim Betrachter hervorruft. „Schande meines Volkes“ scheint wiederum geprägte Sprache zu sein, findet sich die Wortverbindung doch in ähnlicher Form in Jes 25,8, wo die Beseitigung der Schande Israels durch JHWH angekündigt wird. In einer Gesellschaft, wo Ehre und Ansehen zum Lebensinhalt gehörte, wurde die nationale Erniedrigung, etwa durch das als Gericht JHWHs interpretierte Exil, als besonders gravierend empfunden. Eine abweichende Interpretation in G Die abweichende Version von G greift offenbar eine Formulierung aus Ez 36,15 auf, wo Verhöhnung als aktives Handeln der Völker verstanden wird, die den Niedergang Israels verspotten, sodass sich daraus ein weiterer Aspekt der Bestrafung ergibt.

Diachrone Analyse Auch in Mi 6,9–16 wird immer wieder für einzelne Verse oder Versteile eine unterschiedliche Herkunft vermutet oder sie werden als spätere Zusätze beurteilt.58 Insbesondere werden dafür die unterschiedlichen Anreden bzw. Adressaten als Kriterium herangezogen. So meinen viele, hier zwei einst unabhängige prophetische Worte – wenngleich aus einem ähnlichen zeitlichen Umfeld – unterscheiden zu können. Insbesondere habe ursprünglich V. 12 direkt an V. 9 angeschlossen, da sich „ihre Bewohnerschaft“ (Suffix 3. Pers. fem. sing.) in V. 12 auf die in V. 9 genannte „Stadt“ bezieht. Ebenso handle es sich bei Vv. 13–15* wegen der abweichenden Anrede mit „Du“ um eine einst eigenständige Einheit. V. 16 schließlich sei eine spätere, stark von deuteronomischer Theologie geprägte Ergänzung.59 Gegen eine solche Trennung sprechen m. E. jedoch zwei wesentliche Argumente. So scheinen Vv. 10f. und V. 16 Mi 6,1–8 vorauszusetzen (s. o.). Vv. 10–12 weisen außerdem starke Rückbezüge zu Amos und Hosea auf, ähnlich wie die Nichtigkeitsflüche in Vv. 13–15. Durchgängig scheint Mi 6,9–16 von dem Anliegen geprägt zu sein, anhand Jerusalems einen ähnlichen Schuldaufweis wie an Samaria vorzunehmen, der das hereinbrechende Gericht JHWHs rechtfertigt.60 Micha wird somit auch hier als Zeitgenosse des Hosea und Nachfolger des Amos hinsichtlich des Südreichs stilisiert. Dieses Anliegen aber prägt auch Mi 1–3 in seiner jetzigen Form. Wie Mi 55 56 57 58 59 60

So jüngst DEMPSTER, Micah, 170. KESSLER, Micha, 282. JEREMIAS, Micha, 212. So vor allem LESCOW, Micha 6–7, 193. WOLFF, Micha, 163; WÖHRLE, Sammlungen, 176. MAYS, Micah, 149, bezieht dies nur auf V. 16, was m. E. zu kurz greift.

Synthese zu Mi 6

221

6,1–8 setzt auch Mi 6,16 das deuteronomistische Geschichtswerk voraus, insofern es die Königschronologie (vgl. die Chronologie in Mi 1,1) mit ihrer dtr. Beurteilung kennt. Aus diesem Grund möchte ich auch diesen Text jener großflächigen Bearbeitung der Michaschrift zuweisen, die Micha zum „Amos des Südreiches“ macht. Die Nichtigkeitsflüche erinnern an die in Hag 1,5f. beschriebene Situation.61 Auch die Schuldknechtschaft, die hinter der Anklage in V. 12 zu stehen scheint, ist nicht nur im 8. Jh. v. Chr., sondern auch im Jerusalem des Statthalters Nehemia Realität (vgl. Neh 5,1–3).62 So spricht auch von daher einiges für eine nachexilische Entstehung.

Synthese zu Mi 6 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die auf synchroner Ebene beobachteten Korrespondenzen von Mi 6,1–8 zu den vorausgehenden Kapiteln der Michaschrift und darüber hinaus Mi 6,1–8 zu einem zentralen Text der Michaschrift machen. Hier finden die kult- und sozialkritischen Linien der Prophetie des Hosea, Amos und Jesaja ihr Ziel und verbinden sich mit deren Forderungen nach einem auf Gerechtigkeit basierenden Gemeinwesen, in dem jeder Einzelne und die gesamte Gesellschaft ihren Weg mit Gott geht. Zugleich weitet sich die Perspektive auf die gesamte hörbereite Völkerwelt, die nun ebenfalls ihren Weg mit Gott gehen kann in Überwindung jener Trennung zwischen Israel und den Völkern, von der Mi 4,5 noch weiß. Bei Mi 6,1–8 handelt es sich somit um einen der Schlüsseltexte des entstehenden Zwölfprophetenbuches. Mi 6,9–16 hingegen bringt die Anklagen Michas gegen die Bewohner Jerusalems und des Südreiches zur Vollendung. Ist in Mi 3,12 davon die Rede, dass die Vergehen der Oberschicht fast automatisch zur Verwüstung des Zions führen, findet sich nun hier ein ausdrückliches Gerichtshandeln JHWHs. Aufgrund seiner Verfehlungen wird Jerusalem ein ähnliches Schicksal zuteil wie einst Samaria. Die zwischen Mi 3 und 6 eingeblendete künftige Verherrlichung des Zions macht jedoch deutlich, dass Mi 6,9–16 nicht das letzte Worte ist, mag es auch die eher düstere gegenwärtige Wirklichkeit nach dem Exil widerspiegeln.

61 So jüngst DEMPTER, Micha, 171. 62 UTZSCHNEIDER, Micha, 147.

Mi 7,1–7: Klage und Vertrauen des Propheten 7,1 Wehe mir! Denn ich bin geworden wie beim Einsammelna des Sommerobstes, wie bei der Nachlese des Weines, keine Traube zum Essenb, (keine) Frühfeige, die meine Seelec begehrt. 2 Verschwunden ist der Fromme von der Erde und einen Aufrechten gibt es nicht unter den Menschen, sie alle lauerna auf Bluttaten, jeder jagt seinen Bruder mit dem Netzb. 3 Zum Bösen hin (sind) die Hände (ausgerichtet)a, um es gut zu machen, der Fürst fordertb, und der Richter (richtet)c um Bezahlunge, und der Großed spricht der Begierde seiner Seele entsprechendf, und sie verflechten esg. 4 Ihr Bestera ist wie ein Dornstrauchb, der Rechtschaffenece (schlimmer)d als eine Dornhecke. Der Tag deiner Späherf, deine Heimsuchung ist gekommen, nun werden sie bestürzt seing. 5 Glaubt nicht dem Nächstena, vertraut nicht dem Freundb, vor der, die in deinem Schoß liegt, bewahre die Pforten deines Mundesc. 6 Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter erhebt sich gegen ihre Mutter, die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter, die Feinde eines Mannes sind die Menschena seines Hauses. 7 Ich aber, ich will nach JHWH ausspähen, ich will harren auf den Gott meiner Rettung. Mein Gott wird mich hören.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 1a Anstelle des Plurals eines von MT vorausgesetzten Abstraktums eines Genitivs „Einsammeln (von)“ liest G (vgl. S) eine Partizipialform masc. sing. , versteht Sommer(obst) ‫ץ‬ als Angabe der Jahreszeit „im Herbst“ ἐν ἀμήτῳ und ergänzt das Lexem „Stroh“ καλάμην: „Wie einer der Stroh im Herbst sammelt“ ὡς συνάγων καλάμην ἐν ἀμήτω. 1b Im Unterschied zur Textabgrenzung in MT bezieht G den Infinitiv „zum Essen“ auf die im zweiten Versteil folgende Erstlingsfrucht (im Hebräischen: „Frühfeige“) und über-

Mi 7,1–7

1c 2a 2b 3a 3b 3c 3d 3e

3f 3g

4a 4b 4c 4d 4e 4f 4g 5a 5b

1

223

setzt: „Keine Traube ist vorhanden, um die Erstlingsfrüchte zu essen“ οὐχ ὑπάρχοντος βότρυος τοῦ φαγεῖν τὰ πρωτόγονα. Aus dem Nachsatz übernimmt G nur „Seele“ und wiederholt gleichzeitig die Interjektion aus V. 1aα „Wehe, meine Seele“ οἴμμοι ψυχή. In V. 2bα übersetzt G: „alle streiten miteinander aufs Blut“ πάντες εἰς αἵματα δικάζονται, setzt also anstelle von ‫בוּ‬ ein ‫ יריבו‬voraus. V. 2bβ gibt G ‫ם‬ ‫צוּדוּ‬ als fig. etym. wieder „(jeder) bedrängt (seinen Nächsten) mit Bedrängnis“ ἐκθλίβουσιν ἐκθλιβῇ, insofern sie anstelle von ‫צוּדוּ‬ „sie jagen“ ein ‫יצורו‬ „sie bedrängen“ liest (Verlesung von ‫ ד‬nach ‫)ר‬. Den im Hebräischen nur schwer verständlichen V. 3aα übersetzt G mit „auf das Böse hin bereiten sie ihre Hände“ ἐπὶ τὸ κακὸν τὰς χεῖρας αὐτῶν ἑτοιμάζουσιν, setzt also ein ‫יבוּ‬‫י‬ ‫ם‬‫י‬ ‫ע‬ voraus. In V. 3aβ ergänzt S eine direkte Aufforderung des Fürsten: „(der Fürst fordert): Gib!“ . In V. 3bα vermisst man eine Verbform, die in MT gedanklich zu ergänzen ist. Deshalb schlägt BHS vor, anstelle von ‫ט‬ ein ‫ט‬ „(und) er richtet“ zu lesen. G lässt ‫ָגּדוֹל‬ „und der Große“ unübersetzt, verbindet ‫ר‬ mit dem Subjekt ‫ט‬ und ergänzt ein Objekt „Worte“, sodass sie zu der Übersetzung kommt: „und der Richter spricht friedvolle Worte“ καὶ ὁ κριτὴς εἰρηνικοὺς λόγους ἐλάλησεν. G versteht dabei ‫לּוּם‬ „Bezahlung“ als ‫לוֹם‬ „im Frieden“ und denkt dabei möglicherweise an schmeichlerische Worte. Utzschneider hingegen meint, dass hier eher von einem himmlischen Richter die Rede ist, der Frieden spricht und damit ein Rückverweis auf Mi 4,1–4 vorliege.1 Aus V. 3bβ macht G dann folgerichtig einen Nominalsatz: „Die Begierde seiner Seele ist es“ καταθύμιον ψυχῆς αὐτοῦ ἐστιν. Das abschließende ‫תוּ‬ zieht G bereits zu V. 4aα und interpretiert die Form als 1. Pers. sing. einer JHWH-Rede: „Ich nehme (die Güter) weg“ καὶ ἐξελοῦμαι, setzt also offensichtlich ein ‫ ויעב)י(רתי‬voraus. V mit conturbaverunt eam bestätigt MT und die Ableitung von einer hebr. Wurzel ‫„ עבת‬verdrehen“. G übersetzt V. 4aα unter Veränderung der Satzgrenze zwischen V. 3 und V. 4 (s. o.): „(Ich nehme) ihre Güter (weg) wie eine verschlingende Motte“ τὰ ἀγαθὰ αὐτῶν ὡς σὴς ἐκτρώγων, fasst also ‫ם‬‫ טוֹ‬als Objekt auf. ‫„ כחדק‬wie ein Dornstrauch“ scheint G dabei als ‫„ כחרק‬wie einer, der (mit den Zähnen, vgl. Ps 35,16) knirscht“ i.S. von „fressen“/„verschlingen“ gelesen zu haben (Verlesung von ‫ ד‬nach ‫)ר‬. Mit der „Motte“ ‫ עשׁ‬hat sie das Bild von Ps 39,12 eingespielt. V bestätigt MT, liest aber anstelle von ‫ר‬ „Rechtschaffener“ entsprechend ‫ם‬‫„ טוֹ‬ihr Bester“ im Vordersatz“ ein ‫ׇרם‬ „ihr Rechtschaffener“. Aufgrund des Komparatives ‫ה‬‫סוּ‬ „als eine Dornenhecke“ ist gedanklich ein „schlimmer“ zu ergänzen. In V. 4aβ übersetzt G: „der mit harter Linie vorgeht“ βαδίζων ἐπὶ κανόνος und hat dabei offensichtlich ‫ר‬ „Rechtschaffener“ als ‫„ ישׂר‬er herrscht“ gelesen. ‫י‬ ‫„ יוֹם‬der Tag deiner Späher“ zieht G als Zeitbestimmung zu V. 4aβ und übersetzt: „am Tag des Nachschauens“ ἐν ἡμέρᾳ σκοπιᾶς. „Sie werden bestürzt sein“ (wörtl. „ihre Bestürzung wird sein“) ‫ם‬‫בוּ‬ übersetzt G mit „ihr Weinen wird sein“ κλαυθμοὶ αὐτῶν (pl.), setzt also ein Nomen, abgeleitet von der Wurzel ‫„ בכה‬weinen“, voraus.  „dem Nächsten“ fasst G wohl mit Recht aufgrund des pluralischen Imperativs als kollektiven Singular auf und übersetzt mit „Freunden“ ἐν φίλοις (vgl. S). Anstelle von ‫לּוּף‬ „Freund“ setzt G offensichtlich ein ‫ באילים‬voraus und übersetzt mit „auf Führer“ ἐπὶ ἡγουμένοις. UTZSCHNEIDER, Michaias, 2378.

224

Mi 7,1–7

5c Das idiomatische ‫י‬‫י־‬ „Pforten deines Mundes“ löst G in eine Infinitivkonstruktion auf: „(hüte dich), ihr etwas anzuvertrauen“ τοῦ ἀναθέσθαι τι αὐτῇ. Ähnlich vermeidet auch S die Metaphorik, wenn sie hier übersetzt „vor deiner Frau2 bewahre die Worte deines Mundes“. 6a In V. 6bβ ergänzt G ein πάντες (οἱ ἄνδρες) und verstärkt dadurch nochmals die Aussage: „alle Menschen“. S übersetzt anstelle von „Menschen seines Hauses“ „Söhne seines und verstärkt damit die bereits in V. 6a angeklungene Verletzung Hauses“ des Elterngebotes auf beinahe unerträgliche Weise.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Totenklage Mit einem Wehruf setzt sich Mi 7,1–7 vom vorausgehenden Gerichtswort JHWHs

ab. Dabei scheint nun der Prophet selbst zu Wort zu kommen (s. u.). Die Klage des Propheten erinnert dabei an Mi 1,8–16,3 welche er dort allerdings anlässlich einer äußeren Bedrängnis judäischer Städte erhebt. Ist sie dort die Folge eines in Mi 1,2–7 beschriebenen Gerichtshandelns JHWHs, hat sie hier ihre Fortsetzung in der Umkehr Zions und der Hoffnung auf JHWHs Vergebung in Mi 7,8–20, die wiederum in verschiedener Weise mit Mi 1,5 korrespondiert (s. u.). Der ursprüngliche Sitz im Leben des Wehrufes ist die Totenklage, bei welcher angesichts des Verstorbenen ein solches „Wehe“ ausgerufen wird. Wird es über einen Lebenden ausgerufen, so tritt dessen gefährdete Existenz in den Blick, er befindet sich sozusagen bereits selbst in der Sphäre des Todes (vgl. Mi 2,1 bezüglich der korrupten Führungsschicht). Nach der dramatischen Beschreibung der verworrenen Zustände in Stadt und Gesellschaft in Mi 6,10–12 tritt dem Propheten somit seine eigene gefährdete Situation vor Augen. Auffällig ist die zwischen beiden Abschnitten bestehende Verbindung durch Vegetationsbilder (vgl. Mi 6,15 und Mi 7,1), bei denen jeweils das Fehlen wichtiger Erträge des Kulturlandes beklagt wird. Der in Mi 6,10–12 beschriebene landauf landab festzustellende Betrug steigert sich in Mi 7,2 zur Blutschuld. Damit wiederum greift Mi 7,1–7 Vorwürfe auf, die bereits Mi 3,10 formuliert hat.4 Auch die in Mi 6,16b angekündigte Bestrafung findet ein Echo in Mi 7,4. Sie hat zur Folge, dass – im Unterschied zu Mi 6 – die chaotischen Zustände nicht auf den öffentlichen Bereich beschränkt bleiben, sondern bis in den intimsten Bereich der Familie hineinreichen. Die alleinige Hoffnung des Propheten auf JHWH in V. 7 ist die sich daraus ergebende, einzig noch mögliche Konsequenz.5 Die Zuversicht, dass JHWH hören und die Situation ändern wird, steht in Kontrast zum

2 3 4 5

Möglicherweise erschien S die Formulierung „vor der, die in deinem Schoße liegt“ zu anstößig. DEMPSTER, Micah, 173. JEREMIAS, Micha, 213, spricht mit Recht von einer „aktualisierenden Auslegung von Mi 3“. JEREMIAS, Micha, 213, sieht hier einen formalen Anklang an das prophetische Ich in Mi 3,1.3.5.8.

Synchrone Analyse

225

offensichtlichen Nichthören der führenden Kreise des Volkes (vgl. Mi 3,1.9; 6,1) auf die Worte des Propheten. Insgesamt erinnert Mi 7,1–7 an die Klage Jeremias (vgl. Jer 8,13 / Mi 7,1b; Jer 8,10 / Mi 7,3; Jer 9,3 / Mi 7,6).6 Es scheint, als werde hier eine Art Parallelisierung der beiden Prophetengestalten – ähnlich wie in früheren Kapiteln die Parallelisierung Michas mit Jesaja und Amos – angestrebt.

Textinterne Aussagegestalt Gerahmt durch die Rede in der 1. Pers. sing. bilden die Vv. 1–7 eine eigene Einheit.7 Einem Wehruf in V. 1, in dem der Prophet in Form einer Vegetationsmetaphorik seine eigene, von Entbehrung geprägte Situation beschreibt, folgt in V. 2a eine Auflösung des Bildes, wobei die „Treuen“ und „Redlichen“ im Land mit den im vorausgehenden Vers vermissten Trauben und Frühfeigen gleichgesetzt werden. Die Vv. 2b-3 beschreiben demgegenüber die angetroffene gesellschaftliche Situation, die von Korruption und Rechtsbeugung geprägt ist. Dem Vegetationsbild in V. 1b stellt V. 4a eine weitere Pflanzenmetapher entgegen. Den Kulturlandfrüchten „Traube“ und „Frühfeige“ stehen Pflanzen gegenüber, die den Inbegriff der Verwüstung bilden: „Distel“ und „Dornen“. Mit der Ankündigung einer Heimsuchung, unter welcher offenbar ein Gerichtsgeschehen zu verstehen ist, leitet V. 4b zur zweiten inhaltlichen Untereinheit in den Vv. 5–7 über. Die Vv. 5f., die wohl als Explikation der „Bestürzung“, von der V. 4bβ spricht, zu verstehen sind, beschreiben nun das Übergreifen des gesellschaftlichen Chaos in den privaten Bereich, welches jegliches zwischenmenschliche Vertrauen unterminiert. Davon wiederum setzt sich das Vertrauensbekenntnis des Propheten in V. 7 ab, das zeigt, nach wem allein mit Erfolg Ausschau gehalten werden kann. Durch die direkte Rede mit V. 1 verbunden, mündet somit die Prophetenklage in ein Vertrauensbekenntnis ein.

Einzelauslegung Inhaltlich sind die Vv. 1b und c chiastisch aufgebaut. So entsprechen sich die Vv. 1bα und 1cβ sowie die Vv. 1bβ und 1cα, insofern in den jeweils zweiten Stichen die zunächst wie ein Rätsel klingenden Vergleiche einer Auflösung zugeführt werden. Durch „keine“ bzw. „gibt es nicht“ ‫ין‬ / ‫ן‬ werden die beiden Versteile V. 1cα und V. 2aβ gerahmt.8 „Intention dieser Rahmung ist es, die in V. 1b.c verwendete Metaphorik auf das komplette Fehlen eines Rechtschaffenen unter den Menschen zu deuten (V. 2a).“9 Zunächst stellt sich die Frage nach der Identität der in V. 1 ohne weitere Einführung sprechenden Person. Ausgehend von Mi 6,16 könnte sich zunächst JHWH nahelegen. Dafür spricht etwa der Vergleich mit Jes 5,4 insofern dort JHWH in ähnlicher Weise vergeblich nach süßen Trauben sucht. Als weitere Alternative 6 7 8 9

JEREMIAS, Micha, 214. KESSLER, Micha, 286, gegen den Versuch V. 7 bereits zur folgenden Einheit zu ziehen; vgl. auch DEMPSTER, Micah. 173f.; letzterer weist auf eine Reihe von Wortspielen hin, z. B. ʾēn ʾæškōl/ læʾækōl. Vgl. WOLFF, Micha, 179. ZAPFF, Studien, 166.

Vv. 1–4a: „Wehe mir!“ Die Klage des Propheten

226

Mi 7,1–7

könnte man an Zion/Jerusalem denken,10 welches in Mi 6,16 angesprochen wird. Ausgehend von V. 7 her legt sich allerdings der (literarische) Micha selbst nahe, da die dort sprechende Person nach JHWH ausspäht und „spähen“ in Verbindung mit V. 4b – „Tag der Späher“ – auf eine Tätigkeit bzw. einen Wesenszug der Prophetie verweist. Davon geht auch die Übersetzung des Targums aus, die am Beginn von V. 1 „der Prophet sprach“ ‫א‬ ‫ר‬ einfügt. Der Weheruf über die eigene Person wird im Alten Testament verschiedentlich verwendet, um das Unerträgliche und Gefahrvolle der eigenen Situation zu kennzeichnen (vgl. z. B. Jes 6,5; 24,16; Ijob 10,15). Die Situation, um die es geht, ist entsprechend V. 1bα das Einbringen der Obsternte (zu dieser Bedeutung von ‫ קיץ‬vgl. 2 Sam 16,1f.; Jes 16,9; Am 8,1f.), die normalerweise im August stattfand. Was angesichts dieser doch eher erfreulichen Situation Anlass für einen Weheruf geben könnte, erschließt sich jedoch erst aus V. 1cβ. Es geht um das Fehlen der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorhandenen, offensichtlich sehr begehrten (zur Verwendung von ‫ אוה‬vgl. Dtn 14,26) Frühfeigen, die bereits im Mai/Juni reif waren und daher als Leckerbissen galten (vgl. Jes 28,4; Hos 9,10; Jer 24,2). Die zweite Situation, von der V. 1bβ spricht, ist die der Nachlese im Weinberg. Dass eine solche Nachlese keinen großen Ertrag mehr einbringt, wissen auch Jes 17,6 und 24,13 (dort allerdings im Hinblick auf die Olivenernte). Allerdings verschärft dies V. 1cα, insofern es nun überhaupt keine Trauben – gemeint ist die Rispe und nicht die einzelne Beere – mehr zum Essen gibt. So geht es in V. 1b.c um eine Situation, in der die Erwartungen nicht zufriedengestellt werden können, da nichts „zu holen“ ist.11 Dabei steht bei der Verwendung des Vergleichs nicht das Unzeitige im Vordergrund, sondern vor allem die Frustration des Sprechers. Durch das Erntebild und die erfahrene Enttäuschung knüpft V. 1 zugleich an die in Mi 6,15 vorausgehenden Vergeblichkeitsflüche an,12 wobei sich nun der Mangel nicht auf fehlende Früchte, sondern im übertragenen Sinn auf die fehlenden sittlichen Handlungen der Menschen bezieht (vgl. Jes 5,7c). Eine abweichende Interpretation in G Wenn die griechische Fassung vom „Strohsammeln“ συνάγων καλάμην spricht, könnte dahinter eine Anspielung auf die Exodustradition stehen,13 die ja auch in den Vv. 11f.15.17.19G eine Rolle spielt. G würde damit die bereits in MT bestehenden Bezugnahmen verstärken. V. 2 Formal und inhaltlich erinnert V. 2a an die Klage des Beters in Ps 12,2. Die Erwäh-

nung des „Frommen“ in V. 2aα ist dabei wohl im Zusammenhang mit Mi 6,8 zu verstehen.14 Die dort formulierte Weisung JHWHs wird durch die Beschreibung der Zustände in Mi 6,9–16 als nicht erfüllt gekennzeichnet, sodass sich mit Recht eine 10 So neuerdings wieder METZNER, Micha, 160 und DECORZANT, Gericht, 122, als eine Möglichkeit neben dem Propheten. Dagegen spricht nicht zuletzt die starke Parallelisierung mit der Klage Jeremias, wie überhaupt die Klage, dass jemand niemanden findet, dem er vertrauen kann. Dies jedoch verweist eher auf eine Einzelpersönlichkeit (vgl. HILLERS, Micah, 85). Auch die Ähnlichkeit mit Mi 3,8 (so KESSLER, Micha, 287) deutet in diese Richtung. 11 Es geht also nicht, wie DECORZANT, Gericht, 124, meint, darum, dass hier jemand in der gesamten Erntesaison keine Früchte eingesammelt hat. 12 DECORZANT, Gericht, 124. 13 UTZSCHNEIDER, Michaias, 2378. 14 JEREMIAS, Micha, 215; DECORZANT, Gericht, 125.

Synchrone Analyse

227

Klage anschließt. Denn der „Fromme“ ist der, der Gemeinschaftstreue übt und sich gleichzeitig mit JHWH eng verbunden weiß. „Verschwunden“ impliziert eine Vernichtung, für die vor allem auch V. 2b steht. Hat V. 2aα in erster Linie wohl die Beziehung zu Gott im Blick, so V. 2aβ die ethische Dimension. Dabei steht im Hintergrund von V. 2aβ nicht zuletzt Mi 3,9, insofern den führenden Kreisen Israels vorgeworfen wird, das „Recht“ ‫ה‬ zu verabscheuen. Bezieht sich die Kritik in Mi 3 und Mi 6,9–16 lediglich auf Menschen in Israel, geschieht hier nun offensichtlich eine Ausweitung. So könnte man aufgrund der Näherbestimmungen ‫ץ‬‫ן־‬ „aus dem Land“ bzw. „von der Erde“ und vor allem ‫ם‬ „bei den Menschen“ erwägen,15 ob es sich hier nicht um eine über Israel hinausgreifende Beschreibung der allgemeinen Situation handelt. Eine solche impliziert ja bereits die in Mi 6,8 verwendete Anrede „Mensch“ und das in V. 13b angekündigte Weltgericht, bei dem das Land / die Erde wegen der Taten ihrer Bewohner verwüstet wird. V. 2b verwendet Jagdmetaphorik: „sie lauern“ bzw. „legen einen Hinterhalt“ ‫בוּ‬, „sie jagen“ ‫צוּדוּ‬ oder auch „mit dem Netz“ ‫ם‬, wodurch ein sehr lebendiges und von Aggression geprägtes Bild entsteht. Mit „Bluttaten“ wird ein Begriff aus Mi 3,10 aufgegriffen,16 wo den führenden Kreisen vorgeworfen wird, Zion mit Bluttaten zu erbauen. Nun lauern alle auf solche Bluttaten (zur Formulierung vgl. Spr 1,18). Gemeint sind damit schwerste Verbrechen, die nicht nur unrechtmäßiges Töten umfassen, sondern auch Menschen in ihrer Existenz vernichten (vgl. Mi 3,3f.). Man bringt den Schwächeren sprichwörtlich „zur Strecke“. V. 2bβ greift eine weitere Jagdmetaphorik auf. Insbesondere für den Fischfang (vgl. Hab 1,15; Ez 47,10) verwendete man Netze. Auffällig ist, dass hier „Bruder“ ‫ח‬ das sonst eher für „Nächster“ übliche  ersetzt. Soll damit angedeutet werden, dass die Jagd auf den anderen auch vor verwandtschaftlichen Beziehungen nicht haltmacht? Dann klingt bereits hier das in V. 6 beschriebene familiäre Chaos an. V. 3 besteht aus einem Nominalsatz in V. 3aα mit angeschlossenem Infinitiv, V. 3 auf den drei kurze Verbalsätze in V. 3aβ.bα(wahrscheinlich).bβ mit jeweils singularischen Verbformen (3. Pers. masc. sing.) folgen. Diese Reihe schließt eine pluralische Verbform in V. 3c ab. Damit ergibt sich, dass eine Reihe bestehend aus Einzelgrößen „Fürst“, „Richter“, „Großer“ mit ihrem jeweiligen Verhalten durch zwei allgemein gehaltene Aussagen gerahmt wird, die sich offensichtlich auf das Verhalten aller drei genannten personalen Größen beziehen. Eine abweichende Interpretation in G G verändert die Struktur, insofern sie die drei Größen zu zweien verkürzt („Herrscher“ und „Richter“) und bereits V. 3bβ als eine ihr Verhalten prägende Zusammenfassung versteht. In V. 3c verändert sie die Satzgrenze und zieht die abschließende Verbform bereits zum nächsten Vers (s. o.).

Soweit verständlich, geht es in V. 3 um ein völlig korruptes Verhalten der Staat und Gesellschaft bestimmenden Größen. In V. 3aα klingt Zynismus an, wenn die Wurzel ‫„ רע‬Böse“ mit einer Verbform von ‫„ יטב‬gut“/„sorgfältig“/„sittlich“ handeln verbunden wird.17 Sie führen also das Böse so sorgfältig aus, wie es eigentlich für das 15 KESSLER, Micha, 288. 16 KESSLER, Micha, 289. 17 Es liegt hier ein Oxymoron vor, so DECORZANT, Gericht, 127.

228

Mi 7,1–7

sittlich gute Tun gelten müsste. Damit klingt der Vers an Mi 3,2 an, wenn dort von den Häuptern des Hauses Jakobs gesagt wird, sie würden das Böse lieben.18 „Hände“, eigentlich besser die „innere Handfläche“, bezieht sich auf die Konkretion der Tat. Das heißt, sie strecken die Hände aus, um sie mit Bösem zu füllen (vgl. Jes 59,6). V. 3aβ.b nennt differenziert drei Größen, die zu den leitenden Persönlichkeiten gehören und gegenüber Mi 3,11 „modernere“ Begrifflichkeiten enthalten. An deren Verhalten zeigt sich der in V. 3aα formulierte Vorwurf besonders deutlich. Der ‫שׂר‬ bezeichnet einen Anführer oder Vorgesetzten, vor allem einen königlichen Beamten, der Befehlsgewalt besitzt. Da unbestimmt bleibt, was er fordert, geht es hier offensichtlich um ein Verhalten, bei dem dieser seine Macht zugunsten seines eigenen Vorteils missbraucht, indem er ein ausbeuterisches Verhalten an den Tag legt. Der ‫שׁפט‬, unter dem man gewöhnlich einen verbeamteten Richter versteht, erscheint zusammen mit dem ‫ שׂר‬als eine führende Persönlichkeit auch in Ex 2,14 und Am 2,3. ‫לּוּם‬ bezeichnet die Vergeltung bzw. Erstattung, worunter aufgrund des Kontextes wohl die Bezahlung zu verstehen ist, sodass es um die Bestechlichkeit des Richters geht. Von Bestechlichkeit aber sprechen auch Mi 3,11 und Jes 1,23. Dass dies ein verbreitetes Problem war, zeigt auch Dtn 16,19. Der „Große“ bezeichnet einen Vornehmen und Angesehenen. ‫ת‬ „Begehren“ ist an den beiden anderen alttestamentlichen Belegstellen, Spr 10,3 und 11,6, negativ konnotiert, sodass hier an ein gieriges, selbstsüchtiges Verlangen zu denken ist, welches wiederum dem Verhalten der beiden zuerst Genannten entspricht. Bei „sie verflechten es“ ‫תוּ‬ geht es wohl nicht um ein pervertierendes Tun,19 sondern um die Anfertigung eines Flechtwerkes aus Bösem (‫ת‬ bezeichnet das Seil), eine Art Verfilzung.20 V. 4: Struktur V. 4a besteht aus zwei Nominalsätzen, wobei V. 4aα einen Vergleich bietet. V. 4bα bildet einen Verbalsatz, dessen Subjekt entsprechend der Verbform (3. Pers. sing. fem.) „deine Heimsuchung“ bildet. „Tag deiner Späher“ könnte ebenfalls Teil des Subjektes, aber auch nur eine vorausgehende Zeitangabe sein, i.S. von: „Der Tag deiner Späher [ist da], deine Heimsuchung […]“. Aufgrund der Suffixkonjugation bildet V. 4bα die Feststellung eines eingetretenen Ereignisses, V. 4bβ hingegen beschreibt aufgrund der Präfixkonjugation die künftige Folge. Durch das ePP 3. masc. pl. nimmt ‫ם‬‫ טוֹ‬die Bedeutung „ihr Bester“ an. Die V. 4a Wurzel korrespondiert mit dem in V. 3aα beschriebenen „Gutmachen“ der Hände zum Bösen.21 Der Dornstrauch, mit dem die Wüsten und Steppen Palästinas bedeckt sind, gilt als nutzloses Gewächs, das nicht einmal den ersehnten Schatten spendet (vgl. Ri 9,15), vielmehr das Vorankommen behindert, indem man sich darin verheddern kann (vgl. Spr 15,19). ‫ר‬ „Rechtschaffener“ gibt dem vorausgehenden ‫ם‬‫טוֹ‬, das durchaus auch i.S. von „geeignet“ verstanden werden kann, eine eindeutig ethische Konnotation. Ein „Rechtschaffener“ ist jemand, der den geraden Weg geht und damit im Gegensatz zu dem in V. 3bβ beschriebenen Verhalten steht. Gleichzeitig wird der Vergleich aufgegeben: Der vermeintlich Rechtschaffene ist schlimmer als eine Dornhecke, die ein undurchdringliches Verhau bildet und jedes Fortkommen hemmt (vgl. die ähnliche Metaphorik in Jes 5,6, wo im Weinberg JHWHs anstelle von Trauben „Dornen und Disteln“ sprießen). 18 19 20 21

KESSLER, Micha, 289. EÜ (1980): „so verdrehen sie das Recht“. SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 211, verweist auf Jes 5,18. ZAPFF, Studien, 168.

Synchrone Analyse

229

Unter „Späher“ sind wohl Propheten zu verstehen (vgl. Jes 52,8; Jer 6,17; Ez 3,17; 33,2.6.7; vgl. auch die Stichwortverbindung mit V. 7a), die den künftigen Gerichtstag angekündigt haben (vgl. Mi 3,12). „Tag“ steht für den Zeitpunkt des Eingreifens JHWHs und verbindet sich möglicherweise mit der Vorstellung des Tages JHWHs,22 der ursprünglich als Tag des heilvollen Eingreifens JHWHs zugunsten seines Volkes nun zum Tag des Gerichtes mutiert (vgl. Am 5,18). Es ergibt sich daraus eine Stichwortverbindung mit den Vv. 11f., wo der „Tag“ aufgrund des Sündenbekenntnisses Zions zu einem Tag des Heils wird. „Heimsuchung“ beinhaltet ebenfalls eine ambivalente Konnotation, insofern sich damit sowohl ein heilvolles als auch ein strafendes Handeln JHWHs verbinden kann, das mit einer Prüfung verbunden ist. Dabei scheint ein Rückbezug auf Hos 9,7 vorzuliegen,23 wo in fast identischer Weise davon die Rede ist, dass „die Tage der Heimsuchung gekommen sind“ ‫אוּ‬ ‫ה‬ ‫י‬. Durch „jetzt“ ‫ה‬ wird dieser Gerichtstag als eingetroffen und werden seine Auswirkungen als präsentisch charakterisiert. Das Nomen „Bestürzung“ ‫ה‬‫בוּ‬ (wörtl. „[nun wird] ihre Bestürzung [sein]“) findet sich nur noch in Jes 22,5, ebenfalls in Zusammenhang mit der Zeitangabe „Tag“. Auch dort ist es Ausdruck der Bestrafung. Durch die Verwendung dieses seltenen Nomens wird wohl auf schriftgelehrte Weise die dortige Situation eingespielt, nämlich die Bedrohung Jerusalems, die allerdings zur Umkehr hätte genutzt werden können. Das in V. 3 beschriebene gesellschaftliche Chaos bleibt nicht allein in der Öffentlichkeit, sondern reicht – entsprechend V. 5 – bis hinein in den persönlichen Bereich, sodass niemand davor bewahrt wird. Dabei scheint eine Steigerung bezüglich der Nähe und Intimität angestrebt zu sein.24 So bezeichnet  „den Nächsten“, aber auch den „persönlichen Freund“, wobei der Parallelbegriff ‫לּוּף‬ „Vertrauter“ noch einen intimeren Aspekt zum Ausdruck bringt.25 „Glauben“ und „vertrauen“ sind theologisch geprägte Begriffe und bei profanem Gebrauch eher mit einem negativen Klang verbunden:26 Einzig JHWH verdient wirklich Vertrauen. Auffällig ist die Ähnlichkeit mit Jer 9,3 (vgl. die Stichworte „vor deinem bzw. seinem Nächsten“ ‫הוּ‬; „hütet euch“ ‫רוּ‬; „vertraut nicht“ ‫חוּ‬‫ל־‬), wobei die Situation in ihrer Dramatik nochmals gesteigert wird. Bei „die in deinem Schoß schläft“ deuten sich sexuelle Konnotationen an,27 sodass auch der intimste Bereich menschlichen Miteinanders von der allgemeinen Korruption nicht verschont bleibt. Die in Mi 2,6 beschriebenen Anfeindungen des Propheten gelangen damit zum Höhepunkt. Dies führt gleichzeitig, sozusagen als Kontrast, zu der Aussage in V. 7, wonach eigentlich nur JHWH allein Glauben und Vertrauen verdient. Das Bild vom „Hüten der Tore“ findet sich nochmals in Spr 8,34, wo es sich auf die Äußerungen der Weisheit bezieht. Wie die Tore der gefährdetste Teil der Stadtbefestigung sind, so ist es eben auch der Mund eines Menschen, der sich durch Unaufmerksamkeit seiner Rede selbst zugrunde richten kann (vgl. auch Spr 21,23). 22 So bereits JEREMIAS, Micha, 216; vgl. auch DECORZANT, Gericht, 132. 23 Vgl. auch Jes 10,3, wo ebenfalls von einem „Tag der Heimsuchung“ und zwar im Zusammenhang mit schwersten Verfehlungen der Führungsschicht Jerusalems gesprochen wird. 24 WOLFF, Micha, 182. 25 KESSLER, Micha, 291. 26 Vgl. JEPSEN, Art. ‫ן‬: ThWAT I, 331, und Art. ‫ח‬‫ׇב‬: ThWAT I, 610. 27 WOLFF, Micha, 182.

Vv. 4b-6: Der Gerichtstag JHWHs und seine Folgen

V. 5

230

Mi 7,1–7

V. 6 Blickte V. 5 auf das gleichaltrige Beziehungsfeld eines Israeliten (Freunde/Frau

bzw. Geschlechtspartnerin), so hat V. 6a.bα die aus der Beziehung in V. 5b entstammenden Kinder bzw. deren Partner im Fokus. Ist die in V. 5 geschilderte Beziehungsebene entgegen der damit verbundenen Erwartung (Freundschaft, Liebe) von Misstrauen geprägt, so zeichnet sich bei den Kindern bzw. deren Partnern anstelle der zu erwartenden Ehrung der Eltern bzw. Schwiegereltern eine Haltung der Rebellion und des Aufstands ab. Auf dieser Linie liegt auch V. 6bβ, wo von den „Menschen seines Hauses“ die Rede ist. Es handelt sich dabei wohl um die Sklaven und Bediensteten eines Hausstandes,28 sodass die Helfer nun zu Feinden des Hausherrn werden.29 Das Chaos hat damit den für das Überleben so wichtigen Bereich der eigenen Familie erreicht. Der Ort und die Menschen, die eigentlich vor Feinden schützen sollen, werden zum Ort der Feindschaft. Die Wurzel ‫ נבל‬beinhaltet nicht nur die Bedeutung „jemanden verächtlich behandeln“, sondern meint vielmehr, jemanden gänzlich zu verwerfen. Auf das Verhältnis zwischen Sohn und Vater angewandt, bedeutet dies, dass der Sohn etwa seiner Verpflichtung, für den altgewordenen Vater zu sorgen, nicht nachzukommen bereit ist.30 „Sich gegen jemanden erheben“ ist im Kontext einer militärischen Operation beheimatet (vgl. Hos 10,14) und bedeutet nichts anderes als ein kriegerisches Vorgehen. Die Erwähnung der Schwiegertochter in V. 6bα macht deutlich, dass die Frau in das Haus ihres Mannes übergesiedelt ist. Das hier geschilderte Verhalten steht dabei in Kontrast zu der überaus positiv skizzierten Beziehung zwischen Rut und ihrer Schwiegermutter in Rut 1,6–22, die offensichtlich so etwas wie ein Ideal darstellt. In jedem Fall bildet der Abschluss von V. 6 eine Art Tiefpunkt in der Michaschrift.31 Er kennzeichnet eine dramatische Vereinzelung, in die jeder angesichts des allgemeinen Chaos gerät. Rezeption im Neuen Testament Rezipiert wird der Vers in Mt 10,35f./ Lk 12,53, indem Jesus in dieser Weise die durch sein Auftreten und seine Verkündigung bewirkte Spaltung beschreibt, die auch vor der Familie als intimsten Bereich menschlichen Lebens nicht haltmacht (s. o.).

V. 7: Das In V. 7 meldet sich der Sprecher von V. 1 wieder ausdrücklich zu Wort. Das BeVertrauen des kenntnis des Sprechers stellt dabei der Klage in V. 1 eine Vertrauensäußerung Propheten gegenüber. Diese erinnert durchaus, wie so manches andere in den Vv. 1–7 (s. o.),

an die Klage und Zuversicht Jeremias (vgl. Jer 15,10–21; 20,7–18). Durch die adversativ zu verstehende Konjunktion ‫ ו‬und die Betonung durch das Personalpronomen „ich aber“ ‫י‬ setzt sich der Sprecher vom zuvor geschilderten Verhalten und dem allgemeinen Chaos ab, ähnlich wie dies in Mi 3,8 geschieht.32 Dabei liegt auf dem Personalpronomen „ich“ und dem damit verbundenen Objekt „auf JHWH“ eine besondere Betonung. „Ich“ und „Gott“ ist damit die einzige Beziehung, die in dem zuvor geschilderten gesellschaftlichen und familiären Chaos noch Bestand 28 KESSLER, Micha, 292. 29 DECORZANT, Gericht, 135. 30 Vgl. die einschlägigen Vorschriften in der Tora: Ex 21,15.17; Lev 19,3; 20,9; Dtn 21,18–21; vgl. auch UTZSCHNEIDER, Micha, 158. 31 DECORZANT, Gericht, 134, schreibt mit Recht: „Nach Ex 21,15.17 hätten sie theoretisch alle die Todesstrafe verdient (cf. Dtn 27,16)“. 32 Vgl. HAGSTROM, Coherence, 120.

Diachrone Analyse

231

hat. Damit aber fungiert der Prophet als eine Art Stellvertreter des Volkes, dessen Einsatz zur Umkehr und Erneuerung Zions führt (vgl. den sog. Gottesknecht in Deutero-Jesaja, bes. Jes 50,4–9 und 52,13–53,12!).33 Durch die Parallelstellung von „Gott meiner Rettung“ mit JHWH im Vordersatz erfährt der Gottesname in V. 7aβ eine Interpretation (vgl. Jes 12,2b, dort unter Bezug auf Ex 15,2).34 „Spähen“ findet sich in Gestalt des Nomens „Späher“ verschiedentlich als Charakterisierung eines Propheten (vgl. den Stichwortbezug zu V. 4b; vgl. auch Jes 52,8; 56,10; Jer 6,17). Als Verb ist es in Hab 2,1 belegt. Auch dort äußert der Prophet eine Klage und erhofft eine Antwort JHWHs. „Harren“ auf JHWH entspricht der Gebetssprache, wie sie sich vor allem im Kontext der Klage in Psalmen findet (Ps 38,16; 42,6.12; 43,5; 130,5; Klgl 3,24f.). Auch die Gottesprädikation „Gott meines Heiles“ entspricht geprägter (Gebets-)Sprache (Hab 3,18; Ps 18,47; vgl. Jes 17,10 „Gott deines Heiles“). „Meines Heiles“ ‫י‬ beinhaltet die Vorstellung einer Rettung, die nur durch JHWH allein erfolgen kann, sodass „Rettung“ und „Gott“ fast austauschbar erscheinen. Nach der Beschreibung der Aktion des Propheten („spähen“, „harren“) folgt in V. 7c eine Aussage zur erwarteten Reaktion JHWHs (Subjektwechsel). „Mich hören“ erfährt in diesem Kontext die Bedeutung „erhören“.

Diachrone Analyse Die klare Strukturierung und der sich kongruent entwickelnde Gedankengang lässt die Vv. 1–7 als literarisch einheitlich erscheinen. Dafür sprechen nicht zuletzt die fast durchgängig zu beobachtenden Bezugnahmen auf das Buch Jeremia.35 Hinsichtlich Mi 6,9–16 führt Mi 7,1–7 die dortige Thematik weiter und fokussiert sie immer mehr auf die private Sphäre, sodass der hier sprechende Prophet schließlich selbst direkt betroffen ist. Der folgende Abschnitt Mi 7,8–20 ist durch einen gemeinsamen Rückbezug auf das sog. Weinbergslied in Jes 5,1–7 und auf das Schilfmeerlied in Ex 15 mit Mi 7,1–7 verbunden, sodass beide Texte wohl auf dieselbe redaktionelle Ebene zu setzen sind. Redaktionsgeschichtlich wird der Abschnitt aufgrund der formalen Entsprechungen zu Mi 1,8 (Klage) und Mi 3,8 (Betonung der Person des Propheten) gelegentlich der Grundschrift der Michaschrift zugeschrieben.36 Diese Ähnlichkeiten lassen sich jedoch zwanglos auch als bewusste nachträgliche Bezugnahme i. S. einer Fortschreibung verstehen. So handelt es sich hier – ähnlich wie bei Mi 7,8–20 – um eine späte Fortschreibung, die wohl bereits aus hellenistischer Zeit stammt, (siehe auch unten Diachrone Analyse von Mi 7,8–20). Synthese: siehe am Ende der Interpretation von Mi 7

33 DECORZANT, Gericht, 140, spricht mit Recht davon, dass der Prophet als „Vorbild“ präsentiert wird. 34 Bereits DI FRANSICO, Exodus Allusion, 192, stellt diesen Bezugszusammenhang her. 35 Vgl. auch KESSLER, Micha, 287. 36 WÖHRLE, Sammlungen, 178.

Korrespondenz mit Ex 15 und Jes 5,1–7

Mi 7,8–20: Die Zuversicht Zions und seine Erneuerung

8 „Freue dich nicht, meine Feindin, über mich, dass ich gefallen bin: Ich bin aufgestandena, dassb ich im Dunkeln sitze: JHWH ist Licht für mich. 9 Den Zorn JHWHs trage ich, denn ich habe gegen ihn gesündigt, bis er meinen Streit führen wird und mir Recht verschafft. Er wird mich zum Licht führen, ich werde mich weiden an seiner Gerechtigkeit. 10 Und meine Feindin wird es sehen, und Schmach wird sie bedecken. Die zu mir sagt: ‚Wo ist JHWH dein Gott?‘ Meine Augen werden sich an ihr weiden, nun wird sie Zertretenes sein, wie Gassendreck.“ 11 „Ein Tag zum Aufbauen deiner Mauern. Dieser Tag: Weit wird die Grenze seina. 12 Dieser Tag: Und zu dira wird man kommen von Assur und den Städten Ägyptensb und von Ägypten bis zum Strom, und vom Meer zum Meer und vom Bergland zum Berglandc. 13 Und die Erde wird zur Wüste werden wegena ihrer Bewohner, aufgrund der Frucht ihrer Taten.“ 14 „Weide dein Volk mit deinem Stab, die Kleinviehherde deines Erbes, die allein den Wald bewohnen, inmitten des Baumgartens. Sie sollen Baschan und Gilead beweiden wie in den Tagen der Vorzeit.“ 15 „Wie in den Tagen deines Auszugs aus dem Land Ägypten werde ich es Wundertaten sehen lassena.“ 16 Die Völker werden sehen und sich schämen, ohne all ihre Macht. Sie werden die Hand auf den Mund legen, ihre Ohren werden taub.

Mi 7,8–20

233

17 Sie werden Staub fressen wie die Schlange, wie die, die auf der Erde kriechena. Zitternd werden sie aus ihren Festungenb herauskommen, hin zu JHWH unseren Gott werden sie bebenc und sich vor dir fürchten. 18 Wer ist Gott wie du? Der Schuld trägt und am Verbrechen vorbeigeht zugunsten des Restes seines Erbes. Er hält nicht für immera fest an seinem Zorn, denn Gefallen an Güte hat er. 19 Er wird sich unser wieder erbarmen, er wird niedertreten unsere Schulden. Und du wirst in die Tiefen des Meeres all ihre Sündena werfenb. 20 Du wirst Jakob Treue erweisen und Güte Abraham, die du unseren Vätern geschworen hast von den Tagen der Vorzeit her.

Anmerkungen zu Text und Übersetzung 8a G setzt „ich bin aufgestanden“ durch ein adversativ zu verstehendes καὶ, i.S. von „doch“, vom vorausgehenden „ich bin gefallen“ πέπτωκα ab. 8b Den zweiten ‫כי‬-Satz versteht G als Begründung des vorausgehenden „ich bin aufgestanden“, insofern sie das zweite ‫ כי‬mit διότι ἐὰν wiedergibt: „Denn wenn ich (auch) im Dunkeln sitze, leuchtet mir der Herr.“ Letztere Verbform überführt den Nominalsatz in einen Verbalsatz und gleicht damit V. 8bβ den drei anderen Verbalsätzen an. Dabei setzt die Verbform ein hi. von ‫„ אור‬erleuchten“ voraus (vgl. S). 11a G gibt den Vers mit deutlich anderer Sinngebung wieder: „Ein Tag der Anfertigung von Ziegeln. Der Tag deiner Zerstörung ist jener Tag und deine Gesetze werden ausgelöscht“, versteht V. 11 also als ein gegen die Feindin gerichtetes Drohwort. Dabei interpretiert sie den Inf. constr. ‫נוֹת‬ „zum Aufbauen“ als ‫ה‬ „Ziegelstein“. ‫ק‬ versteht G als „Gesetze“ νόμιμά und ‫ק‬ „ist entfernt“ offenbar als ni. ‫ק‬ „wird entfernt werden“. 12a Mit BHS ist in V. 12aα die Vokalisierung von ‫י‬ „zu dir“ (Suffix 2. Pers. masc. sing.) in ‫ַד‬ (Suffix 2. Pers. fem. sing.) entsprechend V. 11a zu ändern. 12b Möglicherweise sind die „Städte Ägyptens“ ‫צוֹר‬ ‫י‬ Verschreibung eines ursprünglichen ‫„ עד מצור‬bis Ägypten“, vgl. V. 12bα. 12c V. 12bβ ist wohl stark verkürzt, sodass jeweils aus V. 12bα ein ‫י‬ und ‫ד‬ „von“ und „bis“ gedanklich zu ergänzen ist (vgl. S). Die Textkritik zeigt zwei Interpretationsweisen. So versteht G ausgehend von den Vv. 10f. V. 12 als Drohwort gegen die in V. 10 erwähnte Feindin und interpretiert dementsprechend den hebräischen Text: V. 12aG „Und an jenem Tag werden deine Städte zur Einebnung kommen und zur (Ver-)Teilung (an) Assur“. G hat hier anstelle von ‫י‬ „zu dir“ ein ‫„ עריך‬deine Städte“ gelesen (Wechsel von ‫ ד‬nach ‫)ר‬. ‫י‬ „von (Assur)“ hat sie als Verbindung eines Constr. ‫י‬ „Teilung“ mit einer nota dativi ‫„ ל‬zur“ aufgefasst. Einzig „Einebnung“ εἰς ὁμαλισμὸν ist somit eine Ergänzung, die keinen Anhaltspunkt im hebräischen Text hat. V. 12bG „und

Eine abweichende Interpretation in G

Eine abweichende Interpretation in G

234

13a 15a

17a

17b 17c 18a

19a 19b

Mi 7,8–20 deine befestigten Städte zur (Ver)Teilung von Tyros bis zum Strom Syriens“. „Städte“ bestätigt zunächst MT (‫י‬). „Befestigte“ interpretiert das erste ‫צוֹר‬ entsprechend Ps 31,22 (‫צוֹר‬ ‫יר‬) als Befestigung (vgl. S, T, V). Das zweite ‫צוֹר‬ hingegen versteht G als eine Verbindung des Ortsnamens ‫„ צור‬Tyros“ mit einer verkürzten Präpositionalverbindung ‫( מן‬vgl. S). „Syriens“ (vgl. T: „Euphrat“) schließlich ist eine Konkretisierung ohne Anhalt im hebräischen Text und soll vermutlich für ägyptische Leser einer Verwechslung mit dem Nil vorbeugen. V. 12bβ hingegen lässt G unübersetzt. T folgt der zweiten, auch von MT bezeugten Interpretationslinie und versteht V. 12 in Fortsetzung von V. 11a als Heilswort, indem er von der Sammlung der Exilierten spricht: „Zu dieser Zeit werden die Exilierten gesammelt […]“ ‫א‬ ‫ן‬‫נ‬‫ת‬ ‫א ההיא‬ G entschärft die doppelte Begründung in V. 13b, indem sie anstelle von ‫„ על‬wegen“ ein ‫„ עם‬mit“ σὺν voraussetzt: „mit denen, die sie bewohnen“ σὺν τοῖς κατοικοῦσιν αὐτὴν. MT setzt einen Sprecherwechsel voraus, insofern nun wieder JHWH spricht: „werde ich es […] sehen lassen“ (vgl. S); G übersetzt mit 2. Pers. pl.: „werdet ihr sehen“ ὄψεσθε. Möglicherweise ist die Änderung u. a. von V. 16a her bedingt, wo davon die Rede ist, dass die Völker „sehen“ werden, sodass das Sehen Zions zu dem der Völker in Kontrast tritt (vgl. Mi 7,9.10!). G bezieht die Partizipialform ‫ץ‬ ‫י‬ „wie die, die auf der Erde kriechen“ unter Streichung der Vergleichspartikel auf die zuvor genannte Schlange, die sie dementsprechend pluralisch wiedergibt: „wie Schlangen, die auf der Erde kriechen“ ὡς ὄφεις σύροντες γῆν. „Aus ihren Festungen“ ‫ם‬‫י‬ übersetzt G mit „in ihrem Loch“ ἐν συγκλεισμῷ αὐτῶν und gibt aufgrund der weiteren Semantik des Lexems die Möglichkeit, im Unterschied zu MT die Schlangenmetaphorik aus V. 17a noch in V. 17bα fortzusetzen. „Sie werden beben“ ‫דוּ‬ übersetzt G mit „sie werden erstaunt sein“ ἐκστήσονται. ‫ד‬ „für immer“ deutet G als ‫ד‬ „zum Zeugnis“ εἰς μαρτύριον und stellt damit einen Bezugszusammenhang mit Mi 1,2 her, wo JHWH als Zeuge auftritt. Dieses Zeugnis, das sich im Zorngericht zeigt, kommt nun an sein Ende. Durch diesen exegetischen Eingriff verstärkt G den bereits in MT vorliegenden Zusammenhang mit Mi 1 (s. u.). „Ihre Sünden“ gleicht G mit „unsere Sünden“ τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν den vorausgehenden Objekt- bzw. Possessivpronomina an (vgl. S). Anstelle der 2. Pers. sing. „du wirst werfen“, welche einen formalen Bruch gegenüber den 3. Pers. masc. sing. Formen in V. 19a darstellt, übersetzt G mit einer passivischen Form 3. Pers. masc. pl. „sie mögen geworfen werden“ ἀπορριφήσονται.

Synchrone Analyse Kontextbezogenheit Mi 7,8–20 schließt scheinbar übergangslos an die Klage des Propheten in Mi 7,1–7 an, insofern auch hier eine Person klagend in direkter Rede spricht. Aus dem Suffix der 2. Pers. fem. sing. in V. 10b lässt sich jedoch erschließen, dass es sich hier um eine weibliche Größe handeln muss. Da entsprechend V. 11 deren Begrenzungsmauern wiederaufgebaut werden, geht es offensichtlich um eine Stadt, wahrscheinlich das gedemütigte Zion.1 Stichwortbezüge zu Jes 5,1–7 (vgl. vor allem 1

So mit vielen anderen NOGALSKI, Precursors, 146.

Synchrone Analyse

235

Vv. 10f.) deuten darauf hin, dass Israel/Juda, welches dort im Bild des Weinbergs JHWHs gezeichnet wird, nun das angedrohte Gericht getroffen hat und damit die Drohung von Mi 3,12 Wirklichkeit geworden ist. Der Rückbezug auf Jes 5 wiederum verbindet Mi 7,8–20 mit Mi 7,1, indem der Prophet – ähnlich wie in Jes 5,4b – das Fehlen von Trauben im Weinberg beklagt. Rückbezüge auf Mi 6 (vgl. z. B. Mi 6,5 / 7,14a [Bileam]; Mi 6,4 / 7,15 [Exodus]; Mi 6,2b / 7,9b [Rechtsstreit]) deuten darauf hin, dass Mi 7 in verschiedener Weise auf die dortigen Aussagen antwortet. So wird z. B. einem Handeln Gottes gegen Israel (Mi 6,2b) ein Handeln Gottes zugunsten Israels (Mi 7,9b) und den Forderungen Gottes (Mi 6,8) seine vergebende Barmherzigkeit gegenübergestellt (Mi 7,18f.).2 Weiterhin liegen Korrespondenzen zu Mi 6,9–16 vor. Den dort beschriebenen Hunger bittet das Gebet in Mi 7,14b zu beenden. Den beiden Negativbeispielen der Sünden Omris und Ahabs stellt Mi 7,20 die beiden Vorväter Israels Jakob und Abraham gegenüber, die JHWH anstelle des Gerichts zur Vergebung motivieren sollen.3 Eine vergleichbare Abfolge des Vertrauensbekenntnisses eines Einzelnen (V. 7) und dessen Übernahme durch ein Kollektiv (V. 8) findet sich auch in Jes 12,2.4. So wird dort auf eine ähnliche Weise der Prophet zum Vorbild und Mittler4 des Volkes. Das Vertrauen Zions auf JHWH führt zu einer Umkehrung der Situation, sodass die einstige Feindin Zions nun ein ähnliches, ja noch schlimmeres Schicksal erfahren muss. Damit wiederum wird offensichtlich nicht nur der Bogen zur Situation Zions und zum Spott der Völker in Mi 4,11 geschlagen, sondern zugleich bereits auf den in den folgenden Schriften Nahum und Habakuk geschilderten Untergang der beiden Erzfeinde Zions vorausgeblickt (vgl. die vielfältigen Stichwortverbindungen von Mi 7,8–20 mit Nah 1,2–8, insbesondere die Variation, der auch in Mi 7,18f. vorliegenden Anspielungen auf die Gnadenformel in Ex 34,6f.).5 Verschiedenes erinnert auch an Jes 12,1–6 und seine Stellung im Jesajabuch. Dazu zählt zum einen die Positionierung von Mi 7,8–20 als liturgisch geprägten Text mit einer Wendung des Geschicks Zions vom Gericht über Jerusalem/Zion zum Gericht über die Erzfeinde Israels Assur und Babylon, zum anderen die Abfolge von Mi 7,8–20, die in die Hinwendung der Völker zu JHWH mündet (vgl. Mi 7,17) und ihr Ziel in der Erneuerung des Verhältnisses JHWHs zu Zion findet (Mi 7,20). Außerdem weisen beide Texte jeweils eine Aktualisierung des Exodusmotivs auf (vgl. Jes 12,2 / Mi 7,15.19b).

Textinterne Aussagegestalt An das Vertrauensbekenntnis des Propheten in Mi 7,7 knüpft in V. 8 eine weibliche Sprecherin, wahrscheinlich Zion, an. Sie macht sich damit die Haltung des Propheten zu eigen. Klagt der Prophet über Missstände, die die Gesellschaft bis hinein in den familiären Bereich zu einer Art Raubtierhaus machen, so ist Zion in den Vv. 8–10 mit dem Spott ihrer Feindin konfrontiert, die jedoch durch das Handeln 2 3 4 5

ZAPFF, Studien, 233f.; vgl. auch UTZSCHNEIDER, Micha, 156. Ausführlich verweist auf diesen Zusammenhang CRUZ, Yahweh, 228f. KESSLER, Micha, 298, verweist u.a. auf Am 7,1–6; vgl. auch DEMPSTER, Micah, 173f. Ausführlich NOGALSKI, Processes, 103–111; ZAPFF, Studien, 269f.

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Mi 7,8–20

JHWHs selbst Schmach erleiden wird. Ähnlich wie im Fall des Propheten in den Vv. 1–7 wandelt sich auch hier die Klage in zuversichtliches Vertrauen. Die Vv. 11–13 bilden eine Verheißung – wahrscheinlich – JHWHs für die Zukunft, die nicht nur eine universale Wallfahrt nach Zion, sondern zugleich ein Weltgericht ankündigt. Sie bestätigt, dass sowohl das Vertrauen des Propheten wie auch die ihm nacheifernde Zuversicht Zions gerechtfertigt sind. V. 14 ist durch die direkte Anrede JHWHs als Gebet charakterisiert. Subjekt scheint hier der Prophet selbst zu sein, der – stellvertretend für Zion6 – um eine Wendung der Situation bittet. V. 15 ist die Antwort JHWHs auf dieses Gebet. Ob V. 16 noch zur JHWH-Rede gehört, ist unsicher. In jedem Fall ist V. 17bβ.γ wieder Prophetenrede und setzt damit das Gebet von V. 14 fort. V. 17 beschreibt eine künftige Bekehrung der Völker zu JHWH, die sich damit markant vom Schicksal der Feindin in V. 10d unterscheiden. Die Vv. 18–20, in welchen sich der Prophet, ähnlich wie in V. 17bβ, offenbar als Teil des Volkes (vgl. die Rede in der 1. Pers. pl.!) versteht, hat bekenntnis- wie auch hymnenartige Züge und greift das Thema der Sünde auf, das bereits im Bekenntnis Zions in V. 9 eine Rolle gespielt hat. Mit der auf die Gnadenformel in Ex 34,6f. bezugnehmenden Zuversicht, dass JHWH die Schuld vergeben wird, schließt der Abschnitt nicht nur Mi 7, sondern zugleich ein zentrales Thema der gesamten Michaschrift (vgl. Mi 1,5) wirkungsvoll ab.

Einzelauslegung Vv. 8f.: Klage Einem Vetitiv in V. 8aα folgen zwei Begründungen für die Freude der Feindin („Ich und Zuver- bin gefallen“; „ich sitze im Dunkeln“), die durch eine ihnen entgegenstehende sicht Zions Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes aufgehoben werden („Ich bin aufge-

standen“; „JHWH ist Licht für mich“). Schließlich tritt die zweite Aussage „(JHWH ist Licht) für mich“ (‫ )לי‬in Kontrast zur Schadenfreude der Feindin, die sich „über mich“ (‫ )לי‬nicht freuen soll7 (vgl. Jes 14,8; Obd 12). Zwar entspricht V. 8 formal V. 7, insofern hier ebenfalls direkte Rede vorliegt, dennoch gibt es Hinweise, dass das Subjekt wechselt. So spricht das Subjekt in V. 8 von seiner Feindin, die ausdrücklich als weiblich gekennzeichnet wird. Weibliche Größen aber sind im Alten Testament, wenn sie denn als Feindinnen wahrgenommen werden, meistens Städte (vgl. Jes 47) oder Völkerschaften (vgl. z. B. Jes 14,29).8 Dann aber geht es hier aller Wahrscheinlichkeit nach um die Feindschaft zweier Städte, sodass es sich bei der Sprecherin in V. 8 wohl um Zion handelt. Ist in der Prophetenrede in den Vv. 1–7 die gesellschaftliche und zwischenmenschliche Perspektive leitend, tritt nun das Verhältnis Zions zur Völkerwelt in den Blick (vgl. die Stichwortverbindung: „Feinde“ V. 6b / „Feindin“ V. 8a). Wer sich hinter der Feindin verbirgt, bleibt zunächst unbestimmt. Von Obd 12 her gelesen, wo sich ein ähnlicher Vetitiv findet, könnte man an Edom denken. Von den folgenden beiden Schriften im Dodekapropheton her, Nahum und Habakuk, die sich gegen Assur und Babel wenden, käme auch eine dieser Großmächte in Frage, zumal 6 7 8

So auch DECORZANT, Gericht, 177. Nach DECORZANT, Gericht, 143, erklärt dies auch die jeweilige Schlussstellung des ‫לי‬. Dies spricht auch gegen die Annahme SMITH-CHRISTOPHERS, Micah, 216, der an einen „internal enemy“ denkt.

Synchrone Analyse

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insbesondere Babel als Antipode zu Zion im Alten Testament immer wieder belegt ist (vgl. Jes 47/52). Vermutlich aber wird hier bewusst offen formuliert, um verschiedene Assoziationen des Lesers zu ermöglichen. „Fallen“ impliziert Untergang und Zerstörung (vgl. Jes 21,9). „Stehen“ (als Gegensatz zum Fallen, vgl. Spr 24,16) hingegen Erneuerung (vgl. Jes 52,2). Das Perfekt weist darauf hin, dass sich das „Aufstehen“ bereits vollzogen hat. Aufgrund des Kontextes ist hier wohl von einer sittlichen Erneuerung Zions auszugehen.9 Hingegen macht V. 9a darauf aufmerksam, dass Zion gegenwärtig noch die V. 9 Folgen seiner Schuld zu tragen hat (jiqtol-Form). Möglicherweise ist hier an die schwierigen Verhältnisse in nachexilischer Zeit zu denken, die sich allerdings nicht historisch eingrenzen lassen. Die folgende Metaphorik hat vor allem Anklänge an das Jesajabuch. Von einem Volk „in Finsternis“ spricht etwa Jes 9,1; dabei besteht insbesondere eine Verbindung mit Jes 47,5, insofern es nun Babel selbst ist, welches in die Finsternis gehen muss. Finsternis als Symbol der chaotischen Gegenwelt, die der altorientalische Mensch beim Einbruch der Dunkelheit besonders bedrängend erfahren hat, ist indes Inbegriff der Todesnähe. Davon setzt sich V. 8bβ kontrastierend als zuversichtliches Bekenntnis ab, das aufgrund der Form des Nominalsatzes ein „zeitunabhängiges Bekenntnis“10 ist. Zur Identifikation JHWHs mit „Licht“, das von der Symbolik her „Leben“, „Glück“, „Heil“ und „Hilfe“ impliziert, vgl. Ps 27,1; Jes 60,1. Traditionsgeschichtlich weist dies auf die epigraphisch belegte Verbindung JHWHs mit solaren Attributen hin.11 Das in V. 9 für „Zorn“ verhältnismäßig selten verwendete Lexem ‫ף‬ hat die Bedeutung eines wütenden Zornes, der ein entsprechendes strafendes Handeln JHWHs nach sich zieht (vgl. Jes 30,30). Die Beschreibung der Situation Zions entspricht der Tatsache, dass es einer schweren Schuld überführt wurde.12 Daran knüpft ein dementsprechendes Schuldbekenntnis in V. 9aβ an (vgl. Jos 7,20; 2 Sam 12,13; Ps 41,5), das zugleich als Ausdruck der „Bereitschaft, die Folgen bis zur Rekonziliation zu tragen“,13 zu verstehen ist. Kessler meint wohl mit Recht, dass hier ein Rückbezug zum missglückten Sühneversuch in Mi 6,6f hergestellt wird. V. 9b.c. formuliert demgegenüber die Hoffnung Zions. Die fig. etym. „einen Streit streiten“ ist idiomatisch verschiedentlich belegt (Spr 22,23; 23,11; Jer 50,34) und verweist zusammen mit „Recht verschaffen“ (vgl. Ps 9,5) auf den forensischen Bereich, wo JHWH dem von seinen Anklägern bedrängten Zion zu seinem Recht verhilft. Gegenüber Mi 6,2b hat sich damit die Situation grundlegend gewandelt: Prozessgegner JHWHs ist nun die Feindin Zions.14 Möglicherweise besteht auch ein Bezugszusammenhang mit Mi 6,8:15 Was JHWH vom Menschen fordert, ist er selbst bereit zu tun, nämlich Recht zu verschaffen. V. 9c knüpft an die Situationsbeschreibung Zions in V. 8b an. „Herausführen“ assoziiert durch die Verwendung der im 9 Vgl. WOLFF, Micha, 196; KESSLER, Micha, 300, denkt an die Rückkehr aus dem Exil. 10 DECORZANT, Gericht, 149. 11 KESSLER, Micha, 301, wobei er betont, dass diese solare Vorstellung in Mi 7,8–10 „keineswegs zu eng gesehen werden“ darf. 12 Möglicherweise besteht aufgrund der Verwendung der Wurzel ‫„ נשׂא‬tragen“ ein Rückbezug zu Mi 6,16, so DECORZANT, Gericht, 150. 13 FREEMAN/WILLOUGHBY/FABRY, Art. ‫ ׇנׇשׂא‬nāśāʾ: ThWAT V, 635. 14 Ähnlich bereits KESSLER, Micha, 300; JEREMIAS, Micha, 225. 15 DECORZANT, Gericht, 151.

238

V. 10: Das Schicksal der Feindin Zions Korrespondenz zum „Weinbergslied“ Jes 5,1–7

Mi 7,8–20

Exodus beheimateten Wurzel ‫( יצא‬vgl. V. 15aα) ein Befreiungsgeschehen. „Licht“ – diesmal nicht wie in V. 8bβ als Charakterisierung JHWHs16 – steht für neues Leben und Heil. Dem entspricht „an seiner Gerechtigkeit“ i.S. des gerechten Wirkens JHWHs (vgl. Ps 22,32; 98,2; 112,9), das nun im Licht, welches Zion umgibt, wahrgenommen werden kann. Dabei wird dieses Sehen durch die Präposition ‫ ב‬intensiviert, sodass sich eine Übersetzung mit „weiden an“ i.S. von „mit Freuden ansehen“ 17 nahelegt. Inhaltlich wird dabei ein Bogen zu Mi 4,11b geschlagen, wenn dort die Völker ihrerseits mit der Absicht zitiert werden, ihre Augen an dem entweihten Zion zu weiden (‫ינוּ‬‫י‬ ‫יּוֹן‬ ‫ז‬). V. 10aα ist mit V. 10c durch das Stichwort „sehen“ verknüpft. Die Metaphorik in V. 10d expliziert jene Beschämung der Feindin, von der V. 10aβ spricht. Damit aber bildet V. 10b mit dem Zitat der Feindin, in welchem diese über die vermeintliche Abwesenheit JHWHs spottet, das Zentrum des Verses. Durch das Stichwort „sehen“ knüpft V. 10aα an das freudige Sehen der Gerechtigkeit JHWHs durch Zion in V. 9cβ an. Gleichzeitig wird durch „meine Feindin“ ein Bogen zu V. 8aα geschlagen, der seinerseits von der Freude der Feindin berichtet. Darf nun Zion in Freude die Änderung seiner Situation wahrnehmen, so wandelt sich die Freude der Feindin in Beschämung. Durch die Wortverbindung „Schande wird dich bedecken“ ergibt sich wiederum eine Verbindung mit Obd 10, insofern Edom dort dasselbe Schicksal angedroht wird, sodass sich auch von daher eine mögliche Identifikation der Feindin ergibt. „Bedecken“18 weist von der Metaphorik her auf V. 10d voraus, wo die Feindin zum „Zertretenen“ wird. Das Zitat der Feindin erinnert an dasjenige der Zion bedrängenden Völker in Mi 4,11b und deren in Mi 4,13 beschriebenes Schicksal, nämlich von Zion zertrampelt zu werden. Inhaltlich klingt die den Beter bedrängende Frage seiner Feinde in Ps 42,4.11 an, die nun der Feindin Zions in den Mund gelegt wird (im Mund der Völker in Joël 2,17; Ps 79,10; 115,2). Dabei wird durch die Aufnahme des Gottesnamens JHWH eine Verschärfung bewirkt,19 ergibt sich doch eine Assoziation zur Bundesformel aus Dtn 26,17, mit der sich JHWH als Gott seinem Volk verpflichtet. Er, der mit seinem Namen für hilfreiche Präsenz bürgt (vgl. Ex 3,14), scheint seinem Namen untreu geworden zu sein. Damit aber steht auch JHWHs Ehre selbst auf dem Spiel. Darüber hinaus wird durch „meine Augen werden sich an ihr weiden“ ein weiterer Stichwortzusammenhang mit V. 9cβ und V. 10aα hergestellt: Das freudige Sehen Zions steht der (erschreckten) Wahrnehmung des Schicksals Zions seitens der Feindin gegenüber, und die Gerechtigkeitstat JHWHs zeigt sich in der Erniedrigung der Feindin. Die Beschreibung des Schicksals der Feindin, das durch „nun“ Gegenwartscharakter bekommt, greift auf das Weinbergslied in Jes 5,5 zurück. Wird dort Zion/Jerusalem aufgrund des Gerichtes JHWHs zum zertrampelten Weideland (‫ס‬ ‫ה‬), so ereilt dieses Schicksal nun auch die Feindin. Die bereits hinter Mi 1,6a und Mi 7,1.4a stehende Bezugnahme auf das Weinbergslied in Jes 5,1–6 wird also weitergeführt. „Wie 16 Mutmaßlich ist dies der Grund, wieso G in V. 8bβ JHWH zum Subjekt des Erleuchtens macht und damit einen Unterschied einführt zwischen JHWH als Licht und seiner Tätigkeit. 17 GESENIUS, 735, erste Spalte. 18 Möglicherweise wird hier ein Bezug zu Ex 15,5 hergestellt, wo die Fluten die Feinde bedeckten, vgl. DI FRANSICO, Exodus Allusions, 193. 19 ZAPFF, Studien, 181.

Synchrone Analyse

239

Gassendreck“ ist eine idiomatische Wendung, die wohl aus Ps 18,43 stammt und dort das Schicksal der Feinde des Königs beschreibt, sodass Zion damit in die Rolle einer Königin einrückt (vgl. Mi 4,8). Während sich V. 10d auf das künftige Schicksal der Feindin bezieht, geht es in V. 11 offenbar um das künftige Geschick Zions, das sich in zwei Schritten, gekennzeichnet durch das zweimalige Stichwort „Tag“, vollzieht. Sprecher dürfte hier der Prophet sein. „Tag“ bezieht sich wohl auf den in der Michaschrift bereits mehrfach erwähnten künftigen Tag des Heilshandeln JHWHs (vgl. Mi 4,1.6; 5,9), der mit dem „Tag“ des Gerichtshandelns JHWHs korrespondiert (vgl. V. 4b). Ungewöhnlich ist die Verwendung des Lexems ‫ ׇגֵּדר‬, das weniger eine Stadtmauer als vielmehr die Begrenzung eines Weinberges bezeichnet, welche wilden Tieren den Zutritt verwehren soll (vgl. Num 22,24; Jes 5,5bβ; Ps 80,13; Spr 24,31). Vor dem Hintergrund des schriftgelehrten Bezugs in V. 10b zu Jes 5,5β scheint ein solcher auch hier beabsichtigt zu sein. Dann ist V. 11a als Gegenbild zu Jes 5,5bβ zu lesen: Der Zion als Weinberg JHWHs wird wiederhergestellt, insofern der Tag gekommen ist, an dem seine Weinbergmauern wiedererrichtet werden (vgl. Jes 60,21). Zieht man noch Mi 1,6a hinzu, wenn Samaria zum Schutthügel „für Weinbergpflanzungen“ wird, dann dienen dessen Steine zum Wiederaufbau. Historischer Hintergrund könnte die Konkurrenzsituation zwischen Samaria und Jerusalem in hellenistischer Zeit sein, die eine solche Neuinterpretation auf schriftgelehrter Basis ermöglichte. Die Weitung der Grenze ‫ק‬ wird von vielen Interpreten i.S. einer Ausweitung des künftigen Herrschaftsgebietes Zions verstanden20 (vgl. z. B. Jes 26,15b; 54,2f.), wobei man aber auch an die Entfernung der Abgrenzung zwischen Israel und den Völkern denken könnte (vgl. Sach 9,7).21 Die dritte Zeitangabe „dieser Tag“ mit der Schilderung eines weiteren künftigen Ereignisses verbindet V. 12aα mit V. 11aα. Ist dort von einer Erneuerung Zions und der Erweiterung seiner Grenze die Rede, also von einer Dynamik von innen nach außen, so wird hier nun die umgekehrte Bewegung beschrieben.22 Somit liegt es nahe, den Vers entsprechend der Interpretation von T (s. o.) als Heilswort an Zion zu verstehen. Wer Subjekt des Kommens ist, bleibt unklar. Man kann hier sowohl (mit T) an die Rückkehr der Exilierten denken,23 sowie an eine allgemeine Völkerwallfahrt entsprechend Mi 4,1–324 oder – wahrscheinlich – an beides.25 V. 12aβ.bα steckt den Rahmen dieser Heimkehr ab. Assur und Ägypten (die Bezeichnung ‫צוֹר‬ für Ägypten ist verhältnismäßig selten, vgl. Jes 19,6; 2 Kön 19,24) bezeichnen die beiden Orte der größten jüdischen Diasporagemeinden (vgl. Jes 27,13). Die letzte Formulierung in V. 12bβ bedeutet demgegenüber eine Ausweitung, die den gesamten Erdkreis umschreibt (vgl. Ps 72,8). „Meer“ bezeichnet die das feste Land im Osten wie im Westen der Welt umgebenden Meere, die allenfalls im Hinblick auf das Mittelmeer mit konkreten geographischen Größen identifiziert wurden. „Berge“ steht für die höchsten Erhebungen des Erdkreises, sodass kein Raum als Ausgangspunkt der Heimkehrer unberücksichtigt bleibt. 20 21 22 23 24 25

WOLFF, Micha, 199. So etwa WILLI-PLEIN, Schriftexegese, 108. DECORZANT, Gericht, 163. So etwa KESSLER, Micha, 304; JEREMIAS, Micha, 226. So DEMPSTER, Micah, 185. HILLERS, Micah, 91.

Vv. 11f.: Das künftige Geschick Zions

V. 12 Rückkehr der Exilierten oder Völkerwallfahrt

240

Mi 7,8–20

V. 13: Ein Die Androhung, einzelne Völker oder Städte zur Öde ‫ה‬ zu machen, ist eine umfassendes im Rahmen von Gerichtsworten geprägte Formulierung, sei es gegen Jerusalem Weltgericht (Jer 4,27; Ez 6,14; 12,20) oder sei es gegen Fremdvölker. Eine Universalisierung

eines solchen, ursprünglich gegen ein Einzelvolk gerichteten Wortes – i.S. eines Weltgerichtes wie in V. 13 – findet sich in analoger Weise auch in Jes 13,9. Ähnlich wie hier weitet sich auch dort das Gericht gegen eine einzelne feindliche Größe (Babel, vgl. V. 17) zu einem Weltgericht. Zudem leitet Jes 13 zu Gerichtsworten gegen eine Reihe von Fremdvölkern (Babel, Assur u. a.) über, so wie auch V. 13 von seinem Kontext her als Hinführung zu den beiden im Dodekapropheton folgenden Schriften gelesen werden kann,26 welche von einem Gericht über Ninive (Assur) und Babel sprechen. Durch das Stichwort „Öde“ (auch Mi 1,6) und „Bewohner“ wird ein Rückbezug zu Mi 6,12f.16 hergestellt.27 Damit bleibt das Gericht JHWHs also nicht auf Samaria und Zion beschränkt.28 Dass die Bewohner der Erde Schuld tragen und damit zu Recht dem Gericht JHWHs verfallen, weiß auch Jes 24,1.5. Der Ausdruck „ihre Taten“ ‫ם‬‫י‬ ist häufig negativ behaftet (vgl. Ps 28,4; Jer 23,22; 26,3). Innerhalb der Michaschrift entsteht dabei ein Stichwortzusammenhang mit Mi 3,4, wo die bösen Taten zum Verbergen des Angesichts JHWHs vor den Häuptern Israels führen. So geschieht auch hier eine Ausweitung des Gerichts: JHWH ahndet nicht nur innerhalb Israels das Böse. In „Frucht der Taten“ klingt der weisheitliche Tun-Ergehen-Zusammenhang an (vgl. dazu Jes 3,10f.), wonach die bösen Taten eine Unheilssphäre erzeugen, die auf den Täter zurückfällt. Spricht V. 12 tatsächlich (auch) von einer Völkerwallfahrt, so sind vom Gericht offenbar nur jene Völker betroffen, die nicht zum Zion wallfahrten (vgl. Sach 14,17–19).29 V. 14: Ein Nach den Heils- bzw. Gerichtsankündigungen in den Vv. 11–13 wendet sich nun Gebet des der Prophet in V. 14 in Gebetsform direkt an JHWH.30 Die Vorstellung, dass JHWH wie Propheten ein Hirte sein Volk weidet, ist alttestamentlich mehrfach belegt (vgl. Jes 30,23; Jes 40,11; Ez 34,13ff.),31 wobei sie sich als Aufforderung oder Bitte formuliert nochmals in Ps 28,9 findet. Innerhalb der Michaschrift bezieht sich V. 14a allem Anschein nach auf die Verheißung in Mi 4,6f. zurück. Dort kündigt JHWH an, wie ein Hirte die Hinkenden und Versprengten Israels sammeln zu wollen, womit sich wie nun auch hier vor allem die Vorstellung von Fürsorge und Schutz verbindet. Letzteres wird durch die Erwähnung des Stockes impliziert,32 bei dem es sich um eine Schlagwaffe „mit einem durch Asphalt verstärkten Knauf“33 handelte, die zur Abwehr wilder Tiere eingesetzt wurde. Das Handeln JHWHs tritt damit in Gegensatz zu den in Mi 2/3 erwähnten, auf ihren Eigennutz bezogenen Häuptern und Richtern Israels, sodass ein ähnlicher Gedankengang wie in Ez 34,11–16 vorliegt. Eine Parallelisierung von „Volk“ und „Erbteil“ mit einem auf JHWH verweisenden ePP 2. Pers. masc. sing. 26 Zur Ähnlichkeit von Mi 7 und Jes 11–13 s. o. 27 JEREMIAS, Micha, 227. 28 DECORZANT, Gericht, 167f.: „Die engen Parallelen weisen darauf hin, dass die Einwohner der Nationen verdorben sind – genauso wie es die Israeliten waren.“ 29 Vgl. DEMPSTER, Micah, 185, der an eine Unterwerfung der Völker unter Zion denkt. 30 Jüngst auch wieder CRUZ, Yahweh, 210. 31 Auch hier könnte ein Bezug zu Ex 15,17 im Blick sein, vgl. DI FRANSICO, Exodus Allusions, 192. 32 CRUZ, Yahweh, 215, unter Verweis auf Ps 23,4. 33 WALLIS, Art. ‫ ׇרׇעה‬rāʿăh, ‫ה‬ roʿæh: ThWAT VII, 569.

Synchrone Analyse

241

findet sich wiederum in Ps 28,9 (vgl. auch Joël 2,17). „Dein Volk“ erinnert (wie V. 10b) an die zweiseitige Bundesformel in Dtn 26,18, wonach Israel das Volk seines Gottes JHWH ist. „Erbteil“ beinhaltet die Vorstellung, dass sich JHWH unter allen Völkern sein Volk erwählt hat, das wie das Erbteil eines freien Israeliten am Landbesitz unveräußerlich ist. Hinter V. 14bα steht möglicherweise Num 23,9b, wenn dort Bileam (vgl. Mi 6,5 mit der Erwähnung Bileams [!]) die Besonderheit des vor der Landnahme stehenden Israel in seiner Abgesondertheit von anderen Völkern sieht.34 Mit „Wald“ verbinden sich, insbesondere unter Berücksichtigung von Mi 3,12 (!),35 eher negative Konnotationen,36 sodass damit wohl zum Ausdruck kommt, dass Israel getrennt vom Kulturland – wofür der Karmel i.S. eines Baum- oder Fruchtgartens steht – hausen muss. Für ein solches Verständnis spricht auch die in V. 14c erwünschte Ortsveränderung.37 Dabei bezeichnen die beiden Gebiete „Baschan“ und „Gilead“ nicht nur die äußersten und damit durch Feinde besonders gefährdeten Gebiete des ehemaligen Nordreichs Israels, sondern umschreiben auch besonders fruchtbare Gegenden. So war der sich z.T. mit den heutigen Golanhöhen deckende Baschan berühmt für seine intensive Weidekultur (vgl. die Erwähnung der fetten Baschankühe in Am 4,1) und das nordöstlich des Jordangrabens liegende Gilead fungierte als die Kornkammer des ehemaligen Nordreiches. Es geht hier also sowohl um eine ungefährdete Ausweitung des künftigen Herrschaftsbereiches Israels wie um eine ungestörte Versorgung (vgl. V. 11b). Die Erwähnung beider Gebiete – vor allem die Gileads – findet sich verschiedentlich in jungen Texten des Dodekaprophetons (vgl. Sach 10,10; Obd 19). Mit „wie in den Tagen der Vorzeit“ knüpft diese künftige Perspektive an die ursprünglichen Verhältnisse an, wonach einst beide Landschaften nach der Landnahme zum Gebiet Israels gehörten (vgl. Jos 13,24–28.29–32). Durch den Subjektwechsel in V. 15aβ („Ich“) gibt sich V. 15 als Antwort JHWHs auf die Bitte des Propheten in V. 14 zu erkennen.38 „Wie in den Tagen“ greift dabei die Schlussformulierung dieser Bitte in V. 14bβ auf, womit deutlich wird, dass JHWH tatsächlich an die Tage der Vorzeit und damit an sein einstiges Wirken anknüpft. Entscheidend in diesen „Tagen“ war der Auszug Israels aus Ägypten. Dass es sich hier um den Auszug Israels – und nicht JHWHs – handelt, entspricht der geprägten Formulierung, wonach Israel so gut wie immer Subjekt des Auszuges ist (qal.),39 während JHWH ausziehen lässt (hi., vgl. V. 9cα). Der Rückgriff auf die Befreiung aus Ägypten als Paradigma für das künftige Heilshandeln JHWHs, etwa i.S. eines neuen Exodus, findet sich vor allem in deutero-jesajanischen Texten (vgl. z. B. Jes 43,14–21) und wird von dort in späten heilsgeschichtlichen Fortschreibun-

34 Eine solche strebt auch Esra in Esra 9 an, wenn er dort die Auflösung von Mischehen zwischen Israeliten und Bewohnern des Landes fordert, um die Reinheit des „heiligen Samens“ zu bewahren. 35 Diesen Bezug stellt bereits WOLFF, Micha, 201, wenn auch mit aller Vorsicht, her. 36 CRUZ, Yahweh, 218. 37 Vgl. CRUZ, Yahweh, 219, der insbesondere auf Jer 50,19f. verweist; vgl. auch UTZSCHNEIDER, Micha, 166; diese Ortsveränderung spricht auch gegen ein positives Verständnis von „Wald inmitten des Karmel“, wie es KESSLER, Micha, 306, erwägt. 38 Vgl. BARTHÉLEMY, Critique, 780, unter Bezug auf die rabbinische Exegese. 39 Vgl. Ex 13,8; 16,1; 23,15; Num 1,1; 9,1; Dtn 16,3; 23,5. KESSLER, Micha, 307, hingegen geht von einem Auszug JHWHs aus.

Vv. 15–17: Die Antwort JHWHs und ihre prophetische Fortführung Exodusreminiszenz

242

Mi 7,8–20

gen übernommen (vgl. Jes 11,16). Im Kontext der beschriebenen Bedrängnis Zions und der Unheilssituation des Volkes JHWHs in Mi 7,8–10 verbindet sich damit ein neues Befreiungsgeschehen. Darauf verweist nicht zuletzt das Stichwort „ausziehen“ ‫יצא‬, womit ein Bezugszusammenhang mit der Hoffnung Zions in V. 9c hergestellt wird.40 Bei ‫ֽאוֹת‬ handelt es sich um Wundertaten Gottes, „die für die menschliche Seite unerklärlich und unbeschreiblich sind“,41 aber als für die eigene Existenz bestimmende Ereignisse betrachtet werden. Die Begrifflichkeit wird häufig als eine Art zusammenfassende Beschreibung des früheren Heilshandelns JHWHs verwendet, das u. a. auf den Exodus42 bezogen ist (vgl. Ex 3,20; Ri 6,13; Ps 106,7.21f.). „Sehen lassen“ greift wiederum ein Stichwort aus V. 9cβ auf, wo Zion die Zuversicht äußert, JHWHs Gerechtigkeit i.S. einer Heilstat zu sehen. Somit antwortet V. 15 insgesamt auf die in V. 9c formulierte Zuversicht Zions. Das Stichwort „sehen“ in V. 16aα greift „sehen lassen“ in V. 15bβ auf. Nicht nur V. 16 Israel (und die Feindin in V. 10aα) wird JHWHs Wundertaten sehen, sondern auch die Völker werden Zeugen des machtvollen Handelns Gottes. Damit wiederholt sich derselbe, bereits in den Vv. 9cβ.10aα beschriebene Zusammenhang, nun jedoch auf universaler Ebene. Das Schicksal der Feindin erfahren nun die (Heiden)völker. Dies gilt zunächst hinsichtlich der Folgen des Sehens, nämlich der Beschämung (eine vergleichbare Formulierung findet sich in Jes 26,11), vgl. dazu die Vv. 10aβ.16aα. Allerdings bleiben die Völker dabei Subjekt ihrer Beschämung, die, wie sich später zeigt, sie zu einer Reaktion befähigt, während die Feindin zum willenlosen Objekt wird. ‫ם‬‫בוּ‬ „ihre Macht“ bezeichnet vor allem die physische und damit auch militärische Macht der Völker (vgl. Jer 49,35; 51,30), möglicherweise auch deren geistige Potenz (vgl. Jes 11,2),43 wobei diese angesichts der machtvollen Heilstaten Gottes verschwindet (V. 15b). Dies unterstreicht auch die darauffolgende Geste der Völker, die ihr Verstummen vor dem Handeln JHWHs sinnfällig zum Ausdruck bringt (vgl. Ijob 40,4). Diese zeichenhafte Handlung wiederum bildet ein Pendant zu der in V. 10b zitierten spöttischen Äußerung der Feindin, welche sich die Völker mit dieser Geste grundsätzlich verbieten. Möglicherweise besteht auch ein Zusammenhang mit Mi 4,11b, insofern dort die Völker mit der Absicht zitiert werden, sich an der Erniedrigung Zions weiden zu wollen. Haben hier die Völker über ihre grundsätzliche Sprachfähigkeit noch Macht, so erleiden sie in V. 16bβ einen Verlust ihrer Hörfähigkeit (vgl. Ex 15,16, wo sich mit ‫ דמם‬ein Äquivalent zu ‫„ חרשׁ‬taub werden“/„verstummen“ findet und damit auch zur Reaktion der Völker). V. 17 beschreibt ein weiteres Verhalten der Völker angesichts der Wundertaten V. 17 JHWHs. Dabei steht V. 17a in inhaltlicher Analogie zu V. 10dβ, wo ebenfalls von einer Erniedrigung der Feindin in Form eines Vergleichs gesprochen wird. Gleichzeitig wird jedoch auch hier ein Unterschied erkennbar. So fressen die Völker lediglich Staub wie die Schlange, die Feindin hingegen ist wie Gassenkot. Auch hier zeigt sich also das Schicksal der Völker gegenüber dem der Feindin abgeschwächt. Der Vergleich nimmt auf die Verfluchung der zum Ungehorsam gegenüber JHWH verführen-

40 Vgl. ZAPFF, Studien, 192. 41 CONRAD, Art. ‫ פלא‬plʾ: ThWAT VI, 576. 42 Möglicherweise liegt hier ein weiterer Bezug zu Ex 15,11 vor, vgl. DI FRANSICO, Exodus Allusions, 193. 43 CRUZ, Yahweh, 221.

Synchrone Analyse

243

den Schlange in Gen 3,14 Bezug.44 Ebenso könnte ein bewusster Gegensatz zur Weidemetaphorik in V. 14 intendiert sein.45 Das Bild verbindet sich mit der im Alten Orient verbreiteten Prostrationshaltung besiegter Feinde (vgl. Ps 72,9; Jes 49,23 […] ‫ר‬ ‫כו‬). Die Formulierung „wie die, die auf der Erde kriechen“ als eine der Schlange entsprechende parallele Begrifflichkeit findet sich in Dtn 32,24 (‫ר‬ ‫י‬). Beides impliziert die Anerkennung JHWHs als König der Welt durch die Völker. Daran knüpft V. 17bα.β an, wobei in V. 17bα offensichtlich ein schriftgelehrter Rückbezug auf Ps 18,46 / 2 Sam 22,46 vorliegt, insbesondere durch das Stichwort „aus ihren Festungen“ ‫ם‬‫י‬. Zwar entsprechen sich die in beiden Textstellen jeweils verwendeten Verbformen hinsichtlich ihrer Semantik ‫גוּ‬ / ‫זוּ‬ „(und) sie werden beben“, ‫ חרג‬wurde jedoch in V. 17bα möglicherweise durch ‫ רגז‬ersetzt, um eine Assoziation zu Ex 15,14 herzustellen,46 wenn dort die Völker angesichts der Heilstat JHWHs erzittern (vgl. auch den Bezug zu Ex 15,11 in Mi 7,18!).47 Ist es in Ps 18,46 der von JHWH eingesetzte König, dem die Feinde huldigen, so ist es in V. 17bα nun JHWH selbst, den ja bereits Mi 4,7b als König tituliert. Mit der Formulierung „zu JHWH, unserem Gott“ ändert sich gegenüber V. 15 wiederum der Sprecher, insofern nun erneut der Prophet als Repräsentant der Zionsgemeinde auftritt. Jedoch identifiziert er sich hier mit der Zionsgemeinde48 und vollzieht damit in reziproker Form die Bewegung nach, die Zion in Nachahmung des Propheten in V. 8 vollzogen hat. Damit allerdings wird die Spaltung zwischen Prophet und Zion/Volk endgültig überwunden (vgl. Mi 2,11!). Wenn sich die Völker „JHWH, unserem Gott“ zuwenden – im Unterschied zur Feindin in V. 10b, die nur über Gott spotten kann –, so wird dessen universale Herrschaft anerkannt. Zugleich drückt sich darin eine vertrauensvolle Haltung aus, die nicht mehr die Sicherheit in selbsterrichteten Festungen (vgl. Mi 5,10), sondern bei JHWH sucht. Das Verhalten der Völker ähnelt dabei dem in Hos 3,5 beschriebenen der Söhne Israels,49 die ebenfalls bebend zu JHWH kommen: ‫ה‬‫ה‬‫ל־‬ ‫דוּ‬‫וּ‬. Am Ende der Michaschrift bekehrt sich somit alle Welt zu JHWH. Auch in V. 17bγ liegt Schriftgelehrsamkeit vor. So nimmt die Aussage des Propheten „und sie werden sich vor dir fürchten“ wahrscheinlich auf Dtn 28,10 Bezug, wo als Frucht der Bundestreue Israels die Völker, die das Heil Israels sehen (!), sich vor Israel fürchten werden.50 Damit wird ein weiteres Mal der Bogen zurück zu V. 16aα geschlagen, insofern dort davon die Rede ist, dass die Völker das Geschick Zions sehen werden (vgl. das Wortspiel zwischen jirʾū „sie werden sehen“ und wejirʾū „sie werden sich fürchten“).51

44 45 46 47 48 49

CRUZ, Yahweh, 221. CRUZ, Yahweh, 221. ZAPFF, Studien, 197. So bereits DI FRANSICO, Exodus Allusions, 193. DECORZANT, Gericht, 196. MÜLLER, Art. ‫ד‬‫ ׇפּ‬pāḥaḏ: ThWAT VI, 556, spricht von einem „positiven Erlebnis der Gottesnähe“. 50 Ein Bezug auf JHWH ist aufgrund des Wechsels zwischen 3. Pers. „unser Gott“ zur 2. Pers. „vor dir“ eher unwahrscheinlich; vgl. dagegen meine frühere Positionierung, ZAPFF, Studien, 198; SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 222, sieht hier einen möglichen Bezug zum Verhalten der Seeleute in Jona 1,17. 51 Dies spricht auch für die Einheit von Vv. 17f., so DECORZANT, Gericht, 181.

244

Mi 7,8–20

In der rhetorischen Frage „Wer ist, Gott, wie du?“ in V. 18 klingt der Name des Propheten „Mi-ka-el“ („Wer ist wie Gott“) an. Die mit dem Namen des Propheten verbundene Botschaft wird somit am Ende des Buches als Zusammenfassung und Ausklang entfaltet. Die Unvergleichlichkeitsaussage „Wer ist wie?“ zielt letztendlich als Antwort auf ein „niemand“ ab. Sie findet sich vor allem in der Gebetssprache (vgl. Ex 15,11!),52 wobei die Unvergleichlichkeit Gottes anhand bestimmter Eigenschaften (partizipial z. B. in Ps 35,10) entfaltet wird. Bei der Verwendung der Bezeichnung „El“ für Gott klingen im Hintergrund die Charakteristika der einstigen kanaanäischen Gottheit an, die an der Spitze des kanaanäischen Pantheons stand und sich vor allem durch ihre Gnade und Barmherzigkeit auszeichnete (vgl. Ex 34,6). „Der Schuld trägt“ ist als Charakterisierung Gottes der Gnadenformel in Ex 34,7a entnommen und wendet diese also auf die Situation an, in welcher sich der dem Gericht entronnene Rest Israels befindet. Gewöhnlich muss ein Mensch die Folgen seiner Schuld tragen (vgl. V. 9 in Bezug auf den Zorn JHWHs). Übernimmt dies stattdessen Gott, so befreit er den Sünder von der Last seiner Schuld und vergibt ihm.53 Die folgende Formulierung „am Verbrechen vorbeigehen“ findet sich noch einmal in Spr 19,11 und beinhaltet den Verzicht darauf, Sünden zu ahnden, sodass sich daraus Vergebung ergibt. Dabei verweist das Stichwort „Verbrechen“ ‫ פשע‬auf Mi 1,5 und 3,8, wo es um die Ahndung des Verbrechen Jakobs durch JHWH geht, sodass damit deren Ende angezeigt ist. Das Stichwort „Rest“ verbindet V. 18 mit Mi 2,12; 4,7 und 5,6f. Nach dessen Sammlung (Mi 2,12) und Restituierung (Mi 4,7) wird durch die Vergebung der Sünde das Verhältnis zu JHWH wiederhergestellt. „Rest“ erinnert dabei an das vollzogene Gerichtsgeschehen. Dokumentierte dieser ursprünglich lediglich die Totalität des Gerichtes, so wird er nun zum Ausgangspunkt eines Neubeginns. „Erbteil“ (JHWHs, vgl. V. 14aβ) verbindet sich mit der Vorstellung einer dauerhaften Erwählung Israels (vgl. 1 Kön 8,53), gehört doch das Erbteil nach israelitischem Bodenrecht zu den unveräußerlichen Besitztümern einer Sippe. Damit klingt hier ein Gedanke an, den V. 20 mit anderer Akzentuierung entfaltet. Die Vergebung der Schuld impliziert, dass JHWH nicht dauernd an seinem Zorn festhält (vgl. dagegen das sündhafte Handeln Edoms in Am 1,11). Gemeint ist mit diesem Anthropomorphismus das durch die Schuld Israels gerechtfertigte Strafgericht JHWHs, bei dem sein Zorn entbrennt. Damit wiederum wird derjenige Zustand beendet, unter dem Zion in Mi 7,9 leidet. Tötet der Zorn, so schafft Güte Leben. Wenn JHWH also „Gefallen an Güte“ hat, so umschreibt dies das lebensbejahende Handeln JHWHs (in Anlehnung an das vom Menschen geforderte Handeln, vgl. Mi 6,8), das dem Tod ein Ende setzt. Hintergrund dieser Aussage scheint abermals die „Gnadenformel“ in Ex 34,6 zu sein, wo sich die beiden Stichworte „Zorn“ und „Güte“ finden. V. 19 Die Ankündigung des erneuten Erbarmens ‫נוּ‬ֽ  knüpft wohl erneut an Ex Exodusremi- 34,6 an, insofern sich JHWH dort als „gnädiger Gott“ ‫חוּם‬ ‫ל‬ bezeichnet. „[N]iederniszenz treten“ ‫ כבש‬bezeichnet einen Vorgang bei dem man die Füße auf etwas stellt und es dadurch nicht nur der eigenen Herrschaft unterwirft, sondern zugleich verbirgt. Nach der Feindin in V. 10d werden nun auch die Sünden Zions zu Boden getreten. Die „Tiefen des Meeres“ ‫ם‬ ‫ֻצלוֹת‬ ist eine geprägte Formulierung (vgl. Ps 68,23; Ex 15,5 nur ‫ֻצלוֹת‬). In Zusammenhang mit der Wurzel „werfen“ ist sie im Kontext

Vv. 18–20: Ein abschließendes hymnisches Bekenntnis „Gnadenformel“ Ex 34,6f.

52 Vgl. bereits DI FRANSICO, Exodus Allusions, 193. 53 Vgl. FREEMAN/WILLOUGHBY/FABRY, Art. ‫ ׇנׇשׂא‬nāśāʾ: ThWAT V, 638.

Diachrone Analyse

245

des Exodusgeschehens belegt (vgl. Neh 9,11). Wie Israel einst im Exodus durch das Handeln JHWHs von der Herrschaft Pharaos befreit worden ist, so wird es JHWH mit den Sünden Israels tun.54 Das Exodusgeschehen wird damit in einer neuen, sozusagen vergeistigten Form präsent. Die „Tiefen des Meeres“ bezeichnen die dem Menschen nicht zugänglichen Abgründe und sind Inbegriff des Chaotischen. Möglicherweise soll zugleich ein Rückbezug zu Jona 2,4 hergestellt werden. Ruft dort Jona aus den Tiefen des Meeres, werden hier nun statt seiner die Sünden Israels versenkt.55 Auch durch das Stichwort „ihre Sünden“ ‫ם‬‫ו‬‫טּ‬ wird ein Rückbezug zu Mi 1,5 hergestellt. Mit deren Versenkung im tiefsten Meer ist das Ende des Gerichtshandelns JHWHs angezeigt. Spielt V. 19 auf das Exodusgeschehen an, so greift V. 20 auf die Erzväterzeit zurück. Entsprechend dem in die Geschichte zurückschreitenden Duktus in den Vv. 19f. wird dabei Jakob vor Abraham genannt. Das Wortpaar „Treue“ ‫ת‬ und „Güte“ ‫ד‬ greift offenbar wiederum auf die „Gnadenformel“ in Ex 34,6 – in umgekehrter Reihenfolge – zurück. „Treue“ beinhaltet die Vorstellung, dass JHWH ein Gott ist, auf dessen Wort man sich verlassen kann.56 Es geht hier also um die bewahrende Treue Gottes;57 „Güte“ hingegen zielt auf das heilvoll tätige Handeln JHWHs.58 Da die Verheißung in die Zukunft zielt, sind die beiden Vätergestalten als kollektive Persönlichkeiten zu verstehen. Jakob und Abraham leben sozusagen in der Gemeinde Israels fort. V. 20b bindet beide Vätergestalten zusammen, insofern ihnen JHWH geschworen hat. Es wird dabei eine Formulierung aufgegriffen, die auch in Dtn 26,15 und Jer 32,22 belegt ist, sich dort jedoch auf die Landgabe bezieht. Sie wird nun als allgemeine Treue und Güte JHWHs seinem Volk gegenüber gedeutet, die er in der Überwindung der Schuld verwirklicht.59

Diachrone Analyse Mit Mi 7,8–20 setzt ein neuer Abschnitt ein, der nun nicht mehr die soziale und gesellschaftliche Zerklüftung innerhalb Israels im Blick hat, sondern das Verhältnis Zions bzw. des Gottesvolkes zu seiner Umwelt. Dabei tritt zunächst eine ungenannte Feindin in den Fokus (Vv. 8–10), deren Erniedrigung in eine Heilsverheißung für Zion (Vv. 11–12) mündet, an die sich ein universales Weltgericht anschließt (V. 13). Die Vv. 14–17 sind ein Dialog zwischen dem Propheten und 54 So bereits ZAPFF, Studien, 202; neuerdings wieder DI FRANSICO, Exodus Allusions, 201: „By reading the Micah passage in light of the Exodus allusions and references to the Song of the Sea tradition, ‘sins’ are personified as a physical enemy as daunting and oppressive as Pharaoh and his armies in Egypt“; DEMPSTER, Micah, 187. 55 Dieser Rückbezug ist insofern wahrscheinlich als auch Mi 1,2b ein Stichwort aus Jona 2,8 aufgreift, vgl. NOGALSKI, Precursors, 153. 56 JEPSEN, Art. ‫ן‬: ThWAT I, 338. 57 JEPSEN, Art. ‫ן‬: ThWAT I, 338. 58 ZOBEL, Art. ‫ד‬ ḥæsæḏ: ThWAT III, 69: „JHWHs Handeln an Israel und dem einzelnen Frommen steht im Mittelpunkt aller Aussagen.“ 59 ZAPFF, Studien, 204.

Korrespondenz zu Jona 2,4?

V. 20

246

Mi 7,8–20

JHWH, der sich mit der künftigen Rolle Israels inmitten der Völker beschäftigt. Die Vv. 18–20 schließlich haben hymnusartige Züge, sodass die Michaschrift mit einer Art Loblied endet. Von dieser Beobachtung ausgehend wurde für Mi 7,8–20 immer wieder ein liturgischer Hintergrund vermutet.60 Diese vier beschriebenen Abschnitte mit ihren formalen Charakteristika legen es zunächst nahe, als ursprünglich eigenständige Größen betrachtet zu werden, die hier zu einer redaktionellen Einheit verbunden wurden.61 So hat die jüngere Forschung für verschiedene literarkritische Schnitte plädiert.62 Dagegen sprechen jedoch eine Reihe von Beobachtungen.63 So fallen etwa zwischen den Vv. 8–10 und den Vv. 14–17 eine Reihe von sprachlichen und inhaltlichen Parallelen auf. Beide Male ist der Beginn der genannten Abschnitte durch das Thema der aktuellen bedrängten Situation Zions bzw. Israels geprägt (vgl. Vv. 8.9a.14b). An dieses schließt sich die Hoffnung (Vv. 9b.10a) bzw. die Bitte um ein befreiendes Handeln JHWHs an (V. 14c), das sich in einer Art neuem Exodusgeschehen zeigt (Vv. 9cα.15α: „Herausführen“ bzw. „Ausziehen“). Dieses geht einher mit einer Wahrnehmung des Geschehens seitens Zions bzw. Israels (Vv. 9cβ.15aβ). Dem wiederum korrespondiert ein „Sehen“ der Feindin Zions (V. 10aα) bzw. der Völker (V. 16aα), das jeweils in eine Beschämung mündet (Vv. 10aβ.16aα). Diese Beschämung hat ihre Gründe im Spott beider Größen über Zion (V. 10b; 4,11b), wobei die Völker diesen Spott durch ihr aktives Verstummen beenden. Ihr Ziel findet die Beschämung in der totalen Erniedrigung beider Größen.64 Im Unterschied zur Feindin wenden sich die Völker jedoch schließlich JHWH zu. Gerade diese Analogie, verbunden mit bestimmten Leitworten (s. o.), aber spricht dagegen, die Vv. 8–10 und die Vv. 14–17 literar- und redaktionskritisch voneinander zu trennen. Ähnliches gilt auch für den Mittelteil, die Vv. 11–13. So weisen V. 10dα und V. 11aα schriftgelehrte Rückbezüge auf Jes 5,5 auf, wonach das dort Jerusalem angekündigte Gericht sich nun gegen die Feindin richtet, während die in Jes 5 zerstörte Umfassungsmauer des Weinberges Jerusalems wiederaufgebaut wird. Zudem verbindet der Bezug zu Jes 5 beide Verse mit den Vv. 1–7, wo zwei weitere Motive aus Jes 5 (Enttäuschung der Hoffnung auf Früchte; Dornen und Disteln als „Früchte“ des Weinbergs) aufgegriffen werden. Somit ist auch hier kein literarkritischer Schnitt angezeigt. V. 19b schließlich ist durch den Anklang an das Exodusmotiv mit V. 15, aber auch mit V. 17b verbunden, hinter dem u. a. Ex 15,14 zu stehen scheint. Mit der spöttischen Frage der Feindin in V. 10bβ, die sich auf die vermeintliche Abwesenheit Gottes bezieht, korrespondiert die (rhetorische) Frage der Zionsgemeinde in V. 18a bezüglich der Unvergleichlichkeit Gottes.65 Auch das Stichwort „deines“/ „seines Erbes“ verbindet V. 14a mit V. 18b.66

60 So etwa GUNKEL, Micha-Schluß, 145–178. 61 So z. B. WOLFF, Micha, 192. 62 Etwa JEREMIAS, Micha, 223f., der die Vv. 8ff. und die Vv. 11f. als ältere Strophen betrachtet, während die Vv. 14–17 und 18–20 spätere Ergänzungen i.S. von aktualisierenden Fortschreibungen seien; anders WÖHRLE, Sammlungen, 185–188, der folgende literarische Einheiten voneinander unterscheiden möchte: 1. Mi 7,8–10a; 2. Mi 7,10b13.16.17aα; 3. Mi 7,17aβb; 4. Mi 7,18–20 und 5. Mi 7,14–15. 63 Ausführlich ZAPFF, Studien, 205–236; in Folge auch KESSLER, Micha, 297. 64 Beide Male unter Bezug auf Ps 18,43.46! 65 So KESSLER, Micha, 296. 66 CRUZ, Yahweh, 224.

Synthese zu Mi 7

247

Schließlich bilden die Formulierungen „wie in den Tagen der Vorzeit“ (V. 14cβ) bzw. „von den Tagen der Vorzeit“ (V. 20bβ) einen Bezugszusammenhang als Rahmung um die Vv. 14–20.67 Zu erwähnen ist weiterhin die beinahe durchgängige mehr oder weniger deutliche Bezugnahme auf das Siegeslied am Schilfmeer Ex 15,1–1868 (s. o.). D. h. es spricht einiges dafür, dass es sich bei Mi 7,1–20 um einen literarisch einheitlichen Text handelt,69 der offenbar bewusst als Abschluss der Michaschrift komponiert wurde und dabei in schriftgelehrter Weise auf die vorliegende Michaschrift Bezug nimmt.70 Gerade die hier sichtbar werdende Schriftgelehrsamkeit, durch die einzelne Formulierungen ohne Rücksicht auf einen gefälligen Stil und Duktus aufgenommen wurden, scheint für formale Brüche verantwortlich zu sein, die viele Exegeten zu literarkritischen Schnitten (ver)führten. Dabei weist die Perspektive dieser Fortschreibung auch über die Michaschrift hinaus, insofern neben einer Reihe von Stichwortverbindungen mit Nah 1,2–8 durch den Anklang an Ex 34,6f. ein Bezug zu Nah 1,2 hergestellt wird und dabei die Doppelseitigkeit der Gnadenformel nun auf Israel und die Völker ausgedehnt wird (Heil und Vergebung für Israel – strenges Gericht an den Feinden JHWHs in Gestalt eines Teils der Völker). Außerdem scheint Mi 7,19b einen Rückbezug zu Jona 2,4 anzuzielen, was diesen Vers wiederum mit Mi 1,2 verbindet (s. o.). Hinsichtlich der Datierung von Mi 7,1–20 gibt es auch hier Versuche, den Text als aus der Zeit des 8. Jh. v. Chr. stammend71 oder als einen erst nachexilischen Text zu verstehen.72 Aufgrund der aufgewiesenen schriftgelehrten Bezugnahmen, die allem Anschein nach auch die Jonaschrift mit einbeziehen, der inhaltlichen Verbindungen mit tritojesajanischen Texten und der auffallenden Ähnlichkeiten mit Jes 12 ist hinsichtlich der Datierung wohl eher bis in die frühhellenistische Zeit herunterzugehen.73 Die Analogien zwischen Mi 7 und Jes 12 könnten darauf hinweisen, dass beide Texte aus verwandten schriftgelehrten Kreisen stammen, die eine partielle Angleichung des Jesja- und Zwölfprophetenbuches anzielten.

Synthese zu Mi 7 Sowohl die synchrone wie diachrone Analyse zeigt die enge Verbindung von Mi 7,1–20 mit der Michaschrift, aber darüber hinaus auch mit verschiedenen Schrif67 CRUZ, Yahweh, 214. 68 Darauf hat in jüngster Zeit vor allem DI FRANSICO, Exodus Allusions, 192f. erneut aufmerksam gemacht. 69 So jüngst auch CRUZ, Yahweh, 214; entgegen meiner früheren Auffassung, ZAPFF, Studien, 213, halte ich V. 4b für einen integrativen Teil des Abschnittes, zumal er mit den Vv. 7.11f. in Korrespondenz steht. V. 7 stellt, wie die Vv. 1–6, einen Rückbezug zur Michaschrift her. 70 ZAPFF, Studien, 165–205.231–236; KESSLER, Micha, 297; DECORZANT, Gericht, 205: „(spät)nachexilisch“. 71 Z. B. DEMPSTER, Micah, 176, der meint, dass michanisches Material in Mi 7,1–7 und 8–20 aus dem 8. Jh. v. Chr. eingeflossen sei; SMITH-CHRISTOPHER, Micah, 209. 72 KESSLER, Micha, 303ff.; DI FRANSICO, Exodus Allusions, 197. 73 So auch wieder METZNER, Micha, 163.

248

Mi 7,8–20

ten des Zwölfprophetenbuches. Dabei scheint Mi 7,1–20 durch seine vielfältigen Beziehungen zu den der Michaschrift vorausgehenden Schriften im Zwölfprophetenbuch eine Art Abschlusstext zu bilden, der das gestörte Verhältnis zwischen JHWH und seinem Volk zu einer Erneuerung führt. Der Text bringt dabei die Schuldvorwürfe verschiedenster Art gegen Jerusalem an ein Ende, indem Zion seine Schuld eingesteht und sein Vertrauen auf die Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft JHWHs zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig bildet der Abschnitt eine Art Einleitung zu den beiden folgenden Schriften, die sich dem Gericht über Assur und Babel widmen. Dabei zielt der Text zugleich einen Ausgleich zwischen der Jona- und der Nahumschrift an, insofern die dort aufgezeigte Alternative „Bekehrung Ninives“ und „endgültige Zerstörung Ninives“ nun auf der Ebene der Völkerwelt behandelt wird. Dabei kommt insbesondere der Zionstheologie ein besonderer Stellenwert zu, sodass nach Mi 7,12 – entsprechend Mi 4,1.3 – diejenigen Völker, die zum Zion wallfahrten, nicht vom Gericht JHWHs betroffen sind. Mi 7,1–20 stellt somit einen Schlüsseltext für die Einbindung der Michaschrift an zentraler Stelle in der Endfassung des Zwölfprophetenbuches dar. Er nimmt dabei eine ähnliche kompositionelle Funktion ein, wie Jes 12 an einem inhaltlich vergleichbaren Übergang im Hinblick auf das Jesajabuch.

Verzeichnisse Abkürzungen BHQ BHS d. h. dtn. dtr. ePP EÜ fig. etym. HAL i.S. Inf. abs. Inf. constr. Jh. G G/K LXX.D MT pl. resp. S σ’ scil. sing. s. o. s. u. T term. techn. THAT ThWAT V z.T.

Biblia Hebraica Quinta Biblia Hebraica Stuttgartensia das heißt deuteronomisch deuteronomistisch enklitisches Personalpronomen Einheitsübersetzung Figura etymologica Hebräisch-Aramäisches Wörterbuch im Sinne Infinitivus absolutus Infinitivus constructus Jahrhundert Septuaginta Gesenius-Kautzsch Grammatik s.u. Septuaginta Deutsch Masoretischer Text Plural respective Peshitta Symmachus scilicet: nämlich Singular siehe oben siehe unten Targum Terminus technicus Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament Vulgata zum Teil

Literatur Textausgaben BEER, G., Das Martyrium Jesajas, in: KAUTZSCH, Emil, Die Apokryphen und Pseudoepigraphen des Alten Testaments, Bd. 2, Tübingen: Mohr, 1900, 119–126. BIBLIA HEBRAICA QUINTA EDITIONE cum apparatu critico novis curis elaborato, BHQ, The Twelve Minor Prophets, prepared by Anthony Gelston, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2010.

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Verzeichnisse

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Verzeichnisse

KOCH, Klaus, Art. ‫ כוּן‬kûn, ‫ן‬ ken, ‫ ׇמכוֹן‬māḵôn, ‫כוֹ ׇנה‬ meḵûnāh, ‫כוּ ׇנה‬ teḵûnāh: ThWAT IV (1984), 95–107. KOSMALA, Hans, Art. ‫ֶגַּבר‬, ‫בוׇּרה‬, ‫ ֽגִּביר‬, ‫בּוֹר‬, ‫ֶגֶּבר‬: ThWAT I (1973), 901–919. KRONHOLN, T., Art. ‫ר‬ næšær: ThWAT V (1986), 680–683. LESCOW, Theodor, Redaktionsgeschichtliche Analyse von Micha 6–7: ZAW 84 (1972), 182–212. LIPIŃSKI, Edward‚ Shall I offer My Eldest Son? (Mi. 6:7): BibAn 5 (2015), 95–109. LIPIŃSKI, Edward, Art. ‫יר‬ meḥîr: ThWAT IV (1984), 808–811. LOHFINK, Nobert, Art. ‫שׁ‬ jāraš, ‫ׇשׁה‬ jerešah, ‫ׇשּׁה‬ jeruššāh, ‫ מוׇֹרשׁ‬môrāš, ‫ מוׇֹרׇשׁה‬môrāšāh: ThWAT III (1982), 953–985. MAYER, Gerhard / SCHÖKEL, Alonso / RINGGREN, Helmer, Art. ‫ר‬ jāšar, ‫ר‬‫ י‬jošær, ‫ׇרה‬ jišrāh, ‫ישׁוֹר‬ mîšôr, ‫ים‬‫יׇשׁ‬ mêšārîm: ThWAT III (1982), 1059–1070. MC KANE, William, Micah 2:1–5: Text and Commentary: JSSt 42 (1997), 7–22. MENDECKI, Norbert, Die Sammlung und der neue Exodus in Mich 2,12–13: Kairos XXIII/1–2 (1981), 96–99. MICHEL. Diethelm, Das Ende der ‚Tochter der Streifschar‘ (Mi 4,14): ZAH 9 (1996), 196–198 MÜLLER, Hans-Peter, Art. ‫ד‬‫ ׇפּ‬pāḥaḏ, ‫ד‬ paḥaḏ I und II: ThWAT VI (1989), 552–562. MULDER, M., Art. ‫ר‬ jaʿar: ThWAT III (1982), 777–787. NEGOIȚĂ, A. / RINGGREN, Helmer, Art. ‫ה‬‫ ׇז‬zāḵāh, ‫ זכך‬zkk,  zaḵ: ThWAT II (1977), 569–571. NICCACI, Alviero, Il libro del profeta Michea. Testo, traduzione, composizione, senso: LASBF 57 (2007), 83–161. NIELSEN, Klaus, Art. ‫ין‬‫ ׇק‬qāṣîn: ThWAT VII (1993), 93–95. OTTO, Eckart, Art. ‫יּוֹן‬ ṣijjôn: ThWAT VI (1989), 994–1028. OTTO, Eckart, Art. ‫יר‬ ʿȋr: ThWAT VI (1989), 56–74. PANNEL, Randall J., The Politics of the Messiah: A New Reading of Micah 4:14–5:5: , PRSt 15.2. (1988), 131–143. PREUSS, Horst Dietrich, Art. ‫א‬ jāșāʾ, ‫ מוׇֹצא‬môșāʾ, ‫ תּוׇֹצאוֹת‬tôșāʾôṯ: ThWAT III (1982), 795–822. PRIOTTO, Michelangelo, Il culto autentico, Parola di vita: Rivista di formazione biblica: bimestrale dell’Associazione Biblica Italiana 54 (2009), 22–28. RIEMER, Roukema, Patristic Interpretation of Micah: Micah Reads as a Book about Christ: KRAUS, Wolfgang / KARRER, Martin (Hrsg.), Die Septuaginta – Texte, Theologien, Einflüsse, 2. Internationale Fachtagung veranstaltet von Septuaginta Deutsch (LXX.D), Wuppertal 23–27. Juli 2008 (WUNT 1), Tübingen: Mohr-Siebeck 2010, 702–719. RINGGREN, Helmer, Art. ‫ר‬ II ƒrr, ‫ר‬ ṣorer, ‫ צרר‬ṣrr: ThWAT VI (1989), 1122–1126. SCHARBERT, Josef, Art. ‫ד‬‫ ׇס‬sāp̱āḏ, ‫ד‬‫ֽס‬ mispeḏ: ThWAT V (1986), 901–906. SCHMITT, G., Moreschet Gat und Libna. Mit einem Anhang: Zu Micha 1:10–16: JNWSL 16 (1990), 153–172. SCHREINER, Josef, Art. ‫ל‬‫ ׇע‬ʿāwæl, ‫ׇלה‬ ʿawlāh, ‫ עול‬ʿwl, ‫ ׇוּל‬ ʿiwwāl: ThWAT V (1986), 1135–1144. SCHÜTTE, Wolfgang, Die Michaschrift und Israels Exil in Juda: ZAW 126 (2014), 243–60. SEEBASS, Hort, Art. ‫ע‬‫ ׇפּ‬pāšaʿ, ‫ע‬ pæšaʿ: ThWAT VI (1989), 791–810. SEYBOLD, Klaus Dieter, Art. ‫ב‬‫ ׇח‬ḥāšaḇ, ‫ב‬‫ ֺח‬ḥošeḇ, ‫בּוֹן‬ ḥæšbôn, ‫ׇשּבוֹן‬ ḥiššāḇôn, ‫ת‬ maḥašæḇæḏ: ThWAT III (1982), 243–261. SEYBOLD, Klaus Dieter / FABRY, Heinz-Josef, Art.  mælæḵ, ‫ ׇמ‬mālaḵ, ‫ה‬‫לוּ‬ melûḵāh, ‫כוּת‬ malḵûṯ, ‫ה‬‫ׇל‬ mamlāḵāh, ‫ׇלכוּת‬ mamlāḵûṯ: ThWAT IV (1984), 926–958. SEYBOLD, Klaus Dieter, Art. ‫ף‬‫ ׇח‬ḥānep̱, ‫ף‬‫ ׇח‬ḥānep̱, ‫ף‬‫ ֺח‬ḥȏnæp̱, ‫ׇפּה‬ ḥannuppāh: ThWAT III (1982), 41–48. STADE, Bernhard, Bemerkungen über das Buch Micha: ZAW 1 (1881), 161–172. STADE, Bernhard, Streiflichter auf die Entstehung der jetzigen Gestalt der alttestamentlichen Prophetenschriften: ZAW 23 (1903), 153–171. UTZSCHNEIDER, Helmut, Michaias Micha: KARRER, Martin / KRAUS, Wolfgang, Septuaginta Deutsch. Erläuterung und Kommentare zum griechischen Alten Testament, Band II, Psalmen bis Daniel, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2011, 2362–2380.

Literatur

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Verzeichnisse

Register Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) Genesis 1,3 69 3,14 243 6,11 216 6,13 216 10,8–12 170 10,11f. 170 12,2 143 17,4f. 98 17,18 92 18,18 143 22,2 203 22,13 203 27,27–29 174 28,10–22 134 28,13f. 86 28,14 100 31,29 69 31,43–50 196 32,10 87 32,13 87 32,29 40 32,30 86 32,32 142, 146, 173 35,17f. 151 35,19f. 144 35,19 163 35,20f. 145 35,21 144, 146, 163 38,5 59 45,7 143 48,7 163 49,9f. 175 Exodus 1,8–14 199 1,9 143 1,12 100 2,14 228 3,8 151, 170 3,14 238 3,20 242 4,13 199 6,6 170 13,13 203 13,21 100–101 14,16b 176

14,23ff. 57 15,2 231 15,5 244 15,7 167 15,11 243–244 15,13 167 15,14 243 15,16 242 15,17 101, 240 15,18 143–144 15,20 199 16,2f. 198 17,11 176 18,2 59 18,8 198 18,10a 151 19,18 38 20,3 183 20,17 70 20,17b 70 22,24–26 88 22,28f. 203 23,8 124 34,6f. 86, 235–236 34,6 86, 244–245 34,7a 244 34,9 125 Levitikus 1,4 202 2,3 124 6,9f. 124 7,18 202 9,3 202 13,45 115 17,14 180 18,6–19 42 19,7 202 19,36 215 22,23 202 22,25 202 22,27 202 25,23 70 25,47–49 151 26,1 183 26,26 218 26,30 181

Numeri 10,33 100, 134 11,4f. 198 12,1.8 116 14,1–4 198 14,14 100 16,3 76 20,14–21 98 20,19 100 22,6 199 22,12 199 22,18 200 22,24 239 22,28 197 23,9b 241 23,24 175 23,26 200 24,9 175 33,54 76 Deuteronomium 1,37 126 4,5 219 4,8 219 4,14 219 4,28 183 5,5 136 5,6 198 5,9 183 5,20 217 6,11 218 6,12 198 6,18 71 6,23 71 7,5 184 7,5.25 43 7,8 198–199 7,13 203 8,10 218 8,12 218 8,14 198 10,12f. 204–205 11,15 218 12,2 40 12,3 184 12,4–7 40 13,6 198–199

257

Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) 13,11 198 14,1 62, 155 14,26 226 14,29 218 15,10 126 16,19 124, 228 16,22 183 17,8–11 136 17,16 181 18,7 167 18,10 182, 191, 203 18,20 114 20,20 157 23,19 42–43 24,13 88 24,14 71 26,12 218 26,15 245 26,17 238 26,18 87, 197, 241 27,15 183 28,10 243 28,15 219 28,32 69 28,38–40 213, 218 28,48 72 28,53 203 29,27 187 31,7 108 32,2 174 32,5 201 32,20 108 32,30 203 32,41 176 33,17 203 33,28 174 Josua 3,11.13 155 3,14–17 200 4,24 200 5,2–12 200 7,1 155 7,20 237 7,21a 70 8,7 60 12,15 60 14,2 76 15–17 70 15,44 59–60 17,14 76 21,44 90

24 194, 207 24,2–13 200 24,17 198 24,18 89 24,20 143 Richter 2,3 89 3,7 184 3,9 108 3,15 108 4,14 37 4,15 57 5,4f. 38 5,4 83 5,30 72 6,6f. 108 6,9 89 6,13 242 6,38 174 9,15 228 11,11 105 17,1.4 34 21,23 71 Rut 1,6–22 230 1,9 90 3,11 49 1 Samuel 1,11 62 2,10 167 8,11 57 8,19 150 8,20 101 9,7–10 114 12 193, 207 12,3 198 12,6ff. 200 12,8 199 12,12 194 12,13 194 12,14 194 12,25 194, 212 16,4 163 17,12 163 17,15 163 18,7 203 20,1 197 20,28 163 22,1 60 23,23 164

28,6 108 28,24 202 30,8 156 31 163 2 Samuel 1,10 54 1,16 198 1,19ff. 54 1,21 174 5,2 167 5,20 100 7,8 164, 167 7,10f. 168 12,13 237 16,1f. 226 18,12 80 22,43 155 22,46 243 24,24 154 1 Könige 5,5 132, 137, 146, 167 8,14 167 8,53 244 8,56 90 8,60 200 9,16 59 13,30 83 14,3 114 14,15 184 14,16 126 14,23 40, 184 15,13 184 15,22 71 16,18 169 16,24 40, 219 16,25 219 16,30 219 17,1 174 21,3 70 22,5ff. 116 22,6 113 22,6.14 157 22,7 19 22,8 34 22,22 19, 81 22,24 157 22,28 19, 34 2 Könige 3,25 182 4,8 114

258 5,15 114 8,9 114 8,18 219 8,27 219 9,22 182 14,25 19 15,25 169 16,7 25 18,13–19,37 25 18,17 58 19,18 183 19,21 145 19,24 239 19,31 101 20,3 199 21,11 34 21,13 35, 219 22,17 183 1 Chronik 4,38 100 29,12 117 29,21 203 2 Chronik 7,18 164 11,8 60 11,9 58 13,18 125 14,10 125 16,7 125 18,23 157 20,6 117 27,3 144 33,14 144 Esra 4,12 56 6,22 169 Nehemia 1,8 199 3,26f. 144 4,1ff. 41 5,1–3 221 5,5 69 9,11 245 12,46 164 13,2 201 1 Makkabäer 1,44–51 219

Verzeichnisse Hiob 1,1f. 87 1,10 100 1,20 62 1,21 163 4,13 114 6,2 92 6,26 92 10,9 199 10,15 226 16,3 92 20,8 114 21,4 86 22,6 88 27,4 217 33,15 114 38,12f. 69 38,12 86 40,4 242 40,10 89 Psalmen 3,8 157 7,3 176 8,7 183 9,5 237 12,2 226 17,12 175 18,43 239 18,46 243 18,47 231 20,2f. 134 21,2 167 21,14 167 22,32 238 24,3f. 201 25,4 135 27,1 237 27,9 108 27,11 135 28,4 240 28,9 241 29,3 214 31,17 108 33,10f. 154 33,11 153 35,10 244 35,16 223 36,5 68 37,11 89 38,16 231 39,12 223

41,5 237 42,4.11 238 42,6.12 231 43,5 231 46 133 46,5 134 46,6 125 46,7 152 46,8 134 46,10 137 46,12 134 48 133 48,3 123 48,4–7 152 48,4 125 48,5 133 48,7 151 50,22 176 60,1 237 65,14 39 68,9 83 68,23 244 69,21 175 72,3 168 72,6 173–174 72,7 168 72,8 168, 239 72,9 243 76,3–7 152 76,4 137 76,7 134 77,12 86 78,7 86 78,55 76 79,1 41, 127 79,10 238 80,4 108 80,13 239 81,14 80 84,9 134 86,11 135 89,14 176 92,9 202 96 143 96,6 89 97,3 38 97,5 38 98 143 98,2 238 102,26 183 103,7b 86 103,8 86

259

Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) 103,22 145 104,1 89 104,15 92 104,20f. 69 104,23 69 106,7.21f. 242 106,38 153 110,3 173–174 110,4 167 111,3 89 112,9 238 115,2 238 119,44 138 119,135 108 120,2f. 217 122,4 100 129,3 127 138,8 183 143,5 183 145,1f. 138 145,8 86 145,13 145 Sprichwörter 1,18 227 1,22 106 2,7 87 2,21 87 3,27 69 3,29 88 4,11 122 5,3 83 8,34 229 9,8 106 10,3 228 11,1 215 11,3 87 11,6 87, 228 11,11 87 12,1 106 14,29 86 14,31 71 15,19 228 16,11 215 19,11 244 19,12 173–174 20,2 173 21,15 205 21,23 229 22,8 123 22,23 237 23,11 237

23,29f. 92 24,6 150 24,16 237 24,31 239 26,27 170 28,3 71 Hoheslied 1,10 72 4,11 83 Sirach 11,9 79 31,6 118 34,1–8 116 35,3 205 40,13f. 39 40,26b 214 Jesaja 1,1 31, 33 1,2 192, 196 1,5ff. 49 1,8 144–145 1,11 192 1,14 198 1,20 63 1,23 124, 228 1,24 176 2,1 31, 33, 44 2,2 133, 138 2,5 86, 138 2,6–8 179 2,6 182 2,7 57, 59, 181 2,8 183 3,10f. 240 4,1–3 122 4,4 218 5,1–7 234 5,1–6 238 5,1.7 41 5,4 225 5,4b 235 5,5 41, 238, 246 5,5bβ 239 5,6 228 5,7 41, 45 5,7c 226 5,8f. 70 5,8 67, 82 5,11 82 5,14 89

5,19 150, 154 5,22 82 5,23 124 6,1 201 6,5 226 6,10 93 7,13 197–198 7,14 165 8,6 93 8,10 200 8,17 86 9,1 237 9,2 155 9,3 72 10,3 61 10,20 125 10,21f. 166 10,27 72 10,28–34 23 11,1 164 11,2 242 11,10f. 166 11,11 143 11,12 97, 142 11,16 100, 242 12,2 235 12,2b 231 12,2.4 235 13,8 151 13,9 240 13,21f. 48 14,1 86 14,4ff. 68, 74 14,4 74 14,8 236 14,17 182 14,21 170 14,26 154 14,27 200 14,29 236 14,31f. 49 16,9 226 16,11 176 16,12 197 17,3f. 61 17,6 226 17,10 231 19,6 239 19,17 150, 154 20,2ff. 48 20,2 31, 50 21,9 237

260 22,4 47 22,5 229 22,21 145 24,1.5 240 24,13 226 24,16 226 24,23 143 26,11 242 26,15b 239 27,12f. 166 27,13 142 28,4 226 28,7–15 93 28,7f. 82, 92 28,7 113, 118 28,9 240 28,11 82, 93 28,14 82, 93 28,15 82, 92, 182 28,28 155 28,29 150, 154 29,22 86 30,15 181 30,23 240 30,30 237 31,1 181 31,4 37 32,17 137 33,5 201 34,1 35 34,14f. 48 37,22 145 37,32 101 38,3 199 40,11 97, 240 40,26 201 41,15 154 41,28f. 43 43,1 152 43,5 166 43,14–21 75, 241 43,16ff. 99 43,22–24 197 43,24f. 198 44,15–18 183 44,22f. 152 47 236 47,1 151 47,5 237 47,6 72 47,9 182 47,12 182

Verzeichnisse 48,20 152 49,19ff. 98 49,23 243 50,4–9 231 50,6 157 51,17 154 52,1f. 151 52,1 40 52,2 145, 154, 237 52,7 143 52,8 229, 231 52,13–53,12 231 54,1 62 54,2f. 239 54,3 98, 100 55,8f. 154 56,2 136 56,10 231 57,3 182 57,15b 201 58,1 117 58,5 201 59,3 217 59,6 228 59,8 122 59,18 176 60,1 154 60,21 239 61,1 116 64,6 108 65,12 218 66,6 214 Jeremia 2,15 181 4,8 47 4,27 240 5,31 124 6,4 114 6,13f. 124 6,14 113 6,17 229, 231 6,19 93 6,21 93 6,24 151 6,24b 151 6,26 55 8,3 142 8,10f. 124 8,10 225 8,13 225 8,19 150

8,23 47 9,3 225, 229 9,10 43 9,17–19 74 9,18b 74 10,10–21 230 10,22 43 11,11 108 11,17 126 12,10 43 14,17f. 48 15,4 126 15,9 218 16,6 155 16,15 142 18,22 156 19,8 220 20,7–18 230 23,2 142 23,3 97–98 23,5f. 168 23,13.22 113 23,22 240 23,40 85 24,2 226 25,6 143 25,8 220 25,9 220 25,18 220 25,31 218 26,3 240 26,18 22, 34, 59, 126 27,9 182 28 93 28,15 93 29,18 220 30,21 164 31,8 98 31,10 97 31,11 152 31,28 143 32,19 151 32,22 245 33,5 108 41,5 155 46,10 176 49,24 151 49,35 242 50,34 237 50,43 151 51,30 242 51,44 134

Bibelstellenverzeichnis (in Auswahl) Klagelieder 1,2 54 2,1.4 58 2,2 182 2,9 116 2,13 145 2,16 153 3,14 231 3,30 157 5,6 169 Ezechiel 3,17 229 4,2 157 6,14 240 10,18ff. 127 12,20 240 13,16 114 14,11 91 20,5 86 20,40 205 21,2 83 21,6 83 24,17.22 115 27,10 89 27,30 55 33,2 229 34,11–16 240 34,13ff. 240 34,13 97 34,16 142 34,23 167 34,25 168 34,27 168 36,15 220 37,24 167 38,16 200 47 136 47,1–7 134 47,10 227 Daniel 10,13ff. 169 11,3 167 11,7 167 11,20 89 11,21 167 Hosea 1,1 33 2,12 42 2,14 137 3,5 243

4,1 105, 192–193, 196–197 4,3 196 4,6 125 4,10 213, 218 4,17 42 5,1 105 5,1b 106, 109 5,12f. 49 5,14 176 6,6 193 7,1 40, 156 7,13 74 7,14 155 7,15 88 8,4 42–43, 220 9,1 42 9,6 74 9,7 92, 229 9,10 226 10,2 74 10,5 40 10,8 40 10,13ff. 58 10,14 230 11,6 219 12,7 193, 205 12,8 215–216 12,9 216 13,1 133 13,2 42–43 14,4 43, 179, 181, 185 14,6 174 14,9 42 Joël 1,7 137 1,12 137 1,15 74 2,13 86 2,17 238, 241 3,18 191 4,9 114 4,18 83 Amos 1,1 33–34 1,2 35, 37–38 1,3–2,3 35 1,4 37 1,5 62 1,11 244 2,1 108 2,3 228

261 2,4–16 35, 37 2,4–5 63 2,6 59, 90 2,8 88, 127 2,10 192, 198 3,1 105, 192, 198 3,4 175 3,9f. 40 3,9 71 3,10 74, 213, 215–216 3,13 86 3,14 59 3,15 217 4,1 105 4,3 80 4,4f. 203 4,4 192 4,9 217 4,13 38 5,1 105 5,5 132, 135 5,6 74 5,7 193 5,10b 122 5,11b 213 5,12 213 5,13 67, 77 5,13b 73 5,14f. 193, 204, 213 5,14b 125, 128 5,15 193 5,15a 106–107, 109, 122, 204 5,16 74 5,18 229 5,19 113 5,22 192, 202 5,24 193 6,2 54 6,7 62 6,8 169 6,11 217 7 109–110 7,10–17 82, 91, 93 7,11 82 7,12 81 7,14 105, 114, 116, 118 7,15 116 7,16 83–84 7,17 75, 82, 91, 94 8 82 8,1f. 226

262 8,2 48 8,4 105 8,5 212, 215–216 8,9 115 8,12 110 8,12b 116 9,1ff. 121 9,1 82 9,3 113 9,4 57 9,7 192, 198 9,11 164 Obadja 5 74 10 238 12f. 153 12 236 17–20 101 19 241 Jona 1,1 19 1,17 243 2,4 36, 44, 86, 245, 247 2,5 31 2,5b.8b 36 Micha 1,1 19, 31, 34, 43, 59, 221 1,2–16 21, 85 1,2–5,14 20 1,2–2,13 20 1,2–2,11 20 1,2 19–20, 24, 31–32, 44, 177, 186–187, 191, 234, 247 1,3f. 32 1,3 31, 63 1,4 63, 133, 192, 196 1,5–7 192, 203 1,5f. 128 1,5 31, 86, 127, 217, 224, 236, 244–245 1,5a 117 1,6f. 32, 121 1,6 43, 63, 109, 126, 179, 181, 219, 240 1,6a 238–239 1,6bα 37 1,6bβ 45 1,7 179, 182 1,8–16 15, 224

Verzeichnisse 1,8 62, 67, 73–75, 117 1,8.10–16 23 1,8aβ 50 1,9 63, 100, 197, 217 1,10–15 53, 179 1,11–15 55 1,12 32, 37, 100, 143 1,12b 63, 67, 73, 126 1,13 39, 53, 179, 181, 217 1,13b 63 1,15 59 1,16 67, 74–75, 96–97, 137, 156 1,18 74 2 64 2,1–11 21 2,1–3 67 2,1 74, 106, 224 2,1.3 57 2,2 107 2,3 73, 143 2,4f. 82 2,5 96 2,6–11 113 2,6–8 184 2,6f. 125 2,6 27, 81–82, 107, 112–113, 165, 204, 229 2,6.8 157 2,6.11 109, 112 2,6b 105 2,7f. 97 2,8 109 2,9f. 96–97 2,9 107, 137 2,11 82, 104, 112, 117–118, 243 2,11b 113 2,12f. 20–21, 24, 102, 104, 146, 166, 174, 177 2,12 20, 142, 173, 244 3 64, 82 3,1–12 20–21 3,1–5,14 20 3,1 39, 101, 104, 192 3,1.9 105 3,2f. 137 3,2 57, 70, 205, 228 3,2a 193, 204 3,3f. 227 3,3 72, 80 3,4 143, 240

3,5–8 112 3,5 84, 117 3,5b 125 3,6f. 179, 182 3,6 125 3,8 39, 92, 104, 118, 192, 204, 217, 230, 244 3,9–12 121, 133 3,9 192–193, 205, 227 3,10 157, 224, 227 3,11 135–136, 179, 181, 183, 218, 228 3,11aβ 125 3,12 20, 22–23, 31, 40–42, 44, 57, 82, 131, 181, 217, 229 4–7 32 4,1–5,14 20 4,1–4 21, 189, 223 4,1–3 20, 23, 33–34, 44, 121, 128, 131, 174, 186, 207, 239 4,1 132, 239 4,2 100, 132, 205 4,2c 193 4,3 128, 174 4.3 187 4,3b 181 4,4 90, 162, 167–168, 170 4,5 167 4,6–8 21 4,6f. 24, 97, 166, 173–174, 177, 189, 240 4,6 20, 96, 101, 239 4,7 98, 173, 244 4,7b 132, 243 4,8–14 189 4,8–5,1 163 4,8 162–163, 170, 239 4,9–14 21 4,9–13 24 4,9 142, 165, 168 4,10 27, 166–168 4,11–13 177 4,11 165, 187, 235 4,11b 238, 242 4,13 58, 174, 238 4,14 162–163, 165, 170, 188 5,1–5 189 5,1–3 21 5,1 27, 146 5,4b–5a 171

263

Sonstige Quellen (in Auswahl) 5,6f. 21, 24, 98, 166, 189, 244 5,8 24 5,9–14 189 5,9–13 21 5,9 57, 59, 142, 218, 239 5,9.12.13 125 5,10f. 136 5,10 243 5,12 42 5,14 19–21, 24, 31, 133, 136, 186, 191–192, 206 6,1–7,20 20 6,1–16 20 6,1–8 221 6,1–5 21 6,1 20, 186 6,2 35, 192 6,2b 235, 237 6,4 235 6,5 235 6,6–8 21, 192 6,6f. 237 6,7 39 6,8 193, 219, 237, 244 6,9–16 21, 207, 211, 220–221 6,10–12 224 6,12f.16 240 6,12 220 6,15 224, 226 6,16 35, 194, 226 7 207 7,1–20 24 7,1–7 20–21 7,1 224 7,1.4a 238

7,6 27 7,8–20 19–20, 45 7,9 244 7,10 153 7,11 41, 45 7,12 169 7,14 98, 164 7,15 235 7,16 191 7,18–20 21 7,18f. 39, 86 7,18 20, 34, 98, 173 7,19 36 7,19b 235

Haggai 1,5f. 221 1,6a 218 2,11f. 124 2,11 201 Sacharja 2,5 75 8,14 143 9,7 239 9,9f. 171, 180 9,9 145 10,10f. 169 9,10 168 10,10 98, 241 12,3 152 12,6 154 14,1–3 152 14,8 134 14,17–19 240

Nahum 1,2–8 235 1,2 176, 187 1,3 86 2,12f. 175 3,18 169

Maleachi 3,5 182

Habakuk 1,5 227 2,1 231 2,12 123 3,6 38 3,12 154 3,18 231

Matthäus 10,35f. 27, 230 Lukas 1,74 27 12,53 27, 230 24,27 64

Zefanja 1,1 33 1,4 181 3,8 35 3,14 145 3,19 142

Johannes 7,42 27 18,22 157

Sonstige Quellen (in Auswahl) Amarna 163 Amarnakorrespondenz Aschera 183 Codex Hamurapi Enuma Elisch

163

155

Opfertarif Marseille 124 Ostrakon von Yavne Yam 88 Sanherib-Prisma Sefire 217

216

Himmelfahrt des Jesaja Meschastele

34

Targum Jonathan 34

Yavne Yam

88

25 199

‫‪264‬‬

‫‪Verzeichnisse‬‬

‫‪Verzeichnis hebräischer Wörter‬‬ ‫‪ 215‬מאזנים‬ ‫‪ 229‬מבוכה‬ ‫‪ 199, 207‬מה‬ ‫‪ 36‬מהיכל קדשו‬ ‫‪ 124‬מחיר‬ ‫‪ 214‬מטה‬ ‫‪ 182‬מכשף‬ ‫‪ 150‬מלך‬ ‫‪ 145‬ממשלה‬ ‫‪ 182‬מעונן‬ ‫‪ 157, 239‬מצור‬ ‫‪ 56‬מרד‬ ‫‪ 56‬מרה‬ ‫‪ 215‬מרמה‬ ‫‪ 73‬משל‬ ‫‪ 106, 193, 205, 212‬משפט‬ ‫‪ 83‬נבא‬ ‫‪ 230‬נבל‬ ‫‪ 204‬נגד‬ ‫‪ 134‬נהר‬ ‫‪ 82–83, 97‬נטף‬ ‫‪ 242‬נפלאות‬ ‫‪ 151, 170‬נצל‬ ‫‪ 187‬נקם‬ ‫‪ 71‬נשא‬ ‫‪ 184‬נתש‬ ‫‪ 123‬עולה‬ ‫‪ 39‬עון‬ ‫‪ 100, 198‬עלה‬ ‫‪ 43‬עצב‬ ‫‪ 165‬עתה‬ ‫‪ 42, 183‬פסל‬ ‫‪ 100‬פרץ‬ ‫‪ 88, 109‬פשט‬ ‫‪ 244‬פשע‬ ‫‪ 200‬צדקה‬ ‫‪ 142‬צלע‬ ‫‪ 97, 142‬קבץ‬ ‫‪ 175‬קוה‬ ‫‪ 214‬קול‬ ‫‪ 164‬קטן‬ ‫‪ 182‬קסם‬ ‫‪ 105‬קצין‬ ‫‪ 243‬רגז‬ ‫‪ 92‬רוח‬ ‫‪ 196‬ריב‬ ‫‪ 227, 229‬רע‬ ‫‪ 72, 77‬רעה‬ ‫‪ 143‬רעע‬ ‫‪ 202‬רצה‬

‫‪ 193‬אהב‬ ‫‪ 68‬און‬ ‫‪ 69‬אל‬ ‫‪ 229‬אלוף‬ ‫‪ 245‬אמת‬ ‫‪ 116‬אנכי‬ ‫‪ 97, 142‬אסף‬ ‫‪ 88‬בטח‬ ‫‪ 133‬בית‬ ‫‪ 36‬במורד‬ ‫‪ 127‬במות‬ ‫‪ 69‬בקר‬ ‫‪ 151‬גאל‬ ‫‪ 71‬גבר‬ ‫‪ 239‬גדר‬ ‫‪ 41‬גדריך‬ ‫‪ 104, 107, 109‬גזל‬ ‫‪ 42, 62‬גלה‬ ‫‪ 154‬גרן‬ ‫‪ 89‬גרש‬ ‫‪ 154‬דוש‬ ‫‪ 193, 205‬דרש‬ ‫‪ 89‬הדר‬ ‫‪ 228‬הות‬ ‫‪ 215‬זכה‬ ‫‪ 215‬זעומה‬ ‫‪ 237‬זעף‬ ‫‪ 91‬חבל‬ ‫‪ 32‬חזה‬ ‫‪ 205, 212, 245‬חסד‬ ‫‪ 239‬חק‬ ‫‪ 219‬חקות‬ ‫‪ 243‬חרג‬ ‫‪ 193‬טוב‬ ‫‪ 197‬יגע‬ ‫‪ 106‬ידע‬ ‫‪ 175‬יחל‬ ‫‪ 227‬יטב‬ ‫‪ 92‬יין‬ ‫‪ 197‬יכח‬ ‫‪ 37, 163–164, 198, 238, 242‬יצא‬ ‫‪ 36–37‬ירד‬ ‫‪ 135‬ירה‬ ‫‪ 60‬ירש‬ ‫‪ 228‬ישר‬ ‫‪ 166‬יתר‬ ‫‪ 244‬כבש‬ ‫‪ 133‬כון‬ ‫‪ 173, 183‬כרת‬ ‫‪ 197‬לאה‬

265

Schlagwortverzeichnis ‫ רשע‬215 ‫ שדה‬126 ‫ שכר‬92 ‫ שלוחים‬59 ‫ שלום‬113, 228 ‫ שמﬠ‬35

‫ שמם‬217 ‫ שפט‬228 ‫ שר‬228 ‫ תושיה‬214 ‫ תעב‬122 ‫ תעה‬113

Schlagwortverzeichnis Aaron 199 Abraham 98 Achsib 60 Adullam 54, 59–61 Ägypten 198–200, 239 Ahab 194, 219 Alkohol 82 Amazja 81–82, 91, 105, 118 Amos 15 Anordnung (der Schriften) 19 Antiochus IV. 219 Antwort Gottes 115 Aschera 183 Assur 162, 168, 170, 235, 239–240

Deuteronomistisches Geschichtswerk 162 Diaspora 98, 141–142, 144, 167 Dorfältester 15

Babel 235–237, 240 Balak 195, 199 bannen 155 Bannformel 180 Baschan 241 Berge 196–197, 239 Bet-El 20, 26, 81, 132, 135 Bet-ha-Ezal 56 Bet-le-Afra 55 Betlehem 144, 162–163 Biblia Hebraica Quinta 18 Biblia Hebraica Stuttgartensia Bileam 199, 241 Biographie 15 Bluttaten 123 Bosra 98 Botenspruchformel 71, 113 Brandopfer 202 Bundesformel 197, 238, 241

Falschpropheten Feld 41, 151 Finsternis 237 Friede 168

Codex Ambrosianus 18 Codex Hamurapi 216 Codex Leningradensis 17 David 162, 164, 167, 169 Dekalog 136 Deuteromicha 16, 23, 207

17

16,

Edom 236, 238, 244 Efa (Hohlmaß) 215 Efrata 163 Einwohnerschaft 55 Erbteil 71, 244 Erstgeborener 203 Erwählung 86 Exil 21, 26, 55, 75, 87, 96–97, 109, 220 Exodus 75, 100–101, 200, 238, 245 21, 112–113, 116, 118

Gänsegeier 62 Gat 54 Gebärende 151, 166 Geist 117 Gerechtigkeit 26 Gesetz 199 Gilead 241 Gilgal 200 Gliederung 20 Gnadenformel 236, 244 Gott Jakobs 134 Gottesstadt 153 Götzenbild, Götzenbildpolemik 182–183 Güte 245 Habakuk 235–236 Haus 70, 89 Haus Israel 39 Haus Jakobs 86 Heiliger Krieg 114, 155 Himmelfahrt Jesajas 34

179–180,

266

Verzeichnisse

Hirte 167 Hiskija 25 Höhe 38, 40, 196 Höraufruf 105, 192, 194 Hosea 15 Hügelland 64 Individualisierung

27

Jakob 39 Jeremia 113 Jerusalem 32, 48, 64, 82, 97, 122–123, 126–127, 134, 181, 194, 214–217, 219, 235 Jhwh-Theophanie 36–37 Jona(schrift) 189 Kinderopfer 203 Klage 226, 230 Königsherrschaft 21, 24, 26, 132, 150, 162, 168 Königsideologie 162, 174 Königtum 143, 163, 173 Königtum Jhwhs 97 Lachisch 48, 57–60, 62, 181 Landgabe 245 Landnahme 200 Leichenlied 66, 68 Marescha 60 Marot 57 Mazzebe 179, 183 Meer 239 Mehrprophetenbuch 17 Merismus 70 Micha ben Jimla 19, 34 Mirjam 199 Moreschet Gat 58–59 Mose 199 Nachlese 226 Nacktheit 50 Nahum 235–236 Nahum(schrift) 189 Name (Jhwhs) 167 Nationen 175 Neues Testament 27 Nimrud 170 Ninive 19, 58, 189 Nordreich 23, 48, 104, 135, 194, 216, 241 Ofel

144

Öl 203, 218 Olive 218 Omri 194, 219 Opfer 192, 195, 203 Peshitta 18 Pfand 88 Pferde 179, 181 Plan Jhwhs 154, 200 Priester 124, 128 priesterliche Weisung 201 Propheten 115–116, 125 Rache (Jhwhs) 186 Recht 193, 205 Rest 21, 96, 98, 143, 166, 173, 176, 179–180, 244 Rettung 231 rib-pattern 194 Saat 218 Salomo 137, 168 Samaria 21, 30, 40, 42, 48, 58, 127, 181–182, 213, 215–217, 219, 240 Samuel 194 Sanherib 15, 49, 58, 101, 153 Sanherib-Prisma 25 Schapir 55 Schauung 114 Schnurrbart 115 Seher 115 Septuaginta 18 Sinai 20 Sklavenhaus 198, 200 Sozialkritik 15, 26 Späher 229, 231 Städte 181 Städtegedicht 23 Streit (Jhwhs) 192 Südreich 104 Sünde 203 Tag (Jhwhs) 229 Tau 174 Tempel 127 Theophanie (Jhwhs) 21, 32, 38 Tora 132, 135, 137 Torliturgie 201 Totenklage 47, 54, 224 Trauerriten 48 Treue 205, 245 Trümmer 41

267

Schlagwortverzeichnis Tun-Ergehen-Zusammenhang Universalisierung 27 Unvergleichlichkeit (Jhwhs)

68, 74 244

Verehrung (Jhwhs) 26 Verfremdungseffekt 68 Vertrauen 21 Völker 21, 26, 32, 134, 153–155, 173–175, 180, 186–187, 240, 242–243 Völkergericht 136 Völkerwallfahrt 33, 122, 124, 131, 133, 162, 188, 239 Waage 215 Wagen 179, 181

Wahrsagen/Wahrsager 115, 179, 182 Weheruf 68 Wein 218 Weinberg 239 Weinbergslied 238 Weisung (Jhwhs) 27 Wortereignisformel 32–33 Wüstenwanderung 198 Zaanan 56 Zahlenspruch 169 Zion 20–21, 26, 53, 121–123, 125–126, 132, 150, 154–155, 163, 179–180, 213, 226, 235–236, 239–240, 242, 244 Zorn (Jhwhs) 186

Editionsplan Genesis I (1–11): David Carr II–III (12–50): Konrad Schmid Exodus I–II: Helmut Utzschneider / Wolfgang Oswald Levitikus Baruch Schwartz / Naphtali Meshel Numeri I–II: NN Deuteronomium I–II: Jeffrey Stackert / Joel S. Baden Josua I–II: Michaël van der Meer / Cor de Vos Richter Andreas Scherer Rut Shimon Gesundheit 1./2. Samuel I (1. Sam 1–15): NN II (1. Sam 16–2. Sam 5): Johannes Klein III (2. Sam 6–24): Thomas Naumann 1./2. Könige I (1 Kön 1–15): Jonathan M. Robker II (1 Kön 16–2 Kön 16): Steven L. McKenzie III (2 Kön 17–25): Shūichi Hasegawa

Judit Barbara Schmitz Ester Jean-Daniel Macchi Hiob Melanie Köhlmoos Psalmen I–III: NN Sprüche I–II: Jutta Krispenz Kohelet Katharine Dell / Tova Forti Das Hohelied Martien A. Halvorson-Taylor Weisheit Luca Mazzinghi Sirach Frank Ueberschaer Jesaja I–III: NN Jeremia I (1–25): Christl M. Maier II (26–52): Carolyn J. Sharp Baruch NN

1./2. Chronik I–II: Ehud Ben Zvi

Klagelieder Andreas Michel

Esra / Nehemia I–II: Richard J. Bautch

Ezechiel Michael Konkel

Tobit Beate Ego

Daniel Devorah Dimant

269

Editionsplan

Hosea Eberhard Bons

Haggai/Sacharja 1–8 Jakob Wöhrle

Joel/Obadja Anselm Hagedorn

Sacharja 9–14 Paul L. Redditt

Amos Rainer Kessler

Maleachi Aaron Schart

Jona Irmtraud Fischer

1. Makkabäer Dov Gera / Jan Willem van Henten

Micha Burkard M. Zapff

2. Makkabäer Johannes Schnocks

Nahum / Habakuk / Zefanja Walter Dietrich

1 Esdras Dieter Böhler